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German Pages 642 [644] Year 2015
Alvin Plantinga Gewährleisteter Christlicher Glaube
Alvin Plantinga
Gewährleisteter Christlicher Glaube
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Joachim Schulte
Die Veröffentlichung dieses Buches wurde ermöglicht durch die finanzielle Unterstützung seitens der John Templeton Foundation. Die Meinungen, die in dieser Veröffentlichung zum Ausdruck kommen, repräsentieren nicht unbedingt die Ansichten der John Templeton Foundation.
ISBN 978-3-11-043912-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-043186-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043188-9 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Für William P. Alston Mentor, Vorbild, Freund
Geleitwort zur deutschen Ausgabe Es versteht sich: Deutsch ist die Sprache der großen Philosophie. Daher habe ich mich zunächst über die Möglichkeit einer deutschen Übersetzung meines Buchs Warranted Christian Belief gefreut, und jetzt bin ich froh darüber, dass das Vorhaben Wirklichkeit geworden ist. (Wer weiß, vielleicht wird das Buch ja in der deutschen Fassung gewinnen.) Hoffentlich wird es den deutschen Lesern von Nutzen sein. Außerdem wäre es schön, wenn die Übersetzung dazu beitragen könnte, dass es bei der Annäherung zwischen der angloamerikanischen und der kontinentaleuropäischen Religionsphilosophie zu Fortschritten kommt. Offensichtlich können wir eine Menge voneinander lernen; und da ist es wichtig, dass wir unsere intellektuellen Ressourcen bündeln und zusammenarbeiten. Dementsprechend danke ich vor allem Professor Dieter Schönecker für seinen Einsatz bei der Projektierung, den Vorarbeiten und der Betreuung der Übersetzungsarbeit. Außerdem geht mein Dank an den Übersetzer Joachim Schulte und die Mitarbeiterin Theresa Specht. Verbunden fühle ich mich auch der John F. Templeton Foundation, von der die Übersetzung finanziell unterstützt wurde, sowie der Universität Siegen, die bereit war, die Verwaltung der Mittel zu übernehmen. Alvin Plantinga
Vorwort Im vorliegenden Buch geht es um die intellektuelle, rationale Akzeptierbarkeit des christlichen Glaubens.Wenn hier von christlichem Glauben die Rede ist, so meine ich das, was den großen Glaubensbekenntnissen der Hauptkonfessionen der christlichen Kirche gemeinsam ist: der gemeinsame Nenner von Johannes Calvin und Thomas von Aquin, Luther und Augustinus, Menno Simons und Karl Barth, Mutter Teresa und Maximus Confessor, Billy Graham und Gregorios Palamas – also das, was man als klassischen christlichen Glauben bezeichnen könnte. Der klassische christliche Glaube umfasst zunächst einmal die Überzeugung, dass es eine Person wie Gott wirklich gibt. Gott ist eine Person, also ein Wesen mit Verstand und Willen. Eine Person verfügt (tatsächlich oder möglicherweise) über Wissen und Glauben, aber auch über Gemütsbewegungen, Zuneigungen und Abneigungen. Außerdem hat sie (tatsächlich oder möglicherweise) Absichten und kann so handeln, dass es der Verwirklichung dieser Absichten dient. Gott hat alle diese Eigenschaften, und einige von ihnen (wie z. B.Wissen, Macht und Liebe) hat er im höchsten Grade. Dementsprechend ist Gott allwissend und allmächtig. Seine Güte kennt keine Grenzen, und er ist voller Liebe. Überdies hat er die Welt erschaffen, die er ständig aufrechterhält und im Sinne der Vorsehung lenkt. Das ist die theistische Komponente des christlichen Glaubens. Daneben gibt es aber auch die spezifisch christliche Komponente, nämlich: dass wir Menschen irgendwie in Auflehnung und Sünde versinken und daher Heil und Erlösung benötigen. Für diese Erlösung hat Gott gesorgt, indem er das Opferleiden, den Tod und die Wiederauferstehung Jesu Christi veranlasst hat, der nicht nur Mensch war, sondern auch das zweite Element der Dreifaltigkeit – der alleinige göttliche Sohn Gottes. Den Ausdruck »christlicher Glaube« werde ich als gemeinsame Bezeichnung für beide Komponenten verwenden. Dabei bin ich mir freilich darüber im klaren, dass andere Autoren diesen Ausdruck vielleicht in engerem oder weiterem Sinn gebrauchen. Hier besteht aber keine Notwendigkeit, über Wörter zu streiten. Es sind die eben genannten Überzeugungen, die ich hier besprechen werde – einerlei, wie man den Terminus »christlich« im einzelnen zu verwenden gedenkt. Außerdem sehe ich durchaus ein, dass es teilweise Annäherungen an den christlichen Glauben (im eben erläuterten Sinne) gibt sowie Grenzfälle, also Überzeugungen, bei denen einfach nicht klar ist, ob sie als christliche Überzeugungen gelten sollen. Das ist zwar alles richtig, aber soweit ich sehe, gefährdet nichts davon mein Projekt. Dementsprechend lautet unsere Frage: Ist ein solcher Glaube in intellektueller Hinsicht akzeptabel? Speziell gefragt: Ist er für uns – heute – in intellektueller Hinsicht akzeptabel? Also für gebildete und intelligente Menschen des einund-
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zwanzigsten Jahrhunderts und in Anbetracht alles dessen, was in den letzten vieroder fünfhundert Jahren geschehen ist? Manche werden einräumen, dass der christliche Glaube für unsere Vorfahren akzeptabel und womöglich sogar das Richtige war,¹ also für Menschen, die von fremden Religionen keine Ahnung hatten und von der Evolutionstheorie und unserer tierischen Herkunft ebensowenig wussten wie von der modernen Teilchenphysik und der von ihr postulierten seltsamen, unheimlichen und beunruhigenden Welt: Menschen, denen die Meisterdenker des Misstrauens – Nietzsche, Marx und Freud – genauso unbekannt waren wie die zersetzenden Wirkungen der historischen Bibelkritik der Moderne. Doch für uns aufgeklärte Intellektuelle von heute (so lautet die These weiter) liegen die Dinge völlig anders. Für Menschen, die sich in derlei Dingen auskennen (also für Menschen mit unseren imponierenden intellektuellen Errungenschaften), hat es etwas Naives und Törichtes, vielleicht auch etwas Starrköpfiges und Unverantwortliches, ja sogar etwas vage Pathologisches, wenn man an einem derartigen Glauben festhält. Aber lässt sich der Einwand nicht ein wenig präziser formulieren? Worin liegt eigentlich das Problem? Die Antwort besagt meines Erachtens, dass es zwei Hauptprobleme gibt. Seit der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts hat das abendländische Denken zumindest zwei grundverschiedene Formen von Einwänden zum Vorschein gebracht. Erstens gibt es De-facto-Einwände, also Einwände gegen die Wahrheit des christlichen Glaubens. Der vielleicht wichtigste Defacto-Einwand dürfte die Argumentation sein, die sich auf Leiden und Übel beruft. Dieser Einwand reicht weit zurück bis hin zu antiken Denkern wie Demokrit; aber auch unter den heutigen De-facto-Einwänden sticht er besonders hervor (siehe Kapitel 14). In philosophischer Terminologie ist dieser Einwand schon häufig formuliert worden, aber auch in der Literatur hat er überzeugenden Ausdruck gefunden (beispielsweise in Dostojewskijs Die Brüder Karamasow). Dieser Einwand lautet wie folgt: Dem christlichen Glauben zufolge wurden wir Menschen von einem allmächtigen, allwissenden Gott geschaffen, der uns genügend liebt, um seinen Sohn – die zweite Person der Dreifaltigkeit – zu schicken, auf dass er unseretwegen leide und sterbe. Doch angesichts der verheerenden Menge und Vielfalt menschlichen Leids und Übels auf unserer traurigen Welt kann das einfach nicht wahr sein. Das Übel-Argument mag zwar der wichtigste De-facto-Einwand sein, aber es ist nicht der einzige. Außerdem wird behauptet, maßgebliche christliche Lehren –
Dem wird man eventuell hinzufügen, dass es vielleicht auch für Zeitgenossen gilt, die ein behütetes Leben in der kulturellen Provinz führen, beispielsweise in den Landstrichen zwischen der West- und der Ostküste der Vereinigten Staaten.
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wie etwa die Lehren von der Dreifaltigkeit, der Fleischwerdung Gottes oder der Buße – seien inkohärent bzw. notwendig falsch. Von vielen Autoren ist geltend gemacht worden, die christliche Lehre der drei wesensgleichen göttlichen Personen lasse sich gar nicht kohärent artikulieren. Viele haben behauptet, es sei logisch unmöglich, dass ein Mensch – Jesus von Nazareth – zugleich die zweite Person der göttlichen Dreifaltigkeit sei; und viele halten es für ausgeschlossen, dass das Leiden einer – sei’s auch göttlichen – Person für die Sünden einer anderen Person Sühne leisten könne. Ja, es gibt auch Thesen, wonach der Fortschritt der Naturwissenschaft irgendwie gezeigt habe, dass es gar keinen Bereich des Übernatürlichen gebe: keinen Gott, der uns geschaffen hat und unsere Welt regiert, geschweige denn so etwas wie eine Dreifaltigkeit göttlicher Personen, darunter eine, die Mensch wurde, starb, von den Toten auferstand und damit die Menschen von Sünde und Leid erlöste. Es gibt daher eine Vielzahl von De-facto-Einwänden, die in der Geschichte des abendländischen Denkens schon seit langem eine hervorragende Rolle spielen. Noch größer ist jedoch die Bedeutung der De-jure-Einwände. Das sind Argumente oder Thesen, die besagen, der christliche Glaube sei – einerlei, ob wahr oder nicht – auf jeden Fall nicht zu rechtfertigen, rational unbegründet, irrational, intellektuell nicht respektabel, einer vernünftigen Moral entgegengesetzt, nicht hinreichend durch Belege gesichert, in irgendeiner Hinsicht rational inakzeptabel oder von einem intellektuellen Standpunkt aus nicht salonfähig. In diese Kategorie gehören beispielsweise: die These Freuds, wonach der Glaube an Gott im Grunde auf Wunscherfüllung zurückzuführen sei; die belegtheoretische These, es gebe keine ausreichenden Indizien für den christlichen Glauben; und die pluralistische These, es habe etwas Willkürliches und Arrogantes an sich, wenn man behaupte, der christliche Glaube sei wahr und alles, was sich nicht damit vereinbaren lasse, falsch. De-facto- und De-jure-Einwände gehören zwar separaten Arten an, aber manchmal fallen sie zusammen. So gibt es beispielsweise nicht nur einen De-facto-Einwand, sondern auch einen De-jure-Einwand, der sich auf Leid und Übel beruft. Denn oft wird behauptet, aufgrund der Tatsache, dass es auf dieser Welt Leid und Böses gibt, sei es irrational, die Ansicht zu vertreten, der christliche Glaube sei wirklich wahr. De-facto-Einwände verfahren relativ direkt und sind zunächst recht unkompliziert. Angesichts dieses oder jenes Umstands, über dessen Gegebenheit wir angeblich Bescheid wissen, muss der christliche Glaube laut These falsch (oder zumindest unwahrscheinlich) sein. Recht häufig wird behauptet, dabei handele es sich um etwas, was wir jetzt wissen – etwas, was unseren Vorfahren unbekannt gewesen sein soll. Hierher gehört der oft zitierte Satz von Rudolf Bultmann: »Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig
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an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.«² De-jure-Einwände werden hingegen zwar vielleicht häufiger geltend gemacht als ihre Defacto-Pendants, aber sie sind auch weniger unkompliziert. Die aus einem solchen Einwand zu ziehende Schlussfolgerung wird besagen, am christlichen Glauben sei etwas – und zwar etwas anderes als seine Falschheit – auszusetzen, oder mit demjenigen, der den christlichen Glauben vertritt, stimme etwas nicht: Der Glaube oder der Gläubige sei nicht zu rechtfertigen, er sei irrational, rational inakzeptabel oder in irgendeiner Hinsicht defizitär. Aber in welcher Hinsicht genau? Was heißt es eigentlich, ungerechtfertigt bzw. irrational zu sein? Es ist zweifellos etwas Schlimmes, Überzeugungen zu vertreten, die rational ungerechtfertigt sind. Doch worin genau besteht das Problem? Worin liegt das Schlimme? Das wird normalerweise nicht klargestellt. Der belegtheoretischen Ansicht zufolge sind beispielsweise die Indizien für den christlichen Glauben nicht ausreichend. Aber nicht ausreichend für was? Und angenommen, jemand glaubt etwas, wofür keine ausreichenden Belege sprechen – was stimmt eigentlich nicht mit ihm? Ist er dadurch moralischem Tadel ausgesetzt, erweist er sich irgendwie als unfähig, ungewöhnlich ahnungslos, Opfer einer bestimmten Form von Pathologie oder was sonst? Nach Freud und einigen seiner Anhänger ist der christliche wie der theistische Glaube ein Ergebnis der Wunscherfüllung oder irgendeines andere Projektionsmechanismus. Nun, unterstellen wir einmal (aus meiner Sicht: tatsachenwidrig), damit habe es seine Richtigkeit. Worin genau besteht dann das Problem? Liegt es darin, dass ein solcher Glaube wahrscheinlich falsch ist? Oder darin, dass man etwas Tadelnswertes tut, wenn man sich auf der Grundlage von Wunscherfüllung einen Glauben zurechtlegt? Oder ist man eher – und zu Recht – ein Gegenstand des Mitleids? Worin genau besteht das Problem? Diese Fragen sind viel schwerer zu beantworten, als man womöglich meint. Ein Vorhaben dieses Buchs ist der Versuch, sie zu beantworten: Ich bemühe mich, einen ernstzunehmenden und tragfähigen De-jure-Einwand gegen den christlichen Glauben ausfindig zu machen. Anders gesagt: Ich versuche einen De-jureEinwand zu ermitteln, der sowohl einen echten Einwand darstellt als auch zumindest plausiblerweise mit dem christlichen Glauben in Verbindung gebracht werden kann. Hier stellt sich jedoch eine vorgängige Frage, nämlich: Gibt es tatsächlich so etwas wie den christlichen Glauben im Sinne der christlichen Vorstellung? Von manchen Autoren (die sich dabei häufig auf die Autorität des großen, im achtzehnten Jahrhundert wirkenden Philosophen Immanuel Kant »Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung« (1941), in: Hans-Werner Bartsch (Hg.): Kerygma und Mythos, Band 1: Ein theologisches Gespräch (1948), 5. Aufl. Hamburg: Herbert Reich – Evangelischer Verlag 1967, S. 15 – 48, Zitat S. 18.
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berufen) wird geltend gemacht, wir seien nicht einmal dazu imstande, über ein Wesen wie den christlichen Gott nachzudenken, der ja unendlich und transzendent sein soll. Das liege daran, dass unsere allzu menschlichen Begriffe auf ein solches Wesen gar nicht zutreffen könnten. Unsere Begriffe könnten nur auf endliche Wesen zutreffen, also Wesen, die nicht in der Weise, in der die Christen es von ihrem Gott annehmen, transzendent sind. Aber sofern es wirklich wahr ist, dass unsere Begriffe gar nicht auf ein unendliches und transzendentes Wesen zutreffen können – sofern wir also nicht einmal über ein solches Wesen nachdenken können –, glauben wir Menschen auch nichts, was ein solches Wesen beträfe. Eigentlich können wir gar keinen Glauben haben, der sich auf ein solches Wesen bezieht. Dementsprechend gilt: So etwas wie den christlichen Glauben gibt es gar nicht. Die Christen meinen zwar, sie glaubten etwas mit Bezug auf ein unendliches und transzendentes Wesen, aber in Wirklichkeit irren sie sich. In Teil I (»Gibt es überhaupt eine Frage?«, Kapitel 1 und 2) mache ich geltend, dass es gar keinen Grund dafür gibt, diese skeptische These zu akzeptieren. Kant selbst nennt keinen derartigen Grund; und die modernen Autoren, die sich auf seine Autorität berufen, haben bestimmt nicht mehr zu bieten. Diese Schlussfolgerung macht das Schiff klar für die Hauptfrage des Buchs: Gibt es einen tragfähigen De-jure-Einwand gegen den christlichen Glauben? Nämlich einen Einwand, der von De-facto-Einwänden unabhängig ist und nicht voraussetzt, dass der christliche Glaube falsch ist? Hier kommen nach meinem Dafürhalten im Grunde drei Hauptkandidaten in Frage: Der christliche Glaube sei ungerechtfertigt, er sei irrational, er sei nicht gewährleistet. Diese Kandidaten werden zu gegebener Zeit vorgestellt werden. Vorläufig ist lediglich festzuhalten, dass die folgenden drei demnach zu den Hauptfiguren dieses Dramas gehören: Rechtfertigung, Rationalität und Gewähr. In Teil II (»Was besagt die Frage?«, Kapitel 3 und 4) stelle ich zunächst die Frage, ob es möglich ist, unter Bezugnahme auf die Begriffe »Rechtfertigung« und »Rationalität« einen tragfähigen De-jureEinwand auszuformulieren. Ich komme zu dem Schluss, dass es nicht geht. Anschließend wende ich mich (in Kapitel 5) den Einwänden von Freud, Marx und Nietzsche zu; und hier stoßen wir endlich auf einen zumindest ansatzweise verheißungsvollen Kandidaten für den Posten des De-jure-Einwands. Dieser Einwand gehört zum Bereich des Begriffs Gewähr. Um zu erkennen, was es mit der Gewährleistung auf sich hat, ist zunächst festzuhalten, dass nicht alle wahren Überzeugungen auf Wissen hinauslaufen. Angenommen, ich bin ein begeisterter FC-Fan. Aus lauter Tollkühnheit und unangebrachter Loyalität glaube ich, der FC werde die Meisterschaft gewinnen, obwohl der Verein im vorigen Jahr ganz schlecht abgeschnitten hat und inzwischen seinen besten Stürmer verkauft hat. Unerklärlicherweise geschieht es nun, dass der FC aufgrund einer unwahrscheinlichen Reihe glücklicher Zufälle tatsächlich die Meisterschaft gewinnt. Mein
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Glaube, der FC werde gewinnen, war offensichtlich kein Wissen, sondern eher ein überhaupt nicht zu erwartender Zufallstreffer. Um als Wissen zu gelten, muss sich eine Überzeugung selbstverständlich auf mehr stützen können als die Wahrheit. Dieses Extra ist das, was ich »Gewähr« nenne. Aus meiner Sicht gilt: Sofern es überhaupt echte De-jure-Einwände gegen den christlichen Glauben gibt, liegen sie im Bereich des Begriffs »Gewähr«. Das kommt vielleicht nicht sonderlich überraschend angesichts des Umstands, dass das vorliegende Buch eine Fortsetzung zweier früherer Bücher über den Begriff der Gewähr darstellt.³ Im ersten dieser Bücher führe ich den Ausdruck »Gewähr« als Namen jener Eigenschaft – oder vielmehr: jener Größe – ein, die, wenn sie in ausreichendem Maße vorhanden ist, den Ausschlag dafür gibt, ob es sich um Wissen oder nur um wahren Glauben handelt. Im Anschluss daran untersuche ich die verschiedenen heute vertretenen Theorien der Gewährleistung: Welches ist denn eigentlich die Eigenschaft, die Wissen von bloßem wahrem Glauben unterscheidet? Daraufhin gehe ich den Theorien, die heute im Angebot sind, nach: Ist es die Rechtfertigung? Die Kohärenz? Die Rationalität? Der Umstand, dass sie durch zuverlässige Vermögen oder Prozesse der Überzeugungsproduktion zustande kommt? Keine dieser Antworten ist nach meiner Argumentation richtig. Keine dieser Theorien ist zutreffend. In Warrant and Proper Function gehe ich einen Schritt weiter und gebe die nach meinem Eindruck richtige Antwort: Die Gewährleistung steht in engem Zusammenhang mit der Funktionstüchtigkeit. Um es ausführlicher zu sagen: Eine Überzeugung ist genau dann gewährleistet, wenn sie in einem für diesen Einsatz kognitiver Kräfte günstigen kognitiven Rahmen durch richtig funktionierende kognitive Prozesse oder Vermögen zustande kommt, und zwar gemäß einem Bauplan, der die Produktion wahrer Überzeugungen erfolgreich anstrebt. (Eine Erläuterung dieser hier vielleicht rätselhaft anmutenden Formel findet der Leser in Kapitel 5.) Nach Freud und Marx sind theistische (und folglich christliche) Überzeugungen also deshalb problematisch, weil es für sie keine Gewähr gibt. In Teil III (»Gewährleisteter christlicher Glaube«, Kapitel 6 – 10) gehe ich auf diesen Einwand ein. Wie sich herausstellt, ist dieser De-jure-Einwand eigentlich von einem De-facto-Einwand abhängig. Das liegt (nach meiner Darstellung) daran, dass der christliche Glaube, sofern er wahr ist, auch gewährleistet ist. Die These, der theistische (und folglich der christliche) Glaube sei nicht gewährleistet, beruht
Warrant: The Current Debate und Warrant and Proper Function, beide erschienen bei Oxford University Press, New York 1993. Außerdem ist das vorliegende Buch in freilich etwas anderer Richtung eine Fortsetzung von God and Other Minds (Ithaca: Cornell University Press 1967) und »Reason and Belief in God«, in: A. Plantinga/N. Wolterstorff (Hg.), Faith and Rationality, Notre Dame: University of Notre Dame Press 1983.
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eigentlich auf der Voraussetzung, dass der christliche Glaube falsch sei. Freud und Marx liefern uns also keinen von der Wahrheitsfrage unabhängigen De-jure-Einwand gegen den christlichen Glauben. Ihr Einwand setzt dessen Falschheit voraus. Ferner kennzeichne ich (in Kapitel 6) ein Modell für die Gewährleistung theistischer Überzeugungen (das “Thomas-von-Aquin/Calvin-Modell« bzw. »A/CModell«) und lege dar, dass etwas von der Art dieses Modells zutrifft, sofern der theistische Glaube tatsächlich wahr ist. In den Kapiteln 7 bis 10 erweitere ich das A/C-Modell so, dass es den voll entfalteten christlichen Glauben (im Gegensatz zum theistischen Glauben schlechthin) abdeckt, wobei ich zunächst (in Kapitel 7) erläutere, welchen Stellenwert die Sünde in diesem Modell hat. Anschließend (in den Kapiteln 8 und 9) schlage ich das erweiterte A/C-Modell vor. Diesem Modell zufolge ist der christliche Glaube deshalb gewährleistet, weil er die in Warrant and Proper Function ausbuchstabierten Bedingungen der Gewährleistung erfüllt. Das heißt, der christliche Glaube kommt durch einen kognitiven Prozess zustande (nach Thomas von Aquin durch den »inneren Ansporn« seitens des heiligen Geistes, nach Calvin durch das »innere Zeugnis« des heiligen Geistes), wobei dieser Prozess in einem angemessenen epistemischen Rahmen gemäß einem erfolgreich die Wahrheit anstrebenden Bauplan richtig funktioniert. Im 8. Kapitel (»Das erweiterte A/CModell – Unserem Verstand geoffenbart«) wird die kognitive Seite dieses Prozesses dargelegt. Allerdings umfasst dieser Prozess nicht nur die Vernunft, sondern auch die Affekte (d. h., er betrifft nicht nur den Verstand, sondern auch den Willen). Dementsprechend erläutert das 9. Kapitel (»Das Zeugnis-Modell – Was dem Herzen aufgeprägt wird«) einige der Zusammenhänge zwischen der Vernunft und den Affekten. Das 10. Kapitel beschließt den Teil III mit einer Betrachtung verschiedener wirklich erhobener und möglicher Einwände gegen das Modell. Keiner dieser Einwände ist erfolgreich. Offiziell möchte ich für das erweiterte A/C-Modell nicht in Anspruch nehmen, dass es wahr ist, sondern nur, dass es epistemisch möglich ist (d. h., durch nichts, was wir wissen, werden wir auf die Falschheit des Modells festgelegt). Dem möchte ich hinzufügen, dass dieses oder ein ähnliches Modell, sofern der christliche Glaube wahr ist, höchstwahrscheinlich ebenfalls zutrifft. Liege ich mit diesen Thesen richtig, gibt es keine tragfähigen De-jureEinwände, die mit der Wahrheit des christlichen Glaubens verträglich wären. Mit anderen Worten: Es gibt keine tragfähigen, von De-facto-Einwänden unabhängigen De-jure-Einwände. Und wenn dem so ist, ist die in den folgenden Worten zum Ausdruck kommende Einstellung unhaltbar: »Ich weiß zwar nicht, ob der christliche Glaube wahr ist – wer kann denn dergleichen überhaupt wissen? –, aber ich weiß, dass er irrational ist (bzw. in intellektueller Hinsicht ungerechtfertigt, unvernünftig oder intellektuell fragwürdig).«
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In Teil IV (»Bezwinger?«, Kapitel 11– 14) stelle ich mich schließlich der folgenden These: Man könne zwar einräumen, dass der christliche Glaube in dem von unserem Modell nahegelegten Sinn prinzipiell berechtigt sei, aber faktisch gebe es mehrere Bezwinger, die mit der Gewähr aufräumen, die der christliche Glaube andernfalls genießen könnte. Ein gegen die Überzeugung A eingesetzter Bezwinger ist eine Überzeugung B dergestalt, dass man, sobald B akzeptiert wird, A nicht mehr gelten lassen kann, ohne in Irrationalität abzugleiten. Im gegenwärtigen Fall wären diese angeblichen Bezwinger Überzeugungen, von denen man erwarten kann, dass sie von einem sachkundigen Christen geteilt werden. Außerdem wären diese Überzeugungen so beschaffen, dass jemand, der sie akzeptiert, nicht in rationaler Weise am christlichen Glauben festhalten kann. Nachdem ich dem Wesen der Bezwinger auf den Grund gegangen sein werde, untersuche ich die wichtigsten Kandidaten: erstens die vermeintlich zersetzenden Resultate der historischen Bibelkritik; zweitens die Anerkennung der Vielfalt und Wichtigkeit von Religionen, die mit dem christlichen Glauben nicht zu vereinbaren sind, sowie damit zusammenhängende postmoderne Behauptungen; drittens die tiefe Einsicht in die faktischen Gegebenheiten des Leidens und des Bösen. Meine Argumentation läuft darauf hinaus, dass keiner dieser Anwärter den klassischen christlichen Glauben erfolgreich bezwingen kann. Dieses Buch lässt sich in zumindest zwei grundverschiedenen Weisen auffassen. Einerseits handelt es sich um ein apologetisches und religionsphilosophisches Unterfangen, nämlich um einen Versuch nachzuweisen, dass eine Reihe von Einwänden gegen den christlichen Glauben fehlschlägt. Dieser Argumentation zufolge sind De-jure-Einwände entweder offensichtlich unplausibel oder sie setzen voraus, dass der christliche Glaube nicht wahr ist. (Zur ersten Kategorie gehören etwa die Einwände, die auf der Behauptung basieren, der christliche Glaube sei nicht gerechtfertigt oder lasse sich nicht rechtfertigen. Zur zweiten Kategorie gehören die Einwände, die auf der These beruhen, dem christlichen Glauben fehle die äußere Rationalität bzw. die Gewähr.) Folglich gibt es keine vertretbaren De-jure-Einwände, die nicht an De-facto-Einwände gebunden wären. Eigentlich hängt also alles von der Wahrheit des christlichen Glaubens ab. Doch damit ist die häufig geäußerte Meinung widerlegt, der christliche Glaube sei intellektuell inakzeptabel – egal, ob er wahr ist oder nicht. Andererseits jedoch geht es im vorliegenden Buch um christliche Philosophie: um den Versuch, philosophische Fragen – Fragen, wie sie von Philosophen gestellt und beantwortet werden – aus einer christlichen Perspektive zu betrachten und zu beantworten. Für das im 8. und 9. Kapitel vorgestellte erweiterte A/C-Modell nehme ich zweierlei in Anspruch: Erstens zeigt es, dass und inwiefern der christliche Glaube durchaus gewährleistet sein kann, und widerlegt damit eine Reihe von De-jure-Einwänden gegen das Christentum. Außerdem möchte ich je-
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doch behaupten, dass dieses Modell ein brauchbares Denkgerüst liefert, mit dessen Hilfe Christen an die Erkenntnistheorie des christlichen Glaubens herangehen können, insbesondere an die Frage, ob und inwiefern das Christentum gewährleistet ist. Demnach gibt es hier zwei Projekte – zwei Argumentationsstränge –, die gleichzeitig entfaltet werden. Das erste dieser beiden Projekte richtet sich an alle – an die Gläubigen ebenso wie an die Ungläubigen. Es soll zu einer fortwährenden öffentlichen Diskussion über die Erkenntnistheorie ihres Glaubens beitragen, ohne sich dabei auf spezifisch christliche Prämissen oder Voraussetzungen zu berufen. Dabei werde ich geltend machen, dass es, von diesem öffentlichen Standpunkt aus gesehen, nicht den geringsten Grund für die Annahme gibt, dem Christentum mangele es an Rechtfertigung, Rationalität oder Gewährleistung – jedenfalls keinen Grund, der nicht die Falschheit des christlichen Glaubens voraussetzt. Das zweite Projekt dagegen – also das Vorhaben, aus christlicher Sicht eine erkenntnistheoretische Darstellung des christlichen Glaubens zu geben – wird für Christen von besonderer Bedeutung sein. Bei diesem Projekt geht man von der Wahrheit des christlichen Glaubens aus und untersucht von diesem Standpunkt aus die Erkenntnistheorie des Christentums, indem man fragt, ob und inwiefern dieser Glaube gewährleistet ist.Vielleicht kann man es sich so vorstellen: Dieses Projekt verhält sich spiegelbildlich zum Vorhaben des philosophischen Naturalisten, der von der Wahrheit des Naturalismus ausgeht und sodann versucht, eine Erkenntnistheorie aufzustellen, die gut zu diesem naturalistischen Standpunkt passt. Aus christlicher Sicht wird man dieses zweite Projekt hoffentlich ansprechend finden. Darüber hinaus hoffe ich, dass auch andere Leser Interesse daran finden, so wie sich auch jemand, der den philosophischen Naturalismus nicht akzeptiert, trotzdem für die Frage interessieren kann, welche Art von Erkenntnistheorie am ehesten zum Naturalismus passen könnte. Das Kernstück beider Projekte – des apologetischen Vorhabens ebenso wie des spezifisch christlichen philosophischen Unterfangens – ist das erweiterte A/C-Modell. Im Sinne des ersten Projekts ist dieses Modell eine Verteidigung der Vorstellung, der christliche Glaube sei gewährleistet, sowie ein Versuch zu zeigen, dass dieser Glaube, sofern er wahr ist, (höchstwahrscheinlich) gewährleistet ist. Im Sinne des zweiten Projekts empfiehlt es den Christen eine bestimmte Möglichkeit, sich gewinnbringend ein Bild und einen Begriff von der Gewähr zu machen, die nach ihrer Auffassung für das Christentum geleistet wird. Für den übermäßigen Umfang dieses Buchs muss ich den Leser um Verzeihung bitten. Als Entschuldigung kann ich nichts weiter vorbringen, als dass die Länge des Buchs dem Vorsatz geschuldet ist, keine Tetralogie zu fabrizieren. Eine Trilogie mag schon von ungebührlicher Hemmungslosigkeit zeugen, aber eine Tetralogie ist unverzeihlich. (Ein Zyniker würde hier vermutlich die Frage auf-
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werfen, worin denn bitte der Unterschied zwischen einer Tetralogie und einer Trilogie bestehe, deren dritter Teil doppelt so umfangreich ist wie die beiden früheren Teile.) Jedenfalls braucht nicht jeder Leser jede Seite zu lesen. Wer beispielsweise nicht im Mindesten versucht ist zu glauben, unsere Begriffe seien auf Gott nicht anwendbar, kann getrost Teil I überspringen. Und wer nur die Haupthandlung der Geschichte verfolgen möchte, kann sich auf die Lektüre der Kapitel 6 bis 9 beschränken. Außerdem ist das Buch zwar dick, aber es deckt auch, wie ich merke, ein nachgerade peinlich weites Gebiet ab, so dass eine wirklich angemessene Darstellung in fast jedem Kapitel (aber vor allem in den Kapiteln 8 und 12) sehr viel detaillierter ausfiele. Hier lautet meine Entschuldigung, dass es wichtig ist,vor lauter Bäumen auch den Wald zu sehen. Gott mag ja im Detail stecken, aber außerdem steckt Gott auch im Panoramabild der Gesamtlandschaft der Erkenntnistheorie christlichen Glaubens. Geschulte Beobachter merken vielleicht, dass hier zwei Schriftgrößen zum Einsatz kommen. Die Hauptargumentation des Buchs wird in großer Schrift wiedergegeben. In kleinerer Schrift werden zusätzliche Analysen, Argumente oder sonstige Dinge dargestellt, für die sich vielleicht eher der Spezialist interessiert. Dabei ist das Buch nicht in erster Linie für einen Leser geschrieben, dessen Spezialgebiet die Philosophie ist. Ich hoffe und beabsichtige, dass es beispielsweise auch für Studenten verständlich und nützlich ist, die einen Anfängerkurs in Philosophie oder christlicher Apologetik belegt haben, sowie für den vielberedeten allgemein interessierten Leser, der auch für dieses Thema aufgeschlossen ist. Das Buch ist zwar der dritte Teil einer Trilogie, aber dennoch soll es in einem relativ unabhängigen Verhältnis zu Warrant: The Current Debate und Warrant and Proper Function stehen (weshalb es gelegentlich kurze Zusammenfassungen einiger Abschnitte der beiden früheren Bücher enthält). Natürlich verdanken sich die meisten Bücher in höherem oder geringerem Maße einer gewissen Zusammenarbeit. Es gibt tausend tiefreichende Hinsichten, in denen jeder Autor anderen verpflichtet ist. (Das fällt vor allem bei jenen Autoren auf, die offenbar glauben, sie hätten alles bisher Gedachte und Geschriebene über Bord geworfen und das ganze Fach von neuem begonnen – wobei uns eine vielleicht bei Descartes ansetzende lange Reihe neuzeitlicher und moderner Philosophen in den Sinn kommt.) Das vorliegende Buch ist da keine Ausnahme. Es handelt sich um ein in sehr hohem Maße kooperatives Unterfangen. Dass es sich so verhält, liegt an den üblichen Gründen, aber außerdem an einem speziellen Grund. An mehreren entscheidenden Punkten berufe ich mich schlicht auf die Schriften anderer Autoren – in den meisten Fällen auf Schriften von William P. Alston oder Nicholas Wolterstorff –, um mir einen bestimmten Baustein meiner Argumentation zu verschaffen. So verhält es sich insbesondere dann, wenn ich ihren Äußerungen zu dem betreffenden Thema wenig oder nichts hinzuzufügen
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habe, aber manchmal auch dann, wenn ich für mein Teil den fraglichen Gegenstand ein wenig anders sehe. Außerdem ist das Buch insofern ein Produkt der Zusammenarbeit, als mir Ratschläge, aufschlussreiche Hinweise und kritische Anmerkungen anderer zugute gekommen sind. Ja, die Zahl dieser anderen ist so groß, dass sie mich geradezu verlegen macht (wobei ich mir völlig der Tatsache bewusst bin, dass ich angesichts dieses Ausmaßes an Hilfe mehr hätte leisten müssen). Danken möchte ich allen, die mir bei den ersten beiden Bänden unter die Arme gegriffen haben, sowie Jonathan Kvanvig und den Autoren des von ihm herausgegebenen Essaybands Warrant in Contemporary Epistemology: Essays in Honor of Plantinga’s Theory of Knowledge. Für die Mithilfe bei der Arbeit am vorliegenden dritten Band möchte ich vor allem den folgenden Personen danken: Karl Ameriks, Jim Beilby (der freundlicherweise auch das Register angefertigt hat), David Burrell, Kelly Clark, John Cooper, Kevin Corcoran, Andrew Cortens, Fred Crosson, Paul Draper, Steve Evans, Ronald Feenstra, Fred Freddoso, Richard Gale, Lee Hardy, John Hare, Van Harvey, David Hunt, Hugh McCann, Greg Lellema, Ric Otte, Neal Plantinga, Bill Prior, Tapio Puolimatka, Philip Quinn, Del Ratzsch, Dan Rieger, Robert Roberts, Bill Rowe, John Sanders, Henry Schuurman, James Sennett, Ernie Sosa, Michael Sudduth, Richard Swinburne, Bill Talbott, James VanderKam, Bas van Fraassen, Calvin Van Reken, Rene van Woudenberg, Steve Wykstra und Henry Zwaanstra. (Zweifellos habe ich einige Personen vergessen, die eigentlich auf diese Liste gehören. Ihnen möchte ich meine Dankbarkeit bezeugen und sie zugleich um Verzeihung bitten.) William Alston, Dewey Hoitenga, Eleonore Stump und Nicholas Wolterstorff haben das gesamte Manuskript gelesen und Anmerkungen dazu gemacht. Ihnen bin ich besonders dankbar. Verpflichtet fühle ich mich vor allem auch einem wechselnden Zirkel fortgeschrittener Studenten der Notre Dame University, die als Gruppe im Laufe mehrerer Jahre das gesamte Manuskript gelesen und es einer dermaßen gründlichen und detaillierten Kritik unterzogen haben, wie sie nur von seiten aufgeweckter und streitlustiger Graduierten kommen kann. Zu dieser Gruppe gehörten unter anderem Mike Bergmann, Tom Crisp, Pat Kain, Andy Koehl, Kevin Meeker, Trenton Merricks, Marie Pannier, Mike Rea, Ray Van Arragon und David VanderLaan. Ähnlichen Dank schulde ich dem Oberseminar, das Nicholas Wolterstorff im Herbst 1997 an der Yale University veranstaltete. Nennen möchte ich besonders Andrews Chignell und Dole, die gemeinsam mit ihrem Mentor und den anderen Seminarteilnehmern das Manuskript lasen und erhellende, hilfreiche Anmerkungen beisteuerten. Danken möchte ich wieder einmal Martha Detlefsen für ihre sowohl raffinierten als auch unermüdlichen, tapferen Versuche, Ordnung in meine Arbeit und in dieses Manuskript zu bringen.
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Vorwort
Hervorgegangen sind diese drei Bände aus den Gifford Lectures, die ich 1986/ 87 an der University of Aberdeen, und den Wilde Lectures, die ich 1988 an der University of Oxford gehalten habe. Den einladenden Gremien möchte ich für ihr Entgegenkommen danken. Ebenso dankbar bin ich für die Gastfreundschaft, die ich zusammen mit meiner Frau bei unseren Besuchen in Aberdeen und Oxford genießen durfte. Dank schulde ich ferner der University of Notre Dame für 1995 und 1996 gewährte Freisemester sowie der Stiftung National Endowment for the Humanities für eine während desselben Jahrs bewilligte Fellowship. Zwei kurze Ausschnitte aus dem vorliegenden Band wurden bereits zu einem früheren Zeitpunkt veröffentlicht: Kapitel 13 enthält ein paar Seiten des Artikels »Pluralism: A Defense of Religious Exclusivism«, in: Thomas Senor (Hg.), The Rationality of Belief and the Plurality of Faith, Ithaca: Cornell University Press 1995; und Kapitel 14 enthält einige Absätze aus dem Artikel »On Being Evidentially Challenged«, in: Daniel Howard-Snyder (Hg.), The Evidential Argument from Evil, Bloomington: Indiana University Press 1996. Abschließend möchte ich ganz besonders auf William P. Alston hinweisen. Bill Alston war mein Lehrer, als ich 1954 mit dem Graduiertenstudium begann. (Im ersten Seminar ging es um Alfred Whiteheads Process and Reality, und insofern ich dieses Buch nicht verstanden habe, lag es sicher nicht an Bill, sondern an mir selbst – oder vielleicht an Whitehead.) Damals habe ich viel und seither noch sehr viel mehr von ihm gelernt. Die Großzügigkeit, mit der er dieses ganze Manuskript gelesen hat, war ebenso charakteristisch für ihn wie die Kompromisslosigkeit und Tiefgründigkeit seiner Anmerkungen. Alstons Beiträge zur zeitgenössischen Philosophie und speziell zur Religionsphilosophie sind natürlich vielerorts wohlbekannt. (Bei der Gründung der Society of Christian Philosophers und der Zeitschrift Faith and Philosophy hat er ebenso wie durch seine großartigen Arbeiten auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie und der Religionsphilosophie eine führende Rolle gespielt.) Es besteht keine Notwendigkeit, seine Leistungen im einzelnen aufzuzählen (sie sind ohnehin so gut wie zahllos). Ihm ist dieses Buch gewidmet. Notre Dame, Indiana September 1998
A. P.
Inhalt Geleitwort zur deutschen Ausgabe
VII
Vorwort
IX
Teil I:
Gibt es überhaupt eine Frage?
Kant 3 I Das Problem 3 9 II Kant A Zwei Welten oder eine? 11 Eine-Welt-Bild und Bezugnahme auf Noumena 16 18 Zwei-Welten-Bild und Bezugnahme auf Noumena B Argumente? Gründe? 23
Kaufman und Hick 35 36 I Kaufman A Eigentlicher Bezugsgegenstand und verfügbarer Bezugsgegenstand 36 44 B Die Funktion der religiösen Sprache II Hick 48 A Das Reale 49 56 B Kohärent? Kann es ein Wesen geben, das ausschließlich formale und negative Eigenschaften besitzt? 56 Positive versus negative Eigenschaften 60 C In religiöser Hinsicht relevant? 64 D Gibt es so etwas überhaupt? 68
Teil II:
Was besagt die Frage?
Rechtfertigung und das klassische Bild I John Locke 81 86 A Vernunftgemäß leben Meinung 87 Vernunft 89
77
XXII
Inhalt
Ausrichtung der Meinung an der Vernunft 91 92 B Offenbarung II Klassische Belegthese, Deontologismus und Fundierungsgedanke 94 A Der klassische Fundierungsgedanke 96 99 B Der klassische Deontologismus III Zurück zur Gegenwart 103 108 IV Probleme mit dem klassischen Bild A Probleme der Selbstbezüglichkeit 110 B Sind die meisten unserer Überzeugungen 114 ungerechtfertigt? V Rechtfertigung des christlichen Glaubens 116 VI Analogische Variationen 120 A Variationen über den klassischen Fundierungsgedanken B Variationen über die Deontologie 121 C Ist das die De-jure-Frage? 123
Rationalität 128 I Verschiedene Formen von Rationalität 128 A Aristotelische Rationalität 129 130 B Rationalität als richtiges Funktionieren C Die Leistungen der Vernunft 134 D Zweck-Mittel-Rationalität 137 139 II Praktische Rationalität im Sinne Alstons A Die Ausgangsfrage 139 B Doxastische Praktiken 140 C Epistemische Zirkularität 141 D Das Argument für die praktische Rationalität 142 E Eine erste Charakterisierung der praktischen Rationalität F Der Urzustand 144 G Der weite Urzustand 146 H Ein enger Urzustand? 148 Gewährleistung – die Einwände von Freud und Marx 158 I Der F&M-Einwand 159 160 A Freud B Marx 164 C Weitere Autoren 166 D Wie ist der F&M-Einwand zu verstehen? 169 II Gewährleistung: Die nüchterne Wahrheit 179
120
143
Inhalt
III Nochmals zum F&M-Einwand
Teil III:
XXIII
188
Gewährleisteter christlicher Glaube
193 Gewährleisteter Glaube an Gott I Das Thomas-von-Aquin/Calvin-Modell 194 194 A Modelle B Das Modell 196 Basalität 202 Angemessene Basalität im Hinblick auf Rechtfertigung Angemessene Basalität im Hinblick auf Gewährleistung 206 208 Natürliche Gotteserkenntnis Erkenntnis durch Wahrnehmung oder durch Erfahrung? 209 Sünde und natürliche Gotteserkenntnis 213 216 II Ist der Glaube an Gott Gewähr-basal? A Wenn er falsch ist, wahrscheinlich nicht 216 B Wenn er wahr ist, wahrscheinlich ja 219 III Die De-Jure-Frage ist nicht unabhängig von der De-Facto-Frage IV Nochmals zum F&M-Einwand 223
Die I II III IV
Sünde und ihre kognitiven Konsequenzen 232 Vorbemerkungen 232 Erste Formulierung des erweiterten Modells 236 Das Wesen der Sünde 240 Die noetischen Auswirkungen der Sünde 248 A Die Hauptkonsequenz 248 B Sünde und Erkenntnis 253 Sünde und Skepsis 254 Naturalismus und mangelndes Wissen 266
Das erweiterte Thomas-von-Aquin/Calvin-Modell – Unserem Verstand geoffenbart 283 289 I Glaube II Wie funktioniert der Glaube? 293 III Glaube und positiver epistemischer Status 296 A Rechtfertigung 296 B Interne Rationalität 299
205
221
XXIV
Inhalt
C Externe Rationalität und Gewähr: Glaube ist Erkenntnis 304 IV Angemessene Basalität und die Rolle der Schrift V Vergleich mit Locke 313 VI Warum notwendig? 316 VII Kognitive Erneuerung 331
301
Das Zeugnis-Modell: In unserem Herzen versiegelt 342 342 I Glaube und Gefühl II Jonathan Edwards 346 A Verstand und Wille: Was kommt zuerst? 348 358 B Bekundungen des Glaubens III Analogon der Gewähr 364 IV Eros 367
382 Einwände I Gewähr und das Argument aus der religiösen Erfahrung 391 II Was kann die Erfahrung zeigen? III Ein Totschlagargument? 396 IV Der Sohn des großen Kürbis? 405 V Zirkularität? 416
Teil IV:
384
Bezwinger?
Bezwinger und Bezwingung 421 I Das Wesen der Bezwinger 422 II Bezwinger des christlichen bzw. theistischen Glaubens III Sind Projektionstheorien Bezwinger des christlichen Glaubens? 433
431
Zwei (oder mehr) Arten der Bibelforschung 441 I Die von Gott inspirierte Schrift 442 II Traditionelle christliche Bibelauslegung 448 III Historisch-kritische Bibelforschung 454 A Spielarten der historisch-kritischen Bibelforschung 460 460 Historisch-kritische Bibelforschung à la Troeltsch Historisch-kritische Bibelforschung à la Duhem 466 Spinozistische Bibelforschung der historisch-kritischen Art 469 B Spannungen im Verhältnis zum traditionellen Christentum 471
Inhalt
XXV
IV Warum sind die meisten Christen nicht besorgter? 473 476 A Höhere Gewalt B Ein moralischer Imperativ? 481 C Ist die historisch-kritische Bibelforschung offener? 485 V Nichts, worüber man besorgt sein sollte 487 A Nochmals zur historisch-kritischen Bibelforschung à la 488 Troeltsch B Historisch-kritische Bibelforschung nichttroeltschianischer 490 Provenienz C Konditionalisierung 495 497 VI Coda Postmoderne und Pluralismus 500 500 I Postmoderne A Widerspricht die Postmoderne dem christlichen Glauben? B Bezwingen diese Behauptungen den christlichen 504 Glauben? Das Argument der historischen Bedingtheit 506 Ist die Wahrheit Menschenwerk? 508 C Postmoderne als Kleinmütigkeit 517 519 II Pluralismus A Ein probabilistischer Bezwinger? 523 B Der Vorwurf der moralischen Willkürlichkeit 525 525 Der abstrakte Fall Ein konkretes Beispiel: Gutting 531 Leiden und Übel 544 I Belegbezogene atheologische Argumente 552 A Die Argumente von Rowe 552 B Das Argument von Draper 557 Erste Formulierung von Drapers Argument Belegmäßige Herausforderung 562 II Argumentfreie Bezwinger? 572 Bibliographie Register
606
594
557
501
Teil I: Gibt es überhaupt eine Frage?
1 Kant Mit wem wollt ihr mich vergleichen, wen neben mich stellen? Mit wem wollt ihr mich messen, um zu sehen, ob wir einander gleich sind? Jesaja 46, 5
I Das Problem Im vorliegenden Buch gilt unser Interesse der De-jure-Frage.¹ Ist es rational, vernünftig, begründbar, gewährleistet, den christlichen Glauben, wie er im Vorwort skizziert wurde, zu akzeptieren? Oder ist daran etwas in epistemischer Hinsicht Inakzeptables, etwas Törichtes, Dummes, Tollkühnes, Unbedarftes, Ungerechtfertigtes, Unvernünftiges oder in irgendeiner anderen epistemischen Hinsicht Betrübliches? Hier stellt sich allerdings eine vorgängige Frage: Ist die Idee des christlichen Glaubens überhaupt kohärent? Kann es so etwas wie den christlichen Glauben wirklich geben? Nun, warum sollte das in Frage stehen? Liegt es denn nicht auf der Hand, dass viele Menschen genau diese im Vorwort genannten Überzeugungen vertreten? Das Problem ist: Den christlichen Glauben akzeptieren heißt nach meiner These: glauben, dass es eine allmächtige, allwissende und allgütige Person (ohne Körper) gibt, die uns und unsere Welt erschaffen hat, die uns liebt und dazu bereit war, ihren Sohn auf die Welt zu schicken, um Leiden, Demütigung und den Tod zu ertragen, auf dass wir erlöst werden. Ferner heißt es natürlich auch: glauben, dass es nicht mehr als ein Wesen mit diesen Eigenschaften gibt. Der christliche Glaube beinhaltet nicht nur, dass es ein solches Wesen gibt, sondern auch, dass wir dazu imstande sind, es betend anzusprechen, uns auf es zu beziehen, über es nachzudenken und zu reden und Eigenschaften von ihm zu prädizieren.Wir haben eine Form von kognitivem Zugang zu diesem Wesen und können es irgendwie erfassen. Wir können uns auf es beziehen, indem wir es beispielsweise als die allmächtige, allwissende Person bezeichnen, von der die Welt erschaffen wurde und aufrechterhalten wird, und wir können von ihr Eigenschaften prädizieren wie: ist allmächtig, ist allwissend und hat die Welt erschaffen. Eine solche definite Kennzeichnung können wir verwenden, um auf dieses Wesen Bezug zu nehmen, es auszuwählen und für weitere Gedanken zu bestimmen. Darüber hinaus können wir dem auf diese Weise herausgefilterten Wesen einen Eigennamen geben. So kann man z. B. den Ausdruck »Gott« als seinen Namen verwenden.
Zum Gegensatz zwischen De-jure- und De-Facto-Fragen siehe unser Vorwort, S. IX ff.
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1 Kant
Dementsprechend gehen Christen gewöhnlich davon aus, dass es möglich ist, mit Kennzeichnungen wie »der allmächtige, allwissende Schöpfer der Welt« auf Gott Bezug zu nehmen. Außerdem soll es möglich sein, von dem Wesen, auf das man solchermaßen Bezug nimmt, Eigenschaften zu prädizieren (wie Weisheit oder Güte). Die Benennung mittels einer solchen Kennzeichnung gelingt freilich nur, wenn es einen solchen allmächtigen und allwissenden Schöpfer der Welt wirklich gibt. Ferner muss es, sofern ich über Gott nachdenken und Eigenschaften von ihm prädizieren kann, nicht nur möglich sein, dass ein solches Wesen tatsächlich existiert, sondern es muss auch möglich sein, dass sich meine Begriffe darauf anwenden lassen. Ist das nicht der Fall, bin ich nicht dazu in der Lage, eine der oben genannten Aussagen zu behaupten, zu glauben oder auch nur zu erwägen – sofern es derartige Aussagen überhaupt gibt. Auf christlicher Seite geht man auch davon aus, dass Gott ein unendliches, transzendentes und letztursprüngliches Wesen ist (wie immer man diese Ausdrücke im einzelnen erläutern mag). Genau hier liegt das vermeintliche Problem. Viele Theologen und sonstige Autoren sind offenbar der Überzeugung, hinsichtlich der Vorstellung, unsere Begriffe ließen sich auf Gott anwenden, bestünde eine echte Schwierigkeit, d. h. hinsichtlich der Vorstellung, diese Begriffe könnten auf ein Wesen mit den Eigenschaften der Unendlichkeit, der Transzendenz und der Letztursprünglichkeit zutreffen. Man meint, falls es ein solches Wesen gibt, könnten wir nicht darüber sprechen; wir könnten weder darüber nachdenken und reden noch ihm Eigenschaften zuschreiben. Sollte das jedoch stimmen, dann ist der christliche Glaube – zumindest in der von Christen gedeuteten Form – ein Ding der Unmöglichkeit. Denn Christen glauben, dass es ein unendliches, transzendentes, letztursprüngliches Wesen gibt, mit Bezug auf das sie bestimmte Überzeugungen vertreten. Doch sofern sich unsere Begriffe auf ein solches Wesen gar nicht anwenden lassen, kann es mit Bezug auf dieses Wesen keine Überzeugungen geben. Dieser Gedanke dringt gar nicht selten an das Licht der veröffentlichten Meinungen, und im Rahmen der mündlichen Überlieferung ist er sogar noch stärker präsent. Daher möchte ich zunächst, ganz im Geiste des interdisziplinären Ökumenismus, dieser Frage auf den Grund gehen. Werfen wir etwa einen Blick auf das, was der Theologe Gordon Kaufman zu sagen hat: Das Hauptproblem des theologischen Diskurses ist die Bedeutung des Ausdrucks »Gott«, und von diesem Problem ist kein anderes »Sprachspiel« betroffen. Das Wort »Gott« wirft spezielle Bedeutungsfragen auf, denn es ist ein Substantiv, das sich per definitionem auf eine Realität
I Das Problem
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bezieht, die zur Erfahrung in einem transzendenten Verhältnis steht und daher nicht im Bereich der Erfahrung angesiedelt werden kann.²
Insbesondere scheint unter Theologen die Ansicht weitgehend akzeptiert zu werden, von Kant sei nachgewiesen worden, dass die Bezugnahme auf ein solches Wesen und das Nachdenken darüber selbst im Falle seiner Existenz unmöglich oder zumindest äußerst fragwürdig seien.³ Zumindest seien sie sehr viel fragwürdiger als die Vorstellung von unserer Fähigkeit, auf uns selbst und andere Personen, auf Bäume und Berge, Planeten und Sterne usw. Bezug zu nehmen und darüber nachzudenken. Die Theologen, die meinen oder vermuten, Kant habe diesen Nachweis erbracht, gehen gewöhnlich nicht auf die Einzelheiten dieser Auffassung ein,⁴ sondern sie begnügen sich mit einer rituellen Verbeugung vor ihm.Vielleicht glauben sie (völlig zu Recht), das sei eine Aufgabe für Philosophen. Einige dieser Theologen machen sodann geltend, die augenscheinlich von einem transzendenten Gott handelnde Sprache sei gar nicht so beschaffen, wie es den Anschein habe. In Wirklichkeit diene sie einem ganz anderen Zweck. Es könne auch sein, dass sie in der gegebenen Form eigentlich gar keinem nützlichen Zweck diene. Uns obliege es, einen nützlichen Zweck, dem sie dienen könne, ausfindig zu machen.Vielleicht könne sie irgendwie dazu verwendet werden, das Gedeihen des Menschen und die Menschlichkeit,⁵ die religiöse Toleranz,⁶ die Praxis der Befreiung, die Rechte der Frau⁷ oder den Kampf gegen die Unterdrückung zu fördern oder voranzubringen. Wichtig für mein jetziges Vorhaben ist jedoch nicht eine Erkundung der Möglichkeiten, die religiöse Sprache umzudeuten oder umzugestalten, sobald man erkennt (bzw. zu erkennen glaubt), sie könne gar nicht so funktionieren, wie sich die normalen Gläubigen das vorstellen. Stattdessen möchte ich die vorgängige These untersuchen, diese Sprache könne tatsächlich nicht so funktionieren, wie die normalen Gläubigen das voraussetzen. Haben die Bezugnahme auf Gott
God the Problem, Cambridge: Harvard University Press 1972, S. 8. Auch im Rahmen der gesamten mittelalterlichen Tradition der negativen Theologie galt die Bezugnahme auf Gott als problematisch. Der Unterschied liegt darin, dass man die Möglichkeit der Bezugnahme auf Gott im Mittelalter natürlich für selbstverständlich hielt. Das Problem bestand darin, eine Erklärung dafür zu liefern, wie die Bezugnahme im einzelnen zu bewerkstelligen ist. Die modernen Autoren, die mir hier vorschweben, werden durch diese (sei es scheinbaren oder echten) Probleme jedoch zu Zweifeln an der Möglichkeit bewogen, auf ein letztursprüngliches und transzendentes Wesen Bezug zu nehmen und darüber zu reden. Wie wir im 2. Kapitel sehen werden, ist John Hick eine Ausnahme von der Regel. So bei Gordon Kaufman, s.u., Kapitel 2, S. 46. So bei John Hick, s.u., Kapitel 2, S. 69. Siehe Sallie McFague, Models of God, Philadelphia: Fortress Press 1987.
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1 Kant
oder das Nachdenken über ihn tatsächlich etwas besonders Fragwürdiges an sich? Hat Kant wirklich nachgewiesen, dass wir uns weder auf Gott beziehen noch über ihn nachdenken könnten, wenn es eine Person wie ihn wirklich gäbe? Oder hat er, falls »nachweisen« ein zu starkes Wort ist, überzeugende oder auch nur leidliche Gründe für die Annahme genannt, unsere Begriffe ließen sich nicht auf Gott anwenden, sofern ein solches Wesen existiert? Oder haben, falls Kant das nicht geleistet hat, einige seiner heutigen Anhänger – wie z. B. Gordon Kaufman oder John Hick – einen Grund dafür genannt, das wirklich für wahr zu halten? Ist die relevante These – unsere Begriffe träfen auf Gott nicht zu – überhaupt kohärent? (Oder vielmehr: Gibt es irgendwo in der Nachbarschaft eine kohärente These? Denn offenbar lauern hier mehrere verschiedene Thesen.) Zunächst lautet die Antwort auf diese Frage offenbar nein. Wer diese These aufstellt, scheint ein bestimmtes Etwas – nämlich Gott – als Subjekt der Prädikation hinzustellen, um anschließend zu erklären, unsere Begriffe träfen auf dieses Wesen nicht zu. Doch wenn dem so ist, gibt es unter unseren Begriffen wenigstens einen – nämlich: so beschaffen sein, dass unsere Begriffe nicht darauf zutreffen –, der eben doch auf dieses Wesen zutrifft. Entweder gelingt es den Verfechtern dieser These, eine Behauptung aufzustellen, oder es gelingt ihnen nicht. Gelingt es ihnen nicht, gibt es nichts, was wir in Betracht zu ziehen hätten. Gelingt es ihnen doch, prädizieren sie sie offenbar eine Eigenschaft von einem Wesen, auf das sie Bezug genommen haben. In diesem Fall treffen einige unserer Begriffe tatsächlich darauf zu und stehen damit in Widerspruch zu ihrer These. Daher gilt: Falls es ihnen gelingt, eine These aufzustellen, ist die aufgestellte These falsch. Zunächst ist festzuhalten, wie schwierig es ist, die relevante These überhaupt zu formulieren, also die These: Falls es ein Wesen gibt, dem die von christlicher Seite Gott zugeschriebenen Eigenschaften zukommen, ließen sich unsere Begriffe nicht auf dieses Wesen anwenden. Betrachten wir die folgende Aussage: (1) Gäbe es ein unendliches, transzendentes und letztursprüngliches Wesen, ließen sich unsere Begriffe nicht darauf anwenden. Nun wollen wir jedoch annehmen, (1) treffe zu. Dahinter steckt vermutlich die Vorstellung, dass wir von den Eigenschaften der Unendlichkeit, der Transzendenz und der Letztursprünglichkeit zumindest einen gewissen Begriff haben (sonst wären wir nicht dazu imstande, den Satz zu verstehen oder die von ihm ausgedrückte Proposition zu erfassen). Man könnte sagen, ein unendliches Wesen sei ein unbegrenztes Wesen, und zwar unbegrenzt im Hinblick auf bestimmte Eigenschaften. Zu diesen Eigenschaften könnten etwa Macht,Wissen, Güte, Liebe und dergleichen gehören. (Ein Wesen ist z. B. dann im Hinblick auf die Macht und das – propositionale – Wissen unbegrenzt, wenn es einen maximalen Grad an Macht und Wissen gibt und das fragliche Wesen in maximalem Grad über diese Eigenschaften verfügt. Dabei kann es schwerfallen, genaue Angaben darüber zu machen, was den maximalen Grad solcher Eigenschaften ausmacht. Im Hinblick auf
I Das Problem
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das Wissen könnte man als erstes ausführen, ein Wesen lege diesen maximalen Grad dann an den Tag, wenn es alle wahren Aussagen kennt und keine falschen Aussagen für wahr hält.) Vielleicht können wir auch erklären, was es heißt, ein Wesen sei transzendent: Ein solches Wesen transzendiert die geschaffene Welt; und ein Wesen transzendiert die geschaffene Welt dann, wenn es mit keinem zu dieser Welt gehörenden Wesen identisch ist (wenn es also selbst nichts Erschaffenes ist) und wenn seine Existenz von nichts anderem abhängt. Wir verfügen also tatsächlich über die Ideen der Transzendenz und der Unendlichkeit. (Wenn nicht, hat (1) keinen Sinn.) Die Vorstellung, die hinter (1) steckt, besagt: Sofern es tatsächlich ein solches Wesen gibt (d. h. sofern ein unendliches und transzendentes Wesen existiert), ließe sich keiner unserer Begriffe darauf anwenden. Speziell die Begriffe ist unendlich und ist transzendent könnten nicht darauf zutreffen. Doch wie wäre das möglich? Wie wäre es möglich, dass ein unendliches und transzendentes Wesen existiert (und mithin unter unsere Begriffe Unendlichkeit und Transzendenz fällt), aber dennoch so beschaffen ist, dass sich die Begriffe Unendlichkeit und Transzendenz nicht darauf anwenden lassen? Steckt hier vielleicht die Vorstellung dahinter, diese Begriffe seien ebenso unmöglich und inkohärent wie der Begriff des runden Vierecks, von dem man a priori unmittelbar erkennt, dass er auf gar nichts zutreffen könnte – dass es kein Ding geben könnte, auf das er anwendbar wäre?⁸ Dadurch würde (1) trivialerweise wahr, zumindest wenn ein Konditional mit unmöglichem Antezedens ebendadurch wahr wird. Natürlich würde die Aussage (1*) dadurch ebenfalls wahr werden: (1*) Gäbe es ein allmächtiges, allwissendes Wesen, ließen sich unsere Begriffe tatsächlich darauf wenden. Also steckt die genannte Vorstellung wohl doch nicht dahinter. Welches ist denn dann die relevante Vorstellung? Vermutlich ist es so: Wenn man eine solche Anschauung kohärent zu artikulieren versucht, kann man kaum etwas Besseres tun als John Hick (s. u., S. 53 f.) und behaupten, es gebe ein Wesen, auf das keine unserer positiven, nichtformalen Begriffe zutreffen. (Dieses Wesen habe keine der positiven, nichtformalen Eigenschaften, von denen wir Begriffe haben.) Irgendwie sei es der Fall, dass dieses Wesen ebenjenes sei, zu dem die Christen und andere Menschen im Rahmen ihrer religiösen Praxis eine Verbindung herstellen. Zu darüber hinausgehenden Aussagen sind wir vielleicht nicht imstande. Weiter unten (S. 68 ff.) werde ich allerdings geltend machen, dass das nicht ausreicht. Diese Auffassung krankt an gravierenden, ja verheerenden Defekten.
Der Vorschlag besagt also, Kant habe irgendwie gezeigt, dass echte, vielleicht unüberwindliche Probleme in der Vorstellung liegen, es gebe ein Wesen der von der christlichen Überlieferung anerkannten Art, auf das wir Bezug nehmen können und auf das sich unsere Begriffe anwenden lassen. Dabei handelt es sich um eine Frage, die für unser jetziges Unterfangen von erheblicher Bedeutung ist, denn wenn dieser Vorschlag richtig ist, gibt es tatsächlich keine Frage von der Art derjenigen, die ich nach meiner Behauptung zu erörtern vorhabe. In diesem Fall
In diesem Sinne ist von manchen Philosophen behauptet worden, der Begriff Allmacht sei inkohärent. Andere haben sich ebenso schmeichelhaft über den Begriff Allwissenheit geäußert (siehe Patrick Grim / Alvin Plantinga, »Truth, Omniscience, and Cantorian Arguments: An Exchange«, in: Philosophical Studies 70 [August 1993].) Wieder andere haben die gleiche These im Hinblick auf die Idee vertreten, Gott sei eine Person ohne Körper.
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1 Kant
bringen die Sätze, mit deren Hilfe die Christen (wie sie meinen) ihre Überzeugungen zum Ausdruck bringen, in Wirklichkeit keine Aussagen oder Gedanken zum Ausdruck, die sie nach christlicher Auffassung artikulieren. Ja, vielleicht bringen sie gar keine Aussagen oder Gedanken zum Ausdruck, sondern sind nichts weiter als verhüllter Unsinn. Demnach sehen sie zwar so aus, als brächten sie Aussagen zum Ausdruck, tun es aber in Wirklichkeit nicht. Ehe wir auf Kant selbst eingehen, ist es jedoch bedenkenswert, dass die in Frage stehende These im historischen Kontext der Gegenwart keineswegs neu ist. Seit Beginn der 1930er Jahre pochten die logischen Positivisten gern darauf, dass die von Christen typischerweise benutzten Sätze in ihrem gewöhnlichen Gebrauch eigentlich nichtssagend sind. Beispiele wären Sätze wie »Gott liebt uns«, »Die Welt wurde von Gott geschaffen« oder »Gott war in Christus, um die Welt mit sich zu versöhnen«. Solche Sätze brächten gar keine Aussagen zum Ausdruck, sondern seien im Grunde kaschierter Unsinn.⁹ Sie scheinen etwas zu sagen, und Christen sowie andere Menschen glauben, sie sagten etwas, doch in Wirklichkeit bringen sie ebensowenig Aussagen zum Ausdruck wie offensichtlich unsinnige Sätze vom Typ »Verdaustig war’s, und glaße Wieben / rotterten gorkicht im Gemank«.* Die Positivisten beriefen sich auf das gefürchtete Sinnkriterium der Verifizierbarkeit, dem zufolge ein Satz nur dann sinnvoll ist – nur dann in buchstäblicher oder kognitiver Hinsicht Bedeutung hat –, wenn er »empirisch verifizierbar« (oder »falsifizierbar«) ist, also nur dann, wenn seine Wahrheit (oder Falschheit) durch Methoden von der Art der Natur- und Erfahrungswissenschaften nachgewiesen werden kann. Ungefähr seit den 1940er Jahren handelte es sich bei den Hauptfragen, die von den Religionsphilosophen der englischsprachigen Welt gestellt und beantwortet wurden, darum, ob es überhaupt möglich ist, auf Gott Bezug zu nehmen, und ob die typischerweise von Christen und anderen gottgläubigen Menschen geäußerten Sätze Sinn haben oder vielmehr Unsinn darstellen, also in kognitiver Hinsicht ohne Bedeutung sind.¹⁰ Daraus folgt natürlich nicht, dass solche sinnlosen Sätze völlig nutzlos sind. Vielleicht erfüllen sie eine andere Funktion. Rudolf Carnap z. B. fragte sich, ob die sinnlosen Sätze der Metaphysik und der Theologie nicht eigentlich eine Form von Musik darstellen könnten.¹¹ (Ich
Siehe etwa A. J. Ayer, Language, Truth and Logic, New York: Dover Publications 1946, S. 115 ff. * Lewis Carroll, Jabberwocky (übers. von Christian Enzensberger). [Anm. d. Übers.] Siehe beispielsweise Antony Flew / Alasdair MacIntyre (Hg.), New Essays in Philosophical Theology, London: SCM Press 1955. Mag sein, dass die Metaphysik, ebenso wie Carnaps eigene Schriften, auch noch weitere ästhetische Funktionen erfüllen kann. Soweit ich weiß, hat zwar noch niemand diese Schriften als Musik verwendet (oder sie auch nur vertont), doch 1976 hat das Oxforder Museum für moderne Kunst immerhin eine Seite aus Carnaps Logischer Syntax der Sprache in etwa zwanzigfacher
II Kant
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weiß nicht, ob er damit rechnete, dass sie an die Stelle von Mozart und Bach oder gar Wagner treten würden. Ich für mein Teil möchte es bezweifeln, dass die Metaphysik je Mozart ersetzen wird, aber vielleicht könnte man sie als eine besonders avantgardistische Form der Rockmusik ansehen.) Inzwischen ist der logische Positivismus in hochverdiente Vergessenheit geraten.¹² Nach wie vor hält sich jedoch der weitverbreitete Eindruck, die Bezugnahme auf Gott habe etwas Fragwürdiges an sich. Nun ist es an der Zeit, sich Kant selbst zuzuwenden, auf den diese Vorstellung in erster Linie zurückgeht. Sollte seine Philosophie denjenigen Sorge bereiten, die mit ihren Gedanken, Bezeichnungen, Gebeten und Lobpreisungen auf ein Wesen Bezug nehmen wollen, das so beschrieben wird, wie die Christen Gott beschreiben, nämlich als ein transzendentes, unendliches, personales Wesen?
II Kant Immanuel Kant war geradezu ein philosophischer Titan und hat auf die nachfolgende Philosophie und Theologie enormen Einfluss ausgeübt. Das dürfte daran liegen, dass er sich tief in die Probleme hineindenken konnte und ein ungezähmtes philosophisches Denkvermögen besaß. Vielleicht liegt es auch an den erheblichen Interpretationsschwierigkeiten, die das Studium seiner Schriften mit sich bringt. Der britische Philosoph David Hume etwa schreibt mit einer gewissen Oberflächenklarheit, die bei genauerem Hinsehen leider verschwindet. Bei Kant hingegen sind gute und schlechte Nachrichten zu vermelden: Die gute Nachricht besagt, dass uns diese Enttäuschung erspart bleibt. Die schlechte Nachricht lautet: Das liegt daran, dass es von vornherein keine Oberflächenklarheit gibt. Um
Vergrößerung an die Wand geheftet und ausgestellt. Ein metaphysischer Text könnte gewiss den gleichen Zweck erfüllen. Darstellungen des trostlosen Schicksals des Verifizierbarkeitskriteriums finden sich etwa bei Carl Hempel, »Problems and Changes in the Empiricist Criterion of Meaning«, in: Leonard Linsky (Hg.), Semantics and the Philosophy of Language, Urbana: University of Illinois Press 1952, und in meinem Buch God and Other Minds, Ithaca, NY: Cornell University Press 1967, Kapitel 7. Nachwirkungen gibt es nicht nur im Kreis jener Theologen, die die religiöse Sprache so umdeuten wollen, dass sie nicht mehr auf Gott Bezug nimmt, sondern auch im Bereich des von Wittgenstein inspirierten und von D. Z. Phillips und anderen Autoren vertretenen Fideismus, der gewissermaßen eine Form von Positivismus mit anderen Mitteln ist. Einige dieser Arbeiten sind zwar äußerst diskutierenswert, doch hier werde ich mich nicht mit ihnen auseinandersetzen. Stattdessen möchte ich den Leser auf auf eine scharfsinnige, wenn auch noch unveröffentlichte Arbeit von Nicholas Wolterstorff hinweisen: »Philosophy of Religion after Foundationalism I: Wittgensteinian Fideism«. Den Ausführungen Wolterstorffs habe ich kaum etwas hinzuzufügen.
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1 Kant
zu sehen, ob Kant nachgewiesen oder auch nur geglaubt hat, dass sich unsere Begriffe nicht auf Gott anwenden lassen, können wir uns keiner allgemein anerkannten Kantinterpretation zuwenden, denn eine allgemein anerkannte Interpretation gibt es nicht. Als erstes ist jedoch festzuhalten, dass sich Kant in seinen Schriften oft so ausdrückt, als seien wir durchaus dazu imstande, auf Gott Bezug zu nehmen. In der Kritik der praktischen Vernunft und anderen Schriften (etwa in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft oder den Vorlesungen über die philosophische Religionslehre) scheint sich Kant immer wieder auf Gott zu beziehen und sieht sich selbst offenkundig als jemanden, der genau dies tut. Sogar in der Kritik der reinen Vernunft, die in dieser skeptischen Richtung besonders einflussreich gewesen ist, scheint Kant häufig anzudeuten, dass wir tatsächlich auf Gott Bezug nehmen und über ihn nachdenken können. Oft scheint er geltend zu machen, das Problem liege nicht darin, dass wir außerstande sind, über Gott nachzudenken, sondern darin, dass es uns nicht gelingen will, zu spekulativer oder metaphysischer Erkenntnis Gottes zu gelangen. In dieser Kritik, so sagt er, sei es ihm darum gegangen, dem Wissen Einhalt zu gebieten, um dem Glauben Platz zu schaffen.¹³ Der relevante Glaube ist vermutlich der gleiche, der in der Kritik der praktischen Vernunft und anderen Schriften zum Ausdruck gebracht wird. Das würde gewiss einschließen, dass auf Gott Bezug genommen wird und dass seine Existenz ebenso wie seine Attribute als Postulate der praktischen Vernunft aufgefasst werden, mithin als Voraussetzung der Realität und Ernsthaftigkeit der Moralität. Manche Kantinterpreten, die ihn in diesem Sinne verstehen, sind auch der Überzeugung, dass Kant selbst Theist war und glaubte, die Dinge an sich seien eben die Dinge, wie sie Gott erscheinen, d. h. die Dinge in ihrem Ansichsein.¹⁴ Sofern diese Kantauffassung richtig liegt, ist es seiner Ansicht nach freilich durchaus möglich, auf Gott Bezug zu nehmen. Sollte diese Möglichkeit bestehen, ist es auch möglich, ihm Eigenschaften und Attribute zuzuschreiben. Und wenn diese Möglichkeit besteht, lassen sich unsere Begriffe in der Tat auf ihn anwenden. So würden beispielsweise die negativen Begriffe ist nicht in Raum und Zeit sowie ist bezüglich seiner Existenz nicht vom Menschen abhängig auf ihn zutreffen. Ferner würden nach dieser Kantinterpretation positive Begriffe wie hat Wissen und hat Macht ebenso auf Gott zutreffen wie der Begriff hat die Welt erschaffen. Dieser Deutung zufolge wäre es verfehlt anzunehmen, Kant habe nachgewiesen, dass sich unsere
Kritik der reinen Vernunft [= KrV], Vorrede zur zweiten Auflage (B XXX): »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen« (Hervorhebungen von Kant). [Zitiert wird nach der von Jens Timmermann besorgten Ausgabe: Hamburg: Meiner 1998.] Siehe Merold Westphal, »In Defense of the Thing in Itself«, in: Kant-Studien 59/1 (1968), S. 118 ff.
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Begriffe nicht auf Gott anwenden lassen – es sei denn, man wäre dazu bereit, die Ansicht zu vertreten, Kant habe es nachgewiesen, ohne es jedoch zu merken, so dass er irrtümlich auf etwas Bezug zu nehmen glaubte, wovon er selbst gezeigt hatte, dass die entsprechende Bezugnahme unmöglich ist. Möglich ist das natürlich, aber es würde ein ungewöhnlich hohes Maß an Zerstreutheit voraussetzen. Dennoch ist der Gedanke, Kant zufolge ließen sich unsere Begriffe nicht auf Gott anwenden, weder eine bloße Erdichtung noch nur ein gedankenloses Missverständnis. Genauer gesagt: Sollte es sich um ein Missverständnis handeln, hat es eine nicht unerhebliche Grundlage in Kants Text. Vieles in der Kritik der reinen Vernunft legt diesen oder einen ähnlichen Gedanken nahe. Jedenfalls deutet vieles darauf hin, dass die Kategorien des Verstandes – also Begriffe von ganz besonderer Bedeutung – nicht auf die Dinge an sich zutreffen (und somit nicht auf Gott). Kant sagt z. B.: Wenn wir also die Kategorien auf Gegenstände, die nicht als Erscheinung betrachtet werden, anwenden wollten, so müßten wir eine andere Anschauung, als die sinnliche, zum Grunde legen, und alsdenn wäre der Gegenstand ein Noumenon in positiver Bedeutung. Da nun eine solche, nämlich die intellektuelle Anschauung, schlechterdings außer unserem Erkenntnisvermögen liegt, so kann auch der Gebrauch der Kategorien keineswegs über die Grenze der Gegenstände der Erfahrung hinausreichen. (B 309 / A 353)
Hier wie an anderen Stellen deutet Kant an, dass sich die Kategorien des Verstandes nicht außerhalb des Reichs der Erscheinungen anwenden lassen, also nicht außerhalb der Welt der Phänomene. (Ich gebrauche das Wort »andeuten«, weil dieser Passus ebenso wie alle übrigen mehr als nur einen Anflug von Doppeldeutigkeit enthält.) Doch sofern sich diese Kategorien nicht auf die Noumena – die Dinge an sich – anwenden lassen, gilt das gleiche vielleicht auch für unsere übrigen Begriffe. Und falls unsere Begriffe nicht außerhalb der Welt der Erfahrung – also nicht außerhalb der Welt der Erscheinungen – zutreffen, lassen sie sich nicht auf Gott anwenden, der natürlich ein Noumenon in excelsis wäre. Demnach würde die These lauten, dass Kant (zumindest in der Kritik der reinen Vernunft) zeigt oder die Ansicht vertritt, unsere Begriffe träfen auf Gott nicht zu, so dass wir außerstande wären, auf ihn Bezug zu nehmen oder über ihn nachzudenken.
A Zwei Welten oder eine? Was lässt sich zugunsten dieser Kantauffassung sagen? Hier lauern enorme hermeneutische Hindernisse. Erstens, wie sollen wir uns einen Reim auf diese Unterscheidung zwischen Noumena und Phänomena machen, zwischen Dingen an
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sich und Dingen für uns? Leider sind die Interpreten nicht einer Meinung. Es gibt hier eine große Diskrepanz, eine gewaltige Kluft zwischen zwei grundverschiedenen Interpretationen oder grundlegenden Bildern dessen, was Kant vorschwebte, und zu beiden Seiten gibt es etliche Varianten, sobald man ins Detail geht. Dem ersten und eher traditionellen Bild zufolge vertrat Kant die Ansicht, es gebe zwei Reiche von Gegenständen, zwei grundverschiedene Arten von Dingen. Da seien einerseits die Phänomena und andererseits die Noumena – hier die Dinge an sich und dort die Dinge für uns. (Diese beiden Unterscheidungen fallen bei Kant nicht genau zusammen. Aber die Hinsichten, in denen sie nicht zusammenfallen, sind für unsere Untersuchung nicht von Belang.) Diesem Bild zufolge gibt es einerseits, genau unserer Alltagsauffassung entsprechend, Tische und Stühle, Pferde und Kühe, Sterne und Planeten sowie die Eiche im Garten hinter dem Haus. Diese Dinge existieren wirklich und sind tatsächlich vorhanden. Sie besitzen phänomenale Realität und gehören wirklich zur Welt der Erfahrung. Aber zugleich kommt ihnen transzendentale Idealität zu, d. h., sie gehören nicht zur Welt, wie sie unabhängig von der menschlichen Erfahrung ist. Andererseits gibt es die Noumena, denen transzendentale Realität zukommt. Das sind die Dinge in ihrem Ansichsein. Deren Existenz oder Beschaffenheit hängt nicht von den Menschen oder von menschlicher Erfahrung ab. Diese beiden Bereiche sind nicht miteinander verbunden: Kein phänomenaler Gegenstand ist ein Noumenon, und kein noumenaler Gegenstand ist ein Phänomenon. Die folgenden beiden Stellen stützen diese Interpretation: Nun sollte man denken, daß der durch die transz. Ästhetik eingeschränkte Begriff der Erscheinungen schon von selbst die objektive Realität der Noumenorum an die Hand gebe, und die Einteilung der Gegenstände in Phaenomena und Noumena, mithin auch der Welt, in eine Sinnen- und eine Verstandeswelt (mundus sensibilis & intelligibilis) berechtige, und zwar so: daß der Unterschied hier nicht bloß die logische Form der undeutlichen und deutlichen Erkenntnis eines und desselben Dinges, sondern die Verschiedenheit treffe, wie sie unserer Erkenntnis ursprünglich gegeben werden können, und nach welcher sie an sich selbst, der Gattung nach, von einander unterschieden sein. (A 249) Erscheinungen sind die einzigen Gegenstände, die uns unmittelbar gegeben werden können, und das, was sich darin unmittelbar auf den Gegenstand bezieht, heißt Anschauung. Nun sind aber diese Erscheinungen nicht Dinge an sich selbst, sondern selbst nur Vorstellungen, die wiederum ihren Gegenstand haben, der also von uns nicht mehr angeschaut werden kann, und daher der nichtempirische, d. i. transzendentale Gegenstand = X genannt werden mag. (A 109)
Diese Phänomena sind Gegenstände – Gegenstände, die in Raum und Zeit existieren. Die Noumena hingegen sind weder zeitlich noch räumlich. Raum und Zeit sind keine die Dinge an sich kennzeichnenden Realitäten, sondern Formen der Anschauung. Daher sind Noumena und Phänomena verschieden.
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Ferner gilt, dass unsere Erfahrung nicht die Noumena, sondern nur die Phänomena erfasst: Wir haben in der transzendentalen Ästhetik hinreichend bewiesen: daß alles, was im Raume oder der Zeit angeschauet wird, mithin alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung, nichts als Erscheinungen, d. i. bloße Vorstellungen sind, […]
Außerdem hängt die Existenz der Phänomena – der Welt der Sterne und Planeten sowie der Bäume und Tiere – von uns ab. Der eben zitierte Satz geht so weiter: […] die, so wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen, oder Reihen von Veränderungen, außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben. (A 491 / B 519)
An anderer Stelle schreibt Kant: Daß die Natur sich nach unserm subjektiven Grunde der Apperzeption richten, ja gar davon an Ansehung ihrer Gesetzmäßigkeit abhangen solle, lautet wohl sehr widersinnisch und befremdlich. Bedenket man aber, daß diese Natur an sich nichts als ein Inbegriff von Erscheinungen, mithin kein Ding an sich, sondern bloß eine Menge von Vorstellungen des Gemüts sei […]. (A 114) Nun drückt selbst diese Vorstellung: daß alle diese Erscheinungen, mithin alle Gegenstände, womit wir uns beschäftigen können, insgesamt in mir, d. i. Bestimmungen meines identischen Selbst sind, eine durchgängige Einheit derselben in einer und derselben Apperzeption als notwendig aus. (A 129)
Das entspricht der traditionelleren Kantinterpretation und damit dem Bild, das sich Kants bedeutende Nachfolger von ihm machten. Um es kurz und viel zu unkompliziert zu formulieren: Es gibt zwei Bereiche von Gegenständen. Unsere Erfahrung bezieht sich auf nur einen dieser Bereiche, das Reich der Phänomena, dessen Existenz wiederum von uns selbst abhängt. Sollten wir aufhören zu existieren, würden sie ebenfalls aufhören. Der Grund liegt darin, dass der phänomenale Bereich irgendwie aus dem Gegebenen, den Daten, dem Rohstoff der Erfahrung von uns konstruiert wird. Der noumenale Bereich dagegen ist nicht in dieser Form von uns abhängig, sondern ist außerdem so beschaffen, dass wir keine Anschauung, keine unmittelbare Erfahrung von ihm haben. Dennoch gibt es schließlich insofern eine Verbindung zwischen den beiden Welten, als so etwas wie eine kausale Transaktion zwischen den Noumena und dem transzendentalen Ich (das seinerseits ein Noumenon ist) in uns das Gegebene hervorbringt, aus dem wir die Welt der Phänomena aufbauen. Diese Auffassung können wir das »Zwei-Welten-Bild« nennen. Das ist die seit langem vorherrschende Interpretation. Es hat jedoch immer schon eine andere Rahmeninterpretation Kants gegeben, die in letzter Zeit vielleicht sogar den Status
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der Mehrheitsmeinung errungen hat. Diesem anderen Bild zufolge gibt es eigentlich doch keine zwei Welten, also nicht eine Welt der Phänomena, der eine davon verschiedene Welt der Noumena zugrunde liegt. Danach gibt es nur eine Welt und nur eine Art von Gegenständen, aber (zumindest) zwei Arten, diese eine Welt denkend zu erfassen oder zu betrachten. Alle Gegenstände sind eigentlich noumenale Objekte, und Äußerungen über Phänomena sind lediglich bildlich formulierte Aussagen darüber, wie uns die Noumena – also die einzigen wirklich existierenden Dinge – erscheinen. Die Unterscheidung zwischen Phänomena und Noumena ist demnach keine Unterscheidung zwischen zwei Arten von Gegenständen, sondern eine Unterscheidung zwischen der Weise, in der die Dinge an sich existieren, und der Weise, in der sie uns erscheinen. So schreibt etwa Graham Bird: Solche Formulierungen [wie z. B. »transzendentale Objekte und empirische Objekte«] sollten so aufgefasst werden, dass sie sich nicht auf zweierlei Arten von Entitäten beziehen, sondern vielmehr auf zwei verschiedene Weisen, über ein und dieselbe Sache zu reden.¹⁵
Bei Michael Devitt heißt es: Es ist verlockend, die Erscheinung mit einem fundierungstheoretisch gedeuteten Sinnesdatum gleichzusetzen und das Ding an sich als die unerkennbare äußere Ursache dieses mentalen Etwas aufzufassen. In seinen Schriften drückt sich Kant häufig so aus, dass diese verlockende Interpretation nahegelegt wird. Trotzdem scheinen sich die Interpreten im großen und ganzen darüber einig zu sein – und haben mich von dieser Meinung überzeugt –, dass diese Zwei-Welten-Deutung falsch ist. Was Kant im Sinn hat, ist die folgende einflussreiche, aber ziemlich geheimnisvolle Eine-Welt-Auffassung: Eine Erscheinung ist kein mentales Sinnesdatum, sondern ein äußerer Gegenstand, so wie wir ihn kennen. Das Ding an sich hingegen ist der Gegenstand unabhängig von unserer diesbezüglichen Erkenntnis. Es ist kein zweiter Gegenstand und nicht die Ursache einer Erscheinung – ja, eine solche Ursache könnte es gar nicht sein […].¹⁶
Dieses zweite Bild entspricht heute zwar vielleicht der Mehrheitsmeinung, aber es ist offenbar nicht ohne weiteres mit Kants eigener Auffassung in Einklang zu
Kant’s Theory of Knowledge, New York: Humanities Press 1962, S. 37. Realism and Truth, Princeton: Princeton University Press 1984, S. 59. Siehe auch D. P. Dryer, Kant’s Solution for Verification in Metaphysics, Toronto: University of Toronto Press 1966, Kapitel 11, Abschnitt vi; H. E. Matthews, »Strawson on Transcendental Idealism«, in: Philosophical Quarterly 19 (1969), S. 204– 220; Henry Allison, Kant’s Transcendental Idealism, New Haven: Yale University Press 1983. Diese Hinweise verdanke ich Karl Ameriks, siehe »Recent Work on Kant’s Theoretical Philosophy«, in: American Philosophical Quarterly 19 (1982), und »Kantian Idealism Today«, in: History of Philosophy Quarterly 9 (1992), sowie James Van Cleve, Problems from Kant, New York: Oxford University Press 1999.
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bringen, wonach seine Theorie eine Wende darstellt: seine berühmte zweite kopernikanische Wende.¹⁷ Große Teile des zweiten Bildes würden ja auch von so standhaften Vertretern vorwendezeitlicher Theorien akzeptiert werden wie Aristoteles und Thomas von Aquin. Beide würden zustimmen, dass es einen Unterschied gibt oder geben kann zwischen der Welt (oder irgendeiner weniger imponierenden Sache) in ihrem Ansichsein und der Welt, wie sie uns erscheint. Damit räumt man nichts weiter ein, als dass wir uns irren können, was die Welt oder die Dinge dieser Welt betrifft. Und das würden Aristoteles und Thomas natürlich kaum bestreiten. Beide würden der sehr viel anspruchsvolleren Ansicht zustimmen, dass die Welt Eigenschaften besitzen könnte, von denen wir keine Vorstellung haben, so dass unsere Auffassung der Welt – die Eigenschaften, die wir ihr zuschreiben – nicht unbedingt und ausschließlich jene Eigenschaften umfasst, die ihr tatsächlich zukommen. Für Thomas und jeden anderen Theisten wäre das nachgerade eine Binsenweisheit, denn Gott besitzt offenbar viele Eigenschaften, von denen wir keine Ahnung haben, und vermutlich auch viele Eigenschaften, von denen wir uns gar kein Bild machen könnten. Die wesentlichen Elemente der EineWelt-Auffassung wirken – zumindest im Verhältnis zu Kants Vorläufern – vielleicht ein wenig zu unstrittig, um eine sei’s kopernikanische oder sonstwie geartete Wende auszumachen. Nach Merold Westphal verhält es sich folgendermaßen: Alle zwölf Kategorien sind, insofern sie nicht bloß formale Merkmale des Urteils, sondern die Welt der menschlichen Erfahrung konstituieren, so schematisiert, dass sie einen wesentlichen Bezug auf die Zeit enthalten. Dementsprechend sind der Gegenstand und die Eigenschaft, die aus der Welt verschwinden würden, wenn es keine Träger menschlicher Erkenntnis gäbe, nicht der Gegenstand und die Eigenschaft als solche, sondern Substanz und Akzidens, so wie sie durch die menschliche Zeitlichkeit bestimmt werden. Ebenso leiten sich die Wahrheit und die Falschheit, die dann verschwinden würden, von den Kategorien der Realität und der Negation her, so wie sie wesentlich mit unserer Zeiterfahrung verknüpft sind. Damit sind wir wieder bei der Tautologie gelandet, dass die Welt, so wie sie vom menschlichen Geist erfasst wird,verschwinden würde,wenn es keine menschliche Erkenntnis gäbe.¹⁸
»Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit eben so, als mit den ersten Gedanken des Copernicus bewandt […].« (KrV, B XVI) »In Defense of the Thing Itself«, S. 170.
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Das ist offenbar tatsächlich eine Tautologie oder zumindest eine notwendige Trivialwahrheit. Man könnte hinzufügen, dass die Welt, so wie sie vom Geist des Rindes erfasst wird, verschwinden würde, wenn es keine Erkenntnis durch Rinder gäbe. Doch wie sollte Kant dann auf die Idee kommen können, damit sei eine Wende gegeben, der zufolge Erkenntnis nur möglich sei, wenn die Gegenstände unserem Geist entsprechen (so dass die frühere Auffassung verdrängt wird, wonach sich unser Geist nach den Gegenständen zu richten hat)? Kann eine Tautologie eine Wende konstituieren?
1 Eine-Welt-Bild und Bezugnahme auf Noumena In erster Linie geht es uns hier nicht um den Versuch, die Frage nach dem, was Kant wirklich gemeint hat, zu beantworten. Ein solcher Versuch überstiege – vielleicht notwendig – unsere Kräfte. Statt dessen wollen wir herausbekommen, ob es triftige Gründe gibt, die Kant genannt hat oder aus seinen Hinweisen konstruierbar sind und welche die Konklusion nach sich ziehen, dass unsere Begriffe nicht auf Gott zutreffen. Inwiefern wirkt sich der Unterschied zwischen den beiden genannten Kantinterpretationen auf diese Frage aus? Zunächst wollen wir das zweite Bild betrachten und folgendes festhalten: Sofern unsere Begriffe überhaupt auf etwas zutreffen, dann auf die Dinge an sich, denn sie sind die einzigen Dinge, die es gibt. Wie soll es also möglich sein, dass sich die Kategorien und unsere sonstigen Begriffe nicht auf sie anwenden lassen? Nun, was heißt es denn, dass ein Begriff auf etwas zutrifft, also: dass etwas unter einen Begriff fällt? Betrachten wir etwa den Begriff weise sein. Dieser Begriff trifft nur dann auf etwas zu (es fällt etwas nur dann unter diesen Begriff), wenn dieses Etwas weise ist, d. h. nur dann,wenn es die Eigenschaft der Weisheit besitzt. Eigenschaften und Begriffe stehen demnach in einem korrelativen Verhältnis zueinander. Über den Begriff weise sein verfüge ich nur dann, wenn ich die Eigenschaft weise sein erfasst, begriffen, verstanden habe. Über den Begriff eine Primzahl sein verfüge ich genau dann, wenn ich die Eigenschaft eine Primzahl sein erfasst oder begriffen habe. Jeder Eigenschaft, jedem Attribut, das ich erfasst habe, entspricht ein Begriff, über den ich verfüge. Freilich gibt es Eigenschaften, von denen ich mir keinen Begriff mache. In vielen Fällen verfügen Kleinkinder nicht über den Begriff »Philosoph«. D. h., sie haben die Eigenschaft ein Philosoph sein nicht erfasst. Erwachsenen Philosophen wiederum geht vielfach der Begriff »Quark« ab. D. h., sie haben die Eigenschaft ein Quark sein nicht erfasst. Gewiss gibt es Eigenschaften, die keiner von uns Menschen erfasst hat. Um ein weiteres vertrautes Faktum anzuführen, das Eigenschaften und Begriffe betrifft: Ihnen entsprechen Negationen bzw. Komplemente. Es gibt die Eigenschaft rot sein, und es gibt auch ihr Komplement, das natürlich kein anderes ist als unrot sein, nicht rot sein. Es gibt die Eigenschaft weise sein, aber auch die Eigenschaft unweise sein, nicht weise sein. Sofern einer meiner Begriffe (beispiels-
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weise weise sein) auf ein Ding nicht zutrifft, trifft das Komplement dieses Begriffs (unweise sein, nicht weise sein) darauf zu. Vielleicht möchte man darauf hinweisen, diese Formulierung der Sachlage setze voraus, dass es negative Eigenschaften gibt, mithin Eigenschaften wie nichtrot sein, unweise sein und dergleichen mehr. Dagegen könnte man den Einwand erheben, dass es in Wirklichkeit gar keine negativen Eigenschaften, sondern nur positive gibt. (Ebenso könnte man den Einwand erheben, dass es weder disjunktive noch konjunktive Eigenschaften gibt.) Hier ist nicht der Ort, um diese Frage zu entscheiden. Offenbar gibt es den Begriff »etwas ist nicht weise« (ich weiß, was es heißt, etwas sei nicht weise) auch dann, wenn es eine negative Eigenschaft der Nichtweisheit nicht gibt. Falls jemand also etwas gegen negative Eigenschaften einzuwenden hat, kann man sagen: Ein Ding falle genau dann unter den Begriff Nichtweisheit, wenn es nicht unter den Begriff Weisheit fällt. Allgemeiner ausgedrückt: Für jede Eigenschaft P gilt, dass etwas genau dann unter den Begriff P fällt, wenn es die Eigenschaft P hat. Dagegen fällt es genau dann unter den Begriff nicht-P, wenn es nicht unter den Begriff P fällt. Sobald diese Grundzüge der Theorie über Begriffe und Eigenschaften geklärt sind, stellt sich die Frage, wie es möglich sein soll, dass die Kategorien und unsere sonstigen Begriffe nicht auf die Dinge an sich zutreffen. Nehmen wir uns zunächst die Kategorien vor, beispielsweise die Kategorie der Kausalität. Was hieße es, zu behaupten, diese Kategorie treffe nicht auf die Dinge an sich zu? Das hieße, soweit ich sehe, dass die Noumena nicht in kausalen Beziehungen zueinander oder zu irgendetwas anderem stehen. Betrachten wir die Eigenschaft steht in kausaler Beziehung zu etwas. Falls die Kategorie der Kausalität auf die Noumena nicht zutrifft, muss es so sein, dass kein Noumenon diese Eigenschaft hat. Also würde unser Begriff in kausaler Beziehung zu etwas stehen nicht auf die Dinge in ihrem Ansichsein zutreffen. Daraus folgt jedoch, dass das Komplement dieser Kategorie bzw. dieses Begriffs auf die Dinge an sich zuträfe. Jedes von ihnen wäre derart, dass es nicht in kausaler Beziehung zu etwas anderem stünde. Das gleiche würde auch für weitere Begriffe gelten. Dieser Auffassung zufolge treffen unsere »positiven« Begriffe, wie man behaupten könnte, nicht auf die Dinge an sich zu, womit im Grunde gesagt wäre, dass es keine von uns erfasste positive Eigenschaft gibt, die ein Ding in seinem Ansichsein kennzeichnet. In der gegebenen Formulierung bedarf diese Auffassung jedoch einer ausführlicheren Darstellung. Zum einen gibt es Probleme, die diese Unterscheidung zwischen positiven und negativen Eigenschaften betreffen. Zum anderen gibt es auch noch weitere Probleme: Wie verhält es sich etwa mit positiven Eigenschaften wie mit sich selbst identisch sein? Sollen wir annehmen, dass die Dinge an sich nicht mit sich selbst identisch sind? Mag sein, dass sich diese Fragen klären lassen. (Siehe Kapitel 2, S. 47 ff.) Was unsere jetzigen Belange betrifft, müssen wir erkennen, dass es dieser Auffassung
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zufolge nicht wirklich der Fall wäre, dass unsere Begriffe in einer Weise nicht auf Gott zutreffen, die es uns unmöglich macht, auf ihn Bezug zu nehmen und über ihn nachzudenken. Unter der Voraussetzung, dass Gott ein Noumenon ist (nach dieser Auffassung ist freilich alles ein Noumenon),würde sich tatsächlich ergeben, dass Gott keine der von uns erfassten positiven Eigenschaften hat. Es wäre nicht so, dass wir uns nicht auf Gott beziehen und Eigenschaften von ihm prädizieren könnten. Dazu wären wir durchaus imstande. Allerdings wären wir im Irrtum, wenn wir eine positive Eigenschaft, die wir begriffen haben, von ihm prädizierten. Dementsprechend wären wir im Irrtum,wenn wir sagten, Gott sei ein weises, gutes, mächtiges oder liebendes Wesen usw. (Dem Eine-Welt-Bild zufolge erschöpfen die Dinge an sich die Gesamtheit dessen, was existiert. Ist es nun nicht möglich, den Dingen an sich positive Eigenschaften zuzuschreiben, gibt es gar nichts, dem sie zugeschrieben werden können.) In diesem Fall hätten wir es nicht mit einer Besonderheit Gottes zu tun.Was für ihn gilt, gilt für alles andere ebenfalls. Allerdings sind die Theologen, nach deren Meinung Kant gezeigt hat, dass wir nicht auf Gott Bezug nehmen und nicht über ihn nachdenken können, vermutlich der Überzeugung, Kant habe nachgewiesen, dass es im Hinblick auf Gott ein spezielles Problem gibt. Sie sind nicht der Überzeugung, eigentlich habe Kant gezeigt, dass wir über gar nichts reden oder nachdenken können. Kaufmann formuliert es an der oben (S. 4) bereits zitierten Stelle wie folgt: »Das Hauptproblem des theologischen Diskurses ist die Bedeutung des Ausdrucks ›Gott‹.« Dazu passt Kant – der hier skizzierten Interpretation zufolge – aber nicht. Auf diese Weise kommen wir nicht zu einer relevanten Einsicht, wonach unsere Begriffe nicht auf Gott zutreffen.
2 Zwei-Welten-Bild und Bezugnahme auf Noumena Nun wollen wir die andere herausragende Kantinterpretation betrachten: das Zwei-Welten-Bild. Dabei handelt es sich um die traditionellere Kantdeutung, der vielleicht nach wie vor Anerkennung gebührt. (Hier geht es mir nicht um die Frage, welches Bild eine besonders genau zutreffende Wiedergabe Kants darstellt, sondern um die Frage, ob ein irgendwie plausibel interpretierter Kant die Vorstellung stützt, wir seien außerstande, auf Gott Bezug zu nehmen und über ihn nachzudenken.¹⁹) Diesem Bild zufolge gibt es hier zwei unverknüpfte Bereiche: die
Damit möchte ich freilich nicht andeuten, dass das Ein- und das Zwei-Welten-Bild in der hier gegebenen Darstellung die einzigen möglichen (oder wirklichen) Kantinterpretationen sind. Offenbar lässt sich jedes dieser beiden Bilder auf unterschiedliche Weise komplizieren und erweitern. Was ich behaupten möchte, ist, dass keines von ihnen der These Hilfe und Trost gewährt, unsere Begriffe ließen sich nicht auf Gott anwenden.
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Phänomena und die Noumena, die Dinge an sich und die Dinge der Erfahrung. Um ein weiteres Zitat anzuführen: Es ist aber bloß von einer Erscheinung im Raume und der Zeit, die beides keine Bestimmungen der Dinge an sich selbst, sondern nur in unserer Sinnlichkeit sind, die Rede; daher das, was in ihnen ist, (Erscheinungen) nicht an sich Etwas, sondern bloße Vorstellungen sind, die, wenn sie nicht in uns (in der Wahrnehmung) gegeben sind, überall nirgend angetroffen werden. (A 494 / B 522)
Macht man sich nun Gedanken über die Anwendung unserer Begriffe auf die Noumena, erkennt man, dass dieses Zwei-Welten-Bild in zwei Teilbilder zerfällt. (a) Das gemäßigte Teilbild: Der einen Auffassung zufolge treffen unsere Begriffe (bzw. einige von ihnen) tatsächlich auf die Dinge an sich zu. Demnach sind wir zwar dazu imstande, über die Dinge an sich nachzudenken und auf sie Bezug zu nehmen, aber nicht dazu imstande, zu irgendwelchen Erkenntnissen über sie zu gelangen. Wenn wir über sie nachdenken und Eigenschaften von ihnen prädizieren, verfügen wir nur über Mutmaßungen, bloßen transzendentalen Schein, und falls wir uns einbilden, über mehr zu verfügen, erliegen wir einer Selbsttäuschung. Unsere Erkenntnis reicht nicht weiter als die Erfahrung. Also reicht sie nicht in den Bereich der Dinge an sich hinein. Damit wären die verblüffende Vielfalt und die wuchernde Buntheit der metaphysischen Anschauungen erklärt, die Kant so anstößig findet. Der Grund dafür liegt eigentlich darin, dass alle Metaphysiker bloß herumraten, einerlei, welche apodiktischen Schlussfolgerungen und zwingenden Gewissheiten sie in Anspruch nehmen mögen. In der dünnen Luft der Noumena kann unsere Vernunft nicht arbeiten; und wenn man es doch versucht, ist das Resultat nichts weiter als Flügelschlagen im Vakuum. Natürlich stellt Kant in der Kritik der reinen Vernunft die eigene Leistung als Erkenntnis hin, als etwas Gewisses und zwingend Gültiges. Außerdem scheint er uns in dieser Kritik eine ganze Menge über die Dinge an sich zu sagen, nämlich: dass sie nicht in Raum und Zeit sind, dass die Welt der Erfahrung (zum Teil) ein Ergebnis der »kausalen Transaktion«²⁰ zwischen Dingen an sich und transzendentalem Ich ist, und dass dieses Ich keinen durch intellektuelle Anschauung vermittelten Einblick in den Bereich der Dinge an sich hat. Das Bild ist also nicht völlig kohärent. Aber egal, ob es kohärent ist oder nicht: Den Gedanken, dass wir über Gott weder nachdenken noch Eigenschaften von ihm prädizieren können, legt es nicht einmal nahe. Was es hingegen nahelegt, ist folgendes: Wenn wir über Gott nachdenken oder Eigenschaften von ihm prädizieren, befinden wir uns nicht
Die Gänsefüßchen sind nötig, da Kants offizielle Auffassung besagt, dass der Begriff der Kausalität auf die Dinge an sich gar nicht anwendbar sei.
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auf dem sicheren Weg der Erkenntnis, sondern auf einem sehr viel riskanteren Kletterpfad der bloßen Meinung. Der These, unsere Begriffe träfen auf Gott nicht zu, gewährt also auch das gemäßigte Teilbild weder Hilfe noch Trost. (b) Das radikale Teilbild: Es gibt jedoch eine frappierendere Spielart des ZweiWelten-Bilds, bei der wir tatsächlich zu dem Ergebnis gelangen, dass uns weder die Bezugnahme auf Gott noch die Prädizierung von Eigenschaften Gottes gelingt (hier wollen wir von dem »radikalen« Teilbild sprechen). Nach beiden Formen des Zwei-Welten-Bilds sind die Erscheinungen etwas anderes als die Dinge an sich. Die Erscheinungen sind Gegenstände. Sie existieren, und sie sind in empirischer Hinsicht real. Aber außerdem kommt ihnen transzendentale Idealität zu. Damit ist zum Teil gemeint, dass ihre Existenz von uns (dem transzendentalen Ich [bzw. den transzendentalen Ichs]) und unserer Erkenntnistätigkeit abhängt. Wir selbst sind zugleich Noumena und Phänomena. Es gibt sowohl ein noumenales als auch ein empirisches Selbst. Irgendwie wirken die Dinge an sich auf uns (das transzendentale Ich) ein und bewirken Erfahrung in uns. Es gibt eine produktive Wechselwirkung zwischen dem transzendentalen Ich und den Dingen an sich (also den anderen Dingen an sich, denn das transzendentale Ich ist ja selbst ein Noumenon), und das Resultat dieser Wechselwirkung ist die Erfahrung, das Mannigfaltige der Anschauung. In seiner anfangs gegebenen Form ist dieses Mannigfaltige der Erfahrung ein blühendes, brausendes Durcheinander ohne jegliche Struktur.Vielleicht enthält es unter anderem »Vorstellungen« (wie Kant sie nennt). Diese Vorstellungen sind unterschiedlicher Art, aber unter ihnen befinden sich auch phänomenale Qualia, so etwas wie Sinnesdaten oder Eindrücke und Ideen à la Hume. Das Mannigfaltige muss (wie Kant es formuliert) »bearbeitet« und durch die Anwendung der Kategorien und sonstiger Begriffe einer Synthese unterzogen werden. Damit drücken wir dem Mannigfaltigen den Stempel von Struktur und Form auf und konstruieren damit die Phänomena, die Erscheinungen. Auf diese Weise werden die Phänomena, die Dinge für uns, aus dem Mannigfaltigen der Erfahrung aufgebaut. Nun, wie gelingt uns etwas dergleichen? Wie schaffen wir es, aus dem Mannigfaltigen der Erfahrung ein Phänomenon (beispielsweise ein Pferd) zu konstruieren? An diesem Punkt gehen das radikale Teilbild und die eher hausbackene Form des Zwei-Welten-Bilds auseinander, denn dem radikalen Teilbild zufolge konstruieren wir die Gegenstände, indem wir Begriffe (Vorstellungen) auf das Mannigfaltige anwenden. Die Welt der Erscheinungen wird konstruiert, indem wir das Mannigfaltige synthetisieren und zu diesem Zweck Begriffe – und zwar sowohl die Kategorien als auch andere Begriffe – auf das Mannigfaltige anwenden. Diese Konstruktionsarbeit können wir weder wahrnehmen noch auf andere Weise kennenlernen. Von der Tätigkeit, durch die wir das Mannigfaltige strukturieren und die Phänomena konstruieren, haben wir, wie Kant sagt, kaum Kenntnis. Dennoch
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geht sie auf dem Weg der Anwendung von Begriffen auf die blühende, brausende Mannigfaltigkeit der Erfahrung voran. Dazu wäre nun eine Auffassung der Begriffe und ihrer Funktion erforderlich, die völlig anders ausfiele als die weiter oben skizzierte Theorie der Begriffe (der zufolge ein Begriff im Grunde das Erfassen einer Eigenschaft ist). Kant legt eine andere Auffassung der Begriffe nahe: Manchmal bezeichnet er sie als Regeln. Einerseits nennt er den Verstand das Vermögen der Begriffe; es sei der Ursprung unserer Begriffe. Andererseits jedoch sagt er über den Verstand: »Jetzt können wir ihn als das Vermögen der Regeln charakterisieren. […] Sinnlichkeit gibt uns Formen, (der Anschauung) der Verstand aber Regeln« (A 126, Hervorhebung von Kant). Anschließend schreibt er: Regeln, so fern sie objektiv sind, […] heißen Gesetze. Ob wir gleich durch Erfahrung viel Gesetze lernen, so sind diese doch nur besondere Bestimmungen noch höherer Gesetze, unter denen die höchsten, (unter welchen alle andere stehen) a priori aus dem Verstande selbst herkommen, und nicht von der Erfahrung entlehnt sind, sondern vielmehr den Erscheinungen ihre Gesetzmäßigkeiten verschaffen, und eben dadurch Erfahrung möglich machen müssen. Es ist also der Verstand nicht bloß ein Vermögen, durch Vergleichung der Erscheinungen sich Regeln zu machen: er ist selbst die Gesetzgebung vor die Natur. (A 126)
Auf keinen Fall möchte ich so tun, als seien diese Stelle oder andere Zitate, die man anführen könnte, leicht zu interpretieren. Dennoch scheint dieser Passus darauf hinzudeuten, dass Begriffe Regeln und Regeln Gesetze sind.Welcher Art sind diese Regeln, und welcher Art sind die Gesetze? Vielleicht handelt es sich um Regeln zur Synthetisierung des Mannigfaltigen, Regeln zur Konstruktion der Phänomena. Das ist der Kern des radikalen Teilbilds. Auch hier möchte ich zwar keineswegs den Gedanken nahelegen, dass dies wirklich die Ansicht Kants ist, doch einiges von dem, was er sagt, deutet durchaus darauf hin. (Manches, was er sagt, deutet andererseits darauf hin, dass es falsch ist – das macht einen Teil seines Charmes aus.) So schreibt er beispielsweise: »Das erste, was uns gegeben wird, ist Erscheinung, welche, wenn sie mit Bewußtsein verbunden ist,Wahrnehmung heißt« [A 120]. Hier wimmelt es von Interpretationsschwierigkeiten. Der Grundgedanke ist jedoch der, dass Begriffe Regeln sind, und zwar Regeln für die Synthesis des Mannigfaltigen und die Konstruktion der Phänomena. (Zugleich sind sie Gesetze, denen gemäß die Phänomena aus dem Mannigfaltigen der Erfahrung konstruiert werden.) Diese Regeln lassen sich auf Teile bzw. Stücke der Erfahrung anwenden, und vermittels ihrer Anwendung werden die Phänomena konstruiert. Eine solche Regel gibt etwa an, dass bestimmte Teile des Mannigfaltigen verknüpft oder als Objekt »zusammengedacht« werden sollen. Betrachten wir etwa den Begriff des Pferdes: Durch ihn wird man angewiesen, eine Vielfalt von Vorstellungen – eine
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Vielfalt von Erfahrungsinhalten – miteinander zu verbinden und so zusammenzudenken, dass dieses Stück des Mannigfaltigen zu einem empirischen Gegenstand, nämlich zu einem Pferd vereinigt wird. Es handelt sich um eine Regel, die in etwa besagt: Denk dieses spezielle Konglomerat von Vorstellungen als Einheit zusammen! Nun möchte ich (um es zu wiederholen) keineswegs behaupten, das sei ein kohärentes Bild oder eine kohärente Auffassung von Begriffen. Ganz im Gegenteil: Nach meiner Überzeugung ist es nichts dergleichen. Festzuhalten ist jedoch, dass unsere Begriffe dann, wenn dieses Bild doch kohärent ist, tatsächlich nicht auf die Noumena zutreffen (jedenfalls nicht, wenn alle unsere Begriffe diese Funktion²¹ und nur diese Funktion haben). Betrachten wir den Begriff ein Pferd sein: Dieser Begriff ist der genannten Auffassung zufolge eine Regel für die Konstruktion der phänomenalen Gegenstände aus dem Mannigfaltigen der Erfahrung. Auf die Noumena lässt er sich natürlich nicht anwenden. Er kann nicht verwendet werden, um aus ihnen einen Gegenstand zu konstruieren. Die Noumena sind uns nicht gegeben (die Erfahrung – das Mannigfaltige – ist das, was uns gegeben ist), und in jedem Fall sind sie nichts, woraus sich überhaupt phänomenale Gegenstände konstruieren ließen. Es ist also nicht bloß so, dass der Begriff ein Pferd sein insofern nicht auf die Dinge an sich zutrifft, als zufälligerweise keines von ihnen ein Pferd ist (sondern sie allesamt Nichtpferde sind), denn sonst würde das Komplement dieses Begriffs – ein Nichtpferd sein – zutreffen. Aber dieser Begriff trifft ebenfalls nicht zu, denn auch er ist eine Regel für die Konstruktion von Gegenständen aus dem Mannigfaltigen. Er stellt eine weitere Möglichkeit dar, das Mannigfaltige zu vereinigen, zu synthetisieren. Nach der genannten Auffassung könnte ein Begriff ebensowenig auf die Dinge an sich zutreffen, wie ein Pferd eine Zahl sein könnte. Dem radikalen Teilbild zufolge würden unsere Begriffe bestimmt nicht auf Gott zutreffen, wenn es eine solche Person gäbe. Gott wäre nämlich ein Noumenon. Er wäre nicht etwas, was wir durch Anwendung von Begriffen auf das Mannigfaltige der Erfahrung konstruiert haben. (Wir haben Gott nicht geschaffen, sondern er hat uns geschaffen.) Somit sind wir nach dem radikalen Teilbild außerstande, auf Gott Bezug zu nehmen, über ihn nachzudenken oder Eigenschaften von ihm zu prädizieren. Diese Denkweise legt offenbar eine tiefreichende Inkohärenz an den Tag. Nach diesem Bild vertritt Kant eine Meinung, der zufolge die Dinge an sich in einer Karl Ameriks hat mich in einer persönlichen Mitteilung daran erinnert, dass es zumindest den Anschein hat, dass Kants metaphysische Deduktion gewiss dazu gedacht ist, Begriffe zutage zu fördern, die Regeln für Urteile beliebiger Art sind – einerlei, ob sie auf Erfahrungsinhalte beschränkt sind oder nicht.
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kausalen Beziehung bzw. in einem Verhältnis der Wechselwirkung zu uns als transzendentalem Ich (oder transzendentalen Ichs) stehen.²² Außerdem behauptet er, sie befänden sich nicht in Raum und Zeit. Dem radikalen Teilbild zufolge sollte Kant jedoch (zumindest wenn sein Intellekt ebenso ausgestattet ist wie der der übrigen Menschen) nicht dazu in der Lage sein, überhaupt auf die Dinge an sich Bezug zu nehmen oder auch nur Mutmaßungen über die mögliche Existenz solcher Dinge anzustellen. Gewiss sollte er nicht dazu imstande sein, auf sie Bezug zu nehmen und ihnen Eigenschaften wie Nichtzeitlichkeit und Nichträumlichkeit zuzuschreiben oder auch die Eigenschaft, das transzendentale Ich (bzw. die transzendentalen Ichs) zu affizieren und auf diese Weise Erfahrung in diesen Ichs hervorzubringen. Er sollte nicht dazu imstande sein, auf uns (d. h.: uns transzendentale Ichs) Bezug zu nehmen und zu behaupten, wir verfügten nicht über die gottähnliche intellektuelle Anschauung der Realität, die erforderlich wäre, um zu synthetischer Erkenntnis a priori über die Welt in ihrem Ansichsein zu gelangen. (Man könnte sagen, diesem Bild zufolge scheitert Kants Denken an dem Umstand, dass das Bild das Verfügen über ein Wissen verlangt, dessen Besitz von diesem Bild selbst bestritten wird.) Wäre dieses Bild wirklich zutreffend, müssten die Noumena überhaupt eliminiert werden, so dass alles Existierende etwas wäre, was von uns selbst strukturiert oder verfertigt worden ist. Der Gedanke, es könne eine Realität jenseits dessen geben, was wir selbst aus der Erfahrung konstruiert haben, wäre nicht einmal denkbar.²³
B Argumente? Gründe? Offenbar gibt es hier Probleme der Kohärenz. Wenn wir sie einstweilen außer acht lassen, stellt sich die Frage: Welche Gründe nennt Kant für die Behauptung, wir seien außerstande, über die Dinge an sich nachzudenken, auf sie Bezug zu nehmen und Eigenschaften von ihnen zu prädizieren? Falls er keine Gründe dafür nennt (etwa weil er doch glaubt, dass wir über sie nachdenken können), fragt es
Wie viele dieser transzendentalen Ichs gibt es überhaupt? Das ist, ebenso wie viele sonstige Fragen der Kantauslegung, ein schwieriges Problem. Ja, wenn man das radikale Teilbild zugrunde legt, ist es mehr als schwierig. Sofern die Kategorie »Zahl« auf die Noumena nicht anzuwenden ist, gibt es vermutlich gar keine endliche oder unendliche Zahl n dergestalt, dass die richtige Antwort auf die Frage »Wie viele dieser transzendentalen Ichs gibt es eigentlich?« n lautet. Außerdem besteht hier natürlich das Problem, dass es sehr viel Mühe kostet, zu glauben, wir seien wirklich für die Existenz der Sonne, des Monds und der Sterne verantwortlich – ganz zu schweigen von Dinosauriern und sonstigen Wesen, die es (unserer Ansicht nach) schon lange vor der Entstehung des Menschen gab.
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sich, welche in seinen Schriften genannten Gründe oder Argumente für diese Schlussfolgerung sprechen. Diese Schlussfolgerung – unsere Begriffe seien eigentlich Regeln für die Synthetisierung des Mannigfaltigen zu phänomenalen Gegenständen, und nachdenken könnten wir ausschließlich über Gegenstände, die wir selbst irgendwie konstruiert haben – ist, um es harmlos zu formulieren, ziemlich verblüffend. Hier wären einige recht überzeugende Argumente gefragt. An Argumenten für diese Auffassung herrscht ein bedauerlicher Mangel. Es fällt äußerst schwer, etwas Erkleckliches ausfindig zu machen, was man als Argument gelten lassen könnte oder immerhin als eine jener »den Verstand beeinflussenden Betrachtungen«, die John Stuart Mill manchmal anführt,wenn ihm, wie er einräumt, keine Argumente zu Gebote stehen. Hier gibt es nichts vom Format des ontologischen oder kosmologischen Arguments für die Existenz Gottes, des Cartesischen Arguments für die Nichtidentität von Körper und Person (die vielmehr eine immaterielle Substanz sei) oder das Argument für die Konklusion, Aussagen – Propositionen, also jene Dinge, die wir glauben und behaupten – seien keine kontingenten Objekte.²⁴ Vielleicht muss man das radikale Teilbild gewissermaßen als eine Hypothese auffassen, die aufgestellt wird, da sie bestimmte Phänomene am besten erklärt. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Verfechter dieses Bilds schlicht überwältigt sind von dem, was sie für intellektuelle Schönheit und Eindringlichkeit halten. Sie empfinden gar kein Bedürfnis nach Argumenten. Ja, sie finden das Bild so bestechend, dass sie dazu bereit sind, sich nicht nur mit dem Mangel an Argumenten, sondern auch mit einer starken Dosis Inkohärenz abzufinden. Nun, wenn man das radikale Teilbild für umwerfend attraktiv hält, dann bleibt einem (abgesehen von der Inkohärenz) wohl nichts anderes übrig, als sich anzuschließen. Andererseits ist das kein hinlänglicher Grund für die übrigen Menschen – also für jene von uns, die sich von der Inkohärenz des Bildes stärker beeindrucken lassen als von seiner Schönheit –, es zu akzeptieren. Es gibt allerdings eine Reihe von Überlegungen Kants, von denen man meinen könnte, dass sie uns auf dem Weg zu der genannten Schlussfolgerung womöglich ein Stück weit voranbringen. Diese Überlegungen finden sich in Kants Ausführungen zu den Antinomien, bei denen es sich um vermeintlich überzeugende Argumente für die beiden entgegengesetzten Antworten auf eine gegebene Frage handelt. So soll es ein angeblich zwingendes antinomisches Argument für die These geben, die Welt habe einen Anfang in der Zeit, aber auch ein nicht weniger zwingendes Argument für die Antithese, sie habe keinen derartigen Anfang. Ebenso gebe es zwingende Argumente für die Thesen: Die Welt bestehe aus ein-
Siehe mein Buch Warrant and Proper Function (WPF), S. 117 ff.
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fachen Teilen, es gebe so etwas wie Akteurskausalität (also eine aktive Ursache, die eine neue Kausalreihe aus Freiheit in Gang setzt), und es gebe ein schlechthin notwendiges Wesen. Leider ließen sich aber auch ebenso zwingende Argumente für die Antithesen anführen: Die Welt bestehe nicht aus einfachen Teilen, es gebe keine Akteurskausalität, und es gebe kein schlechthin notwendiges Wesen. Damit befinden wir uns offenbar in einer argen Klemme:Wir können vier wichtige Thesen beweisen (in der Kritik kommt alles im Viererpack), und außerdem können wir die Verneinung jeder dieser vier Thesen beweisen. Nach Kants Meinung bilden diese Antinomien offenbar einen wesentlichen Teil der Argumentation für seinen transzendentalen Idealismus: die Theorie, wonach den Dingen, mit denen wir es zu tun haben (Sterne und Planeten, Bäume, Tiere und andere Personen), obgleich sie empirische Realität besitzen, transzendentale Idealität zukommt (ihre Realität und ihre Struktur hängen von uns ab). In das von den Antinomien herrührende Problem geraten wir nach Kants These nur deshalb, weil wir uns einbilden, unsere Gedanken bezögen sich nicht auf Dinge für uns, sondern auf Dinge an sich – nicht auf bloße Erscheinungen, sondern auf Noumena: Wenn wir unsere Vernunft nicht bloß, zum Gebrauche der Verstandesgrundsätze, auf Gegenstände der Erfahrung verwenden, sondern jene über die Grenze der letzteren hinaus auszudehnen wagen, so entspringen vernünftelnde Lehrsätze, die in der Erfahrung weder Bestätigung hoffen, noch Widerlegung fürchten dürfen, und deren jeder nicht allein an sich selbst ohne Widerspruch ist, sondern so gar in der Natur der Vernunft Bedingungen seiner Notwendigkeit antrifft, nur daß unglücklicher Weise der Gegensatz eben so gültige und notwendige Gründe der Behauptung auf seiner Seite hat. (B 449 / A 421)
Das Problem lösen wir, indem wir unsere Grenzen anerkennen und einsehen, dass wir über die Dinge an sich keine Gedanken – oder zumindest keine nutzbringenden Gedanken – denken können. Wenn Kant die Antinomien vorstellt, argumentiert er nicht explizit für das radikale Teilbild. Nehmen wir aber an, wir unternähmen den Versuch, dort so etwas wie ein Argument ausfindig zu machen, das für das radikale Teilbild spricht oder für die Schlussfolgerung, die wir aus dem radikalen Teilbild abgeleitet haben, also für die Schlussfolgerung, der zufolge unsere Begriffe nicht auf die Noumena zutreffen, weshalb es uns nicht möglich ist, auf sie Bezug zu nehmen und über sie nachzudenken. In diesem Fall würden die Prämissen vielleicht wie folgt lauten: (2) Sind wir dazu imstande, über die Dinge an sich nachzudenken und auf sie Bezug zu nehmen, dann handeln die Prämissen der antinomischen Argumente (die Prämissen der Argumente für die Thesen und für die Antithesen) von den Dingen an sich und sind allesamt wahr,
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und (1) Falls diese Prämissen allesamt wahr sind, wären die Thesen und die Antithesen samt und sonders wahr, so dass auch Kontradiktionen wahr wären. Natürlich gilt jedoch: (2) Keine Kontradiktion ist wahr. Also: (3) Wir sind außerstande, über die Dinge an sich nachzudenken oder auf sie Bezug zu nehmen. Vielleicht ließe sich die erste Prämisse (2) abschwächen, so dass sie ein wenig einleuchtender wirkt: (2*) Sind wir dazu imstande, auf die Dinge an sich Bezug zu nehmen und über sie nachzudenken, dann wird jede Prämisse der antinomischen Argumente von den Dingen an sich handeln und in überwältigendem Maße intuitiv abgestützt sein. (Diese Formulierung ist natürlich schwächer, denn sie besagt nicht, dass die antinomischen Prämissen wahr sind, sofern wir über die Dinge nachdenken können, sondern nur: dass sie uns in hohem Maße wahr zu sein scheinen.) Die zweite Prämisse würde dann lauten: (3*) Falls jede Prämisse in überwältigendem Maße intuitiv abgestützt ist, werden aus unserer Sicht überwältigende Gründe dafür sprechen, jede dieser Thesen und Antithesen zu akzeptieren, während wir einsehen, dass jede These zu ihrer Antithese in kontradiktorischem Widerspruch steht. Falls wir jedoch die erste Prämisse abschwächen, müssen wir eine der übrigen beiden Prämissen verstärken. Vielleicht ließe sich die dritte Prämisse folgendermaßen verstärken: (4*) Es wäre nicht möglich, dass überwältigende Gründe dafür sprechen, sowohl eine Proposition p als auch ihr kontradiktorisches Gegenteil nicht-p zu akzeptieren. Die Schlussfolgerung wäre die gleiche wie vorher. Ist es wirklich wahr, dass wir (wie [4*] behauptet) keinen Grund hätten, der in überwältigendem Maße dafür spräche, sowohl die Proposition p als auch deren
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Negation nicht-p zu akzeptieren?²⁵ Dieser Frage nachzugehen, wäre zwar interessant, würde uns aber zu weit vom Weg abbringen. Jedenfalls ist eine solche Untersuchung für unsere gegenwärtigen Belange nicht nötig, denn diese Argumente sind mit mindestens zwei beeindruckenden Problemen konfrontiert: mit einem zermürbenden und einem verheerenden Problem. Das erste werde ich kurz skizzieren, um anschließend einen ausführlicheren Blick auf das zweite zu werfen. Der erste – zermürbende – Einwand besagt: Selbst wenn wir außerstande sind, Gedanken über die Noumena zu denken, sind wir dennoch imstande, Gedanken über die Phänomena zu denken. Was soll die Argumente, wenn ihre ersten Prämissen für die Noumena gelten, davon abhalten, auch auf die Phänomena zuzutreffen? Die beiden Formen der ersten Prämisse – (2) und (2*) – behaupten folgendes: Falls es zutrifft, dass wir über die Noumena nachdenken können, handeln die antinomischen Prämissen von den Noumena und sind entweder wahr oder in überwältigendem Maße intuitiv abgestützt. Ist es nicht genauso offenkundig, dass die antinomischen Prämissen, sofern wir über die Phänomena nachdenken können, von den Phänomena handeln und entweder wahr oder in überwältigendem Maße intuitiv abgestützt sind? Wenn dem so ist, würde das Argument allerdings auch beweisen, dass wir nicht auf die Erscheinungen Bezug nehmen können. Was es also wirklich beweisen würde, sofern es überhaupt irgendetwas beweist, ist dies: dass wir weder auf die Noumena noch auf die Phänomena Bezug nehmen oder über sie nachdenken können. Da Noumena und Phänomena die Gesamtheit der Dinge erschöpfen, würde die Konklusion lauten, dass wir über gar nichts nachdenken können. Das ginge aber wohl ein wenig zu weit. Über diesen Einwand gegen die Argumentation sollte eigentlich noch sehr viel mehr gesagt werden, aber ich möchte jetzt auf den verheerenden Einwand zu sprechen kommen. Der besagt bloß, dass die antinomischen Argumente ganz und gar nicht zwingend sind (um es möglichst schonend zu formulieren). An dieser Stelle möchte ich diesen Einwand nur im Hinblick auf die Prämissen der ersten Antinomie begründen. Genau gleichartige Bemerkungen ließen sich zu den üb Wie es scheint, könnten dennoch triftige Gründe dafür sprechen, jedes Element einer Menge M von Überzeugungen zu akzeptieren, die so beschaffen ist, dass es keine mögliche Welt gibt, in der alle Elemente von M wahr sind (die Konjunktion der Elemente von M ist unmöglich). Dass es sich so verhält, zeigt das Paradoxon des Vorworts: Ich schreibe ein Buch und halte natürlich jede darin aufgestellte Behauptung für wahr. Frühere Erfahrungen und Selbstkenntnis veranlassen mich jedoch zu der Überzeugung, dass das Buch höchstwahrscheinlich wenigstens eine falsche Aussage enthält. Die Gesamtmenge meiner Überzeugungen – die im Buch aufgestellten Behauptungen plus die Aussage, wenigstens eine im Buch enthaltene Aussage sei falsch – ist also derart, dass sie zumindest eine falsche Aussage enthalten muss. Dennoch sprechen aus meiner Sicht triftige Gründe dafür, jedes Element der Menge zu bejahen.
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rigen machen. Im Rahmen der ersten Antinomie wird für die Konklusion argumentiert: »Die Welt hat einen Anfang in der Zeit, und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen« (A 426 / B 454). Das ist die These. Ebenfalls argumentiert wird für die Gegenthese: »Die Welt hat keinen Anfang, und keine Grenzen im Raume, sondern ist, sowohl in Ansehung der Zeit, als des Raums, unendlich« (A 427 / B 455). Dem liegt (in Einklang mit den Prämissen [2] und [2*]) die Vorstellung zugrunde: Sofern wir über die Dinge an sich nachdenken und auf sie Bezug nehmen können, wären sowohl die These als auch die Gegenthese wahr bzw. sie wären in überwältigendem Maße intuitiv abgestützt. Worin besteht nun das Argument? Leider muss ich feststellen, dass man es kaum ernst nehmen kann. Das Argument für die These lautet wie folgt: Denn, man nehme an, die Welt habe der Zeit nach keinen Anfang: so ist bis zu jedem angegebenen Zeitpunkt eine Ewigkeit abgelaufen, und mithin eine unendliche Reihe auf einander folgender Zustände der Dinge in der Welt verflossen. Nun besteht aber eben darin die Unendlichkeit einer Reihe, daß sie durch sukzessive Synthesis niemals vollendet sein kann. Also ist eine unendliche verflossene Weltreihe unmöglich, mithin ein Anfang der Welt eine notwendige Bedingung ihres Daseins. (A 426 / B 454)
Dieses Argument folgt dem Muster der Reductio ad absurdum: Man zeigt, dass die Verneinung der gewünschten Konklusion eine Kontradiktion nach sich zieht und beweist damit die Konklusion. Die erste Prämisse läuft auf folgendes hinaus: Hätte die Welt keinen Anfang in der Zeit, wäre zu jedem Zeitpunkt bereits eine unendliche Frist verstrichen. Diese Formulierung ist fragwürdig, denn es ist zumindest in abstracto möglich, dass Zeit und Welt vor endlich vielen Jahren (oder Sekunden) zusammen begonnen haben. Wenn es sich so verhielte, würden wir sagen, die Welt habe zwar keinen Anfang in der Zeit gehabt, wohl aber einen Anfang mit der Zeit. Diese Möglichkeit wollen wir jedoch unberücksichtigt lassen. Die zweite Prämisse besagt: »Nun besteht aber eben darin die Unendlichkeit einer Reihe, dass sie durch sukzessive Synthesis niemals vollendet sein kann.« D. h., es ist charakteristisch für eine unendliche Reihe, dass sie nicht abgeschlossen werden kann, indem man am Anfang (oder allgemeiner gesprochen: an irgendeinem nur endlich weit vom Anfang entfernten Punkt) beginnt und Dinge (beispielsweise Vorgänge) jeweils einzeln (oder allgemeiner gesprochen: in jeweils endlicher Anzahl) hinzuaddiert. Das trifft zu, sofern die relevanten Dinge (Vorgänge) in konstantem Tempo hinzuaddiert werden. Wenn man beim ersten Vorgang anfängt (oder beim n-ten, sofern n endlich ist) und mit jeder Sekunde einen weiteren Vorgang hinzuzählt, wird man die Reihe nie zum Abschluss bringen, denn zu jedem folgenden Zeitpunkt wird nur eine endliche Zahl von Vorgängen stattgefunden haben. Dem heutigen Verständnis des Unendlichkeitsbegriffs zufolge steht der Vervollständigung der unendlichen Reihe in einem endlichen
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Zeitrahmen jedoch kein solches Hindernis entgegen, wenn die jedem Vorgang zugeordnete Dauer entsprechend abnimmt. Um ein Beispiel zu nennen: Der erste Vorgang braucht eine Sekunde, um stattzufinden, der zweite braucht eine halbe Sekunde, der dritte eine Viertelsekunde, der vierte eine Achtelsekunde usw. Jedenfalls wird es gar nicht lange dauern, bis unendlich viele Ereignisse verstrichen sind – jedenfalls nicht länger als zwei Sekunden. Das eigentlich Problematische an diesem Argument ist jedoch in einer anderen Richtung zu suchen. Kant weist darauf hin, dass eine unendliche Reihe nicht zum Abschluss gebracht werden kann, indem man von einem in endlicher Entfernung vom Anfang gelegenen Punkt ausgeht und in konstantem Tempo jeweils endlich viele Elemente hinzuzählt. Dagegen ist nichts einzuwenden. Sodann folgert Kant: »Also ist eine unendliche verflossene Weltreihe unmöglich, mithin ein Anfang der Welt eine notwendige Bedingung ihres Daseins.« Diese Folgerung ergibt sich allerdings gar nicht aus dem vorigen. Wer behauptet, sie ergebe sich doch, behauptet einfach das, was erst noch zu beweisen ist, nämlich: dass die relevante Reihe einen Anfang hat. Die Prämisse besagt: Wenn man von einem endlichen Punkt einer Reihe ausgeht – also von einem Punkt, der vom Anfang der Reihe endlich weit entfernt ist – und dann pro Zeiteinheit eine endliche Zahl hinzuaddiert, wird man die Reihe nie zum Abschluss bringen. Das ist in Ordnung. Aber falls die Welt schon unendlich lange existiert, gibt es keinen ersten Augenblick – kein erstes Ereignis – und mithin keinen Anfang der Reihe von Momenten oder von Ereignissen. Allgemeiner gesagt: in jedem früheren Augenblick wäre bereits eine unendlich lange Zeit verstrichen.Wenn man so wie Kant verfährt und folgert, es sei unmöglich, dass eine unendliche Reihe von Ereignissen abgelaufen ist, setzt man schlicht voraus, dass die fragliche Reihe einen Anfang hat – d. h., dass sie endlich ist –, aber das wäre gerade die These, die erst noch zu beweisen ist. Das Argument hat also in Wirklichkeit gar keine Überzeugungskraft. Es ist nicht so, als handelte es sich um ein Argument, dessen Prämissen ein bestimmtes begrenztes Maß an intuitiver Plausibilität aufweisen. Vielmehr ist dieser Übergang zur Konklusion nichts weiter als eine Petitio principii, die voraussetzt, was erst noch zu beweisen wäre, nämlich: dass die relevante Reihe einen Anfang hat. Das Argument untermauert seine Konklusion also nicht, sondern es setzt sie bloß voraus. Es nennt daher gar keinen Grund dafür, diese Konklusion zu bejahen. Das Argument für die Antithese ist nicht verheißungsvoller. Kant formuliert es wie folgt: Denn man setze: sie [die Welt] habe einen Anfang. Da der Anfang ein Dasein ist, wovor eine Zeit vorhergeht, darin das Ding nicht ist, so muß eine Zeit vorhergegangen sein, darin die Welt nicht war, d. i. eine leere Zeit. Nun ist aber in einer leeren Zeit kein Entstehen irgend eines
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Dinges möglich; weil kein Teil einer solchen Zeit vor einem anderen irgend eine unterscheidende Bedingung des Daseins, vor die des Nichtseins, an sich hat […]. (A 427 / B 455)
Wieder folgt das Argument dem Muster der Reductio: Man setzt die Negation der Konklusion voraus und zeigt, dass sie unmöglich ist, womit die Gültigkeit der Konklusion nachgewiesen ist. Hier lauten die beiden Prämissen wie folgt: (4) Dem Anfang eines Vorgangs oder einer Sache geht stets eine Zeit voraus, in der es das Ding noch nicht gibt, d. h.: eine Zeit, in der das fragliche Ding nicht existiert. Ferner: (5) In einer leeren Zeit (einer Zeit, in der nichts existiert) kann nichts entstehen, denn in jedem Zeitraum dieser leeren Zeit gäbe es für die Entstehung ebensowenig einen Grund wie in irgendeinem anderen Zeitraum. Keine der beiden Prämissen ist im Geringsten zwingend. Was die erste betrifft, ist sie nur wahr, sofern es nicht möglich ist, dass die Zeit und die Welt (das erste Ereignis) zusammen – also gleichzeitig – entstehen. Wissen wir, dass das unmöglich ist? Ganz bestimmt nicht. Einige besonders beliebte Zeittheorien (die relationalen Theorien) würden nicht bloß annehmen, dass das möglich wäre, sondern sie würden es sogar für wahr halten. Was die zweite Prämisse betrifft, verspricht sie ebenso wenig Erfolg. Unterstellen wir (in Einklang mit dem die gesamte Argumentation regierenden Bild), eine unendlich lange Zeit sei verstrichen, ehe das erste Ereignis in der Welt stattfand – sagen wir beispielsweise: ehe sie erschaffen wurde. Der Einwand besagt nun: Zu keinem Zeitpunkt hätte Gott mehr Grund zur Erschaffung der Welt gehabt als zu irgendeinem anderen. Also hätte er sie zu gar keinem Zeitpunkt erschaffen wollen oder können. Wieder stellt sich die Frage, warum man das glauben soll. Wenn Gott vorhatte, die Welt zu erschaffen, und kein Zeitpunkt günstiger war als irgendein anderer, warum hätte er dann nicht willkürlich einen Zeitpunkt wählen sollen?²⁶ Dieses Argument gleicht gewissen Argumenten, die von der Prämisse ausgehen, dass Gott, sofern er die Welt erschuf, die bestmögliche Welt erschaffen hätte. Anschließend heißt es, zu jeder Welt,
Vgl. die Antwort des Augustinus auf die Frage derjenigen, die wissen wollen, was Gott vor der Erschaffung der Welt tat. Siehe Bekenntnisse, Buch XI, Kapitel 12 (übers. u. hg. von Kurt Flasch u. Burkhard Mojsisch, Stuttgart: Reclam 1989, S. 311).
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die Gott hätte erschaffen (bzw. »schwach verwirklichen«²⁷) können, gebe es eine noch bessere Welt, die er hätte erschaffen oder schwach verwirklichen können. Daher hätte er, so lautet die Folgerung, gar keine Welt schwach verwirklicht, und die wirkliche Welt sei von Gott ebenfalls nicht schwach verwirklicht worden. Auch in diesem Fall gibt es offenbar keinen Grund, die erste Prämisse für richtig zu halten. Gäbe es nur endlich viele Welten, zwischen denen Gott wählen müsste, wäre er vielleicht irgendwie dazu verpflichtet gewesen, die beste zu wählen (obgleich selbst dieser Gedanke bestenfalls fragwürdig ist).²⁸ Doch wenn es unter den Welten, aus denen Gott hätte auswählen können, gar keine beste Welt gibt (wenn es also zu jeder Welt, die er hätte wählen können, eine bessere Welt gibt, für die er sich hätte entscheiden können), fragt es sich, wieso der Umstand, dass eine Welt nicht die beste ist, eine hinreichende Bedingung dafür sein soll, dass sie von Gott nicht verwirklicht werden kann. Angenommen, jemand zeichnet sich dadurch aus, dass er unsterblich ist und eine Flasche Wein besitzt, die jeden Tag besser schmecken würde, egal, wie lange er den Genuss aufschiebt. Wäre er aus rationalen Gründen dazu verpflichtet, den Wein niemals zu trinken, da es zu jedem Zeitpunkt, da er den Wein zu trinken versucht sein könnte, einen folgenden Tag gibt, an dem er besser schmecken würde? Gesetzt, ein Esel befände sich genau in der Mitte zwischen zwei Heuballen. Wäre er aus rationalen Gründen dazu verpflichtet, dort stehen zu bleiben und Hungers zu sterben, weil es für das Fressen des einen Heuballens keinen besseren Grund gibt als für das Fressen des anderen?
Die Argumente für die übrigen Antinomien schneiden nicht besser ab. In keinem Fall liegt so etwas wie ein schlüssiges Argument vor, das (unter der Voraussetzung, dass es um Gedanken über die Dinge an sich geht) für die These oder für die Antithese spricht. In manchen Fällen kann es sein, dass wir nicht wissen bzw. nicht angeben können, welche der beiden wahr ist – die These oder die Gegenthese. Damit ist aber noch kein richtiges Argument für die Schlussfolgerung gegeben, wir seien außerstande, Gedanken über die Noumena zu denken. Damit das Argument funktioniert, bräuchte man ein wirklich überzeugendes Argument für die These und ein genauso überzeugendes Argument für die Gegenthese. In keinem unserer Fälle haben wir es mit etwas dergleichen zu tun. In Zusammenhang mit dieser Frage der Schlussfolgerung, der zufolge es einfach ausgeschlossen ist, über ein bestimmtes Gebiet oder ein bestimmtes Thema nachzudenken, wollen wir nun einige weitere Überlegungen über Antinomien und Paradoxien anstellen. Denken wir an das RussellParadox in seinem schlichten mengentheoretischen Gewand. Wir alle tendieren – ebenso wie Frege – zunächst zu der Ansicht, jeder Bedingung oder Eigenschaft entspreche die Menge genau jener Dinge, die diese Bedingung erfüllen oder diese Eigenschaft besitzen. Nun wird darauf hingewiesen, dass es eine Eigenschaft wie kein Element seiner selbst sein gibt. Diese Eigenschaft hat ein Ding genau dann, wenn es kein Element seiner selbst ist. Also muss es eine Menge M von
Zum Begriff der schwachen Verwirklichung siehe mein Buch The Nature of Necessity, Oxford: Clarendon Press 1974, S. 173, sowie James Tomberlin / Peter van Inwagen (Hg.), Alvin Plantinga, Dordrecht: D. Reidel 1985, S. 49. Siehe Robert Adams, »Must God Create the Best?«, in: Philosophical Review 81 (1972), S. 317– 332.
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Mengen, die keine Elemente ihrer selbst sind, geben. Doch in diesem Fall ist M genau dann ein Element ihrer selbst, wenn sie kein Element ihrer selbst ist, und das ist eine Kontradiktion. Hier wäre es ein Zeichen von ungebührlichem Enthusiasmus, wenn man daraus schließen wollte, wir seien eigentlich außerstande, über Mengen in ihrem Ansichsein nachzudenken und zu reden; vielmehr könnten wir nur über Mengen nachdenken, die wir selbst konstruiert haben – Mengen in der Form, in der sie uns erscheinen. Nein,wir sind der Auffassung: Die Argumente beweisen nichts weiter, als dass es keine Menge von Mengen, die sich nicht selbst als Elemente enthalten, gibt und dass es – entgegen allem Anschein – nicht zutrifft, dass jeder Eigenschaft oder jeder Bedingung die Menge genau derjenigen Dinge entspricht, von denen die Bedingung erfüllt oder die Eigenschaft an den Tag gelegt wird. Nehmen wir uns nun stattdessen das Russell-Paradox in seiner nicht auf Mengen, sondern auf Eigenschaften bezogenen Form vor: Das ist ein in mancher Hinsicht gravierenderes Paradox. Zunächst einmal neigt man zu folgenden Ansichten: Es gibt Eigenschaften; manche Eigenschaften (wie z. B. die Eigenschaft Eigenschaft) exemplifizierten sich selbst, so dass es auch die Eigenschaft Selbstexemplifizierung gibt; jede Eigenschaft hat ein Komplement. Zusammengenommen bringen diese Ansichten Probleme mit sich. Sie implizieren nämlich, dass es die Eigenschaft der NichtSelbstexemplifizierung gibt, die sich misslicherweise sowohl selbst exemplifiziert als auch nicht selbst exemplifiziert.²⁹ Wieder scheint sich jedoch nicht die Folgerung zu ergeben, dass wir einfach nicht über Eigenschaften an sich nachdenken und reden können.Wir brauchen nicht die Meinung zu verfechten, dass es, sofern wir über Eigenschaften an sich nachdenken können, eine Eigenschaft gibt, die sich sowohl selbst exemplifiziert als auch nicht selbst exemplifiziert. Vielmehr können wir völlig zu Recht den Schluss ziehen, eine Aussage aus der Menge der Aussagen, die wir zunächst zu akzeptieren geneigt sind, müsse falsch sein, woraufhin wir nach derjenigen suchen, die intuitiv am wenigsten berechtigt oder abgestützt ist, also nach derjenigen, von der wir tendenziell am wenigsten überzeugt sind. (Man könnte beispielsweise zu der Annahme neigen, eigentlich gebe es eine Eigenschaft wie Nicht-Selbstexemplifizierung gar nicht [obwohl es so aussieht, als gäbe es sie], so dass gilt: Entweder gibt es die Eigenschaft Selbstexemplifizierung nicht, oder es ist falsch, dass jeder Eigenschaft ein Komplement entspricht.) Das ist zwar einigermaßen beunruhigend und gibt uns Veranlassung zu etwas Demut hinsichtlich der Früchte der Vernunft, aber deshalb müssen wir nicht den Standpunkt vertreten, wir seien außerstande, auf Eigenschaften an sich Bezug zu nehmen und über sie nachzudenken. Unter welchen Bedingungen wäre diese drastische Schlussfolgerung tatsächlich richtig? Vielleicht unter gar keinen Bedingungen; und falls unter manchen Bedingungen doch, ist schwer zu sagen, unter welchen. Zumindest wäre jedoch vorauszusetzen, dass wir sehr stark dazu neigen, jedes Element einer gewissen Menge von Aussagen über eine bestimmte Thematik zu akzeptieren, wobei es sich um eine Menge handelt, aus der (gemäß Argumentformen, die wir sehr stark zu akzeptieren geneigt sind) eine Kontradiktion folgt. Außerdem wäre vorauszusetzen, dass es mehrere derartige Mengen von Aussagen über die fragliche Thematik gibt. Jede der relevanten Prämissen und jedes der relevanten Argumente müsste intuitiv extrem stark – maximal oder beinahe maximal – untermauert sein, denn sonst wäre es vernünftiger zu behaupten, eine Prämisse (bzw. eine Argumentform) mit nur mäßiger intuitiver Abstützung sei falsch (bzw. ungültig). Gäbe es mehrere dieser Mengen von Aussagen – beispielsweise Aussagen über Eigenschaften –,
Wer sich mit Eigenschaften des Typs Selbstexemplifizierung und Nicht-Selbstexemplifizierung nicht anfreunden kann, möge die Argumentation statt dessen durch Bezugnahme auf Bedingungen durchspielen. Siehe Tomberlin / van Inwagen, Alvin Plantinga, S. 320.
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und jede dieser Aussagen und Argumentformen wäre intuitiv ebenso stark abgesichert wie etwa 2 + 1 = 3 und der Modus ponens, würde die richtige Schlussfolgerung vielleicht lauten: Entweder gibt es so etwas wie die Gegenstände in dem unterstellten Bereich gar nicht, oder wir sind – falls es sie doch gibt – außerstande, uns gedanklich auf sie zu beziehen. Selbst in diesem Fall gäbe es jedoch Gründe, am Erfolg dieser Argumentation zu zweifeln. Sie würde eine Prämisse der folgenden Art voraussetzen: (8) Sofern es mehrere Mengen von Prämissen über Eigenschaften gibt, wobei jedes Element jeder Menge intuitiv maximal berechtigt ist und die Elemente jeder Menge zusammengenommen eine Kontradiktion implizieren, sind wir außerstande, auf Eigenschaften an sich Bezug zu nehmen und über sie nachzudenken. Die nächste Prämisse wäre das Antezedens von (8), und die Konklusion wäre das Konsequens von (8), also die Aussage, wonach wir außerstande sind, auf Eigenschaften an sich Bezug zu nehmen und über sie nachzudenken. Doch falls diese Konklusion wahr wäre, fragte es sich, wie wir imstande sein können, (8) – die erste Prämisse – zu begreifen. Diese Prämisse scheint unter anderem von Eigenschaften an sich zu handeln; und falls wir sie verstehen, sind wir eben doch dazu imstande, uns gedanklich auf Eigenschaften an sich zu beziehen. Die Argumentation widerlegt sich offenbar aus Gründen der Selbstbezüglichkeit selbst: Falls die Argumentation gelingt, ist ihre erste Prämisse derart, dass sie sowohl von Noumena handelt als auch für uns verständlich ist; und in diesem Fall muss diese Prämisse falsch sein.
Folgendes wäre, wie mir scheint, eine vernünftige Lösung im Sinne Kants: Wenn wir tatsächlich auf die Dinge an sich Bezug nehmen und über sie nachdenken können, gibt uns die Vernunft allein keine Auskunft über Fragen wie die, ob die Welt einen Anfang in der Zeit hatte oder ob es einfache Substanzen gibt. Mag sein, dass uns die Thesen, es gebe einfache Substanzen und es gebe freie Akteure, die in unserer Welt neue Kausalketten in Gang bringen, wahrscheinlicher vorkommen als ihr Gegenteil, aber die Negationen dieser Aussagen sind nicht beweisbar falsch. Was ganz gewiss nicht der Fall ist, ist dies: dass sowohl diese Aussagen als auch ihre Verneinungen beweisbar sind, so dass jede von ihnen sowohl beweisbar wahr als auch beweisbar falsch ist. Ferner müssen wir bedenken, dass das ganze Schema – das ganze radikale Teilbild – in einer bereits bekannten Hinsicht inkohärent ist. Wer dieses Schema artikuliert und vorschlägt, stellt damit mehrere Behauptungen über die Dinge an sich auf, beispielsweise die These, dass sie nicht in Raum und Zeit sind, sowie die noch bestürzendere These, unsere Begriffe träfen (da sie nur auf die Phänomena anwendbar seien) gar nicht auf sie zu, so dass wir uns weder auf sie beziehen noch über sie nachdenken können. Doch wenn es wirklich so ist, dass wir uns gedanklich nicht auf die Dinge an sich beziehen können, dann haben wir eben keinen gedanklichen Zugang zu ihnen (und wenn wir stattdessen pfiffen, gelänge es auch nicht). Können wir uns jedoch gedanklich nicht auf sie beziehen, ist es nicht einmal möglich, die Vorstellung von ihrer Existenz in Erwägung zu ziehen. Die Inkohärenz liegt auf der Hand.
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Wäre es eventuell möglich, auf folgende Weise Kohärenz in die Sache zu bringen? Wir weigern uns, die Unterscheidung zwischen Phänomena und Noumena durchzuhalten; statt dessen reden wir nur von dem, was im Falle einer solchen Unterscheidung die Phänomena wären, und behaupten: Was immer existieren mag, ist entweder ein Stück Erfahrung oder ein mit Hilfe von Begriffen (also Regeln für die Konstruktion von Dingen aus der Erfahrung) unter Rückgriff auf Erfahrungsbrocken konstruierter Gegenstand. Das ist extrem schwer zu glauben. Sind die Sterne z. B., die ja, soweit wir das angeben können, schon viel länger als wir selbst existieren, Stücke menschlicher Erfahrung oder Gegenstände, die wir aus Stücken menschlicher Erfahrung konstruiert haben? Wie sollen wir uns das verständlich machen? Außerdem würde der Einwand gegen den christlichen Glauben dieser Auffassung zufolge nicht besagen, überzeugte Christen nähmen zu Unrecht an, sie könnten sich auf Gott beziehen, sondern der Einwand würde lauten, dass es keinen Gott gibt. Gäbe es eine Person wie Gott, würde sie bestimmt weder ein Stück menschlicher Erfahrung noch etwas daraus Konstruiertes sein. Ferner würde diesem Bild zufolge gelten, dass wir selbst (da wir zu den existierenden Dingen gehören) entweder von uns selbst aus Stücken menschlicher Erfahrung konstruiert worden sind oder schlicht mit Stücken der Erfahrung identisch sind. Allerdings hätten wir uns natürlich nicht selbst konstruieren können, ehe wir existierten; also müssen wir anfangs zumindest Stücke der Erfahrung gewesen sein, die zur Konstruktion von Dingen fähig waren. Kein schönes Bild! Warum sollen wir uns, selbst wenn wir die Sache kohärent fassen könnten, dazu verpflichtet fühlen, daran zu glauben? Welchen Anspruch könnte ein derart abwegiges System geltend machen? Abschließend wollen wir zusammenfassen: Offenbar gibt es weder bei Kant selbst noch in seiner Nachbarschaft triftige Gründe für die Schlussfolgerung, unsere Begriffe träfen auf Gott nicht zu, weshalb wir uns gedanklich gar nicht auf ihn beziehen könnten. Moderne Theologen und andere Autoren beklagen sich mitunter darüber, dass die Religionsphilosophen heute oft so schreiben, als hätten sie ihren Kant nicht gelesen. Der Grund, weshalb sie so schreiben, liegt aber vielleicht nicht darin, dass sie ihren Kant nicht gelesen haben, sondern eher darin, dass sie ihn zwar tatsächlich gelesen haben, sich jedoch nicht haben überzeugen lassen. Vielleicht lassen sie sich nicht zu der Überzeugung bewegen, Kant habe wirklich behauptet, dass unsere Begriffe nicht auf Gott zutreffen. Oder aber: Sie räumen zwar vielleicht ein, dass diese These tatsächlich von Kant vertreten wird, lassen es sich aber nicht einreden, dass er recht hat. Schließlich ist es keine unabänderliche Selbstverständlichkeit des Geisteslebens, dass Kant recht hat.Wie dem auch sei, sie glauben nicht, dass Kant Gründe für die Behauptung genannt hat, wir seien außerstande, uns gedanklich auf Gott zu beziehen.
2 Kaufman und Hick Unser Thema ist die De-jure-Frage hinsichtlich des christlichen Glaubens, nämlich die Frage, ob es rational, vernünftig, rational begründbar oder intellektuell vertretbar ist, einen solchen Glauben zu akzeptieren. Wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, lautet eine vorgängige Frage, ob es im Hinblick auf den christlichen Glauben eine De-jure-Frage – oder auch nur eine De-facto-Frage – überhaupt gibt. Der christliche Glaube ist unter anderem der Glaube an die Existenz Gottes. Außerdem glaubt der Christ an die Unendlichkeit Gottes: mit Bezug auf wichtige Eigenschaften wie Wissen, Weisheit, Güte und Macht gebe es für Gott keine Grenzen. Ferner ist Gott nach christlicher Auffassung transzendent, also von der geschaffenen Welt verschieden und in keiner Hinsicht von ihr abhängig, sondern vielmehr so beschaffen, dass die Welt von ihm abhängt. Und schließlich ist folgendes zu erwähnen: Christen gehen davon aus, dass es möglich ist, auf Gott Bezug zu nehmen, über ihn zu reden und nachzudenken, ihn betend anzusprechen und zu verehren. Es gibt jedoch viele moderne Theologen, die solche Ideen offenbar für übertrieben naiv halten. Nach ihrer Überzeugung ist die bloße Idee, man könne auf ein dem christlichen Gottesbild entsprechendes Wesen Bezug nehmen und darüber nachdenken, zutiefst problematisch. Insbesondere scheinen sie zu glauben, Immanuel Kant habe vorzügliche Gründe dafür genannt, solchen naiv realistischen Auffassungen Gottes oder der religiösen Sprache allenfalls mit Misstrauen zu begegnen. Bei Kant ist jedoch, wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, eigentlich nichts zu finden, was darauf hindeutet, dass wir wirklich außerstande sind, über Gott nachzudenken oder zu reden. Allgemeiner gesprochen: Es fällt überaus schwer zu erkennen, wie aus dem Baumaterial, das in Kants Schriften zu finden ist, ein Argument zu konstruieren wäre, aus dem sich die Konklusion ergibt, wir seien nicht dazu imstande, auf Gott Bezug zu nehmen und über ihn nachzudenken. Das zeigt natürlich nicht, dass es unmöglich ist, ein solches Argument ausfindig zu machen. Doch sofern es tatsächlich möglich ist, ein solches Argument zu ermitteln, dürfte es wohl denen, die an seine Existenz glauben, obliegen, dieses Argument vorzulegen und zu entfalten. Im vorliegenden Kapitel werde ich dieser Frage bis in die Gegenwart nachgehen. Sofern Kant keinen Grund nennt, diesen Begriffsagnostizismus zu akzeptieren, stellt sich die Frage, ob es heute Theologen (oder andere religionswissenschaftlich orientierte Autoren) gibt, denen es gelingt. Hier werde ich mir zwei Fachvertreter vornehmen, und zwar Gordon Kaufman und John Hick.
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I Kaufman A Eigentlicher Bezugsgegenstand und verfügbarer Bezugsgegenstand Gordon Kaufman schreibt: Das Hauptproblem des theologischen Diskurses ist die Bedeutung des Ausdrucks »Gott«, und von diesem Problem ist kein anderes »Sprachspiel« betroffen. Das Wort »Gott« wirft spezielle Bedeutungsfragen auf, denn es ist ein Substantiv, das sich per definitionem auf eine Realität bezieht, die zur Erfahrung in einem transzendenten Verhältnis steht und daher nicht im Bereich der Erfahrung angesiedelt werden kann. Der neuerdings Bekehrte mag sich auf die »Zuneigung« beziehen wollen, die er in seinem Herzen für Gott empfindet, aber es dürfte kaum angehen, Gott mit dieser Gemütsbewegung gleichzusetzen; der Bibelfreund mag die Bibel als Gottes Wort ansehen; der Moralist mag meinen, Gott äußere sich durch das menschliche Gewissen; der Geistliche mag glauben, Gott sei in seinem Volk präsent – aber jeder von ihnen würde zustimmen, dass Gott selbst den bezeichneten Bereich transzendiert. Gott als Schöpfer oder Ursprung alles Seienden darf nicht mit einer speziellen, endlichen Realität gleichgesetzt werden. Als eigentliches Objekt der höchsten Treue bzw. Ergebenheit muss er von jedem bedingten oder nicht ans Höchste heranreichenden Wert oder Dasein unterschieden werden. Doch wenn es im Rahmen unserer Erfahrung gar nichts gibt, was sich unmittelbar als das identifizieren lässt, worauf sich der Ausdruck »Gott« zu Recht bezieht, stellt sich die Frage:Welche Bedeutung hat das Wort, bzw.welche Bedeutung kann es haben?¹
Die These besagt also, Gott dürfe mit keiner spezifischen endlichen Realität gleichgesetzt werden, und zwar vermutlich deshalb, weil er tatsächlich mit keiner spezifischen endlichen Realität identisch ist. Aus christlicher Sicht ist das natürlich nichts weiter als die nüchterne Wahrheit. Gott ist unendlich und daher mit keiner endlichen Realität identisch. So weit, so gut. Kaufman folgert daraus jedoch offenbar, dass es »gar nichts gibt, was sich unmittelbar als das identifizieren lässt, worauf sich der Ausdruck ›Gott‹ zu Recht bezieht«. Dem fügt er hinzu, dass es, wenn dem so ist, mit dem Bezug unseres Ausdrucks »Gott« wirklich Probleme gibt. Denn sofern es »gar nichts gibt, was sich unmittelbar als das identifizieren lässt, worauf sich der Ausdruck ›Gott‹ zu Recht bezieht, stellt sich die Frage: Welche Bedeutung hat das Wort, bzw.welche Bedeutung kann es haben?« Mir ist klar, dass der Schluss eine Frage enthält, aber es scheint sich um eine rhetorische Frage zu handeln. Dahinter steckt wohl der Gedanke: Wenn es im Rahmen unserer Erfahrung nichts gibt, was sich unmittelbar als das identifizieren lässt, worauf sich der Ausdruck »Gott« zu Recht bezieht, dann bezieht sich der Ausdruck »Gott« auf gar nichts, oder zumindest ist seine Bezugnahme auf einen Gegenstand durch und durch problematisch. God the Problem (= GP), Cambridge, MA: Harvard University Press 1972, S. 7– 8.
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Hier haben wir es also mit zwei Behauptungen zu tun: (a) Wenn Gott keine endliche Realität darstellt, kann gar nichts im Rahmen unserer Erfahrung unmittelbar als das identifiziert werden, worauf sich der Ausdruck »Gott« zu Recht bezieht. Und: (b) Wenn es im Rahmen unserer Erfahrung nichts gibt, was sich unmittelbar als das identifizieren lässt, worauf der Ausdruck »Gott« zu Recht Bezug nimmt, dann bezieht sich das Wort »Gott« auf gar nichts, oder zumindest ist seine Bezugnahme problematisch. Diese Behauptungen lassen an Kant denken, und das Echo wird umso lauter, je tiefer wir in Kaufmans Denken eindringen. Beide Behauptungen klingen von vornherein fragwürdig. Werfen wir einen Blick auf (a): Als erstes müssen wir die Frage stellen, was eigentlich mit der Aussage gemeint ist, dass »es im Rahmen unserer Erfahrung gar nichts gibt, was sich unmittelbar als das identifizieren lässt, worauf sich der Ausdruck ›Gott‹ zu Recht bezieht«. Was soll es nach Kaufmans Auffassung heißen, etwas gehöre zum Bereich unserer Erfahrung und sei so beschaffen, dass es unmittelbar als das identifiziert werden kann, worauf sich ein bestimmter Ausdruck zu Recht bezieht? Wie steht es mit Gregor, der Katze meiner Freundin? Ist Gregor etwas, was zum Bereich unserer Erfahrung gehört und unmittelbar als das identifiziert werden kann, worauf sich der Ausdruck »Gregor« zu Recht bezieht? Ich möchte meinen: ja – denn sonst handelt es sich um ein Problem, das nicht nur die Bezugnahme auf Gott betrifft, sondern die Bezugnahme auf alles und jedes. Nach Kaufman handelt es sich, soweit ich sehe, um ein Problem, das speziell mit Gott zu tun hat. Laut (a) liegt es an der Unendlichkeit Gottes, dass das Wort »Gott« nicht zu Recht auf etwas im Bereich unserer Erfahrung angewandt werden kann. Warum soll das eigentlich zutreffen? Gregor gehört vermutlich zum Bereich meiner Erfahrung, und darum kann ich mit Bezug auf Gregor Erfahrungen machen. Man kann ihn wahrnehmen, d. h.: man kann ihn sehen, hören, berühren und manchmal riechen. Der relevante Gedanke muss demnach der sein, dass Gott, wenn er keine endliche Realität ist, von uns nicht erfahren werden kann. Wir können ihn weder wahrnehmen (sehen, hören oder berühren) noch auf irgendeine andere Weise erfahren. Ein unendliches Wesen, das beispielsweise allmächtig und allwissend ist, kann in keiner Weise wahrgenommen oder erfahren werden. Stimmt das wirklich? Inwiefern bedeutet das Faktum der Unendlichkeit Gottes, dass wir ihn nicht erfahren können? Viele Christen und viele Juden glauben, Gott habe aus dem brennenden Busch mit Moses gesprochen. Moses hat ihn gehört. Mit Abraham hat er im Traum geredet. Er sprach zu mehreren Men-
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schen, als er sagte: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.« [Mk. 1, 11] Alle diese Leute haben ihn gehört. Christen glauben vielleicht auch, dass der heilige Geist in ihrem Herzen wirkt und dort sowohl Überzeugung und Glauben als auch die religiösen Affekte hervorbringt, von denen Jonathan Edwards berichtet. Machen diese Menschen keine Gotteserfahrung? Die Wörter »erfahren« und »Erfahrung« sind bekanntlich schwer in den Griff zu bekommen, aber man fragt sich doch: Wenn diese Dinge wirklich geschehen, erfahren die beteiligten Personen nicht Gott? Mancher Christ wird vielleicht noch weiter gehen und die Meinung vertreten, dass einige Menschen unter bestimmten Umständen Gott wahrnehmen. (Das ist ein Motiv, das William P. Alston in seinem Buch Perceiving God explizit und eindringlich behandelt.) Sofern das richtig ist, werden in diesen Fällen ebenfalls Gotteserfahrungen gemacht. Nun meint Kaufman offenbar, der Umstand, dass Gott unendlich – also in mehreren Dimensionen unbegrenzt – ist, bedeute, dass sich diese Menschen irren: Was immer sie denken mögen, Gott wird von ihnen nicht erfahren. Und wieder stellt sich die Frage nach dem Warum. Gott ist im Hinblick auf die Macht unendlich, d. h.: er ist allmächtig. Inwiefern suggeriert das auch nur durchs Hintertürchen, Gott könne sich kein Gehör verschaffen oder nicht erfahren werden? Auch im Hinblick auf die Erkenntnis ist Gott unendlich, d. h.: allwissend. Zeigt das irgendwie, dass er weder mit Abraham noch mit sonstwem sprechen konnte? Ist es vielleicht die Verbindung von Allmacht und Allwissenheit, die das zeigt? Es ist gewiss schwer zu erkennen, weshalb das so sein soll. Wenn Gott allmächtig, also unendlich mächtig ist, wird er dann nicht dazu imstande sein, sich im Rahmen unserer Erfahrung zu äußern und es zu bewerkstelligen, dass wir ihn erfahren? Dazu wird er unter diesen Umständen vermutlich nur dann außerstande sein, wenn es logisch unmöglich (also in einem weiten Sinne von »Logik« unmöglich) ist, dass sich ein allwissendes und allmächtiges Wesen Gehör verschaffen kann. Doch soweit ich sehe, gibt es nicht den geringsten Grund, der für diese Annahme spräche. Kaufman jedenfalls nennt keinen Grund. Auf die Frage, was es mit der Gotteserfahrung auf sich hat, werde ich in den Kapiteln 6, 8 und 9 detaillierter eingehen. Hier möchte ich lediglich darauf hinweisen, dass es von vornherein unplausibel erscheint zu verkünden: Wenn Gott unendlich und allmächtig ist, könne er es nicht herbeiführen, dass wir ihn erfahren. Die zweite Behauptung erscheint ebenfalls fragwürdig, also die These (b), wonach gilt: Wenn es im Rahmen unserer Erfahrung nichts gibt, was sich unmittelbar als das identifizieren lässt, worauf sich das Wort »Gott« bezieht, dann bezieht sich das Wort »Gott« auf gar nichts (oder zumindest ist seine Bezugnahme problematisch).Von den Kosmologen hören wir manches über den Urknall, mithin über ein Ereignis, das vor mehreren Milliarden Jahren stattfand und bei dem eine
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Explosion mit gewaltiger Energie eine Expansion des extrem dichten Urzustands verursachte. Ich möchte vermuten, dass der Urknall nichts ist, was zum Bereich unserer Erfahrung gehört und unmittelbar als das identifiziert werden kann, worauf sich das Wort »Urknall« zu Recht bezieht. Folgt daraus, dass es im Hinblick auf diesen Ausdruck ein tiefreichendes Problem gibt? Besteht das eigentliche Problem der modernen Kosmologie nicht bloß in der spekulativen Natur der angedeuteten Hinweise auf viele Universen und das Geschehen während der Planck-Zeit, sondern vielmehr in der bloßen Vorstellung, man könne auf den Urknall Bezug nehmen und über ihn nachdenken? Es ist nicht ohne weiteres einzusehen, warum das so sein soll. Zumindest wäre ein potentes Argument erforderlich. Und falls hier gar kein spezielles Problem vorliegt, warum soll es dann im Fall Gottes ein besonderes Problem geben?² Nun könnte man sagen: Falls die Bezugnahme auf ein unendliches Wesen unproblematisch ist, wie stellen wir es an, auf Gott Bezug zu nehmen? Im 1. Kapitel habe ich angedeutet, das könne erstens gelingen, indem man definite Kennzeichnungen verwendet, also Ausdrücke wie: »der Schöpfer des Himmels und der Erde«, »der allmächtige und allwissende Schöpfer der Welt«, »der göttliche Vater unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus«, »die göttliche Person, die mit Abraham sprach«, »die göttliche Person, die ich im jetzigen Augenblick erfahre« usw. Jede dieser Kennzeichnungen wird sich auf etwas beziehen, wenn es genau ein Ding gibt, das die in der Kennzeichnung erwähnten Eigenschaften exemplifiziert. Falls das nicht der Fall ist, wird die Kennzeichnung keinen Bezug haben. (Sofern der christliche Glaube wahr ist, werden alle diese Ausdrücke auf etwas Bezug nehmen, und zwar alle auf dasselbe.) Zweitens können wir den Eigennamen »Gott« benutzen, um auf das von diesen Kennzeichnungen bezeichnete Wesen Bezug zu nehmen. Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie dieser Ausdruck für mich als Eigenname Gottes fungieren kann. So könnte ich z. B. den Bezug des Worts »Gott« durch eine der bereits genannten Kennzeichnungen festlegen, etwa durch den Ausdruck »der Schöpfer des Himmels und der Erde«. Falls genau eine Person den Himmel und die Erde geschaffen hat und falls diese Person auch von den übrigen Kennzeichnungen bezeichnet wird, wird mein Name »Gott« ein Eigenname desselben Wesens sein, das auch mit Hilfe dieser Kennzeichnungen bezeichnet wird. Mein Name wird dann ein Eigenname für ein Wesen sein, das allwissend und allmächtig ist, der Schöpfer der Welt, der Vater unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus usw. Unter diesen Umständen wird mein Name »Gott« eine wesentliche Eigenschaft dieses Wesens zum Ausdruck bringen.³ Vielleicht wird mein auf diese Weise eingeführter Name nicht dieselbe wesentliche Eigenschaft ausdrücken wie dein Name, der mit Hilfe einer anderen Kennzeichnung eingeführt wurde. Aber auch in diesem Fall werden die beiden Namen logisch
Eine Quelle für Kaufmans diesbezügliche Ansichten liegt womöglich in einer gewissen Restanhänglichkeit an das oben (S. 7– 8) erwähnte Sinnkriterium der Verifizierbarkeit: »Da es offenbar keine auf Erfahrung basierenden Belege gibt, die sich für oder gegen den vermeintlichen Bezugsgegenstand des Worts ›Gott‹ anführen ließen, ist immer wieder die Frage laut geworden, ob alle Äußerungen über ihn nicht strenggenommen sinnlos sind« (S. 8).Wie wir jedoch im 1. Kapitel gesehen haben, spricht kaum etwas für dieses Kriterium der Verifizierbarkeit. Siehe mein Buch The Nature of Necessity, Oxford: Oxford University Press 1974, S. 77 ff.
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äquivalente (obschon in epistemischer Hinsicht nicht äquivalente) wesentliche Eigenschaften Gottes zum Ausdruck bringen.⁴ Drittens wäre es möglich, dass ich nicht dadurch zu meinem Eigennamen Gottes komme, dass ich eine definite Kennzeichnung benutze, um den Bezug festzulegen und anschließend das Etwas, auf das sich die Kennzeichnung bezieht, offiziell zu taufen. Stattdessen könnte ich den Namen sozusagen von anderen aufschnappen. Im Grunde ist dies das gebräuchlichere Verfahren. Eigennamen fangen wir uns, ebenso wie einen Schnupfen,von unseren Mitmenschen ein. Als Kind höre ich Äußerungen über Gott – Äußerungen, in denen der Name »Gott« vorkommt. Ich schnappe den Namen auf, wobei ich stillschweigend bzw. implizit beabsichtige, ihn so zu verwenden, dass ich mich damit auf dasselbe Wesen beziehe, auf das sich auch diejenigen beziehen, von denen ich den Namen herhabe. Falls es ihnen tatsächlich gelingt, durch Gebrauch dieses Namens auf Gott Bezug zu nehmen, wird es mir ebenfalls gelingen. (Das ist eine von mehreren Hinsichten, in denen der Erfolg meiner noetischen Unterfangen vom Erfolg ähnlicher Unterfangen auf Seiten meiner Mitmenschen abhängt. Siehe Warrant and Proper Function, S. 77– 78.)
Jedenfalls vertritt Kaufman die Meinung, den (wie es in seiner Terminologie heißt) »eigentlichen Bezugsgegenstand« des Wortes »Gott« könne man weder erkennen noch erfahren: Der eigentliche Bezugsgegenstand, der »Gott« entspricht, ist uns niemals zugänglich oder in irgendeiner Form beobachtbar oder erfahrbar. Stets muss er eine Unbekannte X bleiben […]. (GP, S. 85)
Wenn Christen den Ausdruck »Gott« verwenden, beziehen sie sich demnach nicht auf den eigentlichen Bezugsgegenstand dieses Worts (aber warum soll man ihn dann den »eigentlichen« Bezugsgegenstand nennen?). Auf wen oder was beziehen sie sich wirklich (sofern sie sich überhaupt auf etwas beziehen), wenn sie so etwas sagen wie: Gott sei in Christus gewesen, um die Welt mit ihm selbst zu versöhnen; Gott habe den Himmel und die Erde geschaffen; Gott sei unser treuer und liebender Vater? Die Antwort läuft nach Kaufman darauf hinaus, dass Christen, wenn sie dergleichen sagen, auf den »verfügbaren« Bezugsgegenstand des Namens »Gott« Bezug nehmen, und dieser verfügbare Bezugsgegenstand sei ein imaginatives Konstrukt – etwas, was wir selbst irgendwie erschaffen haben: Im Hinblick auf alle praktischen Belange ist es der verfügbare Bezugsgegenstand – ein spezifisches imaginatives Konstrukt –, das von bedeutsamer Tragweite für das menschliche Leben und Denken ist. Es ist dieser »verfügbare Gott«, den wir im Sinn haben, wenn wir ihn lobpreisen oder anbeten […]. Es ist der verfügbare Gott, der unsere Äußerungen und Gedanken prägt, wenn wir das Wort »Gott« gebrauchen. In diesem Sinne bezeichnet »Gott«, soweit es um irgendwelche praktischen Belange geht, etwas, was im wesentlichen ein mentales oder imaginatives Konstrukt ist. (GP, S. 85 – 86)
Siehe meinen Artikel »The Boethian Compromise«, in: American Philosophical Quarterly (1978).
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Gott ist ein Symbol – ein imaginatives Konstrukt –, das den Menschen dazu befähigt, die Welt und sich selbst in einer Weise zu betrachten, die dem Handeln und der Moral im letzten (metaphysischen) Grunde Sinn verleiht. (GP, S. 109)
Der verfügbare Gott – der Gott, der uns vorschwebt, wenn wir ihn lobpreisen und anbeten, das Wesen, auf das wir uns beziehen, wenn wir das Wort »Gott« verwenden –, dieses Wesen ist demnach ein Geschöpf des Menschen, ein imaginatives Konstrukt – etwas, was wir selbst erschaffen haben. Zunächst scheint der Grundgedanke der zu sein, dass es sowohl diesen verfügbaren, aber auch einen eigentlichen Bezugsgegenstand des Worts »Gott« gibt, bei dem es sich allerdings um ein Wesen handelt, zu dem wir keinen noetischen Kontakt haben und über das wir nicht sprechen können. Anders ausgedrückt, ist der Grundgedanke vermutlich der, dass es vielleicht einen eigentlichen Bezugsgegenstand geben kann, bei dem es sich – falls es ihn wirklich gibt – um ein Wesen handelt, auf das wir uns gedanklich nicht beziehen können: Dieser Umstand, dass der dem Menschen tatsächlich verfügbare Gott ein imaginatives Konstrukt ist, bedeutet nicht unbedingt, das Gott »nicht wirklich« oder etwas »bloß Imaginäres« oder sonst etwas dergleichen ist. Diese Frage bleibt offen und ist weiter zu untersuchen. (GP, S. 86) Heißt das nun, die Schlussfolgerung laute eben doch, dass Gott in Wirklichkeit nicht existiert und bloß ein Hirngespinst ist? Sofern diese Worte dazu dienen sollen, die spekulative Frage nach dem eigentlichen Wesen der Dinge aufzuwerfen, besteht keine Möglichkeit, sie zu beantworten. (GP, S. 111)
Im Grunde scheint die Auffassung, die Kaufman in God the Problem vertritt, also auf folgendes hinauszulaufen: Dem Wort »Gott« entspricht ein verfügbarer Bezugsgegenstand. Dieser ist etwas von Menschen Konstruiertes – etwas, was wir geschaffen haben. Wenn man Gott lobpreist oder ihn betend anredet, ist es dieser verfügbare Bezugsgegenstand, über den man redet (oder den man anspricht). Vielleicht hat das Wort auch einen eigentlichen Bezugsgegenstand. Wenn ja, transzendiert er allerdings unsere Erfahrung und ist folglich etwas, worauf unsere Begriffe nicht zutreffen: eine bloße Unbekannte X, um Kaufmans an Kant angelehnte Terminologie zu benutzen. Dafür, dass es für diesen Standpunkt offenbar keine guten Gründe gibt, habe ich bereits argumentiert. Nun muss ich fortfahren und hinzufügen, dass es ausgezeichnete Gründe dafür gibt, diesen Standpunkt nicht zu vertreten. In der geschilderten Form ist diese Auffassung inkohärent. Betrachten wir zunächst den »verfügbaren Bezugsgegenstand«: Der vorgeschlagenen Position zufolge reden Christen, wenn sie beten, lobpreisen und über Gott sprechen, über den verfügbaren Bezugsgegenstand. Sagen sie beispielsweise so etwas wie »Gott hat den
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Himmel und die Erde geschaffen«, schreiben sie diese Eigenschaft – also die Eigenschaft, den Himmel und die Erde geschaffen zu haben – dem verfügbaren Bezugsgegenstand zu. Dieser verfügbare Bezugsgegenstand ist jedoch ein menschliches Konstrukt und hat daher vermutlich nicht existiert, ehe es Menschen gab.Wie ist es ihm dann gelungen, den Himmel und die Erde zu erschaffen? War er irgendwie dazu imstande, ehe er existierte? Jedenfalls ist ein imaginatives Konstrukt, ein Symbol, ein irgendwie beschaffenes Sinngebilde einfach nichts, was dazu in der Lage sein könnte, den Himmel und die Erde oder sonst irgendetwas zu erschaffen. Ein Symbol, ein imaginatives Konstrukt kann zwar Eigenschaften besitzen – wie z. B.: ein Konstrukt sein, ein Symbol sein oder von Menschen zu diesem oder jenem Zweck richtig benutzt werden –, aber Eigenschaften wie allwissend sein oder die Welt erschaffen wird es bestimmt nicht besitzen. Vermutlich kann man nicht ausschließen, dass Christen konfus sind und glauben, sie bezögen sich auf ihren Schöpfer und redeten über ihn, während sie sich in Wirklichkeit auf etwas beziehen, was sie selbst erschaffen haben. Ist es aber tatsächlich plausibel anzunehmen, sie seien so konfus, wie es hier unterstellt wird? Wer glaubt, es gebe keine solche Person wie Gott, wird meinen, dass Christen, die an die Existenz einer solchen Person glauben, einen Irrtum begehen – und vielleicht ist es immerhin sinnvoll, ihnen einen solchen Irrtum zuzuschreiben. Aber ist es wirklich sinnvoll, ihnen den Irrtum zu attestieren, sie prädizierten die Eigenschaften Gottes von einem bloßen Konstrukt? Nun,vielleicht kann das ja wirklich passieren. Doch gewiss wäre ein überzeugendes Argument vonnöten, um diese Annahme auch nur einigermaßen plausibel zu machen. Führen wir folgende Sprachregelung ein: Eine Eigenschaft P impliziert eine Eigenschaft Q genau dann, wenn es in einem weiten logischen Sinne des Wortes notwendig ist, dass alles, was P exemplifiziert, auch Q exemplifiziert. Ferner wollen wir sagen: Ein Begriff C enthält eine Eigenschaft P, wenn die durch C erfasste Eigenschaft P impliziert. Dann ist klar, dass ein Begriff Eigenschaften wie allwissend sein oder die Welt erschaffen haben enthalten (wenn auch womöglich nicht exemplifizieren) kann, und ebenso klar ist, dass der der definiten Kennzeichnung »der allwissende Schöpfer der Welt« entsprechende Begriff die Eigenschaften allwissend sein und der Schöpfer der Welt sein enthält. Könnte es nun sein, dass Kaufman in Wirklichkeit gar nicht sagen möchte, von christlicher Seite werde überhaupt nicht behauptet, der verfügbare Bezugsgegenstand – der so etwas wie ein die hervorstechenden Eigenschaften Gottes enthaltender Begriff ist – exemplifiziere diese Eigenschaften, sondern nur, dass er sie enthalte? Aber auch das scheint verkehrt zu sein. Es stimmt zwar, dass bestimmte Begriffe (zu denen auch einige gehören, die mit Kennzeichnungen Gottes in Verbindung gebracht werden) diese Eigenschaften enthalten. Doch sobald Christen die für sie charakteristischen Behauptungen aufstellen, sagen sie nicht bloß so etwas wie: dass der Begriff der allwissende Schöpfer des Himmels und der Erde sein die Eigenschaften allwissend sein und der Schöpfer des Himmels und der Erde sein enthält. Das wäre zwar natürlich wahr, aber es wäre auch völlig trivial. Es wäre nichts, wodurch sich Christen oder Theisten auszeichnen. Selbst der abgebrühteste Atheist würde zustimmen, dass dieser Begriff diese Eigenschaften enthält. Der
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Anspruch, den der Christ geltend macht, impliziert jedoch, dass diese Eigenschaften exemplifiziert werden, also dass es wirklich ein Wesen gibt, dem die Eigenschaften zukommen. Diese Darstellung scheint eine wortgetreue Interpretation der Aussagen Kaufmans zu sein. Dabei gibt es in der Nachbarschaft dieser Interpretation freilich noch weitere Möglichkeiten. So mag es vielleicht sein, dass sich Kaufman den verfügbaren Bezugsgegenstand nicht als ein Wesen denkt, dem die Eigenschaften zukommen, die Gott von christlicher Seite zugeschrieben werden, sondern dass ihm eher so etwas wie ein bestimmter Typus vorschwebt, mit dem diese Eigenschaften in Verbindung gebracht werden.⁵ Vielleicht hat es den Anschein, als komme diese Deutung Kaufman weiter entgegen; aber dass es sich wirklich so verhält, möchte ich bezweifeln. Sofern Kaufmans These auf die Behauptung hinausläuft, normalerweise beteten Christen diesen Typus an, ist diese Behauptung genauso haarsträubend, wie ich es eben angedeutet habe. Soll damit jedoch nur gesagt werden: Christen glaubten ein Wesen anzubeten, dem die mit diesem Typus in Verbindung gebrachten Eigenschaften zukommen, seien aber möglicherweise im Irrtum, dann stellt sich die Frage, ob diese Behauptung mehr besagt als der uninteressante Gedanke, Christen könnten hinsichtlich der Frage, ob es eine Person wie Gott wirklich gibt, einen Fehler begehen.
Nun wollen wir uns den eigentlichen Bezugsgegenstand vornehmen: Dahinter steht die Vorstellung, dass unsere Begriffe auf den eigentlichen Bezugsgegenstand, sofern es dergleichen überhaupt gibt, nicht zutreffen. Daraus folgt, dass dieses Wesen weder weise noch allmächtig, noch der Schöpfer des Himmels und der Erde ist. Betrachten wir etwa den Begriff der Weisheit: Dieser Begriff trifft genau dann auf etwas zu, wenn dieses Etwas weise ist. Ein Wesen, auf das dieser Begriff nicht zutrifft, wäre also nicht weise, wie immer es im Übrigen beschaffen sein mag. Falls unsere Begriffe auf den eigentlichen Bezugsgegenstand des Wortes »Gott« nicht zutreffen, werden unsere Begriffe »Liebe«, »Allmacht«, »Weisheit«, »Schöpfer« und »Erlöser« nicht darauf zutreffen – und in diesem Fall handelt es sich nicht um ein liebendes, allmächtiges, weises, schöpferisches oder erlösendes Wesen. Es würde keine der Eigenschaften besitzen, die Gott von christlicher Seite zugeschrieben werden. Soweit dürfte diese Darstellung natürlich auch mit Kaufmans Absichten in Einklang stehen. Allerdings möchte ich vermuten, dass Kaufmans offizieller Standpunkt weitere Konsequenzen nach sich zieht, die er nicht beabsichtigt. Sofern dieses Wesen – dieser eigentliche Bezugsgegenstand – wirklich so beschaffen ist, dass keiner unserer Begriffe darauf anwendbar ist, werden ihm auch Eigenschaften wie Selbstidentität, Existenz und entweder ein materieller oder ein immaterieller Gegenstand sein abgehen, denn dies sind Eigenschaften, von denen wir Begriffe haben. Ja, dieses Wesen hätte auch nicht die Eigenschaft, der eigentliche Bezugsgegenstand des Wortes »Gott« oder irgendeines anderen Ausdrucks zu sein.
Siehe Nicholas Wolstertorffs bisher unveröffentlichte Arbeit From Presence to Practice: Mind, World, and Entitlement to Believe, Kapitel 1.
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Unser Begriff der Bezugsgegenstand eines Ausdrucks sein wird nicht auf es zutreffen. In der Tat wird dieses Wesen gar keine Eigenschaften haben, denn unser Begriff wenigstens eine Eigenschaft haben trifft nicht darauf zu. Kaufmans Auffassung scheint zu implizieren, dass es ein Wesen geben könnte, das keine Eigenschaften hat, nicht existiert, nicht mit sich selbst identisch ist, weder ein materieller noch ein immaterieller Gegenstand ist und keine Eigenschaften besitzt. Strenggenommen ist Kaufmans Standpunkt daher inkohärent.
B Die Funktion der religiösen Sprache Vielleicht sind es Gründe dieser Art, die Kaufman dazu bewogen haben, in neueren Schriften – vor allem in seinem Buch The Theological Imagination ⁶ – nicht mehr von einem eigentlichen Bezugsgegenstand zu reden. Stattdessen behauptet er: »Es ist ein Irrtum, Gott zu verdinglichen und zu einem unabhängigen Wesen zu machen« (TI, S. 38). »Wollte man Gott als ein uns gegenüberstehendes, beschreibbares oder erkennbares Objekt ansehen, so wäre das eine Erniedrigung Gottes und zugleich eine gravierende Kategorienverwechslung« (TI, S. 244). Ferner schreibt er: Daher ist es ein Fehler, die Gott zugeschriebenen Eigenschaften (etwa Aseität, Heiligkeit, Allmacht, Allwissenheit, Providenz, Liebe, Selbstoffenbarung) so aufzufassen, als handelte es sich um Merkmale oder Tätigkeiten eines solchen Einzelwesens. Vielmehr ist das übliche Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat bei der geistigen Konstruktion des Bild/Konzepts von Gott umgekehrt. Das Subjekt (Gott) ist eben nicht das Gegebene, dem die verschiedenen prädikativen Adjektive zugeschrieben werden, sondern hier sind die deskriptiven Ausdrücke selbst die Bausteine, deren sich die Einbildungskraft bedient, indem sie ihre Konzeption zusammenfügt. […] Die moderne konstruktiv orientierte Theologie muss einsehen, dass sich diese Ausdrücke und Begriffe nicht unmittelbar auf »Gegenstände« bzw. »Realitäten« oder deren Eigenschaften und Relationen beziehen, sondern vielmehr als Bausteine oder Bezugspunkte fungieren, die dazu dienen, das theistische Weltbild bzw. die christliche Lebensanschauung zu artikulieren. (TI, S. 244)
Wieso müssen wir glauben, dass diese Ausdrücke in Wirklichkeit gar keinen allmächtigen, allwissenden Schöpfer der Welt bezeichnen? Soweit ich sehe, besteht der Grund darin, dass Kaufman nicht an die Existenz eines solchen Wesens glaubt.
Der Untertitel lautet Constructing the Concept of God, Philadelphia: Westminster Press 1981 (im folgenden = TI). Siehe auch Kaufmans Essay on Theological Method, Missoula, MT: Scholars Press 1975 und 1979.
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Er meint offenbar, die angemessene Einstellung zu der entsprechenden Aussage sei entweder Ungläubigkeit oder Urteilsenthaltung, also entweder Atheismus oder Agnostizismus. Freilich, wenn es kein solches Wesen gibt, dann wird auch keines unserer Wörter ein solches Wesen bezeichnen. Für einen Theologen ist das vielleicht ein überraschender Standpunkt. Ein Theologe, der nicht an Gott glaubt, ist wie ein Bergsteiger, der es für eine offene Frage hält, ob tatsächlich Berge existieren, oder wie ein Klempner, der sich zu Wasserleitungen agnostisch verhält: ein faszinierendes Schauspiel – aber auch eines, das man kaum ernst nehmen kann.⁷ Warum glaubt Kaufman, dass es eine solche Person nicht gibt? An Argumenten wird auch hier nicht viel geboten. Zunächst verweist er auf »ein stärkeres Bewusstsein von der Bedeutsamkeit des religiösen Pluralismus«.⁸ Zweitens, so schreibt er im selben Artikel, »haben neue Theorien über die Art und Weise, in der kulturelle und sprachliche Symbol- oder Begriffsrahmen unser gesamtes Erleben und Denken prägen, […] auf theologischer Seite zur Entstehung eines neuen Bewusstseins von dem außerordentlich komplexen und problematischen Charakter aller sogenannten ›religiösen Wahrheitsansprüche‹ geführt, was auch die Ansprüche des Christentums einschließt«. Drittens bezieht er sich auf das traditionelle Problem des Übels, gibt ihm aber einen besonderen Dreh: Die Christen selbst seien für mehr üble Seiten, die die Welt an den Tag legt, verantwortlich, als sie gern annehmen möchten. (Diese letztere Feststellung ist leider wahr, und vielleicht war es – um nur ein Beispiel zu nennen – unter anderem das wenig erbauliche Schauspiel der einander im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert gegenseitig an die Gurgel gehenden Christen, das in der Neuzeit so viele zur Lossagung vom Glauben veranlasst hat.) Von hier aus ist es jedoch ein gewaltiger Sprung zu der Schlussfolgerung, wahrscheinlich gebe es keine solche Person wie Gott. Im 14. Kapitel werden wir die Frage untersuchen, ob das Übel einen Bezwinger des christlichen Glaubens darstellt, und eine ähnliche Untersuchung werden wir im 13. Kapitel der Frage angedeihen lassen, was es mit der Vielzahl der Religionen dieser Welt auf sich hat. Was den zweiten Hinweis betrifft – also die These, dass »kulturelle und sprachliche Symbol- oder Begriffsrahmen unser gesamtes Erleben und Denken prägen« –, mag es sein, dass diese Behauptung zutrifft. Doch sofern sie dazu angetan ist, unser gesamtes Erleben und Denken (einschließlich des Christentums) in Frage zu stellen, fragt es sich, ob das gleiche nicht auch für jede andere Denkweise gilt – einschließlich des Gedankens, damit werde unser Denken in Frage gestellt. Wenn dem so ist, dürfte alles beim alten bleiben, denn dann läge darin kein Grund, speziell den Theismus (oder irgendetwas anderes) in Zweifel zu ziehen.
Man darf damit rechnen, dass ein Atheist oder Agnostiker bezüglich der Existenz Gottes überhaupt von der Religion Abstand nimmt, um Frömmigkeit und reli-
Leider ist das heutzutage kein ungewöhnliches Schauspiel. Vgl. etwa Don Cupitt, der ähnliche Anschauungen vertritt und sie manchmal mit nachgerade liebenswerter Verschrobenheit zum Ausdruck bringt: »Die Forderung nach einer außerreligiösen Realität Gottes ist ein Zeichen spiritueller Vulgarität und Unreife« (Taking Leave of God, New York: Crossroad 1981, S. 10). An späterer Stelle schreibt er: »Die reale äußere Existenz Gottes ist in religiöser Hinsicht uninteressant« (S. 96). »Evidentialism: A Theologian’s Response«, in: Faith and Philosophy (Januar 1989), S. 30.
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giösen Glauben mit verbittertem oder mitleidigem Blick zu betrachten. Das ist aber nicht der Weg, den Kaufman einschlägt. Stattdessen behauptet er, die religiöse Praxis und Frömmigkeit habe »nach wie vor eine wichtige Aufgabe im Leben zu erfüllen«. Diese Aufgabe besteht natürlich nicht darin, uns mit einem Wesen in Verbindung zu bringen, das die traditionellerweise Gott zugeschriebenen Eigenschaften besitzt, oder uns die Fähigkeit zu verleihen, an der von Gott versprochenen Erlösung in Jesus Christus teilzuhaben. Nein, die neue Aufgabe verlangt, dass die Theologen den Gottesbegriff konstruieren oder umkonstruieren. Die religiöse Sprache ist immer noch wichtig, aber sie soll umgebaut werden, so dass sie keinen verzweifelten Versuch der Bezugnahme auf ein nicht existierendes Wesen beinhaltet. Stattdessen sollte diese Sprache dazu dienen, das menschliche Gedeihen zu fördern – »die menschliche Erfüllung und das menschliche Sinnen« (TI 34). Das Wort »Gott« soll mit einem von Theologen konstruierten Symbol, Bild oder Begriff verknüpft werden. Aufgabe der Theologen ist es, den Begriff (bzw. das Symbol) »Gott« so umzukonstruieren, dass er für die heutige historische Situation taugt. (So schlägt Kaufman in einem Buch vor, im modernen Atomzeitalter sollten wir Gott als »die historische Entwicklungskraft« begreifen, »die uns alle hat entstehen lassen«.⁹) Das Wort »Gott« sollte daher nicht mehr so aufgefasst werden, als bezöge es sich auf die allmächtige, allwissende, unendlich liebevolle Person, die die Welt erschaffen hat; ja es sollte gar nicht als ein Wort aufgefasst werden, das sich auf eine Person bezieht. Vielmehr sollte es als so etwas wie ein Symbol für bestimmte Sachverhalte gedeutet werden. So haben die Christen z. B. Transzendenz als eine Eigenschaft Gottes aufgefasst. Nun empfiehlt Kaufman, bei der Konstruktion des neuen Symbols sollten wir an der Transzendenz festhalten.¹⁰ Hier geht es offenbar um die Behauptung, Einzelmenschen und menschliche Gemeinschaften brauchten, um echte Erfüllung zu finden, ein Zentrum der Orientierung und der Andacht, das sich außerhalb ihrer eigenen Person befindet sowie außerhalb ihrer wahrgenommenen Wünsche und Bedürfnisse. (TI, S. 35 – 36) Gott symbolisiert das Element des fortwährenden historischen Entwicklungsprozesses, das unserem Wesen eine spezifisch menschliche Basis verleiht und uns zur authentisch menschlichen Erfüllung (Erlösung) hochzieht (oder treibt). […] Die ritualisierte Gottesfrömmigkeit im religiösen Kultus sowie bei den privaten Praktiken des Gebets und der Meditation hat im Leben nach wie vor eine wichtige Funktion zu erfüllen. (TI, S. 41)
Theology for a Nuclear Age, Manchester: Manchester University Press 1985, S. 43. Wie geht es vor sich, Eigenschaften wie Transzendenz oder Aseität mit diesen von uns zu konstruierenden Symbolen zu verknüpfen? Stellen wir schlicht eine Liste von Eigenschaften auf und erklären sie damit für solche, die mit dem Wort »Gott« verbunden sind? Es ist gar nicht leicht zu erkennen, wie das funktionieren soll, und Kaufman macht dazu keine Angaben.
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Um es allgemeiner auszudrücken: »Gott« ist das personifizierende Symbol jener kosmischen Aktivität, die unsere Menschlichkeit geschaffen hat und weiterhin auf deren vollständige Verwirklichung drängt. Eine solche Personifizierung ist, was bestimmte Zwecke betrifft, abstrakten Begriffen wie »kosmische Kräfte« oder »Grundlage unserer Menschlichkeit im eigentlichen Wesen der Dinge« überlegen, denn das Symbol »Gott« ist konkret und bestimmt, ein genau umrissenes Bild, und kann als solches ohne weiteres zum zentralen Brennpunkt der Andacht und der religiösen Handlungen werden. […] »Gott« ist ein Symbol, das alle kosmischen Kräfte, die auf das ersehnte, durch und durch menschliche Dasein hinarbeiten, in sich aufnimmt und konzentriert. (TI, S. 50) Äußerungen über den christlichen Gott als ein »reales« oder »existierendes« Wesen bringen in symbolischer Form diese Überzeugung zum Ausdruck, dass sich freie und liebevolle Personen, die der Gemeinschaft angehören, auf eine substantielle metaphysische Grundlage stützen können – dass es kosmische Kräfte gibt, die auf diese Form der Vermenschlichung hinwirken. (TI, S. 49) In der hier von mir vorgestellten Form ist das christliche Bild/Konzept Gottes ein imaginatives Konstrukt, durch das Ichs und Gemeinschaften so orientiert werden, dass die Entwicklung hin zur liebenden und sorgenden Selbstheit ebenso ermöglicht wird wie die Entwicklung hin zu Gemeinschaften der Offenheit, der Liebe und der Freiheit. (TI 48)
Soweit ich die Grundidee verstehe, scheint sie auf folgendes hinauszulaufen: Vielleicht gibt es eine solche Person wie die, an deren Existenz die Theisten traditionellerweise glauben, gar nicht. Trotzdem ist es eine gute Idee, das Wort »Gott« auch weiterhin zu gebrauchen und sogar viele der gleichen Wörter, Formulierungen und Sätze zu verwenden, die auch von denen benutzt werden, die an Gott glauben. Wenn man das in der richtigen Weise tut, wird es zum menschlichen Gedeihen beitragen. Wie soll das im einzelnen geschehen? Vielleicht folgendermaßen: Zunächst stellen wir fest, dass es eine Person wie Gott wahrscheinlich nicht gibt. Sodann steht es uns frei, ein Konzept/Bild »Gott« auszuwählen und mit ihm bestimmte Eigenschaften – etwa Existenz und Transzendenz – zu verknüpfen und dieses Symbol so zu verwenden, dass es Dinge symbolisiert wie den Umstand, dass die Welt spezifisch menschlichen Bestrebungen, Zielen, Bedürfnisse und Wünschen immerhin in einem gewissen Maße entgegenkommt. Wir sollen so etwas wie »Gott ist wirklich« sagen, womit wir eigentlich meinen, dass die Welt Kräfte enthält, die zum menschlichen Gedeihen beitragen. (Vermutlich sollten wir hinzufügen, dass der Teufel ebenfalls wirklich ist, und damit symbolisieren, dass es auch Kräfte gibt, die dem menschlichen Gedeihen entgegenwirken.) Wir sollen »Gott ist unabhängig von uns« sagen und damit meinen, eine Gemeinschaft bzw. eine Person brauche für ihr Gedeihen einen außerhalb ihrer selbst liegenden Brennpunkt des Interesses. (Vielleicht sollte man hinzufügen: »Wir sind gerecht durch das Leiden und den Tod Jesu Christi«, um damit die Tatsache zu symbo-
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lisieren, dass wir uns nicht immer schuldig fühlen. Oder vielleicht sollte man sagen: »Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich« [2 Kor. 5, 19], um damit zu meinen, dass die Situation für das menschliche Gedeihen heutzutage günstiger ist als früher einmal.) Und dass man dergleichen sagt, wird seinerseits zum menschlichen Gedeihen beitragen. Kann man irgendetwas davon wirklich ernst nehmen? Hier handelt es sich nicht um das Einfüllen neuen Weins in alte Schläuche. Nein, das erinnert nicht einmal entfernt an den reichhaltigen, kräftigen und aromatischen Wein der großen Wahrheiten des Christentums, sondern das ist ein völlig fades, triviales und labberiges Getränk. Es handelt sich auch nicht einmal um einen Fall des Ausschüttens des Kindes mitsamt dem Bade, sondern das Kind wird ausgeschüttet, während man das laue Badewasser zurückbehält – einen bestenfalls schalen, unappetitlichen Trank, der weder warm noch kalt ist, und schlimmstenfalls ein ekelerregendes Gebräu, das weder für Mensch noch Tier geeignet ist. Außerdem ermuntert dieses Aufwärmen säkularer, als »Rekonstruktion« des Christentums verkleideter Gedanken zu Unaufrichtigkeit und Heuchelei. Es mündet dann in einen privaten Code, indem man die gleichen Formulierungen verwendet wie jene, die den christlichen Glauben wirklich bejahen, während man jedoch etwas völlig anderes damit meint. Auf diese Weise scheint man den echten Vertretern des christlichen Glaubens zuzustimmen, während man ihren Glauben in Wirklichkeit rückhaltlos ablehnt. So kann man den Kirchgänger (der das eigene Niveau an Aufgeklärtheit noch nicht erreicht hat) von oben herab behandeln, ohne dafür den Preis zu bezahlen, dass man ihn ungebührlich aufschreckt. De facto sorgt diese Doppelzüngigkeit allenfalls für Verwirrung und Täuschung, fördert dabei aber nur Missverständnisse, Unaufrichtigkeit und Heuchelei. Wäre es hier nicht sehr viel ehrlicher, beispielsweise dem Vorbild von Bertrand Russell, A. J. Ayer, Daniel Dennett, Richard Dawkins oder auch Madalyn Murray O’Hair zu folgen und geradeheraus zu erklären, dass es keinen Gott gibt und dass das Christentum nichts weiter ist als ein gewaltiger Irrtum?
II Hick Die Arbeiten von John Hick sind sowohl als solche wie auch im Hinblick auf unser Thema von Interesse. Auch er vertritt eine stark an Kant angelehnte Auffassung, die sich ebenfalls (wenngleich mit erheblichen Einschränkungen) als eine These formulieren lässt, der zufolge unsere Begriffe nicht auf Gott bzw. »Das Reale« zutreffen. Es finden sich vielsagende Anklänge an Kant sowie vielsagende Anklänge an einige der Schwierigkeiten, die mit dem Unterfangen einhergehen, eine kohärente Kantinterpretation ausfindig zu machen.
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A Das Reale Die traditionelle Lehre der Unaussprechlichkeit Gottes gibt es nicht nur im Christentum, sondern auch in anderen religiösen Überlieferungen. Nach Hicks Überzeugung ist diese Lehre im Grunde die Anerkennung einer an Kant gemahnenden Unterscheidung zwischen Gott (dem Realen, dem letzten Grund¹¹) an sich und Gott für uns (wie wir ihn erkennen oder erfahren): In allen großen Traditionen wurde eine mehr oder weniger strenge Unterscheidung zwischen dem Wirklichen (als Gott, Brahman, Dharmakāya und so weiter) an sich und dem Wirklichen getroffen, wie es sich im Denken und in der Erfahrung dieser Tradition manifestierte. (S. 236 / 257)
So weit, so gut. Diese These – es gebe eine Unterscheidung zwischen dem Realen an sich und dem Realen für uns – ist relativ anspruchslos. Damit ist lediglich die Bedingung ausgesprochen, dass unsere Gottesauffassung dem wirklichen Sein Gottes nicht zur Gänze entspricht. Erfüllt wäre diese Bedingung bereits, wenn beispielsweise Dinge auf Gott zuträfen, über die wir nichts wissen, oder – im Sinne einer stärkeren Bedingung – wenn Dinge auf ihn zuträfen, über die wir nichts wissen können. Hick geht jedoch sehr viel weiter: Das Reale sei derart, dass wir gar nichts darüber aussagen können, denn keiner unserer Ausdrücke lasse sich im Wortsinne (und richtig) darauf anwenden: Wiewohl wir also nicht vom Wirklichen an sich in einer wörtlichen Weise sprechen können, leben wir doch unausweichlich in einer Beziehung zu ihm. (S. 351 / 377) Sprache hat sich im Bereich des Phänomenalen oder Wahrnehmbaren entwickelt, und auf dieses bezieht sie sich wörtlich. Das in der menschlichen Sprache verkörperte Begriffssystem beeinflußt sogar umgekehrt die Gestalt der vom Menschen wahrgenommenen Welt, die ebensosehr konstruiert wie gegeben ist. Dagegen hat unsere Sprache keinen Zugriff auf eine postulierte noumenale Wirklichkeit, die auch nicht teilweise von menschlichen Begriffen geformt ist. Sie kann von unseren kognitiven Fähigkeiten nicht erreicht werden. (S. 350 / 375)
Das klingt nach der Zwei-Welten-Interpretation Kants (s. o., S. 11 ff.). Einerseits gibt es das Reich der Phänomena, auf das sich unsere Sprache buchstäblich anwenden
An Interpretation of Religion, New Haven: Yale University Press 1989, S. 236 – 239 (übers. von Clemens Wilhelm: Religion. Die menschlichen Antworten auf die Frage nach dem Leben und Tod, München: Diederichs Verlag 1996). Alle Seitenverweise im Text (engl. / dt.) beziehen sich, sofern nicht anders angegeben, auf dieses Buch. [Aus Gründen der Einheitlichkeit wurde die Übers. an wenigen Stellen stillschweigend modifiziert.]
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lässt. Diese »vom Menschen wahrgenommene Welt« ist im gleichen Maße etwas Konstruiertes, wie sie auch etwas Gegebenes ist, und zum Teil wird sie durch unsere Anwendung von Begriffen konstruiert. Andererseits gibt es überdies die Welt der Noumena (das »Reale«), die »auch nicht teilweise von menschlichen Begriffen geformt ist« und die sich infolgedessen außerhalb der Reichweite unserer Erkenntnisvermögen befindet. Hier stellen sich einige der gleichen Fragen wie bei der Zwei-Welten-Interpretation Kants: Warum soll man glauben, etwas befinde sich nur dann im Bereich unserer kognitiven Fähigkeiten, wenn es zum Teil von menschlichen Begriffen geformt worden ist? Werden Pferde und Dinosaurier (zum Teil) von unseren Begriffen geformt? (Für welche Teile gilt das?) Wenn die Noumena außerhalb der Reichweite unserer Erkenntnisvermögen liegen, wie kommt es dann, dass wir etwas über sie wissen oder auch nur, dass es dergleichen überhaupt gibt? Häufiger jedoch geschieht es, dass sich Hick die Eine-Welt-Auffassung zu eigen macht: Kant unterschied also zwischen Noumenon und Phänomenon oder dem Ding an sich und dem Ding, wie es dem menschlichen Bewußtsein erscheint. […] Bei diesem Gedankengang Kants, den ich für die Religionsepistemologie dienstbar machen möchte, existiert die noumenale Welt unabhängig von unserer Wahrnehmung von ihr, und die phänomenale Welt ist die Welt, wie sie in unserem menschlichen Bewußtsein erscheint. […] ich möchte sagen, daß das noumenale Wirkliche von verschiedenen menschlichen Subjekten als das Spektrum von Göttern und Absoluta, von denen die Religionsphänomenologie spricht, erfahren und gedacht wird, wodurch die verschiedenen religiösen Traditionen entstehen, die wiederum diese Vorstellungen formen. (S. 241– 242 / 263 – 264)
Unklar bleibt, ob wir dieses Wesen nach Hicks wahrnehmen oder nicht wahrnehmen, ob wir es wahrnehmen oder nicht wahrnehmen können, oder ob wir es in irgendeiner anderen Weise erfahren. Auf der Negativseite ist folgendes zu sagen: Wenn aber das Wirkliche an sich vom Menschen nicht erfahren werden kann, warum sollte man dann überhaupt ein solches unbekanntes und unerkennbares Ding an sich postulieren? Die Antwort hierauf lautet, daß das göttliche Noumenon ein notwendiges Postulat des pluralistischen religiösen Lebens der Menschheit ist. (S. 249 / 272)
Auf der Positivseite ist beispielsweise folgendes anzuführen: Analog hierzu möchte ich sagen, daß das noumenale Wirkliche von verschiedenen menschlichen Subjekten als das Spektrum von Göttern und Absoluta, von denen die Religionsphänomenologie spricht, erfahren und gedacht wird, wodurch die verschiedenen religiösen Traditionen entstehen, die wiederum diese Vorstellungen formen. (S. 242 / 264)
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Darüber hinaus ist festzustellen, dass »das noumenale Wirkliche in Form verschiedener theistischer und nicht-theistischer Phänomene authentisch erfahren werden kann« (S. 246 – 247 / 269 – 270). Für jede der beiden Seiten lassen sich im Text einige weitere Zitate finden, die man anführen könnte. Offensichtlich hat Hick ein ambivalentes Verhältnis zur Beantwortung dieser Frage. Das ist aber vielleicht gar nicht so schlimm. Vermutlich würde er erwidern: »In gewisser Hinsicht ja, in anderer Hinsicht nein.« Das noumenale Wirkliche leistet in irgendeiner Form einen entscheidenden kausalen Beitrag zu unserer Erfahrung. Mag sein, dass es nicht darauf ankommt, ob man sagt: »Wir erfahren es wirklich«, oder nur: »Es trägt zu unserer Erfahrung bei.« Es gibt jedoch eine weitere Doppeldeutigkeit, die nicht so leicht abzutun ist. Im 19. Kapitel sagt Hick offenbar, unsere Begriffe träfen auf das Noumenon nicht zu, bzw. keiner unserer Ausdrücke lasse sich im Wortsinn darauf anwenden (um seine eigene Formulierung zu gebrauchen). Er zitiert Buddha, der im Hinblick auf den Ort oder die Sphäre, in der ein Tathāgata (ein völlig erleuchtetes Wesen) nach dem Tod Aufenthalt nimmt, gesagt habe, kein Ausdruck wie »existiert nach dem Tode«, »existiert nicht nach dem Tode«, »existiert und existiert nicht nach dem Tode« oder »existiert weder nach dem Tod, noch existiert er nach dem Tode nicht« sei mit Bezug auf den Zustand des Tathāgata zutreffend (S. 346 / 367). Bei Hicks stößt dieser angedeutete Gedanke anscheinend auf Zustimmung, so dass er hinzufügt: »Es geht hier um Wirklichkeiten und Zustände, die über die in unserem unerleuchteten Denken und Sprechen vorhandenen Kategorien hinausgehen. Ihre völlige Unbegreifbarkeit wird dadurch veranschaulicht, daß der Buddha nicht nur die einfachen positiven und negativen Behauptungen verwirft, sondern auch ihre logischen Konjunktionen und Disjunktionen« (S. 347 / 371). Außerdem behauptet Hick, dass »wir also nicht vom Wirklichen an sich in einer wörtlichen Weise sprechen können« (S. 351 / 377). Sollte Hick wirklich meinen, dass keiner unserer Ausdrücke im Wortsinn auf das Reale zutrifft, ist es nicht möglich, seine Äußerungen sinnvoll zu deuten. Ich möchte annehmen, dass das Wort »Dreirad« nicht auf das Reale zutrifft. Das Reale ist kein Dreirad. Doch wenn das Reale kein Dreirad ist, dann trifft der Ausdruck »ist kein Dreirad« im Wortsinn darauf zu. Es ist tatsächlich ein Nichtdreirad. Dass es weder ein Dreirad noch ein Nichtdreirad ist, ist ja wohl kaum möglich; und ich glaube auch nicht, dass Hick diese Möglichkeit in Betracht ziehen möchte. Im 14. Kapitel macht Hick jedoch einen ganz andersartigen Vorschlag. Es wäre nämlich, wie er sagt, sinnlos zu behaupten, keiner unserer Begriffe treffe auf X zu. So müsste beispielsweise zumindest unser Begriff so sein, dass wir darauf Bezug nehmen können auf jedes X zutreffen, bei dem es angebracht ist, dass man überhaupt irgend etwas – und sei es auch: dass unsere Begriffe nicht darauf anwendbar sind – darüber sagen möchte. Der Grundgedanke sei vielmehr, wie
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Hicks meint, dass, bezogen auf den Gesamtbereich unserer Begriffe, nur die formalen und die negativen Begriffe auf das Reale zutreffen. Soll heißen: Von den Eigenschaften, die wir erfassen, wären nur die formalen (wie z. B. einige Eigenschaften haben, mit sich selbst identisch sein und so sein, dass 7 + 5 = 12) und die negativen (wie z. B. kein Pferd sein, kein Dreirad sein und nicht gut sein) darauf anwendbar. Ergänzend sagt Hick, im Christentum wie in anderen Religionen gebe es Vertreter eines nicht unerheblichen Überlieferungsstrangs, dem zufolge man unterscheiden sollte zwischen: substantiellen Eigenschaften wie »gut sein«, »mächtig sein«, »Wissen haben« und rein formalen und logisch erzeugten Eigenschaften […] wie zum Beispiel »Bezugsgegenstand eines Ausdrucks sein« und »so geartet sein, daß unsere substantiellen Begriffe nicht darauf zutreffen«. Was sie behaupten wollten, war, daß die substantiellen Charakterisierungen auf Gott in seinem Selbstsein, das jenseits des Bereiches der menschlichen Erfahrung liegt, nicht zutreffen. Sie drückten dies oft so aus, daß man über das Höchste nur negative Aussagen machen könne. […] Diese via negativa (oder via remotionis) besteht darin, daß man negative Begriffe auf das Höchste anwendet (daß es zum Beispiel nicht endlich ist), um dadurch auszudrücken, daß es außerhalb aller unserer positiven substantiellen Beschreibungen liegt. In diesem eingeschränkten Sinn ist es völlig sinnvoll zu sagen, daß unsere substantiellen Begriffe auf das Höchste nicht zutreffen. (S. 239 / 261)
Hier ist es offenbar so, dass Hick gutheißt, was er als Resultate dieser Überlieferungsstränge ansieht. Ich bin mir nicht sicher, dass es irgendwie möglich ist, Kapitel 14 und Kapitel 19 miteinander in Einklang zu bringen.Wenn nicht, möchte ich vorschlagen, dass wir uns an Kapitel 14 halten. An einigen Stellen seiner Schilderung dieser Überlieferungsstränge unterlaufen Hicks historische Fehler. Beispielsweise behauptet er: »So lehrte Calvin, daß man Gottes Wesen nicht erkennen könne, nur den uns geoffenbarten Gott« (S. 250 / 259), wobei er sich auf Calvins Institutio bezieht (I, xiii, 21). Calvin lehrt aber gar nicht, wir könnten überhaupt nichts über das Wesen Gottes wissen. In dem relevanten Kapitel beginnt er seine Ausführungen wie folgt: Was in der Schrift von dem unermeßlichen und geistlichen Wesen Gottes gelehrt wird, das dient nicht nur zur Überwindung des populären Aberglaubens, sondern auch zur Widerlegung der Spitzfindigkeiten unfrommer Philosophie.¹² Anschließend weist er darauf hin, dass wir, um Gott zu »messen«, nicht von »unseren eigenen Sinnen« ausgehen können,. Calvin schreibt: Nun redet zwar Gott, um uns besonnen zu halten, sehr zurückhaltend von seinem Wesen. Aber mit den beiden Aussagen, die ich oben (in dem ersten Satz) nebeneinandergestellt habe (unermeßlich, geistlich), macht er solchen tollen Einbildungen ein Ende und setzt der
Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, übers. von Otto Weber, 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft 1963, S. 54.
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menschlichen Vermessenheit eine Schranke. Denn seine Unermeßlichkeit muß uns abschrecken, ihn nach unserem Maß messen zu wollen. (S. 54) Als nächstes hebt Calvin hervor, dass man Gott, da er Geist ist, nicht zu Recht körperliche Merkmale zuschreiben kann. Calvin räumt ein, dass ihm die Heilige Schrift solche Merkmale (Mund, Arm, Ohren, Augen, Hände) zuzuschreiben scheint, aber wer deshalb glaubt, Gott habe derlei körperliche Eigenschaften tatsächlich, versteht nicht, »daß Gott an solchen Stellen kindlich redet, wie Ammen mit den Kindlein tun« (ebd.). Hier ist Calvin offensichtlich der Meinung, wir wüssten, dass Gott »an sich« ein unendlicher, unkörperlicher Geist ist. Unendlichkeit und Unkörperlichkeit gehören zu seinem Wesen. An der von Hick genannten Stelle geht es Calvin außerdem darum, uns vor dem Versuch zu warnen, das Wesen Gottes allein mit Hilfe der Mittel unserer Vernunft zu ermitteln. Angesichts der Grenzen der Vernunft müssen derartige Versuche aussichtslos bleiben: Wie sollte auch der Menschengeist Gottes unermeßliches Wesen nach seinem Maße messen wollen, wo er noch nicht einmal sicher feststellen kann, was denn die Sonne für ein Körper sei – die er doch alle Tage mit Augen sieht! […] Deshalb wollen wir die Erkenntnis Gottes ihm selber überlassen. […] Wir verfahren aber dann nach dieser Einsicht, wenn wir ihn so betrachten, wie er sich uns geoffenbart hat, und über ihn an keiner anderen Stelle eine Kunde suchen als in seinem Wort. (I, xiii, 21) Der springende Punkt ist der, dass die Schrift eine sehr viel zuverlässigere Quelle der Gotteserkenntnis (einschließlich der Erkenntnis seines Wesens) ist als Spekulationen der Vernunft. Dabei hat Calvin aber nie geglaubt, keiner unserer positiven substantiellen Begriffe treffe auf Gott zu. Offensichtlich war er der Überzeugung, dass Gott wirklich der Schöpfer des Himmels und der Erde war, dass er uns wirklich liebt, dass er unkörperlich ist sowie weise, mächtig, liebevoll und dergleichen mehr.
Dieser Auffassung zufolge besagt Hicks These über das Reale weder, dass keiner unserer Begriffe darauf zutrifft, noch dass keiner unserer Ausdrücke im Wortsinn darauf zutrifft. Eine solche Behauptung wäre offensichtlich inkohärent. Vielmehr besagt seine These, nur unsere formalen Begriffe und Ausdrücke sowie unsere negativen Begriffe und Ausdrücke träfen darauf zu. Das soll heißen: Die einzigen dem Realen zukommenden Eigenschaften, die wir erfassen, seien formale und negative Eigenschaften. Betrachten wir zunächst diese formalen Begriffe: Hierzu würden erstens Begriffe von Eigenschaften gehören, die derart sind, dass sie allem zukommen, und zwar notwendig zukommen.¹³ Was Hick (vermutlich) vorschwebt, sind Eigenschaften, im Hinblick auf die es notwendig ist, dass alles sie hat, also Eigenschaften wie mit sich selbst identisch sein, Eigenschaften haben, wesentliche
Dass ein Begriff die erste, aber nicht die zweite Bedingung erfüllt (d. h., dass zwar alles unter ihn fällt, aber nicht notwendig unter ihn fällt), ist keine zureichende Bedingung dafür, dass es sich um einen formalen Begriff handelt. So trifft zwar z. B. der Begriff lebt entweder nicht auf dem Mond oder ist kein Mensch zwar auf alles zu (es gibt keine Menschen, die auf dem Mond leben), aber es handelt sich nicht um einen formalen Begriff im hier intendierten Sinn.
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Eigenschaften haben, entweder ein Pferd oder ein Nichtpferd sein und derart sein, dass 7 + 5 = 12. Diese Eigenschaften kommen notwendig allem zu. Dem könnte man hinzufügen, dass sie allem wesentlich sind (wobei eine Eigenschaft einem Gegenstand wesentlich ist, sofern es nicht möglich ist, dass der Gegenstand zwar existiert, aber dieser Eigenschaft ermangelt). Die Eigenschaft, mit sich selbst identisch zu sein, wäre ein Beispiel hierfür. Das ließe sich durch den Hinweis ergänzen, jede dieser Eigenschaften sei derart, dass es notwendig ist, dass sie allem wesentlich zukommen. Denken wir etwa an irgendeine der hier betrachteten Eigenschaften: Alles hat diese Eigenschaft; es ist notwendig, dass sie allem zukommt; allem kommt sie wesentlich zu; und es ist notwendig, dass sie allem wesentlich zukommt. Existenz ist eine weitere formale Eigenschaft: Alles existiert; Existenz ist eine wesentliche Eigenschaft von allem; und es ist eine notwendige Wahrheit, dass Existenz allem wesentlich zukommt.
Dies sind allerdings nicht die einzigen Eigenschaften, die Hick unter die Rubrik »formal« fallen lassen möchte. Außerdem sollen auch Eigenschaften dazugehören wie Gegenstand menschlicher Bezugnahme sein und von Hans bedacht werden. Es geht also nicht um die Vorstellung, man könne über das fragliche Wesen weder reden noch nachdenken. Ganz im Gegenteil: Wir können tatsächlich darüber nachdenken, darauf Bezug nehmen und darüber sagen, dass es existiert. Außerdem können wir darüber sagen, dass wir darauf Bezug nehmen können. Zweitens, zusätzlich zu den formalen Eigenschaften können wir auch negative Eigenschaften von diesem Wesen prädizieren – d. h., eine auf dieses Wesen bezogene Prädikation negativer Eigenschaften kann richtig sein. Das impliziert die von Hick vertretene Position, soweit ich sie bisher erläutert habe. Dies kann man wie folgt erkennen: Erstens ist festzuhalten, dass jede Eigenschaft ein Komplement hat, wobei das Komplement einer Eigenschaft P die Eigenschaft ist, P nicht zu haben. Jede Eigenschaft, von der wir einen Begriff haben, besitzt ein Komplement, nämlich die Eigenschaft, diese Eigenschaft nicht zu haben. Das Komplement der Eigenschaft Weisheit ist demnach die Eigenschaft, nicht weise zu sein – eine Eigenschaft, die allem zukommt, was nicht weise ist. Sofern man die fragliche Eigenschaft (Weisheit z. B.) erfasst – begriffen – hat, hat man auch das Komplement erfasst. Nun wollen wir irgendeine Eigenschaft P und deren Komplement -P betrachten. Die Eigenschaft P oder -P ist eine jener formalen Eigenschaften, die jedem Ding notwendig zukommen. Natürlich hat alles, was diese Eigenschaft besitzt, entweder die Eigenschaft P oder deren Komplement -P. (Für alles, was man auswählen mag, gilt: Entweder es ist weise, oder es ist nicht weise.) Allerdings hat das Reale nach der bisher erläuterten Position Hicks keine von uns erfasste positive, nichtformale Eigenschaft. Daraus folgt daher: Für alle positiven Eigenschaften P, die wir erfasst haben, gilt, dass das Reale -P hat.
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Hier ist von den Eigenschaften die Rede, die das fragliche Ding hat, und nicht von unserer Fähigkeit oder Unfähigkeit, dies oder jenes über diese Eigenschaften zu wissen oder berechtigterweise zu glauben.Wie gesagt: Für jede Eigenschaft P gilt, dass jeder Gegenstand die Eigenschaft, P oder -P zu besitzen, hat. Ferner behaupte ich: Wenn eine Entität diese Eigenschaft hat, dann hat sie entweder P oder -P. Es kann jedoch sein, dass man von einer Entität weiß (oder gerechtfertigterbzw. berechtigterweise glaubt), sie habe P oder -P, ohne dass man weiß (gerechtfertigterweise glaubt usw.), dass sie P hat, und ohne dass man weiß, dass sie -P hat. Ich habe keine Ahnung, ob Sokrates je ein Pferd besessen hat, und ich habe keinerlei Meinung bezüglich dieser Frage. Trotzdem gilt, dass er entweder ein Pferd besaß oder nicht. Bei meiner Darstellung der von Hicks vertretenen Auffassung setze ich demnach eine Form von Realismus voraus, also die Vorstellung, dass sich die Dinge (einige Dinge) in bestimmter Weise verhalten können, auch wenn weder ich selbst noch irgendein anderes menschliches Wesen die geringste Ahnung hat, ob sie sich tatsächlich so verhalten oder nicht. Keine der Äußerungen von Hicks deutet darauf hin, dass er durch seinen Standpunkt dazu verpflichtet ist, gegen diese Binsenweisheit Einwände zu erheben.
Der Gedanke, der hier gemeint ist, besagt also, dass man von diesem Wesen negative Eigenschaften prädizieren kann. Außerdem ist gemeint, dass es richtig sein kann, negative Eigenschaften von ihm zu prädizieren, denn es hat negative Eigenschaften. Tatsächlich gilt für jede der nichtformalen, positiven Eigenschaften, die wir erfassen, dass das Reale das Komplement der betreffenden Eigenschaft besitzt (also eine negative Eigenschaft). Was unsere positiven Begriffe anlangt, treffen nur die rein formalen auf dieses Wesen zu. Was unsere sonstigen Begriffe anlangt, treffen nur die negativen darauf zu. Das Reale besitzt keine Weisheit, also besitzt es Nichtweisheit. Es besitzt keine Liebe, also besitzt es Nichtliebe, usw. für alle übrigen positiven, nichtformalen Eigenschaften, die wir erfassen. Hier wird man jedoch einwenden, es sei nicht möglich, dass es ein Wesen gibt, das ausschließlich formale und negative Eigenschaften besitzt. Das ist zwar zweifellos richtig, aber es ist auch belanglos, soweit es um die These von Hick geht. Zusätzlich zu den formalen Eigenschaften kann das fragliche Wesen ja durchaus positive Eigenschaften besitzen. Die von Hick vertretene Position verlangt nur, dass es sich dabei um positive Eigenschaften handelt, von denen wir keinen Begriff haben – Eigenschaften, die wir nicht erfassen. Dass es derartige Eigenschaften nicht gibt, ist etwas, was wir bestimmt nicht wissen. An diesem Punkt müssen wir die folgenden beiden Fragen aufwerfen: Erstens, ist die von Hick vertretene Position kohärent? Zweitens, spricht irgendein Grund dafür, sie zu akzeptieren?
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B Kohärent? 1 Kann es ein Wesen geben, das ausschließlich formale und negative Eigenschaften besitzt? Dieses Wesen, behauptet Hick, besitzt keine positiven, nichtformalen Eigenschaften,von denen wir einen Begriff haben. Die einzigen positiven Eigenschaften, die es hat, sind diejenigen, von denen wir keine Vorstellung haben. Das ist nicht offensichtlich inkohärent. Meines Erachtens können wir nicht ohne weiteres erkennen, dass ein solches Wesen unmöglich existieren kann. Das liegt daran, dass wir von den Eigenschaften, die wir nicht erfassen, nur eine äußerst vage Vorstellung haben.Wir wissen einfach nicht genug über sie, um zu erkennen, dass die Existenz eines solchen Wesens unmöglich ist. Andererseits haben wir natürlich keinen Grund zu der Annahme, es könne tatsächlich ein solches Wesen geben. Der Umstand, dass wir die Unmöglichkeit eines solchen Wesens nicht erkennen können, ist ein schwacher oder gar kein Grund für die Überzeugung, wir könnten erkennen, dass es wirklich solch ein Wesen geben kann. (Dass man die Unmöglichkeit einer Sache nicht erkennen kann, ist etwas anderes als die Einsicht in die Möglichkeit ebendieser Sache.) Im vorliegenden Fall wissen wir, wie es scheint, einfach nicht genug, um angeben zu können, ob die Existenz eines derartigen Wesens möglich ist. Nehmen wir also an, es sei – zumindest der Argumentation halber – vorläufig zugestanden, dass die Existenz eines solchen Wesens möglich ist. Doch falls es tatsächlich ein solches Wesen gibt, stellt sich die Frage, wie es uns gelingt, darauf Bezug zu nehmen: Auf welche Weise können wir es als Subjekt der Prädikation herausgreifen? Wie ist das zu bewerkstelligen? Sicher nicht mit Hilfe der definiten Kennzeichnungen, durch die Christen ihren Gott herausgreifen zu können glauben – also Kennzeichnungen wie etwa »der allmächtige, allwissende Schöpfer der Welt«. Diese Kennzeichnungen setzen positive, nichtformale Eigenschaften voraus, mit denen wir tatsächlich eine Vorstellung verbinden. Können wir uns stattdessen der folgenden Kennzeichnung bedienen: »das Wesen, das keine von uns erfassten positiven, substantiellen Eigenschaften besitzt«? Nein, denn wenn es ein solches Wesen gibt, dann gibt es vielleicht einige weitere, die sich, obwohl sie keine von uns erfassten positiven, nichtformalen Eigenschaften besitzen, im Hinblick auf positive, nichtformale Eigenschaften unterscheiden, von denen wir uns kein Bild machen können. Es gibt also keinen Grund, weshalb man annehmen sollte, diese Kennzeichnung könne funktionieren. (Freilich können wir auch in diesem Fall nicht wissen, dass sie nicht funktioniert. Soweit wir wissen oder angeben können, kann es durchaus sein, dass es genau ein Wesen gibt, das keine von uns erfassten positiven, nichtformalen Eigenschaften besitzt.)
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Hicks scheint mir die Ansicht zu vertreten, dass Menschen, die eine der großen Religionen praktizieren, eigentlich auf dieses Wesen (das Reale, das keine von uns erfassten positiven, nichtformalen Eigenschaften besitzt) Bezug nehmen, wenn sie sich (wie es ihnen vorkommt) auf Gott, Allah, Brahman, Shiva, Vishnu, Dharmakāya usw. beziehen. Demnach glauben die Christen, sie bezögen sich auf ein Wesen, das personal, liebevoll, wissend usw. ist. In Wirklichkeit beziehen sie sich jedoch nicht auf ein solches Wesen, sondern auf eines, das weder diese noch sonst irgendwelche positiven Eigenschaften besitzt, mit denen wir eine Vorstellung verbinden. Ist das wirklich möglich? Ist es möglich, auf ein Wesen Bezug zu nehmen, wenn man glaubt, es habe die Eigenschaften P1, … , Pn, während es in Wirklichkeit weder diese noch irgendwelche sonstigen positiven Eigenschaften hat, von denen wir uns ein Bild machen? Auch diese Möglichkeit ist zumindest nicht offensichtlich auszuschließen. Es kann bestimmt passieren, dass man auf ein Wesen Bezug nimmt, obwohl man sich hinsichtlich seiner Eigenschaften völlig falsche Vorstellungen macht. Angenommen, wir beiden haben einander nie kennengelernt. Nun teile ich Ihnen brieflich mit, dass ich ein Tennisspieler von Weltrang bin und überhaupt ein Sportler mit beneidenswerten Talenten. In Wirklichkeit bin ich im Tennis und in jeder ähnlichen Aktivität eine völlige Niete. Ferner behaupte ich in meinem Brief, mit meinem Tenor könne ich Pavarotti Konkurrenz machen, ich sei Nobelpreisträger in Wirtschaftswissenschaft, habe ein frappierend gutes Aussehen und verfasse großartige Gedichte. Alles Gesagte ist grotesk falsch. (In Wirklichkeit bin ich außerstande, Dichtungen, die über das Niveau des Poeten und Dramatikers William E. McGonagall¹⁴ hinausgehen, auch nur zu würdigen. Von Ökonomie habe ich keinen blassen Schimmer, ich kann keinen Ton singen, und mein Äußeres ist überaus unscheinbar.) Demnach besitze ich nur sehr wenige der Eigenschaften, die Sie mir zuschreiben werden. Trotzdem können Sie auf mich Bezug nehmen. Natürlich muss es irgendeine Verbindung zwischen uns geben. Sie können mich nicht als jenen gutaussehenden Tenor-plus-Dichter-plus-Ökonomen herausgreifen, der (beispielsweise) in Jamestown, North Dakota, wohnt, denn diese Beschreibung trifft auf mich nicht zu.¹⁵ Sie können sich jedoch auf mich als
Siehe McGonagall, Poetic Gems, Dundee: David Winter and Son / London: Gerald Duckworth, Erstveröffentlichung in zwei Teilbänden 1890 und Erstveröffentlichung in einem Band 1934. Siehe ferner die vom selben Autor stammenden Werke More Poetic Gems, Still More Poetic Gems, Yet More Poetic Gems und Poetic Gems Once Again. Aber selbst diese Möglichkeit ist nicht ganz auszuschließen. Sofern ich über eine andere Form der Bezugnahme auf jemanden verfüge, aber zugleich glaube, dass diese spezifische Kennzeichnung auf ihn zutrifft, kann es sein, dass ich, wenn ich diese Kennzeichnung benutze und glaube, sie treffe auf diesen Menschen zu, tatsächlich auf ihn Bezug nehme. Angenommen, Gott
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denjenigen beziehen, der Ihnen einen Brief geschrieben hat, dessen Absender alle diese Eigenschaften für sich in Anspruch nimmt (sofern Sie nur einen solchen Brief erhalten haben). So ähnlich würde es sich vielleicht auch im Fall des Realen verhalten. Wie soll die Bezugnahme funktionieren? Nun, Hick meint vermutlich, dass wir uns auf das Reale als dasjenige Wesen beziehen können, auf das sich die Anhänger der großen Religionen beziehen, wenn sie glauben, auf ein Wesen mit den Eigenschaften Bezug zu nehmen, die Gott, Allah, Brahman, Vishnu usw. zugeschrieben werden. Damit wird das Problem aber offensichtlich nur um einen Schritt zurückgeschoben. Wie gelingt es ihnen denn, auf dieses Wesen Bezug zu nehmen? Wie geschieht es, dass Christen, wenn sie das Wort »Gott« gebrauchen, tatsächlich auf dieses Wesen ohne von ihnen erfasste positive Eigenschaften Bezug nehmen, obwohl sie sich auf ein Wesen zu beziehen glauben, das eine Menge solcher positiven Eigenschaften besitzt? Wieder müsste es eine Verbindung zwischen ihnen und dem Realen geben. (Natürlich ist es nicht so, dass beispielsweise die Anhänger des Christentums die Hypothese aufstellen, es gebe ein Wesen ohne von ihnen erfasste positive Eigenschaften, auf das sie Bezug nehmen, wenn sie sich auf einen allmächtigen, allwissenden und unendlich gütigen Schöpfer der Welt zu beziehen glauben. Das hätte keinen Sinn.) Wie gelingt es ihnen nun tatsächlich, auf dieses Wesen Bezug zu nehmen? Vermutlich wäre das nur möglich, wenn sie in irgendeiner Form von Erfahrungskontakt zu ihm stünden; wenn sie also dieses Wesen auf die eine oder andere Weise erfahren könnten (einerlei, was die Formulierung, ein Wesen »erfahre« ein anderes, im einzelnen bedeuten mag). Sie glauben, mit einem Wesen in Kontakt zu stehen, das die Gott zugeschriebenen Eigenschaften besitzt. Sie irren sich jedoch – wenn auch nicht mit der Annahme, sie hätten überhaupt Kontakt zu etwas, sondern mit der Annahme, das Etwas, zu dem sie Kontakt haben, besitze die Eigenschaften, die sie Gott zuschreiben. Nun, vielleicht besteht diese Möglichkeit tatsächlich. Dennoch ist eine Abänderung von Hicks Position erforderlich, und zwar eine erhebliche Abänderung. Sofern der Wind wirklich aus dieser Richtung bläst, kommt dem Realen zumindest eine positive, nichtformale Eigenschaft zu, die wir mit einer Vorstellung verbinden, nämlich die Eigenschaft: von uns erfahren werden. Das Reale steht in wenigstens einer positiven, nichtformalen Relation, die wir mit einer Vorstellung verbinden,
habe einige der Eigenschaften, die wir ihm zuschreiben, in Wirklichkeit nicht. Unterstellen wir etwa, er sei kein im klassischen Sinn einfaches, sondern ein zusammengesetztes Wesen, so dass zwischen ihm und seinen Eigenschaften, zwischen ihm und seiner Existenz usw. unterschieden werden muss. Wenn nun ein Glaubensbekenntnis wie das niederländische Gott als das einfache geistige Wesen bezeichnet, welches die Welt geschaffen habe, gelingt es, auch wenn die Kennzeichnung nicht zutrifft, auf Gott Bezug zu nehmen.
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nämlich mit der Relation von … erfahren werden. (Die oben auf S. 49 – 51 angemerkte Doppeldeutigkeit muss also zugunsten der Alternative aufgelöst werden, der zufolge wir das Reale tatsächlich erfahren.) Daraus können sich noch weitere Konsequenzen ergeben, denn was beinhaltet es nicht alles, wenn etwas von uns bzw. den Anhängern der großen Religionen erfahren wird? Was heißt es, etwas werde von uns erfahren? Hier gibt es mehrere verschiedene Ansichten. Eine von ihnen besagt, die betreffende Sache erscheine uns in einer Weise, die jeder weiteren Analyse spottet. Eine andere besagt, die Sache sei die Ursache dafür, dass uns in einer bestimmten Weise erschienen wird, bzw. sie löse in uns eine andere Art von Erfahrung aus (und erfülle bestimmte andere Bedingungen). Diesen Antworten ist eines gemeinsam, nämlich dass wir, um das Reale zu erfahren, in kausalem Kontakt – d. h. in einem Kausalverhältnis – zu ihm stehen müssen. Vielleicht ist in der Philosophiegeschichte noch eine Alternative zu finden, nämlich die Vorstellung, man könne etwas erfahren (vielleicht in einem durch Analogie erweiterten Sinn des Wortes »erfahren«),wenn zwischen unseren Erfahrungszuständen und Zuständen des betreffenden Dings eine prästabilierte Harmonie bestünde.¹⁶ Aber auch diese Möglichkeit würde voraussetzen, dass die betreffende Sache in kausaler Beziehung zu dem Ding oder zu der Person (bei Leibniz: Gott) steht, von der die prästabilierte Harmonie in die Wege geleitet wurde. Auch in diesem Fall müsste es also eine kausale Relation zwischen dem erfahrenen Etwas und etwas anderem geben, so dass das Etwas auch hier in kausalen Beziehungen steht und (vielleicht über das eine oder andere Verbindungsglied) in kausalen Beziehungen zum erfahrenden Subjekt.
Das bedeutet, dass Hick oder einer seiner Anhänger (denn hier gehen wir vielleicht über den von ihm selbst vertretenen Standpunkt hinaus) dem Realen eine weitere positive, nichtformale Eigenschaft zuschreiben muss, nämlich die Eigenschaft, in kausaler Verbindung zu uns Menschen zu stehen. Dabei handelt es sich weder bloß um eine formale Eigenschaft noch um eine negative Eigenschaft. Außerdem können hier zusätzliche Eigenschaften ins Spiel kommen, und zwar alle Eigenschaften, die mit dem Bestehen einer kausalen Beziehung zu den Menschen notwendig verknüpft sind. Das betreffende Etwas kann z. B. nicht von der gleichen Art sein, der man normalerweise Zahlen und Propositionen zurechnet, denn abstrakte Gegenstände können nicht in kausalen Beziehungen stehen. Das fragliche Etwas kann also kein abstrakter Gegenstand sein, sondern es muss die Ei Kants Einwand gegen diesen auf Leibniz zurückgehenden Vorschlag besagt, jede solche prästabilierte Harmonie wäre kein kognitives Verhältnis: Unsere Erkenntnis der betreffenden Dinge könne sie nicht stützen. Es ist jedoch sehr schwer einzusehen, warum es sich so verhalten soll. Angenommen, Gott führt es herbei, dass unsere kognitiven Zustände in angemessener Weise den Zuständen der uns umgebenden Welt entsprechen, und ferner sei angenommen, die übrigen Gewährleistungsbedingungen seien (beispielsweise in der in Warrant and Proper Function skizzierten Form) erfüllt. Warum soll damit nicht eine hinreichende Bedingung für unsere Erkenntnis dieser Dinge erfüllt sein?
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genschaft besitzen, ein konkreter Gegenstand zu sein. Die Eigenschaft, ein konkreter Gegenstand zu sein, ist zugleich eine nichtformale Eigenschaft (denn sie geht vielen Dingen ab). Wie wir weiter unten sehen werden, fällt es nicht leicht anzugeben, ob es eine positive oder eine negative Eigenschaft ist. Und natürlich kann es überdies noch weitere Eigenschaften geben, die notwendig mit der Eigenschaft verknüpft sind, in kausaler Beziehung zu uns Menschen zu stehen.
2 Positive versus negative Eigenschaften Sollte man vielleicht sagen, diese letztere Eigenschaft – also die Eigenschaft, ein konkreter Gegenstand zu sein – sei eigentlich eine negative Eigenschaft? Warum kann man die Eigenschaft konkret sein nicht einfach als das Komplement der Eigenschaft abstrakt sein auffassen, wobei letztere als positiv und erstere als negativ gilt? Vielleicht ist konkret sein im Grunde nichts anderes als nicht abstrakt sein. Doch damit geraten wir in eine echte Schwierigkeit, denn warum sollen wir ausgerechnet diesen Weg einschlagen? Können wir nicht genausogut die Eigenschaft abstrakt sein als die Eigenschaft nicht konkret sein auffassen, so dass konkret sein die positive und abstrakt sein die negative Eigenschaft ist? Wie kann man bestimmen, welche der beiden Eigenschaften wirklich positiv und welche wirklich negativ ist? Gibt es überhaupt eine Gewähr dafür, dass diese Unterscheidung zwischen Positivem und Negativem wirklich auf Eigenschaften zutrifft? Lässt sich diese Unterscheidung tatsächlich auf Eigenschaften anwenden? Natürlich gibt es eine Unterscheidung zwischen positiven und negativen Prädikaten, also sprachlichen Ausdrücken wie »ist ein Pferd«, »ist nicht eine Katze« und dergleichen. (Sowohl »nicht abstrakt sein« als auch »nicht konkret sein« sind negative Prädikate; sowohl »ist konkret« als auch »ist abstrakt« sind positive Prädikate.) Aber wissen wir denn, dass diese Unterscheidung zwischen Positivem und Negativem über die Prädikate hinaus- und bis zu den Eigenschaften hinreicht? Was ein Prädikat im Deutschen zu einem negativen macht, ist das Vorhandensein eines negativen Partikels wie »nicht« oder »un-« (wie in »unbegrenzt«) oder »a-« (wie in »asymmetrisch«) oder »dys-« bzw. »anti-« (wie in »antidysfunktional«). Aber Eigenschaften enthalten vermutlich weder Partikeln noch sonst irgendwelche Sprachbröckchen. Wodurch sollen sich positive Eigenschaften von negativen Eigenschaften unterscheiden? Gibt es eine solche Unterscheidung überhaupt? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Kann der Hick-Anhänger vielleicht behaupten, im Grunde schulde er uns keine weitere Antwort? Er wird sagen, im Hinblick auf Eigenschaften gebe es eine unhinterschreitbare Unterscheidung zwischen Positivität und Negativität, aber es bestehe keine Möglichkeit anzugeben, was sie im Grunde ausmacht, wodurch eine Eigenschaft zu einer positiven
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wird oder sonst etwas dergleichen. Diese Unterscheidung gehöre zum tiefsten Fundament und lasse sich nicht durch etwas anderes erklären. Es gebe offenkundige Beispiele: weise sein sei eine positive Eigenschaft, während deren Komplement unweise sein unverkennbar eine negative Eigenschaft sei (diese Eigenschaft kommt sowohl den Dingen zu, die zwar weise sein können, aber nicht weise sind, als auch den Dingen, die gar nicht weise sein können). Die Unterscheidung selbst sei ultimativ und lasse sich durch Rückgriff auf andere Begriffe nicht erklären. Nun, das mag ja so sein, aber lässt sich irgendetwas Allgemeines über die Frage sagen, welche Eigenschaften positiv und welche negativ sind? Der Grundgedanke ist vermutlich folgender: (1) Jede Eigenschaft ist entweder positiv oder negativ, (2) jede Eigenschaft hat ein Komplement, (3) das Komplement einer Eigenschaft P hat einen Sinn, der dem von P entgegensetzt ist (d. h., das Komplement einer positiven Eigenschaft ist negativ, und das Komplement einer negativen Eigenschaft ist positiv), (4) eine Eigenschaft, die einer gegebenen Eigenschaft äquivalent ist,¹⁷ hat den gleichen Sinn wie diese Eigenschaft, und (5) das Reale hat keine positiven Eigenschaften, mit denen wir eine Vorstellung verbinden. (Dass es Ausnahmen von dieser zuletzt genannten Regel geben muss, haben wir zwar schon gesehen, doch das wollen wir hier außer acht lassen.) Außerdem gilt: (6) Keine negative Eigenschaft, mit der wir eine Vorstellung verbinden, impliziert¹⁸ eine positive Eigenschaft, mit der wir eine Vorstellung verbinden; andernfalls besäße das Reale jene positiven Eigenschaften, die von den negativen Eigenschaften impliziert werden, mit denen wir eine Vorstellung verbinden. Wie steht es nun mit konjunktiven und disjunktiven Eigenschaften? Eine konjunktive Eigenschaft P ∧ Q ist genau dann negativ, wenn sowohl P als auch Q negativ sind. (Wäre P ∧ Q negativ und entweder P oder Q positiv, würde das negative P ∧ Q eine positive Eigenschaft implizieren, und in diesem Fall hätte das Reale ebendiese positive Eigenschaft.) Wie verhält es sich mit disjunktiven Eigenschaften? Eine Disjunktion P ∨ Q von Eigenschaften, mit denen wir eine Vorstellung verbinden, kann nicht positiv sein, wenn entweder P oder Q negativ ist; andernfalls würde das positive P ∨ Q von dem negativen P oder dem negativen Q impliziert. Auf rein logischer Ebene gibt es, soweit ich sehe, keine Probleme mit (1) bis (6). Man beachte, dass wir sowohl für das Komplement einer Eigenschaft als auch für Disjunktionen und Konjunktionen von Eigenschaften eine Wahrheitstafel (oder vielmehr: eine »Positivitätstafel«) angeben können. Ferner ist zu beachten, dass der Positivitätstafel für die Konjunktion die Wahrheitstafel für die Disjunktion und der Positivitätstafel für die Disjunktion die Wahrheitstafel für die Konjunktion entspricht. Wenn man die Disjunktion bei Eigenschaften auf die Konjunktion bei Aussagen abbildet und die Konjunktion bei Eigenschaften auf die Disjunktion bei Aussagen, kann man einige Resultate aus der Aussagenlogik übernehmen und erkennen, dass die durch (1)-(6) generierte Logik der Eigenschaften widerspruchsfrei, vollständig, entscheidbar usw. ist.
P ist Q genau dann äquivalent, wenn es im weiten logischen Sinne notwendig ist, dass alles, was entweder P oder Q exemplifiziert, sowohl P als auch Q exemplifiziert. Eine Eigenschaft A impliziert eine Eigenschaft B genau dann,wenn es notwendig ist, dass jeder Gegenstand, dem A zukommt, auch B zukommt.
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Dennoch bleibt die Kohärenz problematisch. Zumindest auf den ersten Blick hat es den Anschein, als würden einige nichtformale, positive Eigenschaften von negativen Eigenschaften impliziert (sofern es im Hinblick auf Eigenschaften tatsächlich eine solche Unterscheidung gibt). So ist nach Hick z. B. das Reale sowohl das Höchste als auch etwas Unendliches: Unbegrenztheit oder Unendlichkeit ist ein negativer Begriff, die Verneinung der Begrenztheit. Daß man nur in dieser Verneinung vom Höchsten sprechen kann, ist eine Grundannahme aller großen Traditionen. Diese Annahme ist nichts als natürlich und vernünftig, denn ein Höchstes, das in irgendeiner Weise begrenzt wäre, würde von etwas anderem als sich selbst begrenzt, und dann könnte es nicht das Höchste sein. (S. 237– 238 / 259)
Was hat es jedoch mit dieser Eigenschaft auf sich, das Höchste, also letztursprünglich zu sein? Nun, zumindest heißt das, dass das betreffende Etwas von allen anderen Wesen unabhängig ist, also im Hinblick auf seine Existenz oder seine intrinsischen Eigenschaften nicht von irgendwelchen anderen Wesen abhängt. Das klingt angemessen negativ. Dennoch impliziert es die Eigenschaft der Selbständigkeit, und die hört sich positiv an. Daher sieht es so aus, als impliziere die negative Eigenschaft von allem übrigen unabhängig sein die positive Eigenschaft selbständig sein. Freilich, vielleicht ist es möglich, in den sauren Apfel zu beißen und zu behaupten, die Eigenschaft selbständig sein sei entgegen allem Anschein in Wirklichkeit eine negative Eigenschaft. Mag sein, dass man mit diesem Befund leben kann. Doch wie steht es mit der Unendlichkeit? Nach Hick ist die Eigenschaft, unbegrenzt – unendlich – zu sein, eine negative Eigenschaft. Sie ist das Komplement der positiven Eigenschaft, begrenzt bzw. endlich zu sein. (Dies ist ebenfalls ein Fall, in dem es auf den ersten Blick alles andere als offenkundig ist, welches Element des betreffenden Paars positiv und welches negativ ist. Um der Argumentation willen wollen wir einfach einräumen, dass begrenzt sein eine positive Eigenschaft ist.) Damit geraten wir in eine echte Schwierigkeit.Was hat es mit dieser Eigenschaft der Unbegrenztheit auf sich? Es ist die negative Eigenschaft nicht begrenzt sein. Schön und gut, aber was heißt es nun, begrenzt zu sein? Bezieht man sich auf das räumliche Analogon, von dem diese Vorstellung hergenommen ist, heißt es: Schranken oder Grenzen haben. Daher wäre ein unbegrenztes Land eines, das keine Grenzen hat und den gesamten Raum ausfüllt. (Wieder ist es so, dass keine Grenzen haben negativ klingt, den gesamten Raum ausfüllen dagegen positiv.) Natürlich handelt es sich hier nicht um die Vorstellung, das Reale sei räumlich unbegrenzt und erfülle den gesamten Raum. Aber wie funktioniert die Analogie eigentlich? Beim räumlichen Analogon kommen zwei Merkmale vor: Ein unbegrenztes Land ist in einer bestimmten Hinsicht bzw. in Bezug auf eine bestimmte Dimension unbegrenzt, nämlich: in Bezug auf den Raum. Außerdem wird es von
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keinem anderen Land bzw. keiner raumfüllenden Entität begrenzt. Dementsprechend ist das Reale, sofern es unbegrenzt ist, einerseits in Bezug auf bestimmte Dimensionen und andererseits in seinem Verhältnis zu jedem anderen Wesen unbegrenzt. Die christliche Überlieferung begreift Gott als ein in beiden Hinsichten unbegrenztes, unendliches Wesen. Um zuerst das zweite Merkmal zu nennen: Gott wird von keinem anderen Wesen eingeschränkt, d. h., er ist in puncto Macht bzw. im Hinblick auf seine Fähigkeit, den eigenen Willen durchzusetzen, nicht eingeschränkt. Kein anderes Wesen kann ihn behindern, keines kann ihn davon abhalten, das zu tun, was er will. Selbst wenn man diese Eigenschaft als negative auffasst, impliziert sie doch offenbar positive Eigenschaften. Sofern Gott in puncto Macht keine Grenze kennt, hat er Macht, was wiederum mit Sicherheit eine positive Eigenschaft ist. Sofern er im Hinblick auf die Fähigkeit, seinen Willen durchzusetzen, keine Grenze kennt, besitzt er die positive Eigenschaft, seinen Willen durchsetzen zu können. Und wenn ihn nichts davon abhalten kann, das zu tun, was er will, denn hat er die positive Eigenschaft, so handeln zu können, wie er handeln will. Ähnlich verhält es sich mit der Unbegrenztheit in Bezug auf bestimmte Dimensionen oder in bestimmten wichtigen Hinsichten. Nicht in jeder Hinsicht ist Gott unbegrenzt. Das wäre vermutlich nur dann möglich, wenn er jede Eigenschaft in maximalem Grad besäße, was jedoch unmöglich ist.Wenn er beispielsweise die Eigenschaft hat, ein Geist zu sein, hat er nicht außerdem die Eigenschaft, ein materieller Gegenstand zu sein, etwa ein Baum. Vielmehr hat Gott der Überlieferung zufolge jede erhöhende Eigenschaft in maximalem Grad.¹⁹ Dementsprechend ist Gott z. B. im Hinblick auf das Wissen unbegrenzt. Und ein Wesen, das im Hinblick auf das Wissen keine Grenze kennt, ist maximal wissend, also allwissend. Außerdem hätte ein solches Wesen natürlich auch die positive Eigenschaft ein Wissender sein. ²⁰ Gibt es für den Hick-Anhänger einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit? Vielleicht. Er könnte einen Versuch machen und sagen, dieses Wesen sei zwar letztursprünglich und unbegrenzt, aber nur im Hinblick auf Eigenschaften, von denen wir uns kein Bild machen können. Im Hinblick auf alle Eigenschaften, von denen wir tatsächlich einen Begriff haben, sei es doch begrenzt, und zwar in dem ein-
Dieser Gedanke ist der Motor des ontologischen Gottesbeweises. Siehe mein Buch The Nature of Necessity, Kapitel 10. Eigentlich hätte dieses Wesen mindestens überabzählbar viele dieser Eigenschaften, denn mit Bezug auf jede Proposition P hätte es die Eigenschaft: zu wissen, ob P wahr ist. Hier gehe ich davon aus, dass es zumindest überabzählbar viele verschiedene Propositionen gibt. Das scheint relativ unstrittig zu sein angesichts der Tatsache, dass jeder einzelnen reellen Zahl r die entsprechende Einzelaussage »r ist nicht mit dem Taj Mahal identisch« entspricht.
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schränkenden Sinn begrenzt, dass es diese Eigenschaften gar nicht exemplifiziert. Ihm komme das Komplement jeder von uns erfassten Eigenschaft zu. Unendlich sei es insofern, als es einige Eigenschaften, von denen wir uns kein Bild machen können, in maximalem Grad besitzt. Das klingt nun freilich ein wenig absonderlich, aber vielleicht lässt sich die Inkohärenz auf diese Weise vermeiden. (Und überhaupt: Wer hat uns denn versprochen, die Wirklichkeit sei nicht absonderlich?) Die Grundidee besagt jedenfalls, dass es ein Wesen gibt, das keine positiven Eigenschaften hat, mit denen wir eine Vorstellung verbinden – außer dass es mit der menschlichen Erfahrung zu tun hat und mit allen Eigenschaften, die das impliziert. Außerdem ist dieses Wesen insofern unbegrenzt, als es in maximalem Grad Eigenschaften besitzt, von denen wir keinen Begriff haben.
C In religiöser Hinsicht relevant? Selbst wenn diese Auffassung nicht inkohärent ist, so bezahlt sie doch einen anderen Preis. Nehmen wir nämlich einmal an, wir seien davon überzeugt, dass es ein solches Wesen gibt. Für uns ist es zwar eine leere Idee, aber das heißt nicht, dass es ein derartiges Wesen nicht geben könnte. Ich für mein Teil weiß nicht, ob die Existenz eines solchen Wesens in der Tat möglich ist, und ich kenne keine Gründe für oder gegen seine Möglichkeit. Angenommen, wir räumen vorläufig ein, dass die Möglichkeit besteht. Die Grundfrage lautet nun: Welcher Grund spricht für die Annahme, ein solches Wesen stehe – sofern seine Existenz möglich ist – in irgendeinem speziellen Zusammenhang mit der Religion? Nach Hick »kann man von dem postulierten wirklichen an sich sagen, daß es der noumenale Grund der begegnenden Götter und erfahrenen Absoluta ist, von dem die religiösen Traditionen Zeugnis ablegen« (S. 246 / 269).Warum sollte man das annehmen? Welcher Grund besteht hier, aus dem man annehmen sollte, dieses Wesen hänge irgendwie mit dem Christentum oder irgendeiner anderen Religion zusammen? Warum soll man sagen, es sei wirklich so, dass sich die Christen auf dieses Wesen beziehen oder davon »Zeugnis ablegen«? Vielleicht steht es vielmehr mit Krieg, Prostitution, Gewalt in der Familie, Fanatismus oder Rassismus in Zusammenhang.Warum soll man glauben, dieses Wesen – oder der Kontakt mit diesem Wesen – habe irgendetwas mit der »Transformation des menschlichen Daseins von der Selbstzentriertheit in die Wirklichkeitszentriertheit« (S. 355 / 381) zu tun? Vielleicht geschieht es ja gerade dann, wenn die Menschen von Vermessenheit, Hass, Egoismus und dergleichen erfasst sind, dass sie in besonders enger Beziehung zu diesem Wesen stehen. Sofern es keine positiven Eigenschaften hat, mit denen wir irgendeine Vorstellung verbinden, fragt es sich, warum die eine Annahme im
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Geringsten mehr taugen sollte als die andere. Das Grundproblem liegt hier darin, dass wir, wenn das Reale keine positiven Eigenschaften besitzt, von denen wir uns ein Bild machen, gar keinen Grund kennen anzunehmen, dass die Menschen ausgerechnet in der Religion Erfahrungskontakt zu diesem Wesen aufnehmen. Warum soll es nicht im Rahmen irgendeiner anderen menschlichen Aktivität geschehen, wie z. B. im Krieg oder bei Unterdrückungsmaßnahmen? Dieses Wesen hat keine der Eigenschaften, die von Anhängern der großen Religionen den von ihnen verehrten Wesen zugeschrieben werden. Es ist weder gut noch liebevoll, weder an Menschen interessiert noch weise oder mächtig. Es hat die Welt weder geschaffen noch hält es sie in Gang, und es schenkt weder der Welt noch ihren Geschöpfen die geringste Aufmerksamkeit. Es ist eine Unbekannte und Unerkennbare X. Aber warum sollte man diese Unerkennbare X mit der Religion in Verbindung bringen, und nicht mit Krieg, Gewalt, Fanatismus und den übrigen schrecklichen Dingen, die den Menschen oft von ihresgleichen angetan werden? Diese Frage lässt sich auch anders formulieren. Hicks macht folgenden Vorschlag: Wenn Christen die für sie charakteristischen Äußerungen von sich geben und beispielsweise sagen: »Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich«, kann das Gesagte nicht im Wortsinn wahr sein, sondern nur in mythologischem Sinn. Unter »wortwörtlicher« Wahrheit versteht er die Wahrheit schlechthin, die gewöhnliche Wahrheit: »Die wörtliche Wahrheit oder Falschheit einer Faktenbehauptung […] besteht in ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit einer Tatsache: ›Hier regnet es jetzt‹ ist dann und nur dann buchstäblich wahr, wenn es jetzt hier regnet« (S. 348 / 372). Die mythologische Wahrheit einer Aussage ist da von ganz anderem Schlage: »Eine Aussage über X ist mythologisch wahr, wenn sie nicht wörtlich wahr ist, aber trotzdem eine angemessene dispositionale Haltung gegenüber X erzeugen kann« (ebd.). Manche dispositionalen Einstellungen zum Realen sind demnach angemessen, während andere es (vermutlich) nicht sind. Einige Formen des Reagierens darauf sind angemessen, während andere es (vermutlich) nicht sind: Wiewohl wir also nicht vom Wirklichen an sich in einer wörtlichen Weise sprechen können,²¹ leben wir doch unausweichlich in einer Beziehung zu ihm, und in allem, was wir tun und was uns zustößt, haben wir mit ihm ebenso zu tun wie mit unserer unmittelbaren Situation. Unser Handeln ist nicht nur in bezug auf unsere physische und soziale Umgebung angemessen oder unangemessen, sondern auch in bezug auf unsere höchste Umgebung, das Wirkliche. Echte
Hier ist zu bedenken, dass diese Behauptung des 19. Kapitels unter Berücksichtigung des 14. Kapitels zu verbessern ist: Wir können zwar tatsächlich im Wortsinn über das Reale sprechen, aber nur um negative und rein formale Eigenschaften von ihm zu prädizieren sowie jene positiven Eigenschaften, die sich daraus ergeben, dass es so beschaffen ist, dass wir Menschen in Erfahrungskontakt zu ihm stehen.
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religiöse Mythen sind daher diejenigen, die in uns Haltungen und Verhaltensweisen erwecken, die unserer Situation gegenüber dem Wirklichen angemessen sind. (S. 351 / 377)
Jetzt können wir unsere Frage unter Bezugnahme auf diesen Vorschlag folgendermaßen formulieren: Warum sollen wir überhaupt glauben, dass wir »in einer Beziehung zu ihm leben«? Entweder ist die Relation in Beziehung zu … leben eine rein formale, oder sie ist es nicht. Falls sie rein formaler Art ist, steht sie in keiner Verbindung zur Religion. Also dürfte sie nicht rein formal sein. Doch wenn sie es nicht ist, dann ist uns damit (1) eine weitere positive Eigenschaft gegeben, die dem Realen zukommt, nämlich die Eigenschaft, derart zu sein, dass wir in Beziehung zu ihm leben. Aber die uns stärker bewegende Frage lautet: (2) Wieso soll man annehmen, dass wir überhaupt in einer Beziehung zum Realen leben? Schließlich leben wir nicht in Beziehungen zu irgendwelchen beliebigen Dingen, etwa dem höchsten Berg auf dem Mars oder dem gemeinsten Hai im Indischen Ozean. Sofern das Reale keine positiven Eigenschaften besitzt, von denen wir einen Begriff haben, stellt sich die Frage: Welcher Grund spricht für die Vermutung, wir lebten in einer Beziehung zu ihm? Außerdem stellt sich die Frage: Warum soll man annehmen, bestimmte Verhaltensweisen seien dem Realen angemessen, andere Verhaltensweisen hingegen nicht? Wieder ist es so, dass, sofern es sich nicht um eine rein formale Relation handelt, nicht alles Beliebige derart ist, dass manche diesbezüglichen Verhaltensweisen angemessen oder auch unangemessen sind. Vermutlich ist keine Verhaltensweise meinerseits im Hinblick auf den höchsten Marsberg oder den gemeinsten Hai im Indischen Ozean angemessen oder unangemessen. Wenn das Reale keine positiven Eigenschaften hat, von denen wir einen Begriff haben, stellt sich die Frage: Wie soll es möglich sein, dass wir wissen oder Gründe zu der Annahme haben, einige diesbezügliche Verhaltensweisen seien angemessener als andere? Natürlich glaubt Hick, bestimmte Verhaltensweisen seien im Hinblick auf das Reale tatsächlich angemessener als andere Verhaltensweisen, und im folgenden stellt er Vermutungen darüber an, für welche Verhaltensweisen das gilt. Demnach verhalten wir uns angemessen gegenüber dem Realen, wenn wir es lernen, uns von Egoismus und Eigennützigkeit abzuwenden (also die »Transformation des menschlichen Daseins von der Selbstzentriertheit in die Wirklichkeitszentriertheit« bewerkstelligen). Aber warum soll man das glauben? Sinn hätte es freilich, wenn dem Realen die Attribute Gottes zukämen – wenn es also tatsächlich eine Person wäre, die uns liebt und will, dass wir uns von der bloßen Selbstliebe abwenden und statt dessen diese göttliche Person mehr als alles andere lieben und den Nächsten wie uns selbst, und die uns so geschaffen hat, dass wir unser Ziel und unser Glück verwirklichen, wenn uns das gelingt. Diese Eigenschaften hat das
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Reale aber nicht (denn es sind positive Eigenschaften, mit denen wir tatsächlich eine Vorstellung verbinden). Und wenn es keine positiven Eigenschaften hat, von denen wir einen Begriff haben, warum sollen wir dann nicht annehmen, dass Hass und Eigennützigkeit die ihm gegenüber angemessenen Verhaltensweisen sind? Oder jenes schwächliche, weinerliche, neidvolle Verhalten, das nach Nietzsche für echte Christen charakteristisch ist? Beides zusammen geht nicht. Sofern dieses Wesen wirklich so beschaffen ist, dass wir buchstäblich nichts Positives darüber wissen (sofern es also keine positiven Eigenschaften besitzt,von denen wir uns ein Bild machen), besteht kein Grund zur Annahme, egoistisches Verhalten sei mit Bezug auf es weniger angemessen als ein der Liebe geweihtes Leben (und zwar selbst dann, wenn man einräumt, manche Verhaltensweisen seien mit Bezug auf dieses Wesen tatsächlich angemessener als andere). Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, unsere Frage zu formulieren: Hick glaubt nämlich offenbar, manche religiösen Vorstellungen oder Ideen seien authentische Äußerungen (»personae« oder »impersonae«) des Realen. Und insoweit ›der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus‹ tatsächlich eine authentische persona des wirklichen ist, die Form, in der das wirkliche innerhalb des christlichen Strangs der Religionsgeschichte gültig gedacht und erfahren wird, insoweit ist die dieser persona angemessene disponierende Reaktion eine angemessene disponierende Reaktion auf das wirkliche. (S. 355 / 378 – 379)
Über das ewige Wesen Buddhas sagt er: Und insofern dies eine authentische impersona des Wirklichen ist, die innerhalb der buddhistischen Tradition gültig gedacht und erfahren wird, ist das Leben im Einklang mit dem Dharma ebenfalls eine angemessene Reaktion auf das Wirkliche. (S. 353 / 379)
Auch hier liegt die Hauptfrage auf der Hand: Sofern das Reale keine positiven, nichtformalen Eigenschaften besitzt, von denen wir einen Begriff haben, wie soll es dann möglich sein, zu wissen oder Gründe zur Annahme zu haben, eine solche persona oder impersona sei authentisch bzw. inauthentisch? Authentizität impliziert, dass die betreffende (im)persona und das Reale irgendwie zusammenpassen. Doch wenn man keine positive Vorstellung von der Beschaffenheit des Realen hat, gibt es auch keinen Grund zur Annahme, bestimmte personae oder impersonae passten besser als irgendwelche anderen. Auch in diesem Fall ist Hick nicht nur der Überzeugung, dass bestimmte (im)personae tatsächlich besser passen als andere, sondern er glaubt auch, wir hätten eine bestimmte Vorstellung davon, um welche es sich handelt, nämlich z. B.: der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus sowie einige (im)personae aus anderen Überlieferungen. Doch wie ist es möglich, Grund zu derartigen Annahmen zu haben? Sofern wir über das
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Reale nichts weiter wissen als das, was uns Hick zufolge bekannt ist, dann können Gott,Vishnu und Buddha – soweit wir das beurteilen können – inauthentisch sein, während der Kriegsgott Ares, Luzifer und Stalin (oder auch Franz Biberkopf bzw. Don Draper und Peggy Olson) die authentischen personae des Realen sind. Wie gesagt: Beides zusammen geht nicht. Wenn wir über das Reale nichts wissen, gibt es auch keinen Grund für uns, dieselben personae herauszugreifen, die Hick als authentische Äußerungen des Realen auswählt. Die Hauptsache ist die: Sofern das Reale keine positiven, nichtformalen Eigenschaften besitzt, mit denen wir eine Vorstellung verbinden, offenbart jeder Bereich des menschlichen Lebens das Reale genauso gut wie jeder beliebige andere. Es gibt kein Verfahren, zwischen den verschiedenen Bereichen auszuwählen, weil man etwa glaubt, die großen Weltreligionen seien der Ort, an dem sich das Reale zeigt oder an dem es von den Menschen erfahren wird. Soweit wir es beurteilen können, ist es das Leben als Angehöriger einer Mördersekte oder des Ku Klux Klan, in dem man auf besonders authentische Weise mit dem Realen Verbindung aufnimmt.
D Gibt es so etwas überhaupt? Die geschilderte Auffassung ist also offenbar von zweifelhafter Kohärenz. Formuliert man sie vorsichtig, ist sie zwar nicht auf den ersten Blick inkohärent, doch von Hicks Standpunkt aus gesehen, besteht das wichtigste Merkmal des unterstellten Wesens darin, dass es in besonderer Weise mit Religion zusammenhängt. Dieses Wesen soll das sein, worauf sich diejenigen, die Gott, Brahman usw. dienen, eigentlich Bezug nehmen – das, wozu die Menschen im Rahmen der großen Weltreligionen in ein besonders Verhältnis treten. Dafür gibt es jedoch allem Anschein nach nicht den geringsten Grund. Vielleicht steht das Reale in Wirklichkeit mit denen in besonderer Verbindung, die den eigenen Interessen, der Macht oder der Überlegenheit der weißen Rasse dienen. Doch abschließend möchte ich nun auf die Frage eingehen: Welchen Grund hat Hick dafür, die Existenz eines solchen Wesens zu postulieren? Warum glaubt er eigentlich, es gebe wirklich ein Wesen ohne positive Eigenschaften, von denen wir einen Begriff haben? Hicks Antwort lautet: [D]as Wirkliche an sich [wird] von uns als Voraussetzung nicht des moralischen Lebens, sondern der religiösen Erfahrung und des religiösen Lebens postuliert, während die Götter ebenso wie das mystisch erkannte Brahman, Shūnyāta und so weiter phänomenale Manifestationen des Wirklichen sind, die im Bereich der religiösen Erfahrung auftreten. In Zusammenführung dieser beiden Thesen kann man sagen, daß das Wirkliche vom Menschen erfahren wird, und zwar in einer analogen Weise, wie wir Kant zufolge die Welt erfahren, nämlich durch informierende Eingaben aus der äußeren Wirklichkeit, die der Geist anhand
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der ihm eigentümlichen Kategorien interpretiert und die damit als bedeutungsvolle phänomenale Erfahrung im Bewußtsein aufscheinen. (S. 243 / 265 – 266)
Warum sollte man die Existenz eines solchen Etwas postulieren – eines Etwas ohne positive Eigenschaften, mit denen wir eine Vorstellung verbinden, das jedoch im Rahmen der großen Religionen von den Menschen erfahren wird? Oder um eine relevantere Frage zu stellen: Warum postuliert Hick die Existenz eines solchen Wesens? Die Antwort bedarf vermutlich einer dialektischen Erläuterung. Zu Beginn seiner spirituellen Odyssee war Hick ein der Tradition verhafteter, orthodoxer Christ, der den oben skizzierten »christlichen Glauben« bejahte. Später frappierte es ihn, dass es andere Religionen gibt, von denen die Thesen des orthodoxen Christentums – Dreifaltigkeit, Fleischwerdung, Buße – abgelehnt werden. Außerdem sind die Ansprüche dieser anderen Religionen, soweit man das sozusagen von außen beurteilen kann, in epistemischer Hinsicht und wörtlich genommen nicht weniger respektabel als die Ansprüche des Christentums. Überdies gilt, wie Jesus selbst sagt: »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.« Die wichtigsten Früchte, meint Hick, sind praktischer Art: Man soll sich vom egoistischen Leben abwenden und für ein Leben des Dienens entscheiden. In dieser Hinsicht stehen die anderen Religionen, wie er meint, jedoch nicht schlechter da als das Christentum. Daraus zieht er den Schluss, dass wir dort, wo sich das Christentum von den anderen Religionen unterscheidet, kein Recht zu der Auffassung haben, die christliche Religion sei buchstäblich wahr, während die übrigen Religionen buchstäblich falsch seien. Das wäre nach Hicks Ansicht eine Form von geistigem Hochmut – eine Form von spirituellem Imperialismus, bei dem wir uns selbst und unseren Überzeugungen auf Kosten der anderen einen höheren Rang anmaßen. Stattdessen müsste man die Auffassung vertreten, die großen Religionen seien allesamt gleich wertvoll und im gleichen Maße wahr.Wie stellen wir das an? Hicks Antwort lautet: Wenn aber das Wirkliche an sich vom Menschen nicht erfahren werden kann, warum sollte man dann überhaupt ein solches unbekanntes und unerkennbares Ding an sich postulieren? Die Antwort hierauf lautet, daß das göttliche Noumenon ein notwendiges Postulat des pluralistischen religiösen Lebens der Menschheit ist. Innerhalb einer jeden Tradition betrachten wir das Objekt unserer Verehrung oder Kontemplation als wirklich.Wenn es, wie ich bereits argumentiert habe, ebenfalls angemessen ist, auch die Objekte der Verehrung oder Kontemplation in den anderen Traditionen als wirklich zu betrachten, dann muß man das Wirkliche an sich als Voraussetzung des Echtheitscharakters dieses Spektrums religiöser Erfahrungen postulieren. Ohne dieses Postulat hätten wir eine Pluralität von personae und impersonae,von denen jede behauptet, das Höchste zu sein, es aber für sich alleine nicht sein kann. Man müßte entweder alle berichteten Erfahrungen als Täuschungen betrachten oder sich aber auf die konfessionelle Position zurückziehen, auf der man die Authentizität des
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eigenen Stroms religiöser Erfahrung bekräftigt und die Erfahrungen innerhalb anderer Traditionen als Täuschung verwirft. Wenn man aber keine dieser Optionen für realistisch halten mag, dann ist die pluralistische Annahme unumgänglich und damit zugleich die Postulierung des Wirklichen an sich, das unterschiedlich erfahren wird […]. (S. 249 / 272– 273)
Die zitierte Stelle enthält offenbar ein Argument, das für die Schlussfolgerung sprechen soll, es gebe ein Wesen der von Hick in Anspruch genommenen Art (das Reale). Dieses Argument scheint von den folgenden beiden Prämissen auszugehen: (1) Alle großen Religionen haben einen gewissen »Echtheitscharakter«, und (2) keine von ihnen besitzt diesen Echtheitscharakter in höherem Maße als die anderen. Wie soll die Argumentation funktionieren? Der Grundgedanke ist vermutlich folgender: Geht man davon aus, dass es ein Wesen der von Hick angenommenen Art gibt, können wir Hick zufolge erkennen, wie (1) und (2) wahr sein können. Ich bin mir nicht sicher, dass ich zu erkennen vermag, wie das funktionieren soll, doch das wollen wir hier außer acht lassen. Was nicht ohne weiteres außer acht bleiben kann, ist eine gewisse Inkohärenz. »Innerhalb einer jeden Tradition«, sagt Hick, »betrachten wir das Objekt unserer Verehrung oder Kontemplation als wirklich«. Dementsprechend betrachten wir im Rahmen der christlichen Überlieferung Gott als das Reale. Außerdem sei es aber »angemessen, auch die Objekte der Verehrung oder Kontemplation in den anderen Traditionen als wirklich zu betrachten«. Daraus ergibt sich natürlich ein Problem, denn für einige dieser personae und impersonae gilt: Wenn sie real sind und die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften besitzen, sind andere (im)personae entweder nicht real oder besitzen nicht die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften. Nun, vielleicht steckt dahinter, wie Hick an anderer Stelle anzudeuten scheint, die Vorstellung, wir sollten jede dieser (im)personae nicht als in transzendentaler Hinsicht real (also nicht im eigentlichen Sinne als real) ansehen, sondern nur als empirisch real. Vielleicht ist es dieser Gedanke, den wir so deuten sollen: Jedes Wesen sei derart, dass die Anhänger der jeweiligen Religion mit seiner Hilfe irgendwie mit dem Realen Verbindung aufnehmen können. Ausschlaggebend sei jedoch, dass wir nicht glauben sollen, eine oder einige dieser Religionen seien wertvoller oder kämen der Wahrheit näher als die übrigen. Das wäre willkürlich und unberechtigt. Die Gegenstände der Verehrung, die unserer eigenen Überlieferung zufolge als solche gelten, sollen wir nicht mehr als eigentlich reale (bzw. als schlechthin reale) ansehen. Wir müssten alle Überlieferungen gleich behandeln. Um das zu erreichen, schlägt Hick folgendes Verfahren vor: Man sollte erklären, alle diese Überlieferungen seien strenggenommen verfehlt. Die Überzeugungen jeder dieser Überlieferungen seien größtenteils falsch. (Hick sagt: »buchstäblich« falsch, aber nach seiner Auffassung sind buchstäbliche Wahrheit und buchstäbliche Falschheit nichts anderes als Wahrheit und Falschheit
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schlechthin.) Dennoch stecke in der Religion etwas Richtiges oder Gültiges, nämlich die Einsicht, dass es jenseits der natürlichen Welt noch etwas gibt, sowie die Anregung, ein Leben zu führen, in dem die Selbstzentriertheit überwunden werden soll. Im Grunde läuft das also darauf hinaus, dass sich Hick nicht dazu durchringen kann, eine bestimmte Religion – wie etwa das Christentum – als wahr und die übrigen als falsch anzusehen oder zu meinen, eine von ihnen käme der Wahrheit näher als die anderen. Letztlich handelt es sich um den großherzigen Wunsch, die Anmaßung und die Vermessenheit zu vermeiden, die aus Hicks Sicht der Behauptung anhaften, die eigenen religiösen Überzeugungen seien wahr und die der anderen falsch. Hier möchte ich drei Dinge anmerken bzw. fragen: Erstens, ist es überhaupt menschenmöglich, diese Einstellung zu vertreten? Kann man sie wirklich akzeptieren und mit sich im reinen bleiben, ohne zu heucheln oder in Selbstwidersprüche zu geraten? Einerseits soll ich Christ bleiben, am christlichen Gebet teilnehmen, die großartigen und eindringlichen Lehren des überlieferten Christentums bejahen. Andererseits soll ich aber auch denken, diese Lehren seien nur mythologisch wahr. Buchstäblich genommen, seien sie falsch, obwohl es der Fall ist – oder tendenziell der Fall ist –, dass man durch ihre Bejahung (also indem man sie als wahr, d. h. buchstäblich wahr akzeptiert) in das richtige Verhältnis zum Realen gestellt wird. Wie ist es mir jedoch möglich, sie zu akzeptieren – diese Einstellung zu ihnen anzunehmen –,wenn sie meines Erachtens nur mythologisch wahr, d. h. strenggenommen falsch sind? Freilich wäre es möglich zu glauben, sie seien mythologisch wahr. Dieser Glaube jedoch ist nicht dazu angetan, den Betreffenden zum Beschreiten des richtigen Lebenswegs zu veranlassen. Man möchte annehmen, nur der Glaube an die Lehren selbst könne diese heilsame Wirkung haben. Sobald ich hinreichend aufgeklärt bin und erkenne, dass diese Lehren nicht wahr sind, kann ich ihnen gegenüber nicht mehr die Einstellung vertreten, die zu dem erhofften praktischen Resultat führt. Stattdessen befinde ich mich in der Position eines bekümmerten und desillusionierten Gnostikers. Den christlichen Glauben vertrete ich nicht mehr; vielmehr glaube ich zu erkennen, dass er de facto falsch ist. Außerdem erkenne ich natürlich, dass diejenigen, die diesen Glauben dennoch als etwas Wahres akzeptieren, einer Täuschung erliegen. Aber immerhin befinden sie sich in der glücklichen Lage, den Trost und die Kraft und den Zuspruch zu genießen, die mit diesen falschen Überzeugungen einhergehen. Außerdem werden sie dadurch, dass sie diese Überzeugungen akzeptieren, näher an das richtige Leben herangeführt. Mir dagegen stehen der Trost²² und der Zuspruch sowie die praktische Wirkung nicht zu Gebote.
Der Heidelberger Katechismus beantwortet die Frage »Was ist dein einziger Trost im Leben und
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Zweitens scheint mir Hicks Haltung ein ganz selbstwidersprüchliches Element zu enthalten. Wer diesen Standpunkt bezieht, kann nicht sagen, das Christentum z. B. liege richtig, während der Buddhismus unrecht habe.Wir als Christen sollten keinen Meinungsstreit mit den Buddhisten haben; und diesen Standpunkt machen wir uns zu eigen, weil wir Anmaßung und Imperialismus vermeiden wollen. Unter dem Gesichtspunkt des intellektuellen Imperialismus und der intellektuellen Anmaßung tun wir jedoch etwas viel Schlimmeres, denn jetzt erklären wir, auf diesem Gebiet seien alle im Irrtum – alle außer uns selbst und ein paar anderen aufgeklärten Seelen. Wir selbst und die Teilnehmer an unserem Doktorandenkolloquium kennen die Wahrheit. Alle anderen sind betrüblicherweise im Irrtum. Heißt das nicht, sich selbst auf Kosten fast aller anderen hochzujubeln? Diejenigen, die glauben, es gebe wirklich eine Person wie Gott, seien blauäugig und arglos und hätten keine Ahnung von der Wahrheit in dieser Sache, nämlich dass eine solche Person gar nicht existiert (obschon der Glaube an ihre Existenz praktische Früchte tragen könne). Christen sind aus unserer Sicht völlig im Irrtum. Das gleiche Kompliment machen wir freilich auch den Angehörigen der übrigen großen Religionen. Wir sind Rundumkritiker. Wohlwollend sehen wir die übrige Menschheit als irregeleitet an: Gewiss ist das Herz der Leute am rechten Fleck; doch im Hinblick auf die Dinge, die sie für besonders wichtig und wertvoll halten, sind sie leider ganz und gar im Irrtum. Mir fällt es schwer zu erkennen, inwiefern diese Haltung eine Äußerung von Toleranz oder intellektueller Demut sein kann. Mir kommt sie eher wie gönnerhafte Überheblichkeit vor. Das Grundproblem ist folgendes: Angesichts unserer faktisch gegebenen intellektuellen und spirituellen Situation, ist es einfach nicht möglich, gravierende Meinungsverschiedenheiten mit anderen zu vermeiden. Wenn manche Leute p glauben, während andere ein mit p unvereinbares q für richtig halten, gibt es keine Möglichkeit, einem ernstzunehmenden Meinungsstreit aus dem Weg zu gehen. Wer p behauptet, ist anderer Meinung als jemand, der q behauptet. Wer q behauptet, ist anderer Meinung als jemand, der p behauptet. Wer sich auf eine höherstufige Lösung zurückziehen will und meint, weder p noch q sei wahr (wenn auch vielleicht »mythologisch wahr«), ist anderer Meinung als beide vorgenannten Gruppen.²³ Doch wenn es imperialistisch oder in sonst einer Hinsicht fehl am Platze ist, p zu behaupten, weil man damit seine Missachtung der Verfechter
im Sterben?« (Q. 1) mit den Worten »Daß ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre«. Nach Hick jedoch besteht mein einziger Trost im Leben und im Sterben darin, dass ich die traurige Wahrheit kenne: Der Glaube an die großartigen Lehren des Christentums hat zwar vorteilhafte Wirkungen, aber diese Lehren selbst sind de facto falsch. Das gleiche gilt auch, wenn man sich zu p und q agnostisch verhalten möchte. S. u., Kapitel 13.
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von q bezeuge, stellt sich die Frage, warum es besser sein soll, sie alle zu missachten, indem man verkündet, sie lägen durch die Bank falsch? Drittens legt Hick natürlich kein Argument dar, um die Schlussfolgerung zu untermauern, keine Religion komme der Wahrheit näher als die übrigen Religionen. Was er vorlegt, ist eher so etwas wie ein praktisches Postulat: der wohlwollende und nachsichtige Vorsatz, Imperialismus und Selbstverherrlichung zu vermeiden. Aber ist das der richtige Weg? In den meisten Bereichen des menschlichen Lebens ist es offenbar so, dass manche Menschen der Wahrheit tatsächlich näher kommen als andere. Sofern die Nominalisten recht haben, liegen wir Realisten allesamt falsch. Wenn die Modalitätsskeptiker recht haben, sind wir treuen Verfechter der Modalität im Irrtum. Sollten die Verteidiger der Überlegenheit der weißen Rasse recht haben, haben viele von uns Fürsprechern der Toleranz unrecht – in gravierendem Maße unrecht.Warum sollen die Dinge im Bereich der Religion anders liegen? Die Vorstellung, auf dem Gebiet der Religion müssten wir alle gleichermaßen recht und gleichermaßen unrecht haben, scheint nicht zwingendender zu sein als die Vorstellung, unsere Gedanken über Religion müssten alle gleichermaßen richtig und gleichermaßen falsch sein. Hicks Grund für die Annahme, alle Religionen seien gleichermaßen im Recht, scheint der Wunsch zu sein, vermessene Selbstüberschätzung zu vermeiden. Sollte ihn derselbe Wunsch nicht zu der Meinung veranlassen, seine Ansichten über Religion – beispielsweise seine Auffassung, die Religionen seien alle gleichermaßen richtig und gleichermaßen falsch – hätten im Grunde nicht mehr Anspruch auf Wahrheit als irgendeine andere diesbezügliche Anschauung (beispielsweise die Auffassung, ausschließlich das Christentum habe recht)? Zu dieser Meinung lässt er sich aber nicht bewegen, und das ist richtig so. Auch was den religiösen Glauben betrifft, können wir uns nicht dazu bewegen lassen. In diesem Bereich müssen wir – ebenso wie auf manchen anderen Gebieten – etwas riskieren und einsehen, dass wir uns vielleicht irren, ja schrecklich irren. Es gibt hier keine Garantie – das religiöse Leben ist ein Wagnis. Törichte und zermürbende Irrtümer sind stets möglich. (Doch wer unrecht haben kann, der kann auch recht haben.) Im vorliegenden Buch geht es um die De-jure-Frage bezüglich des christlichen Glaubens, also nicht um die (natürlich viel wichtigere) Frage, ob der christliche Glaube wahr ist, sondern um die Frage, ob es vernünftig, rational oder rational zu rechtfertigen ist, diesen Glauben zu bejahen. Bislang haben wir uns mit einer Vorfrage beschäftigt, nämlich: Stellt sich diese Frage überhaupt? Gibt es tatsächlich so etwas wie den christlichen Glauben? Oder verhält es sich vielmehr so, dass wir selbst dann, wenn es eine Person wie Gott gäbe, weder auf ihn Bezug nehmen noch über ihn nachdenken, noch positive, nichtformale Eigenschaften von ihm prädizieren könnten? Die Ergebnisse, zu denen wir bisher gelangt sind, besagen, dass es nicht den geringsten Grund gibt, der für eine derartige Annahme
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spräche. Es gibt gar keinen Grund anzunehmen, es sei nicht möglich, über Gott nachzudenken. Ebensowenig gibt es irgendeinen Grund anzunehmen, wir seien nicht dazu imstande, positive, nichtformale Eigenschaften wie Weisheit, Wissen, Liebe usw.von ihm zu prädizieren. Es liegt auf der Hand, dass hier noch enorm viel mehr zu sagen wäre: Diese Thematik verdiente ein eigenes Buch. Doch in diesem Buch ist dafür kein Platz. Daher müssen wir uns mit dem begnügen, was wir haben. Auf jeden Fall können wir uns sicher sein: Sollte ein Grund zur Annahme bestehen, unsere Frage sei nicht richtig gebildet oder in logischer Hinsicht irgendwie verfehlt, dann ist dieser Defekt zumindest extrem gut versteckt. Daher können wir uns ziemlich zuversichtlich der nächsten Frage zuwenden: Was hat es eigentlich mit der De-jure-Frage auf sich?
Teil II: Was besagt die Frage?
3 Rechtfertigung und das klassische Bild Im I. Teil habe ich eine bestimmte Form von Einwand gegen die De-jure-Frage bezüglich des christlichen Glaubens betrachtet, nämlich die Frage, ob es rational bzw. vernünftig oder in intellektueller Hinsicht respektabel sei, den christlichen Glauben zu bejahen. Diese De-jure-Frage ist dem genannten Einwand zufolge zumindest voreilig. Strenggenommen sei es gar nicht möglich, für einen Glauben einzutreten, wie ihn traditionelle Christen zu verfechten meinen. Der Grund sei der, dass die Christen Gott als letztursprüngliches und unendliches Wesen begreifen, obschon der bloße Gedanke, man könne mit Bezug auf ein letztursprüngliches und unendliches Wesen überhaupt etwas glauben, begrifflich nicht einwandfrei sei. Ich für mein Teil bin zu dem Schluss gekommen, dass dieser Einwand nicht zwingend ist: Es gibt kein Hindernis, das der De-jure-Fragestellung im Weg stünde. Als nächstes muss man jedoch erkennen, dass ganz und gar nicht offenkundig ist, worum es sich bei der De-jure-Frage überhaupt handelt. Welche Frage (oder Fragen) glauben die Kritiker eigentlich aufzuwerfen, wenn sie fragen, ob der christliche bzw. der theistische Glaube rational, rational zu verteidigen oder rational zu rechtfertigen sei, usw.? Die Kritiker behaupten, der christliche Glaube sei in rationaler Hinsicht weder gerechtfertigt noch überhaupt begründbar. Welches ist nun die Schwäche oder der Mangel, den sie dem gläubigen Christen vorwerfen? Wie lautet die Frage genau? Diese Frage möchte ich die »Metafrage« nennen. Ein Problem bezüglich der heute geführten Diskussionen um die Rechtfertigung des christlichen Glaubens besteht darin, dass diese Metafrage praktisch nie gestellt wird. Man stellt zwar die Frage, ob der christliche Glaube rational, vernünftig oder rational begründbar sei, doch dann wendet man sich sogleich der Beantwortung dieser Frage zu, ohne sich zunächst zu überlegen, um welche Frage es sich eigentlich handelt. Um welche Frage geht es nun tatsächlich? Das ist nicht so leicht zu beantworten. Dennoch wird es das Thema des II. Teils sein. Im vorliegenden Kapitel soll folgende Antwort auf die Metafrage untersucht werden: Bei der De-jure-Frage gehe es darum, ob der christliche Glaube gerechtfertigt sei. Diese Frage hat ihren Ursprung in der klassischen Fundierungstheorie, einer auf diese Thematik bezogenen Denkweise, die historisch gesehen sehr einflussreich gewesen ist und auch heute noch eine große Rolle spielt. Der klassischen Fundierungstheorie zufolge handelt es sich bei der De-jure-Frage im Grunde um die Frage, ob der christliche Glaube gerechtfertigt sei. Aber wie ist dieser Ausdruck zu verstehen? Hier werde ich zunächst die im siebzehnten Jahrhundert wurzelnden Ursprünge der klassischen Fundierungstheorie untersuchen, um anschließend den aus der Sicht der klassischen Fundierungstheorie
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bestehenden Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und Belegthese zu erkunden und kurz einige neuere Abkömmlinge dieser Auffassung zu skizzieren. In der zweiten Hälfte dieses Kapitels werde ich geltend machen, dass der klassische Fundierungsgedanke unüberwindlichen Schwierigkeiten gegenübersteht und dass der Begriff der Rechtfertigung keine befriedigende Lesart der De-jure-Frage bietet. Am Anfang werden einige historische Betrachtungen stehen müssen: Als erstes werden wir auf die relativ junge Vergangenheit zurückschauen und dann einen vertieften Blick in die entferntere Vergangenheit richten. Was den ersten Punkt betrifft, kann ich es mir leicht machen, indem ich auf frühere eigene Arbeiten Bezug nehme, wobei der Leser diese persönliche Perspektive entschuldigen möge. Wie schon im Vorwort erwähnt, schließt das vorliegende Buch an die folgenden beiden Bände an: Warrant – The Current Debate (im folgenden: WCD) und Warranted Proper Function (im folgenden WPF). Aber außerdem ist es – was hier vielleicht wichtiger ist – eine Fortsetzung von God and Other Minds ¹ und »Reason and Belief in God«.² Das Hauptthema von God and Other Minds ist, um meine damalige Formulierung zu gebrauchen, die »rationale Rechtfertigung« des Glaubens an Gott. Seinerzeit war ich zwar bemüht, auf die De-jure-Frage einzugehen, aber genauso wie alle anderen Autoren unterließ ich es, die Metafrage auch nur aufzuwerfen. Im Anschluss an meine Vorgänger und Vorbilder ging ich davon aus, dass diese Frage der rationalen Rechtfertigung des theistischen Glaubens auf das gleiche hinausläuft wie die Frage, ob es Beweise oder zumindest triftige Argumente für oder gegen die Existenz Gottes gibt, oder dass sie jedenfalls eng mit dieser Frage zusammenhängt. Um diese Frage der Rationalität des Glaubens an Gott zu erörtern, gehe man so vor, dass man die Belege heranziehe und frage: Stützen sie, wenn man sie gegeneinander abwägt, den theistischen Glauben? (Wenn ja – und zwar stark genug –, so ist dieser Glaube rational; wenn nicht, ist er irrational.) Diese Frage wiederum wurde so aufgefasst, dass sie durch eine Betrachtung der für oder gegen die Existenz Gottes sprechenden Argumente zu beantworten wäre. Auf der Pro-Seite standen die traditionellen Beweise für die Existenz Gottes, also (um der Klassifizierung Kants zu folgen) der kosmologische, der teleologische und der ontologische Gottesbeweis. Auf der Kontra-Seite stand zuallererst das Problem des Übels (das im Sinne der These interpretiert wurde, die Existenz des Üblen stehe in logischem Widerspruch zur Existenz eines durch und durch guten,
Ithaca: Cornell University Press 1967 In: Alvin Plantinga u. Nicholas Wolterstorff (Hg.), Faith and Rationality, Notre Dame: University of Notre Dame Press 1983.
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allmächtigen und allwissenden Gottes). Darüber hinaus wurden einige schwer zu durchschauende Behauptungen angeführt, die besagten, ein weiterer Beleg gegen die Existenz Gottes liege im Fortschritt der modernen Naturwissenschaft bzw. in der Einstellung, die vom richtigen wissenschaftlichen Arbeiten vorausgesetzt werde, oder sonst etwas in dieser Nachbarschaft, vielleicht aber noch etwas anderes,was der endlich »erwachsen« gewordene Mensch gelernt habe. Dabei wurde offenbar angenommen, der Glaube an Gott sei nur dann rational und einwandfrei, wenn die in diesem Sinne interpretierten Belege alles in allem dafür sprächen. Damit ist also eine mögliche Antwort auf die Metafrage gegeben und zugleich ein Anwärter auf den Posten der De-jure-Frage: Stützen die Belege den christlichen Glauben? Im vorliegenden Kapitel möchte ich mir über diese Antwort auf die Metafrage Gedanken machen. Wird hiermit gläubigen Christen eine ernst zu nehmende Frage gestellt? Wird auf diese Weise ernst zu nehmende Kritik am christlichen Glauben geübt? In God and Other Minds machte ich zunächst geltend, dass die Beweise bzw. Argumente für die Existenz Gottes nichts fruchten. Bei der Beurteilung dieser Argumente berief ich mich auf einen herkömmlichen, aber völlig unpassenden Maßstab, indem ich unterstellte, dass diese Argumente nur dann erfolgreich seien, wenn sie von Sätzen ausgehen, die jeder aufrichtigen und intelligenten Person Zustimmung abverlangen, um sodann auf dem Wege von Argumentationsformen, die nur um den Preis der Unaufrichtigkeit oder der Irrationalität abgelehnt werden können, majestätisch zu ihrer Konklusion voranzuschreiten. Es dürfte nicht verwundern, dass ich in den damals vorherrschenden Chor einstimmte und die Ansicht vertrat, keines der traditionellen Argumente sei von Erfolg gekrönt. (Dabei übersah ich, dass dieser Standard von gar keinem philosophischen Argument erfüllt wird, das irgendwie von Belang ist. Dass die theistischen Argumente diesem Maßstab ebenfalls nicht gerecht werden, ist daher von geringerer Bedeutung, als ich damals dachte.) Anschließend machte ich geltend, dass die Einwände gegen den theistischen Glauben genauso wenig Eindruck machen. Speziell das deduktive Argument, das bei der Existenz des Übels ansetzt (und dem zufolge zwischen der Existenz Gottes und der Existenz des Übels ein Widerspruch bestehen soll), leiste, wie ich betonte, gar nichts. Damit gelangte ich, wie ich glaubte, zu der Erkenntnis, dass weder die Argumente für die Existenz Gottes noch die Argumente dagegen, folgerichtig sind. Aber wo stehen wir dann im Hinblick auf die Frage der Rationalität bzw. der rationalen Begründbarkeit des Glaubens an Gott? Folgt daraus,wie die Mehrheit offenbar anzunehmen neigte, dass der Agnostizismus die richtige Reaktion sei, während der Glaube an Gott unter diesen Umständen irrational,vernunftwidrig und rational nicht zu begründen sei? Das erschien mir nicht richtig, aber in welche Richtung könnte man gehen, um diese Frage weiterzuverfolgen? Wie ließe sich diese Untersuchung fortsetzen?
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Angesichts dieser Sackgasse beschloss ich, den Glauben an Gott mit anderen Überzeugungen zu vergleichen, insbesondere mit unserem Glauben an Fremdseelisches. Es gibt, wie man behauptet, das folgende traditionelle philosophische Problem des Fremdseelischen: Die Gedanken und Gefühle anderer Personen können wir nicht wahrnehmen. Wieso und woher wissen wir dann, dass sie wirklich Gedanken und Gefühle haben? Noch einschneidender ist die Frage: Woher wissen wir, dass jene Wesen, die wir für Personen (also Wesen mit Gedanken, Gefühlen und Absichten) halten, wirklich Personen sind und nicht beispielsweise listig konstruierte Roboter?³ Die im Fall der theistischen Argumente zum Vorschein kommende dialektische Struktur wiederholt sich, wie ich feststellte, im Fall des Fremdseelischen. Die Einwände gegen den Glauben an Fremdseelisches wirken zwar nicht sonderlich beeindruckend, aber leider gibt es auch keine sonderlich guten Argumente für das Fremdseelische – vor allem dann nicht, wenn man die gleichen hohen Qualitätsmaßstäbe anlegt, die man auf die theistischen Argumente anzuwenden pflegt. Meine These lautete nun, dass das stärkste Argument für die Existenz Gottes und das stärkste Argument für das Fremdseelische einander ähnlich sind und dass sie auf ähnliche Weise scheitern. Daher besagte meine »vorläufige Schlussfolgerung«: »Falls mein Glaube an Fremdseelisches rational ist, gilt das auch für meinen Glauben an Gott. Dass der erstere rational ist, liegt jedoch auf der Hand; also ist der letztere ebenfalls rational.« Hier sind zwei Dinge festzuhalten: Erstens bejahte ich eine damals als Axiom angesehene Überzeugung, die ich aber zugleich in Frage stellte, nämlich die Überzeugung, dass der Glaube an Gott nur dann als rational akzeptabel gelten kann, wenn es triftige Belege dafür gibt. Bei diesen Belegen handele es sich um propositionale Belege (die also von anderen Sätzen, die man für wahr hält, hergenommen sind), und sie müssten in der Gestalt von Argumenten daherkommen. Für diese Behauptung wurden ihrerseits keine Argumente angeführt, sondern sie wurde schlicht aufgestellt oder – im besseren Fall – einfach als evident oder zumindest ganz einleuchtend vorausgesetzt. Was seinerzeit unterstellt wurde, heißt heutzutage »Belegthese« (eine angemessenere Bezeichnung wäre »Belegthese im Hinblick auf den Glauben an Gott«, aber das klingt doch recht umständlich). Die Belegthese ist die Anschauung, wonach der Glaube an Gott nur dann rational begründbar oder akzeptabel ist, wenn es triftige Belege dafür gibt, wobei unter »triftigen Belegen« Argumente zu verstehen sind, die sich auf andere Sätze stützen, deren Wahrheit bekannt ist. Wird der Glaube ohne solche Belege Um ein traditionelles philosophisches Problem handelt es sich eigentlich nicht, sofern man darunter ein Problem versteht, das sich für alle Philosophen und für alle philosophischen Positionen stellt. Als dringlich wird man es nur dann empfinden,wenn man eine Lesart der klassischen Fundierungstheorie akzeptiert.
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bzw. Argumente angenommen, ist er in intellektueller Hinsicht allenfalls drittrangig, mithin irrational, unvernünftig oder unseren intellektuellen Verpflichtungen widersprechend. Zweitens unterließ ich es zu fragen, wieso diese Frage nach der Möglichkeit einer rationalen Rechtfertigung wichtig ist oder um welche Frage es sich eigentlich handelt. Dieser Frage – also der Frage, was es mit dieser rationalen Rechtfertigung, von der da die Rede ist, überhaupt auf sich hat – gönnte ich nicht einmal einen flüchtigen Seitenblick. Ferner stellte sich die Frage: Wieso verlangt die rationale Rechtfertigung – was immer es genau mit ihr auf sich haben mag – Belege? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Belegen und Rechtfertigung? Und falls die Rechtfertigung wirklich Belege verlangt, warum sollen diese Belege dann die Form von (deduktiven oder probabilistischen) Argumenten annehmen, mithin die Form von Belegen, die sich auf andere, bereits für wahr gehaltene Aussagen stützen? Diese Fragen habe ich nicht gestellt. Das lag allerdings nicht daran, dass die Antworten darauf so bekannt waren, dass jede weitere Erkundigung bedeutet hätte, Eulen nach Athen zu tragen. Ganz im Gegenteil – es gab auch sonst niemanden, der diese Fragen aufgeworfen hätte. Vielmehr wandte man sich direkt den Argumenten für oder gegen den theistischen Glauben zu und setzte dabei schlicht voraus, dass dies das Verfahren der rationalen Rechtfertigung sei.⁴ Die Belegthese einfach vorauszusetzen, war damals de rigueur und ist auch heute noch ein beliebtes Vorgehen. Aber was hat es mit dieser rationalen Rechtfertigung eigentlich auf sich? Warum verlangt sie überhaupt Belege, und zwar propositionale Belege? Wie kam es, dass jeder es als selbstverständlich empfand, dass zwischen Rechtfertigung und propositionalen Belegen dieser Zusammenhang besteht? Das sind einige der Fragen, die wir stellen müssen.
I John Locke An dieser Stelle brauchen wir weiteres historisches Material, ein zusätzliches Stück »Archäologie«, wie es bei Foucault heißt (obwohl ich, um es zu wiederholen [siehe WCD, S. 11], bezweifeln möchte, dass wir einen verborgenen politischen Plan oder einen unterirdischen Griff nach der Macht aufdecken werden). Die Frage
Die Ausnahme war William James, dessen Essay »The Will to Believe« (in:The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy, New York: Longmans, Green 1897) in vielen Anthologien abgedruckt wurde. In diesem Essay schlägt James den folgenden – seinerzeit als radikal empfunden – Weg ein: Sofern der religiöse Glaube für den Betreffenden eine lebendige und zugleich eine zwingende Option darstellt, ist gegen den Glauben auch dann nichts einzuwenden, wenn keine Belege gegeben sind. Siehe unten, S. 104.
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nach der Möglichkeit einer rationalen Rechtfertigung des christlichen Glaubens entspringt der Reaktion der Aufklärung auf den spirituellen und intellektuellen Gärungsprozess, der (zum Teil) von der Reformation ausgelöst worden war. Es ist erkennbar, dass die charakteristisch neuzeitliche Reaktion auf diesen Prozess mit den Schriften von René Descartes und John Locke begann. Descartes wie Locke waren beeindruckt von den enormen Meinungsverschiedenheiten in religiösen und philosophischen Angelegenheiten, deren Vorhandensein natürlich bedeutet, dass unsere Überzeugungen auf diesen Gebieten von Irrtümern durchdrungen sind. Was Descartes und Locke (nicht anders als ihre Nachfahren) ebenso beeindruckte, waren die geringfügigen Fortschritte, die auf philosophischem Gebiet erzielt wurden. Von der Philosophie sagt Descartes, dass sie »von den ausgezeichnetsten Köpfen einer Reihe von Jahrhunderten gepflegt worden ist und dass es gleichwohl noch nichts in ihr gibt, worüber nicht gestritten würde und was folglich nicht zweifelhaft wäre«.⁵ Das (typisch neuzeitliche) Heilmittel, das Descartes vorschlägt, lautet »Neubeginn«.Wir sollen alles verwerfen,was nicht gewiss ist, und unsere noetische Struktur auf der Basis dessen, was tatsächlich gewiss ist, neu errichten. Erinnern wir uns an die folgenden berühmten Worte aus der ersten Meditation: Schon vor einer Reihe von Jahren habe ich bemerkt, wieviel Falsches ich in meiner Jugend habe gelten lassen und wie zweifelhaft alles ist, was ich hernach darauf aufgebaut, daß ich daher einmal im Leben alles von Grund aus umstoßen und von den ersten Grundlagen an neu beginnen müsse.⁶
Für unser Verständnis der De-jure-Frage und den neuzeitlichen Drang, diese Frage aufzuwerfen, ist allerdings nicht Descartes, sondern wahrscheinlich eher John Locke von besonderer Wichtigkeit.⁷ Im »Sendschreiben an den Leser«, der seinem langen, weitschweifigen Essay concerning Human Understanding als Vorwort dient, berichtet Locke über ein Treffen mit »fünf oder sechs Freunden«, bei dem sie über ein Thema diskutierten, das Locke an dieser Stelle nicht näher kennzeichnet. Dort schreibt er, dass sie bald durch Schwierigkeiten, die sich von allen Seiten erhoben, an einem toten Punkt [gelangten]. Nachdem wir uns so eine Zeitlang abgemüht hatten, ohne einer Lösung der uns
René Descartes, Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, hg. von Lüder Gäbe, 2. Aufl. Hamburg: Meiner 1997, S. 15. Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, hg. von Lüder Gäbe, 3. Aufl. Hamburg: Meiner 1992, S. 31. Siehe den verständnisvollen und erhellenden Locke-Essay von Nicholas Wolterstorff in: John Locke and the Ethics of Belief, Cambridge: Cambridge University Press 1996.
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quälenden Zweifel irgendwie näherzukommen, kam mir der Gedanke, daß wir einen falschen Weg eingeschlagen hätten und vor Beginn solcher Untersuchungen notwendig unsere eigenen geistigen Anlagen prüfen und zusehen müßten, mit welchen Objekten sich zu befassen unser Verstand tauglich sei. Ich setzte das der Gesellschaft auseinander, und alle stimmten mir bereitwillig zu, worauf wir vereinbarten, daß dieser Frage unsere erste Untersuchung gelten sollte.⁸
Auf diese Diskussion, die wahrscheinlich im Winter 1670/71 stattfand,⁹ geht die Entstehung des Essay zurück, und es war ein wirklich bedeutendes Zusammentreffen. Das Buch selbst wurde erst ungefähr achtzehn Jahre später abgeschlossen (bzw. veröffentlicht), was zum Teil seine Länge, die mangelhafte Struktur und die Wiederholungen erklären mag. Locke selbst gibt zwar keine Auskunft über den Gegenstand der Diskussion, aber James Tyrell, der zu den fünf oder sechs versammelten Freunden gehörte, schrieb an den Rand seines (jetzt im British Museum erhaltenen) Exemplars des Essay, man habe sich über »die Prinzipien der Moral und der offenbarten Religion« unterhalten.¹⁰ Lockes Essay ist für die Entwicklung des neuzeitlichen Denkens über diese Thematik von ausschlaggebender Bedeutung gewesen. Vielleicht kann man ohne allzu große Übertreibung sagen, sein Anstoß gebendes Werk sei die wichtigste Quelle jener Auffassung, die seit über dreihundert Jahren das abendländische Denken auf diesem Gebiet dominiert. Durch dieses Buch wurde die Erkenntnistheorie im Abendland aufs Tapet gebracht. Freilich ist es nicht so, als hätten frühere Philosophen gar nichts über erkenntnistheoretische Themen zu sagen gehabt. Schließlich wird bereits in Platons Theätet eine der Hauptfragen der Erkenntnistheorie aufgeworfen, nämlich: Was muss zur bloßen wahren Überzeugung hinzukommen, um Wissen zu erhalten? Welches ist diese Qualität oder Quantität, deren ausreichendes Vorhandensein den Unterschied zwischen wahrer Überzeugung und Wissen ausmacht? Ferner hatten auch Aristoteles und Thomas von Aquin eine ganze Menge über die scientia zu sagen, also über die wissenschaftliche Erkenntnis, sowie darüber, wie der Prozess des Verstandesgebrauchs funktioniert, also was eigentlich geschieht, wenn jemand etwas weiß oder glaubt. Dennoch haben die von Locke gestellten Fragen und die von ihm gegebenen Antworten einen spezifisch neuzeitlichen Klang. Wir schwingen mit, wenn wir sie hören, denn aus seiner Art und Weise, darüber nachzudenken, entwickelte sich die moderne Denkweise. Allen postmodernen Verkündigungen des Tods oder
John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, übers. von C. Winkler, durchgesehen von R. Brandt, 5. Aufl. Hamburg: Meiner 2000 (kommentierte engl. Ausgabe von Alexander Fraser [1894], New York: Dover 1959), Band I, S. 7. Anm. 1 in der Fraser-Ausgabe, S. 9. Fraser, »Prolegomena«, S. xvii.
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Endes der Erkenntnistheorie zum Trotz entspricht sie in den meisten Bereichen nach wie vor unserer Art und Weise, über diese Themen nachzudenken. Lockes Lebenszeit fällt mit einer der unruhigsten Perioden der intellektuellen und spirituellen Geschichte Großbritanniens zusammen. Vor allem waren es das religiöse Gären und die religiöse Vielfalt – die erstaunliche Mannigfaltigkeit der religiösen Meinungen –, die seine Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Natürlich wusste er, dass es in Weltgegenden außerhalb Europas Religionen gab, die völlig anderer Art waren als das Christentum; aber was ihn besonders beeindruckte, war die Vielfalt der religiösen Meinungen in seiner Heimat. Hier gab es Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten, und innerhalb des Protestantismus gab es zahllose Sekten, zahllose Meinungsverschiedenheiten und Kontroversen. Es war eine Zeit, in der jeder glaubte, richtig sei das, was er selbst dafür hielt. Locke fasst den Plan, Untersuchungen anzustellen, um die Gründe für diejenigen Überzeugungen namhaft [zu] machen […], die in so vielgestaltiger, verschiedenartiger und völlig widersprechender Form unter den Menschen zu finden sind und dabei doch da und dort so bestimmt und zuversichtlich geltend gemacht werden, daß jemand, der sich von den Meinungen der Menschen ein Bild macht, der ihre Gegensätzlichkeit wahrnimmt und gleichzeitig die blinde Liebe und Hingebung beobachtet, mit der sie erfaßt, die Entschlossenheit und den Eifer, mit dem sie festgehalten werden,vielleicht zu dem Argwohn Grund haben wird, daß es entweder so etwas wie die Wahrheit überhaupt nicht gebe oder daß die Menschen nicht über ausreichende Mittel verfügen, um eine sichere Kenntnis von ihr zu erlangen. (Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Einleitung, § 2, S. 23)
Ein Problem, das sich,wie Locke ausführt, an dieser Stelle ergibt, ist der Fideismus. Viele sind der Meinung, der Glaube stehe im Gegensatz zur Vernunft, und behaupten, der Glaube schreibe vor, was die Vernunft verbietet. Hier sei es der Glaube, den man akzeptieren und befolgen müsse. Dazu meint Locke: Denn meiner Ansicht nach dürfen wir auf die gekennzeichnete Bevorzugung des Glaubens gegenüber der Vernunft zu einem nicht geringen Teil die Absurditäten zurückführen, von denen nahezu sämtliche Religionen erfüllt sind, die die Menschheit beherrschen und trennen. Nachdem man nämlich den Menschen als Prinzip die Meinung eingeprägt hatte, sie dürften die Vernunft in religiösen Dingen nicht zu Rate ziehen, wie offenkundig diese auch dem gesunden Menschenverstand und den eigentlichen Prinzipien ihrer gesamten Erkenntnis widersprächen, ließen sie ihrer Einbildungskraft und ihrem natürlichen Aberglauben freien Lauf. Dadurch gelangten sie auf religiösem Gebiet zu so seltsamen Anschauungen und zu so merkwürdigen Gebräuchen, daß ein verständiger Mensch nur mit Erstaunen ihre Torheit betrachten kann. Er muß zu dem Urteil gelangen, daß diese Dinge, weit entfernt davon, dem großen und weisen Gott wohlgefällig zu sein, schon für einen nüchtern denkenden, wackeren Menschen lächerlich und anstößig erscheinen müssen. So kommt es dazu, daß die Religion, durch die wir uns am allermeisten von den Tieren un-
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terscheiden und uns vorzugsweise als vernünftige Geschöpfe über sie erheben sollten, tatsächlich gerade das Gebiet ist, auf dem die Menschen nicht selten am unvernünftigsten erscheinen, ja, sinnloser zu sein scheinen als die Tiere selbst. (Locke, ebd., Buch IV, Kapitel 18, § 11; Band II, S. 403 – 404)
Eine weitere Ursache verheerender Irrtümer und Konfusionen auf religiösem Gebiet ist der Traditionalismus, also das Festhalten an einem Satz, das sich auf nichts weiter gründet als den Umstand, dass er uns beigebracht wurde oder von den Menschen in unserer Umgebung für richtig gehalten wird. Die große Hartnäckigkeit, die sich bei Menschen findet, die in den verschiedenen Religionen der Welt an ganz entgegengesetzte, obwohl oft gleich absurde Meinungen fest glauben, ist ebensosehr ein offenkundiger Beweis wie eine unvermeidliche Folge dieser Art von Schlußfolgerungen, die von übernommenen, überlieferten Prinzipien ausgeht. So kommt es, daß manche Leute lieber ihren Augen mißtrauen, lieber das Zeugnis ihrer Sinne verwerfen und ihre persönliche Erfahrung Lügen strafen, als daß sie etwas anerkennen, das diesen heiligen Lehrsätzen widerspricht. (IV, 20, § 10, S. 427)
Die Tradition, sagt er (mit der charakteristischen Abschätzigkeit des Aufklärers), erhält mehr Menschen in Unwissenheit und Irrtum als alle anderen [Ursachen des Irrtums] zusammengenommen. […] Ich meine die Tatsache, daß wir unsere Zustimmung von der allgemein herkömmlichen Anschauung abhängig machen, die unsere Freunde oder unsere Partei, unsere Umgebung oder unsere Landsleute vertreten. Wie viele haben für ihre Lehrsätze keine andere Begründung als die vorausgesetzte Ehrenhaftigkeit und Gelehrsamkeit oder die Zahl ihrer Glaubensgenossen. (IV, 20, § 17, S. 435)
Man konnte sich nicht mehr auf die Tradition berufen, um eine Meinungsverschiedenheit beizulegen, denn es gab einfach zu viele Traditionen. Man musste eine Entscheidung darüber treffen, welche dieser unvereinbaren Traditionen man bejahen wollte. Dieser regellose Pluralismus war aus Lockes Sicht unerträglich. Noch unerträglicher war jedoch der Umstand, dass es offenbar keine rationale Möglichkeit gab, die Meinungsverschiedenheiten zu beenden. Der Essay war Lockes Versuch, alles ihm Mögliche zu tun, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Das vierte Buch (»Vom Wissen und von der Wahrscheinlichkeit«) ist der Abschluss des Ganzen auch insofern, als es die letzten dreihundert Seiten umfasst und die Frage behandelt, um deren Beantwortung es Locke im Grunde geht. Selbst im IV. Buch jedoch schreibt er etwa zweihundert Seiten, ehe er ausdrücklich darauf zu sprechen kommt. Diese Kernfrage lautet:Wie sollten wir unsere Meinung im Hinblick auf den Glauben im allgemeinen ausrichten? Wie vor allem sollten wir unsere Meinung im Hinblick auf den religiösen Glauben
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ausrichten? Das ist, wie A. D. Woozley schreibt,¹¹ das Hauptthema des ganzen Buchs. Dem fügt er hinzu, dass die Leser häufig gar nicht bis an diesen Punkt gelangen, da sie dadurch entmutigt werden, dass sie sich zunächst durch ein sechshundert Seiten dickes Vorwort hindurchmühen müssen. Dennoch sind Lockes Ausführungen zu diesem Thema einerseits für unser Verständnis von Lockes Unterfangen und andererseits für unsere Metafrage von besonderer Wichtigkeit.
A Vernunftgemäß leben Das Ausgangsproblem ist natürlich das Durcheinander der Meinungen: »Wenn die Menschen jedoch mit ihren Untersuchungen die Grenzen ihrer Kapazität überschreiten und ihre Gedanken in jene Tiefen hinabdringen lassen, wo sie keinen sicheren Boden mehr unter den Füßen finden können, so ist es kein Wunder, dass sie Fragen aufwerfen und immer mehr Streitgespräche führen, die, weil sie nie klar entschieden werden, nur dazu dienen, ihren Zweifeln neue Nahrung zu geben und sie zu vertiefen und sie selbst schließlich in einem vollständigen Skeptizismus zu bestärken« (Einleitung, § 7, S. 27). Nicht anders als später Hume und Kant, glaubt Locke, um Abhilfe zu schaffen, sei es zunächst erforderlich, unsere geistigen Fähigkeiten und Vermögen gerechter und genauer zu bewerten: Wenn man dagegen die Kapazität unseres Verstandes wohl erwöge, den Umfang unserer Erkenntnis einmal feststellte und die Grenzlinie ausfindig machte, die den erhellten und den dunklen Teil der Dinge, das für uns Faßliche und das Unfaßliche voneinander scheidet, so würden sich die Menschen vielleicht unbedenklicher mit der eingestandenen Unkenntnis auf dem einen Gebiet zufrieden geben und ihr Denken und Reden mit mehr Erfolg und Befriedigung dem andern zuwenden. (Einleitung, § 7, S. 27– 28)
Locke verfolgt nicht das Ziel, zur Gewissheit à la Descartes zu gelangen (darüber macht er etliche abschätzige Bemerkungen). Vielmehr gilt: »Wenn wir die Maßstäbe ausfindig machen können, nach denen ein vernünftiges Wesen, das in jene Das schreibt er in der Einleitung zu seiner gekürzten Ausgabe des Essay (New York: NAL Penguin 1974 [Originalausgabe London: Collins/Fontana 1964]), S. 15. Der Essay ist ein dickes und verwirrendes Buch. Er wurde im Laufe vieler Jahre verfasst und nie der Schlussrevision unterzogen, die er nötig gehabt hätte. Infolgedessen ist er seit 1694 – also schon vier Jahre nach seiner Erstveröffentlichung und zehn Jahre vor Lockes Tod – in immer neuen Auswahlausgaben erschienen (die Ausgabe von 1694 kam in Boston heraus: Printed by Manning & Loring, for J. White, Thomas & Andrews, D. West, E. Larkin, J. West and the proprietor of the Boston bookstore). Es kommt hin und wieder vor, dass diese gekürzten Ausgaben einige Stellen weglassen, die für das richtige Verständnis des Essay besonders wichtig sind. So lässt A. D.Woozley in seiner Ausgabe die ganz entscheidende Stelle aus, die hier auf S. 101 zitiert wird.
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Lage versetzt ist, in der sich der Mensch auf der Erde befindet, seine Meinungen und seine von denselben abhängigen Handlungen einrichten kann und soll, so brauchen wir uns nicht darüber zu beunruhigen, dass sich manche anderen Dinge unserer Erkenntnis entziehen« (Einleitung, § 6, S. 27). Was wir herausbekommen müssen, ist die Art und Weise, in der wir unsere Meinung – unsere Zustimmung – steuern können und sollen. Lockes überaus typische Aufklärerantwort lautet, dass wir unsere Meinung steuern sollten, indem wir der Vernunft folgen. Doch was bedeutet das? Was ist mit »Meinung« und was ist mit »Vernunft« gemeint, und wie kann es uns gelingen, jene zu steuern, indem wir dieser folgen?
1 Meinung Aussicht darauf, die diskussions- und streitlustige Menge der uns plagenden und einander bekämpfenden Meinungen in den Griff zu bekommen, besteht nach Locke nur dann, wenn es uns gelingt, unsere Meinungen und unsere Zustimmung auf richtige Weise im Zaum zu halten. Im Anschluss an Platon begreift Locke die Meinung als etwas, was zum Wissen – zur Erkenntnis – im Gegensatz steht. Um einzusehen, was er unter Meinung versteht, müssen wir uns daher seine Ansichten über die Erkenntnis vornehmen. Nach seiner Auffassung gibt es vier Formen von Erkenntnis, die allesamt Gewissheit beinhalten. Die erste ist die von ihm als mustergültig angesehene Form von Erkenntnis, nämlich die Wahrnehmung der »Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung unserer Ideen«. So ohne weiteres ist nicht genau zu erkennen, was ihm hier vorschwebt, aber die hier gemeinte Hauptform des Wissens ist die Kenntnis von selbst einleuchtender Aussagen, wie z. B. 2 + 1 = 3.¹² Ein richtig funktionierender Mensch kann ohne weiteres sehen, dass derartige Aussagen wahr sind (und auch, dass sie unmöglich falsch sein können). Bei solchen Überzeugungen steht mögliche Steuerung gar nicht erst zur Debatte, wie Locke sagt, denn ein richtig gebauter Mensch ist gar nicht dazu imstande, sich bei von selbst einleuchtenden Aussagen der Zustimmung zu enthalten: »Dieser Teil der Erkenntnis ist unwiderstehlich; er drängt sich wie der helle Sonnenschein unmittelbar der Wahrnehmung auf, sobald sich der Geist nur der entsprechenden Richtung zuwendet. Er lässt keinerlei Spielraum für ein Schwanken, Zweifeln oder Prüfen; der Geist ist vielmehr im Nu mit seinem hellen Licht erfüllt« (IV, 2, § 1, Bd. II, S. 175). Diese Form des Wissens ist gewiss. »Sie ist gewiß und über jeden Zweifel erhaben; sie benötigt keinen Beweis, ja, sie kann gar
Eine Erklärung des Begriffs der Evidenz – des Einleuchtens – findet der Leser im 6. Kapitel von WPF.
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nicht bewiesen werden. Es handelt sich nämlich hierbei um die höchste aller menschlichen Gewißheit« (IV, 17, § 14, S. 385). Zweitens gibt es die Kenntnis von Aussagen über den Inhalt des eigenen Geistes, also von Aussagen über die Ideen, deren Träger man selbst ist. Ein Beispiel wäre das Wissen, dass man am linken Ellenbogen einen geringfügigen Schmerz empfindet oder dass man etwas Weißes zu sehen scheint (d. h., die Dinge sehen so aus, wie sie aussehen, wenn man tatsächlich etwas Weißes sieht). Dieses Wissen ist, wie Locke sagt, unfehlbar (IV, 1, § 4, S. 168 u. ö.). Das bedeutet zumindest, dass man eine solche Aussage nicht fälschlich glauben kann. Wenn man glaubt, dass man etwas Weißes zu sehen scheint, so folgt daraus, dass man tatsächlich etwas Weißes zu sehen scheint (obgleich man sich natürlich in der Annahme irren kann, dass dort wirklich etwas Weißes ist). Einem späteren Sprachgebrauch folgend, wollen wir sagen, derartige Aussagen über meine eigenen mentalen Zustände seien aus meiner Sicht unkorrigierbar. Drittens gibt es eine Form der Kenntnis von »fremden Dingen« – von äußeren Dingen, die uns umgeben: Die größte Gewißheit hierfür, die ich überhaupt haben und mit meinen Fähigkeiten erlangen kann, ist das Zeugnis meiner Augen; sie sind die zuständigen und alleinigen Richter in dieser Frage. Das Zeugnis meiner Augen kann ich mit Recht als so zuverlässig ansehen, daß ich – während ich schreibe – ebensowenig daran zweifeln kann, dass ich schwarz und weiß sehe und daß wirklich etwas existiert, das jene Sensation in mir verursacht, wie daß ich schreibe oder meine Hand bewege. Letzteres aber ist eine Gewißheit, die so groß ist, daß die menschliche Natur von der Existenz irgendeines Dinges – abgesehen von der des eigenen Ichs und dem Dasein Gottes – keine größere zu erlangen vermag. (IV, 11, § 2, S. 311– 312; vgl. IV, 2, § 14, S. 183 – 184)
Es ist nicht völlig klar, was ich hier eigentlich weiß.Weiß ich, dass das Blatt Papier weiß ist, dass sich meine Hand bewegt und dass die Tinte schwarz ist? Locke äußert sich mal so, mal so. Manchmal (beispielsweise wenn er sich über das Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft äußert) drückt er sich so aus, als schlösse unsere Erkenntnis äußerer Gegenstände das Alltagswissen ein, zu dem wir durch Wahrnehmung gelangen, etwa dass sich meine Hand bewegt, dass die Bäume im Hinterhof blühen usw. Bei anderen Gelegenheiten – und vielleicht sind das Situationen, in denen er vorsichtiger ist oder zumindest in eher offizieller Rolle spricht – deutet er an, unsere Kenntnis der Außenwelt sei viel dürftiger, etwa wie: Meine gegenwärtigen Ideen der Baumheit und des Grünen werden von etwas verursacht, was sich außer mir befindet. Vielleicht weiß ich zwar nicht, wie diese äußeren Gegenstände beschaffen sind (weiß also nicht, dass auch Bäume, Blüten oder grüne Gegenstände dazu gehören), aber ich weiß, dass es überhaupt etwas Äußeres gibt, was die Ursache dafür ist, dass ich diese Ideen habe.
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Die vierte Form des Wissens ist die demonstrative Erkenntnis. Man kann zur Kenntnis einer Aussage gelangen, indem man sie aus Aussagen der drei genannten Arten herleitet oder sieht, dass sie aus ihnen folgen (eine Aussage p folgt genau dann aus einer Aussage q, wenn es im weiten logischen Sinne unmöglich ist, dass p wahr und q falsch ist).¹³ Dementsprechend sind einige Aussagen, die man aus von selbst einleuchtenden, unkorrigierbaren oder den Sinnen evidenten Aussagen ableiten kann, ebenfalls gewiss; und zu diesen Aussagen gehört nach Lockes Auffassung die Behauptung der Existenz Gottes (IV, 10, §§ 1– 6, S. 295 – 298). Tatsächlich fügt er dem Bisherigen hinzu: »Für mich ergibt sich aus dem Gesagten klar, daß wir von der Existenz Gottes eine gewissere Erkenntnis besitzen als von irgendeinem andern Ding, das uns unsere Sinne nicht unmittelbar enthüllt haben« (§ 6, S. 298). Sobald es um Wissen geht, können wir unsere Zustimmung also gar nicht steuern. Die Zustimmung wird uns nolens volens entlockt, und die Frage, wie wir in diesem Bereich die Zustimmung regulieren sollen, stellt sich daher gar nicht. (Man kann sie genausowenig steuern, wie man die Richtung steuern kann, in der man fällt, wenn man von einer Klippe stürzt.) Natürlich bildet das Wissen nur einen Teil der Überzeugungen, die in der noetischen Struktur des Menschen vorkommen, und nach Locke handelt es sich sogar um einen relativ kleinen Teil (»Unser Wissen ist,wie bereits dargelegt, ein sehr beschränktes«, IV, 15, § 2, S. 344). Es sind die Meinungen, die den größten Teil dessen umschließen, was wir normalerweise glauben; und im Hinblick auf Meinungen – also das, was wir zwar glauben, aber nicht wissen – stellt sich die Frage der Steuerung tatsächlich.
2 Vernunft Die entscheidende Behauptung Lockes ist die, dass wir uns bei der Bildung unserer Meinungen von der Vernunft leiten lassen müssen. Doch was ist die Vernunft eigentlich? Erstens ist sie eine »Fähigkeit, die dem Menschen eigentümlich ist, […] durch die sich der Mensch unserer Ansicht nach von den Tieren unterscheidet und worin er sie offensichtlich weit übertrifft« (IV, 17, § 1, S. 363). Zweitens ist die Vernunft das Vermögen, mit dessen Hilfe wir die zwischen Aussagen bestehenden, im weiten Sinne logischen Beziehungen unterscheiden können (IV, 18, § 3, S. 394).
Natürlich ist es weder der Fall noch überhaupt möglich, alle Aussagen zu kennen, die aus Aussagen der bereits genannten Art folgen. Manche sind womöglich viel zu kompliziert und zu schwierig, um sie zu begreifen,während andere so beschaffen sind, dass man den Zusammenhang zwischen ihnen und Aussagen der genannten drei Arten einfach nicht sieht. Darüber hinaus gibt es solche, für die gilt, dass die diesbezüglichen Argumente so lang und so kompliziert sind, dass es einfach an der Gewissheit fehlt, die eine Vorbedingung der Erkenntnis ist.
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Diese Aussagen sind natürlich die Anwärter auf unsere Zustimmung – die Dinge, die wir glauben. Indem wir unsere Vernunft zum Einsatz bringen, halten wir insbesondere die folgenden beiden Arten von Beziehungen zwischen Aussagen auseinander: Der größte Teil unseres Wissens beruht auf Ableitungen und vermittelnden Ideen; und zwar müssen wir in den Fällen, wo wir gezwungen sind, statt des Wissens unsere Zustimmung einzusetzen und Sätze als wahr anzusehen, ohne daß wir mit Bestimmtheit wissen, ob sie es sind, die Gründe für ihre Wahrscheinlichkeit auffinden, untersuchen und vergleichen. In beiden genannten Fällen nennen wir die Fähigkeit, die die Mittel auffindet und richtig anwendet, um das eine Mal die Gewißheit, das andere Mal die Wahrscheinlichkeit zu entdecken, Vernunft. Denn wie die Vernunft auf jeder Stufe einer jeden Demonstration, durch die ein Wissen zustandekommt, die notwendige und unzweifelhafte Verbindung aller Ideen oder Beweismittel untereinander wahrnimmt, so nimmt sie auch die wahrscheinliche Verbindung aller Ideen oder Beweismittel untereinander in jedem Stadium einer Darlegung wahr, der ihrer Meinung nach Zustimmung gebührt. (IV, 17, § 2, S. 364)
Es ist also die Vernunft, die es uns ermöglicht, deduktive und probabilistische Beziehungen zwischen Aussagen wahrzunehmen. Über die zwischen Aussagen bestehenden deduktiven Beziehungen brauchen wir hier nichts weiter zu sagen; und obschon über die Wahrscheinlichkeit eine ganze Menge gesagt werden müsste, schweigt sich Locke darüber aus. Ein kleines bisschen sagt er allerdings doch, und zwar zunächst mit der ziemlich glücklosen Formulierung: »Wahrscheinlichkeit bedeutet den Schein der Wahrheit« (IV, 15, § 3, S. 345). Das Uninformative dieser Feststellung wird jedoch durch den Hinweis abgemildert,¹⁴ die Wahrscheinlichkeit hänge mit dem zusammen, was in unserer Erfahrung »meistens« geschieht. Dem wiederum fügt er hinzu, dass sich Wahrscheinlichkeit auch auf Fremdaussagen gründen kann (IV, 15, § 4, S. 345). Offenbar begreift Locke die Wahrscheinlichkeit als eine objektive Beziehung zwischen Aussagen, und vermutlich hält er sie für eine quasi logische Beziehung zwischen ihnen. Vielleicht steht er mit seinen Ansichten also als Vorläufer der Auffassung von J. M. Keynes, Rudolf Carnap und anderen Autoren da.¹⁵ Ferner sei die Wahrscheinlichkeit eine graduelle Angelegenheit: »Auf den genannten Gründen beruht die Wahrscheinlichkeit eines Satzes; je nachdem nun die Gleichartigkeit unseres Wissens, die Zuverlässigkeit der Beobachtungen, die Häufigkeit und Beständigkeit der Erfahrungen, die Zahl und die Glaubwürdigkeit der Zeugnisse mit einem Satz mehr oder weniger im Einklang stehen, ist er in sich selbst mehr oder weniger wahr-
Ein ähnlicher Hinweis findet sich auch bei Aristoteles, siehe WPF, S. 159. Seine Ausführungen sind allerdings auch mit anderen Auffassungen vereinbar, unter anderem auch mit dem Vorschlag, den ich im 9. Kapitel von WPF gemacht habe.
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scheinlich« (IV, 15, § 6, S. 347). An dieser Stelle scheint Locke den Gedanken nahezulegen, eine Aussage sei »in sich selbst« bis zu einem bestimmten Grad wahrscheinlich. Aber man macht sich vermutlich ein besseres Bild, wenn man ihm die Auffassung zuschreibt, Wahrscheinlichkeit sei eine Beziehung zwischen Aussagen. Einen bestimmten Wahrscheinlichkeitsgrad hat die Aussage »für mich« (d. h. relativ zu jenen Aussagen, die aus meinem Blickwinkel gewiss sind).Was im Hinblick auf meine Meinungsbildung den Ausschlag gibt, ist die Wahrscheinlichkeit, die der fraglichen Aussage im Verhältnis zu den aus meiner Sicht gewissen Aussagen zukommt.
3 Ausrichtung der Meinung an der Vernunft Lockes These besagt, wir sollten unsere Meinungen bzw. unsere Zustimmung nach der Vernunft ausrichten. Doch was bedeutet das? Wie stellt man so etwas an? Im Grunde läuft seine Antwort darauf hinaus, dass man die eigene Meinung in solcher Weise steuern müsse, dass man nur Meinungen vertritt, die im Verhältnis zu den eigenen Gewissheiten wahrscheinlich sind.Wenn es um echtes Wissen geht – also um etwas, was aus meiner Sicht gewiss ist –, habe ich keine Kontrolle über meine Zustimmung. Geht es jedoch um Meinungen – also um Ungewisses –, unterliegt die Zustimmung tatsächlich meiner Kontrolle. Hier gilt die Regel, dass man einer Aussage nur dann zustimmen darf, wenn sie im Verhältnis zu den Aussagen, die aus eigener Sicht gewiss sind, wahrscheinlich ist. Außerdem ist die Zustimmung eine graduelle Angelegenheit (IV, 16, § 1, S. 348).¹⁶ Um es genauer zu formulieren, lautet die Regel also: Man sollte den Grad der Zustimmung im Verhältnis zur Wahrscheinlichkeit der betreffenden Aussagen zumessen: »Im vorigen Kapitel haben wir die Gründe der Wahrscheinlichkeit angegeben. Sie stellen nicht nur die Grundlagen dar, auf denen unsere Zustimmung beruht, sondern bilden auch den Maßstab, nach dem die verschiedenen Grade der Wahrscheinlichkeit bemessen werden oder bemessen werden sollten« (IV, 16, § 1, S. 347– 348). Um es spezifischer auszudrücken: Bei jeder Aussage, die meine Aufmerksamkeit erregt, sollte ich den Hier möchte Locke vermutlich auf zwei verschiedene Phänomene hinweisen, nämlich erstens, dass man von einigen Aussagen fester überzeugt ist als von anderen, und zweitens, dass manche Aussagen nach unserem Urteil wahrscheinlicher sind als andere. Ein Beispiel für den ersten Sachverhalt wäre folgendes: Davon, dass 7 + 5 = 12, bin ich fester überzeugt, als davon, dass Glasgow westlich von Aberdeen liegt, obschon ich beide Aussagen in der Tat für richtig halte. Zur Veranschaulichung des zweiten Phänomens möchte ich folgendes Beispiel nennen: Nach meiner Überzeugung ist es einigermaßen wahrscheinlich, dass alle Erdkontinente früher einmal einen einzigen Großkontinent gebildet haben. Für noch wahrscheinlicher halte ich es allerdings, dass die Shakespeare zugeschriebenen Werke wirklich von Shakespeare – und nicht etwa von Bacon – stammen.
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Grad meiner Zustimmung nach dem Wahrscheinlichkeitsgrad zumessen, der dieser Aussage im Verhältnis zu den aus meiner Sicht gewissen Aussagen zukommt. Das richtige Verfahren besteht hier darin, dass man »keinen Satz mit größerer Zuversicht aufrecht erhält, als es die Beweise, auf die er sich stützt, rechtfertigen« (IV, 19, § 1, S. 404) – wobei sowohl probabilistische als auch deduktive Beweise in Frage kommen. Mit anderen Worten: Man sollte den Grad der Zustimmung entsprechend den Belegen zumessen, d. h., man sollte die Aussage p mit der Festigkeit glauben, die dem Grad der Wahrscheinlichkeit von p im Verhältnis zu den eigenen Gewissheiten entspricht. Das ist mit der These gemeint, man sollte die Meinung an der Vernunft ausrichten bzw. sie der Vernunft gemäß steuern.
B Offenbarung Die Frage, von der die ganze Diskussion in Gang gebracht wurde, die dann in den neunhundert Seiten des Essay mündete, bezog sich auf »die Prinzipien der Moral und der offenbarten Religion«. Jetzt sehen wir aber, dass wir unsere Meinung nach der Vernunft ausrichten, also unseren Glauben an die jeweilige Aussage nach dem Wahrscheinlichkeitsgrad im Verhältnis zu den eigenen Gewissheiten zumessen sollen. Heißt das nun, dass die göttliche Offenbarung – die »offenbarte Religion« – bei der richtigen Steuerung unserer Meinungen keine Rolle spielen soll? Sofern diese Steuerung verlangt, dass wir den Grad der Zustimmung nach den gegebenen Belegen zumessen, fragt es sich, welcher Raum da noch für Zustimmung zu den »großen Dingen des Evangeliums« bleibt (um mit Jonathan Edwards zu reden), also zur Fleischwerdung, zur Buße und zu weiteren zentralen Merkmalen des Christentums. Müssen wir den Schluss ziehen, dass Gott uns keine Aussagen zu offenbaren vermag, die dem Gebrauch unserer natürlichen Fähigkeiten entzogen wären? Nein, bestimmt nicht: »Gott hat sich, indem er uns das Licht der Vernunft gegeben hat, nicht die Hände gebunden; er kann uns, sofern er es für angebracht hält, bei [bestimmten] Dingen das Licht der Offenbarung zuteil werden lassen« (IV, 18, § 8, S. 400). Allerdings stellt sich auch dann, wenn er uns das Licht der Offenbarung zuteil werden lässt, die Frage, ob wir die Zustimmung nicht so steuern müssen, dass wir das von Gott Offenbarte nur dann glauben,wenn es im Verhältnis zu unseren Gewissheiten wahrscheinlich ist. Wenn ja, wie können wir dann die Behauptung akzeptieren, die göttliche Lehre sei durch die Offenbarung vermittelt? Im Verhältnis zu von selbst einleuchtenden Aussagen oder Aussagen über die eigenen psychischen Zustände wirken die Fleischwerdung, die Buße und die Dreifaltigkeit nicht sonderlich wahrscheinlich.
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Darauf erwidert Locke zunächst einmal, Gott könne tatsächlich solche Wahrheiten offenbaren und tue es auch. Was er offenbart, sollte auch gewiss geglaubt werden, denn »wir könnten ebensogut an unserem eigenen Dasein zweifeln wie daran, daß eine Offenbarung von Gott wahr sei« (IV, 16, § 14, S. 362). »Alles, was Gott geoffenbart, ist sicherlich wahr; daran ist jeder Zweifel ausgeschlossen« (IV, 18, § 10, S. 402). Aber meint Locke, diese großen Wahrheiten seien im Verhältnis zu unseren Gewissheiten wahrscheinlich? Als erstes betont er mehrmals, dass wir nicht wirklich glauben können, was der Vernunft insofern zuwiderläuft, als es gegen die Prinzipien der Erkenntnis verstößt: Denn nie kann jemand mit ebenso großer Sicherheit wissen, daß ein Satz, der den klaren Prinzipien und dem Zeugnis seiner eigenen Erkenntnis widerspricht, von Gott geoffenbart sei oder daß er den überlieferten Wortlaut desselben richtig verstehe, wie er weiß, daß das Gegenteil wahr ist; deshalb ist es denn auch seine Pflicht, jenen Satz als Sache der Vernunft zu prüfen und zu beurteilen; er darf ihn nicht etwa unbesehen als Glaubenssache hinnehmen. (IV, 18, § 8, S. 401)
Um der Zustimmung würdig zu sein, ist allerdings nicht verlangt, dass eine solche Lehre im Verhältnis zu meinen Gewissheiten wahrscheinlich sei. Was tatsächlich in dieser Weise wahrscheinlich sein muss, ist vielmehr die Aussage, dass die betreffende Lehre wirklich offenbart, uns also in der Tat von Gott zur Zustimmung vorgelegt wurde: So bildet der Glaube ein feststehendes, zuverlässiges Prinzip der Zustimmung und Überzeugung, das auf keine Weise Spielraum für Zweifel oder Bedenken läßt. Nur müssen wir dessen gewiß sein, daß wir es mit einer göttlichen Offenbarung zu tun haben und daß wir sie recht verstehen; denn wir setzen uns allen Überspanntheiten der Schwärmerei […] aus. (IV, 16, § 14, S. 362)
Ferner gilt: Alles, was Gott geoffenbart hat, ist sicherlich wahr; daran ist jeder Zweifel ausgeschlossen. Das bildet den eigentlichen Gegenstand des Glaubens. Ob aber etwas als göttliche Offenbarung anzusehen ist oder nicht, darüber muß die Vernunft entscheiden. (IV, 18, § 10, S. 402)
Ständig fragt Locke, woher man denn wisse, dass etwas von Gott herrührt. »Wie kann ich wissen, dass es Gott ist, der mir dies offenbart, dass dieser Eindruck auf meinen Geist durch seinen heiligen Geist hervorgebracht ist und ich ihm deshalb gehorchen muss? Wenn ich das nicht weiß, so ist meine Überzeugung – wie stark sie auch sein mag – grundlos; welches auch die Erleuchtung sei, die ich beanspruche: sie ist nichts als Schwärmerei« (IV, 19, § 10, S. 411). »Die Vernunft muß«,
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wie er sagt, »unser oberster Richter und Führer in allen Dingen sein« (IV, 19, § 14, S. 415, Hervorhebung von Locke). Anschließend fährt er fort und schreibt: Damit will ich nicht behaupten, daß wir die Vernunft zu Rate ziehen müßten, um zu untersuchen, ob ein Satz, der von Gott geoffenbart ist, sich durch natürliche Prinzipien ermitteln lasse, und daß wir ihn, wenn das nicht möglich ist, verwerfen dürfen. Wohl aber müssen wir die Vernunft zu Rate ziehen, um mit ihrer Hilfe zu prüfen, ob jener Satz von Gott geoffenbart sei oder nicht. Wenn die Vernunft dann findet, daß er geoffenbart sei, dann erklärt sie sich ebensosehr für ihn wie für irgendeine andere Wahrheit und macht ihn zu ihrer Richtschnur. (IV, 19, § 14, S. 415)
Alles in allem läuft Lockes Anschauung also auf folgendes hinaus: Zweifellos ist Gott dazu imstande, Wahrheiten zu offenbaren. Allerdings sind wir nicht dazu verpflichtet, irgendetwas als Offenbarung zu akzeptieren, was gegen etwas andernfalls Gewusstes verstieße – und zwar auch dann, wenn es sich um die unterste Ebene des Wissens handelt. Außerdem gilt: Wenn es um die Frage geht, ob p wirklich offenbart wurde, und keine aus Gewissheiten resultierenden Belege gegeben sind, kann die epistemische Wahrscheinlichkeit von p nicht größer sein als die Wahrscheinlichkeit der Aussage, p sei tatsächlich von Gott offenbart worden (IV, 16, § 14, S. 383). Demnach müssen wir uns bei der Bildung unserer religiösen Meinungen tatsächlich an die Vernunft halten, was uns jedoch nicht daran hindert, bestimmte Aussagen als spezielle Offenbarungen Gottes gelten zu lassen und sie auf ebendieser Basis zu akzeptieren.
II Klassische Belegthese, Deontologismus und Fundierungsgedanke In meinem Buch God and Other Minds ging ich von dem folgenden Gedanken aus, der seinerzeit als Axiom galt: Der Glaube an Gott lässt sich nur dann rational rechtfertigen, wenn gute Argumente dafür sprechen und wenn die dafür sprechenden Argumente triftiger sind als die Gegenargumente. Die Quelle – oder zumindest die unmittelbare Quelle – dieser Vorstellung findet sich in dem eben skizzierten Werk Lockes. Eine Überzeugung ist nach seiner These nur dann akzeptabel, wenn sie entweder ihrerseits gewiss oder im Verhältnis zu Aussagen, die aus meiner Sicht gewiss sind, wahrscheinlich ist (d. h. wahrscheinlicher ist als ihre Negation). Es liegt auf der Hand, dass der christliche Glaube für mich keine Gewissheit darstellt, denn er leuchtet nicht von selbst ein und ist weder unkorrigierbar noch eine unmittelbare Gegebenheit der Sinne. Also muss er, um akzeptiert werden zu können, im Verhältnis zu solchen Aussagen wahrscheinlich sein. Die Frage, ob ich wissen bzw. glauben muss, dass der Glaube diese Wahrschein-
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lichkeit besitzt, damit er für mich akzeptabel ist, wird von Locke, soweit ich weiß, nicht explizit aufgeworfen, aber vermutlich geht er davon aus, dass der Glaube solchermaßen wahrscheinlich ist. Er denkt sich die Sache so, dass hier ein Test angewandt wird: Eine bestimmte Überzeugung p gerät in unseren Gesichtskreis, und nun sollen wir feststellen, ob sie im Verhältnis zu unseren Gewissheiten wahrscheinlich ist, um herauszubekommen, ob wir sie akzeptieren können. Doch dann wird man diese Überzeugung nur gelten lassen, sofern man sieht oder glaubt, dass sie diesen Test tatsächlich besteht. Die Belegthese läuft auf die Behauptung hinaus, der religiöse Glaube sei nur unter der Voraussetzung akzeptabel, dass triftige Argumente für ihn sprechen. Locke ist sowohl ein mustergültiger Vertreter der Belegthese als auch unsere unmittelbare Quelle für die gesamte belegtheoretische Tradition,¹⁷ die von ihm ausgehend über Hume, Reid und Kant durch das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch bis zum heutigen Tag reicht. Lockes klassische Belegthese ist nur ein Element eines größeren Ganzen, das außerdem die klassische Fundierungstheorie und den klassischen Deontologismus umfasst. In der Erkenntnistheorie ist dieser verknüpfte Komplex aus Thesen und Einstellungen seit der Aufklärung überaus wirksam gewesen, und vor allem ist er im Hinblick auf unsere Frage äußerst einflussreich gewesen, also im Hinblick auf die Frage der Möglichkeit, den religiösen Glauben rational zu rechtfertigen. Diesen Komplex wollen wir das klassische Paket nennen. Das klassische Paket enthält bestimmte Formen des Denkens im Hinblick auf Glauben, Vernunft, Rationalität, Rechtfertigung, Wissen, das Wesen des Glaubens und weitere damit zusammenhängende Themen. Bei der Betonung der Wichtigkeit dieser Formen des Denkens für die De-jure-Frage kann man kaum zu weit gehen. Wir haben bereits gesehen, inwiefern Locke die Quelle der belegtheoretischen Tradition (also eines Bestandteils des klassischen Pakets) ist; aber für uns moderne (und postmoderne) Menschen ist er zugleich eine Hauptquelle der übrigen beiden Bestandteile, also des klassischen Fundie-
In meinem Aufsatz »Reason and Belief in God« habe ich geltend gemacht, Thomas von Aquin habe ebenfalls eine solche Belegthese vertreten. Dagegen haben mehrere Autoren protestiert (darunter Alfred Freddoso, Norman Kretzmann, Eleonore Stump, Linda Zagzebski und John Zeis, siehe »Natural Theology: Reformed?«, in: Linda Zagzebski [Hg.], Rational Faith: Catholic Responses to Reformed Epistemology, Notre Dame: University of Notre Dame Press 1993, S. 72). Ich wurde darauf hingewiesen, dass die Dinge sehr viel komplizierter liegen, als ich geglaubt hatte. Tatsächlich verhält es sich so, dass Thomas zwar im Hinblick auf die scientia – die wissenschaftliche Erkenntnis – eine Belegthese vertritt, woraus aber nicht folgt, nach seiner Ansicht könne man den Glauben an Gott eigentlich nur dann akzeptieren, wenn man über triftige theistische Argumente verfügt (oder sofern es solche Argumente gibt). Ganz im Gegenteil ist Thomas der Ansicht, es sei völlig sinnvoll und vernünftig, den Glauben an Gott auf Treu und Glauben zu akzeptieren.
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rungsgedankens und des klassischen Deontologismus. Auf diese beiden Elemente werde ich jetzt zu sprechen kommen.¹⁸
A Der klassische Fundierungsgedanke Zunächst einmal ist der klassische Fundierungsgedanke vor allem ein Fundierungsgedanke. Die in diesem Zusammenhang entscheidende Vorstellung ist die, dass man eine Aussage auf der Belegbasis anderer Aussagen glaube. Ebenso wie bei jeder anderen wichtigen philosophischen Vorstellung, gibt es auch hier Probleme, Komplikationen und Verwicklungen. Die wollen wir hier außer acht lassen. Die Vorstellung als solche ist durchaus nützlich, auch wenn sie nicht durch und durch klar ist. Immerhin gibt es klare Beispiele: Ich glaube, dass 32 · 94 gleich 3008 ist (ich habe es gerade ausgerechnet). Diese Aussage wiederum halte ich auf der Belegbasis anderer Aussagen für wahr, unter anderem aufgrund von 4 · 2 = 8, 4 · 3 = 12, 8 + 2 = 10 usw. Diese letzteren Aussagen jedoch halte ich nicht auf der Belegbasis weiterer Aussagen für wahr. Vielmehr sind sie für mich »basal«. Ich sehe einfach, dass sie wahr sind, und ich akzeptiere sie. Es gibt viele Aussagen, die ich in dieser basalen Weise akzeptiere, wie z. B.: In meinem Hinterhof liegt Schnee, und dieser ist nach wie vor weiß. Ferner glaube ich in dieser basalen Weise, dass es mir so erscheint, als sehe ich etwas Weißes (mir wird weiß-erschienen), dass ich zum Frühstück Cornflakes gegessen habe und tausend weitere Dinge. Die Aussagen, die ich in basaler Weise akzeptiere, sind sozusagen Ausgangspunkte meines Denkens. (Das heißt freilich nicht, dass etwas als basal Hingenommenes nicht von weiteren Dingen abhängt, die man weiß oder glaubt. Ich für mein Teil glaube in basaler Weise, dass das, was ich da auf mich zukommen sehe, ein Lastwagen ist. Wer keine Lastwagen oder überhaupt keine Kraftfahrzeuge kennt, wäre völlig außerstande, diese Überzeugung zu bilden, geschweige denn, sie in basaler Weise zu vertreten.) Die Aussagen, die ich in dieser basalen Weise gelten lasse, bilden das Fundament meines Gerüsts von Überzeugungen – meiner »noetischen Struktur«, wie ich sie nennen werde, um die Bezugnahme zu erleichtern.¹⁹ Dem Fundierungstheoretiker zufolge gehört jede Aussage einer akzeptablen, richtig gebildeten noetischen Struktur entweder zum Fundament oder wird aufgrund der Belegbasis weiterer Aussagen geglaubt. Soviel ist eigentlich trivialerweise wahr, denn eine Eine ins einzelne gehende Untersuchung des klassischen Fundierungsgedankens findet der Leser in WCD und »Reason and Belief in God«. Hier werde ich mich kurz fassen und eine schematische Darstellung geben. Zum Begriff der noetischen Struktur siehe WCD, S. 72 ff.
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Aussage gehört genau dann zum Fundament meiner noetischen Struktur, wenn sie für mich basal ist, und sie ist genau dann basal für mich, wenn ich sie nicht aufgrund der Belegbasis weiterer Aussagen akzeptiere. Dieser Teil des Fundierungsgedankens sollte unstrittig sein und von allen akzeptiert werden.²⁰ Ferner gilt die (ebenfalls unstrittige) These, dass es zu jeder nicht im Fundament verankerten Aussage meiner noetischen Struktur einen Belegpfad gibt, der zum Fundament führt und dort endet. Das heißt, sofern die Aussage A für mich nichtbasal ist, halte ich sie aufgrund einer anderen Aussage B für wahr, die ich ihrerseits aufgrund einer weiteren Aussage C für wahr halte – usw. bis hinab zu einer fundierenden Aussage oder mehreren fundierenden Aussagen.²¹ Soviel wird von Locke offensichtlich akzeptiert. Aber er akzeptiert noch mehr. Wer den Fundierungsgedanken vertritt, wird im Regelfall auch behaupten, dass nicht jede Überzeugung angemessen basal sei. Manche Aussagen sind derart, dass meine noetische Struktur etwas Verfehltes, etwas Schiefes und Ungerechtfertigtes bekommt, wenn ich sie in der basalen Weise akzeptiere. Stellen wir uns etwa vor, aufgrund meiner gewaltigen Verehrung für Picasso komme ich plötzlich zu der Überzeugung, er sei nie wirklich gestorben, sondern wie Elija direkt in den Himmel gefahren (und zwar in einem eigentümlich schrägen Wagen mit einem großen, ungestalten Auge mitten auf der Seite). Diese Aussage halte ich nicht aufgrund der Belegbasis irgendwelcher anderen Aussagen für wahr, sondern für mich ist sie basal. Aber es hat etwas Verfehltes, Falsches, Missglücktes, dass ich diese Aussage in basaler Weise glaube. Sie ist nicht angemessen basal. Sobald der Vertreter des Fundierungsgedankens feststellt, dass nur manche Aussagen in angemessener Form basal zu sein scheinen, kann er fortfahren und Bedingungen der angemessenen Basalität aufstellen, wobei er diesen oder jenen Aussagen den hohen Rang zugesteht, während andere abgelehnt werden. Außerdem meint der klassische Fundierungstheoretiker, die einzigen Aussagen, die für mich angemessen basal seien, seien jene, die aus meiner Sicht gewiss sind. Gewissheit ist ebenfalls ein schwieriger und umstrittener Begriff. Auch in diesem Fall wollen wir die Schwierigkeiten und die Streitigkeiten außer acht lassen und festhalten, dass sich die Vertreter des klassischen Fundierungsgedankens nicht immer einig sind über die Frage, welche Aussagen eigentlich gewiss sind. Descartes lässt nur Aussagen zu, die von selbst einleuchten oder unkorrigierbar sind. Von Locke werden diese Aussagen zu den angemessen basalen gerechnet, doch bei ihm kommen, wie schon gesagt, Aussagen hinzu, die »den Sinnen evident« sind – jedenfalls Aussagen wie »Etwas ist die Ursache dafür, dass
Er sollte sogar von Vertretern einer Kohärenztheorie akzeptiert werden. Siehe WCD, S. 78 ff. Siehe »Reason and Belief in God«, S. 54.
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ich jetzt die Ideen habe, die mir tatsächlich vorschweben«, möglicherweise aber auch robustere Aussagen, wie z. B. »In meinem Hinterhof scheint der Boden durch den Schnee hindurch«. Bedienen wir uns einer etwas vagen Formulierung und sagen wir, dem klassischen Fundierungsgedanken zufolge sei eine Aussage für eine Person S genau dann angemessen basal, wenn sie S von selbst einleuchtet, für S unkorrigierbar ist oder den Sinnen von S evident ist. Außerdem meint der klassische Fundierungstheoretiker (ebenso wie jeder andere auch), dass es nicht möglich ist, jede Aussage auf der Grundlage jeder beliebigen anderen Aussage angemessen zu glauben. So kann ich beispielsweise die Aussage, dass Abraham um 1800 v.Chr. gelebt hat, nicht angemessen auf der Basis der Aussage glauben, dass Julius Cäsar von Brutus erstochen wurde. Dieses hat in puncto Belege nichts mit jenem zu tun. Vielmehr glaube ich A auf der Basis von B nur dann in angemessener Form, wenn A von B gestützt wird, wenn also B wirklich ein Beleg für A ist. Diese Vorstellung von der Stützung durch Belege ist eine schwierige und kontroverse Sache,²² aber auch in diesem Fall wollen wir die Schwierigkeiten und Kontroversen außer acht lassen und festhalten, dass von verschiedenen Vertretern des klassischen Fundierungsgedankens verschiedene Belegbeziehungen vorgeschlagen und als notwendige Bedingungen für die Angemessenheit des auf B basierenden Glaubens an A hingestellt werden. Descartes meint offenbar, eine Aussage könne nur dann in den Überbau meiner noetischen Struktur aufgenommen werden, wenn ich sie aus Aussagen des Fundaments abgeleitet habe oder sehe, dass sie aus diesen Aussagen folgt. Das ist ein äußerst anspruchsvoller Maßstab (und tatsächlich wird sich herausstellen, dass nur wenige Aussagen zugelassen werden, wenn man diesen Maßstab anlegt). Locke gestattet außerdem probabilistische Stützen bzw. Belege, und überdies lässt er Fremdaussagen zu. Später sind Charles Sanders Peirce und andere Autoren noch weiter gegangen und haben obendrein die »Abduktion« (wie er sie nannte) zugelassen, wobei es sich um etwas ähnliches handelt wie die Beziehung zwischen einer wissenschaftlichen Theorie und dem Belegmaterial, auf dem sie basiert. Um den klassischen Fundierungsgedanken in besonders umfassender Form zu artikulieren, wollen wir daher folgendes sagen: (KF) Eine Überzeugung ist für den Betreffenden dann (und nur dann) akzeptabel, wenn sie entweder angemessen basal (also von selbst einleuchtend, unkorrigierbar oder den Sinnen des Betreffenden evident) ist oder auf der Belegbasis von Aussagen geglaubt wird, die akzeptabel sind und sie deduktiv, induktiv oder abduktiv stützen.
Siehe WCD, S. 69 ff.
II Klassische Belegthese, Deontologismus und Fundierungsgedanke
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In einem angemessen gewarteten noetischen Gerüst wird es sich daher wie folgt verhalten: Nimmt man eine Überzeugung Ü, die nicht basal ist (nicht zum Fundament gehört), wird Ü auf der Basis anderer Überzeugungen akzeptiert werden, sofern diese akzeptabel sind und Ü (deduktiv, induktiv oder abduktiv) stützen. Gehören diese anderen Überzeugungen nicht zum Fundament, werden sie ihrerseits auf der Basis wieder anderer Überzeugungen akzeptiert werden, die akzeptabel sind und sie stützen usw. bis hinab zum Fundament, d. h. bis hinab zu den Aussagen, die dem Betreffenden von selbst einleuchten, für ihn unkorrigierbar oder seinen Sinnen evident sind. Der klassische Fundierungsgedanke ist, wie gesagt, seit der Aufklärung bis heute enorm einflussreich gewesen. Für viele Philosophen und andere Autoren (und auch für mein früheres Ich) bedeutet er eine unbezweifelte Voraussetzung, die deshalb nicht in Frage gestellt wird, weil man sie nicht einmal klar genug erkennt, um einzusehen, dass es sich um eine Voraussetzung handelt. Lockes diesbezügliche Anschauungen gelten – insbesondere was den Bereich der Religion betrifft – als die orthodoxe Meinung, und die meisten Diskussionen über die rationale Rechtfertigung des religiösen Glaubens wurden und werden immer noch in diesem kritiklos hingenommenen Rahmen geführt. Mag sein, dass hie und da Modifikationen der einen oder anderen Art vorgenommen werden – analogische Erweiterungen des ursprünglichen Rahmens, Abweichungen der einen oder anderen Art. Mag sein, dass man ein gewisses Unbehagen empfindet und das dunkle Gefühl hat, dass vielleicht nicht alles in Ordnung ist. Dennoch bleibt der Basisrahmen für die meisten von uns in unmittelbarer Nähe des klassischen Fundierungsgedankens bestehen.
B Der klassische Deontologismus Jetzt müssen wir eine Frage stellen, die schon seit geraumer Zeit nach Aufmerksamkeit verlangt. Angenommen, unsere Überzeugungen entsprechen nicht den Maßstäben, die uns der Vertreter des klassischen Fundierungsgedankens oder der Belegthese vor Augen führt. Na und? Was ist es genau, was mit uns nicht stimmt? Man wird uns sagen, unser Überzeugungsgerüst sei inakzeptabel und rational nicht gerechtfertigt – wir selbst seien irrational. Aber wieder lautet die Antwort: Na und? Was ist daran auszusetzen, wenn man irrational ist oder Überzeugungen vertritt, die rational nicht gerechtfertigt sind? Es klingt zweifellos tadelnswert, aber worin besteht eigentlich das Problem? Das ist es, was wir herausbekommen
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müssen, um unsere De-jure-Frage zu verstehen. Betrachten wir beispielsweise John Mackies Buch über das Wunder des Theismus.²³ Er glaubt gezeigt zu haben, dass die zentralen Lehren des Theismus nicht rational bzw. »rational nicht zu verteidigen« sind, weil er (nach eigener Überzeugung) gezeigt hat, dass sie im Verhältnis zu den von ihm für relevant gehaltenen Belegen nicht wahrscheinlich sind. Was meint er hier mit »rational«? Wie verwendet er diesen äußerst wandlungsfähigen Ausdruck? Unterstellen wir einmal, er habe recht mit seiner Annahme, dass es irrational wäre, Theist zu sein, wenn der theistische Glaube im Verhältnis zu den Belegen (was immer das im einzelnen sein mag) nicht wahrscheinlich ist. Welche Bewandtnis hat es mit dieser Eigenschaft der Irrationalität, die dann den Theismus bzw. die Theisten heimsuchen würde? Darauf gibt Mackie keine Antwort. Mackie ist auch nicht der einzige, der die Antwort schuldig bleibt. Viele Vertreter der Belegthese, die den Theismus kritisieren, machen geltend, der theistische Glaube sei deshalb irrational, weil es nicht genügend Belege für ihn gebe. Offenbar sind sie der Überzeugung, dass Irrationalität etwas Schlimmes ist. Aber nur selten geben sie an, was denn daran so schlimm ist. Stattdessen gehen sie sogleich zu der Aufgabe über, aus ihrer Warte den Nachweis dafür zu erbringen, dass es tatsächlich keine ausreichenden Belege für den Glauben an Gott gibt. Dennoch bleibt die Vorfrage ausschlaggebend: Nicht ausreichend für was? Was soll am Glauben ohne Belege so schlimm sein? Die modernen theismuskritischen Vertreter der Belegthese machen (in den meisten Fällen) keine expliziten Angaben dazu. Ihr Vorläufer Locke jedoch sagt tatsächlich etwas darüber. Seine Frage lautet,wie wir uns erinnern: »Wie kann und soll sich ein vernünftiges Wesen, das in jene Lage versetzt ist, in der sich der Mensch auf der Erde befindet, seine Meinungen und seine von denselben abhängigen Handlungen einrichten?« Seine Antwort lautet, wie wir gesehen haben, dass ein vernünftiges Wesen, das sich in unserer Situation befindet, seine Meinungen nach der Vernunft ausrichten, also den Grad seiner Überzeugungen im Verhältnis zu den eigenen Gewissheiten zumessen sollte. Doch wie sind die Wörter »kann« und »soll« und »sollte« zu verstehen, deren sich Locke bedient, um sein Vorhaben darzulegen? Auf den ersten Blick haben seine Worte einen deontologischen Beigeschmack: Hier klingt alles nach Pflicht, Verpflichtung, Erlaubnis, Berechtigung und was sonst noch alles den Stallgeruch des Deontologischen hat. Bei näherem Hinsehen erweist sich, dass die Worte tatsächlich so aufzufassen sind. Die Idee, die Locke vorschwebt, ist die, dass wir die Pflicht haben – dass wir verpflichtet sind –, unsere
Mackie, The Miracle of Theism, Oxford: Oxford University Press 1982 (übers.von Rudolf Ginters, Das Wunder des Theismus: Argumente für und gegen die Existenz Gottes, Stuttgart: Reclam 1985).
II Klassische Belegthese, Deontologismus und Fundierungsgedanke
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Meinungen in der von ihm nahegelegten Weise zu steuern. Als Vernunftwesen, die glauben und wissen können, stehen wir im Genuss eines hohen Rangs. Allerdings gilt auch: Noblesse oblige – Privilegien gehen mit Verpflichtungen einher, und wir für unser Teil sind dazu verpflichtet, unser intellektuelles, kognitives Leben in bestimmter Weise zu führen. Der hohe Rang, den wir als rationale, vernunftbegabte Geschöpfe einnehmen, bringt Pflichten und Anforderungen mit sich: [D]er Glaube [ist] nichts anderes […] als die feste Zustimmung des Geistes, die, wenn sie geregelt wird, wie es unsere Pflicht erfordert, nur auf stichhaltige Vernunftgründe hin erteilt werden darf; also kann sie der Vernunft nicht widersprechen. Wer glaubt, ohne einen vernünftigen Grund zum Glauben zu haben, mag in seine eigenen Einbildungen verliebt sein. Aber er sucht weder die Wahrheit so, wie er sollte, noch erweist er seinem Schöpfer den schuldigen Gehorsam; denn es ist die Absicht des Schöpfers, daß der Mensch die Erkenntnisfähigkeit, die ihm verliehen wurde, anwenden soll, um Irrtum und Täuschung zu vermeiden. Wer das nicht nach besten Kräften tut, mag zwar bisweilen die Wahrheit treffen; er hat aber nur zufällig recht. Und ich gebe zu bedenken, ob der günstige Zufall für die Regelwidrigkeit seines Verfahrens als Entschuldigung dienen kann. Soviel steht wenigstens fest, daß er für alle Irrtümer, in die er hineingerät, verantwortlich ist. Dagegen darf jemand, der das Licht und die Fähigkeiten, die ihm Gott verliehen hat, ausnützt und aufrichtig bestrebt ist, mit den Hilfsmitteln und Kräften, die er besitzt, die Wahrheit zu ermitteln, die Befriedigung hegen, daß er seine Pflicht als vernunftbegabtes Wesen erfüllt, so daß ihm, auch wenn er die Wahrheit verfehlen sollte, doch der Lohn dafür nicht entgehen wird. Denn derjenige erteilt seine Zustimmung in der richtigen Weise und erteilt sie so, wie er soll, der sich hinsichtlich des Glaubens oder Nichtglaubens in jedem Fall und in jeder Angelegenheit von der Vernunft leiten läßt. Wer anders handelt, vergeht sich gegen die Erleuchtung, die er selbst besitzt, und mißbraucht die Fähigkeiten, die ihm zu keinem andern Zweck gegeben wurden als dazu, daß er die klarere Augenscheinlichkeit und die größere Wahrscheinlichkeit aufsucht und sich davon leiten läßt. (IV, 17, § 24, S. 391– 392)
Hier spricht Locke nicht vom spezifisch religiösen Glauben (also beispielsweise vom Glauben im Gegensatz zur Vernunft), sondern von der Zustimmung oder Meinung generell. Im Mittelpunkt steht hier die These, dass es im Hinblick auf die Leitung – die Steuerung – von Zustimmung oder Meinung Pflichten und Verpflichtungen gibt. Insbesondere sei man dazu verpflichtet, nur dann zuzustimmen, wenn man triftige Gründe dafür hat, mithin ausreichende Belege. Eine Aussage dürfe man nur dann akzeptieren, wenn sie mit Bezug auf die eigenen Gewissheiten wahrscheinlich ist. Wer die Meinung nicht auf diese Weise steuert, »sucht weder die Wahrheit so, wie er sollte, noch erweist er seinem Schöpfer den schuldigen Gehorsam« (Hervorhebungen hinzugefügt). Es ist Gottes Gebot, dass wir auf diese Weise nach Wahrheit streben und die Meinung steuern. Wer tatsächlich auf diese Weise nach Wahrheit strebt, darf selbst dann, wenn er sie verfehlt, »die Befriedigung hegen, dass er seine Pflicht als vernunftbegabtes Wesen erfüllt«. Man gibt seine Zustimmung »in der richtigen Weise«, wie Locke
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sagt, und man gibt sie so, wie man »sollte«, sofern man den Vorschriften der Vernunft gemäß glaubt oder nicht glaubt. Hält man sich nicht daran, vergeht man sich gegen die eigene Erleuchtung. Wer seine Meinungen so steuert, handelt pflichtgemäß, tut das Rechte,verstößt gegen keine Verpflichtung, macht sich nicht schuldig – mit einem Wort: er ist gerechtfertigt. Die entsprechenden englischen Ausdrücke »justified«, »justification« usw. gehen zumindest auf die King-James-Bibel zurück. Man ist in diesem Sinne gerechtfertigt (justified), wenn Christi Sühnopfer für uns gilt, so dass wir keine Schuld mehr tragen: Unsere Sünden sind zugedeckt, beseitigt, getilgt, weggenommen.Wir sind nicht mehr schuldig. Es verhält sich (was die Schuld betrifft) so, als hätte es unsere Sünde nie gegeben. Tatsächlich geht der Ausdruck in dieser Bedeutung auf die Bibelübersetzung von Wycliffe (1382) zurück. Das Oxford English Dictionary zitiert insbesondere den Römerbrief (5, 16). Im Grunde behauptet Locke, man sei, indem man die Aussage p glaube, nur dann in diesem Sinne gerechtfertigt (schuldlos, in Einklang mit Verpflichtungen und Pflichten), wenn p zu den eigenen Gewissheiten gehört oder im Verhältnis zu Aussagen, die zu den Gewissheiten gehören, wahrscheinlich ist. Glaubt man auf andere Weise, handelt man den epistemischen Verpflichtungen zuwider; man macht sich schuldig und verstößt gegen seine epistemische Pflicht. Das ist der ursprüngliche Grundgedanke der rechtfertigungstheoretischen Tradition: der Urtext, in dessen Terminologie die übrigen rechtfertigungstheoretischen Begriffe mit Hilfe analogischer Erweiterungen zu verstehen sind. Und solche analogischen Erweiterungen gibt es natürlich. Um ein Beispiel zu nennen: Glaubt man im Anschluss an Locke, dass wir tatsächlich eine solche Pflicht haben, wird man dazu neigen, das Wort »gerechtfertigt« vom Glaubenden auf das Geglaubte zu übertragen und – unserem faktischen Sprachgebrauch gemäß – sagen, eine Aussage sei gerechtfertigt oder sei aus der Sicht einer bestimmten Person gerechtfertigt (womit dann gemeint ist, diese Person verfüge über stattliches Belegmaterial für die fragliche Aussage). Außerdem wird man zweifellos sagen, es gebe ein erhebliches Maß an Rechtfertigung bzw. rationaler Rechtfertigung für die gegebene Aussage, womit gemeint ist, dass es üppige Belege dafür gibt.²⁴
Es gibt viele weitere analogische Erweiterungen bzw. Einschränkungen dieses ursprünglichen Begriffs der Rechtfertigung sowie zahlreiche sonstige analogisch erweiterte Verwendungen des Ausdrucks. Siehe WCD, 1. Kapitel.
III Zurück zur Gegenwart
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III Zurück zur Gegenwart Am Anfang des klassischen Pakets aus Belegthese, Deontologismus und klassischem Fundierungsgedanken steht die Philosophie Lockes. Den ersten beiden Komponenten zufolge setzt der christliche Glaube Belege voraus, d. h., gläubige Christen sind intellektuell nur dann im Recht und halten sich nur dann an ihre intellektuelle Pflicht, wenn sie über Belege für ihren Glauben verfügen. Der dritten Komponente zufolge müssen die Belege letztlich auf die Gewissheiten der Gläubigen zurückgehen, also auf das, was von selbst einleuchtet, was unkorrigierbar oder den Sinnen evident ist. Dieser Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und Belegen steht im Mittelpunkt der gesamten rechtfertigungstheoretischen Tradition der abendländischen Erkenntnistheorie. Für die anschließenden Überlegungen zur De-jure-Frage im Hinblick auf den christlichen Glauben ist er besonders wichtig gewesen. Dieser Tradition zufolge geht es bei der De-jure-Frage eigentlich darum, ob der christliche Glaube rational gerechtfertigt ist, d. h., ob die Gläubigen gerechtfertigt sind, wenn sie diese Überzeugungen vertreten, und ob sie damit ihrer intellektuellen Pflicht genügen. Die intellektuelle Hauptpflicht liegt jedoch darin, dass man den Glauben den Belegen – also den Gewissheiten – gemäß zumisst. Daher wird die erste Lesart der De-jure-Frage in die zweite verwandelt, die da lautet: Verfügen die Gläubigen über ausreichende Belege für ihre Überzeugungen? Jetzt erkennen wir den Zusammenhang zwischen diesen beiden Formen der De-jure-Frage. Die erste ist die Grundfrage, doch wenn man (mit Locke und der klassischen Tradition) hinzufügt, die Hauptpflicht bestehe hier darin, dass man den Glauben den Belegen entsprechend zumisst, erhält man die zweite Frage. Nach meiner These ist der Einfluss Lockes – ebenso wie der Einfluss des klassischen Pakets – im Hinblick auf Erörterungen der De-jure-Frage von besonderer Wichtigkeit. Wenn ich damit recht habe, sollten wir zumindest zweierlei erwarten: Erstens sollten wir damit rechnen, dass diejenigen, von denen die Dejure-Frage aufgeworfen wird, dabei auf Belege und Argumente, propositionale Belege und von anderen eigenen Gedanken herrührende Belege abheben. Zweitens sollten wir damit rechnen, dass sie außerdem auf Rechtfertigung abheben, und zwar auf Rechtfertigung im deontologischen Sinn oder im Sinn einer analogischen Erweiterung der Deontologie. Beide Erwartungen werden reichlich erfüllt. Dabei erwarte ich natürlich nicht, dass der Leser mir das auf Treu und Glauben abnimmt; andererseits habe ich für eine ausführliche Dokumentation keinen Platz. Stattdessen werde ich mich damit begnügen, einige Indizien anzuführen. Seit über hundert Jahren beruft man sich bei Diskussionen über die De-jureFrage auf den Essay »The Ethics of Belief« von W. K. Clifford. Der Autor (den William James als »vortreffliches Enfant terrible« bezeichnet) behauptet mit
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charmantem und zurückhaltendem Understatement, es sei »immer und überall falsch, wenn man etwas glaubt, ohne über ausreichende Belege zu verfügen«.²⁵ Was wir hier vor uns haben, ist die Kombination aus Deontologismus und Belegthese. Was an dieser Stelle nicht zutage tritt, ist der klassische Fundierungsgedanke (denn es wird nicht gesagt, worin die Belege bestehen sollen), aber es steht zweifelsfrei fest, dass Clifford eine Form des klassischen Fundierungsgedankens vertrat. Zumindest war er der Überzeugung, der Glaube an Gott setze Belege voraus. Der Essay »The Will to Believe« von William James²⁶ ist gewissermaßen das Pendant zu dem Aufsatz von Clifford. Auf ihn beruft man sich in Diskussionen über unsere Frage schon fast ebenso lange, und da James auf Clifford eingeht und ihn kritisiert, werden die beiden Essays in Anthologien häufig zusammen abgedruckt. James hat seinem Essay zwar den Titel »Der Wille zum Glauben« gegeben, aber »Das Recht auf den Glauben« hätte es eher getroffen. Die Hauptthese besagt, dass es unter bestimmten Umständen keinen Pflichtverstoß darstellt, wenn man eine (nicht gewisse) Aussage auch dann glaubt, wenn man keine Belege dafür kennt. Sofern das Fürwahrhalten dieser Aussage für den Betreffenden eine zwingende und eine lebendige Option ist und sofern keine Belege dagegen sprechen, hat man das Recht, diese Aussage zu glauben, obwohl man keine Belege dafür kennt. Auf diese Weise versucht James dem Glauben an Gott (wenn auch nicht dem vollen christlichen Glauben) Platz zu verschaffen, indem er ihn in die Lücken im Belegmaterial einfügt. Auch hier sind die Belegthese und der Deontologismus nicht zu übersehen.²⁷ Es sind über hundert Jahre vergangen, seit James und Clifford ihre Essays schrieben. Im letzten halben Jahrhundert jedoch haben sich viele an der Belegthese orientierte Kritiker des christlichen Glaubens geregt. Diese Theoretiker sind der Meinung, um als rational gelten zu dürfen, müsse ein solcher Glaube auf der Grundlage propositionaler Belege akzeptiert werden, und diese Belege seien nicht ausreichend. (Zu den Vertretern dieser Auffassung gehören Brand Blanshard,²⁸
Lectures and Essays, London: Macmillan 1901, S. 183. In: The Will to Believe, and Other Essays in Popular Philosophy, New York: Longmans, Green 1897. »Heute wird das zwar nicht mehr besonders betont, aber bei seinem Einsatz für den Pragmatismus ging es James ursprünglich nicht darum, empirisch nicht verifizierbare Überzeugungen aus der Welt zu schaffen, sondern er wollte im Rahmen einer szientistischen Weltanschauung Platz für Glauben und Gott schaffen. [. . . ] Das war explizit der Kontext seines Vortrags von 1898« (Louis Menand, »An American Prodigy«, in: New York Review of Books, 2. Dezember 1993, S. 33). Mit dem »Vortrag von 1898« ist »The Will to Believe« gemeint. Reason and Belief, London: Allen and Unwin 1974, S. 400 ff.
III Zurück zur Gegenwart
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Bertrand Russell,²⁹ Michael Scriven,³⁰ Antony Flew,³¹ Wesley Salmon,³² J. C. A. Gaskin,³³ Anthony O’Hear³⁴ sowie bis zu einem gewissen Grade auch Richard Gale³⁵ und John Mackie in seinem postumen Buch Das Wunder des Theismus. ³⁶) Die deontologische Komponente dieser Standpunkte wird zwar häufig weniger deutlich ausgesprochen als die Belegthese, aber sie ist unverkennbar vorhanden und manchmal sogar ganz explizit. So schreibt Blanshard: Überall und immer hat das Glauben einen ethischen Aspekt. Es gibt tatsächlich so etwas wie eine allgemeine Ethik des Intellekts. Nach meiner Auffassung gilt das Hauptprinzip dieser Ethik sowohl innerhalb als auch außerhalb des religiösen Bereichs. Dieses Prinzip ist unkompliziert und pauschal. Es besagt, die Zustimmung solle den Belegen entsprechen.³⁷
Natürlich wird die Belegthese nicht nur von belegtheoretischen Kritikern des theistischen Glaubens verfochten. Auch John Locke selbst vertritt die Belegthese, ohne dass er jedoch den Theismus kritisiert. Nach Lockes Auffassung ist der religiöse Glaube insofern »wesentlich belegbedingt«,³⁸ als er rational nur dann akzeptiert werden könne, wenn er sich auf stichhaltige Belege stütze. Außerdem ist Locke der Meinung, dass stichhaltige Belege tatsächlich vorliegen. Auch heute gibt es einige Autoren, die in seine Fußstapfen treten. Sie akzeptieren zwar die Belegthese, glauben aber auch, dass die Belege vorliegen (oder zumindest sind sie sich nicht sicher, dass sie nicht vorliegen). Zu dieser Gruppe gehören beispiels-
»Why I Am Not a Christian«, in: Why I Am Not A Christian, New York: Simon and Schuster 1957, S. 3 ff. Primary Philosophy, New York: McGraw-Hill 1966, S. 87 ff. The Presumption of Atheism, London: Pemberton 1976, S. 22 ff. »Religion and Science: A New Look at Hume’s Dialogues«, in: Philosophical Studies 33 (1978), S. 176 ff. The Quest for Eternity: An Outline of the Philosophy of Religion, New York: Penguin 1984. Experience, Explanation, and Faith: An Introduction to the Philosophy of Religion, London/ Boston: Routledge and Kegan Paul 1984. On the Nature and Existence of God, Cambridge: Cambridge University Press 1991. Mackie, The Miracle of Theism, Oxford: Oxford University Press 1982 (übers. von R. Ginters: Das Wunder des Theismus, Stuttgart: Reclam 1985). Reason and Belief, S. 401.Weitere Belege für den weitreichenden Einfluss der deontologischen Komponente des klassischen Pakets sind im 1. Kapitel von WCD zu finden. Dort mache ich geltend, dass sowohl die Vorherrschaft des Internalismus in der neueren Erkenntnistheorie als auch die Vielfalt und verwirrende Fülle der Rechtfertigungsbegriffe unserer heutigen Erkenntnistheoretiker verständlich wird, wenn man ihr Verhältnis zur Deontologie berücksichtigt. Der Ausdruck stammt von Stephen Wykstra. Siehe seinen Artikel »Towards a Sensible Evidentialism: On the Notion of ›Needing Evidence‹«, in: William Rowe u. William Wainwright (Hg.), Philosophy of Religion: Selected Readings, 2. Aufl. New York: Harcourt Brace Jovanovich 1989.
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weise Basil Mitchell³⁹ und William Abraham.⁴⁰ Stephen Wykstra wiederum tritt für eine »vernünftigere« Belegthese ein.⁴¹ Anthony Kenny legt eine gewisse Sympathie für die Belegthese an den Tag,⁴² und mit Richard Swinburne verhält es sich ähnlich: »Der Gebrauch von Symbolen gibt mir die Möglichkeit, die starken Ähnlichkeiten zu verdeutlichen, die zwischen religiösen Theorien einerseits und weitreichenden Hypothesen andererseits bestehen.«⁴³ Terence Penelhum ist zwar kein Vertreter einer Belegthese, aber belegtheoretische Überlegungen spielen in seinem Buch God and Skepticism ⁴⁴ eine große Rolle. Das gleiche lässt sich auch über Gary Guttings Buch Religious Belief and Religious Skepticism sagen.⁴⁵ Dennoch sind die deutlichsten Beispiele für die Belegthese im Kreis der belegtheoretischen Religionskritiker zu finden. In Das Wunder des Theismus vertritt John Mackie die Belegthese in ihrer imponierendsten Gestalt. Abschließend wollen wir daher kurz die Form betrachten, welche die Belegthese in diesem Buch annimmt. Mackie nimmt sich dort vor, die »Argumente für und gegen die Existenz Gottes sorgfältig und einigermaßen ausführlich [zu] prüfen. Dabei berücksichtige ich sowohl den Begriff und die ›Beweise‹ zugunsten der Existenz Gottes, wie sie sich in der Tradition finden, als auch neuere Deutungen und Argumente«. Wenig später heißt es: Hat man einmal zugestanden, dass den zentralen Aussagen des Theismus eine buchstäbliche Bedeutung zukommt, dann ist auch einzuräumen, dass sie nicht direkt verifiziert oder verifizierbar sind. Daraus folgt, dass alle Überlegungen hinsichtlich ihrer Wahrheit oder Falschheit Argumente beinhalten. […] [Die Frage nach der Existenz Gottes muss] entweder mit Hilfe deduktiver Überlegungen oder, wenn diese zu keiner Lösung führen, mit Hilfe von Argumenten zugunsten der besten Erklärung beantwortet werden; denn in solchem Zusammenhang kann nichts anderes zu einer in sich schlüssigen Lösung beitragen. (S. 13, 16 – 17)
Siehe Mitchell, The Existence of God, New York: Oxford University Press 1981. Abraham, An Introduction to the Philosophy of Religion, Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall 1985. »Towards a Sensible Evidentialism«. Siehe Kenny, Faith and Reason, New York: Columbia University Press 1983, insbesondere Kapitel 3 u. 4. Siehe Swinburne, The Existence of God, Oxford: Clarendon Press 1979. Swinburne darf allerdings nicht als Verfechter der Belegthese gelten, denn er vertritt das von ihm selbst so genannte »Prinzip der Gutgläubigkeit«, dem zufolge gilt: »Wenn es (sofern keine speziellen Bedingungen zu berücksichtigen sind) einem Subjekt (in epistemischer Hinsicht) so erscheint, als sei x vorhanden, dann ist x wahrscheinlich vorhanden« (S. 254). Penelhum, God and Skepticism, Dordrecht: D. Reidel 1983. Gutting, Religious Belief and Religious Skepticism, Notre Dame: University of Notre Dame Press 1982.
III Zurück zur Gegenwart
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Mackie nimmt an, dass die rationale Akzeptierbarkeit des theistischen Glaubens vom Ergebnis dieser Untersuchung abhängt. Falls die Belege alles in allem für den Theismus sprechen, dann ist der theistische Glaube rational akzeptierbar; sprechen die Belege jedoch für den Atheismus, dann ist der Theismus rational nicht akzeptierbar. Hier ist die Belegthese natürlich mit Händen zu greifen. Mackie geht nun davon aus, dass der Theismus eine Hypothese sei – so etwas wie eine überaus weitreichende naturwissenschaftliche Hypothese (beispielsweise die Evolutionstheorie oder die allgemeine Relativitätstheorie). Des weiteren nimmt er an, ihre rationale Akzeptierbarkeit sei von ihrem Erfolg als Hypothese abhängig. Mit Bezug auf die religiöse Erfahrung macht er die folgende charakteristische Bemerkung: »Wie sonst versagt auch hier die supernaturalistische Hypothese, weil es eine angemessene und weit sparsamere naturalistische Alternative gibt« (S. 314). Diese Bemerkung ist offenbar nur dann relevant, wenn man den Glauben an Gott als wissenschaftliche Hypothese auffasst bzw. als etwas einer solchen Hypothese Ähnliches, mithin als eine Theorie, die ein bestimmtes Belegkorpus erklären soll und in dem Maße akzeptabel ist, in dem es ihr gelingt, dieses Belegmaterial zu erklären. Dieser Betrachtungsweise zufolge gibt es ein relevantes Belegkorpus, das für den Gläubigen das gleiche ist wie für den Ungläubigen. Der Theismus sei eine Hypothese, die dieses Belegkorpus erklären soll; und rational verteidigen lasse sich der Theismus nur insoweit, als er diese Belege erfolgreich erklärt. Mackie meint jedoch, der Theismus liefere keine befriedigende Erklärung. Abschließend schreibt er: »Am Ende können wir demnach dem Laplaceschen Ausspruch über Gott zustimmen: Wir bedürfen dieser Hypothese nicht« (S. 400 – 401). Er fährt fort und behauptet: »Nach Abwägen der Wahrscheinlichkeiten gelangt man demnach zu dem Ergebnis, dass weitaus mehr gegen die Existenz eines Gottes spricht als dafür.« Außerdem hält er es offenbar für selbstverständlich, dass nichts für den Theismus spricht, wenn die Wahrscheinlichkeiten alles in allem dem von ihm verkündeten Resultat entsprechen. Der Theist wird dann als jemand entlarvt, der irrational, geistig minderbemittelt oder abartig ist. Mackie formuliert es so: »Unsere bisherigen Erörterungen haben wohl gezeigt, dass sich die Aussagen des Theismus, versteht man sie wörtlich, nicht rational verteidigen lassen« (S. 316).⁴⁶
Übrigens ist der Titel von Mackies Buch der folgenden ironische Stelle aus Humes Untersuchung über den menschlichen Verstand entnommen: „So dürfen wir alles in allem schließen, dass die christliche Religion nicht nur im Anfange von Wundern begleitet war, sondern noch heutigen Tages von keinem verständigen Menschen ohne die Annahme eines solchen geglaubt werden kann. [. . . ] Wen der Glaube bewegt, ihr zuzustimmen, der ist sich eines fortgesetzten Wunders in seiner eigenen Person bewusst, das alle Prinzipien seines Verstandes umkehrt und ihn bestimmt,
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Doch warum sollte man sich auf derartige Annahmen einlassen? Warum soll man meinen, der Theismus sei nur dann rational akzeptabel, wenn triftige Argumente für ihn sprechen? Warum soll man ihn als eine wissenschaftliche Hypothese ansehen oder als etwas, was einer solchen Hypothese in wichtiger Hinsicht ähnelt? Freilich gehören diese Annahmen mit zum klassischen Paket, aber warum sollte man dieses Paket akzeptieren? Offenbar gibt es durchaus vernünftige Alternativen. Denken wir etwa an unsere Erinnerungsüberzeugungen. Es liegt auf der Hand, dass man auch hier eine Auffassung à la Mackie vertreten könnte: Ich glaube beispielsweise, dass ich zum Frühstück eine Banane gegessen habe, und nun könnte man meinen, eine solche Überzeugung (und sogar die Überzeugung, dass es eine Vergangenheit oder dergleichen überhaupt gibt) begreife man am besten als so etwas wie eine wissenschaftliche Hypothese, die gegenwärtige Phänomene erklären soll, unter anderem eben auch augenscheinliche Erinnerungen. Gäbe es eine »sparsamere« Erklärung dieser Phänomene, die beispielsweise darauf verzichtet, die Existenz der Vergangenheit oder das Bestehen vergangener Tatsachen zu postulieren, dann würde für unsere gewöhnlichen Überzeugungen hinsichtlich der Vergangenheit gelten, dass sie sich »nicht rational verteidigen lassen«. In diesem Fall erscheint dieses Vorgehen jedoch offensichtlich verfehlt. Die Verfügbarkeit einer derartigen »Erklärung« würde keineswegs gegen unsere gewöhnliche Überzeugung sprechen, es gebe wirklich eine Vergangenheit. Warum soll das gleiche nicht auch für den Theismus oder, allgemeiner gesprochen, auch für den christlichen Glauben gelten können? Was spricht für (bzw. gegen) das klassische Paket, insbesondere wenn man es auf den christlichen Glauben bezieht?
IV Probleme mit dem klassischen Bild Als Richtschnur unseres Denkens bezüglich der De-jure-Frage ist das klassische Bild bisher überaus einflussreich gewesen. Nahe Verwandte dieses Bilds dominieren nach wie vor die Diskussion über die De-jure-Frage, und speziell die zum klassischen Bild gehörende Belegthese lässt sich nicht unterkriegen. Einer genauen Prüfung hält dieses Bild allerdings – ebenso wie manches andere großangelegte Bild – nicht stand. Es ist starken, ja verheerenden Einwänden ausgesetzt. Hier werde ich, nachdem ich auf einige dieser Probleme hingewiesen habe,
das zu glauben, was dem Gewohnten und der Erfahrung am meisten widerstreitet« (Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, übers. von Raoul Richter, Hamburg: Meiner 1993, S. 155).
IV Probleme mit dem klassischen Bild
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moderne analogische Erweiterungen der verschiedenen Elemente des klassischen Bilds betrachten, um zu sehen, ob es Elemente gibt, welche die nach wie vor äußerst beliebte Belegthese stützen, die im klassischen Bild ein dermaßen bequemes Zuhause gefunden hat. Dabei werde ich zu dem Schluss kommen, dass es eigentlich gar keinen Grund zu der Annahme gibt, der christliche Glaube setze Argumente bzw. propositionale Belege voraus, um gerechtfertigt zu werden. Ich werde geltend machen, dass Christen – und zwar gebildete, moderne und kulturell aufgeschlossene Christen – auch dann gerechtfertigt sein können, wenn sie ihre Überzeugungen nicht auf der Basis von Argumenten oder Belegen vertreten, und auch dann, wenn ihnen keine triftigen Argumente für ihre Überzeugungen bekannt sind, ja selbst dann, wenn es gar keine derartigen Argumente gibt. Im Grunde ist es offensichtlich, dass sie in dieser Weise gerechtfertigt werden können. Das wiederum legt, wie ich ausführen werde, den Gedanken nahe, dass es bei der De-jure-Frage, auf die wir es abgesehen haben, nicht um diese Frage der Rechtfertigung geht. Diese Frage ist zu leicht zu beantworten. Welches sind diese Probleme, die dem klassischen Bild anhaften? Die neuere Philosophie ist mit dem klassischen Fundierungsgedanken nicht sehr freundlich umgesprungen. Es sind viele Einwände erhoben und viele Probleme genannt worden. Hier werde ich meine Aufmerksamkeit auf zwei Einwände beschränken, die beide verheerend sind. Als erstes ist, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe,⁴⁷ darauf hinzuweisen, dass der klassische Fundierungsgedanke offenbar aus Gründen der Selbstbezüglichkeit inkohärent ist, denn er legt einen Maßstab für gerechtfertigte Überzeugungen an, den er selbst nicht erfüllt. Genauer gesagt: Der Vertreter des klassischen Fundierungsgedankens artikuliert, indem er seine Theorie aufstellt (und vermutlich auch glaubt), einen bestimmten Maßstab der Rechtfertigung, der Schuldlosigkeit und der intellektuellen Berechtigung. Das ist allerdings ein Maßstab, den er mit seinem eigenen Glauben an das klassische Bild nicht erfüllt. Was er selbst in Anspruch nimmt, ist, um es ein wenig ausführlicher zu formulieren, folgendes: (KB) Dass eine Person S eine Überzeugung p akzeptiert, ist genau dann gerechtfertigt, wenn entweder gilt, dass (1) p für S angemessen basal ist, d. h. von selbst einleuchtet, unkorrigierbar oder (im Sinne Lockes) für S den Sinnen evident ist,⁴⁸ oder dass (2) p von S aufgrund der Belegbasis von
»Reason and Belief in God«, S. 61 ff. Hier interpretiere ich Locke folgendermaßen (siehe oben, S. 88 – 89): Nach seiner These beschränkt sich mein unmittelbares Wissen darauf, dass meine Empfindungen durch äußere Gegenstände dieser oder jener Art hervorgerufen werden. Dagegen wird nicht unmittelbar gewusst, dass diese Gegenstände die Eigenschaften von Bäumen, Pferden oder sonstigen Gegenständen haben, deren Existenz wir unterstellen.
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Aussagen geglaubt wird, die angemessen basal sind und als Belege p auf deduktive, induktive oder abduktive Weise stützen. Hier lasse ich die Tatsache außer acht, dass die Beziehung »glaubt auf der Belegbasis von … « nicht transitiv ist. Das klassische Bild setzt eigentlich nicht voraus, dass alle nichtbasalen Überzeugungen aufgrund der Belegbasis basaler Überzeugungen für wahr gehalten werden. Einige nichtbasale Überzeugungen dürfen auf der Basis weiterer sie stützender, aber nichtbasaler Überzeugungen für wahr gehalten werden, sofern diese weiteren Überzeugungen auf der Basis anderer sie stützender Überzeugungen für wahr gehalten werden, sofern diese anderen … Um es zutreffender zu formulieren, wollen wir sagen, eine nichtbasale Überzeugung sei genau dann angemessen basiert, wenn sie aufgrund der Belegbasis von Überzeugungen für wahr gehalten wird, die entweder angemessen basal oder angemessen basiert sind. Dementsprechend muss dem klassischen Bild zufolge jede nichtbasale Überzeugung angemessen basiert sein. Außerdem lasse ich eine weitere Bedingung außer acht, die eigentlich mit zum klassischen Bild gehört. Angenommen, ich glaube p auf der Basis der Aussagen q1, q2 … qn, wobei die qi zwar tatsächlich p stützen, ich für mein Teil aber nicht einzusehen vermag, dass es sich so verhält. (Den Satz, dass es keine größte Kardinalzahl gibt, glaube ich vielleicht auf der Basis der üblichen mengentheoretischen Axiome, aber ich weiß nicht, kann nicht einsehen und habe keinen Grund anzunehmen, dass diese Axiome den Satz stützen.) Dann gilt dem klassischen Bild zufolge vermutlich, dass meine Überzeugung nicht gerechtfertigt ist. Es ist meine Pflicht, eine nichtbasale Aussage auf der Basis von Aussagen für wahr zu halten, bei denen ich einsehen kann, dass sie jene Aussage stützen – irgendwelche beliebigen Aussagen,von denen sie zufällig gestützt wird, können diese Funktion nicht unabhängig davon erfüllen, ob ich es einsehe oder nicht. Daher sollte man hier vielleicht hinzufügen, was von Locke und Descartes als selbstverständlich angesehen wird, nämlich: Wenn es gerechtfertigt ist, dass p von S auf der Basis anderer Aussagen für wahr gehalten wird, muss es sich natürlich so verhalten, dass diese anderen Aussagen p stützen; aber hinzu kommt, dass S auch einsehen muss, dass es sich so verhält.
A Probleme der Selbstbezüglichkeit Nun wollen wir (KB) selbst betrachten. Als erstes ist festzustellen, dass der Satz nach Auffassung des klassischen Fundierungstheoretikers nicht angemessen basal ist. Um angemessen basal zu sein, müsste er von selbst einleuchten, unkorrigierbar oder im Sinne Lockes den Sinnen evident sein. Aber erstens ist der Satz aus der Perspektive des Fundierungstheoretikers (ebenso wie aller übrigen Menschen) nicht von selbst einleuchtend. Selbst wenn jemand behauptet, intuitiv spreche einiges für ihn, könnte man dennoch nicht unbefangen behaupten, diese intuitive Stützung reiche aus, um ihn völlig evident zu machen. Denn wenn er von
IV Probleme mit dem klassischen Bild
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selbst einleuchtete, wäre er so beschaffen, dass es einem richtig funktionierenden Menschen nicht einmal möglich wäre, den Satz zu verstehen, ohne seine Wahrheit einzusehen.⁴⁹ Offenbar hat (KB) nicht die geringste Ähnlichkeit mit dergleichen. Ich z. B. verstehe den Satz, kann seine Wahrheit aber gar nicht einsehen; und ich möchte wetten, dass es dem Leser genauso geht. In dieser Hinsicht ist (KB) grundverschieden von 2 + 1 = 3 oder »Wenn alle Katzen Tiere sind und Immanuel eine Katze ist, dann ist Immanuel ein Tier«. Zweitens handelt der Satz nicht von den mentalen Zuständen einer Person, und deshalb ist er weder aus Sicht des Fundierungstheoretikers noch aus Sicht irgendeiner anderen Person unkorrigierbar. Drittens liegt es auf der Hand, dass er den Sinnen nicht evident ist. Nach (KB) selbst gilt demnach, dass (KB) nicht angemessen basal ist, was wiederum folgendes bedeutet: Falls (KB) wahr ist, müssen diejenigen, die (KB) zu Recht für wahr halten, diesen Satz auf der Belegbasis weiterer Aussagen glauben, die ihrerseits tatsächlich angemessen basal sind und ihn qua Belege stützen. Falls diese Personen den Satz tatsächlich in dieser Weise glauben, wird es stichhaltige induktive, deduktive oder abduktive Argumente geben, die von Aussagen, die laut (KB) angemessen basal sind, zu (KB) hinführen. Soweit ich weiß, gibt es keine derartigen Argumente. Und soweit ich weiß, gibt es keinen Vertreter des klassischen Fundierungsgedankens, der solche Argumente vorgelegt oder (KB) stützende, angemessen basale Aussagen angeführt hätte. Natürlich ist es möglich, dass es doch derartige Argumente gibt, obwohl noch niemand sie vorgelegt hat. Die Wahrscheinlichkeit dürfte aber dagegen sprechen. Also verhält es sich wahrscheinlich so, dass jemand, der (KB) akzeptiert, dabei in einer Weise vorgeht, die gegen (KB) verstößt.Von (KB) wird eine Bedingung der Rechtfertigung und der Pflichterfüllung aufgestellt, der zufolge jemand, der diesen Satz akzeptiert, wahrscheinlich gegen ihn verstößt. Falls er wahr ist, wird der Anhänger von (KB) wahrscheinlich seine Pflicht verletzen, wenn er daran glaubt. Also ist der Satz entweder falsch oder derart, dass man seiner Pflicht zuwiderhandelt, wenn man ihn akzeptiert. Wie dem auch sei, man sollte ihn nicht akzeptieren. Wäre es aber nicht möglich, dass ein Befürworter von (KB) so etwas wie ein induktives Argument dafür ausfindig macht?⁵⁰ Vielleicht wird der Anhänger von (KB) (den ich im folgenden den
Siehe WPF, S. 109. Siehe Philip Quinn, »In Search of the Foundations of Theism«, in: Faith and Philosophy 2 (1985), S. 474 ff.; meine Erwiderung unter dem Titel »The Foundations of Theism: A Reply«, in: Faith and Philosophy 3 (1986); und Quinns Replik »The Foundations of Theism Again«, in: Linda Zagzebski (Hg.), Rational Faith: Catholic Responses to Reformed Epistemology, Notre Dame: University of Notre Dame Press 1993, S. 22 ff. Ich bin Quinn dankbar für den Hinweis darauf, dass diese Möglichkeit sehr viel ernster genommen werden muss, als ich zunächst angenommen hatte.
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3 Rechtfertigung und das klassische Bild
»Klassizisten« nennen werde) ein Buch von Roderick Chisholm⁵¹ lesen und den sogenannten »Partikularismus« gutheißen. Dementsprechend nimmt er sich vor, ein Kriterium für gerechtfertigte Überzeugungen zu entwickeln, indem er Muster von gerechtfertigten und Muster von ungerechtfertigten Überzeugungen zusammenstellt und ein Kriterium ermittelt, das am besten zu ihnen passt. Einerseits stellt er also eine recht umfangreiche und repräsentative Stichprobe G aus Beispielen für Überzeugungen zusammen, die nach seiner Auffassung gerechtfertigt sind, so dass die glaubende Person ihre Pflicht erfüllt, indem sie solche Überzeugungen akzeptiert, während er andererseits eine Stichprobe U aus Überzeugungen zusammenstellt, die er für ungerechtfertigt hält und die solchermaßen akzeptiert werden, dass dadurch gegen die intellektuelle Pflicht verstoßen wird. Anschließend stellt er vielleicht fest, dass alle Überzeugungen aus G, aber keine Überzeugung aus U mit (KB) in Einklang steht. Daher vermutet er, dass eine Überzeugung genau dann gerechtfertigt ist, wenn sie mit (KB) übereinstimmt. Das wäre dann so etwas wie ein induktives Argument für (KB). Hier stellt sich allerdings folgende Frage: Sind die Prämissen dieses Arguments angemessen basal, sofern man vom klassischen Bild ausgeht? Zu den Prämissen gehören – und das ist entscheidend – auch Aussagen, die im Hinblick auf jedes Element von G feststellen, dass es gerechtfertigt ist, und im Hinblick auf jedes Element von U, dass es nicht gerechtfertigt ist. Welche Form nehmen solche Überzeugungen an? Nun, vermutlich würden die Stichproben Aussagen umfassen wie »S1 ist gerechtfertigt, wenn er Ü1 unter den Bedingungen B1 für wahr hält« und »S2 ist nicht gerechtfertigt, wenn er Ü2 unter den Bedingungen B2 für wahr hält«. (Die Stichproben brauchen sozusagen keine eigentlichen Überzeugungen zu enthalten. Sie sollten außerdem klare Fälle von Überzeugungen enthalten, die unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein würden – einerlei, ob jemand unter diesen Umständen je solche Überzeugungen vertreten hat oder nicht.) Vermutlich handelt es sich dabei um Überzeugungen, die unser Klassizist in basaler Weise akzeptiert. (Natürlich kann er nicht (KB) benutzen, um zu ihnen zu gelangen; das wäre eklatant zirkulär.) Derartige Überzeugungen sind aus seiner Sicht offenbar weder unkorrigierbar noch den Sinnen evident. Falls sie angemessen basal sind, dann müssten sie nach (KB) von selbst einleuchten. An dieser Stelle wird man dem Klassizisten mitteilen, dass er in eine arge Zwickmühle geraten ist, denn er wird erfahren, dass es gar keine Fälle gibt, in denen es von selbst einleuchtet, dass eine Überzeugung insofern ungerechtfertigt sei, als jemand, der sie für richtig hält, gegen seine Pflicht verstößt und es verdient, wenn man ihn tadelt und beschuldigt. Als Grund wird man anführen, dass unsere Überzeugungen nicht unserer direkten Kontrolle unterstehen. Ob man etwas glaubt oder nicht, ist keine Sache der bloßen Entscheidung. Wenn man mir eine Million Euro anbietet, damit ich glaube, jünger als dreißig zu sein, oder auch nur aufhöre zu glauben, über dreißig zu sein, gibt es keine Möglichkeit für mich, das Geld einzustreichen (sofern man von Psychopharmaka und dergleichen absieht). Damit ist aber noch längst nicht alles gesagt. Eine gründliche Untersuchung dieser Frage würde uns zu weit von unserer eigentlichen Fragestellung abbringen, doch zunächst ist anzumerken, dass einige meiner Überzeugungen einer indirekten Kontrolle meinerseits unterliegen (also ähnlich wie mein Gewicht z. B.), obschon ich nicht einfach entscheiden kann, was ich glauben soll und was nicht. So kann ich mich durch Übung dahinbringen, nicht automatisch anzunehmen, Leute in weißen Kitteln wüssten, wovon sie reden; und ebenso
Chisholm, Theory of Knowledge, 3. Aufl. Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall 1989, S. 7 (übers. von Rudolf Haller: Erkenntnistheorie, Neuaufl. Bamberg: Buchner 2004). Siehe auch meinen Aufsatz »Reason and Belief in God«, S. 75 ff.
IV Probleme mit dem klassischen Bild
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kann ich mich darin schulen, den Belegen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, weniger gutgläubig und vertrauensselig (bzw. weniger zynisch und skeptisch) zu sein, usw. Für einige meiner Überzeugungen bzw. Zustände der Überzeugtheit gilt übrigens tatsächlich, dass sie in gewisser Weise meiner unmittelbaren Kontrolle unterliegen. Was die Frage des Geburtsjahrs von George Washington betrifft, habe ich im Augenblick zwar keine Meinung, aber ein kurzer Blick ins Lexikon oder ein Anruf bei meiner Mittelschullehrerin würde diesen Mangel beheben. Daher steht es direkt in meiner Macht, es herbeizuführen, dass ich im Hinblick auf diese Frage eine Meinung habe. Man könnte sogar fortfahren und sagen, es gebe diesbezüglich eine Meinung (nämlich diejenige, die im Lexikon steht) dergestalt, dass es direkt in meiner Macht steht, es herbeizuführen, dass ich mir diese Meinung aneigne. Außerdem kann ich dadurch in den Zustand der epistemischen Sünde geraten, dass ich eine bestimmte Überzeugung nicht habe. Falls ich für ein Kind verantwortlich bin und sehe, wie es mit einer verdächtigen Flasche spielt, ohne dass ich mir die Mühe mache nachzuschauen, was auf dem Etikett steht, kann ich nicht damit rechnen, die Schuld abzuwälzen, indem ich behaupte, nicht gewusst zu haben, dass die Flasche Gift enthielt. Ich hätte es wissen sollen. (»Ich wusste nicht, dass das Gewehr geladen war« ist nicht immer eine ausreichende Entschuldigung. Es kann ja sein, dass ich dafür verantwortlich bin, Bescheid zu wissen.) Darüber hinaus gibt es noch viele weitere Möglichkeiten, sich durch Dinge, die man für wahr hält oder nicht, epistemisch zu versündigen. Einige Beispiele: Ich glaube, dass du im vorigen Jahr deine Einkommensteuer nicht bezahlt hast, denn X (über dessen Hang zu übler Nachrede ich informiert gewesen wäre, wenn ich mich erkundigt hätte) hat es mir gesagt; und man kann mir vorwerfen, dass ich es unterlassen habe, weitere Auskünfte einzuholen. – Ich bin ein böser Mensch und wünsche dir alle möglichen Übel an den Hals. Nun sagt jemand, du seist ein tiefer und scharfer Denker. Aufgrund meiner bösartigen Gesinnung lege ich mir die Meinung zurecht, der Betreffende habe gesagt, du seist ein mieser und lascher Denker. – Aus Eitelkeit und Hochmut bilde ich mir ein, mein Werk werde ungebührlich verkannt, während es in Wirklichkeit so ist, dass es stärkere Beachtung findet, als es verdient. Und so weiter. Es kann auch sein, dass es in diesen Fällen von selbst einleuchtet, dass die fraglichen Überzeugungen ungerechtfertigt sind und auf pflichtwidrige Weise zustande kamen. Das ist jedenfalls eine These, die ich nicht bestreiten möchte. Nehmen wir also an, wir kommen dem Vertreter des klassischen Fundierungsgedankens entgegen, indem wir festsetzen, es gebe zumindest einige Beispiele dafür, dass die mangelnde Rechtfertigung einer Überzeugung von selbst einleuchtet. Trotzdem steht der Klassizist immer noch vor einem echten Problem. Denn diese Fälle sprechen, soweit ich sie mir überhaupt ausmalen kann, nicht für die Behauptung, es sei ungerechtfertigt, sich eine Überzeugung zu bilden, die weder (den klassischen Maßstäben entsprechend) angemessen basal ist noch auf der Basis angemessen basaler Aussagen für wahr gehalten wird. Noch wichtiger ist die Frage, ob es nicht Fälle gibt, in denen eine Meinung tatsächlich in Einklang mit (KB) gebildet wird, aber dennoch ungerechtfertigt ist. Die Meinung, du hättest im vorigen Jahr deine Steuern nicht bezahlt, hätte ich mir nicht auf der Basis einer ungezielten Erkundigung bilden sollen, denn es steht zuviel auf dem Spiel. Nehmen wir jedoch an, dass ich mich doch so verhalte: Deine hinterhältige Freundin Doris hat mir gesagt, du hättest die Steuern nicht bezahlt. Ich glaube es und komme auf dem üblichen Weg zu dieser Meinung, die, wie wir annehmen wollen, mit (KB) in Einklang steht. Trotzdem ist es nicht gerechtfertigt, dass ich diese Meinung vertrete. Gibt es andererseits nicht zahlreiche Fälle, in denen es von selbst einleuchtet, dass eine nicht in Einklang mit (KB) gebildete Meinung eben doch gerechtfertigt ist? Jemand wird gefragt, was er zum Frühstück gegessen hat, und antwortet, er habe eine Orange und Cornflakes verspeist. Aussagen, die gemäß (KB) angemessen basal sind und diese Erinnerungsüberzeugungen stützen,
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wollen ihm nicht in den Sinn kommen. Aber ist es nicht trotzdem einleuchtend, dass er keine Schuld trägt – weder Vorwurf noch Tadel verdient –, weil er das glaubt? Die Zahl dieser Beispiele wird natürlich enorm sein. Relevant ist dieser Sachverhalt deshalb, weil die Stichproben, wenn sie in verantwortungsvoller und plausibler Weise ausgewählt (also in richtiger Weise »randomisiert«) werden, nicht die Vermutung stützen, man erfülle seine intellektuelle Pflicht genau dann, wenn die eigenen Überzeugungen dem (KB) entsprechen. Daher vermag ich nicht zu erkennen, wie ein Anhänger von (KB) mit Hilfe dieses induktiven, partikularistischen Vorgehens auf verantwortungsvolle Weise dafür argumentieren können soll. Also komme ich zu dem Schluss, dass es für den Klassizisten wahrscheinlich gar keine Möglichkeit gibt, (KB) durch Argumente zu untermauern. Falls diese Schlussfolgerung jedoch richtig ist, wird der Verfechter von (KB) – da er außerdem meint, (KB) sei nicht angemessen basal – nicht gerechtfertigt sein, wenn er (KB), sofern es wahr ist, für richtig hält. Daher ist (KB) aus Gründen der Selbstbezüglichkeit von seinem Standpunkt aus gesehen inkohärent.
B Sind die meisten unserer Überzeugungen ungerechtfertigt? Im Rahmen seiner Auseinandersetzungen mit David Hume weist Thomas Reid darauf hin, dass die große Mehrzahl unserer Überzeugungen offenbar nicht mit (KB) in Einklang steht. Zumindest in puncto Rechtfertigung tue ihnen das jedoch keinen Eintrag. Ähnlich empfanden im neunzehnten Jahrhundert auch andere Autoren, darunter vor allem Kardinal Newman. Er schreibt: Auch ist die Zustimmung, die wir Tatsachen geben, nicht beschränkt auf den Umfang des Selbstbewusstseins. Wir sind gewiss, jenseits jeder Möglichkeit eines Irrtums, dass unser eigenes Selbst nicht das einzige existierende Wesen ist; dass es eine äußere Welt gibt; dass sie ein System mit Teilen und ein Ganzes, ein Universum ist, gelenkt durch Gesetze; und dass die Vergangenheit auf die Zukunft einwirkt. Wir nehmen an und halten mit einer vorbehaltlosen Zustimmung fest, dass die Erde, betrachtet als Naturphänomen, eine Kugel ist; dass alle ihre Teile der Reihe nach die Sonne sehen; dass es weite Strecken von Wasser und Land auf ihr gibt; dass es wirklich existierende Städte in bestimmter geographischer Lage gibt, die unter dem Namen London, Paris, Florenz und Madrid bekannt sind.⁵²
Aber wieviel von alledem kann als etwas im Verhältnis zu unseren Gewissheiten Wahrscheinliches angesehen werden? Ein wie großer Anteil erfüllt die klassischen Bedingungen der angemessenen Basalität? Kein großer – sofern diese Bedingungen überhaupt erfüllt werden. Ich glaube, dass ich zum Frühstück Cornflakes gegessen habe, dass sich meine Frau über eine meiner kleinen Dummheiten
John Henry Kardinal Newman, An Essay in Aid of a Grammar of Assent (1870), dt. Ausgabe von Matthias Laros u. Werner Becker: Entwurf einer Zustimmungslehre, Mainz: Matthias-GrünewaldVerlag 1961, S. 122– 123.
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amüsiert hat, dass es wirklich »äußere Gegenstände« wie Bäume und Eichhörnchen gibt und dass es nicht erst zehn Minuten her ist, seit die Welt mitsamt ihren verstaubten Büchern, augenscheinlichen Erinnerungen, zerbröselnden Bergen und zerklüfteten Gebirgstälern geschaffen wurde. Diese Dinge sind dem klassischen Fundierungsgedanken zufolge nicht angemessen basal, sondern sie müssen auf der Belegbasis von Aussagen geglaubt werden, die ihrerseits von selbst einleuchten oder (der eingeschränkten Auffassung Lockes entsprechend) den Sinnen evident oder für den Betreffenden unkorrigierbar sind. Außerdem müssen sie wahrscheinlich sein; und dass sie im Verhältnis zu derartigen Aussagen wahrscheinlich sind, muss erkannt werden. Es muss stichhaltige deduktive, induktive oder abduktive Argumente geben, die von solchen Aussagen zu diesen Konklusionen führen. Sofern aus der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie seit Descartes, Hume (und Reid) überhaupt etwas gelernt werden kann, dann dies: Es ist nicht möglich zu erkennen, dass solche Überzeugungen von anderen Überzeugungen gestützt werden, die ihrerseits die klassischen Bedingungen der angemessenen Basalität erfüllen, oder im Verhältnis zu Aussagen dieser Art wahrscheinlich sind. Also gilt entweder, dass die meisten unserer Überzeugungen so beschaffen sind, dass wir gegen epistemische Verpflichtungen verstoßen, indem wir sie für wahr halten, oder dass (KB) falsch ist. Auf keinen Fall hat es den Anschein, dass wir gegen unsere Pflichten verstoßen, indem wir diese Überzeugungen in der genannten Weise für wahr halten. Dass jetzt im Hinterhof eine Menge Schnee liegt und dass ich gestern ein Seminar abgehalten habe, glaube ich in basaler Weise. Weder das eine noch das andere glaube ich auf der Basis von Aussagen, die den klassischen Bedingungen der angemessenen Basalität genügen. Ich glaube auch nicht, dass es überhaupt irgendwelche Aussagen dieser Art gibt, im Verhältnis zu denen sie wahrscheinlich sind. Natürlich sehe ich ein, dass ich mich eventuell irre. Aber verstoße ich gegen eine Pflicht, indem ich diese Dinge in dieser Weise für wahr halte? Auch wenn ich mit aller mir möglichen Sorgfalt darüber nachdenke, vermag ich hier einfach keine Pflicht zu erkennen, was nicht daran liegt, dass ich die Existenz von Pflichten generell oder die Existenz von epistemischen Pflichten im besonderen in Zweifel zöge. Solche Pflichten gibt es wirklich. Aber gibt es die Pflicht, sich im Glauben an (KB) zu halten? Vermutlich nicht. Doch wie kann es dann sein, dass ich mich durch diese Art des Glaubens schuldig mache und dem Tadel aussetze? Wäre es möglich, dass ich nur deshalb keine Schuld trage, weil ich unwissend bin? Wie wir in WCD (S. 15 ff.) gesehen haben, gibt es hier eine Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Pflicht – eine Unterscheidung, die sich bis zum Neuen Testament zurückverfolgen lässt. An einer Stelle greift der Apostel Paulus die Frage auf, ob es falsch ist, Fleisch zu essen, das den Götzen
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geweiht wurde. Nach Paulus ist das nicht wirklich falsch. Doch wenn jemand (irrtümlich) meint, dass es falsch sei, dann ist es für ihn falsch, solches Fleisch zu essen. »Auf Jesus, unseren Herrn, gründet sich meine feste Überzeugung, dass an sich nichts unrein ist; unrein ist es nur für den, der es als unrein betrachtet« (Römer 14, 14). Bestimmte Arten von Handlungen (wie z. B. das Essen von Götzen geweihtem Fleisch) sind objektiv zulässig. Wird eine Handlung dadurch falsch, dass sie von Gott verboten wurde, so handelt es sich in unserem Fall um Handlungen, die nicht von Gott verboten wurden. Falls ich jedoch glaube, sie seien falsch – wenn ich also etwa irrtümlich glaube, sie seien von Gott verboten worden –, verdiene ich Tadel, wenn ich sie vollziehe. Umgekehrt gilt: Bestimmte Handlungen sind in bestimmten Situationen objektiv falsch und dürfen nicht vollzogen werden. Falls ich jedoch nicht weiß, dass sie nicht ausgeführt werden dürfen, und in meiner Meinung, sie seien zulässig, gerechtfertigt bin, habe ich keinen Tadel verdient, wenn ich dergleichen tue. Meine objektive Pflicht ist das,was ich – objektiv gesehen – tun soll. Meine subjektive Pflicht ist das, was ich (ohne mich schuldig zu machen) für meine objektive Pflicht halte. Diese Unterscheidung kann sich der Vertreter des klassischen Fundierungsgedankens vielleicht zunutze machen und wie folgt argumentieren: »Freilich kann man dir keinen Vorwurf daraus machen, dass du dich in deinen Überzeugungen nicht an (KB) hältst. Das liegt aber nur an deiner Unwissenheit. Zu deinem Glück bist du, ohne dass man dir die Schuld dafür geben kann, außerstande zu erkennen, dass du die Pflicht hast, deine Überzeugungen auf (KB) abzustimmen. Dadurch bist du gegen Vorwürfe und Schuldzuweisungen geschützt. Trotzdem hast du eigentlich die objektive Pflicht, deine Überzeugungen in der geschilderten Weise zu steuern, obwohl du das nicht einzusehen vermagst.« An diesem Punkt scheint die Diskussion ihr Ende erreicht zu haben. Ich kann hier nichts weiter tun, als meinen Gesprächspartner zu fragen, warum er meint, es gebe eine solche objektive Pflicht, und wie er zu dieser – seiner Ansicht nach gegebenen – Kenntnis von der Existenz dieser Pflicht gelangt sei. Kann er mehr tun, als schlicht zu wiederholen, wir alle hätten diese Pflicht? Doch warum sollte unsereiner das glauben? Welchen Grund gibt es, das für wahr zu halten? Außerdem gilt, dass ich für meinen Teil (KB) nicht wirklich akzeptieren kann, selbst wenn es durch einen verrückten Zufall wahr sein sollte. Denn wenn es wahr ist, darf ich es, um meiner Pflicht bezüglich der Akzeptierung dieses Prinzips Genüge zu tun, nur aufgrund von angemessen basalen Aussagen glauben, und zwar aufgrund solcher Aussagen, bei denen ich einzusehen vermag, dass sie qua Belege (KB) stützen. Aber de facto kann ich nicht einsehen, dass irgendwelche derartigen Aussagen das Prinzip stützen (und der Verfechter der Belegthese kann mir anscheinend nicht helfen, indem er mir etwa ein geeignetes Argument nennt). Falls es wahr ist und ich es akzeptiere, werde ich also gegen meine objektive Pflicht verstoßen. Doch wenn ich es akzeptiere, werde ich es (selbstverständlich) für wahr halten und deshalb glauben, dass ich gegen meine objektive Pflicht verstoßen habe. Folglich werde ich, falls es wahr ist und ich es für wahr halte, sowohl gegen meine objektive als auch gegen meine subjektive Pflicht verstoßen.
V Rechtfertigung des christlichen Glaubens Wenn man den Inhalt des klassischen Pakets sozusagen pur zu sich nimmt, kann es damit nicht seine Richtigkeit haben, denn offenbar gibt es einfach keine Pflicht, Überzeugungen in Einklang mit (KB) zu bilden. Natürlich kann es intellektuelle Pflichten anderer Art geben. So gibt es etwa eine – wie auch immer beschaffene – Pflicht zur Wahrheit. Womöglich ist es schwierig, diese Pflicht genau zu formu-
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lieren.⁵³ Vielleicht läuft sie in etwa darauf hinaus, dass man sich bemühen sollte, möglichst viele wichtige Wahrheiten zu glauben und möglichst viele wichtige falsche Aussagen zu vermeiden. Wie immer unsere Pflichten zur Wahrheit im einzelnen beschaffen sein mögen, als nächstes möchte ich geltend machen, dass der christliche Glaube gewiss gerechtfertigt werden kann und dass er zweifellos auch dann gerechtfertigt werden kann, wenn man ihn in basaler Weise auffasst. Hier deuten wir »Rechtfertigung« in einer im weiten Sinne deontologischen Weise, so dass sowohl epistemische Berechtigung als auch epistemische Verantwortung bezüglich Meinungsbildung darunter fallen. (Mag sein, dass man meint, das letztere folge aus dem ersteren.) Das ist eine vollkommen vernünftige Forderung. Sollte sich der christliche Glaube nicht so vertreten lassen, dass er ihr gerecht wird, dann stimmt etwas nicht mit dem christlichen Glauben. Doch es ist für den Christen – und zwar auch für einen kultivierten, gebildeten Gläubigen, dem alle Einwände und alle gegenläufigen Meinungsströmungen bekannt sind – überhaupt keine Schwierigkeit, in diesem Sinne in seinem Glauben gerechtfertigt zu sein. So verhält es sich unabhängig davon, ob sich sein Glaube an Gott oder spezifischere christliche Lehren auf propositionale Belege stützt oder nicht. Betrachten wir einen solchen Gläubigen: Soweit wir sehen, funktionieren seine kognitiven Vermögen gut; er legt keine erkennbare Fehlfunktion an den Tag. Die gegen den christlichen Glauben erhobenen Einwände sind ihm bekannt. Freud, Marx und Nietzsche (ganz zu schweigen von Flew, Mackie und Nielsen) hat er ebenso wie die übrigen Kritiker des christlichen bzw. theistischen Glaubens gelesen und zum Gegenstand seiner Reflexionen gemacht. Er weiß, dass es auf dieser Welt viele Menschen gibt, die nicht das gleiche glauben wie er selbst. Er glaubt nicht auf der Basis propositionaler Belege; also glaubt er in basaler Weise. Kann er (in diesem weiten deontologischen Sinn) gerechtfertigt sein, wenn er in dieser Weise an Gott glaubt? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht schwer. Unser Christ liest Nietzsche, lässt sich aber nicht beeindrucken von seinen Klagen darüber, dass das Christentum einen schwächlichen, weinerlichen, erbärmlichen und generell abstoßenden Personentyp fördere. Die meisten Christen, die er kennt oder von denen er gehört hat – wie z. B. Mutter Teresa –, passen nicht in diese Schablone. Freuds herablassende Einstellung zum Christentum und zum theistischen Glauben beruht nach seinem Urteil auf wenig mehr als unplausiblen Phantasievorstellungen über den Ursprung des Glaubens an Gott.⁵⁴ (Vatermord in der Urhorde – kann er das ernst meinen?) Und bei Marx findet er kaum gehaltvollere Überlegungen. Über
Siehe WCD, S. 33. Siehe unten, 5. Kapitel, S. 160 ff.
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diese und weitere Einwände denkt er möglichst sorgfältig nach, aber er findet sie nicht im Mindesten zwingend. Andererseits ist es so, dass unser Christ die theistischen Argumente zwar kennt und einige von ihnen für durchaus nicht wertlos hält, ohne dass er seinen Glauben jedoch auf sie stützt.Vielmehr hat er ein reiches spirituelles Seelenleben, wie es etwa auf den Anfangsseiten des Buchs Religious Affections von Jonathan Edwards beschrieben wird.⁵⁵ Er hat den Eindruck, dass ihm manchmal etwas von der überwältigenden Schönheit und Lieblichkeit des Herrn zu Bewusstsein kommt, so dass er einen Blick darauf erhascht. Häufig spürt er, wie er meint, dass der heilige Geist in seinem Herzen wirkt und ihn tröstet, ermuntert, belehrt und dazu bringt, die »großen Dinge des Evangeliums« zu akzeptieren (wie sie von Edwards genannt werden), so dass ihm zu der Einsicht verholfen wird, der herrliche, von Gott selbst ersonnene Rettungsplan sei nicht nur für die anderen, sondern auch für ihn selbst bestimmt. Nachdem er lange, hart und gewissenhaft darüber nachgedacht hat, kommt ihm dies alles sehr viel überzeugender vor als die Beschwerden der Kritiker. Verstößt er gegen irgendeine Pflicht, indem er auf diese Weise glaubt? Verhält er sich verantwortungslos? Offenbar nicht. Freilich könnte es sein, dass er einen Defekt aufweist – eine Fehlfunktion, die oberflächlich nicht zu erkennen ist. Es könnte sein, dass er einen Fehler begeht und, allen Bemühungen zum Trotz, ein Opfer seiner Illusionen oder seines Wunschdenkens ist. Es wäre möglich, dass diese Gedanken falsch sind – schrecklich falsch –, so dass er zu bemitleiden wäre. Dennoch verstößt er gegen keine erkennbare Pflicht, sondern er wird seiner epistemischen Verantwortung gerecht. Er tut, was er kann; er ist gerechtfertigt. Das ist nicht nur wahr, sondern es ist offensichtlich wahr.Vielleicht beschleicht uns irgendwie das Gefühl, ohne Belege sei dieser Christ nicht gerechtfertigt. Aber wenn dem so ist, muss es daran liegen, dass wir eine andere Vorstellung von Rechtfertigung an diesen Fall herantragen. Doch wenn es um Rechtfertigung im deontologischen Sinn geht – also in jenem Sinn, der Verantwortung und intellektuelle Berechtigung involviert –, ist der Christ sicher gerechtfertigt.Wie wäre es möglich, dass er sich schuldig macht oder unverantwortlich verhält, wenn er nach Kräften und möglichst verantwortungsvoll über die Sache nachdenkt und dennoch zu diesen Schlussfolgerungen gelangt? Einerlei, zu welchen Schlussfolgerungen er kommt – wäre er nicht auf jeden Fall gerechtfertigt, wenn er sie auf diesem Weg erreicht? Und zwar auch dann, wenn sie in irgendeinem klaren Sinn völlig unvernünftig sind? Im Pine Rest Christian Psychiatric Hospital gab es einmal
Edwards, Religious Affections (1746), hg. von John Smith, New Haven: Yale University Press 1959, S. 271.
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einen Patienten, der sich beschwerte, da ihm die gebührende Anerkennung dafür versagt geblieben sei, dass er eine neue Form der menschlichen Fortpflanzung erfunden habe – die »Fortpflanzung durch Rotation«, wie er sie nannte. Diese Form der Fortpflanzung kommt ohne Sex aus. Stattdessen hängt man eine Frau an einen an der Zimmerdecke befestigten Strick und versetzt sie in sehr schnelle Drehung. Das Resultat sei eine Vielzahl von Kindern, die ausreiche, um eine Stadt von der Größe Chicagos zu bevölkern. Tatsächlich sei Chicago, wie er behauptete, auf genau diese Weise zu seiner Bevölkerung gekommen. Er sehe ja durchaus ein, dass es etwas Ungehobeltes habe, wenn er dermaßen darauf bestehe, dass ihm die gebührende Anerkennung zuteil werde, aber andererseits habe er den Eindruck gewonnen, er sei für diese wichtige Entdeckung nicht genügend gewürdigt worden. Wo stünde Chicago denn, wenn es seine Entdeckung nicht gäbe? Nun gibt es keinen Grund zur Annahme, dieser unglückliche Mensch habe gegen seine epistemische Pflicht verstoßen, er habe kognitive Gebote außer acht gelassen, er habe sich nicht um seine epistemischen Verpflichtungen gekümmert oder sich in kognitiver Hinsicht unverantwortlich verhalten. Vielleicht hat er ja alles ihm Mögliche getan, um diese Verpflichtungen zu erfüllen. Man kann sich sogar vorstellen, dass sein wichtigstes Ziel im Leben darin bestand, seine intellektuellen Verpflichtungen zu erfüllen und seinen kognitiven Pflichten gerecht zu werden. Vielleicht verhielt er sich sogar im höchsten Maße pflichtbewusst. Wenn ja, so war er, was diese verrückten Überzeugungen betrifft, gerechtfertigt, auch wenn sie tatsächlich verrückt sind und das Resultat kognitiver Fehlfunktionen sind.⁵⁶ In der Hauptsache geht es uns natürlich um den De-jure-Einwand bzw. die Dejure-Frage. Ein hervorstechender Anwärter auf diesen Posten ist die Frage, ob der gläubige Christ epistemisch gerechtfertigt sein kann, wenn er seine Überzeugungen für wahr hält. Das Wort »gerechtfertigt« wollen wir hier in seinem ursprünglichen und basalen deontologischen Sinn auffassen. Dann lautet die Frage: Kann sich der gläubige Christ im Rahmen seiner epistemischen Rechte bewegen und sich epistemisch verantwortungsvoll verhalten, wenn er sich seine Meinungen in dieser Weise bildet? Kann er auch dann gerechtfertigt sein, wenn er nicht auf der Basis propositionaler Belege glaubt – ja, wenn es überhaupt keine stichhaltigen propositionalen Belege gibt? Die Antwort auf diese Frage ist offenkundig – im
Im Grunde läuft meine Argumentation darauf hinaus, dass dieser Glaubende subjektiv gerechtfertigt ist. Kann der Vertreter des klassischen Fundierungsgedankens das einräumen, aber zugleich behaupten, objektiv sei dieser Mensch nicht gerechtfertigt? Es gebe wirklich – ob er es weiß oder nicht – die Pflicht, nur auf der Basis von Belegen zu glauben. Aber besteht auch nur der geringste Grund zu der Annahme, eine solche Pflicht gebe es tatsächlich? An dieser Stelle ist uns der Klassizist zumindest eine Begründung schuldig.
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Grunde ist sie zu offenkundig, als dass dies die De-jure-Frage sein könnte. So liegen die Dinge jedenfalls, wenn diese Frage einer ernsthaften Auseinandersetzung und Erörterung würdig sein soll. Natürlich kann der gläubige Christ gerechtfertigt sein, und ich möchte vermuten, dass viele oder auch die meisten Christen heute tatsächlich gerechtfertigt sind, wenn sie ihre charakteristisch christlichen Überzeugungen für wahr halten. Nach der De-jure-Frage müssen wir daher anderswo Ausschau halten.
VI Analogische Variationen A Variationen über den klassischen Fundierungsgedanken Wenn man das klassische Bild pur auf sich wirken lässt, ist es also verheerenden Schwierigkeiten ausgesetzt. Heutzutage wird es jedoch nur selten pur genossen. Statt dessen gibt es viele analogische Erweiterungen oder analogisch verwandte Alternativen zu jeder der drei Hauptkomponenten des klassischen Pakets: zur Belegthese, zum klassischen Fundierungsgedanken und zur Deontologie. John Mackie⁵⁷ z. B. behält die belegtheoretische Komponente bei und behauptet, der christliche Glaube setze voraus, dass der Gläubige über Belege verfüge. Aber offenbar interpretiert Mackie den Begriff »Belege« sehr viel weiter als der Klassizist. Nach seiner Auffassung gibt es, ebenso wie nach dem klassischen Bild, eine Menge von Erkenntnissen – meine Belege –, im Verhältnis zu denen eine Überzeugung wahrscheinlich sein muss, um gerechtfertigt zu sein. Allerdings umfassen diese Belege bei Mackie sehr viel mehr als im Rahmen des klassischen Bilds. Natürlich umfassen sie von selbst Einleuchtendes und Unkorrigierbares, aber auch normale Wahrnehmungsurteile, Erinnerungsüberzeugungen, grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse, einige Maximen der Wahrscheinlichkeitsrechnung usw. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, dass man Stephen Wykstra folgt, der zwar einräumt, dass der einzelne gläubige Christ keine Belege benötigt, um gerechtfertigt zu sein, andererseits aber meint, der christliche Glaube sei insofern wesentlich belegbedingt, als es innerhalb der christlichen Gemeinschaft propositionale Belege dafür geben müsse.⁵⁸ Man könnte auch noch weiter gehen und im Anschluss an Norman Kretzmann⁵⁹ die klassische Bedingung dermaßen erweitern, dass vom Gläubigen nur noch verlangt wird, dass er über irgendwelche Siehe Das Wunder des Theismus. Siehe oben, Anm. 38. Siehe Our Knowledge of God: Essays on Natural and Philosophical Theology, hg.von Kelly Clark, Dordrecht: Kluwer 1992.
VI Analogische Variationen
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Belege verfügt, auch wenn es sich im Einzelfall nicht um propositionale Belege handelt. Dementsprechend könnten sinnliche Erfahrungen als Belege für Wahrnehmungsüberzeugungen gelten, und Erfahrungen anderer Art – darunter vielleicht auch solche, die unter der Rubrik »religiöse Erlebnisse« abgehandelt werden – könnten ebenfalls als Belege für den christlichen Glauben herhalten. Diese Variationen sind allesamt Variationen über die klassisch-fundierungstheoretische Komponente des klassischen Bilds. Nach Mackie und Kretzmann muss der Gläubige zwar über Belege verfügen, aber der Begriff Beleg wird umfassender interpretiert. Nach Wykstra hingegen sind Belege zwar nötig, aber der einzelne Gläubige braucht nicht über sie zu verfügen, solange sie irgendwo innerhalb seiner Gemeinschaft zu Gebote stehen. Mackie, Kretzmann und Wykstra halten (im Hinblick auf den christlichen Glauben) an der Belegthese des klassischen Bilds fest, aber sie modifizieren den Fundierungsgedanken. Unklar ist, ob sie die deontologische Komponente des klassischen Bilds akzeptieren. Nehmen wir einstweilen an, diese Komponente werde beibehalten, und nur die belegtheoretische Bedingung werde modifiziert. Nun liegt es meines Erachtens auf der Hand, dass der Gläubige auch dann gerechtfertigt sein kann, wenn weder aus Belegen à la Mackie abgeleitete triftige Argumente noch in der Gemeinschaft verfügbare propositionale Belege vorliegen, ja selbst dann, wenn es keine Belege im weiten Sinne Kretzmanns gibt. Wenn ich den überwältigenden Eindruck habe, dass die großen Dinge des Evangeliums zutreffen, wenn ich mich durch die Lektüre der Heiligen Schrift überzeugen lasse, und wenn ich beispielsweise über alle Einwände gründlich nachgedacht habe und mich von meiner Überzeugung immer noch nicht abbringen lasse, wie soll man mir dann aus meinem Glauben zu Recht einen Vorwurf machen können? Natürlich könnte ich auch in diesem Fall einem Irrtum, einer Täuschung oder meinem Wunschdenken erliegen oder unter einer kognitiven Fehlfunktion leiden. Trotzdem gibt es hier keine Pflicht, gegen die ich verstoße. Sofern die De-jure-Frage darauf abzielt, ob der Gläubige gerechtfertigt bzw. ohne Belege gerechtfertigt sein kann, ist die Beantwortung dieser Frage nach wie vor zu leicht: Natürlich kann er gerechtfertigt sein.
B Variationen über die Deontologie Die obigen Ausführungen beinhalten Erweiterungen des klassischen fundierungstheoretischen Bestandteils des klassischen Bilds. Freilich können wir auch an der deontologischen Komponente analogische Veränderungen vornehmen, und diese Erweiterungen lassen sich so mischen und zusammenstellen, dass sich eine beeindruckende Vielfalt von Kombinationen ergibt. Hier ist es nicht möglich, diese
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vielfältigen Spielarten der Belegthese in allen ihren Permutationen und Kombinationen zu untersuchen,⁶⁰ aber eine besonders hervorstechende Spielart möchte ich mir doch vornehmen, nämlich: die Alston-Rechtfertigung, also das Glauben auf der Basis eines zuverlässigen Grunds oder Indikators. Alston formuliert es wie folgt: Dass man in seinem Glauben, dass p, gerechtfertigt ist, heißt, dass man im Hinblick auf die Verwirklichung des epistemischen Ziels der Erreichung der Wahrheit in einer starken Position ist. […] Zunächst werde ich die folgende plausible Annahme machen: Dass man, indem man glaubt, dass p, in einer epistemisch starken Position ist, heißt, dass man über einen adäquaten Grund oder eine adäquate Basis dafür verfügt, p zu glauben. Wo es sich um eine mittelbare Form der Rechtfertigung handelt,wird dieser Grund in sonstigen Dingen bestehen, die man weiß oder in rechtfertigungsfähiger Weise glaubt. Ist die Rechtfertigung unmittelbarer Art, wird sie im Regelfall aus einer Erfahrung bestehen […].⁶¹
Demnach ist eine Überzeugung genau dann gerechtfertigt, wenn sie auf der Basis eines adäquaten Grunds gebildet wird. Offenbar unterscheidet sich die AlstonRechtfertigung grundlegend von dem ursprünglichen deontologischen Begriff. Das liegt daran, dass die Deontologie des klassischen Bilds nicht einmal andeutungsweise in ihr enthalten ist: »Ich lehne alle Spielarten des deontologischen Begriffs [der Rechtfertigung] ab, denn entweder machen sie unrealistische Annahmen im Hinblick auf die bewusste Steuerung des Glaubens oder sie haben praktisch gar nichts von dem zu bieten, was wir von einem Begriff der Rechtfertigung erwarten.«⁶² Nun, warum spricht er dann mit Bezug auf seinen eigenen Vorschlag von »Rechtfertigung«? Oder vielmehr: Warum betrachte ich seinen Vorschlag unter der Rubrik »Rechtfertigung«? Inwiefern handelt es sich um eine analogische Erweiterung dieses Begriffs? Die Antwort besagt, dass das Verlangte – also dass die betreffende Überzeugung auf einem wahrheitsleitenden Grund beruhen soll – eine analogische Erweiterung dessen ist, was dem klassischen Bild zufolge die relevante Pflicht ausmacht. Zwischen der im Sinne des klassischen Bilds deontologisch aufgefassten Rechtfertigung und der Alston-Rechtfertigung (im Sinne wahrheitsleitender Belege oder Gründe) besteht ein komplexes und interessantes Verhältnis. Die letztere Konzeption verwirft die Deontologie der ersteren, lässt das Wort »Rechtfertigung« aber diejenige Bedingung bezeichnen, die der ersteren zufolge hinreichend ist für die Erfüllung jener Pflicht, die der ersteren (aber nicht der letzteren) zufolge uns Menschen tatsächlich aufgebürdet
Zu einigen dieser Permutationen und Kombinationen siehe WCD, 1. Kapitel. Den Nachweis dafür, dass sich der christliche Glaube im Rahmen dieser Interpretationen tatsächlich rechtfertigen lässt, kann der Leser selbst erbringen. Alston, Perceiving God, Ithaca, NY: Cornell University Press 1991, S. 73. Ebd.
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ist. (Die Aufgabe herauszubekommen, wie sich diese Sachlage verständlicher beschreiben ließe, überlasse ich hiermit dem Leser.) Welche Bewandtnis hat es nun mit einem »Grund zum Glauben«? Ein mittelbarer Grund zum Glauben ist nach Alston seinerseits ein Glaube, eine Überzeugung, auf deren Grundlage der fragliche Glaube gebildet wird. Ein unmittelbarer Grund zum Glauben ist eine Erfahrung, ein Erlebnis, auf dessen Grundlage der Glaube gebildet wird. Was heißt es, dass der Grund zum Glauben adäquat ist? »Der Grund einer Überzeugung wird nur dann ausreichen, um sie zu rechtfertigen, wenn er genügend auf die Wahrheit der Überzeugung verweist. Ist der Grund dieser Aufgabe gewachsen, muss es der Fall sein, dass die Überzeugung, sofern sie auf dieser Basis gebildet wurde, höchstwahrscheinlich wahr ist.«⁶³ Der Grundgedanke ist also der, dass der Grund G einer Überzeugung Ü nur dann adäquat ist, wenn eine bestimmte bedingte Wahrscheinlichkeit hoch ist, nämlich die Wahrscheinlichkeit, dass Ü wahr ist, sofern Ü mit Hilfe von G gebildet wurde. Bei der Wahrscheinlichkeit handelt es sich hier um eine objektive Form von Wahrscheinlichkeit.⁶⁴ Ist eine Überzeugung Ü gerechtfertigt, wurde sie auf der Basis eines Grunds G gebildet dergestalt, dass die objektive bedingte Wahrscheinlichkeit von Ü im Verhältnis zu G – P(Ü/G) – hoch ausfällt. Ich bilde die Überzeugung, dass die höchste Eiche in meinem Hinterhof jetzt ihre Blätter verliert. Diese Überzeugung bilde ich auf der Basis irgendwelcher Erfahrungen. Alston würde die Sache vielleicht so formulieren: »Aus meiner Sicht scheint sich der Baum als einer zu präsentieren, der seine Blätter verliert.« In diesem Fall ist die Überzeugung genau dann gerechtfertigt, wenn es objektiv wahrscheinlich ist, dass der Baum seine Blätter verliert, sofern ich diese Erfahrung mache. Fügt man diese Elemente zusammen, kann man sagen, eine Überzeugung Ü sei aus der Sicht von S genau dann gerechtfertigt – oder vielmehr: prima facie gerechtfertigt –, wenn er auf der Basis eines wahrheitsleitenden Grunds G gebildet wird – d. h. genau dann, wenn er auf der Basis eines Grunds G solchermaßen gebildet wird, dass die objektive Wahrscheinlichkeit, dass Ü wahr ist, sofern sie mit Hilfe von G gebildet wurde, hoch ist.
C Ist das die De-jure-Frage? Haben wir damit die (bzw. eine) relevante De-jure-Frage ausfindig gemacht? Geht es bei der richtigen Frage darum, ob der christliche Glaube im Sinne Alstons gerechtfertigt ist? Spezifischer ausgedrückt, besagt diese Frage mit Bezug auf eine
Ebd., S. 75. Siehe WPF, S. 138 ff.
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gegebene christliche Überzeugung Ü, die ich für wahr halte – beispielsweise die Überzeugung, in Christus habe Gott die Welt mit sich versöhnt –, ob es einen wahrheitsleitenden Grund G gibt dergestalt, dass ich die fragliche Überzeugung auf der Basis dieses Grundes für wahr halte? Aber ist das wirklich eine tragfähige De-jure-Frage? Ich für mein Teil möchte geltend machen, dass sie es nicht ist.Wird die De-jure-Frage mit Bezug auf den christlichen Glauben gestellt, geht es darum, ob der christliche Glaube akzeptabel, in Ordnung und so beschaffen ist, dass eine vernünftige, intelligente, rationale und informierte Person in epistemischen Umständen, die mehr oder weniger unseren eigenen gleichen, solche Überzeugungen für wahr halten könnte bzw. würde. Dagegen scheint es sich bei der Frage, ob es für eine solche Überzeugung manchmal oder im Regelfall einen wahrheitsleitenden Grund gibt, um eine ganz andere Fragestellung zu handeln. Für diese Auffassung kann ich zwei Gründe anführen: Erstens gibt es mehrere wichtige Formen von Überzeugungen – vor allem Überzeugungen a priori und Erinnerungsüberzeugungen –, bei denen es offenbar gar keine Gründe im Sinne Alstons gibt, obwohl sie vom epistemischen Standpunkt aus gesehen völlig in Ordnung sind. Betrachten wir das Beispiel Erinnerung. Ich erinnere mich an mein Mittagessen: Es gab Linsensuppe und ein Brötchen. Diese Überzeugung basiert nicht auf propositionalen Belegen. Ich erschließe sie nicht aus anderen Dingen, die ich weiß oder glaube, wie z. B. aus meinem Wissen, dass ich zu Mittag immer Linsensuppe mit Brötchen esse, oder meinem Wissen, dass es jetzt kurz nach Mittag ist, auf meinem Schreibtisch Brötchenkrümel zu sehen sind und im Papierkorb ein leerer Suppenteller aus Plastik liegt. Ein mittelbarer Grund ist also nicht gegeben. Auf Erfahrung basiert die Überzeugung aber auch nicht. Jedenfalls ist klar, dass Erinnerungsüberzeugungen nicht auf so etwas wie Sinneserfahrung oder phänomenalen bildlichen Vorstellungen basieren.⁶⁵ Es mag zwar sein, dass Bruchstücke solcher Vorstellungen vorhanden sind (vielleicht ein fragmentarisches Teilbild eines Brötchens oder einer Schüssel), aber meine Überzeugung bilde ich ganz sicher nicht auf der Basis dieses Bilds. Es liegt auf der Hand, dass ich mich auch ohne diese – oder irgendwelche anderen – Bilder erinnern könnte. Manche Menschen berichten auch, ihre Erinnerungen seien nie mit phänomenalen Bildern verbunden. Also sind die Vorstellungsbilder keine notwendige Bedingung. Sie sind aber auch nicht hinreichend, denn man könnte die Vorstellungen haben, ohne dass man sich an etwas erinnert. Der Grund liegt darin, dass die Vorstellungsbilder, die damit einhergehen, dass man sich einbildet, ein Brötchen und Linsensuppe zu Mittag gegessen zu haben, oder damit einhergehen, dass man sich den entsprechenden Gedanken durch den Kopf gehen lässt, zu-
Siehe WPF, S. 58 ff.
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mindest in meinem eigenen Fall nicht von den Bildern zu unterscheiden sind, die damit einhergehen, dass man sich daran erinnert, ein Brötchen und Linsensuppe zu Mittag gegessen zu haben. Selbst wenn es tatsächlich so ist, dass ziemlich klare phänomenale Vorstellungsbilder mit dieser Erinnerung einhergehen, so weiß man doch gewiss nicht, dass diese Vorstellungen auf Linsen-Suppe zurückgehen, denn das Bild ist weder klar noch detailliert noch explizit genug, um es zu ermöglichen, dass man es beispielsweise von Vorstellungen unterscheidet, die sich auf Erbsensuppe, Bohnensuppe oder etliche andere Arten von Suppe beziehen.⁶⁶ Dass es sich um Linsensuppe gehandelt hat, weiß man demnach nicht aufgrund dieser Erfahrung. Die Erfahrung ist nicht der Grund dafür, dass man sich die Meinung bildet, es sei Linsensuppe gewesen. (Das Vorstellungsbild ist offenbar eher so etwas wie schmückendes Beiwerk, auf das man auch verzichten kann.) Vielmehr ist es so, dass man sich einfach erinnert, einfach diese Überzeugung bildet. Oder um es vielleicht genauer auszudrücken: Diese Überzeugung wird in uns gebildet – man selbst ist an der Bildung der Überzeugung kaum beteiligt. Das gleiche gilt auch für Überzeugungen a priori (obwohl dieser Fall vielleicht strittiger ist).⁶⁷ Folgende Aussage halte ich für wahr: »Notwendigerweise gilt: Wenn alle Menschen sterblich sind und Sokrates ein Mensch ist, dann ist Sokrates sterblich.« Wenn ich mir diese Überzeugung durch den Kopf gehen lasse, gehen tatsächlich gewisse Vorstellungsbilder damit einher, etwa ein bruchstückhaftes Bild des relevanten deutschen Satzes, wie er in der Logikübung an die Tafel geschrieben wird. Aber gewiss kommt die Überzeugung nicht auf der Basis dieser Vorstellungsbilder zustande. Die Bilder sind nicht einmal ansatzweise so etwas wie ein Grund dafür. Die Überzeugung steht überhaupt nicht in dem gleichen Verhältnis zu den Vorstellungsbildern, in dem meine Überzeugung, im Hinterhof schmelze der Schnee, zu den visuellen Vorstellungsbildern steht, die ich mir gerade vorführe. Ja, soweit ich weiß, sind die diese Aussage begleitenden Vorstellungsbilder die gleichen wie die, die damit einhergehen, dass ich mir »Notwendigerweise gilt: Wenn alle Menschen sterblich sind und Sokrates ein Mensch ist, dann ist Sokrates sterblich« durch den Kopf gehen lasse. Es gibt also viele Erinnerungsüberzeugungen und apriorische Überzeugungen, die weder auf der Basis eines mittelbaren noch auf der Basis eines unmittelbaren Grunds im Sinne von Alston gebildet werden. Aber natürlich sind viele Erinnerungsüberzeugungen und apriorische Überzeugungen dennoch überaus vernünftig, gescheit, rational und dergleichen mehr. Daraus folgt demnach, dass
Siehe WPF, S. 57 ff. Siehe WPF, S. 104 ff.
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es für die Vernünftigkeit, Gescheitheit oder Rationalität einer Überzeugung keinen wahrheitsleitenden Grund zu geben braucht. Zweitens gibt es auch Überzeugungen, die zwar tatsächlich einen wahrheitsleitenden Grund (im Sinne der Erklärung Alstons) haben, aber dennoch weder gescheit noch vernünftig sind. Alston zufolge basiert eine Überzeugung genau dann auf einem adäquaten Grund, wenn sie auf einem Grund basiert dergestalt, dass ihre Wahrheit objektiv wahrscheinlich ist, sofern sie auf diesem Grund basiert. Hier ist zu beachten, dass einer notwendigen Wahrheit (sofern die objektive Wahrscheinlichkeit mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung in Einklang steht) die objektive Wahrscheinlichkeit 1 zukommt – einerlei, zu welcher anderen Aussage sie in ein Verhältnis gesetzt wird. Betrachten wir also die Aussage 29 · 38 = 1102. Die Wahrscheinlichkeit dieser Aussage beträgt immer 1, egal, auf welche Bedingung man sie bezieht. Unabhängig davon, wie man diese Aussage begründet, ist das Fürwahrhalten dieser Aussage automatisch eine Überzeugung, die auf einem adäquaten Grund basiert. Allgemeiner gesprochen: Jedes begründete Fürwahrhalten einer notwendigen Aussage p ist aus diesem Grund gerechtfertigt, denn die objektive bedingte Wahrscheinlichkeit, dass p, wird im Verhältnis zu jeder beliebigen Aussage 1 betragen. Nehmen wir etwa an, ich sei außerordentlich vertrauensselig, sobald es um Mengenlehre geht, und halte beispielsweise den Satz von Cantor (dem zufolge jede Menge weniger mächtig ist als ihre Potenzmenge) nicht deshalb für wahr, weil ich einen Beweis verstanden oder von einer kompetenten Person gehört hätte, der Satz sei wahr, sondern weil ich auf dem Bürgersteig ein Comic-Heft gefunden habe und dort auf eine Figur gestoßen bin, die behauptet, der Satz von Cantor sei ihr Lieblingstheorem. In diesem Fall hat meine Überzeugung zwar einen wahrheitsleitenden Grund, ist aber weder rational noch vernünftig. Um ein weiteres Beispiel zu nennen, das näher bei unseren derzeitigen Interessen liegt: Nach den meisten Strömungen der theistischen Tradition ist Gott ein notwendiges Wesen, dem seine wichtigsten Attribute mit Notwendigkeit zukommen. Es gibt keine mögliche Welt, in der er nicht existiert, und keine mögliche Welt, in der ihm Eigenschaften wie Allwissenheit, Allgüte, maximale Liebe und dergleichen abgehen. Sofern das zutrifft, wird der Aussage, dass ein Wesen wie Gott existiert (oder dass er allwissend oder maximal liebevoll ist), die unbedingte objektive Wahrscheinlichkeit 1 zukommen und folglich die bedingte objektive Wahrscheinlichkeit 1 im Verhältnis zu jeder beliebigen sonstigen Aussage. Also gilt in Bezug auf jeden beliebigen Grund: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine dieser Überzeugungen wahr ist, beträgt 1, sofern sie auf der Basis dieses Grunds gebildet wurde.Wenn wir jedoch die De-jure-Frage bezüglich des Glaubens an Gott stellen, wollen wir vermutlich keine Frage stellen, deren bejahende Antwort schon allein daraus folgt, dass Gott ein notwendiges Wesen ist, dem seine primären Attribute
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wesentlich zukommen. Angenommen, Gott sei tatsächlich ein notwendiges Wesen. Dann werde ich, sofern ich an Gott glaube, um meinen Freunden einen Gefallen zu tun, oder deshalb, weil ich einer Gehirnwäsche oder einer Hypnose unterzogen wurde oder weil ich Angehöriger eines bösen Gesellschaftssystems bin, schon allein deshalb im Sinne Alstons gerechtfertigt sein. Wenn dem so ist, fällt es jedoch allzu leicht, in diesem Sinne Rechtfertigung zu erlangen. Zweifellos gibt es Varianten der Rechtfertigung im Sinne Alstons, und im Rahmen einer vollständigen Abhandlung müssten wir uns auch mit ihnen auseinandersetzen. Aber vita brevis est, obschon philosophia longa est. Daher komme ich vorläufig zu dem Schluss, dass es bei der De-jure-Frage nicht darum geht, ob der christliche Glaube im Sinne Alstons gerechtfertigt ist. Die De-jure-Frage haben wir immer noch nicht in den Griff bekommen.
4 Rationalität Bei der De-jure-Frage, die uns betrifft – also bei der Frage, ob der christliche Glaube gerechtfertigt, rational, vernünftig bzw. in intellektueller Hinsicht respektabel ist –, kann es sich, wie wir gesehen haben, nicht um die Frage der Rechtfertigung im strengen Sinne handeln. Das heißt, es kann sich nicht um die auf Locke zurückgehende deontologische Frage handeln, ob der gläubige Christ epistemisch verantwortungsvoll ist oder sein kann, wenn er in der faktisch gegebenen Weise gläubig ist und sich damit im Rahmen seiner epistemischen Rechte bewegt, ohne gegen epistemische Pflichten zu verstoßen. Diese Frage ist, wie wir gesehen haben, viel zu leicht zu beantworten: Es liegt auf der Hand, dass der Gläubige – auch wenn er ein intelligenter, gebildeter, moderner Mensch ist, der alle Einwände gehört und bedacht hat – in diesem ursprünglichen Sinn des Wortes gerechtfertigt sein kann. Ferner haben wir gesehen, dass es analogisch erweiterte Bedeutungen des Worts »Rechtfertigung« gibt, die aber in keinem Fall darauf hinauslaufen, ein gläubiger Christ könne nicht in diesem Sinne gerechtfertigt sein, wenn er seine christliche Überzeugung für wahr hält. Gläubige können sich irren; sie können Täuschungen erliegen, töricht und (in einer nicht zu Tadel Anlass gebenden Weise) unkritisch sein, ohne dass damit Grund zur Annahme gegeben wäre, dass sie deshalb unweigerlich ihre epistemischen Pflichten versäumen oder im Sinne einer dieser analogischen Erweiterungen des Wortes ungerechtfertigt sind.
I Verschiedene Formen von Rationalität Natürlich lauern in der Nähe weitere Fragen und weitere Möglichkeiten, die Dejure-Frage zu interpretieren. Vor allem kann man die Frage aufwerfen, ob sich der Gläubige rational verhält, indem er so glaubt, wie er glaubt. Viele Autoren, von denen die De-jure-Frage gestellt oder eine De-jure-Kritik geübt wird, heben dabei nicht auf Rechtfertigung, sondern auf Rationalität ab. (Noch häufiger bedienen sie sich beider Vokabulare, wobei sie gelegentlich den einen Ausdruck als Synonym des anderen verwenden.) Angenommen, wir nehmen uns dieses Themas an. Könnte es dann sein, dass die richtige De-jure-Frage darauf hinausläuft, ob der christliche Glaube (mit oder ohne Belege) rational ist? Was heißt es jedoch, eine Überzeugung sei rational? Zunächst ist festzuhalten, dass dieses Wort vielfältig ist, ja polyphon, wie unsere postmodernen Landsleute gern sagen. Es gibt mehrere, in wichtiger Hinsicht verschiedene Vorstellungen von Rationalität, die im Schwange sind, und als erstes müssen wir angeben, welcher
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Rationalitätsbegriff in unsere Frage hineinspielt. Welches sind denn die wichtigsten Auffassungen von Rationalität? In WCD habe ich einige verschiedene, aber analogisch miteinander verwandte Bedeutungen des Ausdrucks angeführt. Die Grundbedeutung ist (1) die Aristotelische Rationalität; dabei handelt es sich um die Bedeutung, in der Aristoteles sagt, der Mensch sei ein rationales Tier. Damit verwandt sind in verschiedenen Hinsichten die folgenden Auffassungen: (2) die Rationalität als richtiges Funktionieren; (3) die Rationalität im Sinne dessen, was sich im Rahmen der Leistungen der Vernunft bewegt oder diesen Leistungen entspricht; (4) die Zweck-Mittel-Rationalität, bei der es um die Frage geht, ob ein bestimmtes Mittel, das jemand wählt, tatsächlich ein für die Zwecke des Betreffenden geeignetes Mittel ist; (5) die deontologische Rationalität. Diese Auffassungen müssen wir uns kurz anschauen. Anschließend werden wir uns der praktischen Rationalität im Sinne von William Alston ein wenig ausführlicher widmen. Doch hier wird unsere Aufgabe dadurch erleichtert, dass wir schon im vorigen Kapitel auf (5) eingegangen sind.¹
A Aristotelische Rationalität Nach Aristoteles ist der Mensch ein rationales Tier. Kein Einwand – in dieser Hinsicht hat Aristoteles, ebenso wie in manchen anderen Hinsichten, zweifellos recht. Aber an welchen spezifischen Punkt hat er dabei gedacht? Hier ist das Wort »rational« wohl ein Hinweis auf eine Eigenschaft – oder der Ausdruck einer Eigenschaft –, die den Menschen von anderen Tieren unterscheidet. Aus der Sicht von Aristoteles handelt es sich bei dieser Eigenschaft um den Besitz der Ratio, des Denkvermögens. Der Grundgedanke ist der, dass Menschen – anders als zumindest einige andere Tiere – über Begriffe verfügen und Überzeugungen haben können. Sie können denken, reflektieren, über Dinge nachdenken, und zwar sogar über Dinge, die in Raum oder Zeit weit entfernt sind. Die Menschen sind Erkennende (oder können es zumindest sein). Das ist es, was es heißt, ein rationales Wesen zu sein; und das ist es, was nach Aristoteles den Menschen auszeichnet. Natürlich können rationale Vermögen eine graduelle Sache sein. Normalerweise begreifen wir uns selbst (vermutlich in einem Anfall von Spezies-Chauvinismus) als in dieser Hinsicht weitaus begabtere Wesen als die übrigen terrestrischen Tiere, obwohl wir vielleicht durchaus einzuräumen bereit sind, dass einige von ihnen
Die deontologische Rationalität läuft im Grunde auf das gleiche hinaus wie die Rechtfertigung. Siehe oben, 3. Kapitel, S. 102. Dass zwischen Rechtfertigung und Rationalität ein analogischer Zusammenhang besteht, ist ein nützlicher Hinweis.
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immerhin rudimentäre Vernunftvermögen an den Tag legen. Außerdem erkennen wir, dass es in anderen Bereichen des Universums womöglich andere Geschöpfe gibt, die uns völlig in den Schatten stellen, sobald es auf intellektuelle Kräfte ankommt. Geht es bei der De-jure-Frage nun darum, ob ein in diesem Sinne rationales Wesen den christlichen Glauben akzeptieren kann? Vermutlich nicht, denn angesichts der vielen Millionen von rationalen Tieren, die diesen Glauben de facto akzeptieren, ist diese Frage – ebenso wie die Frage nach der Rechtfertigung – viel zu leicht zu beantworten.
B Rationalität als richtiges Funktionieren Stimmt man der Ansicht zu, dass rationale Wesen tatsächlich den christlichen Glauben akzeptieren und ihn daher auch akzeptieren können, möchte man vielleicht die Frage anschließen, ob es nur schlecht funktionierende Wesen sind, die dergleichen tun, also Wesen, deren rationale Vermögen in irgendeiner Hinsicht dysfunktional sind. Leidet jemand an pathologischer Konfusion, an Zerstreutheit, am manischen Stadium der bipolaren Störung oder irgendwelchen Täuschungen (so dass er vielleicht glaubt, die Marsbewohner seien hinter ihm her), nennt man ihn irrational. Das Problem, das hier vorliegt, ist eine Dysfunktion, eine Fehlfunktion der rationalen Fähigkeiten. Der Paranoide bildet seine Überzeugungen nicht in der gleichen Weise wie ein normaler, angemessen funktionierender Mensch, sondern bei ihm funktioniert ein Teil des kognitiven Apparats nicht richtig. Wer an pathologischer Konfusion leidet, weiß womöglich nicht, welcher Tag heute ist oder wo er wohnt. Solche Dysfunktionen können langfristig sein oder episodisch vorkommen. Ist letzteres der Fall, sagt man, die Rationalität sei wiederhergestellt, sobald die Episode vorüber ist. In diesem Sinn hängt Rationalität also mit dem richtigen Funktionieren zusammen, mit dem Fehlen dysfunktionaler oder pathologischer Erscheinungen: rational ist derjenige, der nicht an einer solchen Krankheit leidet. Dem entspricht, dass die Irrationalität in diesem Sinn von der Fehlfunktion (eines Teils) der rationalen Vermögen abhängt, also jener Vermögen, aufgrund deren wir als rationale Tiere gelten. Es besteht demnach ein analogischer Zusammenhang zwischen der Aristotelischen Rationalität und der Rationalität im Sinne des richtigen Funktionierens. Hier müssen wir zwei Formen der Rationalität qua richtiges Funktionieren auseinanderhalten. Einerseits gibt es die interne Rationalität, wie man sie vielleicht nennen könnte. Ansatzweise lässt sich die interne Rationalität dahingehend charakterisieren, sie hänge davon ab, dass alle Überzeugungen produzierenden Prozesse »stromabwärts von der Erfahrung« richtig funktionieren. Wie lässt sich diese Metapher erklären? Zunächst kann man festhalten, dass es verschiedene
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Spielarten der Erfahrung gibt. Erstens gibt es sinnliche Vorstellungen, also jene Erfahrungen, die vor allem bei der visuellen Wahrnehmung vorkommen, aber auch beim Hören, Riechen, Schmecken und Berühren. Um in der Terminologie von Roderick Chisholm zu reden: bei diesen Erfahrungen wird dem Betreffenden in dieser oder jener Weise erschienen. In der Wahrnehmung spielen sinnliche Vorstellungen eine überaus wichtige Rolle. Wahrnehmungsüberzeugungen werden in Reaktion auf sinnliche Vorstellungen und auf der Basis solcher Vorstellungen gebildet. Das ist allerdings nicht die einzige Art von Erfahrungen, die bei der Bildung von Überzeugungen vorkommen. Oben im 3. Kapitel (S. 124 f.) und in WPF (S. 188 – 193) habe ich darauf hingewiesen, dass die Bildung von Erinnerungsüberzeugungen häufig ohne begleitende phänomenale Erfahrungen auskommt oder allenfalls mit sinnlichen Vorstellungen einhergeht, die fragmentarisch, flüchtig, undeutlich und schwer zu fassen sind. Ich erinnere mich, dass ich in Novosibirsk eine Party besucht habe. Ein paar Vorstellungen schweben mir zwar vor, aber sie sind flüchtig, bruchstückhaft, undeutlich und so beschaffen, dass alles verschwindet, wenn ich meine Aufmerksamkeit darauf zu richten versuche. Aber es sind auch Erfahrungen anderer Art gegeben: Die Überzeugung, dass die Party in Novosibirsk (und nicht etwa in Cleveland) stattfand, wirkt passend, akzeptabel, natürlich. Sie drängt sich auf und scheint irgendwie unumgänglich zu sein (es fällt schwer, hier die richtigen Worte zu finden). Es ist so, dass sich die Überzeugung passend, akzeptabel und natürlich anfühlt; sie fühlt sich anders an als eine für falsch gehaltene Überzeugung. Das gleiche gilt für Überzeugungen a priori: Ich glaube, dass Hunde keine Mengen sind. Auch diese Überzeugung beinhaltet kaum irgendwelche sinnlichen Vorstellungen. Sobald ich die Aussage näher betrachte, sieht es vielleicht so aus, als erhaschte ich einen momentanen, flüchtigen Blick auf einen Teil eines die Aussage ausdrückenden Satzes, womöglich auch einen bruchstückhaften Blick auf einen Hund oder eventuell auf einen in geschweifte Klammern eingeschlossenen Hund. Diese Vorstellungen scheinen jedoch unwichtig zu sein und wirken eher wie schmückendes Beiwerk, nicht wie etwas, auf dessen Basis die betreffende Überzeugung gebildet wird. Auch hier stellen sich wieder Erfahrungen jener anderen Art ein: Es wirkt einfach wahr und sogar notwendigerweise wahr, dass Hunde keine Mengen sind. Das Nachdenken über diese Aussage vermittelt ein anderes Gefühl als das Nachdenken über die Aussage, manche Hunde (wie z. B. mein Hund Tietje) seien eben doch Mengen. Um ein drittes Beispiel anzuführen, das in WPF (S. 48 ff.) ausführlicher besprochen wird: Hier geht es um das Wissen, dass ich es bin (und nicht jemand anders), der jetzt die vor mir liegende Seite wahrnimmt. Auch hierbei handelt es sich nicht um sinnliche Vorstellungsbilder. Meine Überzeugung, dass ich (im Gegensatz zu meinem Vetter aus Cleveland) es bin, der diese Seite wahrnimmt, stützt sich nicht auf sinnliche
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Vorstellungen. Auch hier sind wieder phänomenale Erfahrungen jener anderen Art gegeben: ebendieses Gefühl, dass die betreffende Aussage die richtige ist. Phänomenale Erlebnisse dieser zweiten Art wollen wir doxastische Erfahrungen nennen, da sie stets mit der Bildung von Überzeugungen einhergehen.² Die interne Rationalität umfasst zunächst einmal, dass man auf Erfahrungen – und zwar sowohl auf phänomenale Vorstellungsbilder wie auch auf doxastische Erlebnisse – mit der Bildung oder Vertretung angemessener Überzeugungen reagiert. Was die Erfahrungen der ersten Art betrifft, werde ich Überzeugungen bilden, die meinen phänomenalen Vorstellungsbildern entsprechen: Wird mir z. B. in der Weise erschienen, die mit dem Anblick eines grauen Elefanten einhergeht, werde ich nicht die Überzeugung bilden, das Wahrgenommene sei ein oranger Flamingo. Solche Reaktionen werden durch interne Rationalität verhindert. Aber die zweite Art, bei der es um die Bildung der richtigen Überzeugungen in Reaktion auf doxastische Erfahrungen geht, ist vielleicht interessanter. So könnte es beispielsweise sein, dass ein pathologischer Skeptiker die gleichen doxastischen Erfahrungen macht wie der Rest der Menschheit, aber dennoch außerstande ist, die angemessenen Überzeugungen zu bilden. Es könnte etwa sein, dass mir in der Weise erschienen wird, die damit einhergeht, dass ich sehe, wie Peter auf mich zugelaufen kommt. Aufgrund meiner pathologischen Übervorsichtigkeit bin ich jedoch nicht dazu in der Lage, es zu glauben, dass er wirklich auf mich zugelaufen kommt. (Schließlich könnte es sich ja um einen hinterlistig ersonnenen Roboter handeln; vielleicht träume ich; oder ich bin ein Gehirn im Tank oder das Opfer irgendeiner anderen Täuschung. Außerdem fragt es sich, ob ich mir sicher sein kann, dass wirklich ich es bin, auf den Peter zuläuft.) Solche Reaktionen werden ebenfalls durch interne Rationalität verhütet. Dagegen erwähnt René Descartes Personen, »deren Gehirn durch widrige Dünste schwarzer Galle so geschwächt ist, dass sie hartnäckig behaupten, […] sie hätten einen tönernen Kopf, oder sie seien etwa gar Kürbisse oder aus Glas«.³ Solche Reaktionen werden durch interne Rationalität nicht (mit Notwendigkeit) verhütet. Vielleicht werden diese Irren von ihren doxastischen Erfahrungen nachgerade überwältigt. Mag sein, dass ihnen diese Aussage (ihr Kopf sei aus Glas) genauso offenkundig erscheint wie 3 + 1 = 4. Dann liegt das Problem in diesem Erscheinen, also darin, dass sie ein doxastisches Erlebnis dieser Art haben. Ist diese doxastische Erfahrung einmal gegeben, verlangt das richtige Funktionieren (unter gleichbleibenden Randbedingungen) die Bildung der entsprechenden Überzeugung – und genau dem entsprechend ver-
Abgeleitet von δοξα, dem griechischen Wort für Meinung, Ansicht. In WPF bezeichne ich Erlebnisse dieser Art als »impulsbedingte Belege«. Descartes, 1. Meditation, übers. von Artur Buchenau, Hamburg: Meiner 1994, S. 12.
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halten sich diese Irren. Die Irrationalität, die sie an den Tag legen, ist externer, aber nicht interner Art. Die interne Rationalität verlangt allerdings noch mehr. Hier können wir kurz darauf eingehen: Eine Person ist nur dann intern rational, wenn ihre Überzeugungen kohärent sind – oder zumindest ausreichend kohärent, um fürs richtige Funktionieren zu genügen. Ist diese Person intern rational, wird sie, sofern sie einen tönernen Kopf zu haben glaubt, nicht auch noch glauben, der Kopf sei aus Fleisch und Blut. Zumindest wird sie diese beiden Dinge nicht gleichsam innerhalb der Grenzen desselben Gedankens denken. Über die Kohärenz, die vom richtigen Funktionieren vorausgesetzt wird, wäre eigentlich sehr viel mehr zu sagen, aber es wird auf eine andere Gelegenheit warten müssen. Zweitens wird eine intern rationale Person bei gegebener Gelegenheit die richtigen Schlüsse ziehen. Wer intern rational ist, aber einen tönernen Kopf zu haben glaubt, wird beispielsweise wahrscheinlich glauben, dass der amerikanische football äußerst gefährlich ist (zumindest wenn man keinen ausgezeichneten Helm trägt). Drittens wird diese Person angesichts ihrer gegebenen Überzeugungen im Hinblick auf anstehende Handlungen die richtigen Entscheidungen treffen, d. h. jene Entscheidungen, die das richtige Funktionieren verlangt. Unter der Voraussetzung, dass man etwa wirklich aus Glas zu sein glaubt, ist es rational, jedem Stoß aus dem Weg zu gehen. Der letzte Punkt lautet: Ist die betreffende Person intern rational, wird sie auch in den folgenden Hinsichten tun, was das richtige Funktionieren verlangt: Sie wird bevorzugt glauben, was wahr ist; sie wird nach weiteren Belegen suchen, sobald das angebracht ist; und sie wird sich generell epistemisch verantwortungsvoll verhalten. Jetzt, da wir die interne Rationalität im Griff haben, lässt sich die externe Rationalität leicht erklären. Erstens verlangt sie richtiges Funktionieren im Hinblick auf die Bildung der sinnlichen Erfahrungen, auf denen die Wahrnehmungsüberzeugungen basieren. Zweitens besteht sie in der Bildung der richtig gearteten doxastischen Erfahrungen, also derjenigen doxastischen Erfahrungen, die vom richtigen Funktionieren verlangt werden. Vermutlich wird man weithin einräumen, dass der christliche Glaube auch von Personen vertreten werden kann, deren rationale Vermögen keine Fehlfunktionen aufweisen – oder zumindest keine Fehlfunktionen, bei denen klinische Psychosen ins Spiel kommen.⁴ Die Wirklichkeit sieht so aus, dass viele gläubige
Richard Rorty meint allerdings an irgendeiner Stelle, in der neuen liberalen Gesellschaft würden diejenigen, die glauben, es gebe so etwas wie den eigentlichen Grundzweck des Menschen, als Verrückte angesehen werden. Siehe auch Daniel Dennett, Darwin’s Dangerous Idea (New York: Simon and Schuster 1995), S. 516. In diesem Zusammenhang deutet Dennett an, Baptisten sollten vielleicht im Zoo untergebracht und als interessante Kulturrelikte gehalten
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Christen durchaus dazu in der Lage sind, einen Beruf auszuüben – manche von ihnen sogar an der Universität. (Natürlich mögen Sie durchaus denken, das letztere Faktum besage nur wenig im Hinblick auf das richtige kognitive Funktionieren.) Also geht es bei der De-jure-Frage vermutlich nicht darum, ob christliche Überzeugungen von Personen für wahr gehalten werden können, deren kognitive bzw. rationale Vermögen richtig funktionieren (jedenfalls wenn man diesen klinischen Sinn von »Rationalität« zugrunde legt). Doch damit ist die Sache keineswegs erledigt, denn es gibt subtilere Formen kognitiven Fehlfunktionierens und der Behinderung des richtigen kognitiven Funktionierens. Tatsächlich verhält es sich so, dass die (bzw. eine) vernünftige Spielart der De-jure-Frage wirklich im Umfeld dieser subtileren Formen zu suchen ist. Auf den Begriff des richtigen Funktionierens werden wir im nächsten Kapitel, in dem wir den Begriff der Gewährleistung erkunden, eingehender und detaillierter zurückkommen. In der Zwischenzeit wollen wir uns jedoch einer weiteren Form von Rationalität zuwenden.
C Die Leistungen der Vernunft Zunächst einmal stellt sich die Frage, welches denn eigentlich die Leistungen der Vernunft sind? Hier müssen wir das Wort »Vernunft« ein wenig enger fassen als bei unseren Überlegungen zur Aristotelischen Rationalität. Zu den Dingen, die wir wissen, gehören einige, die evident sind, also von selbst einleuchten. Was es heißt, eine Aussage leuchte von selbst ein, ist nicht ohne weiteres verständlich.⁵ Grob gesprochen ist jedoch damit gemeint, dass eine Aussage von selbst einleuchtet, wenn sie so selbstverständlich ist, dass man sie nicht einmal verstehen kann, ohne einzusehen, dass sie wahr ist. Beispiele wären Aussagen wie »7 + 5 = 12«, »Sofern alle Menschen sterblich sind und Sokrates ein Mensch ist, dann ist Sokrates sterblich« und »Wenn Hans größer als Klaus und Klaus größer als Peter ist, dann ist Hans größer als Peter«. Dahinter steht die Vorstellung, dass die in diesem engen Sinn aufgefasste Vernunft das Vermögen bzw. die Fähigkeit ist, durch die wir die Wahrheit von selbst einleuchtender Aussagen einsehen. Natürlich ist die Vernunft auch das Vermögen, durch das man einsieht, dass eine Aussage aus einer anderen folgt bzw. von dieser impliziert wird. Wenn ich vom Kellner erfahre, dass alle Partygäste betrunken waren, und von meinem Freund erfahre, dass Paul bei der werden – allerdings nur unter der Bedingung, dass sie es unterlassen, ihren Kindern offenkundige Unwahrheiten zu erzählen wie etwa die These, der Mensch sei kein Produkt der Evolution durch natürliche Selektion (S. 519). Siehe WPF, S. 108 ff.
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Party dabei war, kann ich den Schluss ziehen, dass Paul betrunken war. Die Leistungen der Vernunft werden daher von selbst einleuchtende Aussagen sein sowie Aussagen, die evidentermaßen aus Leistungen der Vernunft folgen. (Das ließe sich formulieren, indem man sagt, das Von-selbst-Einleuchten sei unter der Beziehung des von selbst einleuchtenden Gefolgertwerdens eingeschlossen.) Sodann könnte man sagen, eine Aussage sei rational, sofern sie zu den Leistungen der Vernunft gehört, und irrational, sofern ihre Verneinung zu den Leistungen der Vernunft gehört. Hier ist zu beachten, dass viele Aussagen – wie z. B. die Aussage, Cäsar habe den Rubikon überquert – demnach weder rational noch irrational sein werden, denn weder sie noch ihre Negationen gehören zu den Leistungen der Vernunft.⁶ Auch hier ist der Zusammenhang mit der Aristotelischen Rationalität leicht zu erkennen: Die in diesem engen Sinn aufgefasste Vernunft ist eines der Vermögen, deren Besitz uns von anderen Tieren unterscheidet; und wenn dieses Vermögen richtig funktioniert, sind seine Ergebnisse die Leistungen der Vernunft. Hier besteht folgendes Problem: Die Leistungen der Vernunft sind offenbar eine graduelle Angelegenheit, denn manche wirken zwingender als andere, und nur einige besitzen die überwältigende Selbstverständlichkeit der oben zitierten Aussagen. So ist es meines Erachtens beispielsweise offensichtlich, dass es keine Dinge gibt, die nicht existieren, aber ebendies ist bestritten worden, und die Aussage ist nicht so offensichtlich wie die im vorigen Absatz erwähnten. Ein weiteres Beispiel ist der strenge Aktualismus, also die Behauptung, ein Gegenstand habe ausschließlich in Welten, in denen er existiert, Eigenschaften.⁷ Diese Aussage leuchtet zwar nicht von selbst ein, aber sie ist intuitiv verbürgt, intuitiv abgestützt, und sie lässt sich aus dem Aktualismus ableiten, wenn man einige offensichtliche Prinzipien hinzunimmt. Man kann diese Aussage verstehen und sie trotzdem ablehnen, und in der Tat gibt es Philosophen, die ihre Wahrheit bestreiten.⁸ Sollen wir diese Aussagen, die zumindest bis zu einem gewissen Grad intuitiv verbürgt sind, in die erlauchte Gesellschaft der Leistungen der Vernunft aufnehmen, obwohl sie nicht von selbst einleuchten? Eigentlich sollten wir das tun, obschon wir in diesem Fall nicht mehr sagen können, die Leistungen der Vernunft seien unter der Beziehung des von selbst einleuchtenden Gefolgertwerdens eingeschlossen. Der Grund dafür sind Antinomien à la Russell. Es gehört zu den Leistungen der Vernunft: dass es Eigenschaften gibt, dass es die Eigenschaft der Selbstexemplifizierung gibt und dass es zu jeder Eigenschaft ein Komplement gibt; und ebendeshalb gibt es auch die Eigenschaft der Nicht-Selbstexemplifizierung. Der Rest dieser traurigen Geschichte ist wohlbekannt.
Eine Alternative wäre die folgende Formulierung: Eine Aussage sei irrational, wenn ihre Verneinung zu den Leistungen der Vernunft gehört, und rational, sofern sie nicht irrational ist. Dann wird natürlich jede Aussage entweder rational oder irrational sein. Siehe »Replies«, in: James Tomberlin u. Peter van Inwagen (Hg.), Alvin Plantinga, Dordrecht: D. Reidel 1985, S. 316 ff. Siehe John Pollock, »Plantinga on Possible Worlds«, in: Alvin Plantinga, S. 126 ff., sowie Nathan Salmon, »Nonexistence«, in: Noûs (1998), S. 290.
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Ist der christliche Glaube in diesem Sinne rational? Nein, die zentralen Wahrheiten des Christentums leuchten gewiss weder von selbst ein noch sind sie, soweit man das erkennen kann, derart, dass sie aus evidenten Aussagen abgeleitet werden können. Das spricht natürlich gar nicht gegen den christlichen Glauben. Das gleiche gilt beispielsweise für die Lehren der Historiker, der Physiker und der Evolutionstheoretiker. Die De-jure-Frage kann also nicht mit der Frage identisch sein, ob der christliche Glaube in diesem Sinn rational sei. Der Grund liegt darin, dass eine negative Antwort auf die De-jure-Frage auf eine gravierende Kritik des christlichen Glaubens hinauslaufen soll. Aber dass der christliche Glaube (bzw. die Evolutionstheorie oder die Überzeugung, dass man in Cleveland wohnt) nicht in diesem Sinn eine Leistung der Vernunft ist, ist überhaupt kein Einwand gegen diese Überzeugungen. Verhält es sich vielleicht so, dass der christliche Glaube in diesem Sinn irrational ist? Das heißt, sind die Verneinungen einiger Aussagen, die zum christlichen Glauben gehören, evident oder aus Aussagen, die von selbst einleuchten, ableitbar? Könnte es sein, dass dies die De-jure-Frage ist? Wären christliche Überzeugungen in diesem Sinn irrational, würde dieser Sachverhalt bestimmt gegen sie sprechen. Manche Autoren haben in der Tat geltend gemacht, der charakteristisch christliche Glaube sei widersprüchlich. So hat man beispielsweise schon oft behauptet, die Existenz Gottes sei nicht mit der Existenz des Übels zu vereinbaren; doch die christliche Lehre umfasst beides. Nach meiner Überzeugung ist jedoch klar, dass hier kein Widerspruch vorliegt.⁹ Auch von Seiten moderner Theoretiker, die das Problem des Übels gegen den christlichen bzw. theistischen Glauben ins Feld führen, wird die These der Widersprüchlichkeit eigentlich nicht mehr vertreten. Von manchen Atheologen ist auch behauptet worden, bestimmte christliche Lehren (wie z. B. die Dreifaltigkeitslehre oder die Lehre von der Fleischwerdung) seien selbstwidersprüchlich und daher nicht mit den Leistungen der Vernunft vereinbar. Derartige Behauptungen sind jedoch allenfalls nicht zwingend – alles hängt davon ab, wie die jeweils betrachtete Lehre im einzelnen formuliert wird. Einige dieser Formulierungen sind vielleicht wirklich selbstwidersprüchlich, obwohl es überaus schwerfallen dürfte, Formulierungen dieser Lehren zu finden, die sowohl offensichtlich widersprüchlich sind als auch von vielen akzeptiert werden. (Speziell die Formulierungen, die in den großen Glaubensbekenntnissen der christlichen Kirche vorliegen, enthalten keine offenkundigen Widersprüche.) Andere Formulierungen wiederum sind offensichtlich nicht widersprüchlich. Außerdem können Christen, die auf einmal merken, dass sie eine widersprüch-
Siehe Kapitel 9 meines Buchs The Nature of Necessity, Oxford: Oxford University Press 1974.
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liche Lesart einer dieser Lehren akzeptiert haben, diese ohne weiteres durch eine Interpretation ersetzen, die keinen Widerspruch enthält. Wäre dies also die Dejure-Frage, so ließe sich selbst dann, wenn einige Formulierungen der christlichen Grundlehre zu den Leistungen der Vernunft in Widerspruch stünden, der betrübliche Zustand, dass man dergleichen glaubt, problemlos umgehen: Man braucht nur zu einer Formulierung überzugehen, die keinen Widerspruch enthält. Doch wer die De-jure-Frage im Hinblick auf den christlichen Glauben aufwirft, möchte vermutlich nicht bloß behaupten, dieser Glaube enthalte einen Widerspruch. Denn selbst wenn er völlig widerspruchsfrei ist, werden diese Kritiker trotzdem die Ansicht vertreten, etwas Gravierendes stimme damit nicht. Man kann sie nicht mit dem bloßen Hinweis beschwichtigen, es gebe widerspruchsfreie Lesarten des christlichen Glaubens. Also handelt es sich offenbar auch hierbei nicht um die De-jure-Frage.
D Zweck-Mittel-Rationalität Wie steht es mit der Zweck-Mittel-Rationalität, die von unseren Vettern auf dem europäischen Kontinent mitunter als »Zweckrationalität« bezeichnet wird? Dabei handelt es sich um jene Rationalität, die von den Handlungen einer Person an den Tag gelegt wird, die ein bestimmtes Ziel erreichen möchte und Mittel wählt, die dazu angetan sind, das Erreichen dieses Ziels zu fördern.Vielleicht sollte man sich genauer ausdrücken und sagen, diese Form von Rationalität sei charakteristisch für die Handlungen eines – im Aristotelischen Sinn ebenso wie im Sinn des richtigen Funktionierens – rationalen Wesens, das ein bestimmtes Ziel zu erreichen strebt. Wieder ist also der Zusammenhang mit der Aristotelischen Grundbedeutung erkennbar. Die Zweck-Mittel-Rationalität hängt davon ab, dass man weiß, wie man das Gewünschte bekommt. Darunter könnte man sich so etwas wie die List der Vernunft vorstellen.¹⁰ Wenn ich so schnell wie möglich nach Los Angeles gelangen möchte, wäre es irrational, den Bus zu nehmen oder mit dem Fahrrad zu fahren. Rational wäre es, das Flugzeug zu nehmen.
Natürlich gibt es viele Varianten dieses Rationalitätsbegriffs. Die rationale Handlung wäre womöglich jene, die tatsächlich zum Erreichen des Ziels führt, oder jene, von der man das annehmen würde,wenn die kognitiven Fähigkeiten richtig funktionierten, oder jene,von der man das im Fall des richtigen Funktionierens der kognitiven Fähigkeiten annehmen würde, sofern man lange genug darüber nachdächte, oder jene, von der man das annähme, wenn . . . , sofern man schlau genug wäre, oder . . . , sofern man sich nicht von seiner Wollust, seiner Gier, seinem Ehrgeiz usw. ablenken ließe.
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Ist das die Art von Rationalität, auf die sich die De-jure-Frage bezieht? ZweckMittel-Rationalität ist eine Eigenschaft von Handlungen. Daher ist es nicht von vornherein offensichtlich, dass das Glauben zu den Dingen gehört, die überhaupt in diesem Sinne rational bzw. irrational sein können, denn es ist ja nicht von vornherein offensichtlich, dass Überzeugungen Handlungen sind. Ja, eigentlich scheint es von vornherein offensichtlich zu sein, dass Überzeugungen (Glaubensereignisse) keine Handlungen sind. Normalerweise bildet man eine gegebene Überzeugung nicht deshalb, weil man meint, diese Überzeugung wäre ein gutes Mittel zu diesem oder jenem Zweck. Dennoch wollen wir einmal annehmen, wir fassten das Glauben tatsächlich als eine Form des Handelns auf (vielleicht als etwas, was gerade noch zum Bereich der Handlungen gehört). Dann wäre der Zweck, den man im Auge hätte, vermutlich das Glauben oder Erkennen der Wahrheit. Der christliche Glaube wäre nun genau dann in diesem Sinne rational, wenn eine rationale Person – also eine Person, deren kognitive Fähigkeiten richtig funktionieren – dieses Mittel zum Zweck des Glaubens an die Wahrheit wählen würde oder könnte. Dieser Vorschlag hat jedoch etwas überaus Seltsames an sich. Was man rational als Mittel zu einem Zweck wählt, hängt von dem ab, was man glaubt, beispielsweise von dem, was man im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit glaubt, mit der eine bestimmte Handlungsweise das angepeilte Ergebnis liefern wird. Doch wie steht es, wenn das angepeilte Ziel das Glauben der Wahrheit ist? Unterstellen wir vorläufig, was man glaubt, stehe in der angemessenen Weise in der Macht des Betreffenden: Dann wird man eine Aussage natürlich dann glauben, wenn man sie für wahr hält. Denn wenn sie wahr ist, dann wird das Glauben daran ein geeignetes Verfahren zum Glauben an die Wahrheit sein. Also wird die Handlung des Glaubens an die christliche Lehre dann rational sein, wenn man tatsächlich an die christliche Lehre glaubt. (Diese Sonderbarkeit verdeutlicht die Hinsicht, in der das Glauben eigentlich kein Handeln ist oder zumindest kaum Ähnlichkeit mit anderen Formen von Handlungen aufweist.) Die eigentliche Frage wird in diesem Fall lauten, ob eine rationale Person die Behauptungen des Christentums für wahr halten kann, mithin ob eine rationale Person den christlichen Glauben akzeptieren kann. Das wiederum bedeutet, dass die Frage, ob der christliche Glaube zweckrational ist, im Grunde auf die Frage hinausläuft, ob er in einem bestimmten anderen Sinn rational ist, nämlich im Aristotelischen Sinn oder – was wahrscheinlicher ist – im Sinne des richtigen Funktionierens. Demnach haben wir es hier gar nicht mit einer eigenständigen Bedeutung von »Rationalität« zu tun, und da wir uns mit der eigentlich gemeinten Form von Rationalität bereits auseinandergesetzt haben, erkennen wir im Grunde, dass es sich bei der De-jure-Frage auch nicht um diese Frage der Zweck-Mittel-Rationalität handeln kann.
II Praktische Rationalität im Sinne Alstons
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II Praktische Rationalität im Sinne Alstons Keine der bisher genannten Spielarten der Rationalität stellt die Ressourcen zur Verfügung, die man für eine gescheite De-jure-Frage braucht. William Alston schlägt nun in seinem richtungweisenden Buch über die Gotteswahrnehmung eine weitere Möglichkeit vor, den Rationalitätsbegriff (und damit die De-jureFrage) zu interpretieren.¹¹ Angesichts der Eindringlichkeit und Tiefe von Alstons Ausführungen, verdient sein Vorschlag eine sorgfältigere Betrachtung.
A Die Ausgangsfrage Die Schlussfolgerung von Alstons Buch ist im Grunde die, dass es zumindest für viele von uns rational – in seiner Terminologie: praktisch rational – ist, sich an der »christlich geprägten mystischen Praktik« (kurz: CMP) zu beteiligen, nämlich an der Praktik der Bildung von Überzeugungen bezüglich Gott (bzw. des Höchsten), die auf der Gotteserfahrung basieren bzw., genauer gesagt, auf der (angenommenen) Wahrnehmung Gottes (bzw. des Höchsten): Die Hauptthese dieses Kapitels, ja des ganzen Buchs besagt, es sei deshalb rational, sich an der CMP zu beteiligen [Hervorhebungen hinzugefügt], weil es sich um eine sozial etablierte doxastische Praktik handelt, die weder nachweisbar unzuverlässig ist noch auf andere Weise gezeigt hat, dass sie ungeeignet ist, rational akzeptiert zu werden. (S. 194) Die Form von Rationalität, die hier zur Debatte steht, ist die »praktische« Rationalität. Daher werden wir uns überlegen, ob es sich bei der De-jure-Frage um die Frage handeln könnte, ob der christliche Glaube in Alstons Sinn praktisch rational ist. Nun geht Alston seinerseits eigentlich nicht auf spezifisch christliche Überzeugungen ein, wie z. B. Dreifaltigkeit, Fleischwerdung, Buße und Wiederauferstehung.Vielmehr befasst er sich mit Überzeugungen, die durch die (unterstellte) Gotteswahrnehmung hervorgerufen werden. Dazu gehören Überzeugungen wie: Gott sei glorreich, wunderbar, heilig, majestätisch, allmächtig, liebevoll usw. sowie Überzeugungen wie die, dass er uns stärkt, stützt oder tröstet. Das sind keine spezifisch christlichen Überzeugungen,während sich unsere De-jure-Frage natürlich auf die Rationalität spezifisch christlicher Überzeugungen bezieht. Dennoch könnten auf Gott bezogene Wahrnehmungsüberzeugungen auch zur Untermauerung christlicher Überzeugungen hinsichtlich Gott beitragen. Auf jeden Fall wird es interessant sein zu fragen, ob der christliche Glaube in dem von Alston bestimmten Sinn von Rationalität wirklich rational ist, obschon Alston selbst auf diese Frage nicht eingeht. Außerdem scheint mir die Frage, ob der christliche Glaube praktisch rational sei, der gesuchten De-jure-Frage zumindest näher zu kommen als die bereits untersuchten Möglichkeiten. Doch was hat es mit dieser »praktischen
William Alston, Perceiving God, Ithaca, NY: Cornell University Press 1991. Seitenverweise beziehen sich im folgenden auf dieses Buch.
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Rationalität« auf sich? Wie fasst Alston diesen wandelbaren Begriff auf, und wie argumentiert er für die praktische Rationalität der CMP und der aus ihr hervorgehenden Überzeugungen?
B Doxastische Praktiken An diesem Punkt müssen wir den Schauplatz ein wenig vorbereiten. Ein Merkmal, das die gesamte Erkenntnistheorie Alstons auszeichnet, ist ihre Betonung der sozialen doxastischen Praktiken, der gesellschaftlich etablierten Formen der Überzeugungsbildung. (Es ist durchaus vertretbar, Alston als eine besonnene Mischung aus Reid und Wittgenstein zu begreifen.¹²) Zu nennen ist beispielsweise die Sinneswahrnehmung (im folgenden SW), also die soziale Praktik, Überzeugungen auf der Basis der Wahrnehmung von Gegenständen in unserer Umgebung zu bilden; ferner die Praktik der Überzeugungsbildung durch sei es deduktives oder nichtdeduktives Denken sowie die Praktik der Bildung von Überzeugungen auf der Grundlage von Erinnerungen. Diese drei Praktiken zusammen bilden das »Standardpaket«, wie es bei Alston heißt – vielleicht weil sie bei allen richtig funktionierenden Menschen vorkommen. Außerdem gibt es die Praktik, unseren Mitmenschen Überzeugungen, Wünsche, Schmerzen und Vergnügen, affektive Zustände, spirituelle Begabungen und dergleichen mehr zuzuschreiben. Thomas Reid spricht mit Bezug auf diese Praktik (oder vielmehr die ihr zugrundeliegende Fähigkeit oder Anlage) von »Mitgefühl«. Dieses Mitgefühl kann man als Bestandteil der SW oder, wenn man das lieber hat, als eine mit der SW eng verknüpfte, aber dennoch eigene und teilselbständige Praktik auffassen. (Falls man sich für die letztere Auffassung entscheidet, sollte man diese Praktik als Teil des Standardpakets betrachten.) Das sind doxastische Praktiken: Sie münden in die Bildung von Überzeugungen. Aber zugleich sind es soziale Praktiken, denn ein großer Teil von ihnen wird von unserer gesellschaftlichen Umgebung beigesteuert. Die SW beispielsweise beinhaltet insofern eine ansehnliche soziale Komponente, als das, was wir durch Schulung und Fremdinformation von anderen lernen, zu einem Bestandteil der Praktik wird. So gehört das, was man von anderen lernt, z. B. zur Gruppe der Prüfungen und Tests, mit deren Hilfe bestimmt wird, ob eine mutmaßliche Wahrnehmung eine wirkliche Wahrnehmung ist. Ich musste von anderen (unter anderem von meinen Eltern) lernen, was ich eigentlich wahrnehme, wenn ich einen Baum, ein Haus oder einen Stern wahrnehme. Die von der Natur bzw.von der Erziehung beigesteuerten Anteile können bei diesen diversen Praktiken unterschiedlich groß ausfallen. Bei der SW ist der Beitrag der Erziehung vielleicht besonders groß, während er im Hinblick auf unser Verständnis der Grundzüge von Arithmetik und Logik womöglich besonders gering ist. Neben diesen überall vorkommenden Praktiken gibt es auch die von Alston als »mystische« bezeichnete Praktik (MP), durch die viele, aber nicht alle von uns Überzeugungen bezüglich Gott (oder das Höchste) bilden und sich dabei auf die Erfahrung bzw. Wahrnehmung Gottes (bzw. des Höchsten) stützen. CMP ist eine spezifische Variante der mystischen Praktik, bei der die gebildeten Überzeugungen spezifisch christliche Überzeugungen sind, die seit Beginn der christlichen Zeitrechnung in vielen verschiedenen Teilen der Welt von Christen aller möglichen Kategorien vertreten werden.
Siehe Alston, »A Doxastic Practice Approach to Epistemology», in: M. Clay u. K. Lehrer (Hg.), Knowledge and Skepticism, Boulder, CO: Westview Press 1988.
II Praktische Rationalität im Sinne Alstons
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C Epistemische Zirkularität Offenbar gibt es viele Fragen, die man im Hinblick auf diese Praktiken aufwerfen kann, insbesondere die Frage, ob sie zuverlässig sind. Ferner kann man fragen, ob ihre Zuverlässigkeit nachweisbar ist. Stellt man diese letztere Frage im Hinblick auf die SW, geht es darum, ob gezeigt oder erfolgreich dargetan werden kann, dass die im Rahmen dieser Praktik gebildeten Überzeugungen größtenteils wahr sind oder immer der Wahrheit nahe kommen, ob sie wahrscheinlich oder beinahe wahr sind. In erster Linie geht es dabei natürlich um die CMP. Doch da Alston die CMP als eine Praktik begreift, bei der die Wahrnehmung Gottes eine wesentliche Rolle spielt, geht er die Frage nach der Zuverlässigkeit der CMP zusammen mit der entsprechenden Frage bezüglich der SW an. Für die These, CMP sei tatsächlich zuverlässig, können wir, wie Alston einräumt, kein triftiges, nichtzirkuläres Argument ins Feld führen. Dieses Kompliment reicht er jedoch an die SW weiter, denn für deren Zuverlässigkeit können wir ebenfalls kein triftiges, nichtzirkuläres Argument anführen. Also wird diese betrübliche Tatsache bezüglich der CMP durch eine komplementäre betrübliche Tatsache bezüglich der SW ausgeglichen. Das Problem, das sich im Hinblick auf Argumente für die Zuverlässigkeit der SW typischerweise einstellt, ist die sogenannte epistemische Zirkularität – eine Krankheit, an der Argumente für die Zuverlässigkeit eines Vermögens oder einer Quelle von Überzeugungen dann leiden, wenn eine der Prämissen so beschaffen ist, dass ihre Akzeptierung in der Ausübung des betreffenden Vermögens oder in der Berufung auf die betreffende Quelle von Überzeugungen wurzelt. Führt man ein epistemisch zirkuläres Argument für die Zuverlässigkeit eines Vermögens an, verlässt man sich, was die Wahrheit einer Prämisse betrifft, auf ebendieses Vermögen. Ein einleuchtendes Beispiel wäre der Fall, in dem man zum Nachweis der Zuverlässigkeit unserer intuitiven arithmetischen Fähigkeiten geltend macht, unsere arithmetischen Intuitionen erschienen uns intuitiv stichhaltig. Ein weniger offensichtlich zirkuläres Vorhaben wäre der Versuch festzustellen, ob die kognitiven Fähigkeiten des Menschen (einschließlich meiner eigenen) zuverlässig sind, indem ich ein wenig Wissenschaft treibe: Ich ermittle, was die Menschen glauben, und dann prüfe ich, ob das, was sie glauben, zutrifft. Es liegt auf der Hand, dass dieses Vorgehen epistemisch zirkulär ist, denn ich verlasse mich auf die kognitiven Fähigkeiten des Menschen – nämlich meine eigenen –, indem ich herauszubekommen versuche, was die Menschen glauben, und indem ich prüfe, ob das, was sie glauben, zutrifft. Alston spürt viele Beispiele für epistemische Zirkularität auf (vielleicht mehr, als man erwartet hätte), wobei einige dieser Beispiele offensichtlich sind, andere hingegen weniger offensichtlich. Nach meiner Überzeugung gelingt es ihm, den Nachweis für die wichtige Schlussfolgerung zu erbringen, dass eine nichtzirkuläre Bestätigung der Zuverlässigkeit der SW nicht möglich ist. Zumindest kommt er dem Nachweis dieser Schlussfolgerung so nahe, wie es Philosophen überhaupt je gelingt, eine wichtige Schlussfolgerung als richtig zu erweisen.¹³ Nach Alston sitzen SW und CMP demnach im selben lecken Boot der Erkenntnistheorie. Im Grunde, so meint er, sitzen alle unsere doxastischen Basispraktiken im selben erkenntnistheoretischen Boot. Bei keiner von ihnen lässt sich in nichtzirkulärer Weise zeigen, dass sie zuverlässig wäre.
Eine noch gründlichere und ausführlichere Fassung dieses Arguments findet der Leser in Alstons Buch The Reliability of Sense Perception, Ithaca, NY: Cornell University Press 1993.
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D Das Argument für die praktische Rationalität Die betrüblichen Entwicklungen, die ich eben erläutert habe, konfrontieren uns, wie Alston sagt, mit einer »Krise der Rationalität«, einer »aussichtslosen Situation«. »Der Gang der Argumentation hat uns zu der Schlussfolgerung geführt, dass wir auch im Hinblick auf Quellen von Überzeugungen, in bezug auf die wir normalerweise besonders zuversichtlich sind, keinen ausreichenden, nichtzirkulären Grund kennen, sie für zuverlässig zu halten« (S. 146). Was sollen wir tun? Nun, es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns mit der zweitbesten Lösung zufriedenzugeben.Wir können zwar nicht zeigen, dass eine dieser Praktiken zuverlässig ist, aber vielleicht können wir zeigen, dass wir rational – praktisch rational – sind, wenn wir uns an ihnen beteiligen. Alston offeriert uns zwei miteinander zusammenhängende Argumente für die Annahme, es sei praktisch rational, sich an diesen Praktiken zu beteiligen. Dem ersten Argument zufolge ist es (knapp formuliert) ganz gescheit bzw. rational, auch weiterhin Überzeugungen nach den Verfahren der SW und der CMP zu bilden, denn (1) diese Verfahren führen nicht zu gewaltigen Widersprüchen, (2) es gibt keinen Grund, sie für unzuverlässig zu halten, (3) wir kennen keine doxastischen Alternativpraktiken, deren Zuverlässigkeit wir tatsächlich in epistemisch nichtzirkulärer Form nachweisen könnten, und (4) wäre der Wechsel zu einer anderen Praktik extrem schwierig und kontraproduktiv. Dem zweiten Argument zufolge ist jede gesellschaftlich und psychisch etablierte doxastische Praktik, die gewisse plausible Bedingungen erfüllt, prima facie rational (d. h., sie ist derart, dass es prima facie rational ist, sich daran zu beteiligen). Eine solche Praktik wird unter Berücksichtigung aller relevanten Randbedingungen rational sein, wenn es, soweit wir sehen, keinen Grund gibt, sie preiszugeben. Diese beiden Argumente sind, wie ich weiter unten ausführen werde, miteinander verknüpft. Nur das zweite von ihnen wird von Alston explizit im Hinblick auf CMP zum Einsatz gebracht. Zunächst wollen wir das zweite Argument untersuchen. Wie wir sehen werden, führt uns dieses Argument zurück zum ersten. Alston selbst formuliert die Sache wie folgt: Meine Hauptthese […] besagt, es sei rational, sich an der CMP zu beteiligen, denn es handelt sich um eine sozial etablierte doxastische Praktik, die nicht nachweislich unzuverlässig oder aus sonstigen Gründen ungeeignet ist, rational akzeptiert zu werden. Sofern CMP tatsächlich eine sozial etablierte doxastische Praktik ist, folgt aus der im 4. Kapitel verteidigten Position, dass sie der rationalen Beteiligung prima facie würdig ist. Das wiederum bedeutet, dass es prima facie rational ist, sie als zuverlässig – hinreichend zuverlässig – anzusehen, um als Quelle der prima-facie-Rechtfertigung der von ihr hervorgebrachten Überzeugungen zu gelten. Wird sie außerdem nicht durch den Nachweis sonstiger Unzuverlässigkeiten oder Mängel, die sie ihrer prima-facie-Rationalität berauben würden, in Misskredit gebracht, können wir zu dem Schluss kommen, dass es uneingeschränkt rational ist, sie als zuverlässig genug anzusehen, um sie bei der Überzeugungsbildung zu benutzen. (S. 194) Die grundlegende Behauptung besagt, dass es prima facie rational ist, sich an der CMP zu beteiligen, […] denn es handelt sich um eine sozial etablierte doxastische Praktik. Außerdem ist es uneingeschränkt rational, sich an dieser Praktik zu beteiligen, […] denn wir kennen keinen ausreichenden Grund, um sie als unzuverlässig oder aus sonstigen Gründen von der rationalen Beteiligung ausgeschlossen anzusehen. (S. 223) Demnach lautet die Hauptprämisse dieser Argumentation wie folgt:
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Es ist prima facie rational (praktisch rational), sich an einer sozial etablierten doxastischen Praktik zu beteiligen, und es ist uneingeschränkt rational (unter Berücksichtigung aller Randbedingungen rational), sich an einer sozial etablierten Praktik zu beteiligen, die auf keine eklatanten internen oder externen Unvereinbarkeiten stößt. In den Kapiteln 5 bis 7 fährt Alston fort und macht geltend, die CMP sei tatsächlich eine sozial etablierte doxastische Praktik, die außerdem auf keine eklatanten internen oder externen Unvereinbarkeiten stößt.
E Eine erste Charakterisierung der praktischen Rationalität Wenden wir uns der Hauptprämisse zu. Als erstes ist anzumerken, dass ich nicht genau weiß, wie ich den zweiten Teil – also den Teil über die Rationalität »unter Berücksichtigung aller Randbemerkungen« – formulieren soll. Das ist zwar ein wenig ärgerlich, aber im Grunde keine gravierende Sache, denn ich möchte mich eigentlich nur über den ersten Teil äußern. Wie ist diese Aussage zu verstehen, und was ist die Bedeutung von »rational«, in der es prima facie rational ist, sich an einer sozial etablierten doxastischen Praktik zu beteiligen? Was den zweiten dieser beiden Punkte betrifft, ist hier von der Rationalität oder Irrationalität einer bestimmten Handlungsweise – eines bestimmten Tuns oder Agierens – die Rede. (Ebendeshalb sprechen wir ja von praktischer Rationalität.) Ob eine Handlung aus meiner Sicht rational ist, wird offensichtlich mit dem zusammenhängen, worauf ich es mit dieser Handlung abgesehen habe, was ich erreichen möchte, was meine Absicht, mein Ziel, mein Zweck ist. Die Form von Rationalität, um die es hier geht, ist also jene Zweckrationalität, auf die wir bereits früher gestoßen sind (S. 137 ff.). Das für mich rationale Handeln ist etwas, was zur Verwirklichung meines Ziels beitragen wird, bzw. etwas, was mehr dazu beitragen wird als jede andere Handlung, die mir möglich ist. Aber handelt es sich um die Handlung, die tatsächlich zur Verwirklichung meines Ziels beiträgt, oder um die Handlung, von der ich glaube, dass sie dazu beiträgt? Vermutlich ist letzteres der Fall: Indem ich mich für eine bestimmte Handlungsweise entscheide, verhalte ich mich nicht schon deshalb irrational, weil ich im Hinblick auf die besten Mittel zu meinem Zweck einen durchaus verständlichen Fehler mache.¹⁴ Wenn ich Durst habe und etwas Wasser trinken möchte, wird es für mich rational sein, den Wasserhahn aufzudrehen und ein Glas darunter zu halten. Nach meiner Überzeugung ist das eine einwandfreie Methode, um zu einem Glas Wasser zu kommen. Unter diesen Umständen wäre es irrational für mich, stattdessen einen Spaziergang durch die Wüste zu unternehmen. Ich weiß doch, dass Wasser in der Wüste nicht leicht aufzutreiben ist. Wäre ich jedoch der Meinung, dass der Wasserhahn gar nicht an die Wasserversorgung angeschlossen ist, wäre das Aufdrehen des Hahns aus meiner Sicht keine rationale Methode, um etwas zu trinken zu bekommen. Würde ich ferner glauben, die nächste Wasserquelle befinde sich in der Sonora-Wüste gleich außerhalb von Tucson, wäre der Gang in die Wüste eine durchaus rationale Handlung. Der hier betrachtete Fall ist natürlich kein anderer als der Fall dieser doxastischen Praktiken. Die Frage, die wir stellen sollen, lautet: Ist es rational, Überzeugungen zu bilden, indem wir uns an der SW, der CMP oder beiden beteiligen? Unser relevantes Ziel oder Vorhaben besteht nach Alston darin, ins richtige Verhältnis zur Wahrheit zu gelangen und das richtige Gleichgewicht zwischen
Wie wir bereits in Anmerkung 10 gesehen haben, gibt es innerhalb dieser Kategorie wichtige Unterscheidungen.
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Irrtumsvermeidung und Glauben an die Wahrheit zu finden. Jetzt stellt sich uns die Frage, ob es eine rationale Methode zur Verwirklichung dieses Ziels ist, dass wir Überzeugungen weiterhin so bilden wie bisher, nämlich indem wir die SW, die CMP oder beide zum Einsatz bringen. Diese Frage hat freilich etwas Unwirkliches an sich. Es ist tatsächlich an mir, ob ich den Wasserhahn aufdrehe, um etwas Wasser zu trinken zu bekommen, aber es ist nicht wirklich meine Sache, ob ich Überzeugungen in Einklang mit der SW bilden werde. Diesbezüglich habe ich keine Wahl. Das wiederum bedeutet, dass die Frage der praktischen Rationalität des Weitermachens mit der SW ein wenig sonderbar ist. Genausogut könnte ich fragen, ob es aus meiner Sicht rational ist, wenn ich dabei bleibe, dass die Erde meinen Körper mit einer Kraft anzieht, die sich umgekehrt proportional zum Quadrat der Entfernung zwischen uns verhält. Ich habe hier gar keine Alternative. Das gleiche gilt im Hinblick auf meine wichtigsten Verfahren der Überzeugungsbildung. Ich kann es mir einfach nicht aussuchen, ob ich mich bei der Bildung meiner Überzeugungen an diese Verfahren halte. Ich kann mich noch so sehr bemühen, aber ich möchte es bezweifeln, dass ich meine grundlegenden Neigungen zur Bildung von Überzeugungen einschneidend ändern könnte (wenn wir von drakonischen Maßnahmen wie der Anwendung bewusstseinsverändernder Drogen absehen). Auch wenn man mir eine Million Dollar anbietet, damit ich glaube, in Wyoming zu leben oder der echte Präsident der Vereinigten Staaten zu sein, kann ich mich noch so sehr anstrengen – aber diese Million werde ich nicht kassieren können.¹⁵ Über das hier bestehende Problem ist sich Alston völlig im Klaren. Die Frage, die man nach seinem Vorschlag stellen sollte, ist die interessante Frage, ob die weitere Beteiligung an der betreffenden Praktik aus meiner Sicht rational wäre, wenn es in meiner Macht stünde, weiterzumachen, und ebenfalls in meiner Macht stünde, es zu unterlassen (168). Die Frage besagt: Welches Handeln wäre für mich rational, wenn ich mich in einer bestimmten Lage befände? Gemeint ist die Lage, in der eine meiner Überzeugungen – und zwar eine meiner wahren Überzeugungen – darauf hinausläuft, dass es in meiner Macht steht, auch weiterhin Überzeugungen nach den eingespielten Verfahren (also Standardpaket plus CMP) zu bilden, und zugleich in meiner Macht steht, die Bildung von Überzeugungen nach diesen Verfahren zu unterlassen, so dass ich entweder gar keine derartigen Überzeugungen mehr bilde oder mich vielleicht einer ganz anderen Praktik der Überzeugungsbildung bediene.
F Der Urzustand Diese Lage wollen wir (mit einer Verzeihung erbittenden Verbeugung vor John Rawls) den »Urzustand« nennen. Richten wir unsere Frage nach dem Standardpaket aus, lautet sie in etwa folgendermaßen: Angenommen, ich befinde mich im Urzustand und weiß (oder habe zumindest die wahre Überzeugung), dass es in meiner Macht steht, damit aufzuhören, Überzeugungen in der üblichen Weise – mittels SW, Erinnerung und Denken (also gemäß dem Standardpaket) – zu bilden. Vielleicht weiß ich außerdem, dass es in meiner Macht steht, ein anderes Verfahren zur Überzeugungsbildung zu wählen. Welches Vorgehen wäre dann rational: weiterhin Überzeu-
Nun, vielleicht kann ich meine Neigungen zur Bildung von Überzeugungen in einem geringfügig höheren Maß steuern als die Kraft, mit der mein Körper von der Erde angezogen wird. Es gibt in der Tat ziemlich routinemäßige Möglichkeiten, meine Tendenzen zur Überzeugungsbildung zu beeinflussen, zu formen oder zu prägen.
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gungen nach dem hergebrachten Verfahren zu bilden, es mit einer anderen Methode zu probieren oder das ganze Unterfangen der Überzeugungsbildung abzublasen? Die Antwort hängt, wie wir gesehen haben, zumindest teilweise von meinen Zielen, Zwecken und Vorhaben ab. Geht es mir um seelischen Trost und echtes Wohlgefallen an der eigenen Person, sollte ich mich vielleicht für Mechanismen der Überzeugungsbildung entscheiden, die mich zu der Ansicht führen, ich sei ein großartiger Bursche.Vielleicht sollte ich ein Verfahren wählen, das mich zu der Überzeugung bringt, ich hätte soeben den Nobelpreis für Chemie erhalten, nachdem ich so schwierige Hürden überwunden habe wie meine mangelnde Ausbildung und meine weitgehende Unkenntnis dieses Fachs. Natürlich sollte ich sorgfältig alle Praktiken der Überzeugungsbildung vermeiden, auf deren Basis ich das wahre Ausmaß meiner Fehler und Schwächen ebenso erkennen würde wie das Ausmaß meiner Sünden und Nöte (von denen im Heidelberger Katechismus die Rede ist). Im gegenwärtigen Zusammenhang geht es Alston zufolge freilich nicht darum, persönlichen Trost, Glückseligkeit oder psychisches Wohlbefinden zu erlangen, sondern darum, in der richtigen Weise mit der Wahrheit in Verbindung zu treten. Das rationale Vorgehen ist von meinen Absichten und Zielen abhängig, und außerdem ist es von meinen Überzeugungen abhängig, also von den Dingen, die ich zum Zeitpunkt der fraglichen Entscheidung glaube. Verfolge ich das Ziel, eine hohe Meinung von mir selbst zu haben, wäre es irrational, Mechanismen zur Überzeugungsbildung zu wählen, von denen ich glaube, dass sie die richtige Erkenntnis meiner Sünden und Nöte mit sich bringen. Um rational zu entscheiden, muss ich herausbekommen, welche Handlungsweise mit höchster Wahrscheinlichkeit zur Durchsetzung meines Ziels (oder meiner Ziele) führt, um sodann dieser Überzeugung entsprechend zu handeln, indem ich jener Handlungsweise entsprechend vorgehe. Das wiederum zieht eine wichtige Frage bezüglich der Hauptprämisse nach sich, die, wie wir uns erinnern, mit folgenden Worten beginnt: »Es ist prima facie rational (praktisch rational), sich an einer sozial etablierten doxastischen Praktik zu beteiligen […].« Aber wieso dieser Akzent auf sozial etablierten doxastischen Praktiken? Freilich, wenn ich im Urzustand glaube, sozial etablierte Praktiken führten mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit zu wahren Überzeugungen, dann besteht die aus meiner Sicht rationale Handlung in diesem Zustand darin, sozial etablierte doxastische Praktiken zu wählen. Doch wie steht es,wenn ich das nicht glaube? Angenommen, ich war so dumm, Nietzsche zu lesen, so dass ich zu der Überzeugung gelangt bin, in der Herde sei der gewöhnliche Mensch normalerweise im Irrtum. Ich mache mir eine an Nietzsche geschulte Herrenhaltung zu eigen und blicke abschätzig auf die Verfahren herab, deren sich die meisten Menschen zur Meinungsbildung bedienen. In diesem Fall dürfte es rational sein, Praktiken zu wählen, die nicht sozial etabliert sind. Stattdessen sollte ich Praktiken wählen, die nur den wenigen Glücklichen vorbehalten sind, deren prometheische Anstrengungen sie weit über den Pöbel hinausgetragen haben. Wieso ist soziale Etabliertheit hier von Wichtigkeit oder Relevanz? Im Hinblick auf die praktische Rationalität ist das wichtig, wovon ich annehme, dass es zur Verwirklichung meines Ziels beitragen wird. Im Urzustand kann es sein oder auch nicht sein, dass ich glaube, sozial etablierte Praktiken führten mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit zur Verwirklichung meines Ziels, die Wahrheit zu glauben. Hier erkennt man, welches der Zusammenhang ist zwischen dem ersten und dem zweiten der von Alston angeführten Argumente für die praktische Rationalität der SW und der CMP. Die Hauptprämisse des zweiten Arguments geht, wie man sagen könnte, davon aus, dass ich im Urzustand glaube, bei den sozial etablierten Praktiken sei die Wahrscheinlichkeit, dass sie das richtige Verhältnis zwischen uns und der Wahrheit herstellen, ebenso hoch wie bei jeder Alternative. Und tatsächlich dürfte es so ein, dass die meisten von uns das wirklich glauben. Die Hauptprämisse des ersten Arguments lautet anders. Sie besagt: Ich wisse nicht, dass die SW (oder
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die CMP) massiver Unzuverlässigkeit ausgesetzt sei, und ebensowenig sei mir eine Alternativpraktik bekannt, die ich mir zu eigen machen könnte und die so beschaffen ist, dass ich ihre Zuverlässigkeit nachweisen könnte. Im Urzustand würde ich (dem ersten Argument zufolge) genau das glauben (d. h., ich würde glauben, dass mir keine bessere Alternativpraktik bekannt sei); daher sei es aus meiner Sicht rational, an dem festzuhalten, was ich schon habe. (Sollte das übertrieben erscheinen, so gilt doch zumindest, dass das Festhalten an meinen jetzigen Praktiken eine rationale Handlung wäre.) Das erste Argument ist das grundlegende. Das zweite Argument setzt die Hauptprämisse des ersten Arguments voraus und schließt sodann etwas anderes ein, was die meisten von uns tatsächlich zu glauben geneigt sind, nämlich: dass sozial etablierte doxastische Praktiken eine große Chance haben, zuverlässig zu sein, und zwar vielleicht eine bessere Chance als idiosynkratische doxastische Praktiken.
G Der weite Urzustand Diese Überlegungen führen zu der folgenden entscheidenden Frage: Was ist es eigentlich genau, was ich im Urzustand glaube? Vor allem: Was glaube ich in diesem Zustand hinsichtlich der Zuverlässigkeit der SW und der CMP? Herrscht hier die Vorstellung, dass meine Überzeugungen im Urzustand meinen faktisch gegebenen Überzeugungen möglichst weitgehend ähneln, wobei außerdem vorausgesetzt ist, dass ich (im Urzustand) weiß bzw. der wahren Überzeugung bin, es stünde in meiner Macht, die SW, die CMP oder beide aufzugeben? (Dieser Zustand heiße der »weite« Urzustand.) Vielleicht entspricht das dem Bild, das man sich vom Urzustand machen sollte. Doch damit kommen wir nicht sonderlich weit. Es ist nämlich so, dass ich jetzt glaube, sowohl die SW als auch die CMP seien zuverlässig. Daher gilt: Sofern meine Überzeugungen im Urzustand die gleichen sind wie meine faktisch gegebenen Überzeugungen, ist die Frage nach der rationalen Handlungsweise leicht zu beantworten: Es liegt auf der Hand, dass ich meine Überzeugungen nach dem gleichen Verfahren bilden sollte, an das ich mich bisher gehalten habe. Mein Bestreben ist es, im richtigen Verhältnis zur Wahrheit zu stehen. Ich nehme mir vor, eine möglichst günstige Mischung aus Wahrheitsfindung und Irrtumsvermeidung zu erzielen. Aber de facto glaube ich, dass die SW und die CMP eine enorm viel größere Chance als jede erdenkliche Alternative bieten, dieses Ziel wirklich zu erreichen. Daher besteht die rationale Entscheidung aus meiner Sicht offenkundig darin, sowohl mit der SW als auch mit der CMP genauso weiterzumachen wie bisher. Hier deutet alles stark auf Trivialität hin. Es ist tatsächlich so, dass ich sowohl die SW als auch CMP für zuverlässig halte. Falls ich also im Urzustand die gleichen Meinungen über die SW und die CMP habe, die ich de facto jetzt habe, dann wird die rationale Entscheidung im Urzustand selbstverständlich dahin gehen, dass ich weiterhin in Einklang mit der SW und der CMP verfahre. Angesichts dessen, was ich im Hinblick auf sie glaube, wäre dies das rationale Vorgehen. Diese Schlussfolgerung ist zwar zweifellos richtig, aber doch ziemlich kalter Kaffee. Wenn ich wüsste, dass ich es unterlassen könnte, Überzeugungen im SW- und CMP-Stil zu bilden, und wenn ich diesen Stil außerdem für zuverlässig hielte – ja, für zuverlässiger als jede Alternative, die sich böte –, würde ich mich natürlich dafür entscheiden, meine Überzeugungen in diesem Stil zu bilden. Das ist zwar richtig, aber nicht sonderlich interessant. Inwiefern würde dieser Sachverhalt zeigen (oder tendenziell zeigen), dass meine SW- und CMP-Überzeugungen in irgendeinem interessanten Sinn wirklich rational sind? Wir erfahren folgendes: Wenn wir wüssten, dass es in unserer Macht steht, Überzeugungen weiterhin auf diese Weise zu bilden, und dass es ebenfalls in
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unserer Macht steht, sie nicht auf diese Weise zu bilden, dann wird es, sofern man die SW und die CMP für zuverlässig hält, rational sein, sich für die Fortsetzung der bisherigen Form der Überzeugungsbildung zu entscheiden. Aber daraus folgt zweifellos nichts von Interesse. Das gleiche würde für alle beliebigen Überzeugungen gelten, die ich vertrete, seien sie auch noch so verrückt. Das gleiche würde beispielsweise auch für die wahnwitzigen Überzeugungen der von Descartes erwähnten Irren gelten, die sich selbst für Kürbispflanzen hielten – vielleicht für Zucchini oder Melonen – und glaubten, sie hätten Köpfe aus Ton. Falls ich wirklich eine Melone zu sein glaube, dann ist es aus meiner Sicht rational – sofern mir die Chance geboten wird –, meine Überzeugungen auch weiterhin in einer Weise zu bilden, bei der diese (nach meinem Dafürhalten) wahre Überzeugung herauskommt. Das zeigt aber trotzdem nicht, dass diese Überzeugung selbst rational ist. Die De-jure-Frage haben wir damit immer noch nicht ermittelt. Nun müssen wir uns jedoch mit einer anderen Facette der dialektischen Situation befassen, der ich bisher kaum Beachtung geschenkt habe: Im Urzustand bin ich mir der Tatsache bewusst, dass es nicht möglich ist, die Zuverlässigkeit der SW, der CMP oder irgendeiner anderen wichtigen doxastischen Praktik nachzuweisen. Das ist schließlich, wie Alston meint, der Auslöser der Rationalitätskrise und der Umstand, der uns dazu veranlasst hat, die Rationalitätsfrage überhaupt zu stellen. Erst wenn uns das aufgeht, befinden wir uns nach Alston in der verzweifelten Lage,von der er spricht. Wir müssen also folgendes mitberücksichtigen: Im Urzustand bin ich mir der Tatsache bewusst, dass sich die Zuverlässigkeit der fraglichen Praktiken nicht in nichtzirkulärer Weise bestätigen lässt. (Vielleicht müssen wir ebenfalls hinzufügen, dass ich dieser Sachlage eine gewisse Aufmerksamkeit gewidmet und zumindest ein wenig darüber nachgedacht habe; vielleicht sollte man sagen, dass ich ein reges Bewusstsein davon habe.) Damit ändert sich nur sehr wenig. Im jetzt erwogenen Urzustand (also im weiten Urzustand) weiß ich, dass es in meiner Macht steht, mich meiner Wahrnehmungsüberzeugungen und meiner christlichen Überzeugungen zu enthalten. Außerdem weiß ich, dass es nicht möglich ist, ein triftiges, nichtzirkuläres Argument für die Zuverlässigkeit dieser Überzeugungsquellen anzuführen. Im Übrigen jedoch verhalten sich meine Überzeugungen nach Möglichkeit genauso wie in der Wirklichkeit. Unsere Fragestellung bleibt die gleiche: Welches wäre die rationale Entscheidung – mit der SW und der CMP weitermachen oder aufhören mit dieser Form der Überzeugungsbildung? Aber auch hier ist die Frage allzu leicht zu beantworten, denn natürlich wäre es rational, mit der SW und der CMP weiterzumachen. Wieder liegt der Grund darin, dass ich tatsächlich überzeugt bin, dass diese Überzeugungsquellen zuverlässig sind. Freilich merke ich, dass ich für ihre Zuverlässigkeit kein triftiges, nichtzirkuläres Argument ins Feld führen kann, aber das gibt mir nicht zu denken. Soweit ich sehe, geraten wir dadurch weder in eine verzweifelte Lage noch dürfte es uns in eine Rationalitätskrise führen. Denn diese Situation ist ein notwendiges Merkmal jedes doxastischen Zustands. Nicht einmal Gott selbst kann trotz seiner notwendigen Allwissenheit ein nichtzirkuläres Argument für die Zuverlässigkeit seiner Methoden der Überzeugungsbildung anführen.¹⁶ Auch Gott ist im Inneren des Zirkels seiner eigenen Vorstellungen gefangen. Über Gottes Verfahren der Überzeugungsbildung können wir nichts weiter sagen, als dass es im weiten
Hier mache ich eine Voraussetzung, die von Alston bestritten wird, denn ich gehe davon aus, dass Gott Überzeugungen hat. (Freilich hat Gott auch nach Alston etwas Ähnliches wie Überzeugungen.) Doch was den Punkt betrifft, um den es an dieser Stelle geht, ist diese Differenz eigentlich ohne Belang, denn hier geht es um folgendes: Es ist eine notwendige Wahrheit, dass kein noch so hochrangiger doxastischer Akteur dazu imstande wäre, ein triftiges, epistemisch nichtzirkuläres Argument für die die Zuverlässigkeit seiner doxastischen Fähigkeiten anzuführen.
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logischen Sinn notwendig ist, dass eine Aussage p genau dann wahr ist, wenn p von Gott für wahr gehalten wird.¹⁷ Natürlich weiß Gott darüber Bescheid, und daher weiß er auch, dass alle seine Überzeugungen wahr sind. Allerdings weiß er das selbstverständlich nur deshalb, weil er sich auf seine eigenen Formen der Überzeugungsbildung verlässt. Würde er sich – per impossibile – über die Zuverlässigkeit dieser Formen der Überzeugungsbildung ein wenig Sorgen machen, säße er im Hinblick auf diese Frage im selben Boot wie wir. Für die Zuverlässigkeit seiner Formen der Überzeugungsbildung kann er kein epistemisch nichtzirkuläres Argument anführen, denn die Prämissen jedes derartigen Arguments müssten ihrerseits denselben Formen entsprechend gebildet werden. Doch für jede epistemische Schwäche, die ein notwendig allwissendes Wesen befällt, gilt, dass es sich kaum lohnt, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Im weiten Urzustand wäre ich deshalb davon überzeugt, dass die SW und die CMP zuverlässige Überzeugungsquellen sind, obwohl ich erkennen werde, dass es unmöglich ist, ein triftiges, nichtzirkuläres Argument für ihre Zuverlässigkeit anzuführen. Daher wäre es im weiten Urzustand offensichtlich rational, genauso weiterzumachen wie bisher. Nun stecken wir nach wie vor im Sumpf der Trivialität. Weder die De-jure-Frage noch den Urzustand haben wir bisher völlig richtig erfasst. Das Problem ist folgendes: Wenn wir im Urzustand die gleichen Überzeugungen haben, die wir auch in der Wirklichkeit im Hinblick auf die SW und die CMP haben, liegt es trivialerweise auf der Hand, dass die rationale Entscheidung darauf hinausliefe, die Überzeugungsbildung in ebendieser Weise fortzuführen. Leider trägt die Tatsache, dass das unter Voraussetzung dieser Überzeugungen die rationale Entscheidung ist, nichts zu dem Nachweis bei, dass die von uns auf der Basis der SW und der CMP gebildeten Überzeugungen in irgendeinem interessanten Sinn rational sind. Insbesondere wird sich der Atheologe, der im Hinblick auf den christlichen Glauben die De-jure-Frage aufwirft, nicht dadurch beschwichtigen lassen, dass man ihm mitteilt, unter Voraussetzung des Glaubens an die Zuverlässigkeit der CMP wäre es rational, sich dafür zu entscheiden, dass man seine Überzeugungen weiterhin nach dem CMP-Verfahren bildet.
H Ein enger Urzustand? Auf jeden Fall hätte es etwas Sonderbares, wenn man annähme, der Urzustand umfasse meine faktisch gegebenen Überzeugungen bezüglich der Zuverlässigkeit der SW und der CMP (sowie darüber hinaus jene Überzeugungen, die ich faktisch auf der Basis dieser Praktiken bilde). Die Frage der Rationalität bzw.Vernünftigkeit der CMP und der SW stellt sich schließlich deshalb, weil wir merken, dass es nicht gelingen kann, für die Zuverlässigkeit dieser Überzeugungsquellen Argumente ins Feld zu führen. (Es ist diese Einsicht, von der die »Rationalitätskrise« ausgelöst wird.) Nun benötigen wir eine Bezeichnung für jene Überzeugungen, im Hinblick auf die es nicht gelingen will, für die Zuverlässigkeit der sie hervorbringenden Quellen zu argumentieren. Nennen wir sie »unbeglaubigt«. Dementsprechend kommt es hinsichtlich der SW- und CMP-Überzeugungen zur Rationalitätskrise, weil wir merken, dass sie unbeglaubigt sind. Was ist zu tun? Alston meint, auf jeden Fall könne man geltend machen, es sei praktisch rational, Überzeugungen nach dem CMP- und dem SW-Muster zu bilden. Das wäre immerhin etwas, obwohl es hieße, dass man
Siehe meinen Artikel »Divine Knowledge«, in: C. Stephen Evans u. Merold Westphal (Hg.), Christian Perspectives on Religious Knowledge, Grand Rapids, MI: Eerdmans 1993.
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sich mit der zweitbesten Lösung abfindet. Der Grundgedanke wäre nun der, dass man die Rationalität oder Vernünftigkeit der nach SW- und CMP-Muster gebildeten Überzeugungen nachweist, indem man zeigt, dass es im Urzustand rational wäre, sich dafür zu entscheiden, Überzeugungen auf ebendiese Weise zu bilden. Doch dann wäre es vermutlich bestenfalls äußerst sonderbar, wenn man sich auf die Überzeugung verließe, die CMP und die SW seien zuverlässig, denn diese Überzeugung ist ihrerseits natürlich unbeglaubigt. Tatsächlich vertritt Alston in seinem Buch Perceiving God die Ansicht, diese Überzeugungen seien nicht in den Urzustand aufzunehmen: Nach meiner Auffassung merkt diese Person [nämlich: die Person im Urzustand], dass sie außerstande ist, die Zuverlässigkeit einer dieser Praktiken nachzuweisen. Nach ihrer Überzeugung impliziert das, dass sie weder den Glauben an diese Zuverlässigkeit noch Überzeugungen, die diese Zuverlässigkeit voraussetzen, in Anspruch nehmen kann, um die im Hinblick auf die Überzeugungsbildung rationalste Vorgehensweise zu bestimmen.¹⁸ Hieraus ergibt sich wohl der Vorschlag, unser Vertrauen in die betreffenden Praktiken im Urzustand unberücksichtigt zu lassen oder vielmehr gar keine derartigen Überzeugungen zu haben. Mit dieser Entscheidung beschließt man, hinter einem Schleier des Nichtwissens zu schmachten (oder es sich gut gehen zu lassen). Das ist ein »enger« Urzustand. Damit sollen wir uns auf ein Gedankenexperiment der folgenden Art einlassen: Wir wollen zu erkennen versuchen, welches Vorgehen rational wäre, wenn man nicht bereits an die Zuverlässigkeit der SW oder der CMP glaubte, über das Nichtvorhandensein stichhaltiger, nichtzirkulärer Argumente für ihre Zuverlässigkeit Bescheid wüsste und (zu Recht) dächte, dass es von dem Betreffenden selbst abhängt, ob er sich an diesen Praktiken beteiligt. Wäre es unter diesen Bedingungen rational, die Überzeugungen auch weiterhin nach dem Muster der SW oder der CMP zu bilden? Dahinter scheint die Idee zu stecken, dass der Urzustand weder den Glauben an die Zuverlässigkeit der SW oder der CMP noch auch nur irgendwelche auf der Basis der SW oder der CMP gebildeten Überzeugungen umfassen würde. Denn diese Überzeugungen setzen vermutlich die Zuverlässigkeit der SW und der CMP voraus (zumindest wenn ich richtig verstehe, was Alston hier mit »voraussetzen« meint).¹⁹ Welche Überzeugungen spielen nun in diesem engen Urzustand tatsächlich eine Rolle? Welche meiner Überzeugung könnte ich vernünftigerweise zum Einsatz bringen, um über die Frage zu befinden, ob ich mit der CMP, der SW oder beiden weitermachen soll? Alston ist natürlich der Meinung, ich könne mich zu Recht der Prämissen seiner Argumente für die praktische Rationalität der CMP und der SW bedienen. Sie werden daher in den Urzustand übernommen. Die Prämissen des ersten Arguments umfassen, wie wir uns erinnern, in etwa folgendes:
Aus Alstons Erwiderung auf Referate zu Perceiving God, die im Dezember 1993 bei einer Veranstaltung der gleichzeitig mit der Eastern Division der American Philosophical Association tagenden Society of Christian Philosophers in Atlanta gehalten wurden. Eine veröffentlichte Fassung findet der Leser im Journal of Philosophical Research 20 (1995), S. 67 ff. Folgendes ist ein weiterer Grund für die Annahme, SW- und CMP-Überzeugungen seien nicht in den engen Urzustand aufzunehmen: Würden sie doch aufgenommen, hielte man sie im Urzustand natürlich für wahr, und man würde wissen, dass sie aus der SW und der CMP hervorgehen. Doch in diesem Fall hätte man offensichtlich vorzügliche Gründe für die Annahme, die SW und die CMP seien zuverlässig. Es läge auf der Hand, dass es rational wäre,Überzeugungen auch weiterhin nach dem SW- und dem CMP-Muster zu bilden. Damit befänden wir uns wieder in der schon früher gegebenen, von Trivialität beherrschten Situation.
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Die SW und die CMP führen nicht zu einer Vielzahl von Widersprüchen. Es besteht kein Grund, sie für unzuverlässig zu halten. Wir kennen keine doxastischen Alternativpraktiken, deren Zuverlässigkeit wir tatsächlich in epistemisch nichtzirkulärer Form beweisen könnten. Es würde uns beeinträchtigen, wenn wir aufhörten, unsere Überzeugungen nach diesen Mustern zu bilden.
Zu den Prämissen des zweiten Arguments gehören die folgenden: (2)
Die SW und die CMP sind sozial etablierte Praktiken, die weder nachweislich unzuverlässig noch aus sonstigen Gründen disqualifiziert sind. Es würde uns beeinträchtigen, wenn wir aufhörten, unsere Überzeugungen nach diesen Mustern zu bilden.
Hier würde man (1) mit einer weiteren Prämisse zusammenspannen, der zufolge es praktisch rational ist, wenn man beschließt, eine Praktik weiterzuführen, welche die Bedingungen erfüllt, von denen (1) behauptet, dass sie von der SW und der CMP erfüllt werden. Eine ähnliche Prämisse würde mit (2) zusammengehen. Alston meint nun, diese Prämissen dürften wir auf jeden Fall benutzen, um zu einer Entscheidung über die Fortführung der SW und der CMP zu kommen. Also obwohl der Urzustand jetzt eng gefasst ist, würde er nach wie vor die Prämissen von Alstons Argumenten umfassen. Aber warum eigentlich? Wieso wäre es richtig, wenn man sich im Urzustand auf diese Prämissen verließe? Falls man sich auf die Überzeugung, die CMP und die SW seien zuverlässig, sowie auf die Überzeugungen verlässt, die mit Hilfe der CMP und der SW gebildet werden, besteht das Problem natürlich darin, dass diese Überzeugungen unbeglaubigt sind. Gilt das gleiche aber nicht auch für die doxastischen Praktiken, aus denen (1) und (2) hervorgehen? Können wir die Situation diesbezüglich verbessern? Sowohl (1) als auch (2) enthalten die Überzeugung, dass wir uns an der CMP und der SW beteiligt und Überzeugungen nach dem CMP- und dem SW-Muster gebildet haben. Aber woher weiß ich denn, dass wir seit geraumer Zeit so verfahren? Zum Teil vermutlich wieder aufgrund von Wahrnehmungen: Ich nehme andere Personen (oder um übergenau zu sein: ihre Körper) wahr, und diese Wahrnehmung ist eine notwendige Bedingung meines Wissens, dass sie sich der CMP, der SW oder beider bedienen. Aber außerdem gilt, dass Wahrnehmungsüberzeugungen unbeglaubigt sind; also sind meine diesbezüglichen Überzeugungen unbeglaubigt.²⁰ Woher weiß ich nun, dass wir seit geraumer Zeit tatsächlich so verfahren? Vermutlich weiß ich es aufgrund meiner Erinnerungen. Leider sind Erinnerungsüberzeugungen ebenfalls unbeglaubigt. Zumindest soweit ich sehe, gibt es keine Möglichkeit, in epistemisch nichtzirkulärer Weise zu zeigen, dass Erinnerungen zuverlässig sind. Und woher wissen wir, dass es uns beeinträchtigen würde, wenn wir aufhörten, Überzeugungen in dieser Art und Weise zu bilden? Vermutlich wissen wir es aufgrund unserer allgemeinen Kenntnis der Menschen und ihrer Natur, d. h., wir wissen es aufgrund von Kenntnissen, die ihrerseits zumindest teilweise auf dem Weg der Wahrnehmung zu uns gelangen. Woher weiß ich nun, dass jene Zusatzprämissen wahr sind, denen zufolge es praktisch rational wäre, doxastische Praktiken weiter auszuüben, von denen die in (1) und (2) aufgestellten Bedingungen erfüllt werden? Hier wird vermutlich ange-
Genügt die Tatsache, dass sich das Argument auf eine Prämisse stützt, die sich ihrerseits aus ebender hier zu prüfenden Praktik ergibt, um zu zeigen, dass das Argument in epistemischer Hinsicht zirkulär ist? Das ist nicht offensichtlich, denn die Konklusion des hier angeführten Arguments besagt nicht, dass die SW zuverlässig sei, sondern sie besagt, dass es praktisch rational sei, sich an dieser Praktik zu beteiligen.
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nommen, dass solche Überzeugungen von selbst einleuchten, offensichtlich zutreffen oder zumindest in hohem Maße intuitiver Stützung teilhaftig sind. Dementsprechend würden diese Prämissen zu den Leistungen der Vernunft gehören. Also sind sie ebenfalls unbeglaubigt: Für die Zuverlässigkeit der Vernunft können wir kein in epistemischer Hinsicht nichtzirkuläres Argument anführen, denn um ein solches Argument anzuführen, müssten wir offensichtlich auf die Vernunft vertrauen. Also sind (1) und (2) nicht besser dran als die Überzeugungen, denen zufolge die SW und die CMP zuverlässig sind. Sofern diese letzteren im Urzustand nicht zu Recht eingesetzt werden dürfen, weil sie unbeglaubigt sind, gilt das gleiche auch für die ersteren. Im Grunde ist, wie Alston selbst andeutet (S. 146 – 147), ohne weiteres einzusehen, dass keine unserer Überzeugungen beglaubigt ist. Selbst wenn wir dazu in der Lage wären, ein Argument anzuführen, um zu zeigen, dass eine gegebene Überzeugungsquelle tatsächlich zuverlässig ist, so müssten wir uns zur Durchführung des Arguments auf andere Überzeugungsquellen stützen. Insbesondere müssten wir auf die Vernunft vertrauen; doch es liegt auf der Hand, dass man die Zuverlässigkeit der Vernunft nicht begründen kann, ohne sich auf die Vernunft selbst zu stützen. Also sind von der Vernunft hervorgebrachte Überzeugungen unbeglaubigt. Falls man also darauf pocht, der Urzustand müsse ausschließlich beglaubigte Überzeugungen umfassen, werden dort gar keine Überzeugungen vorkommen. Aber wenn dort gar keine Überzeugungen vorkämen, hätte man im Urzustand keine Ahnung, was man tun soll – ob man mit der SW und der CMP weitermachen soll oder nicht. Genausogut könnte man eine Münze werfen. Wahrscheinlicher wäre es, dass die rationale Entscheidung darauf hinausliefe, sich jeglichen Urteils zu enthalten. Aber wieso würde das im Hinblick auf die Frage der Rationalität der Bildung von Überzeugungen nach dem SW- bzw. dem CMP-Muster eine Rolle spielen? Wenn man keine Überzeugungen zur Verfügung hat, nach denen man sich richten kann, wäre es offenbar unmöglich, hinsichtlich der Frage, ob man mit der SW und der CMP weitermachen soll, zu einer vernünftigen Entscheidung zu kommen. Wieso würde dieser Umstand zeigen, dass die Bildung von Überzeugungen nach dem SW- und dem CMP-Muster etwas Irrationales hat? Hätte man mit Bezug auf dieses Thema gar keine Überzeugungen, könnte man zu keiner vernünftigen Entscheidung über die Frage gelangen, ob man die SW und die CMP weiterführen soll. Dieser Sachverhalt ist jedoch im Hinblick auf die Frage, ob an der Bildung von Überzeugungen nach dem SW- und dem CMP-Verfahren etwas auszusetzen ist, völlig belanglos. Doch wenn dem so ist, liefe die De-jure-Frage nicht auf die Frage hinaus, ob es rational wäre, im Urzustand die CMP (bzw. die SW) fortzuführen.²¹
Weiß ich jedoch (im engen Urzustand) wirklich, dass ich ständig nach dem Muster der SW und der CMP Überzeugungen gebildet habe, so dass es schon deshalb – und völlig unabhängig davon, ob andere Personen beteiligt sind oder nicht – unpraktisch wäre, meine Methode der Überzeugungsbildung umzumodeln? Diese Frage führt nach meinem Eindruck zu einem Rätsel, das die Grenzen dieser kontrafaktischen Gedankenexperimente veranschaulicht. Ich soll mir vorstellen, wie ich mich im engen Urzustand befinde, in dem ich weder SW- noch CMP-Überzeugungen habe. In diesem Fall würde ich meine Überzeugungen jedoch auf ganz andere Weise bilden als in der Wirklichkeit. Befände ich mich im Urzustand, würde es nicht zutreffen, dass ich mit dem Verzicht auf den Einsatz von SW- und CMP-Verfahren meine Art und Weise der Überzeugungsbildung modifizieren würde, denn im Urzustand verfahre ich ja gar nicht in dieser Art und Weise! Das zeigt meines Erachtens, dass diese kontrafaktische Form des Versuchs, die De-jure-Frage bezüglich SW oder CMP in den Griff zu bekommen, erheblichen Beschränkungen unterworfen ist. Unterstellen wir beispielsweise, ich sei ein Befürworter des Konservatismus. Unter gleichbleibenden Randbedingungen behaupte ich dann, die vernünftige Entscheidung bestehe darin, genauso weiter-
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Sollten wir, was die SW und die CMP betrifft, eventuell eine andere Möglichkeit in Betracht ziehen, wie sich der Urzustand gestalten ließe? Nehmen wir uns die SW vor und gehen wir davon aus, der Urzustand umfasse das Standardpaket minus Wahrnehmung: Denken, Erinnerung und Introspektion, also das Vermögen (bzw. das Mittel), mit dessen Hilfe wir erkennen, was es mit unserer Erfahrung auf sich hat (wie uns z. B. erschienen wird). Natürlich käme nur ein Teil der Erinnerung zum Tragen, denn in dem so ausgemalten Urzustand hätte ich keine Erinnerungsüberzeugung, die von Wahrnehmungsüberzeugungen abhinge. (So hätte ich beispielsweise nicht die Erinnerungsüberzeugung, gestern eine Katze gesehen zu haben, sondern nur die Überzeugung, dass es mir so scheint, als hätte ich eine Katze gesehen.) Stützen könnte ich mich daher auf nichts weiter als die Introspektion, das Denken und Erinnerungsbruchstücke. Demnach umfasst der Urzustand mit Bezug auf die SW: (1) mein Wissen, dass es in meiner Macht steht, Überzeugungen in der SW-Weise zu bilden, und ebenfalls in meiner Macht steht, keine SW-Überzeugungen aufkommen zu lassen; (2) mein Wissen, dass es nicht möglich ist, ein stichhaltiges, nichtzirkuläres Argument für die Zuverlässigkeit der SW anzuführen; (3) das Fehlen von Ansichten über die Zuverlässigkeit oder Unzuverlässigkeit dieser Praktik; und (4) das Fehlen von SW-Überzeugungen bzw. Überzeugungen, die ihrerseits auf Wahrnehmungsüberzeugungen beruhen. Mein Ziel – mein Bestreben – besteht natürlich darin, die Wahrheit zu glauben und Irrtümer zu vermeiden. Nun lautet die Frage: Welches Handeln meinerseits wäre rational, wenn ich mich tatsächlich in diesem Urzustand befände? Dass ich beschließe, Überzeugungen weiterhin nach dem SW-Muster zu bilden? Oder dass ich sie ablehne? Die eigentliche Frage ist nach meinem Eindruck jedoch folgende: Wieso ist diese ganze Fragestellung relevant? Das heißt, wieso sollte die Antwort auf die Frage, welches Handeln im Urzustand rational wäre, etwas mit der Frage zu tun haben, ob es aus meiner Sicht in der Lage, in der ich mich tatsächlich befinde, rational oder sonstwas wäre, Überzeugungen in der SW-Weise zu bilden? Dass von der Antwort auf diese Frage irgendetwas in epistemischer Hinsicht Interessantes abhängt, möchte ich bezweifeln.Was wir jetzt noch in der Hand haben, wird uns keine große Hilfe sein, und im Grunde kann ich nicht erkennen,wofür die Wahrscheinlichkeiten sprechen würden.²² Nehmen wir einmal an, die Antwort laute, die Wahrscheinlichkeitswerte sprächen für den Agnostizismus. Unter Berücksichtigung aller Umstände sieht es aus der Perspektive des engen Urzustands bezüglich SW so aus, als biete der Agnostizismus hinsichtlich der Leistungen der SW dasjenige Verfahren, das mit höchster Wahrscheinlichkeit den günstigsten Standpunkt im Verhältnis zur Wahrheit mit sich bringt. Es wäre demnach rational, diese Überzeugungen zurückzuhalten. Inwiefern wäre das für die Frage relevant, ob es de facto (also in der Situation, in der ich tatsächlich stecke) rational ist, Überzeugungen nach dem SW-Muster zu bilden – und zwar in
zumachen wie bisher. Im engen Urzustand entspräche es jedoch der konservativen Einstellung, wenn man sich weiterhin an den Agnostizismus hielte, der ein Bestandteil dieses Zustands ist. Daher wäre es, wenn man im Urzustand den Konservatismus akzeptiert, rational, am Agnostizismus festzuhalten. Eine weitere Möglichkeit ist die, dass ich mich im Hinblick auf die SW im engen Urzustand befinde und fortfahre, Überzeugungen in der CMP-Weise zu bilden, so dass der bezüglich SW enge Urzustand die Überzeugungen einschließt, die ich faktisch auf der Basis der CMP bilde. In diesem Fall würden die Wahrscheinlichkeitswerte meines Erachtens für die SW sprechen – zumindest dann, wenn ich in diesem Zustand unter anderem auch weiß, dass ich von Natur aus extrem stark dahin tendiere,Überzeugungen in der SW-Weise zu bilden. Gott ist eben,wie Descartes betont, kein Täuscher.
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irgendeinem interessanten Sinn des Wortes »rational«? Würde man über diese Frage befinden, indem man die Frage stellt, ob es praktisch rational wäre, in diesem engen Urzustand so zu verfahren, lässt man die Wahrnehmung als Quelle der Gewährleistung völlig außer acht. Man interpretiert die Wahrnehmung, als gäbe es selbst im Hinblick auf das Gebiet, für das sie offenbar gedacht ist, nichts, was ihr Autorität bzw. Glaubwürdigkeit verleiht. Man deutet sie so,wie sie nach Thomas Reid von Hume aufgefasst wird. Allerdings stellt Reid außerdem die Frage, warum man der Vernunft (und diesem Erinnerungsbruchstück) mehr vertrauen sollte als der SW.²³ Warum soll sich die SW vor dem Gericht der Vernunft verantworten?²⁴ Nun wollen wir von der Ebene der Metaphern herabsteigen und fragen, wieso es (im relevanten – und wie immer genau anzugebenden – Sinn des Wortes) aus meiner Sicht »rational« sein soll, Überzeugungen nur dann in der SW-Weise zu bilden, wenn die Zuverlässigkeit der SW aus der bloß vernunft-, erinnerungsbruchstück- und introspektionsbestimmten Perspektive eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich ist. Vielleicht ist es ja so, dass die Zuverlässigkeit der SW aus diesem reduzierten Blickwinkel nicht eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich ist. Zeigt das irgendetwas Interessantes? Ich bezweifle es. Nehmen wir an, unsere vielfältigen Wege der Überzeugungsbildung – unsere überzeugungsbildenden Vermögen – seien tatsächlich zuverlässig; und nehmen wir überdies an, wir seien tatsächlich von Gott geschaffen worden, dessen Absicht dahin geht, dass wir erkennen können, was wir eben aufgrund einer solchen Vielfalt von Vermögen erkennen zu können glauben, nämlich aufgrund von: Vernunft, Erinnerung, Sinneswahrnehmung, Introspektion, Mitgefühl, sensus divinitatis und innerem Ansporn seitens des heiligen Geistes (siehe unten, Kapitel 8), sofern es diese Quellen der Überzeugung und all die übrigen wirklich gibt. Welcher Grund besteht hier zur Annahme, dass es, sofern diese Vermögen wirklich zuverlässig sind, aus der bloß vernunft-, erinnerungsbruchstückund introspektionsbestimmten Perspektive auch den Anschein hätte, dass sie es sind? Vielleicht sind diese drei Komponenten einfach nicht dazu imstande, mir eine ausreichende Antwort zu geben.Würde das im Hinblick auf die Rationalität der Bildung von Wahrnehmungsüberzeugungen eine Rolle spielen? Diesen Eindruck habe ich nicht. Ich vermag also gar nicht einzusehen, dass es im Fall der SW sonderlich darauf ankommt, welche Antwort wir bekommen. Die hier gestellte Frage lautet:Wäre es praktisch rational, im engen Urzustand zu beschließen, dass man sich auf die SW einlässt und Überzeugungen nach dem SW-Muster bildet? Die Antwort auf diese Frage ist aber
»Der Skeptiker fragt mich, warum ich an die Existenz der von mir wahrgenommenen äußeren Gegenstände glaube. Dieser Glaube, so antworte ich, ist nicht von mir gemacht, sondern er wurde von der Natur geprägt. Er trägt ihr Bild und ihre Überschrift. Sollte er nicht zutreffen, liegt die Schuld nicht bei mir. Ich habe ihn stets – ohne jeglichen Argwohn – auf Treu und Glauben angenommen. Die Vernunft, sagt nun der Skeptiker, ist die einzige Richterin über die Wahrheit, und man sollte jede Meinung und jede Überzeugung, die nicht auf Vernunft gründet, ablegen. Aber warum sollte ich dem Vermögen der Vernunft mehr trauen als dem Vermögen der Wahrnehmung? Sie stammen beide aus demselben Laden und wurden vom selben Handwerker angefertigt. Falls er mir einen gefälschten Artikel aushändigt, was sollte ihn nun daran hindern, mir eine weitere Fälschung anzudienen?« (An Inquiry into the Human Mind, in: Ronald Beanblossom u. Keith Lehrer [Hg.], Thomas Reid’s Inquiry and Essays, Indianapolis, IN: Hackett 1983, S. 84– 85.) Siehe WCD, S. 97 ff. Natürlich möchte ich keineswegs den Gedanken nahelegen, nach Alstons Auffassung müsse sich die SW tatsächlich vor dem Gericht der Vernunft verantworten. Hier untersuche ich lediglich verschiedene Antworten auf die Frage »Was wissen oder glauben wir im Urzustand?«.
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nicht wirklich von Belang für die Frage, ob das Mittun bei der SW aus unserer Sicht rational ist. Hier ist uns keine vernünftige De-jure-Frage bezüglich der SW gegeben. Im Fall der CMP liegen die Dinge ein wenig anders. Zunächst einmal ist der enge Urzustand ein anderer. Zwar umfasst er, ebenso wie im vorigen Beispiel, Introspektion, Erinnerung und Vernunft, aber außerdem Wahrnehmung und Mitgefühl. Der enge Urzustand bezüglich CMP schließt also ein, dass ich nach Wahrheit strebe, meine faktisch gegebenen Überzeugungen für wahr halte und diese Dinge sogar auf der Basis des Standardpakets glaube. Außerdem ist darin enthalten, dass ich keine so oder so gearteten Überzeugungen bezüglich der Zuverlässigkeit der CMP habe. Nun habe ich folgende Aufgabe: Ich soll festzustellen versuchen, welcher der mir offenstehenden Wege am ehesten dazu angetan ist, mich in das richtige Verhältnis zur Wahrheit zu bringen. Eine Option besteht darin, dass man die CMP akzeptiert. Eine andere Option wäre die, dass man sie ablehnt und sich stattdessen für eine andere systematische Praktik der Bildung von Überzeugungen entscheidet, die sich auf dieselben Fragen beziehen wie die CMP. So könnte ich mir beispielsweise den philosophischen Naturalismus zu eigen machen, vielleicht aber auch eine nichtchristliche religiöse Praktik. Eine weitere Option bestünde vermutlich darin, dass man an dem Agnostizismus festhält, der zum Urzustand gehört, und eine davon wiederum verschiedene Option liefe darauf hinaus, dass man sich eine ironische Doppelgesinnung à la Rorty zulegt, also eine geistige Einstellung, die genauso schwer zu beschreiben wie faszinierend ist: Auf einer Ebene glaube ich diese Dinge, während ich auf einer anderen Ebene vornehm auf Distanz gehe und schüchtern einräume, dass ich in gewisser Weise an diese Dinge glaube, dabei jedoch in offiziellem Ton hinzufüge, diese Überzeugungen könne ich gar nicht ernst nehmen, wobei ich mich ihnen gegenüber ironisch und herablassend gebärde. (Wenn ich in meinem Arbeitszimmer darüber nachdenke, habe ich den vollen Durchblick. In der Kirche jedoch – mit all diesem liturgischen Drum und Dran, diesen Kirchenliedern, diesen Menschen, die ich mag und bewundere, diesen Bibellesungen und den eindringlichen Predigten … ) Die Frage lautet nun: Befände ich mich in dieser Situation, welches Handeln wäre aus meiner Sicht rational: Soll ich mir die CMP zu eigen machen, lieber eine Alternative wählen oder mich weiterhin agnostisch verhalten? Nach meinem Eindruck sollte hier der Agnostizismus den Sieg davontragen. Unter Berücksichtigung aller Umstände führt der Agnostizismus – aus dem Blickwinkel dieses engen Urzustands beurteilt – bezüglich der CMP-Themen am ehesten zur Vermeidung von Irrtümern und zum Glauben an die Wahrheit. Um das zu erhärten, müsste man sich freilich gewaltig anstrengen und sich zunächst einen prüfenden Überblick über alle rationalen Argumente für bzw. gegen die Existenz Gottes verschaffen, um anschließend die Argumente für und wider den Gedanken zu untersuchen, dass wir Menschen tatsächlich Gott wahrnehmen (sofern es eine solche Person überhaupt gibt). Vom Standpunkt des Standardpakets aus gesehen,²⁵ halte ich es für eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich, dass es eine Person wie Gott wirklich gibt. Die üblichen Argumente besitzen zwar nicht die Beweiskraft, die von manchen Autoren für sie in Anspruch genommen worden ist, aber sie haben (vermutlich) immerhin eine gewisse Kraft. Hinzu kommt eine Vielzahl weiterer theistischer Argumente, denen allesamt zumindest ein wenig Kraft eignet.²⁶ Auf der Gegenseite ist hier natürlich das Problem des Übels zu nennen. Wägt man die Argumente
Freilich ohne Calvins sensus divinitatis, obschon Calvin selbst meinte, dieser Motor oder Mechanismus der Überzeugungsbildung gehöre zur epistemischen Grundausstattung der gesamten Menschheit. Siehe die Skizze in meinem Aufsatz »Two Dozen (or so) Theistic Arguments«, in: Deane-Peter Baker (Hg.), Alvin Plantinga, Cambridge: Cambridge University Press 2007, S. 203 – 227.
II Praktische Rationalität im Sinne Alstons
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gegeneinander ab, gewinne ich jedoch den Eindruck, dass der Theismus insgesamt besser dasteht. Wie verhält es sich jedoch mit der These, wir Menschen seien tatsächlich dazu imstande, Gott wahrzunehmen? In dieser Hinsicht, glaube ich, dürfte der Agnostizismus die angemessene Einstellung sein. Unter dem Gesichtspunkt der im engen Urzustand mitgegebenen Ressourcen betrachtet, kann man einfach nicht bestimmen, ob wir Menschen Gott wahrnehmen. Es würde uns jedoch zu weit vom eigentlichen Thema wegführen, wenn wir diese Frage gebührend und eingehend erörtern wollten – vor allem angesichts der Tatsache, dass es sich bei der so aufgeworfenen Frage ohnehin um die falsche Frage handelt. Denn warum sollte man annehmen, dass die Zuverlässigkeit der CMP, sofern diese Praktik vernünftig bzw. (in einem wichtigen Sinn dieses vielschichtigen Ausdrucks) rational ist, vom Standpunkt des Standardpakets aus gesehen eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich sein muss? Betrachten wir die Erinnerung und die Belege, die vom Standpunkt der übrigen Komponenten des Standardpakets für sie sprechen sollen: Angenommen, man weiß nicht, dass es eine Vergangenheit gibt, sondern man weiß nur, was Vernunft, Wahrnehmung und Introspektion uns mitteilen. Wie wahrscheinlich ist es, aus dieser Perspektive gesehen, dass die Leistungen des Erinnerungsvermögens meistens der Wahrheit entsprechen? Nicht sehr wahrscheinlich, würde ich sagen.Wäre das ein Grund dafür, der Erinnerung zu misstrauen, sie als verdächtig anzusehen oder zu glauben, es sei nicht sonderlich rational, sich auf sie zu verlassen? Würde damit auch nur klammheimlich suggeriert, dass es nicht rational sei, zur Überzeugungsbildung den Weg der Erinnerung einzuschlagen? Ich vermag nicht zu erkennen, warum das so sein sollte. Doch dann gilt vermutlich das gleiche auch für die CMP. Angenommen, es gibt so etwas wie die Wahrnehmung Gottes; und ferner sei angenommen, dass die CMP tatsächlich zuverlässig ist.Würde daraus folgen, dass die Zuverlässigkeit der CMP unter der bloßen Voraussetzung der Leistungen des Standardpakets eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich ist? Nein, vermutlich nicht. Es gibt also keinen Grund zu der Annahme, rational sei das Mittun bei der CMP nur dann, wenn ihre Zuverlässigkeit im Hinblick auf das Standardpaket eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich ist. Wäre man anderer Meinung, würde man willkürlich von vornherein annehmen, die Zuverlässigkeit der CMP müsse, sofern sie eine Quelle verbürgter Überzeugungen darstellt, im Hinblick auf das Standardpaket wahrscheinlich sein. Es gibt jedoch keinen Grund, diese Annahme zu akzeptieren. In dieser Hinsicht verhält es sich mit der CMP genauso wie mit der SW. Es ist offenbar völlig willkürlich, darauf zu pochen, das Mittun bei der SW sei nur dann rational, wenn die Zuverlässigkeit der SW im Hinblick auf die Leistungen einer Reihe epistemischer Kräfte, zu denen die SW selbst gar nicht gehört, eher wahrscheinlich ist. Genauso unvernünftig wäre die Schlussfolgerung, die CMP sei nur dann rational, wenn ihre Zuverlässigkeit aus dem Blickwinkel des Standardpakets eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich ist. Angenommen, Gott hat uns mit einer Reihe von Vermögen geschaffen, die es uns ermöglichen sollen, auf verschiedenen Gebieten zur Wahrheit zu gelangen. Daraus folgt nicht, dass die Zuverlässigkeit eines dieser Vermögen eher wahrscheinlich wäre, wenn man zur Beurteilung die Leistungen eines Pakets von Fähigkeiten heranzieht, in dem das relevante Vermögen gar nicht enthalten ist. Um zusammenzufassen: Entweder ist der Urzustand im Hinblick auf die CMP weit oder eng. Ist er weit, wird er meine Überzeugung einschließen, die CMP sei zuverlässig. In diesem Fall würde die rationale Entscheidung offensichtlich darin bestehen, dass man mit der CMP fortfährt. Das trägt jedoch nicht im geringsten zur Behebung der Sorgen bei, die man sich hinsichtlich der Rationalität bzw.Vernünftigkeit der CMP machen könnte. Ist der Urzustand hingegen eng, spielt es im Grunde keine Rolle, ob es von diesem Standpunkt aus gesehen rational wäre, mit der CMP weiterzumachen.
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4 Rationalität
Nun wollen wir auf spezifisch christliche Überzeugungen zurückkommen. Dabei haben wir es auf die De-jure-Frage abgesehen: Was hat es mit dieser Rationalität (bzw. dieser rationalen Rechtfertigung) auf sich, die dem christlichen Glauben nach Meinung seiner Kritiker abgeht? Der hier betrachtete Vorschlag besagt, dass es sich womöglich um praktische Rationalität handelt. Bei der De-jure-Frage geht es vielleicht darum, ob der christliche Glaube tatsächlich in praktischer Hinsicht rational ist; und der De-jure-Einwand lautet, dass er nicht rational sei. Hier kommt jedoch die gleiche Dialektik zum Tragen wie im Fall der CMP. Wird der Urzustand im Hinblick auf den christlichen Glauben weit aufgefasst, wird er den christlichen Glauben selbst einschließen. Von diesem Standpunkt aus gesehen, bestünde die rationale Entscheidung natürlich darin, dass man fortfährt und Überzeugungen in der gleichen Weise bildet und aufrechterhält wie jetzt (d. h., indem man christliche Überzeugungen bildet und aufrechterhält). Das trägt jedoch kaum zu dem Nachweis bei, dass der christliche Glaube in irgendeinem interessanten Sinn rational ist. Nun wollen wir dagegen annehmen, der angemessene Urzustand sei eng. Dann wird er freilich nur das Standardpaket einschließen, aber nicht den christlichen Glauben. Aus dieser Perspektive gesehen, ist es womöglich gar nicht klar, dass die rationale Entscheidung darauf hinausliefe, den christlichen Glauben zu bejahen; vielleicht wäre es rational, wenn man beschlösse, den Glauben aufzugeben. Na und? Warum soll die Wahrheit des christlichen Glaubens (bzw. die Zuverlässigkeit der ihn hervorbringenden Quellen) von diesem Standpunkt aus gesehen eher wahrscheinlich sein, damit der Glaube als rational gilt? Warum sollte man annehmen, dass die Rationalität der christlichen Überzeugungen (in irgendeinem interessanten Sinn von »Rationalität«) voraussetzt, es müsse vom Standpunkt des Standardpakets aus eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich sein, dass sie auf zuverlässige Weise gebildet werden? Dafür gibt es keinen Grund. Also haben wir die De-jure-Frage immer noch nicht ausfindig gemacht. Um welche Frage handelt es sich also? Es muss doch wohl eine vernünftige De-jure-Frage geben, die hier irgendwo in der Nähe lauert! Welche Frage könnte das sein? Wo sollen wir danach suchen? Vielleicht an folgendem Ort: Kehren wir zum weiten Urzustand zurück und erinnern wir uns, dass man in dieser Lage sowohl die SW- als auch die CMP-Überzeugungen akzeptiert, woraus sich die trivialerweise rationale Entscheidung ergibt, dass man fortfährt, Überzeugungen nach diesem Muster zu bilden. Das gleiche würde natürlich auch für andere Überzeugungen gelten. Tatsächlich würde es sogar für Überzeugungen gelten, die in einem klaren Sinn irrational sind. Bei Descartes ist von Personen die Rede, »deren Gehirn durch widrige Dünste schwarzer Galle so geschwächt ist, dass sie hartnäckig behaupten, […] sie hätten einen tönernen Kopf, oder sie seien etwa gar Kürbisse oder aus Glas«.²⁷ Solche Leute meiden Stöße zweifellos wie die Pest. Unter der Voraussetzung, dass man wirklich aus Glas zu sein glaubt, ist es in der Tat rational, Stößen aus dem Weg zu gehen. Ebenso gilt: Wenn man tatsächlich aus Glas zu sein glaubt, ist es rational, im Dienste der Wahrheit dieser Überzeugung auch weiterhin anzuhängen (sofern man die Wahl hat). Schließlich hält man diese Überzeugung für wahr; und wenn das Ziel darin besteht, die Wahrheit zu glauben und Falschheit zu meiden, wird man auch in Zukunft an dieser Überzeugung festhalten. Na schön – sofern man glaubt, der eigene Kopf sei aus Glas, ist es rational, überall einen Schutzhelm zu tragen, und ebenfalls rational, an dieser Überzeugung festzuhalten, wenn man vor die Wahl gestellt wird. Aber ist es denn rational, diese Überzeugung überhaupt erst zu vertreten? Sofern man die durch SW oder CMP hervorgebrachten Überzeugungen vertritt und keine in epistemischer Hinsicht überlegene Praktik kennt, ist es in der Tat rational, Überzeugungen auch
Descartes, 1. Meditation, S. 12.
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weiterhin nach diesen Verfahren zu bilden. Ist es – war es – rational, vernünftig, gescheit, diese Überzeugungen überhaupt erst zu vertreten? Das ist, wie ich meine, der Bereich, in dem wir nach der De-jure-Frage bezüglich des christlichen Glaubens suchen müssen.Was bestimmt, ob eine gegebene Weise des Handelns oder Glaubens unter Voraussetzung dieser oder jener Umstände im relevanten Sinn rational bzw. vernünftig ist? Mein Vorschlag besagt: Bestimmt wird es durch das, was ein mit richtig funktionierender Vernunft (Ratio) ausgestattetes Lebewesen unserer Art tun oder glauben würde, wenn seine Situation die gleiche wäre. Maßgeblich ist aber vielleicht auch das, was ein mit idealer Ratio – mit einer für Geschöpfe wie uns idealen Ratio – ausgestattetes Lebewesen unter diesen Umständen täte oder dächte. Im Grunde geht es bei dieser Frage um den Bauplan des Menschen und hängt mit der Frage zusammen, was dieser Bauplan – bzw. eine etwas idealisierte Spielart dieses Bauplans – im Hinblick auf die fragliche Situation vorschreibt. Es geht also um die Überzeugungen, die ein richtig funktionierender Mensch unter den relevanten Umständen hätte. Was für eine Frage ist das denn? Es ist keine Frage der praktischen Rationalität, also nicht eine Frage wie diese: Angenommen, unter den Umständen U verfolge ich die Ziele Z, vertrete die Überzeugungen Ü und habe die Frage gestellt, ob ich X tun soll oder nicht; wie wahrscheinlich ist es nun, dass der Vollzug der Handlung X meinen Zielen und Bestrebungen förderlich sein wird? (Wie vernünftig wäre es, X zu tun?) Das ist eine völlig andere Fragestellung als bisher. Im nächsten Kapitel werden wir versuchen müssen, diese Frage genauer zu bestimmen und sie näher zu betrachten.
5 Gewährleistung – die Einwände von Freud und Marx Wer die Religion zu erklären vermag, ist aus meiner Sicht noch genialer als ein Religionsstifter. Und ebendas ist der Ruhm, den ich anstrebe. Charles DuPuis
Bisher haben wir gesehen, worum es sich bei der De-jure-Frage und der entsprechenden Kritik nicht handelt. Es geht weder um den Vorwurf, der Gläubige sei in intellektueller Hinsicht nicht im Recht, wenn er seine Überzeugungen für wahr hält, noch um den Einwand, er verfüge über keine triftigen Argumente, deren Basis Aussagen sind, die von selbst einleuchten, von den eigenen mentalen Zuständen handeln oder aus dem Blickwinkel des Betreffenden den Sinnen evident sind. Ebensowenig geht es um einen der folgenden Vorwürfe: Ihm stünde auch kein andersartiges stichhaltiges Argument zu Gebote; dem christlichen Glauben fehle eine Rechtfertigung im Sinne Alstons oder die Zweck-Mittel-Rationalität; außerdem sei es keine in praktischer Hinsicht rationale Entscheidung, Überzeugungen weiterhin auf der Basis der eigenen Erfahrung zu bilden. Keiner dieser Einwände steht auf halbwegs festen Beinen. Die De-jure-Kritik ist also, wie sich herausstellt, kaum in den Griff zu bekommen. Im vorigen Kapitel jedoch haben wir endlich einen flüchtigen Blick – wenn auch nicht mehr als einen solchen Blick – auf unsere Beute werfen können, und im vorliegenden Kapitel möchte ich das Wesen dieser Form der Kritik ein wenig eingehender betrachten. Zum Teil möchte ich das durch den Versuch erreichen, die mit Freud und Marx in Verbindung gebrachte Ablehnung des religiösen Glaubens zu verstehen. Anschließend werde ich auf den Zusammenhang hinweisen, der zwischen der richtig verstandenen De-jure-Frage und dem Begriff der Gewährleistung besteht (also dem Thema der vorigen beiden Bücher dieser Trilogie). In den nächsten Kapiteln werde ich explizit auf die Frage eingehen, ob es eine Gewähr für den christlichen Glauben gibt, auch wenn sie nicht durch Argumente oder propositionale Belege geleistet wird. Im Grunde handelt es sich dabei (wie ich es in einem früheren Artikel hätte ausdrücken können¹) um die Frage, ob der Glaube an Gott – bzw. der christliche Glaube im allgemeinen – angemessen basal sein kann, und zwar angemessen basal im Hinblick auf die Gewährleistung. (Zugleich ist es dieselbe Frage, die ich ansatzweise schon in
»Reason and Belief in God«, in: Alvin Plantinga u. Nicholas Wolterstorff (Hg.), Faith and Rationality, Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press 1983.
I Der F&M-Einwand
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meinem Buch God and Other Minds aufgeworfen habe.²) Vielleicht lässt sich die Frage auch so stellen: Gibt es eine Gewähr für den christlichen Glauben, die sich zwar nicht auf Argumente, wohl aber (in einem weiten Sinne des Wortes) auf religiöse Erfahrung stützt?
I Der F&M-Einwand Von Atheologen (also Theoretikern, die Einwände gegen den christlichen Glauben erheben) ist, wie wir gesehen haben, schon häufig behauptet worden, das Christentum sei irrational. Bisher ist es uns allerdings noch nicht gelungen, eine vernünftige Spielart dieser These ausfindig zu machen.Vielleicht kommen wir auf diesem Weg jedoch voran, indem wir die kritischen Einwände gegen den christlichen Glauben betrachten, die von Freud, Marx und dem ganzen Kader ihrer im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert wirkenden Anhänger erhoben worden sind.³ Man könnte an dieser Stelle auch die ähnlich gearteten Einwände Nietzsches untersuchen, denen zufolge die Religion in der Sklavenmoral wurzelt – im Ressentiment der Unterdrückten. Aus Nietzsches Sicht begünstigt das Christentum einen Menschenschlag, der zugleich sein Nährboden ist, nämlich einen wehleidigen, feigen, servilen, aalglatten, doppelzüngigen und generell verachtenswerten Typus, der sich überdies durch Neid, Selbstgerechtigkeit und gewaltigen Hass auszeichnet, der sich als mildtätiges Entgegenkommen ausgibt. (Kein hübsches Bild!) Auf eine Betrachtung Nietzsches möchte ich jedoch aus zwei Gründen verzichten: Erstens hat er den Ausführungen von Marx und Freud eigentlich nur wenig hinzuzufügen, und zweitens fällt es schwerer, ihn ernst zu nehmen. Er schreibt durchaus brillant, seine rhetorischen Übertreibungen sind mitunter amüsant, und die extravaganten Formulierungen sollen gewiss zur Verdeutlichung der Pointe beitragen. Alles in allem genommen, wirken die Heftigkeit und die Übertreibungen jedoch pathologisch. Um einen Anwärter auf die nüchterne Wahrheit zu finden, werden wir uns sicher anderswo umsehen müssen.⁴
Plantinga, God and Other Minds, Ithaca, NY: Cornell University Press 1967. Natürlich haben sie nicht nur den christlichen Glauben aufs Korn genommen. Die von Freud und Marx geübte Kritik ist ein Rundumschlag, der sich unterschiedslos gegen die Religion überhaupt richtet. Damit möchte ich auf keinen Fall die von Merold Westphal aufgestellte Behauptung bestreiten, Christen könnten von Nietzsche – ebenso wie von Freud und Marx – etwas lernen (siehe Westphal, Suspicion and Faith: The Religious Uses of Modern Atheism, Grand Rapids, MI: W. B. Eerdmans 1993). Natürlich können sie von diesen Autoren etwas lernen; aber dieselben Lehren kann man auf sehr viel subtilerer Ebene beispielsweise der Bibel entnehmen, in der (wie Westphal darlegt)
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5 Gewährleistung – die Einwände von Freud und Marx
Freud und Marx sowie ihre zahlreichen Epigonen (und Vorläufer) kritisieren den religiösen Glauben. Sie beanspruchen Mängel aufzudecken. Sie sind »Meisterdenker der Verdächtigung« und (zumindest aus eigener Sicht) Entlarver. Indem wir ihre kritischen Äußerungen untersuchen, werden wir, wie ich meine, endlich eine richtige De-jure-Frage ausfindig machen, die sich wirklich von der De-factoFrage unterscheidet und so beschaffen ist, dass die Antwort nicht trivial bleibt, während sie insofern relevant ist, als eine negative Antwort auf sie ein gravierender Einwand gegen den christlichen Glauben wäre. Zunächst müssen wir daher so vorgehen, dass wir uns Klarheit darüber zu verschaffen versuchen, was es mit dem kritischen Vorhaben von Freud und Marx (dem »F&M-Einwand«, wie er in meiner Terminologie heißt) eigentlich auf sich hat.
A Freud Freuds Religionskritik hat mehrere Seiten. So faszinierte ihn beispielsweise das, wie er meinte, darwinistische Bild der frühen Menschen: Rudel- oder Herdenwesen, die wie Wölfe oder Elche zusammenleben, wobei alle Frauen einem einzigen mächtigen, dominierenden und eifersüchtigen Mann gehören. Davon ausgehend, erzählt Freud eine dramatische Geschichte über den Ursprung der Religion aus einem außergewöhnlichen Vorgang, der sich zwischen den Angehörigen dieser Urhorde abgespielt haben soll: Der Vater der Urhorde hatte als unumschränkter Despot alle Frauen für sich in Anspruch genommen, die als Rivalen gefährlichen Söhne getötet oder verjagt. Eines Tages aber taten sich diese Söhne zusammen, überwältigten, töteten und verzehrten ihn gemeinsam, der ihr Feind, aber auch ihr Ideal gewesen war. Nach der Tat waren sie außerstande, sein Erbe anzutreten, da einer dem anderen im Wege stand. Unter dem Einfluß des Mißerfolges und der Reue lernten sie, sich miteinander zu vertragen, banden sich zu einem Brüderclan durch die Satzungen des Totemismus,welche die Wiederholung einer solchen Tat ausschließen sollten, und verzichteten insgesamt auf den Besitz der Frauen, um welche sie den Vater getötet hatten. Sie waren nun auf fremde Frauen angewiesen; dies der Ursprung der mit dem Totemismus eng verknüpften Exogamie. Die Totemmahlzeit war die Gedächtnisfeier der ungeheuerlichen Tat, von der das Schuldbewußtsein der Menschheit (die Erbsünde) herrührte […].
Nietzsches kritische Einwände, soweit sie zutreffen, vorweggenommen werden. Wollte man Nietzsches maßlose Schimpftiraden allerdings als ernsthafte Theorie über den Ursprung des Christentums auffassen, können sie nicht als ernsthafter Beitrag zum Thema gelten.
I Der F&M-Einwand
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[…] Ein besonders helles Licht wirft diese Auffassung der Religion auf die psychologische Fundierung des Christentums, in dem ja die Zeremonie der Totemmahlzeit noch wenig entstellt als Kommunion fortlebt.⁵
Das ist starker Tobak und ein Beleg für Freuds enorme Vorstellungskraft und seine Fähigkeit, eine sensationelle Geschichte zu erzählen.⁶ Alle Elemente eines Galaspektakels aus Hollywood sind hier vereinigt: Sex, Mord, Kannibalismus und Reue. Allerdings spricht nur wenig dafür, diese Darstellung als seriösen Versuch einer historischen Erklärung des Ursprungs der Religion ernst zu nehmen. Bestenfalls handelt es sich um eine unfundierte Mutmaßung – eher Science Fiction als Wissenschaft.⁷ Aber vielleicht hatte Freud gar nicht die Absicht, die Wahrheit nüchtern und ungeschönt darzustellen. (Er selbst spricht von einer »Vision« [S. 93].) Womöglich handelt es sich um so etwas wie ein Gleichnis, ungefähr im Sinne der von manchen Christen vertretenen Deutung der biblischen Schöpfungsgeschichte oder der Erzählung des Buchs Hiob, die demzufolge eine Wahrheit in anschaulicher, aber nicht buchstäblicher Form illustrieren und vorführen sollen. (Es kann sein, dass Freud hier wie an anderen Stellen im Bann
Freud, »Selbstdarstellung«, in: Gesammelte Werke, Werke aus den Jahren 1925 – 1931, Band XIV, hg. von Anna Freud u. a., 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer 1963, S. 93 – 94. Siehe auch Totem und Tabu (1912), Band IX. Eine ähnlich phantasievolle Geschichte erzählt Freud auch über die Zähmung und Nutzbarmachung des Feuers durch den Menschen – »eine ganz außerordentliche, vorbildlose Leistung«, wie er schreibt: Psychoanalytisches Material, unvollständig, nicht sicher deutbar, lässt doch wenigstens eine – phantastisch klingende – Vermutung über den Ursprung dieser menschlichen Großtat zu. Als wäre der Urmensch gewohnt gewesen, wenn er dem Feuer begegnete, eine infantile Lust an ihm zu befriedigen, indem er es durch seinen Harnstrahl auslöschte. An der ursprünglichen phallischen Auffassung der züngelnden, sich in die Höhe reckenden Flammen kann nach vorhandenen Sagen kein Zweifel sein. Das Feuerlöschen durch Urinieren – auf das noch die späten Riesenkinder Gulliver in Liliput und Rabelais’ Gargantua zurückgreifen – war also wie ein sexueller Akt mit einem Mann, ein Genuß der männlichen Potenz im homosexuellen Wettkampf.Wer zuerst auf diese Lust verzichtete, das Feuer verschonte, konnte es mit sich forttragen und in seinen Dienst zwingen. Dadurch, daß er das Feuer seiner eigenen sexuellen Erregung dämpfte, hatte er die Naturkraft des Feuers gezähmt. Diese große kulturelle Eroberung wäre also der Lohn für einen Triebverzicht. Und weiter, als hätte man das Weib zur Hüterin des auf dem häuslichen Herd gefangengehaltenen Feuers bestellt, weil ihr anatomischer Bau es ihr verbietet, einer solchen Lustversuchung nachzugehen. (Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Gesammelte Werke, Band XIV, S. 449, Anm.) Hierzu siehe etwa Wilhelm Schmidt, The Origin and Growth of Religion: Facts and Theories, übers. von H. J. Rose (New York: L. MacVeagh, Dial Press 1931), S. 114. An dieser Stelle unternimmt Schmidt den Versuch, diese Geschichte als wissenschaftlichen Beitrag ernst zu nehmen. Siehe ferner Evan Fales, »Scientific Explanations of Mystical Experiences, Part I: The Case of St. Teresa«, in: Religious Studies 32 (1996), S. 148
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5 Gewährleistung – die Einwände von Freud und Marx
biblischer Schreib- und Denkweisen steht.) Genauso wie es nicht immer leicht ist, einem biblischen Gleichnis die richtige Moral zu entnehmen, so fällt es auch nicht leicht zu erkennen, was wir nach Freuds Absicht aus diesem spannenden, wiewohl grusligen Histörchen lernen sollen. Aus psychologischer Sicht gibt Freud jedenfalls eine völlig andere Darstellung der Ursprünge des religiösen (theistischen) Glaubens: Diese [religiösen Vorstellungen], die sich als Lehrsätze ausgeben, sind nicht Niederschläge der Erfahrung oder Endresultate des Denkens, es sind Illusionen, Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche.Wir wissen schon, der schreckende Eindruck der kindlichen Hilflosigkeit hat das Bedürfnis nach Schutz – Schutz durch Liebe – erweckt, dem der Vater abgeholfen hat, die Erkenntnis von der Fortdauer dieser Hilflosigkeit durchs ganze Leben hat das Festhalten an der Existenz eines – aber nun mächtigeren – Vaters verursacht. Durch das gütige Walten der göttlichen Vorsehung wird die Angst vor den Gefahren des Lebens beschwichtigt, die Einsetzung einer sittlichen Weltordnung versichert die Erfüllung der Gerechtigkeitsforderung, die innerhalb der menschlichen Kultur so oft unerfüllt geblieben ist, die Verlängerung der irdischen Existenz durch ein zukünftiges Leben stellt den örtlichen und zeitlichen Rahmen bei, in dem sich diese Wunscherfüllungen vollziehen sollen.⁸
Wie wir sehen, beschränkt sich Freuds Kritik nicht auf phantasmagorische Märchen von der Urhorde. Der Grundgedanke ist der, dass der theistische Glaube aus einem psychischen Mechanismus hervorgeht, der von Freud als »Wunscherfüllung« bezeichnet wird. In diesem Fall sei der Wunsch nicht Vater der Tat, sondern des Glaubens. Die Natur steht gegen uns auf in all ihrer Kälte, Erbarmungslosigkeit, Unversöhnlichkeit und Blindheit für unsere Bedürfnisse und Begierden. Sie teilt Verletzungen aus sowie Ängste und Schmerzen. Zum Schluss verlangt sie dann unseren Tod. Gelähmt und entsetzt erfinden wir (natürlich unbewusst) einen Vater im Himmel, der unsere irdischen Väter in puncto Macht und Wissen im gleichen Maße übertrifft wie im Hinblick auf Güte und Wohltätigkeit. Die Alternative zu dieser Erfindung bestünde darin, in Depression, Erstarrung, Lähmung und schließlich im Tod zu versinken. Nach Freud ist der Glaube an Gott eine Illusion in dem von ihm erläuterten, mehr oder weniger technischen Gebrauch des Wortes, nämlich: eine Überzeugung, die aus dem Mechanismus der Wunscherfüllung hervorgeht. Diese Illusion wird dann irgendwie verinnerlicht.⁹
Freud, Die Zukunft einer Illusion (1927), in: Gesammelte Werke, Band XIV, Frankfurt a. M.: Fischer 1974, S. 352. Das geschieht derart, dass sie (oder ihre Erzeugnisse) in gewisser Weise dem von Calvin gekennzeichneten sensus divinitatis ähneln (s.u., Kapitel 6). Vgl. Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939), in: Gesammelte Werke, Band XVI.
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Wie Freud darlegt, ist die Illusion (im Gegensatz zum Irrtum) nicht notwendig falsch. So sei es, wie er ausführt, unmöglich, die Falschheit des theistischen Glaubens zu beweisen. Dennoch hat Freud mehr zu bieten als bloß eine trockene Anmerkung zur Entstehung der Religion. Obwohl die Religion dem kognitiven Mechanismus der Wunscherfüllung entspringe, stehe es (wie Freud offenbar glaubt) in unserer Macht, dieser Illusion Widerstand entgegenzusetzen; und wenn man sich dem entziehe, sei es zu verurteilen und in intellektueller Hinsicht verantwortungslos: Wenn die Verurteilung ›faule Ausrede‹ je am Platze war, so hier. Die Unwissenheit ist die Unwissenheit; kein Recht, etwas zu glauben, leitet sich aus ihr ab. Kein vernünftiger Mensch wird sich in anderen Dingen so leichtsinnig benehmen und sich mit so armseligen Begründungen seiner Urteile, seiner Parteinahme, zufriedengeben […] Wenn es sich um Fragen der Religion handelt, machen sich die Menschen aller möglichen Unaufrichtigkeiten und intellektuellen Unarten schuldig.¹⁰
Außerdem liefere die Psychoanalyse Argumente gegen die Wahrheit des religiösen Glaubens: »Kann man aus der Anwendung der psychoanalytischen Methode ein neues Argument gegen den Wahrheitsgehalt der Religion gewinnen, tant pis für die Religion […].« Sobald wir erkennen, daß die Religion aus dem Wunschdenken entsteht, werden wir sie vermutlich nicht mehr attraktiv finden. Vielleicht werden wir auf diese Weise auch dazu angeregt, ein gewisses Mitleid für die unbedarften Seelen zu empfinden, die nie zu unseren aufgeklärten Höhen aufsteigen werden: Das Ganze ist so offenkundig infantil, so wirklichkeitsfremd, daß es einer menschenfreundlichen Gesinnung schmerzlich wird zu denken, die große Mehrheit der Sterblichen werde sich niemals über diese Auffassung des Lebens erheben können.¹¹
Freud hofft und rechnet damit, dass die Menschheit den religiösen Glauben zu guter Letzt preisgeben werde, sobald man sich über den Ursprung dieses Glaubens klar geworden sei. Statt seiner werde man sich für eine Weltanschauung entscheiden, die den wirklichen Gegebenheiten näherkomme: Ich erinnere mich an eines meiner Kinder, das sich frühzeitig durch eine besondere Betonung der Sachlichkeit auszeichnete. Wenn den Kindern ein Märchen erzählt wurde, dem sie andächtig lauschten, kam er hinzu und fragte: Ist das eine wahre Geschichte? Nachdem man es
Die Zukunft einer Illusion, S. 355. Das Unbehagen in der Kultur, S. 431
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5 Gewährleistung – die Einwände von Freud und Marx
verneint hatte, zog er mit einer geringschätzigen Miene ab. Es steht zu erwarten, dass sich die Menschen gegen die religiösen Märchen bald ähnlich benehmen werden […].¹²
Das Hauptthema ist also dies: dass sich der religiöse Glaube aus der Wunscherfüllung ergibt. Was das heißt und welche Tragweite es gegebenenfalls im Hinblick auf die Rationalität des christlichen Glaubens hat, werden wir im folgenden genauer herauszubekommen versuchen müssen. Zunächst jedoch sollten wir kurz die recht ähnlich lautende Kritik von Marx zur Kenntnis nehmen.
B Marx Die folgenden Worte sind das bekannteste Urteil, das Marx über die Religion gesprochen hat: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben, oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch das ist die Welt des Menschen, Staat, Societät. Dieser Staat, diese Societät produziren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. […] Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammerthales, dessen Heiligenschein die Religion ist.¹³
Die Zukunft einer Illusion, S. 351. In dieser Sache ist Freud nicht unbedingt optimistisch. Nach seiner Auffassung gibt es drei Kräfte (Religion, Kunst und Philosophie), die der Wissenschaft den Anspruch auf kognitive Überlegenheit streitig machen, und die Religion sei als einzige dieser Kräfte »als Gegnerin ernst zu nehmen« (22, S. 160). Marx, Zur Kritik der Hegel’schen Rechts-Philosophie, in: Karl Marx Friedrich Engels Gesamtausgabe (MEGA), Erste Abteilung,Werke, Artikel, Entwürfe, Band 2, Berlin: Dietz 1982, S. 170 – 171. Anklänge an diese Marx-Stelle finden sich bei Engels im Anti-Dühring: Nun ist alle Religion nichts andres als die phantastische Wiederspiegelung, in den Köpfen der Menschen, derjenigen äußern Mächte, die ihr alltägliches Dasein beherrschen, eine Wiederspiegelung, in der die irdischen Mächte die Form von überirdischen übernehmen. In den Anfängen der Geschichte sind es zuerst die Mächte der Natur, die diese Rückspiegelung erfahren und in der weiteren Entwicklung bei den verschiedenen Völkern die mannigfachsten und buntesten Personifikationen durchmachen. [. . .] Aber bald treten neben den Naturmächten auch gesellschaftliche Mächte in Wirksamkeit, Mächte, die den Menschen
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Marx meint, die Religion entstehe aus einem verkehrten Weltbewusstsein, und dieser Verkehrung stehe ein richtiger, tadelloser oder natürlicher Zustand gegenüber. Die Religion beinhalte eine kognitive Fehlfunktion – eine Störung oder Verkehrung –, die offenbar auf irgendeine Weise durch eine ungesunde und verkehrte Gesellschaftsordnung hervorgerufen wird. Der religiöse Glaube ist nach Marx das Resultat einer kognitiven Fehlfunktion, einer Beeinträchtigung der geistigen und emotionalen Gesundheit. Der Gläubige ist daher im eigentlichen Wortsinn krank. Aufgrund einer dysfunktionalen, verkehrten gesellschaftlichen Umgebung arbeiten die kognitiven Mechanismen des gläubigen Menschen nicht richtig. Wäre seine kognitive Apparatur doch funktionstüchtig – würde sie beispielsweise auf ähnliche Weise funktionieren wie die von Marx selbst –, stünde der Gläubige nicht im Banne dieser Illusion. Vielmehr würde er die Welt und unseren Ort in ihr mit klarem Blick betrachten und einsehen, dass wir allein sind: Jeder Trost und jede Hilfe, die uns zuteil werden, müssen wir selbst ersinnen.¹⁴ Hier kann man den Ansatz eines Unterschieds zwischen Freud und Marx erkennen: Freud ist nicht unbedingt der Überzeugung, der religiöse Glaube werde von fehlfunktionierenden kognitiven Vermögen hervorgebracht. Der religiöse Glaube – insbesondere der Glaube an Gott – werde zwar durch Wunscherfüllung hervorgerufen und sei somit das Produkt einer Illusion, aber Illusionen und Wunscherfüllungen hätten ihrerseits eine gewisse Funktion. In diesem Fall bestehe diese Funktion darin, dass wir die Möglichkeit erhalten, in dieser kalten und herzlosen Welt, in die wir uns hineingeworfen fühlen, zurechtzukommen. Inwiefern ist das überhaupt eine Kritik des religiösen Glaubens? An anderer Stelle spricht Freud von einem »Realitätsprinzip«. Durch Wunscherfüllung hervorge-
ebenso fremd und im Anfang ebenso unerklärlich gegenüberstehn, sie mit derselben scheinbaren Naturnothwendigkeit beherrschen, wie die Naturmächte selbst. [. . .] Auf einer noch weiteren Entwicklungsstufe werden sämmtliche natürlichen und gesellschaftlichen Attribute der vielen Götter auf Einen allmächtigen Gott übertragen, der selbst wieder nur der Reflex des abstrakten Menschen ist. So entstand der Monotheismus. [. . .] Der Mensch denkt und Gott (d. h. die Fremdherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise) lenkt. [. . .] Dazu gehört vor allem eine gesellschaftliche That. Und wenn diese That vollzogen, wenn die Gesellschaft durch Besitzergreifung und planvolle Handhabung der gesammten Produktionsmittel sich selbst und alle ihre Mitglieder aus der Knechtung befreit hat, in der sie gegenwärtig gehalten werden durch diese von ihnen selbst produzirten, aber ihnen als übergewaltige fremde Macht gegenüberstehenden Produktionsmittel, wenn der Mensch also nicht mehr bloß denkt, sondern auch lenkt, dann erst verschwindet die letzte fremde Macht , die sich jetzt noch in der Religion wiederspiegelt, und damit verschwindet auch die religiöse Wiederspiegelung selbst, aus dem einfachen Grunde, weil es dann nichts mehr wiederzuspiegeln gibt. (MEGA, Erste Abteilung, Band 27, Berlin: Dietz 1988, S. 474– 475) Es gibt noch eine zweite Möglichkeit, die Worte von Marx zu interpretieren (s.u., S. 189 f.).
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rufene Überzeugungen seien nicht realitätsorientiert. Ihre Funktion bestehe nicht darin, wahre Überzeugungen hervorzurufen, sondern anders geartete Überzeugungen (die beispielsweise psychischen Trost mit sich bringen). Man könnte es also zunächst wie folgt formulieren: Der religiöse Glaube wird durch kognitive Vorgänge erzeugt, deren Funktion nicht in der Verfertigung wahrer Überzeugungen liegt, sondern in der Bildung von Überzeugungen, die dem psychischen Wohlbefinden günstig sind. Diesen Gedanken werden wir uns weiter unten genauer anschauen. Vorläufig können wir vielleicht folgendes festhalten: Die Religionskritik von Marx besagt, der Glaube werde durch gestörte kognitive Prozesse hervorgerufen, während die Kritik Freuds darauf hinausläuft, dass der Glaube durch Prozesse erzeugt werde, die nicht auf die Bildung wahrer Überzeugungen abzielen.
C Weitere Autoren Diese Thesen müssen wir eingehender betrachten. Zunächst ist jedoch festzustellen, dass diese vorgebliche Entlarvung zwar meistens Freud und Marx gutgeschrieben wird (wobei auch für Nietzsche gelegentlich etwas abfällt), in ihren wesentlichen Zügen jedoch auf einen sehr viel früheren Autor zurückgeht: JeanJacques Rousseau (1712– 1778) war der Meinung, der christliche Glaube sei ein Produkt einer verdorbenen Gesellschaft; die natürliche Spiritualität unserer Seele sei durch eine christlich gefärbte Zivilisation beschädigt worden. Er antizipiert also Marx, insofern er den christlichen Glauben als Ergebnis einer aus gesellschaftlichen Fehlfunktionen resultierenden kognitiven Fehlfunktion ansieht. David Hume wiederum – ein britischer Zeitgenosse von Rousseau – antizipiert Freud: In der Tat wird man notwendigerweise zugeben müssen, daß die Menschen, sollen sie ihre Blicke über das Gegenwärtige hinaus erheben oder zu irgendeiner Folgerung hinsichtlich der unsichtbaren intelligenten Macht veranlaßt werden, von irgendeiner Leidenschaft bewegt sein müssen, die ihr Sinnen und Trachten beherrscht; irgendeinem Beweggrund, der sie zu ihrer ersten Untersuchung treibt. Aber zu welcher Leidenschaft sollen wir hier Zuflucht nehmen, um eine Wirkung von so gewaltiger Konsequenz zu erklären? Gewiß nicht zur spekulativen Wißbegierde oder zur reinen Wahrheitsliebe. Diese Antriebe sind zu subtil für derart grobe Auffassungen und würden die Menschen zu Untersuchungen über die Struktur der Welt führen; einem für ihre begrenzten Fähigkeiten zu weitläufigen und umfangreichen Gegenstand. Folglich kann man nicht annehmen, daß andere Leidenschaften auf solche ungebildeten Menschen einwirken könnten, als die gewöhnlichen Gemütsbewegungen des menschlichen Lebens: der ängstlichen Sorge um Glück, der Furcht vor künftigem Elend, dem Schrecken des Todes, dem Durst nach Rache, dem Hunger und anderen Bedürfnissen. Derart von Hoffnung und Furcht, besonders der letzteren, getrieben, untersuchen die Menschen mit
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banger Neugier den Lauf künftiger Ursachen und erforschen die vielfältigen und einander entgegengesetzten Ereignisse des menschlichen Lebens. Und in diesem verwirrten Schauspiel erblicken sie mit noch verwirrteren und erstaunteren Blicken die ersten dunklen Spuren einer Gottheit.¹⁵
Entscheidend ist hier die Behauptung, der religiöse Glaube gehe nicht aus der »reinen Wahrheitsliebe« hervor, sondern er speise sich aus anderen Quellen wie dem Streben nach Glück, der Angst vor dem Tod und dergleichen mehr. In ironischer Manier deutet Hume sogar an, der christliche Glaube stünde dermaßen im Gegensatz zur Erfahrung und den »Prinzipien des Verstandes« (also den Leistungen der Vernunft), dass ein gescheiter Mensch nur durch ein Wunder dazu gebracht werden könne, diesen Glauben zu akzeptieren: So dürfen wir alles in allem schließen, daß die christliche Religion nicht nur im Anfange von Wundern begleitet war, sondern noch heutigen Tages von keinem verständigen Menschen ohne die Annahme eines solchen geglaubt werden kann. […] Wen der Glaube (faith) bewegt, ihr zuzustimmen, der ist sich eines fortgesetzten Wunders in seiner eigenen Person bewußt, das alle Prinzipien seines Verstandes umkehrt und ihn bestimmt, das zu glauben, was dem Gewohnten und der Erfahrung am meisten widerstreitet.¹⁶
Die grundlegende Stoßrichtung von Humes Ausführungen geht – ebenso wie bei Freud – dahin, der religiöse Glaube rühre nicht von dem Teil unseres kognitiven Gesamthaushalts her, der (wie man vielleicht sagen könnte) auf die Erzeugung wahrer Überzeugungen abzielt. Vielmehr komme er von unserem Streben nach Sicherheit her, von der Angst vor dem Tod oder irgendetwas anderem. Was dem ironischen Spott Humes zugrunde liegt, ist natürlich der Gedanke, der christliche Glaube laufe den Leistungen der Vernunft und der Erfahrung direkt zuwider. Viele unserer eigenen Zeitgenossen sehen religiöse Überzeugungen in der gleichen Weise. So ergreift Northrop Frye etwa für Marx Partei, bedient sich dabei jedoch von Freud hergenommener oder auf ihn zurückgehender Kategorien. Mit Bezug auf den »sonderbaren Irrtum des ›Bibelglaubens‹« sagt er: Im Grunde ist ein solcher Glaube nichts anderes als freiwillig induzierte Schizophrenie und wahrscheinlich eine fruchtbare Quelle von Infantilismus und hysterischen Glaubensängsten,
Hume, Die Naturgeschichte der Religion, hg. von Lothar Kreimendahl, 2. durchges. Auflage, Hamburg: Meiner 2000, S. 8 – 9. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, übers. von Raoul Richter, durchgesehen und überarbeitet von Lambert Wiesing. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 167.
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wie sie im Bereich der Religion – zumindest jedoch in ihren eher unkritischen Gefilden – häufig zu finden sind.¹⁷
In ähnlicher Form schreibt Don Cupitt: »Der theologische Realismus kann eigentlich nur für ein heteronomes Bewusstsein wahr sein [also nur von einem solchen Bewusstsein für wahr gehalten werden], wie es heutzutage kein normaler Mensch mehr haben sollte.«¹⁸ Wer wirklich ein »theologischer Realist« zu sein (also tatsächlich an Gott zu glauben) behauptet, der ist,wie Cupitt meint, entweder ein Heuchler¹⁹ oder einer »Form von Verrücktheit« erlegen.²⁰ Cupitt scheint zu glauben, angesichts dessen, »was wir heute wissen« (wie es so schön heißt), müsse man psychotisch sein, um tatsächlich einen theologischen Realismus zu vertreten (also an die Existenz einer Person wie Gott zu glauben). Leide man zwar nicht an einer Psychose, bekenne sich aber trotzdem zum Glauben an Gott, müsse man zu den Heuchlern gehören, von denen die christlichen Kirchen voll sein sollen. Als letzter Zeuge sei Charles Daniels genannt, der insofern mit Freud übereinstimmt, als er meint, der Ursprung des religiösen Glaubens liege im Wunschdenken: Wir müssen allmählich den Verdacht hegen, dass die Erklärung dieser [religiösen] Erlebnisse nicht in einer wahrgenommenen religiösen Realität liegt, sondern dass es sich um die Wirkung einer anderen Ursache – vielleicht um ein Übermaß an Gefühl und Inbrunst – handelt […]. Es fällt allerdings gar nicht schwer, eine plausible, nicht auf bloße Möglichkeiten (wie etwa Ränkespiele teuflischer Wesen) gestützte Erklärung dafür zu konstruieren, dass Menschen ganz stark von der Existenz einer von Gott bewohnten religiösen Realität überzeugt sind, die in der religiösen Erfahrung wahrgenommen wird, obwohl es sie gar nicht gibt. […] Wir wünschen es uns in sehr hohem Maße, dass es eine verständliche Ordnung des Universums gibt; wir wünschen es uns in sehr hohem Maße, dass unser Leben nicht folgenlos bleibt; und wir wünschen es uns in sehr hohem Maße, der Frage nach dem Richtigen und dem Falschen bis in die praktischen Details hinein auf den Grund zu gehen. Die Religion behandelt die Fragen, auf die sich unsere besonders inständigen Wünsche richten: Die Welt hat eine verständliche Ordnung, denn es gibt einen intelligenten, mächtigen Gott, der sie geschaffen hat. Wir sind wichtig, weil Gott uns (zu »seinem Bilde«, wie die Christen sagen)
Apropos Infantilismus: Diese unbeherrschten Bemerkungen Fryes erinnern an den Stil gewisser Auseinandersetzungen auf dem Schulhof (unter Zehnjährigen etwa): »So was Blödes! Das Doofe ist, dass du bescheuert bist, und deine ganze Familie ebenfalls!« Don Cupitt, Taking Leave of God, New York: Crossroad 1980, S. 12. Der Autor glaubt vermutlich, es sei »unsere moderne Form des Bewusstseins«, die uns das heteronome Bewusstsein verbietet. Ebd., S. 21. Cupitt, The World to Come, London: SCM Press 1982, S. 83.
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geschaffen und uns die Fähigkeit zum Verstehen und zum freien, intelligenten Handeln verliehen hat.²¹
D Wie ist der F&M-Einwand zu verstehen? Der Freud-Marx-Einwand ist natürlich ein Vorwurf: eine (negative) Kritik des religiösen – einschließlich des christlichen – Glaubens. Aber das allgemeine Projekt, zu dem auch die Bemühungen von Freud und Marx gehören, ist das Vorhaben einer naturalistischen Erklärung des religiösen Glaubens, also einer Erklärung, von der weder die Wahrheit der fraglichen Überzeugungen noch die Wahrheit irgendwelcher sonstigen übernaturalistischen Überzeugungen oder Hypothesen vorausgesetzt wird. Es gibt (außer den bereits genannten) viele Autoren, die sich ebenfalls auf dieses Vorhaben eingelassen haben, und mittlerweile herrscht eine große Vielfalt an naturalistischen Erklärungen des religiösen Glaubens.²² Allerdings ist die naturalistische Erklärung eines Glaubens nicht automatisch eine Kritik an diesem Glauben. Betrachten wir das apriorische Glauben, etwa das Glauben an Aussagen vom Typ der logischen Gesetze, der Grundwahrheiten der Arithmetik oder der Aussage »Wenn alle Katzen Tiere sind und Maynard eine Katze ist, dann ist Maynard ein Tier«. Vielleicht ist es möglich, unsere Kenntnis dieser Wahrheiten »naturalistisch« zu erklären, also mit einer Erklärung aufzuwarten, die zu diesen Wahrheiten im gleichen Verhältnis steht, in dem eine naturalistische Erklärung des religiösen Glaubens zu diesem steht. Eine solche Erklärung würde sich nicht auf die Wahrheit dieser apriorischen Überzeugungen als Teilerklärung berufen, sondern sie würde so verfahren, dass sie bestimmte hervorstechende Merkmale der kausalen Genese oder Antezedenzien dieser Überzeugungen skizziert und dabei vielleicht auf irgendwelche Vorgänge im Nervensystem hinweist. Die Existenz einer derartigen kausalen Erklärung einer apriorischen Überzeugung würde weder zeigen noch tendenziell zeigen, dass solche Überzeugungen unzuverlässig sind. Das gleiche würde auch für den religiösen Glauben gelten. Der Nachweis, dass es natürliche Vorgänge gibt, die religiöse Überzeugungen hervorbringen, trägt als solcher nichts dazu bei, diese Überzeugungen in Misskredit zu bringen. Vielleicht sind wir von Gott so entworfen worden, dass wir mit Hilfe dieser Vorgänge zur Erkenntnis Gottes gelangen. Angenommen, es ließe sich zeigen, dass ein bestimmter komplexer Typus von Nervenreizungen theistische Überzeugungen hervorrufen kann. Das würde nicht im geringsten dazu beitragen, den religiösen Glauben in Verruf zu bringen – genauso wie die Erinnerung nicht dadurch diskreditiert wird, dass man durch Reizung der richtigen Gehirnteile Erinnerungsüberzeugungen erzeugen kann. Offenbar ist beides möglich: einerseits, dass es eine auf natürliche Vorgänge abhebende Erklärung des religiösen Glaubens gibt (etwa eine gehirnphysiologische Erklärung dessen, was geschieht, während man eine religiöse
Daniels, »Experiencing God«, in: Philosophy and Phenomenological Research (1989), S. 497, 499. Siehe beispielsweise J. Samuel Preus, Explaining Religion, New Haven, CT:Yale University Press 1987.
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Überzeugung vertritt), und andererseits, dass solchen Überzeugungen ein durchaus respektabler epistemischer Status zukommt.
Um auf dem Weg einer naturalistischen Erklärung zu einer Kritik der Religion zu gelangen, brauchen wir etwas, was den religiösen Glauben in irgendeiner Weise diskreditiert, in Frage stellt und zeigt, dass er in epistemischer Hinsicht nicht respektabel ist, also – um es mit einem Wort zu sagen – zeigt, dass irgendetwas daran faul ist. Die Kritik liefe dann natürlich darauf hinaus, dass der religiöse Glaube (einschließlich des christlichen Glaubens) irrational sei. Aber in welcher Hinsicht irrational? Was ist es genau, das dem F&M-Einwand zufolge am religiösen Glauben faul ist? Wie ist der F&M-Einwand im einzelnen zu verstehen? Zunächst einmal eine Bemerkung über eine Annahme, die diesem Einwand zugrunde liegt: Schon seit Platon und Aristoteles geht man davon aus, es gebe geistige, kognitive bzw. rationale Kräfte, Vermögen oder (eventuell) Tugenden, wie z. B.Wahrnehmung und Erinnerung. In Einklang mit der heutigen Computermode könnte man im Hinblick auf diese Vermögen von Input und Output sprechen. Der Output sind Überzeugungen, Meinungen. Es sind diese Prozesse, die in uns die zahllosen Überzeugungen hervorbringen, die wir vertreten. Die genannten Vermögen sind zugleich so etwas wie Werkzeuge, und ebenso wie Werkzeuge haben sie eine Funktion, einen Zweck. Begriffen wir uns als Produkte der Schöpfung und des Entwurfs eines obersten Handwerkers oder der Evolution, würden die kognitiven Vermögen zu unserer kognitiven Gesamtausstattung bzw. dem kognitiven Gesamtplan gehören, der seinerseits den Zweck hat, in uns Überzeugungen hervorzubringen. Der übergeordnete Zweck dürfte vermutlich der sein, wahre Überzeugungen in uns hervorzurufen. Um ein etwas weniger passives Bild zu zeichnen: Unsere kognitiven Fähigkeiten sind so entworfen, dass man durch richtigen Einsatz zu wahren Überzeugungen gelangt. Dabei decken diese Vermögen einen erstaunlich großen Bereich ab, um Überzeugungen zu liefern, die viele verschiedene Themen betreffen, nämlich: Überzeugungen über unsere unmittelbare Umgebung, die Außenwelt insgesamt, die Vergangenheit, über Zahlen, Propositionen und sonstige abstrakte Gegenstände und deren wechselseitige Beziehungen, über andere Personen nebst ihren Gedanken und Gefühlen, über die Beschaffenheit der Zukunft, über Richtig und Falsch sowie über Gott. Diese Vermögen und Prozesse sind die Werkzeuge oder Organe (wie man vielleicht sagen könnte), durch die wir Wissen erlangen. Sie sind insofern auf die Wahrheit gerichtet, als ihr Zweck bzw. ihre Funktion darin besteht, uns wahre Überzeugungen zu liefern. Sie können, wie alle übrigen Instrumente oder Organe auch, reibungslos laufen oder nicht, richtig funktionieren oder nicht. Eine Warze oder ein Tumor kann zwar durch eine Fehlfunktion im System hervorgerufen werden, aber die Warze oder der Tumor selbst funktioniert weder gut noch
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schlecht, denn ein solches Gebilde hat weder Funktion noch Zweck. Dagegen hat ein Organ (wie das Herz, die Leber oder die Bauchspeicheldrüse) tatsächlich eine Funktion und arbeitet entweder richtig oder nicht. Das gleiche gilt auch für die kognitiven Vermögen bzw. Fähigkeiten: Sie können ebenfalls richtig funktionieren oder nicht. Ein Zustand, in dem sie ganz besonders schlecht funktionieren, ist der Wahnsinn. Aber natürlich gibt es sehr viel schwächere und weniger störende Formen kognitiver Fehlfunktion. Zu den wichtigsten dieser Vermögen gehört die Vernunft. Fasst man diesen Begriff im engeren Sinn auf, ist die Vernunft das Vermögen bzw. die Kraft zur Bildung apriorischer Überzeugungen, also zur Bildung von Überzeugungen, die vor der Erfahrung kommen oder, besser formuliert, in irgendeiner Hinsicht von der Erfahrung unabhängig sind.²³ Zu diesen Überzeugungen gehören auch die Leistungen der Vernunft, von denen im 4. Kapitel die Rede war. Darunter fallen erstens einfache Wahrheiten der Arithmetik und der Logik, wie etwa »2 +1 = 3« und »Wenn alle Menschen sterblich sind und Sokrates ein Mensch ist, dann ist Sokrates sterblich«. Ebenfalls in diese Kategorie gehören Überzeugungen wie die, dass es nichts gibt, dessen gesamte Fläche sowohl rot als auch grün sein kann, und dass ein Wesen nur dann eine Person ist, wenn es zumindest potentiell dazu in der Lage ist, Überzeugungen zu bilden und sich Zwecke oder Ziele zu setzen. Ferner gehören auch strittigere Meinungen hierhin, wie etwa die Überzeugung, es gebe Eigenschaften, Sachverhalte, Propositionen und sonstige abstrakte Gegenstände, sowie die Überzeugung, kein Gegenstand habe in einer möglichen Welt, in der er nicht existiert, eine Eigenschaft. (Das möchte ich für meinen Teil jedenfalls behaupten, obschon es Autoren gibt, die anderer Meinung sind.) Ebenfalls zu den Leistungen der Vernunft gehören auch Überzeugungen, die aus anderen Leistungen der Vernunft offensichtlich folgen.²⁴ Überdies ist die Vernunft diejenige Kraft bzw. Fähigkeit, durch die es uns gelingt, logische Beziehungen zwischen Aussagen zu erkennen oder ausfindig zu machen. Daneben gibt es weitere Vermögen oder rationale Kräfte, deren Zweck darin liegt, wahre Überzeugungen in uns hervorzubringen.²⁵ Hierzu gehören beispielsweise Wahrnehmung und Erinnerung, die – zusammen mit der Vernunft – das im 4. Kapitel genannte Standardpaket bilden. Hinzu kommen ferner die Introspektion, durch die ich Dinge über mich selbst erfahre wie: dass mir auf bestimmte Weise erschienen wird und dass ich dies oder jenes glaube, sowie die Induktion, durch die man (in einer – jeder expliziten Kennzeichnung spottenden –
Siehe WPF, Kapitel 6. Siehe allerdings oben, 4. Kapitel, S. 135. Was sonstige Einzelheiten betrifft, siehe WPF, Kapitel 3 – 9.
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Weise) dahingelangt zu erwarten, dass die Zukunft der Vergangenheit in bestimmten Hinsichten ähneln wird, weshalb man auch aus der Erfahrung lernen kann.²⁶ Ebenfalls zu nennen ist das von Thomas Reid betonte Mitgefühl, durch das uns bewusst wird, was andere Personen denken, fühlen und glauben. Des weiteren gibt es bezeugende Fremdaussagen sowie die Glaubensbereitschaft, durch die wir von anderen lernen, indem wir glauben, was sie uns sagen. Durch Mitfühlen erfahre ich, dass du mir mitteilst, dein Name sei Archibald. Damit ich dir glaube, ist jedoch mehr erforderlich. (Durch Wahrnehmung sehe ich etwa, dass du dich in einem bestimmten körperlichen Zustand befindest. Durch Mitgefühl erfahre ich, dass du behauptest, dein Name sei Archibald. Durch meine entgegenkommende Einstellung zu deinem Zeugnis gelange ich dahin, dir zu glauben.) Die Aufklärung stand der Bereitschaft zur Zeugnisanerkennung und der Tradition mit Misstrauen gegenüber. Locke sah darin eine hervorstechende Quelle von Irrtümern. Zur Zeit der Aufklärung herrschte die Vorstellung, dass wir anfangs vielleicht von anderen lernen, beispielsweise von den Eltern. Wirklich reife und unabhängige Erwachsene jedoch seien über diesen Zustand hinaus und kämen aufgrund von Belegen zu ihren Überzeugungen. Das ist jedoch ein Irrtum, denn man weiß nicht einmal, wie man heißt, oder in welcher Stadt man wohnt, ohne sich auf Fremdauskünfte zu verlassen. (Wird man, was den ersten Punkt betrifft, seine Geburtsurkunde heranziehen oder, was den zweiten anlangt, eine verfügbare Landkarte? Im einen wie im anderen Fall verlässt man sich natürlich auf Fremdaussagen.) Thomas Reid formuliert das so: Was sie [meine Eltern und Lehrer] mir sagten, glaubte ich instinktiv, längst ehe ich einen Begriff vom Lügen oder eine Vorstellung von der Möglichkeit der Täuschung hatte. Später, nachdem ich darüber nachgedacht hatte, stellte ich fest, dass sie recht und billig und wohlmeinend an mir gehandelt hatten. Ich erkannte, dass ich bis auf den heutigen Tag kaum über den Zustand eines Wechselbalgs hinausgelangt wäre, wenn ich ihren Auskünften nicht geglaubt hätte, ehe ich Gründe für meine Überzeugungen angeben konnte. Und obschon diese natürliche Gutgläubigkeit manchmal die Ursache dafür war, dass ich von Betrügern hereingelegt wurde, ist sie doch alles in allem ein enormer Vorteil für mich gewesen. Daher betrachte ich sie ebenfalls als eine nützliche Gabe der Natur.²⁷
Zusätzlich zu den bisher genannten kognitiven Kräften oder rationalen Vermögen gibt es vielleicht weitere Fähigkeiten, die in höherem Maße umstritten sind. So scheinen wir beispielsweise so etwas wie einen Moralsinn zu kennen. Bestimmte
Siehe WPF, S. 122 ff. Essays on the Intellectual Powers of Man, in: Thomas Reid’s Inquiry and Essays, hg. von R. Beanblossom u. K. Lehrer, Indianapolis, IN: Hackett 1983, VI, 5, S. 281– 282. Siehe auch WPF, S. 77 ff.
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Verhaltensweisen und Charaktere sind offenbar falsch, schlecht, abstoßend. Von anderen erhält man den Eindruck, sie seien richtig, gut, passend, förderungswürdig. Unter gleichbleibenden Normalumständen ist es offensichtlich verfehlt, kleine Kinder zu verletzen oder den alternden Eltern jede Hilfe zu verweigern. Vielleicht erkennen wir das durch so etwas wie einen Moralsinn. (Dass dieser Moralsinn fehlfunktionieren oder verkümmern kann, ist zweifellos der Grund dafür, dass die Unfähigkeit zur Unterscheidung zwischen Gut und Böse vor Gericht als mildernder Umstand geltend gemacht werden kann.) Hier geht es mir nicht darum, für die wirkliche Existenz eines Moralsinns zu plädieren (obwohl ich tatsächlich davon überzeugt bin), sondern ich möchte festhalten, dass es außer den bisher genannten weitere wahrheitsgerichtete Vermögen geben kann. Ebenso könnte es sein, dass jemand, der an Gott glaubt, meint, es gebe so etwas wie den sensus divinitatis im Sinne Calvins,²⁸ also einen natürlichen, angeborenen Sinn für Gott bzw. Göttlichkeit, der den Ursprung und die Quelle der Religionen dieser Welt darstellt. Außerdem gibt es vielleicht so etwas wie die innere Aufforderung oder Anregung des heiligen Geistes (siehe Kapitel 8), durch die der Gläubige dazu bewogen wird, die zentralen Wahrheiten des christlichen Glaubens zu akzeptieren. Diese Vernunftvermögen können, wie wir gesehen haben, gut oder schlecht funktionieren. Normalerweise gehen wir davon aus, dass die Überzeugungen, die von unseren kognitiven Vermögen hervorgebracht werden, meistens wahr sind oder der Wahrheit nahekommen, wenn diese Vermögen richtig funktionieren und keiner Fehlfunktion unterliegen. Sofern die eigenen Wahrnehmungsvermögen gut funktionieren, ist das, was man zu sehen glaubt, wahrscheinlich ebendas, was man tatsächlich sieht. (Leidet man jedoch an Delirium tremens, werden derlei Wetten nicht mehr angenommen.) Im Hinblick auf gut funktionierende Vermögen gilt, wie man vielleicht sagen könnte, eine Zuverlässigkeitsvermutung. Wir haben (sei’s zu Recht oder zu Unrecht) die Tendenz, zu unterstellen, dass angemessen funktionierende kognitive Vermögen meistens wahre Überzeugungen liefern. Freilich werden Fehler und Meinungsverschiedenheiten vorkommen, und es kann durchaus sein, dass man, was diverse Meinungsbereiche anlangt, zur Skepsis neigt, beispielsweise im Hinblick auf politische Ansichten und Überzeugungen, oder in Bezug auf Überzeugungen, die die Grenzen unserer Fähigkeiten betreffen – etwa auf dem Gebiet der Teilchenphysik und der Kosmologie. Von den meisten Alltagsüberzeugungen, die von unseren Vernunftvermögen geliefert werden, nehmen wir jedoch an, dass sie wahr sind. Jedenfalls präsentieren die Leistungen
Siehe unten, Kapitel 6.
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unserer Vernunftvermögen im großen und ganzen die sicherste Methode, um zur Wahrheit zu gelangen. Kommen wir schließlich auf den F&M-Einwand zurück, liegt es auf der Hand, dass er mit den Leistungen unserer rationalen Vermögen zusammenhängt. Die Zuverlässigkeitsvermutung wird auch von Freud und Marx anerkannt. Diese Autoren gehen genauso wie wir übrigen davon aus, dass die Leistungen unserer Vernunftvermögen wahr sind oder der Wahrheit zumindest nahekommen, wenn diese Vermögen gut funktionieren und richtig zum Einsatz gebracht werden. Freilich ist es, wie wir gesehen haben, möglich, dass kognitive Fähigkeiten nicht nur gut, sondern auch schlecht funktionieren. Die verrückten Überzeugungen der von Descartes genannten Irren²⁹ gehen auf eine kognitive Fehlfunktion zurück. Es gibt jedoch subtilere Wege, auf denen nichtrationale oder irrationale Überzeugungen in unserem Inneren zustande kommen können. Zunächst einmal gibt es Prozesse oder Mechanismen der Überzeugungsbildung, die nicht auf die Bildung wahrer Überzeugungen, sondern auf die Bildung von Überzeugungen mit einer anderen Eigenschaft abzielen, etwa mit der Eigenschaft, das Überleben zu erleichtern oder in dieser mitunter gefährlichen und bedrohlichen Welt zur Seelenruhe oder zu psychischem Wohlbefinden beizutragen.³⁰ Wer an einer tödlichen Krankheit leidet, wird vielleicht glauben, seine Gesundungschancen stünden sehr viel besser, als die verfügbaren Statistiken erwarten lassen. Auch in diesem Fall bestünde die Funktion des relevanten Vorgangs nicht darin, wahre Überzeugungen beizusteuern, sondern darin, Überzeugungen zu liefern, die es wahrscheinlicher machen, dass sich derjenige, der sie für wahr hält, erholt. Ein Bergsteiger, dessen Überleben von der Fähigkeit abhängt, einen Abgrund zu überspringen, wird seine Weitsprungfähigkeiten vielleicht äußerst optimistisch einschätzen, denn dass er wirklich hinüberspringen kann (oder zumindest den Versuch unternimmt), ist dann, wenn er sich die Fähigkeit zuschreibt, wahrscheinlicher als dann, wenn er es sich nicht zutraut. Die meisten von uns schätzen die eigene Intelligenz, Klugheit und Charakterstärke erheblich viel höher ein, als eine objektive Taxierung zugestehen würde.Vermutlich halten sich 90 Prozent von uns in diesem Sinne für überdurchschnittlich.³¹
Siehe oben, S. 156. Siehe WPF, S. 11 ff. An dieser Stelle kann ich mich nicht enthalten, zwei Locke-Zitate anzuführen, auf die ich mich früher schon einmal (WPF, S. 12) bezogen habe: Wäre es nicht geradezu unerträglich für einen hochgelehrten Professor, worüber sogar sein Scharlachgewand noch erröten würde, wenn er es erleben müsste, daß seine vierzigjährige Autorität, die er sich mit nicht geringem Aufwand von Zeit und Lampenlicht aus dem harten Gestein des Griechischen und Lateinischen herausgearbeitet hat und die durch die herr-
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Es kann vorkommen, dass jemand (wie man so sagt) von Ehrgeiz geblendet wird und nicht sieht, dass eine bestimmte Handlungsweise falsch oder dumm ist, obwohl es für jeden anderen offensichtlich ist. Was uns hier vorschwebt, ist der Gedanke, dass übermäßig ehrgeizige Personen etwas verkennen, was andernfalls für sie erkennbar wäre. Das normale Funktionieren kognitiver Teilkräfte wird durch ihren übersteigerten Ehrgeiz gehemmt, ausgeschaltet oder behindert. Eine weitere Möglichkeit ist die, dass man durch Loyalität geblendet wird und weiterhin an die Aufrichtigkeit eines Freunds glaubt, obwohl ein objektiver Blick auf die Indizien schon längst einen sei’s auch widerwilligen Wechsel der Einstellung zwingend nahegelegt hätte. Weitere mögliche Ursachen der Verblendung sind: Habsucht, Liebe, Angst, Wollust, Zorn, Hochmut, Kummer, sozialer Druck und tausend sonstige Dinge. Bei Meinungsverschiedenheiten ist es üblich, die Ansichten der anderen Person zu attackieren, indem man behauptet, die Negation ihrer Meinungen liege auf der Hand (so dass jede rechtschaffene, gut funktionierende Person ohne weiteres einsehen kann, dass es sich tatsächlich so verhält). Anschließend führt man ihren Widerstand gegen diese offensichtliche Wahrheit auf Unehrlichkeit zurück (»Sie kann gar nicht glauben, was sie sagt – wer könnte das schon?!«) oder darauf, dass sie durch irgendetwas geblendet wird – vielleicht durch ihr Widerstreben gegen einen Wandel, Abneigung gegen neue Ideen, persönlichen Ehrgeiz, Sexismus, Rassismus oder Homophobie. Um Judith Plaskow zu zitieren: »Sollte die Rechtskommission der Rabbinerversammlung außerstande sein zu erkennen, dass sie eine weit zurückreichende Geschichte religiöser (jüdischer und auch sonstiger) Homophobie widerspiegelt und stützt, stellt sie sich
schende Tradition und einen ehrwürdigen Bart unterstützt wird, in einem Augenblick durch einen hergelaufenen Neuling umgestoßen würde? Darf man erwarten, daß er zu dem Geständnis bewogen werden könne, alles, was er seinen Schülern seit dreißig Jahren lehre, sei Irrtum und Mißverständnis; kann er zugeben, er habe ihnen für schweres Geld unverständliche Wörter und Unwissenheit verkauft? (Versuch über den menschlichen Verstand, Band II, IV, 20, §11, S. 428 – 429) Das zweite Zitat lautet: Nehmen wir an, bei den Erwägungen eines habgierigen Menschen liege in der einen Waagschale die Wahrscheinlichkeit – sei sie auch noch so groß –, in der anderen Waagschale liege Geld, so läßt sich leicht vorhersehen, welche von beiden das Übergewicht haben wird. […] Man sage einem leidenschaftlich Verliebten, daß er betrogen werde; man bringe zwanzig Zeugen für die Untreue seiner Geliebten, so ist doch zehn gegen eins zu wetten, daß drei Schmeichelworte von ihr die Aussagen jener zwanzig sämtlich entkräften. […] Wenn auch die Menschen nicht immer der Kraft offenkundiger Wahrscheinlichkeiten, die ihnen unbequem sind, geradezu widersprechen oder widerstehen können, so beugen sie sich dennoch nicht dem Beweis. (Ebd., §12, S. 430)
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vorsätzlich blind oder sie ist offensichtlich unaufrichtig.«³² Auf ähnliche Weise macht Richard Dawkins (in einer vor kurzem in der New York Times erschienenen Rezension) mit Nachdruck geltend: »Mit größter Sicherheit darf man behaupten: Falls man jemanden trifft, der die Evolutionstheorie nicht für wahr hält, ist der Betreffende entweder unwissend oder dumm oder wahnsinnig (bzw. böse – obschon ich diese Möglichkeit lieber außer acht lasse).«³³ Dawkins meint anscheinend, die Wahrheit der Evolutionstheorie sei völlig klar und offensichtlich für jeden, der nicht übermäßig unwissend ist, der nicht zu dumm ist, um diese Darlegungen zu begreifen, und der geistig gesund ist (d. h. mit gut funktionierenden rationalen Fähigkeiten ausgestattet ist). Daher sei es offenkundig, dass alle, die nicht bloß (in bösartiger Weise) das Blaue vom Himmel herunterlügen, zugeben müssten, dass sie die Evolutionstheorie für wahr halten. In allen diesen Fällen beruft man sich auf Mechanismen, die ausschalten oder tilgen können, was unsere rationalen Vermögen normalerweise liefern würden, indem sie diese Ergebnisse durch eine Überzeugung ersetzen, die den Leistungen unserer ungehemmten rationalen Fähigkeiten entweder zuwiderläuft oder zumindest verschieden ist von dem, was uns die Vernunft auftischen würde. Es zeichnet sich also ab, dass es zumindest drei Wege gibt, auf denen es einer Überzeugung misslingen kann, eine richtige Leistung unserer rationalen Fähigkeiten zu sein: Es kann sein, dass sie durch fehlfunktionierende Vermögen hervorgebracht wird, durch nicht auf die Wahrheit gerichtete kognitive Prozesse oder durch Vermögen, deren Funktionieren durch Wollust, Ehrgeiz, Gier, Eigennutz, Kummer, Angst, mangelnde Selbstachtung und sonstige emotionale Zustände beeinträchtigt oder ausgeschaltet worden ist.³⁴ Dementsprechend kann es geschehen, dass eine Überzeugung keine richtige Leistung unserer Vernunftvermögen darstellt, da sie durch Fehlfunktion beeinträchtigt bzw. durch einen
Plaskow, »Burning in Hell, Conservative Movement Style«, in: Tikkun (1993), S. 49 – 50. In diesem Zusammenhang mag man sich an den von Don Cupitt erhobenen Vorwurf erinnern, wer den »theologischen Realismus« akzeptiere (also zu glauben beansprucht, es gebe wirklich eine Person wie Gott), sei entweder ein »Heuchler oder ein Psychotiker«. Ersteres soll vermutlich dann der Fall sein, wenn der Betreffende den theologischen Realismus bloß zu vertreten behauptet, letzteres hingegen dann, wenn er ihn wirklich vertritt. New York Times, 9. April 1989, Abschnitt 7, S. 34. Daniel Dennett geht noch ein oder zwei Schritte weiter als Dawkins, indem er behauptet, wer auch nur Zweifel an der Evolutionstheorie hege, müsse sich »unentschuldbare Unwissenheit« vorwerfen lassen, denn damit erweise er sich sowohl als Dummkopf wie auch als Übeltäter (Darwin’s Dangerous Idea, New York: Simon and Schuster, 1995, S. 46). Im letzten Fall (den man vielleicht als »Hemmung« oder »Beeinträchtigung« bezeichnen kann) handelt es sich zwar strenggenommen nicht um eine Fehlfunktion, aber im Hinblick auf unser derzeitiges Vorhaben werde ich ihn dennoch in die Kategorie der Fehlfunktionen einreihen.
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Prozess hervorgebracht wird, der gar nicht auf die Verfertigung wahrer Überzeugungen abzielt. Damit stoßen wir zum Kern des F&M-Einwands vor: Wenn Freud und Marx sagen, der christliche bzw. theistische Glaube oder vielleicht sogar der religiöse Glaube überhaupt sei irrational, läuft ihr Grundgedanke darauf hinaus, dass solche Überzeugungen nicht zu den richtigen Leistungen unserer rationalen Vermögen gehören. Sie würden nicht durch gut funktionierende, auf Wahrheit abzielende kognitive Fähigkeiten oder Prozesse hervorgebracht. Sie seien nicht das Ergebnis von Prozessen der Überzeugungsbildung, die keiner Dysfunktion ausgesetzt sind und deren Zweck darin besteht, uns mit wahren Überzeugungen zu versorgen. Das bedeutet, dass die bei gut funktionierenden kognitiven Vermögen geltende Zuverlässigkeitsvermutung nicht auf jene Prozesse übertragen werden kann, bei denen ein Glaube an die Existenz Gottes oder, allgemeiner gesprochen, ein christlicher Glaube herauskommt. Der eigentliche Grundgedanke besagt demnach, der religiöse Glaube entspringe einer anderen Quelle als denjenigen Vermögen, die auf die Wahrheit gerichtet sind. Eine andere Möglichkeit wäre die folgende: Sollte der religiöse Glaube doch irgendwie aus diesen auf Wahrheit abzielenden Vermögen hervorgehen, wird deren Ablauf, sobald sie durch ihre Funktionsweise religiöse Überzeugungen erzeugen, durch etwas anderes ausgeschaltet und beeinträchtigt, etwa durch das Bedürfnis nach Sicherheit, nach dem Gefühl der eigenen Bedeutung innerhalb des gesamten Weltsystems oder nach seelischem Trost angesichts der erbarmungslosen, furchterregenden und unversöhnlichen Welt, der wir uns gegenübersehen. Welche Abweichung von der Norm stellt der religiöse Glaube eigentlich dar? An diesem Punkt scheinen die Wege von Freud und Marx auseinanderzugehen. Marx hat zwar wenig über Religion zu sagen, aber es gibt immerhin die berühmte Stelle, die ich weiter oben (S. 164) zitiert habe. Offenbar meint Marx: Was uns die rationalen Vermögen lehren (wenn sie nicht von der durch eine verkehrte Gesellschaftsordnung hervorgerufenen kognitiven Dysfunktion beeinträchtigt werden), laufe darauf hinaus, dass es weder einen Gott noch einen religiösen Sinn des Lebens gibt. Es gebe weder einen Vater im Himmel, an den man sich wenden kann, noch eine Aussicht auf irgendetwas nach dem Tode außer der Auflösung. Der Grundgedanke ist der, dass religiöser Glaube im doppelten Sinne irrational sei. Erstens sei er das Produkt kognitiver Vermögen, die in Reaktion auf einen Mangel an sozialer und politischer Ordnung nicht gut funktionieren. Zweitens laufe das, was diese derart fehlfunktionierenden Vermögen hervorbringen, den Leistungen unserer rationalen Vermögen zuwider – d. h. den Leistungen, die diese Vermögen hervorbringen, wenn sie gut funktionieren. Auch bei Freud kommt es vor allem darauf an, dass der theistische und religiöse Glaube – bzw. der theistische Glaube, insoweit er religiös ist – nicht aus dem richtigen Funktionieren wahrheitsge-
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richteter kognitiver Prozesse oder Vermögen hervorgeht, sondern aus dem Wunschdenken.³⁵ Das ist der zentrale Gehalt von Freuds Behauptung, der religiöse Glaube sei eine Illusion. Natürlich haben auch Illusionen ihre Funktion und einen Ort im Rahmen des Bauplans für die kognitive Seite des Menschen. Sie können wichtigen Zwecken dienen, beispielsweise dem Zweck, dem aus Freuds Sicht der religiöse Glaube dient. Das ändert aber nichts daran, dass kognitive Prozesse wie das Wunschdenken nicht auf die Hervorbringung wahrer Überzeugungen abzielen. Vom Wunschdenken erzeugte Meinungen sind daher insofern irrational oder nichtrational, als sie nicht von unseren Vernunftvermögen hervorgebracht werden. Freud ist jedoch, ebenso wie Marx, der Ansicht, dass religiöse Überzeugungen außerdem in einem anspruchsvolleren Sinn irrational seien. Solche Überzeugungen liefen den Leistungen unserer rationalen Kräfte zuwider; sie seien »offenkundig infantil« und »wirklichkeitsfremd«. Die F&M-Kritik besagt demnach, dass religiöse Überzeugungen nicht durch kognitive Vermögen hervorgebracht werden, die gut funktionieren und auf die Wahrheit abzielen. Damit gelangen wir, wie ich meine, endlich zu einer tragfähigen De-jure-Frage. Wer diese Frage aufwirft, ist nicht in erster Linie an der Wahrheit des christlichen Glaubens interessiert, sondern er wird behaupten wollen, es sei irgendwie verfehlt, dergleichen überhaupt zu glauben. Ob der christliche Glaube nun zutreffe oder nicht – auf jeden Fall sei es irrational, ihn zu akzeptieren. Dieser Einwand lässt sich meines Erachtens am besten als Vorwurf interpretieren, der beanstandet, dass der christliche Glaube nicht durch gut funktionierende und wahrheitsgerichtete kognitive Vermögen hervorgebracht werde. Das deutet (zumindest für jeden, der einen Blick auf die ersten beiden Bände dieser Trilogie geworfen hat) darauf hin, dass es hier um Gewährleistung geht. Aus dem Blickwinkel dieser beiden Bände betrachtet, erheben Freud und Marx im Grunde den Vorwurf, für den theistischen Glauben und den religiösen Glauben insgesamt gebe es keine Gewähr. Die De-jure-Kritik ließe sich nun, wie mir
Nach Freud ist die Vernunft die Gesamtheit der kognitiven Vermögen (die sich, wie er glaubt, vor allem durch ihre Beiträge zur wissenschaftlichen Tätigkeit auszeichnen). Außerdem meint er, die so aufgefasste Vernunft sei unser einziges Mittel, um zur Wahrheit zu gelangen. Dabei legt Freud ein für die Aufklärung typisches, nachgerade rührendes Vertrauen in die Wissenschaft an den Tag und geht davon aus, dass uns die wissenschaftliche Vernunft dazu befähigen werde, auf jenen Gebieten, auf denen wir jahrhundertelang im Finstern umhergetappt sind, zur Wahrheit zu gelangen. Um es etwas bescheidener auszudrücken: Vielleicht werde die so aufgefasste Vernunft die für uns sicherste Methode darstellen, um die Wahrheit herauszufinden. Die Ironie liegt in folgendem: Es gibt vortreffliche Gründe zum Zweifel daran, dass Freuds charakteristische Beiträge ihrerseits in irgendeinem vertretbaren Sinn als wissenschaftlich gelten dürfen. Siehe Adolf Grünbaum, The Foundations of Psychoanalysis, Berkeley: University of California Press 1984.
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scheint, am ehesten im Sinne der These deuten, für den christlichen Glauben gebe es – einerlei, ob er zutrifft oder nicht – in jedem Fall keine Gewähr.
II Gewährleistung: Die nüchterne Wahrheit Den größten Teil dessen, was ich über das Wesen der Gewährleistung zu sagen habe, steht in meinen Büchern WCD und WPF.³⁶ Um dem Leser jedoch den Weg in die Bibliothek zu ersparen, werde ich hier eine kurze Zusammenfassung geben. Wer mehr in die Tiefe gehen und über Einzelheiten informiert werden möchte, sollte die genannten beiden Bände heranziehen. (Allerdings nehme ich im vorliegenden Band auf S. 183 ff. eine Korrektur vor, die das in WCD und WPF Gesagte richtigstellt.) Die Frage, um die es geht, ist so alt wie Platons Theaitetos: Was unterscheidet das Wissen – die Erkenntnis – von bloßer wahrer Überzeugung? Welche Qualität oder Quantität muss zu einer wahren Meinung hinzukommen, damit sie zur Erkenntnis wird? Das ist eine der Hauptfragen der (nicht umsonst so bezeichneten) Erkenntnistheorie. Ebenso wie praktisch alle späteren Theoretiker geht Platon davon aus, dass Wissen mindestens wahre Überzeugung ist, denn dass man eine Proposition p weiß, ist nur dann der Fall,wenn man daran glaubt – also p für wahr hält – und p wirklich wahr ist. Platon fährt jedoch fort und weist darauf hin, dass die wahre Überzeugung zwar eine notwendige, aber offensichtlich keine hinreichende Bedingung für das Wissen darstellt, denn es ist durchaus möglich, etwas Wahres zu glauben, ohne es zu wissen. Ein Beispiel: Ich bin von Natur aus pessimistisch eingestellt und glaube, dass der Aktienmarkt morgen von einer Baisse heimgesucht wird, obwohl ich über keine diesbezüglichen Indizien verfüge. Auch wenn sich herausstellt, dass ich recht hatte, habe ich es dennoch nicht gewusst. Ein weiteres Beispiel: Ich bin dreitausend Kilometer gefahren, um an den großen kanadischen Wasserfällen eine Bergwanderung zu unternehmen. Ich will um jeden Preis eine Klettertour machen. Als heilloser Optimist bin ich davon überzeugt, dass es morgen strahlenden Sonnenschein und einen warmen Tag geben wird, obwohl in der Wettervorhersage von Höhenwinden und einer scheußlichen Mischung aus Regen, Graupeln und Schnee die Rede war. Wie sich herausstellt, lagen die Meteorologen falsch und am morgigen Tag herrscht son-
Was nicht in diesen Büchern steht, findet der Leser in meiner Erwiderung auf Alston, Ginet, Steup, Swinburne und Taylor, siehe »Reliabilism, Analyses and Defeaters«, in: Philosophy and Phenomenological Research 55/2 (1995), S. 427 ff.; »Respondeo«, in: Warrant in Contemporary Epistemology: Essays in Honor of Plantinga’s Theory of Knowledge, hg.von J. Kvanvig, Lanham, MD: Rowman and Littlefield 1996; »Warrant and Accidentally True Belief«, in: Analysis 57 (1997), S. 140; sowie im vorliegenden Band, S. 183 ff.
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niges Prachtwetter. Meine Überzeugung war zwar wahr, aber um Wissen handelt es sich trotzdem nicht. Nun wollen wir das Wort »Gewähr« benutzen, um die – wie auch immer im einzelnen beschaffene – zusätzliche Qualität oder (womöglich graduell abgestufte) Quantität zu bezeichnen, von der genug vorhanden sein muss, um Wissen von bloßer wahrer Meinung unterscheiden zu können. Unsere Frage (und damit das Thema von WPF) lautet: Was leistet eigentlich Gewähr? Mein Vorschlag (WPF, Kapitel 1 und 2) setzt bei dem Gedanken an, für eine Überzeugung werde nur dann Gewähr geleistet, wenn sie durch kognitive Fähigkeiten hervorgebracht wird, die richtig funktionieren und keiner Störung oder Fehlfunktion ausgesetzt sind, womit wiederum gemeint ist, dass diese Fähigkeiten weder beeinträchtigt werden noch pathologische Erscheinungen aufweisen. Der Begriff des richtigen Funktionierens ist für unsere zentralen Vorstellungen vom Wissen von grundlegender Bedeutung. Dieser Begriff ist jedoch unabtrennbar mit einem weiteren Begriff verflochten, nämlich mit dem Begriff des Bauplans. ³⁷ Menschen und ihre Organe sind so konstruiert, dass sie in bestimmter Weise funktionieren sollen. Das ist die gebotene Funktionsweise – die Art und Weise, in der sie funktionieren, wenn sie gut funktionieren und keine Fehlfunktion gegeben ist. Das menschliche Herz etwa soll auf bestimmte Weise funktionieren: Der Pulsschlag sollte ungefähr 50 bis 80 pro Minute betragen, wenn man sich im Ruhezustand befindet, und bis auf höchstens 180 oder 200 ansteigen, wenn man im Belastungstraining steckt (und weniger als 40 Jahre alt ist).Wenn der Ruhepuls 160 beträgt oder selbst bei härtestem Training 60 Schläge pro Minute nicht überschreitet, arbeitet das Herz nicht richtig. (Dagegen kann ein Vogel, dessen Ruhepuls 160 beträgt, völlig gesund sein.) Zunächst brauchen wir die Begriffe »Bauplan« und »Weise, in der etwas funktionieren soll« nicht so aufzufassen, dass daraus auf bewusstes Planen oder einen bewussten Zweck geschlossen werden kann. An dieser Stelle möchte ich nicht behaupten, dass Organismen von einem bewussten Akteur (Gott) nach einem Bauplan auf ähnliche Weise geschaffen werden wie die von Menschen gebauten und entworfenen Artefakte (obschon ich eine derartige Auffassung tatsächlich für wahr halte). Zumindest anfangs möchte ich nicht unterstellen, dass das Vorhandensein eines Bauplans die Erschaffung durch Gott oder sonst einen bewussten Akteur impliziert. Vielleicht ist es ja möglich, dass uns die (weder von Gott noch sonst jemandem gesteuerte) Evolution irgendwie mit unserem Bauplan ausgestattet hat.³⁸ Vielmehr möchte ich hier auf etwas hinweisen, was von fast allen – einerlei,
Siehe WPF, S. 11 ff. Im 11. Kapitel von WPF argumentiere ich allerdings für die These, dass es keine tragfähige naturalistische Erklärung des richtigen Funktionierens gibt.
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ob es sich um Theisten handelt oder nicht – für richtig gehalten wird, nämlich: Es gibt eine Art und Weise, in der ein menschliches Organ oder System funktioniert, wenn es richtig funktioniert, also so, wie es funktionieren soll. Diese Funktionsweise ist durch den entsprechenden Entwurf oder Bauplan gegeben. Die Begriffe des richtigen Funktionierens und der Planung gehen mit dem Begriff Zweck (bzw. Aufgabe) Hand in Hand. Die diversen Organe und Systeme des Körpers (und deren Funktionsweisen) haben ihre jeweilige Aufgabe, ihren jeweiligen Zweck. So hat das Herz die Aufgabe bzw. den Zweck, Blut zu pumpen. Das Immunsystem hat die Aufgabe, Krankheiten zu bekämpfen. Die Lunge soll für Sauerstoff sorgen. Die Peristaltik dient dem Zweck, Nahrungsstoffe durch den Verdauungstrakt zu schleusen, usw. Ist der Plan tauglich, wird der Zweck erfüllt, sobald das betreffende Organ oder System richtig (d. h. dem Bauplan entsprechend) funktioniert. Der Bauplan gibt eine bestimmte Funktionsweise an, die diesem Zweck dient. Natürlich wird der Bauplan für Menschen Angaben umfassen, die sich nicht nur auf nonkognitive Systeme und Organe beziehen, sondern auch auf unser kognitives System bzw. die entsprechenden Vermögen. Unsere kognitiven Fähigkeiten können, ebenso wie unsere sonstigen Organe und Systeme, gut oder schlecht funktionieren. Sie können fehlfunktionieren oder reibungslos funktionieren. Sobald sie angemessen funktionieren, geschieht das ebenfalls in einer bestimmten Art und Weise, und zwar so, dass ihr Zweck erreicht wird. Dementsprechend läuft die erste Komponente unserer Auffassung von Gewährleistung (meiner These zufolge) auf folgendes hinaus: Einer Person ist nur dann Gewähr für eine Überzeugung gegeben, wenn ihre Vermögen bei der Verfertigung dieser Überzeugung richtig funktionieren und keiner Fehlfunktion ausgesetzt sind.³⁹ Das genügt aber noch nicht. Viele Systeme unseres Körpers sind offenbar so entworfen, dass sie in einer Umgebung einer bestimmten Art funktionieren. Unter Wasser kann unsereiner nicht atmen. Ohne Schwerkraft verkümmern unsere Muskeln. Auf dem Gipfel des Mount Everest bekommen wir nicht genügend Sauerstoff. Das gleiche gilt offensichtlich für unsere kognitiven Vermögen. Auch sie werden ihren Zweck nur erfüllen, wenn sie in einer Umgebung funktionieren, die derjenigen, für die sie (von Gott oder der Evolution) bestimmt wurden, weitgehend ähnelt. Dementsprechend werden sie in einer Umgebung (beispielsweise auf einem fremden Planeten) nicht richtig funktionieren, wenn sie dort einer feinen Strahlung ausgesetzt sind, die das Arbeiten des Erinnerungsvermögens beeinträchtigt.
Notwendige Einschränkungen werden in WPF genannt, siehe S. 9 ff. und 22– 42.
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Das ist aber immer noch nicht ausreichend. Offenbar ist es möglich, dass eine Überzeugung durch kognitive Fähigkeiten hervorgebracht wird, die in einer entwurfsgerechten Umgebung reibungslos funktionieren, ohne dass jedoch Gewähr geleistet wird. Die beiden bereits genannten Bedingungen sind nicht hinreichend. Nach unserer Auffassung besteht der Zweck bzw. die Aufgabe unserer Überzeugungen verfertigenden Vermögen darin, uns mit wahren (oder beinahe wahren) Überzeugungen zu versorgen. Wie wir jedoch bereits im Zusammenhang mit dem F&M-Einwand gesehen haben, ist es offenbar möglich, dass der Zweck bzw. die Aufgabe einiger Überzeugungen produzierenden Vermögen oder Mechanismen darin besteht, Überzeugungen hervorzubringen, die sich durch einen anderen Vorzug auszeichnen, beispielsweise dadurch, dass sie es uns ermöglichen, in dieser kalten, grausamen, bedrohlichen Welt zurechtzukommen, oder uns dazu befähigen, eine gefährliche Situation oder eine lebensbedrohende Krankheit zu überstehen. Wir müssen also hinzufügen, dass die fragliche Überzeugung von kognitiven Fähigkeiten hervorgebracht wird, die ihrerseits dem Zweck dienen, wahre Überzeugungen zu produzieren. Genauer gesagt: Hinzugefügt werden muss die Bedingung, dass der Teil des Bauplans, der die Hervorbringung der betreffenden Überzeugung steuert, auf die Produktion wahrer Überzeugungen gerichtet ist (und nicht auf das Überleben, den Seelentrost, die Möglichkeit loyaler Beziehungen oder sonst etwas). Aber selbst das ist noch nicht hinreichend. Warum das so ist, kann man erkennen, wenn man die folgende Phantasiegeschichte von Hume weiterdenkt: Diese Welt ist, soviel er weiß, sehr fehlerhaft und unvollkommen, wenn man einen höheren Maßstab anlegt; sie war bloß der erste rohe Versuch einer kindlichen Gottheit, die ihn nachher aufgab, beschämt über ihr kümmerliches Machwerk; oder sie ist das Werk einer abhängigen, untergeordneten Gottheit und Gegenstand des Spottes höherer; oder sie ist das Erzeugnis des kindischen Greisenalters einer überlebten Gottheit und ist seit deren Tode durch den ersten Anstoß und die lebendige Kraft, die sie von ihm empfing, aufs Geratewohl weitergelaufen.⁴⁰
Malen wir uns also aus, ein junger und ungeschulter Lehrling, der sich auf den Gottesberuf vorbereitet, schickt sich an, erkennende Wesen zu bauen, die zu Überzeugungen und Erkenntnissen fähig sind. Unreife und Unfähigkeit triumphieren, denn der Entwurf enthält gravierende Mängel. In manchen Bereichen dieses Plans verhält es sich so, dass lächerlich falsche Überzeugungen herauskommen, sobald die Vermögen genau nach Plan funktionieren. Beispielsweise
Hume, Dialoge über natürliche Religion, hg. von Günther Gawlick, 6. Aufl. Hamburg: Meiner 1993, S. 51.
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verwechseln diese Lebewesen, wenn ihre kognitiven Vermögen dem Bauplan entsprechend arbeiten, ständig Pferde und Fähren, so dass sie sonderbare Überzeugungen ausbilden, denen zufolge die Cowboys im Wilden Westen von einst auf Fähren ritten, während Passagiere bei der Überquerung von Flüssen normalerweise von Pferden transportiert werden. Diese Überzeugungen werden nun in der richtigen Umgebung von reibungslos funktionierenden kognitiven Vermögen gemäß einem auf Wahrheit abzielenden Bauplan hervorgebracht, aber Gewähr wird für sie nach wie vor nicht geleistet. Was fehlt noch? Was offensichtlich hinzukommen muss, ist folgendes: Der betreffende Bauplan muss etwas taugen; er muss erfolgreich auf die Wahrheit abzielen, so dass eine hohe (objektive) Wahrscheinlichkeit besteht, dass eine nach diesem Plan erzeugte Meinung wahr (oder beinahe wahr) ist. Um knapp zusammenzufassen: Eine Überzeugung ist für eine Person S nur dann gewährleistet, wenn sie in S durch richtig funktionierende (also keiner Fehlfunktion unterliegende) Vermögen hervorgebracht wird, und zwar in einer für die kognitiven Fähigkeiten von S geeigneten kognitiven Umgebung und gemäß einem Bauplan, der erfolgreich auf die Wahrheit abzielt. Dem ist folgendes hinzuzufügen: Sobald eine Überzeugung diese Bedingungen erfüllt und tatsächlich gewährleistet ist, hängt der Grad der gegebenen Gewährleistung von der Stärke der Überzeugung ab, also von der Entschiedenheit, mit der S diese Überzeugung vertritt. Diese Analyse soll den eigentlichen Kern unseres Begriffs der Gewährleistung erklären. Um den Kern herum liegt ein Übergangsbereich, in dem viele analogische Erweiterungen Platz finden. Dieser Bereich wiederum ist von einem weiteren Gürtel der Vagheit und Ungenauigkeit umgeben, der eine Unmenge möglicher Fälle und Umstände umfasst, bei denen es im Grunde keine Antwort auf die Frage gibt, ob es sich in einem gegebenen Fall um ein Beispiel für Gewährleistung handelt oder nicht.⁴¹ Das heißt, dass eine klassische Analyse jenes Typs, bei dem notwendige und hinreichende Bedingungen in einer oder zwei Klauseln von schlanker Eleganz aufgelistet werden, hier von begrenztem Wert ist. Was wir stattdessen benötigen, ist eine Erklärung und Beschreibung der Art und Weise, in der unsere Erläuterung auf den wichtigsten Gebieten des kognitiven Lebens funktioniert. Das ist die Aufgabe von WPF. Durch etliche Reaktionen auf die eben resümierte Erläuterung des Begriffs der Gewährleistung ist in reichem Maße klargestellt worden, dass noch gewisse Ergänzungen und Feinabstimmungen vorgenommen werden müssen.⁴² Um das zu erkennen,wollen wir das folgende Beispiel à la Gettier
Meine diesbezüglichen Argumente lege ich in WPF dar, siehe S. 212– 213. Hier beziehe ich mich auf Robert Shope, »Gettier Problems«, in: Routledge Encyclopedia of Philosophy, hg. von Edward Craig, London: Routledge 1998, sowie Shopes geplantes Buch
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betrachten: Ich besitze einen Chevrolet-Kombi, fahre an einem Fußball-Samstag zur Universität und stelle den Wagen in meiner Gedankenlosigkeit auf einem der zahlreichen Parkplätze ab, die dort für den Fußballtrainer reserviert sind. Natürlich wird das Auto von den Schergen des Trainers abgeschleppt und, wie es sich in einem solchen Fall von Majestätsbeleidigung gehört, zerstört. Mein Glück hat mich jedoch nicht verlassen, sondern bei der Universitätslotterie habe ich derweil das große Los gezogen und einen Chevrolet-Kombi gewonnen. Die gute Nachricht hat mich allerdings noch nicht erreicht. Nun werde ich nach der Marke meines Autos gefragt und antworte aufrichtig und wahrheitsgemäß: »Ich habe einen Chevrolet-Kombi.« Meine Überzeugung, dass ich einen solchen Kombi besitze, ist zwar wahr, aber »nur durch Zufall« (oder genauer gesagt: es ist einem Zufall zu verdanken, dass ich mir eine wahre Überzeugung gebildet habe). Folglich handelt es sich nicht um Wissen. Außerdem sind alle nicht-umgebungsbezogenen Bedingungen für Gewährleistung erfüllt. Es sieht auch so aus, als wäre die umgebungsbezogene Bedingung ebenfalls erfüllt, denn ist die kognitive Umgebung hier auf Erden und speziell in meiner Universitätsstadt nicht genau die, für die unsere Vermögen bestimmt sind? Wichtig an diesem Beispiel ist folgendes: Wären die Schergen des Trainers etwas weniger eifrig gewesen und hätten sie meinen Kombi nicht zerstört, wären die oben skizzierten Bedingungen für Gewährleistung offenbar erfüllt gewesen, und ich hätte gewusst, dass ich einen Chevrolet-Kombi besitze. In der wirklichen Situation jedoch, in der dieser Kombi zerstört worden ist, wird meine Überzeugung in der (anscheinend) identischen kognitiven Umgebung durch exakt dieselben, genauso ablaufenden Vorgänge hervorgebracht. Demnach gilt meiner Analyse zufolge: Entweder weiß ich in beiden Situationen, dass ich einen Chevrolet-Kombi besitze, oder ich weiß es in keiner von beiden. Es liegt jedoch auf der Hand, dass ich es in einer von ihnen tatsächlich weiß, während das in der anderen Situation nicht der Fall ist. Also weist meine Analyse offenbar einen Mangel auf.⁴³ Betrachten wir ein weiteres Gettier-Beispiel, das allerdings älter ist als Gettier selbst und seinerzeit von Bertrand Russell aufs Tapet gebracht wurde: Ich schaue auf die Uhr und bilde mir die Meinung, es sei 15:45 Uhr. Wie es das Glück will, ist die Uhr vor genau 24 Stunden stehengeblieben. Die Meinung, die ich mir bilde, ist zwar wirklich wahr, aber auch in diesem Fall ist sie »nur durch Zufall« wahr, denn genausogut hätte die Uhr eine Stunde früher oder eine Stunde später stehenbleiben können. Hier haben wir es nicht mit einem Fall von Wissen zu tun. Ebenso wie im vorigen Beispiel gilt auch hier: Wäre die Uhr richtig gegangen und hätte ich mir dieselbe Überzeugung durch denselben Einsatz meiner kognitiven Kräfte gebildet, so hätte ich es tatsächlich gewusst. Also haben wir hier ein weiteres Beispiel vor uns, das anscheinend meine Analyse widerlegt. Um noch ein Beispiel zu nennen: Ich habe nicht mitbekommen, dass sich Pauls Zwillingsbruder Peter derzeit im Haus von Paul aufhält. Werfe ich nun von der anderen Straßenseite aus einen kurzen Blick hinüber und bilde mir die Meinung, Paul trete gerade aus dem Haus, weiß ich selbst dann, wenn er es wirklich ist, nicht, dass es sich um Paul handelt (es hätte
Knowledge as Power; Richard Feldman, »Plantinga, Gettier, and Warrant«, in: Warrant in Contemporary Epistemology: Essays in Honor of Plantinga’s Theory of Knowledge, hg. von Jonathan Kvanvig, Lanham, MD: Rowman and Littlefield 1996, S. 216; Peter Klein, »Warrant, Proper Function, Reliabilism, and Defeasibility«, in: Warrant in Contemporary Epistemology, S. 105. Allen drei Autoren möchte ich für ihre instruktiven und erhellenden Beiträge danken. Erwiderungen und Reparaturversuche meinerseits findet der Leser in »Respondeo«, in: Warrant in Contemporary Epistemology. Eine eingehendere Darstellung gebe ich in: »Respondeo«, in: Warrant in Contemporary Epistemology, S. 314 ff.
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nämlich genausogut Peter sein können, der da aus dem Haus trat). Und wieder ist es so, dass ich es tatsächlich gewusst hätte, wenn sich Peter nicht zufällig daheim aufgehalten hätte. Ausschlaggebend ist in jedem dieser Fälle der Umstand, dass meine kognitiven Vermögen eine mangelhafte Problemlösung an den Tag legen. Durch einen flüchtigen Blick kann ich die Situation, in der die Uhr richtig geht und die Zeit korrekt angibt, nicht von der Situation unterscheiden, in der sie vor genau zwölf oder vierundzwanzig Stunden stehengeblieben ist. Durch einen flüchtigen Blick von der anderen Straßenseite aus kann ich Paul und Peter nicht auseinanderhalten. Natürlich ist diese mangelhafte Problemlösung in jedem einzelnen Fall relativ zum spezifischen Einsatz der betreffenden kognitiven Kräfte. Hätte ich die Uhr beispielsweise zehn Minuten lang beobachtet, hätte ich gewusst, dass sie nicht geht; und hätte ich die Straße überquert, um mir die Person genau anzuschauen, hätte ich gewusst, dass es nicht Paul war, sondern Peter, der da an der Tür stand. Was ich durch diese Anwendungen meiner epistemischen Kräfte nicht unterscheiden kann, sind verschiedene kognitive Miniumgebungen. In »Respondeo« lege ich die Unterscheidung zwischen kognitiven Maxiumgebungen und kognitiven Miniumgebungen ausführlicher dar. Hier dagegen werden die folgenden Bemerkungen genügen: Zunächst einmal ist eine kognitive Maxiumgebung etwas Allgemeineres und Globaleres als eine kognitive Miniumgebung. Zu der kognitiven Maxiumgebung, wie sie hier auf der Erde gegeben ist, dürften makroskopische Merkmale gehören wie z. B. das Vorhandensein von Licht und Luft sowie deren Eigenschaften, das Vorhandensein sichtbarer Gegenstände und anderer Objekte, die sich durch kognitive Systeme vom Typ der unseren ausfindig machen lassen, und auch das Vorhandensein von manchen Dingen, die nicht auf diese Weise ermittelbar sind. Hinzu kommen die Regelmäßigkeiten in der Natur, das Dasein und die allgemeine Beschaffenheit anderer Personen usw. Unsere kognitiven Vermögen sind (von Gott oder der Evolution) dazu bestimmt, in dieser Maxiumgebung – oder einer ähnlichen – zu funktionieren. Sie sind nicht für eine Maxiumgebung bestimmt, in der beispielsweise ständige Finsternis herrscht, in der sich alles in einem Zustand ständigen und zufälligen Ineinanderfließens befindet, in der das einzige verfügbare Nahrungsmittel eine das Kurzzeitgedächtnis zerstörende Substanz enthält, in der es gar keine unterscheidbaren Gegenstände gibt oder in der keine Regelmäßigkeiten einer von uns ermittelbaren Art vorkommen. In einer solchen Umgebung werden unsere Vermögen nicht ihre Aufgabe erfüllen, uns mit wahren Überzeugungen zu versorgen. Nun kann eine gegebene kognitive Maxiumgebung viele verschiedene Miniumgebungen umfassen, wie z. B. jene, in der die Uhr stehenbleibt, aber auch eine, in der sie nicht stehenbleibt; oder die Miniumgebung, in der sich Peter bei Paul aufhält, aber auch eine, in der das nicht der Fall ist; oder die Miniumgebung, in der die Schergen des Trainers meinen Kombi zerstören, aber auch eine, in der sie aus Großmut meine hochverdiente Strafe abmildern und sich damit begnügen, die Windschutzscheibe schwarz anzumalen. Entscheidend ist der folgende Punkt: Einige kognitive Miniumgebungen – etwa Fälle wie mein Kombi, die stehengebliebene Uhr und Peters Aufenthalt bei Paul – sind im Hinblick auf manche Anwendungen kognitiver Vermögen irreführend, obwohl diese Vermögen reibungslos funktionieren und die Maxiumgebung günstig ist. Die Maxiumgebung ist in Ordnung, aber die Miniumgebung ist es nicht. In diesen Miniumgebungen kann man sich nicht darauf verlassen, dass die betreffenden kognitiven Fähigkeiten (oder genauer gesagt: die spezifischen Anwendungen der betreffenden kognitiven Fähigkeiten) wahre Überzeugungen liefern. Der Grundgedanke ist folgender: Unsere kognitiven Vermögen sind für eine Maxiumgebung bestimmter Art gedacht. Sie funktionieren innerhalb dieser Maxiumgebung zwar zuverlässig, aber nicht perfekt (denn manchmal bringen sie falsche Überzeugungen hervor). (Vielleicht würden perfekt funktionierende kognitive Vermögen ein zu großes Gehirn voraussetzen und somit der Realisierung
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anderer Desiderate im Wege stehen.) In manchen Miniumgebungen kann man sich daher nicht darauf verlassen, dass diese Vermögen wahre Überzeugungen hervorbringen. Geschieht es dennoch, ist es bloß Zufall und stellt kein Wissen dar. Also selbst wenn die Maxiumgebung günstig ist und die übrigen Bedingungen für Gewährleistung erfüllt sind, kann eine Überzeugung trotzdem »durch reinen Zufall« wahr sein und somit nicht als Wissen gelten. Demnach ist klar, dass S in einer gegebenen Situation nur dann p weiß, wenn die kognitive Miniumgebung von S in dieser Situation nicht irreführend ist bzw., um es genauer zu sagen: nicht irreführend im Hinblick auf den spezifischen Einsatz kognitiver Kräfte, mit deren Hilfe die Überzeugung, dass p, hervorgebracht wird. Die Bedingungen für Gewährleistung (d. h. für den Grad an Gewährleistung, der für Wissen ausreichend ist⁴⁴) müssen also wie folgt ergänzt werden: Es bleibt zwar dabei, dass die Maxiumgebung günstig bzw. angemessen ist, aber das gleiche muss auch für die kognitive Miniumgebung gelten. Zu den übrigen Bedingungen für Gewährleistung muss also die folgende Bedingung der Problemlösung hinzukommen: (BP) Einer durch einen Einsatz E der kognitiven Kräfte hervorgebrachte Überzeugung Ü wird nur dann die für Wissen hinreichende Gewähr geleistet, wenn die MÜE (also die Miniumgebung im Hinblick auf Ü und E) für E günstig ist. Was bedeutet es für eine kognitive Miniumgebung, wenn mit Bezug auf sie gesagt wird, sie sei »angemessen«, »günstig« oder »nicht irreführend«? Kann man sich hier bestimmter ausdrücken? Intuitiv gesprochen, ist eine Miniumgebung im Hinblick auf den Einsatz kognitiver Kräfte dann günstig, wenn man sich darauf verlassen kann, dass dieser Einsatz in dieser Miniumgebung eine wahre Überzeugung hervorbringt. Vielleicht ist diese Formulierung schon so spezifisch, wie es gerade noch sinnvoll ist. In »Respondeo« jedoch bin ich einen Schritt weiter gegangen und habe einen provisorischen Vorschlag dafür gemacht, wie man noch etwas präziser angeben könnte, worin diese Günstigkeit eigentlich besteht. Ist Ü eine Überzeugung, E der Einsatz der Ü produzierenden kognitiven Kräfte und MÜE eine Miniumgebung im Hinblick auf Ü und E, so darf man wohl folgendes sagen: (G) MÜE ist genau dann günstig für E, wenn S, sofern S durch E in MÜE eine Überzeugung Ü bilden würde, eine wahre Überzeugung bilden würde.⁴⁵
Dahinter steht nicht der Gedanke, für eine in ungünstiger Miniumgebung hervorgebrachte Überzeugung gebe es gar keine Gewähr, sondern nur die Vorstellung, der gegebene Grad an Gewähr sei für Wissen nicht ausreichend. Siehe Trenton Merrick, »Warrant Entails Truth«, in: Philosophy and Phenomenological Research (1995), S. 841; sowie die Erwiderung von Sharon Ryan, »Does Warrant Entail Truth?«, in: Philosophy and Phenomenological Research (1996), S. 183; und die Replik von Merrick, »More on Warrant’s Entailing Truth«, in: Philosophy and Phenomenological Research (1997), S. 627. An dieser Stelle setze ich (im Gegensatz zur üblichen Semantik für kontrafaktische Konditionale) voraus, dass die Wahrheit des Antezedens und des Konsequens keine hinreichende Bedingung für die Wahrheit des kontrafaktischen Konditionals ist. (Ein kontrafaktisches Konditional kann auch dann falsch sein, wenn sowohl das Antezedens als auch das Konsequens wahr sind.) Darüber hinaus wird nämlich noch verlangt, dass es keine ausreichend nahe mögliche Welt gibt, in der das kontrafaktische Konditional ein wahres Antezedens und ein falsches Konsequens hat.
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Leider ist es jedoch so, dass (G) nicht leistet, was es leisten soll, denn das relevante kontrafaktische Konditional kann seinerseits »durch reinen Zufall« wahr sein, d. h. durch etwas, was vom Standpunkt des Bauplans aus gesehen zufällig wirkt.⁴⁶ Es gibt eine Vielzahl möglicher Fälle, die das belegen. Der folgende Fall ist ein Beispiel: Kommen wir auf die an anderer Stelle erwähnten armen Bewohner Wisconsins zurück, die alles von seiner schönsten Seite zeigen wollen, indem sie eine Menge Scheunenfassaden aufstellen.⁴⁷ Angenommen, ich fahre an einem frühen Septembermorgen durch diese Gegend, die ganz in dichten Nebel gehüllt ist. Ich schaue nach rechts und erblicke eine echte Scheune, während durch Zufall alle in der Nähe gelegenen Scheunenfassaden (deren Zahl viel größer ist als die der echten Scheunen) vom Morgennebel verhüllt und nicht zu erkennen sind. Nun sage ich im Selbstgespräch: »Das ist doch mal eine schöne Scheune!« Die von mir gebildete Überzeugung ist wahr. Das relevante kontrafaktische Konditional ist ebenfalls wahr, weil die Scheunenfassaden vom Nebel verhüllt sind. Dennoch wird der Überzeugung keine für Wissen hinreichende Gewähr geleistet. Was ist zu tun? Folgendes ist ein weiterer (ebenfalls provisorischer) Vorschlag: Das Problem der Problemlösung ergibt sich, wie wir wissen, beispielsweise daraus, dass ich Paul und Peter nicht durch einen bloßen Blick von der anderen Straßenseite aus unterscheiden kann. Die bei dieser spezifischen Anwendung kognitiver Kräfte an den Tag gelegte Problemlösung ist dafür nicht ausreichend. Betrachten wir nun einen gegebenen Einsatz kognitiver Kräfte E, die bei dieser Gelegenheit gebildete Überzeugung Ü und eine relevante kognitive Miniumgebung MÜE. Sind die Bedingungen der Gewährleistung erfüllt, wird Ü im Hinblick auf MÜE wahrscheinlich sein (im Regelfall sogar sehr wahrscheinlich). MÜE ist seinerseits natürlich ein Sachverhalt, und zu den darin enthaltenen Sachverhalten gehören einige, die durch E ermittelbar sind: Sie sind E kognitiv zugänglich. Im Beispiel der Zwillinge etwa sind das Erscheinen einer Person, eines Mannes, eines Jemand auf der anderen Straßenseite usw. allesamt durch E – also durch bloßes Hinschauen – ermittelbar. Dass es nicht Peter, sondern Paul ist, der im Eingang auftaucht, ist dagegen nicht auf diese Weise herauszubekommen. Aus dieser Entfernung sehen sie genau gleich aus, und ich verfüge über keine Kenntnisse, aus denen folgt, dass es nicht Peter ist. Betrachten wir die Konjunktion aus in MÜE enthaltenen Umständen U derart, dass U durch E ermittelbar ist. Dieser konjunktive Sachverhalt heiße DMÜE. Im hier behandelten Fall werden diese Umstände beobachtbar sein, und zwar beobachtbar durch bloßes Hinschauen von der anderen Straßenseite aus. Im Regelfall wird Ü (sofern die allgemeinen Bedingungen der Gewährleistung erfüllt sind) mit Bezug auf DMÜE wahrscheinlich sein. Jetzt können wir angeben,was es heißt, eine Miniumgebung sei günstig: MÜE ist genau dann günstig, wenn es keinen in MÜE enthaltenen, aber in DMÜE fehlenden Sachverhalt S gibt dergestalt, dass die objektive Wahrscheinlichkeit von Ü mit Bezug auf die Konjunktion aus DMÜE und S weniger als r beträgt, wobei r eine reelle Zahl ist, die eine einigermaßen hohe Wahrscheinlichkeit darstellt. Im Beispiel der Zwillinge hieße das: Dass sich sowohl Peter als auch Paul im Haus aufhalten und nicht durch bloßes Hinschauen von der anderen Straßenseite aus zu unterscheiden sind, wäre ein Sachverhalt S derart, dass Ü mit Bezug auf die Konjunktion aus DMÜE und S nicht wahrscheinlich genug wäre. Im Fall der armen Bewohner Wisconsins wäre es der Sachverhalt, dass die Zahl der Scheunenfassaden in dieser Gegend höher ist als die Zahl der echten Scheunen. Der erforderliche Wahr-
Darauf bin ich von Thomas Crisp hingewiesen worden. Siehe WPF, S. 32– 33.
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scheinlichkeitsgrad r wird hier nicht angegeben. Er wird sowieso in gewissem Maße kontextabhängig sein und von Fall zu Fall differieren. Dieser Vorschlag wirkt durchaus verheißungsvoll, obwohl ich aufgrund von Induktion nicht mit grenzenloser Zuversicht annehmen mag, dass er wirklich zutrifft. Langfristig gesehen, können wir vielleicht nichts weiter sagen, als dass die Miniumgebung günstig sein muss. Das Gesamtbild ist demnach folgendes: Unsere Vermögen sind für eine kognitive Maxiumgebung gemacht, die derjenigen, in der wir uns tatsächlich befinden, hinreichend ähnelt. Sobald in einer derartigen Umgebung mit Hilfe richtig funktionierender Vermögen eine Überzeugung gebildet wird (und der dafür zuständige Teil des Bauplans erfolgreich auf Wahrheit abzielt), besteht für die betreffende Überzeugung auch dann ein gewisser Grad an Gewähr, wenn diese Überzeugung zufällig falsch ist. Unsere kognitiven Vermögen sind allerdings nicht maximal leistungsfähig, und zwar nicht nur insofern, als wir vieles gar nicht erkennen können, sondern auch insofern, als wir manchmal selbst dann zu Irrtümern neigen, wenn mit der Maxiumgebung alles in Ordnung ist und die relevanten Vermögen angemessen funktionieren. Mit anderen Worten lässt sich der gleiche Gedanke wie folgt formulieren: In einer günstigen kognitiven Maxiumgebung kann es für einen bestimmten Einsatz unserer Vermögen Miniumgebungen geben, in denen eine wahre Überzeugung – wenn überhaupt – nur durch einen reinen Glückszufall gebildet wird. Selbst wenn für eine in einer derartigen Miniumgebung gebildete Überzeugung eine gewisse Gewähr besteht, ist damit keine für Wissen hinreichende Bedingung erfüllt. Um diese höhere Stufe der Gewährleistung zu erreichen, muss die Überzeugung in einer Miniumgebung gebildet werden, die so beschaffen ist, dass der Einsatz der sie erzeugenden kognitiven Kräfte zuverlässig zur Hervorbringung einer wahren Überzeugung führt. Das ist der Grund für die Bedingung der Problemlösung. Überzeugungen, von denen alle diese Bedingungen erfüllt werden, konstituieren dann Wissen (sofern sie mit genügender Entschiedenheit akzeptiert werden). Es gibt wichtige Komponenten unseres epistemischen Grundgefüges, die ich hier nicht berücksichtigt habe. Erstens habe ich an dieser Stelle nichts über »Bezwinger« gesagt, auf die ich erst im 11. Kapitel zu sprechen kommen werde. Ein weiteres überaus wichtiges Thema, das ich hier außer acht lasse,⁴⁸ ist das Thema der epistemischen Wahrscheinlichkeit. Ferner gilt, dass das Wissen bzw. die Gewährleistung kontextabhängig sind. Wie es scheint, beruht der für Wissen notwendige Grad an Gewährleistung bis zu einem gewissen Maße auf den gegebenen Umständen und dem Kontext. Aus Raumgründen kann ich hier auf diese Dinge nicht eingehen.
III Nochmals zum F&M-Einwand Jetzt sind wir soweit, dass wir auf den F&M-Einwand zurückkommen können.Was wir hier zu sehen bekommen, ist ein klarer, wenn auch überraschender Zusammenhang zwischen dem Thema Gewährleistung und dem F&M-Einwand, der ja im Grunde auf die Behauptung hinausläuft, für den theistischen Glauben gebe es keine Gewähr. Nach Freud wird der theistische Glaube zwar durch reibungslos funktionierende kognitive Vermögen erzeugt, aber der Prozess seiner Erzeugung – das Wunschdenken – diene nicht dem Zweck der Hervorbringung wahrer Über Behandelt wird dieser Gegenstand jedoch in WPF, Kapitel 9.
III Nochmals zum F&M-Einwand
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zeugungen, sondern er sei eher auf das Ziel gerichtet, uns beim Zurechtkommen mit dieser erbarmungslosen und bedrohlichen Welt zu helfen. Daher erfülle der theistische Glaube die dritte Gewährleistungsbedingung nicht, weshalb auch die mit gewährleisteten Überzeugungen einhergehende Zuverlässigkeitsvermutung für ihn nicht gelte. Epistemisch gesprochen, sei der theistische Glaube nicht respektabler als irgendwelche völlig zufällig ausgewählten Aussagen. Angenommen, ich verfüge über einen Zufallsgenerator für deutsche Deklarativsätze (also Sätze, von denen Propositionen ausgedrückt werden). Dieser Generator wählt aus einem Vorrat von einer Million Sätzen und deren Negationen einen Satz aus und projiziert ihn auf eine große Leinwand. Nun bringe ich die Maschine zum Einsatz und empfehle einer anderen Person, die resultierende Aussage zu glauben. Dem wird sich der andere völlig zu Recht widersetzen und darauf hinweisen, dass es nicht den geringsten Grund dafür gibt, die fragliche Überzeugung für wahr zu halten. Nach Freud gibt es keine epistemischen Belege, die aus der Sicht des Gläubigen in höherem Maße für den theistischen Glauben sprächen als die Belege, die aus der Sicht einer Person für Aussagen sprechen, die – abgesehen von ihrem Erscheinen auf der Leinwand – durch keine weitere Quelle der Gewährleistung gestützt werden. Es handele sich um unfundierten Aberglauben. Ferner meint Freud: Sobald wir erkennen, dass theistische und religiöse Überzeugungen aus Wunschdenken entspringen, werden wir ebenfalls einsehen, dass diese Überzeugungen höchstwahrscheinlich falsch sind. Freilich gibt es weder ein stichhaltiges Argument, das von der Gegebenheit dieser Genese solcher Überzeugungen zu der Konklusion ihrer Falschheit führt, noch wird jemand, der ihre Herkunft aus dem Wunschdenken anerkennt, ohne weiteres einsehen, dass sie falsch sind. Vielmehr sei es so, dass vernünftige Menschen, die über den Gang der Welt Bescheid wissen, diese Überzeugungen wahrscheinlich für falsch halten werden. Ihre Einstellung zu theistischen und christlichen Überzeugungen werde die gleiche sein wie ihre Einstellung zu den Mythen der Griechen, der Azteken oder der Perser. Man könne zwar nicht wirklich beweisen, dass diese Geschichten falsch sind, aber ihre Wahrheitschancen seien ziemlich gering. Die in intellektueller Hinsicht angemessene Haltung gegenüber diesen Überzeugungen sei also kein bloßer Agnostizismus, sondern man sollte meinen, dass es für die betreffenden Überzeugungen keine Gewähr gibt. Deshalb seien sie höchstwahrscheinlich falsch. Von Marx werden ähnliche Ansichten vertreten. Er geht von dem Gedanken aus, der theistische, religiöse Glaube werde durch kognitive Vermögen erzeugt, die nicht richtig funktionieren. Insoweit diese Vermögen solche Überzeugungen hervorbringen, seien sie dysfunktional, und diese Dysfunktion rühre von einer bestimmten Verkehrtheit der Gesellschaftsstruktur her. Es handele sich um eine soziale Fehlfunktion. Demnach erfüllt der religiöse Glaube die erste Bedingung der
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Gewährleistung nicht. Daher gebe es für diesen Glauben keine Gewähr, und wer in intellektueller Hinsicht gesund ist, werde diesen Glauben ablehnen. Außerdem meint Marx, dass eine mit richtig funktionierenden kognitiven Vermögen ausgestattete Person, die über die um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zu Gebote stehenden Kenntnisse verfügt, einsehen wird, dass der Materialismus höchstwahrscheinlich zutrifft, weshalb das Christentum und der theistische Glaube höchstwahrscheinlich falsch seien. Marx würde also ebenso wie Freud behaupten wollen, dass es für christliche und theistische Überzeugungen keine Gewähr gibt. Es handele sich um unfundierten Aberglauben, der aller Wahrscheinlichkeit nach falsch sei. Man könnte die Sache aber noch ein wenig anders sehen: Vielleicht liegt das Problem des religiösen Glaubens nach Marx nicht darin, dass er durch fehlfunktionierende Vermögen hervorgerufen wird, sondern darin, dass die kapitalistische Gesellschaft eine für das Arbeiten der kognitiven Fähigkeiten des Menschen widrige Umwelt schafft. In diesem Fall beträfe das Problem nicht die erste, sondern die zweite Bedingung. Eine weitere Möglichkeit wäre die folgende: Vielleicht ähnelt die Erzeugung theistischer bzw. religiöser Überzeugungen einem System zur Schadensbegrenzung. Sind die Menschen den abscheulichen Bedingungen des Kapitalismus unterworfen, gelangen sie allmählich dahin, diese Märchen von Gott und einer anderen Welt zu glauben, um auf diese Weise ihre ansonsten unerträgliche Situation zu bewältigen. In diesem Fall würde die Ansicht von Marx der Auffassung von Freud weitgehend gleichen, und der religiöse Glaube ließe sich als Illusion im Sinne Freuds verstehen. Dann bliebe nur noch der folgende Unterschied bestehen: Nach Freud entspringt die Neigung zur Bildung religiöser Überzeugungen unserer Natur und ist daher ein Phänomen, mit dem man unabhängig von der jeweils gegebenen Gesellschaftsstruktur rechnen muss. Der eben beschriebenen Marxinterpretation zufolge ist der religiöse Glaube jedoch eine Reaktion auf die ganz speziellen, von der kapitalistischen Gesellschaft erzeugten sozialen Umstände des Elends und der Ungerechtigkeit, so dass bei Menschen einer von diesen und ähnlichen Missständen freien Gesellschaft keine derartige Neigung zu bestehen braucht. De facto sagt Marx freilich nur wenig über Religion – nicht genug jedenfalls, um eine dieser Möglichkeiten als diejenige auszusondern, die er wirklich im Sinn hat.
Daher läuft der F&M-Einwand darauf hinaus, dass es für den theistischen Glauben und den religiösen Glauben im allgemeinen keine Gewähr gibt. Das ist die These von Freud und Marx – aber haben sie auch recht? Im nächsten Kapitel werden wir ein Modell behandeln, dem zufolge es für den christlichen Glauben durchaus eine Gewähr gibt. Sobald wir über dieses Modell verfügen, werden wir uns ein Urteil darüber bilden, welchen Wert der F&M-Einwand hat.
Teil III: Gewährleisteter christlicher Glaube
6 Gewährleisteter Glaube an Gott Es gibt eine gewisse allgemeine und undeutliche Gotteserkenntnis, die sich wohl bei allen Menschen findet … Thomas von Aquin Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit … Paulus
Bei dem De-jure-Einwand gegen den christlichen (bzw. den theistischen) Glauben handelt es sich, wie wir gesehen haben, um die Behauptung, ein solcher Glaube sei irrational, unvernünftig, ungerechtfertigt oder in irgendeiner anderen Hinsicht zu Recht negativer epistemischer Kritik ausgesetzt. Diese Auffassung steht in Kontrast zu dem De-facto-Einwand, dem zufolge dieser Glaube falsch ist. So formuliert, klingt der De-jure-Einwand ziemlich vage und allgemein, und sein Wert lässt sich kaum beurteilen, solange keine klarere und spezifischere Formulierung vorliegt. Doch wie wir gesehen haben, fällt es nicht leicht, die De-jure-Kritik in klarer und vernünftiger – und zudem nicht offensichtlich falscher – Weise zu artikulieren. Im vorigen Kapitel jedoch sind wir mit der Betrachtung des F&M (Freud-und-Marx)-Einwands ein Stück vorangekommen. Im Grunde läuft dieser Einwand auf die These hinaus, der christliche oder sonst ein theistischer Glaube sei insofern irrational, als er auf kognitive Fehlfunktionen zurückgehe (Marx), oder insofern, als die kognitive Funktion zwar einwandfrei sei, aber auf etwas anderes als die Wahrheit abziele (Freud) – auf Trost vielleicht oder auf die Fähigkeit, in dieser entsetzlichen Welt, in der wir leben, tapfer durchzuhalten. Anders ausgedrückt, besagt die These: dieser Glaube geht nicht aus gut funktionierenden kognitiven Vermögen hervor, die erfolgreich auf die Erzeugung wahrer Überzeugungen gerichtet sind. Noch anders formuliert, besagt der Einwand, dass der theistische bzw. der christliche Glaube nicht gewährleistet sei. Um auf diesen Einwand zu antworten, werde ich in diesem Kapitel zunächst ein Modell präsentieren, das auf eine von Thomas ebenso wie von Calvin vertretene These zurückgeht und zeigen soll, inwiefern der theistische Glaube gewährleistet sein kann. Sobald das erkannt ist, wird auch die Vergeblichkeit des F&M-Einwands und seiner modernen Nachfolger sichtbar. In den übrigen Kapiteln des III. Teils werde ich das Modell so erweitern, dass es den spezifisch christlichen Glauben abdeckt. Das 7. Kapitel wird von der Sünde und ihren noetischen Resultaten handeln. Dabei ist der Begriff des Glaubens eine entscheidende Voraussetzung des erweiterten Modells. Im Anschluss an Thomas und Calvin werde ich geltend machen, dass der Glaube sowohl eine intellektuelle als auch eine
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affektive Komponente hat. Dementsprechend wird das 8. Kapitel die Art und Weise untersuchen, in der die bedeutenden Wahrheiten des Evangeliums »unserem Geist offenbart« sind (wie Calvin sagt), während es im 9. Kapitel um die Frage geht, inwiefern sie »unserem Herzen aufgeprägt« sind (um nochmals Calvin zu zitieren). Im 10. Kapitel werde ich sodann auf Einwände gegen das ursprüngliche und das erweiterte Modell eingehen und antworten.
I Das Thomas-von-Aquin/Calvin-Modell A Modelle Im vorliegenden Kapitel werde ich, wie gesagt, anhand eines Modells vorführen, was es heißt, dass der theistische Glaube gewährleistet ist. Aber was ist eigentlich ein Modell? Und wozu soll es gut sein? Es gibt viele verschiedene Arten von Modellen: Modell-Flugzeuge, Modelle, die sich malen lassen, Modelle im Sinne von Vorbildern und das Modell des modernen Generalmajors. Darüber hinaus gibt es das Modell im logischen Sinn, in dem sich z. B. jede widerspruchsfreie Theorie erster Stufe so interpretieren lässt, dass sie in den natürlichen Zahlen ein Modell hat. Ich gebrauche den Ausdruck so, dass er abstrakter ist als die Beispiele der ersten Gruppe, aber konkreter als der logische Begriff. Dabei schwebt mir ungefähr folgendes vor: Wenn man ein Modell einer Aussage oder eines Sachverhalts S anführt, zeigt man, wie es sein kann, dass S wahr ist bzw. besteht. Das Modell selbst ist eine andere Aussage (oder ein anderer Sachverhalt), so dass klar ist, (1) dass sie möglich ist und (2) dass, sofern sie wahr ist, die Zielaussage ebenfalls wahr ist. (Entsprechendes gilt für das Modell eines Sachverhalts.) Aus diesen beiden Gegebenheiten folgt natürlich, dass die Zielaussage möglich ist. Im vorliegenden Kapitel werde ich ein Modell – das Thomas-von-Aquin/Calvin- (A/C‐) Modell – dafür präsentieren, dass der theistische Glaube gewährleistet ist. Anschließend werde ich das A/C-Modell in den Kapitel 7, 8 und 9 so erweitern, dass auch der spezifisch christliche Glaube in ausgeprägter Form gewährleistet ist. Für diese beiden Modelle nehme ich vier Dinge in Anspruch: Erstens, sie sind möglich und zeigen daher, dass die Gewährleistung des theistischen und des christlichen Glaubens ebenfalls möglich ist. Der Sinn, in dem hier von »Möglichkeit« die Rede ist, entspricht allerdings nicht der grob gesprochen logischen Möglichkeit. Denn in diesem Sinn sind auch offenkundig falsche Aussagen wie »China hat weniger als tausend Einwohner« möglich. Vielmehr geht es hier um »Möglichkeit« in einem anspruchsvolleren Sinn. Nach meiner Behauptung sind diese Modelle epistemisch möglich, d. h.: Sie sind mit dem, was wir wissen, ver-
I Das Thomas-von-Aquin/Calvin-Modell
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einbar, wobei »was wir wissen« das ist, worüber sich alle (oder die meisten) Diskussionsteilnehmer einig sind.¹ Zweitens möchte ich behaupten (und diese Behauptung steht mit der ersten in Zusammenhang), dass es keine stichhaltigen Einwände gegen das Modell gibt, also gegen die Aussage, das Modell sei wirklich wahr oder habe Bestand. Genauer gesagt: Es gibt keine stichhaltigen Einwände philosophischer oder naturwissenschaftlicher (oder sonst einer) Art, die gegen das Modell sprechen und nicht zugleich auch überzeugende Einwände gegen den Theismus bzw. das Christentum sind. Um es anders zu formulieren: Jeder stichhaltige Einwand gegen die Wahrheit des Modells wird auch ein überzeugender Einwand gegen den Theismus bzw. gegen das Christentum sein. Des weiteren werde ich die These vertreten: Ist der christliche Glaube wirklich wahr, ist auch das betreffende Modell (bzw. ein ganz ähnliches Modell) wahr. Sofern meine Argumentation erfolgreich ist, wird sich also ergeben, dass es keinen tragfähigen De-jure-Einwand (im Gegensatz zu einem etwaigen De-facto-Einwand) gegen den Theismus oder das Christentum gibt. Es gibt keinen vernünftigen Einwand gegen die Rationalität, gegen die rationale Rechtfertigung oder die Gewährleistung des christlichen Glaubens, der nicht zugleich ein Einwand gegen die Wahrheit des Christentums wäre. Das heißt, es gibt keinen De-jure-Einwand, der von jedem De-facto-Einwand unabhängig wäre. Das wiederum bedeutet, dass eine besonders beliebte Form der Kritik am christlichen Glauben – beispielsweise von Seiten der Belegtheorie, des F&M-Einwands, vieler Formen der Argumentation aus der Existenz des Übels und sonstiger Einwände – nicht wirklich trägt. Dabei handelt es sich um Einwände der folgenden Form: »Ich weiß nicht, ob der christliche (bzw. der theistische) Glaube wahr ist – wie soll man Die epistemische Möglichkeit ist stärker als die vage gesprochen logische Möglichkeit, aber zugleich ist sie schwächer. Es gibt Aussagen, die zwar epistemisch möglich, aber nicht im vage logischen Sinn möglich sind. Soweit wir wissen, sind solche Aussagen wahr, aber dennoch unmöglich. Natürlich kann man nicht von mir verlangen, dass ich ein Beispiel dafür nenne, aber ich kann immerhin ein Paar von Aussagen nennen, von denen entweder die eine oder die andere diesen hervorstechenden Rang einnimmt. Betrachten wir etwa den Existentialismus, also die These, wonach Sachverhalte und Aussagen nicht notwendig existieren, sondern in ontologischer Hinsicht von den Gegenständen abhängen, im Hinblick auf die sie singulär sind. Um ein Beispiel zu nennen: Dem Existentialismus zufolge hätte es keine mit Bezug auf Sokrates singuläre Aussage (wie »Sokrates war weise«) geben können, wenn Sokrates nicht existiert hätte. Nach meiner Überzeugung ist der Existentialismus falsch (siehe meinen Artikel »On Existentialism«, Philosophical Studies [Juli 1983]), aber ich kann (ebensowenig wie sonst jemand) wohl kaum in Anspruch nehmen zu wissen, dass diese Lehre falsch ist. Also ist der Existentialismus in epistemischer Hinsicht möglich. Das gleiche trifft natürlich auch auf die Verneinung des Existentialismus zu. Jede dieser Aussagen ist jedoch notwendig wahr, sofern sie überhaupt wahr ist. Also ist die eine oder die andere der beiden im grob gesprochen logischen Sinn notwendig falsch, obwohl sie epistemisch möglich ist.
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denn dergleichen wissen können? Aber ich weiß tatsächlich, dass dieser Glaube irrational, rational inakzeptabel, ungerechtfertigt oder ohne Gewähr (bzw. in irgendeiner anderen epistemischen Hinsicht fragwürdig) ist.« Falls ich mit meiner Argumentation richtig liege, kann kein Einwand dieser Art etwas ausrichten. Drittens bin ich der Überzeugung, dass die hier präsentierten Modelle nicht nur möglich und philosophisch tadellos, sondern überdies wahr – oder zumindest wahrheitsähnlich bzw. wahrheitsnah – sind. Dennoch beanspruche ich keineswegs zu zeigen, dass sie wahr sind. Das liegt daran, dass das A/C-Modell die Wahrheit des Theismus und das erweiterte A/C-Modell die Wahrheit des klassischen Christentums implizieren.Würde man zeigen, dass diese Modelle wahr sind, so hieße das, dass man zugleich die Wahrheit des Theismus und des Christentums nachweist. Doch ich weiß nicht, wie man es anstellen soll, in irgendeinem vernünftigen Sinn von »zeigen« zu zeigen, dass der Theismus oder das Christentum wahr ist. Ich glaube zwar, dass es eine Vielzahl (mindestens zwei Dutzend) triftiger Argumente für die Existenz Gottes gibt, doch keines dieser Argumente lässt sich wirklich als Nachweis oder demonstratives Zeigen auffassen. Was nun das klassische Christentum betrifft, sind die Aussichten noch geringer, dass man die Wahrheit dieser Lehre nachweisen könnte.² Das spricht natürlich nicht gegen ihre Wahrheit oder ihre Gewährleistung. Nur sehr wenig von dem, was wir für wahr halten, lässt sich »nachweisen« oder »zeigen«. Viertens gibt es eine ganze Reihe von Modellen für die Gewähr des christlichen Glaubens, die alle voneinander verschieden, aber zugleich dem A/C- bzw. dem erweiterten A/C-Modell ähnlich sind. (Mit meiner These, dass die von mir präsentierten Modelle wahrheitsnah sind, behaupte ich, dass sie zu dieser Reihe von Modellen gehören.) Der vierte Punkt besagt nun, dass eines dieser Modelle höchstwahrscheinlich wahr ist, sofern der klassische christliche Glaube tatsächlich wahr ist. Ersatzweise gilt: Für jemanden, der den christlichen Glauben für wahr hält, ist mindestens eines dieser Modelle (wenn nicht mehrere bzw. deren Disjunktion) dazu angetan, die Gewähr für den christlichen Glauben zu erfassen.
B Das Modell Thomas von Aquin und Johannes Calvin sind übereinstimmend der Meinung, dass es so etwas wie eine natürliche Gotteserkenntnis gibt. (Und allem, worüber Calvin und Thomas einer Meinung sind, sollten wir Aufmerksamkeit schenken.) Hier möchte ich ein Modell vorschlagen, das auf Calvins Lesart dieser Meinung beruht.
Gründe für diese Ansicht lege ich weiter unten (S. 319) dar.
I Das Thomas-von-Aquin/Calvin-Modell
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Mein Ansatz geht nicht deshalb von Calvin aus, weil er von allen Theologen bewundert werden sollte, sondern weil er den fraglichen Gedanken auf besonders interessante Weise entfaltet. Hier – wie auf einigen anderen Gebieten – kann es nützlich sein, Calvins Lesart als eine Meditation über ein von Thomas angestimmtes Thema sowie als Durchführung dieses Themas aufzufassen. Nach Thomas gilt: »Von Natur eingepflanzt ist uns die Erkenntnis vom Dasein Gottes, insofern der Mensch nur in Gott selig werden kann.«³ In den Anfangskapiteln der Institutio Christianae Religionis ⁴ stimmt Calvin zu und sagt ebenfalls, dass es so etwas wie eine natürliche Gotteserkenntnis gibt. Dabei erweitert er das Thema zu einem Vorschlag darüber, inwiefern Überzeugungen, die Gott betreffen, Gewähr haben können. Dieser Vorschlag bezieht sich auf die Beschaffenheit des Vermögens oder des Mechanismus, durch den wir Gott betreffende Überzeugungen erwerben. Calvins Idee lässt sich auch als Fortführung dessen ansehen, was der Apostel Paulus im 1. Kapitel des Römerbriefs sagt: Der Zorn Gottes wird vom Himmel herab offenbart wider alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten. Denn was man von Gott erkennen kann, ist ihnen offenbar; Gott hat es ihnen offenbart. Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit. Daher sind sie unentschuldbar. (Römer 1, 18 – 20)⁵
Was unser Anliegen betrifft, besagt Calvins Hauptthese, dass es so etwas wie einen Instinkt – eine natürliche Tendenz des Menschen, eine Neigung, einen Drang –
Summa Theologiae I, q. 2, a. 1, ad 1 (Summa Theologica, Band 1, Leipzig: Kröner Verlag 1934, S. 39). In der Summa contra Gentiles sagt Thomas außerdem: »Es gibt eine gewisse allgemeine und undeutliche Gotteserkenntnis, die sich wohl bei allen Menschen findet« (Summe gegen die Heiden, Band 3, Teil 1, hg. von Karl Allgaier, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, S. 139). Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, 2. durchges. Aufl. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1963, S. 5. Seitenverweise auf die Institutio beziehen sich immer auf diese Ausgabe. Im Mittelalter und auch später gibt es, wie Étienne Gilson sagt, sehr viele Autoren, die in dieser Stelle so etwas wie den Grundstein der natürlichen Theologie (im Sinne einer Darstellung von Beweisen oder Argumenten für die Existenz Gottes) erblicken. Aber ist hier bei Paulus wirklich von Beweisen oder Argumenten die Rede? Die natürliche Theologie ist, wie Thomas sagt, für die meisten von uns ein ziemlich schwieriges Geschäft; und die Mehrzahl der Menschen hat weder die Muße noch die Fähigkeit, noch die Neigung, noch die nötige Bildung, um diesen Beweisen des Theismus folgen zu können. Paulus scheint hier jedoch von allen Menschen zu sprechen.Was man von Gott erkennen kann, sei »offenbar«, wie er sagt. Freilich wird diese Erkenntnis durch das, was Gott geschaffen hat, ermöglicht, aber daraus folgt nicht, dass es auf argumentativem Weg zu uns gelangt – beispielsweise auf dem Weg der Argumente der natürlichen Theologie. Siehe unten, S. 202.
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gibt, unter diversen Bedingungen und in diversen Situationen Überzeugungen zu bilden, die Gott betreffen. So heißt es in seinem Kommentar zu der angeführten Stelle aus dem Römerbrief: Gott hat es ihnen offenbart, will sagen: der Mensch ist geschaffen, um den Weltbau zu betrachten; er hat Augen empfangen, damit der Anblick dieses herrlichen Bildes ihn zum Schöpfer selbst führe.⁶
In der Institutio führt er diesen Gedanken weiter aus und schreibt: Daß der menschliche Geist durch natürliches Ahnvermögen eine Art Empfindung für die Gottheit besitzt, steht für uns außer allem Streit. Denn Gott selbst hat allen Menschen eine Kenntnis seiner Gottheit zu eigen gemacht, damit ja niemand den Vorwand der Unwissenheit als Entschuldigung anführe. […] Und wenn die Menschen doch alle miteinander darum wissen, daß ein Gott sei und daß er ihr Schöpfer ist, so sollen sie sich durch ihr eigenes Zeugnis verdammen, weil sie ihm keinen Dienst erweisen und seinem Willen ihr Leben nicht zum Opfer darbringen. […] Aber, wie schon ein heidnischer Denker fragt: Kein Volk ist so barbarisch, kein Stamm so verwildert, daß nicht die Überzeugung fest eingewurzelt wäre: es ist ein Gott. […] Da also seit Anbeginn der Welt kein Gebiet, keine Stadt, ja nicht ein Haus war, das der Religion entbehren konnte, so liegt in dieser Tatsache ein stillschweigendes Eingeständnis, daß allen Herzen ein Empfinden um die Gottheit eingeschrieben ist. (Institutio, I, iii, 1, S. 5)⁷
Calvin, Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung, 12. Band, Die Briefe des Apostels Paulus an die Römer und Korinther, Neukirchen: Neukirchener Verlag 1903, S. 26. Der »heidnische Denker« ist Cicero. John Beversluis meint, diese Stellen aus der Institutio bezögen sich eigentlich auf die menschliche Erkenntnis vor dem Sündenfall. Nach Calvin »verfügen die Menschen nach dem Sündenfall weder über die direkte und unmittelbare Gotteserkenntnis, mit der sie ursprünglich erschaffen wurden, noch über die Fähigkeit, zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Um mit Plantinga zu reden: die ›angeborene Tendenz, Veranlagung oder Neigung‹ zum Glauben an Gott, mit dem die Menschen ursprünglich von der Schöpfung ausgestattet wurden, ist in den Menschen nach dem Sündenfall nicht mehr wirksam« (»Reforming the Reformed Objection to Natural Theology«, in: Faith and Philosophy 12/2 (April 1995), S. 193, vgl. S. 197). Hier geht es mir natürlich nicht um Fragen der Calvin-Interpretation. Dennoch spricht Calvin ziemlich klar die Lehre aus, dass alle Menschen – vor und nach dem Sündenfall – über diese Erkenntnis verfügen (»allen Menschen angeboren«, »jeder ist hierin von Geburt an sein eigener Lehrmeister«). Außerdem verhält es sich, wie Beversluis selbst anmerkt, nach Calvin (im Anschluss an Römer 1) so, dass diejenigen, die Gott »keinen Dienst erweisen«, »durch ihr eigenes Zeugnis verdammt« (also schuldig) werden. Das wäre aber natürlich nicht möglich, wenn der sensus divinitatis nicht in ihnen wirksam wäre, sei’s auch in nicht mehr tadellosem Zustand. Hier ist ein weiterer subtiler Unterschied zu beachten: Beversluis spricht von einer Tendenz »zum Glauben an Gott«. Nun gibt es offenbar einen wichtigen Unterschied zwischen dem Glauben an Gott und dem Glauben an die Existenz Gottes (also: glauben, dass solch eine Person wie Gott existiert). Ein Teil des 9. Kapitels wird diesem Unterschied gewidmet sein. Vielleicht ist es nach Calvin so, dass der sensus divinitatis vor dem Sündenfall eine Neigung ist, an Gott zu glauben
I Das Thomas-von-Aquin/Calvin-Modell
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Calvin fährt fort und behauptet, dass viele Ablehnungen Gottes oder Versuche, ohne ihn auszukommen, eigentlich ebenfalls das Vorhandensein dieser natürlichen Neigung bezeugen: Es werden also alle, die recht urteilen, stets darin einig sein: es ist wirklich im Herzen des Menschen ein Empfinden für die Gottheit gleichsam eingemeißelt, das unzerstörbar ist. Ja gerade der hartnäckige Widerspruch der Gottlosen, die sich trotz ihres heftigen Widerstrebens der Furcht Gottes nicht entwinden können, ist ein Beweis dafür, daß jene Überzeugung vom Dasein eines Gottes allen Menschen angeboren und geradezu in ihrem Innersten fest verwurzelt ist. […] Daraus wird ganz deutlich: es handelt sich hier nicht um eine Lehre, die man erst in der Schule lernen müßte; sondern jeder ist hierin von Geburt an sein eigener Lehrmeister, und die Natur selbst verhindert das Vergessen, so sehr auch viele Menschen alle Kräfte anspannen, um von dieser Lehre loszukommen. (I, iii, 3, S. 6)
Sieht man von der Überspanntheit der Ausdrucksweise ab, die Calvin manchmal auszeichnet, ist der Grundgedanke vermutlich der, dass es ein Vermögen bzw. einen kognitiven Mechanismus gibt – einen sensus divinitatis, wie Calvin sagt, also einen Gottessinn –, der unter mannigfaltigen Umständen Überzeugungen in uns hervorruft, die Gott betreffen. Diese Umstände setzen, wie man sagen könnte, die Disposition zur Bildung der relevanten Überzeugungen in Gang; sie stellen die Gelegenheit dar, bei der diese Überzeugungen entstehen. Unter diesen Umständen entwickeln oder bilden wir theistische Überzeugungen – oder vielmehr: diese Überzeugungen werden in uns gebildet. Im Regelfall entscheiden wir uns nicht bewusst für diese Überzeugungen. Es ist eher so, dass wir diese Überzeugungen in uns vorfinden – genauso wie wir Wahrnehmungs- und Erinnerungsüberzeugungen in uns vorfinden. (Es ist weder faktisch so noch überhaupt möglich, dass man einfach entscheidet, eine bestimmte Überzeugung zu haben und sie sich auf diese Weise zu eigen zu machen.)⁸ Die angeführten Stellen deuten an, dass dieses Bewusstsein von Gott etwas Natürliches ist, etwas Weitverbreitetes, das nicht ohne weiteres vergessen, außer acht gelassen oder zerstört werden kann. Bestätigt wird diese These durch den Umstand, dass sich die Marxisten in der früheren So-
(d. h., ihn zu lieben, ihm zu vertrauen, seine Pracht, seinen Ruhm und seine Herrlichkeit zu sehen),während er nach dem Sündenfall nichts weiter ist als die menschliche Neigung zu glauben, dass es eine solche Person gibt – und diese Neigung haben die Menschen (laut Jakobusbrief) mit den Teufeln gemein. Zu den noetischen Wirkungen der Sünde siehe Kapitel 7. Siehe meinen Artikel »Reason and Belief in God«, in: Alvin Plantinga u. Nicholas Wolterstorff (Hg.), Faith and Rationality, Notre Dame: University of Notre Dame Press 1983, S. 34 ff.
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wjetunion siebzig Jahre lang entschlossen bemüht haben, das Christentum auszumerzen, ohne dass es ihnen gelungen wäre.⁹ Des weiteren klingt es so, als sei die Gotteserkenntnis nach Calvin etwas Angeborenes, so dass wir von Geburt an darüber verfügen und sie sozusagen mit der Muttermilch einsaugen. Aber vielleicht will Calvin eigentlich keine dieser Andeutungen gelten lassen. Die Fähigkeit zu dieser Erkenntnis ist in der Tat angeboren, und zwar genauso angeboren wie die Fähigkeit zu arithmetischer Erkenntnis. Daraus folgt aber nicht, dass wir die Grundzüge der Arithmetik mit der Muttermilch einsaugen.Vielmehr bedarf es dazu einer gewissen Reife. Ich möchte vermuten, dass Calvin im Hinblick auf die Gotteserkenntnis das gleiche meint.Was man mit der Muttermilch einsaugt, ist nicht diese Gotteserkenntnis, sondern die Fähigkeit dazu. Was immer Calvin jedoch gemeint haben mag, es ist unser Modell; und diesem Modell zufolge setzt die Entwicklung des sensus divinitatis eine gewisse Reife voraus (obwohl er häufig auch von ganz jungen Kindern an den Tag gelegt wird). Der sensus divinitatis ist eine Disposition bzw. eine Menge von Dispositionen, unter verschiedenen Umständen und in Reaktion auf jene Bedingungen oder Reize, die diesen Gottessinn in Gang bringen, theistische Überzeugungen zu bilden. Calvin dachte dabei vor allem an einige der großen Naturschauspiele. Er ließ sich in diesem Zusammenhang, ebenso wie Kant, besonders von den Herrlichkeiten des Himmelszelts beeindrucken: Aber auch der Ungebildete und Unwissende, der nur Augen hat zu sehen, der muß ja die Größe göttlicher Kunst und Weisheit erschauen, die sich ganz von selbst in der unendlichen Mannigfaltigkeit des Heeres der Himmel, die doch so wohlgeordnet ist, ihm entgegenstellt. Da ist also niemand, dem der Herr seine Weisheit nicht reichlich offenbarte! (I, v, 2, S. 11)
Die glänzende Pracht des Firmaments erblickt man etwa von einem 4000 Meter hohen Berggipfel. Dort denkt man über diese unvorstellbaren Entfernungen nach und fühlt sich von ehrfürchtigem Staunen erfüllt, bis man die Überzeugung bildet, wie groß Gott doch sein muss, um dieses herrliche Heer der Himmel erschaffen zu haben. Aber es ist nicht nur die Mannigfaltigkeit des Heeres der Himmel, die Calvin hier ins Auge fällt:
Die Ansicht, der sensus divinitatis sei irgendwelchen Fehlfunktionen ausgesetzt, gehört allerdings nicht mit zu diesem Modell. Es kann durchaus sein, dass er manchmal angeschlagen oder sogar unwirksam ist. Außerdem kann er in der üblichen Art und Weise behindert werden, und es kann mitunter vorkommen, dass seine Arbeit durch die falsche Art der Schulung zunichte gemacht wird.
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Niemandem sollte der Zugang zur Seligkeit verschlossen bleiben; deshalb hat Gott nicht nur dem Menschenherzen das geschenkt, was wir den Keim der Religion nannten. Er hat sich auch derart im ganzen Bau der Welt offenbart und tut es noch heute, daß die Menschen ihre Augen nicht aufmachen können, ohne ihn notwendig zu erblicken. […] Aber er hat den einzelnen Werken zuverlässige Kennzeichen seiner Herrlichkeit eingeprägt […] wohin man die Augen blicken läßt, es ist ringsum kein Teilchen der Welt, in dem nicht wenigstens irgendwelche Fünklein seiner Herrlichkeit zu sehen wären! (I, v, 1, S. 10)¹⁰
Was Calvin hier vorschwebt, ist folgendes: Der sensus divinitatis wird durch ganz verschiedene Umstände in Gang gebracht, unter anderem auch durch einige Naturschönheiten wie: die wunderbare, imposante Herrlichkeit des Nachthimmels; das immerwährende Tosen der Brandung, das tief in unserem Inneren widerhallt; die majestätische Erhabenheit der Berge (beispielsweise der vom Whatcom Pass aus gesehenen North Cascades); die seit alters unheimliche Präsenz des australischen Buschs; das Donnern eines großen Wasserfalls. Aber Größe und Majestät sind nicht das einzige, was zählt. Das gleiche würde Calvin auch über das feine Spiel des auf eine Frühlingswiese fallenden Sonnenlichts sagen, über die zarte Schönheit der Zeichnung einer winzigen Blume oder über das Schimmern und Tanzen der vom Wind bewegten Blätter einer Zitterpappel. Er sagt: »Es ist ringsum kein Teilchen der Welt, in dem nicht wenigstens irgendwelche Fünklein seiner Herrlichkeit zu sehen wären.« Darüber hinaus hätte Calvin noch weitere Umstände nennen können: Hat man etwas Verkehrtes oder Gemeines getan, spürt man so etwas wie göttliche Missbilligung; und wenn man gebeichtet und bereut hat, nimmt man so etwas wie göttliche Vergebung wahr. Befindet man sich in großer Gefahr, wendet man sich instinktiv dem Herrn zu und bittet ihn um Beistand und Hilfe, sobald man zu dem Glauben gelangt ist, er könne uns hören und helfen, wenn er es für angebracht hält. (Man sagt, im Schützengraben gebe es keine Atheisten.) Denken wir uns einen schönen Frühlingsmorgen – die Vögel singen, Himmel und Erde funkeln und strahlen vor lauter Pracht, die Luft ist frisch und kühl, die Baumwipfel schimmern in der Sonne. Da kann es geschehen, dass ein spontanes Loblied auf den Herrn aus der Seele emporsteigt, um ihm für die gegebenen Umstände, ja für die eigene Existenz zu danken. Dem Modell zufolge gibt es also viele und vielfältige Umstände, die den theistischen Glauben hervorrufen bzw. auslösen. In dieser Hinsicht gleicht der sensus divinitatis anderen Vermögen oder Mechanismen, die Überzeugungen hervorbringen. Wenn man sich
Vgl. die folgende Äußerung von Charles Sanders Peirce: »Ein Mensch betrachtet die Natur, er sieht ihre Erhabenheit und Schönheit, und sein Geist erhebt sich allmählich zur Idee Gottes. Er sieht die Gottheit nicht, noch beweist ihm die Natur die Existenz dieses Wesens, aber sie regt sein Bewusstsein und seine Vorstellungskraft an, bis die Idee in seinem Herzen Wurzel schlägt« (zit. in: Edward T. Oakes, »Discovering the American Aristotle«, in: First Things (Dezember 1993), S. 27).
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der Begriffe einer etwas überstrapazierten funktionalen Analogie bedienen möchte, kann man auch den sensus divinitatis als eine Art Input/Output-Vorrichtung auffassen: Sie empfängt die oben genannten Umstände als Input und liefert theistische Überzeugungen – Überzeugungen über Gott – als Output. Nun müssen wir sechs weitere Merkmale dieses Modells festhalten:
1 Basalität Dem A/C-Modell zufolge gelangt man nicht durch Schlüsse oder Argumente (wie z. B. die berühmten theistischen Beweise der natürlichen Theologie) zu dieser natürlichen Gotteserkenntnis, sondern auf sehr viel unmittelbarere Weise. Die Ergebnisse des sensus divinitatis sind keine flotten, stillschweigend gezogenen Schlüsse aus den Umständen, die diesen Gottessinn in Gang bringen. Es ist nicht so, als würde man den Nachthimmel betrachten, feststellen, dass er großartig ist, und daraus folgern, dass es eine Person wie Gott geben muss. Ein derartiges Argument wäre lächerlich schwach. Es ist auch nicht so, als bemerkte man ein Merkmal des australischen Buschs – etwa, dass er alt und unheimlich wirkt – und zöge daraus den Schluss, dass Gott existiert. Vielmehr ist es so, dass sich die entsprechenden Überzeugungen einfach in unserem Inneren einstellen, nachdem wir den Nachthimmel, die Gebirgslandschaft oder die winzige Blume wahrgenommen haben. Sie werden nicht aus diesen Umständen gefolgert, sondern sie werden durch diese Umstände ausgelöst. Der Himmel erzählt die Herrlichkeit Gottes, und das Firmament verkündet das Werk seiner Hände [Psalm 19.2] – aber nicht, indem sie (der Himmel und das Firmament) als Prämissen eines Arguments fungieren. Schuldbewusstsein kann mich zu Gott führen, aber es ist nicht so, als wäre mir mit diesem Bewusstsein das Rohmaterial für ein flottes theistisches Argument à la »Ich bin schuldig, also muss ein Gott existieren« gegeben. Dieses Argument ist zwar längst nicht so dumm, wie es aussieht; doch sobald das Wirken des sensus divinitatis durch die Wahrnehmung meiner Schuld ausgelöst wird, funktioniert er nicht mit argumentativen Mitteln. Ich benutze meine Schuld nicht als einen Beleg für die Existenz Gottes oder für die Aussage, er sei mit mir unzufrieden. Vielmehr ist es so, dass ich in diesem Umstand – dem Umstand der klaren Einsicht in meine Schuld – den Glauben an die Missbilligung oder Enttäuschung Gottes einfach als etwas Gegebenes vorfinde. In dieser Hinsicht ähnelt der sensus divinitatis der Wahrnehmung, der Erinnerung und unseren apriorischen Überzeugungen. Betrachten wir den ersten Fall: Ich schaue hinaus in den Garten hinter dem Haus und sehe, dass die LeopardenLilien blühen. Dabei bemerke ich nicht, dass mir in einer bestimmten komplizierten Weise erschienen wird (dass meine Erfahrung bestimmte komplizierte Eigenschaften aufweist), um sodann von der Aussage, dass mir in dieser Weise
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erschienen wird, mit Hilfe eines Arguments zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass dort tatsächlich Leoparden-Lilien blühen. (Die ganze Geschichte der neuzeitlichen Philosophie bis hin zu Hume und Reid zeigt, dass ein solches Argument alles andere als triftig wäre.) Vielmehr ist es so, dass die Überzeugung, die Leoparden-Lilien blühten, spontan in meinem Inneren entsteht, sobald mir in dieser Weise erschienen wird (sowie unter Voraussetzung meiner bisherigen Schulung). Diese Überzeugung wird im Normalfall insofern basal sein, als sie nicht auf der Basis anderer Aussagen, die als Belege dienen sollen, akzeptiert wird. Das gleiche gilt auch für die Erinnerung. Du fragst mich, was ich zum Frühstück gegessen habe. Ich denke einen Augenblick nach, und dann fällt es mir ein: Pfannkuchen mit Heidelbeeren. Ich gelange nicht durch ein Argument von der Tatsache ausgehend, dass ich mich zu erinnern scheine, Pfannkuchen zum Frühstück gehabt zu haben, zu der Konklusion, wirklich Pfannkuchen gegessen zu haben, sondern es geschieht folgendes: Du fragst mich, was ich zum Frühstück gegessen habe, und die Antwort fällt mir einfach ein. Oder betrachten wir Überzeugungen a priori. Ich folgere nicht aus anderen Dingen, dass der Modus ponens z. B. eine gültige Argumentform ist. Ich sehe einfach, dass es sich so verhält, ja dass es sich so verhalten muss. In allen diesen Fällen haben wir es, wie man sagen könnte, mit Ansatzpunkten für das Denken zu tun. Aber (dem Modell zufolge) gilt das gleiche auch für den Gottessinn. Es geht nicht darum, aus der Großartigkeit der Berge, der Schönheit der Blume oder der auf die Baumwipfel scheinenden Sonne einen flotten und nicht ganz einwandfreien Schluss auf die Existenz Gottes zu ziehen. Vielmehr ist es so, dass eine Gott betreffende Überzeugung unter diesen Umständen – nämlich den Umständen, die das Wirken des sensus divinitatis auslösen – spontan entsteht. Diese Überzeugung gehört ebenfalls zu den Ansatzpunkten des Denkens. Auch sie ist insofern basal, als die fraglichen Überzeugungen nicht auf der Basis weiterer Belege akzeptiert werden.¹¹ Natürlich gibt es hier verschiedene Optionen. Das Modell ließe sich so ausgestalten, dass die Rolle des sensus divinitatis darin besteht, der betreffenden Person die Fähigkeit zu verleihen, die Wahrheit der entscheidenden Prämisse für ein flottes theistisches Argument zu erkennen – beispielsweise: »Der Himmel kann nur dann, wenn er von Gott erschaffen wurde, von herrlicher Schönheit sein.« Aus dem Theismus ergibt sich diese Aussage sowieso als Konsequens. Was der jetzige Vorschlag hinzufügen würde, ist der Zusatz, dass diese Aussage bei der Entstehung des
Es lohnt sich festzuhalten, dass daraus, dass ich etwas auf basale Weise glaube, längst nicht folgt, dass ich auf die Frage des anderen »Warum glaubst du p? Was ist dein Grund dafür, p zu glauben?« nicht noch diverse weitere Aussagen anführen würde. Siehe »Reason and Belief in God«, S. 51.
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theistischen Glaubens eine ausschlaggebende Rolle spielt.¹² An der oben in der 3. Anmerkung zitierten Stelle aus der Summa contra gentiles fährt Thomas fort und macht folgenden Vorschlag: Zu dieser natürlichen Gotteserkenntnis gelange man sowohl »unmittelbar« als auch auf dem Weg des Schließens: […] das liegt entweder daran, daß es wie andere Beweisprinzipien an sich bekannt ist, daß Gott existiert – so scheint es manchen, wie im ersten Buch gesagt wurde; oder, was der Wahrheit näherzukommen scheint, (es liegt daran,) daß der Mensch aus natürlichem Vernunftgebrauch sogleich zu irgendeiner Erkenntnis Gottes gelangen kann. Die Menschen sehen nämlich, daß die natürlichen Dinge gemäß einer festen Ordnung verlaufen; da es nun keine Ordnung ohne einen Ordner gibt, erfassen sie in der Mehrheit, daß es einen Ordner der Dinge gibt, die wir sehen. (S. 139) Hier sind zwei Dinge bemerkenswert: Erstens,was Thomas an dieser Stelle sagt, deutet darauf hin, dass die Erkenntnis der zweiten Spielart eine Folgerung beinhaltet, so dass diese Gotteserkenntnis strenggenommen nicht basal wäre. Allerdings wäre dieser Schluss sehr flott, elementar und einleuchtend, so dass es vielleicht nicht ohne weiteres möglich ist, einen Schluss dieser Art von der basalen Form des Glaubens zu unterscheiden. Zweitens ist zu beachten, dass diese Gotteserkenntnis tatsächlich überaus konfus sein kann: Jene (allgemeine) Erkenntnis aber vermischt sich leicht mit vielen Irrtümern. Einige glaubten nämlich, es gebe keinen anderen Ordner der irdischen Dinge als die Himmelskörper: daher sagten sie, die Himmelskörper seien Götter. – Weiter (glaubten) einige, die Elemente selbst und was aus ihnen gezeugt wird (seien Götter) – wohl in der Meinung, die Bewegungen und die natürlichen Tätigkeiten, die die Dinge haben, verleihe ihnen nicht ein Ordner, sondern von den Elementen werde alles geordnet. (S. 139/141) Moderne Naturalisten wie Daniel Dennett und Richard Dawkins¹³ würden vermutlich denen zustimmen, die der Meinung sind, »die Bewegungen und die natürlichen Tätigkeiten, die die Dinge haben, verleihe ihnen nicht ein Ordner«. Thomas würde sie anscheinend zu denen rechnen, die über natürliche Gotteserkenntnis verfügen – zumindest dann, wenn sie außerdem glauben, dass es überhaupt eine Instanz gibt, die die Ordnung der gesehenen Dinge bestimmt (und seien es beispielsweise bloß die Naturgesetze). Diese Art von Gotteserkenntnis schließt seltsamerweise nicht die Möglichkeit aus, dass der Betreffende Atheist oder Naturalist ist. Vielleicht können wir Thomas wie folgt interpretieren: Gehen wir von der Kennzeichnung »dasjenige, was die Ordnung des Gesehenen bestimmt« aus. Diese Kennzeichnung trifft in der Tat auf Gott zu.Wer nun glaubt, dass sie auf dies oder jenes zutrifft, kann daher über Gotteserkenntnis de re verfügen. So kann er beispielsweise von demjenigen, was die Ordnung des Gesehenen bestimmt, glauben, dass es diese oder jene Eigenschaften hat, etwa: dass es existiert, mächtig ist und
Hinweise darauf, wie sich das Modell in dieser Richtung ausgestalten ließe, findet man bei Michael Sudduth, »Prospects for ›Mediate‹ Natural Theology in John Calvin«, Religious Studies 31/1 (März 1995), S. 53. Siehe Dennett, Darwin’s Dangerous Idea, New York: Simon and Schuster 1995 (übers. von Sebastian Vogel: Darwins gefährliches Erbe, Hamburg: Hoffmann und Campe 1997) und Dawkins, The Blind Watchmaker, New York: W.W. Norton 1986 (übers.von Karin de Sousa Ferreira: Der blinde Uhrmacher, München: dtv 2008).
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die Ordnung des Gesehenen bestimmt. Diese Erkenntnis »aber vermischt sich leicht mit vielen Irrtümern«. So glaubt der Naturalist, dasjenige, was die Ordnung des Gesehenen bestimmt, sei eigentlich die Gesamtheit der Naturgesetze. Also glaubt er de re von Gott, dieser sei die Gesamtheit der Naturgesetze. Calvins Auffassung der natürlichen Gotteserkenntnis sähe ein wenig anders aus. Im Anschluss an Römer 1 vertritt er die Meinung, die natürliche Erkenntnis, um die es geht, sei ausreichend, um Menschen schuldig werden zu lassen: Es sei ihre Schuld, wenn sie es unterlassen, Gott zu verehren, ihm zu gehorchen und sich für ihn einzusetzen. Also gehört zu dieser Erkenntnis auch, dass man Gott verehren und ihm gehorchen muss, so dass er beispielsweise nicht mit der Gesamtheit der Naturgesetze identisch sein kann. (Natürlich gibt es einen Sinn, in dem man den Naturgesetzen – sofern es dergleichen überhaupt gibt¹⁴ – tatsächlich gehorcht; aber in diesem Sinn kann man es gar nicht unterlassen, ihnen zu gehorchen – also würde man sich nicht unbedingt schuldig machen, wenn man ihnen den Gehorsam dennoch verweigern könnte und es wirklich täte.)
2 Angemessene Basalität im Hinblick auf Rechtfertigung Dem A/C-Modell zufolge ist der auf den sensus divinitatis zurückgehende theistische Glaube basal. Außerdem ist er angemessen basal, und zwar in mindestens zweierlei Sinn. Zunächst einmal kann eine Überzeugung insofern angemessen basal sein, als sie für die betreffende Person tatsächlich basal ist (sie akzeptiert diese Überzeugung nicht auf der Belegbasis anderer Aussagen). Außerdem ist es gerechtfertigt, diese Überzeugung in basaler Weise zu vertreten – der Betreffende hat das epistemische Recht dazu, er ist nicht unverantwortlich und verstößt gegen keine epistemischen oder sonstigen Pflichten, wenn er die Überzeugung in basaler Weise vertritt. Das ist die Bedeutung von »angemessene Basalität«, die in meinem Aufsatz »Reason and Belief in God« eine besonders große Rolle spielt, denn dort bestreite ich die Ansichten der belegtheoretischen Kritiker des theistischen Glaubens. Normalerweise machen diese Kritiker keine präzisen Angaben über das, was nach ihrer Auffassung problematisch ist an einem basalen (nicht durch propositionale Belege gestützten) Glauben an Gott, aber soweit ich es verstehe, behaupten sie, diese Form des Glaubens an Gott sei ungerechtfertigt. Außerdem begreifen sie »Rechtfertigung« und »Mangel an Rechtfertigung« anscheinend in deontologischem Sinn, so dass »nicht gerechtfertigt« bedeutet, dass man in epistemischer Hinsicht unverantwortlich ist und eine epistemische Pflicht oder Forderung missachtet. Doch wie ich oben im 3. Kapitel ausgeführt habe, liegt es auf der Hand, dass jemand, der an Gott glaubt, im deontologischen Sinn gerechtfertigt ist bzw. gerechtfertigt sein kann: Ich denke sorgfältig und eingehend
Argumente, die die Existenz von Naturgesetzen in Frage stellen, nennt Bas van Fraassen, siehe Laws and Symmetry, Oxford: Clarendon Press 1989, S. 17 ff.
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über die Sache nach und berücksichtige den F&M-Einwand sowie alle übrigen Einwände, habe aber dennoch den klaren und (vielleicht überwältigend) offenkundigen Eindruck, dass es eine Person wie Gott tatsächlich gibt.Wie kann man da vernünftigerweise behaupten, ich hätte unverantwortlich oder in irgendeiner epistemischen Hinsicht pflichtvergessen gehandelt? Das wäre in der Tat eine »harte Rede« [Joh. 6, 60].
3 Angemessene Basalität im Hinblick auf Gewährleistung Es gibt aber noch einen weiteren Sinn, in dem eine Überzeugung angemessen oder unangemessen basal sein kann: p ist für S genau dann in diesem Sinn basal, wenn p von S in basaler Weise akzeptiert wird und außerdem für S eine in der gleichen Weise akzeptierte Gewähr hat.Wahrnehmungsüberzeugungen sind in diesem Sinn angemessen basal, denn solche Überzeugungen werden im Regelfall in basaler Weise akzeptiert und sind in vielen Fällen gewährleistet. (Oft werden sie von kognitiven Vermögen hervorgebracht, die in einer günstigen epistemischen Umgebung gemäß einem erfolgreich auf die Wahrheit abzielenden Bauplan gut funktionieren.) Das gleiche gilt für Erinnerungsüberzeugungen sowie für einige apriorische und viele sonstige Überzeugungen. Vermutlich ist es so, dass die meisten unserer Überzeugungen, sofern es überhaupt eine Gewähr für sie gibt, in dieser basalen Weise gewährleistet sind. Nur in einem recht kleinen Bereich unseres kognitiven Lebens kommt es vor, dass die Gewähr, die einer Überzeugung unserer Meinung nach zukommt, daher rührt, dass sie auf der Belegbasis weiterer Überzeugungen akzeptiert wird. Natürlich kommt es gelegentlich vor, dass Überzeugungen in basaler Weise akzeptiert werden, ohne jedoch gewährleistet zu sein. Das kann, wie wir im 4. Kapitel gesehen haben, an kognitiven Fehlfunktionen liegen oder daran, dass ein kognitives Vermögen durch Zustände wie Zorn, Lust, Ehrgeiz, Gram und dergleichen behindert wird. Außerdem kann es daran liegen, dass der für die Erzeugung der relevanten Überzeugung zuständige Teil des Bauplans nicht auf Wahrheit, sondern auf etwas anderes (wie z. B. das Überleben) abzielt, oder daran, dass ein Glied der Zeugniskette versagt (wenn man etwa von einem Freund belogen wird), oder an allen möglichen sonstigen Faktoren. Dem hier vorgestellten A/C-Modell zufolge kann eine durch den sensus divinitatis erzeugte theistische Überzeugung auch im Hinblick auf die Gewähr angemessen basal sein. ¹⁵ Es ist nicht nur so, dass jemand, der an Gott glaubt, das gute Da eine Überzeugung nur dann gewährleistet ist, wenn sie durch richtig funktionierende Vorgänge oder Vermögen erzeugt wird, ist eine im Hinblick auf die Gewähr angemessen basale Überzeugung auch im Hinblick auf die Rationalität basal (d. h., im Hinblick auf die Rationalität qua richtiges Funktionieren, siehe oben, S. 130 ff.).
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epistemische Recht dazu hat, den theistischen Glauben in basaler Weise zu akzeptieren. Das ist zwar tatsächlich so, aber darüber hinaus kann diese Überzeugung für die betreffende Person Gewähr haben, und zwar eine Gewähr, die in vielen Fällen ausreicht, um Erkenntnis zu stiften. Der sensus divinitatis ist ein Glauben erzeugendes Vermögen (bzw. eine Kraft oder ein Mechanismus), und dieses Vermögen erzeugt unter den richtigen Bedingungen Überzeugungen, die nicht auf einer Belegbasis weiterer Überzeugungen beruhen. Diesem Modell zufolge sind unsere kognitiven Vermögen von Gott entworfen und erschaffen worden. Daher handelt es sich hier im buchstäblichen und paradigmatischen Sinn um einen Bauplan, der unsere Funktionsweise bestimmt und von einem bewussten, intelligenten Akteur entworfen und umgesetzt worden ist. Der sensus divinitatis hat den Zweck, uns zu wahren Überzeugungen bezüglich Gott zu befähigen.Wenn er richtig funktioniert, erzeugt er normalerweise tatsächlich wahre Überzeugungen, die Gott betreffen. Also erfüllen diese Überzeugungen die Bedingungen der Gewährleistung; und wenn die hervorgebrachten Überzeugungen stark genug sind, laufen sie auf Wissen hinaus.¹⁶ Zwischen den Leistungen des sensus divinitatis und den Ergebnissen anderer Quellen unserer Überzeugungen wird es ein kompliziertes und vielseitiges Zusammenspiel geben, genauso wie es zwischen den Leistungen der Wahrnehmung – die ja in basaler Weise akzeptiert werden – und sonstigen Quellen unserer Überzeugungen ein kompliziertes Zusammenspiel gibt. Natürlich ist es nicht so, als müsste jemand, der mit Hilfe des sensus divinitatis zu einer bestimmten Überzeugung gelangt, deutlich artikulierte Vorstellungen von der Quelle oder dem Ursprung dieser Überzeugung haben – oder auch nur eine Vorstellung davon, dass es so etwas wie das Vermögen des sensus divinitatis überhaupt gibt. (Die meisten von uns haben ja auch keine deutlich artikulierten Vorstellungen von der Quelle und dem Ursprung unserer apriorischen Überzeugungen.) Außerdem würde eine solche Person die betreffende Überzeugung nicht auf der Grundlage eines Arguments der folgenden Art akzeptieren: Diese Überzeugung scheint ein Ergebnis des sensus divinitatis zu sein; der sensus divinitatis ist ein zuverlässiger Mechanismus zur Erzeugung von Überzeugungen; also ist diese Überzeugung wahrscheinlich wahr. So läuft es natürlich nicht. Hier wie im Fall sonstiger Urquellen der Überzeugung (also im Fall von Erinnerungs-, Wahrnehmungs- oder apriorischen
Daraus folgt natürlich nicht, dass theistische Überzeugungen nicht durch Argumente, die sich auf andere Überzeugungen stützen, gewährleistet werden können. Ebensowenig folgt daraus, dass die natürliche Theologie und eher informelle theistische Argumente im intellektuellen und spirituellen Leben des Gläubigen keine positive Rolle spielen. Ferner ist zu beachten, dass dem Modell zufolge die Sünde dem sensus divinitatis abträglich ist und dessen Funktionieren beeinträchtigt. Siehe unten, S. 213, und Kapitel 7.
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Überzeugungen usw.) wird die relevante Überzeugung in der Regel gar nicht auf der Basis irgendwelcher Argumente akzeptiert; und die Überzeugung kann auch dann gewährleistet sein, wenn ihr Träger überhaupt keine Meinungen zweiter Ordnung über die betreffende Überzeugung hat.
4 Natürliche Gotteserkenntnis Diese Fähigkeit zur Gotteserkenntnis gehört mit zu unserer kognitiven Urausstattung, der epistemischen Grundausrüstung, mit der wir durch Gottes Schöpfung versehen sind. Hier besteht ein gewisser Kontrast zu einem der Themen des 8. Kapitels, nämlich dem inneren Ansporn des Heiligen Geistes. Dieser Ansporn ist, wie wir dort sehen werden, ein Bestandteil der göttlichen Antwort auf die Sünde und die prekäre Situation des Menschen – eine Notlage, in der wir Menschen der Heilung, der Wiederherstellung und der Rettung bedürfen. Der christlichen Grundlehre zufolge besteht die zentrale Antwort Gottes in der Fleischwerdung und dem Sühneopfer: in dem Leben, dem Opfertod und der Auferstehung Jesu Christi, des göttlichen Sohns Gottes. Kraft dieser göttlichen Antwort können wir Menschen mit Gott versöhnt werden und frohlockend im Diesseits wie im Jenseits an seiner Seite leben. Ein weiterer Teil der Antwort Gottes besteht jedoch in der Schrift und dem Zeugnis des Heiligen Geistes. In der Schrift spricht Gott zu uns und unterrichtet uns über seine Antwort auf unseren sündigen Zustand sowie über die Art und Weise, in der wir uns diese Antwort zu eigen machen sollen. Mit Hilfe des inneren Ansporns von seiten des Heiligen Geistes erkennen wir, dass die Lehren der Schrift wahr sind. Dieses Wirken des Heiligen Geistes ist daher ein kognitives Werkzeug oder Handlungsvermögen ganz besonderer Art. Freilich ist es ein Überzeugungen hervorrufender Vorgang, aber es ist ein ganz außergewöhnlicher Vorgang. Er gehört nicht zu unserer ursprünglichen noetischen Ausstattung (also nicht zu unserer Konstitution in der vom Schöpfer vorgesehenen Form), sondern zu einer speziellen göttlichen Antwort auf unseren (unnatürlichen) sündigen Zustand. An späterer Stelle werden wir uns diese Gedanken genauer vornehmen. Hier kommt es darauf an, den Kontrast zu erkennen, der zwischen der Tätigkeit des Heiligen Geistes in unserem kognitiven Leben einerseits und dem sensus divinitatis andererseits besteht. Jene Tätigkeit gehört mit zu einer speziellen Reaktion auf die sündige Lage, in die sich die Menschheit selbst manövriert hat, während der sensus divinitatis ein Bestandteil unserer epistemischen Grundausstattung ist. Jene ist eine spezielle göttliche Reaktion auf die Sünde und wäre, wenn es keine Sünde gegeben hätte, wahrscheinlich gar nicht zum Einsatz gekommen. Dieser hingegen wäre zweifellos auch dann, wenn es keinen menschlichen Sündenfall gegeben hätte, Teil unserer epistemischen Ausstattung gewesen.
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5 Erkenntnis durch Wahrnehmung oder durch Erfahrung? Nehmen wir einmal an, so etwas wie das A/C-Modell treffe tatsächlich zu: Gotteserkenntnis gelangt normalerweise nicht durch Schlüsse aus anderen Überzeugungen zu uns, sondern in der eben gekennzeichneten Form durch einen sensus divinitatis. Würde daraus folgen, dass unsere Gotteserkenntnis auf dem Weg der Wahrnehmung daherkommt? Das heißt: Würde daraus folgen, dass die Gewähr, die dem theistischen Glauben zukommt, durch Wahrnehmung geleistet wird? Nicht unbedingt. Das wiederum liegt nicht daran, dass es irgendwelche echten Zweifel an der Möglichkeit oder auch an der Wirklichkeit der Gotteswahrnehmung gäbe. Nach meiner Überzeugung hat William Alston gezeigt, dass es, sofern es eine Person wie Gott überhaupt gibt, gewiss auch Gotteswahrnehmung geben kann und tatsächlich gibt. Aus Alstons eindringlicher Erörterung geht hervor, dass nur wenig für die üblichen Einwände gegen die Gotteswahrnehmung spricht (keine unabhängige Kontrollinstanz, Meinungsverschiedenheiten über die Beschaffenheit Gottes, Unterschiede gegenüber der Sinneswahrnehmung, scheinbare Relativität zu den theologischen Ansichten des Subjekts der angeblichen Wahrnehmung usw.).¹⁷ Natürlich ist nicht völlig klar, was Wahrnehmung eigentlich ist. (Was diese Frage betrifft, gibt es diesbezüglich genauso viele Meinungsverschiedenheiten wie über jedes andere philosophische Thema.) Es ist denkbar, dass der Begriff der Wahrnehmung strenggenommen und wesentlich voraussetzt, dass dabei spezifisch sinnliche Vorstellungsbilder vorkommen. Diese Vorstellungen brauchen nicht von der gleichen Art zu sein wie bei unserer Sinneswahrnehmung, sondern bestimmt sind auch andere Formen möglich. (Vielleicht gehen auch mit der Echoortung der Fledermaus bestimmte sinnliche Vorstellungen einher, die uns jedoch völlig fremd sind.) Es kann aber sein, dass irgendeine Art von sinnlichen Vorstellungen eine notwendige Bedingung der Wahrnehmung ist, und darüber hinaus ist vielleicht auch erforderlich, dass diese Vorstellungen bei der Entstehung der für die Rolle der Wahrnehmungsüberzeugung in Frage kommenden Kandidaten eine spezifische (und schwer zu spezifizierende) kausale Rolle spielen. Was Alston unter mutmaßlicher Gotteswahrnehmung versteht, scheint jedoch häufig keine sinnlichen Vorstellungen zu beinhalten.¹⁸ Wenn dem so ist, hätten wir es strenggenommen gar nicht mit einer Wahrnehmung Gottes zu tun. In diesem
Alston, Perceiving God: The Epistemology of Religious Experience (im folgenden = PG), Ithaca: Cornell University Press 1991, Kapitel 1, 2, 5 u. 6. »Die mystische Wahrnehmung geht zwar vielleicht (aber vielleicht auch nicht) mit sinnlichem Inhalt einher, doch hier konzentriere ich mich auf die nichtsinnliche Spielart, da sie nach meinem Urteil eher beanspruchen kann, echte und unmittelbare Gotteswahrnehmung zu sein« (PG, S. 36).
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Fall würde Alstons Erörterung zeigen, dass es (die Existenz Gottes vorausgesetzt) so etwas wie die Wahrnehmung Gottes gewiss geben kann und wahrscheinlich tatsächlich gibt (nämlich etwas, was in epistemischer Hinsicht der Wahrnehmung weitgehend ähnelt, da es – ebenso wie diese – eine Quelle der Gewährleistung sein kann). Dieses Etwas kann daher zu Recht in einem per analogiam erweiterten Sinn des Wortes als »Wahrnehmung« bezeichnet werden. Für den Gläubigen ist die Präsenz Gottes in vielen Fällen offenkundig. Überraschend viele Menschen berichten, dass sie die Präsenz Gottes bei dieser oder jener Gelegenheit gespürt haben oder dass es ihnen zumindest so vorgekommen ist, als spürten sie die Anwesenheit Gottes (wobei dieses »Spüren« ebenfalls nicht durch sinnliche Vorstellungen zustande zu kommen scheint). Viele andere Menschen – bei denen es sich keineswegs meistens um spirituelle Helden, ja nicht einmal unbedingt um ernsthaft gläubige Personen zu handeln braucht – berichten, dass sie gehört haben, wie Gott zu ihnen sprach. Und zwischen diesen Fällen, in denen es angemessen oder beinahe angemessen zu sein scheint, von einer Wahrnehmung Gottes zu sprechen (seine Anwesenheit wird gespürt, seine Stimme vielleicht gehört), gibt es wiederum erhebliche Unterschiede. Da gibt es die erschütternden, überwältigenden Erlebnisse, wie sie Paulus (damals noch »Saulus«) auf der Straße nach Damaskus hatte und wie sie von Mystikern und anderen Meistern des inneren Lebens geschildert worden sind. In diesen Fällen können lebhafte sinnliche Vorstellungen verschiedener Arten eine Rolle spielen. Allerdings gibt es auch eine Form des Gottesbewusstseins, bei dem man offenbar zu Recht sagen darf, man spüre zwar seine Anwesenheit, ohne dass es jedoch viele oder überhaupt irgendwelche sinnlichen Vorstellungen gäbe, wie sie sonst typischerweise mit der Wahrnehmung einhergehen. Dieser Fall ähnelt eher einem nichtsinnlichen Eindruck einer unheimlichen Präsenz. Offenbar gibt es alle möglichen Beispiele, die zwischen diesen beiden Extrempunkten liegen. Aus meiner Sicht besteht kein Zweifel daran, dass Gotteswahrnehmung oder etwas sehr Ähnliches tatsächlich vorkommt, und zwar gar nicht selten. Aber bedeutet das, dass die mit Hilfe des sensus divinitatis erworbenen Überzeugungen des A/C-Modells Wahrnehmungsüberzeugungen sind? Das heißt, würde die durch den sensus divinitatis ermöglichte Gotteserkenntnis (im A/C-Modell) auf dem Weg der Wahrnehmung gewonnen werden? Ich bin dazu geneigt, diese Frage mit nein zu beantworten. Es gibt verschiedene Darstellungen des Wesens der Wahrnehmung, und hier ist die Analyse Alstons sicher nicht weniger brauchbar als andere. Er schreibt: Nach meiner Auffassung ist es ein Definitionsmerkmal des Wahrnehmungsbewusstseins, dass sich etwas – das zumindest dem Subjekt ein Etwas zu sein scheint – seinem Bewusstsein als dies oder jenes (etwa als rot, rund, liebevoll oder sonst etwas) präsentiert. Wenn ich mit
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geschlossenen Augen vor meinem Schreibtisch stehe und die Augen sodann öffne, ist der frappierendste Unterschied in meinem Bewusstsein der, dass Dinge, an die ich bis dahin (sofern sie mir überhaupt in irgendeiner Form bewusst waren) bloß gedacht oder mich erinnert hatte, mir jetzt präsent sind. (PG, S. 36)
Natürlich ist es nicht in allen Arten von Fällen ohne weiteres möglich anzugeben, wann sich das Objekt dem Subjekt zu präsentieren scheint. Wir wollen jedoch annehmen, dass wir diesen Begriff einigermaßen verstehen und innerhalb vernünftiger Grenzen angeben können, wann er zutrifft. Dann dürfte klar sein, dass man bei einigen der Erlebnisse, die dem Modell zufolge durch den sensus divinitatis herbeigeführt werden, das Gefühl hat, Gott werde dem Bewusstsein wirklich präsentiert – er sei dem Bewusstsein wirklich präsent –, während es sich bei anderen Erlebnissen nicht so verhält. In einigen der von Calvin angesprochenen Fälle (Nachthimmel, Gebirge, Meer) ist es manchmal so, als spürte man die Anwesenheit Gottes, so als nähme man sie wahr. Das wäre, um mit Alston (S. 21) zu sprechen, eine »indirekte« Wahrnehmung Gottes, nämlich Wahrnehmung Gottes, die durch die Wahrnehmung von etwas anderem (Nachthimmel, Gebirge) vermittelt ist. In anderen Fällen dieser Art hingegen scheint Gott nicht eigentlich präsent zu sein oder präsentiert zu werden, obwohl sich diverse Überzeugungen einstellen, die ihn betreffen (beispielsweise: dass er mächtig und ruhmreich ist, dass wir ihn anbeten, ihm gehorchen und ihm danken müssen). Im Falle einiger anderer Bekundungen des sensus divinitatis dagegen – etwa in Situationen, in denen man sich schuldig, gefährdet oder dankbar fühlt – scheint das Gefühl der wirklichen Präsenz Gottes (im Sinne Alstons) seltener vorzukommen. Also geht das Wirken des sensus divinitatis dem Modell zufolge nicht unbedingt mit der Wahrnehmung Gottes einher. Können wir, auch wenn diese Gotteserkenntnis keine Erkenntnis durch Wahrnehmung ist, immerhin sagen, es sei Erkenntnis durch religiöse Erfahrung? Können wir also sagen, dass die Gewähr, die dieser Erkenntnis zukommt, aus der Erfahrung stammt? Als erstes muss man einsehen, dass dieser Ausdruck »religiöse Erfahrung« auf tausend verschiedene Weisen interpretiert wird, um eine enorme und verwirrende Vielfalt von Fällen abzudecken. In der gegebenen Formulierung ist die Frage in vielen Hinsichten mehrdeutig, und im Grunde wäre es wahrscheinlich ratsam, den Ausdruck überhaupt zu boykottieren.¹⁹ Dennoch können wir vielleicht zumindest folgendes sagen: Das Wirken des sensus divinitatis wird stets mit irgendwelchen Erlebnissen einhergehen, auch wenn sinnliche Vorstellungen nicht immer vorkommen. Manchmal sind sinnliche Vorstellungen tatsächlich vorhanden, mitunter so etwas wie ein Gefühl der Präsenz Gottes, das Das entspräche dem Vorschlag Alstons (PG, S. 34).
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offenbar nicht mit sinnlichen Vorstellungen einhergeht, vielleicht aber mit etwas Ähnlichem (das selbstverständlich schwer zu beschreiben ist), und häufig gibt es Erlebnisse, wie sie unsere Gefühle der Furcht, der Dankbarkeit, des Entzückens, der Dummheit, des Zorns, der Freude usw. begleiten. Ein gemeinsamer Bestandteil ist eine Art von Ehrfurcht, ein Gefühl des Numinosen,²⁰ ein Gefühl der Anwesenheit eines Wesens von überwältigender Majestät und Größe. Keines dieser Erlebnisse wird unbedingt mit dem Wirken des sensus divinitatis zusammenhängen, obschon sein Wirken vielleicht nie ohne ein damit einhergehendes Erlebnis der einen oder anderen genannten Art erfolgt. Aber es gibt noch ein weiteres Erlebnis, das stets vorhanden ist, wenn der sensus divinitatis zum Einsatz kommt. Denken wir an die im vorletzten Kapitel getroffene Unterscheidung zwischen sinnlicher Vorstellung und der »doxastischen Erfahrung«, also einer Erfahrung, die gegeben ist,wenn man eine Aussage denkt, die man für richtig hält. Denkt man beispielsweise die Aussage, dass 3 + 2 = 5, oder die Aussage, dass der Mount Everest höher ist als der Mont Blanc, hat man ein anderes Gefühl als dann, wenn einem ein Gedanke vorschwebt, der offensichtlich falsch ist, wie z. B. »3 + 2 = 6« oder »Mont Blanc ist höher als Mount Everest«. Die ersten beiden fühlen sich natürlich, richtig, akzeptabel an; das zweite Paar dagegen nicht einwandfrei, verkehrt, anstößig.²¹ Diese doxastische Erfahrung ist, wie gesagt, mit dem Wirken des sensus divinitatis immer verbunden, denn sie geht mit der Bildung und Stützung jeder Überzeugung einher. Alle diese Spielarten der Erfahrung kommen vor, wenn der sensus divinitatis in Funktion ist. Die doxastische Erfahrung begleitet alle Überzeugungen, die durch das Wirken des sensus divinitatis erzeugt werden, so wie sie auch mit jeder anderen Überzeugung einhergeht. Kommen wir also auf unsere Frage zurück: Sollen wir deshalb sagen, die durch den sensus divinitatis gewonnene Erkenntnis sei durch religiöse Erfahrung zustande gekommen, sei also Erfahrungswissen? Sollen wir sagen, dass die Gewähr, die dieser Erkenntnis zukommt, (dem Modell zufolge) aus der Erfahrung stammt? Ich habe nicht vor, diese Frage zu beantworten. Eine Antwort würde voraussetzen, dass man sich der mühevollen und im Grunde irrelevanten Aufgabe stellt, zunächst eine andere Frage zu beantworten: »Was bedeutet es, wenn man sagt, die Gewähr für eine Überzeugung stamme aus der – religiösen oder einer sonstigen – Erfahrung (bzw. komme auf dem Weg dieser Erfahrung zustande)?« Das ist eine interessante und schwierige Frage. (Doxastische Erfahrungen begleiten die Bildung aller apriorischen Überzeugungen, und Siehe Rudolf Otto, Das Heilige: Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau: Trewendt & Granier 1917, 4. Aufl. 1920, Nachdr. München: Beck 2004. Zum Thema »doxastische Belege« siehe WPF, S. 190 ff.
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Stücke von sinnlichen Vorstellungsbildern gehen im Regelfall mit ihnen einher; heißt das, dass die Gewähr für eine apriorische Überzeugung deshalb aus der Erfahrung stammt?) Doch was unsere Belange betrifft, benötigen wir keine Antwort auf diese Frage. Wir können uns mit einer Erklärung zufriedengeben, aus der hervorgeht, wie der sensus divinitatis (dem Modell zufolge) tatsächlich funktioniert. Liegt diese Erklärung vor, ist die Antwort auf die Frage, ob dabei wirklich die Erfahrung zum Einsatz komme, unwichtig und bleibt jedem selbst überlassen.
6 Sünde und natürliche Gotteserkenntnis Dem A/C-Modell zufolge ist diese natürliche Gotteserkenntnis durch die Sünde und deren Konsequenzen beschädigt, geschwächt, reduziert, unterdrückt, überlagert oder behindert worden. Im nächsten Kapitel werden wir die noetischen Auswirkungen der Sünde in detaillierterer Form erkunden, und im 8. Kapitel werden wir sehen, dass der sensus divinitatis (dem Modell zufolge) durch Regeneration und das Wirken des Heiligen Geistes wiederhergestellt wird, so dass er richtig funktionieren kann. Fürs erste wollen wir nur festhalten, dass die durch den sensus divinitatis ermöglichte Gotteserkenntnis in ihrer Reichweite eingeschränkt und zum Teil verdrängt wird, ehe der Glaube und die Regeneration zum Tragen kommen. Aus dieser oder jener Ursache kann das Vermögen selbst erkranken und daher teilweise oder gänzlich funktionsunfähig werden. So etwas wie kognitive Krankheiten gibt es wirklich; es gibt Blindheit, Taubheit, Unfähigkeit zur Unterscheidung zwischen Gut und Böse, Wahnsinn; und außerdem gibt es Analoga dieser Zustände, die die Funktion des sensus divinitatis beeinträchtigen. Nach Marx und den Marxisten ist es freilich der Glaube an Gott, der aus einer kognitiven Krankheit, einer Dysfunktion resultiert. Der Gläubige ist, wie Marx meint, im eigentlichen Wortsinn krank. Um es weniger krass und versöhnlicher auszudrücken: Der Gläubige ist, aus einer solchen Perspektive gesehen, irrational; die rationalen Vermögen arbeiten nicht so, wie sie arbeiten sollten. Doch an diesem Punkt stellt das A/C-Modell Freud und Marx auf den Kopf. (Genauer gesagt, hier wird ein Teil der zahlreichen Anleihen, die F&M bei christlichen und jüdischen Denkweisen gemacht haben, sichtbar.) Dem Modell zufolge ist es in Wirklichkeit der Ungläubige, der epistemische Fehlfunktionen an den Tag legt. Dass er nicht an Gott glaubt, sei ein Ergebnis einer Form von Dysfunktion des sensus divinitatis. Hier sollten wir anmerken, dass sich der Begriff der Gewährleistung in nützlicher Weise verallgemeinern lässt. Bisher haben wir die Gewähr als eine Eigenschaft oder ein Kennzeichen von Überzeugungen aufgefasst. Der Grundgedanke ist der, dass einer Überzeugung Gewähr zukommt, wenn sie in einer günstigen epistemischen Umgebung von funktionstüchtigen kognitiven Vermögen gemäß einem erfolgreich auf die Wahrheit abzielenden Bauplan gebildet wird,was
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wiederum – wie wir erwähnen sollten – die Vermeidung von Irrtümern einschließt. Doch Meinungsenthaltungen – Glaubensunterlassungen – können ebenfalls von einem Bauplan vorgeschrieben werden, der erfolgreich auf Wahrheit und Irrtumsvermeidung abzielt. Mir liegen beispielsweise widersprüchliche Belege bezüglich der Aussage vor, in anderen Teilen des Universums gebe es intelligentes Leben. Einige Leute, denen ich vertraue, sagen ja, andere sagen nein, und wieder andere sagen, weder für die eine noch für die andere Meinung gebe es genügend Belegmaterial. Dementsprechend enthalte ich mich des Urteils und glaube weder, dass es in anderen Teilen des Universums Leben gibt, noch dass es keines gibt. Meine Freunde mit der wackligen Ehe erzählen mir widersprüchliche Geschichten über ihren letzten Streit. Aus Erfahrungen, die ich in ähnlichen Situationen gemacht habe, habe ich gelernt, keiner der beiden Geschichten Glauben zu schenken, sofern sie nicht durch weitere Informationen bestätigt werden. Mein kleiner Sohn fragt mich, wie hoch der höchste Berg in der Antarktis ist. Ich habe zwar den vagen Eindruck, gehört zu haben, dass er fast 5000 Meter hoch ist, aber im Grunde habe ich keine Ahnung und enthalte mich daher jeder Meinung zu diesem Thema. In allen diesen Fällen entspricht Urteilsenthaltung den Vorschriften des Bauplans. Daher legt die Meinungsenthaltung ein ähnliches Merkmal an den Tag wie die Gewährleistung: Auch sie kann unter bestimmten Umständen einer Vorschrift entsprechen, die aus dem richtigen Funktionieren der in einer günstigen epistemischen Umgebung gemäß einem erfolgreich auf Wahrheit und Irrtumsvermeidung abzielenden Bauplan arbeitenden kognitiven Fähigkeiten resultiert. Stellen wir uns jedoch vor, ich erhalte einen Anruf und werde gefragt, was ich gerade tue. Wenn ich es nun unterlasse, die Überzeugung zu bilden, dass ich am Computer sitze und an meinem Buch zu arbeiten versuche, stimmt etwas nicht an meinem noetischen Gefüge. Oder nehmen wir an, ich gehe auf eine Party und werde dort jemandem vorgestellt. Ohne einen erfindlichen Grund enthalte ich mich des Glaubens, dass mein Gegenüber eine Person ist. Mein einziges Motiv ist die grob gesprochen logische Möglichkeit, das, was ich sehe, sei in Wirklichkeit ein überaus trickreiches Hologramm mit eingebauten Geräuscheffekten. Nun lese ich Bertrand Russell und sehe ein, dass es (im grob gesprochen logischen Sinn) möglich und mit allen Erscheinungen vereinbar ist, dass die Welt mit allen scheinbaren Erinnerungen, zerbröckelnden Bergen und staubigen Büchern erst vor fünf Minuten entstanden ist. Infolgedessen enthalte ich mich der Überzeugung, ich sei älter als fünf Minuten. In diesen Fällen ist meine Glaubensenthaltung kein Zeichen mustergültiger epistemischer Vorsicht, sondern ein Zeichen kognitiver Fehlfunktion. Diesen Überzeugungsenthaltungen fehlt das Analogon der Gewähr. Natürlich könnte ich mich in einem auf philosophische Irrtümer zurückgehenden Wahn zu der Schlussfolgerung durchringen, irgendwie sollte ich
I Das Thomas-von-Aquin/Calvin-Modell
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nicht an die Existenz anderer Personen glauben. Vielleicht gelange ich zu dem Schluss, eine solche Überzeugung sei irgendwie ungerechtfertigt, und womöglich bemühe ich mich, nicht an die Existenz anderer Personen zu glauben. Es könnte sogar sein, dass es mir für kurze Zeit in meinem Arbeitszimmer gelingt. Aber es ist überaus schwer, diese Einstellung durchzuhalten, wie die berühmte Postkarte jener Dame belegt, die sich mit in etwa folgenden Worten an Bertrand Russell wandte: »Ich bin völlig Ihrer Meinung: Der Solipsismus ist der einzig richtige und vernünftigste Standpunkt. Aber wieso gibt es nicht mehr von uns Solipsisten?« Wie Hume bekanntlich feststellt, fällt es äußerst schwer, diese Einstellung langfristig bzw. außerhalb des Arbeitszimmers durchzuhalten. Es ist nämlich so: Wer konsequent glaubt, die einzige Person im Universum zu sein, leidet an einer schlimmen Geisteskrankheit, und das gleiche gilt auch für denjenigen, der sich im Hinblick auf die Existenz anderer Personen nur agnostisch verhält. Der gleiche Gedanke ließe sich auch ausdrücken, indem man sagt: einige Meinungsenthaltungen sind rational, andere dagegen irrational. In einer wichtigen Bedeutung des Wortes »rational«²² bedeutet es, dass eine Überzeugung dann rational ist, wenn sie von gut funktionierenden kognitiven Vermögen hervorgebracht wird. Das gleiche ließe sich aber auch mit Bezug auf Meinungsenthaltungen sagen: Einerseits können sie – wie in den ersten drei Beispielen – von gut funktionierenden kognitiven Fähigkeiten erzeugt werden, andererseits jedoch kann es vorkommen, dass sie – wie in den folgenden drei Beispielen – von nicht richtig funktionierenden kognitiven Vermögen hervorgebracht werden. Unserem Modell zufolge kann das gleiche auch im Hinblick auf den Glauben an Gott passieren. Wenn der Glaube ausbleibt, kann das an einer Art Blindheit oder Taubheit liegen, an einer Fehlfunktion des sensus divinitatis. Dem genannten Modell zufolge ist dieses Ausbleiben des Glaubens irrational, und solchen Glaubensenthaltungen fehlt das Analogon der Gewähr. Daraus folgt allerdings nicht, dass der Unglaube ungerechtfertigt ist. Geht er nur auf eine kognitive Fehlfunktion zurück, liegt kein epistemisches Pflichtversäumnis vor. Aber irrational ist der Unglaube dennoch. Im Gegensatz zu einem gewissen Ethos, das sich durch den klassischen Fundierungsgedanken eingebürgert hat, ist es keineswegs so, dass Rationalität dadurch unter Beweis gestellt wird, dass man möglichst wenig glaubt. Meinungsenthaltung – das Nichtglauben, der Agnostizismus – ist vom Standpunkt der Rationalität gesehen nicht immer der sicherste und beste Weg. In manchen Zusammenhängen ist es vielmehr ein Zeichen gravierender Irrationalität.
Siehe oben, S. 130.
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Dem gegenwärtigen Modell zufolge ist der sensus divinitatis durch die Sünde beschädigt und verdorben worden. Ferner gilt nach dem erweiterten Modell, das ich im 8. Kapitel vorstellen möchte, dass der sensus divinitatis durch den Glauben und das damit einhergehende Wirken des Heiligen Geistes im Herzen zum Teil geheilt und wiederhergestellt wird, so dass er wieder richtig arbeitet. In seiner bisher skizzierten Form ist das Modell also unvollständig. Der Rest folgt in den Kapiteln 8 und 9. Aber auch in seiner unvollständigen Form genügt das Modell für das, was wir jetzt vorhaben. Denn es zeigt uns in hinreichend detaillierter Weise, wie ein richtig funktionierender sensus divinitatis einen theistischen Glauben hervorbringen kann, der (1) basal aufgefasst wird und dann, wenn er (2) so aufgefasst wird, tatsächlich Gewähr haben kann, und zwar in einem Maße, das für Erkenntnis ausreichend ist.
II Ist der Glaube an Gott Gewähr-basal? A Wenn er falsch ist, wahrscheinlich nicht Wie wir gesehen haben, nennt Freud eigentlich keine Gründe für die These, der Theismus habe, sofern er basal aufgefasst wird, keine Gewähr. Er scheint einfach davon auszugehen, dass ein solcher Glaube falsch ist, und zieht dann in ziemlich flotter und beiläufiger Form den Schluss, dieser Glaube werde durch Wunscherfüllung hervorgerufen und habe folglich keine Gewähr. Hier verfährt Freud vielleicht (trotz des Anscheins mangelnder Sorgfalt) instinktiv richtig. Denn wie ich darlegen werde, hat der theistische Glaube, sofern er falsch ist, aber basal aufgefasst wird,²³ wahrscheinlich keine Gewähr. Erstens, wie wir bereits gesehen haben, hat keine falsche Überzeugung genug Gewähr, um Wissen zu sein. Also gilt: Ist der theistische Glaube falsch, kommt ihm auch nicht dieses Maß an Gewähr zu. Könnte ihm aber nicht immerhin ein gewisses Maß an Gewähr zukommen? Hier gibt es mindestens zwei Gründe dafür, diese Möglichkeit auszuschließen. Fragen wir uns erstens: Wann hat eine falsche Überzeugung Gewähr? Typischerweise in einem Fall, in dem das die Überzeugung erzeugende Vermögen bis zum äußersten strapaziert wird. Um Beispiele zu nennen: Auf einem weit entfernten Felsvorsprung sehe ich eine Bergziege und glaube fälschlicherweise zu sehen, dass sie Hörner hat. In Wirklichkeit ist die Ziege schlicht zu weit entfernt, Dem wollen wir hinzufügen: sofern er nicht auf fremdem Zeugnis beruht. Denn solche Fremdaussagen sind, ebenso wie Schlüsse, keine ultimative Quelle der Gewähr. Ein auf einer Zeugenaussage beruhender Glaube hat nur dann für eine andere Person Gewähr, wenn dieser Glaube für den Zeugen Gewähr hat. Siehe WPF, S. 83.
II Ist der Glaube an Gott Gewähr-basal?
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als dass man deutlich erkennen könnte, dass sie keine Hörner hat. Oder ich bin Teilchenphysiker und glaube fälschlich, ein bestimmtes subatomares Modell komme der Wahrheit nahe. Da ich an der äußersten Grenze des kognitiven Bereichs arbeite, für den unsere Vermögen bestimmt sind, ist meine Überzeugung zwar falsch, aber nicht ohne Gewähr. Falls eine Person wie Gott nicht existiert, gibt es natürlich auch keinen sensus divinitatis. Doch welches auf Wahrheit abzielende Vermögen wäre derart, dass es bis zum äußersten strapaziert wird, wenn es die Überzeugung hervorbringt, es gebe tatsächlich eine Person wie Gott, obschon diese Überzeugung falsch ist? Es fällt äußerst schwer, sich eine glaubwürdige Möglichkeit einfallen zu lassen. Wenn meine Vermögen gut funktionieren und nicht von Ruhmsucht, Ehrgeiz, Lust und dergleichen mehr behindert werden, werde ich, sofern diese Vermögen aufs äußerste strapaziert werden, normalerweise nicht besonders fest von der fraglichen Aussage überzeugt sein: Der Grad meiner Überzeugtheit wird nicht einmal annähernd an den Grad herankommen, den theistische Überzeugungen oft an den Tag legen. Ich werde beispielsweise nicht sicher sein, dass ich eine Ziege mit Hörnern sehe. Vielmehr werde ich mir sagen: »Naja, es sieht so aus, als ob sie Hörner hätte, aber sie ist zu weit entfernt, um sicher zu sein.« Ebensowenig werde ich darauf pochen, dass mein physikalisches Modell zutrifft. Falls ich davon überzeugt bin, dann hat diese Überzeugung etwas Provisorisches. Diese Erwägungen legen den folgenden Gedanken nahe: Sofern der Theismus falsch ist, wird er nicht von kognitiven Prozessen erzeugt, die erfolgreich auf die Wahrheit abzielen; also hat er keine Gewähr. Daneben gibt es eine zweite und wichtigere Überlegung, der wir uns auf indirektem Weg wie folgt nähern können: Eine Überzeugung hat nur dann Gewähr, wenn der kognitive Prozess, der sie hervorbringt, erfolgreich auf die Wahrheit abzielt, also nur dann, wenn es in hohem Maße objektiv wahrscheinlich ist, dass eine durch diesen Prozess hervorgebrachte Überzeugung wahr ist (sofern der Prozess in der epistemischen Umgebung, für die er bestimmt ist, richtig funktioniert). Daraus, dass eine Überzeugung falsch ist, folgt nicht, dass sie nicht durch einen Prozess oder durch ein Vermögen hervorgebracht wird, das erfolgreich auf Wahrheit abzielt. Es könnte sein, dass ein Prozess bei einer bestimmten Gelegenheit eine falsche Überzeugung hervorbringt, obwohl es in hohem Maß objektiv wahrscheinlich ist, dass jede auf diesem Weg hervorgebrachte Überzeugung wahr ist (sofern die übrigen Bedingungen der Gewähr erfüllt sind). So kann es beispielsweise sein, dass ein zuverlässiges Barometer aufgrund eines ungewöhnlichen und unwahrscheinlichen Zusammentreffens von Umständen einen falschen Wert anzeigt. Physiker werden sagen, es sei möglich (wenn auch extrem unwahrscheinlich), dass alle Luftmoleküle im Zimmer für einen Augenblick in der oberen nordwestlichen Ecke des Zimmers zusammenkommen. Nehmen wir an, genau dieser Fall trete ein. Dann wird der Luftdruck in der unteren
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südöstlichen Ecke des Zimmers null betragen. Das Barometer zeigt jedoch nach wie vor 29,72 an, denn es ist noch nicht genug Zeit verstrichen, um auf die Veränderung zu reagieren. Dass das Barometer unter diesen Umständen einen falschen Wert anzeigt, bedeutet nicht, dass es kein zuverlässiges Instrument ist. Ähnlich verhält es sich im Falle eines kognitiven Prozesses: Es wäre möglich, dass die Wahrscheinlichkeit der Hervorbringung einer wahren Überzeugung hoch ist, obwohl dieser Prozess bei einer bestimmten Gelegenheit zu einer falschen Überzeugung führt (und zwar obschon die übrigen Bedingungen der Gewähr erfüllt sind). Könnte es nicht sein, dass für die Prozesse, die den Glauben an Gott hervorbringen, etwas Ähnliches gilt? Könnte es nicht sein, dass der Glaube an Gott durch erfolgreich auf die Wahrheit abzielende Prozesse hervorgebracht wird, obwohl dieser Glaube de facto falsch ist? Nein, vermutlich nicht. Eine Aussage ist mit Bezug auf eine Bedingung B nur dann objektiv wahrscheinlich, wenn diese Aussage in den meisten benachbarten möglichen Welten, in denen B vorkommt, wahr ist.²⁴ Doch nun wollen wir den Prozess betrachten, der den theistischen Glauben hervorbringt: Zielt er erfolgreich auf die Wahrheit ab, bringt er in den meisten benachbarten Welten eine wahre Überzeugung hervor. Angenommen, dass er in den benachbarten möglichen Welten die gleiche Überzeugung hervorbringt wie in der wirklichen (nämlich den Glauben an Gott), so folgt daraus, dass diese Überzeugung in den meisten benachbarten möglichen Welten tatsächlich wahr ist. Das heißt: In den meisten benachbarten möglichen Welten gibt es eine Person wie Gott. Das kann jedoch nicht sein, wenn es sich in Wirklichkeit so verhält, dass es eine Person wie Gott gar nicht gibt. Denn wenn es faktisch (in der wirklichen Welt) keine Person wie Gott gibt, dann wäre eine Welt, in der es eine solche Person – einen allwissenden, allmächtigen, allgütigen Schöpfer der Welt – gibt, enorm, ja unvorstellbar verschieden von der wirklichen Welt und ihr in keiner Hinsicht ähnlich. Also gilt: Falls es eine Person wie Gott nicht gibt, ist es wahrscheinlich nicht der Fall, dass der den theistischen Glauben hervorrufende Prozess in den meisten benachbarten möglichen Welten einen wahren Glauben erzeugt. Daher ist es unwahrscheinlich, dass der Glaube an Gott durch einen Prozess erzeugt wird, der in einer günstigen epistemischen Umgebung gemäß einem erfolgreich auf die Hervorbringung wahrer Überzeugungen abzielenden Bauplan gut funktioniert. Ist der theistische Glaube falsch, hat er demnach wahrscheinlich keine Gewähr. Freud hat recht: Ist der theistische Glaube falsch, ist es zumindest sehr wahrscheinlich, dass er kaum oder gar keine Gewähr hat.
Zum Zusammenhang zwischen möglichen Welten und objektiver Wahrscheinlichkeit siehe WPF, S. 162.
II Ist der Glaube an Gott Gewähr-basal?
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B Wenn er wahr ist, wahrscheinlich ja Ist der Theismus jedoch wahr, dann ist es offenbar wahrscheinlich, dass er tatsächlich Gewähr hat. Ist er wahr, dann gibt es wirklich eine Person wie Gott, also eine Person, die uns nach ihrem Bild geschaffen hat (so dass wir ihr unter anderem insofern ähneln, als wir die Fähigkeit zur Erkenntnis besitzen), die uns liebt, die wünscht, dass wir sie erkennen und lieben, und die so beschaffen ist, dass unser Zweck und unser Heil darin liegen, diese Person zu erkennen und zu lieben. Doch wenn es sich so verhält, würde Gott natürlich wollen, dass wir uns seiner Anwesenheit bewusst sind und etwas über ihn wissen können. Ist das richtig, ist es naheliegend zu glauben, er habe uns so geschaffen, dass wir dahingelangen, wahre Überzeugungen zu vertreten wie die: dass es eine Person wie Gott gibt, dass er uns geschaffen hat, dass wir ihm Gehorsam und Verehrung schulden, dass er der Verehrung würdig ist, dass er uns liebt usw. Und wenn das zutrifft, ist es naheliegend zu glauben, dass die kognitiven Prozesse, die den Glauben an Gott tatsächlich hervorbringen, von ihrem Planer mit dem Ziel entworfen wurden, ebendiesen Glauben zu erzeugen. Doch dann wird der betreffende Glaube von kognitiven Fähigkeiten hervorgerufen, die gemäß einem erfolgreich auf die Wahrheit abzielenden Bauplan richtig funktionieren. Deshalb wird dieser Glaube auch Gewähr haben. Allerdings ist dieser Gedanke ebenfalls nicht völlig gewiss, denn es handelt sich nicht um eine deduktiv gültige Argumentation. Abstrakt gesehen, ist es vermutlich möglich, dass Gott uns mit einem bestimmten Vermögen v ausgestattet hat, mit dessen Hilfe wir ihn erkennen sollen. Aus dem einen oder anderen Grund funktioniert v jedoch nie, während ein anderes Vermögen v′, das zum Zwecke der Erzeugung anderer Überzeugungen geschaffen wurde, seinerseits häufig in der Weise fehlfunktioniert, dass es für den Glauben an Gott verantwortlich ist. In diesem Falle hätte unser Glaube an Gott, obwohl er wahr ist, keine Gewähr. (Das wäre so etwas wie eine komplexe und sonderbare theologische Variante des Gettier-Problems.) Verstärkt wird der abstrakte Charakter dieser Möglichkeit vielleicht noch, wenn man bedenkt, dass die Menschen dem christlichen Glauben zufolge der Sünde verfallen sind, was wiederum sowohl noetische als auch andersartige Wirkungen nach sich zieht. Dennoch ist es (zumindest nach meinem Verständnis) wahrscheinlicher, dass der theistische Glaube wahr ist, falls der Theismus tatsächlich zutrifft. Schauen wir uns die Sache doch einmal genauer an. Wie könnte man sich auf die Vorstellung, dass der Theismus wahr ist, ohne dass der Glaube an Gott Gewähr hat, einen Reim machen? Wir müssten annehmen, (1) dass eine Person wie Gott existiert, die uns nach ihrem Bild geschaffen, und zwar so geschaffen hat, dass unser wichtigster Zweck und unser Heil darin liegen, dass wir ihn erkennen, und (2) dass der Glaube an Gott
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(d. h., unser Glaube an Gott, der menschliche Glaube an Gott) keine Gewähr hat: Er wird nicht durch kognitive Prozesse hervorgerufen, die – in einer günstigen epistemischen Umgebung richtig funktionierend – erfolgreich darauf abzielen, uns wahre Überzeugungen über Gott zu liefern. Das heißt, wir müssten meinen, dass der Glaube an Gott durch kognitive Prozesse hervorgebracht wird, die entweder (1) nicht richtig funktionieren (etwa wegen Krankheit oder Behinderung) und (2) nicht auf die Hervorbringung wahrer Überzeugungen über Gott abzielen oder (3) zwar darauf abzielen, aber nicht mit Erfolg, oder (4) in einer ungünstigen Umgebung stattfinden, also in einer Umgebung, für die unsere Vermögen bestimmt sind. Im Hinblick auf (4) ist jedoch zu bedenken, dass wir von der Voraussetzung ausgehen, Gott habe uns geschaffen. Da scheint es gar keinen Grund zu geben,weshalb man annehmen sollte, unsere epistemische Umgebung sei nicht die, für die uns Gott geschaffen hat. (So haben wir beispielsweise keinen Grund anzunehmen, unsere Vorfahren stammten von einem anderen Planeten und hätten eine lange, gefährliche Reise zur Erde hinter sich gebracht.) Im Hinblick auf (3) ist folgendes zu bedenken: Da der theistische Glaube laut Voraussetzung wahr ist, ist es offenbar so, dass der diesen Glauben erzeugende Prozess, sofern er überhaupt auf die Wahrheit abzielt, erfolgreich auf die Wahrheit abzielt. Jetzt sind noch (1) und (2) übrig. Vorausgesetzt, dass Gott wirklich will, dass wir ihn erkennen, stehen die Chancen dafür, dass er uns mit ebendies ermöglichenden Fähigkeiten ausstattet, ausgezeichnet. Also ist es naheliegend zu glauben, dass jene Vermögen, die den theistischen Glauben hervorbringen, tatsächlich dazu bestimmt sind, diesen Glauben zu erzeugen und dabei auch richtig funktionieren. Freilich ist es im grob gesprochen logischen Sinn möglich, dass die zur Hervorbringung des theistischen Glaubens bestimmten Vermögen aus dem einen oder anderen Grund nicht funktionieren, während andere Vermögen, die nicht auf die Hervorbringung theistischer Überzeugungen abzielen, nicht richtig funktionieren und den Glauben auf diese Weise erzeugen. Die gleiche abstrakte Möglichkeit ist vermutlich auch im Hinblick auf die Wahrnehmung gegeben: Die ursprünglich vorhandenen Vermögen zur Erkenntnis unserer Umwelt funktionieren nicht mehr richtig, während durch einen glücklichen Zufall andere Vermögen in solcher Weise falsch zu funktionieren begonnen haben, dass sie unsere Wahrnehmungsüberzeugungen hervorbringen. Das ist zwar möglich, aber nicht wahrscheinlich. Es ist eine abstrakte Möglichkeit, aber nicht viel mehr als das. Und nun wollen wir die unwahrscheinliche Annahme machen, etwas Ähnliches sei mit dem ursprünglichen sensus divinitatis geschehen: Er hat (vielleicht aufgrund unserer Sünden) aufgehört zu funktionieren, während ein anderes Vermögen falsch zu funktionieren begonnen hat und in die Bresche gesprungen ist, so dass es durch einen glücklichen Zufall genau die gleichen Überzeugungen hervorbringt wie früher der sensus divinitatis. In diesem Fall würde man es für wahrscheinlich halten, dass
III Die De-Jure-Frage ist nicht unabhängig von der De-Facto-Frage
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sich Gott diese andere Funktionsweise als unseren Bauplan zu eigen gemacht hat, so dass der theistische Glaube dennoch Gewähr hat – allerdings auf einer Art Umweg. Daraus sollte man meines Erachtens folgenden Schluss ziehen: Die epistemische Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Theismus unter Voraussetzung seiner Wahrheit auch Gewähr hat, ist sehr hoch.²⁵
III Die De-Jure-Frage ist nicht unabhängig von der De-Facto-Frage Hier werden die ontologischen bzw. metaphysischen oder letztlich religiösen Wurzeln der Frage sichtbar, inwieweit der Glaube an Gott rational bzw. gewährleistet sei oder vielmehr der Rationalität bzw. der Gewährleistung ermangele. Was man zu Recht für rational – zumindest für rational im Sinne von »gewährleistet« – hält, hängt von der metaphysischen und religiösen Einstellung ab, die man sich zu eigen macht. Es hängt davon ab, welches Menschenbild man vertritt, von welchen Überzeugungen man glaubt, dass sie durch funktionstüchtige noetische Vermögen des Menschen hervorgebracht werden, und von welchen Vermögen oder kognitiven Mechanismen man meint, dass sie auf die Wahrheit abzielen. Das Menschenbild wird bestimmen oder zumindest erheblich beeinflussen, ob man meint, der Theismus sei ein für den Menschen gewährleisteter oder nicht gewährleisteter, ein rationaler oder irrationaler Glaube. Daher lässt sich die Auseinandersetzung darüber, ob der Theismus rational (gewährleistet) sei, nicht dadurch entscheiden, dass man ausschließlich erkenntnistheoretische Überlegungen heranzieht. Im Grunde geht es nicht bloß um einen erkenntnistheoretischen, sondern um einen ontologischen oder theologischen Disput. Vielleicht meint man, der Mensch sei von Gott und ihm zum Bilde geschaffen worden, und zwar einerseits mit der natürlichen Neigung, Gottes Hand in der uns umgebenden Welt am Werke zu sehen, und andererseits mit der natürlichen Neigung zu erkennen, dass wir von unserem Schöpfer, dem wir Verehrung und Treue schulden, geschaffen wurden und ihm verpflichtet sind. In diesem Fall wird man natürlich nicht denken, der Glaube an Gott sei im Regelfall eine Äußerung eines geistigen Defekts. Ebensowenig wird man denken, er sei eine Äußerung eines Überzeugungen hervorbringenden Vermögens oder Mechanismus, der nicht auf die Wahrheit abzielt. Vielmehr handele es sich um einen kognitiven Mecha-
Hier müssen wir außerdem – in Einklang mit Teil IV des vorliegenden Buchs – annehmen, dass diejenigen, die an Gott glauben, in den meisten Fällen über keine Bezwinger dieses Glaubens verfügen.
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nismus, durch den wir mit einem Teil der Realität – ja, im Grunde mit dem allerwichtigsten Teil der Realität – in Verbindung gebracht werden. In dieser Hinsicht verhält es sich ähnlich wie bei einer Leistung der Sinneswahrnehmung, der Erinnerung oder der Vernunft, also des für apriorische Erkenntnisse zuständigen Vermögens. Andererseits kann es sein, dass man glaubt, Menschen seien das Produkt blinder Evolutionskräfte. Es gebe keinen Gott, und wir gehörten zu einem gottlosen Universum. In diesem Fall wird man dazu neigen, eine Auffassung zu akzeptieren, der zufolge der Glaube an Gott eine Illusion ist, die sich zu Recht auf das Wunschdenken oder auf einen anderen, nicht auf die Wahrheit abzielenden kognitiven Mechanismus zurückführen lässt (Freud) bzw. auf eine Krankheit oder Dysfunktion des Individuums oder der Gesellschaft (Marx). Diese Abhängigkeit der Frage der Gewährleistung oder Rationalität von der Wahrheit oder Falschheit des Theismus führt zu einer überaus interessanten Konklusion. Sofern sich die Gewähr für den Glauben an Gott in der genannten Weise zur Wahrheit dieses Glaubens verhält, ist die Frage, ob der Theismus gewährleistet sei, eben doch nicht unabhängig von der Frage, ob der Theismus wahr ist. Die De-jure-Frage ist demnach, wie wir schließlich festgestellt haben, nicht wirklich unabhängig von der De-facto-Frage. Um die erstere zu beantworten, müssen wir die letztere beantworten. Das ist wichtig, denn es zeigt, dass sich ein erfolgreicher atheologischer Einwand nicht gegen die Rationalität, die Rechtfertigung, die intellektuelle Respektabilität, die rationale Begründung oder sonst etwas dergleichen richten muss, sondern gegen die Wahrheit des Theismus. Atheologen, die den Theismus angreifen wollen, werden sich auf Einwände beschränken müssen wie das Übel-Argument, die These von der Inkohärenz des Theismus oder die Idee, es sprächen irgendwelche sonstigen triftigen Belege gegen den Theismus. Diese Atheologen können sich nicht mehr auf die folgende Einstellung zurückziehen: »Freilich habe ich keine Ahnung, ob der Theismus wahr ist – wer kann dergleichen schon wissen? –, aber ich weiß immerhin, dass er irrational, ungerechtfertigt, rational unbegründet, vernunftwidrig, intellektuell unverantwortlich oder … ist.« Es gibt keine vernünftige De-jure-Frage oder De-jureKritik, die von der De-facto-Frage unabhängig wäre. Es gibt keine De-jure-Kritik, die Sinn hätte, wenn man sie mit der Wahrheit des Theismus verknüpft. Alle derartigen Einwände schlagen entweder von vorherein fehl (wie z. B. die These, die Bejahung des Theismus sei ungerechtfertigt), oder sie setzen im Grunde die Falschheit des Theismus voraus. Dieser Tatbestand beraubt einen gewaltigen Teil der neueren und modernen Atheologie jeglichen Anspruchs auf Gültigkeit. Denn bei einem großen Teil dieser Atheologie geht es um De-jure-Einwände, die angeblich von der De-facto-Frage unabhängig sind. Falls meine Argumentation bis hierhin jedoch richtig liegt, gibt es gar keine vertretbaren Einwände dieser Art. (Um es bescheidener auszudrücken: Bisher sind keine derartigen Einwände vor-
IV Nochmals zum F&M-Einwand
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gebracht worden.Vermutlich bleibt immer die Möglichkeit bestehen, dass jemand einen solchen Einwand aufs Tapet bringt.)
IV Nochmals zum F&M-Einwand Jetzt, da uns das A/C-Modell vorliegt, können wir den F&M-Einwand summarisch abhandeln. Wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, hat Marx an der Religion auszusetzen, dass sie von nicht richtig funktionierenden kognitiven Vermögen hervorgebracht werde. Diese kognitive Dysfunktion sei auf soziale Fehlfunktionen und Verwerfungen zurückzuführen. Außer dem berühmten Spruch, die Religion sei das Opium des Volkes, hat Marx jedoch nicht sonderlich viel über den religiösen Glauben zu sagen – außer natürlich einer Reihe von nachgerade journalistischen Sticheleien und Scherzen sowie weiteren Äußerungen der Feindseligkeit.²⁶ Daher werde ich mich hier auf Freud konzentrieren, der (wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben) nicht meint, der Theismus habe seinen Ursprung in kognitiven Fehlfunktionen, sondern die Ansicht vertritt, dass es sich um eine Illusion handelt (wobei »Illusion« im Sinne des Freudschen Terminus technicus zu verstehen ist). Der Ursprung dieser Illusion liege in der Wunscherfüllung, bei der es sich um einen kognitiven Vorgang handele, der im Rahmen unseres geistigen Gesamthaushalts zwar eine wichtige Rolle spiele, aber dennoch nicht auf die Erzeugung wahrer Überzeugungen abziele. Nach Freuds Auffassung ist der Theismus demnach, da er durch Wunscherfüllung hervorgebracht wird, nicht gewährleistet. Er genüge nicht der Bedingung, durch kognitive Vermögen, die auf die Erzeugung wahrer Überzeugungen abzielen, hervorgebracht zu werden. Im weiteren charakterisiert er den religiösen Glauben – auf einer einzigen Seite der Zukunft einer Illusion – als »Neurose«, »Illusion«, »Gift«, »Intoxikation« und »Infantilismus«, der dazu bestimmt sei, überwunden zu werden.²⁷ Um sich nur ja nicht ausstechen zu lassen, sind viele spätere Psychologen, Soziologen und Anthropologen dem Vorbild Freuds gefolgt. So schreibt Albert Ellis: Religiosität ist in vielen Hinsichten ein Äquivalent des irrationalen Denkens und der emotionalen Störung. […] Die elegante therapeutische Lösung emotionaler Probleme besteht in
Siehe den von Reinhold Niebuhr herausgegebenen Band: Karl Marx/Friedrich Engels, On Religion, Chico, CA: Scholars Press 1964. Es handelt sich um eine Sammlung von Auszügen aus verschiedenen Schriften von Marx und Engels, die das Thema Religion betreffen. Gesammelte Werke, Band XIV, S. 372– 373.
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völligem Verzicht auf Religion. […] Je weniger religiös man ist, desto ausgeprägter die emotionale Gesundheit.²⁸
Manchmal nehmen diese Vorschläge recht bizarre Formen an, die es beinahe wert sind, mit Freuds eigenen Phantasiegeschichten über den Ursprung der Religion und die Zähmung des Feuers verglichen zu werden.²⁹ Nach Michael P. Carroll beispielsweise ist das Beten des Rosenkranzes »eine verhüllte Befriedigung verdrängter analerotischer Begierden« – ein Ersatz für »das Spielen mit den eigenen Exkrementen«.³⁰ Mag sein, dass diese Darstellung nicht an Freud herankommt, soweit es um die Heraufbeschwörung jener nebelverhangenen Welt unserer Urahnen geht, doch was ihre Implausibilität betrifft, bleibt sie nicht hinter Freud zurück. Einer recht verbreiteten Anschauung zufolge geht der religiöse Glaube nicht auf Illusionen oder kognitive Fehlfunktionen zurück, sondern auf schlichte Dummheit. Diese Auffassung wird mitunter ziemlich anschaulich zum Ausdruck gebracht. So schiebt Warren Wilson die Verantwortung für den Zulauf, den Gruppen evangelikaler Protestanten im ländlichen Amerika finden, auf die Tatsache, dass »dass es unter den Landbewohnern so viele minderwertige Köpfe gibt«. Im folgenden erklärt er, die Erweckungsbewegungen müssten sich in diesen Gegenden halten, »bis es gelingt, dem unbedarften Frömmler und der törichten Betschwester die Verwaltung der von der Öffentlichkeit getragenen Gemeinschaftsinstitutionen zu entziehen«.³¹ Solche Meinungen sind unter denen, die Religion wissenschaftlich erforschen wollen, nach wie vor weit verbreitet,³² obwohl sie (angesichts der derzeit anzutreffenden Empfindlichkeiten) normalerweise nicht mit der gleichen leichtfertigen Begeisterung ausgedrückt werden. Im Anschluss an Voltaire, Rousseau und andere Autoren verkünden Vertreter dieser Fächer mit einer gewissen Regelmäßigkeit, in diesem modernen, wissenschaftlich geprägten Zeitalter stehe der Tod der Religion bevor.³³ Dieser Tod wird
»Psychotherapy and Atheistic Values«, in: Journal of Consulting and Clinical Psychology 48/5 (1980), S. 635 – 639. Siehe oben, S. 160 ff. »Praying the Rosary: The Anal-Erotic Origins of a Popular Catholic Devotion«, in: Journal for the Scientific Study of Religion 26/4 (1987), S. 491. The Farmer’s Church, New York: Century 1925, S. 58. Siehe beispielsweise Herbert Simon, »A Mechanism for Social Selection and Successful Altruism«, in: Science 250 (1990), S. 1665 ff. In diesem Artikel macht Simon geltend, das Verhalten von Personen wie Mutter Teresa – also von Personen, die bereit sind, ihre eigenen Interessen den Interessen anderer Menschen aufzuopfern – sei durch »Fügsamkeit« und »begrenzte Rationalität« zu erklären. In dieser Hinsicht hat sich Freud selbst häufig vorsichtiger ausgedrückt. Siehe oben, S. 163, Anm. 12.
IV Nochmals zum F&M-Einwand
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vielleicht ebenso häufig verkündet, wie von anderer Seite vorhergesagt wird, die Wiederkunft Christi stehe unmittelbar bevor. Natürlich sind die bisherigen Prognosen der einen Art (ebenso wie die bisherigen Prognosen der anderen Art) fehlgeschlagen. Infolgedessen werden die Vorhersagen des Untergangs der Religion (wenn nicht gar der Welt) nunmehr tendenziell umsichtiger formuliert. So heißt es beispielsweise: Die Zukunft, welche die Evolution für die Religion vorsieht, ist ihre Auslöschung. Der Glaube an übernatürliche Wesen und übernatürliche Kräfte, die auf die Natur einwirken, ohne den Naturgesetzen zu gehorchen, werden sich abnutzen und zu einer Erinnerung von bloß noch historischem Interesse werden. Freilich wird das wahrscheinlich nicht im Laufe der nächsten Generation passieren, sondern es ist höchst wahrscheinlich, dass dieser Prozess mehrere Jahrhunderte in Anspruch nehmen wird. Außerdem wird es wahrscheinlich immer Einzelpersonen oder gelegentlich sogar kleine Kultgruppen geben, die Halluzinationen, Trance und Besessenheit so deuten, als handelte es sich um übernatürliche Vorgänge. Doch als Merkmal der Kultur ist der Glaube an übernatürliche Kräfte infolge der zunehmenden Adäquatheit und Verbreitung der wissenschaftlichen Erkenntnis auf der ganzen Welt zum Aussterben verurteilt. […] Dieser Prozess lässt sich nicht mehr aufhalten.³⁴
Gibt es irgendeinen Grund dafür, diese Dinge zu glauben? Gibt es irgendwelche Belege, die für den F&M-Einwand sprechen? Warum sollte man ihn für richtig halten? Zunächst jedoch ist es nur recht und billig, diesen Einwand gegen einen recht häufig erhobenen Gegeneinwand zu verteidigen. Der F&M-Stil der Kritik an religiösen (oder sonstigen) Überzeugungen wird häufig zu Unrecht mit der Begründung verworfen, es handele sich um ein Beispiel für den »genetischen Fehlschluss«. Es gehe doch (so der Gegeneinwand) darum, ob die betreffenden theistischen Überzeugungen wahr seien. Dagegen gehe es nicht um die Frage, wie es dazu komme, dass jemand diese Überzeugungen vertritt, oder auf welchen Ursprung sie eventuell zurückgehen. Außerdem (so heißt es weiterhin) seien Fragen des Ursprungs normalerweise ohne Belang für Fragen der Wahrheit. (»Normalerweise« ja, aber natürlich können wir uns ein paar nicht sonderlich schlaue Ausnahmen in den Sinn kommen lassen. So wissen wir beispielsweise vielleicht, dass Hans einen bestimmten Satz deshalb glaubt, weil er einem Gewährsmann traut, der zu dem fraglichen Thema ausschließlich falsche Aussagen
Anthony F. C. Wallace, Religion: An Anthropological View, New York: Random House 1966, S. 264– 265. Diese Stelle wird – ebenso wie die letzten drei Zitate – angeführt von Rodney Stark, Laurence Iannaccone u. Roger Finke, »Rationality and the ›Religious‹ Mind«, in: Economic Inquiry 36/3 (1998). Dieser hochinteressante Artikel verfolgt einen innovativen Ansatz zur Erforschung des echten religiösen Glaubens, insofern er gegen den Strom soziologischer Analysen schwimmt, aus deren Sicht dieser Glaube eine Äußerung dieser oder jener Form von Irrationalität ist.
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von sich gibt. In diesem Fall ist die Quelle der Überzeugung offenkundig wahrheitsrelevant.) Diese Kritik des F&M-Einwands ist verfehlt. Freilich, normalerweise sind Ursprungsfragen ohne Belang, wenn es um die Frage der Wahrheit einer Überzeugung geht. Sie können jedoch ausschlaggebend sein, wenn es um die Frage geht, inwiefern eine Überzeugung gewährleistet ist. Der Kritiker übersieht, dass es nicht nur De-facto-, sondern auch De-jure-Fragen und -Beanstandungen gibt. Sein Gegeneinwand ist aber nur dann einschlägig, wenn es um De-facto-Fragen geht. Der F&M-Einwand besagt jedoch, dass der theistische Glaube nicht rational und nicht gewährleistet sei. Im Gegensatz zu Erinnerungsüberzeugungen, apriorischen Überzeugungen oder Wahrnehmungsüberzeugungen geht die theistische Überzeugung nicht auf gut funktionierende kognitive Prozesse zurück, die erfolgreich auf die Erzeugung wahrer Meinungen abzielen. Und sofern das Problem laut F&M darin liegt, dass solche Überzeugungen nicht gewährleistet sind, können Fragen des Ursprungs tatsächlich äußerst relevant sein. Nach vielen Analysen der Gewährleistung (einschließlich derjenigen, die ich selbst in WPF verteidige) steht die Genese einer Überzeugung tatsächlich in engem Zusammenhang mit dem Grad an Gewähr, der ihr gegebenenfalls zukommt. Außerdem besteht hier ein indirekter Zusammenhang mit der Wahrheit. Kommen wir auf den oben (S. 189) beschriebenen Zufallsgenerator zurück. Ich benutze diese Maschine und lege dem anderen die ausgewählte Aussage vor, die er nun glauben soll. Der andere sträubt sich und beruft sich dabei auf den Ursprung der vorgeschlagenen Überzeugung, woraufhin ich dem anderen vorwerfe, er begehe einen genetischen Fehlschluss. Hier mache ich zweifellos einen Fehler. In Wirklichkeit hat der andere gar keinen Irrtum begangen: Eigentlich beklagt er sich darüber, dass es nicht den geringsten Grund gibt, die betreffende Aussage für wahr zu halten. Genauso verhält es sich bei Überzeugungen, die für niemanden gewährleistet sind. Normalerweise gehen wir davon aus, dass gewährleistete Aussagen durch irgend etwas gestützt werden: Die betreffende Aussage ist wahrscheinlich wahr, oder zumindest ist ihre Wahrheit wahrscheinlicher als ihre Falschheit. Wenn ich einen Grund dafür habe, deine Überzeugung, dein Name sei »Hans«, für wahr zu halten (denn schließlich ist es ziemlich wahrscheinlich, dass du deinen eigenen Namen kennst), habe ich auch einen Grund dafür, diese Überzeugung zu akzeptieren. Wenn ich jedoch weiß, dass eine bestimmte Überzeugung für niemanden gewährleistet ist, gibt es gar keinen Grund dafür, diese Überzeugung für wahr zu halten – gar keinen Grund dafür, mich auf diese Aussage zu verlassen. Sobald ich das einsehe, erkenne ich auch, dass die betreffende Aussage keinen Anspruch darauf hat, von mir geglaubt zu werden. Aber hat Freud wirklich recht mit seiner Behauptung, der theistische Glaube entstehe aus der Wunscherfüllung und sei eben deshalb nicht gewährleistet?
IV Nochmals zum F&M-Einwand
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Besteht irgendein Grund, diese These für richtig zu halten? Nennt Freud Argumente oder Belege für diese These, oder führt er (um mit Mill zu reden) irgendwelche sonstigen, »den Verstand beeinflussenden Betrachtungen« an? Oder handelt es sich um bloße Behauptungen? Zu beachten ist, dass der F&M-Einwand, um erfolgreich Kritik zu üben – also um zu zeigen, dass der Theismus nicht gewährleistet ist –, zwei Bedingungen erfüllen muss. Erstens muss er zeigen, dass der Theismus tatsächlich auf den Mechanismus der Wunscherfüllung zurückgeht. Zweitens muss er (wie ich weiter unten ausführe) zeigen, dass diese spezielle Operation des Mechanismus nicht auf die Erzeugung wahrer Überzeugungen abzielt. Betrachten wir die erste Bedingung: Freud hat nicht mehr zu bieten als eine ganz oberflächliche Argumentation. Man kann auch verstehen, woran das liegt. Es ist nämlich nicht ohne weiteres zu erkennen, wie man es anstellen soll, diese These zu begründen. Wie soll man denn geltend machen, dass es dieser Mechanismus (der Mechanismus der Wunscherfüllung) und nicht irgendein anderer Mechanismus ist, der den religiösen Glauben hervorbringt? Ein großer Teil des religiösen Glaubens dürfte schließlich kaum dazu angetan sein, als Erfüllung unserer kühnsten Träume zu gelten. So enthält das Christentum (ebenso wie andere theistische Religionen) den Glaubenssatz, dass die Menschen Sünder sind, die den göttlichen Zorn, ja sogar die Verdammnis verdient haben – gescheiterte, elende Wesen, die der Rettung bedürfen. Dem Heidelberger Katechismus zufolge sind meine Sünden und mein Elend das erste, was ich wissen muss. Das ist eigentlich nicht das, was ich mir unter der Erfüllung meiner kühnsten Träume vorgestellt hätte. Darauf könnte ein Anhänger Freuds erwidern: »Nun ja, aber zumindest der theistische Glaube – der Glaube daran, dass es eine Person wie Gott gibt – entsteht aus der Wunscherfüllung.« Aber auch diese Behauptung ist alles andere als klar, denn viele Menschen haben gar nichts übrig für die Vorstellung von einem allmächtigen und allwissenden Wesen, das jede Tätigkeit überwacht, in jeden Gedanken eingeweiht ist und jede Handlung und jeden Gedanken beurteilt. Wieder andere haben etwas gegen den Mangel an menschlicher Autonomie, der sich ergibt, wenn es einen Jemand gibt, im Vergleich zu dem wir nichts weiter sind als Staub und Asche und dem wir Verehrung und Gehorsam schulden. Wo bleiben eigentlich die (empirischen oder sonstigen) Belege für Freuds These? Eine Meinungsbefragung würde nicht viel bringen. Es gibt kaum jemanden, der berichtet, er glaube aus Gründen der Wunscherfüllung an Gott. Die üblichen Berichte handeln vielmehr davon, dass sich der Betreffende gepackt, gezwungen oder überwältigt fühlte, dass ihm der Glaube nach schwierigen Gedanken- und Gewissensqualen genau richtig erschien, dass er ihm immer schon offensichtlich wahr vorgekommen ist, oder dass es ihm ganz plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen ist, dass es sich so verhält. Für uns, die wir an Gott glauben, sieht es bestimmt nicht so aus, als glaubten wir aus Gründen der
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6 Gewährleisteter Glaube an Gott
Wunscherfüllung an Gott. Das wiederum wird natürlich nicht für relevant erachtet. Es ist ja gerade das Schöne an Freudschen Erklärungen, dass die postulierten Mechanismen allesamt unterbewusst wirksam und keiner Beobachtung zugänglich sind. Die These besagt, dass wir die elende und beängstigende Lage, der wir Menschen gegenüberstehen, unbewusst als solche erkennen und unbewusst einsehen, dass die Alternativen in lähmender Verzweiflung oder Glauben an Gott bestehen, woraufhin wir uns unbewusst für die zweite Alternative entscheiden. Selbst nach sorgfältiger Introspektion und Reflexion kann man nicht erkennen, dass die vorgelegte Erklärung zutrifft. Und dieses Faktum wiederum wird nicht einmal als Minimalgrund für Zweifel an der Erklärung angesehen. (Hier verhält es sich ebenso wie im Fall des empörten Widerspruchs gegen die Behauptung, man hasse den Vater, weil man ihn als Rivalen um die sexuelle Gunst der Mutter wahrnimmt. Womöglich wird die Empörung sogar als Bestätigung gewertet, da man sich gegen eine Einsicht wehre, von der man auf irgendeiner Ebene wisse oder vermute, dass es die richtige Diagnose sei.) Nehmen wir also an, man unterziehe sich für ein Jahrzehnt einer psychoanalytischen Behandlung, könne aber immer noch nicht erkennen, dass dies der Ursprung des Glaubens ist. Dann wird einem wohl gesagt, die Psychoanalyse sei halt nicht immer erfolgreich. (Tatsächlich kommt ihre Heilungsrate, soweit sich das durch wissenschaftliche Untersuchungen nachweisen lässt, ungefähr auf das gleiche hinaus wie gar keine Behandlung.) Nun, dass es sich so verhält, lässt sich nicht ausschließen; und vielleicht liegt es in der Natur der Sache, dass sich dergleichen nicht nachweisen lässt. Dennoch fragt es sich, warum wir es für richtig halten sollten. Der einzige Beleg, den Freud, soweit ich sehe, anzubieten hat, ist die These, dass wir heute erleben, wie eine Vielzahl junger Leute die Religion preisgibt, sobald der Vater seine Autorität verliert: Die Psychoanalyse hat uns den intimen Zusammenhang zwischen dem Vaterkomplex und der Gottesgläubigkeit kennengelehrt, hat uns gezeigt, daß der persönliche Gott psychologisch nichts anderes ist als ein erhöhter Vater, und führt uns täglich vor Augen, wie jugendliche Personen den religiösen Glauben verlieren, sobald die Autorität des Vaters bei ihnen zusammenbricht. Im Elternkomplex erkennen wir so die Wurzel des religiösen Bedürfnisses; der allmächtige, gerechte Gott und die gütige Natur erscheinen uns als großartige Sublimierungen von Vater und Mutter […].³⁵
Tatsächlich dürfte Freud seinerzeit dergleichen öfters erlebt haben (und vielleicht sogar im eigenen Fall, denn die Beziehung zu seinem Vater scheint nach der
Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, in: Gesammelte Werke, Band VIII, S. 195.
IV Nochmals zum F&M-Einwand
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Darstellung von E. M. Jones³⁶ einiges zu wünschen übrig gelassen zu haben). Doch wie sollen diese angeblichen Belege die These bestätigen, wonach der Theismus ein Ergebnis der Wunscherfüllung ist? Die Behauptung besagt: Wenn die Autorität des Vaters zusammenbricht, verlieren junge Menschen häufig ihren religiösen Glauben (Freud gibt hier nicht an, ob er sich speziell auf die Autorität des Vaters in Glaubensdingen bezieht oder auf seine Autorität im allgemeinen). Inwiefern soll diese Tatsache (sofern es denn eine ist) die These belegen, wonach der Theismus aus Wunscherfüllung hervorgeht? Die Antwort liegt keineswegs auf der Hand. Nehmen wir einmal an, der theistische Glaube resultiere tatsächlich aus der Wunscherfüllung. Würden wir dann nicht erwarten, dass echter Glaube und Einsicht in den erbarmungslosen, gleichgültigen Charakter der Natur in gewissem Maße korrelieren? Laut Freuds These würden wir damit rechnen, dass der junge Mensch schon bald, nachdem er zur Einsicht in diesen Zustand der Welt gelangt ist, seinen Glauben an Gott äußert. Doch warum sollten wir (unter Voraussetzung der These) damit rechnen, dass jemand, dessen Vater gerade seine Autorität eingebüßt hat, den Glauben an Gott aufgibt? Faktisch ist es doch so, dass jemand, der ein herzliches, liebe- und respektvolles Verhältnis zu seinem Vater hat, mit geringerer Wahrscheinlichkeit das kalte und gleichgültige Gesicht der Natur zu sehen bekommt als jemand, dessen Vater keine Autorität mehr hat. Soweit ich sehe, passen diese vermeintlichen Belege daher nicht gut zur Freudschen Hauptthese über den Ursprung des theistischen Glaubens, und zur Bestätigung dieser These tragen sie bestimmt nichts bei. Vielleicht zeigen sie vielmehr, dass einige junge Menschen ihre Reife und ihre Unabhängigkeit gern zur Schau stellen, indem sie die religiöse Einstellung der Eltern ablehnen – egal, um welche Einstellung es sich dabei handelt. (Dementsprechend ist heute vielfach festzustellen, dass die Kinder die Ungläubigkeit ihrer Eltern ablehnen.) Aber was diese vermeintlichen Belege bestimmt nicht einmal ansatzweise zeigen, ist, dass der religiöse bzw. der theistische Glaube aus der Wunscherfüllung hervorgeht. Freilich wird die These nicht genau bzw. detailliert genug formuliert, um uns erkennen zu lassen, was als Beleg für sie gelten würde. Da meint man natürlich, es müsse irgendwo eine tiefer schürfende, präzisere Formulierung der Theorie geben; aber leider ist nichts dergleichen zu finden. Belege für die Theorie müssten womöglich in der Art und Weise liegen, in der sie den Daten – also allen Phänomen des religiösen bzw. theistischen Glaubens – entspricht oder diese Daten erklärt. Doch ehe wir uns ernsthaft darauf einlassen können, die Übereinstimmung E. M. Jones, Degenerate Moderns, San Francisco: Ignatius Press 1993, S. 191. Nach Jones hielt Freud seinen Vater für einen »perversen« Schwächling.Vgl. Jeffrey Masson, The Complete Letters of Sigmund Freud to Wilhelm Fliess, 1887 – 1904, Cambridge, MA: Harvard University Press 1985, S. 222. Siehe auch Paul Vitz, Sigmund Freud’s Christian Unconscious, New York: Guilford 1988.
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zwischen Theorie und Belegmaterial zu beurteilen, müsste die Theorie genauer formuliert werden.Wir müssten zunächst einmal sehr viel klarer als jetzt erkennen können, was sie vorhersagt und was nicht. Doch das war noch nie die starke Seite Freudscher Erklärungen.³⁷ Selbst wenn nachgewiesen würde, dass die Wunscherfüllung wirklich die Quelle des theistischen Glaubens ist, würde das jedoch nicht ausreichen, um zu zeigen, dass es für den Theismus keine Gewähr gibt. Darüber hinaus müsste nachgewiesen werden, dass die Wunscherfüllung in dieser spezifischen Erscheinungsform nicht auf wahre Überzeugungen abzielt. Der kognitive Bauplan der Menschen ist subtil und kompliziert. Eine Quelle des Glaubens könnte so beschaffen sein, dass sie im allgemeinen zwar nicht auf die Bildung wahrer Überzeugungen abzielt, in einigen speziellen Fällen aber eben doch. Vielleicht gilt das auch für die Wunscherfüllung, so dass ihr Zweck im allgemeinen zwar nicht in der Hervorbringung wahrer Überzeugungen besteht, in diesem speziellen Fall aber doch. Vielleicht sind die Menschen von Gott mit dem tiefen Bedürfnis geschaffen worden, an seine Gegenwart, seine Güte und seine Liebe zu glauben. Vielleicht sind wir von Gott so konzipiert worden, dass wir zum Glauben an ihn gelangen und uns seiner Gegenwart bewusst sind. Vielleicht ist es von Gott so eingerichtet worden, dass wir ihn in dieser Weise erkennen. Falls es sich so verhält, zielt das spezielle Stück des kognitiven Bauplans, das für die Bildung theistischer Überzeugungen zuständig ist, tatsächlich auf wahre Überzeugungen ab, obwohl die relevanten Überzeugungen aus der Wunscherfüllung hervorgehen. Vielleicht hat Gott uns so konzipiert, dass wir seine Gegenwart und seine Liebe zu uns erkennen, indem er uns durch seine Schöpfung mit einem starken Verlangen nach ihm ausgestattet hat – einem Verlangen, das uns zu dem Glauben führt, er sei tatsächlich da. Das ist durchaus keine rein spekulative Möglichkeit, sondern eine Auffassung, die sowohl von Augustinus (»Unser Herz ist unruhig, bis es in dir ruht« [Bekenntnisse I, 1]) als auch von Jonathan Edwards vertreten wird (siehe unten, S. 358 ff.). Wie würde Freud oder einer seiner Anhänger nachweisen wollen, dass der Mechanismus, durch den die Menschen zum Glauben an Gott – also zum Glauben an die Existenz einer Person wie Gott – gelangen, nicht auf die Wahrheit abzielt?
Siehe Adolf Grünbaum, The Foundations of Psychoanalysis, Berkeley: University of California Press 1984 (übers. von Christa Kolbert: Die Grundlagen der Psychoanalyse: Eine philosophische Kritik, Stuttgart: Reclam 1988). Grünbaums Buch ist eine penible (und alles andere als schmeichelhafte) Chronik der wissenschaftlichen Schwächen Freuds und seiner Anhänger. Weiteres Material findet man in: Malcolm Macmillan, Freud Evaluated: The Completed Arc, Amsterdam: North-Holland 1991, und Allen Esterson, Seductive Mirage: An Exploration of the Work of Sigmund Freud, Chicago: Open Court 1993.
IV Nochmals zum F&M-Einwand
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Das ist eigentlich die ausschlaggebende Frage. Freud hat in dieser Hinsicht gar keine Argumente oder Gründe anzubieten. Soweit ich sehe, setzt er schlicht voraus, dass es keinen Gott gibt und dass der Theismus falsch ist. Anschließend sucht er nach einer Erklärung für dieses weitverbreitete Phänomen des irrigen Glaubens. Dabei kommt er auf die Wunscherfüllung und hält es offenbar für unmittelbar einleuchtend, dass dieser Mechanismus nicht »realitätsorientiert« ist – also nicht auf die Hervorbringung wahrer Überzeugungen abzielt –, weshalb dieser Glaube nicht gewährleistet sei. Gegen diese Annahme ist, wie wir gesehen haben, nichts einzuwenden, sofern der Theismus tatsächlich falsch ist. Doch in dem Fall hängt Freuds Lesart der De-jure-Kritik eigentlich von seinem Atheismus ab. Es handelt sich gar nicht um eine unabhängige Kritik, und bei jemandem, der diese atheistische Auffassung nicht teilt, wird (oder sollte) diese Kritik nichts ausrichten. Geht man von den Resultaten der Abschnitte II und III des vorliegenden Kapitels aus, entspricht das natürlich genau dem, was zu erwarten ist. Wer – sei’s als Christ, Jude oder Moslem – an Gott glaubt, wird sich wahrscheinlich nicht mit der F&M-These abfinden, für den Glauben an Gott gebe es keine Gewähr. (Nur die Vertreter einer bestimmten Spielart der »liberalen« Theologie sind dermaßen von Neuerungssucht gepackt sowie von dem Wunsch, der gängigen Säkularität entgegenzukommen, dass sie in diesem Punkt mit F&M übereinstimmen könnten.) Der Gläubige wird sich diesen Schuh gar nicht anziehen wollen und die Situation eher umgekehrt sehen. Nach Paulus ist Ungläubigkeit das Resultat von Dysfunktionalität, Scheitern, Funktionsuntüchtigkeit oder Störung der Vernunftvermögen. Gottlosigkeit ist, wie Paulus sagt, ein Ergebnis der Sünde. Sie geht, wie es in Römer 1 heißt, aus dem Bemühen hervor, »die Wahrheit Gottes mit der Lüge zu vertauschen«.³⁸ Im nächsten Kapitel werden wir das erweiterte A/C-Modell untersuchen und dabei einige der Hinsichten betrachten, in denen sich diese Vertauschung und diese Störung auswirken können.
Natürlich ist Paulus nicht der Ansicht, die Ungläubigen seien schon allein aufgrund ihrer Ungläubigkeit größere Sünder als die Gläubigen. Im Gegenteil: Wenige Kapitel später sagt er, wir alle seien in Sünden verstrickt – was natürlich auch ihn selbst einschließt (»Ich elender Mensch! Wer wird mich erretten aus diesem Todesleib?« [Römer 7, 24]) Hinzu kommt, dass die Fehlfunktion, in der die Gottlosigkeit wurzelt, nicht unbedingt bei der ungläubigen Person selbst zu suchen ist. Einige Formen des Unglaubens (siehe unten, S. 251) ähneln der Blindheit. Als die Jünger eines Blinden ansichtig werden, fragen sie Jesus: »Rabbi, wer hat gesündigt, er oder seine Eltern, daß er blind geboren wurde?« (Johannes 9, 2), worauf Jesus antwortet, dass die Blindheit weder auf die Sünden dieses Menschen selbst noch auf die Sünden seiner Eltern zurückzuführen sei.
7 Die Sünde und ihre kognitiven Konsequenzen Arglistig ohnegleichen ist das Herz und unverbesserlich. Wer kann es ergründen? Jeremia 17, 9
I Vorbemerkungen Nach dem Thomas-von-Aquin/Calvin-Modell (A/C-Modell) ist der Theismus – der Glaube an Gott – gewährleistet, ja er ist in solchem Maße gewährleistet, dass man von Wissen oder Erkenntnis sprechen kann. Das Hauptmerkmal dieses Modells ist die Bestimmung, Gott habe uns Menschen durch seine Schöpfung mit dem sensus divinitatis ausgestattet – einem Überzeugungen produzierenden Prozess, einer Glaubensquelle, die unter verschiedenen Bedingungen so funktioniert, dass sie Überzeugungen über Gott hervorbringt, zu denen natürlich auch Glaubenssätze gehören, die unmittelbar seine Existenz implizieren. Ein in dieser Weise erzeugter Glaube kann, wie gesagt, ohne weiteres die Bedingungen der Gewährleistung erfüllen. Sofern er wahr ist (und fest genug vertreten wird), dürfte er Erkenntnis konstituieren. Bisher haben wir also ausschließlich über den Glauben an die Existenz einer göttlichen Person nachgedacht. Wollte man sich nicht weiter vorwagen, würde man jedoch zu berechtigten Vorwürfen Anlass geben: Erstens sind die Glaubenssätze, die wirklich die intellektuelle Identität und Existenz des Christen formen und bestimmen, sehr viel präziser und spezifischer als der Glaube an Gott. Konstituiert werden sie durch tiefe Überzeugungen bezüglich der Person Christi, der geheimnisvollen Realität der Dreifaltigkeit, der Anwesenheit des Heiligen Geistes im eigenen Leben [. . .]. Diese Lehrsätze sind es – und nicht eine minimalistische Form von Theismus –, die für die große Mehrzahl der religiös Gläubigen den Ausschlag geben. Doch bis vor ganz kurzer Zeit haben Philosophen, die sich für die Rationalität des religiösen Glaubens interessieren, ihnen praktisch nicht die geringste Aufmerksamkeit geschenkt. Aus irgendeinem Grund werden sie als etwas Sekundäres und Peripheres aufgefasst.¹
William Abraham, »The Epistemological Significance of the Inner Witness of the Holy Spirit«, in: Faith and Philosophy (1990), S. 435. Abraham fährt fort und beklagt, die »reformierten Erkenntnistheoretiker« hätten bisher kaum etwas über das innere Zeugnis des Heiligen Geistes gesagt und es unterlassen, das Verhältnis zwischen »Äußerungen über das innere Zeugnis des Heiligen Geistes und ihre eigenen erkenntnistheoretischen Vorschläge« explizit zu machen (S. 446). Das ist richtig, und der vorliegende Band ist bestrebt, diesem Mangel abzuhelfen. Aber was hindert Abraham daran, auch seinerseits eine Kerze anzuzünden (anstatt die Dunkelheit zu verfluchen) und einige dieser Zusammenhänge explizit zu machen?
I Vorbemerkungen
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Ich für mein Teil möchte es bezweifeln, dass diese Glaubenssätze deshalb vernachlässigt wurden, weil man sie für sekundär und peripher hielt. Es gibt hier eine plausiblere Erklärung: In den meisten Fällen replizieren die christlichen Philosophen auf Angriffe, die bestreiten, der religiöse Glaube lasse sich rational rechtfertigen. Wer solche Angriffe lanciert, verfährt im Regelfall so, dass er den Glauben an Gott aufs Korn nimmt, der im innersten Zentrum des Christentums und der übrigen theistischen Religionen steht. Das ist eine vernünftige Strategie, denn wenn der Atheologe zeigen kann, dass dieser Glaube in relevanter Hinsicht angreifbar ist, wird er sich nicht mit den spezifischen Einzelüberzeugungen auseinandersetzen müssen, sondern er kann sie alle mit einem Schlag erledigen. Aber dementsprechend hat man von christlicher Seite selbstverständlich auf diese Kritik am Gottesglauben reagiert. Dennoch hat Abraham insofern recht, als wir wirklich über den spezifisch christlichen Glauben nachdenken und dessen Rechtfertigung, Rationalität und Gewähr untersuchen müssen. Das ist die Aufgabe der nächsten vier Kapitel. Dabei verfolge ich das Ziel, das im 6. Kapitel skizzierte Modell so zu erweitern, dass es den spezifisch christlichen Glauben umfasst. Dieses erweiterte Modell wird zwar einige Kennzeichen der reformierten Theologie tragen, aber ähnliche Modelle lassen sich auch für andere theologische Traditionen konstruieren. Zu den wesentlichen Elementen des Modells werden übrigens theologische Begriffe wie »Glaube« und »Wirken des Heiligen Geistes« gehören. Mancher wird es womöglich als skandalös empfinden, dass theologische Ideen in einem philosophischen Buch ernst genommen werden. Ich selbst finde es nicht skandalöser als die Einbeziehung naturwissenschaftlicher Ideen aus Quantenmechanik, Kosmologie und Evolutionstheorie in die Philosophie. Mir geht es darum, zu zeigen, inwiefern es für Christen gerechtfertigt, in interner wie externer Hinsicht rational und gewährleistet sein kann, einen vollgültigen christlichen Glauben zu vertreten, und zwar nicht bloß als »unwissende Fundamentalisten«, sondern als gewitzte, bewusste, gebildete Personen der Jahrtausendwende, die Freud und Nietzsche ebenso gelesen haben wie Hume und Mackie (oder Dennett und Dawkins). Was Rechtfertigung und interne Rationalität betrifft, ist die Aufgabe nicht schwer: Ebenso wie im Fall des Theismus werde ich auch hier geltend machen, dass es für viele bzw. die meisten Christen nicht nur gerechtfertigt und intern rational sein kann, sondern tatsächlich gerechtfertigt und intern rational ist, die für sie charakteristischen Glaubenssätze zu vertreten. Was externe Rationalität und Gewähr betrifft, ist die Aufgabe diffiziler. Um argumentativ zu zeigen, dass der christliche Glaube diese Vorzüge besitzt, gibt es aus meiner Sicht keine andere Möglichkeit als die, auf argumentativem Wege die Wahrheit des Christentums nachzuweisen. Ich habe jedoch nicht vor, ein solches Argument vorzulegen. Das liegt daran, dass ich kein Argument für den christlichen Glauben kenne, das mit einiger Wahrscheinlichkeit dazu angetan ist, je-
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7 Die Sünde und ihre kognitiven Konsequenzen
manden zu überzeugen, der die Konklusion nicht schon akzeptiert. Das spricht allerdings nicht gegen den christlichen Glauben. Ja, ich werde folgende These vertreten: Sofern die christlichen Überzeugungen wahr sind, wird die übliche und befriedigendste Form des Glaubens daran sie nicht als Konklusionen einer Argumentation hinstellen. Statt dessen werde ich so verfahren, dass ich das im 6. Kapitel vorgestellte A/CModell zu einem Modell erweitere, dem zufolge der spezifisch christliche Glaube (ebenso wie der Theismus) sowohl gewährleistet als auch extern rational ist, wobei diese Gewähr ausreicht, um Erkenntnis zu konstituieren. Dieses Modell wird die Grundzüge des ökumenischen Christentums klassischer Prägung umfassen. Außerdem müssen weitere Einzelheiten hinzukommen. Diese zusätzlichen Einzelheiten sind im Großen und Ganzen von reformiertem bzw. calvinistischem Gedankengut inspiriert, doch ich werde es auf meine eigene Weise entfalten. Beim erweiterten Modell geht es um das gleiche wie beim ursprünglichen A/C-Modell. Ich werde es benutzen, um für die folgenden drei Thesen zu argumentieren: Erstens kann der christliche Glaube extern rational und gewährleistet sein. Es gibt eine tragfähige erkenntnistheoretische Erklärung dafür, dass dem Glauben diese Vorzüge zukommen, während keine zwingenden Einwände dagegen sprechen. Zweitens werde ich (ebenso wie im 6. Kapitel zur Verteidigung des Theismus) geltend machen, dass der christliche Glaube, sofern er wahr ist, für die meisten Christen wahrscheinlich sowohl extern rational als auch gewährleistet ist. Dementsprechend werde ich den bereits genannten Standpunkt (S. XIII) attackieren, wonach wir zwar natürlich nicht wüssten, ob der christliche Glaube faktisch zutreffe (das sei ja auch zu viel verlangt), trotzdem aber wüssten, dass er, sofern er zufällig wahr sein sollte, weder rational noch gewährleistet sei. Drittens empfehle ich die hier gegebene Darstellung, also das vorgeschlagene Modell, denn es ist für Christen zwar nicht unbedingt die einzige, wohl aber eine besonders geeignete Form, sich vom erkenntnistheoretischen Status des christlichen Glaubens ein Bild zu machen. Ein wichtiger Unterschied zwischen dem bloßen Theismus und dem Christentum hängt wesentlich mit der Sünde und dem göttlichen Heilmittel gegen sie zusammen. Es ist die Sünde, die den Anlass für Fleischwerdung und Sühnopfer, Erlösung und Erneuerung gibt. Im vorliegenden Kapitel werden dementsprechend das Wesen der Sünde und deren noetische Auswirkungen untersucht. In den Kapiteln 8 und 9 geht es um den Glauben, die Bibel und den inneren Ansporn des Heiligen Geistes. Diese Faktoren bilden dem erweiterten Modell zufolge zusammen die Hauptquelle, aus der sich die Gewähr für den christlichen Glauben speist. Nach Calvin, an dessen Gedanken ich mich (wenn auch aus einem gewissen Abstand) anschließe, ist der Glaube »die feste und gewisse Erkenntnis (cognitio) des göttlichen Wohlwollens gegen uns, die sich auf die Wahrheit der in Christus
I Vorbemerkungen
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uns dargebotenen Gnadenverheißung stützt und durch den Heiligen Geist unserem Verstand geoffenbart und in unserem Herzen versiegelt wird«.² Im 8. Kapitel wird gezeigt, inwiefern der christliche Glaube unserem Verstand offenbart und dadurch gewährleistet ist. Im 9. Kapitel geht es darum, dass er in unserem Herzen versiegelt wird. Es handelt sich also um das Problem der religiösen Affekte und des Willens, wobei unter anderem die Frage aufgeworfen wird, ob es im Hinblick auf die Affekte etwas gibt, was der Rechtfertigung, der Rationalität und der Gewähr entspräche. Im 10. Kapitel werden faktisch gegebene und mögliche Einwände gegen das erweiterte Modell untersucht. Hier stellt sich das erste Problem: Der Ausdruck »christlicher Glaube« ist, ebenso wie die meisten nützlichen Ausdrücke, vage. Gilt Tillich als christlicher Theologe? Wie steht es mit den Überzeugungen der Mormonen? Sind das christliche Glaubenssätze?³ Wie verhält es sich mit Menschen, die Jesus für ein großes Vorbild und einen bedeutenden sittlichen Lehrer halten, aber bezweifeln, dass er Gott war, von den Toten auferstanden ist oder für unsere Sünden gebüßt hat? Sind ihre Überzeugungen christliche Gedanken? Wie muss eine Menge von Überzeugungen im einzelnen beschaffen sein, um als christlich zu gelten, d. h. um zu Recht als »christlich« bezeichnet zu werden?⁴ Für mein Vorhaben ergibt sich daraus jedoch kein Problem. Erstens ist das Wort »christlich« zwar gewiss ein vager Ausdruck, aber wie Dr. Johnson sagt, ist der Hinweis auf die Dämmerung kein guter Einwand gegen die Unterscheidung zwischen Tag und Nacht. Es gibt so etwas wie christlichen Glauben, und es gibt auch so etwas wie nichtchristlichen Glauben, obwohl es schwerfallen mag anzugeben, wo der eine anfängt und der andere aufhört. Zweitens enthält mein
Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, 2. durchges. Auflage, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins 1963, S. 347. Alle weiteren Seitenverweise auf die Institutio beziehen sich auf diese Ausgabe. Siehe beispielsweise Albert Howsepian, »Are Mormons Theists?«, in: Religious Studies 32 (1996), S. 357 ff. Vgl. die Replik von Blake T. Ostler, »Worship-worthiness and the Mormon Conception of God«, in: Religious Studies 33 (1997), S. 315 ff. Auch im Hinblick auf den Theismus ist eine gewisse Vagheit gegeben: Was muss man eigentlich genau glauben, um Theist zu sein? Dass das letztursprüngliche oder wirklich reale Wesen eine Person ist? Oder könnte man (etwa im Gefolge von Carl Sagan) als Theist gelten, wenn man vorschlägt, irgendwie seien die Naturgesetze letztursprünglich, sollten »Gott« genannt und verehrt werden? Kann man Theist sein, wenn man glaubt, eigentlich sei Gott eine Menge – vielleicht das kartesische Produkt der Menge möglicherweise guter Handlungen und der Menge wahrer Aussagen? (Hierbei kann man die Schwierigkeit außer acht lassen, dass es so etwas wie die Menge der wahren Aussagen wahrscheinlich nicht gibt. Falls man sich dennoch weigert, dieses Problem außer acht zu lassen, siehe Patrick Grim u. Alvin Plantinga, »Truth, Omniscience, and Cantorian Arguments: An Exchange«, in: Philosophical Studies 70 [1993].)
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Vorhaben nichts, was von einem spezifischen Gebrauch des Wortes »christlich« abhinge. Wie immer wir dieses Wort verwenden wollen, mir geht es darum, den erkenntnistheoretischen Status einer bestimmten Menge von Überzeugungen zu untersuchen, nämlich in etwa derjenigen Glaubenssätze, die im Apostolischen Glaubensbekenntnis und dem Bekenntnis von Nicäa enthalten sind. (Man könnte die betreffenden Überzeugungen aber auch als diejenigen identifizieren, die zur Schnittmenge der Bekenntnisse ziemlich spezifisch bestimmter christlicher Glaubensgemeinschaften gehören, etwa indem man den neuen katholischen Katechismus heranzieht sowie den Heidelberger Katechismus, die Augsburger Konfession, das Bekenntnis von Westmister usw.) Dazu gehören Behauptungen wie die, dass Gott den Himmel und die Erde schuf, dass er den Menschen nach seinem Ebenbild schuf, dass die Menschen der Sünde verfallen sind, aus der sie erlöst werden müssen, dass Gott darauf mit der gnadenvollen Entsendung Jesu Christi reagierte, also den Sohn Gottes schickte, der unsere fleischliche Gestalt annahm und unsere Sünde mit dem Tode büßte, um von den Toten aufzuerstehen und somit uns sündigen Menschen die Möglichkeit zu geben, das ewige Leben mit Gott zu teilen. Diese Glaubenssätze werden normalerweise als paradigmatische christliche Überzeugungen aufgefasst und gewöhnlich als »christlich« bezeichnet. Dennoch hängt nichts vom Gebrauch des Wortes ab: Mir geht es darum, den erkenntnistheoretischen Status dieser Überzeugungen zu untersuchen.
II Erste Formulierung des erweiterten Modells Unsere Frage lautet nun: Sind diese Glaubenssätze gerechtfertigt, rational, gewährleistet? Die Fragen nach Rechtfertigung und interner Rationalität sind jedoch leicht zu beantworten. Zunächst einmal ist die Rechtfertigung, wenn man sie deontologisch – also im Hinblick auf intellektuelle Rechte und Pflichten – versteht, in diesem Fall nicht problematischer als im Fall des Theismus. Auch für eine hochgebildete, völlig alerte Person des einundzwanzigsten Jahrhunderts, die alle neuesten Einwände gegen das Christentum aus ihrer Lektüre kennt, gilt offenbar, dass es gerechtfertigt sein kann, diese und weitere christliche Überzeugungen zu akzeptieren; und tatsächlich wäre dieser Glaube gerechtfertigt, wenn man den betreffenden Glaubenssatz völlig überzeugend fände, nachdem man beispielsweise sorgfältig und ohne epistemische Schuld die angeblichen Einwände und Bezwinger bedacht und untersucht hat. Man kann ja wohl kaum jemandem einen Vorwurf daraus machen, dass er glaubt, was ihm diesbezüglich nach ausführlicher Erforschung offenkundig wahr zu sein scheint. (Soll er denn glauben, was ihm
II Erste Formulierung des erweiterten Modells
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falsch zu sein scheint?)⁵ Was die verschiedenen analogischen Erweiterungen des ursprünglichen Sinns von »Rechtfertigung« betrifft – also verantwortlich handeln, nach Kräften den eigenen Beitrag zur Überzeugungsbildung leisten usw. –, liegt es vermutlich ebenfalls auf der Hand, dass man diese Bedingungen erfüllen kann und dass sie von vielen Gläubigen tatsächlich erfüllt werden. Das gleiche gilt auch für die interne Rationalität, die vom richtigen Funktionieren der kognitiven Prozesse stromabwärts von der Erfahrung abhängt (zur Erklärung dieser Metapher siehe oben, S. 130 f.). Die relevanten Überzeugungen erscheinen dem Betreffenden unserer Festsetzung zufolge offensichtlich wahr. Er findet sie genauso stichhaltig wie z. B. seine Ansichten über andere Personen oder die Außenwelt. Sie wirken nach wie vor überzeugend – auch nachdem er die Einwände, auf die er stößt, in Betracht gezogen hat. Er hat die starke Tendenz, diese Dinge zu glauben, und folglich hat er starke doxastische Belege für sie. Dementsprechend braucht es keine kognitive Fehlfunktion, keinen Defekt und keine Misslichkeit zu beinhalten, dass er dergleichen tatsächlich glaubt. Also ist sein Glaube intern rational. Wie wir jedoch im Fall des theistischen Glaubens gesehen haben, werden – oder sollten – diese Feststellungen nicht ausreichen, um die Kritiker zu beruhigen. Denn selbst wenn die Überzeugungen der gläubigen Christen gerechtfertigt und intern rational sind, können sie dennoch extern irrational (siehe oben, S. 133) und somit völlig ohne Gewähr sein. Schließlich können ja sogar die Überzeugungen eines Irren oder eines Opfers des bösen Dämons à la Descartes sowohl gerechtfertigt als auch intern rational sein. Und wie steht es nun mit der externen Rationalität und der Gewähr? Eine Überzeugung ist dann extern rational, wenn sie von kognitiven Vermögen hervorgebracht wird, die richtig funktionieren und erfolgreich auf die Wahrheit abzielen (d. h., auf die Produktion wahrer Meinungen abzielen) – im Gegensatz etwa zu Überzeugungen, die auf Wunscherfüllung oder kognitive Fehlfunktionen zurückgehen. Gewähr wiederum ist die Eigenschaft, die – wenn sie in ausreichender Menge gegeben ist – Wissen von wahrer Überzeugung unterscheidet, mithin eine Eigenschaft oder Größe, die einer Überzeugung (nach meiner These) genau dann zukommt, wenn sie von kognitiven Vermögen hervorgebracht wird, die in einer günstigen epistemischen Umgebung
Es steht jedem frei zu behaupten, der gläubige Christ sei nur subjektiv, aber nicht objektiv gerechtfertigt. Der Grund sei der, dass es objektive epistemische Pflichten gebe, die so beschaffen seien, dass man den christlichen Glauben nicht akzeptieren könne, ohne gegen diese Pflichten zu verstoßen (siehe oben, S. 115 f.). Der Gläubige bleibe nur deshalb schuldfrei, weil er sich nicht über diese Pflichten im klaren sei. (Unwissenheit schützt demnach vor der Schuld.) Um es jedoch noch einmal zu sagen: Was für objektive Pflichten wären das? Gibt es auch nur den Schatten eines Grundes zu der Annahme, es gebe derartige Pflichten?
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gemäß einem erfolgreich auf die Wahrheit abzielenden Bauplan gut funktionieren. Da Rationalität (im Sinne des richtigen Funktionierens der Verstandeskräfte) in der Gewähr enthalten ist, lautet die eigentliche Frage hier, ob der christliche Glaube gewährleistet ist bzw. gewährleistet sein kann. Dem erweiterten A/C-Modell zufolge ist der christliche Glaube tatsächlich gewährleistet. Im Grunde läuft das Modell auf folgendes hinaus: Zunächst hat Gott uns Menschen nach seinem Bilde erschaffen. Das wiederum beinhaltet vor allem, dass wir Gott insofern ähneln, als wir ebenfalls Personen sind, d. h. Wesen mit Verstand und Willen. Wir sind, ebenso wie Gott, Wesen, die manches glauben und verstehen – wir haben Verstand. Hinzu kommt jedoch auch der Wille: Überdies ähneln wir Gott insofern, als wir Affekte – Zuneigungen und Abneigungen –, Ziele und Absichten haben und so handeln können, dass diese Ziele und Absichten in die Tat umgesetzt werden.⁶ Hier wollen wir von dem weiten Bild Gottes sprechen. Aber ursprünglich waren die Menschen so geschaffen worden, dass sie außerdem ein enges Bild an den Tag legten: Sie hatten umfassende und unmittelbare Kenntnis von Gott und gesunde Affekte, zu denen auch die Dankbarkeit für Gottes Güte gehörte.⁷ Sie liebten und hassten, was liebens- bzw. hassenswert war. Aber vor allem kannten und liebten sie Gott. Dieses Bild schließt auch den im 6. Kapitel genannten sensus divinitatis ein. Das erweiterte Modell behält dieses Merkmal bei und fügt weitere hinzu. Ergänzt wird zunächst, dass wir Menschen der Sünde anheimgefallen sind, so dass wir uns in einem verheerenden Zustand befinden, aus dem wir gerettet werden müssen. Diese Rettung können wir nicht aus eigenen Kräften bewerkstelligen. Die Sünde entfremdet uns Gott und macht es uns unmöglich, gemeinschaftlich mit ihm zu verkehren. In affektiver wie in kognitiver Hinsicht hat der Sündenfall katastrophale Folgen. Was die affektiven Folgen betrifft, sind unsere Affekte aus dem Lot, und in unserem Herzen wohnt jetzt das tief verwurzelte Böse: Anstatt Gott zu lieben, lieben wir jetzt vor allem uns selbst. Außerdem gibt es kognitive Konsequenzen. Unsere ursprüngliche Kenntnis Gottes und seiner wunderbaren Schönheit, Herrlichkeit und Liebesbereitschaft sind stark beeinträchtigt. Auf diese Weise wurde das enge Bild Gottes in uns zerstört, und das weite Bild
Hier verstehe ich den Willen so, dass er nicht nur das Entscheidungs- und Wahlvermögen (die ausführenden Funktionen des Willens) umfasst, sondern auch Zuneigungen und Abneigungen, Wünsche und Begierden (also die affektiven Funktionen des Willens). Das ist zwar ein etwas breiterer Begriff als das heute übliche Verständnis des Willens, aber er steht in Einklang mit älteren Auffassungen (siehe z. B. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I, q. 82, a. 1 u. 2, sowie Summa contra Gentiles, Buch III, Kapitel 26). An dieser Stelle hat mir ein Hinweis von Derek Jeffreys weitergeholfen.
II Erste Formulierung des erweiterten Modells
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wurde beschädigt und verzerrt.⁸ Vor allem wurde der sensus divinitatis beschädigt und entstellt. Aufgrund des Sündenfalls kennen wir Gott nicht mehr in der gleichen natürlichen und unproblematischen Weise, in der wir uns gegenseitig und die Welt um uns herum erkennen. Darüber hinaus erweckt die Sünde in uns Widerstand gegen die Leistungen des sensus divinitatis, die ja schon durch den ersten Faktor abgeschwächt sind. Wir haben gar nicht den Wunsch, diesen Leistungen Aufmerksamkeit zu schenken. Aus eigener Kraft wird es uns nicht gelingen, uns aus diesem Morast zu befreien. Gott selbst jedoch hat ein Heilmittel gegen die Sünde und deren verhängnisvolle Wirkungen bereitgestellt: ein Mittel zur Rettung aus der Sünde und zur Wiedergewinnung seiner Gunst und Gemeinschaft. Dieses Heilmittel wird uns durch das Leben, das der Sühne dienende Leiden und den Tod sowie die Auferstehung seines göttlichen Sohns Jesus Christus zur Verfügung gestellt. Die Rettung beinhaltet unter anderem Wiedergeburt und Wiederherstellung, mithin einen im Diesseits beginnenden und im Jenseits wirksam werdenden Prozess, der die Restaurierung und Reparatur des göttlichen Bildes in uns einschließt. Bisher haben wir es mit dem schlechthinnigen Christentum zu tun, von dem bei C. S. Lewis die Rede ist.⁹ Jetzt wollen wir auf eine eher kognitive Seite des Modells zu sprechen kommen. Gott braucht ein Verfahren, um die Menschen vieler Zeiten und Orte über den Rettungsplan zu informieren, den er aus lauter Gnade zur Verfügung gestellt hat. Das hätte er zweifellos auf tausend verschiedene Weisen erreichen können. Faktisch entschied er sich für das folgende Vorgehen: Erstens ist da die Schrift, die Bibel – eine Sammlung von Schriften menschlicher Autoren, die jedoch speziell von Gott auf solche Weise inspiriert wurden, dass man sagen kann, er selbst sei der Haupturheber. Zweitens hat er den Heiligen Geist geschickt,
Calvin sagt, »die natürlichen Gaben seien im Menschen verderbt, die übernatürlichen dagegen ihm entzogen« (Institutio, S. 136). Thomas wiederum schreibt: »Im Stande der verdorbenen Natur hingegen versagt der Mensch auch vor dem, wozu er seiner Natur nach befähigt ist, so nämlich, dass er die Fülle dieses Guten nicht kraft seiner Naturanlage bewirken könnte.« Daher bedürften wir »einer unverdient über die Naturanlage hinaus beigefügten Kraft unter dem einen Gesichtspunkt, übernatürlich Gutes zu wirken und zu wollen« (Summa Theologica, I-ii, q. 102, a. 2, respondeo, a. a. O., Band 14, S. 76 – 77). Hier sollten wir eine Doppeldeutigkeit festhalten, die Ausdrücken wie »unser natürlicher Zustand« innewohnt. Einerseits kann sich der Ausdruck darauf beziehen, wie wir Menschen im sündenfreien Urzustand – unmittelbar nach der göttlichen Schöpfung – beschaffen waren und immer noch beschaffen wären, wenn es keinen Sündenfall gegeben hätte. Andererseits kann sich der Ausdruck auf unseren sündigen Zustand beziehen, also auf unseren Zustand vor der Wiederherstellung und Erneuerung. C.S. Lewis, Mere Christianity, New York: Macmillan 1958.
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wie es von Christus vor seinem Tod und der Auferstehung versprochen wurde.¹⁰ Eine besonders wichtige Leistung, die der Heilige Geist an uns Menschen vollbringt, ist die Gabe des Glaubens, von der Calvin spricht, jener »festen und gewissen Erkenntnis des göttlichen Wohlwollens gegen uns, die sich auf die Wahrheit der in Christus uns dargebotenen Gnadenverheißung stützt und durch den Heiligen Geist unserem Verstand geoffenbart und in unserem Herzen versiegelt wird« (vgl. unten, S. 286). Dank des inneren Ansporns des Heiligen Geistes gelangen wir dahin, die Wahrheit der christlichen Hauptthesen zu erkennen. Nun ist der Glaube keine rein kognitive Angelegenheit, sondern dass er »in unserem Herzen versiegelt wird«, ist eine Sache des Willens und der Affekte. Hier wird die Verrücktheit des Willens, die zum innersten Kern der Sünde gehört, geheilt. Dennoch handelt es sich zumindest auch um eine kognitive Sache. Indem uns der Heilige Geist den Glauben schenkt, gibt er uns die Möglichkeit, die Wahrheit der Grundzüge des in der Schrift aufgezeichneten christlichen Evangeliums zu erkennen. Die innere Aufforderung des Heiligen Geistes ist daher eine Quelle des Glaubens, ein kognitiver Prozess,¹¹ der in uns den Glauben an die Grundzüge der Geschichte Christi hervorruft. Außerdem erfüllen die so in uns hervorgerufenen Überzeugungen dem Modell zufolge die für Gewähr notwendigen und hinreichenden Bedingungen. Erzeugt werden sie durch kognitive Prozesse, die (in Übereinstimmung mit ihrem Bauplan) in einer geeigneten epistemischen (Miniund Maxi‐)Umgebung produziert werden, und zwar nach einem erfolgreich auf die Wahrheit abzielenden Bauplan. Werden diese Überzeugungen fest genug vertreten, gelten sie (genau wie es die Calvinsche Glaubensdefinition vorsieht) als Erkenntnis.
III Das Wesen der Sünde Jetzt, da wir die Konturen des erweiterten Modells vor uns haben, müssen wir uns einige seiner verschiedenen Aspekte genauer anschauen, wobei wir vom Wesen der Sünde und ihren kognitiven Konsequenzen ausgehen. Die reformierten Theologen pflegten von den »noetischen Wirkungen der Sünde« zu sprechen. Dieses Thema steht zwar (leider) nicht mehr in hohem Ansehen, aber für unser
Siehe beispielsweise Johannes 14, 26: »Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.« Wer meint, angesichts der Anwendung dieses Ausdrucks auf das Wirken des Heiligen Geistes die Augenbrauen hochziehen zu müssen, ist aufgefordert, einen Blick auf die weiter unten (S. 303) gegebene Erklärung zu werfen.
III Das Wesen der Sünde
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Modell wird es von Bedeutung sein. Dementsprechend werden wir uns, nachdem wir das Wesen der Sünde behandelt haben, im abschließenden Teil dieses Kapitels mit den kognitiven Konsequenzen der Sünde befassen. Was ist Sünde? Was immer sie sein mag, sie ist sowohl etwas erstaunlich Tiefes als auch äußerst schwer zu fassen. Dem Modell zufolge kommt zuerst das Phänomen des Sündigens: Man tut etwas Falsches, etwas, was dem Willen Gottes zuwiderläuft. Das ist etwas,wofür der Sünder verantwortlich ist. Er ist schuldig und hat den Schuldspruch verdient – wenn auch nur unter der Bedingung, dass er die Sündigkeit seines Tuns einsieht oder Schuld auf sich lädt, indem er das Sündhafte seines Tuns verkennt. Außerdem ist hier der Zustand der Sündigkeit zu nennen – ein Zustand, in dem wir Menschen uns von Geburt an befinden. Eine traditionelle christliche Bezeichnung für diesen Zustand ist das Wort »Ursünde«. Im Gegensatz zu einer sündigen Handlung, die man vollzieht, braucht man die Ursünde nicht als etwas aufzufassen, wofür man verantwortlich ist (die Ursünde ist nicht notwendig Erbschuld). Insofern ich in diese prekäre Situation hineingeboren wurde, unterliegt dieser Zustand nicht meiner eigenen Kontrolle: Ich habe keinen Einfluss darauf. (Im Hinblick auf die nicht ererbte Spielart der Sünden gibt es ohnehin reichlich Möglichkeiten, Schuld auf sich zu laden.) Wie kommt es, dass wir Menschen im Morast dieses aussichtslosen und beklagenswerten Zustands versinken? Die traditionelle christliche Antwort lautet: Infolge der sündigen Handlungen Adams und Evas, unserer Ureltern, also des ersten Menschenpaars. Ob sich die Geschichte wirklich so abgespielt hat, ist eine Frage, zu der das Modell nicht Stellung zu beziehen braucht. Dagegen gehört es zu unserem Modell, dass wir uns tatsächlich in diesem Zustand befinden. Von G. K. Chesterton stammt die Bemerkung, von allen christlichen Lehren habe die Lehre von der Ursünde am ehesten Anspruch auf »empirische Verifizierbarkeit«, also auf jene Eigenschaft, von der in der glorreichen Zeit des Positivismus lauthals verkündet wurde, sie sei das eigentliche Kriterium der »kognitiven Sinnhaftigkeit«. Verifiziert wurde die Lehre von der Ursünde durch die Kriege, die Grausamkeit und die allgemeine Hassbereitschaft, welche die menschliche Geschichte von ihren ersten Anfängen bis zur Gegenwart kennzeichnen. Im Grunde hat kein Jahrhundert mehr organisierten Hass, Verachtung und Grausamkeit erlebt als das zwanzigste, und keines hat sie in ebenso großem Maßstab erlebt. Gerade das zwanzigste Jahrhundert erlaubt es uns, die soziale Seite der Sünde zu ermessen.Wir Menschen sind ganz eigentlich Gemeinschaftswesen.Wir lernen von unseren Eltern, Lehrern, unseresgleichen und sonstigen Personen durch Nachahmung und Unterweisung. Auf diese Weise erwerben wir Überzeugungen, aber ebenso wichtig (und für uns vielleicht weniger bewusst) ist es, dass wir Einstellungen und Affekte, Zuneigungen und Abneigungen lernen. Aufgrund unseres sozialen Wesens können sich die Sünde und ihre Wirkungen wie eine ansteckende Krankheit von einem zum
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anderen ausbreiten, bis sie schließlich eine ganze Gesellschaft oder einen Teil dieser Gesellschaft korrumpieren.¹² Die Ursünde involviert sowohl den Verstand als auch den Willen. Sie hat sowohl eine kognitive als auch eine affektive Seite. Einerseits bringt sie eine Form von Blindheit mit sich, eine Form von Wahrnehmungsschwäche, Stumpfheit, Blödheit. Das ist eine kognitive Beschränkung, die ihr Opfer vor allen Dingen daran hindert, Gott und seine Schönheit, Herrlichkeit und Liebe wirklich zu erkennen. Außerdem hindert sie den Betreffenden daran, zu erkennen, was eigentlich liebenswert bzw. hassenswert ist, wonach man streben und was man meiden sollte. Sie beeinträchtigt also sowohl die Kenntnis der Fakten als auch die Kenntnis der Werte. Aber die Sünde ist auch – und vielleicht in erster Linie – eine affektive Störung oder Fehlfunktion. Unsere Affekte sind verdreht, auf die falschen Objekte gerichtet. Wir lieben und hassen die falschen Dinge. Anstatt zunächst nach dem Reich Gottes zu trachten, habe ich die Tendenz, vor allem nach meiner eigenen Verherrlichung und Erhöhung zu streben, indem ich alle meine Kräfte darauf ausrichte, Eindruck zu schinden. Anstatt Gott mehr als alles andere und den Nächsten wie mich selbst zu lieben, bin ich geneigt, mich selbst mehr als alles andere und Gott sowie den Nächsten zu hassen.¹³ Zum großen Teil entspringen dieser Hass und diese Feindseligkeit dem Hochmut, dieser Ursünde, sowie daraus resultierenden Versuchen der Selbstverherrlichung. Wir stellen uns vor, die Vorteile dieser Welt wären wie bei einem Nullsummenspiel verteilt: Jedes Stückchen, das du kriegst, ist ein Stückchen, das ich nicht haben kann – aber haben will. Ich will bekannter sein als du; also nagt jedesmal, wenn du etwas Bemerkenswertes tust, der Neid an mir.Vielleicht will ich reich sein. Dabei kommt es nicht darauf an, wieviel Geld ich in absoluten Zahlen besitze, sondern darauf, ob ich mehr habe als du oder die meisten bzw. alle anderen Menschen. Doch dann seid ihr – du und die anderen – Hindernisse auf dem Weg zur Erfüllung meiner Wünsche; und so kann es kommen, dass ich euch verabscheue und hasse. Auch Gott selbst – der Ursprung meines eigenen Daseins – kann zu einer Bedrohung werden. In meinem hochmütigen Streben nach Autonomie und Unabhängigkeit kann es geschehen, dass ich die Existenz eines Wesens, von dem ich bei jedem Atemzug abhänge und
Im zwanzigsten Jahrhundert (aber natürlich auch in früheren Zeiten) wimmelt es von hervorstechenden Beispielen für diese Form der Ansteckung. Ein aus dem Rahmen fallendes Beispiel aus dem Bereich der Literatur findet man bei Brian Moore, Black Robe, New York: E. P. Dutton 1985 (übers. von Otto Bayer: Schwarzrock, Zürich: Diogenes 1987). Die 5. Frage des Heidelberger Katechismus lautet: »Kannst du das alles vollkommen halten?« Antwort: »Nein; denn ich bin von Natur geneigt, Gott und meinen Nächsten zu hassen.« (Wilhelm Bernoulli [Hg.], Der Heidelberger Katechismus, 13. Aufl. Zürich: Zwingli Verlag 1967. S. 7– 8).
III Das Wesen der Sünde
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verglichen mit dem ich winzig klein bin, übelnehme. So kann es kommen, dass ich auch ihn hasse. Ich will autonom und niemandem verpflichtet sein. Das ist vielleicht die tiefste Wurzel des Zustands der Sünde.¹⁴ Die Störung, die hier vorliegt, ist nicht intellektueller, sondern affektiver Art. Unsere Affekte sind durcheinander; sie funktionieren nicht mehr so, wie es in Gottes Bauplan für die Menschen vorgesehen ist. Es kommt zu einer Funktionsstörung, einem affektiven Defekt, einer Art Verrücktheit des Willens. In diesem Zustand wissen wir zwar (in gewisser Weise und bis zu einem gewissen Grade), was geliebt werden sollte (was objektiv liebenswert ist), aber dennoch wenden wir uns verstockt von dem ab, was geliebt werden sollte, und lieben stattdessen etwas anderes. (So ähnlich heißt es in einem beliebten Song: »My heart has a mind of its own – Mein Herz hat seinen eigenen Kopf.«) Auf einer bestimmten Ebene wissen wir, was richtig ist, aber wir fühlen uns zu etwas Verkehrtem hingezogen. Wir wissen zwar, dass wir Gott und den Nächsten lieben sollten, aber dennoch tun wir es lieber nicht. Damit ist natürlich eine uralte Frage aufgeworfen, die bis auf Sokrates zurückgeht: Kann man wirklich etwas tun, wovon man weiß oder glaubt, dass es falsch ist?¹⁵ Wie kann man, wenn man weiß, was richtig ist, trotzdem das Falsche tun? Die Antwort ist nicht schwer zu finden: Man erkennt zwar, was richtig ist, doch man bevorzugt das Falsche. Sokrates übersieht die Möglichkeit der affektiven Störung, die etwas anderes ist als ein geistiger Defekt oder die Unwissenheit. Liegt keine affektive Störung vor, ist es vielleicht wirklich so, dass ich unmöglich das Gute erkennen kann, aber dennoch das Böse – im Bewusstsein, dass es das Böse ist – vorziehe. Mit dem Nichtvorliegen dieser Störung können wir allerdings nicht fest rechnen. Die Sünde ist ja gerade großenteils eine solche Störung. Aufgrund dieser affektiven Fehlfunktion gilt unser Trachten und Streben dem, wovon wir wissen oder glauben, dass es schlecht ist. Es gibt viele traditionelle Argumente für die Idee, man könne nicht wünschen, was nach eigener wohlerwogener Erkenntnis falsch ist. Aus Platzgründen kann ich mich hier nicht mit diesen Argumenten auseinandersetzen, außer um anzumerken, dass ich sie ganz und gar nicht überzeugend finde. Ein Argument, das ich trotzdem erwähnen möchte, ließe sich wie folgt formulieren: »Hier gibt es ein gravierendes semantisches Problem. Es ist nämlich nicht einmal kohärent zu meinen, jemand könne lieben und schätzen, wovon er weiß, dass es verabscheuenswert ist, oder
Dieser Wunsch nach Autonomie, Selbstbestimmung und Selbsterschaffung kann ziemlich erstaunliche Proportionen annehmen. Nach Richard Rorty fühlte sich Martin Heidegger schuldig, weil er in einer nicht von ihm selbst erschaffenen Welt lebte; er sträubte sich dagegen, sich in einer solchen Welt heimisch zu fühlen, und konnte den Gedanken, nicht der Schöpfer seiner selbst zu sein, nicht ertragen (Rorty, Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge: Cambridge University Press 1989, S. 109). Menon, 77b-78a. Vgl. Protagoras, 345e.
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zu meinen, jemand könne hassen, was nach eigener Erkenntnis gut ist. Denken wir z. B. an Hans, der sagt: ›Ich liebe etwas, und ich möchte mich für dieses Etwas, das in Wirklichkeit etwas Schlechtes ist, einsetzen.‹ Seine Äußerung ergibt keinen kohärenten Sinn.Wörter wie ›gut‹, ›böse‹, ›richtig‹, ›falsch‹ usw. werden benutzt, um zu empfehlen bzw. zu tadeln, um Billigung bzw. Missbilligung auszudrücken. Dementsprechend drückt der erste Teil der Äußerung von Hans seine Billigung ein und derselben Sache aus, deren Missbilligung im zweiten Teil der Äußerung zum Ausdruck gebracht wird. Man kann zwar sinnvoll sagen, man tendiere zur Billigung des Bösen, man habe es früher schon oft getan, ja man tue es immer wieder, aber es hat keinen Sinn zu behaupten, im jetzigen Augenblick billige man das Böse oder hasse das Gute. Hans hat sich zwar nicht widersprochen – d. h., er hat nicht eine Aussage und zugleich deren Gegenteil behauptet –, aber dennoch ist das, was er sagt, inkohärent, genauso als hätte er gesagt: »Ein Hoch auf die Borussen, die wir hiermit verfluchen!« Darauf ist erstens zu erwidern, dass wir es hier mit zwei separaten Fragen zu tun haben: (1) Ist es möglich, etwas zu lieben, wovon man weiß, dass es böse ist? (2) Ist die Äußerung von Hans kohärent? Diese Fragen sind unabhängig voneinander, denn die erste handelt davon, welche Einstellungen möglich sind, während es bei der zweiten darum geht, welche Sätze (in unserer Sprache) kohärent geäußert werden können. Selbst wenn Hans’ Äußerung inkohärent ist, kann es dennoch möglich sein zu lieben, wovon man weiß, dass es böse ist. Zweitens jedoch ist es so, dass Hans’ Äußerung durchaus sinnvoll ist.Wenn Miltons Satan die Worte spricht: »Böses, sei du mein Gutes!« (Paradise Lost, IV, 109), ist seine Äußerung völlig verständlich. Er möchte nämlich sagen, dass er etwas, dessen Schlechtigkeit er erkennt, bevorzugt und fördern möchte. Das lässt sich wie folgt erläutern: Es ist durchaus zutreffend, dass Wörter wie »gut«, »schlecht« und »böse« die Funktion erfüllen, Billigung oder Missbilligung auszudrücken. Das ist aber nur ein Teil ihrer Funktion, denn außerdem bringen sie Eigenschaften zum Ausdruck. (In unserem Zusammenhang kommt es nicht darauf an, welches genau die von diesen Wörtern ausgedrückten Eigenschaften sind, aber vielleicht entspricht die von »gut« [bzw. »schlecht«] ausgedrückte Eigenschaft in einem grosso modo logischen Sinn der Eigenschaft, von Gott gebilligt [bzw. missbilligt] zu werden.) Normalerweise gehen diese beiden Funktionen miteinander einher: Die eine drückt Billigung dessen aus, wovon man annimmt, dass es die von »gut« ausgedrückte Eigenschaft besitzt. Das Wichtige ist jedoch, dass sich diese beiden Funktionen auseinanderdividieren lassen, denn die eine wie die andere der beiden Komponenten der Bedeutung dieser Wörter kann getilgt werden. Wenn Satan sagt: »Böses, sei du mein Gutes«, wird der Aspekt des Worts »böse«, durch den normalerweise Missbilligung zum Ausdruck gebracht wird, ebenso außer Kraft gesetzt wie der Aspekt des Worts »gut«, durch den es in der Regel die Eigenschaft des Gutseins ausdrückt. Es ist also (natürlich) weder so, als würde Satan einen Zustand gutheißen oder empfehlen, in dem einem Träger der Eigenschaft des Böseseins hinfort die Eigenschaft des Gutseins zukommt, noch so, als würde er Billigung und Missbilligung ein und derselben Sache ausdrücken.Vielmehr verkündet er: das, wovon er weiß, dass es die Eigenschaft des Böseseins hat, sei das, was er liebt, schätzt und zu fördern strebt. Seine Worte können deshalb so benutzt werden, weil jede der beiden Komponenten – Eigenschaftszuschreibung bzw. Einstellungs- oder Affektäußerung – der Bedeutung von »gut«, »böse« und ähnlichen Wörtern außer Kraft gesetzt werden kann.
Dieses komplexe und verwirrende Konglomerat aus Einstellungen, Affekten und Überzeugungen, das für den Zustand der Sünde konstitutiv ist, ist (wie schon Augustinus und Pascal festgestellt haben) ein fruchtbarer Nährboden für Mehr-
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deutigkeiten und Selbsttäuschung.¹⁶ Dem erweiterten Modell zufolge verfügen wir Menschen im Regelfall zumindest über ein gewisses Maß an Gotteserkenntnis und wissen immerhin etwas über die an uns gestellten Forderungen. So verhält es sich auch im Zustand der Sünde und sogar unabhängig davon, ob wir wiederhergestellt werden. Der Zustand der Sünde setzt zwar eine Beschädigung, aber keine Auslöschung des sensus divinitatis voraus. Dieser bleibt bei den meisten von uns teilweise in Funktion. Normalerweise wissen wir deshalb ein wenig über Gottes Anwesenheit, über seine Eigenschaften und seine Forderungen, doch dieses Wissen wird überdeckt, behindert, unterdrückt. Wir sind geneigt, Gott zu hassen, aber verwirrenderweise haben wir gleichzeitig irgendwie die Tendenz, ihn zu lieben und ihn zu suchen. Wir sind geneigt, unseren Nächsten zu hassen und ihn im Kampf um knappe Güter als Konkurrenten wahrzunehmen, aber zugleich haben wir paradoxerweise die Tendenz, ihn zu schätzen und zu lieben. Vielleicht erkenne ich in halb unterschwelliger Weise, dass in meinem Leben tiefe Unordnung oder noch Schlimmeres herrscht. Zum Teil erkenne ich den Egoismus und die Selbstbezogenheit, die die meisten Augenblicke meines bewussten Lebens charakterisieren.Vielleicht merke ich, dass ich mir sogar (oder vielleicht vor allem) im Selbstgespräch – also in einer Lage, in der es nicht darum geht, andere zu beeinflussen – verschiedene Situationen einbilde, ausmale und vor Augen führe, in denen ich als Sieger, Held oder tugendhafter Langzeitdulder dastehe, auf jeden Fall jedoch als durch und durch bewundernswerte Person. Mag sein, dass ich aus dem Augenwinkel das Törichte und Lasterhafte daran erkenne, aber in den meisten Fällen schenke ich dem keine Beachtung. Ich ignoriere es, verberge es vor mir selbst und fliehe in die Arbeit, in Projekte, Familienangelegenheiten, den ganzen Bereich des Alltagslebens. (Bei Pascal heißt es: »Jetzt gerade habe ich keine Zeit – ich muss auf den Schlag meines Gegners reagieren.«¹⁷) Diese Mehrdeutigkeit reicht sogar noch tiefer. Hier muss man notgedrungen dem Apostel Paulus Recht geben: »Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will« (Römer 7, 19). Ich tue oft etwas, wovon ich weiß, dass es das Falsche ist, obwohl ich gar nicht das Falsche tun will; und oft tue ich nicht das Richtige, obwohl ich das Richtige tun will. Offenbar tue ich nicht das, was ich tun möchte, und tue statt dessen, was ich nicht tun möchte. Oder ist es so: Ich will genau diese Handlung vollziehen, halte sie aber nicht für falsch, obwohl mir zu anderen Zeiten völlig klar ist, dass sie falsch ist, und obwohl ich die Tat
Ein Beitrag aus moderner Sicht ist Bas van Fraassens Artikel »The Peculiar Effects of Love and Desire«, in: A. Rorty u. B. McLaughlin (Hg.), Perspectives on Self-Deception, Berkeley, CA: University of California Press 1988. Hier wirft van Fraassen Licht auf einige der verwickelten und tief reichenden Aspekte des Problems der Selbsttäuschung. Zitiert in: van Fraassen, »The Peculiar Effects of Love and Desire«.
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keinesfalls begangen haben möchte? Oder so: Zum relevanten Zeitpunkt erkenne ich (zumindest bis zu einem gewissen Grade), dass die Handlung falsch ist, bzw. ich würde es deutlich erkennen, wenn ich darauf achtete (und bin mir halbwegs auch über diese Tatsache im klaren), aber ich achte nicht darauf, weil ich diese Handlung vollziehen will? Oder so: Wenn ich etwas Falsches tue, will ich das Falsche tatsächlich tun, obwohl ich nicht das Falsche tun zu wollen will? Oder so: Wenn ich das Falsche tun will, werfe ich nicht einmal vor mir selbst die Frage auf, ob es das Falsche ist? Es kann so aussehen, als seien meine zweitstufigen Affekte im Regelfall besser abgestimmt und kalibriert als die Affekte erster Stufe, denn häufig will ich das Falsche tun, während es sehr viel seltener vorkommt, dass ich das Falsche tun zu wollen will. Ich möchte die richtigen Dinge – d. h., die aus meiner Sicht richtigen Dinge – lieben bzw. hassen, obwohl ich (wie ich betrübt einsehe) faktisch die falschen Dinge liebe bzw. hasse. Ich habe zwar gar nicht den Wunsch, mich selbst mehr zu lieben als alles andere, aber das hindert mich nicht daran, mich selbst mehr zu lieben als alles andere. Es gibt ein altes Rätsel (bzw. ein Rätselpaar), das die Frage aufwirft, wie eine menschliche (oder nichtmenschliche) Person überhaupt in diesen Zustand geraten könne und ob das Problem des Verstandes oder das Problem des Willens das tiefere sei. Nach Calvin (Institutio II, i, 4, S. 135) ist der Ungehorsam die erste und eigentliche Ursünde. An anderer Stelle sagt er, es sei der Mangel an Gottvertrauen. Nach Augustinus¹⁸ wiederum ist der Hochmut die tiefste Wurzel der Sünde. An anderer Stelle sagt er außerdem, es sei der Neid, dem diese nicht beneidenswerte Position zukomme. Diese vier Zustände stehen offenkundig in Zusammenhang miteinander: Aus Hochmut mache ich mir ein Bild von mir selbst, dem zufolge mir niemand überlegen ist – auch Gott nicht. Daher irritiert es mich, dass ich ihm gehorchen muss. Und wenn er verlangt, dass ich ihm gehorche, werde ich da nicht beginnen, Misstrauen gegen ihn zu hegen? (Ich will ihm nicht gehorchen. Da ist es nur noch ein kleiner Schritt, bis ich mir weisgemacht habe: was er von mir verlange, sei gar nicht zu meinem eigenen Wohl.) Natürlich bin ich mir auch darüber im klaren, keinen göttlichen Rang zu bekleiden. Daher der Neid – und wieder kommt es zu Mehrdeutigkeiten und Selbsttäuschungen.Vielleicht entspringen alle diese Faktoren dem prometheischen Autonomieverlangen – dem Wunsch, nichts und niemandem verpflichtet zu sein. Doch wie ist es möglich, dass ich überhaupt in den Zustand gerate, diese Autonomie zu wollen? Oder anders gefragt, da ich ja in diesen Zustand hineingeboren wurde: Wie konnte es Eva passieren? Sie wusste Psalm 18, ii, 15. Daraus entwickelte sich ein Thema, das im Mittelalter immer wieder angestimmt wurde. Vgl. etwa Petrus Lombardus, II sent., d. 42, c. 7: »Superbia radix cuncti mali, et initium omnis peccati – Der Hochmut ist die Wurzel des Bösen und der Anfang aller Sünde.« Luther war ebenfalls dieser Meinung, siehe seine Vorrede zum Römerbrief (1522).
III Das Wesen der Sünde
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doch, dass allein Gott das erste Wesen der Welt ist. Außerdem wusste sie, dass sie Gott Gehorsam und Liebe schuldete; und sie wusste auch, dass es in ihrem eigenen Interesse war, Gott zu lieben und zu dienen. Ja, eigentlich liebte sie ihn und diente sie ihm tatsächlich.Wie war es also möglich, dass sie in diesen Zustand der Sünde geriet? Hier muss ein Defekt des Verstandes ins Spiel kommen: Irgendwie muss sie zu einer falschen Überzeugung gelangt sein. Irgendwie wird sie getäuscht und kommt auf die Idee, es wäre besser für sie, ihren eigenen Weg zu gehen und eine völlig eigenständige Person zu sein. Doch wie war es möglich, auf einen solchen Gedanken zu verfallen? Calvin schreibt: »[D]as geschah nicht nur, weil er [Adam] von den Lockungen des Satans umstrickt wurde, sondern auch, weil er unter Verachtung der Wahrheit sich zur Lüge wandte« (Institutio, II, i, 4, S. 135). Es verhielt sich also nicht bloß so, dass Adam ohne eigene Schuld zu einer falschen Überzeugung gelangte. Er wurde zwar wirklich getäuscht, aber er selbst hatte dabei die Hand im Spiel. Zum Teil war es Selbsttäuschung. Er verachtete die Wahrheit, und die Ursache dafür war, dass seine Affekte irgendwo auf die falsche Bahn geraten waren: Er wurde vom Hochmut erfasst. Dennoch stellt sich nach wie vor die Frage, warum seine Affekte diesen Irrweg einschlugen. Er muss doch gewusst haben, dass dieser Ungehorsam sowohl etwas Schlimmes war als auch seinem eigenen Wohl zuwiderlief. Also muss es einen vorgängigen Fehler auf der Verstandesebene gegeben haben. Aber wo konnte ein solcher Fehler seinen Ursprung haben? Wie konnte es dazu kommen? Es muss aufgrund von Selbsttäuschung geschehen sein, indem er sich von etwas abwandte, wovon er in gewissem Sinne wusste, dass es die Wahrheit war. Doch warum sollte er sich selbst täuschen? Hier besteht eine komplizierte, vielfältige, dialektische Beziehung zwischen Verstand und Wille, und diese Beziehung erlaubt es uns nicht festzustellen, im Hinblick auf den Sündenfall habe die eine Instanz absoluten Vorrang vor der anderen. In irgendeiner Weise, so meint man, müssen der Hochmut und das Streben nach Autonomie am Grunde dieser ganzen Bescherung liegen. Irgendwie stellt sich insgeheim der Wunsch ein, wie Gott zu sein – ja ihm ebenbürtig zu sein –, und nicht mehr die zweite Geige spielen zu müssen (bzw. die n-te Geige – für sehr hochzahliges n). Letztlich bleibt das Rätsel freilich bestehen: Woher rührt dieser heimliche Wunsch nach Gottgleichheit überhaupt? Wie konnte die bloße Idee auch nur in die Seele Adams eindringen? In gewisser Weise fällt es uns nicht schwer, das zu verstehen, denn wir selbst sind ebenfalls verdorbene Wesen mit der gleichen Verrücktheit des Willens. Adam jedoch wurde als vollkommenes Wesen geschaffen. Wie konnte es also geschehen? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Gott gewährt uns einen gewissen Autonomie-Spielraum (wir können ihn akzeptieren oder ablehnen), und der genannte Wunsch entsteht irgendwie aus dieser Autonomie. Ich sehe, wie Gott beschaffen ist, ich sehe, wie ich selbst be-
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schaffen bin, und nun habe ich folgende Wahl – eine Wahl, die ich zum Teil vor mir selbst verberge: Ich kann mich an meinem Zustand – einem wunderbaren, guten Zustand – erfreuen, oder ich kann mich dem Neid hingeben. (Vielleicht ist es zunächst ein bloßes Zwicken – ein geringfügiges Unbehagen, das ich nicht einmal namhaft machen kann –, ein unterirdischer Gedankensplitter: Warum kann ich selbst nicht so sein, nämlich so wie Gott, der niemandem etwas schuldet und in dessen Wesen es liegt, dass sein Wille bestimmt, was gut ist?) Um einen spekulativen Gedanken ins Spiel zu bringen: Für jedes von Gott erschaffene freie Geschöpf gilt, dass der Sündenfall offensichtlich eine Möglichkeit darstellt. Gott kann keine Wesen mit einem erheblichen Maß an Freiheit schaffen, die nicht der Sünde anheimfallen können. Und vielleicht besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass gerade freie Wesen (also Wesen mit einem gewissen Autonomie-Spielraum), die nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurden, der Sünde anheimfallen. Gott macht sich daran, Wesen nach seinem eigenen Ebenbild zu schaffen, und tatsächlich ähneln sie ihm insofern, als sie Wille und Verstand besitzen, und außerdem erkennen sie die strahlende Schönheit, das Herrliche und Begehrenswerte der Stellung Gottes. Gott selbst ist der Mittelpunkt der Welt. Seine Geschöpfe sehen, wie prächtig, wunderbar und begehrenswert diese Lage ist. Insoweit man frei ist und sowohl die Herrlichkeit als auch die enorme Attraktivität dieser Stellung erkennt, besteht womöglich die starke Tendenz, sich selbst das gleiche zu wünschen. Vielleicht ist es sehr wahrscheinlich, dass Wesen, die nach Gottes Ebenbild geschaffen werden, ihm schließlich auch insofern gleichen, als sie sich selbst im Mittelpunkt der Welt sehen wollen und sich wirklich in dieser Position sehen. Mag sein, dass es in freien Wesen, die den glorreichen Status Gottes kennen und ihn wirklich als etwas Herrliches und Begehrenswertes sehen, mit hoher Wahrscheinlichkeit von vornherein angelegt ist, in diesen Zustand zu geraten. Es gibt mögliche Welten, in denen freie Geschöpfe mit diesem Wissen und diesen Affekten existieren, ohne jedoch in den Zustand der Sünde zu geraten, aber vielleicht bilden diese Welten nur einen winzigen Teil des Raums der Gesamtheit möglicher Welten mit freien Geschöpfen. Der Sündenfall ist weder unvermeidlich noch notwendig. Dennoch dürfte seine objektive Wahrscheinlichkeit sehr hoch sein.
IV Die noetischen Auswirkungen der Sünde A Die Hauptkonsequenz Das sind tiefe und dunkle (und finstere) theologische Gewässer. Zum Glück braucht unser Modell weder zu der Frage, wie es möglich war, dass die Geschöpfe Gottes der Sünde anheimfielen, Stellung zu beziehen noch zu der Frage, ob der Verstand oder der Wille beim Sündenfall die Hauptrolle spielt. Hier sollte der Hinweis genügen, dass wir Menschen tatsächlich von einem tadellosen in einen sündigen Zustand geraten sind, wobei sowohl der Verstand als auch der Wille betroffen sind. Es handelt sich um ein affektives Unbehagen, eine Fehlfunktion oder Verrücktheit des Willens. Aber außerdem handelt es sich um eine kognitive
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Beeinträchtigung, und im folgenden werden wir die kognitiven Konsequenzen der Sünde ein wenig eingehender untersuchen. Dem erweiterten A/C-Modell zufolge betreffen die noetischen Auswirkungen der Sünde vor allem unsere Kenntnis anderer Personen, unsere Selbst- und unsere Gotteserkenntnis.Weniger (oder in anderer Weise – vgl. S. 254) einschlägig sind sie, wenn es um unsere Kenntnis der Natur und der Welt geht. Die Sünde beeinträchtigt meine Kenntnis anderer Personen in vielen Hinsichten. Aufgrund von Hass oder Abneigung gegen eine bestimmte Menschengruppe halte ich sie vielleicht für minderwertig oder mir selbst und meinen besonders tüchtigen Freunden unterlegen. Aufgrund von Feindseligkeit und Ressentiment kann es geschehen, dass ich die Einstellung eines anderen Menschen zu mir falsch einschätze oder völlig missverstehe, so dass ich etwa den Verdacht hege, er wolle mir schaden, während in Wirklichkeit gar nichts dran ist an dieser Mutmaßung.¹⁹ Aufgrund der maßgeblichen Ursünde des Hochmuts kann ich unbewusst und von mir selbst fast unbemerkt zu der Annahme gelangen, ich sei der Mittelpunkt der Welt, indem ich die Bedeutung aller Dinge, die mir – und nicht anderen – widerfahren, in ungeheurem Maße übertreibe. (Freilich werde ich es, wenn man mich danach fragt, bestreiten, je dergleichen gedacht zu haben.) Es kann vorkommen, dass ich das Ausmaß der eigenen Leistungen und Errungenschaften enorm überschätze²⁰ und die Leistungen der anderen dementsprechend bagatellisiere. Außerdem kann es sein, dass ich die eigene Sünde gar nicht wahrnehme oder sie als weniger abscheulich ansehe, als sie wirklich ist. Womöglich sehe ich mich selbst nicht als ein Wesen, das, wenn man es nicht durch die Optik des Opfers Christi betrachtete, die Strafe Gottes verdient hätte. (Zu den Schäden, welche die Sünde anrichtet, gehört also auch der Umstand, dass
Es gibt auch Meinungen, die ein wohlmeinender Mensch nach unserer Überzeugung gar nicht vertreten kann, so dass ihr Vorkommen ein Prima-facie-Beleg für Schuldhaftigkeit ist (siehe meinen Artikel »Reason and Belief in God«, in: Alvin Plantinga u. Nicholas Wolterstorff (Hg.), Faith and Rationality, Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press 1984, S. 36). Nach Dietrich Bonhoeffer setzen bestimmte Formen der Erkenntnis – etwa der Erkenntnis des Wegs, auf dem man zur Erlösung oder zum Glück gelangen kann – Gehorsam voraus. Das heißt, es sei unmöglich, ohne Gehorsam zu dieser Art von Erkenntnis zu gelangen (Bonhoeffer, Nachfolge [1937], Werke, Band 4, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008). »Es ist kaum auszudrücken und beinahe unvorstellbar, eine wie starke Neigung zur Selbstgerechtigkeit und Selbstverherrlichung in der Natur des Menschen angelegt ist, was er nicht alles anstellen und erdulden wird, um dieser Neigung entgegenzukommen und sie zu befriedigen, während man in anderen Hinsichten zur scheinbaren Selbstverleugnung alles Mögliche auf sich nimmt […], und alles nur, um diesem Moloch des spirituellen Hochmuts, der Selbstgerechtigkeit zu opfern, damit man etwas hat, dessen man sich vor Gott rühmen und womit man sich über die Mitmenschen erheben kann« (Jonathan Edwards, Religious Affections, New Haven:Yale University Press 1959, S. 241).
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ich diese Schäden gar nicht wahrnehme.) Die Einsicht, dass wir Ebenbilder Gottes – des ersten Wesens der Welt – sind, kann ebenfalls beschädigt, beeinträchtigt oder abgeschwächt sein. Vielleicht glauben wir beispielsweise, menschliche Eigenschaften und Tätigkeiten, die den Menschen auszeichnen – wie Liebe, Humor, Abenteuer, Kunst, Musik, Naturwissenschaft, Religion und Moral –, ließen sich verstehen, indem man unsere Gottesebenbildlichkeit außer acht lässt und ausschließlich auf unsere Entwicklungsgeschichte abhebt.²¹ Es kann sein, dass wir durch mangelnde Gotteserkenntnis zu einer völlig verkehrten Vorstellung von dem gelangen, was wir selbst sind, was wir brauchen, was für uns von Vorteil ist und wie wir es bekommen können. Die gravierendsten noetischen Auswirkungen der Sünde hängen mit der Gotteserkenntnis zusammen. Ohne die Sünde und ihre Wirkungen wären die Präsenz und die Herrlichkeit Gottes für uns alle genauso offenkundig und unstrittig wie die Existenz des Fremdpsychischen, der physischen Gegenstände und der Vergangenheit. Allerdings kann der sensus divinitatis – wie jeder andere kognitive Prozess auch – Fehlfunktionen ausgesetzt sein. Infolge der Sünde ist er tatsächlich beschädigt worden.²² Unsere ursprüngliche Kenntnis Gottes und seiner Herrlichkeit ist abgedämpft und defekt. Aufgrund der Sünde ist sie durch Dummheit verdrängt worden sowie durch Stumpfheit, Blindheit und die Unfähigkeit, Gott überhaupt oder in seinen Werken wahrzunehmen. Unsere Kenntnis seines Charakters und seiner Liebe zu uns kann unterdrückt und sogar in den
So glaubt Herbert Simon, die rationale Verhaltensweise bestehe darin, dass man im Sinne der Steigerung der eigenen Leistungsfähigkeit handelt bzw. zu handeln versucht, also handelt, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass die eigenen Gene in der nächsten Generation und in den folgenden Generationen möglichst weite Verbreitung finden, womit man sich im evolutionären Wettstreit hervortue. Das sei, wie Simon meint, eine Gegebenheit unserer Entwicklungsgeschichte (»A Mechanism for Social Selection and Successful Altruism«, in: Science 250 [1990], S. 1665 ff.). Doch wie erklärt man dann das Verhalten von Personen wie Mutter Teresa, dem schottischen Missionar Eric Liddel, den missionierenden Jesuiten des siebzehnten oder den methodistischen Missionaren des neunzehnten Jahrhunderts? Warum widmen solche Menschen ihre Zeit, ihre Kraft, ja ihr ganzes Leben dem Wohlergehen anderer Personen, ohne sich offenbar im Geringsten um das Geschick ihrer Gene zu kümmern? Nach Simon kommen hier zwei Mechanismen zum Zuge: die »Fügsamkeit«, aufgrund deren sie ungewöhnlich stark dazu neigen, das zu glauben, was ihnen von anderen gesagt wird (S. 1666), und ihre »begrenzte Rationalität« (S. 1667), also – um es ungeschminkt auszudrücken – ihre Dummheit. Das Modell beinhaltet nicht, dass man behaupten muss, die Beschädigung des sensus divinitatis einer bestimmten Person gehe auf Sünden derselben Person zurück. Mit dieser Beschädigung verhält es sich ebenso wie mit anderen Krankheiten und Gebrechen: Letzten Endes ist sie zwar auf das Wüten der Sünde zurückzuführen, doch dabei braucht es sich nicht unbedingt um Sünden zu handeln, die von der erkrankten Person begangen wurden. In diesem Zusammenhang siehe Jesu Bemerkungen über den Blindgeborenen (Johannes 9, 1– 3).
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entrüsteten Gedanken verwandelt werden, man müsse Angst vor Gott haben und ihm misstrauen. Womöglich sehen wir ihn als ein gleichgültiges oder sogar als ein bösartiges Wesen. Im Rahmen der traditionellen Taxonomie der sieben Todsünden handelt es sich hier um die acedia, die Trägheit des Herzens, bei der es um mehr geht als schlichte Trägheit, etwa die Neigung, sich hinzulegen und Fernsehen zu schauen, anstatt hinauszugehen und sich die nötige Bewegung zu verschaffen. Vielmehr handelt es sich um eine Form von spiritueller Taubheit, Blindheit,Wahrnehmungsunfähigkeit, Dumpfheit, Apathie – das mangelnde Bewusstsein der Gegenwart, der Liebe und der Forderungen Gottes.²³ Außer dem allgemeinen Schaden, der durch den Zustand der Sünde selbst entsteht, besteht hier auch noch die Möglichkeit spezieller Schädigungen oder Krankheiten. Vielleicht funktioniert der sensus divinitatis bei manchen Menschen zu bestimmten Zeiten gar nicht. Außerdem können die ohnehin schon abgedämpften Leistungen des sensus divinitatis ohne weiteres unterdrückt und behindert werden. Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen, beispielsweise indem man bewusst oder halb bewusst die Aufmerksamkeit von ihnen ablenkt.Vielleicht werde ich von Schuldgefühlen, die ich vor Gott empfinde, gequält oder vielleicht von meinem Wunsch, ein Leben zu führen, von dem ich annehme, dass Gott es missbilligt. Dann bin ich womöglich geneigt, mir (im Anschluss an Paul Tillich) ein Bild von Gott zu machen, das ihn nicht als eine lebendige Person, die über mich urteilt, darstellt, sondern als einen unpersönlichen abstrakten Gegenstand (den »Seinsgrund«). Oder ich begreife ihn als ein Wesen, das sich nicht um das tagtägliche Verhalten seiner Geschöpfe kümmert. Oder ich denke ihn mir nicht als einen heiligen Gott, der die Sünde hasst, sondern ich stelle mir eher einen nachsichtigen Großvater vor, der die kindischen Streiche seiner Enkel mit einem Lächeln quittiert. Das ist nur einer von mehreren Wegen, auf denen die Sünde die Leistungen des Gottessinns behindert. Ein weiterer Weg, auf dem dieser Sinn gestört werden kann, ist der Weg der Zeugnisse oder Fremdaussagen. (Damit sind nicht nur Fälle wie der gemeint, in dem jemand auf mich zueilt, um mir atemlos mitzuteilen, dass
Es ist diese Trägheit im Sinne von Blindheit, auf die C. S. Peirce bei David Hume stößt: »Als ich neulich an jedem Mund, durch den der Mensch Leid trinken kann, litt, machte ich einen Beschwichtigungsversuch, indem ich drei Bücher las, die ich schon lange nicht mehr gelesen hatte, und zwar drei religiöse Bücher: Die Pilgerreise von John Bunyan, den Trost der Philosophie von Boethius und die Dialoge über natürliche Religion von Hume. Diese zuletzt genannte Schrift war aufgrund der völligen Blindheit des Mannes besonders wohltuend« (zitiert in: Edward T. Oakes, »Discovering the American Aristotle«, in: First Things [1993], S. 27). Insofern die (so verstandene) acedia (zum Teil) ein Element der Ursünde ist, ist sie etwas, wofür man nicht zur Gänze verantwortlich ist.
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mein Haus abbrennt, sondern auch der gesamte Gang meiner Erziehung und Enkulturation durch Eltern und andere Zeitgenossen.) Vielleicht wird mir beigebracht zu glauben, eine Person wie Gott gebe es gar nicht, der Glaube an Gott sei ein Resultat des Aberglaubens und gehöre in die Kindheit des Menschengeschlechts. Womöglich habe ich Don Cupitt gelesen (nachdem ich halluzinogene Drogen geschluckt habe) und komme zu der Auffassung, Menschen, die wirklich an Gott glauben, seien bemitleidenswert oder lächerlich. Oder ich bin im Sinne der These erzogen worden, der echte theistische Glaube sei eine allgemein verbreitete neurotische Obsession der Menschheit, und nun gelange ich allmählich dahin, den gläubigen Rest der Menschheit mit amüsierter Herablassung zu betrachten. Aus diesen oder sonstigen Gründen nehme ich die Bekundungen des Gottessinns nicht zur Kenntnis, wobei ich mich gewiss ein wenig darüber schäme, dass er sich überhaupt in meinem Herzen regt. Normalerweise wird es hier ein kompliziertes Wechselspiel zwischen Schuld und Schaden geben – zwischen dem, was auf meine eigene Sünde (im primären Sinn) zurückgeht, und dem, was sich den von mir nicht steuerbaren noetischen Auswirkungen der Sünde verdankt.²⁴ Zum Vergleich: Von Thomas Reid und anderen Autoren wird darauf hingewiesen, dass die Idee der Wahrheit als einer Beziehung zwischen Überzeugungen und der Welt zu unserem ursprünglichen noetischen Rüstzeug gehört. Normalerweise gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass es so etwas wie die Wahrheit wirklich gibt; und außerdem gehen wir normalerweise im Hinblick auf jede gegebene Überzeugung, die wir vertreten, wie selbstverständlich davon aus, dass sie tatsächlich wahr ist. Aber die entsprechende kognitive Umgebung kann unseren Wahrheitsbegriff abwürgen und ersticken, so dass manche Menschen unter bestimmten Umständen zuletzt offenbar ohne jeden Wahrheitsbegriff dastehen bzw. – was noch eher wahrscheinlich ist – mit einer Denkweise, die tiefe und verdeckte Konflikte an den Tag legt. Abartiges Philosophieren ist ein Weg, auf dem das geschehen kann. Im Anschluss an gewisse postmoderne Denker kann ich zu der Einsicht gelangen, dass der klassische Fundierungsgedanke zutiefst verfehlt ist; und anschließend ziehe ich leichten Herzens (aber in abwegiger Weise) den Schluss, so etwas wie die Wahrheit gebe es eigentlich gar nicht. (Es gebe nur meine Lesart, deine Lesart usw. Wo sich diese Lesarten unterscheiden, gehe es nicht um eine Frage der Wahrheit, sondern nur um eine Frage der Macht.) Es gibt
Außerdem gibt es jene, »die zwar ständig lernen und die doch nie zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen können« (2. Timotheus 3, 7), an denen schon Paulus und Tertullian ebenso verzweifelt sind wie jener in The Great Divorce von C. S. Lewis beschriebene Theologe, der die Hölle deshalb interessanter findet als den Himmel, weil es dort mehr Spielraum für lebhafte und kontroverse theologische Untersuchungen und Diskussionen gibt. (Im Himmel herrscht ja diese lähmende theologische Einförmigkeit …)
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aber auch noch andere Wege, auf denen es dazu kommen kann. Man sagt, eines der gravierendsten Ergebnisse der lange währenden kommunistischen Tyrannei in Osteuropa sei gerade die Unterdrückung der Wahrheitsidee gewesen. Die Wahrheit wurde offiziell so häufig und dermaßen zynisch verdreht, dass den Menschen schließlich der Wahrheitsbegriff selbst abhanden kam. (So hieß beispielsweise das offizielle kommunistische Parteiorgan, das der Verbreitung dieser Propaganda diente, ironischerweise Prawda, also Wahrheit.) Die Menschen wurden auf jeder Ebene in völlig schamloser und eklatanter Weise belogen. Sie wussten auch, dass sie belogen wurden, wussten, dass die Lügner ihrerseits wussten, dass sie logen und dass die Angelogenen wiederum wussten, dass man sie anlog, usw. Das Resultat lief darauf hinaus, dass sich die ganze Idee der Wahrheit tendenziell in Luft auflöste. Man pflegte zu sagen, was von Vorteil war, während sich die Frage, ob das Gesagte wahr sei, gar nicht mehr stellte. In der gleichen Art und Weise kann auch der sensus divinitatis beschädigt, verdreht oder sogar überhaupt unterdrückt werden.
B Sünde und Erkenntnis Die wichtigste kognitive Konsequenz der Sünde besteht also in mangelnder Gotteserkenntnis. Dieser Mangel kann darüber hinaus weitere kognitive Konsequenzen haben. Derzeit sind vor allem im akademischen Bereich Zweifel und Agnostizismus hinsichtlich der bloßen Existenz Gottes weit verbreitet. Doch wenn wir nicht wissen, dass es jemanden wie Gott gibt, wissen wir nicht einmal das Elementarste (das Wichtigste) über uns selbst, einander und unsere Welt. So verhält es sich deshalb, weil die (vom Standpunkt des Modells aus betrachtet) wichtigsten Wahrheiten über uns und die anderen besagen, dass wir vom Herrn geschaffen wurden und im Hinblick auf unsere Fortexistenz völlig von ihm abhängen.²⁵ Wir wissen sonst nicht, worin unser Glück besteht, und wir wissen auch nicht, wie wir es erlangen können. Wir wissen nicht, dass wir nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurden, und sind außerstande, die Bedeutung charakteristisch
In diesem Zusammenhang sollte man die verachteten Kreationisten betrachten, die glauben, dass die Welt nur zehntausend Jahre alt sei. Sie sind unwissend – erbärmlich unwissend – hinsichtlich der Frage, wann Gott die Welt erschuf. Doch vom Standpunkt unseres Modells aus gesehen, verblasst diese Unwissenheit zu völliger Belanglosigkeit, wenn man sie mit der Unwissenheit vieler kultivierter Kritiker vergleicht, die törichterweise glauben, es gebe keinen Gott, und die daher (selbstverständlich) keine Kenntnis von dem sehr viel wichtigeren Faktum haben, dass die Welt tatsächlich von Gott geschaffen wurde.
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menschlicher Phänomene wie Liebe, Humor, Abenteuerlichkeit, Naturwissenschaft, Kunst, Musik, Philosophie, Geschichte usw. zu erfassen. Können wir hier noch einen weiteren Schritt tun? Nach Johannes Calvin gilt: »Freilich, ohne die Beziehung auf Christus wird bei uns der Irrtum im ganzen und im einzelnen unvermeidlich.«²⁶ Vielleicht will Calvin nur das gleiche sagen, was wir bereits festgestellt haben, nämlich dass jemand, der Gott nicht erkennt, die wichtigste Wahrheit über alles andere ebenfalls nicht kennt.Vielleicht will Calvin aber noch mehr sagen, nämlich dass diejenigen, die keine Ahnung von Gott haben, unter einer sehr viel weiter reichenden Form kognitiver Deprivation leiden und im Grunde gar nichts wissen. (Diese Auffassung wird jedenfalls – sei’s zu Recht oder zu Unrecht – einigen Anhängern Calvins zugeschrieben, so z. B. Cornelius van Til.) Dieses Urteil wirkt jedoch ein wenig schroff, vor allem da viele Menschen, die nicht an Gott glauben, über einige Themen sehr viel mehr zu wissen scheinen als die meisten Gläubigen. (Hätte es beispielsweise Sinn, wenn ich, obwohl ich bestenfalls ganz einfache Logikaufgaben lösen kann, behauptete, mehr von Logik zu verstehen als beispielsweise Willard Van Orman Quine, und das damit begründete, dass ich immerhin überhaupt etwas von Logik verstehe, während er als Ungläubiger gar nichts über diesen oder irgendeinen anderen Gegenstand wisse?) In der gegebenen Formulierung ist dieser Gedanke völlig verfehlt. Gewiss gibt es Nichttheisten, die einige Dinge wissen. Beispielsweise wissen sie aufs Jahr genau, wie alt sie sind, mit wem sie gegebenenfalls verheiratet und an welcher Universität sie beschäftigt sind. (Wäre es anders, würde die heutige Universitätslandschaft noch mehr Verwirrung an den Tag legen, als es ohnehin schon der Fall ist.)
1 Sünde und Skepsis Es lassen sich jedoch zwei weniger pauschale Ansichten vertreten, für die sehr viel mehr spricht. Wer im Hinblick auf die Existenz Gottes Agnostiker ist, wird sich vielleicht auch im Hinblick auf seinen eigenen Ursprung und seinen Ort im Universum agnostisch verhalten. Im vorliegenden Abschnitt werde ich geltend machen, dass jemand, der im Hinblick auf seinen Ursprung und seinen Ort im Universum eine bestimmte Form von Agnostizismus vertritt und sich überdies für ein bestimmtes überzeugendes Argument entscheidet, im Grunde gar nichts wissen wird. Nichts von dem, was er glaubt, wird ausreichend gewährleistet sein, um als Wissen zu gelten. Um diesen Vorschlag zu erkunden, dürfen wir zunächst
Calvin, Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung. Das erste Buch Mose, 1. Band, Neukirchen: Neukirchener Verlag 1919, S. 13.
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vielleicht den schottischen Philosophen David Hume heranziehen. Nach Thomas Reid, dem bedeutenden Zeitgenossen und Gegenspieler Humes, ist Hume Skeptiker im Hinblick auf äußere Gegenstände, das dauerhafte Selbst, Fremdpsychisches, Kausalität, die Vergangenheit usw.²⁷ Aus Reids Sicht meint Hume, es sei nicht richtig, die Dinge zu glauben, die wir normalerweise glauben. Es ist nicht so, als ob Hume schlicht verkündete, dass wir de facto nicht wirklich alles das wissen, was wir über äußere Gegenstände, kausale Beziehungen und das eigene Selbst zu wissen glauben.Vielleicht wäre das ja schon schlimm genug, aber es geht hier um etwas sehr viel Tieferes. Das, worum es sich handelt, können wir erkennen, indem wir uns anschauen, was Hume am Ende des I. Buchs seines Traktats schreibt.²⁸ Hier beschränkt er sich nicht auf die ungerührte Mitteilung des uns Menschen betreffenden, nicht ganz uninteressanten Faktums, dass die Zahl unserer Überzeugungen, die wirklich Wissen konstituieren, geringer ist, als wir normalerweise annehmen. Vielmehr steckt er in einer Art existentieller Krise. Er weiß einfach nicht, was er glauben soll. Wenn er den augenscheinlichen Regungen und der Stimme der Vernunft nachzugehen versucht, endet er immer wieder in einem finsteren Schacht und weiß nicht, wohin er sich wenden soll: Wo bin ich, oder was bin ich? Aus welchen Ursachen leite ich meine Existenz her und welches zukünftige Dasein habe ich zu hoffen? Um wessen Gunst soll ich mich bewerben und wessen Zorn muß ich fürchten? Was für Wesen umgeben mich? Und auf wen wirke ich oder wer wirkt auf mich? Ich werde verwirrt bei allen diesen Fragen; ich fange an mir einzubilden, daß ich mich in der denkbar beklagenswertesten Lage befinde, daß ich umgeben bin von der tiefsten Finsternis, des Gebrauchs jedes Gliedes und jedes menschlichen Vermögens vollständig beraubt. (S. 346 – 347)
Hier haben wir es natürlich mit Hume, wie er sich im Arbeitszimmer gibt, zu tun, also bevor er das Zimmer verlässt, um die berühmte Partie Tricktrack zu spielen. Zum Glück sorgt die Natur selbst dafür, diese Wolken der Verzweiflung zu vertreiben: Sie ist es, die »mich von meiner philosophischen Melancholie und meiner Verwirrung heilt, sei es, indem sie die geistige Überspannung von selbst sich lösen
Obschon Reids Auffassung bezüglich der Hume-Interpretation die Mehrheitsmeinung darstellt, hat es immer schon eine Minderheitenmeinung gegeben, der zufolge Hume eigentlich gar kein Skeptiker ist. Diese frappierende Meinungsverschiedenheit ist ein Beleg dafür, dass Hume ein völliges Rätsel ist: Bei ihm kaschiert eine gewisse Oberflächenklarheit eine zugrundeliegende Tiefentrübe, die zuversichtliches Interpretieren unmöglich macht. Treatise of Human Nature (1739), hg.von L. A. Selby-Bigge, Oxford: Clarendon Press 1951, S. 263 (hg. von Reinhard Brandt, übers. von Theodor Lipps: Ein Traktat über die menschliche Natur, Band I, Hamburg: Meiner 1989, S. 341 ff.). Weitere Seitenverweise beziehen sich auf diese Übersetzung.
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lässt, sei es, indem sie mich aus ihr durch einen lebhaften Sinneseindruck, der alle diese Hirngespinste verwischt, gewaltsam herausreißt. Ich esse, spiele Tricktrack, unterhalte mich, bin lustig mit meinen Freunden« (S. 347). Dennoch wird der aufgeklärte Mensch, wie Hume meint, die Tröstungen der Natur von sich fernhalten. Er weiß, dass er nicht umhin kann, sich in die allgemeine Illusion zu fügen, aber er erhält seine skeptische Einstellung zu den »in aller Welt geltenden Grundsätzen« aufrecht und macht sich eine gewisse ironische Distanziertheit zu eigen, eine vorsichtige Doppelbödigkeit des Geistes: »Ich darf gewiss, ja ich muss dem Drange der Natur folgen, und mich meinen Sinnen und meinem Verstand unterwerfen. In dieser blinden Unterwerfung zeige ich ja eben meine skeptische Neigung und meine skeptischen Grundsätze am vollkommensten« (S. 347). Darin liegt die Ironie der Condition humaine: Die Aufgeklärten können erkennen, dass das, was uns die Natur unweigerlich zu glauben veranlasst, falsch oder willkürlich oder bestenfalls äußerst fragwürdig ist. Außerdem erkennen sie aber auch, dass selbst die Besten unter uns einfach nicht über die inneren Reserven verfügen, um sich erfolgreich gegen die Überredungskünste der Natur zu wehren. Wir können nicht umhin, an die »in aller Welt geltenden Grundsätze« zu glauben – oder falls es uns doch gelingt, dann geschieht es nur kurzfristig und in künstlich herbeigeführten Situationen. Niemand kann Humesche Gedanken über den Induktionsbegriff etwa denken, wenn er von einem Hai angegriffen wird oder hoch über dem Tal in gefährlicher Lage an einem Felsvorsprung hängt. (Man wird dann nicht sagen: »Natürlich glaube ich: Falls dieser Karabinerhaken nachgibt, werde ich auf den Boden herabstürzen und ums Leben kommen. Allerdings weiß ich auch [süffisanter Anflug eines selbstironischen Lächelns], dass dieser Gedanke bloß eine Äußerung meiner Natur ist und daher eigentlich nicht ernst genommen werden sollte.«) Unter anderen Umständen jedoch kann man tatsächlich eine herablassende, abschätzige Haltung zu diesen Regungen der Natur einnehmen.Wenn ich mich in reflektierten Augenblicken z. B. im Arbeitszimmer aufhalte, durchschaue ich sie tatsächlich. Als Vernunftwesen kann ich mich über sie erheben und einsehen, dass wenig oder gar nichts für sie spricht. Im Grund erkenne ich sogar noch mehr: Diese Skepsis ist ihrerseits eine reflektierte Skepsis. Sie stellt sich auch im Hinblick auf ebendiesen Gedanken ein. Dieser Zweifel selbst ist – ebenso wie dieses Gefühl der Überlegenheit und dieses Durchschauen der Zwänge unserer Natur – auch seinerseits eine Regung meiner Natur und daher genauso verdächtig wie jede andere. Der wahre Skeptiker wird, wie Hume sagt, »seinen philosophischen Zweifeln ebenso sehr mißtrauen wie seiner philosophischen Überzeugung« (S. 252).²⁹
Diese Überlegung führt dann zum Skandal des Skeptizismus: Wenn ich für die Skepsis ar-
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An diesen Stellen gesteht Hume also nicht verschämt eine epistemische Schwäche oder Unzulänglichkeit, so wie es vielleicht ein Neurotiker oder Geisteskranker täte. (»Herr Doktor, immer wieder stelle ich fest, dass ich mich einfach nicht dazu durchringen kann zu glauben, dass das Induktionsprinzip auch weiterhin gilt, dass ich schon seit langer Zeit existiere, dass es wirklich andere Personen oder äußere Gegenstände gibt.«) Nein, diese mehrfach skeptische Position ist Humes Meinung nach irgendwie die richtige – diejenige, die sich ein vernünftiger Mensch (oder zumindest ein vernünftiger Philosoph) zu eigen machen wird. Die übrigen Menschen, die der Stimme der Natur bedenkenlos nachgeben und unreflektiert an Kausalzusammenhänge, Induktion, ein dauerhaftes Selbst und äußere Gegenstände glauben, sind aus diesem Blickwinkel naive oder törichte, ahnungslose Betrogene, die auf ihre eigene Natur hereinfallen. Hume ist so etwas wie ein Presbyterianer des Verstands. Wir alle – der Weise genauso wie der Einfältige – sind in die mühseligen Folgen der Ursünde des Geistes verstrickt (und hier lässt sich vielleicht ein Nachwirken des Calvinismus seiner Jugend konstatieren). Natürlich könnte Hume behaupten, immerhin habe er den Vorzug einzusehen, dass er (normalerweise) tatsächlich ein Betrogener ist. In dieser Hinsicht wirkt er womöglich wie der Zöllner aus dem Gleichnis Jesu, der zumindest den Anstand hat zu bekennen, dass er tatsächlich ein Sünder ist. Aber in Wirklichkeit verhält sich Hume eher wie der Pharisäer. Es ist nicht so, als würde er eine Schwäche oder eine Unzulänglichkeit gestehen und dabei auf Heilung hoffen. Aus seiner Sicht ist es so, dass er aus einer Position der Stärke oder zumindest der Einsicht argumentiert. Wir übrigen, die wir in unserer Ahnungslosigkeit auf die Stimme der Natur hören, sind diejenigen, die an einer geistigen Unzulänglichkeit leiden. Schlimmer noch: Aus Humes Sicht verhalten wir uns irrational, denn wenn wir die Vernunft vor dem verderblichen Einfluss der Alltagseinstellungen bewahren, drängt sie uns diesen Skeptizismus geradezu auf. Wer ihn nicht akzeptiert, weigert sich, der Vernunft zu folgen, er widersetzt sich ihren Lehren und fällt insofern der Irrationalität anheim. Das ist genau der Punkt, an dem Thomas Reid Einwände gegen Hume erhebt (oder zumindest gegen das, was er für Humes Standpunkt hält). Aus seiner Sicht vertritt Hume insofern die gleiche Position wie Descartes, als er glaubt, die Leistungen der Wahrnehmung, der Erinnerung, der Induktion, des Mitgefühls, des bezeugten Fremdwissens und jedes sonstigen Vermögens, über das wir verfügen mögen, müssten vor dem Gerichtshof der Vernunft und des Bewusstseins bestätigt werden. Das heißt, man kann keinem dieser Vermögen vernünftigerweise trauen,
gumentiere, verlasse ich mich natürlich auf genau jene kognitiven Vermögen, deren Unzuverlässigkeit von der Konklusion meiner skeptischen Argumentation behauptet wird.
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ehe seine Zuverlässigkeit durch ein Argument, das die folgenden beiden Bedingungen erfüllt, nachgewiesen wurde: Erstens muss das betreffende Argument von Prämissen ausgehen, die entweder von selbst einleuchten (wie die elementaren Wahrheiten der Arithmetik) oder vom Bewusstsein geliefert werden (also beispielsweise Aussagen über meinen eigenen Geist wie die, dass ich ein Pferd zu sehen scheine, dass mir rot erschienen wird, oder dass ich glaube, die OrkneyInseln lägen nördlich von Aberdeen). Zweitens muss das Argument so beschaffen sein, dass die Gültigkeit jedes seiner Schritte von selbst einleuchtet. Descartes meint, die anderen Quellen des Glaubens ließen sich tatsächlich durch Berufung auf Vernunft und Bewusstsein legitimieren. Er meint, zunächst müsse die Zuverlässigkeit der Vernunft selbst nachgewiesen werden, indem man mit Vernunftmitteln (also rational) beweist, dass wir von einem wohlmeinenden Gott geschaffen wurden, der uns nicht täuscht (hier geraten wir in den betrüblichen Cartesischen Zirkel). Aber Gott wäre ein Täuscher, wenn die Welt nicht ungefähr genauso beschaffen wäre, wie es unsere Wahrnehmungsvermögen erkennen lassen. Aus Reids Sicht irrt Descartes an mehreren Punkten. Der Punkt jedoch, der uns im Augenblick interessiert, ist die Zuversicht, mit der Descartes annimmt, die Zuverlässigkeit der übrigen Quellen lasse sich tatsächlich mit Hilfe der Vernunft nachweisen. Reid meint, die Leistungen der neuzeitlichen Philosophie von Descartes bis Hume seien nötig gewesen um zu zeigen, dass diese zuversichtliche Einstellung in Wirklichkeit ein Hirngespinst, ein Trugbild ist. Die Aufgabe sei schlicht unmöglich zu erfüllen. (Über das unvermeidliche Scheitern des Cartesischen Vorhabens war sich Reid also völlig im klaren – und das war ungefähr zweihundert Jahre bevor Rorty und Quine dieses Scheitern als Grund dafür in Anspruch nahmen, den Tod der Erkenntnistheorie [Rorty³⁰] bzw. deren wundersame Verwandlung in empirische Psychologie [Quine³¹] zu verkünden.) Eine mögliche Reaktion würde darin bestehen, dass man diesen Zustand interessant und vielleicht ein wenig bedauerlich findet, ohne ihm jedoch wirkliche Bedeutung zuzubilligen, denn die anderen Quellen des Glaubens seien völlig akzeptabel – einerlei, ob es möglich ist oder nicht, Argumente der oben genannten Art für ihre Zuverlässigkeit ausfindig zu machen. Reids Hume schlägt jedoch eine völlig andere Richtung ein. Er hält es für ein Zeichen von Torheit, Irrtum oder
Siehe Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton: Princeton University Press 1979 (übers. von Michael Gebauer: Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981). Siehe beispielsweise Quine, »Epistemology Naturalized«, in: Quine, Ontological Relativity and Other Essays, New York: Columbia University Press 1969 (übers. von Wolfgang Spohn: »Naturalisierte Erkenntnistheorie«, in: Quine, Ontologische Relativität und andere Schriften, Stuttgart: Reclam 1975, S. 97– 126).
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Schwindelei (jedenfalls für einen Bestandteil der betrüblichen Condition humaine), dass man das Zeugnis einer Quelle akzeptiert, deren Glaubwürdigkeit nicht mit Hilfe des Bewusstseins und der Vernunft bestätigt wurde (oder – im schlimmeren Fall – nicht bestätigt werden kann). Daher kommt er zu dem Schluss, das rationale Verfahren bestehe darin, dass wir diese Überzeugungen zurückweisen (sofern wir die Zuverlässigkeit ihrer Quellen nicht in der betreffenden Weise aufzeigen können), obschon wir aufgrund der herrischen Gebote der Natur nicht wirklich dazu imstande sind, diesem strengen Gebot Folge zu leisten. Reid hält dieses Vorgehen für ausgesprochen willkürlich und schreibt: Der Skeptiker fragt mich:Warum glaubst du an die Existenz des äußeren Gegenstands, den du wahrnimmst? Dieser Glaube (erwidere ich), ist nicht mein eigenes Produkt, sondern er entstammt der Schmiede der Natur. Deren Bild und Signatur trägt er, und falls er nicht zutrifft, liegt die Schuld nicht bei mir, denn ich habe ihn arglos auf Treu und Glauben angenommen. Die Vernunft (sagt der Skeptiker) ist die einzige Instanz, die über die Wahrheit zu befinden hat, und man solle jede Meinung und jede Überzeugung von sich weisen, die nicht auf der Vernunft beruht. Doch warum soll ich dem Vernunftvermögen mehr glauben als dem Vermögen der Wahrnehmung? – Sie stammen beide aus derselben Werkstatt und wurden vom selben Werkmeister verfertigt. Falls er mir eine Fälschung aushändigt, was soll ihn daran hindern, mich mit einer weiteren Fälschung zu bedienen?³²
Meines Erachtens hat Reid hier im Wesentlichen recht: Der Skeptiker à la Hume geht ganz willkürlich vor.³³ Dies ist allerdings nicht der Ort für eine Erörterung dieser Frage. Stattdessen möchte ich geltend machen, dass Hume einen anderen Grund für seine Skepsis hat – einen Grund, der für jeden gilt, der ebenso wie er eine agnostische Einstellung zu unserem Ursprung und der Entstehung unserer kognitiven Fähigkeiten hat. Nehmen wir an, aus dem einen oder anderen Grund lasse ich die Vorstellung, wir seien von einem wohlwollenden Gott geschaffen worden, fallen. Vielleicht mache ich mir sodann, in Einklang mit Hume, einen kompromisslosen Agnostizismus zu eigen, dem zufolge es gar keine Möglichkeit gibt zu wissen, ob es ein Wesen wie Gott gibt, keine Möglichkeit zu wissen, ob es ein göttliches Wesen gibt, das die Welt erschaffen hat, ja keine Möglichkeit, irgendetwas über den letzten Ursprung der Welt oder den letzten Ursprung unserer selbst und unserer kognitiven Vermögen zu wissen. Hume schreibt: »Unsere an sich selbst so unvollkommene und in Raum und Zeit so begrenzte Erfahrung kann uns keine wahrscheinliche Vermutung über das Ganze der Dinge an die Hand
Thomas Reid’s Inquiry and Essays, hg. von Keith Lehrer u. Ronald E. Beanblossom, Indianapolis: Bobbs-Merrill 1975, S. 84– 85. Vielleicht verhält er sich allerdings nicht zur Gänze willkürlich; siehe Warrant: The Current Debate, S. 100 ff.
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geben.«³⁴ Vielleicht verdankt die Welt ihre Existenz einem intelligenten Plan. Allerdings ist es (jedenfalls soweit wir wissen) genauso wahrscheinlich, dass sie ihre Existenz einem tierischen oder pflanzlichen Entwicklungsprozess verdankt (womöglich sind die Kometen Keime, und aus einem von ihnen sei unsere Welt entstanden). Daneben gibt es tausend andere Möglichkeiten, von denen einige in den Dialogen über natürliche Religion mit Anmut und Eleganz durchgesprochen werden. Hier gelangt Hume³⁵ offenbar zu der folgenden Schlussfolgerung: Aber in Fragen wie der vorliegenden [Kosmogonie, Ursprung des Universums] mögen hundert widersprechende Ansichten eine Art unvollkommener Analogie für sich haben, und die Erfindungsgabe hat hier freien Spielraum. Ohne große Anstrengung des Denkens könnte ich, wie ich glaube, in einem Augenblick andere Systeme der Kosmogonie vorlegen, die einigen schwachen Schimmer von Wahrheit hätten, obgleich Tausend oder eine Million gegen eins steht, daß Eures oder eines von meinigen das wahre System sei. (S. 66)
Wenig später sagt er zum gleichen Thema folgendes: »Eine vollständige Zurückhaltung des Urteils ist hier unsere einzige vernünftige Zuflucht« (S. 72).Wenn man Hume in diesem Sinne versteht, hat er keine Ahnung, wie die Welt entstanden ist, wie sich Vernunftwesen unserer eigenen Art entwickelt haben und welches der Ursprung und die Herkunft unserer rationalen bzw. unserer Überzeugungen hervorbringenden Fähigkeiten sein könnten. Nun wollen wir uns der Frage zuwenden, ob unsere kognitiven Fähigkeiten zuverlässig sind und tatsächlich meistens wahre Überzeugungen liefern. Unter der Voraussetzung von Humes kompromisslosem Agnostizismus im Hinblick auf seine kognitiven Vermögen ist eine zutiefst agnostische Einstellung zu dieser Frage wie die seine nur vernünftig. Nehmen wir nämlich an, Hume frage sich, wie wahrscheinlich es sei, dass unsere kognitiven Fähigkeiten zuverlässig sind, wenn man von seinen Ansichten (oder vielmehr: seinem Mangel an Ansichten) über den Ursprung und die Herkunft unserer selbst und dieser Fähigkeiten ausgeht. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Fähigkeiten so viel mehr wahre als falsche Überzeugungen hervorbringen, wie es die Zuverlässigkeit erfordert, wenn man Humes Ansichten über ihren Ursprung und ihren (etwaigen) Zweck zugrunde legt? Vermutlich müsste man antworten, dass diese Wahrscheinlichkeit entweder gering ist oder unerforschlich – also unmöglich zu bestimmen. Von Humes Standpunkt aus gesehen, gibt es zahllose Szenarios, zahllose mögliche Wege, auf
Hume, Dialoge über natürliche Religion, hg. von Günther Gawlick, 6. Auflage. Hamburg: Meiner 1993, S. 60 – 61. Oder zumindest Philo. Ich erhebe keinen Anspruch darauf, die Frage, wer in den Dialogen für Hume spricht, schlüssig beantworten zu können. Hume selbst verhüllt die Antwort mit großem Geschick.
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denen wir selbst und unsere kognitiven Fähigkeiten hätten entstehen können. Vielleicht wurden wir von Gott geschaffen, aber vielleicht sind wir und die Welt das Ergebnis eines pflanzlichen Ursprungs oder das Resultat der Paarung von Tieren, die wir gar nicht kennen, oder das Resultat von Russells zufälliger Ansammlung von Atomen oder von . . . Nach vielen dieser Szenarios wären unsere kognitiven Vermögen nicht zuverlässig (obwohl sie eventuell zu unserer Tauglichkeit oder Überlebensfähigkeit beitragen). Nach anderen Szenarios hingegen wären sie vielleicht zuverlässig. Alles in allem würde man einfach nicht wissen, was man von dieser Wahrscheinlichkeit halten soll. Mehr Aufschluss kann die folgende Betrachtung bieten: Z sei die Aussage, dass unsere kognitiven Vermögen zuverlässig sind. Welches ist nun die Wahrscheinlichkeit von Z? Wie Reid anmerkt, wir alle glauben instinktiv oder setzen voraus, dass unsere kognitiven Fähigkeiten tatsächlich zuverlässig sind. Doch welche Wahrscheinlichkeit hat diese Voraussetzung, wenn man die relevanten Fakten zugrunde legt? Aber welches sind die relevanten Fakten? Zunächst wären es wohl Fakten, die unsere kognitiven Fähigkeiten betreffen. Die Wahrscheinlichkeit von Z mit Bezug auf die Bevölkerung Chinas wäre dagegen wohl nicht relevant.Vermutlich würden sich die relevanten Fakten auf die Art der Entstehung dieser Vermögen beziehen. Wurden sie geplant? Wenn ja, von wem und im Hinblick auf welchen Zweck? Welche einschränkenden Bedingungen waren für ihre Entwicklung bestimmend? Welches sind ihr Zweck und ihre Funktion, sofern sie überhaupt einen Zweck und eine Funktion haben? Wurden sie, wie Reid meint, in uns von einem Wesen geschaffen, dessen Absicht es ist, dass sie zuverlässig funktionieren, um uns Wissen über die Umwelt, über uns selbst und über Gott zu vermitteln – alles Wissen, das nötig ist, damit wir zum Frieden gelangen und zu Wesen der von Gott beabsichtigten Art werden? Diesem Szenario zufolge bestünde der Zweck unserer kognitiven Vermögen (zumindest zum Teil) darin, uns mit wahren Überzeugungen über diese Gegenstände zu versorgen; und sofern sie richtig funktionieren, wäre es sehr wahrscheinlich, dass sie genau das leisten. Oder ist das Gegenteil der Fall – und sie sind durch einen Zufallsmechanismus entstanden, also so etwas wie den vernunftlosen Schwarm der Atome im Vakuum Demokrits? Welches ist, wenn man von dieser Möglichkeit ausgeht, die Wahrscheinlichkeit dafür, dass unsere kognitiven Vermögen zuverlässig sind? Nun, vielleicht hält man sie für recht gering. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass man nicht angeben zu können glaubt, welches die Wahrscheinlichkeit ist.Vielleicht ist sie hoch (allerdings vermutlich nicht sehr hoch), vielleicht ist sie gering – man kann es einfach nicht wissen.³⁶ Wie Hume sagt, wird es sehr viel mehr Szenarios
Hier denken wir nicht an eine Bayesianische Form von personaler Wahrscheinlichkeit, son-
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dieser Art geben, von denen einige einen pflanzlichen Ursprung, andere einen Ursprung durch tierische Paarung und wieder andere noch weitere Arten des Ursprungs ins Spiel bringen. Auch im Hinblick auf sie ist die Wahrscheinlichkeit, dass unsere kognitiven Vermögen zuverlässig sind, einfach unerforschlich. Dementsprechend meint Hume als erstes, dass er die Gesamtmenge der relevanten Szenarios bestenfalls in völlig unbestimmter Weise in den Griff bekommt. Zweitens ist die Wahrscheinlichkeit von Z mit Bezug auf viele dieser Szenarios – diese möglichen Ursprünge – unerforschlich. Drittens ist die Wahrscheinlichkeit, dass eines dieser Szenarios tatsächlich der Wahrheit entspricht, soweit es Hume betrifft, ebenfalls völlig unerforschlich. Das bedeutet jedoch, dass die Wahrscheinlichkeit von Z unter Voraussetzung von Humes Agnostizismus für ihn ebenfalls unerforschlich ist. Nun möge »F« für die relevanten Fakten bezüglich Ursprung, Zweck und Herkunft stehen. Da möchte ich behaupten, dass P(Z/F), also die Wahrscheinlichkeit von Z bezogen auf F für Hume unerforschlich ist. Er weiß einfach nicht, welches die Wahrscheinlichkeit ist, und er hat keine Meinung über den entsprechenden Wert, der allerdings vermutlich nicht sonderlich hoch ausfiele. Um es anders zu formulieren: Die Wahrscheinlichkeit von Z ist unter Voraussetzung von Humes Agnostizismus unerforschlich. Damit bekommt Hume einen Grund dafür, sich auch im Hinblick auf Z agnostisch zu verhalten. Er bekommt einen Grund zum Zweifel daran, dass Z tatsächlich wahr ist. Denn unsere kognitiven Vermögen – unsere Überzeugungen hervorbringenden Mechanismen – verhalten sich einigermaßen ähnlich wie Messinstrumente (oder genauer gesagt: wie Messinstrumente unter Voraussetzung einer bestimmten Interpretation). Unsere Vermögen liefern Überzeugungen. Jeder Überzeugung entspricht der Inhalt dieser Überzeugung – die geglaubte Proposition bzw. Aussage –, eine Proposition, die genau dann wahr ist, wenn die Überzeugung wahr ist. Nun kann man vom Zustand eines Messinstruments (relativ zu einem Interpretationssystem) ebenfalls sagen, dass es einen Inhalt hat. Der Konkretheit halber wollen wir uns ein Thermometer vorstellen und annehmen, dass die Säule auf die Zahl 20 zeigt. Unter Voraussetzung des naheliegenden Interpretationssystems kann man nun von diesem Zustand sagen, sein Inhalt bedeute, dass sich die Umgebungstemperatur auf 20° C beläuft. Und natürlich ist ein Thermometer nur dann zuverlässig, wenn die Propositionen, die es in dieser Weise liefert, größtenteils wahr bzw. annähernd wahr sind.
dern an eine Form von objektiver Wahrscheinlichkeit, wie sie auch Hume selbst vorschwebt, wenn er sagt, dass es »Tausend oder eine Million gegen eins steht, daß Eures oder eines von meinigen das wahre System sei«.
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Nun wollen wir uns vorstellen, dass du dich auf eine Forschungsreise durchs All begibst und auf einem Planeten landest, der sich um eine weit abgelegene Sonne dreht. Dieser Planet hat eine günstige Atmosphäre, aber ansonsten weißt du kaum etwas über ihn. Du öffnest die Luke, steigst aus und stößt sogleich auf etwas,was ziemlich genau wie ein Radio aussieht. Es produziert periodisch Reihen von Lauten, die sonderbarerweise deutsche Sätze bilden. Die von diesem Apparat geäußerten Sätze bringen Propositionen zum Ausdruck, die ausnahmslos von Themen handeln, über die du nichts weißt: das momentane Wetter in Peking, ob Cäsar am Morgen vor der Überquerung des Rubikon Spiegeleier zum Frühstück aß, ob der erste Mensch, der die andere Seite der Beringstraße erreichte und Amerika betrat, Linkshänder war usw. Da dich dieser Fund ungebührlich beeindruckt, kommst du auf den Gedanken, dieses radioähnliche Gerät spreche die Wahrheit, d. h., die von diesen (deutschen) Sätzen ausgedrückten Propositionen seien wahr. Doch dann besinnst du dich darauf, dass du gar keine Vorstellung davon hast, welches der Zweck dieses scheinbaren Apparats ist. Hat er überhaupt einen Zweck? Und wie ist er entstanden? Du merkst, dass die Wahrscheinlichkeit seiner Zuverlässigkeit unter Voraussetzung der dir gegebenen Informationen für dich unerforschlich ist. Damit verfügst du (sofern keine weiteren Untersuchungen angestellt werden) über einen Bezwinger deines Anfangsglaubens, das Ding spreche wirklich die Wahrheit, mithin einen Grund, diesen Glauben zu verwerfen – einen Grund, diesen Glauben fallenzulassen und dich mit Bezug auf ihn agnostisch zu verhalten. Relativ zu deinen Überzeugungen hinsichtlich des Ursprungs, des Zwecks und der Herkunft dieses scheinbaren Apparats ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine zuverlässige Informationsquelle handelt, gering oder (mit höherer Wahrscheinlichkeit) unerforschlich. Damit erhältst du einen Bezwinger deines anfänglichen und voreiligen Glaubens, das Ding spreche wirklich die Wahrheit. Sofern du keine weiteren Informationen über seine Zuverlässigkeit hast oder bekommst, ist es vernünftig, sich im Hinblick auf diese Aussage agnostisch zu verhalten. Das gleiche gilt meines Erachtens auch im Fall der Ansichten (bzw. Nichtansichten) Humes über unseren Ursprung und den etwaigen Ursprung und Zweck unserer Vermögen. Angenommen, ich teile den Agnostizismus Humes. Dann ist P(Z/F) für mich – ebenso wie für Hume – unerforschlich. Ich habe keine Ahnung, welches die Wahrscheinlichkeit der Zuverlässigkeit meiner Vermögen ist, sofern die relevanten Fakten über ihren Ursprung und ihren Zweck gegeben sind. In diesem Fall jedoch verfüge ich über einen Bezwinger meiner Ausgangsüberzeugung oder -annahme, derzufolge meine Vermögen tatsächlich zuverlässig sind. Wenn ich keine weiteren Informationen über ihre Zuverlässigkeit habe oder keine solchen Informationen bekommen kann, ist es vernünftig, wenn ich mich zu Z agnostisch verhalte und diese Überzeugung fallenlasse und nicht mehr daran
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glaube. Die Rationalität verlangt zwar nicht, dass ich ihre Verneinung für wahr halte, aber sie verlangt, dass ich nicht an die Zuverlässigkeit glaube. Nehmen wir also an, dass ich mich im Hinblick auf Z tatsächlich agnostisch verhalte: Ich glaube weder Z noch die Verneinung von Z. Nun wollen wir uns eine beliebige Überzeugung Ü vornehmen, die ich wirklich vertrete. Diese Überzeugung wird natürlich ein Produkt meiner kognitiven Vermögen sein. Ich glaube jedoch nicht, dass meine kognitiven Fähigkeiten zuverlässig sind, und zwar nicht deshalb, weil ich nie über diese Frage nachgedacht hätte, sondern deshalb, weil ich tatsächlich über sie nachgedacht und eingesehen habe, dass P(Z/F) für mich unerforschlich ist. Was verlangt nun die Rationalität im Hinblick auf diese Überzeugung Ü? Die offenkundige Antwort scheint zu besagen, dass ich auch für diese Überzeugung einen Bezwinger habe: einen Grund dafür, sie in der Schwebe zu lassen und mich agnostisch zu ihr zu verhalten. Vielleicht ist es mir aber (zumindest meistens) aufgrund meiner Natur unmöglich, mich agnostisch zu dieser Überzeugung zu verhalten.Vielleicht ist es so, wie Hume sagt, und die Natur erlaubt es nicht. Dennoch entspricht dieser Agnostizismus – genau wie Hume andeutet – den Forderungen der Vernunft (wenn auch aus anderen Gründen als den von Hume genannten). Außerdem können wir noch einen weiteren Schritt auf dem Weg Humes gehen. Da Ü eine beliebige Überzeugung ist, die ich vertrete – da ich für jede meiner Überzeugungen einen Bezwinger habe –, verfüge ich auch über einen Bezwinger meiner Überzeugung, ich hätte einen Bezwinger von Ü. Dieser universelle Allzweck-Bezwinger, den mir mein Agnostizismus liefert, ist zugleich ein Bezwinger seiner selbst, ein sich selbst bezwingender Bezwinger.³⁷ Daher rührt dieser komplexe, verwirrende, vielschichtige, reflexive Skeptizismus, den Hume beschreibt – ein Skeptizismus, in dessen Rahmen ich mich zu meinen Überzeugungen und auch zu meinen Zweifeln ebenso skeptisch verhalte wie zu den Überzeugungen, die zu diesen Zweifeln führen, und zu meinen Zweifeln an diesen Zweifeln sowie den Überzeugungen, die zu diesen Zweifeln führen. Der wahre Skeptiker wird also durchweg skeptisch sein und »seinen philosophischen Zweifeln ebenso sehr misstrauen wie seiner philosophischen Überzeugung«. Hier kann man sich die folgende Replik vorstellen: »Holla, nicht so schnell! Du hast gesagt, Hume und jeder ähnlich placierte Agnostiker verfügt über einen Bezwinger von Z – einen Bezwinger einer Überzeugung, zu der er von Natur aus
Damit werden natürlich Probleme aufgeworfen: Wenn ich über einen Bezwinger-Bezwinger (einen Bezwinger, der meinen Z-Bezwinger bezwingt) verfüge, fragt es sich, ob mir dadurch nicht mein Z-Bezwinger abhanden kommt. Bin ich wieder an der gleichen Stelle, an der ich mich schon befand, ehe ich den Z-Bezwinger in die Hand bekam? Nein, denn mein Bezwinger-Bezwinger ist zugleich ein Bezwinger von Z. Weitere Erklärungen und Einzelheiten findet der Leser in meinem noch unveröffentlichten Artikel »Naturalism Defeated« (Teil IV, Abschnitt E: »The Dreaded Loop«).
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hintendiert. Und dann hast du außerdem gesagt, deshalb sei es rational für diese Personen, den Glauben an Z fallenzulassen – vorausgesetzt, sie haben keine weiteren Informationen über die Zuverlässigkeit ihrer Vermögen. Doch wie steht es mit dieser starken natürlichen Neigung zum Glauben daran, dass unsere Vermögen tatsächlich zuverlässig sind? Zählt dieser Sachverhalt nicht mit zu den ›weiteren Informationen‹?« Nach Reid (der sich vielleicht dagegen verwahren würde, zur Verteidigung Humes verdonnert zu werden) gilt dieser Glaube an die Zuverlässigkeit unserer Vermögen als Grundprinzip: »Ein weiteres Grundprinzip ist dies: Dass die natürlichen Vermögen, mit deren Hilfe wir Wahrheit von Irrtum unterscheiden, nicht in die Irre führen« (S. 275). Dann fährt Reid fort und schreibt: Sofern man überhaupt von einer Wahrheit behaupten kann, sie komme in der naturgegebenen Reihenfolge vor allen anderen, hat eben diese offenbar am ehesten Anspruch darauf. Denn in jedem Fall der Zustimmung – einerlei, ob sie aus intuitiven, demonstrativen oder wahrscheinlichen Gründen erfolgt – wird die Wahrheit unserer Vermögen schlicht vorausgesetzt . . . (S. 277)
Natürlich ist diese Wahrheit gegeben. Hier handelt es sich um eine Überzeugung, die von allen normalen Menschen vertreten wird; und wie Reid schadenfroh anmerkt, scheinen selbst die Skeptiker im Alltag – aber besonders prickelnderweise dann, wenn sie ihre skeptischen Argumente anführen – sicher zu sein, dass ihre Vermögen zuverlässig funktionieren. Sehr wenige Skeptiker stellen, wenn sie ihre skeptischen Argumente vorstellen, einen Spruch wie den folgenden voran: »Das folgende ist ein Argument für die allgemeine Skepsis im Hinblick auf unsere kognitiven Vermögen. Natürlich bin ich mir darüber im klaren, dass die Prämissen dieser Argumentation auch ihrerseits Produkte kognitiver Fähigkeiten sind, deren Zuverlässigkeit durch die Konklusion in Frage gestellt wird und deren Wahrheit ich daher für äußerst zweifelhaft halte.« Wir wollten jedoch auf die Frage hinaus, ob diese Überzeugung sinnvollerweise als Information eingesetzt werden kann, die dazu angetan ist, den durch Humes Agnostizismus in puncto Ursprung und Herkunft unserer selbst und unserer Vermögen bereitgestellten Z-Bezwinger seinerseits zu bezwingen. Wie Reid ganz klar erkennt, ist das nicht möglich: Sofern die allgemeine Zuverlässigkeit unserer kognitiven Vermögen in Frage gestellt ist, besteht keine Aussicht, die Frage, ob sie wirklich zuverlässig sind, mit dem Hinweis zu beantworten, diese Vermögen selbst brächten die Überzeugung hervor, sie seien tatsächlich zuverlässig. Reid schreibt: »Würde man die Aufrichtigkeit eines Menschen in Frage stellen, wäre es lächerlich, wenn man es dem Betreffenden selbst überließe, die Frage, ob er aufrichtig sei oder nicht, zu beantworten« (S. 276). Räumen wir ein, dass es zu unserer Natur gehört, Z vorauszusetzen. Räumen wir außerdem ein,
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dass es ebenfalls zu unserer Natur gehört, Z basal aufzufassen, so dass diese Überzeugung nicht durch Argumente und Belege gegeben oder erworben, sondern mit der Muttermilch eingesogen wird. Wenn wir wollen, können wir überdies einräumen, diese Überzeugung werde dadurch hervorgebracht, dass unsere kognitiven Vermögen richtig funktionieren. Da liegt es auf der Hand, dass nichts von alledem dazu dienen kann, den durch Humes Agnostizismus bereitgestellten ZBezwinger zu bezwingen. Der Grund dafür liegt darin, dass jeder allgemeine Zweifel an unseren kognitiven Vermögen auch ein Zweifel an dem spezifischen Vermögen ist, das die betreffende Überzeugung hervorgebracht hat. Daher ist es ausgeschlossen, derartige Zweifel dadurch zu zerstreuen, dass man sich auf die Leistungen dieses Vermögens beruft.³⁸
2 Naturalismus und mangelndes Wissen Der Agnostizismus im Hinblick auf unseren Ursprung ist eine Möglichkeit, den theistischen Glauben zurückzuweisen, wir Menschen seien nach dem Ebenbild Gottes geschaffen worden. Und wie wir gesehen haben, macht der Agnostizismus bezüglich des Ursprungs die Erkenntnis zunichte. Daneben gibt es eine weitere Möglichkeit, den in Frage stehenden Glauben zurückzuweisen, nämlich indem man einen Glauben akzeptiert, der mit dem ersten nicht vereinbar ist, wie z. B. der philosophische bzw. metaphysische Naturalismus.Wie Bas van Fraassen anmerkt, fällt es nicht leicht, die Identität des Naturalismus genau zu bestimmen.³⁹ Was unsere jetzigen Belange betrifft, wollen wir annehmen, es handele sich um die Auffassung, es gebe weder eine Person wie Gott noch sonst eine ihm irgendwie ähnliche Person (man glaubt ja z. B. nicht, dass es einen endlichen Gott oder mehrere endliche Götter gibt). Paradebeispiele für den Naturalismus wären die Anschauungen, die Daniel Dennett in Darwin’s Dangerous Idea ⁴⁰ oder Bertrand Russell in »A Free Man’s Worship« vertritt. Man glaubt etwa, dass »der Mensch das Produkt von Ursachen ist, die keine Vorahnung vom erreichten Ziel hatten, und dass sein Ursprung, seine Entwicklung, seine Hoffnungen und Ängste, seine Zuneigungen und Überzeugungen nichts anderes sind als das Ergebnis zufälliger
Das gleiche gilt natürlich auch für den Vorschlag, man möge durch wissenschaftliche Mittel festzustellen versuchen, ob unsere kognitiven Vermögen zuverlässig sind. Jeder derartige Versuch könnte nur einen Kurs einschlagen, bei dem man der Zuverlässigkeit ebenjener Vermögen, deren Zuverlässigkeit auf dem Prüfstand steht, vertraut. Siehe van Fraassen, »Science, Materialism, and False Consciousness«, in: Jonathan Kvanvig (Hg.), Warrant in Contemporary Epistemology: Essays in Honor of Plantinga’s Theory of Knowledge, New York: Rowman and Littlefield 1996. New York: Simon and Schuster 1995.
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Ansammlungen von Atomen«.⁴¹ (Vielleicht geht man sogar so weit, im Anschluss an Richard Dawkins hinzuzufügen, dass schon die bloße Vorstellung, es gebe eine Person wie Gott, im Grunde eine Art kognitiver Virus ist: eine epistemische Krankheit, von der die kognitive Haltung mancher Wesen in Mitleidenschaft gezogen wird, die sonst ganz vernünftige und rationale Menschen wären.⁴²) Im Gegensatz zu Hume verhält man sich also nicht agnostisch hinsichtlich der Frage, ob es eine Person wie Gott oder sonst ein ihm irgendwie ähnliches Wesen gibt, sondern man glaubt, dass es keinen Gott gibt. Wahrscheinlich besteht zwischen jemandem, der diese Überzeugungen vertritt, und Hume ein weiterer Unterschied: Sobald Hume den Theismus zurückgewiesen hat, verfügt er über keine vergleichbare Geschichte, die er an dessen Stelle setzen könnte. Er hat keine Ahnung, wie sich die Menschheit entwickelt hat, unter welchen Bedingungen unsere kognitiven Vermögen entstanden sind usw. Der moderne Naturalist dagegen befindet sich in einer anderen Lage. Denn der Naturalismus schmückt sich jetzt mit einem gemeinsamen Mythos, einer Geschichte über uns selbst und unseren Ursprung, einer Reihe gemeinsamer Überzeugungen hinsichtlich der Frage, wer wir sind, woher wir stammen und wie wir hier hingekommen sind. Die Geschichte ist bekannt; ich werde mich kurz fassen: Wir Menschen sind nach Millionen, ja Milliarden von Jahren der organischen Evolution auf der Bühne erschienen. Am Anfang gab es nichts weiter als anorganische Materie. Irgendwie ist das Leben sodann durch Prozesse, von denen wir derzeit noch keine klare Vorstellung haben, und, obwohl es auch auf der einfachsten Ebene von enormer und entmutigender Komplexität ist, aus lebloser Materie auf eine Weise entstanden, die den in der Physik und der Chemie erforschten Regelmäßigkeiten entspricht. Sobald das Leben entstanden war, kamen auch die genetische Zufallsmutation und die natürliche Selektion – diese großen Zwillingsmotoren der Evolution – zum Einsatz.⁴³ Diese genetischen Mutationen sind in mehrfacher Hinsicht zufällig: Natürlich wurden sie von niemandem beabsichtigt, aber außerdem wurden sie weder von einer natürlichen Teleologie gelenkt noch entstanden sie auf Geheiß des Bauplans des betreffenden Orga Why I Am Not a Christian, New York: Simon and Schuster 1957, S. 107 (übers.von Marion Steipe: Warum ich kein Christ bin, München: Szczesny 1963). »Viruses of the Mind«, in: Bo Dahlbom (Hg.), Dennett and His Critics: Demystifying Mind, Oxford: Blackwell 1993, S. 13 ff. Als Beleg für die Virulenz und Hartnäckigkeit dieses Virus nennt Dawkins den Umstand, dass sogar Anthony Kenny (der an Gelehrsamkeit und Klugheit nicht leicht zu übertreffen ist) sehr lange gebraucht hat, um sich davon zu befreien. Mancher wird sich vielleicht fragen, ob der Virus wirklich so gefährlich ist, wie Dawkins behauptet, wenn man bedenkt, dass er selbst ihm offenbar schon vor langer Zeit entronnen ist. Man hat auch diverse weitere Mechanismen (wie z. B. den Gendrift und die neutrale Theorie der Evolution) bemüht, aber die oben genannten sind nach wie vor die beliebtesten Faktoren.
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nismus. Sie sind »keine Reaktion auf die Bedürfnisse des Organismus«, schreibt Ernst Mayr. Sie kommen einfach zum Vorschein, ohne dass es dafür eine Erklärung gäbe. Gelegentlich ergeben sich aus einigen von ihnen Anpassungsvorteile. Ihre Träger setzen sich innerhalb der jeweiligen Population durch, und die Mutationen werden an die nächste und die folgenden Generationen weitergereicht. Auf diese Weise ist die ganze gewaltige Vielfalt der Flora und Fauna, auf die wir schauen, entstanden. Dazu gehören auch wir selbst und unsere kognitiven Systeme. Diese Systeme und die zugrundeliegenden Mechanismen sind im Laufe der Evolution ebenfalls direkt oder indirekt selegiert worden. Denken wir etwa an das Gehirn der Säugetiere in all seiner gewaltigen Komplexität. Es wäre möglich, dass es im folgenden Sinn direkt selegiert worden ist: In jedem Stadium seiner Entwicklung trägt das jeweils neue Stadium (vermittels der von ihm mitgestifteten Strukturen und Verhaltensweisen) zur Tauglichkeit bei und verleiht einen evolutionären Vorteil, der die Chance der Träger auf Überleben und Fortpflanzung erhöht. Eine andere Möglichkeit wäre die, dass sich in bestimmten Stadien neue Strukturen (oder neue Modifikationen alter Strukturen) ergeben, aber nicht deshalb, weil sie selbst selegiert werden, sondern weil sie genetisch mit etwas anderem verknüpft sind, was tatsächlich selegiert wird (Pleiotropie). Ob so oder so – diese Strukturen werden nicht wegen ihrer Tendenz selegiert, in uns wahre Überzeugungen hervorzubringen. Vielmehr verleihen sie einen Anpassungsvorteil oder sind genetisch mit etwas verknüpft, was einen solchen Vorteil gewährt. Sofern diese Überzeugungen hervorbringenden Mechanismen überhaupt einen letzten Zweck oder eine letzte Funktion haben, wird es sich nicht um die Produktion wahrer Überzeugungen handeln, sondern um das Überleben – das Überleben des Gens, des Genotyps, des Individuums, der Spezies usw. Wer Naturalist ist und diese Dinge für richtig hält, ist in meiner Terminologie ein »gewöhnlicher« Naturalist.⁴⁴ Im 12. Kapitel von Warrant and Proper Function (WPF) argumentiere ich für die These, ein gewöhnlicher Naturalist gleiche Hume insofern, als er für jede Überzeugung, die er vertritt, einen Bezwinger hat, und zwar ironischerweise auch für den gewöhnlichen Naturalismus selbst, so dass
Daniel Dennetts Buch Darwin’s Dangerous Idea ist ein Paradebeispiel sowohl für den gewöhnlichen Naturalismus als auch für den Naturalismus schlechthin. Das gleiche gilt auch für das Buch The Blind Watchmaker von Richard Dawkins (London: W. W. Norton 1986). Siehe meinen Artikel »Dennett’s Dangerous Idea«, in: Books and Culture (Mai/Juni 1996), in dem ich sowohl an Darwin’s Dangerous Idea als auch an Darwins gefährlicher Idee Kritik übe. Nur Dennetts Buch – aber nicht Darwins Theorie – kritisiert Jerry Fodor in seiner überzeugend geschriebenen Rezension »Deconstructing Dennett’s Darwin«, in: Mind and Language 11/3 (1996), S. 246 – 262.
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dieser gewöhnliche Naturalismus sich selbst erledigt.⁴⁵ Diese Argumentation werde ich hier nicht wiederholen. Stattdessen werde ich diese Gelegenheit nutzen, um einige Korrekturen, Vereinfachungen und Zusätze anzubringen. Zunächst eine Korrektur: Im 12. Kapitel von WPF werden eigentlich zwei Argumente ausgebreitet: ein vorbereitendes Argument und ein Hauptargument. Das Hauptargument will die Konklusion begründen, dass sich der Naturalismus selbst bezwingt (und daher nicht rational akzeptabel ist). Das vorbereitende Argument ist nicht auf die gleiche Konklusion gerichtet, sondern es ist ein ohne Wenn und Aber auf die Falschheit des Naturalismus abzielendes (probabilistisches) Argument. Zugleich ist dieses vorbereitende Argument ohne Wenn und Aber irrig.⁴⁶ Das kann man wie folgt erkennen: Am Anfang steht ein Argument für die Konklusion, dass (P(Z/N ∧ E ∧ C) ziemlich niedrig ist. Hier ist Z die Proposition, dass unsere kognitiven Vermögen zuverlässig sind, N ist der metaphysische Naturalismus, E ist die Proposition, dass sich unsere kognitiven Fähigkeiten mit Hilfe ebenjener Mechanismen entwickelt haben, auf die uns die moderne Evolutionstheorie aufmerksam macht, und C ist eine nicht näher spezifizierte Proposition, die unsere noetischen Systeme beschreibt. Auf C kann man eigentlich verzichten; daher werde ich C im folgenden weglassen. Nachdem ich nun dafür argumentiert habe, dass P(Z/N ∧ E) niedrig ist, fahre ich folgendermaßen fort: Angenommen, man schätzt diese Wahrscheinlichkeit in etwa folgendermaßen: Gesetzt, wir stimmen dem Zweifel Darwins zu und setzen für P(Z/N ∧ E) einen ziemlich niedrigen Wert an. Aber außerdem sei ebenfalls angenommen, dass wir – ebenso wie die meisten übrigen Menschen – glauben, unsere kognitiven Fähigkeiten seien im Grunde zuverlässig (wobei die oben genannten Einschränkungen und Nuancen zu berücksichtigen sind). Dann verfügt man über ein direktes probabilistisches Argument gegen den Naturalismus – und hat zugleich ein Argument für den traditionellen Theismus, wenn man meint, dies seien die beiden maßgeblichen Alternativen. Nach dem Satz von Bayes gilt: P(N ∧ E/Z) = [P(N ∧ E) · P(Z/N ∧ E)] / P(Z) Hier ist P(N ∧ E) die geschätzte Wahrscheinlichkeit für N ∧ E, unabhängig von Z. Man glaubt, dass Z, weshalb man Z eine Wahrscheinlichkeit von 1 (oder annähernd 1) zuschreibt,während man P(Z/N ∧ E) nicht mehr als ½ zubilligt. Dann wird P(N ∧ E/Z) nicht höher sein als ½ mal P(N ∧ E), also ziemlich niedrig. Zweifellos wird man außerdem dem Konditionalsatz »Wenn der Naturalismus wahr ist, sind unsere Vermögen durch Evolution entstanden« eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit zubilligen; und wenn dem so ist, wird man urteilen, dass P(N/Z) ebenfalls niedrig ist. Allerdings glaubt man tatsächlich, dass Z wahr ist; also hat man einen Beleg, der gegen N spricht. Mithin liefert die Überzeugung, dass unsere kognitiven Vermögen zuverlässig sind, einen Grund dafür, den Naturalismus abzulehnen und die Verneinung des Naturalismus zu akzeptieren. (228)
Siehe James Beilby (Hg.), Naturalism Defeated? Essays on Plantinga’s Evolutionary Argument against Naturalism, Ithaca, NY: Cornell University Press 2002. Dieses Buch enthält faszinierende Einwände gegen meine Argumentation, kritische Anmerkungen dazu und meine Repliken. Zu dieser Einsicht haben mir Branden Fitelson und Elliott Sober verholfen. Siehe ihren Artikel »Plantinga’s Probability Arguments against Evolutionary Naturalism«, in: Pacific Philosophical Quarterly 79 (1998), S. 115 – 129.
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Das ist zwar ein sehr hübsches kleines Argument, aber leider enthält es einen schlimmen Fehler. Folgendes ist das Problem: Im Rahmen dieser Argumentation verwechsle ich die absolute (logische oder zumindest objektive) Wahrscheinlichkeit von Z mit der bedingten Wahrscheinlichkeit relativ zu unseren Hintergrundinformationen H. Das heißt, ich verwechsle P(Z/H) mit P(Z) schlechthin. (Der Einfachheit halber werde ich im folgenden auch E weglassen und es an N anbinden, so dass N von nun an für den gewöhnlichen Naturalismus steht, also für die Konjunktion aus dem Naturalismus schlechthin und E.) Deutlich wird die Verwechslung, wenn man die Argumentation in beiden Versionen betrachtet und zuerst die Wahrscheinlichkeiten mit Bezug auf unser Hintergrundwissen H relativiert, um anschließend auf diese Relativierung zu verzichten. Erste Interpretation: Wenn wir die betreffenden Wahrscheinlichkeiten mit Bezug auf H relativieren, wird die relevante Anwendung des Satzes von Bayes folgendes ergeben: P(N/Z ∧ H) = P(N/H) · P(Z/N ∧ H) / P(Z/H) Hier kann man P(Z/H) sehr hoch ansetzen (wie ich bereits auf jener S. 228 gesagt habe). Dagegen ist es nicht sinnvoll zu behaupten, P(Z/N ∧ H) sei niedrig. Dass P(Z/N) niedrig ist, entspricht meiner Argumentation; aber ich habe nicht dafür argumentiert, dass die Wahrscheinlichkeit von Z gering ist, wenn man Z auf N plus Hintergrundwissen bezieht. Bei meiner Argumentation für die Niedrigkeit des Werts für P(Z/N) habe ich von dem abstrahiert, was wir normalerweise zu wissen glauben (wie z. B. Z selbst). Daher kann ich nicht – jedenfalls nicht ohne zusätzliche Begründung – behaupten, die Wahrscheinlichkeit von Z sei bezogen auf N samt Hintergrundwissen niedrig. Zweite Interpretation: Ohne Relativierung der Argumentation auf H (oder sonst eine Bedingung) wird die relevante Anwendung des Satzes von Bayes (wie auf vorigen Seite gesagt) auf folgendes hinauslaufen: P(N/Z) = P(N) · P(Z/N) / P(Z) Doch wenn wir dabei an die absolute Wahrscheinlichkeit von Z denken (deren einzige Bedingungen notwendige Wahrheiten sind), kann ich nicht (wie ich es getan habe) behaupten, der Wert für P(Z) sei hoch.Woher soll ich wissen, welcher Teil des Raums der möglichen Welten von Welten eingenommen wird, in denen Z wahr ist? Insbesondere ist der Umstand, dass Z wirklich wahr ist, kein Grund dafür, Z eine hohe absolute (logische) Wahrscheinlichkeit zuzubilligen. Also schlägt die Argumentation auf die eine wie auf die andere Weise fehl. Zum Glück lässt sich die Sache reparieren. Die Positionen, die wir hier miteinander vergleichen, sind der Theismus (T) und der Naturalismus (N). Die relevanten Anwendungen des Satzes von Bayes werden also wie folgt lauten: P(N/Z) = P(N) · P(Z/N) / P(Z) und P(T/Z) = P(T) · P(Z/T) / P(Z) Dabei denken wir an absolute, d. h. logische Wahrscheinlichkeiten. P(Z) wird in jeder dieser Formulierungen denselben Wert haben. Also stellt sich die Frage, wie sich die Werte von (a) P(N) · P(Z/N) und (b) P(T) · P(Z/T)
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zueinander verhalten. Nun, P(Z/N) ist, wie ich bereits geltend gemacht habe, niedrig. Dagegen ist P(Z/T) nicht niedrig, sondern Z entspricht unseren Erwartungen, wenn man von T ausgeht. (Jedenfalls gibt es keinen Grund für uns zu glauben, P(Z/T) sei niedrig.) Sofern man N keine erheblich höhere absolute Wahrscheinlichkeit zubilligt als T, sollten wir annehmen, dass die Wahrscheinlichkeit von T bezogen auf Z höher ist als die Wahrscheinlichkeit von N bezogen auf Z. Es ist jedoch eine Tatsache, dass wir Z glauben. Also haben wir einen Grund zur Bevorzugung von T gegenüber N. Mag sein, dass es kein besonders starker Grund ist (wir erfahren ja nicht sehr viel über die Wahrscheinlichkeiten von T und N mit Bezug auf die Gesamtheit unserer Belege), aber immerhin ist es überhaupt ein Grund. (Es ist ein Grund der gleichen Art, wie ihn der Atheologe für seine Präferenz des Atheismus gegenüber dem Theismus in Anspruch nimmt, wenn er von der Annahme ausgeht, es sei unwahrscheinlich, dass eine von Gott erschaffene Welt all das Übel an den Tag legt, das sie tatsächlich an den Tag legt.)
Im Wesentlichen läuft das Hauptargument auf die Konklusion hinaus, P(Z/N ∧ E ∧ C) – was ich, wie oben im Kleingedruckten ausgeführt, zu P(Z/N) abkürze – sei entweder niedrig oder unerforschlich. Im einen wie im anderen Fall verfügt (meiner Argumentation zufolge) jemand, der N akzeptiert (und außerdem das Argument für einen niedrigen oder unerforschlichen Wert von P(Z/N) gelten lässt) über einen Bezwinger von Z. Das gibt aus seiner Sicht Anstoß zu einem Bezwinger jeder Überzeugung, die durch seine kognitiven Vermögen erzeugt wird – einschließlich N selbst. Also bezwingt sich der gewöhnliche Naturalismus selbst. Für die These, dass P(Z/N) niedrig oder unerforschlich ist, habe ich zunächst mit dem Hinweis argumentiert, dass die natürliche Selektion kein Interesse an wahren Überzeugungen hat, sondern an adaptivem Verhalten (in weitem Sinne verstanden), so dass alles von der Beziehung zwischen Überzeugung und Verhalten abhängt. Anschließend habe ich fünf einander wechselseitig ausschließende und zusammengenommen vollständige Möglichkeiten einer Beziehung zwischen Überzeugung und Verhalten genannt und im Hinblick auf jede Möglichkeit Mi geltend gemacht, dass P(Z/N ∧ Mi) gering oder unerforschlich ist, so dass sich insgesamt das Resultat ergibt, dass P(Z/N) niedrig oder unerforschlich ist. Hier können wir die Sache vereinfachen, indem wir uns zwei der fünf Möglichkeiten schenken, so dass nur die folgenden übrig bleiben: der Epiphänomenalismus, der semantische Epiphänomenalismus (den man vielleicht besser als »Inhaltsepiphänomenalismus« bezeichnen sollte) und die Common-sense- (oder »alltagspsychologische«) Auffassung der kausalen Beziehung zwischen Überzeugung und Verhalten. Die erste Möglichkeit (M1) ist der Epiphänomenalismus, also die These, wonach (bewusste) Überzeugungen in der zum Verhalten führenden Kausalkette gar keine Rolle spielen. Die Bezeichnung stammt von T. H. Huxley (»Darwins Bulldogge«).⁴⁷ Der Epiphänomenalismus läuft zwar unseren »Man kann davon ausgehen, […] dass molekulare Veränderungen im Gehirn die Ursache aller
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Common-sense-Denkweisen zuwider, ist aber trotzdem sehr populär bei den enthusiastischen Verfechtern der »wissenschaftlichen« Erforschung des Menschen. Dem Magazin Time zufolge schrieb der bedeutende Biologe J. M. Smith vor einigen Jahren, »er habe nie verstanden, wieso Organismen Gefühle haben. Schließlich sind orthodoxe Biologen der Meinung, dass Verhalten – auch wenn es äußerst komplex ist – ausschließlich biochemisch geregelt ist, während die damit einhergehenden Empfindungen wie Angst, Schmerz, Staunen und Liebe nichts weiter sind als Schatten, die von diesen biochemischen Vorgängen geworfen werden, ohne selbst jedoch für das Verhalten des Organismus von maßgeblicher Bedeutung zu sein.«⁴⁸ Das Gleiche lässt sich auch für bewusste Überzeugungen sagen: Wenn »Verhalten – auch wenn es äußerst komplex ist – ausschließlich biochemisch geregelt ist«, gibt es offenbar keinen Rahmen, in dem bewusste Überzeugungen in die kausalen Abläufe hineinspielen können – keinen Weg, auf dem sich eine bewusste Überzeugung einmischen kann. In kausaler Hinsicht wird sie träge bleiben. Hinzu kommt: Entspräche diese Möglichkeit der Wirklichkeit, wäre die Evolution gar nicht dazu imstande, unsere Überzeugungen – bzw. die Überzeugungen hervorbringenden Strukturen – zu formen und zu prägen, indem sie Falsches ausmerzt und Wahrheit fördert. Denn in diesem Fall wären unsere Überzeugungen sozusagen unsichtbar für die Evolution. Welche Überzeugungen ein Organismus gegebenenfalls hat, wäre bei diesem Szenario reiner Zufall, soweit es die Evolution
Bewusstseinszustände sind […]. Gibt es irgendwelche Belege dafür, dass diese Bewusstseinszustände molekulare Veränderungen [im Gehirn] verursachen können, die ihrerseits Muskelbewegungen nach sich ziehen? Mir sind solche Belege unbekannt [… Das Bewusstsein] hat offenbar gar nicht die Kraft, das Funktionieren des Körpers zu modifizieren, genauso wie die Dampfpfeife einer Lokomotive keinen Einfluss auf die Maschinerie hat« (T. H. Huxley, »On the Hypothesis That Animals Are Automata and Its History« [1874], abgedr. als Kapitel 5 von Huxleys Method and Results, London: Macmillan 1893, S. 239 – 240). An einer späteren Stelle dieses Essays heißt es: »Soweit ich weiß, gilt die Argumentation, die auf Tiere zutrifft, im gleichen Maße auch für die Menschen. Dementsprechend werden alle Bewusstseinszustände in unserem Inneren – genauso wie die Bewusstseinszustände der Tiere – unmittelbar von molekularen Veränderungen der Gehirnsubstanz verursacht. Mir scheint, dass es bei den Menschen, ebenso wie bei den Tieren, keinen Beweis dafür gibt, dass irgendein Bewusstseinszustand die Ursache von Bewegungsveränderungen der Materie des Organismus ist […] Wir sind bewusste Automaten« (253 – 244). (Man beachte das Vorkommen der äußerst beliebten Argumentationsform »Ich kenne keinen Beweis dafür, dass nicht-p; also gibt es keinen Beweis dafür, dass nicht-p; also p«.) Im Gegensatz zu Huxley gebrauche ich das Wort »Epiphänomenalismus« zur Bezeichnung jeder Auffassung, der zufolge Überzeugungen im Rahmen der zum betreffenden Verhalten führenden Kausalkette keine Rolle spielen – einerlei, ob es der Fall ist oder nicht, dass die relevante Auffassung den Dualismus voraussetzt, der anscheinend einen Bestandteil von Huxleys Lesart bildet. 28. Dezember 1992, S. 41.
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betrifft. Welche Überzeugungen von unseren kognitiven Mechanismen produziert werden, wäre für das Verhalten oder die Tauglichkeit ohne Belang, denn (diesem Szenario zufolge) spielen solche Überzeugungen keine Rolle bei der Hervorbringung oder Erklärung von Verhalten.Welches ist nun die Wahrscheinlichkeit von Z, wenn man dieses Szenario zugrunde legt? Das heißt, welcher Wert kommt P(Z/N ∧ P1) zu? Die Zuverlässigkeit setzt natürlich voraus, dass die große Mehrzahl unserer Überzeugungen wahr ist. Die meisten großen Aussagenmengen erfüllen diese Bedingung allerdings nicht. Aber eine große Menge von Überzeugungen dürfte bei diesem Szenario genauso wahrscheinlich wirken wie jede andere – jedenfalls wenn es um Überzeugungen der Art geht, die wir Menschen haben können. Daher kann man nicht ohne eine Miene zu verziehen behaupten, es sei diesem Szenario zufolge höchstwahrscheinlich, dass die meisten unserer Überzeugungen wahr sind. Vielleicht lautet das Urteil, diese Wahrscheinlichkeit sei relativ niedrig. Bloß um der Konkretheit willen wollen wir sagen, sie liege in der Nähe von etwa 0,3. Andererseits könnte man meinen, die richtige Einstellung laufe in diesem Fall auf die Feststellung hinaus, wir seien eben außerstande, diese Wahrscheinlichkeit sinnvoll abzuschätzen, und daher sei P(Z/N ∧ P1) unerforschlich. Die zweite Möglichkeit hinsichtlich der Beziehung zwischen Überzeugung und Verhalten (M2) ist der semantische Epiphänomenalismus. Von einem naturalistischen Standpunkt aus gesehen, ist es naheliegend, Menschen als materielle Gegenstände aufzufassen.⁴⁹ Nehmen wir an, dass es sich wirklich so verhält. Dann fragt es sich, was für ein Ding eine Überzeugung – etwa die Überzeugung, der cartesianische Dualismus sei falsch – eigentlich ist. Vermutlich wird es ein lange anhaltendes neurales bzw. neuronales Ereignis sein. Dieses neurale Ereignis wird dann elektrochemische Eigenschaften haben: die Anzahl der beteiligten Neuronen; die Art und Weise, in der die beteiligten Neuronen miteinander zusammenhängen sowie mit anderen neuronalen Ereignissen, mit Muskeln, mit Sinnesorganen usw.; die durchschnittliche Häufigkeit und Intensität des neuronalen Feuerns in verschiedenen Teilen dieses Ereignisses und die Hinsichten, in denen es sich im Laufe der Zeit und mit Bezug auf Input aus anderen Bereichen verändert. (Hier wollen wir von der »Syntax« der Überzeugung sprechen.) Natürlich ist es leicht zu erkennen, in welcher Weise diese Eigenschaften des neuronalen Ereignisses das Verhalten kausal beeinflussen. Eine gegebene Überzeugung hängt neural sowohl mit anderen Überzeugungen als auch mit Muskeln zusammen; und
Dabei ist es gar nicht leicht anzugeben, was eigentlich ein materieller Gegenstand ist. (Bas van Fraassen betont diese Schwierigkeit in »Science, Materialism, and False Consciousness«, s. o., Anm. 39). Was unsere jetzigen Belange betriff, brauchen wir dieses Unterfangen nicht zu berücksichtigen, sondern können uns damit begnügen, unseren Blickwinkel enger zu fassen und uns auf die These zu konzentrieren, Überzeugungen seien neurale Ereignisse oder Prozesse.
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man kann sich ein Bild davon machen, wie elektrische Impulse, von der Überzeugung herkommend, die üblichen neuronalen Kanäle passieren und zu guter Letzt Muskelkontraktionen auslösen. Falls nun diese Überzeugung wirklich eine Überzeugung ist, wird sie auch noch andere Eigenschaften haben – Eigenschaften, die über ihre Syntax bzw. ihre neurophysiologischen Eigenschaften hinausgehen. Insbesondere wird sie einen Inhalt haben. Es wird sich um die Überzeugung, dass p, handeln (wobei »p« für eine Proposition bzw. Aussage p steht – in unserem Fall für die Aussage »Der cartesianische Dualismus ist falsch«). Doch wie geschieht es, dass der Inhalt dieses neuronalen Ereignisses – also diese Proposition – in die zum Verhalten führende Kausalkette hineinspielt?⁵⁰ Bei diesem Szenario wird es schwierig oder unmöglich sein zu erkennen, wie eine Überzeugung kraft ihres Inhalts kausalen Einfluss auf unser Verhalten oder Handeln haben kann. Angenommen, die Überzeugung hätte die gleichen elektrochemischen Eigenschaften, aber einen völlig anderen Inhalt, etwa die Proposition »Der cartesianische Dualismus trifft zu«. Hätte das im Hinblick auf die Rolle, die sie in der Kausalgeschichte des Verhaltens spielt, etwas ausgemacht? Es fällt sicher schwer einzusehen, wie das möglich sein soll, denn es würde sich ja um die gleichen elektrischen Impulse handeln, die die gleichen Kanäle passieren, um in die gleichen Muskelkontraktionen zu münden. Die neurophysiologischen Eigenschaften decken offenbar das ganze Gebiet ab,wenn es um die kausalen Auslöser des Verhaltens geht. Der Inhalt scheint keine Möglichkeit zu haben, sich irgendwie einzumischen. Aber natürlich sind nicht die elektrochemischen Eigenschaften meiner Überzeugungen die Träger von Wahrheit und Falschheit, sondern das ist der Inhalt meiner Überzeugungen. Denn eine Überzeugung ist genau dann wahr, wenn die Proposition, die ihren Inhalt bildet, wahr ist. Ebenso wie im Fall des epiphänomenalistischen Szenarios wäre der Inhalt der Überzeugung also unsichtbar für die Evolution. Dementsprechend würde uns die Tatsache, dass wir weitergelebt und uns entwickelt haben – dass unsere kognitive Ausstattung ausreichte, um unseren Vorfahren das Überleben und die Fortpflanzung zu ermöglichen –, gar nichts über die Wahrheit unserer Überzeugungen oder die Zuverlässigkeit unserer kognitiven Fähigkeiten sagen. Sie würde etwas über die neurophysiologischen Eigenschaften unserer Überzeugungen sagen, und sie würde vermittels dieser Eigenschaften sagen, dass diese Überzeugungen bei der Entstehung adaptiven Verhaltens eine Rolle gespielt haben. Über den Inhalt dieser Überzeugungen würde sie dagegen nichts sagen – Nicht weniger dringend ist natürlich die Frage: »Inwiefern hat dieses neuronale Ereignis überhaupt einen Inhalt?« Wodurch wird diesem neuronalen Ereignis die Proposition, dass der cartesianische Dualismus falsch ist, zugeordnet und nicht etwa die Proposition, dass der Dualismus zutrifft oder interessant, veraltet oder ein bisschen obszön ist?
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und folglich auch nichts über die Wahrheit oder Falschheit der Überzeugungen. Unter Zugrundelegung dieses Szenarios ist es wie beim vorigen: Es wäre nicht sinnvoll möglich, für Z eine hohe Wahrscheinlichkeit in Anspruch zu nehmen. Ebenso wie beim vorigen Szenario könnte man vermutlich bestenfalls behaupten, diese Wahrscheinlichkeit sei entweder niedrig oder unerforschlich. P(Z/N ∧ M2) ist – ebenso wie P(Z/N ∧ M1) – niedrig oder unerforschlich. Drittens, welches ist die Wahrscheinlichkeit von Z, wenn man von N ∧ M3 ausgeht, also der Common-sense- bzw. alltagspsychologischen Auffassung der kausalen Beziehung zwischen Verhalten und Überzeugung? Nach alltagspsychologischer Auffassung dient die Überzeugung als (partielle) Ursache und daher auch als Erklärung von Verhalten – und das gilt explizit für den Inhalt der Überzeugung. Ich möchte ein Bier und bin überzeugt, dass im Kühlschrank Bier steht. Diese Überzeugung liefert nach unserer üblichen Auffassung eine Teilerklärung für die Bewegungen dieses großen, massigen Objekts, das ich meinen Körper nenne und das sich gerade aus dem Sessel hochhievt, zum Kühlschrank hinbewegt, diesen öffnet und das Bier herausnimmt. Lässt sich nun eine Argumentation konstruieren, die von den evolutionären Ursprüngen der – wie auch immer beschaffenen – Vorgänge, die diese Überzeugungen hervorbringen, zur Zuverlässigkeit dieser Vorgänge führt? Könnte man beispielsweise wie folgt argumentieren: Unsere Überzeugungen sind in solcher Weise mit unserem Verhalten verbunden, dass falsche Überzeugungen anpassungsfeindliches Verhalten hervorbringen würden, also Verhalten, das tendenziell die Wahrscheinlichkeit des Weiterlebens und der Fortpflanzung der Überzeugungsträger vermindert?⁵¹ Nein, die Falschheit einer Überzeugung ist keineswegs eine Garantie für anpassungsfeindliches Handeln. Es mag sein, dass bei einem primitiven Stamm der Glaube herrscht, eigentlich sei alles lebendig, oder alles sei eine Hexe oder ein Dämon, und vielleicht haben alle oder fast alle Überzeugungen der Stammesangehörigen die Form: »Diese Hexe ist F«, »Dieser Dämon ist G«, »Diese Hexe kann man essen« oder »Dieser Dämon wird mich wahrscheinlich essen, wenn ich ihm die Möglichkeit dazu gebe«.Wenn sie den richtigen Hexen die richtigen Eigenschaften zuschreiben, können ihre Überzeugungen anpassungs-
In diesem Sinne schreibt Quine: »Darwin wirft ein wenig Licht ins Dunkel. Wenn die angeborene Qualitätengliederung der Menschen ein in den Genen verankerter Wesenszug ist, dann wird am ehesten die Gliederung, die die erfolgreichsten Induktionen geleistet hat, durch die natürliche Selektion dominiert haben. Kreaturen, die in ihren Induktionen permanent falsch liegen, haben eine tragische, aber lobenswerte Tendenz, zugrunde zu gehen, bevor sie ihre Art reproduzieren« (»Natural Kinds«, in: Ontological Relativity and Other Essays, New York: Columbia University Press 1969, S. 126, übers. von Wolfgang Spohn: »Natürliche Arten«, in: Quine, Ontologische Relativität und andere Schriften, Stuttgart: Reclam 1975, S. 173 – 174).
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freundlich, aber trotzdem falsch sein (wenn wir etwa annehmen, dass es in Wirklichkeit gar keine Hexen gibt).⁵² Zu berücksichtigen ist natürlich auch der Umstand, dass Verhalten, sofern es einesteils durch Überzeugungen ausgelöst wird, andernteils auch von Wünschen hervorgebracht wird. Es sind Überzeugungen plus Wünsche sowie einige weitere Faktoren, die zusammengenommen Verhalten hervorbringen. Doch dann kann es offenbar viele verschiedene, das gleiche adaptive Verhalten liefernde Überzeugung/Wunsch-Systeme geben, in denen die jeweilige Überzeugungskomponente weitgehend falsch ist. Es gibt viele mögliche Überzeugung/Wunsch-Systeme, aus denen sich mein gesamtes Verhalten ergibt, obwohl in jedem dieser Systeme die meisten Überzeugungen falsch sind. Dass mein Verhalten (bzw. das Verhalten meiner Vorfahren) bisher anpassungsfreundlich gewesen ist, ist daher bestenfalls ein drittrangiger Grund für die Annahme, meine Überzeugungen seien meistens wahr und meine kognitiven Fähigkeiten meistens zuverlässig. Und das gilt sogar dann, wenn man von der Common-sense-Auffassung der Beziehung zwischen Überzeugung und Verhalten ausgeht. Es ist also nicht sinnvoll möglich, von der Tatsache ausgehend, dass unser Verhalten (bzw. das Verhalten unserer Vorfahren) adaptiv gewesen ist, für die Konklusion zu argumentieren, unsere Überzeugungen seien größtenteils wahr und unsere kognitiven Vermögen zumeist zuverlässig. Es ist keine leichte Aufgabe, P(Z/N ∧ M3) zu schätzen. Vielleicht ist die Wahrscheinlichkeit, sofern sie nicht unerforschlich ist, einigermaßen hoch. Um nun dem Gegner möglichst viel zuzugestehen, wollen wir sagen, diese Wahrscheinlichkeit sei entweder unerforschlich oder sie liege in der Nähe von 0,9. Der Epiphänomenalismus schlechthin und der semantische Epiphänomenalismus stimmen insofern überein, als sie beide kundtun oder implizit andeuten, dass der Inhalt einer Überzeugung keine kausale Wirkung auf das Verhalten hat. Der Inhalt der Überzeugung spielt im Rahmen der Kausalkette, die zum Verhalten
Einwand: Diese Stammesangehörigen würden in jedem Fall den richtigen Dingen die richtigen Eigenschaften zuschreiben, so dass ihre Überzeugungen in einem lockeren Sinn zutreffen, obwohl sie streng genommen falsch sind. Antwort: Indem wir weiter herummanipulieren, können wir ohne weiteres Systeme ausfindig machen, bei deren Anwendung die Überzeugungen der Stammesangehörigen zwar zu adaptivem Verhalten führen würden (und daher in puncto Verhalten funktional äquivalent mit dem wahren Schema wären), aber nicht einmal in jenem lockeren Sinn zuträfen. Tatsächlich gibt es solche Systeme, bei denen die zugeschriebenen Eigenschaften aus logischen Gründen nicht exemplifiziert werden können. Die Stammesangehörigen glauben, alles seien Hexen; vielleicht wird ihr Gegenstück zu unserer Eigenschaftszuschreibung beinhalten, dass man bestimmte Hexen (statt Eigenschaften) zuschreibt. (Eine dieser Hexen wäre beispielsweise so beschaffen, dass ein Ding dann, wenn es diese Hexe hat, in unserer Sprache rot wäre.) In diesem Fall werden ihre Überzeugungen auch in dem oben angedeuteten lockeren Sinn nicht zutreffen, sondern sie werden notwendig falsch sein.
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führt, keine Rolle. Also können wir diese beiden Möglichkeiten vielleicht auf eine einzige reduzieren, nämlich die Möglichkeit, dass der Inhalt der Überzeugung kausal wirkungslos bleibt. Diese Möglichkeit wollen wir -I nennen. Wie wir bereits gesehen haben, ist die Wahrscheinlichkeit von Z bezogen auf N ∧ -I niedrig oder unerforschlich und die Wahrscheinlichkeit von Z bezogen auf N ∧ I ebenfalls unerforschlich oder bestenfalls mittelhoch. Was wir herausbekommen wollen, ist P(Z/N). Da I und -I zusammen vollständig sind und einander wechselseitig ausschließen, sagt uns die Wahrscheinlichkeitsrechnung, dass P(Z/N) = P(Z/N ∧ I) · P(I/N) + P(Z/N ∧ -I) · P(‐I/N), das heißt, die Wahrscheinlichkeit von Z bezogen auf N ist der gewichtete Durchschnitt der Wahrscheinlichkeit von Z bezogen auf N ∧ I und der Wahrscheinlichkeit von Z bezogen auf N ∧ -I, also gewichtet nach der Wahrscheinlichkeit von I bezogen auf N und der Wahrscheinlichkeit von -I bezogen auf N. Die Wahrscheinlichkeit des linken Glieds des ersten der beiden Produkte auf der rechten Seite des Gleichheitszeichens ist, wie wir bereits festgestellt haben, entweder mittelhoch oder unerforschlich; die des zweiten Glieds ist entweder niedrig oder unerforschlich. Was noch zu tun bleibt, ist die Bewertung der Gewichte, also der rechten Glieder der beiden Produkte. Welches ist also die Wahrscheinlichkeit von -I, sofern wir vom gewöhnlichen Naturalismus ausgehen? Welches ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das eine oder das andere der beiden epiphänomenalistischen Szenarios zutrifft? Nach Robert Cummins ist der semantische Epiphänomenalismus, was die Beziehung zwischen Überzeugung und Verhalten betrifft, tatsächlich die anerkannte Auffassung.⁵³ Das ist deshalb so, weil es extrem schwerfällt, sich unter Voraussetzung des Materialismus einen Weg vorzustellen, auf dem der Inhalt einer Überzeugung im Hinblick auf das Verhalten eine kausale Rolle spielen könnte. Sofern eine Überzeugung nichts anderes ist als eine neurale Struktur – eine Struktur, die irgendwie an Inhalt kommt –, fällt es äußerst schwer zu erkennen, wie es möglich sein soll, dass der Inhalt an der zum Verhalten führenden Kausalkette beteiligt wird. Denn wenn eine gegebene Struktur dieser Art einen anderen Inhalt hätte, würde ihr kausaler Beitrag zum Verhalten vermutlich doch wohl der gleiche sein. Ist die Überzeugung hingegen gar keine materielle Struktur, sondern ein nichtphysisches Stück Bewusstsein, fällt es schwer zu erkennen, dass in der zum Verhalten führenden Kausalkette überhaupt Platz für sie ist. Ausgelöst werden die am Verhalten beteiligten Muskelkontraktionen von Zuständen des Nervensystems, ohne dass es
Cummins, Meaning and Mental Representation, Cambridge: MIT Press 1989, S. 130.
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hier einen Punkt gäbe, an dem das nichtphysische Stück Bewusstsein einen kausalen Betrag leistet. Also fällt es, wenn man von N ausgeht, extrem schwer zu erkennen, wie der Inhalt einer Überzeugung kausal wirksam sein können soll. Das heißt, es ist extrem schwierig zu erkennen, wie der Epiphänomenalismus – sei’s der Epiphänomenalismus schlechthin oder der semantische Epiphänomenalismus – vermieden werden kann, wenn man von N ausgeht. (Es gibt zwar einige wackere Anstrengungen, die in diese Richtung gehen, aber die Aussichten sind nicht gut.) Es sieht also so aus, als werde P(‐I/N) relativ hoch geschätzt werden müssen, sagen wir beispielsweise (um einen konkreten Wert zu nennen) 0,7, was wiederum bedeutet, dass P(I/N) 0,3 betragen wird. Natürlich kann es ohne weiteres sein, dass wir falsch liegen. Wir verfügen ja nicht über ein unanfechtbares Verfahren zur Berechnung des Werts. Also läuft der konservative Standpunkt hier darauf hinaus, dass auch diese Wahrscheinlichkeit unerforschlich ist. Man kann einfach nicht angeben, wie hoch sie ist. Unter Voraussetzung unserer derzeit gegebenen Kenntnisse ist P(‐I/N) also entweder hoch oder unerforschlich. Und falls P(‐I/N) unerforschlich ist, gilt das gleiche natürlich auch für P(I/N). Was bedeutet das für die Summe diese beiden Produkte, also P(Z/N)? Eigentlich haben wir hier mehrere Möglichkeiten. Angenommen, zuerst überlegen wir uns die Sache vom Standpunkt einer Person aus, die keine der Wahrscheinlichkeiten, um die es geht, unerforschlich findet. Dann wird P(I/N) in der Nähe von 0,3 liegen, P(‐I/N) in der Nähe von 0, 7 und P(Z/N ∧ -I) vielleicht in der Nähe von 0,2. Dann bleibt noch P(Z/N ∧ I), also die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Z wahr ist, wenn man von der Voraussetzung ausgeht, dass der gewöhnliche Naturalismus zusammen mit der alltagspsychologischen Auffassung der Beziehung zwischen Überzeugung und Verhalten gilt. Unterstellen wir, dass diese Wahrscheinlichkeit nicht unerforschlich ist, wollen wir sagen, dass sie in der Nähe von 0,9 liegt. Und wenn wir von diesen Schätzungen ausgehen, wird P(Z/N) in der Nähe von 0,41 liegen.⁵⁴ Nehmen wir jedoch an, die Wahrscheinlichkeiten, um die es geht, seien unerforschlich; dann werden wir das gleiche auch im Hinblick auf P(Z/N) sagen müssen. Deshalb gilt, dass P(Z/N) entweder relativ niedrig ist – und jedenfalls unter 0,5 liegt – oder unerforschlich.
Natürlich sind diese Zahlen reine Annäherungswerte. Bei anderen werden die Schätzungen ein wenig anders ausfallen. Man kann sie jedoch erheblich verändern, ohne dass sich am Endresultat etwas Einschneidendes ändert. So denkt man beispielsweise vielleicht, P(Z/N ∧ I) liege höher, vielleicht betrage der Wert sogar 1. Dann liegt das Ergebnis für P(Z/N) in der Nähe von 0,44, sofern man die übrigen Zuordnungen der Werte beibehält. Oder vielleicht lehnt man die Vorstellung ab, P(‐I/N) sei wahrscheinlicher als P(I/N), und hält sie für ungefähr gleich. Dann wird P (Z/N), sofern man die übrigen Zuordnungen der Werte beibehält, in der Nähe von 0,55 liegen.
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Im einen wie im anderen Fall fragt es sich jedoch, ob der gewöhnliche Naturalist – oder jedenfalls ein Theoretiker, der erkennt, dass P(Z/N) niedrig oder unerforschlich ist – über einen Bezwinger von Z verfügt und mithin über einen Bezwinger der Aussage, seine eigenen Vermögen seien zuverlässig. Ich möchte behaupten, dass das tatsächlich der Fall ist. Um zu erkennen, inwiefern es sich so verhält, müssen wir einige Analogien zu klaren Fällen festhalten: Zunächst sind hier die Analogien zu nennen, die ich in WPF (229 – 231) angeführt habe. An dieser Stelle seien zwei weitere genannt: Kehren wir zu unserer Forschungsreise durchs Weltall und dem radioähnlichen Apparat zurück (S. 263), der Laute von sich gibt, die deutsche Sätze bilden, die ihrerseits Propositionen ausdrücken, deren Wahrheitswert uns unbekannt ist. Zuerst ist man geneigt, diese Aussagen für wahr zu halten – und sei’s auch nur vor lauter Schreck und Verwunderung. Nachdem man jedoch unaufgeregt darüber nachgedacht hat, merkt man, dass man gar nicht weiß, welchem etwaigen Zweck dieses Gerät dient und wer oder was den Apparat konstruiert hat. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Gerät unter Voraussetzung unserer diesbezüglichen Kenntnisse zuverlässig ist, ist niedrig oder unerforschlich; und damit bekommt man einen Bezwinger der Anfangsüberzeugung, das Gerät spreche tatsächlich die Wahrheit, an die Hand. Betrachten wir eine weitere Analogie: Du denkst ernstlich über die Möglichkeit nach, ein Gehirn in einem Tank zu sein, das von Kognitionswissenschaftlern von Alpha Centauri in solcher Weise Experimenten unterworfen wird, dass auf deine kognitiven Fähigkeiten wirklich kein Verlass mehr ist. Aus dem einen oder anderen Grund kommst du zu der Ansicht, diese Wahrscheinlichkeit liege über 0,5. Dann verfügst du über einen Bezwinger deiner Überzeugung, deine kognitiven Vermögen seien zuverlässig. Nehmen wir nun an, das sei eine ernstzunehmende Möglichkeit. Allerdings bist du außerstande, ihre Wahrscheinlichkeit irgendwie einzuschätzen, so dass du ebenfalls außerstande bist, die Wahrscheinlichkeit der Zuverlässigkeit deiner Vermögen in irgendeiner Weise zu schätzen. Soweit du weißt, könnte die Wahrscheinlichkeit irgendwo zwischen 0 und 1 liegen. Auch in diesem Fall verfügst du über einen Bezwinger deiner natürlichen Überzeugung, deine kognitiven Vermögen seien zuverlässig. Für den Naturalisten, der erkennt, dass P(Z/N) niedrig oder unerforschlich ist, gilt das gleiche. Im Hinblick auf jene Faktoren, die für eine vernünftige Auffassung der Zuverlässigkeit seiner Überzeugungen produzierenden Mechanismen ausschlaggebend sind – also Faktoren wie das Zustandekommen dieser Mechanismen und deren etwaiger Zweck –, muss der Naturalist einräumen, dass die Wahrscheinlichkeit der Zuverlässigkeit dieser Vermögen bestenfalls unerforschlich ist.
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Sofern er keine sonstigen Informationen hat,⁵⁵ bestünde die richtige Einstellung darin, Z in der Schwebe zu lassen. Doch dann wäre eine Einstellung zu meinen Überzeugungen à la Hume die angemessene. Ich erkenne, dass ich nicht umhin kann, die meisten Überzeugungen, die ich tatsächlich bilde, zu bilden. So liegt es beispielsweise nicht in meiner Macht, mich im jetzigen Augenblick der Überzeugung zu enthalten, dass sich draußen vor dem Fenster Bäume und eine Wiese befinden. Da ich jetzt allerdings nicht glaube, dass meine kognitiven Vermögen zuverlässig sind (ich enthalte mich des Urteils über ihre Zuverlässigkeit), sehe ich auch ein, dass die Wahrheit dieser von meinen kognitiven Vermögen hervorgebrachten Überzeugungen nicht wahrscheinlicher ist als ihre Falschheit. Daher nehme ich zu ihnen eine skeptisch-distanzierte Haltung ein. Und da meine Zweifel bezüglich meiner Überzeugungen ihrerseits von meinen Überzeugungen abhängen, gehe ich auch im Hinblick auf diese Zweifel ebenso auf skeptische Distanz wie im Hinblick auf die Überzeugungen, von denen diese Zweifel ausgelöst werden, sowie im Hinblick auf die Überzeugungen, von denen die Zweifel an diesen Zweifeln ausgelöst werden . . . Der gewöhnliche Naturalist sollte sich daher an Hume anschließen und sich die gleiche skeptische, ironische Einstellung zu seinen Überzeugungen zu eigen machen wie er. Das gilt natürlich auch für N selbst. Aus diesem Grund dürfen wir wohl sagen, dass sich N selbst bezwingt, denn wenn N in der üblichen Weise akzeptiert wird, liefert es einen Bezwinger des eigenen Standpunkts, und zwar einen Bezwinger, der seinerseits nicht bezwungen werden kann.⁵⁶ Dieses Resultat können wir nun in knapper Form auf den Fall übertragen, in dem ich mich zum gewöhnlichen Naturalismus agnostisch verhalte. Ich glaube nicht wirklich daran; entweder kommt er mir ungefähr genauso wahrscheinlich vor wie sein Gegenteil, oder seine Wahrscheinlichkeit ist für mich unerforschlich. Im einen wie im anderen Fall verfüge ich wieder über einen Bezwinger von Z – genauso wie im Fall des gewöhnlichen Naturalisten. Um das zu erkennen, wollen wir nochmals eine Analogie betrachten, und dabei soll es sich – schon allein um die Kontinuität zu wahren – wieder um eine instrumentelle Analogie handeln: Du hast es mit ir-
Doch wie soll er über andere Information verfügen oder sie erlangen? Alle derartigen Informationen wären Überzeugungen, die auf seine kognitiven Vermögen zurückgehen. Aber er hat einen Bezwinger der Zuverlässigkeit dieser Vermögen und folglich auch einen Bezwinger für jede Überzeugung, die von diesen Vermögen hervorgebracht wird. Siehe Kapitel 12 in WPF sowie »Naturalism Defeated«. Der Bezwinger kann deshalb nicht bezwungen werden, weil jeder Bezwinger seinerseits aus den betreffenden Vermögen oder Überzeugungen produzierenden Prozessen hervorginge. So könnte der Bezwinger beispielsweise die Form eines Arguments annehmen, das vielleicht auf die Konklusion abzielt, diese Überzeugungen produzierenden Prozesse seien dennoch zuverlässig. Doch dann hätte ich den gleichen Bezwinger für jede Prämisse dieses Arguments sowie für meine Überzeugung, dass die Konklusion wahr ist, sofern die Prämissen ebenfalls wahr sind.
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gendeinem Messinstrument zu tun, beispielsweise einem Barometer. Nach deiner Überzeugung befindet sich das Barometer in einem von zwei möglichen Zuständen – C1 oder C2. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass es sich in einem der beiden Zustände befindet, ist für dich entweder unerforschlich oder in etwa 0,5. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass es zuverlässig ist, sofern es sich im Zustand C1 befindet, ist hoch, jedenfalls hoch genug, um die von ihm gelieferten Werte ohne zu zögern zu akzeptieren, sofern du glaubst, dass es sich im Zustand C1 befindet. Dagegen ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass es zuverlässig ist, sofern es sich im Zustand C2 befindet, aus deiner Sicht unerforschlich. Sie könnte hoch sein, aber sie könnte auch niedrig sein. Du weißt einfach nicht, was du von dieser Wahrscheinlichkeit halten sollst. Wäre es vernünftig, die von diesem Instrument gelieferten Resultate zu akzeptieren? Vermutlich nicht. Du weißt, dass es,wenn es sich im Zustand C1 befindet, zuverlässig ist. Doch die Wahrscheinlichkeit dafür, dass es sich tatsächlich im Zustand C1 befindet, ist (für dich) entweder 0,5 oder unerforschlich. Wie dem auch sei, die rationale Einstellung ist die, dass man die Überzeugung, das Gerät sei zuverlässig, in der Schwebe lässt und weder sie noch ihr Gegenteil akzeptiert. Und sofern man über keine sonstige Informationsquelle verfügt, gilt das gleiche auch für den Output des Barometers: Für jede Proposition, die zu seinem Output gehört, gilt, dass es für dich rational wäre, dich zu dieser Proposition agnostisch zu verhalten. Der Zeiger weist auf 1010 Millibar. Dennoch wirst du (sofern du über keine anderen Informationen verfügst) nicht aus diesem Grund glauben, dass der atmosphärische Druck in deiner Umgebung 1010 Millibar beträgt. Natürlich wirst du dir auch keine Überzeugung, die mit der ersten unverträglich ist, zu eigen machen, sondern du wirst dich des Urteils enthalten. Es ist nicht schwer, diesen Gedankengang auf den Agnostizismus bezüglich des Verhältnisses zwischen Theismus und gewöhnlichem Naturalismus zu übertragen. Falls ich einen solchen Agnostizismus vertrete, liegt die Wahrscheinlichkeit des gewöhnlichen Naturalismus für mich entweder in der Nähe von 0,5 oder sie ist unerforschlich. Nehmen wir an, sie liegt bei 0,5: Wie soll ich mich jetzt zu Z verhalten? Nun, die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig, dass meine kognitiven Vermögen in einer Weise zustande gekommen sind, im Hinblick auf die die Wahrscheinlichkeit von Z gering oder unerforschlich ist.Wenn dem jedoch so ist,verfüge ich über einen Bezwinger von Z, einen triftigen Grund, mich des Urteils zu enthalten. Nehmen wir ferner an, die Wahrscheinlichkeit des gewöhnlichen Naturalismus sei für mich unerforschlich: In diesem Fall kann ich mit Bezug auf den gewöhnlichen Naturalismus gar keine Wahrscheinlichkeit ausschließen. Da die Wahrscheinlichkeit von Z bezogen auf den gewöhnlichen Naturalismus ebenfalls unerforschlich ist, kann ich überhaupt keine Wahrscheinlichkeit für Z ausschließen, insbesondere keine niedrige Wahrscheinlichkeit. Doch damit bekomme ich wieder einen Bezwinger meines normalen und instinktiven Glaubens, dass Z zutrifft, in die Hand. Also bekomme ich im einen wie im anderen Fall einen Bezwinger für Z. Sofern ich keinen Bezwinger-Bezwinger für diesen Bezwinger habe oder ersinnen kann,⁵⁷ sollte ich mich im Hinblick auf Z agnostisch verhalten. Und wenn ich mich im Hinblick auf Z agnostisch verhalte, besteht die rationale Einstellung (genau wie Hume es gesehen hat) darin, dass ich mich im Hinblick auf jede Leistung meiner kognitiven Vermögen agnostisch verhalte. Es mag zwar sein, dass ich de facto außerstande bin, mich im Hinblick auf sie agnostisch zu verhalten, aber dennoch ist der Agnostizismus das, was die Rationalität von mir verlangt. Natürlich erkenne ich auch, dass die Überzeugungen, die – wie z. B. die Überzeugung, dass die
Doch wieder stellt sich die Frage (siehe die vorige Anmerkung): Wie soll das möglich sein? Jeder derartige Bezwinger-Bezwinger wäre von vornherein dem Z bezwingenden Bezwinger ausgesetzt.
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relevanten Wahrscheinlichkeiten unerforschlich sind – auf meinem Weg zu diesem Agnostizismus eine Rolle spielen, ihrerseits Produkte meiner kognitiven Vermögen sind und keineswegs besser dastehen als irgendwelche sonstigen Produkte dieser Art. Daher der vielschichtige, reflexive Skeptizismus Humes.
Eine abschließende Bemerkung: Es gehört nicht notwendig zu den noetischen Auswirkungen der Sünde, dass man gar nichts weiß. Falls Calvin das geglaubt haben sollte, ist er zu weit gegangen. Dennoch trifft eine davon nicht völlig verschiedene Feststellung durchaus zu: Wenn ich den Theismus zugunsten des gewöhnlichen Naturalismus ablehne und außerdem erkenne, dass P(Z/N) niedrig oder unerforschlich ist, werde ich über einen Bezwinger jeder Überzeugung, die ich vertrete, verfügen. Wenn dem so ist, werde ich, sofern ich meine Überzeugungen rational bilde, keine Überzeugung so fest vertreten, dass sie Erkenntnis konstituiert. Das gleiche gilt, wenn ich mich im Hinblick auf die Entscheidung zwischen Theismus und gewöhnlichem Naturalismus bloß agnostisch verhalte, und auch dann, wenn ich mich im Hinblick auf meinen Ursprung und den Ursprung meiner kognitiven Vermögen agnostisch verhalte. Die Ablehnung des theistischen Glaubens löst also nicht automatisch Skepsis aus: Viele, die nicht an Gott glauben, wissen eine ganze Menge. Doch das liegt nur daran, dass sie die Konsequenzen dieser Ablehnung nicht zu Ende denken. Sobald sie das tun, werden sie ihr Wissen einbüßen. Damit stoßen wir auf einen weiteren Fall, in dem man dadurch, dass man mehr lernt, weniger weiß. In diesem Kapitel haben wir damit begonnen, das erweiterte Modell zu erkunden, indem wir das Wesen der Sünde und einige ihrer kognitiven Konsequenzen erforscht haben. Diese Konsequenzen reichen weiter, als man normalerweise annehmen würde. Ja, insofern die Sünde den sensus divinitatis und damit unsere Gotteserkenntnis stört, kann sie ohne weiteres zu einem noetischen Zustand führen, in dem der komplexe, vielschichtige Skeptizismus Humes den Forderungen der Rationalität entspricht. Doch hier lauert ein missliches Problem. Dem im 6. Kapitel skizzierten A/C-Modell zufolge setzt die Erkenntnis richtiges Funktionieren voraus, und die Gotteserkenntnis setzt das richtige Funktionieren des sensus divinitatis voraus. Nach dem erweiterten Modell ist dieser Überzeugungen produzierende Prozess jedoch aufgrund der Sünde beschädigt worden, so dass er nicht mehr richtig funktioniert. Wie kann es dann (diesem Modell zufolge) gelingen, die Existenz und den Charakter Gottes zu erkennen? Im nächsten Kapitel wenden wir uns der Frage zu, wie es möglich ist, dass nicht nur der allgemeine theistische Glaube, sondern auch der spezifisch christliche Glaube gewährleistet sein kann. Indem wir die genannte Frage beantworten, werden wir außerdem erfahren, wie der sensus divinitatis wiederhergestellt wird.
8 Das erweiterte Thomas-von-Aquin/Calvin-Modell – Unserem Verstand geoffenbart So bezeugt der Geist selber unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind. Römer 8, 16
Im 6. Kapitel habe ich ein Modell – das Thomas-von-Aquin/Calvin-Modell (A/CModell) – vorgeschlagen, dem zufolge der Glaube an Gott die drei Spielarten des positiven epistemischen Status in Anspruch nehmen kann, mit denen wir uns hier befasst haben: Rechtfertigung, Rationalität (in ihrer externen und ihrer internen Form) und Gewährleistung. Wie steht es nun mit dem spezifisch christlichen Glauben – nicht nur an Gott, sondern auch an die Dreifaltigkeit, die Fleischwerdung, Christi Auferstehung, das Sühneopfer, Sündenvergebung, Erlösung, Wiederherstellung, ewiges Leben? Die Hauptaufgabe des vorliegenden Kapitels besteht darin, das A/C-Modell so zu erweitern, dass es diese Glaubenssätze abdeckt und zeigt, inwiefern auch sie die genannten Spielarten des epistemischen Status in Anspruch nehmen können. Im 7. Kapitel habe ich eine erste Formulierung dieses erweiterten Modells vorgestellt. Ein Element des erweiterten A/C-Modells hängt mit der Sünde und ihren epistemischen Konsequenzen zusammen. Der größte Teil des 7. Kapitels wurde der Ausarbeitung dieses Merkmals des Modells gewidmet. In diesem Kapitel wende ich mich den zentralen Bestandteilen des Modells zu: Wie ist es möglich, die ganze Palette des christlichen Glaubens mit allen Einzelheiten so zu deuten, dass ihm Rechtfertigung, Rationalität in ihrer internen und externen Form sowie Gewähr zukommen? Wie ist es möglich, diese Überzeugungen – die zum Teil, wie David Hume gern betont, der gewöhnlichen menschlichen Erfahrung völlig zuwiderlaufen – als etwas Vernünftiges bzw. Rationales, geschweige denn Gewährleistetes zu begreifen oder gar als etwas in solchem Maße Gewährleistetes, dass es zur Erkenntnis reicht? Die Grundlagen für eine Antwort sind zur Hand. Ja, eigentlich sind diese Grundlagen schon seit Jahrhunderten zur Hand – spätestens seit der Veröffentlichung der Religious Affections von Jonathan Edwards¹ und der Institutio Christianae Religionis von Jo-
Jonathan Edwards, Religious Affections (1746), hg. von John Smith, New Haven: Yale University Press 1959. Alle weiteren Verweise auf Seiten der Religious Affections beziehen sich auf diese Ausgabe.
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hannes Calvin.² De facto verhält es sich so, dass sie schon sehr viel länger zur Hand sind, denn bei vielem, was Calvin sagt, ist es hilfreich, diese Aussagen als Ausdeutung von Äußerungen zu verstehen, die man bereits bei Thomas von Aquin oder Bonaventura finden kann. Tatsächlich gehen diese Grundlagen auf sehr viel frühere Quellen zurück – bis hin zum Neuen Testament, insbesondere dem Evangelium des Johannes und den Paulusbriefen. Im vorliegenden Kapitel werde ich diese Grundlagen entfalten und ein Modell – das erweiterte A/C-Modell – für den gewährleisteten christlichen Glauben vorschlagen: ein Modell, in dessen Rahmen gezeigt wird, dass der vollblütige christliche Glaube in allen seinen Einzelheiten gerechtfertigt, rational und gewährleistet ist.³ Des weiteren werde ich geltend machen, dass der christliche Glaube nicht nur aus der Sicht unwissender Fundamentalisten oder unbedarfter Menschen des Mittelalters gerechtfertigt, rational und gewährleistet sein kann, sondern auch aus der Sicht informierter und gebildeter Christen des einundzwanzigsten Jahrhunderts, die sich völlig im klaren sind über die ganze Artillerie, die seit der Aufklärung gegen den christlichen Glauben in Stellung gebracht worden ist. Ich werde für die These argumentieren, dass der christliche Glaube, sofern er wahr ist, für die meisten, die ihn akzeptieren, rational und gewährleistet ist. Deshalb werde ich die weitverbreitete Vorstellung widerlegen, der christliche Glaube habe keinen positiven epistemischen Status, selbst wenn er durch irgendeinen Zufall wahr sein sollte. Wenn ich recht habe, kann der Atheologe nicht mehr sinnvoll die folgende Einstellung vertreten: »Ich habe keine Ahnung, ob der christliche Glaube wahr ist oder nicht (wer kann dergleichen schon wissen?), aber dennoch weiß ich, dass er nicht rational ist (bzw. gewährleistet, gerechtfertigt, rational gerechtfertigt, intellektuell respektabel oder …).« Um konkret zu bleiben, werde ich einem bestimmten, traditionellen Weg der Deutung unserer Erkenntnis der christlichen Wahrheit folgen. Nach meiner Überzeugung kommt diese oder eine recht ähnliche Erklärung der nüchternen Wahrheit ziemlich nahe. Andere Modelle, die anderen Traditionen entsprechen, lassen sich problemlos konstruieren. Außerdem wird mein erweitertes Modell ein weiteres Merkmal aufweisen: Es Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion/Institutio Christianae Religionis (1559), 2. durchgesehene Auflage: Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1963. Alle weiteren Verweise auf Seiten der Institutio beziehen sich auf diese Ausgabe. Um einige der modernen Verwandten und Vorfahren dieses Modells zu nennen: Stephen Davis, Risen Indeed, Grand Rapids: W. B. Eerdmans Publishing 1993; William Abraham, »The Epistemological Significance of the Inner Witness of the Holy Spirit«, in: Faith and Philosophy 7/4 (1990); C. Stephen Evans, The Historical Christ and the Jesus of Faith, Oxford: Clarendon Press 1996; Alvin Plantinga, The Twin Pillars of Christian Scholarship, Grand Rapids: Calvin College 1989; ders., »Christian Philosophy at the End of the 20th Century«, in: Sander Griffioen u. Bert Balk, Christian Philosophy at the Close of the Twentieth Century, Kampen: Kok 1995, S. 29 – 53.
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wird die bisherige Analyse unserer Gotteserkenntnis (6. Kapitel) vervollständigen und vertiefen. Die Hauptthemen dieses erweiterten Modells sind die Bibel, das innere Zeugnis des Heiligen Geistes und der Glaube. Zunächst werde ich einen kurzgefassten Überblick über die wesentlichen Bestandteile des erweiterten Modells geben. Wie wir im 7. Kapitel gesehen haben, sind wir Menschen dem Modell zufolge nach dem Ebenbild Gottes und mit den richtigen Affekten sowie mit der Kenntnis Gottes und seiner Größe und Herrlichkeit geschaffen worden. Aufgrund der größten Katastrophe, die die Menschheit ereilt hat, sind wir jedoch der Sünde anheimgefallen und in einen verheerenden Zustand geraten, aus dem wir gerettet und erlöst werden müssen. Gott hat einen Rettungsplan vorgelegt und durch das Leben, das Leiden, das Sühneopfer, den Tod und die Auferstehung Jesu Christi – die fleischgewordene zweite Person der Dreifaltigkeit – in die Tat umgesetzt. Für uns besteht das Resultat in der Möglichkeit der Rettung aus der Sünde und einem erneuerten Verhältnis zu Gott. Hier kommen wir zu der spezifisch erkenntnistheoretischen Erweiterung des Modells, denn an diesem Punkt braucht Gott ein Mittel, um uns – die Menschen der verschiedenen Zeiten und Orte – über den Rettungsplan, den er in seiner Gnade bereitstellt, zu unterrichten.⁴ Zweifellos hätte es für Gott viele verschiedene Mittel und Wege gegeben, um das zu erreichen, aber faktisch hat er sich für einen dreischichtigen Prozess entschieden. Als erstes hat er die Verfertigung der Schrift veranlasst, der Bibel, also einer Bibliothek aus Büchern oder Schriften, die zwar jeweils einen menschlichen Verfasser haben, aber auch speziell von Gott in solcher Weise inspiriert wurden, dass er selbst der Haupturheber ist. Dementsprechend hat die ganze Bibliothek einen einzigen Haupturheber, nämlich Gott selbst. In dieser Bibliothek macht er uns viele Glaubens- und Handlungsvorschläge, aber es gibt auch ein zentrales Thema, das im Brennpunkt steht (weshalb diese Sammlung von Büchern auch ihrerseits ein Buch ist): das Evangelium, die überwältigende gute Nachricht von dem von Gott in seiner Gnade angebotenen Rettungsweg.⁵ Damit die Schrift ihren Zweck in an Das Modell enthält keinen Hinweis darauf, dass explizite Glaubenssätze über Jesus Christus eine notwendige Bedingung der Rettung sind. So werden beispielsweise die Patriarchen des Alten Testaments im Neuen Testament (Hebräer 11) zu den Glaubenshelden gerechnet, obwohl sie vermutlich keine expliziten Ansichten über Jesus Christus hatten. Sie vertrauten auf Gott: Er werde schon alles für ihre Rettung und ihren Frieden Nötige tun; doch sie hatten keine konkrete Vorstellung davon, was das im einzelnen bedeuten könnte. Ebensowenig schließt das Modell die Behauptung ein, dass alle, von denen diese Dinge geglaubt werden, mit Hilfe der im Rahmen des Modells vorgestellten Prozesse zu ihrem Glauben gekommen sind. So kann es etwa sein, dass die Apostel auf ganz andere Weise zum Glauben an diese Wahrheiten gelangt sind. Aber hat nicht die historisch-kritische Bibelkritik der letzten beiden Jahrhunderte erhebliche Zweifel an der Zuverlässigkeit der Bibel aufkommen lassen sowie an der These, sie sei von Gott
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gemessener Weise erfüllt, kommt zusammen mit ihr das zweite Element dieses dreischichtigen kognitiven Prozesses zum Tragen, nämlich die von Christus selbst vor seinem Tod und seiner Auferstehung verheißene⁶ sowie in den Paulusbriefen beschworene und gefeierte Gegenwart des Heiligen Geistes und von dessen Handlungen.⁷ Mit Hilfe des Wirkens des Heiligen Geistes in den Herzen derer, denen der Glaube gegeben ist, werden die verheerenden Schäden der Sünde allmählich oder plötzlich und in größerem oder geringerem Maße repariert. Ebenfalls mit Hilfe der Tätigkeit des Heiligen Geistes gelangen die Christen dahin, die großen Dinge des Evangeliums zu erfassen, zu glauben, zu akzeptieren, zu bejahen und zu genießen. Es ist somit der Tätigkeit des Heiligen Geistes zu verdanken, dass die Christen glauben, dass »Gott es war, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete« (2. Korinther 5, 19). Nach Johannes Calvin ist das Wirken des Heiligen Geist in der Hauptsache darauf gerichtet, in den Herzen der gläubigen Christen das dritte Element dieses Prozesses – den Glauben – hervorzubringen. Ebenso wie die Erneuerung, deren Bestandteil der Glaube bildet, ist dieser ein Geschenk, das jedem gegeben wird, der es zu akzeptieren gewillt ist. Der Glaube ist, wie Calvin sagt, »die feste und gewisse Erkenntnis des göttlichen Wohlwollens gegen uns, die sich auf die Wahrheit der in Christus uns dargebotenen Gnadenverheißung stützt und durch den Heiligen Geist unserem Verstand geoffenbart und in unserem Herzen versiegelt wird« (Institutio III, ii, 7, S. 347). Daher beinhaltet der Glaube ein explizit kognitives Element. Er ist, wie Calvin sagt, »Erkenntnis« – Erkenntnis der Verfügbarkeit der Erlösung und Rettung durch die Person und das Wirken Jesu Christi –, und diese Erkenntnis wird unserem Verstand offenbart. Glauben haben heißt deshalb: eine Sache wissen und infolgedessen auch glauben. Aber der Glaube bringt (wie wir im 9. Kapitel sehen werden) auch den Willen ins Spiel: Er
speziell inspiriert worden? Diese Frage ist als Bezwinger des christlichen Glaubens gemeint und wird im 12. Kapitel thematisiert. Siehe etwa Johannes 14, 26: »Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.« Vgl. Johannes 14, 11 und 15, 26: »Wenn aber der Beistand kommt, den ich euch vom Vater aus senden werde, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, dann wird er Zeugnis für mich ablegen … « Siehe etwa Epheser 1, 17: »Der Gott Jesu Christi, unseres Herrn, der Vater der Herrlichkeit, gebe euch den Geist der Weisheit und Offenbarung, damit ihr ihn erkennt.« Siehe ferner 1. Korinther 2, 12– 13: »Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott stammt, damit wir das erkennen, was uns von Gott geschenkt worden ist. Davon reden wir auch, nicht mit Worten, wie menschliche Weisheit sie lehrt, sondern wie der Geist sie lehrt, indem wir den Geisterfüllten das Wirken des Geistes deuten.«
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wird »in unserem Herzen versiegelt«. Kraft dieser Versiegelung weiß der Gläubige nicht nur über den von Gott vorbereiteten Rettungsplan Bescheid (darüber sind nach Jakobus 2, 19 auch die Teufel unterrichtet – und es macht sie schaudern). Vielmehr ist der Gläubige dem Herrn auch dankbar dafür und liebt ihn aus diesem Grund. Außerdem bringt die Versiegelung auch die ausführende Funktion des Willens ins Spiel: Die Gläubigen akzeptieren das dargebotene Geschenk und verpflichten sich dem Herrn gegenüber dazu, ihr Leben nach seinem Willen auszurichten und mithin ein Leben der Dankbarkeit zu führen.⁸ Aber dienen alle diese Ausführungen nicht nur dazu, einen völlig überholten und diskreditierten Fundamentalismus zu billigen, also eine Daseinsform, die nach Ansicht vieler Akademiker die niedrigste ist, die man sich denken kann? Ich bin mir völlig im klaren darüber, dass man dieses gefürchtete F-Wort immer wieder benutzen wird, um jedes Modell der genannten Art zu brandmarken. Ehe ich auf die Frage antworte, müssen wir uns den Gebrauch dieses Worts »Fundamentalist« ein wenig näher anschauen. Nach dem an der Universität von heute besonders weit verbreiteten Gebrauch des Ausdrucks handelt es sich um ein Schimpfwort, einen Ausdruck der Missbilligung, so ähnlich wie »Dreckskerl«. Wird das Wort in dieser Weise verwendet, wird ihm normalerweise keine Definition beigegeben. (Wer würde sich denn schon, wenn er jemanden einen Dreckskerl nennt, dazu verpflichtet fühlen, zunächst mit einer Begriffsbestimmung aufzuwarten?) Dennoch hat es mit der Bedeutung des Wortes »Fundamentalist« (in diesem sehr geläufigen Gebrauch) noch ein wenig mehr auf sich. Es ist also nicht bloß ein Schimpfwort. Zusätzlich zu seiner emotiven Kraft hat es auch noch ein wenig kognitiven Inhalt und bezeichnet im Normalfall relativ konservative theologische Ansichten. Dadurch ähnelt es eher Ausdrücken wie »blöder Dreckskerl« (oder vielleicht »faschistischer Dreckskerl?) als dem »Dreckskerl« in seiner reinen Form. Allerdings gleicht der Ausdruck auch diesem Wort nicht bis ins letzte, denn sein kognitiver Gehalt kann ganz nach Wunsch wachsen und schrumpfen. Der Inhalt scheint davon abzuhängen, welcher Sprecher es verwendet. Im Munde bestimmter liberaler Theologen z. B. bezeichnet der Ausdruck tendenziell jeden, der das traditionelle Christentum akzeptiert, unter anderem auch Augustinus, Thomas von Aquin, Luther, Calvin und Barth. Im Munde frommer Säkularisten wie Richard Dawkins oder Daniel Dennett bezeichnet er tendenziell jeden, der an die Existenz
Wenn man das Modell in dieser Kürze und ohne weitere Erläuterung präsentiert, kann es ungebührlich individualistisch wirken. Aber natürlich steht es nicht im geringsten der Bedeutung im Wege, welche die christliche Gemeinschaft und die Kirche für den Glauben des einzelnen Christen haben können. Es ist die Kirche bzw. die Gemeinschaft, die das Evangelium verkündet, den Neugetauften anleitet und die Gläubigen jeder Kategorie und jeden Standes unterstützt, unterrichtet, ermutigt und erbaut.
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einer Person wie Gott glaubt. Das erklärt sich daraus, dass das Wort ein gewisses indexikalisches Element enthält. Sein kognitiver Inhalt wird durch die folgende Formulierung angegeben: »theologisch gesprochen, erheblich rechts von mir und meinen aufgeklärten Freunden.« Die vollständige Bedeutung des Ausdrucks lässt sich also (bei diesem Gebrauch) ungefähr wie folgt wiedergeben: »blöder Dreckskerl mit theologischen Ansichten, die erheblich viel weiter rechts liegen als meine eigenen.« Daher fällt es schwer, den Vorwurf, dass die von mir vorgeschlagenen Ansichten fundamentalistisch sind, ernst zu nehmen. Genauer gesagt: Es fällt schwer, ihn als Vorwurf ernst zu nehmen. Der angebliche Vorwurf bedeutet nichts weiter, als dass diese Ansichten konservativer sind als diejenigen des Opponenten, und er geht einher mit der Äußerung eines gewissen Abscheus gegen diese Ansichten bzw. gegen diejenigen, von denen sie vertreten werden. Aber wieso ist das ein Einwand gegen irgendetwas, und warum sollte es die Verachtung und Diffamierung, die mit dem Ausdruck einhergehen, rechtfertigen? Irgendein Argument gegen diese konservativen Anschauungen wäre von Interesse, aber der bloße Hinweis, dass sie von den Ansichten des Opponenten abweichen, ist es nicht (und zwar auch dann nicht, wenn die emotive Kraft des Schimpfworts hinzukommt). Inwiefern liefert dieses Modell mitsamt seinem Exkurs in die Theologie eine Antwort auf eine erkenntnistheoretische Frage? Inwiefern kann es ein Modell für einen Weg sein, auf dem der christliche Glaube wirklich oder möglicherweise zu Rechtfertigung, Rationalität oder Gewähr gelangt? Die Antwort könnte nicht einfacher sein: Zu diesen Überzeugungen gelangt der Christ nicht bloß durch Erinnerung, Wahrnehmung, Vernunft, Zeugnis, sensus divinitatis oder irgendein anderes kognitives Vermögen, mit dem die Menschen ursprünglich geschaffen wurden, sondern sie kommen zu ihm durch das Wirken des Heiligen Geistes, der uns dazu bringt, diese großen Wahrheiten des Evangeliums zu akzeptieren und zu glauben. Diese Überzeugungen stellen sich nicht ohne weiteres durch das normale Wirken unserer natürlichen Fähigkeiten ein, sondern sie sind ein übernatürliches Geschenk. Dennoch wird der Christ, der dieses Glaubensgeschenk erhalten hat, natürlich – im basalen Sinn des Wortes – gerechtfertigt sein, wenn er glaubt, was er glaubt. Sein Glaube wird nichts enthalten, was der epistemischen oder sonst einer Pflicht widerspräche. (Sobald er das Geschenk angenommen hat, kann es sogar sein, dass es nicht in seiner Macht steht, sich des Glaubens zu enthalten.) Setzen wir jedoch das Modell voraus, dann werden die fraglichen Überzeugungen im Regelfall (oder zumindest häufig) auch die anderen Formen von positivem epistemischem Status aufweisen, die wir hier betrachtet haben. Erstens
I Glaube
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werden diese Überzeugungen intern rational sein.⁹ Das heißt, sie werden eine angemessene doxastische Reaktion auf das sein, was dem Glaubenden durch seine bisherigen Überzeugungen und die gegenwärtige Erfahrung gegeben ist. Die Reaktion des Glaubenden wird also derart sein, dass eine richtig funktionierende Person mit derselben gegenwärtigen Erfahrung und denselben vorgängigen Überzeugungen die gleichen oder ähnliche Überzeugungen bilden könnte, ohne die Funktionstüchtigkeit zu beeinträchtigen. Im typischen Fall wird den betreffenden Überzeugungen aber auch externe Rationalität zukommen. Es braucht auf seiten der Glaubenden stromabwärts von der Erfahrung (s. o., S. 130) keine Fehlfunktion zu geben, aber es braucht auch stromaufwärts keine zu geben: Es kann sein, dass alle ihre kognitiven Vermögen richtig funktionieren. Und letztens werden diese Überzeugungen, dem Modell zufolge, für die Glaubenden auch gewährleistet sein. Sie werden in ihnen durch einen Überzeugungen produzierenden Prozess hervorgebracht,¹⁰ der in einer geeigneten kognitiven Umgebung (nämlich derjenigen, für die sie gedacht sind) gemäß einem erfolgreich auf die Hervorbringung wahrer Überzeugungen abzielenden Bauplan richtig funktioniert.
I Glaube Glaube aber ist: Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht. Hebräer 11, 1
Soviel zur ersten Erklärung des Modells. Jetzt wende ich mich einer detaillierteren Erläuterung einiger seiner Aspekte und zunächst dem Begriff des Glaubens zu. Als erstes ist hier zu beachten, dass dieser Ausdruck – wie fast alle philosophisch Zum Begriff der internen Rationalität siehe oben, S. 130 ff. Natürlich ist dieser Überzeugungen produzierende Vorgang nicht von genau der gleichen Art wie die übrigen – Erinnerung, Wahrnehmung, Vernunft, ja nicht einmal wie der sensus divinitatis. Das liegt daran, dass diese übrigen allesamt zu der nicht erschaffenen, ursprünglich in uns angelegten kognitiven Ausstattung gehören, während (dem Modell zufolge) dieser kognitive Prozess eine besondere, übernatürliche Tätigkeit auf Seiten des Heiligen Geistes voraussetzt. Doch damit ist nicht einmal angedeutet, dass die Resultate dieses Vorgangs nicht gewährleistet sein können, und zwar in dem Maße gewährleistet sein können, dass es zum Wissen reicht.Wirklich angedeutet ist damit jedoch, dass die Analyse der Gewähr in Warrant and Proper Function dahingehend aufgefasst werden muss, dass eine Überzeugung auch dann gewährleistet sein kann, wenn sie durch einen Überzeugungen produzierenden Vorgang dieser speziellen Art hervorgebracht wird. Freilich, ein solcher Vorgang, der in unmittelbarer göttlicher Tätigkeit besteht, kann gar nicht umhin, richtig zu funktionieren. Daher darf man wohl sagen, dass er in einem Sinn richtig funktioniert, der einen Grenzfall der Bedeutung dieses Ausdrucks darstellt.
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nützlichen Wörter – unterschiedlich und in mehreren verschiedenen, aber durch Analogie miteinander zusammenhängenden Bedeutungen verwendet wird. Nach Mark Twain bedeutet der Glaube, dass man »glaubt, wovon man weiß, dass es nicht wahr ist«. Diese Formulierung ist eine nur geringfügige Übertreibung eines verbreiteten Gebrauchs dieses Worts, bei dem es eine Überzeugung bezeichnet, die jeglicher Gewähr entbehrt und mit Bezug auf die aus der Sicht des Glaubenden gewährleisteten Überzeugungen nur geringe Wahrscheinlichkeit beanspruchen können. Von einer Mutter, die allen gegenteiligen Belegen zum Trotz glaubt, ihr Sohn sei in Wirklichkeit noch am Leben, wird man sagen, sie habe den Glauben an sein Überleben nicht verloren. Im Zusammenhang mit diesem Gebrauch des Wortes denkt man an einen Ausdruck wie »leap of faith« – den »Glaubenssprung« –,womit so etwas wie ein Sprung ins Ungewisse gemeint ist. Daneben gibt es eine Verwendung des Ausdrucks, bei der er ein vages und allgemeines Vertrauen ohne spezifisches Objekt bezeichnet, die Zuversicht, dass sich die Dinge schon günstig entwickeln werden, so etwas wie eine entspannte Einstellung zur Zukunft à la Bultmann, bei der man darauf vertraut, dass man mit allem, was passieren wird, zurechtkommt. Wer in diesem Sinne des Wortes Glauben hat, der »akzeptiert die Welt«, wie es die transzendentalistische Autorin Margaret Fuller im neunzehnten Jahrhundert von sich behauptet haben soll.¹¹ Bei meiner Darstellung des Modells verwende ich das Wort jedoch in einem anderen Sinn. Die von mir in Anspruch genommene Bedeutung ähnelt viel stärker der Antwort, die der Heidelberger Katechismus (im Anschluss an Calvin) auf die Frage nach dem »wahren Glauben« gibt: Wahrer Glaube ist nicht nur eine feste Erkenntnis, durch die ich alles für wahr halte, was Gott in seinem Wort uns offenbart hat, sondern auch ein herzliches Vertrauen, welches der Heilige Geist durchs Evangelium in mir wirkt, daß nicht allein andern, sondern auch mir Vergebung der Sünden, ewige Gerechtigkeit und Seligkeit von Gott geschenkt ist, und aus lauter Gnade, allein um des Verdienstes Christi willen. (Frage 21)
Diese Erklärung kann man als explizitere Darstellung des Inhalts der Glaubensdefinition auffassen, die Calvin in der Institutio gibt (s. o., S. 286). Als erstes muss man hier erkennen, dass der so aufgefasste Glaube eine kognitive Tätigkeit ist. Er ist allerdings keine ausschließlich kognitive Tätigkeit, sondern er bringt auch den Willen – und zwar sowohl die Affekte als auch die ausführende Funktion – ins Spiel. (Es handelt sich um eine Erkenntnis, die nicht nur unserem Verstand offenbart ist, sondern auch in unserem Herzen versiegelt wird.) Doch selbst wenn der
Thomas Carlyle hat dazu angemerkt: »Ach du lieber Gott! Das will ich ihr auch geraten haben«, während Mark Twain meinte: »Ich habe gar nicht gehört, dass man sie ihr angeboten hat.«
I Glaube
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Glaube tatsächlich mehr als nur kognitiv ist, so ist er doch auch und zumindest eine kognitive Tätigkeit. Es geht darum, dass die eine oder andere Sache geglaubt wird (und Calvin spricht sogar von »Erkenntnis«). Dieser Darstellung zufolge ist es nicht nur so, dass die Christen in der christlichen Geschichte ihre Identität finden bzw. in ihr und aus ihr leben,¹² sondern sie glauben wirklich daran und halten diese Geschichte für die schlichte Wahrheit. Die Objekte des Glaubens sind Propositionen. Dass man Glauben hat, heißt also (zumindest), dass man einige Propositionen glaubt. Welche? Nicht dazu gehört z. B., dass die Welt ein Ort ist, an dem die Menschen gedeihen können, und in erster Linie nicht einmal, dass es eine Person wie Gott gibt.¹³ Dem Modell zufolge ist es nämlich eigentlich nicht der Glaube, durch den man zu der Erkenntnis gelangt, dass es eine Person wie Gott gibt.Vielmehr ist der Glaube, wie Calvin sagt, »die feste und gewisse Erkenntnis des göttlichen Wohlwollens gegen uns«, d. h. die feste und gewisse Erkenntnis, »dass nicht allein andern, sondern auch mir Vergebung der Sünden, ewige Gerechtigkeit und Seligkeit von Gott geschenkt ist«, also die feste und gewisse Erkenntnis des göttlichen Plans, durch den wir sündigen Menschen zu Frieden, Gedeihen, Zufriedenheit, Glückseligkeit und Erlösung gelangen können, die allesamt davon abhängen, dass wir im richtigen Verhältnis zu Gott stehen.¹⁴ Das propositionale Objekt des Glaubens ist demnach der großartige Gesamtplan, den Gott vorbereitet hat. Glauben haben heißt: wissen, dass und wie Gott es uns Menschen ermöglicht hat, den verheerenden Schäden der Sünde zu entkommen und wieder in das richtige Verhältnis zu ihm gesetzt zu werden. Es
In dieser Hinsicht unterscheidet sich unser Modell (anscheinend) von der postmodernen YaleTheologie von Hans Frei (The Eclipse of Biblical Narrative [1974] und The Identity of Jesus Christ [1975]) und George Lindbeck (The Nature of Doctrine: Religion and Theology in a Postliberal Age [1984]). Diese Autoren betonen zwar die Rolle, welche die Bibel im christlichen Leben spielt, aber sie zieren sich ein wenig, wenn es um die Frage geht, ob die augenscheinlichen Glaubenssätze – Schöpfung, Sünde, Fleischwerdung, Sühneopfer, Auferstehung Christi – als wirklich wahr aufzufassen sind. (Siehe beispielsweise The Identity of Jesus Christ, S. 143 – 145.) Diese kühle Distanziertheit hinsichtlich der Wahrheitsfrage ist vielleicht das »postliberale« Element der YaleTheologie. Unserem Modell zufolge ist dieses Element jedoch überflüssig. Das Modell soll nämlich zeigen, dass direkter, unbedingter, absoluter Glaube an die großen Dinge des Evangeliums die hier betrachteten epistemischen Vorzüge aufweisen kann. Calvin schreibt: »Die Einsicht des Glaubens hat es nämlich nicht bloß damit zu tun, dass wir anerkennen: Es ist ein Gott; sondern es handelt sich auch, ja vornehmlich darum, dass wir begreifen, wie sein Wille uns gegenüber beschaffen ist« (Institutio III, ii, 6, S. 345). Diese Feststellung darf man wohl als Definition oder Kennzeichnung des Glaubens mit Hilfe der Vorführung eines paradigmatischen Beispiels auffassen: So sieht der ausgewachsene und wohlgebildete Glaube aus. Also kann man beispielsweise auch von jemandem, der diese Dinge zwar glaubt, ohne sie jedoch mit der für Erkenntnis hinreichenden Festigkeit zu glauben, dennoch sagen, dass er Glauben habe.
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heißt also: wissen, welches die Grundzüge des christlichen Evangeliums sind.¹⁵ Der Inhalt des eigentlichen Glaubens deckt sich genau mit den zentralen Lehrsätzen des Evangeliums;¹⁶ enthalten ist er in der Schnittmenge der großen christlichen Bekenntnisse. Beim Glauben geht es aber nicht nur um das Wissen, dass es einen solchen Plan gibt (das wissen, wie wir bereits gesehen haben, selbst die Teufel – und es macht sie schaudern), sondern überdies und vor allen Dingen darum, dass sich dieser Plan auch auf mich bezieht und mir zu Gebote steht.¹⁷ Was ich also als Gläubiger weiß, sind die Grundzüge der spezifisch christlichen Lehre, und außerdem weiß ich, wie man sagen könnte, dass die universelle Spezialisierung dieser Lehre auch im Hinblick auf mich gilt. Christus ist für meine Sünden gestorben und hat mir auf diese Weise die Versöhnung mit Gott ermöglicht. Der Glaube ist zunächst einmal und im tiefsten Grunde etwas Praktisches. Er ist das Wissen um die frohe Botschaft und deren Geltung für mich sowie der Handlungen, die ich vollziehen muss, um das verkündete Heil zu empfangen. Dennoch geht es beim Glauben weniger ums Handeln als ums Glauben; das Glauben spielt dabei eine größere Rolle als das Tun.
Daher wird nicht alles, was der typische Christ (qua Christ) glaubt, strenggenommen mit zum eigentlichen Glauben gehören. So kann es etwa sein, dass er glaubt, Jesus Christus habe Wunder gewirkt, Gott sei allwissend, die Bibel sei das unmittelbar inspirierte Wort des Herrn, oder der Glaube münde natürlicherweise in gute Werke. Keines dieser Elemente gehört als solches zum Inhalt des eigentlichen Glaubens. (Damit soll die Wichtigkeit dieser Elemente nicht herabgestuft werden, und bestimmt kann der Inhalt des eigentlichen Glaubens zu den Gründen beitragen, aus denen man diese anderen Dinge glaubt.) Indem ich den Inhalt des eigentlichen Glaubens in dieser Weise einenge, mache ich natürlich keinen Versuch, jene Glaubenssätze anzugeben, deren Akzeptierung eine notwendige Bedingung dafür ist, dass man als echter Christ gelten kann. Unser Modell fasst den Glauben also ein wenig enger als die Beschreibung des wahren Glaubens aus dem Heidelberger Katechismus (s. o., S. 290), in der von der »festen Erkenntnis« die Rede ist, »durch die ich alles für wahr halte, was Gott uns in seinem Wort offenbart hat«. Vermutlich offenbart Gott in seinem Wort mehr als die großen Wahrheiten des Evangeliums. Dazu gehören beispielsweise, dass Jesus Wasser in Wein verwandelt hat, den Besessenen geheilt und Lazarus von den Toten auferweckt hat. Diese Dinge gehören zwar nicht zu den zentralen Wahrheiten des Evangeliums, aber sie hängen mit diesen Wahrheiten zusammen und veranschaulichen sie. Siehe Calvin, Institutio, III, ii, 16, S. 354: »Vornehmlich geht es beim Glauben darum, dass wir die Verheißungen, die uns der Herr zuteil werden lässt, nicht etwa bloß außer uns für wahr halten, in uns aber gar nicht, sondern dass wir sie vielmehr innerlich ergreifen und uns so zu eigen machen.« Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, gibt es noch weitere Unterschiede zwischen den Kenntnissen der Teufel und dem Wissen des Gläubigen, denn dieser weiß (im Gegensatz zu ihnen) auch über die Schönheit, die Herrlichkeit und die Pracht dieses Rettungsplans Bescheid. Außerdem liebt er diesen Plan, billigt ihn von Herzen, ist dankbar dafür und verpflichtet sich dazu, den Herrn zu lieben und ihm zu vertrauen.
II Wie funktioniert der Glaube?
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II Wie funktioniert der Glaube? Die Hauptantwort auf diese Frage besagt, dass der Glaube ein Werk – nach Calvin: das wichtigste Werk – des Heiligen Geistes ist: Der Glaube wird vom Heiligen Geist in uns hervorgebracht. Der Gedanke, der Glaube an die »großen Dinge des Evangeliums« (um mit Jonathan Edwards zu reden) sei das Resultat einer speziellen Tätigkeit des Heiligen Geistes, wird oft so aufgefasst, als handele es sich vor allem um die Lehre calvinistischer Denker wie Edwards und Johannes Calvin selbst. Doch in dieser Hinsicht – wie in vielen anderen Hinsichten – kann man Calvin trotz seiner streitlustigen, schrillen Äußerungen über die unseligen Papisten und ihre kolossalen Missetaten so lesen, als schlösse er sich an Thomas von Aquin an und entwickle einen Gedankengang, der auch schon bei Thomas zu finden ist. Dort heißt es etwa: »Wer glaubt, hat hinreichenden Bestimmungsgrund zum Glauben; denn er wird dazu veranlaßt durch die Autorität der durch Wunder bestätigten göttlichen Lehre und, was mehr ist, durch einen inneren Antrieb des ihn einladenden Gottes.«¹⁸ Hier haben wir (zumindest ansatzweise) wieder das gleiche Trio von Prozessen vor uns, nämlich: den Glauben, die (in der Heiligen Schrift überlieferte) göttliche Lehre als Objekt dieses Glaubens und außerdem die spezielle göttliche Tätigkeit bei der Erzeugung des Glaubens (»der innere Antrieb des einladenden Gottes«).¹⁹
Thomas von Aquin, Summa Theologica, Band II, Teil ii, Frage 2, 9. Artikel. Nach Thomas wird der Glaube also durch Gottes Handeln im Menschen erzeugt. »Da nämlich der Mensch, indem er dem beistimmt, was des Glaubens ist, über seine Natur hinausgehoben wird, so muss dies in ihm notwendig auf Grund eines übernatürlichen Wirkgrundes geschehen, der ihn innerlich bewegt, und dies ist Gott. Demnach stammt der Glaube hinsichtlich der Beistimmung, welche der ausschlaggebende Akt des Glaubens ist, von Gott, der innerlich durch die Gnade dazu bewegt« (ST II, ii, q. 6, a. 1, respondeo). Von Calvin wird die dritte Person der Dreifaltigkeit explizit als der betreffende göttliche Akteur identifiziert, während Thomas nicht so verfährt. Das ist allerdings kein gewichtiger Unterschied. Nach Thomas können einige der Dinge, die Gott uns zu glauben auffordert, auch Gegenstände der scientia sein. Wenn es sich tatsächlich so verhält, werden sie allerdings nicht durch den Glauben akzeptiert, denn nach Thomas’ Meinung ist es nicht möglich, zu ein und derselben Proposition in einem Verhältnis sowohl der scientia als auch des Glaubens zu stehen. Da »scientia« oft mit »Erkenntnis« oder »Wissen« wiedergegeben wird, sieht es nun so aus, als gebe es einen Widerspruch zwischen Thomas und Calvin, wenn dieser sagt, der Glaube sei eine sichere und gewisse Erkenntnis des Wohlwollens Gottes gegen uns. Der Schein trügt jedoch, und in Wirklichkeit besteht hier kein Widerspruch. Die scientia ist bei Thomas eine ganz spezielle Beziehung zwischen einer Person und einer Proposition. Sie besteht dann, wenn der Betreffende sieht, dass die Proposition aus ersten Prinzipien folgt, deren Wahrheit ihm einleuchtet. Demnach ist »scientia« ein sehr viel engerer Begriff als unsere »Erkenntnis«. Er ist auch viel enger als Calvins Begriff »cognitio«, der unserem heutigen Gebrauch von »Erkenntnis« oder »Wissen« sehr viel näher kommt.Wenn Calvin
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Wenn der Gläubige dahingelangt, die großen Dinge des Evangeliums zu akzeptieren, spielen demnach drei Faktoren eine Rolle: die Schrift (die göttliche Lehre), der innere Ansporn oder Antrieb des Heiligen Geistes und der resultierende Glaube auf Seiten des Menschen. Wie verhält es sich nun mit der phänomenologischen Seite dieses epistemischen Vorgangs? Wie nimmt sich die Sache von innen her gesehen aus? Dem Modell zufolge werden die den Glauben konstituierenden Überzeugungen im Regelfall als basal aufgefasst, d. h., sie werden nicht auf dem Wege einer von anderen Aussagen ausgehenden Argumentation oder aufgrund von durch andere Aussagen gegebenen Belegen akzeptiert. Natürlich wäre es möglich, sie auf der Basis anderer Aussagen zu akzeptieren, und in manchen Fällen verhält es sich vielleicht wirklich so. Der Gläubige könnte etwa folgende Überlegung anstellen: Ich verfüge über triftige historische und archäologische Belege für die Zuverlässigkeit der Bibel (der Kirche, der Eltern oder irgendeiner anderen Autorität); die Bibel lehrt die großen Dinge des Evangeliums; also sind diese Dinge wahrscheinlich wahr. Wie gesagt, es wäre möglich, diese Überlegung anzustellen, und einige Gläubige denken vielleicht wirklich nach diesem Muster. Im Rahmen des Modells stellt es sich jedoch anders dar. Man liest die Schrift oder eine Wiedergabe der biblischen Lehre, man hört eine Predigt nach dem Evangelium, wird von den Eltern unterrichtet oder findet einen biblischen Lehrsatz, der als Konklusion eines Arguments – oder eventuell sogar als Objekt des Spotts – angeführt wird, oder man stößt in irgendeiner anderen Weise auf eine Verkündigung des Worts. Das Gesagte scheint einfach richtig zu sein; es wirkt zwingend, und man sagt zu sich selbst: »Ja, das stimmt, das ist die Wahrheit; das ist wirklich das Wort des Herrn.« Ich lese etwa: »In Christus hat Gott die Welt mit sich versöhnt«, und nun denke ich: »Jawohl, das stimmt, Gott war wirklich in Christus und hat die Welt mit sich versöhnt.« Vielleicht denke ich auch etwas anderes, etwas, was von diesem Satz handelt, beispielsweise, dass er ein göttlicher Lehrsatz oder eine Offenbarung ist, der, um mit Calvin zu reden, »von Gott« herkommt. Was man hört oder liest, scheint klar und offensichtlich wahr zu sein und (zumindest in paradigmatischen Fällen) außerdem etwas, was der Herr zu lehren beabsichtigt. (Wie Calvin sagt: »Der Geist ist der einzige tüchtige Korrektor und Billiger der Lehre, der sie in unserem Herzen versiegelt, auf dass wir mit Gewissheit erkennen können, dass Gott spricht. Denn während der Glaube auf Gott schauen soll, kann dieser allein für sich selbst Zeugnis ablegen, um so unsere Herzen davon zu überzeugen, dass das, was unsere Ohren empfangen, wirklich sagt, der Glaube sei eine sichere und gewisse Erkenntnis von Gottes Wohlwollen gegen uns, schreibt er dem Glauben keinen Status zu, der ihm von Thomas streitig gemacht wird. Zu diesem Thema siehe Arvin Vos, Aquinas, Calvin and Contemporary Protestant Thought, Grand Rapids:W. B. Eerdmans 1985, S. 18 – 20.
II Wie funktioniert der Glaube?
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von ihm herrührt.«) Der Glaube kann also die Phänomenologie aufweisen, die damit einhergeht, dass man plötzlich die Wahrheit von etwas einsieht: »Richtig! Jetzt sehe ich ein, dass es wirklich wahr ist und dem entspricht, was der Herr lehrt!« Vielleicht ist es aber auch so, dass sich die Überzeugung langsam einstellt und erst nach langem und hartem Studium, Nachgrübeln, Diskutieren und Beten. Es kann aber auch so sein, dass der Glaube schon seit eh und je vorhanden ist (vielleicht schon seit der Kindheit), jetzt aber verwandelt, erneuert, intensiviert, anschaulich und lebendig gemacht wird. Dieser Prozess kann sich in tausenderlei Weisen abspielen, und in jedem Fall wird eine zentrale christliche Lehre wiedergegeben oder vorgeschlagen, woraufhin sich als Reaktion das Phänomen der Einsicht, des Einleuchtens, des Herausbildens einer Überzeugung einstellt. Man liest oder hört etwas, und dann kommt der Glaube, die Überzeugung, dass das Gelesene oder Gehörte wahr ist und einem Lehrsatz des Herrn entspricht. Dem Modell zufolge kommt diese Überzeugung durch die Tätigkeit des Heiligen Geistes zustande. Calvin spricht hier von dem inneren »Zeugnis« des heiligen Geistes und (häufiger noch) von dem Heiligen Geist als einem »Zeugen«. Thomas spricht von dem göttlichen »Antrieb« oder »Ansporn« bzw. einer göttlichen »Einladung« oder »Aufforderung«. Nach dem Modell führen sowohl die Schrift als auch die göttliche Tätigkeit zum Glauben des Menschen. Gott selbst ist (dem Modell zufolge) der Hauptverfasser der Schrift. Die Schrift ist vor allen Dingen eine Botschaft, eine Mitteilung Gottes an die Menschheit. Die Schrift ist das Wort des Herrn.²⁰ Doch dann handelt es sich hier nur um einen Spezialfall des ubiquitären Prozesses der Bezeugung, durch den wir faktisch das Meiste, was wir wissen, erfahren.²¹ So gesehen, ist die Schrift ebensosehr Zeugnis wie ein Brief von einem Freund. Was wir der Schrift zufolge glauben sollen, ist also nichts anderes als ein Zeugnis – göttliches Zeugnis. Das Wort »Zeugnis« ist hier demnach durchaus angebracht. Ins Spiel kommt aber auch das spezielle Wirken des Heiligen Geistes, der mit dazu beiträgt, uns zum Glauben zu bringen, indem er uns dazu befähigt,
Nach unserem Modell ist es (ohne der Mehrheit der christlichen Theologen des zwanzigsten Jahrhunderts zu nahe treten zu wollen) nicht der Fall, dass sich die Offenbarung nur in der Gestalt von Ereignissen äußert, die dann richtig interpretiert werden müssen. Zweifellos kommen solche Ereignisse wirklich vor, aber in einem großen Teil der Schrift geht es in erster Linie darum, dass Gott spricht und uns Dinge mitteilt, die wir wissen müssen – dass er uns Propositionen mitteilt. Siehe Nicholas Wolterstorff, Divine Discourse, Cambridge: Cambridge University Press 1995. Wolterstorff erläutert in spezifischer Form, wie es im einzelnen möglich ist, dass die Bibel aus sprachlichen Äußerungen Gottes besteht und eine an uns gerichtete göttliche Mitteilung darstellt. Um der Konkretheit willen werde ich im folgenden dem Modell den Satz hinzufügen, dass eine Analyse à la Wolterstorff tatsächlich zutrifft. (Natürlich könnten auch andere Analysen im Rahmen des Modells ihre Funktion erfüllen.) Siehe Warrant and Proper Function (WPF), S. 77 ff.
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die Wahrheit des Dargestellten zu erkennen. In dieser Hinsicht sind die von Thomas gebrauchten Wörter »Einladung« oder »Aufforderung« und »Antrieb« oder »Ansporn« angemessener. Daher werde ich den Ausdruck »innerer Ansporn des Heiligen Geistes« benutzen, um diese Tätigkeit des Heiligen Geistes zu bezeichnen; und wo keine Verwirrung droht, werde ich das Wort »Glauben« benutzen, um sowohl den gesamten dreiteiligen Prozess (Schrift, innerer Ansporn des Heiligen Geistes, Glaube an die großen Dinge des Evangeliums) als auch speziell das dritte Element des Trios zu bezeichnen. Die Schrift ist also wirklich ein Zeugnis, wenn auch ein Zeugnis ganz besonderer Art. Zunächst einmal ist Gott der Hauptzeuge. Aber es unterscheidet sich von einem gewöhnlichen Zeugnis auch insofern, als es in diesem Fall – im Gegensatz zu den meisten anderen Fällen – sowohl einen Hauptzeugen als auch Nebenzeugen gibt, nämlich die menschlichen Verfasser.²² Es besteht aber noch ein weiterer Unterschied, denn unserem Modell zufolge ist es der Ansporn des Heiligen Geistes, der uns dazu bringt, einzusehen und zu glauben, dass die in der Schrift als Glaubenssätze vorgeschlagenen Aussagen tatsächlich das Wort Gottes sind. Demnach unterscheidet sich dieser Fall auch insofern von den üblichen Zeugnissen, als der Heilige Geist nicht nur die Botschaft schreibt (also die menschlichen Autoren in geeigneter Form inspiriert²³), sondern auch etwas Besonderes tut, um uns dazu zu befähigen, den Inhalt der Botschaft zu glauben und uns zu eigen zu machen. Es handelt sich also nicht um ein Zeugnis der üblichen Art, aber dennoch um ein Zeugnis. Dem Modell zufolge ist der Glaube also ein Glaube an die großen Dinge des Evangeliums, der aus dem inneren Ansporn des Heiligen Geistes hervorgeht.
III Glaube und positiver epistemischer Status A Rechtfertigung Das Modell soll nach meiner Absicht veranschaulichen, inwiefern der christliche Glaube die epistemischen Vorzüge bzw. den positiven epistemischen Status aufweisen kann, mit dem wir uns hier befasst haben, nämlich: Rechtfertigung, Ra-
»Im Gegensatz zu den meisten anderen«: Manchmal geschieht es auch im Fall menschlicher Zeugnisse, dass eine Person stellvertretend für eine andere Person spricht. In solchen Fällen ist die gleiche Struktur – Haupt- und Nebenzeuge – gegeben. Siehe Wolterstorff, Divine Discourse, S. 38 ff. In der Apostelgeschichte (28, 25) heißt es, Paulus habe gesagt: »Wie zutreffend ist doch, was der heilige Geist durch den Propheten Jesaja zu euren Vätern gesprochen hat, als er sagte: ›Geh zu diesem Volk und sprich: Hörend werdet ihr hören … ‹«
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tionalität interner und externer Art sowie Gewährleistung. Mit der Rechtfertigung brauchen wir uns nicht lange aufzuhalten. Es sollte kaum Zweifel daran geben, dass der christliche Glaube (deontologisch) gerechtfertigt sein kann und wahrscheinlich gerechtfertigt ist, und zwar auch für Personen, die sich mit den Einwänden der Aufklärung und der Postmoderne gut auskennen. Wenn der Glaube ein Ergebnis des inneren Ansporns des Heiligen Geistes ist, kann er offenkundig wahr erscheinen, selbst wenn man zuerst über die diversen Einwände, die erhoben werden, nachgedacht hat. Es liegt auf der Hand, dass man dann gegen keine intellektuelle Pflicht verstößt, wenn man den Glauben akzeptiert. Zweifellos gibt es intellektuelle Verpflichtungen und Pflichten, die hier im Raum stehen. Wenn man z. B. merkt, dass andere Menschen anderer Meinung sind als man selbst, hat man vielleicht die Pflicht, ihnen und ihren Einwänden Aufmerksamkeit zu schenken, und die Pflicht, noch einmal darüber nachzudenken, tiefer darüber nachzugrübeln, sich mit anderen zu beraten, nach möglichen Bezwingern zu suchen und sie in Betracht zu ziehen. Wenn man alle diese Dinge getan hat und den Glauben dennoch völlig zwingend findet, verstößt man allerdings gegen keine Pflicht oder Verpflichtung mehr – insbesondere dann nicht, wenn man, nachdem man darüber nachgedacht hat, den Eindruck gewinnt, dass die betreffende Lehre von Gott selbst herrührt. Natürlich gibt es Autoren, die den Vorwurf erheben, wer dem Modell entsprechend glaube und denke, sein Glaube komme von Gott, der sei arrogant (und infolgedessen ungerechtfertigt). Zu den Autoren, die diesen Vorwurf besonders eindringlich äußern, gehört der Theologe John Macquarrie: Der Calvinist glaubt, er selbst – als einer der Auserwählten – sei aus dem Ozean des Irrtums errettet und sein Geist sei durch den heiligen Geist erleuchtet worden. Wie sehr er auch beteuern mag, das habe er nicht sich selbst, sondern dem Wirken Gottes zu verdanken, ist seine Behauptung dennoch arrogant ohnegleichen. Solche Äußerungen sind es, die der Theologie völlig zu Recht die Verachtung ernstzunehmender Menschen eingebracht haben.²⁴
Der erste Impuls des Calvinisten wäre hier vielleicht der, zurückzufragen, auf wen oder was denn er, Macquarrie, sich als Quelle der Wahrheit verlasse, wenn er feststellt, dass die meisten Menschen in religiösen Dingen anderer Meinung sind als er selbst (und genau das wird ihm natürlich passieren). Seine eigene Verstandeskraft und angeborene Klugheit? Sein aus eigner Kraft entwickelter Durchund Scharfblick? Und ist diese Zuschreibung weniger arrogant als der Gedanke, die Erleuchtung verdanke sich dem Wirken des Heiligen Geistes? Anstatt diese nicht sonderlich hilfreiche Replik fortzusetzen, wollen wir lieber etwas nüchterner
Macquarrie, Principles of Christian Theology, New York: Charles Scribner 1966 u. 1977, S. 50.
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über den Einwand nachdenken. Als erstes ist festzuhalten, dass der Vorwurf zunächst offenbar nicht unbedingt gegen jemanden erhoben wird, der tatsächlich vom Heiligen Geist erleuchtet worden ist, sondern gegen jemanden, der glaubt, erleuchtet worden zu sein. Zweifellos war es der Heilige Geist, der im Herzen der gottesfürchtigen und glaubensstarken Patriarchen und sonstigen Glaubenshelden tätig wurde, die im 11. Kapitel des Hebräerbriefs erwähnt werden. Vermutlich hatten sie jedoch keine Ahnung vom Heiligen Geist und keine Meinungen, die darauf hinausliefen, ihre Überzeugungen verdankten sich dem Tun des Heiligen Geistes.Vielleicht besagt Macquarries Idee also, es sei zwar durchaus in Ordnung, etwas zu wissen, was die anderen nicht wissen, aber es sei nicht in Ordnung, zu glauben, dass man es weiß, und dieses Wissen dem Heiligen Geist zuzuschreiben. Seine Kritik richtet sich dann nicht notwendig gegen jemanden, der die christliche Lehre akzeptiert (und zwar auch dann nicht, wenn dieser Jemand – wie in unserem Modell – tatsächlich vom Heiligen Geist erleuchtet wurde), sondern gegen jemanden, der den Teil der reformierten Theologie akzeptiert, dem zufolge der Heilige Geist nur einige von uns erleuchtet, und der darüber hinaus glaubt, er selbst gehöre zu diesen Erleuchteten. Die Kritik besagt dann, eine solche Person habe sich schuldhaft eine höhere Meinung von sich selbst gebildet, als ihr zustehe. Auf diesen Vorwurf der Arroganz werden wir im 13. Kapitel näher eingehen. Einstweilen möchte ich mich auf die folgende Frage beschränken: Angenommen, du glaubst, der Herr habe dir eine Gunst erwiesen, die anderen nicht zuteil geworden ist. Folgt daraus wirklich, dass du arrogant bist? Du erkennst, dass du in mancher Hinsicht besser dran bist als jemand anders. Vielleicht führst du eine glückliche Ehe, deine Kinder haben sich gut entwickelt, oder du erfreust dich blendender Gesundheit, während ein guter Freund einem Melanom erliegt. Ferner wollen wir annehmen, dass du den Unterschied wenigstens zum Teil auf Gottes Wirken zurückführst. Heißt das, dass du deswegen automatisch arrogant bist? Wäre es nicht eher arrogant, wenn du stattdessen glaubtest, der Unterschied habe nichts mit Gott zu tun, sondern sei beispielsweise eine Äußerung deiner persönlichen Stärke, Tugend oder Weisheit? Angenommen, du glaubst etwas zu wissen, das jemand anders nicht weiß: Womöglich meint Macquarrie, er – im Gegensatz zu seinen calvinistischen Freunden – wisse, dass die calvinistischen Glaubensauffassung verfehlt ist. Macht ihn das arrogant? Wenn nicht, ist seine Nichtarroganz dann darauf zurückzuführen, dass er sein Glück nicht mit Gott, sondern vielleicht mit seiner angeborenen Intelligenz in Verbindung bringt? Diese Überlegung dürfte kaum vielversprechend wirken. Tatsächlich hat es an und für sich gar nichts Arrogantes, wenn man erkennt, dass man von Gott etwas bekommen hat, was er (noch) nicht jedem geschenkt hat. Arroganz ist zwar eine Versuchung für die Menschen, und es kommt oft genug vor, dass sie ihr erliegen. Aber dennoch ist man nicht schon allein deshalb arrogant,
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weil man einsieht, dass Gott einem etwas Gutes geschenkt hat, was er (jedenfalls noch) nicht jedem anderen gegeben hat. (Dass ausgerechnet man selbst der Empfänger des Geschenks ist, findet man womöglich nicht weniger verblüffend als sonst jemand.) Freilich käme Arroganz ins Spiel, wenn man dieses Geschenk als etwas auffasste, worauf man einen Rechtsanspruch hat, so dass Gott ungerecht wäre, wenn er es einem nicht gäbe. Dagegen macht man sich keineswegs schuldig, wenn man meint, der eigene Glaube sei ein Geschenk des Herrn, und feststellt, dass noch nicht alle anderen dieses Geschenk erhalten haben. Wollte man zerknirscht einräumen, man sei in seinem Glauben arrogant gewesen, so wäre das in diesem Fall bestimmt nicht die richtige Einstellung, sondern die richtige Einstellung wären Dankbarkeit und Dankgebete für dieses wundervolle, großartige Geschenk.²⁵ Als der Apostel Thomas von der Auferstehung Jesu Christi hörte, sagte er: »Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht« (Johannes 20, 25). Später zeigt sich Jesus dem Thomas und fordert ihn dazu auf, sich die Male der Nägel anzuschauen und die Hand in seine Seite zu legen. Da endlich glaubt Thomas, woraufhin Jesus zu ihm sagt: »Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben« (Johannes 20, 29). Darin steckt zweifellos mehr als nur eine Pointe, aber ein besonders zentraler Gedanke dürfte der sein, dass diejenigen, denen der Glaube geschenkt wurde, wirklich gesegnet sind. Ihr Glaube ist kein moralischer Lapsus, der verschämte Reue verlangt, sondern ein Geschenk, auf das man mit freudigen Dankgebeten reagieren sollte. Wer Glauben hat, ist also dem Modell zufolge gerechtfertigt (oder kann gerechtfertigt sein). Aber auch unabhängig von unserem Modell stellt sich die Frage: Wie soll es denn möglich sein, nicht gerechtfertigt zu sein – sich also nicht im Rahmen seiner epistemischen Rechte zu bewegen –, wenn man glaubt,was nach eingehendem Nachdenken und Forschen die reine Wahrheit zu sein scheint?
B Interne Rationalität Die interne Rationalität (s. o., S. 130 ff.) hat zwei Aspekte: Erstens verlangt sie, dass der »stromabwärts von der Erfahrung« liegende Teil des kognitiven Systems richtig funktioniert; zweitens verlangt sie, allgemeiner gesprochen, dass man sich im Hinblick auf die Bildung der in Frage stehenden Überzeugung die größte oder
Siehe meinen Artikel »Ad de Vries«, in: The Christian Scholar’s Review 19/2 (1989), S. 171– 178.
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zumindest genügend Mühe gegeben hat.²⁶ Man überlegt sich, wie sie mit den anderen Überzeugungen zusammenpasst, sucht gebührend nach möglichen Bezwingern, betrachtet die genannten Einwände, tauscht mit den richtigen Leuten Meinungen aus usw. Offensichtlich kann jemand, der die betreffenden christlichen Überzeugungen akzeptiert, dem Modell zufolge – und auch unabhängig von unserem Modell – diese Bedingungen erfüllen. Angenommen, meine Erfahrung ist derart, dass sie mit dem Zeugnis des Heiligen Geistes zusammengeht (im 9. Kapitel werden wir mehr über die Voraussetzungen dieser Erfahrung hören), und daher kommen mir die großen Dinge des Evangeliums völlig einleuchtend und zwingend vor. Dann wird es nichts Dysfunktionales oder der Funktionstüchtigkeit Zuwiderlaufendes an sich haben, wenn ich diese Überzeugungen unter der Voraussetzung akzeptiere, dass ich keine unbezwungenen Bezwinger dieser Aussagen kenne. Im Gegenteil, sofern diese Erfahrungen gegeben sind, wäre es dysfunktional, die Überzeugungen nicht zu bilden. Nehmen wir ferner an, ich gehe sorgfältig auf die von anderen vorgebrachten Einwände ein, berate mich mit anderen, frage, inwiefern die betreffenden Überzeugungen zu meinen sonstigen Überzeugungen passen, und so fort. Dann habe ich im Hinblick auf die Bildung dieser Überzeugungen offenbar meine Pflicht erfüllt. Nach dem Zeugnismodell erfüllt der christliche Glaube also sowohl die Rechtfertigungsbedingung als auch die Bedingung der internen Rationalität.²⁷
Man mag den Eindruck gewinnen, dass sich diese Bedingung der internen Rationalität mit der Rechtfertigungsbedingung überschneidet. Das ist auch der Fall, wenn es tatsächlich intellektuelle Pflichten gibt, die das von der Rationalität geforderte Verhalten vorschreiben. Allerdings verlangt die interne Rationalität das relevante Verhalten selbst dann, wenn es keine derartigen Pflichten gibt. Aber gibt es nicht viele verschiedene Theorien der Fleischwerdung etwa und der Sühne? Sind die Christen in diesen Dingen nicht verschiedener Meinung? Welche der zahlreichen Anschauungen über die Fleischwerdung und das Sühneopfer sind dann wirklich rational? Diese Frage ist fehl am Platz. Es gibt viele verschiedene Theorien darüber, wie es kommt, dass die Menschen denken können; aber dennoch ist es für viele von uns offenkundig, dass manche Menschen (manchmal) denken. Es gibt auch viele Theorien darüber,was es eigentlich mit den Zahlen auf sich hat. Dennoch ist es offenkundig, dass 7 + 5 = 12. Wir können auch dann völlig zu Recht an das Sühneopfer glauben, wenn wir nicht genau erkennen, wie es funktionieren soll, und uns keine der aufgestellten Theorien zu eigen machen. Außerdem kann es rational sein, an das Sühneopfer zu glauben, ohne dass es rational wäre, eine spezifische Theorie der Sühne zu akzeptieren.
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C Externe Rationalität und Gewähr: Glaube ist Erkenntnis Der Teil von Calvins Definition des Glaubens, der für moderne Ohren besonders frappierend klingt, ist der, dass der Glaube nach seiner Darstellung eigentlich ein Spezialfall von Erkenntnis ist. (Er spricht von »fester und gewisser Erkenntnis«,vgl. die Antwort, die der Heidelberger Katechismus auf die Frage nach dem wahren Glauben gibt, s. o., S. 290.) Der Glaube soll der Erkenntnis nicht gegenübergestellt werden, sondern der Glaube selbst sei (zumindest in paradigmatischen Fällen) Erkenntnis – Erkenntnis einer bestimmten, speziellen Art. Speziell ist sie in wenigstens zwei Hinsichten. Erstens im Hinblick auf den Gegenstand. Was erkannt werden soll, ist (sofern es zutrifft) von umwerfender Bedeutung, es ist bestimmt das Wichtigste, was man überhaupt wissen kann. Aber zweitens ist sie im Hinblick auf die Art und Weise der Erkenntnis des Inhalts ungewöhnlich, denn dieser Inhalt wird durch einen außerordentlichen kognitiven Prozess bzw. einen Überzeugungen produzierenden Mechanismus erkannt. Der christliche Glaube wird »unserem Verstand geoffenbart«, und zwar dadurch, dass der Heilige Geist in uns den Glauben an die Hauptbotschaft der Schrift bewirkt. Der Überzeugungen produzierende Prozess ist ein doppelter und setzt sowohl die von Gott (sei es direkt oder als Ausgangspunkt einer Zeugniskette) inspirierte Schrift voraus als auch den inneren Ansporn des Heiligen Geistes. In beiden Fällen kommt das spezielle Wirken Gottes zum Tragen. Doch wenn der religiöse Glaube eine derart außergewöhnliche Form des Glaubens ist, warum soll man dann überhaupt von »Erkenntnis« sprechen? Was zeichnet ihn so aus, dass er unter den Begriff der Erkenntnis fällt? Hier müssen wir einen vertieften Blick auf das Modell werfen: Der Gläubige stößt auf die großen Wahrheiten des Evangeliums, und durch die Tätigkeit des Heiligen Geistes kommt er zu der Einsicht, dass diese Dinge wirklich wahr sind. Als erstes muss man hier verstehen, dass der Glaube unserem Modell zufolge ein Überzeugungen produzierender Prozess – eine Tätigkeit – ist und insofern der Wahrnehmung und der Erinnerung gleicht. Es handelt sich um eine kognitive Vorrichtung, ein Mittel, durch das der Glaube – und zwar der Glaube bezüglich einer bestimmten Menge von Themen – in regelmäßiger Weise regelmäßig hervorgebracht wird.²⁸ In dieser Hinsicht ähnelt er der Erinnerung, der Wahrnehmung, der Vernunft, dem Mitgefühl, der Induktion und sonstigen zum Normalrepertoire gehörenden Prozessen der Überzeugungsbildung. Er unterscheidet sich von ihnen insofern, als er au-
Diese Regelmäßigkeit ist zwar typisch für kognitive Prozesse, stellt aber im Grunde keine notwendige Bedingung dar. Siehe meine Antwort auf Keith Lehrer in: J. Kvanvig (Hg.), Warrant in Contemporary Epistemology, New York: Rowman and Littlefield 1996, S. 332 ff.
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ßerdem das direkte Wirken des Heiligen Geistes voraussetzt, so dass die unmittelbare Ursache des Glaubens nicht in der natürlichen epistemischen Ausstattung des Gläubigen zu finden ist. Hinzu kommt eben die spezielle und übernatürliche Tätigkeit des Heiligen Geistes. Dennoch ist der Glaube ein Überzeugungen produzierender Vorgang.Wie wir im 7. Kapitel gesehen haben, gelten für die Erkenntnis die folgenden Anforderungen: Die Überzeugung muss durch kognitive Vermögen oder Prozesse hervorgebracht werden, die in einer geeigneten epistemischen Maxi- und Miniumgebung gemäß einem auf die Wahrheit abzielenden – und zwar erfolgreich auf die Wahrheit abzielenden – Bauplan richtig funktionieren. Doch was man unserem Modell zufolge so glaubt, dass die Überzeugungen den religiösen Glauben konstituieren, erfüllt diese vier Bedingungen tatsächlich. Erstens gilt: Wenn diese Überzeugungen vom Glauben akzeptiert werden und aus dem inneren Ansporn des Heiligen Geistes hervorgehen, werden sie durch richtig funktionierende kognitive Prozesse erzeugt.²⁹ Sie werden nicht auf dem Weg einer kognitiven Fehlfunktion hervorgebracht. Der Glaube – der gesamte Prozess, der diese Überzeugungen hervorbringt – ist von Gott speziell dazu entworfen worden, ebendiese Wirkung hervorzubringen, und zwar genauso, wie etwa das Sehvermögen von Gott dazu entworfen wurde, eine bestimmte Art von Wahrnehmungsüberzeugungen hervorzubringen. Wenn er diese Wirkung tatsächlich hervorbringt, funktioniert der Prozess also richtig. Dementsprechend erfüllen die betreffenden Überzeugungen die Bedingung der externen Rationalität und damit zugleich die erste Bedingung der Gewährleistung. Zweitens: Unserem Modell zufolge ist die Maxiumgebung, in der wir uns befinden und die auch die von der Sünde ausgelöste kognitive Störung einschließt, genau die kognitive Umgebung, für die dieser Prozess entworfen wurde. Die typische Miniumgebung ist ebenfalls günstig. Drittens: Der Prozess wurde dazu entworfen, wahre Überzeugungen hervorzubringen.³⁰ Viertens: Die hervorgebrachten Überzeugungen – also der Glaube an die großen Dinge des Evangeliums – sind tatsächlich wahr. Der Glaube ist ein zuverlässiger, Überzeugungen produzierender Prozess, der so be-
Ein Vorbehalt: Wie Andrew Dole in seinem Artikel »Cognitive Faculties, Cognitive Processes, and the Holy Spirit in Plantinga’s Warrant Series« (in: Faith and Philosophy 19 [2002], S. 32– 46) ausführt, liegt es nicht auf der Hand, dass es möglich ist, notwendige und hinreichende Bedingungen für die Gewährleistung von Überzeugungen, die durch Vermögen hervorgebracht werden, direkt auf Überzeugungen zu übertragen, die durch Prozesse hervorgebracht werden. Dies braucht allerdings nicht der einzige Zweck zu sein, der hier eine Rolle spielt. Es kann ja sein, dass die hervorgebrachten Überzeugungen neben der Wahrheit noch weitere Vorzüge haben: Vielleicht wird man durch sie dazu befähigt, in einer persönlichen Beziehung zu Gott zu stehen, sich den Schicksalslaunen des Lebens mit Gleichmut zu stellen, den Trost zu genießen, der sich natürlicherweise aus den für den Glauben konstitutiven Überzeugungen ergibt, usw.
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schaffen ist, dass er erfolgreich auf die Hervorbringung wahrer Überzeugungen abzielt. Zuverlässigkeit verlangt natürlich mehr, als dass diese Überzeugungen wahr sind. Ein Thermometer, dessen Anzeige sich nicht bewegt und immer 20° C anzeigt, ist auch dann nicht zuverlässig, wenn es sich an einem Ort – wie beispielsweise San Diego – befindet, an dem immer 20° C herrschen.Was das Gerät täte, wenn sich die Dinge in relevanter Hinsicht anders verhielten (was es also in angemessen nahe gelegenen möglichen Welten täte) spielt ebenfalls eine Rolle. Ein Prozess bzw. ein Gerät ist nur dann zuverlässig, wenn es unter verschiedenen Umständen ein wahres Ergebnis lieferte. Das hier betrachtete Modell erfüllt auch diese Bedingung. Der Heilige Geist funktioniert nicht bloß zufällig, und es gibt tausend Möglichkeiten, wie der Heilige Geist selbst dann, wenn sich die Dinge anders verhalten hätten, dennoch die tatsächlich gelieferten Resultate gezeitigt hätte. Offensichtlich sind alle Umstände, unter denen er dieses Ergebnis liefert, Umstände, unter denen dieses Ergebnis wahr ist. Also gilt, dass er unter diesen Umständen ein wahres Ergebnis geliefert hätte. Unter welchen Umständen würde es dem Heiligen Geist bei einer bestimmten Person misslingen, diese Arbeit zu leisten und den Betreffenden dazu zu befähigen, die Wahrheit der großen Dinge des Evangeliums zu erkennen? Unser Modell braucht zu dieser Frage keine Stellung zu beziehen, aber viele Traditionen des Christentums lehren, es sei eine notwendige Bedingung für das Empfangen des Geschenks des Glaubens, dass ich einverstanden, willens und bereit bin, das Geschenk zu akzeptieren und entgegenzunehmen. Es gibt einen Beitrag zu diesem Prozess, den ich selbst leisten muss, und die Leistung dieses Beitrags kann ich verweigern. Diesem Modell zufolge beinhaltet der religiöse Glaube als Überzeugungen produzierender Mechanismus ein übernatürliches Element. Er setzt voraus, dass Gott etwas Spezielles und Direktes und ganz Außergewöhnliches tut. Schadet das der These, die Resultate des Glaubens konstituierten Erkenntnis? Ich wüsste nicht, wieso. Unsere Ausgangsanalyse enthält keinen Hinweis darauf, dass die kognitiven Mechanismen alle natürlicher Art sein müssen – egal, worauf das im einzelnen hinauslaufen mag. Muss die Analyse nun korrigiert werden, da der religiöse Glaube nicht ausschließlich nach Naturgesetzen oder naturgegebenen Regelmäßigkeiten, sondern mit Hilfe der freien Mitarbeit einer Person – nämlich Gottes selbst – funktioniert, dessen Äußerungen, wenn er in der Bibel spricht, natürlich ebenso frei sind wie das Handeln des Heiligen Geistes, wenn er die großen Wahrheiten des Evangeliums offenbart und versiegelt? Auch hier wüsste ich nicht, warum eine Korrektur notwendig sein sollte. Das gleiche gilt auch für den Mechanismus, den Thomas Reid als »Zeugnis« bezeichnet und der es uns ermöglicht,von anderen etwas zu erfahren. Auch dieser Mechanismus funktioniert (oft) vermittels freier menschlicher Handlungen. (Wenn du mich fragst, wie alt ich bin, kann ich es dir – aus freien Stücken – sagen, oder ich kann dir, da ich ein wenig eingeschnappt bin, aus freien Stücken die Auskunft verweigern.)
Wieso konstituiert der religiöse Glaube jedoch Erkenntnis? Weil das, was man auf dem Wege des religiösen Glaubens glaubt, jene Bedingungen erfüllt, die zusammen hinreichend und einzeln notwendig sind für die Gewährleistung. Wenn der Grad der Gewähr (der, sofern die oben genannten Bedingungen erfüllt sind, durch
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die Festigkeit oder Stärke des Glaubens bestimmt wird) hoch genug ist, werden die betreffenden Überzeugungen Erkenntnis konstituieren.³¹
IV Angemessene Basalität und die Rolle der Schrift Dem Modell zufolge ist der christliche Glaube im Regelfall nicht die Konklusion eines Arguments (was allerdings nicht heißen soll, dass Argumente bei der Akzeptierung des Glaubens keine wichtige Rolle spielen können).³² Er wird auch nicht unter Berufung auf andere Überzeugungen oder schlicht deshalb akzeptiert, weil er eine gute Erklärung dieser oder jener Phänomene abgibt. Es kann zwar tatsächlich vorkommen, dass spezifische christliche Überzeugungen dieses oder jenes Phänomen vorzüglich erklären (hier kommt einem beispielsweise die christliche Lehre von der Sünde in den Sinn), aber akzeptiert werden sie nicht deshalb, weil sie eine solche Erklärung liefern. Ebensowenig werden sie als Konklusionen aus Argumenten, die sich auf religiöse Erfahrung stützen, akzeptiert. Dem Modell zufolge stehen Erfahrungen bestimmter Art zwar in engem Zusammenhang mit der Bildung gewährleisteter christlicher Überzeugungen, doch diese Überzeugungen werden nicht durch ein Argument, das sich aus der Erfahrung herleitet, gewährleistet. Es ist nicht so, als würde der Gläubige feststellen, dass er oder jemand anders eine bestimmte Erfahrung macht, und daraus irgendwie den Schluss ziehen, der christliche Glaube müsse wahr sein. Vielmehr ist es (ebenso wie im Fall der Wahrnehmung) so, dass die Erfahrung den Anlass für die Bildung der betreffenden Überzeugungen darstellt und bei ihrer Entstehung eine kausale Rolle spielt (wobei diese Rolle ihrerseits vom Bauplan gesteuert wird). In der Regel ist der christliche Glaube also etwas Unmittelbares und wird in basaler Weise gebildet. Er stützt sich nicht auf ein Argument, das beispielsweise die Zuverlässigkeit der Schrift oder der Kirche heranzieht. Jonathan Edwards formuliert es so: »Diese Evidenz, mit der die spirituell Erleuchteten die Wahrheit der religiösen Dinge erkennen, ist eine intuitive und unmittelbare Evidenz. Sie glauben an die Göttlichkeit der Lehrsätze des Worts Gottes, weil sie Göttlichkeit darin sehen.«³³ Der christliche Glaube ist basal, und außerdem ist er angemessen
Das entspricht der Erklärung des Begriffs der Erkenntnis bzw. des Wissens in WPF. Die Lösung der Aufgabe, anzugeben, wie man das Modell modifizieren muss, um den übrigen Haupterklärungen des Begriffs der Gewähr gerecht zu werden, überlasse ich dem Leser. Beispielsweise wenn es darum geht, Bezwinger zurückzuweisen. Siehe unten, Kapitel 11. Edwards, A Treatise concerning Religious Affections (1746), hg. von John E. Smith, New Haven: Yale University Press 1959, S. 298. Alle Verweise auf Seiten dieses Buchs beziehen sich auf die genannte Ausgabe.
IV Angemessene Basalität und die Rolle der Schrift
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basal, wobei die relevante Angemessenheit alle drei der hier betrachteten epistemischen Vorzüge einschließt. Dem Modell zufolge ist es gerechtfertigt, wenn der Gläubige diese Überzeugungen in basaler Weise glaubt; außerdem ist es sowohl in interner als auch in externer Hinsicht rational, so zu verfahren. Außerdem können diese Überzeugungen, wenn sie in dieser basalen Weise akzeptiert werden, gewährleistet sein, und ihre Gewähr kann zur Erkenntnis reichen.³⁴ Mein christlicher Glaube kann gewährleistet sein, und die Gewähr kann auch dann zur Erkenntnis reichen, wenn mir eine stichhaltige historische Begründung für die Zuverlässigkeit der biblischen Autoren und ihrer Lehren weder bekannt ist noch von mir angeführt werden kann. Ich brauche keine historische Begründung der Wahrheit der zentralen Lehrsätze des Evangeliums, um gerechtfertigt zu sein, wenn ich sie akzeptiere. Ich brauche kein triftiges historisches oder wie immer geartetes Argument ausfindig zu machen, das die Auferstehung Christi, seine Gottessohnschaft oder die christliche Behauptung bestätigt, sein Leiden und sein Tod seien ein Sühneopfer, durch das wir wieder in das richtige Verhältnis zu Gott gelangen können. Dem Modell zufolge ist es nicht erforderlich, dass mir oder sonst jemandem diese historischen Informationen bekannt sind. Die Gewähr ist von solchen Fragen unabhängig. Sie braucht nicht durch eine vom religiösen Glauben verschiedene Glaubensquelle (etwa durch eine historische Untersuchung) bestätigt oder bewiesen zu werden. Vielmehr trägt die Schrift (durch das Wirken des Heiligen Geistes) ihre eigene Evidenz in sich. Sie »beglaubigt sich selbst«, wie Calvin sagt: »Dabei soll es bleiben: wer innerlich vom Heiligen Geist gelehrt ist, der verharrt stets bei der Schrift, und diese trägt ihre Beglaubigung in sich selbst …« Daher verhalte es sich wie folgt: Daß die Schrift von Gott kommt, das glauben wir, weil die Kraft des Geistes uns erleuchtet, nicht aber auf Grund des eigenen Urteils oder desjenigen anderer Leute. Es ist ja gerade, als ob wir Gottes eigene Majestät hier erschauten; und deshalb ist unsere Gewifßheit unerschütterlich fest, stärker, als sie uns menschliches Urteil verleihen könnte. So halten wir dafür, daß die Schrift zwar durch den Dienst von Menschen, aber tatsächlich doch aus Gottes
Das heißt natürlich nicht, dass es angemessen ist, wenn der Gläubige auf vorgeschlagene Bezwinger so reagiert, dass er sie ohne weitere Prüfung zurückweist (s. u., Kapitel 11– 14). Er ist auch nicht darauf festgelegt, die Vorstellung, selber im Irrtum zu sein, abzulehnen. Zweifellos kann er sich irren – das gehört einfach mit zur Condition humaine. Würde ihm ein aus anderen Quellen gespeister Beweis oder ein einleuchtendes Argument gegen den christlichen Glauben vorgelegt, auf das weder er selbst noch die christliche Gemeinschaft befriedigend zu replizieren vermag, hat er womöglich ein Problem. Hier hätten wir es mit einem echten Beispiel für die Unvereinbarkeit von Glaube und Vernunft zu tun. Bisher jedoch ist es noch nie vorgekommen, dass ein solcher Beweis oder ein solches Argument seine hässliche Fratze gezeigt hätte.
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eigenem Munde zu uns kommt. Nicht Beweisgründe, nicht Wahrscheinlichkeiten suchen wir, um unser Urteil darauf zu gründen, sondern wir unterwerfen unser Urteil und unser Denken dieser völlig aller Frage entzogenen Tatsache. […] Das ist eine Überzeugung, die der Gründe nicht bedarf, das ist ein Wissen, das seinen Grund in sich selber trägt, ja, auf dem das Herz sicherer und beständiger ruht als auf irgendwelchen Gründen; das ist ein Empfinden, das nur aus himmlischer Offenbarung entstehen kann. Ich rede von dem, was jeder einzelne Gläubige bei sich selber erfährt – freilich reichen meine Worte bei weitem nicht hin, um die Sache recht zu beschreiben!³⁵
Hier spricht Calvin von der Gewissheit, dem Wissen, dass die Schrift »tatsächlich doch aus Gottes eigenem Munde zu uns kommt«, wenn auch »durch den Dienst von Menschen«. Damit will er vermutlich nicht sagen (jedenfalls braucht er dem Modell zufolge nicht zu sagen), der Heilige Geist bewirke den Glauben an die Aussage »Die Bibel – bzw. das Buch Hiob, die Paulusbriefe oder das dreizehnte Kapitel des ersten Korintherbriefs – kommt aus Gottes eigenem Munde zu uns«.³⁶ Es ist doch wohl eher so: Nachdem wir eine bestimmte Lehre – einen gegebenen Ausschnitt aus den großen Dingen des Evangeliums – gelesen oder gehört haben, lehrt uns der Heilige Geist und veranlasst uns dazu, zu glauben, dass diese Lehre sowohl wahr ist als auch von Gott herstammt. Die Struktur des Gedankens ist also nicht die folgende: Was in der Schrift steht und gelehrt wird, ist wahr; dies hier (z. B., dass Gott die Welt in Christus mit sich selbst versöhnt hat) wird von der Schrift gelehrt; also ist es wahr. Die Struktur ist vielmehr folgende: Nachdem man eine bestimmte Lehre l gelesen oder gehört hat, bildet man die Überzeugung, dass l – also ebendiese Lehre – wahr ist und von Gott herrührt. Was hat es mit dieser »Selbstbeglaubigung«, von der Calvin spricht, auf sich? Behauptet er (oder behauptet unser Modell), die Wahrheiten des Evangeliums leuchteten ungefähr in jenem traditionellen Sinn von selbst ein, in dem etwa 2 +1 = 3 von selbst einleuchten soll? Nein, ganz und gar nicht. Von selbst einleuchtende Aussagen sind notwendig wahr und zumindest in den Fällen maximaler Evidenz so beschaffen, dass ein richtig funktionierender Mensch sie nicht einmal verste Calvin, Institutio, I, vii, 5, S. 26. Hier spricht Calvin von »unerschütterlich fester Gewißheit« und von einem »Wissen, das seinen Grund in sich selber trägt«. Doch das ist nur eine Seite der Geschichte. An anderer Stelle bemerkt er, dass auch die Besten und besonders Begünstigten unter uns dem Zweifel und der Ungewißheit ausgesetzt sind: »Denn der Unglaube sitzt uns so tief im Herzen und ist dermaßen verwurzelt darin, auch ist unsere Neigung zu ihm groß, – daß zwar alle mit dem Munde bekennen, Gott sei treu« (III, ii, 15, S. 353). Ferner schreibt er, »daß in allen Gläubigen der Glaube stets mit Unglauben vermischt ist« (III, ii, 4, S. 344). (Damit will er natürlich nicht sagen, die Ungläubigen hätten stets ein gewisses Maß an Glauben, sondern er meint, dass der Glaube immer etwas Unglauben enthält.) Nur in den reinen und paradigmatischen Fällen von Glauben gebe es jene »unerschütterlich feste Gewißheit«. Über die Frage, was Calvin hier wirklich meint, ist viel diskutiert worden.
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hen kann, ohne zugleich zu erkennen, dass sie unmöglich falsch sein können.³⁷ Aber die großen Dinge des Evangeliums sind nicht notwendig wahr (sondern sie sind ein Ergebnis des freien und gnadenvollen Handelns Gottes), und es ist durchaus möglich, sie zu begreifen, ohne zugleich zu erkennen, dass sie wahr sind. (Es ist möglich, sie zu verstehen und abzulehnen.) Also leuchten diese Wahrheiten dem Modell (und Calvin) zufolge nicht von selbst ein. Die Propositionen »Die Bibel ist zuverlässig« oder »Gott ist der Verfasser der Bibel« leuchten ebensowenig von selbst ein wie die Lehrsätze, dass Gott die Welt in Christus mit sich selbst versöhnt hat, oder dass diese Versöhnung durch das Sühneopfer und den Tod Christi bewerkstelligt wurde.³⁸ Calvin möchte auch nicht behaupten, die Schrift beglaubige sich insofern selbst, als sie Belege für sich selbst anführe bzw. ihre eigene Genauigkeit oder Zuverlässigkeit beweise. (Auch unser Modell beinhaltet keine derartige These.) Angenommen, eine bestimmte Glaubensquelle werde in Frage gestellt: Ist diese Glaubensquelle wirklich zuverlässig? Oder nehmen wir an, ein bestimmter Lehrsatz der Schrift werde in Zweifel gezogen: Ist dieser spezifische Lehrsatz wirklich wahr? Weder die Quelle noch der spezifische Lehrsatz kann aus eigener Kraft eine Antwort geben, die diesen Zweifel (in rationaler Weise) behebt. Um einen Vergleich anzuführen: Nehmen wir an, ich lese Hume in ungebührlich rezeptiver Stimmung und beginne an der Zuverlässigkeit meiner kognitiven Fähigkeiten zu zweifeln. Diesen Zweifel kann ich nicht zerstreuen oder beruhigen, indem ich mir ein Argument für die Zuverlässigkeit dieser Fähigkeiten vorlege. Es ist ja die Zuverlässigkeit ebendieser Fähigkeiten – ebendieser Quelle –, die in Frage gestellt wird. Und wenn ich einen allgemeinen Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit hege, sollte ich den gleichen Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit auch in diesem spezifischen Einzelfall hegen. Den gleichen Zweifel sollte ich zudem an den Prämissen des mir selbst vorgelegten Arguments und auch im Hinblick auf meine
Siehe WPF, S. 108 – 109. Richard Swinburne meint: »Offenbar beanspruchen nur sehr wenige Teile der Bibel ›von selbst einleuchtende‹ Autorität oder auch nur den Rang eines unmittelbaren ›Wortes des Herrn‹. […] Ein großer Teil der Schrift kommt vielen ihrer Leser keineswegs einleuchtend vor. Es bedarf der Argumente, um zu zeigen, wie sie zu verstehen ist und warum man daran glauben sollte. Diejenigen, denen die Schrift ›von selbst einleuchtet‹, sind gut beraten, über diese Fakten nachzudenken, ehe sie ihre Überzeugung, die Wahrheit der Schrift bedürfe keiner Argumente, wiederholen« (Revelation, Oxford: Clarendon Press 1992, S. 118). Hier werden zwei verschiedene Fragen miteinander verquickt: (a) Leuchten die Wahrheiten des Evangeliums von selbst ein? (b) Kann man ohne Rückgriff auf Argumente angemessen daran glauben? Unserem Modell zufolge lautet die Antwort auf (b) »Ja« und die Antwort auf (a) »Nein«. (Darüber hinaus ergibt sich hier die folgende Problematik: Dem Modell zufolge beglaubigen sich die zentralen Wahrheiten des Evangeliums selbst, während für die übrigen Lehrsätze der Bibel nicht – jedenfalls nicht notwendig – das gleiche gilt.)
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Überzeugung haben, dass die Prämissen die Konklusion implizieren. Ähnliches gilt für die Schrift: Habe ich Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit, ist es nicht vernünftig, diesen Zweifel dadurch zu ersticken oder zu zerstreuen, dass ich beispielsweise feststelle, der zweite Timotheusbrief (3, 16) sage, die ganze Schrift sei von Gott eingegeben (und es wäre auch dann nicht vernünftig, wenn ich überzeugt wäre, dass sich dieser Lehrsatz auf genau die Bücher bezieht, die ich für kanonisch halte). Also beglaubigt sich die Schrift auch in diesem Sinn nicht selbst. Was kann Calvin nun meinen, wenn er sagt, die Schrift beglaubige sich selbst? Was er meint, lässt sich erkennen, wenn man eine Hinsicht berücksichtigt, in der die Wahrheiten des Evangeliums den von selbst einleuchtenden Aussagen ähneln. Dem Modell zufolge sind diese Wahrheiten – ebenso wie die von selbst einleuchtenden Wahrheiten – evident (sie haben wirklich Gewähr), und außerdem kommt ihnen, ebenso wie den von selbst einleuchtenden Wahrheiten, ihre Evidenz unmittelbar zu, d. h., sie ist nicht durch propositionale Belege vermittelt. Ihre Evidenz, ihre Gewähr wird ihnen nicht dadurch zuteil, dass sie auf der Belegbasis anderer Aussagen geglaubt werden. So gesehen, könnte man diese Wahrheiten als von selbst einleuchtende Wahrheiten hinstellen, wenn man diesen Ausdruck in einem anderen, analogisch erweiterten Sinn auffasst. Sie sind zwar evident, aber ihre Evidenz rührt nicht von anderen Aussagen her. Sie tragen ihre Evidenz in sich selbst und erlangen sie nicht durch Folgerung aus anderen Aussagen.³⁹ Auch Wahrnehmungs- und Erinnerungsüberzeugungen leuchten im gleichen erweiterten Sinn von selbst ein. Sie sind insofern »von sich aus einleuchtend«, als sie ihre Gewähr (ihre Evidenz) nicht durch Gewährübertragung von anderen Aussagen bekommen. Die Aussage, eine Proposition p leuchte in diesem Sinne von selbst ein, heißt eigentlich nur, dass p Gewähr bzw. Evidenz hat und diese Gewähr nicht durch Gewährübertragung erhält (also nicht dadurch, dass sie auf der Basis anderer Propositionen für wahr gehalten wird). Kurz, p ist angemessen basal.⁴⁰ Was Calvin meint (und was das Zeugnismodell bejaht), ist demnach folgendes: Wir benötigen keine Argumente, die sich beispielsweise auf historisch etablierte Prämissen bezüglich der Autorschaft und der Zuverlässigkeit des betref-
Vgl. Jonathan Edwards: »Das Evangelium des gesegneten Gotts braucht nicht andernorts so um Evidenz zu betteln, wie es von manchen angenommen wird. Es trägt die höchste und angemessenste Evidenz in sich selbst« (Religious Affections, S. 307). Der Glaube ähnelt insofern der Wahrnehmung, der Erinnerung und der rationalen Intuition (durch die man begreift, was von selbst einleuchtet), als die betreffenden Überzeugungen in allen drei Fällen im Hinblick auf die Gewähr angemessen basal sind. Allerdings unterscheidet sich der Glaube insofern von der Wahrnehmung (wenn auch nicht von der Erinnerung und der rationalen Intuition), als er nichts von der stark strukturierten und detaillierten sinnlichen Phänomenologie voraussetzt, die unsere Wahrnehmungsüberzeugungen auslöst.
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fenden Teils der Schrift stützen, um zu der Konklusion zu gelangen, dass der betreffende Teil wirklich wahr ist. Dieser ganze Vorgang wird durch den dreiteiligen, Glauben hervorbringenden Prozess abgekürzt. Die Schrift beglaubigt sich insofern selbst, als es für den Glauben an die Rechtfertigung, Rationalität und Gewährleistung der großen Dinge des Evangeliums nicht nötig ist, historische Belege und Argumente für die betreffende Lehre, für die Glaubwürdigkeit, Zuverlässigkeit oder Göttlichkeit der Schrift (bzw. den für diese Lehre relevanten Teil der Schrift) anzuführen. Der Prozess, durch den diese Überzeugungen für den Glaubenden Gewähr erlangen, ist unabhängig von diesen historischen oder sonstigen Erwägungen. Diese Überzeugungen sind in basaler Weise gewährleistet. Nehmen wir an, jemand glaube diese Dinge wirklich mit einem Grad an Festigkeit, der ausreicht, um Erkenntnis zu konstituieren. Ist diese Einstellung – wie immer sie zustande kommen mag – nicht irrational, vernunftwidrig? Angenommen, ich lese die Evangelien und komme beispielsweise zu dem Glauben, dass Jesus Christus wirklich der Sohn Gottes sei und dass für uns sündige und irrende Menschen die Möglichkeit bestehe, durch Jesu Leiden, Tod und Auferstehung mit Gott versöhnt zu werden und zum ewigen Leben zu gelangen. Angenommen, ich glaube diese Dinge, ohne über externe Belege zu verfügen. Ferner wollen wir annehmen, dass ich der gelehrten Bibelforschung keine Beachtung schenke und mir über die Identität oder Qualifikation der wirklichen oder angeblichen Autoren dieser Dokumente keine Gedanken mache. Ich kümmere mich gar nicht oder kaum um Fragen wie: Wann wurden diese Dokumente verfasst oder redigiert? Von wem oder von wie vielen? Hat der Redakteur durch seine Eingriffe einen theologischen Gedanken forcieren wollen? Und so weiter.⁴¹ Ziehe ich hier keine voreiligen Schlüsse und bilde ich mir diese Überzeugung nicht zu rasch? Worauf verlasse ich mich in einem solchen Fall wirklich? Wo ist meine Basis, meine Grundlage, mein Belegmaterial? Wenn ich weder über propositionale Belege noch über Grundlagen verfüge, wie sie mir im Fall der Wahrnehmung durch die Wahrnehmungserfahrung gegeben werden, fragt es sich, ob ich hier nicht blindlings losspringe. Ist dieser Glaubenssprung nicht ein Sprung ins Ungewisse? Verhalte ich mich nicht wie jemand, dessen Haus in Brand geraten ist und der nun, ohne etwas zu sehen, im dritten Stock aus dem Fenster springt und verzweifelt hofft, einen Ast des Baums zu fassen zu bekommen, von dem er weiß, dass er
Ich möchte keinesfalls suggerieren, die Bibelforschung sei unwichtig bzw. ohne Belang für das christliche Leben (vgl. Kapitel 12). Ich möchte lediglich darauf hinaus, dass die Kenntnis dieser Forschungsresultate keine notwendige Bedingung für den gewährleisteten christlichen Glauben ist.
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irgendwo dort draußen vor dem Fenster steht? Ist das nicht ein verantwortungsloses⁴² und irrationales Verhalten? Nein, ganz und gar nicht. Der religiöse Glaube ist unserem Modell zufolge etwas völlig anderes als ein ungesicherter Sprung. Es besteht nicht einmal eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Sprung ins Ungewisse. Angenommen, du befindest dich auf einer Höhe von 3500 Metern und steigst einen Gletscher des Mount Rainier hinab. Ein übler Schneesturm kommt auf, und man kann kaum mehr als einen Meter weit sehen. Es wird sehr spät, der Wind wird stärker, die Temperatur fällt, und du wirst (da du bloß Jeans und T-Shirt trägst) nicht überleben, wenn du den Abstieg nicht vor Einbruch der Dunkelheit schaffst. Also entscheidest du dich, über die Felsspalte vor dir zu springen, obwohl du die andere Seite nicht sehen kannst und nicht die mindeste Ahnung hast, wie breit die Kluft ist. Das ist ein Sprung ins Ungewisse. Im Fall des Glaubens jedoch liegen die Dinge völlig anders. Genausogut könnte man behaupten, eine Erinnerungsüberzeugung oder die Überzeugung, dass 3 + 1 = 4, sei ein Sprung ins Ungewisse. Eine Handlung wird dadurch zum Sprung ins Ungewisse, dass der Springer nicht weiß und keine festen Überzeugungen darüber hat, was dort im Ungewissen der Fall ist.Vielleicht gelingt der Sprung über die Felsspalte, und du kannst deinen Abstieg triumphierend fortsetzen. Aber soweit du weiß, könnte es genausogut passieren, dass du fünfzig Meter tief in den eisigen Gletscherabgrund stürzt. Du glaubst nicht wirklich, dass du die Felsspalte überspringen kannst, aber es ist auch nicht so, als würdest du es nicht glauben. Du hoffst, dass es dir gelingt, und du handelst deinen Überzeugungen entsprechend, denn du glaubst, dass du, falls du nicht springst, überhaupt keine Chance hast. Im Fall des Glaubens – dieser festen und gewissen Erkenntnis – liegen die Dinge ganz anders. Dem Gläubigen erscheinen die großen Dinge des Evangeliums (zumindest in den paradigmatischen Fällen) offensichtlich wahr, einleuchtend, zwingend. Er fühlt sich genauso überzeugt wie im Fall klarer Erinnerungsüberzeugungen oder des Glaubens an die elementaren Wahrheiten der Arithmetik.⁴³ Für diese Behauptung argumentiert beispielsweise James L. Muyskens, The Sufficiency of Hope: The Conceptual Foundations of Religion, Philadelphia: Temple University Press 1979, S. 113. Vgl. auch S. 134– 144. Auch hier sind wieder die paradigmatischen Fälle gemeint. Aber natürlich ist es so, dass die Überzeugtheit und die Glaubenssätze, die beim religiösen Glauben ins Spiel kommen, alle möglichen Festigkeitsgrade aufweisen. Dementsprechend spricht Calvin davon, dass »aber in einem gläubigen Gemüt die Gewißheit mit Zweifel untermischt ist« und dass »wir auch von den verschiedensten Gedanken umgetrieben werden«. In den typischen – im Gegensatz zu den paradigmatischen – Fällen wird der Glaubensgrad nicht ans Maximum heranreichen. Hinzu kommt, dass der Glaubensgrad auf Seiten des Gläubigen in der Regel von einem Zeitpunkt zum nächsten und von einer Situation zur nächsten variiert.
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Phänomenologisch, mithin von innen her gesehen, besteht gar keine Ähnlichkeit mit einem Sprung ins Ungewisse. Und natürlich gibt es (dem Modell zufolge) auch von außen gesehen nicht die geringste Ähnlichkeit. Das ist nicht nur deshalb, weil der Gläubige völlig überzeugt ist, kein Sprung ins Ungewisse, sondern auch deshalb, weil die betreffende Überzeugung die Bedingungen der Rationalität und der Gewährleistung erfüllt. Nun wollen wir solche Überzeugungen mit den vorhin erwähnten apriorischen Überzeugungen und Erinnerungsüberzeugungen vergleichen. In einem bestimmten Sinn ist in keinem dieser drei Fälle etwas gegeben, worauf man sich stützen könnte. Erinnerungsüberzeugungen und offenkundige apriorische Überzeugungen akzeptiert man nicht auf der Grundlage anderer Überzeugungen. Aber außerdem fehlt die detaillierte phänomenologische Basis, es fehlen die reichhaltigen und stark strukturierten sinnlichen Bilder, die bei der Wahrnehmung eine Rolle spielen.Was in allen drei Fällen vorliegt, ist eine phänomenale Evidenz anderer Art, die sogenannte doxastische Evidenz. (In WPF habe ich von einer Impuls-Evidenz gesprochen.) Es gibt eine bestimmte Phänomenologie, die das Vorschweben einer Proposition, die man für wahr hält, vom Vorschweben einer Proposition, die man nicht für wahr hält, unterscheidet. Die erstere erscheint einfach richtig, korrekt, natürlich, gebilligt – das Erlebnis lässt sich nicht ohne weiteres beschreiben (WPF, 190 ff.). Diese doxastische Evidenz ist in allen drei Arten von Fällen gegeben (ja im Grunde gilt das für jeden Fall, in dem man etwas glaubt), und ansonsten gibt es nichts, worauf man sich stützen könnte. Allerdings braucht man auch nichts anderes, worauf man sich stützen könnte. Es ist nicht so, als ob die Dinge epistemisch gesehen besser lägen, wenn man beispielsweise »2 + 1 = 3« oder »Heute morgen habe ich Haferbrei zum Frühstück gegessen« auf der Belegbasis anderer Aussagen glaubte oder auf der Grundlage von ähnlichen sinnlichen Bildern, wie sie bei der Wahrnehmung eine Rolle spielen. (Damit will ich nicht sagen, dass es ausgeschlossen ist, mehr Belege für eine Überzeugung zu finden, die man aufgrund der eigenen Erinnerung für wahr hält, sondern ich möchte darauf hinaus, dass man epistemisch gesprochen nicht unbedingt besser dran wäre, wenn man die fragliche Aussage auf der Basis anderer Überzeugungen oder auf der Basis sinnlicher Bilder für wahr hielte.) Das gleiche gilt (unserem Modell zufolge) auch für die Überzeugungen des religiösen Glaubens: Man verfügt hier nicht über sinnliche Bilder oder auf anderen Überzeugungen basierende Belege, auf die man sich stützen könnte. Aber deswegen stehen diese Glaubenssätze epistemisch gesprochen nicht schlechter da. Unserem Modell zufolge stehen sie sogar besser da. So haben sie nämlich (zumindest der Möglichkeit nach) sehr viel mehr Festigkeit und Stabilität, als ihnen vernünftigerweise zugebilligt werden könnte, wenn man sie auf der Basis rationaler Argumente oder – wie in diesem Fall – auf der Basis historischer Untersuchungen akzeptierte. So können sie auch in sehr viel höherem Maße gewährleistet sein. Diese Überzeugungen werden (dem Modell zufolge) nicht auf der Basis sonstiger Überzeugungen akzeptiert, sondern faktisch ist es so, dass andere Überzeugungen auf der Basis dieser Glaubenssätze akzeptiert werden. Nun könnte man meinen, unser Modell sei – grob gesprochen – ein Modell dafür, wie der christliche Glaube durch religiöse Erfahrung gewährleistet werden könne. Das ist aber nicht genau zutreffend. Oder wenn es doch zutrifft, werden Erinnerungsüberzeugungen und apriorische Überzeugungen ebenfalls durch Erfahrung gewährleistet. Doch nehmen wir einmal an, wir glaubten (dem Modell zufolge) wirklich, dass die Überzeugungen des religiösen Glaubens auf dem Wege der Erfahrung – d. h., durch doxastische Erfahrung – gewährleistet werden; und nehmen wir ferner an, wir beschrieben diese Erfahrung als religiöse Erfahrung. Hier ist es äußerst wichtig
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festzuhalten, dass wir es nicht mit einem Argument zu tun haben, das von der religiösen Erfahrung ausgehend zur Wahrheit dieser christlichen Überzeugungen voranschreitet. Allerdings wäre es durchaus möglich, dass es dergleichen gäbe – ein Modell, dem zufolge der christliche Glaube durch ein bei der religiösen Erfahrung ansetzendes Argument gewährleistet würde. Dieses Argument würde davon ausgehen, dass man religiöse Erlebnisse hat (oder feststellt, dass andere Menschen solche Erfahrungen machen), um anschließend für die Wahrheit der entsprechenden Lehrsätze zu argumentieren (wobei man vielleicht ungefähr ähnlich vorgeht wie bei dem Analogieargument für Fremdpsychisches). Eine andere Möglichkeit wäre die, dass man ähnliche Argumente benutzt wie jene, mit denen man von den Fakten der Wahrnehmungserfahrung ausgehend die Wahrheit der Wahrnehmungsüberzeugungen begründet. Unser Modell ist jedoch völlig anders. Die fragliche Erfahrung ist kein Phänomen, dessen Vorkommen als Prämisse einer Argumentation für die betreffende Überzeugung dient, sondern ein Anlass für diese Überzeugung.
Laut Hebräer 11 gilt: »Der Glaube aber ist die Grundlegung (ὑπόστασις) dessen, was man erhofft, der Beweis (ἔλεγχος) für Dinge, die man nicht sieht« (Zürcher Bibel). Die hier mit »Grundlegung« und »Beweis« wiedergegebenen ausschlaggebenden Wörter werden unterschiedlich übersetzt. So heißt es in der Einheitsübersetzung: »Glaube aber ist: Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht« (Hervorhebungen hinzugefügt). Vielleicht ist die zuerst angeführte Lesart die bessere Übersetzung. Auf jeden Fall ist sie die gehaltvollere. Denn der christlichen Lehre zufolge umfasst der Glaube viele verschiedene Dinge. Er ist das Mittel bzw. der Träger der Erlösung: »Durch sie [die Gnade] hat er uns mit aller Weisheit und Einsicht reich beschenkt« (Epheser 1, 8). Außerdem werden wir durch den Glauben gerechtfertigt (s. o., S. 102). Er ist auch das Mittel, durch das wir regeneriert werden und uns in Christus zu neuen Geschöpfen entwickeln. Außerdem ist er die Grundlage und Substanz (etymologisch gesprochen: das Darunterstehende) der christlichen Hoffnung. Aber der Glaube ist außerdem »der Beweis für Dinge, die man nicht sieht«. Durch den Glauben – und zwar den ganzen, den inneren Ansporn des Heiligen Geistes mit umfassenden Prozess – wird etwas evident, d. h., es wird gewährleistet und es erlangt, was nötig ist, um als Erkenntnis zu gelten. Und was auf diese Weise evident bzw. gewährleistet wird, ist etwas, was man tatsächlich nicht sieht. Das wiederum heißt nicht, dass es undeutlich, verschwommen, ungewiss ist oder erraten werden muss. Vielmehr bedeutet es, dass die betreffende Überzeugung nicht durch das Wirken der gewöhnlichen kognitiven Vermögen, mit denen wir von der Schöpfung her ursprünglich ausgestattet sind, evident gemacht wird. (Auf diese Vermögen bezieht sich der Autor vermittels Synekdoche, indem er vom »Sehen« spricht.) Hier können wir auf die bereits geschilderte Skepsis des Apostels Thomas zurückkommen (s. o., S. 299): Thomas wollte nicht glauben, ehe er die Male der Nägel erblickte und den Finger in die Male der Nägel und seine Hand in die Seite Christi legen konnte. Daraufhin sagt Jesus zu ihm: »Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben« (Johannes 20, 29).
V Vergleich mit Locke
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Von unserem jetzigen Standpunkt aus betrachtet, ist das weder eine allgemeine Empfehlung der Leichtgläubigkeit noch ein Tadel an die Adresse angehender Empiristen wie Thomas. Vielmehr handelt es sich um die Feststellung, dass die Gläubigen über eine Erkenntnisquelle verfügen, die über unsere gewöhnlichen Wahrnehmungsvermögen und kognitiven Prozesse hinausgeht – eine Erkenntnisquelle, die ein göttliches Geschenk darstellt. Deshalb sind die Gläubigen wirklich gesegnet.⁴⁴
V Vergleich mit Locke Dieses Zeugnismodell können wir besser verstehen, wenn wir es mit einem völlig andersartigen Bild vergleichen, nämlich mit dem von John Locke gezeichneten Bild, dessen Aufklärungsmodell in manchen christlichen Kreisen nach wie vor den Ausschlag gibt.⁴⁵ Nach Locke sollten wir uns bei der Bildung aller unserer Überzeugungen an die Vernunft halten. In diesem spezifischen Fall heißt das, die epistemische Pflicht verlange, »daß man keinen Satz mit größerer Zuversicht aufrecht erhält, als es die [induktiven und deduktiven] Beweise, auf die er sich stützt, rechtfertigen.«⁴⁶ Das wiederum bedeutet, wie wir im 4. Kapitel gesehen haben, dass der Grad der Zustimmung den gegebenen Belegen entsprechen sollte. Das heißt, man sollte die Aussage p nach Möglichkeit mit dem Grad an Festigkeit glauben, der dem Wahrscheinlichkeitsgrad von p – bezogen auf Gewissheit – entspricht. Alle unsere Überzeugungen sollten so gebildet werden, dass wir uns dabei an die Vernunft halten. Aus Lockes Sicht bedeutet das allerdings nicht, dass es für Überzeugungen, die sich dem religiösen Glauben verdanken, keinen rationalen Platz gibt. Nach seiner Definition handelt es sich dabei um »die Zustimmung zu irgendeinem Satze, der nicht in der geschilderten Weise durch die Herleitungen der Vernunft ermittelt ist, sondern im Vertrauen auf die Glaubwürdigkeit dessen, der ihn aufstellt, akzeptiert wird, weil er auf einem außerordentlichen Wege der Vgl. Thomas von Aquin: »Will also jemand diese Worte auf die Form einer Begriffsbestimmung bringen, so kann er sagen: ›Der Glaube ist ein Gehaben des Geistes, mit dem das ewige Leben in uns beginnt, und das den Verstand dahin bringt, solchem beizustimmen, was er nicht sieht‹« (ST II-ii, q. 4, a. 1, respondeo). Ein Widerhall von Lockes unterkühltem Rationalismus bezüglich der Autorität der Schrift findet sich heutzutage beispielsweise bei Richard Swinburne (siehe Anmerkung 56), aber auch bei jenen eher evangelikal gesinnten Theoretikern, nach deren Auffassung der christliche Glaube nur durch Argumente oder evidente Belege gewährleistet werden kann. Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Band II, 4. Aufl. Hamburg: Meiner 1981, S. 404. Alle Locke-Zitate werden nach dieser Ausgabe angeführt.
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Mitteilung von Gott kommt« (393). Ebensowenig ist damit gemeint, dass man ein Stück der göttlichen Offenbarung nicht zu Recht glauben kann, wenn dieses Stück seinerseits nicht wahrscheinlicher ist als sein Gegenteil, sofern wir von dem ausgehen, was für uns gewiss ist: Damit will ich nicht behaupten, daß wir die Vernunft zu Rate ziehen müßten, um zu untersuchen, ob ein Satz, der von Gott geoffenbart ist, sich durch natürliche Prinzipien ermitteln lasse, und daß wir ihn, wenn das nicht möglich ist, verwerfen dürfen.
Vielmehr meint Locke folgendes: Wohl aber müssen wir die Vernunft zu Rate ziehen, um mit ihrer Hilfe zu prüfen, ob jener Satz von Gott geoffenbart sei oder nicht. Wenn die Vernunft dann findet, daß er von Gott geoffenbart sei, dann erklärt sie sich ebensosehr für ihn wie für irgendeine andere Wahrheit und macht ihn zu ihrer Richtschnur. (415)
Lockes These besagt: Ehe wir eine angeblich offenbarte Aussage glauben dürfen, müssen wir mit Vernunftmitteln sicherstellen, dass es sich bei dieser Aussage tatsächlich um eine göttliche Offenbarung handelt. Wir brauchen also einen rationalen Beweis (einen Beweis, dessen Prämissen und Verfahrensweisen nicht aus der Offenbarung, sondern aus der Vernunft herstammen), dem zufolge die fragliche Aussage uns wirklich von Gott vorgelegt wurde, auf dass wir sie glauben. Im Fall der biblischen Lehre benötigen wir also einen rationalen Beweis dafür, dass es sich bei dieser Lehre wirklich um eine göttliche Offenbarung handelt. Das ist die Aussage, deren Wahrscheinlichkeit bezogen auf das, was für uns gewiss ist, nachgewiesen werden muss. Sobald das geschehen ist, können wir diese Lehrsätze zu Recht glauben, wenn auch vermutlich mit einem Grad an Festigkeit, der der (auf unsere Gewissheiten bezogenen) Wahrscheinlichkeit der Aussage entspricht, die betreffende Lehre rühre wirklich von Gott her. Dem Zeugnismodell zufolge liegen die Dinge ganz anders: Nehmen wir beispielsweise den Satz, Gott habe sich in Christus mit der Welt versöhnt. Daran glaubt man nicht deshalb, weil man erkannt oder nachgewiesen hat, es sei (bezogen auf das, was gewiss ist) wahrscheinlich, dass diese spezifische Aussage des Paulus (oder vielleicht der gesamte 2. Korintherbrief oder womöglich das ganze Neue Testament oder sogar die ganze Bibel) tatsächlich von Gott inspiriert und folglich wahr ist. Das wäre viel zu dürftig und zu spekulativ. Würde die Überzeugung, dass es sich bei dieser Bibelstelle um göttliche Offenbarung handelt, nach Gebühr auf dem Wege der historischen Forschung gebildet werden, könnte sie nur unsichere und vorläufige Geltung beanspruchen. Doch dann wäre diese Überzeugung selbst genauso unsicher und vorläufig. Calvin drückt es so aus:
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Wollen wir nun dem Gewissen aufs beste raten, um es davor zu bewahren, in stetem Zweifel zu schwanken oder zu wanken oder bei den geringsten Anstößen hängenzubleiben, so muß solche Festigkeit der Überzeugung an höherer Stelle begründet sein als in menschlichen Vernunftgründen, Urteilen oder Mutmaßungen, nämlich im geheimen Zeugnis des Heiligen Geistes.⁴⁷
Nach dem Zeugnismodell ist die Quelle des Glaubens und der Erkenntnis unabhängig von der normalen historischen Forschung und dem Herumpusseln mit Wahrscheinlichkeiten, den Kapricen und Ungewissheiten, zu denen diese Art der Untersuchung verurteilt ist. Die Überzeugungen, um die es hier geht, sind unmittelbar und basal – eine unmittelbare Reaktion auf die Verkündigung. Freilich kommt es zu dieser Reaktion erst im Rahmen eines Systems ineinander verflochtener Überzeugungen; und wenn man will, darf man hinzufügen, dass sie zum Teil durch ihr Zusammenpassen mit einem kohärenten System gewährleistet ist. Dennoch ist die Überzeugung selbst insofern basal, als sie nicht auf der Belegbasis dieser oder irgendwelcher sonstigen Überzeugungen akzeptiert wird. Sie ist basal – und zwar angemessen basal – mit Bezug auf die Gewähr, die Rationalität und die Rechtfertigung. Dementsprechend schreibt Calvin – zweifellos mit einem antizipierenden Blick in Richtung Locke: Weil die gottlosen Menschen meinen, die Religion bestehe aus Menschengedanken, so wünschen und verlangen sie, um den Schein törichter Leichtgläubigkeit zu meiden, vernünftige Beweise dafür, daß Mose und die Propheten in Gottes Auftrag geredet haben. Ich aber entgegne: das Zeugnis des Heiligen Geistes ist besser als alle Beweise. Denn wie Gott selbst in seinem Wort der einzige vollgültige Zeuge von sich selber ist, so wird auch dies Wort nicht eher im Menschenherzen Glauben finden, als bis es vom inneren Zeugnis des Heiligen Geistes besiegelt worden ist. Denn derselbe Geist, der durch den Mund der Propheten gesprochen hat, der muß in unser Herz dringen, um uns die Gewißheit zu schenken, daß sie treulich verkündet haben, was ihnen von Gott aufgetragen war. (79)⁴⁸
Institutio, S. 25. Daraus folgt natürlich nicht, dass Bibelforschung und Bibelauslegung unwichtig und überflüssig sind. Schließlich füllen die von Calvin selbst verfassten gründlichen Detailstudien zur Bibel über zwanzig Bände. Hier ist zu beachten, dass der Heilige Geist eine Doppelrolle spielt: Einerseits inspiriert er die menschlichen Verfasser der Schrift (indem er es bewirkt, dass sie sagen, was sie nach seinem Willen sagen sollen), aber andererseits ist er auch im Herzen der Hörer und Leser tätig und führt es herbei, dass sie das Gehörte und Gelesene glauben. Das innere Zeugnis des Heiligen Geistes bezieht sich also auf das, was er selbst gesagt hat.
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VI Warum notwendig? Warum ist dieser komplizierte Plan notwendig? Warum diese übernatürlich inspirierten Schriften und dieses dem Einzelnen zugedachte übernatürliche Zeugnis des Heiligen Geistes? Oder wenn man bedenkt, dass sich Gott ganz unterschiedlicher Verfahren hätte bedienen können, um sein Ziel zu erreichen und um den Menschen vieler Zeiten und Orte die Fähigkeit zu verleihen, die Möglichkeit und die Mittel zur Erlösung zu erkennen, stellt sich doch die Frage: Was könnte für diesen speziellen Plan sprechen? Würde kein weniger anspruchsvolles Verfahren genügen? Könnten diese Informationen nicht beispielsweise schlicht auf dem Wege des normalen menschlichen Zeugnisses zu uns gelangen? Vielleicht hätte Gott (wie Locke meint) die großen Wahrheiten des Evangeliums auf direktem Wege bestimmten Menschen offenbaren können. Diese Menschen hätten sie dann zu unserem Vorteil aufschreiben können, und wir hätten dann auf normale Weise einsehen können müssen, dass diese Schriften tatsächlich eine göttliche Offenbarung darstellen (und dementsprechend sowohl wahr als auch glaubwürdig sind).Warum soll man sich überhaupt auf spezielle Vermögen oder übernatürliche Prozesse der Glaubensbildung und den inneren Ansporn des Heiligen Geistes einlassen? Nun, zunächst einmal besteht kein Grund zur Annahme, dass Gott besonders viel von ontologischer Sparsamkeit hält oder eine spezielle Abneigung gegen übernatürliche Prozesse hätte. Doch das Hauptproblem des verlockend unkomplizierten Instrumentariums, das uns von Locke angeboten wird, liegt darin, dass es nicht funktionieren würde. Erstens sind wir Menschen dem erweiterten A/CModell zufolge der Sünde verfallen, wenn wir vom speziellen Wirken der Gnade Gottes absehen. Wir sind geneigt, Gott und unseren Nächsten zu hassen. Unser Herz ist, wie Jeremia sagt, arglistig ohnegleichen und unverbesserlich. Und in unserem Zusammenhang ist dieser Umstand von großer Bedeutung, denn ohne ein spezielles Eingreifen von seiten Gottes kämen wir gar nicht zum Glauben. Dementsprechend heißt es bei Paulus: »Der irdisch gesinnte Mensch aber lässt sich nicht auf das ein, was vom Geist Gottes kommt. Torheit ist es für ihn, und er kann es nicht verstehen, weil es nur mit Hilfe des Geistes beurteilt werden kann.«⁴⁹ Ohne Regeneration und Wiedergeburt wird es uns Menschen gar nicht gelingen, die Tiefgründigkeit unserer eigenen Sünde und unseres Bedürfnisses nach Erlösung zu erkennen. Wie Jesus selbst sagt: Wir brauchen das Zeugnis des Heiligen
1. Korinther 2, 14. Vgl. 1. Korinther, 1, 23 – 24: »Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit.«
VI Warum notwendig?
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Geistes, um zum Glauben an die großen Wahrheiten des Evangeliums zu kommen.⁵⁰ Angesichts unseres sündigen Wesens und unserer natürlichen Abneigung gegen die Botschaft des Evangeliums wird der Glaube ein Geschenk sein müssen, wenn auch nicht in dem Sinne, in dem ein herrlicher Herbsttag ein Geschenk ist, sondern es wird ein spezielles Geschenk sein müssen, das uns auf normalen Wege nicht erreichen würde – ein Geschenk, das ein übernatürliches und aus dem Rahmen der Normalität fallendes Wirken Gottes voraussetzt.⁵¹ Zweitens wollen wir annehmen, jemand käme einfach so – auf dem Wege einer historischen Untersuchung – zu der Überzeugung, Jesus sei tatsächlich der Sohn Gottes, der um unserer Sünden willen gestorben und auferstanden ist, auf dass wir durch ihn das ewige Leben haben können. Der bloße Glaube daran – so als handele es sich um ein interessantes Faktum, das die Welt betrifft, also ein Faktum der gleichen Art wie der Umstand, dass das Universum vor zwölf bis sechzehn Milliarden Jahren mit einem Big Bang begann – ist aber nicht ausreichend. Diese Wahrheiten dürfen nicht nur unserem Verstand offenbart, sondern sie müssen auch in unserem Herzen versiegelt werden. Dieses Versiegeln ist das Thema des nächsten Kapitels. Vorerst wollen wir nur festhalten, dass das Beschreiten des Wegs zum Glauben mehr umfasst als eine Meinungsänderung. Außerdem umfasst es (ganz entscheidend) auch einen Gesinnungswandel, eine Veränderung der Affekte, einen Umschwung in den Dingen, die man liebt oder hasst, billigt oder verschmäht, anstrebt oder vermeidet. Unserem Modell zufolge ist der religiöse Glaube zwar tatsächlich ein Überzeugungen produzierender Vorgang, aber er ist auch ein Affekte produzierender Vorgang – ein Prozess, der sowohl in eine Meinungsänderung als auch in einen Wandel der Affekte mündet.
»Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zu mir führt« (Johannes 6, 44). Siehe ferner: »Und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll. Es ist der Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt. Ihr aber kennt ihn, weil er bei euch bleibt und in euch sein wird« (Johannes 14, 16 – 17). Auch in dieser Frage sind Calvin und Thomas der gleichen Meinung: »Da nämlich der Mensch, indem er dem beistimmt, was des Glaubens ist, über seine Natur hinausgehoben wird, so muß dies in ihm notwendig auf Grund eines übernatürlichen Wirkgrundes geschehen, der ihn innerlich bewegt, und dies ist Gott« (ST II-ii, q. 6, a. 1, respondeo, S. 141; vgl. Artikel 2). Wenn ich von einem übernatürlichen Wirken Gottes spreche, meine ich kein Einschreiten oder Eingreifen in die natürliche Ordnung. Tatsächlich ist es so, dass Gott ständig in der Welt wirksam ist: Ohne sein stützendes Tun würde die Welt verschwinden wie ein Kerzenlicht im Sturm. Vielmehr muss das übernatürliche Wirken Gottes (ebenso wie seine Wunder) unter Bezugnahme auf Gottes spezielles Tun verstanden werden – im Gegensatz zu der Art und Weise, in der er gewöhnlich mit den von ihm geschaffenen Dingen umgeht. An diesem Punkt gibt es Tiefgründigkeiten und Probleme, die jedoch auf eine andere Gelegenheit warten müssen.
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Angesichts unserer Konstitution lässt sich dieser Wandel der Affekte nicht allein dadurch erzielen, dass man die Grundzüge des Evangeliums als historische Tatsachen glaubt.⁵² Daher brauchen wir – zusätzlich zu der Meinungsänderung – einen Wandel der Einstellung, und ohne den letzteren werden wir die erstere nicht zulassen. Aber warum soll es nicht möglich sein, dass Gott den Wandel der Einstellung und der Affekte einfach herbeiführt (und wenn er es für nötig hält: auf übernatürlichem Wege)? Warum benötigen wir diese übernatürliche Quelle für eine Meinungsänderung? Wären die richtigen Affekte gegeben, würden dann die Heilige Schrift mitsamt unseren normalen Fähigkeiten (Vernunft, Erinnerung, Wahrnehmung, Mitgefühl, Induktion usw.) nicht ausreichen, um uns zur Einsicht in die Wahrheit des Evangeliums zu befähigen? Das möchte ich bezweifeln. Zunächst einmal läuft der Vorschlag darauf hinaus, dass durch die gewöhnlichen Fähigkeiten, die bei einer historischen Untersuchung zum Einsatz kommen, nur wenige Leute zu der fraglichen Erkenntnis gelangen würden – und auch sie erst nach erheblichen Anstrengungen und viel Zeitaufwand. Außerdem wäre auch ihr Glaube ungewiss und von Falschheit durchsetzt.⁵³ Was hier gelehrt wird, ist schließlich nicht etwas, was ohne weiteres mit unserer normalen Erfahrung in Einklang steht. Diese Lehre ähnelt nicht der Schilderung eines antiken Kriegs, der grausamen Behandlung der Melier durch die Athener oder des maßlosen Hochmuts eines antiken Despoten. Der Glaube an derartige Dinge fällt uns nicht schwer. Hier haben wir es jedoch mit der Behauptung zu tun, ein bestimmter Mensch – Jesus aus Nazareth – sei erstaunlicherweise zugleich der einzige Sohn des von Ewigkeit zu Ewigkeit existierenden Gottes. Dieser Mensch sei gestorben (was freilich nichts Ungewöhnliches ist), aber drei Tage später sei er auferstanden (was nun in der Tat etwas Ungewöhnliches ist). Überdies seien wir durch sein Sühneopfer, seinen Tod und seine Auferstehung gerechtfertigt; unsere Sünden seien vergeben, und es sei uns gestattet, zu leben und das Leben in größerer Fülle zu führen. Das ist nun wirklich eine aufregende Geschichte; und die bloße Tatsache, dass einige antike Autoren daran geglaubt haben, wäre gewiss nicht ausreichend für eine vernünftige Überzeugung unsererseits. Die Bibelforscher rufen es uns in Erinnerung: Es gibt
»Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht« (Lukas 16, 31). Das sagt Thomas über den Glauben an die Existenz Gottes, sofern er auf der Basis der theistischen Beweise akzeptiert wird (ST I, q. 1, a. 1, respondeo; Summa contra Gentiles, Buch I, Kapitel 4; ST II-ii, q. 2, a. 4). Aus diesem Grund sei es,wie Thomas sagt,völlig angemessen, dass die Existenz Gottes als Glaubenssache hingestellt werde, obwohl sie de facto mit Mitteln der Vernunft bewiesen werden könne.
VI Warum notwendig?
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viele alte Bücher mit Geschichten, die den biblischen mehr oder weniger ähnlich sind (meines Erachtens: weniger). An wie viele dieser alten Bücher glauben wir denn? Die Replik hierauf lautet nun: Können wir denn nicht aus eigenen Mitteln – und ohne spezielle göttliche Mitwirkung oder Hilfe – herausfinden, dass die Bibel (oder sagen wir: das Neue Testament) tatsächlich »von Gott« herrührt und in einer Weise von Gott inspiriert ist, dass er selbst in der Schrift und durch die Schrift zu uns spricht,⁵⁴ so dass sie voll und ganz zuverlässig ist?⁵⁵ Können wir zu dieser Erkenntnis nicht in der gleichen Weise gelangen, in der wir erfahren können, dass Herodot und Xenophon einigermaßen zuverlässig über das von ihnen Gehörte und Gesehene berichten? Und sobald wir zu dieser Erkenntnis gelangt sind, können wir dann nicht daraus erschließen, dass die Hauptbotschaft der Bibel bezüglich Fleischwerdung und Sühne zutrifft? Können wir die historischen Belege für die Wahrheit der Grundzüge des christlichen Glaubens nicht ohne spezielles Wirken des Heiligen Geistes erkennen und würdigen? Es stimmt schon: »Du musst wiedergeboren werden« – deine Affekte, Zielsetzungen und Absichten müssen neu geeicht, umgelenkt und umgekehrt werden –, und dazu ist eine spezielle göttliche Hilfe vonnöten. Aber angenommen, diese Setzung neuer Maßstäbe sei vollzogen, wäre es dann nicht möglich, ohne spezielles Wirken des Heiligen Geistes die historischen Belege für die Wahrheit der Grundzüge des Christentums zu erkennen und zu würdigen? Das halte ich nicht für möglich. Selbst wenn wir die Auswirkungen der Sünde auf unser Verständnis der historischen Belege außer acht lassen, sind diese Belege doch nicht ausreichend, um die gewährleistete Überzeugung hervorzubringen, die Grundzüge der christlichen Lehre seien wahr. Allenfalls könnten sie die gewährleistete Überzeugung hervorbringen, die Grundzüge der christlichen Lehre seien nicht besonders unwahrscheinlich. Denn wie könnte man unter Berufung auf diese Belege argumentieren?⁵⁶ Natürlich könnte man sich in keiner Weise auf
Beispielsweise in der Weise, die Nicholas Wolterstorff in Divine Discourse vorschlägt. So wie ich Wolterstorff verstehe, sind bei seiner Erklärung der Möglichkeit, dass Gott spricht, die Grundzüge der christlichen Lehre jedoch vorausgesetzt, so dass damit kein Weg gegeben wäre, auf dem man zur Erkenntnis der faktischen Wahrheit dieser Lehre gelangen könnte. (Das heißt, Wolterstorffs Analyse würde keine Grundlagen beisteuern, auf denen sich ein Argument für die Wahrheit dieser Lehre konstruieren ließe.) Das entspräche im Wesentlichen dem Locke-Swinburne-Modell. Unklar bleibt allerdings, ob diese beiden Autoren dem hier geäußerten Gedanken zustimmen würden, ein Wandel der Affekte und der Einstellung sei eine notwendige Bedingung der angemessenen Würdigung der historischen Sachlage. Die folgenden Ausführungen basieren in groben Zügen auf einem Argument, das Richard Swinburne in seinem Buch Revelation (Oxford: Clarendon Press 1992, Kapitel 5, 7 u. 8) für eine
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die Vorstellung berufen, die Bibel sei in spezieller Weise von Gott inspiriert worden. Was unsere jetzigen Belange betrifft, müssten wir die Bibel genauso behandeln wie irgendein anderes Buch aus antiken Zeiten.Wir müssten dem Beispiel jener Bibelforscher folgen, die beispielsweise herauszufinden versuchen, was wirklich mit Jesus geschah – was er predigte, ob er von den Toten auferstand –, ohne hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Bibel oder der Person Jesu irgendwelche speziellen theologischen Annahmen zu machen.⁵⁷ Diese Forscher klammern alle derartigen theologischen Überzeugungen, die sie womöglich haben, aus und bemühen sich sodann um eine Bewertung des historischen Belegmaterials für Thesen wie die: Jesus habe tatsächlich behauptet, der göttliche Erlöser zu sein, oder wie die These, Jesus sei gestorben und wieder lebendig geworden. Ein solches Plädoyer für die Wahrheit der Grundzüge des Christentums könnte allenfalls ein Argument für die Wahrscheinlichkeit der Aussage sein, diese Lehrsätze seien wahr. Wie sähe ein solches Plädoyer aus? Wie ließe es sich konstruieren? Die Konklusion des Plädoyers (bzw. dieses Arguments) würde lauten, dass die Hauptthesen des Christentums wahrscheinlich sind. Wahrscheinlich ist eine Aussage aber nur mit Bezug auf eine andere Aussage oder mehrere andere Aussagen.⁵⁸ In diesem Fall wären die relevanten anderen Aussagen ein Korpus von Hintergrundwissen H – lauter Dinge, die wir alle oder beinahe alle wissen, für selbstverständlich erachten oder fest glauben bzw. die zumindest von denen, die die relevante Untersuchung durchführen, gewusst, als selbstverständlich angesehen oder geglaubt werden.⁵⁹ Das Ziel bestünde darin, zu zeigen, dass die Behauptungen des christlichen Evangeliums – bezogen auf H – wahrscheinlich sind, also wahrscheinlich mit Bezug auf das, was wir wissen oder für selbstverständlich
ähnliche Konklusion anführt. Ein Unterschied liegt darin, dass Swinburne meint, man glaube p genau dann, wenn man glaubt, die Wahrscheinlichkeit von p sei größer als die Unwahrscheinlichkeit von p (Faith and Reason, Oxford: Clarendon Press 1981, S. 32). Ich für mein Teil gehe davon aus, dass die Überzeugung, die Wahrscheinlichkeit von p sei größer als die Unwahrscheinlichkeit von p, keine hinreichende Bedingung für die Überzeugung, dass p, ist. (Ich bin im Begriff, mit einem normalen Würfel zu würfeln. Hier glaube ich, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Seiten 2 oder 3 nach oben zeigen, geringer ist als die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das nicht der Fall sein wird; aber ich werde bestimmt nicht glauben, dass diese Seiten nicht nach oben zeigen werden. Diesbezüglich glaube ich bloß, dass eine der Seiten 1 bis 6 nach oben zu liegen kommt (und der Würfel mithin nicht etwa ganz elegant auf einer seiner Ecken oder Kanten balanciert). Siehe unten, S. 460 ff. Die »absolute« oder »logische« Wahrscheinlichkeit einer Aussage wäre demnach ihre Wahrscheinlichkeit mit Bezug auf eine notwendige Wahrheit. Diese Wahrscheinlichkeiten wären keine Werte für Überzeugungsgrade à la Bayes, sondern etwas Objektiveres, wie z. B. Richard Swinburnes epistemische Wahrscheinlichkeit oder die objektive Wahrscheinlichkeit von WPF, S. 161 ff.
VI Warum notwendig?
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erachten. Der Einfachheit halber wollen wir die christlichen Hauptthesen wie folgt zusammenfassen: Sünde (die Menschen bedürfen der Rettung), Fleischwerdung (Jesus ist die fleischgewordene zweite Person der Dreifaltigkeit), Buße (durch sein Leiden und seinen Tod hat Jesus für unsere Sünden gebüßt und uns zur ewigen Rettung befähigt) und allgemeine Verfügbarkeit (die Erlösung ist nicht auf eine einzige Personengruppe – beispielsweise die Juden⁶⁰ – beschränkt). Nun wollen wir »E« als Bezeichnung für die Konjunktion dieser Elemente benutzen. Unser Ziel besteht also darin, geltend zu machen, dass E bezogen auf H einigermaßen wahrscheinlich ist. Nun können wir den üblichen Wahrscheinlichkeitssymbolismus verwenden und das formulieren, indem wir sagen, P(E/H) sei einigermaßen hoch. Wie können wir die Sache anlegen und geltend machen, P(E/H) sei tatsächlich einigermaßen hoch? Das übliche Verfahren (an das sich auch Swinburne hält) besteht darin, dass man versucht, eine Aussage (oder eine Gruppe von Aussagen) A zu finden, die mit Bezug auf H wahrscheinlich und darüber hinaus so beschaffen ist, dass E mit Bezug auf ihre Konjunktion mit H wahrscheinlich ist, also eine Aussage A derart, dass sowohl P(A/H) als auch P (E/A ∧ H) hoch ausfallen. So könnte man beispielsweise als erstes behaupten, dass T – die Existenz Gottes – mit Bezug auf H (unser Hintergrundwissen) – wahrscheinlich ist. Anschließend könnte man geltend machen, dass es unter Voraussetzung unseres Hintergrundwissens H und der Existenz Gottes T wahrscheinlich ist, dass Gott der Menschheit bestimmte maßgebliche Wahrheiten (nämlich Wahrheiten, die wir kennen müssen) offenbaren würde.⁶¹ Das wiederum sei die Aussage O. Dann könnte man nach dem gleichen Muster weiterargumentieren (also die gleiche Argumentationsform wiederholen), um schließlich zu einer Aussage zu gelangen, mit Bezug auf die es wahrscheinlich ist, dass Gott dafür gesorgt hat, Jesus von den Toten auferstehen zu lassen, um so die Botschaft des Neuen Testaments zu autorisieren und zu bestätigen. Diese Botschaft könnte man sodann als von Gott autorisiert und folglich wahr auffassen. Die Botschaft wiederum enthält jene Aussagen E, für deren Wahrscheinlichkeit wir zu argumentieren versuchen. Also könnte man sodann den Schluss ziehen, E sei mit Bezug auf das, was wir wissen, tatsächlich wahrscheinlich.
Vgl. die Vision des Petrus, Apostelgeschichte 10. Dementsprechend heißt es bei Swinburne: »Sofern es weitere Belege gibt, denen zufolge es ziemlich wahrscheinlich ist, dass es einen allmächtigen und allgütigen Gott gibt, der die Erde und deren Einwohner geschaffen hat, wird es einigermaßen wahrscheinlich, dass er in die historische Entwicklung eingreifen würde, um den Menschen bestimmte Dinge zu offenbaren« (Revelation, S. 70).
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Um das Vorgehen zu veranschaulichen und zu erklären, wollen wir annehmen, man interessiere sich für die Frage, mit welcher Wahrscheinlichkeit Ruth zur Party kommen wird. Auf der Basis unseres Hintergrundwissens gilt es als höchst wahrscheinlich, dass Markus die Party besucht (das sei die Aussage »M«). P(M/H) ist hoch – um etwas Konkretes zu sagen, wollen wir annehmen: 0,9. Außerdem ist es sehr wahrscheinlich, dass Ruth zur Party kommt (Aussage »R«), sofern Markus da ist (denn Ruth geht normalerweise auf jede Party, die Markus besucht). Also ist P(R/M ∧ H) ebenfalls hoch – sagen wir mal: auch sie beträgt 0,9. Nun können wir eine Formel der Wahrscheinlichkeitsrechnung heranziehen und auf diese Weise zu dem Schluss gelangen, es sei wahrscheinlich, dass auch Ruth kommen wird: P(R/H) ist gleich oder übertrifft P(M/H) · P(R/M ∧ H). Also wird P(R/H) mindestens 0,81 betragen.⁶² Diese Art der Argumentation kann man wiederholt einsetzen. Vielleicht weiß man außerdem, dass es ziemlich wahrscheinlich – beispielsweise 0,8 – ist, dass Lisa kommen wird, sofern Ruth da ist. In diesem Fall kann man folgern, dass die Wahrscheinlichkeit des Kommens von Lisa mindestens 0,648 beträgt. Außerdem weiß man vielleicht, dass die Wahrscheinlichkeit des Kommens von Jürgen, sofern Lisa da ist, 0,95 beträgt. Dann wird die Wahrscheinlichkeit, dass er kommt, mindestens 0,616 sein. Nun wollen wir annehmen, dass wir nach diesem Muster versuchen, einen Wahrscheinlichkeitswert von E mit Bezug auf das Hintergrundwissen H zu konstruieren. Als erstes müssten wir die Wahrscheinlichkeit dafür ermitteln, dass T (der Theismus) wahr ist: Welches ist die Wahrscheinlichkeit (bezogen auf unser Hintergrundwissen bzw. auf die Gesamtheit dessen, was wir – abgesehen vom Theismus – wissen) dafür, dass es ein allmächtiges, allwissendes, allgütiges Wesen gibt, das die Welt geschaffen hat? Swinburne stellt in seinem Buch The Existence of God ⁶³ Überlegungen zu dieser Wahrscheinlichkeit an und kommt auf der letzten Seite des Buchs zu folgendem Schluss: »Nach der Gesamtheit unserer Belege zu urteilen, ist die Wahrscheinlichkeit für den Theismus höher als die Wahrscheinlichkeit dagegen.« Swinburnes Argumentation ist komplex und an
»Mindestens« deshalb, weil es möglicherweise recht wahrscheinlich ist, dass Ruth auch dann kommt, wenn Markus wegbleibt. Die Wahrscheinlichkeit des Kommens von Ruth (R) wird der gewichtete Durchschnitt der Wahrscheinlichkeiten von R sein bezogen darauf, dass Markus da ist (M), und der Wahrscheinlichkeit von R, sofern -M – gewichtet mit den Wahrscheinlichkeiten von M und -M. Die relevante Formel lautet: P(R/H) = [P(R/(M ∧ H)) · P(M/H)] + [P(R(‐M ∧ H)) · P(‐M/H)] Oxford: Clarendon Press 1979.
VI Warum notwendig?
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vielen Stellen strittig.⁶⁴ Ein aus unserer jetzigen Perspektive betrachtet noch misslicheres Problem besteht jedoch darin, dass die Konklusion der Argumentation nichts weiter besagt, als dass die Wahrscheinlichkeit für den Theismus – bezogen auf das relevante Wissens- oder Informationenkorpus H – höher ist als die Wahrscheinlichkeit dagegen: Sie liegt irgendwo in dem (halb offenen) Intervall zwischen 0,5 und 1. Selbst wenn alle sonstigen Wahrscheinlichkeiten, die bei unserer historischen Betrachtung eine Rolle spielen, den Höchstwert 1 hätten, könnten wir nichts weiter folgern, als dass die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit der christlichen Lehre irgendwo im gleichen Intervall liegt. Doch wenn mein einziger Grund für die christliche Lehre in ihrer Wahrscheinlichkeit bezogen auf H liegt, und wenn ich über diese Wahrscheinlichkeit nichts weiter weiß, als dass sie höher ist als 0,5, kann es für mich nicht rational sein, an diese Lehre zu glauben. Angenommen, ich weiß, dass die Münze, die du gleich wirfst, präpariert ist. Ich weiß allerdings nicht, wie stark sie präpariert ist, weiß also auch nicht, mit welcher Wahrscheinlichkeit »Kopf« nach oben zeigen wird, weiß aber wohl, dass diese Wahrscheinlichkeit höher ist als 0,5. Unter diesen Bedingungen glaube ich nicht, dass beim nächsten Wurf dieser Münze »Kopf« herauskommt. (Freilich glaube ich auch nicht, dass »Wappen« nach oben zeigen wird; ich vermute jedoch, dass die Kopfseite oben liegen wird.) Ich weiß nicht mehr, als dass die Wahrscheinlichkeit für »Kopf« höher ist als die Wahrscheinlichkeit dagegen; und das genügt nicht, um vernünftigerweise zu glauben, dass es sich so verhalten wird. Das gleiche gilt auch in unserem Fall: Wenn ich nichts weiter weiß, als dass die Wahrscheinlichkeit des christlichen Glaubens (bezogen auf H) größer ist als 0,5, ist es nicht vernünftig, an die christliche Lehre zu glauben.⁶⁵ Ich kann hoffen, dass sie wahr ist, und ich kann es für sehr wahrscheinlich halten, dass sie wahr ist; aber daran glauben kann ich nicht. Um den historischen Ansatz wirklich auf die Probe zu stellen, wollen wir also annehmen, dass wir T (bezogen auf H) willkürlich eine sehr viel höhere Wahrscheinlichkeit
Das dürfte insbesondere für die Urteile über relative Einfachheit gelten, die Swinburne in Anspruch nimmt, sowie für das Urteil, Einfachheit sei im Bereich der Wahrscheinlichkeiten tatsächlich eine gute Richtschnur. Natürlich ist hier festzuhalten, dass es nicht angeht, den Theismus einfach dem relevanten Wissenskorpus H hinzuzufügen und diesen Schritt damit zu begründen, der Theismus sei nach allem, was wir wissen, wahrscheinlicher als sein Gegenteil. Wenn man diesen Weg einschlägt, gerät man in Widersprüche: Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass dieser Würfel nicht 1 zeigen wird, ist höher als die Wahrscheinlichkeit dagegen, und das gleiche gilt natürlich auch für jede der übrigen fünf Möglichkeiten. Könnten wir nun H jede dieser Propositionen (»Er wird nicht 1 zeigen«, »Er wird nicht 2 zeigen«, … ) hinzufügen, würden wir schließlich bei der Kontradiktion landen, es sei der Fall, dass der Würfel eine Zahl zwischen 1 und 6 (einschließlich 6) zeigen wird, und zugleich sei es nicht der Fall.
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zuordnen – beispielsweise ein Minimum von 0,9. Viele werden angesichts einer derart hohen Wertzuordnung vor Entrüstung aufheulen. Doch diesen Protest wollen wir einstweilen außer acht lassen. Als nächstes müssen wir uns die Wahrscheinlichkeit anschauen, dass, sofern T ∧ H, folgendes gilt: Z Gott würde der Menschheit etwas offenbaren wollen (sei es sich selbst oder vielleicht das, was wir über ihn wissen müssen). Nun, das sieht nun wirklich wahrscheinlich aus, obwohl es natürlich sehr schwierig ist, a priori vorherzusagen, was Gott würde tun oder nicht tun wollen. Auch hier wollen wir großzügig sein und von dieser Wahrscheinlichkeit ebenfalls annehmen, dass sie im Intervall zwischen 0,9 und 1 liegt. Aber jetzt wird es schwierig. Irgendwie muss es uns gelingen, ein probabilistisches Argument für die Aussage vorzulegen, dass eine solche Offenbarung auch E – die großen Thesen des Evangeliums – umfassen würde. Freilich würde eine göttliche Offenbarung nur dann E umfassen, wenn E wahr ist. Was wir also eigentlich brauchen, ist ein probabilistisches Argument für eine Konklusion, die ausreicht, um E zu implizieren. Ein gebräuchliches Verfahren würde darauf hinauslaufen, dass man geltend macht, es sei wahrscheinlich, dass Jesus E lehrte, und dass Gott, indem er Jesus von den Toten auferstehen ließ, diese Lehre gutgeheißen bzw. bestätigt hat. Aber wenn man nur die gewöhnliche historische Forschung zugrunde legt, ohne von der Annahme auszugehen, dass die Bibel tatsächlich von Gott offenbart wurde, ist es eben nicht wahrscheinlich, dass Jesus etwas gelehrt hat, was in seiner Bestimmtheit an E herankommt, also Sünde, Fleischwerdung, Sühneopfer und allgemeine Verfügbarkeit umfasst. Unter den Bibelforschern gibt es epische Streitigkeiten darüber, was Jesus im Detail gelehrt hat, aber die meisten Wissenschaftler, die das Problem »von unten her« (d. h., ohne irgendwelche speziellen theologischen Voraussetzungen) angehen, sind ganz und gar nicht bereit zu behaupten, Jesus habe E gelehrt. Selbst wenn man trotzdem die Bibel als autoritativ gelten lässt, ist keineswegs klar, dass Jesus E gelehrt hat. Viele unserer Deutungen der Hauptthesen des christlichen Glaubens stammen aus anderen Teilen der Bibel (beispielsweise aus den Paulusbriefen) sowie aus späteren Überlegungen (etwa aus dem Bekenntnis von Nicäa). Vielleicht ist es jedoch aus rein historischen Gründen wahrscheinlich, dass die Lehrsätze Jesu derart sind, dass man durch gescheite Interpretations- und Interpolationsverfahren zu E gelangen könnte. Also müssten wir fragen, welches unter der Voraussetzung von H ∧ T sowie Z die Wahrscheinlichkeit der folgenden Aussage ist: Y Die Lehrsätze Jesu sind derart, dass man durch eine vernünftige Interpretation und Extrapolation zu E gelangen kann.
VI Warum notwendig?
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Das heißt, wir müssen uns nach dem Wert von P(Y/(H ∧ T ∧ Z)) erkundigen. Y ist zwar ziemlich vage, doch wir wollen annehmen, dass es – auch auf der bloßen Grundlage der historischen Forschung – recht wahrscheinlich ist. Natürlich wird es viele geben, die sich dagegen sträuben würden, beispielsweise jene, die Jesus für einen homosexuellen Zauberer halten,⁶⁶ ganz zu schweigen von denen, die meinen, er sei der erste christliche Atheist gewesen.⁶⁷ Wir wollen einfach festsetzen, dass sich diese Autoren irren, während die Wahrscheinlichkeit für Y hoch sei und, konkret gesprochen, im Intervall zwischen 0,7 und 0,9 liege. Jetzt wird die Sache allerdings noch schwieriger. Als nächstes müssen wir uns die Aussage anschauen, Gott habe die Lehren Jesu gebilligt, indem er ein großes Wunder vollbrachte und ihn von den Toten auferstehen ließ. Nun stellt sich die Frage, welches die Wahrscheinlichkeit dafür ist, dass – nach rein historischen Gründen zu urteilen – folgendes gilt: X Jesus ist von den Toten auferstanden. Natürlich muss X buchstäblich genommen und aufs physische Geschehen bezogen werden. Es darf beispielsweise nicht so erläutert werden, als handele es sich bloß um die Vorstellung, die Anhänger Jesu hätten ein dermaßen beeindruckendes und anregendes Erlebnis gehabt, dass sie die nötige Energie und Willenskraft erwarben, um eine neue Religion zu stiften.⁶⁸ Auch hier müssen wir die bedingte Wahrscheinlichkeit von X unter der Voraussetzung von H, T und Z ∧ Y betrachten, d. h. P(X/(H ∧ T ∧ Z ∧ Y)). Um welchen Wahrscheinlichkeitswert handelt es sich? Angesichts der gewaltigen Kontroversen und Meinungsverschiedenheiten zwischen den verschiedenen Bibelforschern schreckt man vor weitgehenden Äußerungen zurück. Wie viele Menschen gibt es denn, die aus rein historischen Gründen plus Theismus (also ohne Hilfe von Seiten der Theologie,
Siehe Morton Smith, Jesus the Magician, New York: Harper and Row 1978. Siehe Thomas Sheehan, The First Coming, New York: Random House 1976. Diese Darstellung findet sich in vielen Schriften der liberalen und quasi liberalen Theologie. Siehe beispielsweise Norman Perrin, The Resurrection according to Matthew, Mark, and Luke, Philadelphia: Fortress Press 1977, S. 83. Über die Zeugen der Auferstehungserscheinungen Jesu schreibt der Autor: »Irgendwie wurde ihnen eine Vision Jesu zuteil, die sie überzeugte, Gott habe Jesus aus dem Tod zurückgefordert; deshalb ist der Tod Jesu keineswegs das Ende seines Wirkens auf ihr Leben gewesen.« Hier können wir die Frage nach der Beschaffenheit des Körpers, den Jesus bei der Auferstehung hatte, ausklammern. War der Körper, den er bei der Auferstehung hatte – unabhängig davon, ob es der numerisch identische Leib war wie vor seinem Tod –, ein glorifizierter Leib mit übernatürlichen Kräften? Letzteres dürfte mit historischen Argumenten noch schwerer zu bestätigen sein. (Siehe Robert Cavin, »Is There Sufficient Historical Evidence to Establish the Resurrection of Jesus?«, in: Faith and Philosophy, Juli 1995.)
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des inneren Ansporns des Heiligen Geistes oder dergleichen) wirklich glauben, Jesus Christus sei (im strengen und buchstäblichen Sinn) von den Toten auferstanden? Selbst wenn man sich in der enormen Literatur gut auskennte und meinte, die historischen Belege sprächen in hohem Maße dafür, würde man die These dennoch für ziemlich spekulativ und riskant halten. Ich möchte vermuten, dass die Jünger wahrscheinlich wirklich glaubten, Jesus sei von den Toten auferstanden. Doch wenn man von rein historischen Gründen ausgeht (und die Annahme hinzunimmt, dass es eine Person wie Gott, die sich uns wahrscheinlich offenbart, tatsächlich gibt), ist es erheblich viel weniger wahrscheinlich, dass es sich wirklich so zugetragen hat. Angesichts aller dieser Kontroversen zwischen den Experten sollten wir diese Wahrscheinlichkeit wohl für unerforschlich erklären und sagen, man könne eigentlich keine sichere Angabe dazu machen. Aber auch hier wollen wir großzügig sein und festsetzen, für diese Aussage spreche mehr als dagegen. Um einen konkreten Wert zu nennen, wollen wir sagen: die Wahrscheinlichkeit liege in dem Intervall zwischen 0,6 und 0,8. Als nächstes müssen wir, auf die bisher genannten Aussagen bezogen, feststellen, welches die Wahrscheinlichkeit der folgenden Sachlage ist: W Indem Gott Jesus von den Toten auferstehen ließ, billigte er seine Lehren. Das heißt, wir müssen uns P(W/(H ∧ T ∧ Z ∧ Y ∧ X)) anschauen. Aus X ergibt sich nur, dass Jesus von den Toten auferstanden ist, aber nicht: dass Gott ihn von den Toten hat auferstehen lassen und dadurch seine Lehren gutgeheißen hat. Unter Voraussetzung von T jedoch erscheint es tatsächlich wahrscheinlich, dass Gott es war, der ihn von den Toten hat auferstehen lassen – wie soll es sonst geschehen sein? Dennoch fragt es sich, ob Gott damit zugleich die Lehren Jesu gebilligt hat. Nicht unbedingt – er könnte es auch aus anderen Gründen getan haben.Vielleicht wollte er die Lehren der Pharisäer – im Gegensatz zu den Lehren der Sadduzäer (Matthäus 22, 23) – gutheißen. Oder vielleicht war es eine Belohnung für besondere Frömmigkeit und ein heiliges Leben. Womöglich gab es auch noch einen anderen Grund, von dem wir keine Ahnung haben. Dennoch sollte man diese Wahrscheinlichkeit wohl ziemlich hoch ansetzen, beispielsweise – um einen bestimmten Wert zu nennen – bei 0,9. Aber hier ist noch eine weitere Wahrscheinlichkeit zu bewerten, nämlich: die Wahrscheinlichkeit, dass Gott, indem er Jesus von den Toten auferstehen ließ und seine Lehre billigte, auch deren Extrapolation zu E guthieß, also die extrapolierten Hauptlehrsätze des Christentums. Dementsprechend müssen wir die Wahrscheinlichkeit der folgenden Sachlage beurteilen: V Die Erweiterung und Extrapolation aus den Lehren Jesu zu E ist wahr.
VI Warum notwendig?
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Das heißt, wir müssen uns P(V/(H ∧ T ∧ Z ∧ Y ∧ X ∧ W)) anschauen. Die Fragen, die sich hier stellen, sind komplexer, als es zunächst den Anschein hat. Angenommen, man sei tatsächlich aus rein historischen Gründen davon überzeugt, dass Jesus von den Toten auferstanden ist. Wäre es da nicht ein gewaltiger zusätzlicher Schritt, den Schluss zu ziehen, dass er tatsächlich der alleinige Sohn Gottes war, die zweite Person der Dreifaltigkeit, und dass sein Leiden und sein Tod ein Sühneopfer war, durch das wir zum ewigen Leben kommen? Es ist nicht ohne weiteres zu erkennen, wie sich alle diese Dinge historisch stichhaltig begründen lassen sollen. Eventuell gäbe es folgende Möglichkeit: In Einklang mit dem oben genannten Satz Y ließe sich E auf natürliche Weise aus den Lehren Jesu extrapolieren, bzw. man könnte diese Lehren so erweitern, dass sich E ergibt.Vielleicht ist es auch so, dass Gott diese Erweiterung der Lehren Jesu billigte, indem er ihn von den Toten auferstehen ließ. Aber warum soll man das meinen? Warum soll man glauben, diese Extrapolation (im Gegensatz zu all den anderen Möglichkeiten) liege richtig? Nun, vielleicht hat Jesus ja die (tatsächlich vollzogene) Stiftung einer Kirche beabsichtigt, die seine Lehren interpretieren und bewahren soll. Diese Absicht habe Gott ebenfalls bestätigt. Die seinerzeit gestiftete Kirche bestehe nach wie vor, werde (vielleicht vom Heiligen Geist) vor Irrtümern bewahrt und lehre E. Hier haben wir es eigentlich mit fünf weiteren Aussagen zu tun, die zusammen unser historisches Indizienmaterial für E bilden. Also müssen wir, anstelle von V und bezogen auf H ∧ T ∧ Z ∧ Y ∧ X ∧ W, die Konjunktion der folgenden fünf Aussagen betrachten: (1) Jesus hatte die (in die Tat umgesetzte) Absicht, eine Kirche zu stiften, die seine Lehren interpretieren und bewahren soll. (2) Gott hat diese Absicht bestätigt, indem er ihn von den Toten hat auferstehen lassen. (3) Die von Jesus gestiftete Kirche besteht nach wie vor. (4) Gott hat diese Kirche vor Irrtümern bewahrt. (5) Diese Kirche lehrt E. Im Rahmen unserer jetzigen Ausführungen können wir die Konjunktion der Aussagen (1) bis (5) als V zusammenfassen. Nun geht es uns demnach darum, die Wahrscheinlichkeit der so gedeuteten Aussage V – bezogen auf H ∧ T ∧ Z ∧ Y ∧ X ∧ W – zu bewerten. Offenbar ist es vernünftig, den Wert von P((1) ∧ (2) ∧ (3) ∧ (4)/(H ∧ T ∧ Z ∧ Y ∧ X ∧ W)) sehr hoch anzusetzen.⁶⁹ Aus lauter Großzügigkeit sowie aus
Celsus, ein früher Kritiker des Christentums, schätzte diese Wahrscheinlichkeit anscheinend ziemlich gering ein, jedenfalls nicht viel höher als 0,5 (siehe Origenes, Contra Celsum, 1, 68). Hier wollen wir annehmen, dass sich Celsus geirrt hat.
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Gründen der Einfachheit wollen wir annehmen, die Wahrscheinlichkeit liege bei 1. Doch dann haben wir es immer noch mit (5) zu tun: Welches ist (auf H ∧ T ∧ Z ∧ Y ∧ X ∧ W und die Konjunktion von (1) bis (4) bezogen) die Wahrscheinlichkeit von (5)? Das ist nicht leicht einzuschätzen. Angenommen, es gibt eine Kirche, die Gott vor Irrtümern bewahrt hat, fragt es sich, welche Kirche das ist. Ist es eine Kirche, von der E gelehrt wird? Heutzutage gibt es beispielsweise viele protestantische Hauptrichtungen (sowie einige Geistliche der römisch-katholischen Kirche), von denen E offenbar gar nicht gelehrt wird. Diese Konfessionen und ihre Angehörigen legen ein sehr breites Meinungsspektrum an den Tag, das von extrem liberalen Anschauungen – denen zufolge nur ein sehr geringer Teil des klassischen Christentums tatsächlich wahr (wenn auch vielleicht emotional anregend) ist – bis hin zu einer durch und durch klassischen christlichen Glaubenslehre reicht. Welche dieser Meinungen wollte Christus eigentlich gutheißen? Welche von ihnen entspricht seinen Absichten besonders treu? Handelt es sich um eine Gruppe, die wirklich E lehrt?⁷⁰ Auf rein historischer Basis lässt sich diese Frage nicht ohne weiteres beantworten. Auch hier wollen wir jedoch großzügig sein und die Wahrscheinlichkeit (also P((5)/H ∧ T ∧ Z ∧ Y ∧ X ∧ W)) so festsetzen, dass sie irgendwo in dem Intervall zwischen 0,7 und 0,9 liegt. Das wiederum bedeutet, dass P(V/( H ∧ T ∧ Z ∧ Y ∧ X ∧ W)) im gleichen Intervall liegen wird. Wie bekommen wir nun unter allen diesen Voraussetzungen (und auf H bezogen) einen Wahrscheinlichkeitswert für E? Festzuhalten ist, dass E aus V folgt. Daher müssen wir, um (im Sinne unserer gegenwärtigen Argumentation) die Wahrscheinlichkeit von E bezogen auf H ausfindig zu machen, die Wahrscheinlichkeit von V (bezogen auf H) ermitteln.Wie stellen wir das an? Bisher folgt unsere Argumentation der Strategie, eine Reihe von Aussagen – T und Z bis V – zu finden, die so beschaffen sind, dass die erste mit Bezug auf H wahrscheinlich ist, die zweite mit Bezug auf H zusammen mit der ersten, die dritte mit Bezug auf H zusammen mit der ersten und der zweiten, usw. Ein wenig Arithmetik erlaubt es uns dann, den Schluss zu ziehen, dass
Swinburne schlägt zwei Kriterien vor, um festzustellen, was eigentlich als die Kirche zu gelten habe (Revelation, Kapitel 8): Kontinuität der Zielsetzung und Kontinuität der Organisation. Das erste Kriterium hängt von der Kontinuität der Lehrmeinungen ab. Doch dann müsste man, um es anwenden zu können, schon vorher wissen,welches die Lehren der wahren Kirche sind. Das heißt, wir müssten bereits wissen, was Jesu Kirche nach seinem Willen lehren sollte. Doch dann können wir diesen Test nicht benutzen, um festzustellen, was die Kirche Jesu nach seiner Absicht lehren sollte.
VI Warum notwendig?
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P(V/H) gleich oder größer ist als P(T/H) · P(Z/(H ∧ T)) · P(Y/(H ∧ T ∧ Z)) · P(X/(H ∧ T ∧ Z ∧Y)) · P(W/(H ∧ T ∧ Z ∧ Y ∧ X)) · P(V/(H ∧ T ∧ Z ∧ Y ∧ X ∧ W)). Das »ein wenig Arithmetik« geht wie folgt: Aufgrund von (1) P(Q/R) ≥ P(Q/S ∧ R) · P(S/R) wissen wir, dass (2) P(V/H) ≥ P(V/H ∧ T ∧ Z ∧ Y ∧ X ∧ W) · P(T ∧ Z ∧ Y ∧ X ∧ W/H). Betrachten wir den rechten Multiplikanden. Der Wahrscheinlichkeitsrechnung zufolge gilt: (3) P(Q ∧ R/S) = P(Q/S) · P(R ∧ S). Also: (4) P(T ∧ Z ∧ Y ∧ X ∧ W/H) = P(T ∧ Z ∧ Y ∧ X/H) · P(W/T ∧ Z ∧ Y ∧ X ∧ W ∧ H). Durch Einsetzen in (2) kommen wir zu: (5) P(V/H) ≥ P(V/T ∧ Z ∧ Y ∧ X ∧ W ∧ H) · P(T ∧ Z ∧ Y ∧ X/H) · P(W/T ∧ Z ∧ Y ∧ X ∧ W ∧ H). Aufgrund von (3) wissen wir, dass (6) P(T ∧ Z ∧ Y ∧ X/H) = (P/x/T ∧ Z ∧ Y ∧ H) · P(T ∧ Z ∧ Y/H). Durch Einsetzen in (5) erhalten wir: (7) P(V/H) ≥ P(V/T ∧ Z ∧ Y ∧ X ∧ W ∧ H) · P(X/T ∧ Z ∧ Y ∧ H) · P(T ∧ Z ∧ Y/H) · P(W/Z ∧ Y ∧ X ∧ H). Durch Anwendung von (3), zwei weitere Einsetzungen und Umstellen einiger Ausdrücke erhalten wir: (8) P(V/H) ≥ P(T/H) · P(Z/H ∧ T) · P(Y/H ∧ T ∧ Z) · P(X/H ∧ T ∧ Z ∧ Y) · P(W/H ∧ T ∧ Z ∧ Y ∧ X) · P(V/H ∧ T ∧ Z ∧ Y ∧ X ∧ W), was zu beweisen war. In einigen dieser Fälle sind die Werte keine echten Zahlen, also keine exakten Wahrscheinlichkeiten, sondern Intervalle. Das ist allerdings kein Problem. Da wir
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zum Schluss sowieso die Aussage erhalten, dass P(E/H) gleich oder größer ist als diese oder jene Zahl, gehen wir einfach so vor, dass wir die Untergrenzen der Intervalle benutzen. Nachdem wir unsere Rechnung ausgeführt haben, landen wir im vorliegenden Fall bei der Aussage, dass P(V/H) mindestens 0,21 beträgt. Wenn wir statt der Untergrenzen die mittleren Punkte der zugeordneten Intervalle benutzen, stellen wir fest, dass P(E/H) mindestens 0,35 beträgt. Angenommen, wir bleiben bei den mittleren Punkten (anstatt bei der Untergrenze). Dann dürfen wir aufgrund unserer Argumentation lediglich behaupten, dass die Wahrscheinlichkeit von E bezogen auf H mindestens 0,35 ist. Natürlich wäre es möglich, dass sie höher ausfällt, doch unter Voraussetzung unserer Argumentation können wir mit einiger Sicherheit nicht mehr behaupten, als dass sie gleich oder größer ist als 0,35. Freilich ist es lächerlich, diesen Wahrscheinlichkeiten echte Zahlen zuzuordnen. Hier spielen viele Arten von Vagheit eine Rolle. Aber nicht nur ist es nicht möglich, solchen Wahrscheinlichkeiten sinnvoll echte Zahlen zuzuordnen, sondern es ist offenbar auch falsch, ihnen Intervalle mit exakten Grenzen zuzuordnen. Unsere wirklichen Überlegungen müssen mit einem höheren Maß an Vagheit angestellt werden. Vielleicht können wir im Grunde nicht mehr sagen, als dass diese Wahrscheinlichkeiten hoch oder niedrig sind oder ziemlich nahe bei 0,5 liegen. Dennoch müssen unsere Überlegungen auch dann, wenn sie mit einer gewissen Vagheit angestellt werden, in grober und vager Form den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung gehorchen. Das wiederum ist am ehesten möglich, wenn man Wahrscheinlichkeiten (bzw. Wahrscheinlichkeitsintervalle) zuordnet, die mit den vagen Schätzungen, die wir im Ernst anstellen, in Einklang stehen, um anschließend herauszufinden, welches die Wahrscheinlichkeiten wären, die sich dabei ergäben.Wenn wir im vorliegenden Fall auch so verfahren, also bei unserem Versuch, die Überzeugungskraft eines historischen Arguments für E zu schätzen – mithin eines Arguments, das sich nicht auf den Glauben oder irgendwelche speziellen theologischen Annahmen stützt –, können wir nichts weiter sagen, als dass diese Wahrscheinlichkeit immerhin so hoch ist, dass sie nicht sehr viel weniger wahrscheinlich ist als das Gegenteil. Natürlich könnte man sich über die spezifischen Werte, die ich vorgeschlagen habe, streiten. Aber ich habe versucht, auf Seiten der Großzügigkeit zu irren; und selbst wenn wir etwas höhere Wahrscheinlichkeiten zuordnen würden, fiele das Resultat nicht viel anders aus. Die Schlussfolgerung, die man daraus vermutlich ziehen sollte, ist die: dass H – unser historisches und sonstiges Hintergrundwissen (also ohne das, was wir durch unseren religiösen Glauben oder die Offenbarung erkannt haben) – bei weitem nicht ausreicht, um den ernsthaften Glauben an E zu untermauern. Hätten wir außer H nichts weiter, worauf wir uns stützen können, wäre der Agnostizismus der einzige vernünftige Weg, den man einschlagen könnte: »Ich weiß nicht, ob E
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zutrifft oder nicht. Mit Sicherheit kann ich nichts weiter sagen, als dass E nicht krass unwahrscheinlich ist.« Das Hauptproblem besteht bei einer solchen historischen Argumentation aus meiner Sicht in dem »Prinzip der abnehmenden Wahrscheinlichkeiten«. Damit ist gemeint, dass wir bei einer solchen historischen Argumentation die Zwischenaussagen nicht einfach H hinzufügen können (wie es vielleicht leider von vielen, die nach diesem Muster argumentieren, getan wird). Nein, die relevanten Wahrscheinlichkeiten müssen miteinander multipliziert werden. Das ist der Grund, weshalb ein solcher Plan, wie er vom Zeugnismodell vorgeschlagen wird, nötig ist, damit wir Menschen die Fähigkeit erlangen, die großen Wahrheiten des Evangeliums zu erkennen.
VII Kognitive Erneuerung Nach Jesus Christus selbst gilt: »Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen« (Johannes 3, 3). Und dem Apostel Paulus zufolge – der zwar keine ganz so hohe Autorität, aber auch nicht gerade eine Null ist – wird derjenige, der an Christus glaubt, in Christus zu einer neuen Schöpfung [2. Korinther 5, 17]. Der Gläubige tritt in einen Prozess ein, durch den er regeneriert, transformiert und zu einer neuen und besseren Person gemacht wird. Man könnte sagen: Er erwirbt eine neue und bessere Natur. Diese neue und bessere Natur ist zugleich eine Erneuerung, eine Wiederherstellung der Natur, mit der die Menschheit ursprünglich von der Schöpfung ausgestattet worden war. Die Sünde hat unsere Natur geschädigt. Bei der Regeneration – dem Wirken des Heiligen Geistes – geht es unter anderem darum, diesen Schaden zu beheben und zu reparieren. Die verheerenden Schäden der Sünde sind von zweierlei Art. Erstens gibt es affektive Auswirkungen: Die Sünde löst so etwas wie eine Verrücktheit des Willens aus, durch die wir davon abgehalten werden, Gott mehr denn alles andere zu lieben. Stattdessen lieben wir vor allem uns selbst. Doch zweitens ist der Schaden auch kognitiver Art. Die Sünde führt zu einer Form von Blindheit, Stumpfheit, Dummheit, Wahrnehmungsunfähigkeit, durch die es geschieht, dass wir für Gott blind werden, seine Stimme nicht mehr hören können, seine Schönheit und seine Pracht nicht mehr erkennen und vielleicht sogar so weit gehen, seine Existenz zu bestreiten. Die Regeneration heilt die von der Sünde angerichteten verheerenden Schäden – ansatzweise in diesem Leben, in immer stärker zunehmendem Maße im kommenden Leben. Doch welches sind eigentlich die kognitiven Vorteile der Regeneration? Zunächst einmal ist da die Reparatur des sensus divinitatis, so dass wir Gott wieder sehen und in den Situationen, in denen der Überzeugungen produ-
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zierende Prozess funktionieren soll, von neuem an ihn erinnert werden. Das Wirken des Heiligen Geistes geht aber noch weiter. Es vermittelt uns einen sehr viel klareren Ausblick auf die Schönheit, den Glanz, die Herrlichkeit, die Anziehungskraft und die Pracht Gottes. Es befähigt uns dazu, etwas von der spektakulären Tiefe der Liebe zu erblicken, die in der Fleischwerdung und dem Sühneopfer offenbart wurde. Dementsprechend gewährt es uns auch einen sehr viel klareren Ausblick auf die Abscheulichkeit der Sünde und auf den Grad und das Ausmaß, in dem ich selbst in sie verstrickt bin. Es schenkt mir ein zutreffenderes Bild von meiner eigenen Stellung in der Welt. Vielleicht werde ich aufhören, mich selbst als den Mittelpunkt der Dinge zu sehen bzw. meine Wünsche, Bedürfnisse und Begierden so wahrzunehmen, als wären sie wichtiger und der Erfüllung würdiger als die Wünsche, Bedürfnisse und Begierden jedes anderen. Vielleicht werde ich erkennen, dass ich eines neben den anderen Kindern Gottes bin, die alle von größtem Wert sind – wenn auch äußerst viel weniger wichtig und kostbar als Gott selbst – und alle gleich wichtig und wertvoll. Hinzu kommt ein gewisser reflexiver Vorteil. Ein Teil des hier vorgestellten Modells wird von den Grundzügen des christlichen Glaubens gebildet, und es gehört ebenfalls zu dem Modell, dass die kognitive Regeneration uns die Möglichkeit gibt, diesen Teil des Modells als wirklich wahr zu erkennen. Einige dieser kognitiven Vorteile resümiert Johannes Calvin in seiner berühmten Brillenmetapher: Denn so wie alte Leute, Schwachsichtige und Augenkranke, wenn man ihnen auch den schönsten Band vor die Augen hält, zwar merken, daß da etwas geschrieben steht, aber kaum zwei Worte zusammensetzen können, dann aber mit Hilfe einer Brille deutlich zu lesen anfangen – so bringt die Schrift unser sonst so verworrenes Wissen um Gott in die richtige Ordnung, zerstreut das Dunkel und zeigt uns deutlich den wahren Gott. (20)
Hier deutet Calvin an, dass das, was wir aus der Bibel und durch unseren Glauben lernen, sammelt, fokussiert und klärt, was wir durch den sensus divinitatis erfahren, so dass wir die Fähigkeit erhalten, Gott und seine Liebe, seine Herrlichkeit, seine Schönheit und so fort mit sehr viel höherer Auflösung zu sehen. Dem hätte er hinzufügen können, dass wir dadurch auch unsere eigene Welt klarer in den Blick bekommen. Jetzt erkennen wir, was das Wichtigste an der ganzen Ausstattung des Himmels und der Erde ist, nämlich: dass sie von Gott erschaffen wurde. Sofern wir darüber nachdenken, können wir sogar erkennen, was das Wichtigste an den Zahlen, Propositionen, Eigenschaften, Sachverhalten und möglichen Welten ist, nämlich: dass sie eigentlich göttliche Gedanken oder Begriffe sind.⁷¹
Siehe Thomas Morris u. Christopher Menzel, »Absolute Creation«, in: American Philosophical
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Hinzu kommt, dass wir auf diesem Weg die Möglichkeit bekommen zu erkennen, was das Wichtigste an uns selbst ist, wodurch der Bezwinger, der die Achillesferse des Naturalismus darstellt, beseitigt wird. Wie wir im 7. Kapitel gesehen haben, besteht eine der am weitesten reichenden noetischen Auswirkungen der Sünde darin, dass sie den Glauben bezüglich unseres Ursprungs und des Ursprungs unserer kognitiven Systeme verzerrt. Sie hält uns davon ab, zu sehen, dass wir die Geschöpfe eines gerechten und liebevollen Gottes sind, der uns nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Womöglich kommen wir stattdessen zu der Auffassung, Gott sei kein guter und liebender Vater, sondern schrecklich und furchtbar, distanziert und weit entfernt, gleichgültig gegenüber uns und unserem Wohlergehen. So gelangen wir vielleicht dahin, uns eine Spielart des schnörkellosen Theismus oder sogar des Agnostizismus oder des Naturalismus zu eigen zu machen. Wie wir im 7. Kapitel gesehen haben, ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass unsere kognitiven Fähigkeiten unter Voraussetzung einer dieser Auffassungen von Gott zuverlässig sind, gering oder unerforschlich. Nun wollen wir jemanden betrachten, der eine dieser Auffassungen akzeptiert und die epistemische Beziehung zwischen dieser Auffassung und Z sieht (Z ist hier die Aussage, dass seine kognitiven Fähigkeiten zuverlässig sind). Eine solche Person verfügt über einen Bezwinger von Z – einen Bezwinger, der seinerseits nicht bezwungen werden kann. Das wiederum bedeutet, dass der Betreffende an einem weiteren noetischen Mangel leidet: Er verfügt über einen Bezwinger jeder seiner eigenen Überzeugungen und befindet sich damit in einer irrationalen Lage. Aber der durch das Tun des Heiligen Geistes ausgelöste Prozess der Wiederherstellung und Heilung wirkt zugleich dieser noetischen Auswirkung der Sünde entgegen. Er versetzt uns von neuem in eine Position, aus der wir sehen, dass wir Gott zum Ebenbilde geschaffen wurden, und damit beseitigt er auch den genannten Bezwinger. Ein populärer Einwand gegen das evolutionäre Argument gegen den Naturalismus hat die Form tu quoque – kurz: »Auch du, mein Freund!« Die vielleicht schärfste Lesart dieses Einwands stammt von Keith Lehrer. Betrachten wir den Theismus (»T«), und zwar nicht den schnörkellosen Theismus, sondern den Theismus als solchen, einschließlich der Aussage, dass wir und unsere kognitiven Fähigkeiten von einem gerechten und liebevollen Gott nach seinem Ebenbild geschaffen wurden. Wie hoch ist P(Z/T)? Vielleicht nicht so hoch, wie man denkt. Der Umstand, dass Gott gerecht und liebevoll ist, steht allen Übeln, die wir Menschen geerbt haben – Krieg, Grausamkeit, Hunger, Erdbeben, Überschwemmungen, Feuersbrunst und Pest –, nicht im Wege. Zugegeben,
Quarterly (Oktober 1986), und Christopher Menzel, »Theism, Platonism, and the Metaphysics of Mathematics«, in: Michael Beaty (Hg.), Christian Theism and the Problems of Philosophy, Notre Dame: University of Notre Dame Press 1990. Dieser »theistische Konzeptualismus« ist zwar strittig, aber gewiss die Mehrheitsmeinung in der Tradition jener Theisten, die darüber nachgedacht haben.
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Gott hat seine eigenen guten Gründe dafür, diese Dinge zuzulassen. Dennoch kommen sie tatsächlich vor und sind somit offenbar vereinbar mit dem Umstand, dass wir von einem gerechten und liebevollen Vater geschaffen wurden. Also selbst wenn Gott die Menschheit geschaffen hat, könnte er es aus Gründen, die er selbst gutheißt, zulassen, dass wir an kognitiven Fehlfunktionen, kognitiven Krankheiten oder Störungen leiden. Solche kognitiven Störungen wiederum könnten die Zuverlässigkeit unserer kognitiven Vermögen beeinträchtigen. Auch wenn Gott allgütig ist, hat er es dem Satan – vielleicht – erlaubt, überall natürliches Übel in die Welt einzuschleusen. Aber könnte es dann nicht auch sein, dass er es dem Satan (diesem Vater der Lügen) gestattet, weitverbreitete Irrtümer in die Welt einzuführen? (Ja, hat er nicht genau das bereits getan, indem er den Sündenfall gestattet hat?) Diesen Gedanken entfaltet Lehrer wie folgt: Vergleichen wir abschließend die Aussage (S) Satan und seine Scharen stiften unglaubliche Täuschungen und Irrtümer mit der Aussage (E) Evolutionäre Vorgänge stiften unglaubliche Täuschungen und Irrtümer. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten sehe ich keinen großen Unterschied. Ein Naturalist, der der Konklusion, das angemessene Funktionieren unserer Vermögen resultiere in Wahrheit, da sie das Ergebnis der Evolution seien, eine hohe Wahrscheinlichkeit zuschreiben möchte, muss E eine geringe Wahrscheinlichkeit zuordnen, während ein Verfechter des Übernatürlichen, der der Konklusion, das richtige Funktionieren unserer Vermögen resultiere in Wahrheit, da sie von Gott entworfen wurden, eine hohe Wahrscheinlichkeit zuschreiben möchte, S eine geringe Wahrscheinlichkeit zuordnen muss.⁷² Und tatsächlich ist nach christlicher Auffassung natürlich genau dies oder etwas Ähnliches geschehen: Gott hat den Sündenfall mitsamt den damit einhergehenden noetischen Auswirkungen zugelassen. Wie hoch ist also P(Z/T)? Müssten wir nicht sagen, der Wert sei niedrig oder zumindest unerforschlich – genauso wie P(Z/N ∧ E)? Begibt sich der Theist also nicht in die gleiche Lage wie der Naturalist, so dass er für jede seiner Überzeugungen einen Bezwinger hat? Wird er nicht in demselben havarierten epistemischen Boot sitzen? Das ist ein beeindruckender Einwand. Aber es gibt auch eine Erwiderung.⁷³ Der Christ akzeptiert nämlich nicht bloß den Theismus, sondern auch die übrige christliche Geschichte einschließlich des Sündenfalls (mitsamt der Zerstörung des Gottesbilds), der Erlösung, der Erneuerung und der darauf folgenden Reparatur und Wiederherstellung dieses Bilds. Der Christ glaubt, er habe diese Wahrheiten mit Hilfe der göttlichen Offenbarung erkannt. Aber außerdem meint er die Wahrheit des Theismus mit Hilfe der göttlichen Offenbarung erkannt zu haben. Ebendadurch wird er (oder vielmehr Z) vor der Bezwingung bewahrt. Betrachten wir einen analogen Fall und nehmen wir an, man sagt mir: (1) Herbert ist ein überaus wohlhabender Exzentriker, der gern abgetragene alte Kleider aus dem Heilsarmeeladen trägt.
Keith Lehrer, »Proper Function vs. Systematic Coherence«, in: Jonathan Kvanvig, Warrant in Contemporary Epistemology: Essays in Honor of Plantinga’s Theory of Knowledge, Lanham, Md.: Rowman and Littlefield 1996, S. 29 – 30. Siehe meine Erwiderung »Respondeo«, in: Warrant in Contemporary Epistemology, S. 333 – 338.
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Nun handele ich nach dem Prinzip, dass es stets hilfreich ist, sich neue Überzeugungen anzueignen, und folgere: (2) Herbert trägt abgetragene alte Kleider. Außerdem glaube ich seit geraumer Zeit: (3) Herbert ist Millionär. Doch jetzt stelle ich fest, dass P((3)/(2)) niedrig ist, denn die meisten Personen, die abgetragene Kleider tragen, sind keine Millionäre. In ziemlicher Verwirrung schließe ich nun, dass (2) für mich ein Bezwinger von (3) ist, und bemühe mich hinfort, (3) nicht zu glauben. Mein Irrtum liegt auf der Hand: In Wirklichkeit ist (2) für mich gar kein Bezwinger von (3). Wieso nicht? Nun, um nur einen Grund zu nennen: Weil ich einsehe, dass die Gewähr, die (2) für mich hat, aus der Gewähr abgeleitet ist, die (1) für mich hat, und weil (1) aus meiner Sicht offenkundig kein Bezwinger von (3) ist. Das bedeutet jedoch, dass (2) kein Bezwinger von (3) ist. Wer sich gern auf ein Prinzip beruft, mag es mit dem folgenden Satz versuchen: (4) Sofern (i) S glaubt, dass A, B und C, und (ii) sofern S ferner glaubt, dass die Gewähr, die B aus seiner Sicht hat, aus der Gewähr abgeleitet ist, die A für S hat, und (iii) sofern S überdies glaubt, dass A aus seiner Sicht kein Bezwinger von C ist, dann ist B für S kein Bezwinger von C.⁷⁴ Durch dieses Prinzip wird, wie gesagt, Z aus der Sicht des christlichen Theisten vor der Bezwingung bewahrt (und damit wird zugleich das evolutionäre Argument gegen den Naturalismus davor bewahrt, durch das oben genannte Tu-quoque-Argument bezwungen zu werden). Der christliche Theist glaubt nämlich, dass die gesamte christliche Geschichte zu seinem Wissen gehört bzw. dass diese Geschichte zumindest in ziemlich hohem Maße für ihn gewährleistet ist. Der Theismus bildet einen Bestandteil dieser Geschichte; und die Gewähr, die der Theismus für den Christen hat, leitet sich aus der Gewähr her, welche die gesamte christliche Geschichte aus seiner Sicht hat. Also wird der Theismus aufgrund von (4) für ihn kein Bezwinger von Z sein – es sei denn, die gesamte christliche Geschichte ist ein solcher Bezwinger. Das ist aber nicht der Fall. Deshalb ist der Theismus aus der Sicht des Christen kein Bezwinger von Z, und damit fällt der Einwand in sich zusammen.
Um die wesentlichen Merkmale des Modells nochmals aufzuzählen: Erstens ist der in Einklang mit Gottes biblischer Lehre wirkende innere Ansporn des Heiligen Geistes ein kognitiver Prozess bzw. ein Überzeugungen hervorbringender Mechanismus, der in uns die den Glauben konstituierenden Überzeugungen sowie eine Fülle sonstiger Überzeugungen produziert. Diese Überzeugungen werden dem Glaubenden natürlich wahr erscheinen – das gehört mit zu dem, was es heißt,
Hier muss »ableiten aus« in engem Sinn gedeutet werden, so dass der paradigmatische (ebenso wie der oben angeführte) Fall von »Die Gewähr dafür, dass sich p aus meiner Sicht aus der Gewähr für q ableitet« derart ist, dass ich p (explizit oder implizit) aus q erschließe. Tatsächlich lässt sich (4) stärker formulieren, indem man das Antezedens in dieser oder jener Weise abschwächt.
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dass es sich um Überzeugungen handelt. Außerdem werden sie die inneren Merkmale des Glaubens (der Überzeugung) aufweisen, insofern sie – in mehr oder weniger hohem Grade – wahr erscheinen. Zweitens werden diese Überzeugungen dem Modell zufolge gerechtfertigt sein und darüber hinaus mindestens zwei weitere Vorzüge aufweisen: Einerseits sind sie intern rational, was bedeutet, dass die Reaktion des Glaubenden auf seine Erfahrung (unter Voraussetzung vorgängiger Überzeugungen) in dem von der Rationalität – d. h., durch das richtige Funktionieren – erlaubten Bereich bleibt und keinerlei pathologische Züge trägt. Andererseits werden die betreffenden Überzeugungen gewährleistet sein: Sie werden von kognitiven Prozessen hervorgebracht, die in einer geeigneten Umgebung nach einem erfolgreich auf die Erzeugung wahrer Überzeugungen abzielenden Bauplan richtig funktionieren. Freilich ähnelt der betreffende Prozess nicht den gewöhnlichen Überzeugungen produzierenden Mechanismen, über die wir schon allein aufgrund der Schöpfung verfügen, sondern es wird sich um ein spezielles Wirken des Heiligen Geistes handeln. Denken wir an die folgende Äußerung von Humes sarkastischem Spott: So dürfen wir alles im allem schließen, daß die christliche Religion nicht nur im Anfange von Wundern begleitet war, sondern noch heutigen Tages von keinem verständigen Menschen ohne die Annahme eines solchen geglaubt werden kann. […] Wen der Glaube (faith) bewegt, ihr zuzustimmen, der ist sich eines fortgesetzten Wunders in seiner eigenen Person bewußt, das alle Prinzipien seines Verstandes umkehrt und ihn bestimmt, das zu glauben, was dem Gewohnten und der Erfahrung am meisten widerstreitet.⁷⁵
Dem Zeugnismodell zufolge hat Hume (wenn man von seinem Sarkasmus absieht) teilweise recht, denn der Glaube an die Grundzüge des Evangeliums wird bei Christen nicht durch die Überzeugungen produzierenden Vermögen und Prozesse, mit denen wir ursprünglich von der Schöpfung ausgestattet wurden, hervorgebracht, sondern durch ein spezielles Wirken des Heiligen Geistes. Außerdem widerstreiten einige der christlichen Glaubenssätze (wie z. B.: dass ein Mensch starb und dann von den Toten auferstand) dem Gewohnten und der Erfahrung. Dergleichen geschieht nur selten. Daraus folgt natürlich nicht (wie Hume suggeriert), dass an diesem Glauben irgendetwas Irrationales oder Vernunftwidriges ist, sofern der innere Ansporn des Heiligen Geistes gegeben ist. Für dieses Modell nehme ich in Anspruch, dass es keine erfolgreichen philosophischen Einwände gegen es gibt. (Im 10. Kapitel werde ich auf einige Einwände eingehen.) Was philosophische Überlegungen anlangt, kann dieses Mo-
Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Abschnitt X, 2. Teil, übers. von Raoul Richter, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2007, S. 167.
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dell – oder ein ganz ähnliches – schlicht und einfach der Wahrheit entsprechen, sofern der christliche Glaube zutrifft. Natürlich kann es philosophische Einwände gegen die Wahrheit des christlichen Glaubens selbst geben, und einige dieser Einwände werde ich im IV. Teil unter der Rubrik »Bezwinger« betrachten. Jetzt geht es jedoch darum, dass der christliche Glaube, sofern er wahr ist, durchaus in der hier vorgeschlagenen Weise gewährleistet sein kann. Falls es (meiner These entsprechend) unter Voraussetzung der Wahrheit des christlichen Glaubens keine triftigen philosophischen Einwände gegen das Modell gibt, wird jeder erfolgreiche Einwand gegen das Modell auch ein erfolgreicher Einwand gegen die Wahrheit des christlichen Glaubens sein müssen. Wir können noch einen Schritt weiter gehen: Ist der christliche Glaube wahr, ist er höchstwahrscheinlich auch gewährleistet – wenn nicht in der von dem erweiterten A/C-Modell vorgeschlagenen Form, dann in einer anderen, aber ganz ähnlichen Form. Denn wenn dieser Glaube zutrifft, gibt es wirklich eine Person wie Gott, der uns nach seinem Ebenbild geschaffen hat; wir sind wirklich der Sünde anheimgefallen und müssen gerettet werden; und die Mittel zu einer solchen Wiederherstellung und Erneuerung sind wirklich durch die Fleischwerdung, das Leiden, den Tod und die Auferstehung Jesu Christi, der zweiten Person der Dreifaltigkeit, bereitgestellt worden. Außerdem führt der Weg zu dieser Erneuerung typischerweise über den religiösen Glauben, der natürlich voraussetzt, dass man an die genannten Dinge – also die großen Dinge des Evangeliums – wirklich glaubt. Doch wenn es sich so verhält, dürfte Gott beabsichtigen, dass wir die Fähigkeit haben, uns dieser Wahrheiten bewusst zu sein. Und wenn das wiederum zutrifft, ist es naheliegend zu denken, dass es ganz im Sinne des Planers und seines Projekts ist, wenn die kognitiven Prozesse den Glauben an die Hauptelemente des christlichen Glaubens wirklich hervorbringen. Aber wenn es sich so verhält, haben diese Überzeugungen auch Gewähr. Ein Leser der Arbeit von Gettier⁷⁶ könnte nun einwenden: »Besteht nicht folgende Möglichkeit? Gott hat durch seine Schöpfung in uns einen bestimmten Prozess p angelegt, durch den wir die großen Dinge des Evangeliums erkennen sollen. Dieser Prozess p läuft jedoch normalerweise schief und produziert gar keine Überzeugungen, während ein anderer Prozess p* ebenfalls (und durch einen glücklichen Zufall) in genau der Weise schlecht funktioniert, dass in uns ebenjene Überzeugungen hervorgebracht werden, die p erzeugt hätte, wenn der Prozess nicht so schlecht funktioniert hätte. In diesem Fall wäre die christliche Geschichte zwar wahr, aber der christliche Glaube wäre nicht gewährleistet.« Zweifellos liegt dieses Szenario im Bereich des Möglichen, auch wenn es ein wenig weithergeholt
Siehe WPF, S. 32 ff.
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wirkt. Aber selbst wenn es sich wirklich so verhielte, würde daraus nicht folgen, dass der so hervorgebrachte christliche Glaube keine Gewähr hat. Auch wenn der christliche Glaube (unwahrscheinlicherweise) durch einen ursprünglich für einen anderen Zweck geplanten Prozess p* hervorgebracht werden würde, so würde daraus nicht folgen, dass der christliche Glaube nicht gewährleistet wäre. Denn vielleicht hat Gott ja den Prozess p* und dessen neue Wirkungsweise als Teil des Bauplans für die Menschen übernommen. Dann würde es sich wieder so verhalten, dass der christliche Glaube gewährleistet wäre, wenn auch auf einem Umweg. Abschließend möchte ich fragen, wie sich mein im vorliegenden Buch geschildertes Projekt zu dem Projekt von William Alston verhält, das er in seinem richtungweisenden Buch Perceiving God darstellt.⁷⁷ Es gibt zahlreiche Ähnlichkeiten und Überschneidungen, aber auch wichtige Unterschiede. Die Hauptthese von Alstons Buch lautet: »Das Erfahrungsbewusstsein von Gott bzw. (wie ich es ausdrücken werde) die Wahrnehmung Gottes leistet einen wichtigen Beitrag zu den Gründen des religiösen Glaubens« (S. 1). Die religiösen Überzeugungen, um die es geht, sind von zweierlei Art, nämlich »Überzeugungen, die darauf hinauslaufen, dass Gott im Hinblick auf das Subjekt gerade etwas tut – dass er es tröstet, stärkt, leitet […] –, oder darauf, dass Gott eine (unterstelltermaßen) wahrnehmbare Eigenschaft hat: Güte, Macht, Liebe« (ebd.).Welchen Beitrag leistet nun das Erfahrungsbewusstsein von Gott zu den Gründen derartiger Überzeugungen? »Spezifischer ausgedrückt: Die Überzeugungen einer Person, die im Hinblick auf Gott bestimmte Dinge glaubt, lassen sich dadurch rechtfertigen, dass diese Person Gott als ein Wesen wahrnimmt, das so oder so beschaffen ist bzw. dies oder jenes tut« (ebd.). Alstons Hauptthese dürfte die sein, dass dieses Erfahrungsbewusstsein von Gott (d. h. das, was dem Subjekt als Erfahrungsbewusstsein von Gott erscheint) es dem Glaubenden ermöglicht, sich im Rahmen der relevanten doxastischen Praktiken praktisch rational zu verhalten, so dass es auch praktisch rational ist, wenn er diese Praktiken als Quelle epistemischer Rechtfertigung auffasst. (Siehe oben, Kapitel 4, wo ich mein Urteil über den Erfolg dieses Anspruchs begründe.) Mein Projekt unterscheidet sich hiervon in drei Hinsichten: Erstens geht es mir in erster Linie nicht um Überzeugungen der beiden von Alston genannten Arten, sondern um die Hauptthesen – die zentralen Überzeugungen – des christlichen Bekenntnisses. Ich konzentriere meine Aufmerksamkeit nicht ausschließlich auf Überzeugungen, die Gottes (mutmaßlich) wahrnehmbaren Eigenschaften oder seine gegenwärtigen Handlungen im Hinblick auf den Glaubenden betreffen. Mir geht es vielmehr darum, den epistemischen Status der großen Dinge des Evangeliums zu untersuchen, nämlich: dass Jesus Christus die zweite Person der Dreifaltigkeit ist, dass er Fleisch wurde, litt, starb und von den Toten auferstand, und dass er uns Menschen, indem er für unsere Sünden büßte, die Möglichkeit gegeben hat, zu Gott in ein rechtes Verhältnis zu gelangen. Zweitens ist die epistemische Eigenschaft, die mich am meisten interessiert, weder die deontologisch noch die im Stil Alstons aufgefasste Rechtfertigung, sondern die Gewährleistung: Hat der christliche Glaube faktisch oder der Möglichkeit nach jene Eigenschaft, die, sofern sie in ausreichender Menge gegeben ist, Erkenntnis konstituiert? Drittens mache ich nicht geltend, dass diese christlichen Überzeugungen durch Wahrnehmung oder Erfahrungsbewusstsein von Gott
Alston, Perceiving God, Ithaca, NY: Cornell University Press 1991. Die Seitenverweise beziehen sich auf dieses Buch (vgl. oben, Kapitel 5).
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bzw. von seiner Gegenwart oder seinen Eigenschaften gewährleistet werden oder gewährleistet werden können, sondern meines Erachtens geschieht das durch den Glauben. Ein an Alston orientiertes Projekt, das meinem eigenen nahekäme, wäre derart, dass es die folgenden Thesen zu erhärten versuchen würde: Es wäre möglich, die von Alston genannten Überzeugungen – nämlich dass Gott gewisse wahrnehmbare Eigenschaften hat und im Hinblick auf den Glaubenden in bestimmter Weise handelt – durch die Wahrnehmung zu gewährleisten (es gebe nämlich keine erfolgreichen philosophischen Einwände dagegen), und es wäre die aus christlicher Perspektive befriedigendste Deutung ihrer Gewährleistung, wenn man dazu auf die Wahrnehmung Gottes und seiner Eigenschaften abheben könnte, so dass gilt: Ist der christliche Glaube wirklich wahr, sind diese Überzeugungen wahrscheinlich auf die eben genannte Art und Weise gewährleistet. Wie steht es mit diesen Vorschlägen? Zunächst einmal hat Alston in adäquater (ja mehr als adäquater) Weise die wichtigsten philosophischen Einwände widerlegt, die gegen den Gedanken erhoben worden sind, wir Menschen seien dazu imstande, Gott wahrzunehmen und außerdem wahrzunehmen, dass er freundlich, herrlich, mächtig, prächtig, liebevoll usw. ist. In dieser Hinsicht steht Alston Jonathan Edwards nahe, den man (wie ich oben ausgeführt habe) am besten als einen Vertreter der These interpretiert, dass wir Gott und die genannten Eigenschaften Gottes nicht nur wahrnehmen können, sondern tatsächlich wahrnehmen. Hierzu möchte ich nur eines anmerken: Es steht ohne Zweifel fest, dass manche Menschen Gott – und Gott als Träger dieser Eigenschaften – zu erleben scheinen. Für viele hat es wirklich den Anschein, als sei Gott ihrem Bewusstsein ungefähr in der gleichen Weise gegenwärtig, in der irgendein sonstiges wahrnehmbares Objekt meinem Bewusstsein gegenwärtig sein kann. Ebenso klar ist, dass viele den Eindruck haben, Gott als Träger der betreffenden Eigenschaften zu erleben. Aber handelt es sich hier wirklich um Fälle, in denen man etwas wahrzunehmen scheint? Einerseits unterscheiden sich diese Fälle in mehreren hervorstechenden Hinsichten von paradigmatischen Beispielen für Wahrnehmung, etwa die Wahrnehmung von Bäumen, Pferden, anderen Personen. Insbesondere ist die Phänomenologie eine ganz andere. (Freilich gibt es auch phänomenologische Unterschiede zwischen den verschiedenen sinnlichen Wahrnehmungsmodalitäten selbst.) Andererseits besteht die entscheidend wichtige Ähnlichkeit, dass man in diesem Fall ebenso wie in den paradigmatischen Fällen der Sinneswahrnehmung das Gefühl hat, in der Gegenwart des betreffenden Gegenstands zu sein, und den starken Eindruck gewinnt, dass dieser Gegenstand dem eigenen Bewusstsein präsent ist bzw. präsentiert wird. Darauf ist meines Erachtens zu erwidern, dass diese Fälle von mutmaßlicher Gotteswahrnehmung derart sind, dass das Wort »Wahrnehmung« entweder ganz direkt oder im Sinne einer engen Analogie auf sie angewandt wird. Welche der beiden Möglichkeiten ist zutreffend? Vielleicht ist das keine sonderlich wichtige Frage. Handelt es sich nicht wirklich um Wahrnehmung, so doch um etwas eng und durch Analogie Verwandtes, und zwar um etwas, was (sofern die Dinge wirklich so liegen, wie sie dem Glaubenden erscheinen) in solcher Weise damit verwandt ist, dass es ebenfalls ohne weiteres eine Quelle gewährleisteter Überzeugungen sein kann. Ich stehe diesem an Alston gemahnenden Projekt also mit sehr viel Sympathie gegenüber und wäre durchaus bereit, es gutzuheißen. Außerdem habe ich, obwohl mir Alstons Begriff der praktischen Rationalität nicht völlig klar ist (siehe oben, S. 142 ff.), den Eindruck, dass dieser Begriff meiner eigenen Vorstellung von interner Rationalität ziemlich nahekommt. Daher würde ich Alston darin beipflichten, dass dem christlichen Glauben wirklich diese Spielarten des positiven epistemischen Status zukommen. Mein Projekt unterscheidet sich demnach insofern von dem Unterfangen Alstons, als es mir nicht bloß um die von der Wahrnehmung (bzw. der »Wahrnehmung«) herrührenden Überzeugungen geht, von denen bei Alston die Rede ist. Ich bestreite, soweit ich weiß, keine Behauptung Alstons, wenn ich außerdem Zweifel daran anmelde, dass die in seinem Sinne gedeutete Got-
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teswahrnehmung den Hauptweg darstellt, auf dem man zur Bildung christlicher Überzeugungen gelangt. Erstens sind es, wie Alston selbst sagt, nur die glücklichen Wenigen, die Gott mit einer gewissen Regelmäßigkeit wahrnehmen.⁷⁸ Zweitens scheinen jene Überzeugungen, die mir besonders am Herzen liegen, im Regelfall nicht auf dem Weg der Wahrnehmung zu den betreffenden Gläubigen zu gelangen. So verhält es sich sogar dann, wenn die fraglichen Situationen keine gewöhnlichen Anlässe zur Bildung und Stützung christlicher Überzeugungen sind. Denken wir etwa an das folgende berühmte Erlebnis von John Wesley: Am Abend begab ich mich äußerst widerwillig zu einer Gesellschaft in der Aldersgate Street, in deren Rahmen Luthers Vorwort zum Römerbrief gelesen wurde. Es war ungefähr viertel vor neun – gerade an der Stelle, an der er den Wandel beschreibt, den Gott durch den Glauben an Christus in unseren Herzen bewirkt –, als ich spürte, wie mein Herz auf sonderbare Weise erwärmt wurde. Ich fühlte, dass ich wirklich auf Christus – und nur auf Christus – vertraute und von ihm die Rettung erwartete. Und dabei wurde mir die Versicherung zuteil, dass er meine Sünden – ja, sogar meine Sünden – fortgenommen und mich vor dem Gesetz der Sünde und des Todes gerettet hatte.⁷⁹ Was Wesley hier zu glauben – bzw. mit mehr Tiefe zu glauben – beginnt, ist genau das gleiche, was der Heidelberger Katechismus als Inhalt des wahren Glaubens ansieht, nämlich: dass der göttliche Rettungsplan für den Betreffenden ganz persönlich gilt. Soweit man es beurteilen kann, ging es bei Wesley jedoch nicht um eine Wahrnehmung Gottes. Das Erlebnis hat zwar eine sinnlich-phänomenologische Seite (»Ich spürte, wie mein Herz auf sonderbare Weise erwärmt wurde«), und es handelt sich um eine häufig festgestellte Form von Phänomenologie, die jedoch offenbar nichts mit Wahrnehmung zu tun hat. Im Grunde ist es gar nicht klar, dass es überhaupt möglich ist, beispielsweise wahrzunehmen, dass Christus meine Sünden fortgenommen hat, dass er die fleischgewordene zweite Person der Dreifaltigkeit ist, oder dass er gelitten hat und gestorben ist und uns auf diese Weise die Möglichkeit zum Leben gegeben hat. Denken wir etwa an die Vision des Apostels Paulus auf der Straße nach Damaskus. Zweifellos hat er damals wirklich Jesus wahrgenommen, und außerdem hat er wahrgenommen, dass Jesus wirklich von sich behauptete, Christus zu sein. Es ist also gewiss möglich, Jesus Christus wahrzunehmen und wahrzunehmen, dass er sagt, er sei Christus. Dennoch fragt es sich: Können wir wirklich wahrnehmen, dass Jesus tatsächlich Christus ist? Dass er wirklich die zweite Person der Dreifaltigkeit ist? Ich bin geneigt, das zu bezweifeln. Und in den normaleren Fällen, in denen der Glaube an die großen Dinge des Evangeliums durch den Glauben (d. h., durch die Schrift bzw. den inneren Ansporn des Heiligen Geistes) kommt, ist es offenbar sogar noch weniger angemessen, sie als Fälle von Wahrnehmung zu begreifen. Demnach gibt es tatsächlich so etwas wie die Wahrnehmung Gottes, und außerdem spielt die Wahrnehmung Gottes im religiösen und spirituellen Leben vieler Christen eine wichtige Rolle, insbesondere im Leben von Christen, die mit erheblichen Fortschritten auf dem Weg des spirituellen Lebens gesegnet wurden. Man könnte auch im Anschluss an Edwards meinen, dass die Wahrnehmung Gottes – die Wahrnehmung, dass er schön, freundlich, heilig, prächtig usw. ist – ein wesentliches Element des voll entfalteten, abgerundeten christlichen Lebens bildet. Außerdem bin ich auch meinerseits der Meinung, dass diese Wahrnehmungsüberzeugungen gewährleistet
»Das Wahrnehmungsbewusstsein von Gott ist ein seltenes Phänomen, wenn man von einigen sehr vereinzelten Seelen absieht« (Perceiving God, S. 36). John Wesley, hg. von Albert Outler, New York: Oxford University Press 1964, S. 66.
VII Kognitive Erneuerung
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sein können. Die christlichen Hauptüberzeugungen jedoch sind keine Wahrnehmungsüberzeugungen; sie stellen sich nicht auf dem Wege der Gotteswahrnehmung, sondern auf dem Wege des Glaubens ein. Die Gewähr, die diesen Überzeugungen zukommt, ist keine Gewähr durch Wahrnehmung, sondern eine Gewähr durch den Glauben. Summa summarum: Die Gotteswahrnehmung ist zwar ein wichtiger Teil des reifen christlichen Lebens, doch der Zustand der Reife im christlichen Leben wird von den meisten von uns nicht erreicht; und selbst für die wenigen Glücklichen, die wirklich bis zu diesem Zustand der Reife voranschreiten, gilt, dass die Gewähr, die ihren christlichen Hauptüberzeugungen zukommt, nicht auf dem Weg der Wahrnehmung erreicht wird. Aus meiner Sicht deckt Alstons Projekt daher nur einen Teil des relevanten erkenntnistheoretischen Terrains ab – einen wichtigen Teil zwar, aber eben nur einen Teil, und zwar nicht den Teil, durch den die zentralen Glaubenssätze des christlichen Bekenntnisses Gewähr erhalten.
9 Das Zeugnis-Modell: In unserem Herzen versiegelt Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft. Jesus Christus [Lukas 10, 27] Und wenn ich die Gabe prophetischer Rede habe und alle Geheimnisse kenne und alle Erkenntnis besitze und wenn ich allen Glauben habe, Berge zu versetzen, aber keine Liebe habe, so bin ich nichts. Paulus [1. Korinther 13,2] Wer keine Gefühle, sondern nur die Lehre und die Theorie kennt, der meint es nicht wirklich ernst mit der Religion. Jonathan Edwards
I Glaube und Gefühl Im 8. Kapitel habe ich ein Modell vorgeschlagen, das zeigen soll, inwiefern der christliche Glaube gewährleistet sein kann. Diesem Modell zufolge wird der christliche Glaube im Gläubigen durch den inneren Ansporn des Heiligen Geistes hervorgebracht, der die – ihrerseits vom Heiligen Geist göttlich inspirierten – Lehren der Bibel bekräftigt. Das Ergebnis des Wirkens des Heiligen Geistes ist der Glaube, der nach Johannes Calvin und unserem Modell nichts anderes ist als »die feste und gewisse Erkenntnis des göttlichen Wohlwollens gegen uns, die sich auf die Wahrheit der in Christus uns dargebotenen Gnadenverheißung stützt und durch den Heiligen Geist unserem Verstand geoffenbart und in unserem Herzen versiegelt wird«. Dem Modell zufolge sind diese Überzeugungen gerechtfertigt, rational und gewährleistet. Daher können wir mit Calvin sagen, dass sie »unserem Verstand geoffenbart« sind. Es kommt jedoch noch etwas hinzu, denn sie sind außerdem »in unserem Herzen versiegelt«. Was kann dieser letztere Punkt bedeuten? Und welche Rolle spielt er in unserem Modell? Was brauchen wir noch, wenn diese Wahrheiten erst einmal unserem Verstand offenbart sind? Warum müssen sie außerdem in unserem Herzen versiegelt sein? Um darauf zu antworten, wollen wir die Frage aufwerfen, ob es möglich ist, die betreffenden Ansichten für wahr zu halten und dennoch keinen religiösen Glauben zu haben. Die traditionelle christliche Antwort lautet: »Ja, das ist möglich, denn die Dämonen glauben, doch
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sie schaudern« (Jakobus 2, 19).¹ Die Dämonen haben aber keinen religiösen Glauben. Worin liegt also der Unterschied? Welches zusätzliche Element kommt beim religiösen Glauben zum bloßen Glauben – zur bloßen Überzeugung – hinzu? Was unterscheidet den gläubigen Christen von den Dämonen? Dem Modell zufolge² zeichnet sich die Antwort an der eben zitierten Textstelle ab, denn die Dämonen schaudern. Sie glauben diese Dinge, aber sie sind ihnen verhasst. Und außerdem hassen sie Gott.Vielleicht geben sie sich der verzweifelten Hoffnung hin, in Wirklichkeit verhalte es sich anders, oder vielleicht ist ihr Dafürhalten von Selbsttäuschung gefärbt. Sie wissen über die Macht Gottes Bescheid und wissen auch, dass sie nicht die geringste Aussicht haben, in einem Machtkampf mit ihm zu gewinnen. Dennoch lassen sie sich auf genau solch einen Kampf ein, da sie sich vielleicht in jenem bekannten Zustand der Selbsttäuschung befinden, in dem man in einem gewissen Sinn wirklich weiß, dass man bei einer solchen Auseinandersetzung unmöglich gewinnen kann, während man diese Wahrheit auf einer anderen Ebene trotzdem nicht zu akzeptieren bereit ist oder sie vor sich selbst verbirgt.³ Oder vielleicht ist das Problem hier nicht rein kognitiver, sondern auch affektiver Art. Da die Dämonen wissen, dass sie unmöglich gewinnen können, bestehen sie darauf, trotzdem zu kämpfen, wobei sie sich für mutige, prometheische Wesen halten, die heldenhaft einen beinahe aussichtslosen Kampf bestreiten. Sie befänden sich also nach eigenem Bekunden in einer Lage, in der sich Gott nie befindet, und daher können sie sich in dieser Hinsicht für moralisch überlegen halten. Außerdem kennen die Teufel den wunderbaren Heilsplan, durch den Gott die Menschen zu retten vorhat, aber sie finden diesen Plan, der sich durch Erbarmen, Leiden und Liebe auszeichnet, abstoßend und unwürdig. Zweifellos billigen sie Nietzsches Vorstellung, die christliche Liebe (einschließlich der Liebe, die sich in der Fleischwerdung und dem Sühneopfer
Diese Aussage bedarf vielleicht einer gewissen Einschränkung. Der Inhalt des Glaubens ist in einer plausiblen Weise indikatorenabhängig: Eine Person x hat nur dann religiösen Glauben, wenn x glaubt oder weiß, dass Gott zu x selbst gütig ist. Die Teufel glauben aber vielleicht nicht, dass Gott zu ihnen gütig ist. Sie wissen zwar, dass Gott allmächtig, allwissend und vollkommen gut ist und für die Menschen eine Erlösungsstrategie angebahnt hat; aber womöglich weisen sie den Gedanken zurück, Gott sei ihnen gegenüber gütig. (Hier ist übrigens festzuhalten, dass der Autor des Jakobusbriefs manchmal – wie z. B. hier im 2. Kapitel – das Wort »Glaube« offenbar im Sinne rein kognitiver oder verstandesmäßiger Zustimmung verwendet.) Und womöglich auch Calvin zufolge. Aus seiner Sicht ist diese Versiegelung, ebenso wie die Verstandesoffenbarung, davon abhängig, dass Gott dem Gläubigen sein Zeichen, seinen Abdruck, sein Siegel aufprägt. Aber vielleicht besteht dieses Siegel darin, dass der Gläubige die geeigneten Affekte hat. Siehe Miltons Paradise Lost, Bücher 5 und 6.
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Christi zeigt) sei schwächlich, weinerlich, verbittert, unterwürfig, doppelzüngig, kleinmütig, wankelmütig und generell abstoßend. Der Gläubige dagegen hält nicht nur die zentralen Thesen des christlichen Glaubens für wahr, sondern er findet (im paradigmatischen Fall) den ganzen Rettungsplan äußerst anziehend, herrlich, bewegend und eine Quelle staunender Verwunderung. Er ist dem Herrn für seine große Güte zutiefst dankbar und reagiert auf das aus Liebe dargebrachte Opfer mit seiner eigenen Liebe. Der Unterschied zwischen dem Gläubigen und dem Teufel liegt daher im Bereich der Affekte: im Bereich von Liebe und Hass, Anziehung und Abstoßung, Begehren und Abscheu. Um es mit Hilfe traditioneller Kategorien auszudrücken, liegt der Unterschied in der Richtung des Willens. In erster Linie betrifft das allerdings nicht die ausführende Funktion des Willens (also das Entscheidungsvermögen sowie das Anstreben und Vermeiden diverser Sachverhalte), obwohl auch diese Funktion natürlich eine Rolle spielt, sondern vor allem geht es um die affektive Funktion: um Liebe und Hass, Angezogen- oder Abgestoßensein, Billigung oder Missbilligung. Der Gläubige – die Person mit religiösem Glauben – hat also nicht nur die richtigen Überzeugungen, sondern auch die richtigen Gefühle. Durch Bekehrung und Regeneration werden nicht nur die Überzeugungen, sondern auch die Affekte verändert. Nach Calvin ist der Heilige Geist dafür verantwortlich, dass diese feste und gewisse Erkenntnis der göttlichen Güte uns gegenüber in unseren Herzen versiegelt wird: Es ist der Heilige Geist, der für diese Erneuerung und Neuausrichtung der Gefühle verantwortlich ist. Manchmal wird Calvin als ein Mensch hingestellt, der in spiritueller Hinsicht kalt, reserviert, leidenschaftslos und rationalistisch war – eine Person, deren intellektuelle Seite ungebührlich vorherrscht. Es mag sein (oder auch nicht sein), dass diese Vorwürfe im Hinblick auf die ein Jahrhundert nach Calvin blühende Scholastik der reformierten Kirche eine gewisse Gültigkeit haben. Aber schon eine oberflächliche Prüfung von Calvins eigenen Werken zeigt, dass sie im Hinblick auf ihn selbst völlig unzutreffend sind.⁴ Calvins Wappen war ein brennendes Herz auf einer ausgestreckten Hand mit dem Wahlspruch: »Cor meum quasi immolatum tibi offero, Domine.«⁵ Über den Hei-
Siehe z. B. Dennis Tamburello, Union with Christ: John Calvin and the Mysticism of St. Bernard, Louisville, KY: Westminster John Knox Press 1994, Kapitel 1– 3. »Gleichsam entflammt biete ich dir, o Herr, mein Herz dar.« Diese Phänomenologie – eine Phänomenologie, die ganz natürlich Ausdruck findet, indem man von der Erwärmung oder Entflammung des Herzens spricht – geht in der christlichen Tradition zumindest bis auf die Jünger zurück, die den auferstandenen Christus auf der Straße nach Emmaus trafen: »Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten ihn; dann sahen sie ihn nicht mehr. Und sie sagten zueinander: Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der
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ligen Geist sagt er: Er »brennt und fegt […] unsere sündigen Begierden beständig aus und entflammt wiederum unser Herz zur Liebe zu Gott und zum Trachten nach der Gottesfurcht«.⁶ In der Institutio geht es durchweg nicht um eine theologische Theorie, sondern um die Praxis des christlichen Lebens, in deren Rahmen vor allem die Affekte eine Rolle spielen, während die Theorie nur als Magd der Praxis eine Rolle spielt. Der Unterschied zwischen dem Gläubigen und dem Teufel ist zunächst einmal eine Sache des Gefühls. Der Gläubige wird zu Dankbarkeit und Liebe inspiriert, der Teufel zu Furcht, Hass und Verachtung. Der Heilige Geist bringt im Gläubigen Erkenntnis hervor; doch indem er diese Erkenntnis in unserem Herzen versiegelt, erzeugt er auch die richtigen Affekte. Unter diesen richtigen Empfindungen sticht vor allem die Liebe zu Gott hervor: das Verlangen nach Gott – das Verlangen, ihn zu erkennen, in einem persönlichen Verhältnis zu ihm zu stehen, das Verlangen, in einer bestimmten Weise mit ihm eins zu werden – und auch Entzücken über ihn, das Genießen seiner Schönheit, Größe, Heiligkeit usw. Außerdem gibt es hier Vertrauen, Billigung, Dankbarkeit, Gefallenwollen, Erwartung des Guten und vieler weiterer Dinge. Deshalb geht es beim religiösen Glauben nicht nur darum, bestimmte Aussagen zu glauben – selbst wenn es sich um die bedeutsamen Aussagen des Evangeliums handelt. Der religiöse Glaube ist mehr als bloß Glaube. Indem der Heilige Geist den Glauben in uns erzeugt, beschränkt er sich nicht darauf, in uns die Überzeugung hervorzubringen, dass diese oder jene Aussage wirklich wahr sei. Thomas wiederholt es viermal auf fünf Seiten: »Nun werden wir durch den Heiligen Geist zu Liebenden, die Gott lieben«.⁷ Und Martin Luther schreibt: […] daß auf zweierlei Weise geglaubt wird: zum ersten von Gott, das ist, wenn ich glaube, daß es wahr sei, was man von Gott sagt, gleich als wenn ich glaube, daß es wahr sei, was man vom Türken, Teufel, Hölle sagt. Dieser Glaube ist mehr ein Wissen oder eine Betrachtung als ein Glaube. Zum zweiten wird an Gott geglaubt, das ist, wenn ich nicht allein glaube, daß es wahr sei, was von Gott gesagt wird, sondern mein Vertrauen in ihm setze, ergebe mich darein und wage es, mit ihm zu handeln, und glaube ohne allen Zweifel, er werde mir so sein und tun,wie man von ihm sagt. […] Darum ist das Wörtlein ›an‹ sehr gut gesetzt und mit Fleiß wahrzu-
Schrift erschloß?« (Lukas 24, 31– 32). Parallelstellen finden sich auch bei Thomas von Aquin und in Luthers Vorrede zu den Römerbriefen (1522), in der er schreibt, der Glaube lasse das Herz entbrennen. Wie John Wesley berichtet, geschah es gerade während der Lektüre von Luthers Vorrede zu den Römerbriefen, dass er spürte, wie sein Herz in sonderbarer Weise erwärmt wurde. In der Tradition der orthodoxen Kirche gibt es ähnlich lautende Berichte des heiligen Seraphim von Sarov, vgl. William Abraham, »The Epistemological Significance of the Inner Witness of the Holy Spirit«, in: Faith and Philosophy 7/4, S. 440. Calvin, Institutio III, i, 3, S. 339. Thomas von Aquin, Summe gegen die Heiden, IV, 21, Band 4, S. 157.
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nehmen, daß wir nicht sagen: ›Ich glaube Gott dem Vater‹ oder ›von dem Vater‹, sondern: an Gott den Vater, Jesus Christus, an den Heiligen Geist […].⁸ Nun können wir im Anschluss an Luther auch unsererseits zwischen dem Glauben an Gott und dem Glauben, dass Gott existiert, unterscheiden. Diese letztere Form des Glaubens kennt zwei Spielarten: den Theismus und den auf Gott selbst bezogenen Glauben de re, dass er existiere. Der Theist ist jemand, der eine bestimmte Proposition für wahr hält, nämlich die Aussage, dass es eine allmächtige, allwissende und vollkommen gute Person gibt, von der die Welt geschaffen wurde und getragen wird. Sofern Gott wirklich das einzige Wesen ist, das diese Bedingung erfüllt, glaubt der Theist, dass es ein solches Wesen gibt, aber zweifellos glaubt er außerdem von Gott – also von dem Wesen, das dieser Kennzeichnung wirklich entspricht –, er existiere. Dass er das glaubt, ist allerdings keine notwendige Bedingung. Vielleicht bildet er zwar den Glauben de dicto, ohne jedoch jemals den Akt de re zu vollziehen, durch den er von dem betreffenden Wesen dies oder jenes glaubt. Noch einleuchtender ist, dass man von Gott glauben kann, er existiere, ohne dass man Theist ist, denn man kann von Gott glauben, dass er existiert, obwohl man (aus der Sicht des Theisten) eine wirre und irrige Vorstellung von den Eigenschaften Gottes hat. Vielleicht begegne ich Gott in der Erfahrung und glaube, dass er mich liebt, oder ich individuiere ihn womöglich als das Wesen, das von meinen Eltern angebetet wird. Dann werde ich von Gott glauben, dass er existiert, obwohl ich (beispielsweise) nicht glaube, dass Gott die Welt erschaffen hat. (Vielleicht teile ich die Ansicht einiger Mormonen, dass Gott seinerseits erschaffen wurde, und füge hinzu, dass die Welt nicht erschaffen wurde, sondern immer schon existiert hat.) Es ist sogar möglich,von Gott zu glauben, dass er existiert, und dennoch Atheist zu sein: Ich stoße in meiner Erfahrung auf Gott, glaube von dem angetroffenen Etwas, dass es existiert, ohne jedoch zu glauben, dass das angetroffene Etwas allmächtig, allwissend oder vollkommen gut ist oder dass es die Welt geschaffen hat; obendrein glaube ich, dass es gar nichts gibt, was diese Eigenschaften besitzt. An Gott glauben ist natürlich etwas anderes als von Gott zu glauben, er existiere, oder als Theist zu sein. Die Dämonen sind zweifellos Theisten, und sie glauben auch von Gott, dass er existiert. Aber sie glauben nicht an Gott, denn sie empfinden kein Vertrauen und keine Liebe zu Gott und machen sich seine Absichten nicht zu eigen.
II Jonathan Edwards Bei unserem Thema spielen die Affekte also eine wesentliche Rolle. Bei dem Versuch, die religiösen Empfindungen zu verstehen, können wir offensichtlich nichts Besseres unternehmen, als Jonathan Edwards heranzuziehen, der zu den großen Kennern des inneren Lebens gehört und als Erforscher der religiösen Gefühle nicht seinesgleichen hat. Edwards ist natürlich ebenso wie Calvin der Meinung, dass die wahre Religion
Luther, Eine kurze Form des Glaubensbekenntnisses, in: Kurt Aland (Hg.): Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Band 6: Kirche und Gemeinde, 2. erweiterte und neubearbeitete Aufl. Stuttgart 1966, S. 16. Vgl. Pascal: »Und deshalb sind die, denen Gott den Glauben als Gefühl des Herzens gegeben hat, sehr glücklich und völlig rechtmäßig überzeugt« (Über die Religion: Und über einige andere Gegenstände, hg. von Ewald Wasmuth, Frankfurt a. Main: Insel Verlag, S. 143).
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mehr ist als bloß richtige Überzeugungen. Nach seiner Auffassung ist die wahre Religion sogar zunächst einmal eine Sache der richtigen Affekte: »Die wahre Religion besteht großenteils in heiligen Empfindungen.«⁹ »Die Heiligen Schriften lokalisieren die Religion in hohem Maße im Bereich der Affekte, wie z. B. Furcht, Hoffnung, Liebe, Hass, Begehren, Freude, Gram, Dankbarkeit, Mitgefühl und Eifer« (S. 102). Die bloße Erkenntnis reicht nicht aus für wahre Religion: Man muss eine Unterscheidung treffen zwischen einer rein begrifflichen Form des Verstehens, bei der der Geist die Dinge nur durch den Einsatz eines theoretischen Vermögens erschaut, und dem Sinn des Herzens, bei dem sich der Geist nicht bloß theoretisch und schauend verhält, sondern schmeckt und fühlt. Diese Form der Erkenntnis, durch die man zu einer sinnlichen Wahrnehmung von Liebenswürdigkeit und Abscheulichkeit, Süße und Ekelhaftigkeit gelangt, ist nicht die gleiche Form von Erkenntnis wie die, durch die man weiß, was ein Dreieck und was ein Viereck ist. Das eine ist rein theoretische Erkenntnis, das andere ist sinnliche Erkenntnis, an der mehr als nur der reine Verstand beteiligt ist. Ihr eigentlicher Träger ist das Herz bzw. die Seele als ein Wesen, das nicht nur schaut, sondern auch Neigungen hat – ein Wesen, das angenehm oder unangenehm berührt wird. (S. 272)
Natürlich meint Edwards nicht, die wahre Religion sei ausschließlich eine Sache der Affekte, der Zu- und Abneigungen – so als hätten Überzeugungen und Verstand gar keine Rolle zu spielen: »Die heiligen Empfindungen sind nicht bloß Wärme ohne Licht, sondern sie ergeben sich immer aus Informationen des Verstandes, aus spirituellen Anweisungen, die der Geist empfängt, aus einem gewissen Licht oder aus wirklicher Erkenntnis« (S. 266). Dennoch setzt die wahre Religion (wie Edwards offenbar meint) in erster Linie die Affekte voraus, insbesondere die Liebe: »Letztlich besteht alle wahre Religion in der Liebe der göttlichen Dinge« (S. 271). Außerdem bringt die Liebe weitere Affekte mit sich: »Die Liebe zu Gott«, sagt Edwards, »bewegt den Menschen dazu, sich an den Gedanken Gottes und an seiner Gegenwart zu erfreuen, die Übereinstimmung mit Gott und das Gefallen an Gott zu begehren« (S. 208). An anderer Stelle fügt er hinzu, dass derjenige, der Gott liebt, seine Freude daran finden wird, sich der Betrachtung der großen Dinge des Evangeliums zu widmen, sich an ihnen zu ergötzen, sie attraktiv, herrlich und gewinnend zu finden (S. 250).Wer sich so über die großen Wahrheiten des Evangeliums freut, dürfte Versuche, dieses strahlende, reichhaltige und eindringliche Evangelium gegen billige und triviale Ersatzangebote einzutauschen, ekelerregend finden (siehe Kapitel 2). Und wenn es einem gelingt, sich die richtigen Affekte zu eigen zu machen, wird man auch die Fähigkeit erlangen, die wahre
Edwards, A Treatise concerning Religious Affections (1746), hg. von John E. Smith, New Haven: Yale University Press 1959), S. 95.Verweise auf dieses Buch beziehen sich im folgenden stets auf die genannte Ausgabe.
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Abscheulichkeit der Sünde zu erkennen: »Wer die Schönheit der Heiligkeit sieht, muss notwendig auch die Hassenswürdigkeit ihres Gegenteils – der Sünde – sehen« (S. 274); und wer die Hassenswürdigkeit der Sünde (an sich selbst und an anderen) sieht, der wird sie auch hassen (sofern er funktionstüchtig ist).
A Verstand und Wille: Was kommt zuerst? Aber wie soll das im einzelnen funktionieren? Welches ist hier die Beziehung zwischen Affekten und Überzeugungen, zwischen Wille und Verstand? Welche der beiden Instanzen kommt gegebenenfalls zuerst? Ist es so, dass man zuerst sieht (also erkennt oder zu glauben beginnt), dass die großen Dinge des Evangeliums und Gott selbst anmutig und liebenswert sind, um sie anschließend zu lieben? Oder ist es eher so, dass man sie zuerst liebt und so dahingelangt zu erkennen, dass die betreffenden Dinge tatsächlich liebenswert sind? Indem der Heilige Geist in unseren Herzen wirkt, sorgt er da zuerst auf übernatürliche Weise dafür, dass wir die Wahrheit der großen Dinge des Evangeliums einsehen, weshalb wiederum unsere Affekte selbstverständlich gleich nachfolgen, so dass wir diese Dinge lieben und uns über sie freuen? Oder ist es vielmehr so, dass der Heilige Geist als erstes unsere Affekte korrigiert und die Verrücktheit unseres Willens heilt, so dass wir Gott mehr lieben als uns selbst, woraus sich ergibt, dass wir die großen Dinge des Evangeliums zu glauben beginnen? Oder kommt keine der beiden Instanzen zuerst, so dass Wille und Verstand gleichzeitig geheilt werden? Diese Frage hängt natürlich mit einer entsprechenden Frage zusammen, die wir im 7. Kapitel behandelt haben, nämlich mit der Frage: Ist die Sünde in erster Linie eine Sache des Verstandes, der Blindheit, des Mangels an Einsicht bzw. des Glaubens an die richtigen Dinge, der sodann zu den falschen Affekten und bösen Handlungen führt? Oder handelt es sich vor allem um die falschen Affekte, um das Lieben und Hassen der falschen Dinge? Obschon Edwards die zentrale Bedeutung der Affekte betont, scheint er zugleich den Standpunkt zu billigen, wonach der Verstand Vorrang vor dem Willen hat. Offenbar hält er dafür, dass der Gläubige die Schönheit, Anmut, Liebenswürdigkeit Gottes und der großen Dinge des Evangeliums zuerst sieht, woraufhin die Affekte auf natürliche Weise die gleiche Richtung einschlagen: [Die Heiligen] sehen zuerst, dass Gott liebenswürdig und dass Christus vortrefflich und herrlich ist, und zuerst werden ihre Herzen von dieser Sicht bezaubert, und die Übungen ihrer Liebe pflegen jedesmal hier anzusetzen und vor allem von dieser Sicht auszugehen. Anschließend sehen sie dann die Liebe Gottes und die große Gunst, die ihnen zuteil wird. (S. 246)
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Hier geht es Edwards nicht in erster Linie um die Frage, ob der Verstand oder der Wille zuerst kommt, sondern darum, ob die Heiligen zuerst sehen, dass sie von Gott geliebt werden, und dann von sich aus Gott lieben, oder ob es umgekehrt geht. Dennoch wird hier offenbar angedeutet, dass der Heilige zuerst sieht, dass Gott liebenswert und Christus vortrefflich und herrlich ist. Dieser Anblick ist bezaubernd, entzückend, gewinnend, und das Resultat ist die Liebe zu Gott. An anderer Stelle drückt sich Edwards noch expliziter aus: »Die Erkenntnis ist der Schlüssel, der zunächst das harte Herz öffnet und die Affekte erweitert, um so den Menschen den Weg ins Himmelreich zu bahnen« (S. 266). »Gütige Affekte entstehen daraus, dass der Geist auf richtige und spirituelle Weise erleuchtet wird, um göttliche Dinge zu verstehen oder zu erfassen«. Ferner schreibt Edwards: Wahrhaft spirituelle und gütige Affekte entstehen aus der Erleuchtung des Verstandes, auf dass er die Dinge, die über Gott und Christus gelehrt werden, in neuer Weise begreift, daraus, dass man zu einem neuen Verständnis der vortrefflichen Natur Gottes und seiner wunderbaren Vollkommenheiten gelangt, aus einer neuen Sicht auf Christus in seiner spirituellen Vortrefflichkeit und seiner Fülle, oder aus Dingen, die dem Betreffenden in neuer Weise zugänglich gemacht werden und die die Rettung durch Christus betreffen, wodurch er nunmehr sieht, wie die Dinge liegen, und jene göttlichen und geistlichen Lehren versteht, die ihm einst töricht erschienen. […] Dass alle gütigen Affekte tatsächlich aus einer Unterweisung oder Erleuchtung des Verstandes hervorgehen, ist daher ein weiterer Beweis. (S. 267, 268)
Das passt anscheinend nicht vollkommen zu einer anderen charakteristischen Lehre von Edwards, der zufolge die Härte des Herzens die Grundlage der Sünde ist. Diese Hartherzigkeit wiederum beruhe darauf, dass man die falschen Affekte oder (in weniger katastrophalen Fällen) zumindest nicht die richtigen Affekte hat: Die Theologen sind sich im allgemeinen darüber einig, dass die Sünde ganz eigentlich und im Grunde in etwas Negativem oder Privativem besteht, denn ihre Wurzel und Grundlage lägen in einer Privation oder einem Mangel an Heiligkeit. Deshalb gilt zweifellos: Wenn es sich so verhält, dass die Sünde in ganz hohem Maße in der Härte des Herzens und mithin in einem Mangel an frommen Affekten des Herzens besteht, dann besteht die Heiligkeit in einem sehr hohen Maße in diesen frommen Affekten. (S. 118) Unter einem harten Herzen versteht man offensichtlich ein gefühlloses Herz bzw. ein Herz, das sich – unempfindlich, dumm, ungerührt und schwer zu beeindrucken wie ein Stein – nicht leicht durch tugendhafte Affekte bewegen lässt. Daher wird das harte Herz [in der Bibel] ein steinernes Herz genannt und dem Herzen aus Fleisch gegenübergestellt, das Gefühl hat und in seinem Empfinden berührt und bewegt wird. (S. 117)
Diese Stellen deuten an, dass die Sünde (wie ich im 7. Kapitel geltend gemacht habe) im Grunde darauf beruht, dass man nicht die richtigen Affekte bzw. die falschen Affekte hat. Es handelt sich nicht – jedenfalls nicht in erster Linie – um einen Mangel an Wissen. Es geht nicht so sehr darum, dass man etwas nicht sieht,
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sondern eher darum, dass man etwas nicht fühlt. ¹⁰ Der Hartherzige liebt nicht die richtigen Dinge. Ihm fehlen die tugendhaften Affekte der Liebe zu Gott und zum Nächsten sowie zu den großen Wahrheiten des Evangeliums. Außerdem fehlen ihm der Hass auf die Sünde und der Kummer über sie, und es fehlt ihm die Dankbarkeit für die Rettung, die Freude, den Frieden und alles Übrige, das sich aus der richtigen Liebe zu Gott ergibt. Das wiederum legt den folgenden Gedanken nahe: Sobald man das Geschenk des Glaubens und die damit einhergehende Wiedergeburt (Regeneration) empfangen hat, geschieht es, dass die Affekte umgeleitet werden, so dass man zumindest die ersten zögernden Schritte auf dem Weg zu jenem Zustand tut, in dem man Gott mehr liebt als alles andere. Irgendwie im Anschluss daran ergibt sich eine neue Erkenntnis der Liebenswürdigkeit und Herrlichkeit Gottes sowie der christlichen Geschichte. Aber diese Andeutung lässt sich durchaus mit dem Gedanken vereinbaren, dass dann, wenn man gläubig wird, zunächst eine Form von Erkenntnis oder Erleuchtung zum Zuge kommt. Vielleicht ist die Sünde ja tatsächlich eine Fehlfunktion des Willens (eine Fehlleitung der Affekte), und vielleicht ist diese Fehlfunktion wirklich das, was bei der Regeneration repariert wird, aber womöglich wird diese Reparatur in einer Weise durchgeführt, die damit einhergeht, dass dem Betreffenden eine bestimmte Erkenntnis oder Erleuchtung gewährt wird. Es kann ja sein, dass einerseits die Sünde im Grunde eine Fehlfunktion oder Dysfunktion des Willens ist, während andererseits bei der Regeneration zunächst ein gewisses Verstehen oder eine bestimmte Einsicht erfolgt. Dann käme, was den Glauben beträfe, das Offenbaren zwar vor dem Versiegeln, doch was der Reparatur bedürfte, wäre im Grunde nicht der Verstand, sondern der Wille. Manchmal scheint Edwards darauf hinauszuwollen, dass weder der Verstand noch der Wille zuerst kommt: Das spirituelle Verstehen besteht vor allem in einem Sinn des Herzens für diese spirituelle Schönheit.Von einem Sinn des Herzens spreche ich hier deshalb, weil es bei dieser Form des Verstehens nicht bloß um etwas Theoretisches geht. Es ist auch gar nicht möglich, eine klare Unterscheidung zwischen den beiden Vermögen des Verstandes und des Willens zu treffen, so als agierten sie in dieser Angelegenheit verschieden und getrennt.Wenn der Geist die süße Schönheit und Liebenswürdigkeit einer Sache empfindet, so impliziert das eine Empfindungsfähigkeit für die Süße und die Freude am Vorhandensein der betreffenden Idee; und es liegt im eigentlichen Wesen dieser Empfindungsfähigkeit für die Liebenswürdigkeit oder Herrlichkeit der Schönheit, dass sie den Sinn des Herzens mit sich bringt bzw.Wirkungen und Eindrücke, die von der Seele als einer mit Geschmack, Neigung und Willen ausgestatteten Substanz getragen werden. (S. 272)
Damit möchte ich allerdings natürlich nicht im geringsten andeuten, dass ein Affekt nichts weiter ist als irgendein Fühlen – so als hätte der Affekt gar keine intentionale Komponente.
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Gibt es keine klare Unterscheidung zwischen den beiden Vermögen, dann hat offenbar keines der beiden Vorrang vor dem jeweils anderen. Doch selbst an dieser Stelle sieht es so aus, als komme der Verstand nach Edwards zuerst. Er spricht hier von einem »Sinn des Herzens«, und das hört sich zwar so an, als sei hier von Affekten die Rede, aber vermutlich trügt der Schein. Um zu erkennen, inwiefern das der Fall ist, müssen wir einen weiteren charakteristischen Gedanken von Edwards zur Kenntnis nehmen, nämlich den, dass sich der Gläubige nach der Bekehrung und der Regeneration eine »neue einfache Idee« zu eigen macht. Auf diese Weise erwirbt er die Fähigkeit, etwas wahrzunehmen, was er vorher nicht wahrnehmen konnte. Jetzt kann er die Schönheit und Liebenswürdigkeit des Herrn wahrnehmen – und das ist etwas, was er vor der Bekehrung nicht wahrzunehmen vermochte. Diese Fähigkeit bringt eine neue Phänomenologie ins Spiel, und zwar eine Phänomenologie, die dem »Menschen im Naturzustand« nicht zu Gebote steht: Denn wenn es im Inneren der Heiligen ein Erfassen bzw. eine Wahrnehmung gibt, die ihrem Wesen nach völlig verschieden ist von allem,was beim Menschen im Naturzustand vorkommt oder vorkommen könnte, ehe er eine neue Natur angenommen hat, so muss diese Wahrnehmung darin bestehen, dass bei den Heiligen bestimmte Ideen oder geistige Empfindungen vorkommen, die schlechthin verschieden sind von allem, was im Geist des Menschen im Naturzustand vorkommt oder vorkommen kann. Das wiederum läuft auf das gleiche hinaus wie die Feststellung, dass diese Wahrnehmung in den Empfindungen eines neuen spirituellen Sinnes besteht. (S. 271)
Hier spricht Edwards die erkenntnistheoretische Sprache der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Erkenntnis (Kognition) setzt mentale Entitäten voraus, die bei Locke »Ideen« und bei Hume »Eindrücke und Ideen« heißen. Bei diesen Entitäten handelt es sich um so etwas wie mentale Bilder, etwa Bruchstücke von visuellen, akustischen oder sonstigen sinnlichen Vorstellungen. Die Frage, wie sich die britischen Empiristen diesen Vorgang im einzelnen gedacht haben, braucht uns jetzt nicht zu beschäftigen – und ihr Konzept ist sowieso nicht kohärent. Doch hier wollen wir (um ein Beispiel à la Edwards zu nehmen) an den Geschmack von Honig denken. Ich weiß, wie Honig schmeckt, und ich weiß auch, dass ein wichtiges Element dieses Wissens eine bestimmte Phänomenologie beinhaltet. Ich wüsste nicht, wie Honig schmeckt, wenn ich ihn nicht wirklich schon probiert oder den Geschmack in irgendeiner anderen Weise erlebt hätte. Es ist unmöglich, den Geschmack von Honig oder die Süße des Honigs zu kennen (genauer gesagt: sinnlich zu kennen), ohne diese Phänomenologie zu erleben, also ohne diese einfache Idee (im Sinne von Edwards) zu haben. Es gibt eine bestimmte Erfahrung, die normalerweise mit dem Sehen von etwas Rotem einhergeht, und es gibt ein bestimmtes Wissen – nämlich das Wissen, wie es ist, etwas
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Rotes zu sehen –, über das man nicht verfügen kann, ohne diese Erfahrung gemacht zu haben. (Mit dieser Erfahrung verhält es sich vielleicht in etwa so ähnlich wie mit dem Hören des Klangs einer Trompete. Allerdings können uns solche Vergleiche nur ein Stück weit voranbringen.) Wer nie Süße geschmeckt oder Rot wahrgenommen hat, kann zwar eine ganze Menge über die Süße des Honigs und den Anblick von etwas Rotem wissen (beispielsweise, dass sie von vielen Menschen wahrgenommen werden, dass die Menschen den Geschmack angenehm und den Anblick ein wenig stimulierend finden), aber es gibt auch etwas, was dieser Mensch nicht weiß: Er weiß nämlich nicht, wie Honig schmeckt oder wie ein Sonnenuntergang aussieht. Zu den Arten des Erfahrungswissens gehört nach Edwards auch das spirituelle Wissen. Genauer gesagt: Es gibt so etwas wie spirituelles Wissen, und diese spirituelle Erkenntnis sei tatsächlich ein Erfahrungswissen. Es sei, wie Edwards es formuliert, eine Kenntnis der »moralischen« Qualitäten Gottes, nämlich Kenntnis seiner Heiligkeit, Liebenswürdigkeit, Schönheit, Herrlichkeit und Anmut. Dieses Wissen setzt – ebenso wie die Kenntnis des Geschmacks und der Süße des Honigs – voraus, dass man bestimmte Vorstellungen mit charakteristischer Phänomenologie hat, »bestimmte Ideen oder geistige Empfindungen«,wie Edwards sagt. Dabei handelt es sich um eine neue Art von Idee, und zwar um eine neue einfache Art von Idee. Einfach ist sie zunächst deshalb, weil sie – anders als etwa das Vorstellungsbild von einem Haus – nicht aus anderen Ideen zusammengesetzt ist. Und neu ist sie insofern, als sie dem »Menschen im Naturzustand« nicht zu Gebote steht; sondern zu Gebote steht sie nur denen, bei denen der Vorgang der Regeneration bereits eingesetzt hat. Beim Sündenfall haben wir Menschen, wie Edwards meint, eine bestimmte kognitive Fähigkeit verloren, nämlich die Fähigkeit, die moralischen Qualitäten Gottes zu erfassen. Mit der Bekehrung kommt auch die Erneuerung, und zur Erneuerung gehört die (mehr oder weniger weitreichende) Wiederherstellung dieser kognitiven Fähigkeit, die Schönheit, Süße, Anmut des Herrn selbst und seines ganzen Rettungsplans zu begreifen bzw. zu erfassen. Es ist eben diese kognitive Fähigkeit, von der diese neue einfache Idee vorausgesetzt wird. Will man diese neue Erfahrung beschreiben, gibt es wenig zu sagen, außer dass es sich um die Erfahrung der moralischen Qualitäten Gottes handelt. Jemand, der diese neue einfache Idee nicht besitzt – also jemand, bei dem der betreffende kognitive Vorgang noch nicht wiederhergestellt worden ist –, verfügt eben nicht über die spirituelle Kenntnis von Gottes Schönheit und Liebenswürdigkeit.¹¹ Eine Nach Edwards bemerken diejenigen, die mit der erforderlichen Erfahrung und der notwendigen Phänomenologie vertraut sind, dass sie solche Formulierungen wie »der spirituelle Anblick Christi« nicht wirklich verstanden hatten, ehe sie diese Erfahrung machten. Diese Ausdrücke hatten »ihrem Geist noch nicht diese besonderen und spezifischen Ideen« mitgeteilt, »die sie
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solche Person mag zwar in gewisser Weise wissen, dass Gott wirklich schön und liebenswert ist (vielleicht übernimmt sie dieses Wissen aufgrund der Autorität einer anderen Person), aber es gibt eine Form von Wissen um diese Liebenswürdigkeit (ein Erfahrungswissen), das ihr fremd bleibt, und genau das ist das spirituelle Wissen, von dem bei Edwards die Rede ist. Spirituelles Wissen ist Erfahrungswissen, und eine notwendige Bedingung dafür, dass man Erfahrungswissen besitzt, ist die, dass man die richtige Phänomenologie kennt – die richtigen Vorstellungen, die neue einfache Idee. Hier habe ich von einer kognitiven Fähigkeit gesprochen – von der Fähigkeit, die Schönheit und Süße und Liebenswürdigkeit des Herrn und der großen Dinge des Evangeliums zu begreifen und zu erfassen. Edwards bedient sich einer spezifischeren Sprache, nämlich der Sprache der Wahrnehmung: Jemand, bei dem der Prozess der Regeneration einen bestimmten Punkt erreicht hat, könne die Schönheit des Herrn sehen, er könne seine Süße schmecken und seine Anwesenheit spüren. Vermutlich meint Edwards, diese Verwendungen der Wörter »sehen«, »schmecken« und »spüren« seien sinnbildlich oder vielmehr analogisch. Andererseits meint er, das Wort »wahrnehmen« werde ganz buchstäblich gebraucht und in derselben Bedeutung, in der es verwendet wird, wenn von Sehen und Hören, Schmecken und Tasten als Wahrnehmungen gesprochen wird. Diese Fähigkeit, die Schönheit und den Glanz des Herrn zu erfassen, sei tatsächlich eine Wahrnehmungsfähigkeit. Man könne wissen, dass der Herr wirklich schön und herrlich ist, aber daneben gebe es auch den anderen Zustand, in dem man wahrnimmt, dass der Herr schön und herrlich ist. Hier beruft sich Edwards auf die Sprache der Bibel, in der die Erneuerung oft so dargestellt wird, dass jemandem Augen gegeben werden, um zu sehen, Ohren, um zu hören, dass die Ohren der Tauben freigemacht und die Augen der Blinden geöffnet werden. Es ist wichtig einzusehen, dass Edwards diese Eigenschaften – Schönheit, Glanz, Heiligkeit sowie Liebe und Güte – als echte und objektive Eigenschaften auffasst, die Gott tatsächlich inhärieren. Für ihn ist Schönheit nicht in Wirklichkeit eine subjektive Reaktion unsererseits auf dies oder jenes, sondern für ihn gibt es die Eigenschaft des Herrn, schön zu sein, tatsächlich. Wir begreifen oder erfassen diese Eigenschaft, und wir begreifen oder erfassen, dass der Herr sie besitzt. Eine notwendige Bedingung dafür besteht darin, dass wir eine bestimmte Phänomenologie erleben.
bezeichnen sollen; und in manchen Hinsichten waren sie nicht informativer gewesen, als es die Namen der Farben sind, wenn man einen Blindgeborenen über die entsprechenden Ideen unterrichten möchte« (The Great Awakening, hg. von C. C. Goen, New Haven: Yale University Press 1972, S. 174).
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Und das ist natürlich ein genaues Spiegelbild der Situation, die im Hinblick auf die sinnliche Wahrnehmung gegeben ist.¹² Edwards ist der Überzeugung, dass wir diese moralischen Qualitäten Gottes wahrnehmen. Und ich für mein Teil glaube, dass Edwards’ diesbezügliche Überzeugungen zumindest plausibel sind. Ich habe allerdings keineswegs vor, die Einwände gegen den Gedanken der Gotteswahrnehmung zu sondieren oder die Plausibilität des Gedankens zu verteidigen. Das unterlasse ich deshalb, weil William Alston es bereits in bravouröser Manier geleistet hat.¹³ Alston zeigt, dass keiner der Einwände gegen die Wahrnehmung Gottes, mit denen er sich auseinandersetzt, auch nur annähernd zwingend ist. Gemeint sind Einwände wie der, dass nur materielle Gegenstände wahrgenommen werden können, Gott aber kein materieller Gegenstand sei; dass es keine geeigneten Tests und Messverfahren gibt; dass wir nicht beweisen können, dass die unterstellte Form der Wahrnehmung zur Wahrheit tendiert und daher wirklich Wahrnehmung ist; dass nicht jeder diese vermeintliche Fähigkeit besitzt; dass die Menschen verschiedener Meinung darüber sind, was sie eigentlich (ihrer Ansicht nach) an Gott wahrnehmen, usw. Außerdem entfaltet Alston eine überzeugende allgemeine Analyse der Wahrnehmung, der zufolge Gotteswahrnehmung durchaus möglich ist. Falls es eine Person wie Gott wirklich gibt, besteht kein Grund, warum er uns – seine Geschöpfe und Kinder – nicht mit der Fähigkeit hätte ausstatten können sollen, ihn wahrzunehmen sowie wahrzunehmen, dass er bestimmte Eigenschaften besitzt. Jetzt können wir auf die Frage zurückkommen, die uns zu diesem Umweg veranlasst hat: Was kommt nach Edwards zuerst: die Affekte oder der Verstandesgebrauch? Die Liebe zu Gott oder die Erkenntnis Gottes? Nach meiner Überzeugung lautet die Antwort, die Edwards gibt: Zuerst kommt die Erkenntnis. Vermutlich glaubt er, dass man als erstes die Schönheit und Liebenswürdigkeit des Herrn wahrnimmt, dass man zuerst zu diesem Erfahrungswissen gelangt, um anschließend die richtigen Zu- und Abneigungen auszubilden: Liebe zum Herrn, zu den großen Wahrheiten des Evangeliums, Hass gegenüber der Sünde: »Alle gütigen Affekte gehen tatsächlich aus einer Unterweisung oder Erleuchtung des Verstandes hervor«, »Gütige Affekte entstehen daraus, dass der Geist auf richtige und spirituelle Weise erleuchtet wird, um göttliche Dinge zu verstehen oder zu erfassen«. Was er damit meint, ist, wie ich glaube, folgendes: Diese durch Er-
Eine verständnisvolle, mit ausführlichen und nützlichen Zitaten aus den Werken von Edwards untermauerte Darstellung von Edwards Begriff »Sinn des Herzens« gibt William Wainwright in: »Jonathan Edwards and the Sense of the Heart«, in: Faith and Philosophy 7/1 (Januar 1990). Alston, Perceiving God, Ithaca: Cornell University Press 1991. Siehe auch meine Replik (im 10. Kapitel) auf Richard Gales Meinung, es sei unmöglich, Gott wahrzunehmen.
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fahrung gewonnene Erkenntnis Gottes und seiner Eigenschaften kommt zuerst, und anschließend stellen sich die Affekte ein. »Wahrhaft spirituelle und gütige Affekte entstehen aus […] einer neuen Sicht auf Christus in seiner spirituellen Vortrefflichkeit und seiner Fülle.« Edwards’ Vorstellung ist vermutlich die: dass die erneuerte Person die Schönheit und Lieblichkeit des Herrn und der großen Dinge des Evangeliums wahrnimmt und dann auf ganz natürliche Weise dahin gelangt, sie zu lieben. Die Wahrnehmung kommt zuerst; daher hat der Verstand in dieser Hinsicht Vorrang vor dem Willen. Hat Edwards recht? Trifft es wirklich zu, dass der Verstand dem Willen vorausgeht? Stimmt es, dass die Erkenntnis in diesem Fall vor der Liebe kommt? Diese Frage lässt sich aufteilen: Es gibt verschiedene Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Verstandes- und Willensakten, und diese Abhängigkeitsbeziehungen sind derart, dass bestimmte Verstandes- bzw. Erkenntnisakte notwendige Bedingungen für bestimmte Willensakte sind. Jeder gegebene Willensakt könnte insofern basal sein, als er von keinem vorgängigen Verstandesakt abhängt, und jeder gegebene Verstandesakt könnte insofern basal sein, als er von keinem vorgängigen Willensakt abhängt. Vielleicht kann man Gott nicht lieben, ohne zuerst einzusehen, dass er wirklich liebenswürdig und anziehend ist. Wenn dem so ist, wird kein Akt der Gottesliebe im gerade erläuterten Sinn basal sein. Andererseits gibt es vielleicht bestimmte affektive Akte, die nicht von irgendwelchen vorgängigen Verstandesakten abhängen. Wenn ja, werden diese Akte basal sein. Welches ist der relevante Sinn von »Abhängigkeit«, der hier ins Spiel kommt? Ich möchte vorschlagen, dass es sich um eine Frage des Bauplans handelt: Ein Willensakt ist für ein Wesen S genau dann von einem bestimmten Verstandesakt abhängig,wenn der Bauplan von S angibt, dass S den betreffenden Willensakt erst vollziehen wird, nachdem S einen Verstandesakt der relevanten Art zu vollziehen begonnen hat.¹⁴ Nach diesen Vorbemerkungen ist offenkundig, dass es mehrere verschiedene Möglichkeiten gibt, die These der Vorgängigkeit des Verstandes gegenüber dem Willen aufzufassen. So könnte man die folgende bescheidene Behauptung aufstellen: (1) Für jeden affektiven Willensakt gibt es mindestens eine Art von Verstandesakt,von der der Willensakt abhängig ist; und es gibt einige Verstandesakte, die von keinem Willensakt abhängig sind.
Natürlich gibt es auch andere Arten von Abhängigkeit. Die eben besprochene Spielart könnte man »Bauplanabhängigkeit« nennen. Was unsere jetzigen Belange betrifft, fasse ich die Bauplanabhängigkeit so auf, dass sie sowohl logische als auch kausale Abhängigkeiten umfasst. Dementsprechend gilt: Sofern das Vorkommen eines gegebenen Willens- oder Verstandesakts das Vorkommen eines gegebenen Verstandes- oder Willensakts impliziert oder kausal notwendig macht, wird der erstere Akt vom letzteren bauplanabhängig sein.
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Um diese These zu veranschaulichen: Vielleicht ist es so, dass kein funktionstüchtiges Wesen Gott zu lieben beginnt, ohne zuerst gesehen, erkannt zu haben, dass Gott wirklich liebenswert und anziehend ist. (Hinzu kommt eventuell, dass dieser kognitive Akt Erfahrungswissen à la Edwards voraussetzt.) Allerdings ist dieser kognitive Akt – dieser Verstandesakt des Erkennens, dass Gott liebenswürdig und anziehend ist – von keinem (affektiven) Willensakt abhängig. Man sieht ein, dass Gott liebenswert ist, und anschließend (und deshalb) liebt man ihn. Diese Sachlage ist durchaus zu vereinbaren mit der Möglichkeit, dass einige Verstandesakte von Willensakten abhängen. Erforderlich ist nur, dass es außerdem einige Verstandesakte gibt, die nicht von Willensakten abhängen. Man könnte daher auch die folgende, anspruchsvollere These vertreten: (2) Für jeden (affektiven) Willensakt gibt es einen vorgängigen Verstandesakt, von dem er abhängt; und für keinen Verstandesakt gibt es einen vorgängigen Willensakt, von dem er abhängig ist. Es ist nicht ohne weiteres zu erkennen, welche dieser beiden Thesen Edwards vertreten möchte (sofern es überhaupt um eine dieser beiden geht). Vielleicht möchte er eigentlich keine der beiden Behauptungen aufstellen. Womöglich schweben ihm ausschließlich religiöse Affekte und die damit in Verbindung gebrachten charakteristischen Verstandesakte vor. Vielleicht möchte er nur behaupten, dass die religiösen Affekte von einem vorhergehenden (oder gleichzeitigen) Erfassen oder Wahrnehmen einiger Qualitäten Gottes abhängen, während es nicht der Fall sei, dass die Wahrnehmung der moralischen Qualitäten Gottes von einem vorgängigen Affekt abhängt. Vielleicht möchte er sagen, dass beim Vorgang der Regeneration zunächst dies geschieht: dass der Heilige Geist uns dazu befähigt, einen Teil der moralischen Qualitäten Gottes wahrzunehmen, was anschließend (in Einklang mit der normalen, vom Bauplan vorgesehenen Funktionsweise) dazu führt, dass religiöse Affekte in uns entstehen. Zumindest darauf ist Edwards festgelegt, aber mehr braucht er vielleicht nicht in Anspruch zu nehmen. Dennoch geht selbst diese These zu weit. Im Zustand der Sünde haben wir die Tendenz, Gott und unserem Nächsten nicht wohlzuwollen. Das gehört zum Wesen unseres sündigen Zustands. Das eigentliche Problem ist demnach doch eine Frage des Willens. Es ist ja nicht bloß so, als würden wir die Schönheit des Herrn und die Liebenswürdigkeit unserer Brüder und Schwestern nicht sehen und sie deshalb nicht lieben. Das bloße Fehlen der richtigen Affekte ist nur ein Teil des Problems. Hinzu kommt der Umstand, dass wir dazu neigen, dem Herrn zu grollen und ihn geringschätzig zu behandeln, indes wir zu anderen Personen in einem Konkurrenzverhältnis stehen und uns eigennützig verhalten. Was hier gebraucht wird, ist nicht in erster Linie mehr Wissen. Sofern wir aus Sündigkeit dazu neigen, Gott und den Nächsten zu hassen, wäre es möglich, Gottes moralische Qualitäten wahr-
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zunehmen und ihn dennoch weiter auf Distanz zu halten und ihm unsere Liebe zu verweigern, so dass wir vielleicht in einen noch schlimmeren Zustand geraten als damals, als seine Anwesenheit durch den Qualm unserer Missetaten (Anselm) vernebelt wurde und wir ihn gleichsam aus der Ferne hassten. Darauf könnte Edwards erwidern, es sei einfach nicht möglich, die moralischen Qualitäten Gottes wahrzunehmen und ihn dennoch nicht zu lieben, nicht von ihm angezogen zu werden und ihn nicht wundervoll freudespendend und faszinierend zu finden. Das ist allenfalls eine fragwürdige Replik. Freilich wird jemand, dessen affektive Fähigkeiten oder Vermögen richtig funktionieren, den Herrn lieben, sobald er seiner Liebenswürdigkeit, seines Glanzes und seiner Schönheit inne wird. Zweifellos wird eine solche Person den Herrn hinreißend finden. Umgekehrt wollen wir an jemanden denken, der die Schönheit und die Herrlichkeit Gottes wahrnimmt, aber dennoch von ihm abgestoßen wird. Eine solche Person würde in irgendeiner Hinsicht nicht richtig funktionieren. (Wer die Schönheit Gottes sieht, ihn aber trotzdem nicht liebt, würde ihn vielleicht auch nicht als schön beschreiben, wohl aber vielleicht als schrecklich und faszinierend – so wie ein schreckensstarrer Vogel eine Schlange oder ein der Lebensgefahr ausgesetzter Matrose die entsetzliche Schönheit und Eindringlichkeit eines Sturms beschreiben könnte. Daraus folgt ja nicht, dass er die Schönheit eigentlich gar nicht wahrnimmt.) Wenn der Verstand und der Wille richtig funktionieren und angemessen aufeinander abgestimmt sind, werden wir uns über die Dinge freuen, die wir als freudespendend wahrnehmen, und die Dinge lieben, die aus unserer Sicht liebenswert sind.¹⁵ Eine Hauptkomponente der Sünde ist jedoch gerade die Dysfunktion der Affekte, und es gibt keinen triftigen Grund anzunehmen, jemand, der unter einer verrückten Fehlausrichtung der Affekte leidet, könne etwas, was aus seiner Sicht schön ist, nicht abstoßend finden.Wenn es gelingt, die kognitiven Auswirkungen der Sünde zu heilen, genügt das nicht automatisch, um auch die affektive Verrücktheit zu heilen. Das Geschenk des Glaubens und der daran anschließenden Erneuerung ist nicht bloß davon abhängig, dass man den ursprünglich tadellosen Zustand des Vernunftvermögens wiederherstellt, so dass man Gott in all seiner Herrlichkeit und Schönheit wieder wahrnehmen kann. Darüber hinaus ist es erforderlich und wesentlich, dass auch die Verrücktheit des Willens geheilt wird.
Nach meiner Auffassung gibt es daher Eigenschaften wie »freudespendend«, »begehrenswert«, »schön« usw. Außerdem gibt es den kognitiven Zustand des Merkens, dass etwas freudespendend, begehrenswert oder schön ist. Außerdem gibt es den affektiven Zustand des Sich-überetwas-Freuens, des Dieses-Etwas-Begehrens, des Dieses-Etwas-Bewunderns und des Von-seinerSchönheit-Angezogenwerdens. Edwards ist nach meiner Überzeugung der gleichen Meinung.
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Was kommt also zuerst beim Glauben und bei der Erneuerung: der Verstand oder der Wille? Die Sünde ist eine Fehlfunktion des Willens, eine Verzerrung der Affekte. Sie besteht darin, dass man die falschen Dinge liebt und hasst. Allerdings schließt sie auch eine Form von Blindheit ein: eine gewisse Unfähigkeit, die Pracht und die Schönheit des Herrn zu sehen. Die Antwort auf die Frage »Was kommt zuerst?« lautet: »Keins von beiden« oder »Das kann man nicht sagen«. Die Erneuerung beruht darauf, dass man sowohl intellektuelle als auch affektive Störungen behebt. Die Struktur des Willens und des Verstands entspricht hier vielleicht einem spiralförmigen, dialektischen Prozess: Gesteigerte Affekte erlauben es uns, mehr von Gottes Schönheit und Pracht zu sehen; die Fähigkeit, mehr von Gottes Schönheit, Pracht und Majestät zu sehen, führt ihrerseits zu einer Steigerung der Affekte. Es gibt bestimmte Dinge, die man nur dann erkennen wird, wenn man liebt und die richtigen Affekte hat. Es gibt bestimmte Affekte, die sich nicht einstellen, ohne dass man einige der moralischen Qualitäten Gottes wahrnimmt. Weder von der Wahrnehmung noch von den Affekten kann man behaupten, sie kämen vor der jeweils anderen Instanz. Regeneration besteht in der Heilung des Willens, so dass wir zumindest anfangen, die richtigen Dinge zu lieben und zu hassen. Außerdem schließt sie die kognitive Erneuerung ein, so dass wir dahingelangen, die Schönheit, die Heiligkeit und das Reizvolle des Herrn und des von ihm entworfenen Rettungsplans wahrzunehmen.
B Bekundungen des Glaubens Bisher haben wir von der Wahrnehmung Gottes, den religiösen Affekten und den Beziehungen zwischen ihnen gesprochen. Jetzt wenden wir uns einer anderen, wenn auch damit zusammenhängenden Frage zu, nämlich: Wie kommt es nach Edwards, dass wir zum Glauben an die großen Dinge des Evangeliums (wie er selbst sie nennt) gelangen, also zum Glauben an die Dreifaltigkeit, die Fleischwerdung, das Sühneopfer usw.? Die Wahrnehmung der Pracht und der Schönheit des Herrn ist etwas völlig anderes als das Wissen, dass Jesus Christus tatsächlich der göttliche Sohn Gottes ist, der menschliches Fleisch wurde, Leiden erduldete und starb und dadurch für die Sünde der Menschen büßte. Nehmen wir letzteres ebenfalls wahr? Nein. Edwards glaubt nicht, dass wir die großen Wahrheiten des Evangeliums wahrnehmen. Ebensowenig nehmen wir solche Eigenschaften des Herrn wahr wie die, dass er uns dermaßen liebt, dass er seinen einzigen Sohn geschickt hat, zu leiden und zu sterben und uns damit das Leben zu ermöglichen. Eine bestimmte Art von Wahrnehmung mag zwar in unsere Erkenntnis dieser Dinge hineinspielen, aber diese Dinge selbst nehmen wir nicht wahr:
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Der Anblick dieser göttlichen Pracht überzeugt den Geist unmittelbar von der Göttlichkeit dieser Dinge, da diese Pracht als solche ein direkter, klarer und alles überwindender Beleg dafür ist. […] Wer sein Urteil somit – durch den klaren Anblick ihrer göttlichen Pracht – unmittelbar von der Göttlichkeit der Dinge des Evangeliums überzeugen und bestätigen lässt, hat eine vernünftige Überzeugung. Sein Glaube und seine Gewissheit sind der Vernunft durch und durch angenehm. Denn die göttliche Pracht und Schönheit der göttlichen Dinge ist an und für sich ein echter Beleg für ihre Göttlichkeit, und zwar der direkteste und stärkste Beleg. Wer die göttliche, transzendente, höchste Pracht dieser göttlichen Dinge sieht, weiß sozusagen intuitiv um ihre Göttlichkeit. Er kommt nicht bloß durch Argumente auf ihre Göttlichkeit, sondern er sieht, dass sie göttlich sind. Er sieht das in ihnen, worin die Göttlichkeit hauptsächlich besteht. (S. 298)
Es gibt zwei Möglichkeiten, sich auf diese und ähnliche Stellen einen Reim zu machen. Einerseits könnte Edwards meinen, der Gläubige nehme die göttliche Pracht und Schönheit der Dinge des Evangeliums wahr und folgere dann durch einen kurzen Schluss, dass sie wirklich göttlich sind, von Gott stammen und daher geglaubt werden müssen. Andererseits könnte die Erklärung auch folgendermaßen lauten: Der Gläubige sieht die Liebenswürdigkeit und Schönheit – die göttliche Schönheit – der Dinge des Evangeliums und bildet infolgedessen und unmittelbar die Überzeugung, dass diese Dinge wahr sind, sowie die Überzeugung, dass sie von Gott stammen. Der Unterschied läge darin, dass im ersten Fall ein Schluss gezogen wird, der vielleicht so rasch und unausgesprochen gefolgert wird, dass man es kaum merkt – aber dennoch handelt es sich um einen Schluss. Dann würde der innere Ansporn des Heiligen Geistes wie folgt funktionieren: Der Heilige Geist verleiht dem Gläubigen die Fähigkeit, die Pracht und die Schönheit des Evangeliums zu sehen, woraufhin er folgert, dass sie tatsächlich etwas Göttliches sind und daher geglaubt werden müssen. Die »echten Belege«, von denen Edwards spricht, wären propositionale Belege. Es würde sich um Aussagen handeln wie »Dies hier (einer der Lehrsätze des Evangeliums) ist herrlich und schön«, und die Konklusion würde lauten: »Dieser Lehrsatz stammt von Gott (und ist folglich wahr).« Nach der zweiten Interpretation wäre die Wahrnehmung der Pracht und der Schönheit der betreffenden Lehre zwar ein Anlass für die Bildung der Überzeugung, der Lehrsatz stamme wirklich von Gott (und sei wahr), aber der Übergang von hier nach da würde nicht durch einen Schluss erfolgen. Die betreffende Überzeugung wäre basal, auch wenn sie durch die Wahrnehmung einer anderen Sache (etwa der Schönheit und Pracht des fraglichen Lehrsatzes) veranlasst wird. Diese zweite Möglichkeit würde der Art und Weise entsprechen, in der (meiner Interpretation zufolge) der sensus divinitatis nach Calvins Auffassung funktioniert. Es ist nicht so, als würde man beim Anblick der Pracht des Gebirges oder angesichts der Majestät des Ozeans folgern, dass es eine Person wie Gott gibt, die das
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Gebirge oder den Ozean geschaffen hat. Vielmehr ist die Wahrnehmung des Gebirges oder des Ozeans (bzw. der eigenen Sünde oder der Gefahr oder … ) der Anlass für die Bildung der betreffenden Überzeugung bezüglich Gott. Dieser Deutung zufolge wären die »echten Belege«, um die es geht, keine propositionalen Belege, die als Prämisse eines Schlusses fungieren. Vielmehr würde es sich um etwas anderes handeln, das dafür sorgt, dass die betreffende Überzeugung einleuchtet. Das heißt, es würde sich um etwas anderes handeln, das im Zuge der Gewährleistung die entsprechende Rolle spielt. Es verhielte sich ähnlich wie mit der Rolle, welche die Wahrnehmung des Gesichtsausdrucks einer anderen Person bei dem Vorgang spielt, durch den man zu der gewährleisteten Überzeugung gelangt, dass sie zornig, niedergeschlagen oder entzückt ist. Nochmals: Obwohl ich das letztere nicht aus dem ersteren folgere, ist das erstere dennoch insofern mein Beleg für das letztere, als das erstere das ist (bzw. ein Teil dessen ist), wodurch das letztere aus meiner Sicht einleuchtet (gewährleistet wird). Geht man von der zweiten Deutung aus, gibt es wieder zwei Erklärungsmöglichkeiten: Einerseits könnte es sein, dass die Wahrnehmung der Schönheit und Herrlichkeit der großen Dinge des Evangeliums unmittelbar und ohne Zwischeninstanz die Bildung der relevanten Überzeugung veranlasst. Andererseits wäre es möglich, dass der Heilige Geist den Gläubigen dazu befähigt, diese Schönheit und Herrlichkeit wahrzunehmen, und ihn außerdem dazu befähigt, mit der richtigen affektiven Reaktion der Freude, Bewunderung und Liebe darauf anzusprechen. Dann ist es diese affektive Reaktion, die den unmittelbaren Anlass zu der betreffenden Überzeugung darstellt: Man sieht, dass die großen Dinge des Evangeliums prachtvoll und schön sind. Man findet sie gewinnend, anmutig und anziehend. Also glaubt man daran. Sollten sich die Dinge gemäß dieser zweiten Möglichkeit verhalten, würde im Hinblick auf die Bildung des Glaubens an die großen Dinge des Evangeliums gelten, dass der Wille (der Affekt) vor dem Verstand kommt. Welche dieser Möglichkeiten entspricht der Wahrheit? Was ist die Meinung von Edwards: Ist es der Fall oder ist es nicht der Fall, dass ein rascher Schluss mit hineinspielt? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, und vielleicht ist Edwards im Grunde der Ansicht, dass der Glaube in beiden Weisen zugleich zustande kommt: »Er kommt nicht bloß durch Argumente auf ihre Göttlichkeit, sondern er sieht, dass sie göttlich sind.« Nach meiner Meinung ist der zweite Standpunkt der leistungsfähigere, also die Auffassung, wonach die Wahrnehmung der Schönheit eines der großen Dinge des Evangeliums keine Prämisse eines Schlusses mit der relevanten Überzeugung als Konklusion ist, sondern ein direkter oder indirekter Anlass für die Bildung dieser Überzeugung. Dieser Meinung bin ich deshalb, weil der angebliche Schluss, um den es geht, offenbar zweifelhaft und fragwürdig ist, und zwar ebenso fragwürdig wie ein Schluss von Aussagen über Erscheinungen,
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die sich mir präsentieren, auf die Aussage, dass Sonnenlicht auf die Eichen fällt. Dagegen braucht einem Vorgang, bei dem die Wahrnehmung der Schönheit und Pracht dieser Lehre ein (direkter oder indirekter) Anlass für die Überzeugung ist, dass die Lehre wahr sei, gar nichts Zweifelhaftes oder Fragwürdiges anzuhaften. Oder haftet ihm doch etwas Fragwürdiges an? Wäre es irgendwie irrational, wenn man eine Überzeugung Ü als Reaktion auf die bloße Wahrnehmung, dass Ü anziehend und schön ist, bildete oder als Reaktion auf den Umstand, dass man an dem Gedanken, dass Ü, seine Freude hat – dass man in einer bestimmten affektiven Weise auf Ü anspricht? Verhielte es sich hier nicht ähnlich wie in den weiter oben (S. 174 ff.) besprochenen Fällen, in denen nonkognitive oder nicht den Verstand betreffende Merkmale einer kognitiven Situation die Überzeugungsbildung beeinflussen können und somit das richtige kognitive Funktionieren behindern? Nein, das glaube ich nicht. Es braucht nicht der Fall zu sein, dass man es überall dort, wo Einflüsse dieser Art vorliegen – also Einflüsse, die von verstandesfernen Faktoren ausgehen –, mit einer Störung zu tun hat.Vielleicht verlangt der Bauplan ja genau diese Art von Überzeugungsbildung, und vielleicht zielt der relevante Teil des Bauplans erfolgreich auf wahre Überzeugungen ab. Wie der Physiker Steven Weinberg schreibt, kommt es in den Naturwissenschaften häufig vor, dass eine Auffassung oder eine Theorie nicht (bzw. nicht nur) deshalb akzeptiert wird, weil stichhaltige Belege für sie sprechen, sondern deshalb, weil sie schön ist: Obwohl die ersten experimentellen Belege für die allgemeine Relativitätstheorie dünn waren, wurde Einsteins Theorie in den zwanziger Jahren zur maßgebenden Lehrbuchtheorie der Gravitation und blieb es ungeachtet dessen, daß die Beobachtungen von Sonnenfinsternissen in den zwanziger und dreißiger Jahren bestenfalls fragwürdige Belege für die Theorie erbrachten. Ich lernte die allgemeine Relativitätstheorie in den fünfziger Jahren kennen, noch bevor die moderne Radar- und Radioastronomie neue eindrucksvolle Belege für sie zu liefern begann. Und ich weiß noch, daß es für mich feststand, daß die allgemeine Relativitätstheorie im großen und ganzen zutrifft. Vielleicht waren wir alle nur unkrititsch und leichtgläubig, aber ich denke nicht, daß die Sache damit zu erklären ist. Daß die allgemeine Relativitätstheorie allgemein anerkannt wurde, lag, glaube ich, zum großen Teil an der Attraktivität der Theorie selbst, mit einem Wort: an ihrer Schönheit.¹⁶
Steven Weinberg, Der Traum von der Einheit des Universums, übers. von Friedrich Giese, München: Bertelsmann 1993, S. 104– 105. Vgl. Paul Dirac, The Development of Quantum Theory, New York: Gordon and Breach 1971, S. 30 – 37. Mit Bezug auf Arbeiten von De Broglie schreibt Dirac dort: »Dieser Zusammenhang, den De Broglie herstellte, war mathematisch gesehen von großer Schönheit und stand in Einklang mit der Relativitätstheorie. Die Sache war zwar äußerst geheimnisvoll, aber aufgrund der mathematischen Schönheit hatte man das Gefühl, zwischen den durch die Mathematik veranschaulichten Wellen und Teilchen müsse eine tiefe Verbindung bestehen.«
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Hier haben wir die gleichen drei Möglichkeiten vor uns: (a) Weinberg argumentiert für die Wahrheit der allgemeinen Relativitätstheorie, und als Prämisse benutzt er die Aussage, dass die Theorie schön sei (bzw. dass sie, genauer gesagt, eine nicht ohne weiteres zu spezifizierende Art von Schönheit oder ästhetischem Reiz an den Tag lege). (b) Weinbergs Wahrnehmung der Schönheit ist der unmittelbare Anlass für seine Überzeugung, dass die Theorie wahr ist. (c) Weinbergs Wahrnehmung der Schönheit ist der unmittelbare Anlass für eine affektive Reaktion der Bewunderung, Anziehung und Freude, wobei diese affektive Reaktion sodann die Überzeugung auslöst.¹⁷ Hier braucht gar nichts Irrationales vorzuliegen – und es wird auch nichts Irrationales vorliegen –, wenn diese Form der Überzeugungsbildung mit einem Teil unseres Bauplans übereinstimmt, der erfolgreich auf die Bildung wahrer Überzeugungen abzielt. Ähnlich verhält es sich mit den großen Dingen des Evangeliums. Außerdem kann man die zweite Edwards-Lesart mit dem folgenden bekannten Spruch von Augustinus vergleichen: »Unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir.«¹⁸ Vielleicht führt diese Ruhelosigkeit des Zustands der Gottferne zum Glauben an Gott; und vielleicht hat Gott uns so entworfen, dass wir zu dem Versuch getrieben werden, mit ihm Verbindung aufzunehmen. Wenn Edwards oder Augustinus recht haben, würde der Vorgang, durch den sich der Glaube (an Gott bzw. an die großen Dinge des Evangeliums) in uns entfaltet, ein wenig der Art und Weise ähneln, in der der Theismus nach Freuds Auffassung entsteht. Nach Freud (s. o., Kapitel 5) entsteht der religiöse Glaube aus dem Wunschdenken. Wir sehen, dass die Welt kalt und grausam ist, dass sie sich um uns, unsere Bedürfnisse und Wünsche nicht im Geringsten kümmert, dass sie feindselig und gedankenlos ist usw. Darauf reagieren wir, indem wir den Glauben an einen himmlischen Vater bilden, der uns liebt und in Wirklichkeit die Welt lenkt. Der Unterschied läge freilich darin, dass es bei diesem Vorgang der Glaubensbildung nach Freud nicht um die Hervorbringung wahrer Überzeugungen geht, sondern um die Hervorbringung von Überzeugungen mit einer anderen Eigenschaft, die es uns ermöglicht, mit der kalten, grausamen Welt zurechtzukommen, in die wir
Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass Weinberg außerdem geltend macht (oder vielmehr: schlicht behauptet), dass religiöse Überzeugungen, zu denen man durch Erfahrung gelangt, eigentlich durch Wunschdenken gebildet werden. Dabei verkennt Weinberg völlig die Parallele zu seiner eigenen Vorstellung, dass naturwissenschaftliche Überzeugungen manchmal aufgrund ihrer Schönheit akzeptiert werden. Siehe den Anfang der Bekenntnisse. Vgl. das Gedicht »The Pulley« von George Herbert (»Der Seilzug«, übers. von Friedhelm Kemp, in: Englische Dichtung: Von Chaucer bis Milton, hg. von Friedhelm Kemp u. Werner v. Koppenfels, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2001, S. 315/ 317).
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»geworfen« sind, wie unsere Vettern auf dem europäischen Kontinent sagen. Sollten jedoch Augustinus oder Edwards recht haben, sind die Vorgänge, die zur Bildung der betreffenden Überzeugungen führen, doch auf die Wahrheit gerichtet: Das relevante Modul des Bauplans ist dazu bestimmt, wahre Überzeugungen hervorzubringen, auch wenn es dabei einen Umweg über die Wahrnehmung der Schönheit oder die Wunscherfüllung macht. Tatsächlich besteht zwischen unseren Überzeugungen und der Wahrnehmung von Schönheit (und ähnlichen Qualitäten) ein Zusammenhang, der sehr viel tiefer reicht, als Weinberg anklingen lässt. Von Leibniz und vielen späteren Autoren ist bemerkt worden, dass normalerweise viele verschiedene Theorien bzw. Überzeugungen mit unseren Belegen verträglich sind. Wenn wir unsere Daten in ein cartesianisches Koordinatensystem übertragen, werden wir beliebig viele Geraden durch die eingezeichneten Punkte ziehen können, und es wäre möglich, jede Hypothese zu projizieren, die in geeigneten Beziehungen steht. Alle bisher untersuchten Smaragde sind grün. Allerdings sind sie in diesem Fall auch glau (wobei ein Smaragd dann als glau gilt, wenn er – um Goodman auf den neuesten Stand zu bringen – vor dem Jahr 2500 n. Chr. untersucht und für grün befunden oder nicht untersucht wurde und blau ist).¹⁹ Also könnten wir (anstelle von »Alle Smaragde sind grün«) »Alle Smaragde sind glau« projizieren und auf diese Weise zu dem Schluss gelangen, dass Smaragde, die nicht vor 2050 untersucht wurden, blau sind. Die Sonne ist bisher jeden Morgen aufgegangen. Nun bilden wir die Überzeugung, dass sie jeden Tag und dementsprechend auch morgen wieder aufgehen wird. Wir hätten uns jedoch eine ganz andere Überzeugung zurechtlegen können: Wenn T heute ist, hätten wir die Überzeugung bilden können, dass die Sonne jeden Tag vor T aufgegangen ist und niemals nach T aufgehen wird.Warum akzeptieren wir die Hypothesen, die wir tatsächlich gelten lassen? Warum projizieren wir nicht »glau«, sondern »grün«, und warum die Hypothese, dass die Sonne auch weiterhin aufgehen wird, und nicht die Hypothese, wonach sie nicht mehr aufgeht? Warum projizieren wir nicht die komplexen, sondern die einfachen Hypothesen? Nicht deshalb, weil wir Belege dafür kennen, dass einfachere Hypothesen mit größerer Wahrscheinlichkeit zutreffen als komplexe Hypothesen. Denn zu jedem angeblichen Beleg, der für diese Konklusion spricht, gibt es einen komplexeren Schluss aus denselben Daten, aus dem die Verneinung dieser Konklusion folgt. Also warum verfahren wir so? Wir verfahren deshalb so, weil wir einfache Überzeugungen (was immer genau unter »einfach« verstanden werden soll) natürlicher und attraktiver finden als komplexe Überzeugungen. Nur ein Irrer würde »glau« oder seinen Komplizen »blün« projizieren.²⁰ Verzwickte, komplexe Überzeugungen sind hässlich, widerwärtig, abwegig, abstoßend. Wir können sie nicht leiden und weisen sie deshalb zurück. Wir dürfen zwar hoffen, dass die Welt tatsächlich so beschaffen ist, dass Einfachheit (zumindest eine bestimmte Art von Einfachheit, die in bestimmten Bereichen zum Tragen kommt) ein Merkmal der Wahrheit ist, aber es besteht nicht die geringste Aussicht darauf,
Siehe Nelson Goodman, Fact, Fiction and Forecast, Cambridge, MA: Harvard University Press 1955 (Nachdruck Indianapolis: Bobbs-Merrill 1973), S. 74 in der Ausgabe von 1973 (übers. von Hermann Vetter: Tatsache, Fiktion, Voraussage, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988). Siehe ferner die korrigierte Fassung des Paradoxons in: Goodman, Problems and Projects, Indianapolis: BobbsMerrill 1972, S. 359. Vgl. WPF, S. 128 ff. Wie nicht anders zu erwarten, ist x blün, wenn x entweder vor 2050 n. Chr. untersucht und für blau befunden oder nicht untersucht wurde und grün ist.
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das in einer Weise zu untermauern, die nicht schon den Begriff der Einfachheit in Anspruch nimmt. Nehmen wir etwa an,wir stellten fest, dass sich in den letzten tausend Fällen die einfachste Hypothese als wahr herausgestellt hat. Wenn t die Gegenwart ist, wollen wir sagen, eine Überzeugung sei einplex, wenn sie vor t gebildet wurde und einfach ist, oder wenn sie nach t gebildet wurde und komplex ist. Was wir bisher beobachtet haben, ist dann dies: dass einplexe Überzeugungen eine Tendenz zur Wahrheit haben. Das bedeutet jedoch, dass wir uns ab sofort für komplexe Überzeugungen interessieren sollten.
Wie sollen wir uns diese Dinge im Rahmen unseres Modells zurechtlegen? Da gibt es die drei Möglichkeiten à la Edwards: Es könnte sein, dass aus der Schönheit und Prächtigkeit des Evangeliums rasch auf seine Wahrheit geschlossen wird. Ferner wäre es möglich, dass eine solche Überzeugung gar nicht erschlossen wird, sondern direkt und in Einklang mit dem Bauplan auf die Wahrnehmung der Schönheit und Herrlichkeit des Evangeliums folgt. Und drittens könnte es sein, dass die Wahrnehmung der Schönheit des Evangeliums Bewunderung und Freude auslöst, was dann wiederum den Glauben herbeiführt. Zwischen diesen Möglichkeiten brauchen wir uns nicht zu entscheiden. Es gibt diese affektive Reaktion, es gibt die Wahrnehmung von Schönheit und Prächtigkeit, und es gibt den Glauben. Es gehört nicht zu unserem Modell anzugeben, welches dieser Elemente allenfalls vor welchen anderen kommt.
III Analogon der Gewähr Beachten sollten wir die tiefreichenden Analogien, die hier zwischen Wille und Verstand, Affekt und Überzeugung bestehen. Der Verstand ist das Gebiet der Überzeugungen; der Wille ist das Gebiet der Affekte. Wenn die kognitiven Vermögen richtig funktionieren, wird man nicht alle möglichen beliebigen Aussagen glauben, sondern im Regelfall wahre Aussagen.²¹ Um es in einer älteren Terminologie zu formulieren: Der Verstand ist auf die Wahrheit ausgerichtet. Allerdings haben auch die Affekte, ebenso wie der Verstand, einen angemessenen Gegenstand – oder richtiger gesagt: Die verschiedenen Affekte haben entsprechende Gegenstände. Wenn die Quellen der Affekte richtig funktionieren, werden wir lieben, was liebenswert ist, uns an dem freuen, was Freude spendet, und begehren, was begehrenswert ist. Wir werden Gott mehr als alles andere lieben und
Und natürlich nicht irgendwelche beliebigen wahren Aussagen, sondern solche, die den Umständen angemessen sind. Treffe ich jemanden auf einer Party, und er sagt mir, dass er in Omaha wohnt, so werde ich die Überzeugung bilden, dass er dort wohnt, und nicht etwa die sei’s oder etwa die – sei’s auch wahre – Überzeugung, dass er in Cleveland geboren wurde, oder die ebenfalls wahre Überzeugung, dass Cäsar den Rubikon überschritten hat.
III Analogon der Gewähr
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unseren Nächsten wie uns selbst. Wir werden uns an Gottes Schönheit und Pracht erfreuen sowie an geschaffenen Widerspiegelungen dieser Schönheit und Pracht, und wir werden begehren, was wirklich gut für uns ist. Hier gehe ich von der unmodernen Auffassung aus, dass einige Einzeldinge und einige Sachverhalte wirklich und objektiv liebenswert, freudespendend und begehrenswert sind. Andere sind wirklich und objektiv hassenswert, widerlich und unerwünscht; wieder andere fallen unter keine dieser Kategorien. Dass etwas Freude spendet, ist nicht – bzw. nicht nur – die dispositionale Eigenschaft einer Sache oder eines Sachverhalts, tendenziell Freude in uns hervorzurufen, sondern es ist eine objektive Eigenschaft eines Gegenstands oder eines Sachverhalts – eine Eigenschaft, die in keiner Hinsicht von menschlichen Reaktionen darauf abhängig ist. Die Schönheit und das Freudespendende einer Mozart-Sonate sind objektive Eigenschaften des Klangmusters oder einer seiner einzelnen Realisierungen. Sie sind nicht bloß subjektive Reaktionen auf seiten des Hörers bzw. die dispositionalen Eigenschaften der Neigung zur Hervorbringung dieser subjektiven Reaktionen, obwohl es natürlich solch eine Reaktion geben wird, wenn sich die Dinge richtig entwickeln. (Es kann sein, dass der freudespendende Charakter einer Sache von Gottes Einstellung zu ihr abhängt, doch damit sind wir wieder bei einem ganz anderen Thema.) Affekte können, ebenso wie Überzeugungen, gerechtfertigt oder ungerechtfertigt sein – oder vielmehr: Ich kann als Träger eines bestimmten Affekts gerechtfertigt sein oder nicht.²² Außerdem können Affekte, ebenso wie Überzeugungen, rational oder irrational sein. Wenn ich auf eine verheerende Katastrophe mit einem amüsierten Lächeln reagiere, wenn ich mich selbst mehr als jeden anderen liebe oder wenn ich auf jemanden bloß deshalb herabsehe, weil seine Verwandten weniger wohlhabend sind als meine eigenen Angehörigen, funktioniert etwas nicht richtig. Auch im Hinblick auf den Grad der Affekte – ebenso wie mit Bezug auf den Grad der Überzeugung – kann es richtiges und fehlerhaftes Funktionieren geben. Wenn ich etwa einen dummen Werbesong genauso schätze wie die h-Moll-Messe von Bach, handelt es sich um einen Fall von affektiver Fehlfunktion. Ebenso verhält es sich, wenn jemand auf meine gute Meinung mehr Wert legt als auf die Meinung Gottes.
Hinzu kommt, dass Affekte, ebenso wie das Glauben, nicht meiner direkten Kontrolle unterstehen. So kann ich mich beispielsweise nicht durch mein bloßes Wollen dazu bringen, die richtige Einstellung zu jemandem anzunehmen, der mir übel mitgespielt oder mich beleidigt hat. Aber andererseits unterstehen die Affekte, ebenso wie das Glauben, bis zu einem gewissen Grade meiner indirekten Kontrolle. Man kann sich darin schulen, nicht so empfindlich auf Kränkungen zu reagieren und sie als etwas Unwichtiges anzusehen und zu empfinden. Gegen Stolz und Egoismus kann man ankämpfen, und manchmal kann man in diesem Bereich Teilerfolge erzielen.
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Ferner ist zu sagen, dass es im Bereich der Affekte ein Analogon der Gewähr gibt. Eine Überzeugung ist dann gewährleistet, wenn sie in einer geeigneten epistemischen Maxi- bzw. Miniumgebung von kognitiven Vermögen gebildet wird, die gemäß einem erfolgreich auf die Wahrheit abzielenden Bauplan richtig funktionieren. Affekte können eine ähnliche Eigenschaft besitzen. Sie können,wie wir schon gesehen haben, von richtig oder nicht richtig funktionierenden Fähigkeiten hervorgebracht werden. Dass die Umgebungsbedingung auch für Affekte gilt, ist ebenso offenkundig. Auf einem fernen Planeten könnte es ein Gas geben, das die Menschen dazu bringt, auf Katastrophen mit einem dummen Kichern oder einem gleichgültigen Achselzucken zu reagieren oder völlig grundlos einen Wutanfall zu bekommen. Die (für uns) richtige Art der affektiven Umgebung wird derart sein, dass wir unter Voraussetzung unseres Bauplans die richtigen affektiven Reaktionen ausbilden.Wie steht es nun mit den letzten beiden Bedingungen der Gewährleistung, wonach (1) das betreffende Vermögen so beschaffen sein soll, dass es auf die Hervorbringung wahrer Überzeugungen abzielt, und (2) der Bauplan ein guter Plan sein soll? Was die erste dieser beiden Bedingungen anlangt, gibt es auch hier wieder offenkundige Analoga. Es wäre möglich, dass eine spezifische Form von Affekt nicht darauf abzielt, etwas wirklich Wertvolles hochzuschätzen, sondern auf etwas anderes, beispielsweise auf die Fortdauer oder das Überleben der Spezies oder sonst etwas. Ein Affekt (bzw. ein Einzelvorkommnis einer Art von Affekt) weist nur dann das Analogon der Gewähr auf, wenn er durch einen Prozess hervorgebracht wird, der nicht auf die Erzeugung von Affekten mit irgendwelchen derartigen Eigenschaften abzielt, sondern auf die Erzeugung von Affekten, die ihrem Gegenstand angemessen sind, so dass es das Wertvolle, das Liebenswürdige oder das Begehrenswerte ist, das hochgeschätzt, geliebt oder begehrt wird. Die letzte Bedingung der Gewährleistung besagt, dass die Hervorbringung der Überzeugung von einem Bauplan reguliert werden muss, der insofern ein guter Plan ist, als eine hohe objektive Wahrscheinlichkeit besteht, dass eine Überzeugung, die so gebildet wird, dass sie die ersten drei Bedingungen erfüllt, wahr ist. Auch hierzu gibt es im Bereich der Affekte ein offenkundiges Gegenstück: Der Bauplan, der die Erzeugung der Affekte steuert, ist nur dann ein guter Plan, wenn es beispielsweise objektiv wahrscheinlich ist, dass ein gegebenes Einzelbegehren einer begehrenswerten Sache und ein gegebener Einzelfall von Hass etwas Hassenswertem gilt (vorausgesetzt, die übrigen drei Bedingungen sind erfüllt).²³ Gibt es bei den Affekten auch ein Gegenstück zum Gettier-Problem? Diese Frage möchte ich dem Leser als Hausaufgabe stellen und nur daran erinnern, dass das Problem der »Problemlösung« das Wesentliche der Gettier-Situationen ausmacht. Es handelt sich also darum, dass kognitive Miniumgebungen auch dann irreführend sein können, wenn sie in Maxiumgebungen
IV Eros
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IV Eros Die Bekehrung ist also im Grunde eine Richtungsänderung des Willens, eine Heilung der uns plagenden Affektstörung. Sie ist eine Abwendung von der Eigenliebe und der Vorstellung, man selbst sei das wichtigste Wesen auf der Welt, und zugleich eine Hinwendung zur Gottesliebe. Doch was hat es auf sich mit dieser Gottesliebe, und wie sollen wir sie verstehen? William James – dieser kultivierte, soignierte viktorianische Gentleman aus Neuengland – bemerkt die pulsierenden Elemente der Sehnsucht, des Verlangens, der Begierde und des Eros in den Schriften der Teresa von Avila und wirft aus kultivierter Distanz einen abschätzigen Blick auf das Ganze, um es, nun ja, ein wenig geschmacklos, ein wenig declassé zu finden. James rümpft die Nase und meint: »[…] aber in der Hauptsache scheint ihre Vorstellung von Religion die einer endlosen Liebelei […] zwischen dem Frommen und Gott gewesen zu sein.«²⁴ Dieser Witz geht allerdings auf Kosten von James. Es gibt nämlich einen engen und weit zurückreichenden Zusammenhang zwischen Eros und entfalteter Spiritualität. Die Bibel ist voller Äußerungen dieses Sehnens, Verlangens und Begehrens. Das hebräische Wort für »Wissen«, »Erkenntnis« – wie z. B. in dem Ausdruck »Erkenntnis Gottes« – ist zugleich ein Wort für Geschlechtsverkehr.²⁵ Und wenn die Kinder Israel abtrünnig werden und sich falschen Göttern zuwenden, wird das als Ehebruch dargestellt. Vor allem die Psalmen enthalten eine Fülle solcher Äußerungen des Eros: Meine Seele verzehrt sich in Sehnsucht nach dem Tempel des Herrn. Mein Herz und mein Leib jauchzen ihm zu, ihm, dem lebendigen Gott. (Psalm 84, 3) Gott, du mein Gott, dich suche ich, meine Seele dürstet nach dir. Nach dir schmachtet mein Leib wie dürres, lechzendes Land ohne Wasser. (Psalm 63, 2) Nur eines erbitte ich vom Herrn, danach verlangt mich: […] die Freundlichkeit des Herrn zu schauen. (Psalm 27, 4) Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. (Psalm 42, 2– 3) Weit öffne ich meinen Mund und lechze nach deinen Geboten.
(Psalm 119, 131)
eingebettet sind, die für kognitive Vermögen unseres Stils durchaus geeignet sind (siehe oben, S. 185 ff.). William James, The Varieties of Religious Experience, New York: Longmans, Green 1902, S. 340 (dt. Übers. von Georg Wobbermin, Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit, Leipzig: Hinrichs Verlag, 1907, S. 329). Davon ist mitunter auch in den Übersetzungen der Bibel noch etwas zu spüren. Siehe z. B.: »Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Kain« (1. Mose, 4, 1).
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Diese Liebe zu Gott ist etwas anderes als beispielsweise die Neigung, den Nachmittag damit zu verbringen, dass man seine Briefmarkensammlung ordnet. Sie ist ein mit Begierde und Verlangen erfülltes Sehnen; und sie ist nicht nur spiritueller, sondern auch körperlicher Art: »Nach dir schmachtet mein Leib, … meine Seele dürstet nach dir.« Sie ist erotisch, und einer der nächstliegenden Vergleiche würde sich auf den sexuellen Eros beziehen. Es besteht ein starkes Begehren nach Vereinigung mit Gott, nach der Einheit, von der Christus im Johannesevangelium (17) spricht. Ein ebenso naheliegender Vergleich bezöge sich auf die Liebe zwischen Eltern und kleinem Kind. Und auch diese Art der Liebe wird in der Bibel häufig als Sinnbild der Liebe Gottes verwendet, womit sowohl die Liebe Gottes zu uns als auch unsere Liebe zu ihm gemeint ist. Auch bei dieser Beziehung gibt es natürlich ein Sehnen,Verlangen, Begehren nach Nähe, wenn auch kein sexuelles Verlangen. Man denke etwa an die Sehnsucht eines Achtjährigen mit Heimweh oder an die Liebe einer Mutter zu ihrem verletzten und leidenden Kind. Natürlich sind Äußerungen dieses Eros nicht nur in den Psalmen zu finden. Bei Jesaja ist zu lesen: »Ich will über Jerusalem jubeln und mich freuen über mein Volk« (Jesaja 65, 19); »Wie der Bräutigam sich freut über die Braut, so freut sich dein Gott über dich« (Jesaja 65, 5). Damit ist meines Erachtens nicht nur gesagt, dass sich Gott über sein Volk freuen wird wie der Bräutigam über die Braut, sondern implizit auch, dass die Braut diese Liebe erwidert.Wenn sich alles richtig entwickelt, wird Gott von seinem Volk in der gleichen Weise – und mit einer ähnlichen Form des erotischen Begehrens – geliebt, wie die Braut ihren Bräutigam liebt. Zu nennen ist auch das Hohelied mit seinen intensiv erotischen Bildern, die von der Kirche immer schon als Sinnbild der Liebe zwischen Christus und seiner Kirche gedeutet worden sind: Ich gehöre meinem Geliebten, und ihn verlangt nach mir. Komm, mein Geliebter,wandern wir auf das Land, schlafen wir in den Dörfern. Früh wollen wir dann zu den Weinbergen gehen und sehen, ob der Weinstock schon treibt, ob die Rebenblüte sich öffnet, ob die Granatbäume blühen. Dort schenke ich dir meine Liebe. (Hoheslied 7, 11– 13)
Im Neuen Testament wird das Verhältnis zwischen Christus und seiner Kirche mehrmals mit der Beziehung zwischen Mann und Frau verglichen: Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst. Keiner hat je seinen eigenen Leib gehaßt, sondern er nährt und pflegt ihn, wie auch Christus die Kirche. Denn wir sind Glieder seines Leibes. Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an eine Frau, und sie werden ein Fleisch. [1. Buch Mose, 2, 24] Dies ist ein tiefes Geheimnis; ich beziehe es auf Christus und die Kirche. (Epheser 5, 28 – 32)
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Ein Widerhall solcher Äußerungen findet sich über die Jahrhunderte hinweg in christlichen Schriften. So heißt es bei Augustinus: Spät hab’ ich dich geliebt, o Schönheit, so alt und so neu, spät dich geliebt! […] Da hast du gerufen, geschrien, den Bann meiner Taubheit gebrochen, hast geblitzt, gestrahlt, und meine Blindheit verscheucht. Deinen Duft hab ich geatmet und seufze nun nach dir. Ich habe dich geschmeckt und hungere und dürste nun. Du hast mich berührt, und ich bin entbrannt in Verlangen nach deinem Frieden.²⁶
Die großen Mystiker und Meister des spirituellen Lebens bedienen sich ebenfalls dieser erotischen Begriffe: Obwohl die Lockungen, durch die wir von Gott angezogen werden, wundersam lieb, sanft und beglückend sind, so scheint es doch, als ob die göttliche Schönheit und Güte mit solcher Wucht die Aufmerksamkeit und Anspannung des Geistes an sich zöge, daß sie uns nicht nur zu sich erhebt, sondern uns emporreißt und entrückt. Andererseits ist die Zustimmung der zu Gott entrückten Seele so absolut freiwillig und die Bewegung, durch die sich die entrückte Seele in Gott verströmt, so glühend eifrig, daß sie nicht zu Gott emporzusteigen und sich zu Gott erheben, sondern sich förmlich außer sich in die Gottheit hineinzuwerfen und hineinzustürzen scheint. ²⁷
Es sind allerdings nicht nur die großen Mystiker, die solche Erlebnisse haben. William James zitiert die folgende anonyme Quelle: Da ich mich dann umwandte, um mich am Kamin niederzusetzen, kam der heilige Geist mächtig über mich. […] stieg der heilige Geist auf mich herab, daß es mir durch Leib und Seele ging. Mir war, als stände ich unter der Einwirkung eines elektrischen Stromes. In der Tat, der heilige Geist schien in Strömen der Liebe auf mich herniederzufließen. Anders vermag ich es nicht zu beschreiben.²⁸
Sogar – und vielleicht gerade – bei den häufig als sauertöpfisch und emotional verhärmt hingestellten Puritanern stößt man immer wieder auf Äußerungen der erotischen Gottesliebe. Ein Beispiel ist natürlich Jonathan Edwards, doch er war keineswegs der einzige. So heißt es bei Henry Scougal:
Augustinus, Bekenntnisse, X, 27, übers. von Wilhelm Timme, München: dtv 1986, S. 275 – 276. Franz von Sales, Abhandlung über die Gottesliebe: Theotimus, Zweiter Teil, VII, 4. Kapitel, Eichstätt/Wien 1990, S. 44– 45. Eines von vielen weiteren Beispielen findet sich bei Jacques Nouet, Conduite de l’homme d’Oraison, Buch VI, in: Anton Poulain, The Graces of Interior Prayer, übers. von Leonora York Smith, London: Routledge and Kegan Paul 1950, S. 111, zit. in: William Alston, Perceiving God, S. 54. William James, Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit: Materialien und Studien zu einer Psychologie und Pathologie des religiösen Lebens, S. 242.
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Sobald die Seele ganz auf dieses höchste und überreichliche Gut gerichtet ist, findet sie soviel Vollkommenheit und Güte, dass ihrem Empfinden nicht nur Genüge getan und Erfüllung zuteil wird, sondern sie wird geradezu übermannt und überwältigt. Sie merkt, dass all ihre Liebe zu schwach und zu matt ist für einen derart edlen Gegenstand, und es tut ihr nur leid, nicht mehr Liebe aufbringen zu können. Sie sehnt sich nach der Zeit, da sie völlig mit der Liebe verschmilzt und in ihr aufgeht.²⁹ Welch unendliche Lust muss es sein, sich auf diese Weise gleichsam in ihm zu verlieren, von dem überwältigenden Gefühl seiner Güte aufgesaugt zu werden und sich selbst als lebendiges Opfer darzubieten, das in Flammen der Liebe immer weiter zu ihm emporsteigt.³⁰
Amy Plantinga Pauw schreibt an einer Stelle: Das freudevolle Verhältnis zwischen Christus und den Heiligen wird von einer so besonnenen Person wie Samuel Willard in unverkennbar erotischer Ausdrucksweise beschrieben: »Wohnen werden wir dann am Brunnen seiner Liebe, und die wechselseitige Liebesleidenschaft zwischen ihm und uns wird alle Dämme niederreißen und alle Grenzen überschreiten, und wir werden in der Seele und am Leibe ganz und gar befriedigt sein.«³¹
Scougal, The Life of God in the Soul of Man, or, the Nature and Excellency of the Christian Religion (1677), Philadelphia: G. M. u. W. Snider 1827, S. 62. Ebd., S. 66. »Edwards on Heaven and the Trinity«, in: Calvin Theological Journal 30/2 (November 1995), S. 392 ff. Das Willard-Zitat stammt aus: A Compleat Body of Divinity, Boston 1726, Sermon 146. Vgl. Abraham Kuyper, To Be near unto God, übers. von John Hendrik de Vries, Grand Rapids: W. B. Eerdmans 1918, 1925, S. 675: »Das Heimweh strebt nach Gott selbst, bis du im Liebesdrang deiner Seele die Wärme seines Vaterherzens in deinem eigenen Herzen spürst. Es ist nicht bloß der Name Gottes, sondern Gott selbst, den deine Seele begehrt und ohne den sie nicht auskommen kann – Gott selbst im strahlenden Abglanz seines Lebens; und es ist dieser Widerschein seines Lebens, der dich durchdringen und vom Blut deiner Seele aufgenommen werden muss.« Hingewiesen werden sollte an dieser Stelle auch auf einige der Geistlichen Sonette (Divine Meditations) von John Donne, beispielsweise auf Nr. 14: Bestürm mein Herz, dreifaltiger Gott! Bis heut Klopfst Du nur an, hauchst, reinigst, besserst sanft; Damit ich aufsteh, wirf mich nieder, spann Den Arm: spreng, brenn, zerschlag und mach mich neu! Gleich einer Stadt, die fremde Herrschaft beugt, Ersehn ich meinen Herrn – umsonst. Verstand, Dein Vizekönig, mir zum Schutz gesandt, Zeigt sich, in Banden, schwach und ungetreu. Dich lieb ich, bin nach Deiner Liebe krank, Doch Deinem Feind verlobt. Ach, scheide mich, Den Knoten lös, oder zerhau das Band; Nimm mich, schlag mich in Deinen Bann, denn ich Werd niemals frei, außer in Knechtsgestalt, Noch jemals keusch, tust Du mir nicht Gewalt.
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Welchen Reim sollen wir uns auf diese erotische Gottesliebe machen – dieses Sehnen, Verlangen, Begehren und deren Erfüllung in einer leidenschaftlichen Vereinigung »zwischen dem Frommen und Gott«? Dieses Phänomen taucht in allen möglichen Intensitätsgraden auf: Einerseits gibt es das von de Sales angedeutete Szenario der ausgewachsenen, atemberaubenden, überwältigenden Leidenschaft, andererseits aber auch die sehr viel stillere und zurückhaltendere Bewegung des Herzens in Richtung Gott auf Seiten desjenigen, der seinen Dank für einen prächtigen Junivormittag abstattet oder für einen kurzen Augenblick der Herrlichkeit und Schönheit der christlichen Geschichte inne geworden ist und jetzt eine Anwandlung des Hingezogenseins spürt, die tiefer reicht als die bloße Dankbarkeit. Und zwischen diesen beiden Extremen gibt es alle möglichen Abstufungen. Wie soll man dieses Phänomen deuten? Der größte Teil der psychiatrischen Literatur geht tendenziell in die gleiche Richtung wie Freud und fasst Religion als eine Form von Neurose auf, als allgemeine »Zwangsneurose« der Menschheit.³² Von diesem Standpunkt aus gesehen, ist der religiöse Eros als eine Art von Analogon, Verschiebung oder Sublimierung der (grob gesprochen) sexuellen Energie zu deuten (vermutlich auf Seiten derjenigen, die auf dem Gebiet der konventionelleren sexuellen Ventile wenig zu bieten haben). Was soll es heißen, sexuelle Energie werde in der Kunst, der Dichtung oder der Liebe Gottes sublimiert? Der Grundgedanke ist der, dass es einen endlichen Vorrat an Energie gibt, dessen »natürlicher« Gebrauch bzw. dessen Ventil sexueller Art ist. Diese Energie lässt sich irgendwie in andere Kanäle umleiten, und zwar vielleicht besonders dann, wenn die natürlichen Kanäle nicht zu Gebote stehen. (Hier wird auch suggeriert, diese anderen Kanäle seien in sozialer Hinsicht irgendwie respektabler.) Derjenige, in dem sich dieser Vorgang der Sublimierung abspielt, hat natürlich kein Bewusstsein von diesem Ursprung seiner,wie er meint, höheren Gefühle und Bestrebungen. (Das Entlarven, für das Freud so bekannt ist, feiert hier fröhliche Urständ.) Nun könnte man innehalten und versuchen, diese Behauptung genauer zu verstehen. Welche Bewandtnis hat es mit dieser »Energie«, und was bedeutet die Aussage, diese Energie werde in eine andere Richtung geleitet, und warum sollte sich Energie in dieser Weise umleiten lassen? Ist diese ganze These nicht im Grunde metaphorisch? (»Sublimierung«, »Energie«, »Umleitung« usw. – alle diese Wörter werden hier doch metaphorisch gebraucht.) Und wenn es sich so verhält, wofür steht die Metapher dann? Gibt es eine Möglichkeit,
(Übers. von Werner v. Koppenfels, in: Englische Dichtung: Von Chaucer bis Milton, hg. von Friedhelm Kemp u. Werner v. Koppenfels, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2001, S. 247/249.) Siehe oben, Kapitel 5, S. 160 ff.Vgl. Comprehensive Textbook of Psychiatry, Band 2, hg.von A. M. Freedman, H. I. Kaplan u. B. J. Sadock, Baltimore: Williams and Wilkins 1975, insbesondere den Artikel von Mortimer Ostow, »Religion and Psychiatry«.
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die Theorie in wortwörtlich zu nehmender Rede zu formulieren? Mit diesen Fragen wollen wir uns jedoch gar nicht erst aufhalten, sondern so tun, als hätten wir ein einigermaßen klares Bild von der vermeintlichen Theorie. Gibt es irgendeinen Grund, sie für richtig zu halten? Hier verhält es sich nach meinem Dafürhalten ähnlich wie mit Freuds Erklärung des religiösen Glaubens als Wunscherfüllung (Kapitel 5). Wir werden mit der Frage konfrontiert: Wie kommt es, dass manche Menschen dieses leidenschaftliche Verlangen und diese Liebe zu Gott an den Tag legen? Eine mögliche Antwort würde lauten: »Nun, der Bibel und dem christlichen Glauben zufolge ist Gott selbst wesentlich Liebe. Die Vereinigung mit ihm ist auch das Hauptziel von uns Menschen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Gott uns so geschaffen hat, dass wir ein tiefes Verlangen nach Vereinigung mit ihm verspüren, auch wenn dieses Verlangen durch die Sünde zum Teil unterdrückt und ausgelöscht worden ist.« Aber angenommen, wir glauben nicht an die Existenz Gottes und halten den christlichen Theismus (und jede andere Form von Theismus) für eine Illusion (und eine Täuschung).Wie kommt es unter dieser Voraussetzung dazu, dass so viele von uns diese Liebe Gottes an den Tag legen? Ich möchte annehmen, dass es diese Frage bzw. diese Fragen mitsamt der genannten Voraussetzung ist, die Freud mit seinem Vorschlag beantworten möchte. Seine Antwort soll uns helfen zu verstehen, was sonst (aus dieser atheistischen Perspektive) ein rätselhaftes Phänomen wäre. Die vorgeschlagene Erklärung besagt, dass es das natürliche, nicht überraschende, nachgewiesene Phänomen der sexuellen Energie gibt. Sodann wollen wir uns vorstellen, dass diese Energie (bei denen, die der natürlichen Ventile ermangeln) aus dem einen oder anderen Grund in eine andere Richtung »umgeleitet« wird, und zwar in eine Richtung, die vielleicht eine bestimmte psychische Funktion erfüllt. Auf diese Weise können wir uns die erotische Liebe zu Gott verständlich machen. Sofern wir diese Erklärung Freuds wirklich verständlich darstellen können, ist sie – ebenso wie seine Erklärung des theistischen Glaubens als Wunscherfüllung – derart, dass ihre Wahrheit dann sehr viel wahrscheinlicher ist, wenn der Theismus falsch ist, als dann, wenn er wahr ist. Freilich ist es nicht auszuschließen, dass eine Erklärung dieser Art auch dann zutrifft, wenn der Theismus ebenfalls wahr ist. Sogar wenn der Theismus wahr ist, ist es (beispielsweise aufgrund der Sünde) möglich, dass die natürlichen Quellen der Gottesliebe versiegen und die sexuelle Energie im Zeichen einer behelfsmäßigen Übergangsmaßnahme zum Zweck der Gottesliebe requiriert wird. Vielleicht ist es sogar möglich, dass wir ursprünglich, im Zustand der Sündenlosigkeit, so entworfen wurden, dass die sexuelle Energie irgendwie umgeleitet wird, um in dieser anderen Weise – also zur Liebe Gottes – eingesetzt zu werden. (Wobei es sich allerdings fragt: Wenn das zum ursprünglichen Bauplan des Menschen gehörte, warum sollte man die betreffende Energie
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dann als »sexuelle« Energie bezeichnen?) Dergleichen ist möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich (wenn man den Theismus oder das Christentum unterstellt). Doch selbst wenn etwas dergleichen zuträfe, bliebe ein wichtiger Unterschied bestehen, denn aus christlicher oder theistischer Perspektive wäre die Liebe zu Gott das Ziel bzw. der Zweck des Entwurfs oder Neuentwurfs des Systems bzw. dieser Menge von Systemen. Die Liebe zu Gott ist das Wofür dieses Systems. Aus dem Blickwinkel Freuds jedoch verhält es sich natürlich nicht so. Aus christlicher Perspektive sieht es hier (wie auch sonst oft) so aus, als habe Freud die Sachlage genau verkehrt herum dargestellt. Es ist nicht so, als wäre der religiöse Eros, die Liebe zu Gott, in Wirklichkeit sexueller Eros auf Abwegen oder in umgeleiteten Bahnen, und genausowenig ist es der Fall, dass der – durchaus wichtige – sexuelle Eros basal oder grundlegend, der religiöse Eros dagegen irgendwie abgeleitet ist. Tatsächlich verhält es sich so, dass die Dinge genau anders herum liegen. Es ist das sexuelle Begehren und Verlangen, das ein Zeichen von etwas Tieferem ist. Es ist ein Zeichen dieses Begehrens und Verlangens nach Gott, zu dem wir Menschen gelangen, wenn wir durch die Gnade dazu befähigt werden, eine bestimmte Ebene des christlichen Lebens zu erreichen. Es ist die Liebe zu Gott, die grundlegend oder basal ist, während der sexuelle Eros das Zeichen, das Symbol oder das Sinnbild für etwas anderes und Tieferes ist. (Damit möchte ich natürlich nicht behaupten, dass sich die Wichtigkeit und der Wert des sexuellen Eros darin erschöpfen, dass er ein Zeichen der Liebe Gottes ist.) Tatsächlich verweist der sexuelle Eros auf zwei tiefere Realitäten. Erstens verweist er auf die Liebe des Menschen zu Gott, bei der es sich um ein leidenschaftliches Verlangen nach dem eigentlichen Zustand handelt, zu dem wir von Gott bestimmt wurden. Dem Katechismus von Westminster zufolge besteht der Hauptzweck des Menschen darin, Gott zu verherrlichen und ihn immerfort zu genießen. Was heißt das: »Gott zu verherrlichen und ihn immerfort zu genießen«? Was den ersten Punkt betrifft, geht es im Wesentlichen nicht darum, Gott mitzuteilen, wie groß er ist, und ihm überschwengliche Komplimente metaphysischer oder sonstiger Art zu machen. Freilich ist Gott groß, großartig und unbeschreiblich ehrfurchtgebietend. Aber das weiß er schon, und von uns braucht er es nicht zu hören, so als wäre er seiner Sache nicht sicher oder als bedürfte sein aufgeblasenes Ego ständiger Wiederholungen dieser Art. Wahrscheinlicher ist, dass es um ein Wahrnehmen, Bemerken, Würdigen, Sich-Erfreuen und Genießen der Pracht und der Anmut Gottes, seiner Liebenswürdigkeit und Süße geht sowie um den natürlichen Ausdruck dieser Wahrnehmung und Freude (hier könnte man die ganze Liste der
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göttlichen Eigenschaften anführen, die Jonathan Edwards so oft erwähnt).³³ Was nun den zweiten Punkt – »ihn immerfort zu genießen« – betrifft, geht es um eine Form der Vereinigung mit Gott: Man will mit ihm vereinigt, mit ihm eins sein. Um nochmals Samuel Willard zu zitieren: »Wohnen werden wir dann am Brunnen seiner Liebe, und die wechselseitige Liebesleidenschaft zwischen ihm und uns wird alle Dämme niederreißen und alle Grenzen überschreiten, und wir werden in der Seele und am Leibe ganz und gar befriedigt sein.«³⁴ Der sexuelle Eros mit seinem Sehnen und Verlangen ist ein Zeichen und eine Vorankündigung des Sehnens und des Verlangens nach Gott, die uns in unserem geheilten und erneuerten Zustand im Himmel kennzeichnen werden. Die sexuelle Befriedigung und die Vereinigung mit ihren Ausbrüchen und ihren Ekstasen sind ein Zeichen und eine Vorankündigung der tieferen Realität der Vereinigung mit Gott – einer Vereinigung, die uns zur Zeit noch größtenteils völlig unklar ist. Bernard Williams ist offenbar der Überzeugung, dass der Himmel für eine Person mit Geschmack und Feingefühl ein etwas langweiliger Aufenthaltsort wäre.³⁵ Und Michael Levine meint, die Freundschaft mit Gott könne zwar durchaus interessant sein, aber zugleich bezweifelt er, dass sie »im höchsten Maße lohnend« wäre.³⁶ Vielleicht sind diese Reaktionen in spiritueller Hinsicht ebenso unreif wie die eines Neunjährigen, der zum ersten Mal von den Freuden der Sexualität hört: Könnte es wirklich sein, dass dergleichen dem Spielen mit Murmeln und dem Genuss von Schokolade den Rang abläuft?³⁷ Natürlich ist es nicht nur der sexuelle Eros, der in dieser Weise als Zeichen oder Symbol der Liebe zu Gott dient. Der sexuelle Eros ist ebenso wie die Liebe zu Gott ein leidenschaftliches Verlangen nach Vereinigung, ein leidenschaftliches Verlangen danach, mit dem Gegenstand des Begehrens eins zu werden. Es gibt auch noch andere Äußerungen der gleichen Art des Verlangens nach Vereinigung.
Ronald Feenstra erinnert mich daran, dass es zweifellos auch darum geht, das Bild Gottes in unserem (individuellen und kollektiven) Inneren zur Entfaltung zu bringen. Vgl. Edwards: »Da habe ich bei mir gedacht, ein wie vortreffliches Wesen das ist, und wie glücklich ich wäre, wenn ich diesen Gott genießen könnte, im Himmel an Gott geschmiegt wäre und förmlich von ihm aufgesaugt würde« (»A Personal Narrative«, in: A Jonathan Edwards Reader, hg. von John Smith, Harry Stout u. Kenneth Minkema, New Haven: Yale University Press 1995, S. 284). Williams, »The Macropoulos Case«, in: Problems of the Self, Cambridge: Cambridge University Press 1973, S. 94– 95. Levine, »Swinburne’s Heaven: One Hell of a Place«, in: Religious Studies 4 (1993), S. 521. Vgl. C. S. Lewis, der schreibt, eine solche Person sei »wie ein unwissendes Kind, das weiter im Elendsviertel seine Schlammkuchen backen will, weil es sich nicht vorstellen kann, was eine Einladung zu Ferien an der See bedeutet« (»Das Gewicht der Herrlichkeit«, in: Lewis, Das Gewicht der Herrlichkeit und andere Essays, Basel: Brunnen Verlag 1972, S. 94.
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Man denke an die schwermütige, übernatürliche Schönheit der Prärie an einem frühen Junimorgen, den glorreichen, aber ein wenig bedrohlichen Anblick der Cathedral Group in den Grand Tetons, den strahlenden Glanz von Mount Shuksan und Mount Baker von Skyline Ridge aus gesehen, das zeitlose Krachen und Donnern der Meeresbrandung, die schmelzende Süße von Mozarts »Dona Nobis Pacem«, das uns Tränen der Rührung in die Augen treiben kann, die unglaubliche Grazie, Schönheit und Eindringlichkeit einer Eiskunstlauf-Nummer oder ein aus gewaltiger Entfernung verwandelter Torschuss. In jedem dieser Erlebnisse liegt eine Art von Sehnen, ein vage nostalgisches Gefühl, vielleicht eine Art Heimweh,³⁸ ein Verlangen nach etwas Unbekanntem. Dieses Verlangen ist etwas anderes als sexueller Eros, aber auf einer tiefen Ebene zweifellos damit verknüpft. (Das könnte eine Einsicht sein, die Freud tatsächlich hatte.) In diesen Fällen kann man die Identität des ersehnten Objekts nicht ohne weiteres mit Bestimmtheit angeben, aber man kann den Eindruck gewinnen, dass sich das Sehnen auf eine Art von Vereinigung bezieht. Es ist so, als wollte man in der Musik aufgehen, als wollte man ein Teil des Meers oder mit der Landschaft eins werden. Gewiss würde man gern auf diesen Berg steigen, aber damit ist die Sache nicht erledigt, sondern irgendwie möchte man mit ihm eins werden, man möchte ein Teil von ihm werden, man will ihn oder seine Schönheit oder diesen spezifischen Aspekt besitzen, man will, dass er irgendwie zu einem Bestandteil der ureigenen Seele wird.³⁹ Natürlich ist das nicht möglich, und man bleibt unbefriedigt. Jean-Paul Sartre sagt, der Mensch sei überflüssig, de trop. In Wahrheit handelt es sich aber vielleicht nicht um ein »Zuviel«, sondern um ein »Zuwenig«. Außerdem nennt Sartre den Menschen eine »nutzlose Leidenschaft«. Was er hätte sagen sollen, ist, dass der Mensch eine unbefriedigte Leidenschaft ist. Wenn wir der Schönheit gegenüberstehen, bekommen wir nie genug. Wir sind niemals wirklich befriedigt. Jenseits gibt es noch mehr – ein Mehr, nach dem wir uns sehnen, aber von dem wir uns nur einen vagen Begriff machen können. Wir müssen uns mit flüchtigen Teilaspekten der wirklichen Befriedigung abfinden, und sie bleibt unerfüllt, bis wir von der Liebe Gottes erfüllt sind. Auch diese Fälle des Sehnens sind Formen der Sehnsucht nach Gott. Und die kurzen, aber wohltuenden Teilerfüllungen sind eine Form und Vorahnung der Befriedigung, die denen zuteil wird, die »Gott verherrlichen und immerfort genießen«.
Kuyper, To Be near unto God, S. 674– 675. Vgl. nochmals C. S. Lewis, der unseren »unerfüllbaren geheimen Wunsch« wie folgt kennzeichnet: »Wir wollen die Schönheit nicht nur sehen, obwohl auch das – Gott weiß es – schon Belohnung genug wäre. Wir wollen etwas anderes, was sich kaum in Worte fassen lässt – wir wollen uns mit der Schönheit, die wir sehen, vereinigen, in sie eindringen, sie in uns aufnehmen, in ihr baden, Teil von ihr werden« (Das Gewicht der Herrlichkeit, S. 105).
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9 Das Zeugnis-Modell: In unserem Herzen versiegelt
Es gibt noch eine zweite Hinsicht, in der der sexuelle Eros auf etwas Tieferes verweist. Er ist, wie wir eben gesehen haben, ein Zeichen bzw. ein Typus einer tieferen Realität, einer Art von Gottesliebe, die wir bisher nur aus Hinweisen und Andeutungen kennen. Außerdem ist er ein Zeichen, ein Symbol oder ein Typus der Liebe Gottes, also nicht nur der Liebe, die Gottes Kinder irgendwann für ihn empfinden werden, sondern auch der Liebe, die er ihnen entgegenbringt. Oben (S. 368) haben wir bereits festgestellt, dass die Bibel die Liebe Gottes für sein Volk und die Liebe Christi für seine Kirche immer wieder mit der Liebe vergleicht, die der Bräutigam für seine Braut empfindet. Nun herrscht die weitverbreitete traditionelle Auffassung, Gott sei gefühllos, er kenne weder Begehren noch Fühlen noch Leidenschaft, er sei außerstande, angesichts des traurigen Zustands seiner Welt und des Leidens seiner Kinder Kummer zu spüren, und ebenso außerstande, Freude, Entzücken, Verlangen oder Sehnsucht zu empfinden. Der Grund für diese Auffassung liegt, grob gesprochen darin, dass die Gemütsbewegungen im Rahmen der auf die griechische Philosophie zurückgehenden Tradition verständlicherweise als etwas Passives gedeutet wurden, als etwas, was uns geschieht, als etwas, dem man ausgesetzt ist – und nicht als etwas, was man aktiv tut. Man ist der Wut, der Liebe, der Freude usw. ausgesetzt. Gott hingegen ist reines Tun. Es gibt nichts, das ihm »widerfährt«. Er handelt, und niemals ist er rein passiv. Es gibt auch nichts, dem er ausgesetzt wäre. Was nun den Eros betrifft, gibt es einen zusätzlichen Grund zur Annahme, dass er in Gottes Leben keine Rolle spielt, denn Verlangen und Sehnsucht bedeuten Bedürfnis und Unvollständigkeit. Wer sich nach etwas sehnt, hat es noch nicht und braucht es, oder er glaubt es jedenfalls zu brauchen. Gott ist natürlich ein Vorbild an Vollständigkeit und braucht nichts außer sich selbst. Wie könnte er dann dem Wirken des Eros ausgesetzt sein? Die Liebe Gottes ist dieser Tradition zufolge ausschließlich Agape – Güte, Barmherzigkeit,⁴⁰ eine rein fremdbezogene, großherzige Liebe, die zwar Erbarmen, aber kein Element des Begehrens umfasst. Gott liebt uns, aber es gibt nichts,was wir für ihn tun können. Es gibt nichts, was er sich von uns wünscht. Was diesen spezifischen Punkt betrifft, müssen wir uns nach meiner Meinung von der Tradition verabschieden. Das ist eine der Stellen, an denen sie der griechischen Philosophie zu viel und der Bibel zu wenig Beachtung geschenkt hat. Nach meiner Überzeugung kann Gott leiden, und er leidet tatsächlich. Seine Leidensfähigkeit übertrifft die unsere im gleichen Maße, in dem sein Wissen das unsere übertrifft. Das Leiden Christi war keine Scharade. Er war bereit, die Qualen am Kreuz und in der Hölle selbst zu ertragen (»Mein Gott, mein Gott, warum hast
Siehe Anders Nygren, Agape and Eros, übers. von Philip S.Watson, New York: Macmillan 1939.
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du mich verlassen?«).⁴¹ Gottvater wiederum war bereit, den Schmerz des Anblicks seines Sohns zu erdulden, der zweiten Person der Dreifaltigkeit, die den entsetzlich grausamen und schändlichen Tod am Kreuz sterben musste.⁴² Gilt das gleiche nicht auch für die übrigen Gemütsbewegungen? »Ebenso wird auch im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben, umzukehren« (Lukas 15, 7). Ähnlich verhält es sich mit dem Eros: »Wie der Bräutigam sich freut über die Braut, so freut sich dein Gott über dich« (Jesaja 62, 5). Der Bräutigam, der sich über seine Braut freut, liebt sie nicht mit einer rein agapeischen Liebe. Sein Verhältnis zu ihr ist nicht das eines wohlwollenden älteren Bruders (obwohl es von Christus heißt, er sei unser älterer Bruder). Er wünscht und ersehnt etwas außerhalb seiner selbst, nämlich die Vereinigung mit seiner Geliebten. Die Kirche ist nicht die kleine Schwester, sondern die Braut Christi. Er ist nicht ihr wohlwollender älterer Bruder, sondern ihr Gatte und Geliebter. Diese biblischen Bilder implizieren, dass Gott nicht gefühllos ist, und dass seine Liebe zu uns nicht ausschließlich auf die Agape beschränkt ist. Diese Bilder legen den Gedanken nahe, dass die Liebe Gottes zu seinem Volk ein erotisches Element des Begehrens enthält: Er begehrt die richtige Reaktion von uns, und er begehrt die Vereinigung mit uns, genauso wie wir die Vereinigung mit ihm begehren. Hier können wir noch einen Schritt weitergehen, und es kann sein, dass wir an dieser Stelle die Grenze zu unfundierten Spekulationen überschreiten. Nach Jonathan Edwards gilt: »Die unendliche Glückseligkeit des Vaters besteht im Ergötzen an seinem Sohn«⁴³ Das ist vermutlich keine Agape. Anders als bei der Liebe Gottes zu uns, kommt dabei kein Element der Barmherzigkeit ins Spiel. Vielmehr handelt es sich darum, dass Gott enormes Vergnügen, Genuss, Freude, Glückseligkeit und Ergötzen an seinem Sohn findet. Unter der Voraussetzung, dass Vater
Kann man sagen, Christus habe qua Mensch (also gemäß seiner menschlichen Natur) gelitten, während er qua Gott (also entsprechend seiner göttlichen Natur) nicht gelitten habe? Hier dürfte kaum der Ort für eine Auseinandersetzung mit einer dermaßen alten und tiefschürfenden Frage sein, aber ich neige zu der Auffassung, dass dieser Vorschlag inkohärent ist. Da ist diese Person: die zweite, fleischgewordene Person der göttlichen Dreifaltigkeit. Es ist diese Person, die leidet. Gäbe es hier wirklich zwei Bewusstseinszentren, von denen das eine leidet und das andere nicht, hätten wir es auch mit zwei Personen (einer menschlichen und einer göttlichen Person) zu tun anstatt mit der einen Person, die sowohl Mensch als auch Gott ist. Siehe meinen Artikel »On Heresy, Mind, and Truth«, in: Faith and Philosophy 16/2 (April 1999), S. 182. Außerdem leidet er zweifellos auch unter den Qualen und Abtrünnigkeiten aller seiner Kinder: »Dieser bittere Kummer wird Gott angetan, wenn sich eine Seele von ihm abwendet« (Kuyper, To Be near unto God, S. 30). »An Essay on the Trinity«, in: Edwards, Treatise on Grace and Other Posthumously Published Writings, hg. von Paul Helm, Cambridge: James Clark 1971, S. 105.
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und Sohn notwendig existieren und dass ihnen die meisten ihrer wichtigen Eigenschaften wesentlich zukommen, besteht keine Möglichkeit, den Vater seines Sohns zu berauben.⁴⁴ Doch wenn dies per impossibile doch geschähe, würde es undenkbare Traurigkeit auslösen. Die Liebe, um die es hier geht, ist nicht Agape, sondern Eros.⁴⁵ Sie ist ein Verlangen nach Vereinigung, das ständig, ewig und freudevoll erfüllt wird. Dass wir nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurden, bringt nicht nur unsere Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit mit sich, sondern auch unsere Fähigkeit zum Eros und zur Liebe dessen, was wirklich liebenswert ist. Dementsprechend ist der Eros in unserem Leben auch ein Zeichen oder Symbol der erotischen Liebe Gottes. Die erotische Liebe des Menschen ist ein Zeichen von etwas Tieferem. Dieses Etwas ist so tief, dass es nie geschaffen wurde – ein ursprüngliches, immerwährendes und notwendig vorhandenes Merkmal der Welt. Der Eros charakterisiert zweifellos viele Lebewesen außerhalb des Bereichs der Menschen. Bestimmt ist dieses Kennzeichen einem großen Teil der lebendigen Welt gemeinsam. Wichtiger ist, dass alle Lebewesen, die den Eros kennen, diese zutiefst göttliche Eigenschaft widerspiegeln und an ihr teilhaben. Die grundlegendste Realität ist hier also die von und in Gott an den Tag gelegte Liebe: die Liebe innerhalb der Dreifaltigkeit.⁴⁶ Diese Liebe ist erotisch. Es handelt sich darum, die Vereinigung mit etwas Wertvollem – in diesem Fall: mit einem Jemand von höchstem Wert – wahrzunehmen, zu begehren und zu genießen. Die Liebe Gottes zu uns äußert sich darin, dass er uns großzügig in diesen exklusiven Kreis einlädt (obwohl er natürlich keine ontologische Gleichheit anbietet) und damit die tiefsten Sehnsüchte unserer Seele befriedigt. Innerhalb dieses Kreises gibt es Barmherzigkeit, Selbstopfer und überbordende Agape. Außerdem gibt es
Und darin liegt die Erwiderung auf eines der traditionellen Argumente für die Konklusion, Gott habe keine Affekte: Vater und Sohn bedürfen einander tatsächlich, doch es ist ein Bedürfnis, das notwendig und ewig erfüllt wird. »Wenn man sagt, Gott liebe seinen Sohn, redet man nicht von einer Liebe, die entsagt, die aufopfernd oder barmherzig ist, sondern von einer Liebe der Freude und der Lust. […] Gott freut sich über seinen Sohn. Seine Seele ergötzt sich am Sohn! Wenn er seinen Sohn betrachtet, genießt und bewundert und schätzt er, was er sieht, und weidet sich daran« (John Piper, The Pleasures of God, Portland: Multnomah Press 1991, S. 31). Der Gedanke, dass Gott dreifaltig ist, unterscheidet das Christentum von anderen theistischen Religionen. Hier erkennen wir eine Hinsicht, in der diese Lehre einen echten Unterschied ausmacht, denn sie anerkennt Eros und Liebe zu Anderen auf der fundamentalsten Ebene der Realität. Deutet das darauf hin, dass wir zu einer sozialen Trinitätsauffassung hintendieren sollten, also zu der Auffassung von Gregor und den kappadokischen Vätern, und nicht zu der mit dem Modalismus kokettierenden Auffassung des Augustinus? Siehe Cornelius Plantinga jr., »Social Trinity and Tritheism«, in: Ronald Feenstra u. Cornelius Plantinga jr. (Hg.), Trinity, Incarnation, and Atonement, Notre Dame: University of Notre Dame Press 1989.
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jene Sehnsucht und Freude, jenes Verlangen und Ergötzen, die zusammen den Eros bilden.⁴⁷ Angenommen, wir benutzen den Ausdruck »menschlicher Eros«, um uns auf den sexuellen Eros und auf die Formen der Sehnsucht zu beziehen, die bei unserer Erfahrung der Schönheit, des nostalgischen Gefühls usw. eine Rolle spielen.Wie ich schon gesagt habe, ist der menschliche Eros ein Zeichen, ein Symbol, ein Typus, eine Figur,⁴⁸ eine Vorankündigung der Liebe Gottes und der spirituell reifen Liebe des Menschen zu Gott. Aber was bedeutet das im einzelnen, und wieso kann ich mich nicht mit einem einzigen dieser fünf Wörter begnügen? Befassen wir uns zunächst mit der leichteren Frage und entscheiden wir uns für das Wort »Typus«: Der menschliche Eros ist ein Typus der Liebe Gottes und der Liebe zu Gott. Damit ist freilich nichts weiter getan, als dass wir der Sache einen Namen gegeben haben. Um welche Beziehung handelt es sich aber wirklich? Das ist eine anspruchsvolle und keineswegs triviale Frage, und an dieser Stelle kann ich nur versuchen, ein paar wesentliche Oberflächenmerkmale zu nennen. Erstens ist die Beziehung nicht symmetrisch, denn der menschliche Eros ist ein Typus der Liebe Gottes, aber die Liebe Gottes ist kein Typus des menschlichen Eros. Zweitens handelt es sich bei der relevanten Beziehung nicht um die bekannte Type-Token-Relation. Ein Pferd ist ein Token des Type das Pferd; ein Einzelvorkommnis des Worts »Fisch« ist ein Token dieses Worts. Aber der sexuelle Eros ist kein Token der göttlichen Liebe, und die göttliche Liebe ist kein Token des sexuellen Eros; also ist keines der beiden ein Token des jeweils anderen. Drittens, ebenso wie die Type-Token-Beziehung und anders als die Beziehung zwischen einem Wort und dem, was es bezeichnet, ist die hier gemeinte Typus-Beziehung nicht konventional. Das Wort »Fisch« steht für Fische, und die Beziehung zwischen »Fisch« und Fischen ist insofern konventional, als diese Beziehung dank der Existenz einer bestimmten sprachlichen Konvention besteht. (Vielleicht kommt diese Beziehung dadurch zustande, dass die Konvention eine Relation zwischen dem Wort »Fisch« und der Eigenschaft des Fischseins herstellt, so dass das Wort die Eigenschaft ausdrückt.) Die Beziehung zwischen »Fisch« und Fischen ist von uns Menschen und unseren Handlungen abhängig. Sie besteht deshalb, weil wir (bzw. einige von uns) das Erforderliche getan haben, um die Konvention zu stiften, durch die das erstere zu einem Wort für die letzteren wird. Der Fisch (als Type) ist auch ein Symbol für Jesus Christus. Der Zusammenhang zwischen dem Fisch und Jesus Christus ist ebenfalls konventional, wenn auch auf etwas andere Weise. Der erstere wurde als Symbol für den letzteren übernommen, weil zwischen dem griechischen Wort für Fisch (ἰχθύς [ichthýs]) und einer bestimmten griechischen Formulierung eine bestimmte Beziehung besteht. Es geht um den griechischen Ausdruck Ἴησοῦς Χριστὸς Θεοῦ Υἱὸς Σωτήρ. Die ersten Buchstaben der Wörter dieses Ausdrucks bilden, in der gleichen Reihenfolge genommen, das Wort für Fisch. Diese Beziehung ist als solche nicht rein konventional,
Siehe Charles Williams, Religion and Love in Dante: The Theology of Romantic Love, Westminster: Dacre Press 1941. Hier werden die Zusammenhänge zwischen der romantischen Liebe der Menschen und der göttlichen Liebe in einer eher dichterischen Weise erläutert. (Hierzu siehe natürlich auch Dantes Göttliche Komödie: Das Paradies.) Williams macht (auf S. 11) geltend, dass das Verliebtsein – dieser mehr oder weniger gewöhnliche, aber zugleich völlig außergewöhnliche Zustand, in dem sich die meisten von uns hin und wieder befinden – eine Form der Teilnahme an der göttlichen Liebe selbst ist. Siehe Erich Auerbachs überzeugenden Aufsatz »Figura«, in: Archivum Romanicum 22 (1938), S. 436 – 489.
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aber die Beziehung zwischen dem Fisch und Jesus Christus ist tatsächlich konventional, denn sie ist wesentlich davon abhängig, dass wir diesen Type und einige seiner Tokens in einer bestimmten konventionalen Weise behandeln. Das gilt aber nicht für die Art und Weise, in der der menschliche Eros ein Typus der göttlichen Liebe ist, denn diese Beziehung ist nicht von der Stiftung menschlicher Konventionen abhängig. Doch nichts von alledem gibt uns Auskunft darüber, um welche Relation es sich eigentlich handelt. Vielleicht kommen wir ein wenig voran, wenn wir das folgende biblische Beispiel betrachten: Im Hebräerbrief steht zu lesen, dass der Hohepriester »einem Abbild und Schatten der himmlischen Dinge« dient (8, 5); und im nächsten Kapitel heißt es: »Durch solche Mittel müssen also die Abbilder der himmlischen Dinge gereinigt werden; die himmlischen Dinge selbst aber erfordern wirksamere Opfer« (9, 23). Gemeint ist hier vermutlich, dass das irdische Heiligtum, der Tempel, ein Typus dessen ist, was sich im Himmel befindet, wie immer dies im einzelnen beschaffen sein mag. Das Tieropfer ist ein Typus des Opfers Christi, und die geopferten Tiere selbst sind Typen Christi. Die Beziehung besteht hier darin, dass es eine bestimmte Art von (manchmal funktionaler) Ähnlichkeit gibt zwischen dem irdischen Abbild und dem himmlischen Vorbild – mithin eine Relation, die von jeder menschlichen Konvention unabhängig ist. Damit ist natürlich nicht viel gesagt, denn zwei beliebige Dinge werden einander in zahllosen Hinsichten ähneln (auch in zahllosen Hinsichten, die von menschlichen Konventionen unabhängig sind). Uns geht es hier um eine relevante Beziehung, bei der es zwar leichtfällt, Beispiele anzuführen, aber schwerfällt anzugeben, worin die Relevanz besteht. Vielleicht liegt die Antwort im folgenden Bereich: Es gibt Merkmale bzw. Eigenschaften Gottes, die sehr gut sind, d. h., Merkmale bzw. Eigenschaften derart, dass ihre Exemplifizierungen gut sind. Zu diesen Merkmalen dürften seine Liebe, Macht,Wissen, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Schönheit, Herrlichkeit usw. gehören; und dadurch, dass Gott diese Merkmale im höchstmöglichen Grade exemplifiziert, ist er im höchsten Maße gut.⁴⁹ Indem er Lebewesen erschafft, die auch gut sind, beabsichtigt Gott, sie so zu gestalten, dass sie ihm dadurch ähneln, dass sie einige der gleichen Merkmale an den Tag legen. Sie reflektieren und wiederholen die betreffenden Merkmale Gottes. Natürlich wird es gewaltige Unterschiede geben. Die Geschöpfe Gottes sind endliche, geschaffene und bedingte Wesen, während er selbst unendlich, ungeschaffen und unbedingt ist. Das in Frage stehende Thema ist sozusagen in eine andere Tonart transponiert worden.⁵⁰ Wo b ein Typus von a ist, wird a also in einer bestimmten Hinsicht von großem Wert sein; b wird a in dieser Hinsicht ähneln, obwohl b weniger wertvoll ist als a (daher die Asymmetrie). Dass der menschliche Eros ein Typus, ein Zeichen bzw. ein Analogon der göttlichen Liebe ist, liegt zum Teil darin, dass Gott etwas zu schaffen beabsichtigt, das ihm in der relevanten Hinsicht ähnelt, und dass er es gerade deshalb zu schaffen beabsichtigt, weil es ihm in dieser Hinsicht ähnelt. (Das Geräusch, das ein Hirsch an der Tränke macht, ähnelt vielleicht vage dem Geräusch, das ein Gebirgsbächlein machen würde; aber weder das Bächlein noch der Hirsch, möchte man annehmen, ist aufgrund dieser Beziehung geschaffen worden.) Die genannten Dinge sind nach meinem Dafürhalten
Natürlich will ich damit nicht andeuten, dass Gott in irgendeiner Weise von diesen Merkmalen abhängig ist oder in ontologischer Hinsicht nach ihnen kommt (was immer das im einzelnen bedeuten mag). Diese Merkmale selbst sollte man, ebenso wie auch andere Eigenschaften, vielleicht am ehesten als göttliche Begriffe deuten. Siehe mein Buch Does God Have a Nature?, Milwaukee: Marquette University Press 1980. C. S. Lewis, »Transposition«, in: Transposition and Other Addresses, London: G. Bles 1949.
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notwendige Bedingungen. Aber sind sie auch hinreichend? Das möchte ich bezweifeln, aber ich weiß nicht, welche weitere Bedingung ich den bereits angeführten hinzufügen könnte.
Dass der menschliche Eros ein Typus der göttlichen Liebe ist, bedeutet, dass dieses Merkmal unseres Lebens in einer bestimmten Weise erklärt oder verstanden werden kann. Wir verstehen es besser und erkennen, worum es geht – worauf es vor allen Dingen ankommt –, sobald wir sehen, dass es ein Typus oder Zeichen göttlicher Liebe ist. Wir sehen, wie es zur übrigen Realität passt und wie es mit dem Realsten zusammenhängt. Freilich gibt es diverse evolutionstheoretische Erklärungen der erotischen Liebe, die sich naheliegenderweise in erster Linie mit dem Zusammenhang zwischen Eros und Fortpflanzung oder, allgemeiner gesprochen, mit den Mechanismen des Überlebens und der Fortpflanzung kümmern. Warum legen die Menschen Eros an den Tag, und was ist seine Bedeutung? Von einem evolutionstheoretischen oder soziobiologischen Standpunkt aus gesehen, hängt die Antwort damit zusammen, wie sich dieses Merkmal Schritt für Schritt im Rahmen knapp bemessener Stadien herausgebildet hat, wobei sich jedes dieser Stadien als anpassungsförderlich erweist (bzw. als genetisch mit etwas Anpassungsförderlichem verknüpft). Aus einer christlichen Perspektive gesehen, machen die Dinge jedoch einen völlig anderen Eindruck. Die Bedeutung dieses Merkmals unseres Lebens liegt darin, dass sein Erscheinen ein Teil dessen ist, was es heißt, Gott zum Bilde geschaffen zu sein. Auf diese Weise haben wir Menschen Anteil an einer der grundlegenden Eigenschaften des Ersten Wesens der Welt. Die Fragen »Warum gibt es das?« und »Was ist daran besonders bedeutsam?« sind durch Bezugnahme darauf zu beantworten, dass es sich um einen Typus der göttlichen Liebe handelt. Um zusammenzufassen: Dem Modell zufolge handelt es sich beim Glauben um sichere und gewisse Erkenntnis, die dem Verstand offenbart und im Herzen versiegelt ist. Diese Versiegelung besteht unserem Modell zufolge darin, dass man Affekte der richtigen Art hat. Im wesentlichen geht es darum, dass man Gott mehr als alles andere und den Nächsten wie sich selbst liebt. Zwischen Offenbaren und Versiegeln, Erkenntnis und Affekt, Verstand und Willen besteht eine enge Beziehung. In der gläubigen Person wirken sie in einer tiefen, komplexen und eng verbundenen Weise zusammen. Und die Liebe, um die es dabei geht, ist zum Teil erotischer Art: Sie beinhaltet jenes Verlangen und Sehnen, das wir alle kennen. Abschließend ist zu sagen, dass die Liebe zwischen Menschen – zwischen Männern und Frauen, zwischen Eltern und Kindern sowie zwischen Freunden – ein Zeichen oder Typus von etwas Tieferem ist, nämlich: einerseits ein Zeichen der reifen Liebe des Menschen zu Gott und andererseits ein Zeichen der Liebe, die Gott sowohl im Verhältnis zwischen den Personen der Dreifaltigkeit als auch in der Liebe zu seinen Kindern an den Tag legt.
10 Einwände Die Weisen dieser Welt – ob gläubig oder nicht – gehen häufig davon aus, dass »religiöse Erfahrung« ein rein subjektives Phänomen ist. Es könne zwar sein, dass es diverse psychosoziale Funktionen zu erfüllen habe, doch alle Ansprüche auf kognitiven Wert könne man getrost zurückweisen, ohne sich irgendwelche Umstände zu machen. William P. Alston
Oder indem man sich, wie wir sehen werden, allenfalls minimale Umstände macht. In diesem Kapitel werden wir einige vermeintliche Resultate, die dabei herauskommen, festhalten und bewerten. Das in den letzten drei Kapiteln dargestellte erweiterte Thomas-von-Aquin/ Calvin-Modell (A/C-Modell) soll zeigen, inwiefern der spezifisch christliche Glaube gerechtfertigt, in interner und externer Hinsicht rational und gewährleistet sein kann. Dem Modell zufolge sind wir Menschen der Sünde verfallen und befinden uns somit in einer schlimmen Lage, aus der wir uns nicht befreien können. Jesus Christus, der sowohl ein Mensch als auch der göttliche Sohn Gottes ist, hat durch sein Leiden und seinen Tod für unsere Sünde gebüßt und uns so die Möglichkeit gegeben, im richtigen Verhältnis zu Gott zu stehen. Die Bibel ist unter anderem eine schriftliche Mitteilung, die Gott an uns Menschen richtet, um uns diese frohe Botschaft zu verkünden. Aufgrund unserer Sündhaftigkeit brauchen wir jedoch mehr als diese Information. Wir brauchen außerdem einen Sinneswandel. Dieser wird durch den inneren Ansporn des Heiligen Geistes (IAHG) zustande gebracht. Einerseits sorgt der Heilige Geist dafür, dass unsere Affekte in die richtige Richtung gehen, und andererseits befähigt er uns dazu, die großen Dinge des Evangeliums zu erkennen. Der Vorgang, durch den wir zum Glauben an diese Dinge gelangen, erfüllt daher die Bedingungen für Gewährleistung (und zugleich auch die Bedingungen für das affektive Analogon der Gewährleistung). Es liegt jedoch auf der Hand, dass die Überzeugungen, um die es geht, so beschaffen sind, dass ihre Rechtfertigung und ihre interne Rationalität sowohl möglich als auch tatsächlich gegeben ist. Im vorliegenden Kapitel werde ich mich mit zwei Aufgaben beschäftigen. Erstens möchte ich einige Argumente betrachten, die zu der Schlussfolgerung führen sollen, dass der theistische und/oder der christliche Glaube nicht gewährleistet sind. Zweitens möchte ich mir Einwände gegen meine Argumente vornehmen sowie gegen meine Thesen über die Art und Weise, in der es möglich ist, den christlichen Glauben zu gewährleisten. Was ich bisher geltend gemacht habe, sind – in der Reihenfolge zunehmender Stärke – die folgenden Punkte: (1) Das erweiterte A/C-Modell stellt eine Möglichkeit der Gewährleistung des christ-
10 Einwände
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lichen Glaubens dar. (2) Unter der Voraussetzung der Wahrheit des christlichen Glaubens gibt es keine zwingenden Einwände gegen die These, dieser Glaube sei in der durch das A/C-Modell angedeuteten Weise gewährleistet. (3) Unter der Voraussetzung der Wahrheit des christlichen Glaubens ist er sehr wahrscheinlich gewährleistet – wenn nicht entsprechend dem erweiterten A/C-Modell, dann gemäß einem sehr ähnlichen Modell. (3) ist stärker als (2). (2) besagt, dass es unter der Voraussetzung der Wahrheit des christlichen Glaubens keine zwingenden Einwände gegen das A/C-Modell gibt und folglich keine solchen Einwände gegen die These der Gewährleistung des christlichen Glaubens. Aber es könnte natürlich sein, dass es gar keine zwingenden Einwände gegen eine Aussage p gibt, obwohl p, wie sich herausstellt, falsch ist. (3) fügt hinzu, dass der christliche Glaube unter Voraussetzung seiner Wahrheit höchstwahrscheinlich gewährleistet ist. Ein erfolgreiches Argument für die Konklusion, der christliche bzw. der theistische Glaube sei nicht gewährleistet, wird daher ein erfolgreiches Argument gegen (2) und (3) sein – vorausgesetzt natürlich, dass es die Falschheit des christlichen Glaubens weder von vornherein annimmt noch durch Argumente zu erweisen sucht. Ein solcher Einwand wird daher von der Frage der Wahrheit oder Falschheit des christlichen Glaubens unabhängig sein müssen. Außerdem wird er unter der Voraussetzung der Wahrheit des christlichen Glaubens zwingend sein müssen. Unsere Frage ist eigentlich die folgende: Gibt es allgemeine erkenntnistheoretische Gründe, die mit Zweifeln an der Wahrheit des christlichen oder theistischen Glaubens nichts zu tun haben, aber für die Ansicht sprechen, dieser Glaube sei nicht gewährleistet? Sofern einer der Einwände erfolgreich ist, wird er also auch dann erfolgreich bleiben, wenn wir von der Annahme ausgehen, dass es tatsächlich eine Person wie Gott gibt und dass der christliche Glaube de facto wahr ist. Hier gibt es eine Anfangsschwierigkeit. Wer mit Bezug auf den christlichen oder den theistischen Glauben die De-jure-Frage aufwirft, erhebt im Regelfall den Vorwurf, dieser Glaube sei »irrational« oder »ungerechtfertigt«, »unvernünftig« oder »rational ungerechtfertigt«, »rational nicht begründbar« oder dergleichen mehr. Nur selten wird von dieser Seite ein ernsthafter Versuch unternommen zu erklären, was mit diesen Ausdrücken gemeint ist. Statt dessen wird in der Regel davon ausgegangen, dass wir genau wüssten, was diese Wörter bedeuten, und dann wird geltend gemacht, der Theismus habe tatsächlich die von diesen Wörtern ausgedrückten wenig schmeichelhaften Eigenschaften. Aber diese Ausdrücke und die mit ihnen in Verbindung gebrachten Begriffe haben in der neuzeitlichen und zeitgenössischen Erkenntnistheorie eine außerordentlich bewegte Laufbahn hinter sich gebracht. Es wäre übertrieben naiv anzunehmen, dass ihre Bedeutungen völlig klar sind. Außerdem ist dieses Vorgehen verwirrend, und das macht es schwierig, die Einwände der Beschwerdeführer einigermaßen genau zu deuten.
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Wie wir gesehen haben, läuft die relevante De-jure-Frage eigentlich auf die Frage hinaus, ob der christliche Glaube gewährleistet sei bzw. gewährleistet sein könne. Dabei ist unter »Gewähr« diejenige Eigenschaft oder Größe zu verstehen, die, wenn sie in ausreichendem Maße vorhanden ist, Wissen bzw. Erkenntnis von bloßer wahrer Überzeugung unterscheidet. Daher werde ich mit dem genannten Problem so verfahren, dass ich die Einwände als Argumente für die These interpretiere, für den christlichen Glauben gebe es keine Gewähr. Dieses Vorgehen hat den zusätzlichen Reiz, dass es sich zumindest in einigen Fällen wahrscheinlich um das handelt, was der Opponent im Sinn hat. Einige Theoretiker befassen sich mit der Frage, ob der christliche Glaube durch religiöse Erfahrung gerechtfertigt oder gewährleistet werden könne, um anschließend dafür zu argumentieren, dass diese Möglichkeit ausgeschlossen sei. Nun habe ich für meinen Teil im 6. Kapitel geltend gemacht, dass nicht klar ist, was mit der Behauptung gemeint sei, eine Überzeugung werde durch die Erfahrung gewährleistet. Daher habe ich nichts darüber gesagt, ob es dem Modell zufolge der Fall ist oder nicht, dass der theistische und der christliche Glaube aus der religiösen Erfahrung oder mittels dieser Erfahrung gewährleistet wird. Technisch gesprochen, gibt es für diese Einwände daher gar keine Anwendung auf meine Thesen darüber, inwiefern ein solcher Glaube gewährleistet sein kann. Um diese Einwände jedoch betrachten zu können, wollen wir etwas einräumen, was durchaus falsch sein kann, nämlich: dass die Gewähr für diese Überzeugungen (dem Modell zufolge) tatsächlich aus der Erfahrung stammt. Auf diese Weise ist es immerhin möglich, den Einwänden eine gewisse Anfangsrelevanz zuzubilligen.
I Gewähr und das Argument aus der religiösen Erfahrung Der erste Einwand ist eigentlich, wie mir scheint, kein echter Einwand, sondern eher eine Konfusion – das Versäumnis, eine wichtige Unterscheidung zu treffen. Anthony O’Hear betrachtet den Gedanken, der theistische Glaube könne unter Verzicht auf Argumente oder Folgerungen auf direktem Wege gerechtfertigt oder gewährleistet werden (es ist nicht ohne weiteres klar, welche dieser beiden Möglichkeiten ihm vorschwebt). (Um es in meiner Terminologie auszudrücken: Es geht um die Frage, ob der theistische Glaube – sei’s im Hinblick auf Gewähr oder mit Bezug auf Rechtfertigung – angemessen basal sein könne.) Unter Bezugnahme auf William James, John Baillie und andere Autoren stellt O’Hear fest, ein möglicher Vorschlag würde besagen, dass man sich auf die – in weitem Sinne aufgefasste – religiöse Erfahrung stützen könnte. Dann fährt er fort und schreibt:
I Gewähr und das Argument aus der religiösen Erfahrung
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Es ist diese Vorstellung des unmittelbaren persönlichen Kontakts zu einer nicht sinnlich wahrnehmbaren Realität, deren Verständnis dem Nichtgläubigen schwerfallen wird. Um die Natur dieser Schwierigkeit zu verdeutlichen, werde ich das Ausmaß betrachten, in dem religiöse Erfahrung Belege für die Existenz einer Realität jenseits der Erfahrung selbst erbringen kann.Vermutlich werden Personen, die überzeugt sind, sie stünden in persönlichem Kontakt zu einer Überrealität, nicht häufig den Versuch machen, ihre Überzeugung überhaupt irgendwie durch Argumente oder Beweise zu untermauern. Sie werden auch nicht durch Folgerungen zu ihrer Überzeugung gelangen, und zwar genausowenig, wie wir natürlicherweise aus Aussagen über unsere Empfindungen auf Aussagen über materielle Gegenstände schließen. Dennoch stellt sich natürlich die Frage, in welchem Maße die Überzeugung durch die Erfahrung gerechtfertigt werden kann.¹
Hier stellen sich mehrere Fragen. Zunächst ist festzuhalten, dass dieses Zitat die oben genannte Anfangsschwierigkeit veranschaulicht: Ist bei O’Hear von Rechtfertigung, von Rationalität, von Gewähr oder von sonst etwas die Rede? Weder aus dem, was er hier, noch aus dem, was er an anderen Stellen sagt, geht eine klare Antwort hervor. Das Wort »gerechtfertigt« kommt zwar in der letzten Zeile des Zitats vor, aber dennoch glaube ich nicht, dass O’Hear wirklich von Rechtfertigung spricht. Und sowieso ist die Frage der Rechtfertigung, wie wir bereits (S. 116 ff.) gesehen haben, zu leicht zu beantworten, als dass sie von Interesse sein könnte. Nun spricht O’Hear zwar von »persönlichem Kontakt«, aber vielleicht lässt sich seine Frage im gegenwärtigen Zusammenhang am besten im Sinne der Frage deuten, ob uns die religiöse Erfahrung in epistemischen Kontakt zu einer nicht sinnlich wahrnehmbaren (also normalerweise nicht sichtbaren, hörbaren, berührbaren usw.) Realität – wie z. B. Gott – bringen könnte. Und bei dieser Frage handelt es sich meines Erachtens um die Frage, ob Überzeugungen bezüglich einer solchen nicht sinnlich wahrnehmbaren Realität durch religiöse Erfahrung gewährleistet werden können. Zuerst deutet O’Hear an, schon die bloße Vorstellung von einem kognitiven Kontakt (der für Gewährleistung erforderlichen Art) zwischen einer menschlichen Person und einer nicht sinnlich wahrnehmbaren Realität wie Gott habe etwas Problematisches an sich. Wieso ist diese Vorstellung problematisch? Auf diese Frage gibt O’Hear keine direkte Antwort, aber er möchte »die Schwierigkeit verdeutlichen«, indem er sich der Frage zuwendet, ob »religiöse Erfahrung Belege für die Existenz einer Realität jenseits der Erfahrung selbst erbringen kann«. Das klingt nun so, als führe der Weg zur Beantwortung der Frage »Verschafft uns die religiöse Erfahrung die Möglichkeit, die richtige Art der kognitiven Verbindung zu Gott aufzunehmen?« über die folgende Frage: »Gibt es ein stichhaltiges Argument,
O’Hear, Experience, Explanation and Faith, London: Routledge and Kegan Paul 1984, S. 27. Weitere Seitenverweise beziehen sich auf dieses Buch von O’Hear.
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das von der Existenz der betreffenden Erfahrung zur Existenz Gottes führt: ein Argument, dessen Prämissen die relevante Erfahrung dokumentieren und dessen Konklusion besagt, dass eine Person wie Gott wirklich existiert?« Dass dies der Gedanke ist, der O’Hear vorschwebt, wird durch etwas bestätigt, was er wenig später sagt: Auf christlicher Seite z. B. besteht die Tendenz, diese Nichtprognostizierbarkeit [religiöser Erfahrungen der relevanten Art] dadurch zu erklären, dass man sagt, diese Erfahrungen seien ein Geschenk Gottes. Das mag ja richtig sein, aber die Aussage selbst ist gewiss dazu angetan, solche Versuche zu schwächen, die von der Erfahrung ausgehend argumentativ zur Realität gelangen wollen. (S. 44)
Das deutet offenbar darauf hin, dass es hier im Hinblick auf die Frage, ob der theistische Glaube durch religiöse Erfahrung gewährleistet werden kann, darum geht, ob es ein stichhaltiges Argument gibt, das von Prämissen, die diese Erfahrung dokumentieren, zur Existenz Gottes führt. O’Hear fährt fort und sagt, das,was wir eigentlich haben wollen, seien »Gründe, auf deren Basis es möglich wäre, unsere gegebenen religiösen Erfahrungen als Erfahrungen objektiver Art anzusehen« (S. 45). Die Antwort wird, wie er sagt, auf die Erklärungskraft der Hypothese abheben müssen, der zufolge religiöse Erfahrungen zumindest teilweise auf das Bestehen und das Wirken einer objektiven religiösen Realität zurückzuführen sind und nicht bloß auf weltliche Faktoren, wie z. B. Merkmale der Psyche, der chemischen Zusammensetzung oder der Erziehung einer bestimmten Person. (S. 45)
Demnach besagt O’Hears Gedankengang, soweit ich ihn mir verständlich machen kann, zweierlei, nämlich: (a) Der theistische Glaube kann nur dann durch religiöse Erfahrung gewährleistet werden, wenn es ein stichhaltiges (nichtzirkuläres) Argument gibt, das von Prämissen, die das Vorkommen solcher Erfahrungen dokumentieren, zur Existenz Gottes führt. Und: (b) Zu den Prämissen eines solchen Arguments wird eine Prämisse gehören müssen, die besagt, dass die Existenz Gottes die beste Erklärung der religiösen Erfahrungen ist. (Natürlich müsste ein solches Argument außerdem Gründe nennen, die für die Wahrheit dieser Prämisse sprechen.) Nach meiner Beschreibung gehört (a) mit zu O’Hears Gedankengang. Vielleicht wäre es besser,von einer »Annahme« zu sprechen, denn er stellt diese These
I Gewähr und das Argument aus der religiösen Erfahrung
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nicht explizit auf, sondern er setzt sie stillschweigend voraus. Folgendes wäre eine andere Möglichkeit, diese Annahme zu formulieren: Der theistische Glaube lässt sich nur dann mit Hilfe religiöser Erfahrungen gewährleisten, wenn es ein erfolgreiches Argument gibt, das bei der religiösen Erfahrung ansetzt. Diese Annahme wird von vielen geteilt, aber nur selten begründet. Sie hat jedoch, wie ich behaupten werde, den nicht unerheblichen Nachteil, falsch zu sein. Zu den Hauptpunkten, über die man sich hier klar sein muss, gehört auch der, dass die Frage, ob der theistische Glaube mit Hilfe der religiösen Erfahrung (und somit in basaler Weise) gewährleistet werden kann, eine völlig andere Frage ist als die, ob es ein stichhaltiges Argument gibt, das von der Existenz der religiösen Erfahrung zur Existenz Gottes führt. (Nicht nur handelt es sich um verschiedene Fragen, sondern darüber hinaus gilt: Eine bejahende Antwort auf die erste Frage verlangt keine bejahende Antwort auf die zweite.) Ich werde geltend machen, dass (a) falsch ist. Dass (a) falsch ist, unterscheidet die religiöse Erfahrung und den theistischen oder christlichen Glauben aber nicht von anderen Arten der Erfahrung und des Glaubens. Vielmehr verhalten sich Wahrnehmungserfahrungen und Wahrnehmungsüberzeugungen, Erinnerungserfahrungen und Erinnerungsüberzeugungen, apriorische Erfahrungen und apriorische Überzeugungen in dieser Hinsicht ganz ähnlich wie die christlichen Überzeugungen. In jedem dieser Fälle ist es durchaus möglich, dass die betreffenden Überzeugungen gewährleistet sind, obwohl es keine stichhaltigen Argumente gibt, die von der Existenz der betreffenden Erfahrung zur Wahrheit dieser Überzeugungen führen.² Das ist eine der wichtigsten Einsichten in diesem Bereich. Ehe ich diese Behauptung jedoch begründe, möchte ich auf einen anderen Autor hinweisen, der ebenfalls einfach davon ausgeht, dass (a) wahr ist, ohne auch nur die Frage aufzuwerfen, ob dieser Gedanke tatsächlich zutrifft. Nach Ansicht des verstorbenen J. L. Mackie gilt: Eine Erfahrung kann aber auch auf einen realen Gegenstand bezogen sein: gewöhnlich nehmen wir an, dass unsere normale Sinneserfahrung das Bewusstsein von unabhängig existierenden materiellen raum-zeitlichen Dingen darstellt oder einschließt. Es ist also zu fragen, ob spezifisch religiöse Erfahrungen auf reale Gegenstände bezogen sind und uns eigentliche Informationen über unabhängig existierende übernatürliche Wesenheiten oder Geistwesen liefern […]³
Siehe WPF, S. 61 ff. u. 93 ff. Mackie, The Miracle of Theism, Oxford: Clarendon Press 1982, S. 178 (übers. von Rudolf Ginters, Das Wunder des Theismus: Argumente für und gegen die Existenz Gottes, Stuttgart: Reclam 1985, S. 283 – 284).
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So weit, so gut. Hier geht es um die Frage, ob es möglich bzw. tatsächlich so ist, dass die religiöse Erfahrung den Glauben an »unabhängig existierende übernatürliche Wesenheiten oder Geistwesen« wie Gott liefert. Doch dann fährt Mackie fort und schreibt: Die entscheidende weitere Frage lautet, ob ihnen ein objektiver Wahrheitsgehalt zukommt. […] Zu fragen ist, ob durch die Hypothese, es gebe objektiv ein Mehr, die Gesamtheit der Erscheinungen besser erklärt wird als ohne sie. (S. 183/291)
Diese Untersuchung der möglichen Gewährleistung mit Hilfe religiöser Erfahrungen schließt Mackie mit folgenden Worten ab: Wenn die religiösen Erfahrungen keinen Beweisgrund für eine übernatürliche Wirklichkeit liefern und wenn es,wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt, auch keine anderen guten Gründe für eine solche Folgerung gibt, dann sind in ihnen Annahmen enthalten, die möglicherweise falsch, immer aber ungerechtfertigt sind. [An dieser Stelle, so möchte ich annehmen, bedeutet »ungerechtfertigt« das gleiche wie »ohne Gewähr«.] (S. 186/296)
Hier sehen wir genau dieselbe Annahme am Werk wie bei O’Hear. Mackie geht, ebenso wie O’Hear, davon aus, dass theistische (oder andere religiöse) Überzeugungen nur dann durch religiöse Erfahrung gewährleistet werden können, wenn es ein stichhaltiges Argument gibt, das von der Existenz und der Beschaffenheit dieser Erfahrung zur Existenz Gottes (oder eines »Mehr«) führt. (Außerdem scheint er, ebenso wie O’Hear, auch (b) gutzuheißen.) Weder Mackie noch O’Hear begründet diese Behauptung, sondern sie beide setzen einfach voraus, dass es nur einen einzigen möglichen Weg gibt, auf dem eine Überzeugung (oder jedenfalls eine religiöse bzw. theistische Überzeugung) durch Erfahrung gewährleistet werden kann, und dieser Weg sei ein implizites Argument, das von der Existenz und den Eigenschaften dieser Erfahrung zur Wahrheit der betreffenden Überzeugung führt. Aber warum sollte man dergleichen denken? Von selbst leuchtet dieser Gedanke jedenfalls nicht ein. Ja, sobald man die Frage nach seiner Wahrheit explizit stellt, wirkt (a) äußerst fragwürdig. Vermutlich würde man nicht sagen wollen, dass Wahrnehmungsüberzeugungen nur dann durch Erfahrung gewährleistet werden, wenn es ein stichhaltiges (nichtzirkuläres) Argument gibt, das von der Existenz der Wahrnehmungserfahrung zur Wahrheit der Wahrnehmungsüberzeugungen führt. Doch wenn man das nicht sagen möchte, welches ist dann der Grund, aus dem man es im Fall des theistischen bzw. christlichen Glaubens sagt? Mackie macht diese Voraussetzung vermutlich deshalb, weil er außerdem die folgende Voraussetzung macht, nämlich: dass der theistische und der christliche Glaube eine naturwissenschaftliche Hypothese ist oder einer solchen Hypothese
I Gewähr und das Argument aus der religiösen Erfahrung
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in relevanter Hinsicht ähnelt, also etwa der speziellen Relativitätstheorie, der Quantenmechanik oder der Evolutionstheorie. Immer noch mit Bezug auf die Frage, ob der theistische Glaube durch religiöse Erfahrung gewährleistet werden könne, macht Mackie die folgende charakteristische Bemerkung: »Wie sonst versagt auch hier die supernaturalistische Hypothese, weil es eine angemessene und weit sparsamere naturalistische Alternative gibt« (S. 198/314). Diese Bemerkung ist nur dann relevant, wenn man den Glauben an Gott als eine Art von wissenschaftlicher Hypothese oder als etwas Ähnliches auffasst, mithin als eine Theorie, die dazu bestimmt ist, ein Korpus von Belegen zu erklären, und die in dem Maße akzeptabel bzw. gewährleistet ist, in dem sie dieses Belegmaterial tatsächlich erklärt. Nach dieser Betrachtungsweise gibt es ein relevantes Korpus von Belegen, mit dem es der Gläubige ebenso zu tun hat wie der Nichtgläubige. Der Theismus sei eine Hypothese, die dieses Belegmaterial erklären soll, und der Naturalismus eine andere. Gewährleistet sei der Theismus nur insofern, als er eine triftige Erklärung dieser Belege liefert – oder jedenfalls eine bessere Erklärung als der Naturalismus. Aber warum sollte man sich ein solches Bild des Theismus machen? Warum sollte man ihn als eine Art von Hypothese, als eine Naturwissenschaft im Anfangsstadium auffassen? Denken wir an das in den Kapiteln 8 und 9 vorgestellte erweiterte A/C-Modell. Diesem Modell zufolge verfährt man nicht so, dass man die mit dem Wirken des sensus divinitatis verbundenen Erfahrungen festhält (wie immer sie im einzelnen aussehen mögen), um anschließend flugs auf die Existenz Gottes zu schließen. Man argumentiert nicht wie folgt: Ich bin mir der Schönheit und Majestät des Himmels (bzw. meiner Schuld, meiner Gefährdung, der glorreichen Schönheit dieses Morgens oder meiner günstigen Lage) bewusst, also gibt es eine Person wie Gott. Der Christ argumentiert nicht so: »Wie ich merke, liebe ich die großen Dinge des Evangeliums, ich ergötze mich an ihnen und bin geneigt, sie zu glauben; also sind sie wahr.« Das wären törichte Argumente. Zum Glück werden sie weder in Anspruch genommen noch gebraucht. Die Erfahrungen und Überzeugungen, die beim Wirken des sensus divinitatis und beim IAHG ins Spiel kommen, dienen nicht als Prämissen für ein Argument zur Begründung des Theismus, sondern als Anlässe für den Glauben. Das gleiche gilt beispielsweise auch für Erinnerungsüberzeugungen. Offenbar könnte man hier ebenfalls eine an Mackie gemahnende Auffassung vertreten und behaupten, unsere Überzeugungen bezüglich der Vergangenheit glichen eigentlich naturwissenschaftlichen Hypothesen, die dazu bestimmt sind, gegenwärtige Phänomene wie (unter anderem) die vermeintlichen Erinnerungen zu erklären. Gäbe es eine »sparsamere« Erklärung dieser Phänomene, die keine der Vergangenheit angehörenden Tatsachen postuliert, hätten unsere üblichen Überzeugungen bezüglich der Vergangenheit keine Gewähr. Aber das ist natürlich ein
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reines Hirngespinst. In Wirklichkeit ist es ganz und gar nicht so, dass wir Erinnerungsüberzeugungen als Hypothesen akzeptieren, die die gegenwärtige Erfahrung erklären sollen. Jeder akzeptiert Erinnerungsüberzeugungen – sogar die kleinen Kinder und sonstige Personen, die kein Interesse daran haben, irgend etwas zu erklären. Wir alle erinnern uns an Dinge wie das heutige Frühstück, und es kommt nie – oder so gut wie nie – vor, dass solche Dinge als stichhaltige Erklärungen der gegenwärtigen Erfahrungen und Phänomene genannt werden. Das gleiche gilt im Rahmen des vorgeschlagenen Modells auch für den Theismus und den christlichen Glauben. Anscheinend glaubt Mackie also: (c) Der theistische Glaube ist eine quasi naturwissenschaftliche Hypothese bzw. einer solchen Hypothese in relevanter Hinsicht ähnlich und dazu bestimmt, die religiöse Erfahrung (und eventuell auch noch andere Phänomene) zu erklären. Das erklärt, warum Mackie (a) glaubt, d. h. glaubt, theistische Überzeugungen ließen sich nur dann mit Hilfe religiöser Erfahrungen gewährleisten, wenn es ein stichhaltiges Argument gibt, das von Prämissen, die Erfahrungen dokumentieren, zur Existenz Gottes führt. (c) ist jedoch, wie wir gesehen haben, falsch. Vielleicht würde Mackie jedoch auf (a) beharren, obwohl klar ist, dass Christen den Glauben an Gott bzw. den christlichen Glauben generell nicht als eine Hypothese auffassen. Vielleicht würde Mackie dennoch darauf pochen, dass der einzig mögliche Weg, auf dem ein solcher Glaube gewährleistet werden könnte, der wäre, dass es sich um erfolgreiche quasi naturwissenschaftliche Hypothesen handelt. Aber genau das ist es, was durch das A/C-Modell des 6. Kapitels und das erweiterte A/C-Modell der Kapitel 8 und 9 widerlegt wird. Diese Modelle zeigen, dass eine Gewähr für theistische und christliche Überzeugungen unverkennbar möglich ist, wenn auch nicht in der Gestalt von Hypothesen, die fein säuberlich eine gewisse Reihe von Daten erklären. Denn wenn der christliche Glaube tatsächlich wahr ist, kann es offenbar kognitive Prozesse wie den sensus divinitatis, den IAHG oder den religiösen Glauben geben. Überzeugungen, die durch diese Prozesse hervorgebracht werden, würden, wie wir gesehen haben, die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Gewährleistung erfüllen. Sie wären das Ergebnis kognitiver Vermögen, die in einer geeigneten epistemischen Umgebung gemäß einem erfolgreich auf die Wahrheit abzielenden Bauplan richtig funktionieren. Also ist (a) offensichtlich falsch. Es ist offensichtlich falsch, dass der christliche Glaube nur dann Gewähr hat (und Wissen konstituieren kann), wenn es außerdem ein stichhaltiges Argument gibt, das von der Existenz der Erfahrungen, die beim Wirken des IAHG ins Spiel kommen, zur Wahrheit des christlichen Glaubens führt. Das gleiche gilt auch für den theistischen Glauben und den sensus
II Was kann die Erfahrung zeigen?
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divinitatis. Warum soll man die folgende Annahme machen: Wenn Gott uns dazu befähigen möchte, über Wissen einer bestimmten Art zu verfügen, muss er die Dinge so einrichten, dass wir einen argumentativen Zusammenhang zwischen den Erfahrungen, die bei den von ihm ausgewählten kognitiven Prozessen eine Rolle spielen, und der Wahrheit der von diesen Prozessen hervorgebrachten Überzeugungen erkennen können? Diese Forderung ist sowohl völlig unnötig als auch falsch, denn es gibt mustergültige Erkenntnisquellen – wie etwa die Wahrnehmung, die Erinnerung und die Anschauung a priori –, für die sie ebenfalls nicht gilt.
II Was kann die Erfahrung zeigen? Der zweite Einwand besagt, dass der christliche und der theistische Glaube nie durch religiöse Erfahrung gewährleistet werden können, weil die religiöse Erfahrung keine so spezifischen Dinge andeuten oder zeigen kann wie z. B. die Existenz einer Person wie Gott, geschweige denn Überzeugungen wie die, dass Gott in Christus die Welt mit sich versöhnt hat. Wie soll es möglich sein, dass irgendeine Art von Erfahrung die Existenz eines Wesens offenbart, das allwissend, allmächtig, allgütig und anbetungswürdig ist? Wie soll die Erfahrung zeigen können, dass es nur ein einziges Wesen dieser Art gibt? Wie soll die Erfahrung solche Informationen übertragen können? Auch für diesen Einwand kann uns John Mackie als Sprecher dienen: Die religiöse Erfahrung bildet aber auch keine zureichende Argumentationsbasis für die zentralen Aussagen des traditionellen Theismus. Nichts in einer Erfahrung als solcher könnte einen Schöpfer der Welt, Allmacht, Allwissenheit,vollkommene Güte, Ewigkeit oder auch die Einzigkeit Gottes erschließen. (S. 182/289 – 290)
Warum möchte Mackie eigentlich so etwas sagen? Und was meint er überhaupt? Was unsere jetzigen Belange betrifft, wollen wir uns auf die Erfahrung beschränken, die beim Wirken des sensus divinitatis ins Spiel kommt. Was Mackie meint, ist vermutlich folgendes: Angenommen, es sei uns irgendein religiöser oder sonstiger Erfahrungsverlauf gegeben, d. h., irgendein Verlauf sinnlicher Vorstellungsbilder, affektiver Erlebnisse und Neigungen, die ich mir zuschreiben zu können glaube. Dann könnte diese Erfahrung genauso sein, wie sie ist, ohne dass es ein allmächtiges, ein allwissendes, ein vollkommen gütiges oder ewiges Wesen gibt. Meine Erfahrung könnte genauso sein, wie sie ist, ohne dass es eine Person wie Gott oder irgendjemanden bzw. irgendetwas gibt, was im mindesten Gott
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ähnlich wäre. Ich könnte genau die gleichen Empfindungen haben wie jetzt, ohne dass es einen Gott gäbe.⁴ Das ist vermutlich das, was Mackie meint. Sicher kann ich mir allerdings nicht sein. Das liegt daran, dass es offenbar von bloß zweifelhafter Relevanz ist. Vielleicht ist es wahr, dass meine Erfahrung genauso ist, wie sie ist, ohne dass es eine Person wie Gott gibt. Mag sein, dass die Existenz Gottes nicht von der Existenz und dem Charakter meiner Erfahrung impliziert wird. Was folgt daraus? Warum sollte daraus folgen, dass meine Erfahrung außerstande ist, einen Weltschöpfer oder ein allmächtiges bzw. allwissendes Wesen zu offenbaren? Betrachten wir folgende Analogie: In WPF (S. 50 ff.) weise ich darauf hin, dass wir alle normalerweise schon seit vielen Jahren (bzw. im Fall der jüngeren Leser: seit vielen Monaten) zu existieren glauben. Es ist jedoch logisch möglich, dass ich erst seit ein oder zwei Mikrosekunden existiere und dabei die gleichen zeitspezifischen Eigenschaften an den Tag lege wie in der Wirklichkeit. In diesem Fall würden mir Eigenschaften wie die, dass ich über sechzig Jahre alt oder für etwas vor zehn Minuten Geschehenes verantwortlich bin, abgehen, obschon ich Eigenschaften hätte wie die, dass ich über sechzig Jahre alt und für etwas vor zehn Minuten Geschehenes verantwortlich zu sein meine. Es ist nicht nur logisch möglich, sondern es ist auch mit der Existenz und dem Charakter meiner gesamten augenblicklichen Erfahrung vereinbar. Mit meinen Überzeugungen ist es freilich nicht zu vereinbaren, denn ich glaube ja, dass ich schon seit einer ganzen Weile existiere. Mit der Existenz dieser Überzeugungen ist es allerdings doch zu vereinbaren. Es ist möglich, dass ich genau dieselben Überzeugungen und Erfahrungen habe wie jetzt, obwohl ich erst vor einer Sekunde oder noch später entstanden bin. (Tatsächlich ist es genau das, was nach Meinung jener Autoren geschieht, die glauben, das Wort »Ich« werde in dem hier vorgeführten Gebrauch so verwendet, dass es so etwas wie momentane Personenstadien bezeichnet [siehe WPF, S. 50 ff.].) Für jeden Verlauf meiner jetzigen Erfahrung und für jede Menge von Überzeugungen, die ich im Augenblick haben mag, gilt: Es ist möglich, dass ich, obwohl dies meine Erfahrungen und meine Überzeugungen sind, trotzdem erst seit einer Sekunde oder weniger existiere. Folgt daraus: nichts an meiner Erfahrung könne zeigen, dass ich seit mehr als etwa einer Sekunde existiere? Bestimmt nicht. Wollte man annehmen, dass das tatsächlich folgte, so würde man etwas noch Allgemeineres und enorm viel Anspruchsvolleres annehmen als O’Hears Punkt (a) – s. o., S. 386 –, der, wie wir Hier wollen wir um der Argumentation willen einräumen, dass Gott kein notwendiges Wesen ist. Freilich, wenn Gott – der christlichen Mehrheitstradition entsprechend – doch ein notwendiges Wesen ist, folgt seine Existenz aus der Existenz meiner Erfahrung, da sie aus der Existenz von allem Beliebigen folgt.
II Was kann die Erfahrung zeigen?
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gesehen haben, seinerseits schon zu stark ist, um wahr zu sein. Es gibt nicht den geringsten Grund, folgendes zu glauben: Wenn die Erfahrung zeigen kann, dass p, muss die Existenz dieser Erfahrung (bzw. die Aussage, diese Erfahrung werde gemacht) die Wahrheit von p implizieren. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass eine Erfahrung, wenn sie eine Aussage p offenbaren kann, so beschaffen sein muss, dass sie (aus logischen Gründen) nicht einmal existieren kann, wenn p falsch ist. Denken wir an die Wahrnehmung und nehmen wir uns die Erfahrung – die sinnlichen Vorstellungsbilder, die affektive Erfahrung, die doxastische Erfahrung – vor, die sich in einer Situation einstellt, in der man ein Pferd sieht. Es ist durchaus mit diesen Erfahrungen zu vereinbaren, dass es dort zu diesem Zeitpunkt gar kein Pferd gibt, dass es keine materiellen Gegenstände gibt, die dann existieren, wenn ich nicht diese Erfahrungen mache, ja dass es überhaupt keine materiellen Gegenstände gibt. Folgt daraus, dass die Wahrnehmungserfahrung keinen Aufschluss über die Außenwelt gibt? Folgt daraus, dass ich nicht aufgrund meiner Erfahrung angeben kann, dass sich hinter dem Haus ein Pferd befindet? Oder dass der Flieder nicht blüht? Ganz bestimmt nicht. Eine solche Folgerung wäre ein Sprung von gewaltigen, wenn auch grotesken Ausmaßen. Wie geschieht es nun, dass die Wahrnehmungserfahrung eine Außenwelt erkennen lässt – beispielsweise ein Pferd? Wenn ich ein Pferd wahrnehme, mache ich diverse Erfahrungen: sinnliche Vorstellungsbilder (mir wird in einer komplizierten und schwer zu beschreibenden Weise erschienen) und normalerweise auch affektive Erfahrungen (vielleicht habe ich Angst vor dem Pferd, womöglich bewundere ich es oder ich erfreue mich an seiner Schnelligkeit, seiner Kraft usw.). Ferner gibt es doxastische Erfahrungen: Wenn ich ein Pferd wahrnehme, gibt es zum einen diese sinnlichen und affektiven Erfahrungen, zum anderen aber auch das auf eine bestimmte Proposition (nämlich: dass ich ein Pferd sehe) bezogene Gefühl, das Erlebnis, die Andeutung, dass diese Proposition wahr, richtig, glaubhaft, wirklichkeitsgetreu ist. Diese doxastische Erfahrung spielt in der Wahrnehmung eine entscheidende Rolle. In welcher Weise lehrt mich die Wahrnehmungserfahrung, dass hinter dem Haus ein Pferd steht? Dadurch, dass diese Überzeugung (zum Teil) durch die Erfahrung ausgelöst wird, sowie dadurch, dass die Überzeugung gewährleistet ist – sie wird in einer geeigneten Mini- und Maxiumgebung durch richtig funktionierende kognitive Vermögen nach einem erfolgreich auf die Wahrheit abzielenden Bauplan hervorgebracht. Kann ich also aufgrund meiner Erfahrung angeben, dass sich dort ein Pferd befindet? Gewiss. Dass man solche Angaben aufgrund von Erfahrung macht, heißt: in Reaktion auf die sinnliche und doxastische Erfahrung die Überzeugung bilden, dass sich dort ein Pferd befindet, wobei diese Überzeugung unter Gewähr leistenden Umständen gebildet wird. In der Tat geschieht dergleichen ständig.
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Hier geht es mir nicht darum, dass die Menschen tatsächlich aufgrund von Erfahrung Angaben machen wie die: dass sich hinter dem Haus ein Pferd befindet, sondern es geht darum, dass dies möglich ist. Genauer gesagt, kommt es mir darauf an, dass das Sehen eines Pferdes hinter dem Haus (und die damit aufgrund von Erfahrung erfolgende Feststellung, dass sich dort ein Pferd befindet) nicht durch die Tatsache verhindert wird, dass diese Erfahrung logisch damit verträglich ist, dass sich weder dort noch sonstwo ein Pferd befindet. (Auf welchem anderen Wege würde man diese Angabe machen wollen? Indem man sie aus obersten Prinzipien und von selbst einleuchtenden Wahrheiten deduziert?) So verhält es sich, wenn es um Pferde geht. Kann ich außerdem aufgrund von Erfahrung angeben, dass ich seit mehr als einer Mikrosekunde existiere? Gewiss. Ich tue es beispielsweise, indem ich mich daran erinnere, vor über einer Mikrosekunde gefrühstückt und vor geradezu peinlich langer Zeit studiert zu haben. Freilich ist meine diesbezügliche Erfahrung (und zwar insbesondere meine doxastische Erfahrung) damit zu vereinbaren, dass ich erst seit einer Mikrosekunde existiere. Aber daraus folgt einfach nicht, dass es ausgeschlossen ist, aufgrund von Erfahrung anzugeben, dass ich etwa schon seit mindestens einer guten Stunde existiere. Ich bestimme durch Erfahrung, dass ich seit mehr als einer Mikrosekunde existiere, wenn die Überzeugung, vor über einer Mikrosekunde etwas getan zu haben, durch meine (doxastische und sonstige) Erfahrung ausgelöst und unter Bedingungen gebildet wird, die Gewähr für sie leisten. Das geschieht häufig, also machen wir häufig (aufgrund von Erfahrung) die Angabe, dass wir seit über einer Mikrosekunde existieren. Ebenso verhält es sich natürlich mit der religiösen Erfahrung und dem theistischen Glauben. Freilich ist die Existenz der mit dem Wirken des sensus divinitatis (oder dem IAHG) einhergehenden Erfahrungen damit vereinbar, dass es keinen allmächtigen, allwissenden, allgütigen Schöpfer der Welt gibt. Daraus folgt jedoch nicht, dass wir außerstande sind anzugeben – und zwar, grob gesprochen, aufgrund von Erfahrung anzugeben –, dass es eine solche Person gibt. Denn hier wie auch in anderen Fällen gibt es doxastische Erfahrungen: Die Überzeugung, dass es eine allmächtige Person gibt, der ich Treue und Gehorsam schulde, erscheint genau richtig, angemessen, wahr, wirklichkeitsgetreu. Und man stellt aufgrund von Erfahrung fest, dass es eine solche Person gibt, wenn (1) die betreffenden Überzeugungen in Reaktion auf die mit dem Wirken des sensus divinitatis einhergehenden (doxastischen und sonstigen) Erfahrungen und (2) unter den Bedingungen der Gewährleistung gebildet werden. Dass diese Bedingungen erfüllt sind, ist natürlich durchaus mit dem Umstand zu vereinbaren, dass die Existenz der doxastischen und sonstigen Erfahrungen, die mit dem Wirken des sensus divinitatis einhergehen, mit der Falschheit seiner Leistungen verträglich ist. Diese Überzeugungen können auch dann Gewähr haben – und zwar genug Ge-
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währ, um Wissen zu konstituieren –,wenn die Existenz dieser Erfahrungen mit den Negationen dieser Überzeugungen vereinbar ist.⁵ Das gleiche gilt für den Glauben an die großen Dinge des Evangeliums. Auch sie können gewährleistet sein – und zwar in ausreichendem Maße gewährleistet, um als Wissen zu gelten –, obschon die Existenz der den IAHG begleitenden Erfahrungen tatsächlich mit der Falschheit dieser Überzeugungen vereinbar ist. Könnte es sein, dass der Gedankengang Mackies in eine andere Richtung geht? Vielleicht stellt er folgende Überlegung an: Die Erfahrung könne zwar durchaus einen blauen Gegenstand offenbaren, aber nicht einen allmächtigen Gegenstand. Es geht ihm nicht um die These, die Erfahrung könne gar keine Gegenstände erkennen lassen, sondern um die These, einige Eigenschaften seien derart, dass die Erfahrung nicht zeigen könne, dass es einen Gegenstand mit diesen Eigenschaften gibt. Beispiele hierfür wären Eigenschaften wie Allwissenheit, Allmacht, Göttlichkeit, Gottessohnschaft und dergleichen mehr. Hier würde sich Mackie vermutlich auf die Analogie mit der Sinneserfahrung stützen: Die Sinneserfahrung kann vielleicht die Existenz von Gegenständen mit Farb- und Gestalteigenschaften (also die Existenz von blauen und viereckigen Gegenständen) zeigen, aber nicht die Existenz von Gegenständen mit Eigenschaften wie Allmacht. Darauf möchte ich wie folgt erwidern: Das mag zwar richtig sein, wenn es um Sinneserfahrung und Wahrnehmung geht, aber nicht, wenn es sich um die Erfahrung im allgemeinen handelt. Vor allem gilt es nicht für die doxastische Erfahrung. Bei der Erinnerung und der Bildung apriorischer Überzeugungen kommen doxastische Erfahrungen ins Spiel; und die Leistungen der Erinnerung wie der Vernunft sind nicht auf die Existenz von Dingen mit wahrnehmbaren Eigenschaften beschränkt. Das gleiche gilt auch für den sensus divinitatis und den IAHG. Sollen wir deshalb den Schluss ziehen: Informationen, die man gegebenenfalls durch diese Quellen unserer Überzeugungen bekommt, seien eigentlich keine Informationen, die man durch die Erfahrung bekommt? Mag sein.Wenn wir jedoch so verfahren, dann ist die Behauptung, man könne nicht aus der Erfahrung lernen, dass es beispielsweise ein allmächtiges Wesen gibt, nicht mehr relevant für die in unserem Modell getroffene Festsetzung, man könne diese Dinge mit Hilfe des sensus divinitatis oder des IAHG erfahren. Mag sein, dass man dergleichen nicht aus der Erfahrung lernen kann. Daraus folgt aber nicht, dass es ausgeschlossen ist,
Ich möchte darauf hinweisen, dass das für meine Theorie der Gewährleistung gilt; aber bei den übrigen Haupttheorien verhält es sich genauso. Offenbar können von dem IAHG hervorgebrachte Überzeugungen mit dem entsprechenden Korpus von Überzeugungen zusammenstimmen oder durch einen zuverlässigen Überzeugungen produzierenden Mechanismus hervorgebracht bzw. gerechtfertigt werden, auch wenn (wie Mackie anmerkt) die Existenz der relevanten Erfahrungen mit der Falschheit der betreffenden Überzeugungen verträglich ist.
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durch den sensus divinitatis und den IAHG über dergleichen unterrichtet zu werden.
III Ein Totschlagargument? Richard Gale wirft die Frage auf, ob die religiöse Erfahrung »kognitiv« sei (um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen).⁶ Was genau meint er damit? Vermutlich möchte er fragen, ob die religiöse Erfahrung zu einem kognitiven Prozess gehört bzw. gehören kann, der eine epistemische Verbindung zwischen uns und Gott herstellt. Bei dieser Frage geht es darum, ob die religiöse Erfahrung insofern der Sinneserfahrung ähnelt, als sie zu einem kognitiven Vorgang gehört, der in Wissen oder gewährleisteten Überzeugungen bezüglich einer unabhängigen Realität – wie z. B. Gott – mündet. Gale argumentiert für die These, tatsächlich sei die religiöse Erfahrung in diesem Sinne nicht kognitiv. Sein Argument entwickelt er im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem sogenannten »Analogieargument für Kognitivität«, das er mit William Alston, Gary Gutting, Richard Swinburne und William Wainwright in Verbindung bringt. Die Argumentation dieser Autoren beruhe, wie er sagt, auf den folgenden beiden Prämissen: 1. Religiöse Erfahrungen ähneln Sinneserfahrungen. 2. Sinneserfahrungen sind kognitiv.
Also: 3. Religiöse Erfahrungen sind kognitiv. (S. 288)
Gale nimmt vor allem die erste dieser Prämissen aufs Korn. Hier müssen wir im Hinblick auf zwei Punkte Bedenken anmelden. Erstens erhebt Gale Einwände gegen dieses Argument, indem er Prämisse 1 angreift; also würde seine Konklusion strenggenommen nicht besagen, dass die religiöse Erfahrung bzw. der religiöse Glaube nicht kognitiv sei, sondern nur, dass dieses spezifische Argument für ihre Kognitivität scheitert. Was unsere jetzigen Belange angeht, spielt das aber keine Rolle, denn in Wirklichkeit unternimmt Gale sehr viel mehr, als bloß Einwände gegen Prämisse 1 zu erheben. Was er wirklich anbietet und was ich betrachten möchte, ist ein Argument, das zu der Konklusion führen
Gale, On the Nature and Existence of God, Cambridge: Cambridge University Press 1991, S. 285 ff. Die übrigen Seitenverweise in diesem Abschnitt beziehen sich auf Gales Buch.
III Ein Totschlagargument?
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soll, religiöse Erfahrung und religiöser Glaube seien mit Notwendigkeit nicht kognitiv. Dieses Argument würde, wenn es Erfolg hätte, zeigen, dass es uns gar nicht möglich ist, zu etwas Ähnlichem wie einer Wahrnehmungskenntnis Gottes zu gelangen. Zweitens scheint Gale außerdem zu glauben oder vorauszusetzen, dass jede Erfahrungskenntnis Gottes das gleiche oder etwas Ähnliches sein müsste wie Wahrnehmungskenntnis Gottes. (D. h., jede Erfahrung von Gott, die zu einem kognitiven Prozess gehört, der in Wissen oder gewährleisteten Überzeugungen bezüglich Gott resultiert, müsste im Rahmen dieses Prozesses die gleiche Rolle spielen, die die Wahrnehmungserfahrung bei der Wahrnehmung spielt.) Daher kommt er nach meinem Eindruck zu dem Schluss, dass es gar nicht möglich sei, durch Erfahrung zu Wissen um Gott zu gelangen, was wiederum hieße, dass religiöse Erfahrung nicht kognitiv ist. Es ist nicht völlig klar, welches die Konsequenzen von Gales Argument für mein Argument sein könnten, das ja zeigen soll, dass der theistische und der christliche Glaube durch den sensus divinitatis und den IAHG gewährleistet werden können. (D. h., es soll zeigen, dass es unter Voraussetzung der Wahrheit dieser Überzeugungen keine zwingenden Einwände gibt, die gegen diese Form der Gewährleistung sprechen, weshalb sich jeder Einwand gegen diese Überzeugungen gegen ihre Wahrheit richten müsste – und nicht gegen ihre Rationalität oder Vernünftigkeit.) Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Gale mein Argument nicht berücksichtigt – ein durchaus entschuldbares Versäumnis, wenn man bedenkt, dass er sein Argument lange vor der Veröffentlichung meines Arguments dargelegt hat. Hinzu kommt jedoch, dass die Tragweite von Gales Argument im Hinblick auf meines deshalb nicht klar ist, weil unklar bleibt, ob es angemessen ist, eine durch den sensus divinitatis und den IAHG gewonnene Erkenntnis als Erfahrungserkenntnis zu begreifen. Es wäre jedoch schade, die Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit einem so spannenden Argument wie dem von Gale zu verpassen. Also wollen wir um der argumentativen Auseinandersetzung willen annehmen, dass es sich, sofern es überhaupt so etwas wie eine durch diese Prozesse gewonnene Erkenntnis gibt, um Erkenntnis durch Erfahrung handelt. Dann können wir Gales Argument als ein Argument gegen meine Konklusion ansehen. (Natürlich könnte es sich herausstellen, dass sein Argument gerade deshalb von fragwürdiger Relevanz für das meine ist, weil zweifelhaft ist, ob Erkenntnis durch den sensus divinitatis und den IAHG – sofern es dergleichen Erkenntnis überhaupt gibt – wirklich als Erfahrungswissen aufgefasst werden sollte.) Wie läuft das Argument? Es beginnt mit einer spielerischen Drohung an die Adresse derjenigen, die – wie Gale meint – das Analogieargument für die Kognitivität der religiösen Erfahrung akzeptieren:
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Wir müssen erst noch eine tiefe Unähnlichkeit zwischen Sinneserfahrung und religiöser Erfahrung ermitteln, um auf diese Weise die Analogieprämisse des Analogiearguments völlig zunichte zu machen. Diese »große Unähnlichkeit« wird, wie sich dann zeigt, dazu führen, dass die Verteidigung der Kognitivität Schiffbruch erleidet, und damit wird für Alston, Gutting, Swinburne und Wainwright die Zeit kommen, sich auf Deck zu den übrigen Verfechtern des Analogiearguments zu gesellen, um dort ein paar aus tiefstem Herzen empfundene Strophen von »Näher, mein Gott, zu Dir« anzustimmen. (S. 326)
Wackere Worte! Spricht Gale mit Engelszungen, oder ist er bloß eine tönende Schelle? Was besagt das Totschlagargument eigentlich genau? Es gilt notwendig, dass jede kognitive Wahrnehmung eine veridische Wahrnehmung einer objektiven Realität ist. Nun soll geltend gemacht werden, dass eine veridische Wahrnehmung Gottes begrifflich unmöglich ist, […] woraus bei Anwendung von Modus tollens folgt, dass die Existenz einer kognitiven religiösen Erfahrung ebenfalls unmöglich ist. […] Eine veridische Sinneswahrnehmung muss einen Gegenstand haben, der auch dann existieren kann,wenn er nicht gerade wahrgenommen wird, und dieser Gegenstand muss das gemeinsame Objekt verschiedener Sinneswahrnehmungen sein. Das ist nur dann möglich, wenn der Gegenstand in einem Raum- und Zeitrahmen lokalisiert ist, der sowohl diesen Gegenstand als auch den Wahrnehmenden umfasst. Sodann wird gezeigt, dass es zu diesem Begriff der objektiven Existenz in der religiösen Erfahrung kein Analogon gibt, denn es gibt keine dem Raum und der Zeit analogen Dimensionen, in denen Gott zusammen mit dem Wahrnehmenden seinen Ort hat und auf die man sich berufen kann, um der Vorstellung Sinn zu verleihen, Gott existiere auch im Falle des Nichtwahrgenommenwerdens und sei das gemeinsame Objekt verschiedener religiöser Erfahrungen. Aufgrund dieser großen Unähnlichkeit ist Gott kategorial ungeeignet, um als Gegenstand einer – sei’s sinnlichen oder nichtsinnlichen – veridischen Wahrnehmung zu dienen. (S. 326 – 327)
Man achte auf die implizite Behauptung im zweiten Satz: Sofern es begrifflich unmöglich ist, dass es eine veridische Wahrnehmung Gottes gibt, folgt daraus, dass die Existenz einer »kognitiven religiösen Erfahrung« unmöglich ist. Gale scheint also zu glauben, dass jede Spielart der religiösen Erfahrung nur dann kognitiv wäre, wenn sie zu einer veridischen Wahrnehmung Gottes gehörte. Das ist jedoch offenbar falsch, denn wie ich in den Kapiteln 6 und 8 ausgeführt habe, kann man sich nach dem erweiterten A/C-Modell ein angemessenes Bild vom sensus divinitatis und vom IAHG machen, dem zufolge sie eine Gotteserkenntnis ermöglichen, die zwar Erfahrungswissen, aber nicht Wahrnehmungswissen ist. Denken wir an den sensus divinitatis: Du schwebst in großer Gefahr und gelangst zu der Überzeugung, dass Gott dir helfen kann. Hier braucht es nichts zu geben, was man sinnvollerweise »Wahrnehmung« nennen könnte. Oder plötzlich bemerkst du, dass du schändlich gehandelt hast, und du kommst zu der Überzeugung, dass Gott deine Tat missbilligt. Gleichzeitig gestehst du ihm, dass du es warst. Auch in diesem Fall braucht nichts vorzuliegen, was man zu Recht als
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»Wahrnehmung« bezeichnen könnte. Dem Modell zufolge kommt die Gotteserkenntnis hier durchaus zum Tragen; auch die Erfahrung spielt eine entscheidende Rolle, und zwar sowohl die doxastische Erfahrung als auch die Erfahrung, die mit Angst-, Schuld- oder Schamgefühlen einhergeht. Diese Erfahrung steht in enger Verbindung mit dem Wirken des sensus divinitatis, und vielleicht ist sie der Auslöser, durch den die relevante Überzeugung zustande kommt. Aber das Resultat ist nach meinem Dafürhalten keine Wahrnehmungsüberzeugung. Hinzu kommt, dass es jetzt womöglich noch klarer geworden ist, dass die durch den IAHG vermittelte Erkenntnis Gottes und der großen Dinge des Evangeliums kein Wahrnehmungswissen ist (s. o., S. 340). Falls wir jedoch nicht davon ausgehen, dass der sensus divinitatis und der IAHG in Wahrnehmungswissen münden, dürfte Gales Einwand irrelevant sein. Im Hinblick auf unsere jetzigen Zwecke wollen wir also vorläufig einräumen, dass Gotteserkenntnis durch den sensus divinitatis oder den IAHG – zumindest in einem angemessen analogischen Sinn – Wahrnehmungswissen von Gott wäre. Andernfalls könnte man bei der Betrachtung von Gales Einwand gegen die Wahrnehmungserkenntnis Gottes zunächst einmal die Frage nach der Tragweite im Hinblick auf das A/C-Modell ausklammern.Wie lautet der Einwand nun? »Eine veridische Sinneswahrnehmung«, schreibt Gale, »muss einen Gegenstand haben, der auch dann existieren kann, wenn er nicht gerade wahrgenommen wird, und dieser Gegenstand muss das gemeinsame Objekt verschiedener Sinneswahrnehmungen sein.« Das ist offenbar richtig – oder zumindest klingt es plausibel. Und sofern es so etwas wie Gotteserfahrung überhaupt gibt, wird Gott natürlich auch dann existieren können müssen, wenn⁷ er von keinem menschlichen Erkenntnissubjekt erfahren wird (selbst wenn es sich de facto so verhält, dass seine Anwesenheit immer von dem einen oder anderen Menschen erlebt wird). Außerdem würde Gott selbst – genau dieses eine identische Wesen – von vielen verschiedenen Personen begriffen, erkannt oder erfasst werden. Was soll nun eigentlich problematisch sein an der Vorstellung, dass Gott sowohl dir als auch mir bewusst ist und dass er auch dann noch weiterexistiert, wenn keiner von uns beiden an ihn denkt? Das Problem besteht nach Gales Auffassung darin, dass ein Gegenstand, wenn er auch als nicht wahrgenommener existieren und außerdem von verschiedenen Subjekten wahrgenommen werden kann, »in einem Raum- und Zeitrahmen lokalisiert ist, der sowohl diesen Gegenstand als auch den Wahr-
So verhält es sich jedenfalls, wenn Gott eine zeitliche Existenzform hat. Und selbst wenn das nicht der Fall ist, spricht derjenige die Wahrheit, der sagt, dass Gott existiert, auch wenn zu dieser Zeit (per impossibile) niemand da ist, der Gott erlebt. Siehe meinen Artikel »On Ockham’s Way Out«, in: Faith and Philosophy (Juli 1986).
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nehmenden umfasst«. Wieso eigentlich? Gales stärkstes Argument findet sich in den folgenden beiden Zitaten: Eine weitere missliche Konsequenz ihrer Nichtdimensionalität liegt darin, dass es hinsichtlich der Frage, wie sie ohne wahrgenommen zu werden existieren können, sowie hinsichtlich der Frage, wie sie gemeinsame Objekte verschiedener Wahrnehmungen sein können, keine Erklärungen gibt, die denen analog wären, die vorher im Hinblick auf empirische Einzelgegenstände gegeben wurden. Dass es uns misslingt, ein empirisches Einzelding wahrzunehmen, und auch dass es uns gelingt, ein und dasselbe empirische Einzelding wahrzunehmen, ließe sich möglicherweise unter Bezugnahme auf unser in einer nichtempirischen Dimension bestehendes Verhältnis zu diesem Ding erklären, aber eine analoge Erklärung ließe sich weder für die Nichtwahrnehmung Gottes und ähnlicher Wesen noch für die Wahrnehmung ein und desselben Gottes anführen […]. Ebenso fragt es sich: Angenommen, zwei verschiedene Personen machen zu einer bestimmten Zeit religiöse Erfahrungen, die sich auf eine überaus mächtige und liebevolle nichtmenschliche Person beziehen, oder ein und dieselbe Person macht zu verschiedenen Zeiten solche Erfahrungen.Wie wird Gutting nun entscheiden, ob sich diese Erfahrungen auf ein und dasselbe, numerisch identische Wesen oder nur auf qualitativ ähnliche Wesen beziehen? (S. 341– 342)
Das vermeintliche Problem scheint demnach ein doppeltes zu sein: Es betrifft (a) den Fall, in dem man Gott zu einer Zeit wahrnimmt und zu einer anderen Zeit nicht, und (b) den Fall, in dem zwei verschiedene Personen Gott wahrnehmen, d. h. genau dieselbe allmächtige, allwissende und liebevolle nichtmenschliche Person. Es ist jedoch nicht ohne weiteres zu erkennen, was genau von Gale mit Bezug auf (a) und (b) behauptet wird. Was (a) betrifft, gibt es zwei Möglichkeiten, und was (b) betrifft, gibt es drei. Mit Bezug auf (a) könnte Gale folgendes behaupten: (1) Wenn Gott nicht in Raum und Zeit ist, wäre keine Erklärung dafür möglich, dass wir ihn zum einen Zeitpunkt wahrnehmen, aber nicht zum anderen. (2) Wenn Gott nicht in Raum und Zeit ist, wäre es uns nicht möglich, ihn zum einen Zeitpunkt, aber nicht zum anderen wahrzunehmen. Was nun (b) betrifft, bieten sich die gleichen beiden Möglichkeiten an und zusätzlich noch (3): Falls Gott nicht in Raum und Zeit ist, wären wir außerstande anzugeben, wann zwei Personen Gott wahrnehmen, d. h., wann sie beide ein und dieselbe göttliche Person wahrnehmen. Nehmen wir uns (1) mit Bezug auf (a) vor. Strenggenommen würde es vermutlich weder das sensus-divinitatis-Modell noch die These, dass Gott wahrgenommen werden kann, beschädigen,wenn es keine Erklärung dafür gäbe, dass wir Gott zu einem Zeitpunkt wahrnehmen und zu einem anderen Zeitpunkt nicht. Das Modell sagt ja nichts weiter, als dass die genannte Art von Erkenntnis vorkommt, aber es fährt nicht fort, um hinzuzufügen, dass es eine Erklärung dafür gibt – es sei denn, das Modell selbst ist bereits eine Erklärung. Ich möchte jedoch vermuten,
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dass Gale im Hinblick auf diesen ersten Punkt im Grunde behauptet, dass wir keine Möglichkeit sehen, wie es geschehen könnte, dass wir Gott zu einer Zeit wahrnehmen und zu einer anderen Zeit nicht. Um es etwas stärker zu formulieren: Vermutlich möchte er behaupten, dass es nur dann möglich wäre einzusehen, dass man Gott zu einer Zeit wahrnehmen kann und zu einer anderen Zeit nicht, wenn er und wir im selben Raum und in derselben Zeit angesiedelt wären. Wir können einsehen, dass dies die einzige Bedingung ist, unter der so etwas geschehen könnte. Im Grunde laufen (1) und (2) mit Bezug auf (a) also auf die gleiche Behauptung hinaus: Dass wir Gott zu einer Zeit wahrnehmen bzw. erleben, aber zu einer anderen Zeit nicht,wäre nur dann möglich, wenn er sich im selben Raum und in derselben Zeit (in derselben Raumzeit) befände wie wir. Das sagt Gale. Hat er recht? Ich glaube nicht. Selbst im Hinblick auf Dinge, die sich tatsächlich in Raum und Zeit befinden, gibt es eine bunte Vielfalt von Erklärungen dafür, dass ich ein Ding zu einer Zeit wahrnehme und zu einer anderen Zeit nicht. Angenommen, ich nehme das Ding zum Zeitpunkt t1 wahr. Doch dann geschieht es zur Zeit t2, dass meine Augen geschlossen sind, dass ich schlafe, dass ich an etwas anderes denke, dass ich meine Brille vergessen habe, dass ich mir eine Einkaufstüte über den Kopf gestülpt habe, dass ich mich unter Wasser befinde, oder dass ich an einer kognitiven Fehlfunktion leide. Ebenso steht es mit der Wahrnehmung oder Erkenntnis Gottes. Natürlich ist Gott immer existent. Außerdem ist es, da er (wie wir um der Argumentation willen annehmen wollen) nicht im Raum ist, nie der Fall, dass er zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen räumlichen Beziehungen zu mir steht. Dennoch fragt es sich: Warum soll das heißen, dass es mir nicht möglich sein soll, ihn zu einer Zeit wahrzunehmen bzw. zu erleben und zu einer anderen Zeit nicht? Es könnte doch sein, dass ich ihn zum Zeitpunkt t1 wahrnehme oder erlebe, aber nicht zum Zeitpunkt t2, denn jetzt schlafe ich, meine Aufmerksamkeit ist abgelenkt (denn ich habe mir mit dem Hammer auf den Daumen geschlagen oder mir in den Fuß geschossen), ich leide an einer kognitiven Fehlfunktion oder vielleicht bin ich zornig auf Gott, weil mein Freund schrecklich leidet, und daher nicht in der richtigen Stimmung. Es gibt viele Möglichkeiten, warum ich ihn zu einer Zeit wahrnehme, aber zu einer anderen Zeit nicht, obwohl es ausgeschlossen ist, dass ich zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen räumlichen Beziehungen zu ihm stehe. Selbst wenn ich wach bin und seine Anwesenheit spüren möchte und wünsche, eine Antwort auf mein Gebet zu erhalten, geführt zu werden, seine Liebe zu spüren oder seine Schönheit und Gnade wahrzunehmen, kann es sein, dass meine Hoffnung enttäuscht wird. Das kann daran liegen, dass Gott zu diesem Zeitpunkt und aus Gründen, die nur er selbst kennt, nicht in dieser Form mit mir kommunizieren will. Auch wenn ich in einem räumlich und zeitlich passenden Verhältnis zu dir stehe und dir eine Frage stelle, kann es sein, dass ich keine Antwort be-
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komme. Ich frage dich, warum du so rätselhaft lächelst, aber du gibst mir keine Antwort – vielleicht weil du die Frage für eine Frechheit oder für nicht beantwortenswert hältst, oder weil eine Antwort deinem Wunsch im Wege stünde, auch weiterhin rätselhaft zu wirken. Sobald es um Wissen und insbesondere die Kenntnis anderer Personen geht, benötigen wir häufig deren Mitarbeit. Dasselbe würde natürlich auch für Gott gelten, und vielleicht möchte er bei vielen oder den meisten Gelegenheiten nicht wahrgenommen werden. Wie ich im 6. Kapitel ausgeführt habe, ist es nicht leicht anzugeben, welches genau die notwendigen und hinreichenden Bedingungen der Wahrnehmung sind. Wie immer diese Bedingungen jedoch aussehen mögen – sie setzen eine bestimmte Art von Erfahrung voraus, eine Erfahrung, bei der das wahrgenommene Objekt »gegenwärtig« oder dem Wahrnehmenden »gegeben« zu sein scheint. Das ist eine Erfahrung, die offensichtlich zu einer Zeit da sein und zu einer anderen Zeit fehlen kann – einerlei, ob Gott einen Ort im Raum hat oder nicht. Dieses Argument – das Argument für die These, dass wir Gott, wenn er nicht in Raum und Zeit ist, nicht zu einem Zeitpunkt erfahren bzw. wahrnehmen können, zu einem anderen Zeitpunkt dagegen nicht – erscheint mir ganz und gar nicht verheißungsvoll. Aber wie steht es mit Gales Thesen bezüglich (b)? Hier stellt er eine doppelte Behauptung auf und sagt: Sollte Gott nicht in Raum und Zeit sein, kann es keine Erklärung dafür geben, dass zwei Personen ihn wahrnehmen bzw. erfahren (wir können uns nicht vorstellen, wie das geschehen könnte). Außerdem bestünde keine Möglichkeit anzugeben, dass es gerade Gott – ein und dieselbe Person – ist, die ich bei zwei verschiedenen Gelegenheiten erlebe. Gibt es irgendeinen Grund, einem dieser beiden Hinweise zu folgen? Wie kann es geschehen, dass zwei verschiedene Personen Gott wahrnehmen bzw. erfahren? Angenommen, beide haben Erlebnisse der richtigen Art, unter anderem das Gefühl, dass Gott anwesend, gegeben ist. Nehmen wir ferner an, beide kommen zu richtig gearteten, wahren Überzeugungen bezüglich Gott und denken beispielsweise, dass er wirklich anwesend und ihnen gegeben ist. Schließlich wollen wir auch noch annehmen, die Bedingungen der Gewährleistung seien erfüllt und diese Überzeugungen werden in ihnen durch kognitive Vermögen hervorgebracht, die in einer geeigneten epistemischen Umgebung gemäß einem erfolgreich auf die Wahrheit abzielenden Bauplan richtig funktionieren. In diesem Fall würden sie beide Gott wahrnehmen, obwohl sich Gott nicht in der Dimension des Raums befindet. Liegt darin wirklich ein Problem? Wenn ja, ist es gut versteckt. Gale oder ein anderer Autor würde vielleicht behaupten, schon die bloße Vorstellung, dass wir Gott betreffende Überzeugungen bilden, sei problematisch: Wodurch ließe es sich denn bewerkstelligen, dass sich diese Überzeugungen gerade auf Gott beziehen? Doch das ist ein Zweifel völlig anderer Art und läuft im Grunde auf den
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Einwand hinaus, mit dem wir uns bereits in den ersten beiden Kapiteln auseinandergesetzt haben. Hier wirkt er genauso wenig überzeugend wie dort. Ähnlich steht es mit dem zweiten Punkt, dem zufolge es unmöglich wäre anzugeben, ob es ein und dieselbe göttliche Person ist, die man bei zwei verschiedenen Gelegenheiten erlebt. Die These lautet: Da Gott nicht im Raum lokalisiert ist, können wir niemals angeben, ob wir in Situation B dasselbe göttliche Wesen antreffen wie in Situation A. Aber gibt es wirklich einen Grund, das für wahr zu halten? Meines Erachtens ist dieses Argument genauso hoffnungslos falsch wie das vorige. Der Grundgedanke ist offenbar der, dass es bei nichträumlichen Gegenständen grundsätzlich ausgeschlossen ist anzugeben, ob man denselben Gegenstand nochmals antrifft oder bloß ein anderes Ding, das dem ersten hinreichend ähnlich ist. Aber stimmt das denn wirklich? Was ist hier eigentlich das Problem? Angenommen, deine Erfahrung steht in der richtigen Weise in Beziehung zu Gott, und du bildest dir bei zwei aufeinander folgenden Gelegenheiten (t1 und t2) Überzeugungen, die ihn betreffen. Zum Zeitpunkt t2 bildest du die wahre Überzeugung, dass das Wesen, auf das sich deine Überzeugung bezieht, dasselbe Wesen ist, mit Bezug auf das du dir zum Zeitpunkt t1 eine Überzeugung gebildet hast. Wird diese Überzeugung unter gewährleistenden Bedingungen gebildet, wirst du angegeben haben, dass das Wesen, mit Bezug auf das du zur Zeit t2 eine Überzeugung gebildet hast, genau dasselbe Wesen ist wie das, im Hinblick auf das du zur Zeit t1 jene andere Überzeugung gebildet hast. Ja, genau das heißt: angeben, dass sich die t2-Überzeugung auf dasselbe Wesen bezieht wie die t1-Überzeugung, sofern beide Überzeugungen von einem nichträumlichen Gegenstand handeln. Demnach ist auch dieser Punkt völlig falsch. Zur Zeit t1 denke ich an die Nullmenge oder an die Proposition, dass alle Menschen sterblich sind. Anschließend lese ich Gales Buch oder schaue mir im Fernsehen ein Fußballspiel an. Zur Zeit t2 denke ich wieder über die Nullmenge (bzw. über die genannte Proposition nach). Besteht hier wirklich ein Problem bezüglich der Frage, ob ich angeben oder wissen kann, dass das, worüber ich zur Zeit t2 nachdenke, dasselbe ist wie der Gegenstand meiner Gedanken zur Zeit t1? Soll ich Zweifel daran hegen, ob die Menge, über die ich zur Zeit t2 nachdenke, wirklich dieselbe Menge ist wie die, der meine Gedanken zur Zeit t1 galten? Könnte es sein, dass Gale eigentlich auf den folgenden Gedanken hinauswill: Falls ein Streit darüber ausbricht, ob sich das, was ich bei einer bestimmten Gelegenheit erlebe, auf dasselbe Wesen bezieht wie das,was du bei einer bestimmten Gelegenheit erlebst, könnte es sich dann nicht herausstellen, dass dieser Streit nicht entscheidbar ist? Anders gefragt: wäre es nicht möglich, dass ich (ebenso wie Teresa von Avila und andere) mir bei einer bestimmten Gelegenheit nicht sicher bin, ob es wirklich Gott war, mit dem ich in Kontakt stand, und nicht etwa ganz im Gegenteil Satan, der mir in der Gestalt eines Lichtengels erscheint, um mich zu
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betrügen? Könnte das nicht geschehen? Doch, natürlich wäre das möglich. Aber das zeigt nicht, dass ich niemals angeben kann, dass ich wirklich Gott erfahre. Es zeigt bloß, dass ich in diesen spezifischen Situationen vielleicht nicht angeben kann, ob es Gott ist, mit dem ich in Verbindung stehe. Freilich ist es möglich, dass die Erscheinungen genau dieser Art sind und ich trotzdem nicht Gott erfahre. Aber daraus folgt, wie wir bereits gesehen haben, gar nichts, denn das gleiche gilt auch für die Wahrnehmung, die Erinnerung und mein Wissen, dass ich schon seit erheblicher Zeit existiere. Es ist offensichtlich möglich, dass meine Erfahrung genau die ist, die mit der Wahrnehmung eines Pferds einhergeht, obschon kein Pferd da ist.⁸ Es kann also sein, dass ich bei manchen Gelegenheiten wirklich keine Angabe machen kann. Das dürfte aber kaum zeigen, dass es nie möglich ist. Und um es zu wiederholen: Das Verfahren, mittels dessen ich angeben kann, ob es wirklich Gott – diese identische Person – ist, die ich in zwei verschiedenen Situationen wahrnehme bzw. erfahre, besteht darin, dass ich (unter gewährleistenden Bedingungen) die wahre Überzeugung bilde, dass ich in beiden Situationen tatsächlich Gott begegnet bin. Daher dürfte klar sein: Diese Argumente zeigen nicht einmal ansatzweise, dass Gotteswahrnehmung unmöglich ist, dass religiöse Erfahrungen niemals kognitiv sind, oder dass es keine Gotteserkenntnis geben kann, die über den Weg des sensus divinitatis und den IAHG führt. Gales Argumente beruhen auf zahlreichen Annahmen, die kaum oder gar keinen Anspruch auf Zustimmung haben. Gemeint sind Argumente wie diese: Wenn man manchmal nicht angeben kann, ob beispielsweise p, kann man niemals angeben, ob p; wenn Gott nicht in Raum und Zeit lokalisiert ist, kann man nie angeben, dass er es war, mit dem man bei aufeinander folgenden Gelegenheiten in Kontakt war; oder wenn Gott nicht in Raum und Zeit ist, kann es nicht sein, dass man ihn bei einer Gelegenheit erlebt, bei einer anderen dagegen nicht. Alle diese Annahmen scheinen bestenfalls extrem fragwürdig zu sein.⁹
Aber gibt es denn nicht Prüfungs- und Kontrollmethoden, um festzustellen, ob man wirklich ein Pferd wahrnimmt? Diese Methoden gibt es tatsächlich. Aber nun denke man an die Erfahrungen, die mit den Kontrollen, die man vornimmt, um festzustellen, ob man wirklich ein Pferd wahrnimmt, ebenso einhergehen wie mit der Feststellung, dass man tatsächlich ein Pferd gesehen habe. Logisch ist es auch möglich, dass alle diese Erfahrungen gegeben sind, obwohl in Wirklichkeit gar kein Pferd vorhanden ist. Natürlich bleibt noch festzuhalten, dass das erweiterte A/C-Modell strenggenommen gar nicht voraussetzt, dass man Gott überhaupt wahrnimmt.
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IV Der Sohn des großen Kürbis? Nach dem erweiterten A/C-Modell können der Glaube an Gott und der Glaube an die zentralen Lehrsätze des christlichen Glaubens rational und gewährleistet sein, wenn sie nicht auf der Belegbasis anderer Überzeugungen akzeptiert werden. Diesem Modell zufolge können sie in einer Weise gewährleistet sein, die nicht funktioniert, wenn sie auf der Belegbasis anderer Überzeugungen geglaubt werden: Sie können eine Gewähr haben, die sie nicht durch Gewähr-Übertragung von seiten anderer Überzeugungen bekommen. In dieser Hinsicht ähneln sie Erinnerungsüberzeugungen, Wahrnehmungsüberzeugungen, einigen apriorischen Überzeugungen usw. Die Überzeugungen des christlichen Glaubens sind demnach ein geeigneter Ausgangspunkt für weitere Gedanken. Um es anders zu formulieren: Diese Überzeugungen sind angemessen basal, und zwar angemessen basal im Hinblick auf Gewährleistung. Als nächstes möchte ich hier ein ganzes Nest von Einwänden betrachten, die sich gegen den Gedanken richten, eine basale Gewährleistung dieser Überzeugungen sei möglich. Bisher konzentrieren sich derartige Einwände auf die These, der Glaube an Gott (im Gegensatz zum spezifisch christlichen Glauben) sei angemessen basal bzw. könne angemessen basal sein. Das liegt daran, dass es meistens nicht der spezifisch christliche Glaube, sondern der Glaube an Gott ist, von dem bisher behauptet worden ist, er sei angemessen basal bzw. könne angemessen basal sein. Um die Dinge zu vereinfachen, werde ich die Erörterung auf den sensus divinitatis und den Glauben an Gott beschränken. Was ich sage, wird jedoch im gleichen Maße auch für den IAHG und die durch ihn hervorgebrachten Überzeugungen gelten. Als erstes ist hier die folgende Behauptung zu nennen: Sofern der Glaube an Gott in puncto Gewährleistung wirklich angemessen basal ist, werden Argumente und Einwände irrelevant sein. Er wird einem Bereich jenseits aller rationalen Überprüfung angehören und gegen Einwände und Bezwinger immun sein. Es liegt jedoch auf der Hand, dass Einwände und Argumente für den theistischen Glauben doch relevant sind. Also ist er nicht gewährbasal. In diesem Sinne heißt es bei Michael Martin: »Plantingas Fundierungsgedanke ist extrem relativistisch und entzieht jeden Glauben, sobald er für basal erklärt ist, der rationalen Bewertung.«¹⁰ Warum sollte man so etwas denken? Bloß aufgrund seiner Basalität wäre der Theismus sicher nicht gegen Argumente und Bezwingung gefeit. In dieser Hinsicht ähnelt der theistische Glaube lediglich anderen Arten von Überzeugungen, die in
Martin, Atheism: A Philosophical Justification, Philadelphia: Temple University Press 1990, S. 276.
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basaler Weise akzeptiert werden. Um ein Beispiel zu nennen: Georg erzählt mir von seinen Sommerferien in den Alpen. Auf diesem Weg komme ich zu der Überzeugung, dass er in den Alpen war, und ich glaube diese Aussage in basaler Weise.¹¹ Doch dann höre ich von Georgs Frau, dass die Familie in Wirklichkeit in den Dolomiten war, die Georg (wie ich ebenfalls von seiner Frau erfahre) immer mit den Alpen verwechselt. Außerdem berichtet mir Georg bei unserer nächsten Begegnung ausführlich von den landschaftlichen Reizen des Rosengartens (der tatsächlich in den Dolomiten liegt). Dann werde ich nicht mehr glauben, dass Georg mit seiner Familie in die Alpen gefahren ist, obwohl ich mir diese Überzeugung ursprünglich in basaler Weise gebildet hatte. Ein weiteres Beispiel: Auf der Wiese jenseits der Straße erblicke ich etwas, was wie ein Schaf aussieht, und nun bilde ich mir in basaler Weise die Überzeugung, dass sich dort ein Schaf aufhält. Nun erzählt mir der Besitzer der Wiese, dass es dort keine Schafe gibt; allerdings gebe es hier in der Gegend einen Hund, der aus dieser Entfernung genauso wie ein Schaf aussieht. Dann werde ich kein Schaf mehr zu sehen glauben, obwohl ich diese Überzeugung zunächst in basaler Weise akzeptiert hatte. Ein drittes Beispiel: Gottlob Frege kam in basaler Weise zu der Überzeugung, zu jeder Eigenschaft oder Bedingung gebe es eine Menge genau derjenigen Dinge, die diese Eigenschaft haben bzw. diese Bedingung erfüllen. Von Bertrand Russell erfuhr er, dass dieser Gedanke paradoxe Konsequenzen hat,¹² und so wurde ihm zu seinem Leidwesen klar, dass es sich nicht so verhält, obwohl die ursprüngliche Überzeugung basaler Art gewesen war. Es ist also generell unzutreffend, dass eine Überzeugung, sofern sie in basaler Weise vertreten wird, gegen Argumente oder rationale Bewertung gefeit ist.Warum also sollte man meinen, im Fall des theistischen Glaubens müsse es sich doch so verhalten? Die Tatsache – sofern es denn eine Tatsache ist –, dass der Glaube an Gott angemessen basal ist, impliziert ganz und gar nicht, dass er gegen Argumente, Einwände oder Bezwinger immun wäre. Es ergibt sich gewiss weder aus meinem Fundierungsgedanken noch aus dem schlichten oder dem erweiterten A/
Ich glaube es nicht auf der Belegbasis eines Arguments der folgenden Form: »Georg hat mir gesagt, er sei im letzten Sommer in die Alpen gefahren; die meisten Äußerungen von Georg sind wahr; also ist wahrscheinlich auch diese Aussage wahr.« Es wäre zwar möglich, dass ich eine Fremdaussage auf der Basis eines solchen Arguments akzeptiere – und unter bestimmten speziellen Umständen (beispielsweise im Rahmen eines Mordprozesses) würde ich tatsächlich so verfahren, aber im Regelfall geschieht das nicht. Eine Bedingung ist die: kein Element seiner selbst zu sein. Wäre Freges Überzeugung wahr, gäbe es eine Menge von Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten – und diese Menge müsste sich nun sowohl selbst als Element und zugleich nicht als Element ihrer selbst enthalten. Also war Freges Überzeugung falsch.
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C-Modell, dass basale Überzeugungen keiner rationalen Bewertung unterliegen.¹³ Eigentlich würde ich diesen Punkt nicht einmal erwähnen, wenn es da nicht den ziemlich weitverbreiteten gegenteiligen Eindruck zu geben schiene. Kommen wir auf einen damit zusammenhängenden Einwand zu sprechen: den Großer-Kürbis-Einwand.¹⁴ Diesem Einwand zufolge kann, sofern der Glaube an Gott angemessen basal sein kann, dies auch für jede andere Überzeugung gelten – einerlei, wie bizarr sie auch sein mag –, denn wenn der Glaube an Gott angemessen basal sein könne, gebe es keine Grenzen mehr und alles sei möglich. Genausogut könnte man behaupten, der Glaube an den Großen Kürbis (der jedes Halloween zum urwüchsigsten Kürbisfeld zurückkehrt) sei in puncto Gewährleistung angemessen basal. Und genausogut könnte man den gleichen Anspruch auch im Hinblick auf den Atheismus, Voodoo, Astrologie, Hexerei und alles Beliebige, was einem in den Sinn kommt, erheben. Dostojewski hat einmal gesagt, wenn Gott nicht existierte, sei alles möglich. Dem genannten Einwand zufolge gilt: alles sei gewährleistet, sofern der Glaube an Gott angemessen basal sei. Natürlich ist dieser Einwand offensichtlich falsch. Denn dadurch, dass man einige Überzeugungen im Hinblick auf Gewährleistung als angemessen basal gelten läßt, legt man sich nicht im geringsten auf die Ansicht fest, alle sonstigen Überzeugungen seien ebenfalls angemessen basal. Auch wenn das erweiterte A/C-Modell zutrifft, folgt daraus nicht, dass diese sonstigen Überzeugungen in puncto Gewährleistung angemessen basal sind. Descartes und Locke waren der Meinung, einige Überzeugungen seien im Hinblick auf die Gewährleistung angemessen basal. Sollen wir ihnen nun vorwerfen, deshalb seien sie dazu verpflichtet, jede beliebige Überzeugung als angemessen basal aufzufassen? In seiner ursprünglichen Formulierung leistet der Einwand des Großen Kürbis offensichtlich gar nichts. Michael Martin sieht das zwar ein,¹⁵ aber er erhebt einen damit verwandten Einwand. Vermutlich ist es dieser Einwand, der seiner Behauptung zugrunde liegt, meine Anschauungen seien »extrem relativistisch«:
An mehreren Stellen seines Buchs zitiert Martin meinen Aufsatz »Reason and Belief in God« (in: Faith and Rationality, Notre Dame: University of Notre Dame Press 1983). In diesem Aufsatz schreibe ich: »Angenommen, jemand akzeptiert den Glauben an Gott als etwas Basales. Folgt daraus nicht, dass er diese Überzeugung in solcher Weise vertreten wird, dass kein Argument ihn dazu bewegen oder veranlassen könnte, diese Überzeugung preiszugeben? [. . .] Macht er sich damit nicht einen Standpunkt zu eigen, von dem aus gesehen Argumente und sonstige rationale Verfahren zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten implizit als irrelevant hingestellt werden? Mit Sicherheit nicht.« Siehe S. 82 ff.: »Sind Argumente für den basalen Glauben irrelevant?« Siehe »Reason and Belief in God«, S. 74 ff. Atheism, S. 272.
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Der reformierte Erkenntnistheoretiker würde zwar nicht die Voodoo-Überzeugungen als rationale Meinungen gelten lassen müssen, aber die Voodoo-Anhänger könnten den Anspruch erheben, insofern ihre Überzeugungen in der Voodoo-Gemeinschaft als basale angesehen werden, seien sie auch rational, während das reformierte Denken in dieser Gemeinschaft als irrational gelten würde. Im Grunde würde Plantingas Vorschlag viele verschiedene Gemeinschaften generieren, die zu Recht den Anspruch erheben könnten, ihre Grundüberzeugungen seien rational. […] Zu den so generierten Gemeinschaften könnten etwa die Teufelsanbeter gehören sowie Vertreter der Flat-Earth-Gemeinde und überzeugte Elfenfreunde, solange nur der Glaube an den Teufel, die Flachheit der Erde und die Existenz der Elfen in der jeweiligen Gemeinschaft als basal angesehen wird. S. 272)
Diesen Einwand wollen wir den »Sohn des Großen Kürbis« nennen (SGK). Wie funktioniert dieser Einwand im einzelnen? Als erstes muss man erkennen, dass SGK auf eine höhere Ebene gestiegen und damit auf das Stockwerk oberhalb des Einwands des Großen Kürbis selbst gezogen ist. Dieser letztere Einwand beklagt, dass man nach meiner Auffassung jede beliebige Aussage – und sei sie auch noch so abwegig – als angemessen basal gelten lassen müsste. Dieser Vorwurf ist,wie Martin erkennt, offensichtlich falsch. Deshalb klettert SGK eine Etage höher und macht geltend: Wer eine Aussage p in basaler Weise vertritt, könne zu Recht in Anspruch nehmen, dass p angemessen basal – und zwar, wie Martin sagt, angemessen basal in puncto Rationalität – sei, d. h. so beschaffen, dass p sowohl rational akzeptiert als auch in basaler Weise akzeptiert werden kann. Man nehme irgendeine beliebige Gemeinschaft und irgendwelche beliebigen Überzeugungen, die in dieser Gemeinschaft als basale akzeptiert werden. Dann könnten die Erkenntnistheoretiker dieser Gemeinschaft zu Recht behaupten, es sei rational, diese Überzeugungen in basaler Weise zu akzeptieren. Sie »könnten« es, wenn was …? Was meint Martin damit? Es gibt hier mehr als nur eine Möglichkeit, aber vermutlich meint er folgendes: Sie »könnten« es, wenn der »reformierte Erkenntnistheoretiker« zu Recht beanspruchen darf, dass der theistische Glaube angemessen basal ist. Die Struktur des Einwands müsste also in etwa so aussehen: (1) Wenn reformierte Erkenntnistheoretiker zu Recht behaupten können, es sei rational akzeptabel, den Glauben an Gott in basaler Weise zu verstehen, dann gilt für jede andere Überzeugung, die in irgendeiner Gemeinschaft akzeptiert wird, dass die Erkenntnistheoretiker dieser Gemeinschaft zu Recht behaupten können, diese Überzeugung – sei sie auch noch so bizarr – sei angemessen basal. Allerdings: (2) Das Konsequens dieses Konditionals ist falsch. Also:
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(3) Der reformierte Erkenntnistheoretiker kann nicht zu Recht behaupten, es sei rational akzeptabel, den Glauben an Gott in basaler Weise zu verstehen. Taugt dieses Argument etwas? Gleich am Anfang stellt sich das Problem, dass das Argument ziemlich unpräzise formuliert ist, denn Martin sagt weder, was er unter »rational« versteht, noch was er mit »zu Recht« meint. Was den ersten Punkt betrifft, wären die aussichtsreichsten Anwärter vielleicht: Rationalität als Rechtfertigung (deontologische Rechtfertigung), interne Rationalität und Rationalität im Sinne von Gewährleistung. Mit der Rationalität als Rechtfertigung brauchen wir uns nicht lange aufzuhalten, denn es liegt auf der Hand, dass die Voodoo-Anhänger in theoretischen Dingen das Recht haben, ihre faktisch gedachten Gedanken zu denken (selbst wenn sie sie nur aufgrund einer kognitiven Fehlfunktion denken). Also ist es möglich, dass sie gerechtfertigt sind. Doch dann wäre es vermutlich so, dass jemand (beispielsweise die Voodoo-Erkenntnistheoretiker) zu Recht behaupten könnten, dass diese Voodoo-Anhänger unabhängig davon, was Martin eigentlich mit »zu Recht« meint, gerechtfertigt seien. Also ist Prämisse (2) des Arguments, wenn man es im Hinblick auf Rechtfertigung spezifiziert, offensichtlich falsch. Nun wollen wir annehmen, das Argument werde im Hinblick auf interne Rationalität spezifiziert, und »rational akzeptabel« bedeute soviel wie »intern rational«. Dann fällt es wieder ziemlich leicht, unsere Frage zu beantworten. Eine Überzeugung ist dann intern rational, wenn sie von Vermögen hervorgebracht wird, die »stromabwärts von der Erfahrung« richtig funktionieren (s. o., S. 130) – d. h., wenn es unter Voraussetzung der zur fraglichen Zeit gegebenen persönlichen Erfahrung (einschließlich der doxastischen Erfahrung) mit angemessenem Funktionieren vereinbar ist, dass man die betreffende Überzeugung akzeptiert. Bei den Voodoo-Anhängern könnte es sich gewiss so verhalten. Vielleicht hat man ihnen stets beigebracht, dass diese Voodoo-Überzeugungen wahr sind, während alle vermeintlichen konträren Belege von den Priestern schlau wegerklärt werden. Oder vielleicht kranken sie alle an einer stromaufwärts von der Erfahrung gegebenen kognitiven Fehlfunktion, die ihre doxastische Erfahrung verzerrt. Wenn es sich bei den Voodoo-Anhängern so verhalten könnte, dann können die VoodooErkenntnistheoretiker zweifellos wissen, dass die Urteile der Voodoo-Anhänger intern rational sind, und diese Tatsache (vermutlich zu Recht) mitteilen. Die Prämisse (2) scheitert, genauso wie im Fall der Rechtfertigung, auch im Fall der internen Rationalität. Damit sich unsere gedanklichen Bemühungen lohnen, muss das Argument demzufolge vermutlich im Hinblick auf Rationalität im Sinne von Gewährleistung spezifiziert werden. Die Frage lautet nun, ob die Voodoo-Erkenntnistheoretiker, sofern ich zu Recht behaupten kann, dass der Glaube an Gott in puncto Ge-
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währleistung angemessen basal ist, ihrerseits zu Recht behaupten dürfen, dass die Voodoo-Überzeugungen im Hinblick auf Gewährleistung angemessen basal sind. Jetzt müssen wir aber wissen, was an dieser Stelle unter »zu Recht behaupten« zu verstehen ist. Hier gibt es offenbar drei hervorstechende Möglichkeiten: die Behauptung ist wahrheitsgemäß, sie lässt sich rechtfertigen, oder sie lässt sich gewährleisten. Demnach könnte Martin als erstes meinen: Sofern sich vom Glauben an Gott wahrheitsgemäß behaupten lässt, er sei gewährbasal, dann gilt für die Voodoo-Überzeugung das gleiche. Das ist jedoch, wie wir bereits gesehen haben, falsch. Es ist nämlich durchaus möglich, dass der Glaube an Gott in basaler Weise gewährleistet ist, während der Voodoo-Glaube nicht in basaler Weise gewährleistet ist. Diese Sachlage würde beispielsweise bestehen, wenn das A/C-Modell wahr ist, während der Voodoo-Glaube aus einem kognitiven Irrtum hervorgeht. Somit würde die Prämisse (1) des Arguments fehlschlagen. Zweitens könnte Martin folgendes meinen: Wenn sich die Behauptung, der Glaube an Gott sei gewährbasal, rechtfertigen lässt, gelte das gleiche auch für den Voodoo-Glauben. Auch hier lasse sich die Behauptung, er sei gewährbasal, rechtfertigen. Aber wieder ist die Sache zu leicht, denn es liegt auf der Hand, dass sich die Meinung dieser Erkenntnistheoretiker, der Voodoo-Glaube sei gewährbasal, rechtfertigen ließe. Es könnte ja sein, dass es ihnen, nachdem sie lange darüber nachgedacht und Einwände berücksichtigt haben, schlicht offenkundig vorkommt, dass der Voodoo-Glaube wirklich gewährbasal ist. So aufgefasst, erweist sich die Prämisse (2) als falsch. Um einen respektablen Einwand zu finden, müssen wir den Ausdruck »zu Recht«, wie es scheint, wohl im Sinne von »gewährleistet« spezifizieren. Fassen wir nun sowohl »rational akzeptabel« als auch »zu Recht« im Sinne von »gewährleistet« auf und fragen wir uns, ob das Argument etwas taugt. So interpretiert, würde Martins Behauptung auf folgendes hinauslaufen: (1) Wenn die These des reformierten Erkenntnistheoretikers – nämlich dass der Glaube an Gott im Hinblick auf Gewährleistung angemessen basal ist – ihrerseits gewährleistet ist, gilt für jede (sei’s auch noch so bizarre) Aussage p, die von einer Gemeinschaft akzeptiert wird, dass die Behauptung der Erkenntnistheoretiker dieser Gemeinschaft, sofern sie behaupten, dass p im Hinblick auf Gewährleistung angemessen basal ist, auch ihrerseits gewährleistet wäre. (2) Das Konsequens von (1) ist falsch. Nun würde die Konklusion des Arguments lauten, dass der These des reformierten Erkenntnistheoretikers keine Gewähr zukommt. Eine Schwierigkeit, der sich diese Lesart des Arguments stellen muss, besteht darin, dass der reformierte Erkenntnistheoretiker (jedenfalls der hier schreibende reformierte Erkenntnistheoretiker) im Rahmen seiner philosophischen Position gar nicht den Anspruch erhebt, der Glaube an Gott und die Leistungen des IAHG seien tatsächlich gewährleistet. Das hat seinen Grund (s. o., S. 216 ff.) darin, dass sie höchstwahrscheinlich nur dann
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gewährleistet sind, wenn sie wahr sind; und ich argumentiere gar nicht für die These, diese Überzeugungen seien faktisch wahr. Zweifellos ist der reformierte Erkenntnistheoretiker von ihrer Wahrheit überzeugt, und er ist auch bereit zu behaupten, dass sie wahr sind, obschon er nicht vorhat, für diese Behauptung zu argumentieren. Daher wollen wir vorläufig annehmen, die reformierten Erkenntnistheoretiker behaupteten wirklich, der Glaube an Gott sei ebenso wie die Leistungen des IAHG in basaler Weise gewährleistet. Ferner wollen wir annehmen, diese Behauptung werde »zu Recht« aufgestellt, was bei Zugrundelegung unserer derzeitigen Interpretation heißt, diese Behauptung sei aus ihrer Sicht ebenfalls gewährleistet. Würde daraus folgen, dass für eine beliebige Aussage p gilt: Sofern es eine Gemeinschaft gibt, die p gutheißt, wäre die Überzeugung der Gemeinschaftsangehörigen (bzw. der Erkenntnistheoretiker dieser Gemeinschaft), dass p für die Gemeinschaftsangehörigen im Hinblick auf Gewährleistung angemessen basal ist, auch ihrerseits gewährleistet? Es würde nicht daraus folgen. Nehmen wir an, das erweiterte A/C-Modell sei nicht nur möglich, sondern wahr. Dann gilt: (a) Die Hauptthesen des christlichen Glaubens sind de facto wahr. (b) Es gibt wirklich kognitive Prozesse wie den sensus divinitatis und den IAHG. (c) Deren Resultate erfüllen die Bedingungen der Gewährleistung. Angenommen, ein reformierter Erkenntnistheoretiker glaubt die großen Dinge des Evangeliums auf der Grundlage des sensus divinitatis und des IAHG. Außerdem bemerke er, dass sein Glaube und der von vielen anderen in basaler Weise akzeptiert wird (wobei die Akzeptierung von p auf Zeugnisbasis ebenfalls zu den Möglichkeiten, p in basaler Weise zu glauben, gehört). Des weiteren wollen wir annehmen, der Erkenntnistheoretiker komme zu der Einsicht bzw. zu der Überzeugung, Gott habe die Absicht, seine Kinder über ihn Bescheid wissen und die großen Dinge des Evangeliums kennenlernen zu lassen, aber außerdem sei es nicht hinreichend vielen von uns möglich, durch Schlüsse aus anderen Überzeugungen zu ausreichendem Wissen über Gott zu gelangen. Daher zieht er den (korrekten) Schluss, Gott habe kognitive Prozesse eingerichtet, vermittels deren wir Menschen diese wahren Überzeugungen in basaler Weise bilden können. Außerdem folgert unser Erkenntnistheoretiker, dass die kognitiven Prozesse oder Mechanismen, durch die wir diese Überzeugungen bilden, richtig funktionieren, wenn sie auf diese Weise zustande kommen, und dass sie überdies in einer epistemisch geeigneten Umgebung gemäß einem erfolgreich auf die Wahrheit abzielenden Bauplan funktionieren. Das heißt, er kommt zu dem Schluss, dass der christliche Glaube, sofern er in dieser basalen Weise aufgefasst wird, gewährleistet ist. Somit folgert er, dass diese Überzeugungen im Hinblick auf Gewährleistung angemessen basal sind, wobei er das aus Überzeugungen folgert, die ihrerseits gewährleistet sind. Doch dass man eine Überzeugung in dieser Weise bildet, erfüllt seinerseits die Bedingungen für Gewährleistung. Also ist die
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10 Einwände
Überzeugung des Erkenntnistheoretikers, der theistische Glaube sei im Hinblick auf Gewährleistung angemessen basal, ebenfalls gewährleistet. Daraus folgt natürlich nicht, dass die Behauptung des Voodoo-Erkenntnistheoretikers, der Voodoo-Glaube sei im Hinblick auf Gewährleistung ebenfalls angemessen basal, auch ihrerseits gewährleistet ist. Nehmen wir nämlich an, der Voodoo-Glaube sei de facto falsch, und ferner wollen wir annehmen, er sei ursprünglich aus einem Fehler oder einer Verwechslung entstanden oder aus einer Angstreaktion auf Naturphänomene dieser oder jener Art, oder vielleicht in den Köpfen einer Gruppe, die politische Macht erringen oder weiterhin sichern wollte. Wenn dem so ist, waren diese ursprünglichen Voodoo-Überzeugungen nicht gewährleistet. Des weiteren wollen wir annehmen, diese Voodoo-Überzeugungen seien auf dem Weg der Zeugnis- und Lehrüberlieferung an spätere Generationen weitergegeben worden. Wenn nun ein Zeuge eine Überzeugung p, die aus seiner Sicht nicht gewährleistet ist, bezeugt, dann wird p auch für jeden, der p bloß auf der Grundlage dieser Zeugenaussage glaubt, nicht gewährleistet sein. Sofern die Aussage p für den Zeugen keine Gewähr hat, dann hat sie für den Zeugnisempfänger ebenfalls keine Gewähr, und zwar auch dann nicht, wenn die Vermögen des letzteren ganz tadellos funktionieren.¹⁶ Nehmen wir etwa an, meine Eltern bringen mir eine Menge Unsinn bei. (Aufgrund völliger Unwissenheit lehren sie mich, die Sterne seien in Wirklichkeit Nadeleinstiche in einem riesigen Leinentuch, das jede Nacht über die Erde ausgebreitet werde, um den Menschen einen guten Schlaf zu bescheren, oder sie lehren mich, Friesen seien politisch minderwertig und sollten eigentlich nicht wählen dürfen.) Dann werden meine auf diesem Zeugnisweg erworbenen Überzeugungen auch dann nicht gewährleistet sein, wenn meine kognitiven Vermögen unter gewährgünstigen Bedingungen angemessen funktionieren. Betrachten wir unseren Voodoo-Erkenntnistheoretiker, und nehmen wir an, er akzeptiere diese Voodoo-Anschauungen auf Zeugnisbasis und schließe (ähnlich wie der reformierte Erkenntnistheoretiker) von ihrer Wahrheit und weiteren Prämissen ausgehend darauf, dass sie im Hinblick auf Gewährleistung angemessen basal seien. Dann wird diese Konklusion, Voodoo-Überzeugungen seien gewährbasal, ihrerseits aber nicht gewährleistet sein, denn sie wird auf der Grundlage eines Arguments akzeptiert, das zumindest eine Prämisse umfasst, die für den Betreffenden nicht gewährleistet ist. Der Grund liegt darin, dass das Schließen die gleiche gewährabhängige Struktur an den Tag legt wie das Zeugnisverfahren. Ich glaube p und q; diese beiden zusammen ergeben (deduktiv oder sonstwie) r; r wird für mich gewährleistet sein, sofern p und q für mich gewähr-
Siehe WPF, S. 83.
IV Der Sohn des großen Kürbis?
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leistet sind (wobei wir vielleicht hinzufügen müssen: sofern p und q – die Konjunktion von p und q – für mich gewährleistet ist); doch wenn p oder q für mich nicht gewährleistet ist, gilt das gleiche auch für r. (Es liegt auf der Hand, dass ich keine Aussage wissen kann, indem ich sie aus Aussagen erschließe, die mir zum Teil unbekannt sind.¹⁷) Die Voodoo-Philosophen irren sich, wenn sie ihre VoodooAnschauungen vertreten. Außerdem ist ihre Behauptung, die Voodoo-Ansichten seien im Hinblick auf Gewährleistung angemessen basal, sowohl falsch als auch ihrerseits nicht gewährleistet. Es könnte also durchaus geschehen, dass die Ansichten des reformierten Erkenntnistheoretikers im Sinne der Gewährleistung berechtigt sind, während die Anschauungen des Voodoo-Erkenntnistheoretikers, der durch ein strukturell gleichartiges Verfahren, wie es auch von dem reformierten Erkenntnistheoretiker angewandt wird, zu seinen Ansichten gelangt, nicht gewährleistet ist. Das könnte beispielsweise dann geschehen, wenn die Hauptthesen des christlichen Glaubens wahr sind und der Voodoo-Glaube falsch ist. Daher trifft folgendes nicht zu: Wenn die These, dass der Glaube an Gott und die großen Dinge des Evangeliums im Hinblick auf Gewährleistung angemessen basal sei, gewährleistet ist, dann ist ebendeshalb auch die Behauptung, der Voodoo-Glaube sei im Hinblick auf Gewährleistung angemessen basal, ebenfalls gewährleistet. Also scheitert Martins Argument, wenn man es so interpretiert, wie wir es hier gerade interpretiert haben. Die erste Prämisse des Arguments ist falsch. Um zusammenzufassen: Martins Einwand läuft anscheinend auf folgendes hinaus: Wenn der reformierte Erkenntnistheoretiker zu Recht behaupten kann, dass der christliche Glaube im Hinblick auf Rationalität angemessen basal ist, dann können die Philosophen einer Gemeinschaft mit offensichtlich abwegigen Überzeugungen mit gleichem Recht den Anspruch erheben, diese abwegigen Überzeugungen seien in puncto Rationalität angemessen basal. Es liegt jedoch auf der Hand, dass sie diesen Anspruch nicht erheben können. Also kann der reformierte Erkenntnistheoretiker seinen Anspruch ebenfalls nicht zu Recht geltend machen. Dieser Einwand ist in mehreren Hinsichten doppeldeutig, denn er erbt die mehrfache Doppeldeutigkeit der Ausdrücke »zu Recht« und »Rationalität«. Die meisten Möglichkeiten einer Disambiguierung sind allerdings gar nicht vielversprechend. Die letzte Disambiguierung – bei der sowohl »zu Recht« als auch »Rationalität« im Sinne der Bezugnahme auf Gewährleistung verstanden werden – ist immerhin interessant. Allerdings krankt das so gedeutete Argument an
Hier lasse ich nörgelnde Einwände außer acht wie etwa den kritischen Hinweis, ich könne r ja aus p und q deduzieren, indem ich r aus p allein deduziere, wobei p für mich tatsächlich gewährleistet ist.
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dem ärgerlichen Defekt, eine falsche Prämisse aufzuweisen. Der Sohn des Großen Kürbis leistet nicht mehr als der Große Kürbis selbst.¹⁸ Nun könnte man hier im Geiste des Sohns des Großen Kürbis eine etwas allgemeinere Frage aufwerfen: Ich schlage das erweiterte A/C-Modell als eine Möglichkeit der Gewährleistung des christlichen Glaubens vor und möchte dreierlei geltend machen: (a) Dieses Modell ist sowohl in logischer als auch in epistemischer Hinsicht möglich. (b) Unter Voraussetzung der Wahrheit des christlichen Glaubens gibt es keine philosophischen Einwände dagegen, dass dieses Modell nicht nur möglich, sondern auch wahr ist. (c) Ist der christliche Glaube wirklich wahr, so ist er höchstwahrscheinlich gewährleistet, und zwar in einer Weise, die dem erweiterten A/C-Modell irgendwie ähnelt. Könnte man das nicht ebenso zwingend mit Bezug auf jede beliebige, sei’s noch so groteske Menge von Überzeugungen geltend machen? Und würde das nicht zumindest das Interesse meiner These vermindern? Gewiss nicht. Viele Aussagen sind nicht so beschaffen, dass sie, sofern sie wahr sind, höchstwahrscheinlich auch gewährleistet sind. Hier kommt mir beispielsweise die Aussage »Keine Überzeugung ist gewährleistet« in den Sinn. Darauf erwidert man vielleicht: Ist das nicht bloß ein logisches Taschenspielerkunststück? Gibt es irgendwelche dem christlichen Glauben wirklich ähnliche Glaubenssysteme, im Hinblick auf die es nicht möglich ist, diese Ansprüche zu erheben? Könnten wir nicht für jede derartige Menge von Überzeugungen ein Modell ausfindig machen, unter dem die betreffenden Überzeugungen gewährleistet sind, und das derart ist, dass es unter der Voraussetzung der Wahrheit dieser Überzeugungen keine philosophischen Einwände gegen die Wahrheit des Modells gibt? Nun, wahrscheinlich trifft etwas von dieser Art auf die anderen theistischen Religionen tatsächlich zu, etwa auf das Judentum, den Islam, bestimmte Formen des Hinduismus, einige Formen des Buddhismus sowie manche Indianerreligionen.Vielleicht ähneln diese Religionen dem Christentum insofern, als sie keinem De-jure-Einwand ausgesetzt sind, der von De-facto-Einwänden unabhängig wäre. Das gilt aber nicht für jede derartige Menge von Überzeugungen. So gilt es beispielsweise nicht für den Voodoo, den Glauben an die Flachheit der Erde, den Skeptizismus à la Hume oder den philosophischen Naturalismus. Werfen wir einen Blick auf die Menge von Überzeugungen, die in Humes Skepsis hinsichtlich seines eigenen Ursprungs und des Ursprungs seiner kognitiven Fähigkeiten hineinspielen (s. o., S. 254). Nach unserer im 7. Kapitel vorge Insbesondere ist festzuhalten, dass der Sohn des Großen Kürbis dem Kritiker keinen Einwand gegen den christlichen Glauben liefert, der von dessen Wahrheit unabhängig wäre – d. h., der selbst dann als stichhaltig gelten könnte, wenn der christliche Glaube faktisch wahr wäre. Er liefert also keinen De-jure-Einwand.
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legten Interpretation meint Hume, wir sollten hinsichtlich der Zuverlässigkeit unserer Überzeugungen bildenden Prozesse skeptisch sein. Er glaubt erkennen zu können, dass die Überzeugungen, zu denen wir von Natur aus unweigerlich gelangen, unwahrscheinlich, willkürlich oder bestenfalls extrem fragwürdig sind. Die richtige kognitive Einstellung zu den von der Natur in uns ausgelösten Überzeugungen sei daher die Einstellung der ironischen Distanz. Wir sehen ein, dass wir nicht umhin können, diese Dinge zu glauben, aber wir sehen auch ein, dass man sich nicht auf sie verlassen kann. Doch wenn wir hinsichtlich der Zuverlässigkeit unserer kognitiven Prozesse skeptisch sind, haben wir auch Gründe, hinsichtlich aller spezifischen Resultate dieser Prozesse skeptisch zu sein, und das schließt die Überzeugungen ein, die uns dazu führen, mit Bezug auf sie skeptisch zu sein. Daher das Reflexive, Selbstbezügliche dieser Ironie. Nun stellt sich die Frage: Können wir ein mögliches Modell finden, in dessen Rahmen diese Überzeugungen – einschließlich der Überzeugung, die von der Natur induzierten Überzeugungen seien willkürlich oder unzuverlässig – gewährleistet sind? Noch schockierender gefragt: Können wir ein Modell finden, das so beschaffen ist, dass diese Überzeugung, sofern sie zutrifft, höchstwahrscheinlich auch gewährleistet ist? Nein, offensichtlich nicht. Vielleicht wird mancher meinen, zwischen dem Skeptizismus Humes hinsichtlich seines eigenen Ursprungs und des Ursprungs seiner kognitiven Fähigkeiten einerseits und dem christlichen Glauben andererseits gebe es eigentlich kaum Ähnlichkeiten. Das ist zweifellos richtig. Betrachten wir also statt dessen den philosophischen Naturalismus, also die Auffassung, wonach weder eine Person wie Gott noch sonst irgendjemand oder irgendetwas ihm Ähnliches existiert. (Die modernen Naturalisten fügen im Normalfall noch hinzu, dass die einzigen Dinge, die existieren, die von der heutigen Naturwissenschaft angenommenen oder anerkannten Entitäten sind.) Diese Naturalisten behaupten außerdem, dass wir und unsere kognitiven Prozesse durch jene Vorgänge entstanden sind, auf die in der modernen Evolutionstheorie hingewiesen wird, also vor allem genetische Zufallsmutationen und natürliche Selektion. Diese Auffassung besitzt freilich sehr viel mehr Ähnlichkeit mit dem christlichen Glauben. Für viele Menschen, insbesondere für viele Wissenschaftler spielt sie einige der gleichen Rollen, die auch von religiösen Überzeugungen gespielt werden, denn sie gibt Auskunft darüber, woher wir kommen, wohin wir gehen, und welches die grundlegenden Erklärungen für die Hauptmerkmale unserer eigenen Natur sind. Doch wenn ich recht habe mit dem im 12. Kapitel von WPF dargelegten (und im vorliegenden Band auf S. 269 ff. korrigierten) Argument, ist diese Menge von Überzeugungen nicht so beschaffen, dass sie im Falle der Wahrheit höchstwahrscheinlich auch gewährleistet ist. Denn was dieses Argument zeigt, ist folgendes: Wenn diese Überzeugungen wahr sind, ist es unwahrscheinlich, dass
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10 Einwände
unsere Überzeugungen produzierenden Prozesse und Mechanismen tatsächlich zuverlässig sind; und in diesem Fall sind die von ihnen hervorgebrachten Überzeugungen – einschließlich der Überzeugung, der Naturalismus sei wahr – nicht gewährleistet. Es stimmt also nicht, dass die für den christlichen Glauben angeführte Begründung für jede beliebige Menge von Überzeugungen gilt. So gilt sie beispielsweise nicht für jene Auffassung, die (zumindest in der akademischen Welt des Abendlands) vielleicht die Hauptalternative zum christlichen Glauben darstellt.
V Zirkularität? Aber hat mein Argument nicht etwas Zirkuläres? Nach Paul Noble lässt »die theistische Verteidigung der affektiven Vernunft von Jonathan Edwards das Gespenst der epistemischen Zirkularität umgehen, denn die theistische Metaphysik fundiert den Glauben an die Berechtigung der ›spirituellen Wahrnehmung‹, und dennoch beruft sich Edwards außerdem auf solche Wahrnehmungen, um damit die Wahrheit des Theismus zu begründen«.¹⁹ Würde etwas Ähnliches nicht auch für mein eigenes Modell gelten? Stimmt es denn nicht, dass mein eigener Vorschlag für mich (und jeden anderen, der ihn akzeptiert) nur dann Gewähr hat, wenn der Theismus wirklich zutrifft und sogar gewährleistet ist? Das erweiterte A/ C-Modell soll nach meinem Vorschlag darlegen, inwiefern der christliche bzw. der theistische Glaube gewährleistet sein kann, aber wird es nicht so sein, dass der Vorschlag dieses Modells nur dann Gewähr hat,wenn das Modell selbst oder etwas Ähnliches tatsächlich zutrifft und der christliche Glaube wirklich gewährleistet ist? Nein. Was ich für das Modell beanspruche, ist lediglich dies, (1) dass es möglich ist, (2) dass es keinen philosophischen Einwänden ausgesetzt ist, die nicht bereits die Falschheit des christlichen Glaubens voraussetzen, und (3) dass es so beschaffen ist, dass das Modell, sofern der christliche Glaube wahr ist, seinerseits der Wahrheit zumindest nahekommt. Aber es ist offensichtlich nicht der Fall, dass meine Behauptung der Wahrheit von (1), (2) oder (3) bzw. mein Glaube daran nur dann gewährleistet ist, wenn das Modell zutrifft oder der christliche Glaube gewährleistet ist. Nun wollen wir annehmen, ich mache den Vorschlag, das Modell entspreche wirklich der Wahrheit (bzw. es komme der Wahrheit recht nahe) bezüglich der Art
Noble, »Reason, Religion, and the Passions« (eine Rezension von: William Wainwright, Reason and the Heart: A Prolegomenon to a Critique of Passional Reason, Ithaca, NY: Cornell University Press 1995), in: Religious Studies (Dezember 1996), S. 515.
V Zirkularität?
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und Weise, in der der christliche Glaube gewährleistet ist. Wäre es dann nicht so, dass mein Vorschlag irgendwie zirkulär ist? Warum sollte man das denken? Vielleicht steht ungefähr folgende Vorstellung dahinter: Da zentrale christliche Überzeugungen in dem Modell enthalten sind oder von ihm impliziert werden, ist meine Meinung, das Modell treffe zu, nur dann gewährleistet, wenn meine Akzeptierung des christlichen Glaubens ebenfalls gewährleistet ist. Diese zentralen christlichen Überzeugungen müssen für mich bereits gewährleistet sein, damit meine Überzeugung, das Modell treffe zu, gewährleistet sein kann. Aber stecke ich damit nicht bereits in einem tadelnswerten Zirkel? Ich vermag nicht zu sehen, wieso. Es stimmt schon, dass meine Akzeptierung des christlichen Glaubens gewährleistet sein muss, damit meine Akzeptierung der Wahrheit des erweiterten A/C-Modells gewährleistet sein kann. Der Grund liegt darin, dass der Glaube im Modell enthalten ist. Es ist jedoch nicht der Fall, dass das Modell, sofern der christliche Glaube für mich gewährleistet ist, ebenfalls für mich gewährleistet sein muss. Das wäre zutreffend, wenn ich für den christlichen Glauben argumentierte und im Rahmen meiner Argumentation eine Prämisse in Anspruch nähme, die mit dem erweiterten A/C-Modell identisch ist. Genauer gesagt: es wäre zutreffend, wenn ein solches Argument für mich die einzige Quelle der Gewährleistung des christlichen Glaubens wäre. Denn dann würde jede Gewähr, die meinem christlichen Glauben zukommt, ihm auf dem Weg der Gewährübertragung von Seiten der Prämissen des Arguments zuwachsen. Doch eine Prämisse dieses Arguments wäre eine Konjunktion mit einem Konjunktionsglied, das seinerseits ein Element des christlichen Glaubens ist. Daher würde die Gewährleistungsbeziehung einen Circulus vitiosus enthalten. Also wenn dieses Argument die Quelle der Gewährleistung meines christlichen Glaubens wäre, würde das Projekt tatsächlich an vitiöser Zirkularität leiden. Aber es ist nicht die Quelle, und das Modell ist nicht zirkulär. Die Quelle der Gewährleistung des christlichen Glaubens ist dem Modell zufolge überhaupt kein Argument. Insbesondere ergibt sich die Gewährleistung nicht aus einem Argument, das die Frage betrifft, inwiefern der christliche Glaube gewährleistet sein kann. Um zu zeigen, dass hier Zirkularität vorliegt, müsste der Opponent zeigen, dass jede Gewähr, die dem christlichen Glauben zukommt, irgendwie aus einem Argument dieser oder jener Art resultiert. Und das ist, wie wir schon gesehen haben, nicht möglich. Demnach ist diesem Einwand nicht mehr Erfolg beschieden als den anderen. Zweifellos gibt es noch weitere Einwände, darunter vielleicht sogar einige vernünftige Einwände. Ich kenne allerdings keine und bin deshalb dazu verpflichtet, mit Erwiderungen zu warten, bis mir solche Einwände zu Gehör kommen. In der Zwischenzeit werde ich vorläufig davon ausgehen, dass es gar keine derartigen Einwände gibt. Die Einwände, die im vorliegenden Kapitel betrachtet
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10 Einwände
wurden, sind Einwände gegen die These, der christliche Glaube könne in basaler Weise gerechtfertigt sein. Es handelt sich also um philosophische Einwände gegen eine philosophische These. Nun ist es natürlich möglich, dass der christliche Glaube in dieser Weise gewährleistet wird, selbst wenn ihm de facto nur wenig oder gar keine Gewähr zukäme. Denn vielleicht gibt es zwar eine Quelle der Gewährleistung des christlichen Glaubens, aber womöglich wird die fragliche Gewähr bezwungen. Zweifellos war die Überzeugung, die Erde sei flach, früher einmal für viele Menschen gewährleistet. Doch dann traf man auf Bezwinger dieser Überzeugung, wie z. B. die eigentümliche Weise, in der Schiffe hinter dem Horizont verschwinden, sowie die übrigen Argumente, von denen die Menschen dazu gebracht wurden, diese Überzeugung preiszugeben. (Selbst wenn man im Hinblick auf diese Argumente skeptisch ist, lässt man sich vielleicht durch Satellitenbilder der Erde und durch Augenzeugenberichte über den Anblick der Erde aus fünfhundert Kilometer Entfernung umstimmen.) Könnte das gleiche nicht auch für den christlichen Glauben gelten? Gibt es keine ernsthaften Bezwinger dieses Glaubens – Bezwinger, die heute eine hervorstechende Rolle spielen, auch wenn sie vor 250 Jahren noch nicht zu Gebote standen? Das ist das Thema des nächsten (und letzten) Teils dieses Buchs.
Teil IV: Bezwinger?
11 Bezwinger und Bezwingung Es fällt nicht schwer, die philosophischen Einwände gegen den Theismus abzuwehren. Es gibt nämlich keine philosophischen Einwände gegen den Theismus. G. K. Chesterton
Ich habe geltend gemacht, dass der christliche Glaube – und zwar die ganze Palette christlicher Überzeugungen einschließlich Dreifaltigkeit, Fleischwerdung, Sühnopfer und Auferstehung – gewährleistet sein kann, sofern dieser Glaube wahr ist, ja dass er ausreichend gewährleistet sein kann, um als Erkenntnis zu gelten, und dass ihm diese Gewähr in basaler Weise zukommen kann. Es gibt keine zwingenden philosophischen Einwände gegen die Vorstellung, diese Überzeugungen könnten in dieser Weise gewährleistet sein. Es ist ohne weiteres möglich, eine Erklärung – wie z. B. das erweiterte A/C-Modell – auszuarbeiten, aus der hervorgeht, wie es kommt, dass solche Überzeugungen tatsächlich gewährleistet sind. Dabei kommen keine Argumente ins Spiel, die sich auf andere Überzeugungen stützen. Der Grundgedanke ist vielmehr der, dass Gott uns Menschen mit Vermögen bzw. Überzeugungen produzierenden Prozessen ausstattet, aus denen sich die relevanten Überzeugungen ergeben und die erfolgreich auf die Wahrheit abzielen.Wenn sie in der ihnen zugedachten Umgebung gemäß ihrer Bestimmung funktionieren, ist das Ergebnis gewährleisteter Glaube. Ja, wenn diese Überzeugungen wahr sind und der Grad ihrer Gewährleistung hoch genug ist, konstituieren sie Wissen. Allerdings dürfte das kaum die Frage beantworten, ob der christliche Glaube (auch wenn er wahr ist) in der Situation, in der sich die meisten von uns tatsächlich befinden, gewährleistet ist oder gewährleistet sein kann. Man könnte es wie folgt formulieren: »Nun ja, vielleicht können diese Überzeugungen gewährleistet sein, und vielleicht können sie (sofern wahr) ausreichend gewährleistet sein, um Wissen zu konstituieren. Es gibt Umstände, unter denen das geschehen kann. Die meisten von uns – wie z. B. die meisten Leser dieses Buches – leben nicht in einer solchen Situation. Bisher hast du eigentlich nur für die These argumentiert, dass der theistische und der christliche Glaube (in basaler Weise genommen) gewährleistet sein können, sofern Bezwinger fehlen. Es fehlt aber nicht an Bezwingern.« Damit wird behauptet, es gebe ernstzunehmende Bezwinger des christlichen Glaubens, also Aussagen, die zu unserem Wissen bzw. unseren Überzeugungen gehören und dafür sorgen, dass der christliche Glaube – jedenfalls wenn er in basaler Weise und ausreichend fest vertreten wird, um Erkenntnis zu konstituieren – irrational wird und folglich nicht gewährleistet ist. Philip Quinn beispielsweise ist der Meinung, für »gebildete Erwachsene unserer Kultur« gebe es wichtige Bezwinger des Glaubens an Gott – zumindest dann, wenn dieser Glaube, wie im erweiterten A/C-Modell, in
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11 Bezwinger und Bezwingung
basaler Weise vertreten wird. Infolgedessen sei der basal, also diesem Modell entsprechend vertretene Glaube an Gott größtenteils irrational: »Ich komme zu dem Schluss, dass sich viele, ja vielleicht die meisten gebildeten Erwachsenen unserer Kultur selten, wenn überhaupt je in Situationen befinden, die dazu geeignet sind, [theistische Überzeugungen] für sie angemessen basal werden zu lassen.«¹ Die Bezwinger, die Quinn besonders beeindrucken, sind: erstens das natürliche Übel (also ein Übel, das nicht auf den freien Willen des Menschen zurückgeht) und zweitens Projektionstheorien des theistischen Glaubens, wie sie von Freud, Marx und Durkheim formuliert wurden. In diesem Kapitel und in den nächsten Kapiteln werde ich mich mit vier vorgeschlagenen Bezwingern des christlichen Glaubens auseinandersetzen. Im vorliegenden Kapitel werde ich im Anschluss an eine kurze Untersuchung des Wesens der Bezwinger geltend machen, dass die von Quinn erwähnten Projektionstheorien de facto keine Bezwinger des christlichen Glaubens sind. Im 12. Kapitel werde ich ausführen, dass die moderne historisch-kritische Bibelforschung (die »höhere« Kritik) auch dann nicht zur Bezwingerin des christlichen Glaubens taugt, wenn ihre unterstellten Resultate den christlichen Glauben nicht stützen oder ihm sogar zuwiderlaufen. Im 13. Kapitel werde ich die These prüfen, wonach die Fakten des religiösen Pluralismus einen Bezwinger des christlichen Glaubens konstituieren. Dabei werde ich auch auf die Idee eingehen, die Entwicklung des postmodernen Denkens fungiere irgendwie als Bezwingerin dieses Glaubens. Abschließend werde ich im 14. Kapitel eine gegen den christlichen Glauben insgesamt gerichtete Herausforderung betrachten, die häufig als besonders eindrucksvoll angesehen wird und sich auf die Fakten des Leidens und des Übels beruft. Auch diese Herausforderung ist, wie ich ausführen werde, als solche nicht dazu angetan, den christlichen Glauben zu bezwingen.
I Das Wesen der Bezwinger Zunächst brauchen wir eine Erläuterung, die zeigt, was eigentlich ein Bezwinger einer Überzeugung ist. Im Grunde gibt es über Bezwinger eine ganze Menge zu
Quinn, »On Finding the Foundations of Theism«, in: Faith and Philosophy 2/4 (1985), S. 481. Siehe meine Erwiderung: »The Foundations of Theism: A Reply«, in: Faith and Philosophy 3/3 (1986), S. 298 ff., und Quinns Replik, »The Foundations of Theism Again«, in: Rational Faith: Catholic Responses to Reformed Epistemology, hg. von Linda Zagzebski, Notre Dame: University of Notre Dame Press 1993, S. 14 ff.
I Das Wesen der Bezwinger
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sagen.² Als erstes benötigen wir jedoch ein paar Beispiele. Denken wir an den folgenden Fall, der schon im vorigen Kapitel erwähnt wurde: Ich sehe auf eine Entfernung von ungefähr hundert Metern ein Tier auf der Weide, das ich für ein Schaf halte, und bilde die Überzeugung, dass sich auf dieser Weide ein Schaf befindet. Ich kenne den Besitzer der Weide, der mir am nächsten Tag erzählt, auf dieser Weide gebe es keine Schafe, doch er habe einen Hund, der auf hundert Meter Entfernung wie ein Schaf aussieht und der sich hin und wieder auf dieser Weide aufhält. Damit ist mir (sofern nicht besondere Umstände vorliegen) ein Bezwinger der Überzeugung, auf dieser Weide befinde sich ein Schaf, gegeben, und dementsprechend werde ich, wenn ich ein rationaler Mensch bin, diese Überzeugung nicht länger vertreten. Dabei handelt es sich um einen widerlegenden Bezwinger: Was man erfährt (nämlich dass es auf dieser Weide kein Schaf gibt), steht in Widerspruch zu der bezwungenen Überzeugung. Außerdem gibt es aber auch untergrabende Bezwinger. Das folgende Beispiel stammt von John Pollock: Man besucht eine Fabrik und sieht ein Fließband mit einer Reihe von Geräten, die allesamt rot aussehen. Nun bildet man sich die Überzeugung, sie seien rot. Dann kommt der Produktionsleiter und informiert uns, dass die Geräte mit rotem und infrarotem Licht bestrahlt werden, um auf diese Weise die Entdeckung ganz feiner Risse zu ermöglichen, die sonst nicht zu finden wären. Damit bekommt man einen Bezwinger der Überzeugung, das betrachtete Gerät sei rot. Was man in diesem Fall erfährt, ist allerdings nicht mit der bezwungenen Überzeugung unverträglich (denn es wird einem ja nicht gesagt, dass das Gerät gar nicht rot sei), sondern man erfährt etwas, das die Gründe für die Annahme, es sei rot, untergräbt. (Man sieht ein, dass es auch dann, wenn es nicht rot wäre, rot ausschauen würde.) Bezwinger sind Gründe dafür, eine Überzeugung Ü, die man vertritt, fallenzulassen.Wenn es sich um widerlegende Bezwinger handelt, sind sie zugleich Gründe dafür, eine mit Ü unverträgliche Überzeugung zu akzeptieren. Sobald man über einen Bezwinger einer Überzeugung verfügt, befindet man sich in einer Position, in der es nicht rational ist, diese Überzeugung auch weiterhin zu vertreten. Bezwinger der genannten Art sind Rationalitätsbezwinger: Wer die bezwingende Aussage für wahr hält, kann nur um den Preis der Irrationalität an der bezwungenen Aussage festhalten. Es gibt aber auch Gewährbezwinger, die keine Rationalitätsbezwinger sind. Denken wir an das bereits erwähnte Beispiel der
Einiges davon steht in der Dissertation von Michael Bergmann, Internalism, Externalism, and Epistemic Defeat, University of Notre Dame, 1997. Siehe auch John Pollock, Contemporary Theories of Knowledge, Totowa, N. J.: Rowman Littlefield 1986, S. 37 ff., sowie meinen unveröffentlichten Artikel »Naturalism Defeated«. [Dieser Aufsatz von Plantinga ist mittlerweile in diversen Versionen veröffentlicht].
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11 Bezwinger und Bezwingung
Potemkinschen Scheunen von Carl Ginet: Auf der Fahrt durch den südlichen Teil von Wisconsin sieht man offenbar viele schmucke Scheunen. Während ich den Blick auf eine bestimmte Scheune richte, sage ich mir: »Das ist aber eine wunderbare Scheune!« Was ich allerdings nicht weiß, ist, dass die Bewohner dieser Gegend viele von der Straße aus gesehen täuschend echt wirkende Scheunenfassaden errichtet haben, um den Eindruck größeren Wohlstands zu erwecken. Was ich im Augenblick gerade sehe, ist jedoch keine bloße Scheunenfassade, sondern eine echte Scheune. Dennoch weiß ich eigentlich nicht, dass es sich um eine Scheune handelt, sondern es ist reine Glückssache, dass die Überzeugung, die ich mir gebildet habe, zutrifft. (Genausogut hätte ich auf eine bloße Scheunenfassade blicken können – ja, die Wahrscheinlichkeit wäre sehr viel höher gewesen, denn das Verhältnis der Scheunenfassaden zu echten Scheunen beträgt in dieser Gegend 3:1.) Um es in der Terminologie des 5. Kapitels auszudrücken (s. o., S. 185 ff.): Ich befinde mich in einer ungünstigen kognitiven Miniumgebung, und es sind diese Scheunenfassaden, die an der Ungünstigkeit der Miniumgebung schuld sind. Das Vorhandensein der Potemkinschen Scheunen ist für mich ein Gewährbezwinger: Angesichts des Vorhandenseins der Pseudoscheunen weiß ich nicht, dass der Gegenstand, den ich anschaue, tatsächlich eine Scheune ist, obwohl er eine ist, und obwohl ich glaube, dass er eine ist. Allerdings ist die Existenz der Pseudoscheunen kein Rationalitätsbezwinger, denn unter den gegebenen Umständen ist es keineswegs irrational zu glauben, es sei eine Scheune, was man da sehe. Bezwinger sind abhängig von der übrigen noetischen Struktur und relativ zu dieser Struktur, also abhängig von den übrigen Erkenntnissen und Überzeugungen der betreffenden Person. Ob eine Überzeugung A ein Bezwinger der Überzeugung B ist, hängt nicht ausschließlich von meiner jetzigen Erfahrung ab, sondern auch von meinen sonstigen Überzeugungen sowie davon, wie fest ich sie vertrete, und dergleichen mehr. Betrachten wir beispielsweise den bereits genannten Fall, in dem die Mitteilung, auf der Weide befänden sich keine Schafe, meine Überzeugung bezwingt, ich sähe dort ein Schaf. Das beruht darauf, dass ich meinen Gewährsmann – zumindest bei dieser Gelegenheit und mit Bezug auf dieses Thema – für zuverlässig halte. Weiß ich hingegen, dass der andere ein notorischer Possenreißer ist, der es besonders liebt, die Menschen im Hinblick auf Schafe an der Nase herumzuführen, werden seine Äußerungen keinen Bezwinger konstituieren. Ebensowenig wird das der Fall sein, wenn ich das Tier gerade durch ein Fernglas mit erlesener Optik betrachte und deutlich sehe, dass es sich um ein Schaf handelt, oder wenn eine äußerst zuverlässige Person direkt vor dem Schaf steht und mir per Handy mitteilt, dass sich da wirklich ein Schaf befindet. Infolge dieser Relativität zur noetischen Struktur kann es geschehen, dass wir – du und ich – uns eine Aussage p zu eigen machen, die für mich – aber nicht
I Das Wesen der Bezwinger
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für dich – einen Bezwinger der Überzeugung q darstellt. So z. B. glauben wir beide, dass die Universität Aberdeen 1495 gegründet wurde. Du weißt aber außerdem (im Gegensatz zu mir), dass der offizielle Stadtführer für Aberdeen gerade in diesem Punkt einen groben Fehler enthält. Wir gewinnen beide je ein Exemplar dieses Stadtführers bei einer Ziehung der schottischen Nationallotterie und lesen das Buch. Leider enthält es tatsächlich die völlig irrige Behauptung, die Universität sei 1595 gegründet worden. Meine noetische Struktur schließt die Überzeugung ein, dass man offiziellen Stadtführern in derartigen Dingen normalerweise trauen kann, und so kommt es, dass ich nun einen Bezwinger meiner Überzeugung, die Universität sei 1495 gegründet worden, erworben habe. Du hingegen weißt über diesen unvermuteten Fehler Bescheid und erhältst auf diesem Wege keinen Bezwinger dieser Überzeugung. Der Unterschied besteht natürlich im Verhältnis zu unseren sonstigen Erkenntnissen und Überzeugungen: Angesichts der übrigen Dinge, die ich für wahr halte, habe ich jetzt einen Grund, die Überzeugung, die Universität sei 1495 gegründet worden, zurückzuweisen. Für dich hingegen gilt das nicht. Du weiß nämlich schon, dass der aktuelle offizielle Stadtführer in puncto Gründungsdatum der Universität einen Fehler enthält. Das neutralisiert (wie man es formulieren könnte) von vornherein das Bezwingungspotential des neu erworbenen Wissensfragments, also der Auskunft, der aktuelle Stadtführer für Aberdeen behaupte, die Universität sei 1595 gegründet worden. Im Hinblick auf meine – aber nicht auf deine – noetische Struktur ist dieses neue Wissensfragment also ein Bezwinger der genannten Überzeugung. Ein Bezwinger einer Überzeugung Ü ist demnach eine andere Überzeugung B derart, dass ich unter Voraussetzung meiner noetischen Struktur nicht rational an B festhalten kann, sofern ich B glaube. Im typischen Fall der Bezwingung werde ich zunächst Ü glauben und später dahin gelangen, den Bezwinger B zu glauben: Ich glaube, dass sich auf der Weide vor mir ein Schaf befindet; dann kommt jemand daher und unterrichtet mich über den Hund, der wie ein Schaf aussieht. Ich glaube, dass das Gerät, das ich anschaue, rot ist, bis ich vom Produktionsleiter erfahre, dass diese Geräte mit rotem Licht bestrahlt werden. Manchmal glaube ich den Bezwinger (bzw. strenggenommen: einen Teil des Bezwingers) schon vorher, merke aber zunächst nicht, welche Tragweite er im Hinblick auf das Bezwingungsobjekt hat. Ich glaube, dass du letzte Nacht um 9:30 Uhr beim Basketballspiel warst. Außerdem glaube ich: dass du dir nie ohne deinen Mann ein Spiel anschaust; dass Hans, dem ich traue, berichtet hat, er habe zu diesem Zeitpunkt entweder Tom oder deinen Mann in der Wirtschaft gesehen; und dass Georg, dem ich ebenfalls vertraue, berichtet, Tom sei zu diesem Zeitpunkt nicht in der Wirtschaft gewesen. Diese Informationen sind insgesamt so kompliziert, dass ich den Zusammenhang zwischen diesen Aussagen und meiner Überzeugung, dass du zu dieser Zeit beim Basketballspiel warst, nicht gleich erkenne. Solange ich den
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11 Bezwinger und Bezwingung
Zusammenhang nicht bemerke, habe ich auch noch keinen Bezwinger, obwohl ich, wie man vielleicht sagen könnte, über einen potentiellen Bezwinger verfüge. Sobald mir der Zusammenhang klar wird, ist mir der Bezwinger tatsächlich gegeben. Er besteht in der Konjunktion dieser Aussagen plus der weiteren Aussage, dass du, falls die Konjunktion wahr ist, nicht um 9:30 beim Basketballspiel warst. Um einen ähnlichen Fall zu nennen, der ziemlich bekannt ist: Frege vertrat einmal folgende Überzeugung: (F) Zu jeder Bedingung bzw. Eigenschaft E gibt es die Menge genau derjenigen Dinge, die E erfüllen bzw. haben. Dann schrieb Bertrand Russell einen Brief an Frege und wies darauf hin, dass (F) gravierende Probleme nach sich zieht. Falls die Aussage wahr ist, existiert die Menge der Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten (denn es gibt diese Eigenschaft bzw. Bedingung, kein Element seiner selbst zu sein). Diese Menge ist allerdings so taktlos, nicht existent zu sein. Der Grund dafür ist folgender: Wenn sie existierte, würde sie sich selbst genau dann exemplifizieren, wenn sie sich nicht exemplifizierte. Das heißt, sie würde sich sowohl selbst exemplifizieren als auch nicht sich selbst exemplifizieren, was wiederum ein von seiten einer Menge völlig inakzeptables Verhalten darstellt. Ehe Frege dieses Problem bezüglich (F) einsah, verfügte er über keinen Bezwinger dafür. Sobald er jedoch den Brief Russells verstanden hatte, verfügte er darüber. Dieser Bezwinger bestand genau darin, dass (F) zusammen mit der wahren Aussage, dass es eine Bedingung wie »kein Element seiner selbst sein« gibt, einen Widerspruch impliziert. Zunächst einmal könnten wir versuchen, den Begriff des Bezwingers folgendermaßen zu erläutern: (B) B ist ein Bezwinger von Ü für S zur Zeit t genau dann, wenn (1) S’ noetische Struktur N (d. h. S’ Überzeugungen, Erfahrungen und die zwischen ihnen bestehenden hervorstechenden Relationen) zu t auch Ü einschließt, während S zu t zur Überzeugung B gelangt, und (2) jede Person, (a) deren kognitive Vermögen in den relevanten Hinsichten richtig funktionieren, (b) deren noetische Struktur N ist und Ü enthält und (c) die zu t dahin gelangt, B – aber sonst nichts, was unabhängig von oder stärker als B wäre – zu glauben, Ü zurückhalten (oder mit einem geringeren Maß an Festigkeit glauben) würde.³
Wir könnten den Ausdruck »Teilbezwinger« benutzen und auf solche Bezwinger anwenden, die nicht verlangen, dass man Ü zurückhält, wohl aber verlangen, dass man Ü weniger fest vertritt. Eine vollständige Darstellung würde Glaubensgrade (die ihrerseits nicht als Wahrscheinlichkeitsurteile aufgefasst werden sollten – siehe WCD, S. 118) erklären und zeigen, in welcher Weise Teilbezwingung und volle Bezwingung zusammenhängen. Hier haben wir keinen Platz dafür, sollten aber festhalten, dass die volle Bezwingung eigentlich ein Sonderfall der Teilbezwingung
I Das Wesen der Bezwinger
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Der Grundgedanke ist, grob gesprochen, der, dass die Überzeugung B für den Betreffenden ein Bezwinger von Ü ist, sofern das richtige Funktionieren verlangt, dass man die Überzeugung Ü preisgibt, sobald man sich B zu eigen macht. Das passt recht gut zu den bisher angeführten Beispielen für Bezwinger. Dennoch ist es noch nicht ganz das, was wir haben wollen. Um die Schwierigkeit zu erkennen, wollen wir uns einen schlauen Freudianer vorstellen, der folgendermaßen antwortet: Betrachten wir den »optimistischen Entkräfter«: Du leidest an einer, wie du selbst weißt, wirklich schlimmen Krankheit. Dennoch glaubst du, dass du dich in sechs Monaten erholen wirst. Dann hörst du von einer Statistik, die genau zu deinem Fall passt: eine Statistik, aus der hervorgeht, dass die Wahrscheinlichkeit der Genesung sehr gering ist. Erhältst du durch deinen Glauben an diese Statistik einen Bezwinger des Glaubens an deine Genesung? Man würde meinen: ja, aber nach (B) braucht es sich nicht so zu verhalten. Denn vielleicht gibt es einen Mechanismus, der in diesen Fällen wirksam wird, um den Optimismus bezüglich der Genesungschancen gerade deshalb aufrechtzuerhalten, weil dieser Optimismus die Besserungschancen erhöht. Das heißt, die Funktionstüchtigkeit verlangt in einem Fall wie diesem, dass du trotz der Kenntnis dieser Statistik an die Genesung glaubst. Das richtige Funktionieren verlangt in diesem Fall also: (a) die Überzeugung, dass diese Statistik wirklich zutrifft, aber auch (b) die Überzeugung, dass du dich trotzdem erholen wirst. Die Definition ist also nicht richtig. Sie lässt die Tatsache unberücksichtigt, dass nicht alle kognitiven Prozesse auf die Hervorbringung wahrer Überzeugungen abzielen. Außerdem ist dieser Sachverhalt von unmittelbarer Relevanz für den Fall des Glaubens an Gott. Denn wie Freud dargelegt hat, entsteht der Glaube an Gott nicht aus Prozessen oder Vermögen, die auf die Wahrheit abzielen, sondern aus dem Drang nach Wunscherfüllung. Die Funktion der Prozesse, die den Theismus hervorbringen, ist die psychische Gesundheit, die es uns gestattet, in dieser ansonsten unwirtlichen und bedrohlichen Welt durchzuhalten. Die Funktion dieser Prozesse besteht nicht darin, uns mit wahren Überzeugungen zu versorgen. Nehmen wir also an, du glaubtest an Gott, und nun führt dir jemand ein überzeugendes Argument gegen die Existenz Gottes vor, beispielsweise eine der diversen Fassungen des Problems des Übels. Wir wollen sogar annehmen, jemand zeige dir, dass die Existenz Gottes logisch nicht mit der Existenz des Übels zu vereinbaren ist. Was verlangt die Funktionstüchtigkeit in diesem Fall? Nun, es ist denkbar, dass sie verlangt, du müsstest weiterhin an Gott glauben. Aber selbst wenn es so wäre, würdest du nun über einen Bezwinger verfügen. Also ist die Definition fehlerhaft.
ist. Jedenfalls verhält es sich so, wenn wir festsetzen, dass der Vorgang, durch den man dahin gelangt, Ü zurückzuhalten, ein Sonderfall des Vorgangs ist, durch den man dahin gelangt, Ü mit einem geringeren Grad an Festigkeit zu glauben. Um der Kürze willen werde ich im folgenden nicht mehr auf die Teilbezwinger zurückkommen, obwohl die Anwendung des hier Gesagten auf sie reine Routinesache sein dürfte.
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Zugegeben, die Definition ist in der Tat fehlerhaft.⁴ An dieser Stelle benötigen wir eine Unterscheidung. Sagen wir einmal, die oben angeführte Definition (B) diene der Bestimmung des Begriffs eines Bezwingers schlechthin. Außerdem benötigen wir den Begriff eines rein epistemischen Bezwingers: (B*) B ist ein rein epistemischer Bezwinger von Ü für S zur Zeit t genau dann, wenn (1) S’ noetische Struktur N zu t auch Ü einschließt, während S zu t zur Überzeugung B gelangt, und (2) jede Person S*, (a) deren kognitive Vermögen in den relevanten Hinsichten richtig funktionieren, (b) die so beschaffen ist, dass das für die Regelung der Aufrechterhaltung von Ü in ihrer noetischen Struktur zuständige Stück des Blauplans erfolgreich auf die Wahrheit abzielt (d. h., auf die Maximierung wahrer Überzeugungen und die Minimierung falscher Überzeugungen) und nichts darüber hinaus, (c) deren noetische Struktur N ist und Ü einschließt und (d) die dahin gelangt, B – aber sonst nichts, was unabhängig von oder stärker als B wäre – zu glauben, Ü zurückhalten (oder mit einem geringeren Maß an Festigkeit glauben) würde. Zwei Anmerkungen hierzu: Erstens, natürlich ist es die Hinzufügung der Klausel (b), die (B*) von (B) unterscheidet. Ganz grob gesprochen ist der Grundgedanke der, dass ein rein epistemischer Bezwinger von Ü eine Überzeugung B ist, die ein Bezwinger schlechthin von B wäre, wenn die einzigen Prozesse, die für die Aufrechterhaltung von Ü maßgeblich sind, auf die Wahrheit (und nicht etwa auf das Überleben oder den psychischen Trost) abzielende Vorgänge wären. Die Pointe liegt demnach darin, dass B selbst dann ein rein epistemischer Bezwinger von Ü sein könnte, wenn die Funktionstüchtigkeit die Aufrechthaltung von Ü in der noetischen Struktur von S verlangt, obwohl die Überzeugung B bereits gebildet wurde. Das kann geschehen, wenn die Ü aufrechterhaltenden Prozesse nicht auf die Wahrheit abzielen. Zweitens, im Hinblick auf die Klausel (a) ist es natürlich nicht erforderlich, dass alle Vermögen von S* in jeder Hinsicht richtig funktionieren. So kann es beispielsweise sein, dass das schlechte Namensgedächtnis von S* keine Rolle spielt. Außerdem ist nicht verlangt, dass B selbst auf rationale Weise oder durch richtiges Funktionieren zustande kommt. Es ist, wie ich weiter unten ausführen werde, durchaus möglich, dass eine irrational erworbene Überzeugung sogar eine rational erworbene Überzeugung bezwingt. Mag sein, dass (B*) ein wenig sperrig ist. Dennoch sollte es in der Praxis keine Schwierigkeit bereiten, diese Definition auf interessierende Fälle anzuwenden. Der schlaue Freudianer, von dem oben die Rede war, wird daher vermutlich die Meinung vertreten, mit den
Hier hat mir eine Reihe von Mitteilungen sehr geholfen, die mir William Talbott hat zukommen lassen.
I Das Wesen der Bezwinger
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Fakten des Übels sei dem Theisten – auch wenn er über keinen Bezwinger schlechthin verfügt – immerhin ein rein epistemischer Bezwinger gegeben (sobald er über die Fakten des Übels nachdenkt und erkennt, in welcher Beziehung sie zur Existenz eines vollkommen guten Gottes stehen). Vielleicht fährt der Freudianer fort, um abschließend folgende Behauptung aufzustellen: Sobald man einsieht, dass der Glaube an Gott nicht von auf Wahrheit abzielenden Prozessen getragen wird, sondern vielmehr aus Wunschdenken hervorgeht, werde man auch über einen Bezwinger schlechthin des theistischen Glaubens verfügen. Dieser Bezwinger werde sich auf zwei verschiedenen Wegen einstellen: Erstens, sobald man einsieht, dass die kognitiven Prozesse, denen sich eine gegebene Überzeugung verdankt, nicht auf die Wahrheit abzielen, und sobald man außerdem die Fakten des Übels deutlich vor Augen hat, dann – so wird der Freudianer behaupten – befindet man sich in einer Situation, in der die rationale Reaktion darin besteht, den Glauben an Gott preiszugeben. Denn man sehe doch (wie er sagt), dass man wirklich Belege gegen die Existenz Gottes in der Hand hat, während der Glaube an Gott hingegen sich weder auf Belege stütze noch gewährleistet sei. Dem fügt er hinzu: Auch wenn wir das Übel ganz unberücksichtigt lassen, wird der Theist, der erkennt, dass sein theistischer Glaube aus dem Drang nach Wunscherfüllung (oder irgendeinem anderen nicht auf Wahrheit abzielenden kognitiven Prozess) hervorgeht, über einen Bezwinger dieses Glaubens verfügen. Die bloße Einsicht, dass die Quellen einer bestimmten Überzeugung nicht auf Wahrheit, sondern auf irgendein anderes Wunschobjekt abzielen (wie z. B. Überleben, psychisches Wohlergehen oder die Fähigkeit, in dieser feindseligen und gleichgültigen Welt durchzuhalten), sei in Ermangelung sonstiger Belege ausreichend, um uns,was diesen Glauben betrifft, einen Bezwinger schlechthin an die Hand zu geben. Sobald man die Quelle eines solchen Glaubens erkenne, bestehe die rationale Reaktion darin, dass man diesen Glauben aufgibt. Welche sonstigen Bedingungen muss eine Bezwingerüberzeugung gegebenenfalls erfüllen? Vor allem fragt es sich: Muss eine solche Überzeugung ihrerseits gewährleistet oder rational zustande gekommen sein? Angenommen, ich vertrete die Überzeugung Ü, gelange später aber dahin, eine Überzeugung B zu akzeptieren, die Ü irgendwie zuwiderläuft, wobei diese von mir akzeptierte Überzeugung B keine Gewähr hat. Kann B trotzdem ein Bezwinger von Ü sein? Nach meinem Dafürhalten ja. Seit Jahren glaube ich, dass du in Yankton, South Dakota, geboren wurdest, und diese Überzeugung hat für mich ein hohes Maß an Gewähr. (Dein Onkel, der meines Wissens eine durchweg zuverlässige Person ist, hat es mir erzählt.) Eines Tages jedoch erzählst du mir ganz ernsthaft, du seist nicht in Yankton, sondern in New Haven geboren worden (und außerdem nennst du einen Grund, weshalb dein Onkel Yankton für deinen Geburtsort hält). Dann werde ich unter normalen Umständen über einen Rationalitätsbezwinger meiner Überzeugung, dass du in Yankton geboren wurdest, verfügen. Sofern keine besonderen Umstände gegeben sind – und beispielsweise Gründe vorliegen anzunehmen, dass du scherzt, mich hereinlegen willst oder deinerseits falsch unterrichtet bist über deinen Geburtsort usw. –, bestünde die rationale Reaktion
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darin, die Überzeugung, dass du in Yankton geboren wurdest, aufzugeben. Nehmen wir jedoch an, dass du selbst von deinen Eltern falsch informiert wurdest: Du wurdest zwar tatsächlich in Yankton geboren, aber aus Gründen, die mit akademischem Prestige zu tun haben, behaupten deine Eltern, du seist in New Haven geboren worden. Dann hat deine Überzeugung, dass du in New Haven geboren wurdest, wenig oder gar keine Gewähr. Der Grund liegt (wie ich in WPF, S. 83 ff. ausführe) darin, dass eine Überzeugung, die auf dem Zeugnisweg erworben wurde, für den Zeugnisadressaten nur dann Gewähr hat,wenn sie auch für den Zeugen selbst gewährleistet ist. Da deine Eltern aber nicht einmal selbst an diese Behauptung glauben, gehört sie auch nicht zu ihren gewährleisteten Überzeugungen. Also hat meine neu erworbene Überzeugung, dass du in New Haven geboren wurdest, ebenfalls keine Gewähr. Trotzdem ist mir durch diese Überzeugung ein Bezwinger meiner alten Überzeugung, dass du in Yankton geboren wurdest, gegeben. Also ist es durchaus möglich, dass eine Überzeugung A als Bezwinger einer anderen Überzeugung B dient, obwohl A wenig oder gar keine Gewähr hat; und das ist sogar dann möglich, wenn B in höherem Maße gewährleistet ist als A. Wie steht es jedoch, wenn die potentiell bezwingende Überzeugung auf irrationale Weise erworben wurde? Kann sie trotzdem als Bezwinger fungieren? Gesetzt, ich habe dich stets für einen entgegenkommenden Burschen gehalten, der mir ziemlich wohlgesonnen ist. Leider drifte ich immer tiefer in einen paranoiden Zustand, und aufgrund kognitiver Fehlfunktionen bekomme ich den Eindruck, dass du mir in Wirklichkeit zu schaden versuchst, indem du meinen wissenschaftlichen Ruf ruinierst. Aufgrund dieser kognitiven Fehlfunktionen scheint mir das völlig auf der Hand zu liegen, und es hat, wie ich es an anderer Stelle genannt habe, ein hohes Maß an »doxastischer Evidenz«. Kann meine Überzeugung B, wonach du meinen Ruf zu ruinieren versuchst, als Bezwinger meiner Überzeugung Ü dienen, der zufolge du mir wohlgesonnen bist? Hier müssen wir uns an die Unterscheidung zwischen interner und externer Rationalität erinnern. Die interne Rationalität ist abhängig vom richtigen Funktionieren »stromabwärts von der Erfahrung« (einschließlich der doxastischen Erfahrung, s. o., S. 130 ff.). Mit Bezug auf meine gegebenen Erfahrungen verhalte ich mich genau dann intern rational, wenn ich in Reaktion auf diese Erfahrungen die richtigen Überzeugungen bilde. Die interne Rationalität verlangt daher eine angemessene doxastische Reaktion auf die Erfahrung, einschließlich der doxastischen Erfahrung. Im Hinblick auf unser jetziges Unterfangen dürfen wir die interne Rationalität so auffassen, dass sie auch die epistemische Rechtfertigung umfasst, also dass wir uns im Bereich unserer epistemischen Rechte bewegen und keine epistemischen Pflichten oder Verpflichtungen missachten. Die externe Rationalität dagegen ist abhängig vom richtigen Funktionieren der Quellen der Erfahrung, zu denen insbesondere auch die Quellen der doxastischen Erfahrung gehören. Externe Irrationalität kann nun in mehreren verschiedenen Weisen entstehen, beispielsweise durch eine hinderliche Beeinträchtigung. Angenommen, ich schreibe ein Buch zum Thema X. Aufgrund von Stolz und Egoismus glaube ich, es sei bei weitem das beste Buch über X, obwohl dein Buch über X besser ist, und obwohl ich das einsähe, wenn mein Stolz nicht das richtige Funktionieren meiner relevanten rationalen Fähigkeiten beeinträchtigt hätte. Das ist ein Fall von externer Irrationalität. Das Problem besteht darin, dass mir mein Buch aufgrund von Stolz und Arroganz einfach sehr viel besser zu sein scheint als dein Buch. Die Aussage, dass es besser ist, hat für mich ein hohes Maß an doxastischer Evidenz. In einem solchen Fall kann es vermutlich wirklich so sein, dass ich dank meiner irrational gebildeten Überzeugung über einen Bezwinger meiner früher – und damals rational gebildeten – Überzeugung verfüge, dein Buch sei das beste Buch über X. Kommen wir auf das Beispiel mit der Paranoia zurück. Hier haben wir es vermutlich mit einer ähnlichen Situation zu tun. Meine Überzeugung, dass du mir unbedingt an den Kragen willst, ist extern irrational. Sie ist aus nicht richtig funktionierenden Quellen der doxastischen Erfahrung
II Bezwinger des christlichen bzw. theistischen Glaubens
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hervorgegangen. Aufgrund dieser Fehlfunktion ist meine Erfahrung jedoch derart, dass ich mich in hohem Maße genötigt fühle, B zu glauben, also dass du mich zu ruinieren versuchst. Das erscheint mir jetzt in sehr viel höherem Maße offenkundig, als dass du mir wohlgesonnen sein könntest, denn B hat ein sehr viel höheres Maß an doxastischer Evidenz als Ü. Daher verlangt die interne Rationalität unter diesen Umständen, dass ich Ü fallenlasse. Mit B ist mir, obwohl ich auf irrationalem Weg zu B gelangt bin, ein Bezwinger von Ü gegeben. Daher kann ich sogar dort, wo Ü rational vertreten und B irrational erworben wird, über einen Bezwinger B der Überzeugung Ü verfügen. Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, auf irrationalem Weg zu einem Bezwinger zu gelangen. Nehmen wir an, ich glaube Ü, aber aufgrund einer kognitiven Fehlfunktion glaube ich nicht annähernd so fest daran, wie es die Rationalität verlangt, und die Überzeugung ist nicht annähernd so strapazierfähig, wie andere Überzeugungen dieser Art es sein sollten. Um ein Beispiel zu nennen: Aufgrund einer kognitiven Fehlfunktion (vielleicht wegen einer Hirnverletzung) sind meine arithmetischen Überzeugungen stark in Mitleidenschaft gezogen. Ich glaube zwar, wie jeder andere auch, dass 2 +1 = 3, aber ich bin nicht fester davon überzeugt als beispielsweise davon, dass die Sozialversicherungsnummer meiner Frau n ist. Nun sagt mir ein Mathematikprofessor, dem ich vertraue, eigentlich sei es falsch, dass 2 + 1 = 3. Ich verlasse mich genauso auf sein Wort, wie ich dem Verwaltungsbeamten glauben würde, der mir mitteilt, die Sozialversicherungsnummer meiner Frau sei eigentlich gar nicht n (es habe da eine Verwechslung gegeben, als sie ihren Versicherungsausweis verloren und einen neuen beantragt hatte). Damit bekomme ich demnach einen Bezwinger meiner Überzeugung, dass 2 + 1 = 3, in die Hand. Über diesen Bezwinger meiner Überzeugung verfüge ich allerdings nur aufgrund einer kognitiven Fehlfunktion, nämlich nur deshalb,weil mir 2 +1 = 3 nicht annähernd das Maß an doxastischer Evidenz zu haben scheint, das die Funktionstüchtigkeit verlangt.
II Bezwinger des christlichen bzw. theistischen Glaubens Bisher haben wir folgendes erkannt: Über einen Bezwinger einer Überzeugung Ü verfügt man nur dann, wenn man eine weitere Überzeugung B erwirbt, dergestalt, dass die rationale Reaktion, sofern man diese Überzeugung vertritt, darin besteht, Ü zurückzuweisen (oder weniger fest zu vertreten). Wissen wollen wir jedoch beispielsweise, ob das Leiden und das Übel dieser Welt oder die Fakten des Pluralismus einen Bezwinger des christlichen Glaubens liefern. Natürlich könnte es sein, dass das bei einigen Menschen der Fall ist, bei anderen dagegen nicht. Diese Relativität zu den noetischen Strukturen ist nun einmal eine Gegebenheit. Was ist also eigentlich mit der Frage gemeint, ob dergleichen einen Bezwinger konstituiere? Hier kann man verschiedene Richtungen einschlagen. Angenommen, wir folgen Philip Quinn (s. o., S. 422) und denken über die noetischen Strukturen der »gebildeten Erwachsenen unserer Kultur« nach. Nun bezieht sich die Frage darauf, ob die vorgeschlagenen Bezwinger für die gebildeten Gläubigen Quinns wirklich Bezwinger konstituieren. Freilich werden sie für eine gegebene Person S nur dann Bezwinger sein, wenn S daran glaubt. Nicht jede beliebige
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11 Bezwinger und Bezwingung
Aussage derart, dass sie, wenn ich sie für wahr hielte, mir einen Bezwinger des christlichen bzw. theistischen Glaubens an die Hand gäbe, würde ihren Zweck erfüllen. Eine irrational erworbene Überzeugung kann zwar, wie wir gesehen haben, als Bezwinger fungieren, aber offensichtlich liefert man mir nicht im relevanten Sinn einen Bezwinger des christlichen Glaubens, indem man mir auf irrationalem Wege – etwa durch Hypnose oder Psychopharmaka – bestimmte Überzeugungen aufnötigt. Im relevanten Sinn liefert man mir nur dann einen Bezwinger, wenn man mir eine Überzeugung vorlegt, die so beschaffen ist, dass eine in interner und externer Hinsicht rationale, gebildete und gläubige Person sie akzeptieren würde, sobald sie ihr vorgelegt wird. Man liefert also nicht unbedingt schon dadurch einen Bezwinger des christlichen Glaubens, dass man – sei’s auch laut bzw. langsam – behauptet, der Glaube an Gott sei falsch, er sei töricht, Gott sei tot, da es elektrischen Strom und das Radio gebe, verstünden wir heute mehr davon (s. u., S. 403). Es kann zwar sein, dass mir diese Aussagen, wenn ich sie denn akzeptierte, Bezwinger des christlichen Glaubens liefern würden, aber an und für sich sind sie nicht derart, dass die Rationalität von einer gebildeten, gläubigen Person verlangen würde, dass sie diese Aussagen akzeptiert. Dazu ist mehr erforderlich. Was ist erforderlich? Was relevant sein könnte, wäre beispielsweise ein Argument für die Falschheit der relevanten Aussage, wobei man von Prämissen ausgeht, die der gläubige Gebildete akzeptiert. Hier gibt es freilich Feinheiten. Es könnte sein, dass es, sobald ich den Widerspruch zwischen den angeführten Prämissen und Ü bemerke, rational ist, an Ü festzuhalten und stattdessen die Prämissen bzw. deren Konjunktion fallenzulassen. Angenommen, ich glaube p1, … pn. Du zeigst mir, dass aus p1, … pn folgt, dass es so etwas wie ein dauerhaftes Ich nicht gibt. Sobald ich das erkenne, ist es vielleicht rational, nicht den Glauben an die Existenz eines dauerhaften Ich, sondern eine oder mehrere pi fallenzulassen. Das bloße Anführen eines Arguments mit Prämissen, die der Gebildete akzeptiert, genügt also noch nicht, um einen Bezwinger zu liefern. Die Prämissen müssen außerdem derart sein, dass ich, sobald ich mir über den Konflikt im klaren bin, erkenne, dass die Rationalität von mir verlangt, nicht die Prämissen, sondern das prospektive Bezwingungsobjekt preiszugeben. Dennoch bleibt es dabei, dass die Angabe eines Arguments eine Möglichkeit darstellt, einen Bezwinger bereitzustellen. Gibt es noch eine andere Möglichkeit? Ja, man kann mich in eine Lage bringen, in der ich Erfahrungen mache derart, dass es unter Voraussetzung dieser Erfahrungen und meiner noetischen Struktur rational ist, das unterstellte Bezwingungsobjekt fallenzulassen. Angenommen, ich behaupte, dass es auf der oberen Michigan-Halbinsel keine Stachelkakteen gibt. Jetzt führst du mich durch die dortigen Wälder und zeigst mir ein besonders üppiges Exemplar. Nun verlangt die
III Sind Projektionstheorien Bezwinger des christlichen Glaubens?
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Rationalität, dass ich meine diskreditierte Überzeugung fallenlasse. Also bestünde eine weitere Möglichkeit, einen Bezwinger des christlichen bzw. theistischen Glaubens zu liefern, darin, eine Erfahrung heranzuziehen oder anzubahnen, aufgrund deren es dem Gebildeten, der diese Erfahrung macht, rational zwingend erscheint, die betreffende Überzeugung fallenzulassen.
III Sind Projektionstheorien Bezwinger des christlichen Glaubens? Nun können wir uns den von Quinn erwähnten Projektionstheorien des religiösen, insbesondere des theistischen Glaubens zuwenden. Diese Theorien wollen den theistischen Glauben und andere religiöse Formen des Glaubens durch Bezugnahme auf den Gedanken erklären, dass wir so etwas wie einen idealisierten Vater in den Himmel projizieren. Freud stellt eine Theorie dieser Art auf, und ebenso verfahren Marx, Durkheim und andere Autoren. Nach Quinn konstituieren diese Projektionstheorien – zusammen mit dem Gedanken des natürlichen Übels – Bezwinger des theistischen und folglich auch des christlichen Glaubens. Mit dem Gedanken des Übels werde ich mich im letzten Kapitel befassen. Doch wie steht es mit Freud und Marx? Sind ihre Theorien nicht, wie Quinn sagt, für verantwortungsvolle und informierte gläubige Christen von heute ein Grund, den Glauben an Gott fallenzulassen oder ihn zumindest mit weniger Festigkeit zu vertreten? Nein, das glaube ich nicht; und das möchte ich nun erklären. Einige meiner Gründe habe ich bereits im 6. Kapitel dargelegt (s. o., S. 188 ff.). Wie ich dort ausführe, besteht der Kerngedanke des F&M-Einwands darin, dass dem theistischen Glauben keine Gewähr zukomme. Er werde nicht durch kognitive Vermögen hervorgebracht, die gemäß einem erfolgreich auf die Wahrheit abzielenden Bauplan richtig funktionieren. Marx zufolge entsteht ein solcher Glaube aus einer kognitiven Störung, die ihrerseits von einer in Unordnung geratenen Gesellschaft verursacht wurde. Freud zufolge wird der Glaube von kognitiven Prozessen erzeugt, die nicht auf Wahrheit, sondern auf psychischen Trost oder das Überleben abzielen. Falls ich nun dergleichen wirklich glaube, dann ist mir damit vielleicht auch ein Grund gegeben, den theistischen Glauben fallenzulassen.⁵ Doch warum sollte ich diese Dinge glauben? Gibt es ein rational zwingendes Argument für den einen oder anderen dieser Gedanken? Freud und Marx führen bestimmt keine Obwohl es, wie ich oben (S. 230) ausführe, möglich ist, dass der theistische Glaube aus so etwas wie Wunschdenken hervorgeht, aber trotzdem gewährleistet ist. Wenn ich das ebenfalls glaube, dann würde mir die Überzeugung, der Glaube an Gott sei ein Produkt des Drangs nach Wunscherfüllung, nicht automatisch einen Bezwinger dieses Glaubens an die Hand geben.
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11 Bezwinger und Bezwingung
Gründe dafür an, weshalb man diese Theorien für wahr halten sollte, sondern sie begnügen sich damit, sie zu verkünden. Noch wichtiger ist, wie ich im 6. Kapitel geltend gemacht habe, dass ihr Angriff auf die Gewährleistung des theistischen Glaubens im Grunde die Falschheit des Theismus voraussetzt. Er setzt den Atheismus voraus. Doch wenn ich mir darüber im klaren bin, wie kann ihr Angriff dann für mich einen Bezwinger des theistischen Glaubens konstituieren? Wäre der theistische Glaube falsch, dann würde die F&M-These womöglich ein zutreffendes Bild des Theismus vermitteln. Aber natürlich glaube ich nicht, dass der theistische Glaube wirklich falsch ist. Also liefern mir die Verlautbarungen von Freud und Marx keinen Bezwinger des theistischen Glaubens.Was sie verkünden, könnte ein Bezwinger sein, wenn ich daran glaubte; aber sie nennen gar keinen Grund, warum man daran glauben sollte. Es ist ohne weiteres möglich, sich über Freuds diesbezügliche Ansichten zu unterrichten und den Theismus trotzdem in völlig rationaler Weise auch weiterhin zu akzeptieren. Es wäre möglich, dass Projektionstheorien wie die von Freud für manche Menschen als Bezwinger des theistischen (und folglich des christlichen) Glaubens fungieren. Angenommen, ich glaube ganz fest daran, dass es, sofern der Theismus wahr ist, keine kohärenten Projektionstheorien des religiösen bzw. des theistischen Glaubens geben könnte. Angenommen, ich akzeptiere außerdem den Theismus, wenn auch nicht mit sonderlicher Festigkeit. Nun wollen wir überdies annehmen, ich mache mir die folgende Überzeugung zu eigen: (F) Freuds Theorie (oder eine der anderen Projektionstheorien) ist tatsächlich kohärent. Dann wird (F) ein Bezwinger – vielleicht ein Teilbezwinger – meiner theistischen Überzeugung sein. Solange ich (F) akzeptiere und auch weiterhin den Rest meiner noetischen Struktur akzeptiere (einschließlich des Gedankens, der Theismus sei nur dann wahr, wenn es keine kohärenten Projektionstheorien des theistischen Glaubens gibt), kann ich nicht rational fortfahren, auch den Theismus zu akzeptieren. Natürlich ist der genannte Gedanke falsch, aber ein falscher Gedanke kann trotzdem als Bezwinger fungieren. Oder nehmen wir an, ich merke nicht, dass Freuds Theorie eigentlich den Atheismus voraussetzt, oder dass er weder für den Atheismus noch für seine Theorie ein Argument anführt. Dann könnte ich auch in diesem Fall über einen Bezwinger – zumindest über einen Teilbezwinger – meines theistischen Glaubens verfügen. Es wäre also möglich, durch Informationen über diese Theorien einen Bezwinger zu erwerben. Entscheidend ist jedoch, dass die Rationalität nicht verlangt, unter diesen Bedingungen einen solchen Bezwinger zu erwerben. Ausschlaggebend ist, dass eine rationale Person durchaus Theist sein, sich über die Projektionstheorien Freuds und anderer Autoren unterrichten, sich mit ihnen vertraut machen und trotzdem ohne Preisgabe der Rationalität am Theismus festhalten kann, insbesondere wenn diese Person erkennt, dass Freuds Ansichten unbegründet sind und sowieso im Grunde den Atheismus voraussetzen. Eine andere Möglichkeit wäre die, dass ein Theist, für den die Ansichten Freuds tatsächlich einen Bezwinger darstellen, einen Bezwinger dieses Bezwingers (einen Bezwinger-Bezwinger) erwirbt, indem er sich über diese oder andere erkenntnistheoretische Wahrheiten informiert. Das ist also ein Gebiet, auf dem der Philosoph der christlichen Gemeinschaft zu Hilfe kommen kann, indem er auf Wahrheiten hinweist, die, wenn man sie einer christlich geprägten noetischen Struktur hinzufügt, den christlichen bzw. theistischen Glauben
III Sind Projektionstheorien Bezwinger des christlichen Glaubens?
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vor einer Bezwingung bewahren oder mit einem Bezwinger-Bezwinger ausstatten, um sich gegen einen Bezwinger ihres Glaubens zu wehren.
Quinn für sein Teil macht geltend, die Projektionstheorien des theistischen Glaubens seien Bezwinger eines solchen Glaubens, wenn es ihnen gelinge, den Theismus zu erklären: Ich halte es für nützlich, Projektionstheorien des religiösen Glaubens als konstitutive Elemente eines geisteswissenschaftlichen Forschungsprogramms aufzufassen. […] Die Einheit stiftende Grundidee des Forschungsprogramms besagt, dass es in unserem Inneren einen Mechanismus zur Bildung und Aufrechterhaltung von Überzeugungen gibt, der voraussetzt, dass die Eigenschaften einzelner Menschen oder ihrer Gesellschaften nach außen projiziert und Entitäten postuliert werden, von denen die projizierten Eigenschaften exemplifiziert werden. […] Die Existenz der postulierten Entitäten soll bei der Erklärung der Bildung bzw. der Fortdauer des Glaubens an die Postulate keine Rolle spielen. Sofern diese Hypothesen unter vielfältigen Umständen religiöse Überzeugungen erklären können und dabei nicht mehr Anomalien unerklärt lassen als andere gute Theorien, kann man sich auf ein Sparsamkeitsprinzip vom Typ des Ockhamschen Rasiermessers berufen, um die Konklusion zu rechtfertigen, dass die Entitäten, deren Existenz als Resultat des Wirkens des Projektionsmechanismus postuliert wird, gar nicht existieren, da sie in puncto Erklärungskraft müßig sind.⁶
Wenn ich Quinns Vorschlag speziell auf den theistischen Glauben beziehe, heißt das: (Q1) Die Existenz Gottes ist nicht erforderlich, um den theistischen Glauben zu erklären. Also: (Q2) Die Existenz Gottes ist in puncto Erklärungskraft müßig. Und: (Q3) Das ist ein triftiger Grund für die Ansicht, es gebe keine Person wie Gott. Es ist nicht klar, ob Quinn den Gedankengang von (Q1) bis (Q3) wirklich akzeptiert. Vielleicht führt er diese Schritte auch nur als Denkmöglichkeiten an. (Selbst wenn er sie wirklich akzeptiert, könnte es sein, dass er außerdem meint, es gebe triftige Gründe, die für den theistischen Glauben sprechen.) Jedenfalls bin ich der Überzeugung, dass es im Hinblick auf diese Vorschläge einige gravierende Probleme gibt. Erstens, der fraglichen Theorie zufolge ist es so, dass Personen, die an
Quinn, »The Foundations of Theism Again«, in: Rational Faith: Catholic Responses to Reformed Theology, Notre Dame: University of Notre Dame Press 1993, S. 41– 42.
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Gott glauben, die Existenz Gottes postulieren (»es gibt in unserem Inneren einen Mechanismus zur Bildung und Aufrechterhaltung von Überzeugungen, der voraussetzt, dass die Eigenschaften einzelner Menschen oder ihrer Gesellschaften nach außen projiziert und Entitäten postuliert werden, von denen die projizierten Eigenschaften exemplifiziert werden«). Der Glaube an Gott ist jedoch offensichtlich nicht das Resultat eines Postulats. Wer an Gott glaubt, postuliert in der Regel nicht die Existenz einer solchen Person, wie ja auch diejenigen, die an die Existenz anderer Personen oder materieller Gegenstände glauben, normalerweise nicht postulieren, dass es dergleichen wirklich gebe. Das Postulieren ist ein Prozess, der bei naturwissenschaftlichen Theorien zum Tragen kommt. Hier postuliert man Entitäten bestimmter Art (wie z. B. Quarks oder Gluonen) als Elemente einer erklärenden Theorie. Christen jedoch schlagen normalerweise nicht die Existenz Gottes vor, um damit irgendetwas zu erklären (s. o., S. 389 ff.). Es mag jedoch sein, dass dieser Punkt nicht ausschlaggebend ist. Für die betreffenden Theorien sollte es nicht wesentlich sein, dass der Glaube an Gott durch ein Postulat gebildet wird. Tatsächlich würden diese Theorien genauso gut oder besser funktionieren, wenn sie behaupteten, dass Personen, die an Gott glauben, auf dem Weg irgendwelcher unbewusster Mechanismen zu ihrem Glauben gelangen. Zweitens, selbst wenn die Existenz des theistischen Glaubens – in welchem Sinne auch immer – »erklärt« werden kann, ohne die Existenz Gottes zu postulieren, ist es dennoch möglich, dass der Theismus seinerseits eine Menge anderer Dinge erklärt. Der theistische Glaube ist nur eines von mehreren Dingen, zu deren Erklärung man den Theismus herangezogen hat. Außerdem ist der Theismus benutzt worden, um die Feinabstimmung des Universums zu erklären sowie die Existenz von Propositionen, Eigenschaften und sonstigen abstrakten Entitäten, den Ursprung des Lebens, das Wesen und die Existenz der Moral, die Zuverlässigkeit unserer epistemischen Fähigkeiten und noch vieles andere mehr. Dass der Theismus im Hinblick auf den theistischen Glauben nicht erklärungskräftig ist, genügt daher für sich genommen nicht, um zu zeigen, dass er als Erklärung generell nichts leistet. Bisher kennen wir keinen Grund, weshalb man (Q2) aus (Q1) folgern sollte. Drittens, warum sollte man, sofern (Q2) gegeben ist, auf (Q3) schließen? Nach Ockhams berühmten Rasiermesserprinzip gilt: entia non multiplicandum sunt praeter necessitatem. ⁷ Fasst man dieses Prinzip im Sinne der Maxime auf, man sollte keine Entitäten einer bestimmten Art postulieren, sofern es nicht irgendwie
Diese Formulierung entspricht der üblichen Auffassung des Rasiermesserprinzips. Wie es scheint, bestehen Zweifel hinsichtlich der Frage, ob Ockham selbst das Prinzip je in genau dieser Form aufgestellt hat.
III Sind Projektionstheorien Bezwinger des christlichen Glaubens?
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erforderlich ist, äußert sich darin ein gewisser robuster Common sense. (Vielleicht kann man bestimmte Phänomene dadurch erklären, dass man die Existenz von Mäusen in der Garage postuliert. Dann hieße es, die Entitäten über Gebühr vermehren, wenn man zusätzlich zur Existenz der Mäuse auch noch die Existenz von Elfen annähme.) Der Theismus jedoch wird normalerweise nicht als explanatorische Hypothese herangezogen. Nehmen wir also an, der theistische Glaube leiste in puncto Erklärung tatsächlich gar nichts. Warum jedoch sollte das seinen Ruf schädigen oder darauf hindeuten, dass sein epistemischer Status niedrig ist? Sofern der theistische Glaube von vornherein nicht als explanatorische Hypothese ins Spiel gebracht wird, warum sollte ihm dann aus seinem etwaigen Mangel an Erklärungskraft ein Vorwurf gemacht werden? Überzeugungen wie die, dass ich zum Frühstück eine Orange gegessen habe, werden (in der Regel) nicht als Hypothesen akzeptiert. Sollen wir nun die Tatsache, dass diese Überzeugungen nicht viel erklären, gegen sie verwenden und als Bezwinger auffassen? Es ist also nicht recht einzusehen, warum der (etwaige) Mangel an Erklärungskraft des Theismus gegen ihn sprechen soll. Aber im Grunde meldet (Q3) einen sehr viel stärkeren Anspruch an. Es wird nämlich gesagt, der Mangel an explanatorischer Leistungsfähigkeit sei ein Grund dafür, den theistischen Glauben nicht nur als in epistemischer Hinsicht fragwürdig, sondern sogar als falsch einzustufen. Warum sollte man das glauben? Nehmen wir einmal (aus meiner Sicht faktenwidrig) an, der Mangel an Erklärungskraft spreche tatsächlich gegen den theistischen Glauben. Warum soll man nun fortfahren und den Schluss ziehen, damit sei ein Grund gegeben, die Existenz Gottes zu bestreiten? Wäre Agnostizismus – Überzeugungsenthaltung – nicht ausreichend? Angenommen, ich kenne keine Phänomene, die ich nur erklären kann, wenn ich von der Annahme ausgehe, auf anderen Planeten gebe es intelligente Lebewesen. Soll ich dann bestreiten, dass es derartige Lebewesen gibt? Wäre schlichter Agnostizismus nicht ausreichend? Der entscheidende Punkt ist hier der, dass dem Modell zufolge (wie auch in der Realität) der theistische Glaube normalerweise nicht als Erklärung akzeptiert wird. Es ist nicht so, als würde der Theist die augenscheinliche Beschaffenheit der Welt (einschließlich der Existenz des theistischen Glaubens selbst) taxieren, um sodann die Existenz Gottes als beste Erklärung dieser Phänomene vorzuschlagen. Wenn das der Denkweise des Theisten entspräche, könnte der (mögliche) Umstand, dass es dem theistischen Glauben im Hinblick auf eine bestimmte Datenmenge an Erklärungskraft fehlt, tatsächlich relevant sein. Aber so denkt der Theist nicht. Unserem Modell zufolge glaubt derjenige, der an Gott glaubt, weder auf der Belegbasis anderer Aussagen noch unter Inanspruchnahme des Vorschlags, den Glauben an Gott als Erklärung dieser oder jener Sache aufzufassen, sondern er glaubt in basaler Weise. Daher stellt der (etwaige) Umstand, dass es für eine be-
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stimmte Reihe von Phänomenen bessere Erklärungen gibt, den Glauben an Gott bisher noch gar nicht in Frage. Hier möchte ich auf ein Vergleichsbeispiel zurückkommen, das ich schon an anderer Stelle benutzt habe: Ich stelle den Antrag auf eine Forschungsbeihilfe der Nationalstiftung. Da mir klar wird, dass ich eigentlich nicht qualifiziert bin, biete ich dir fünfhundert Dollar dafür, dass du mir einen begeisterten, wenn auch unzutreffenden Empfehlungsbrief schreibst. Vielleicht hat jeder seinen Preis, wie man so sagt, aber es stellt sich heraus, dass deiner entschieden höher liegt als bei fünfhundert Dollar. Voller Empörung weigerst du dich und schreibst einen ätzenden Brief an die Seminarvorsteherin. Der Brief verschwindet in geheimnisvoller Weise aus ihrem Büro. Einer der angesehensten Angehörigen unseres Seminars erzählt jedoch, er habe gesehen, wie ich offenbar versuchte, durch ein Fenster im zweiten Stock in das Büro der Vorsteherin zu gelangen. Mittel, Motiv und Gelegenheit sind in meinem Fall gegeben. Außerdem ist bekannt, dass ich so etwas schon früher einmal getan habe. Ich für mein Teil erinnere mich jedoch ganz deutlich, an dem Nachmittag, an dem der Brief verschwand, eine einsame Bergwanderung unternommen zu haben. Ich glaube den Brief nicht entwendet zu haben, und dieser Glaube hat für mich Gewähr. Allerdings schlage ich nicht vor, meinen Glauben an die eigene Unschuld bzw. meine Überzeugung, dass ich zur relevanten Zeit wandernd die Wälder durchstreifte, zur Erklärung der Fakten, die meine Schuld nahelegen, zu benutzen. Meine Unschuld bzw. meine Wanderung führe ich überhaupt nicht als Erklärung für irgendetwas ins Feld. Diese Überzeugungen spielen auf ganz anderem Wege in meine noetische Struktur hinein. Nehmen wir also an, diesen Überzeugungen fehle es tatsächlich an Erklärungskraft. Dem mag man, wenn man will, hinzufügen, dass es tatsächlich eine gute (wenn auch falsche) Erklärung dafür gibt, dass X behauptet gesehen zu haben, wie ich mir Zugang zum Büro zu verschaffen versuchte, nämlich: dass ich den Brief entwendet habe, um mir weitere Peinlichkeiten zu ersparen. Konstituiert der Mangel an Erklärungskraft meiner Überzeugungen einen Bezwinger dieser Überzeugungen? Natürlich nicht. Sie werden gar nicht als Erklärungen vorgebracht.⁸ Ähnlich verhält es sich mit dem theistischen Glauben.
Zugegeben, wenn sich die Belege dafür, dass ich den Brief stibitzt habe, weiterhin häufen – der Brief taucht in meiner Hosentausche auf; meine Fingerabdrücke zieren den Aktenordner, in dem der Brief aufbewahrt wurde; der Berg, auf dem ich an dem bewussten Nachmittag zu wandern glaubte, wurde am Morgen davor durch einen Vulkanausbruch zerstört –, werde ich zu guter Letzt vielleicht den Schluss ziehen, mein Gedächtnis spiele mir einen Streich. Ausschlaggebend ist jedoch, dass die mangelnde Erklärungskraft meiner Überzeugung keinen Bezwinger dieser Überzeugung konstituiert, denn diese wird gar nicht als Erklärung akzeptiert.
III Sind Projektionstheorien Bezwinger des christlichen Glaubens?
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Versteht man Quinns Behauptungen in der vorliegenden Form, zeigen sie offenbar nicht, dass projektive Hypothesen einen Bezwinger für den christlichen bzw. theistischen Glauben liefern. Kann es sein, dass hier irgendwo in der Nachbarschaft ein stärkeres Argument der gleichen Art lauert? So wie Quinn den Einwand formuliert, gibt uns der Umstand, dass der theistische Glaube in explanatorischer Hinsicht müßig ist, einen Grund zur Annahme, dass es eine Person wie Gott nicht gibt, so dass der Theist, der merkt, dass dieser Glaube als Erklärung tatsächlich nichts leistet, über einen widerlegenden Bezwinger verfügt. Aber vielleicht gibt es eine andere und eventuell stärkere Möglichkeit, diesen Einwand zu formulieren. Vielleicht besteht das Problem nicht bloß darin, dass der Glaube an die Existenz Gottes (möglicherweise) an mangelnder Erklärungskraft krankt.Wir haben schließlich viele Überzeugungen, die nicht als Erklärungen – oder zumindest nicht in erster Linie als Erklärungen – fungieren. Vielleicht ist der Grundgedanke vielmehr der folgende: (Q4) Kann S eine bestimmte Reihe seiner eigenen Überzeugungen erklären, ohne die Existenz der Entitäten, deren Existenz von diesen Überzeugungen bejaht wird, in Anspruch zu nehmen, so verfügt S über einen untergrabenden Bezwinger dieser Überzeugungen. Der Grundgedanke liefe dann auf folgendes hinaus: Wenn der Theist von diesen Projektionstheorien erfährt, erkennt er, dass die Existenz seines theistischen Glaubens erklärt werden kann, ohne die Existenz Gottes anzunehmen. Das wiederum liefert ihm nach (Q4) einen widerlegenden Bezwinger seines Glaubens an die Existenz Gottes. Diese Formulierung des Einwands unterscheidet sich in zwei Hinsichten von der Formulierung Quinns. Erstens, der Bezwinger des Glaubens an die Existenz Gottes rührt nicht daher, dass dieser Glaube (möglicherweise) in explanatorischer Hinsicht müßig ist, sondern daher, dass eine Erklärung des Glaubens an Gott zu Gebote steht, von der die Wahrheit dieses Glaubens nicht vorausgesetzt wird – d. h., die Existenz Gottes wird nicht vorausgesetzt. Zweitens, der angeblich zur Verfügung gestellte Bezwinger ist nicht ein widerlegender, sondern ein untergrabender Bezwinger. Es fragt sich jedoch, ob (Q4) wirklich zutrifft. Es gibt mindestens zwei Lesarten von (Q4). Einerseits könnte (Q4) voraussetzen, dass die vorgeschlagene Erklärung nur Entitäten ins Spiel bringen darf, deren Existenz von S bereits akzeptiert wird. Andererseits könnte es sein, dass die Erklärung entweder Entitäten ins Spiel bringt, deren Existenz von S bereits akzeptiert wird, oder Entitäten, deren Existenz nicht bereits akzeptiert wird. Da die erste Lesart die schwächere und daher die einleuchtendere ist, wollen wir uns auf sie konzentrieren. Stellen wir uns also vor, dass ich einen bestimmten Teil meiner Überzeugungen erklären kann, ohne die Existenz der von diesen Überzeugungen bejahten Entitäten E vorauszusetzen. Ferner wollen wir annehmen, ich könne mich bei der Erklärung auf Entitäten beziehen, die ich schon akzeptiere. Erhalte ich dadurch einen Bezwinger des Glaubens an die Existenz dieser Entitäten E? Vermutlich nicht. Denken wir an meinen Glauben an die äußeren Gegenstände der Wahrnehmung (Bäume, Häuser, Pferde, andere Personen). Vielleicht wäre es möglich, diese Überzeugungen so zu erklären, dass sie mir von Gott aus Gründen, die er selbst kennt, eingepflanzt worden seien. Diese Erklärung setzt die Existenz dieser Gegenstände nicht voraus, und sie bezieht sich auf Entitäten, deren Existenz ich bereits akzeptiere (nämlich auf Gott). Würde mir die Verfügbarkeit dieser Erklärung einen Bezwinger meiner Wahrnehmungsüberzeugungen an die Hand geben? Das möchte ich bezweifeln. Um eine weitere Möglichkeit zu nennen: Vielleicht könnte ich die Überzeugungen auch (in Einklang mit den hier betrachteten Projektionstheorien) als Projektionen erklären, die ich selbst unbewusst vornehme. Es präsentieren sich mir diverse Erscheinungen, und infolgedessen projiziere ich Überzeugungen, die besagen, dass es materielle Gegenstände gibt, die sogar dann Bestand haben, wenn mir gar nichts durch den Sinn geht.Würde mir diese Erklärung solcher Überzeugungen einen
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Bezwinger dieser Überzeugungen liefern? Auch das möchte ich bezweifeln. Vielleicht gibt es eine projektive Erklärung meines Glaubens an die Existenz anderer Personen: Ich sehe diese Körper in meiner Umgebung und projiziere die Überzeugung, dass es sich um denkende, fühlende Lebewesen wie mich selbst bzw. um deren Körper handelt. (Die Alternative wäre eine recht einsame Angelegenheit.) Erhalte ich dadurch einen Bezwinger meiner Überzeugung, dass es außer mir noch andere Personen gibt? Auch das halte ich nicht für richtig. Tatsächlich besteht kaum ein Grund dafür, (Q4) zu akzeptieren, jedenfalls dann, wenn man den Satz völlig allgemein auffasst. Das heißt vermutlich, dass es keinen guten Grund gibt, der für die Annahme spräche: dadurch, dass man von diesen angeblichen projektiven Erklärungen des Theismus erfährt, erwerbe man einen Bezwinger des theistischen Glaubens.
Freilich, selbst wenn mir die angeblichen projektiven Erklärungen des theistischen Glaubens keinen Bezwinger dieses Glaubens liefern, gibt es doch viele weitere Anwärter auf diesen Posten. In den nächsten Kapiteln werden wir dazu übergehen, diese anderen angeblichen Bezwinger zu betrachten, nämlich: die moderne historisch-kritische Bibelforschung, den Pluralismus und die Postmoderne sowie die faktischen Gegebenheiten des Übels.
12 Zwei (oder mehr) Arten der Bibelforschung Im 8. Kapitel habe ich ein Modell vorgestellt, das zeigt, in welcher Weise der christliche Glaube gewährleistet ist bzw. gewährleistet sein kann. Diesem Modell zufolge ist die Bibel ohne weiteres verständlich. Die Grundzüge ihrer Lehre – Schöpfung, Sünde, Fleischwerdung, Sühnopfer, Auferstehung, ewiges Leben – können von jedem normal intelligenten und gebildeten Menschen verstanden, erfasst und in angemessener Form akzeptiert werden. Auch die Housatonic-Indianer können diese Botschaft, wie Jonathan Edwards sagt, ohne weiteres erfassen und sich in angemessener Weise zu eigen machen. Ein Doktor in Theologie, Geschichtswissenschaft oder Bibelkunde ist dafür nicht nötig. Diesem Gedanken liegt ein weiterer zugrunde, nämlich dass es eine Quelle des gewährleisteten wahren Glaubens – eine Möglichkeit, die Wahrheit dieser Lehrsätze einzusehen – gibt, die von historischen Studien völlig unabhängig ist: die Bibel bzw. den inneren Ansporn des Heiligen Geistes/des Glaubens (abgekürzt: IAHG). Dank dieses Prozesses kann ein normaler Christ, der von historischen Untersuchungen, alten Sprachen, den komplizierten Feinheiten der Philologie, den Tiefen der Theologie usw. keine Ahnung hat, trotzdem erkennen, dass diese Dinge wirklich wahr sind. Außerdem braucht sein Wissen nicht (beispielsweise auf dem Zeugnisweg) auf Erkenntnisse einer Person zurückzugehen, die tatsächlich über diese spezialisierte Ausbildung verfügt.Weder die christliche Gemeinde noch der normale Christ ist diesbezüglich dem Experten ausgeliefert. Sie können diese Wahrheiten auf direktem Weg erkennen. Dennoch ist die ernsthafte und gelehrte Bibelforschung natürlich von größter Bedeutung für den Christen. Die Liste derjenigen, die sich mit diesem Projekt befasst haben, ist in höchstem Maße imponierend: Chrysostomos, Augustinus, Thomas von Aquin, Calvin, Jonathan Edwards und Karl Barth, um nur einige wenige zu nennen. Diese Autoren und ihre Nachfolger gehen von der Vorstellung aus, die Bibel sei in solcher Weise von Gott inspiriert worden, dass sie unter anderem eine göttliche Offenbarung darstellt, eine spezielle Botschaft von Gott an die Menschheit. Anschließend versuchen sie anhand der ganzen Schrift oder (was wahrscheinlicher ist) anhand eines bestimmten Teils der Schrift festzustellen, welches die Lehre des Herrn ist. Seit der Aufklärung ist jedoch eine weitere Form der Bibelforschung zum Vorschein gekommen. Diese Spielart der Bibelforschung wird mitunter als »höhere« Kritik bezeichnet, als »historische Kritik«, »Bibelkritik« oder »historisch-kritische Bibelforschung«. Sie klammert aus bzw. sieht ab von dem, was durch den Glauben erkannt wird, und verfolgt das Ziel, »wissenschaftlich« – ausschließlich auf der Grundlage der Vernunft – zu verfahren. Ich werde hier im folgenden von »historisch-kritischer Bibelforschung« sprechen,
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abgekürzt: HKB. Diese Art der Bibelforschung klammert die Überzeugung, die Bibel sei eine spezielle Botschaft des Herrn, ebenso aus wie jede weitere Überzeugung, die nicht auf der Grundlage der Vernunft, sondern des Glaubens akzeptiert wird. Nun geschieht es häufig, dass die Verlautbarungen jener, die diese zweite Art der Forschung pflegen, anscheinend den Grundzügen des christlichen Denkens zuwiderlaufen. Wer sich dieser Forschung widmet, wird z. B. wahrscheinlich nicht zu dem Schluss kommen, Jesus sei tatsächlich die präexistierende zweite Person der göttlichen Dreifaltigkeit, die gekreuzigt wurde, starb und drei Tage später buchstäblich von den Toten auferstand. Van Harvey schreibt dementsprechend: »Was den historischen Bibelforscher betrifft, gibt es kaum eine allgemein verbreitete traditionelle Überzeugung bezüglich Jesus, die er nicht mit erheblicher Skepsis betrachten würde.«¹ Hier werde ich versuchen, beide Arten der Bibelforschung zu beschreiben. Anschließend werde ich die folgende Frage aufwerfen: Wie soll ein Christ im klassischen Sinn – also jemand, der die »großen Dinge des Evangeliums« akzeptiert – auf den deflationären Aspekt der HKB reagieren? Welchen Reim soll er sich auf ihre bezüglich des traditionellen christlichen Glaubens anscheinend zersetzenden Resultate machen? Angesichts des erweiterten A/C-Modells werde ich geltend machen, dass er sich von dem Konflikt zwischen den angeblichen Resultaten der HKB und dem traditionellen christlichen Glauben nicht beunruhigen zu lassen braucht.² Dieser Konflikt liefert weder einen Bezwinger hinsichtlich der Akzeptierung der großen Dinge des Evangeliums noch – insoweit diese angeblichen Resultate auf erkenntnistheoretischen Annahmen basieren, die er nicht teilt – hinsichtlich irgendwelcher anderen Dinge, die er auf der Basis des biblischen Unterrichts akzeptiert.
I Die von Gott inspirierte Schrift Dem A/C-Modell zufolge spielt die Heilige Schrift, die Bibel, eine wichtige Rolle bei dem Prozess, durch den der Gläubige seinen Glauben an die großen Dinge des Evangeliums erwirbt, sowie bei dem Prozess, durch den diese Überzeugungen für ihn Gewähr erlangen. Grob gesprochen, geschieht folgendes: Er liest oder hört die
Harvey, »New Testament Scholarship and Christian Belief« (im folgenden: NTS), in: R. Joseph Hoffman u. Gerald A. Larue (Hg.), Jesus in History and Myth, Buffalo: Prometheus Books 1986, S. 193. Daher bin ich (größtenteils) der gleichen Meinung wie C. Stephen Evans, The Historical Christ and the Jesus of Faith: The Incarnational Narrative as History, Oxford: Clarendon Press 1996, und Peter van Inwagen, »Critical Studies of the New Testament and the User of the New Testament«, in: God, Knowledge, and Mystery, Ithaca, NY: Cornell University Press 1995.
I Die von Gott inspirierte Schrift
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Kernbotschaft der Schrift und lässt sich durch die Aufforderung bzw. den Ansporn des Heiligen Geistes dazu bewegen, an die Botschaft zu glauben. Außerdem spielt die Bibel in einer weiteren, ganz anderen Hinsicht in den geistigen Haushalt der traditionellen Christen hinein: Durch den eben beschriebenen Prozess gelange ich vielleicht dahin zu glauben, dass eine spezifische Lehre – etwa der Gedanke, dass Gott in Christus die Welt mit sich versöhnte – wahr und eine göttliche Offenbarung ist. Aber der traditionelle Christ glaubt außerdem z. B., dass das Johannesevangelium, der Paulusbrief an die Römer und die Apostelgeschichte von Gott inspiriert wurden und daher für den Glauben und die Praxis des Christen maßgeblich sind. Ja, er wird das mit Bezug auf die ganze Bibel glauben. Die ganze Bibel ist eine Botschaft des Herrn an die Menschheit. Das ganze Buch ist für den Glauben und die Praxis des Christen autoritativ. Diese Überzeugung gehört ihrerseits allerdings nicht zu den großen Dingen des Evangeliums – sie ist kein wesentlicher Bestandteil des christlichen Glaubens. Sie wurde weder von den Christen der Urgemeinde akzeptiert noch findet sie sich in den ökumenischen Bekenntnissen. Der Grund liegt zum Teil darin, dass es Christen gab, ehe diese Bücher geschrieben wurden; und diese frühen Christen hatten keine Kenntnis von diesen Texten, sofern ihnen nicht die göttliche Offenbarung zuteil wurde, dass diese Bücher demnächst geschrieben werden und wirklich maßgeblich sein würden. Der Apostel Paulus z. B. war sicher ein gläubiger Christ, ehe er seine ersten Briefe schrieb; er war ein Mann des Glaubens und vertrat die wesentlichen Grundlehren des christlichen Glaubens. Dennoch hat er zweifellos nicht geglaubt, dass die Bibel – also die Bibel, wie sie heute in ihren protestantischen, katholischen oder orthodoxen Fassungen vorliegt – von Gott inspiriert ist. Die Überzeugung, dass Gott beispielsweise das Neue Testament in solcher Weise inspiriert hat, dass es eine Mitteilung von Gott an uns Menschen darstellt – diese Überzeugung ist ihrerseits kein wesentlicher Bestandteil des christlichen Glaubens. Daher liegt es strenggenommen außerhalb der Reichweite meines Vorhabens, die Frage zu behandeln, wie es kommt, dass diese Überzeugung bezüglich der Bibel gegebenenfalls für den Christen gewährleistet ist, denn bei meinem Projekt geht es um die Weise, in der der traditionelle christliche Glaube gewährleistet ist. Allerdings hat diese Überzeugung erheblichen Einfluss auf die christliche Praxis. Woche für Woche finden überall auf der Welt Millionen von Gottesdiensten statt, in deren Rahmen die Christen Bibelstellen hören und respondieren, dies sei das Wort des Herrn. Daher werde ich in diesem Kapitel zunächst einmal auf den erkenntnistheoretischen Aspekt der Überzeugung eingehen, die Bibel sei in spezieller Weise von Gott inspiriert, und zwar derart, dass sie selbst göttliche Rede ist. Es geht also um die Überzeugung, dass der Herr in seinem Buch und durch sein Buch in spezieller Weise zu uns spricht. Wie kommt der Christ nun zu dem Glauben, das
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Markus-Evangelium – bzw. die Apostelgeschichte oder das ganze Neue Testament – sei maßgeblich, da von Gott inspiriert? Was ist gegebenenfalls die Quelle der Gewähr für diese Überzeugung? Hier gibt es mehrere Möglichkeiten. Viele von uns werden auf dem Weg des Unterrichts und auf dem Zeugnisweg zum Glauben kommen. Vielleicht bin ich in dem Glauben erzogen worden, die Bibel sei tatsächlich das Wort Gottes (wie ich ja auch in der Meinung erzogen wurde, dass im Amerikanischen Bürgerkrieg Tausende ums Leben gekommen sind), und bin nie auf einen Grund zum Zweifel an diesem Glauben gestoßen. Ein wichtiges Merkmal der Gewähr liegt jedoch darin, dass die Überzeugung Ü, wenn ich sie auf dem bloßen Zeugnisweg akzeptiere, für mich nur dann gewährleistet ist, wenn sie auch für den Zeugen gewährleistet ist. Die Gewähr, die eine Überzeugung für den Zeugnisempfänger hat, leitet sich von der Gewähr her, die diese Überzeugung für den Zeugen hat.³ Daher stellt sich uns die Frage: Welches ist der erkenntnistheoretische Status dieser Überzeugung für diejenigen Angehörigen der Gemeinschaft, die sie nicht auf dem Zeugnisweg von anderen Angehörigen dieser Gemeinschaft übernehmen? Welches ist die Quelle der Gewähr, die diese Überzeugung gegebenenfalls für die christliche Gemeinde hat? Nun, vielleicht wird der Christ eine Überlegung der folgenden Art anstellen: Nehmen wir an, die Apostel hätten durch Jesus Christus den göttlichen Auftrag bekommen, Zeugen und Repräsentanten (Abgesandte) Jesu zu sein. Ferner sei angenommen, das Ergebnis ihrer Erfüllung des Auftrags sei ein unter der Anleitung des Heiligen Geistes zustande gekommenes Korpus apostolischer Lehrsätze, das die Lehren Jesu ebenso umfasst wie das, was ihnen von den Vorgängen um Jesus in der Erinnerung geblieben ist. Außerdem wollen wir annehmen, die Bücher des Neuen Testaments seien allesamt apostolische Schriften oder Formulierungen der apostolischen Lehrsätze, die von engen Gefährten des einen oder anderen Apostels verfasst wurden. Dann wäre es richtig, jedes dieser Bücher als Medium göttlicher Rede zu deuten. Eine überaus einleuchtende Interpretation des Vorgangs, durch den diese Bücher in einen einzigen kanonischen Text Eingang gefunden haben, würde darauf abheben, dass Gott diese Bücher durch den Prozess der Kanonisierung autorisiert hat, so dass sie insgesamt einen Band göttlicher Rede bilden.⁴
Das ist eine Überlegung, wie sie unser Christ anstellen könnte. Dann glaubt er: (1) Die Apostel erhielten durch Jesus Christus von Gott den Auftrag, Zeugen und Abgesandte zu sein. (2) Sie produzierten ein Korpus apostolischer Lehrsätze, das umfasst, was ihnen von Jesus beigebracht wurde.
Siehe WPF, S. 34– 35. Nicholas Wolterstorff, Divine Discourse: Philosophical Reflections on the Claim That God Speaks, Cambridge: Cambridge University Press 1995, S. 295.
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(3) Die Bücher des Neuen Testaments sind allesamt entweder apostolische Schriften oder Formulierungen apostolischer Lehrsätze, die von engen Gefährten des einen oder anderen Apostels verfasst wurden. Außerdem glaubt er: (4) Der Prozess, durch den diese Bücher in einen einzigen Kanon Eingang fanden, beruht darauf, dass Gott diese Bücher als Bestandteile eines einzigen Bandes göttlicher Rede autorisiert hat. So kommt er zu dem Schluss: (5) Das Neue Testament ist ein Band göttlicher Rede. Doch dann würde unsere Frage lauten: Woher weiß der Christ das? Warum glaubt er jeden der Sätze (1) bis (4)? Welches ist die Quelle dieser Überzeugungen? Könnte es vielleicht sein, dass normale historische Untersuchungen die Quelle sind? Das möchte ich bezweifeln. Wieder ist das Prinzip der abnehmenden Wahrscheinlichkeiten das Problem. Im 8. Kapitel (S. 319 ff.) haben wir gesehen, dass dieses Prinzip ein wirkliches Hindernis ist, das diejenigen blockiert, die glauben, Christen könnten auf dem Wege gewöhnlicher historischer Untersuchungen zur Erkenntnis der großen Dinge des Evangeliums kommen, indem sie etwa – auf diesem Wege – erfahren, dass die Bibel wirklich das Wort Gottes ist und dass Gott tatsächlich diese Dinge lehrt. Natürlich ist das Problem im jetzigen Fall nicht ganz so gravierend. Wir stellen uns ja vor, der Christ sei von den großen Dingen des Evangeliums bereits überzeugt. Seine Kenntnis dieser Dinge beruht nicht auf seinen Überzeugungen hinsichtlich der Autorität oder der göttlichen Inspiration der Bibel. Unserem Modell zufolge denkt er nicht wie folgt: Die Bibel ist das Wort Gottes; sie sagt, dass Gott in Christus die Welt mit sich versöhnt hat; also hat Gott in Christus die Welt mit sich versöhnt. Vielmehr ist es so, dass der Christ, nachdem er das Evangelium predigen gehört, die Bibel gelesen oder auf sonst eine Weise ihre Botschaft vernommen hat, dahin gelangt, diese Dinge nicht auf dem Wege des Schlussfolgerns, sondern durch das Wirken des Heiligen Geistes in seinem Herzen unmittelbar zu glauben. Nehmen wir also an, der Christ nimmt sich beispielsweise vor, ein historisches Argument für die göttliche Inspiration und die daraus folgende Autorität des Neuen Testaments anzuführen. Hier müssen wir davon ausgehen, dass er die Kernwahrheiten des Christentums bereits kennt. Er weiß also schon, dass es eine Person wie Gott gibt, dass der Mensch Jesus zugleich der Sohn Gottes ist und uns Sündern durch sein Wirken, sein Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung zum ewigen Leben verhilft. Diese Wahrheiten bilden einen Teil der Hintergrundinformationen und können im Rahmen der betreffenden historischen Argumentation zum Einsatz gebracht werden. Das Korpus der Hin-
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tergrundinformationen, mit Bezug auf welches unser Christ die Wahrscheinlichkeit der Sätze (1) bis (4) schätzt, umfasst daher die Grundzüge der christlichen Lehre. Natürlich weiß unser Christ auch, dass die – oder zumindest einige – Bücher des Neuen Testaments diese Dinge offenbar lehren oder voraussetzen. Sein epistemischer Zustand ist daher (1) bis (4) in sehr viel höherem Maße günstig, als es der Fall wäre, wenn er diese Dinge nicht bereits wüsste. Im Hinblick auf die Hintergrundinformationen H könnte man daher jeden der Sätze (1) bis (4) als zumindest plausibel und vielleicht als sogar wahrscheinlich wahr einschätzen. Dennoch ist jeder dieser Sätze nur wahrscheinlich. Mag sein, dass er sehr wahrscheinlich ist und im Hinblick auf das Korpus von Überzeugungen H immerhin eine so hohe Wahrscheinlichkeit wie 0,9 hat. Genauer gesagt, die Wahrscheinlichkeit von (1) bezogen auf H ist vielleicht immerhin 0,9, die Wahrscheinlichkeit von (2) bezogen auf (1) ∧ H immerhin 0,9, und das gleiche möge auch für P((3)/(H ∧ (1) ∧ (2)) und P((4)/(H ∧ (1) ∧ (2) ∧ (3))) gelten – s. o., S. 320 ff. Trotzdem können wir allenfalls schließen, dass die Wahrscheinlichkeit ihrer Konjunktion, bezogen auf H, zumindest ein wenig höher liegt als 0,5. In diesem Fall wäre es nicht angemessen zu glauben, dass das Neue Testament das Wort Gottes ist. Angemessen wäre es zu glauben, es sei ziemlich wahrscheinlich, dass das Neue Testament das Wort Gottes ist. (Die Wahrscheinlichkeit, dass 1 oder 2 beim nächsten Wurf dieses Würfels nicht nach oben zu liegen kommen, beträgt mehr als 0,5. Das reicht aber noch längst nicht aus, um zu glauben, dass 1 oder 2 nicht oben sein werden.⁵) Über diese Wahrscheinlichkeiten könnten wir uns streiten, denn es wäre zweifellos nicht unvernünftig zu glauben, sie lägen höher, als ich vorgeschlagen habe. Zweifellos – aber es wäre auch nicht unvernünftig, sie niedriger einzuschätzen als bei meinem Vorschlag. Das historische Argument für (1) bis (4) wird bestenfalls Wahrscheinlichkeiten liefern, und allenfalls eine nicht sehr ansehnliche Wahrscheinlichkeit für (5) selbst. Die dabei ins Spiel kom-
Wenn ich alles glaube, was im Hinblick auf meine Hintergrundinformationen oder mein Wissen ziemlich wahrscheinlich ist, werde ich zu guter Letzt Kontradiktionen glauben. Für jede Zahl n zwischen 1 und 6 gilt, dass n beim nächsten Wurf wahrscheinlich nicht nach oben zeigt. Aber natürlich ist es ebenfalls wahrscheinlich, dass n (für eine der genannten Zahlen) nach oben zeigen wird. Ich möchte keineswegs behaupten, dass historische Untersuchungen niemals genügend Belegmaterial zutage fördern können, um das Glauben (und nicht nur das Fürwahrscheinlichhalten) zur angemessenen Einstellung zu machen. Dass es einen Holocaust, einen Amerikanischen Bürgerkrieg, eine Französische Revolution, einen Krieg zwischen Athen und Sparta und eine Eroberung der jüdischen Gebiete durch Rom gegeben hat – das sind alles Dinge, die man nicht nur für wahrscheinlich halten, sondern glauben sollte. Aber für (1) bis (4) gilt nicht das gleiche. Wir haben beispielsweise nicht annähernd ebenso starke Belege für Behauptungen wie die, dass die Apostel von Gott beauftragt wurden, oder dass er die Bücher des Neuen Testaments als Bestandteile eines Bands göttlicher Rede autorisiert hat.
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menden Wahrscheinlichkeitsschätzungen werden überdies vage, wechselhaft und nicht wirklich wohlfundiert sein. Um für Christen gewährleistet zu sein, muss der epistemische Status der betreffenden Überzeugung etwas anderes sein als der Status einer Konklusion einer gewöhnlichen historischen Untersuchung. Die meisten christlichen Gemeinden lehren, dass die Gewähr, die dieser Überzeugung zukommt, ihr nicht bloß auf dem Weg einer normalen historischen Untersuchung zugesprochen wird. Das Niederländische Glaubensbekenntnis z. B. – eines der wichtigsten Glaubensbekenntnisse der reformierten Kirche – enthält eine Liste (die protestantische Liste) der kanonischen Bücher der Bibel und fährt dann folgendermaßen fort: Und wir glauben ohne allen Zweifel alles das, was in [diesen Büchern] enthalten ist, und zwar nicht sowohl, weil die Kirche sie als kanonisch annimmt und bestätigt, als weil der Heilige Geist unserm Bewußtsein bezeugt, daß sie von Gott stammen, und auch deshalb, weil sie selbst dies ihr Ansehen durch sich hinlänglich bezeugen und bestätigen.
In der englischen Fassung (»we believe all things contained in them not so much because the church receives them«) besteht eine mögliche Mehrdeutigkeit, weil das letzte »them« auf die in den Büchern enthaltenen Lehren oder auf die Bücher selbst bezogen werden könnte. Wäre ersteres der Fall, hätten wir ein weiteres Beispiel der bereits beschriebenen Tätigkeit des Heiligen Geistes vor uns, der uns erkennen lässt, dass es nicht so sehr darum geht, dass ein bestimmtes Buch von Gott herrührt, sondern darum, dass eine bestimmte Lehre – beispielsweise der Satz, dass sich Gott in Christus mit der Welt versöhnt – wahr ist. Wäre das letztere der Fall, würde uns der Gedanke nahegelegt, Sätze wie »Das Johannesevangelium rührt von Gott her« zu glauben. Ich für mein Teil halte es mindestens für ziemlich klar, dass in diesem Glaubensbekenntnis die zweite Alternative gemeint ist. Diesem Bekenntnis zufolge gibt es demnach zwei Quellen für die Überzeugung, dass beispielsweise das Johannesevangelium von Gott herrührt. Die erste ist das Zeugnis des in unserem Bewusstsein wirkenden Heiligen Geistes, der bestätigt, dass dieses Buch wirklich von Gott herrührt. Der Heilige Geist beschränkt sich nicht darauf, uns mit Bezug auf eine bestimmte Lehre des Buchs zu der Überzeugung zu bringen, dass sie von Gott kommt, sondern er drängt uns auch zu glauben, dass das Johannesevangelium selbst von Gott stammt. Die zweite Quelle besteht darin, dass das Buch »durch sich selbst bezeugt und bestätigt«, dass es von Gott stammt. Dahinter steht vielleicht die Überlegung, dass der Gläubige im Hinblick auf viele der spezifischen Lehrsätze des Buchs auf den Gedanken kommt, dass sie wirklich von Gott stammen. Das heißt, der Heilige Geist bringt den Betreffenden dazu, mit Bezug auf viele Lehrsätze des Buchs an die göttliche Herkunft
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zu glauben. Anschließend zieht der Gläubige (unter Zuhilfenahme weiterer Prämissen) den Schluss, das ganze Buch habe den gleichen Status.⁶ Das ist nur ein möglicher Weg, auf dem diese Überzeugung gewährleistet werden kann. Daneben gibt es weitere Möglichkeiten.Vielleicht weiß der Gläubige durch den IAHG, dass der Heilige Geist die christliche Kirche geführt und erhalten und dabei sichergestellt hat, dass ihre Lehrsätze mit Bezug auf wichtige Dinge tatsächlich wahr sind. Dann wäre der Glaube an die göttliche Herkunft zumindest im Hinblick auf jene Bücher der Bibel gewährleistet, die von allen oder fast allen traditionellen christlichen Gemeinschaften anerkannt werden. Oder vielleicht wiederholt der Gläubige unter Anleitung des Heiligen Geistes den Vorgang, durch den der Kanon beim ersten Mal zusammengestellt wurde, indem er auf die ursprünglichen Kriterien der apostolischen Autorschaft, die Vereinbarkeit mit der apostolischen Lehre usw. achtet und sich dabei auf das Zeugnis für die Aussagen stützt, denen zufolge diese oder jene Bücher von Aposteln verfasst wurden. Außerdem gibt es Kombinationen dieser Möglichkeiten. Alle diese (und noch weitere) Möglichkeiten sind mit dem erweiterten A/C-Modell zu vereinbaren. Zwischen ihnen braucht das Modell keine Entscheidung zu treffen. Wie immer diese Überzeugung im einzelnen gewährleistet werden mag – von seiten des traditionellen Christentums wird die Überzeugung akzeptiert, die Bibel sei das Wort Gottes und mit ihrer Hilfe wolle der Herr uns Wahrheiten lehren.⁷
II Traditionelle christliche Bibelauslegung Freilich fällt es nicht immer leicht anzugeben, was der Herr an einer gegebenen Stelle lehren möchte. Was er lehrt, ist zwar wahr, aber manchmal ist einfach nicht klar,was es mit dieser Lehre auf sich hat. Zum Teil liegt das Problem darin, dass die Bibel dermaßen unterschiedliche Materialien enthält. In dieser Hinsicht verhält sie sich nicht wie ein modernes Buch über theologische oder philosophische Themen. Sie ist kein Buch voller Aussagesätze und mit angemessenen Analysen,
Jonathan Edwards, The Religious Affections, New Haven: Yale University Press 1959, S. 303: »Wird eine derartige, bisher unbekannte und weit über den Blick des natürlichen Auges erhabene, aber dermaßen deutlich und hell erstrahlende Welt der wundervollen und glorreichen Wahrheit des Evangeliums mit solcher Klarheit sichtbar gemacht, so hat das eine starke und unerschütterliche Wirkung auf die Seele und überzeugt sie von der Göttlichkeit des Evangeliums.« Auf gar keinen Fall möchte ich den Gedanken nahelegen, die bibelbezogenen Absichten des Herrn erschöpften sich in der Lehre von Wahrheiten. Hinzu kommt, dass er Affekte auslösen und uns lehren möchte, wie man lobpreist, wie man betet, wie man die Tiefe der eigenen Sünde und die Herrlichkeit des Geschenks der Erlösung erkennt, und tausend weitere Dinge.
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logischer Ausgestaltung und allen sonstigen Schikanen, die man in der Wissenschaft kennen, lieben und fordern gelernt hat. Die Bibel enthält zwar durchaus nüchterne Behauptungen, aber außerdem gibt es Ermahnungen, Lobpreis, Poesie, Erzählungen, Gleichnisse, Lieder, Erbauungsschriften, historische Schriften, Genealogien, Klagelieder, Bekenntnisse, Prophezeiungen, apokalyptische Schriften und vieles andere. Einige dieser Schriften (wie z. B. die apokalyptischen Texte) stellen uns heutige Menschen vor echte Interpretationsprobleme. Was genau will der Herr uns im Buch Daniel oder in der Offenbarung des Johannes lehren? Diese Frage ist nicht ohne weiteres zu beantworten. Was sollen wir aus den Fluchpsalmen lernen? Auch hier fällt die Antwort nicht leicht. Auch wenn wir uns an direkte Behauptungssätze halten, gibt es tausend Interpretationsfragen. Im Matthäus-Evangelium 5, 17– 20, erklärt Jesus, nicht ein einziges Jota oder ein einziges Häkchen des Gesetzes solle vergehen, und »wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen«. Im Galaterbrief dagegen scheint Paulus zu sagen, der Gehorsam gegenüber dem Gesetz zähle nicht viel.Wie können wir diese beiden Aussagen in Einklang bringen? Wie verstehen wir Kolosser 1, 24: »Jetzt freue ich mich in den Leiden, die ich für euch ertrage. Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt«? Will Paulus damit andeuten, das Opfer Christi sei unvollständig, ungenügend und verlange zusätzliche Leiden, die Paulus oder wir übrigen erdulden müssen? Das dürfte unwahrscheinlich sein. Kann unser Leiden ein Typus der Leiden Christi sein und somit zu diesen im gleichen Verhältnis stehen, in dem ein Typus zu der durch ihn typisierten Realität steht? Oder sollen wir die Aussage wie folgt verstehen? Wir müssen zwischen zwei Arten von Leiden Christi unterscheiden: dem erlösenden, sühnenden und stellvertretenden Sühnopfer, dem nichts hinzugefügt und nichts genommen werden kann, einerseits, und einer davon verschiedenen, »für den Leib« einstehenden Art des Leidens andererseits, an der wir Menschen wirklich teilhaben können? Handelt es sich vielleicht um ein Leiden, das den Körper Christi aufbauen und stärken kann, indes unsere Antwort auf Christus vertieft werden kann, indem wir über sein Opfer für uns und die damit an den Tag gelegte, unglaublich selbstlose Liebe meditieren? Oder wie sonst ist der Text gemeint? Widersprechen Paulus und Jakobus einander, was das Verhältnis zwischen Glaube und Werken betrifft? Oder ist es, da Gott der Verfasser der Schrift ist, eher so, dass er uns einen inkonsistenten, selbstwidersprüchlichen Lehrsatz unterbreitet, den wir glauben sollen? Nein, sicher nicht, aber wie sollen wir die beiden Stellen im Verhältnis zueinander verstehen? Allgemeiner gesprochen: Wie sollen wir unter der Voraussetzung, dass Gott der Haupturheber der Schrift ist, die augenscheinlichen Spannungen deuten, welche die Bibel an den Tag legt? Johannes 1 scheint zu sagen, dass Christen nicht sündigen. Im Paulus-
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brief an die Römer heißt es, dass alle Menschen sündigen. Sollen wir daraus den Schluss ziehen, dass es keine Christen gibt? Darüber hinaus gibt es Schwierigkeiten hinsichtlich der Frage, wie die Gleichnisse Jesu aufzufassen sind. Im LukasEvangelium 18, 1– 13, etwa fragt man sich, ob Jesus andeuten möchte, dass Gott uns schon allein aufgrund unserer Beharrlichkeit anhören und zu guter Letzt vielleicht bloß deshalb antworten wird, weil er schließlich genug hat. Das klingt nicht angemessen, doch dann stellt sich die Frage, wie wir das Gleichnis deuten sollen. Einige dieser Fragen sind auch im Hinblick auf den kirchlichen Alltag wichtig: Wie sollen wir das Abendmahl deuten? Sollen Säuglinge getauft werden? Welches ist die richtige Autoritätsstruktur der Kirche? Diese Fragen sind zwar wichtig, doch was die Schrift darüber zu sagen hat, ist nicht sonderlich klar – was wiederum der Grund dafür ist, warum kluge und wohlmeinende Christen diesbezüglich verschiedener Meinung sind. Daneben gibt es weitere Fragen, bei denen die Auskunft der Bibel noch weniger deutlich ist, wie z. B.: Ist ein Bekehrungserlebnis nötig, um zur Erlösung zu gelangen? Wie wichtig ist die Glossolalie für ein richtiges christliches Leben? In welchem Maße sollte der Christ in der Welt leben und sich der Kultur seiner Zeit anpassen? (Wie kann man in der Welt sein, ohne von der Welt zu sein?) Welches sollte die Struktur des Gottesdienstes sein? Und darüber hinaus gibt es weitere Fragen, zu denen die Bibel noch weniger klare Auskunft gibt: Hat der Infralapsarianismus oder der Supralapsarianismus recht, oder liegen sie beide falsch? Ist Christus für alle gestorben, oder nur für die Auserwählten? Was ist eigentlich das Millennium, und wann wird es eintreten? Hier müssen wir innehalten und auf einen gravierenden Makel hinweisen, der die Christenheit verunziert. Wegen all dieser Fragen sind Christen einander an die Gurgel gegangen und haben extrem zerstörerische Schlachten gefochten. In manchen Fällen hat es sich natürlich um Schlachten im buchstäblichen Sinne des Wortes gehandelt, und der Anblick von Christen, die einander trotz ihrer Lehre vom Frieden und der Liebe und dem Hinhalten der anderen Wange an die Gurgel gehen, muss gewiss eine wichtige Ursache der neuzeitlichen und aufklärerischen Lossagung vom Christentum gewesen sein.⁸ Heutzutage fechten wir zwar keine
Das gleiche gilt vielleicht auch für die Lossagung, die in unserer Gegenwart zu verzeichnen ist. Auf die Frage nach einer Erklärung dafür, warum sich die »zeitgenössischen Theologen« nicht für die Themen interessieren, über die die zeitgenössischen Religionsphilosophen diskutieren, gibt der Theologe Gordon Kaufman folgende Antwort: Wie es heute scheint, tragen der christliche Glaube, christliche Formen der Deutung unserer Welt und unserer Stellung in dieser Welt, das starke christliche Gefühl der göttlichen Autorisierung und der daraus folgenden Überlegenheit über andere Religionen, der christliche Imperialismus, der christliche Rassismus und Sexismus sowie weitere Kennzeichen der
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buchstäblichen Schlachten mehr aus,⁹ aber dennoch verwenden ernsthafte Christen extrem viel Zeit und Kraft auf Streitigkeiten über derlei Themen. Ist es denn nicht offensichtlich, dass der Pfad der Weisheit für den Christen darin besteht, unsere Kampfbereitschaft in diesen Dingen einerseits auf das Maß abzustimmen, in dem klar ist, dass der Glaube an die betreffende Sache uns wirklich von Gott auferlegt wurde, und andererseits auf die Wichtigkeit dieser Sache für das christliche Leben? In diesem Bereich haben die Christen eine Menge auf dem Kerbholz, und die Abrechnung wird nicht erfreulich ausfallen. Die Schrift ist also ein inspirierter Text. Was sie lehrt, ist wahr, aber es fällt nicht immer leicht anzugeben, was sie eigentlich lehrt. Jeden Sonntag werden viele Predigten gehalten und Kanzelworte gesprochen, die zum Teil der Aufgabe gewidmet sind, Bibelstellen zu verdeutlichen, die sonst unklar bleiben könnten. Angesichts des Umstands, dass die Bibel eine Mitteilung Gottes an die Menschheit – eine göttliche Offenbarung – darstellt, enthält sie vieles,was tiefschürfender und scharfsinniger Überlegung bedarf – vieles, was unsere besten wissenschaftlichen und spirituellen Ressourcen aufs äußerste in Anspruch nimmt. Diese Tatsache ist Augustinus, Thomas, Calvin und den anderen oben genannten Autoren nicht entgangen. Ihre Schriften summieren sich zu einer beeindruckend großen Zahl von Bänden, die dem eindringlichen Nachdenken über den Sinn und den Lehrgehalt der Schrift gewidmet sind. (Allein die Kommentare Calvins be-
christlichen Religion und der »christlichen Zivilisation« ein erhebliches Maß an Verantwortung für die eben genannten Missstände. […] zwei schreckliche Weltkriege, der NaziHolocaust und andere Fälle von Völkermord, die Umweltkrise, der Einsatz von Atombomben im Zweiten Weltkrieg sowie die fortwährend bestehende Möglichkeit der nuklearen Auslöschung der Menschheit […]. Die christlichen Theologen fühlen sich daher in einer historisch beispiellosen Weise dazu gedrängt, eine Reihe heikler Fragen zu stellen, die den christlichen Glauben betreffen sowie die Praktiken und Institutionen des Christentums. Das sind Fragen, die uns zu einer genauen Überprüfung gerade derjenigen Symbole und Ideen zwingen, die diesen Glauben in der Tradition geprägt haben. (»Evidentialism: A Theologian’s Response«, in: Faith and Philosophy, Januar 1989, S. 41– 42.) Im wesentlichen läuft der Standpunkt, den Kaufman hier vertritt, vermutlich darauf hinaus, dass die zeitgenössische Religionsphilosophie immer noch (oder von neuem) das traditionelle Christentum ernst nimmt mitsamt seinem Glauben an Gott, die Fleischwerdung, das Sühnopfer usw., während die zeitgenössischen Theologen, da sie sich mit den von Kaufman genannten Faktoren befassen, alle diese Dinge hinter sich gelassen haben. Siehe oben, 2. Kapitel. (Natürlich spricht Kaufman, wie er selbst einräumt, nur für einige zeitgenössische Theologen.) Allerdings werde ich nicht so leicht den Anblick eines protestantischen Predigers vergessen, der seinerzeit in Belfast seine Hängebacken schüttelte, brüllend die »gottverfluchte Blasphemie der götzendienerischen Hure von Rom« anprangerte und sich allgemein so gerierte, als täte er nichts lieber, als die Brust eines unglückseligen Katholiken mit seinem Schwert zu durchbohren.
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laufen sich auf etwa 22 Bände.) Das Ziel dieser Bücher ist es, die vom Herrn gemeinte biblische Lehre möglichst genau zu bestimmen. Dieses Unterfangen wollen wir als »traditionelle Bibelauslegung« bezeichnen und gleich festhalten, dass es zumindest die folgenden drei Merkmale an den Tag legt: Erstens, die Schrift selbst wird als ganz und gar maßgebliche und zuverlässige Richtschnur in Dingen des Glaubens und der Moral genommen. Sie ist maßgeblich und zuverlässig, da sie von Gott offenbart wurde: Hier spricht Gott zu uns. Daher gilt: Sobald klar ist, was in einem bestimmten Teil der Bibel gelehrt wird, ist die Frage der Wahrheit und der Akzeptierbarkeit dieses Lehrsatzes entschieden. In einem Kommentar zu Platon kann es vorkommen, dass man feststellt, was Platon wirklich sagen wollte, sei XYZ. Anschließend fährt man vielleicht fort, um sich Gedanken über XYZ zu machen und zu diversen Urteilen zu gelangen, wobei man sich fragt, ob XYZ wahr, beinahe wahr oder grundsätzlich wahr ist oder ob es von Einsichten überholt wurde, zu denen wir erst nach Platon gelangt sind, usw. Außerdem wirft man vielleicht die Frage auf, ob die Gründe oder Argumente Platons für XYZ dürftig, akzeptabel, gehaltvoll oder zwingend sind. Derartige Fragen sind fehl am Platz, wenn es um die hier betrachtete Art von Bibelkunde geht. Sobald wir überzeugt sind, dass Gott uns XYZ zu glauben unterbreitet, fahren wir nicht fort und fragen, ob das auch wahr sei oder ob Gott gute Gründe dafür genannt hat. Gott obliegt es nicht, sein Wort zu begründen. Zweitens, eine Voraussetzung des Unterfangens besagt, dass Gott selbst (nach Calvin: Gott der Heilige Geist) der Hauptverfasser der Bibel – und zwar der ganzen Bibel – ist. Natürlich hat jedes Buch der Bibel außerdem einen menschlichen Verfasser. Dennoch ist Gott der Haupturheber. Das nötigt uns dazu, das Ganze nicht so sehr als Sammelsurium alter Bücher, sondern eher als einheitliche Mitteilung zu behandeln. Die Bibel ist weniger eine aus unabhängigen Büchern zusammengesetzte Bibliothek als selbst ein Buch mit vielen Teiltexten, aber einem Hauptthema, nämlich der Botschaft des Evangeliums. Aufgrund dieser Einheit ist es – dank der Tatsache, dass es nur einen Haupturheber gibt – möglich, die »Schrift mit Hilfe der Schrift zu interpretieren«. Gibt uns eine bestimmte Stelle aus den Paulusbriefen Rätsel auf, ist es völlig angebracht, Klarheit über die von Gott an dieser Stelle gemeinte Lehre herzustellen zu versuchen, indem man nicht nur heranzieht, was Paulus selbst in anderen Briefen sagt, sondern auch Äußerungen aus anderen Büchern der Bibel, wie z. B. aus dem Johannes-Evangelium.¹⁰ Stellen
Siehe beispielsweise Richard Swinburne, Revelation, Oxford: Clarendon Press 1992, S. 192. Swinburne schlägt vor, die paulinische Christologie in Römer 1, 4 im Sinne der im ersten Kapitel des Johannes-Evangeliums entfalteten Christologie »von oben« aufzufassen. Das gleiche könnte man auch im Hinblick auf die Christologie sagen, die Paulus in seiner Ansprache aus der Apostelgeschichte 13 entwickelt, wo er anzudeuten scheint, dass Jesus ein besonderer Status
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aus den Psalmen oder aus Jesaja können interpretiert werden, indem man sich auf die ausführlicheren, expliziteren Auskünfte des Neuen Testaments beruft. Die Schlange oben auf dem Pfahl, die die Israeliten vor der Katastrophe bewahren soll, kann als Typus Christi gesehen werden, so dass sie einen Teil ihrer Bedeutung durch implizite Bezugnahme auf Christus erhält, dessen Kreuzigung eine noch schlimmere, dem ganzen Menschengeschlecht drohende Katastrophe abgewehrt hat. Eine weitere Konsequenz besteht darin, dass es durchaus richtig sein kann, Aussagen zu akzeptieren, die aus Prämissen, welche verschiedenen Teilen der Bibel entnommen sind, erschlossen werden: Sobald wir erkennen, was Gott an einer bestimmten Stelle A und was er an einer gegebenen Stelle B zu lehren beabsichtigt, können wir die beiden zusammenfügen und Folgerungen aus diesen Sätzen ihrerseits als göttliche Lehre behandeln.¹¹ Der dritte Punkt hängt mit dem zweiten zusammen und besagt folgendes: Dass Gott selbst der Haupturheber der Bibel ist, bedeutet, dass man den Sinn einer gegebenen Stelle nicht immer dadurch bestimmen kann, dass man herausfindet, was dem menschlichen Autor dabei vorgeschwebt hat. Freilich gibt es postmoderne Hermeneutiker, die uns amüsieren wollen, indem sie behaupten, die Intentionen des Verfassers hätten in diesem Fall – ebenso wie in allen anderen Fällen – gar nichts mit dem Sinn der Stelle zu tun: Der Leser selbst verleihe der Stelle den Sinn, den sie haben mag. Vielleicht sei schon der bloße Gedanke, ein Text könne einen bestimmten Sinn haben, dazu angetan, unter die Kategorie der »hermeneutischen Unschuld« zu fallen. Dem wird der postmoderne Hermeneutiker vielleicht mit unbekümmertem Draufgängertum hinzufügen, diese Unschuld sei unabänderlich kontaminiert durch ihre unvermeidliche Verbindung mit homophoben, sexistischen, rassistischen, repressiven und sonstigen inakzeptablen Denkweisen. Das ist nun wirklich amüsant. Kehren wir jedoch zu unserem ernsthaften Geschäft zurück: Hier liegt es unter der Voraussetzung, dass Gott der Haupturheber der Bibel ist, auf der Hand, dass der Sinn einer Bibelstelle durch das gegeben ist, was der Herr an dieser Stelle zu lehren beabsichtigt; und ebendas ist es, was die Bibelauslegung zu ermitteln versucht. Dabei können wir aber nicht einfach von der Annahme ausgehen, das, was der Herr zu lehren beabsichtige, sei
verliehen wurde, wogegen es in Johannes 1 heißt, Jesus sei das Fleisch gewordene, präexistierende Wort. Siehe auch Raymond Brown, New Testament Christology, New York: Paulist Press 1994, S. 133 ff. Natürlich kann dieses Verfahren – ebenso wie die meisten anderen – missbraucht werden und ist tatsächlich missbraucht worden. Die Möglichkeit des Missbrauchs als solche spricht jedoch nicht gegen das Verfahren selbst, aber der Hinweis darauf sollte als heilsame Warnung dienen.
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mit dem identisch, was der menschliche Autor im Sinn hatte.¹² Es kann durchaus sein, dass der eigentliche Lehrgehalt der betreffenden Stelle dem menschlichen Autor nicht einmal durch den Kopf gegangen ist. In diesem Sinn werden z. B. die Stellen bei Jesaja, die vom leidenden Diener handeln, von christlicher Seite auf Jesus bezogen. Jesus selbst sagt (Lukas 4, 18 – 21), das in Jesaja 61, 1– 2, gesprochene Schriftwort werde von ihm erfüllt werden. Johannes wiederum (19, 28 – 37) fasst bestimmte Stellen aus dem 2. und dem 4. Buch Mose, aus den Psalmen und aus Sacharja so auf, als bezögen sie sich auf Jesus und die Ereignisse seines Lebens und Sterbens. Matthäus (21, 5) und Johannes (12, 15) gehen davon aus, dass Sacharja 9, 9 auf den triumphalen Einzug in Jerusalem verweist. Im Hebräerbrief (10) werden Stellen aus den Psalmen, aus Jeremia und Habakuk als Hinweise auf Christus und Ereignisse seines Lebens gedeutet, und ebenso verfährt Paulus in seiner Ansprache (Apostelgeschichte 13) mit Stellen aus den Psalmen und Jesaja. Ja, auf praktisch jeder Seite des Römerbriefs und der beiden Korintherbriefe sowie an vielen Stellen der übrigen Briefe bezieht sich Paulus aufs Alte Testament. Es besteht aber kein Grund zur Annahme, den menschlichen Verfassern des 2. und des 4. Buchs Mose, der Psalmen, der Bücher Jesaja, Jeremia und Habakuk habe der triumphale Einzug Jesu, seine Fleischwerdung oder irgendein anderes Ereignis des Lebens und Sterbens Jesu vorgeschwebt – oder überhaupt irgend etwas, was explizit mit Jesus zusammenhängt. Das ändert aber nichts daran, dass Gott als Haupturheber es an diesen Stellen ermöglicht, dass das,was wir dem betreffenden Text entnehmen sollen, etwas ganz anderes ist als das, was der menschliche Autor lehren wollte.
III Historisch-kritische Bibelforschung Seit mindestens zweihundert Jahren gibt es außerdem eine ganz andere Form der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Bibel, nämlich die historisch-kritische Bibelforschung (HKB). Es gibt viele Gründe, der HKB dankbar zu sein. Sie hat es uns ermöglicht, sehr viele Dinge über die Bibel in Erfahrung zu bringen, die uns sonst womöglich für immer verborgen geblieben wären. Außerdem hat sie einige Methoden (Formgeschichte, Quellenkritik usw.) entwickelt, die auch im Rahmen der traditionellen Bibelauslegung mit großem Nutzen eingesetzt werden können
Um eine weitere Komplikation zu nennen: Wir können nicht einfach davon ausgehen, dass es eine bestimmte und für alle Menschen gleiche Sache gibt, die der Herr an einer bestimmten Stelle zu lehren beabsichtigt.Vielleicht ist das,was er mir oder meiner relevanten soziologischen Gruppe beibringen möchte, nicht das gleiche wie das, was er einen Christen des fünften Jahrhunderts lehren wollte.
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und tatsächlich eingesetzt werden. Allerdings unterscheidet sie sich in wichtiger Hinsicht von der traditionellen Bibelauslegung. Die HKB ist im Grunde ein Projekt der Aufklärung. Es geht darum, die biblischen Bücher von einem ausschließlich der Vernunft verpflichteten Standpunkt aus zu betrachten und zu verstehen. Das heißt, es geht darum, von einem ausschließlich vernunftbezogenen Standpunkt aus zu bestimmen, was die Bibel lehrt und ob ihre Lehrsätze wahr sind. Die HKB entzieht sich somit der Autorität und Führung durch Tradition, kirchliches Lehramt, Glaubensbekenntnis oder irgendeine andere epistemische Autorität der Kirche oder sonst einer »externen« Instanz. Der Grundgedanke ist der, dass man erkennen möchte, was sich unter alleiniger Berufung auf das Licht der sogenannten »natürlichen, empirischen Vernunft« nachweisen oder zumindest plausibel machen lässt. Die Fähigkeiten oder Quellen der Überzeugung, die man in Anspruch nimmt, wären daher die gleichen, die auch in der gewöhnlichen historischen Forschung zum Einsatz kommen: Wahrnehmung, Zeugnis, Vernunft im Sinne der apriorischen Anschauung plus deduktives und probabilistisches Denken, Mitgefühl à la Reid (mit dessen Hilfe wir die Gedanken und Gefühle anderer Personen erkennen) usw., während jede Proposition, zu deren Kenntnis man durch den Glauben oder auf dem Wege der kirchlichen Autorität gelangt, ausgeklammert wird. Das Grundprinzip dieses Unterfangens hat schon Spinoza (1632– 1677) formuliert: »[…] so kann es auch für die Auslegung keine andere Norm geben als das allen gemeinsame natürliche Licht, also weder eine übernatürliche Erleuchtung noch eine äußere Autorität.«¹³ Nicht ausgeschlossen ist damit natürlich ein rationales (ausschließlich der Vernunft verpflichtetes) Argument für die Behauptung, es habe tatsächlich eine göttliche Offenbarung gegeben, und die Bibel (bzw. ein Teil der Bibel) sei ebendiese Offenbarung. Genau darauf läuft ja das Projekt von Locke hinaus (s. o., S. 91 ff.). Ebensowenig ausgeschlossen ist damit ein direkt – unabhängig von jedem Offenbarungsanspruch verfahrendes – Argument für die Kernthesen des Christentums. Ja, viele Kritiker des christlichen Glaubens scheinen davon auszugehen, dass der christliche Glaube, um rational akzeptabel zu sein, auf der Basis eines Arguments genau dieser Art vertreten werden müsste. Der christliche Glaube müsste eine (im Sinne der Kritiker aufgefasste) naturwissenschaftliche Erklärung oder etwas Ähnliches sein: Jede rationale Rechtfertigung oder Gewähr, die dem Glauben zukäme, müsste dadurch zustande kommen, dass er sich als stichhaltige Erklärung der beobachteten Phänomene bewährt.¹⁴ Wenn man bei diesem Standpunkt ansetzt, muss der
Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, übers. von Carl Gebhardt, hg. von Günther Gawlick, Hamburg: Meiner 1976, S. 137. Siehe beispielsweise John Mackie, The Miracle of Theism, Oxford: Oxford University Press 1982, S. 186 ff.; Daniel Dennett, Darwin’s Dangerous Idea, New York: Simon and Schuster 1995, S. 152 ff. Siehe außerdem meine Artikel »Is Theism Really a Miracle?«, in: Faith and Philosophy (1986), und »Dennett’s Dangerous Idea: Darwin, Mind and Meaning«, in: Books and Culture (Mai/Juni 1996). Vgl. oben, S. 387 ff.
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Christ vermutlich dem folgenden Muster entsprechend denken: »Welches ist die beste Erklärung all dieser geordneten Komplexität der natürlichen Welt und der charakteristischen Merkmale des menschlichen Lebens sowie aller übrigen Phänomene, die wir in unserer Umgebung wahrnehmen? Nun, wie wäre es mit einem allwissenden, allmächtigen, allgütigen Schöpfer der Welt? Ja, das klingt gut. Vielleicht ist dieses Wesen eine Person eines Dreigespanns, das im Übrigen den Sohn Gottes umfaßt sowie eine dritte Person, die aus den ersten beiden (oder womöglich allein aus der ersten) hervorgeht. Trotzdem gibt es keine drei Götter, sondern nur einen Gott. Die zweite Person wurde Fleisch, litt, wurde gekreuzigt und starb, womit sie für unsere Sünden büßte und es uns ermöglichte, das Leben zu haben und es in Fülle zu haben [Joh. 10, 10]. Genau, so muss es gewesen sein. Das ist eine prächtige Erklärung der gegebenen Fakten.« Die Kritiker werden dann selbstverständlich zu dem Schluss kommen, dass der christliche Glaube eine Menge zu wünschen übrig lässt.
Dieses Projekt bzw. Unterfangen gilt häufig als wesentlicher Bestandteil der Entwicklung der modernen Erfahrungswissenschaft; und tatsächlich hüllen sich die Vertreter der HKB gern in den Mantel der modernen Wissenschaft. Das ist nicht bloß deshalb attraktiv, weil die HKB vielleicht vom Prestige der modernen Naturwissenschaft zehren kann, sondern auch deshalb, weil sie von der offensichtlichen epistemischen Kraft und Vortrefflichkeit dieser Wissenschaft profitieren kann.¹⁵ Einer verbreiteten Auffassung zufolge ist die Naturwissenschaft selbst unsere beste Chance, um zu erkennen, wie die Welt wirklich beschaffen ist. Die HKB ist unter anderem ein Versuch, diese weithin gebilligten Methoden auf das Studium der Schrift und der Entstehung des Christentums anzuwenden. Raymond Brown, der zu den am höchsten geschätzten Bibelforschern gehört, ist dementsprechend der Überzeugung, die HKB sei »wissenschaftliche Bibelkritik«.¹⁶ Ihre Resultate seien »faktische Gegebenheiten« (S. 9), und Brown möchte es erreichen, dass seine Beiträge »wissenschaftliches Ansehen« genießen (S. 11). Wer sich der Methode der HKB bedient, untersuche die Texte der Schrift mit »wissenschaftlicher Exaktheit« (S. 18 – 19).¹⁷
Um den historisch-kritischen Ansatz und seine Vorherrschaft zu verstehen, muss man sich, wie David Yeago sagt, einen Begriff machen von der »historischen Verbindung der historischkritischen Methode mit dem ›Projekt der Aufklärung‹, das darauf abzielte, den Geist und das Herz von den Fesseln der kirchlichen Tradition zu befreien. Im neuzeitlichen Kontext müssen Ansprüche auf ›Aufklärung‹ mit Hilfe der These abgesichert werden, man habe die richtige Methode gefunden, um wirkliche Erkenntnis zu gewinnen, die an die Stelle der vorkritischen Konfusion und der Willkür der Tradition treten kann« (»The New Testament and the Nicene Dogma«, in: Pro Ecclesia 3/2, Frühjahr 1994, S. 162). Brown, The Virginal Conception and Bodily Resurrection of Jesus, New York: Paulist Press 1973, S. 6. Siehe auch John Meier, A Marginal Jew: Rethinking the Historical Jesus, New York: Doubleday 1991, Band 1, S. 1.
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Was heißt es nun genau: die Bibel wissenschaftlich zu erforschen? Das ist gar nicht so klar; und wie wir weiter unten sehen werden, gibt es mehr als nur eine Antwort auf diese Frage. Ein Gedanke, dem jedoch offenbar fast universelle Zustimmung zuteil wird, besagt, dass man bei der Arbeit an diesem wissenschaftlichen Projekt (wie immer es im einzelnen aufzufassen ist) keine theologischen Annahmen oder Voraussetzungen heranzieht oder zum Einsatz bringt. So geht man beispielsweise nicht von der Annahme aus, die Bibel sei in spezieller Weise von Gott inspiriert oder enthalte so etwas wie spezifisch göttliche Rede. Man setzt nicht voraus, dass Jesus der Sohn Gottes ist, dass er von den Toten auferstand, dass sein Leiden und sein Tod in irgendeiner Weise als Sühnopfer zur Buße für die menschliche Sünde dienen und es uns ermöglichen, das richtige Verhältnis zu Gott herzustellen. Man setzt nichts von alledem voraus, weil man, wenn man wissenschaftlich arbeitet, keine Aussage, die man durch den Glauben erkannt hat, voraussetzt oder verwendet.¹⁸ (Infolgedessen wird der Sinn eines Texts dem entsprechen, was der menschliche Verfasser behaupten wollte, sofern es sich um assertorische Äußerungen handelt. Göttliche Absichten und Lehrsätze haben nichts mit dem Sinn zu tun.¹⁹) Dahinter steht, wie E. P. Sanders schreibt, der
Ebensowenig kann man eine Aussage verwenden, die derart ist, dass die Gewähr, die ihr aus Sicht des Betreffenden zukommt, von einer Aussage herrührt, die man vermittels des Glaubens erkannt hat oder glaubt. Das ließe sich so formulieren, dass man sagt: Im Rahmen der wissenschaftlichen Tätigkeit kann man keine Aussage benutzen, deren epistemische Herkunft für den Betreffenden eine Aussage einschließt, die man vermittels des Glaubens erkannt hat oder glaubt. Aber stimmt das wirklich? Warum soll man das glauben? Welchen Status hat die Behauptung, im Rahmen der wissenschaftlichen Tätigkeit könne man keine Aussage benutzen, die man vermittels des Glaubens erkannt hat oder glaubt? Soll diese Behauptung per definitionem wahr sein? Wenn ja, fragt es sich, wer die Definition aufgestellt hat. Gibt es ein brauchbares Argument dafür? Oder sonst etwas? Siehe meinen Artikel »Methodological Naturalism?«, in: J. van der Meer (Hg.), Facets of Faith and Science, Lanham, MD: University Press of America 1995. So schreibt Benjamin Jowett, ein berühmter, im neunzehnten Jahrhundert wirkender Platonübersetzer und Master des Balliol College, Oxford: »Die Heilige Schrift hat einen Sinn, nämlich den Sinn, der dem Propheten oder Evangelisten vorschwebte, der als erster den Text äußerte oder niederschrieb, und den die Hörer oder Leser erfassten, die als erste davon erfuhren« (»On the Interpretation of Scripture«, in: Jowett, The Interpretation of Scripture and Other Essays, London: George Routledge 1906, S. 36, zit. in: Jon D. Levenson, The Hebrew Bible, the Old Testament, and Historical Criticism, Louisville, KY: Westminster/John Knox Press 1993, S. 78. Jowett war kein Ausbund an intellektueller Bescheidenheit, was wiederum das folgende Gedicht erklären könnte, das seinerzeit von Balliol-Studenten verfasst und in Umlauf gebracht wurde: First come I, My name is Jowett. There’s no knowledge but I know it. I am the master of the college. What I don’t know isn’t knowledge.
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Gedanke, dass man sich auf »Belege, über die sich alle einig sein können«, verlässt.²⁰ Jon Levenson meint: Historisch-kritische Bibelforscher pochen daher zu Recht darauf, dass das Tribunal, vor dem über verschiedene Interpretation gestritten wird, nicht konfessionsgebunden oder »dogmatisch« sein kann. Die Argumente, die vorgebracht werden, müssen historisch gültig sein, d. h., sie müssen Historiker zur Zustimmung bewegen können – einerlei, welcher Religion sie angehören, ob sie irreligiös sind, welches ihre Herkunft ist, welches ihre spirituellen Erfahrungen oder persönlichen Überzeugungen sind –, und zwar ohne irgendeinen Anspruch auf Offenbarung zu privilegieren.²¹
Barnabas Lindars schreibt zur Erläuterung: Es gibt eigentlich zwei Gründe, weshalb viele Wissenschaftler größte Vorsicht walten lassen, sobald es um Berichte über Wunder geht. […] Der zweite Grund ist historischer Art. Die religiöse Literatur der Antike ist voller Wundergeschichten, und man kann sie nicht alle für wahr halten. Nun steht es dem Wissenschaftler aber nicht frei zu beschließen, bloß weil er gläubiger Christ sei, werde er die Wunder der Evangelien für bare Münze nehmen, während er die der Isis zugeschriebenen Wunder verwirft. Alle derartigen Berichte müssen mit der gleichen Distanziertheit geprüft werden.²²
Und sogar Luke Timothy Johnson, der im allgemeinen eine scharfsinnig-kritische Haltung gegenüber der HKB einnimmt, schreibt: Es ist offensichtlich wichtig, den Ursprung des Christentums historisch zu erforschen. Und bei einer solchen historischen Untersuchung sollten konfessionelle Bindungen keine Rolle spielen. Aus der Sicht des Historikers gebührt dem Christentum kein höheres Privileg als irgendeinem anderen menschlichen Phänomen.²³
(Als erster komme ich, mein Name ist Jowett. / Es gibt kein Wissen, von dem ich nicht wüsste. / In diesem College bin ich der Chef. / Was ich nicht weiß, ist kein Wissen.) Sanders, Jesus and Judaism, Philadelphia: Fortress Press 1985, S. 5. Levenson, »The Hebrew Bible, the Old Testament, and Historical Criticism«, in: Levenson, The Hebrew Bible, the Old Testament, and Historical Criticism, S. 109. (Eine frühere Fassung dieses Artikels findet sich unter demselben Titel in: John Collins u. Roger Brooks (Hg.), Hebrew Bible or Old Testament? Studying the Bible in Judaism and Christianity, Notre Dame: University of Notre Dame Press 1990.) Theology 89/728 (März 1986), S. 91. Johnson, The Real Jesus, San Francisco: Harper San Francisco 1996, S. 172. (Ein großer Teil der Kritik Johnsons richtet sich gegen das berüchtigte »Jesus-Seminar«.) An der zitierten Stelle spricht Johnson speziell von historischer Forschung. Nach seiner Auffassung ist es für den Historiker nicht angemessen, Erkenntnisse einzusetzen, die ihm durch den Glauben zuteil geworden sind. In einer privaten Mitteilung lässt er mich wissen, dass die Geschichtswissenschaft ihrem Wesen nach in der genannten Weise eingeschränkt ist. Für die eigentliche Bibelforschung dagegen gelte das nicht.
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In der Praxis bedeutet diese Akzentuierung, dass sich die HKB tendenziell insbesondere mit Fragen der Abfassung und Autorschaft beschäftigt, da dies die Fragen sind, die sich mit Hilfe der angewandten Methoden am ehesten angehen lassen. Wann wurde das fragliche Dokument geschrieben? Oder um, da wir hier kein einheitliches Einzeldokument unterstellen können, genauer zu fragen: Wann wurden seine verschiedenen Teile verfasst? Wie wurde beispielsweise das LukasEvangelium verfasst? Wurde es von einer Person geschrieben, die sich auf ihre Erinnerung an Jesus und seine Worte und Taten verließ, oder wurde es aus verschiedenen Berichten, angeblichen Zitaten, Liedern, Gedichten und sonstigem mündlich überliefertem Material zusammengestellt? Stützt es sich auf eine oder mehrere frühere, sei’s schriftliche oder mündliche Quellen? Warum hat der Herausgeber oder Redakteur das Buch in dieser faktisch gewählten Weise zusammengestellt? Während die traditionelle Bibelauslegung von der Annahme ausgeht, dass die ganze Bibel eigentlich ein Buch von einem einzigen Haupturheber ist, hat die HKB die Tendenz, uns eine Sammlung von Büchern vieler Autoren zu präsentieren. Und sogar im Rahmen eines einzigen Buchs erhalten wir vielleicht nicht mehr als eine Sammlung diskontinuierlicher Sprüche und Episoden (Perikopen), die von einem oder mehreren Redakteuren zusammengeschustert wurden. Wie groß ist der Anteil der wirklich auf Jesus zurückgehenden Äußerungen und Reden, die Jesus in den Berichten zugeschrieben werden? Können wir in einem bestimmten Buch verschiedene Schichten auseinanderhalten – vielleicht eine unterste Schicht, zu der auch die wirklichen Aussprüche Jesu gehören, und darauf aufruhend mehrere sukzessive, einander überlagernde Schichten? Robert Alter spricht im Hinblick auf Forschungen dieser Art von einer Art »Ausgrabungstechnik«. Der Grundgedanke ist der, dass man hinter dem Dokument in der uns faktisch überlieferten Form weitergräbt, um zu sehen, was sich über seine Geschichte ermitteln lässt.²⁴ Freilich geht es außerdem darum, nach Möglichkeit herauszubekommen, ob sich die Ereignisse, über die – beispielsweise in den Evangelien – berichtet wird, tatsächlich so zugetragen haben, und ob das Bild, das dort von Jesus gezeichnet wird, zutrifft. Hat er wirklich gesagt, was er gesagt haben soll? Hat er wirklich
Folglich ist ein Projekt, bei dem die glaubensbedingten Erkenntnisse ausgeklammert werden, der glaubensgesättigten Bibelforschung in epistemischer Hinsicht nicht überlegen, sondern sie ist ihr in Wirklichkeit unterlegen. Johnsons Auffassung ähnelt also der weiter unten (S. 473 ff.) skizzierten Auffassung. Damit möchte ich nicht suggerieren, dass jemand, der im Sinne der traditionellen Bibelauslegung forscht, diese Fragen nicht ebenfalls untersuchen kann. Wenn er es jedoch tut, wird er es letztlich im Dienste eines Unterfangens tun, das zu erkennen bemüht ist, was der Herr an den fraglichen Stellen wirklich lehrt.
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getan, was er getan haben soll? Hier wird von der Annahme ausgegangen, dass wir die Evangelien in der jetzt vorliegenden Gestalt nicht einfach für bare Münze nehmen können. Vielleicht sind alle möglichen Zusätze eingeschoben, Textteile ausgelassen und Modifikationen vorgenommen wurden, um auf diese Weise bestimmten theologischen Interessen zu dienen. Hinzu kommt, dass die Bücher des Neuen Testaments vom Standpunkt des Glaubens geschrieben wurden, nämlich vom Standpunkt des Glaubens, dass Jesus wirklich Christus war, dass er wirklich litt, starb und von den Toten auferstand und unsere Erlösung erwirkte. Geht man jedoch vom Standpunkt der bloßen Vernunft aus, muss dieser Glaube ausgeklammert werden. Also ist hier – von diesem Standpunkt aus gesehen – die Hermeneutik des Verdachts angemessen. (Dieser Verdacht wird manchmal so weit getrieben, dass man sich an die Situation erinnert fühlt, in der die Feststellung von Seiten der CIA, Mr. X sei kein Spion, als überzeugendes Indiz dafür aufgefasst wird, dass Mr. X tatsächlich ein Spion ist.)
A Spielarten der historisch-kritischen Bibelforschung Die Vertreter der HKB wollen daher bei ihrem Vorgehen ohne theologische Voraussetzungen oder irgendwelche glaubensbedingten Erkenntnisse auskommen (sofern es überhaupt etwas gibt, was durch den Glauben erkannt wird). Dergleichen soll ausgeklammert werden. Statt dessen verfährt man wissenschaftlich, auf der alleinigen Grundlage der Vernunft. Darüber hinaus jedoch besteht sehr viel weniger Einigkeit. Was soll als Vernunft gelten? Genau welche Prämissen können bei einem Argument, das sich nur auf die Vernunft stützt, zum Einsatz kommen? Was heißt es eigentlich genau, wissenschaftlich vorzugehen? Hier stoßen wir nach meinem Dafürhalten auf mindestens drei verschiedene Positionen.
1 Historisch-kritische Bibelforschung à la Troeltsch Viele moderne Vertreter der kritischen Bibelexegese berufen sich auf das Denken und die Lehre von Ernst Troeltsch.²⁵ So heißt es bei John Collins: Im Bereich der Theologie fanden diese Prinzipien ihre klassische Formulierung im Jahre 1898 bei Ernst Troeltsch, der damals die folgenden drei Prinzipien aufstellte […]: (1) Das Prinzip der
Siehe vor allem Troeltschs »Über historische und dogmatische Methode in der Theologie«, in: Gesammelte Schriften, Tübingen: Mohr 1913, Band 2, S. 729 – 753, sowie den Artikel »Historiography«, in: James Hastings, Encyclopedia of Religion and Ethics, New York: Scribner’s 1967 (Nachdruck der Ausgabe von 1909).
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Kritik bzw. des methodologischen Zweifels: Da jedes Ergebnis der Revision unterliegt, kann die historische Forschung niemals zu absoluter Gewissheit, sondern nur zu relativen Wahrscheinlichkeitsgraden gelangen. (2) Das Prinzip der Analogie: Historische Erkenntnis ist möglich, weil alle Ereignisse im Prinzip ähnlich sind. So müssen wir davon ausgehen, dass die Naturgesetze in biblischen Zeiten die gleichen waren wie heute. Troeltsch spricht hier von der »allmächtigen Kraft der Analogie«. (3) Das Prinzip der Korrelation: Die historischen Phänomene stehen in wechselseitigen Beziehungen zueinander, sie sind interdependent, und kein Ereignis lässt sich gegen die historische Abfolge von Ursache und Wirkung abschotten.²⁶
Dem fügt Collins ein viertes Prinzip hinzu, das er Van Harveys Buch The Historian and the Believer entnimmt,²⁷ einem neueren und inzwischen klassischen Werk zur richtigen Anwendung der historisch-kritischen Methode: Zusätzlich zu den genannten Prinzipien sollte man das Prinzip der Autonomie anführen, das für jede kritische Forschung unerlässlich ist. Weder die Kirche noch der Staat kann dem Wissenschaftler vorschreiben, zu welchen Schlussfolgerungen er gelangen soll. (S. 2)
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass jedes dieser Prinzipien mehrdeutig ist. Insbesondere gibt es zu jedem von ihnen (außer vielleicht dem zweiten) eine unstrittige, ja banale Interpretation. Das erste Prinzip scheint eher ein Kommentar zur historischen Forschung zu sein als ein Grundsatz, an den man sich bei ihrer Ausübung halten sollte. Die historische Forschung, so heißt es, könne niemals zu absolut gewissen Ergebnissen gelangen. (Vielleicht impliziert das ein methodologisches Prinzip, wonach man es bei der historisch-kritischen Forschung vermeiden sollte, für die erzielten Resultate absolute Gewissheit in Anspruch zu nehmen.) Dagegen gibt es nichts einzuwenden. Vermutlich würde praktisch jeder zustimmen, dass nur wenige historische Ergebnisse von einiger Bedeutung so gewiss sind wie etwa 2 + 1 = 3. Doch wenn es sich so verhält, dann erreichen diese Resultate keine absolute Gewissheit. (Die einzigen einigermaßen plausiblen Anwärter auf den Rang wirklich absolut gewisser historischer Ergebnisse wären vermutlich solche »historischen« Behauptungen wie die, dass Cäsar entweder den Rubikon überschritten oder ihn nicht überschritten hat.) Das dritte Prinzip hat ebenfalls eine banale Interpretation. Troeltsch formuliert es wie folgt: »Die einzige Aufgabe der Geschichtswissenschaft in ihrem
Collins, »Is Critical Biblical Theology Possible?«, in: William Henry Propp, Baruch Halpern u. David Freedman (Hg.), The Hebrew Bible and Its Interpreters, Winona Lake, IN: Eisenbrauns 1990, S. 2. Van Harvey, The Historian and the Believer: The Morality of Historical Knowledge and Christian Belief, New York: Macmillan 1966.
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spezifisch theoretischen Aspekt besteht darin, dass sie jede Bewegung, jeden Prozess, jeden Zustand und jeden Zusammenhang der Dinge durch Bezugnahme auf das Geflecht der kausalen Beziehungen zu erklären hat.»²⁸ Auch diese Formulierung lässt sich so deuten, dass sie keinen Biss hat, wenn sie nicht gar eine Binsenwahrheit darstellt. Jedes Ereignis soll durch Bezugnahme auf das Netz der kausalen Beziehungen erklärt werden, was natürlich auch die Absichten und Handlungen der Personen einschließen würde. Denken wir doch geradezu an ein Ereignis wie die Auferstehung Jesu von den Toten. Dem eben genannten Prinzip zufolge müsste auch dieses Ereignis durch Bezugnahme auf das Geflecht der kausalen Beziehungen erklärt werden. Kein Problem: Der traditionellen Auffassung zufolge war die Ursache dieses Ereignisses Gott selbst, der es herbeiführte, um bestimmte selbstgesetzte Ziele und Zwecke zu erreichen. Insbesondere wollte er es den Menschen ermöglichen, sich mit ihm zu versöhnen. So aufgefasst, würde dieses Prinzip nur sehr wenig ausschließen. Das zweite Prinzip ist, wie gesagt,vielleicht die Ausnahme von der These, dass es zu jedem dieser Prinzipien eine banale, unkontroverse Interpretation gibt. Der Grund liegt darin, dass das zweite Prinzip bei jeder plausiblen Interpretation die Existenz von Naturgesetzen zu implizieren scheint. Dass es so etwas wie Naturgesetze tatsächlich gibt, war ein Hauptthema der Naturwissenschaft und der Wissenschaftstheorie des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts.²⁹ Man meinte, die Naturgesetze seien genau das, was die Naturwissenschaften entdecken.³⁰ Die Empiristen fanden Naturgesetze allerdings immer schon fragwürdig; und heutzutage ist die These, dass es dergleichen überhaupt gibt, bestenfalls extrem umstritten.³¹ Eines der Hauptprobleme ist die angebliche Notwendigkeit dieser Gesetze. Ein Naturgesetz soll eine universelle Generalisierung sein. Denken wir etwa an das erste Newtonsche Gesetz: »Jeder
Troeltsch, »Historiography«, S. 718. So heißt es bei Descartes: »Erstes Naturgesetz: Ein jedes Ding behält von sich aus denselben Zustand bei, und daher fährt ein Ding, das sich einmal in Bewegung gesetzt hat, immer fort, sich zu bewegen«, und: »Das zweite Naturgesetz: Jede Bewegung ist aus sich selbst heraus geradlinig, und deshalb tendiert alles, was sich kreisförmig bewegt, sich vom Mittelpunkt des Kreises zu entfernen, den es beschreibt« (Die Prinzipien der Philosophie (2. Teil, §§37 u. 39), übers. u. hg. von Christian Wohlers, Hamburg: Meiner 2005. S. 139 u. 141.) Das ist eine Meinung, die auch heute noch von zeitgenössischen Philosophen wie David Armstrong (What Is a Law of Nature?, Cambridge: Cambridge University Press 1984) und David Lewis vertreten wird (siehe z. B. seinen Artikel »New Work for a Theory of Universals«, in: Australasian Journal of Philosophy [1983], S. 343 ff.). Siehe vor allem Bas van Fraassen, Laws and Symmetry, Oxford: Clarendon Press 1989. In diesem Buch entwickelt van Fraassen ein gründlich ausgeführtes und überzeugendes Argument gegen die Existenz von Naturgesetzen.
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Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung auf einer Geraden, sofern er nicht durch einwirkende Kräfte zur Änderung seines Zustands gezwungen wird.« Nun meint man, diese universelle Generalisierung sei in einem gewissen Sinn notwendig wahr. Diese vermeintliche Art von »natürlicher« oder »physikalischer« Notwendigkeit soll schwächer sein als die im weiten Sinn logische Notwendigkeit, die den Wahrheiten der Logik, der Arithmetik usw. zukommt – normalerweise gelten Naturgesetze als im weiten logischen Sinn kontingent –, aber in irgendeinem Sinn sollen sie trotzdem notwendig sein. In welchem Sinn? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, aber wir können es mit folgendem Bild versuchen: Deuten wir die natürliche Notwendigkeit im Sinne der üblichen Semantik für kontrafaktische Aussagen.Wir stellen uns vor, die möglichen Welten bildeten einen Raum, der Einfachheit halber: einen dreidimensionalen Raum. Irgendwie wählen wir ein Entfernungsmaß – oder postulieren zumindest die Existenz eines Entfernungsmaßes – für diesen Raum möglicher Welten, und nun gelte: Je größer der Bereich möglicher Welten (mit der wirklichen Welt als Mittelpunkt³²), in dem eine gegebene Proposition wahr ist, in desto höherem Maße ist diese Proposition notwendig. Die Überlegung würde also darauf hinauslaufen, dass Naturgesetze Propositionen sind, die in sehr großen Bereichen (mit der wirklichen Welt als Mittelpunkt) wahr sind: Wenn man sich von der wirklichen Welt ausgehend nach außen bewegt, bleiben sie über eine sehr große Strecke hinweg wahr. Das ist ein sehr hübsches Bildchen, wenn auch metaphorisch und überaus spekulativ. Dennoch stellt sich die Frage, warum man dem Historiker oder Bibelforscher eine Meinung über diesen Gegenstand zumuten sollte. Es ist nicht einzusehen, dass die Arbeit auf dem Gebiet der HKB wirklich zu der Auffassung verpflichtet, es gebe so etwas wie natürliche Notwendigkeit bzw. in dieser oder jener Weise erklärte Naturgesetze. Warum muss sich der Historiker in diesen philosophischen Disput einmischen? Aber womöglich wollen Troeltsch und Collins im Grunde gar nicht darauf beharren, dass der historisch-kritisch verfahrende Forscher an Gesetze der Natur glauben muss. Vielleicht könnten sie ihre Thesen ebenso gut formulieren, indem sie sagen, in der Vergangenheit hätten genau die gleichen empirischen Generalisierungen oder physikalischen Regelmäßigkeiten gegolten wie heute. Die Newtonsche Physik galt damals ebenso wie heute – jedenfalls annähernd und für Gegenstände mittlerer Größe, die sich mit gemäßigter Geschwindigkeit bewegen. Die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie waren damals genauso wahr wie heute (sofern sie heute wirklich wahr sind); und die Quantenelektrodynamik traf in früheren Zeiten (solange man dem Big Bang nicht zu nahe kommt) ebenso zu wie heutzutage. Das gilt unabhängig davon, ob wir diese Sätze als naturgesetzliche Aussagen mit jener eigentümlichen Notwendig auffassen oder als Formulierungen von Regelmäßigkeiten, die keine Ausnahme zulassen, oder von Regelmäßigkeiten, die in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle gelten, oder – wie in manchen Bereichen der Quantenmechanik – von probabilistischen Regelmäßigkeiten.
Troeltschs Prinzipien lassen sich also in banaler Weise interpretieren, doch das sind nicht die Interpretationen, die innerhalb der HKB-Gemeinschaft vertreten werden. Innerhalb dieser Gemeinschaft werden die Prinzipien so gedeutet, dass sie direktes göttliches Handeln in der Welt ausschließen. Allerdings werden die Natürlich könnte es sein, dass ein Naturgesetz in einer anderen möglichen Welt »notwendiger« ist als in der wirklichen Welt. Ein Naturgesetz kann zwar in einem um die wirkliche Welt zentrierten Bereich durchweg wahr sein, aber dieser Bereich kann seinerseits in einem noch größeren Bereich enthalten sein, dessen Mittelpunkt nicht die wirkliche Welt ist.
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Prinzipien Troeltschs nicht von allen Angehörigen dieser Gemeinschaft in ihrer nichtbanalen Interpretation akzeptiert; vielmehr ist es so, dass diejenigen, die nach eigenem Verständnis diese Prinzipien akzeptieren (bzw. ablehnen), glauben, dass sie die nichtbanalen Lesarten dieser Prinzipien akzeptieren (bzw. ablehnen). (Die banalen Lesarten werden vermutlich von jedermann akzeptiert.) So aufgefasst, implizieren diese Prinzipien, dass Gott faktisch keine menschlichen Autoren in solcher Weise inspiriert hat, dass das von ihnen Geschriebene eigentlich an uns gerichtete göttliche Rede ist. Ebensowenig habe er Jesus von den Toten auferstehen lassen, Wasser in Wein verwandelt oder irgendwelche sonstigen Wunder gewirkt. In diesem Sinne schreibt Rudolf Bultmann: Die historische Methode schließt die Voraussetzung ein, dass die Geschichte eine Einheit ist im Sinne eines geschlossenen Wirkungszusammenhangs, in dem die einzelnen Ereignisse durch die Folge von Ursache und Wirkung verknüpft sind.
Für diesen Wirkungszusammenhang gelte ferner: Diese Geschlossenheit bedeutet, dass der Zusammenhang des geschichtlichen Geschehens nicht durch das Eingreifen übernatürlicher, jenseitiger Mächte zerrissen werden kann.³³
Sonderbarerweise äußern sich viele weitere Theologen zustimmend: Gott könne oder wolle oder werde jedenfalls nicht direkt handelnd in die Welt eingreifen. So schreibt John Macquarrie: Eine Auffassung der Wunder, die sich auf Unterbrechungen der natürlichen Ordnung und auf übernatürliche Eingriffe beruft, gehört zu einer mythologischen Betrachtungsweise, für die in einem postmythologischen Denkklima gar nichts spricht […] Die traditionelle Auffassung der Wunder ist mit unserem modernen Wissenschafts- und Geschichtsverständnis nicht zu vereinbaren. Die Naturwissenschaft geht bei ihrem Vorgehen von der Voraussetzung aus, dass sich alle innerweltlichen Ereignisse unter Bezugnahme auf andere Ereignisse, die sich ebenfalls in der Welt abspielen, erklären lassen. Und falls wir mitunter außerstande sind, ein Geschehen vollständig zu erklären, […] geht die wissenschaftliche Überzeugung dahin, dass weitere Forschungen zusätzliche, in der betreffenden Situation ebenfalls eine Rolle spielende Faktoren zutage fördern werden, die sich jedoch als
Bultmann, »Ist voraussetzungslose Exegese möglich?«, in: Glauben und Verstehen: Gesammelte Aufsätze, Band 3, 3. Aufl. Tübingen: J. C. B. Mohr 1960, S. 144– 145. Über fünfzig Jahre vor Troeltsch vertritt David Friedrich Strauß bereits die gleiche Meinung und sagt, alle Dinge seien durch eine Kette von Ursachen und Wirkungen, die keine Unterbrechung duldet, miteinander verbunden (Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet [1835], §14, zit. in Harvey, The Historian and the Believer, S. 15).
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Faktoren erweisen werden, die genauso immanent und diesseitig sind wie die, welche uns bereits bekannt sind.³⁴
Und Langdon Gilkey schreibt: Die zeitgenössische Theologie erwartet keine göttlichen Wunderereignisse an der Oberfläche des natürlichen und historischen Lebens, und sie spricht auch nicht von dergleichen. Der Kausalzusammenhang in Raum und Zeit, den die Wissenschaft und die Philosophie der Aufklärung dem abendländischen Geist eingepflanzt haben, […] wird auch von modernen Theologen und Geisteswissenschaftlern unterstellt. Da sie sowohl in intellektueller als auch in existentieller Hinsicht an der modernen Welt der Wissenschaft teilhaben, bleibt ihnen kaum etwas anderes übrig. Diese Voraussetzung einer Kausalordnung im Bereich der phänomenalen Ereignisse, die daher auch die naturwissenschaftliche Interpretation beobachtbarer Ereignisse als maßgeblich unterstellt, wirkt sich auf die Gültigkeit, die man den biblischen Geschichten und damit dem Verständnis ihres Sinns zubilligt, ganz erheblich aus. Eine ganze Palette göttlicher Handlungen und Ereignisse, von denen in der Schrift die Rede ist, wird plötzlich so angesehen, als seien sie in Wirklichkeit nie geschehen. […] Was immer die Juden geglaubt haben mögen, wir glauben jedenfalls, dass die biblischen Personen in demselben raumzeitlichen Kausalkontinuum gelebt haben, in dem auch wir selbst leben, also in einem Kontinuum, in dem keine göttlichen Wunder zum Vorschein kamen und keine göttlichen Stimmen gehört wurden.³⁵
Gilkey sagt, es seien keine göttlichen Wunder zum Vorschein gekommen, und es seien keine göttlichen Stimmen gehört worden. Macquarrie sagt außerdem, dass wir die Vorstellung von »Unterbrechungen der natürlichen Ordnung und übernatürlichen Eingriffen« in diesem postmythologischen Zeitalter nicht dulden können. Jeder der beiden schließt also die Möglichkeit von Wundern aus, und zu diesen Wundern gehört auch die Möglichkeit speziellen göttlichen Handelns, durch das menschliche Verfasser in solcher Weise inspiriert werden, dass das von ihnen Geschriebene eine autoritative Mitteilung Gottes darstellt. Nun ist es alles andere als leicht anzugeben, was eigentlich ein Wunder ist. Dieses Thema hängt mit tiefen und kniffligen Fragen zusammen, die den Okkasionalismus, die Naturgesetze, natürliche Potentialitäten usw. betreffen. Allerdings brauchen wir uns nicht eingehender mit allen diesen Fragen zu befassen. Der Gedanke von Troeltsch besagt, dass es eine bestimmte Art und Weise gibt, in der sich die Dinge normalerweise abspielen. Es gebe bestimmte Regelmäßigkeiten – einerlei, ob sie auf Naturgesetze zurückgehen oder nicht –, und man könne sich darauf verlassen,
Macquarrie, Principles of Christian Theology, 2. Aufl. New York: Charles Scribner’s Sons 1977, S. 248. Gilkey, »Cosmology, Ontology and the Travail of Biblical Language«, in: Owen C.Thomas (Hg.), God’s Activity in the World: The Contemporary Problem, Chico, CA: Scholars Press 1983, S. 31.
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dass Gott in solcher Weise handeln werde, dass diese Regelmäßigkeiten nicht außer Kraft gesetzt werden. Freilich könnte Gott, wenn er wollte, diese Regelmäßigkeiten außer Kraft setzen – schließlich sind auch diese Gesetze, sofern es sie überhaupt gibt, von ihm geschaffen worden. Aber trotzdem können wir – irgendwie – sicher sein, dass er es nicht tun wird. Die Bibelforschung à la Troeltsch wird bei ihrem Vorgehen also von der Annahme ausgehen, dass Gott niemals etwas aus dem Rahmen Fallendes tut. Insbesondere habe er weder Jesus von den Toten auferstehen lassen noch die Verfasser der Bibel in spezieller Weise inspiriert. Was diese Regelmäßigkeiten betrifft, stellen sich tausend Fragen. Welche Art von Regelmäßigkeiten ist hier gemeint? Angenommen, die Kombination von drei Fünfzigern und zwei Fünfern hat es in meiner Hosentasche nie gegeben und wird es nie geben, und zwar ebensowenig wie einen hauptsächlich von japanischsprachigen Menschen umgebenen Süßwassersee von der Größe des Baikalsees, vergletscherte Berge in Australien zur gleichen Zeit wie eine Holländisch sprechende Bevölkerung, oder Dinosaurier und Menschen zur gleichen Zeit. Sind das Regelmäßigkeiten der betreffenden Art? Vermutlich nicht. Wie steht es mit der Tatsache, dass keiner der Großen Seen in Nordamerika mit Single-Malt Scotch Whisky gefüllt war oder es je sein wird? Oder dass es nie eine Goldkugel mit einem Durchmesser von einem Kilometer gegeben hat und nie geben wird? Wahrscheinlich auch nicht. Wie verhält es sich mit dem Faktum, dass es noch nie eine Plutoniumkugel mit einem Durchmesser von einem Kilometer gegeben hat? Wahrscheinlich gibt es eine solche Kugel deshalb nicht, weil sie eine Menge von Plutonium enthalten würde, die größer ist als die kritische Masse und daher längst explodiert wäre. Wie kennzeichnen wir die Regelmäßigkeiten, von denen hier die Rede ist, im einzelnen? Das ist sehr schwierig. Jedenfalls ist der Grundgedanke der, dass es solche Regelmäßigkeiten wirklich gibt und dass unter anderem die folgenden dazugehören: Wenn Menschen erst einmal tot sind, werden sie nicht wieder lebendig; Wasser verwandelt sich nicht in Wein; Menschen werden von Gott nicht speziell in solcher Weise inspiriert, dass das von ihnen Geschriebene zu Recht als göttliche Rede und Offenbarung angesehen wird.
2 Historisch-kritische Bibelforschung à la Duhem Nicht alle, von denen die HKB akzeptiert und praktiziert wird, akzeptieren die Prinzipien von Troeltsch; und es wird eine andere Spielart der HKB sichtbar, wenn man über einen wichtigen Vorschlag von Pierre Duhem nachdenkt. Duhem nahm sowohl seinen katholischen Glauben als auch die Naturwissenschaft ernst. Von Abel Rey³⁶ wurde ihm nun (wie Duhem meinte) der Vorwurf gemacht, er lasse seine christlich geprägten religiösen und metaphysischen Anschauungen in unzulässiger Weise in die Physik hineinspielen. Diese Andeutung wies Duhem zu-
Rey, »La Philosophie scientifique de M. Duhem«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 12 (Juli 1904), S. 699 ff.
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rück, indem er behauptete, sein Christentum spiele im Rahmen seiner Physik gar keine Rolle und könne a fortiori keine unzulässige Rolle spielen.³⁷ Die richtige bzw. angemessene Weise, Physik zu treiben, entspreche, wie er hinzufügte, genau dem Verfahren, dessen er sich bediene. Die Physik solle völlig unabhängig sein von religiösen oder metaphysischen Anschauungen oder Verpflichtungen. Warum ist Duhem dieser Meinung? Was hat er gegen die Metaphysik? Hier schlägt er einen Ton an, der für die Aufklärung charakteristisch ist. Er sagt: Wenn man den Eindruck gewinnt, die Metaphysik finde Eingang in die Physik, so werde das Urteil über den Wert der betreffenden physikalischen Theorie davon abhängen, welche Metaphysik man sich zu eigen macht. Die Physik werde in solcher Weise von der Metaphysik abhängen, dass jemand, der die in eine gegebene physikalische Theorie hineinspielende Metaphysik nicht akzeptiert, auch die physikalische Theorie nicht akzeptieren kann. Das wiederum ist deshalb problematisch, weil dann die Meinungsverschiedenheiten, die in der Metaphysik wild wuchern, in die Physik eindringen, die nun keine Aktivität mehr sein kann, in deren Rahmen wir alle – ungeachtet unserer verschiedenen metaphysischen Anschauungen – zusammenarbeiten können: Es ist nun nicht das richtige Mittel, der physikalischen Theorie allgemeine Anerkennung zu verschaffen, wenn man sie in Abhängigkeit von der Metaphysik bringt. […] Wenn die Physik der Metaphysik untergeordnet ist, werden die Zwistigkeiten, die zwischen den verschiedenen metaphysischen Systemen bestehen, sich in das Gebiet der Physik verpflanzen. Eine physikalische Theorie, die die Zufriedenheit aller Sektierer einer metaphysischen Schule erregt, wird von den Anhängern einer anderen Schule verworfen werden. (Ziel und Struktur, S. 8)
Vor allem geht es Duhem vermutlich um folgendes: Bedient sich der theoretische Physiker metaphysischer Voraussetzungen oder sonstiger Vorstellungen, die von den Kollegen nicht akzeptiert werden, und verwendet er sie solchermaßen, dass jene, die sie nicht akzeptieren, auch seine physikalische Theorie nicht akzeptieren können, dann kann seine Arbeit insoweit nicht von den Kollegen akzeptiert werden. Außerdem wird die für die Naturwissenschaften so wichtige Zusammenarbeit im gleichen Maße in Mitleidenschaft gezogen. Aus diesem Grund schlägt Duhem eine Auffassung der Naturwissenschaft (und insbesondere der Physik) vor, der zufolge die Wissenschaft von der Metaphysik unabhängig ist:
Siehe den Anhang in: Duhem, The Aim and Structure of Physical Theory (1906), übers. von Philip P.Wiener, Princeton: Princeton University Press 1954. Der Anhang trägt den Titel »Physics of a Believer« und ist ein Nachdruck von Duhems Replik an die Adresse von Rey (Erstveröffentlichung in den Annales de Philosophie chrétienne 1 [Oktober/November 1905], S. 44 ff. u. 133 ff.). Dt. Ausgabe (ohne Anhang): Ziel und Struktur der physikalischen Theorien, übers. von Friedrich Adler (1907), Neuausgabe von Lothar Schäfer, Hamburg: Meiner 1998.
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Ich habe den Lehren der Metaphysik das Recht abgesprochen, für oder gegen eine physikalische Theorie Zeugnis abzulegen. […] Was immer ich über die Methode, nach der die Physik verfährt, gesagt habe oder über die Beschaffenheit und die Reichweite, die wir den von ihr aufgestellten Theorien zuschreiben müssen, präjudiziert in keiner Hinsicht die metaphysischen Lehrsätze oder die religiösen Überzeugungen einer Person, die meine Worte akzeptiert. Der Gläubige und der Ungläubige können gemeinsam auf den Fortschritt der im Sinne meines Definitionsversuchs verstandenen Physik hinarbeiten. (Aim and Structure, S. 274– 275)
Reduziert man Duhems Vorschlag auf seinen eigentlichen Kern, so besagt er, dass die Physiker, solange sie Physik treiben, keinen wesentlichen Gebrauch von religiösen oder metaphysischen Voraussetzungen machen sollten. Das sei ein Weg, der ins Chaos und zu Misstönen führe, da jede der einander bekämpfenden Sekten auf jeweils eigene Weise verfahre. Um zu der Form von Gemeinsamkeit und echtem Dialog zu gelangen, die dem Fortschritt in der Physik förderlich ist, sollten wir alle metaphysischen, religiösen oder sonstigen Voraussetzungen vermeiden, die nicht von allen an der Diskussion beteiligten Parteien akzeptiert werden.³⁸ Das ist ein interessanter Vorschlag, der sich – obwohl Duhem selbst es nicht versucht hat – weit jenseits der Grenzen der physikalischen Theorie anwenden lässt, beispielsweise auf die gelehrte Bibelforschung. Nehmen wir an, Bibelforschung à la Duhem sei Bibelforschung, die keine theologischen, religiösen oder metaphysischen Voraussetzungen macht, die nicht von allen Angehörigen der relevanten Gemeinschaft akzeptiert werden.³⁹ Daher würde der wissenschaftliche Bibelforscher à la Duhem nicht einfach voraussetzen, dass Gott der Haupturheber der Bibel ist oder dass die Grundzüge der christlichen Erzählung tatsächlich zu Dieser Vorschlag muss natürlich eingeschränkt, nuanciert und differenzierter gefasst werden. Es ist durchaus sinnvoll, wenn ich an einer Hypothese weiterarbeite, die von anderen schon lange als Sackgasse hingestellt wird. Von solchen Meinungsverschiedenheiten hat die Wissenschaft schon oft profitiert. Doch in diesen Fällen besteht normalerweise eine tiefere Übereinstimmung mit Bezug auf Fragen wie diese: Welches sind die Ziele der Wissenschaft? Was zählt als echte Wissenschaft? Welches sind die angemessenen Methoden, deren man sich bedienen sollte? Außerdem lassen sich die Auseinandersetzungen in vielen Fällen auf der Grundlage dieser tieferen Übereinstimmung schlichten. Es ist nämlich möglich, dass sich die Meinung eines der am Streit Beteiligten in einer Weise als richtig entpuppt, die von allen Beteiligten anerkannt wird. Es mag schwierig sein, die relevante Gemeinschaft zu umreißen. Angenommen, ich bin Bibelforscher an einem konfessionell gebundenen Seminar: Welches ist nun meine relevante Gemeinschaft? Bibelforscher jeglicher Art und auf der ganzen Welt? Die Bibelforscher meiner eigenen Konfession? Innerhalb der westlichen Universitätswissenschaft? Die sei’s wissenschaftlich gebildeten oder ungebildeten Angehörigen meiner Konfession? Alle Christen überhaupt? Zunächst muss man hier einsehen, dass unser Bibelforscher offenbar vielen verschiedenen Gemeinschaften angehört und dementsprechend an mehreren verschiedenen wissenschaftlichen Projekten beteiligt sein kann.
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treffen. Diese Dinge werden nicht von allen, die an der Diskussion beteiligt sind, akzeptiert. Unser Forscher würde nicht schlicht davon ausgehen, dass Jesus von den Toten auferstanden oder dass irgendeines der übrigen Wunder geschehen ist. Er würde nicht einmal ohne weiteres annehmen, dass Wunder möglich sind, denn die entsprechenden Behauptungen werden von vielen zurückgewiesen, die an der Diskussion beteiligt sind. Andererseits kann die duhemianische Bibelforschung nicht einfach davon ausgehen, dass Christus nicht von den Toten auferstanden ist, dass gar keine Wunder geschehen oder dass Wunder überhaupt unmöglich sind. Ebensowenig kann sie die (nichtbanal gedeuteten) Prinzipien von Troeltsch zum Einsatz bringen, denn sie werden ja nicht von allen akzeptiert. Die duhemianische Bibelforschung passt gut zu dem von Sanders gemachten Vorschlag, benötigt würden mehr »Belege, über die sich alle einig sein können« (s. o., S. 457 f.). Außerdem passt sie gut zu der von John Meier ersonnenen Phantasiegeschichte eines »unpäpstlichen Konklaves«, an dem sich jüdische, katholische, protestantische und agnostische Wissenschaftler beteiligen, die sich im Untergeschoß der theologischen Bibliothek der Harvard University einschließen lassen, bis sie zu einem Konsens bezüglich der Frage gelangen, was die historischen Methoden über das Leben und die Mission Jesu zeigen können.⁴⁰ Zu den angedeuteten Vorzügen der HBK à la Duhem gehören offensichtlich die schon von Duhem angeführten Vorzüge: Menschen mit völlig verschiedenen religiösen und theologischen Überzeugungen können an diesem Unterfangen mitwirken. Das ist natürlich kein Grund zur Annahme, die Resultate der duhemianischen Bibelforschung seien mit höherer Wahrscheinlichkeit wahr oder kämen der Wahrheit näher als beispielsweise die Ergebnisse der traditionellen Bibelauslegung. Dennoch ist es so: Obwohl der traditionelle Bibelausleger und der Bibelforscher à la Troeltsch im Prinzip die gleichen Entdeckungen machen können, die auch mit Duhemschen Mitteln möglich sind, ist es im Grunde wahrscheinlich, dass man bei diesem kooperativen Unterfangen vieles herausbekommt, was nicht ans Licht käme, wenn jede Gruppe für sich forschte.
3 Spinozistische Bibelforschung der historisch-kritischen Art Die HKB im Sinne von Troeltsch und im Sinne von Duhem sind keineswegs schon die ganze HKB, denn man kann die HKB praktizieren und dennoch keine dieser beiden Richtungen akzeptieren. Man könnte sich vornehmen, bei der Bibelforschung ausschließlich der Vernunft zu folgen, aber der Ansicht sein, dass die Prinzipien von Troeltsch in der anspruchsvollen Lesart, in der sie implizieren, dass
Meier, A Marginal Jew: Rethinking the Historical Jesus, Band 1, S. 1– 2.
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Gott niemals innerweltliche Spezialhandlungen vollzieht, eigentlich keine Leistungen der Vernunft sind. Man sagt sich: Die Vernunft allein kann bestimmt weder beweisen, dass Gott keine innerweltlichen Spezialhandlungen vollzieht, noch dass niemals Wunder geschehen sind.Wenn man das sagt, ist man kein Anhänger von Troeltsch. Aber vielleicht lehnt man den Duhemianismus ebenfalls ab: Man könnte ja meinen, dass es de facto Leistungen der Vernunft gibt, die nicht von jedem, der sich auf das Projekt der Bibelforschung eingelassen hat, akzeptiert werden. (Die Leistungen der Vernunft sind zwar allen zugänglich, aber dennoch kann es Störfaktoren dieser oder jener Art geben, die manchmal jemanden daran hindern, die Wahrheit des einen oder anderen dieser vernunftgegebenen Resultate zu erkennen.) Dann würde man selbst vielleicht im Zuge seiner wissenschaftlichen Bibelforschung diese Leistungen der Vernunft nutzen und damit Voraussetzungen zum Einsatz bringen, die nicht von jedem, der an diesem Projekt beteiligt ist, akzeptiert werden, so dass man damit auch den Duhemianismus ablehnt. Man könnte sich also vornehmen, allein der Vernunft zu folgen, ohne ein Anhänger von Troeltsch oder Duhem zu sein. Nun wollen wir den Ausdruck »spinozistische HKB« benutzen,⁴¹ um diese letzte Spielart der HKB zu bezeichnen. Der Spinozist ist ebenso wie der Troeltsch- und der Duhem-Anhänger der Meinung, die HKB dürfe keine theologischen Voraussetzungen oder Überzeugungen zum Einsatz bringen. Von der Troeltsch-Richtung unterscheidet sie sich insofern, als sie deren Prinzipien das gleiche Kompliment angedeihen lässt und sagt, sie seien ebenfalls keine Leistungen der Vernunft und sollten daher nicht zur HKB benutzt werden.Von der Duhem-Schule unterscheidet sie sich insofern, als sie meint, es gebe einige Leistungen der Vernunft, die nicht von allen akzeptiert werden, die sich am Projekt der Bibelforschung beteiligen. Daher möchte sie einige Aussagen oder Überzeugungen benutzen, die von dem Duhem-Anhänger abgelehnt werden. Abschließend sei noch folgendes erwähnt: Es ist offensichtlich nicht richtig anzunehmen, jeder Bibelforscher lasse sich fein säuberlich in die eine oder andere dieser vier Kategorien einstufen. Nicht jede Arbeit auf dem Gebiet der Bibelforschung ist ein offenkundiges Beispiel der traditionellen Bibelauslegung oder ein offenkundiges Beispiel der HKB. Nicht jede Arbeit auf dem Gebiet der HBK ist ein offenkundiges Beispiel der spezifisch troeltschianischen, duhemianischen oder spinozistischen HBK. Es gibt alle möglichen Zwischenstationen, zahlreiche Haltepunkte zwischen zwei Meinungen, viele Forscher, die teils der einen, teils der anderen Richtung anhängen, und viele, die nie deutlich erkannt haben, dass es diese Kategorien überhaupt gibt. Ein echter Bibelforscher wird wahrscheinlich
Wie wir gesehen haben, gibt es nach Spinoza für die Bibelauslegung keine andere Norm als das natürliche Licht der Vernunft (s. o., S. 457).
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nicht viele seiner Gedanken auf die erkenntnistheoretischen Grundlagen seines Fachs verwendet haben und dürfte sich im Hinblick auf eine oder mehrere der hier genannten Kategorien auf beiden Seiten der Grenzen bewegen.
B Spannungen im Verhältnis zum traditionellen Christentum Das Verhältnis zwischen der HKB und den traditionellen Christen ist schon seit geraumer Zeit von erheblichen Spannungen geprägt. So schreibt David Friedrich Strauß 1835: »Wenn wir uns selbst nichts vormachten, würden wir uns eingestehen, dass das, was für den gläubigen Christen früher heilige Geschichte war, für den aufgeklärten Teil unserer Zeitgenossen nur noch ein Märchen ist.« Natürlich waren die nicht aufgeklärten Gläubigen nicht so unaufgeklärt, dass sie dieses Merkmal der Bibelkritik übersehen hätten. Zehn Jahre nach der Veröffentlichung des Buchs von Strauß beklagt sich William Pringle: »In Deutschland ist die Bibelkritik beinahe so etwas wie ein Nationalsport. […] Leider beschäftigen sich die Kritiker allzu häufig damit, die gefährlichsten Irrtümer aufrechtzuerhalten, gegen jede inspirierte Aussage, die der Menschenverstand nicht zur Gänze begreifen kann, Sturm zu laufen, die Religion ihres geistlichen und himmlischen Charakters zu entkleiden und das ganze Gebäude der offenbarten Wahrheit zu untergraben.«⁴² Zu den von Pringle angeprangerten Punkten gehören vielleicht auch die folgenden: Erstens haben Verfechter der HKB die Tendenz, die Bibel nicht als einheitliche Mitteilung von Seiten Gottes, sondern als eine Reihe getrennter Bücher zu behandeln. Daher sind sie geneigt, die Vorstellung zu verwerfen, Stellen aus dem Alten Testament könnten zu Recht so verstanden werden, als nähmen sie Bezug auf Jesus Christus oder auf Ereignisse seines Lebens: »Von den kritischen Forschern wird Hellsehen als Erklärung grundsätzlich ausgeschlossen. Anstatt zu glauben, dass das Alte Testament Ereignisse aus dem Leben Jesu vorhersagt, behaupten die kritischen Erforscher des Neuen Testaments, jeder Autor eines Evangeliums trachte Stellen aus dem Alten Testament auszubeuten, um seine Begründung der messianischen und göttlichen Ansprüche Jesu bzw. der für ihn sprechenden Kirche zu untermauern.«⁴³ Brevard Childs formuliert es noch all-
»Translator’s Preface«, in: Calvin’s Commentaries, Band 16, übers. von William Pringle, Grand Rapids: Baker Book House 1979, S. vi. Pringles Vorwort ist datiert auf »Auchterarder, 4. Januar 1845«. Levenson, The Hebrew Bible, the Old Testament, and Historical Criticism, S. 9. Um Hellseherei geht es hier natürlich gar nicht, sondern eigentlich handelt es sich um die Frage, ob die Bibel einen Haupturheber hat – nämlich Gott. Wenn ja, bedarf es keiner Hellseherei von seiten eines
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gemeiner: »Seit vielen Jahrzehnten ist es üblich, die Studienanfänger in die Bibelkunde einzuführen, indem man nach und nach die traditionellen Lehrsätze der Kirche mit Bezug auf die Heilige Schrift durch Anwendung kritischer Säure zersetzt.«⁴⁴ Zweitens, im Anschluss an Ernst Troeltsch ist die HKB geneigt, Wundergeschichten außer acht zu lassen und grundsätzlich davon auszugehen, dass Wunder im eigentlichen Sinn weder jetzt geschehen noch damals geschehen sind. Zumindest wird behauptet, die der HKB angemessene Methode könne Wunder weder als Belege noch als Konklusionen gelten lassen.Vielleicht habe Jesus einige psychosomatische Störungen geheilt, aber er habe nichts getan, was die medizinische Wissenschaft von heute nicht erklären könne.Viele Forscher, die sich dieser Methode bedienen, machen geltend, Jesus habe sich nie als göttliches Wesen verstanden bzw. als der (oder ein) Messias oder als jemand, der die Sünde vergeben könne⁴⁵ – geschweige denn als jemand, der gestorben und dann von den Toten auferstanden sei. »Die Verfechter der historischen Jesusforschung«, schreibt Luke Timothy Johnson, »bestehen darauf, dass der ›echte Jesus‹ in den Fakten seines Lebens vor dem Tode zu finden sein müsse. Die Auferstehung wird dann, wenn sie überhaupt in Betracht gezogen wird, im Sinne einer visionären Erfahrung gedeutet oder als Fortsetzung einer ›Ermächtigung‹, die schon vor dem Tod Jesu begann. Einerlei, ob es explizit ausgesprochen wird oder nicht: Die effektiv wirksame Prämisse besagt, dass es nach seinem Tod keinen ›echten Jesus‹ mehr gibt.«⁴⁶ Die Anhänger dieser Methoden produzieren mitunter ganz erstaunliche Erklärungen, und zwar Erklärungen, die sich verblüffend von denen der traditionellen christlichen Auffassung unterscheiden. Nach Barbara Thiering z. B. wurde Jesus in einer Höhle beerdigt.⁴⁷ Er war nicht wirklich tot und wurde von dem
menschlichen Verfassers, damit eine aus bestimmter Zeit stammende Stelle sich auf etwas beziehen kann, was erst sehr viel später geschieht. Hierzu ist nichts weiter erforderlich als Gottes Allwissenheit. Childs, The New Testament as Canon: An Introduction, Valley Forge, PA: Trinity Press International 1994, S. xvii. »Die Krise entwickelt sich aus der inzwischen von protestantischen wie von katholischen Theologen und Exegeten ungeniert eingeräumten Tatsache, dass Jesus von Nazareth, soweit das aus den verfügbaren historischen Daten zu ermitteln ist, sich weder selbst als göttliches Wesen begriffen noch irgendwelche messianischen Ansprüche, die ihm das Neue Testament zubilligt, im Hinblick auf die eigene Person geltend gemacht hat« (Thomas Sheehan, The First Coming, New York: Random House 1986, S. 9). Johnson, The Real Jesus, S. 144. Thiering, Jesus and the Riddle of the Dead Sea Scrolls, San Francisco: Harper San Francisco 1992.
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Zauberer Simon Magus wiederbelebt, woraufhin er Maria Magdalena heiratete, sich niederließ, drei Kinder zeugte, geschieden wurde und schließlich in Rom starb. Laut Morton Smith war Jesus ein aktiver Homosexueller und Zauberkünstler.⁴⁸ Der deutsche Bibelforscher Gerd Lüdemann wiederum schreibt: »Eine konsequente modern-weltanschauliche Sichtweise muss der Auferstehung Jesu als historischem Geschehen den Abschied geben.«⁴⁹ G. A. Wells geht so weit zu behaupten, unser Name »Jesus« sei, so wie er in der Bibel auftaucht, leer. Genauso wie die Bezeichnung »der Weihnachtsmann« lasse er sich weder auf etwas zurückführen noch bezeichne er irgendetwas.⁵⁰ John Allegro ist anscheinend der Meinung, eine Person wie Jesus von Nazareth habe es nie gegeben. Das Christentum gehe auf einen Streich zurück, der gespielt wurde, um die Römer zu täuschen und den Kult um einen bestimmten halluzinogenen Pilz (Amanita muscaria) aufrechtzuerhalten. Der Name »Christus« sei allerdings nicht leer, sondern eben im Grunde ein Name für diesen Pilz.⁵¹ Eine besonders einnehmende These besagt, Jesus sei weder eine bloße Legende noch eigentlich ein Pilz, sondern in Wirklichkeit Atheist gewesen, nämlich der erste christliche Atheist.⁵² Und selbst wenn wir die überspannten Extremisten beiseite lassen, dürfte Van Harvey recht haben, wenn er schreibt: »Was den historischen Bibelforscher betrifft, gibt es kaum eine allgemein verbreitete traditionelle Überzeugung bezüglich Jesus, die er nicht mit erheblicher Skepsis betrachten würde.«⁵³
IV Warum sind die meisten Christen nicht besorgter? Die HKB bringt dem traditionellen christlichen Glauben also im allgemeinen nicht viel Sympathie entgegen und stärkt ihm kaum den Rücken. Die Gläubigen scheint das allerdings nicht sonderlich zu kümmern. Sie finden die traditionelle Bibelauslegung hochinteressant und wichtig, während die Überzeugungen und Einstellungen der HKB offenbar kaum bis zu ihnen durchdringen, obwohl sie in den etablierten Seminaren den Ton angeben. Dementsprechend schreibt Van Harvey: »Trotz jahrzehntelanger Forschungsarbeit macht sich der Durchschnittsmensch
Smith, Jesus the Magician, New York: Harper and Row 1978. Gerd Lüdemann u. Alf Özen, Was mit Jesus wirklich geschah: Die Auferstehung historisch betrachtet, Stuttgart: Radius Verlag 1995, S. 123. Wells, »The Historicity of Jesus«, in: R. Joseph Hoffman u. Gerald A. Larue (Hg.), Jesus in History and Myth, Buffalo: Prometheus Books 1986, S. 27 ff. Allegro, The Sacred Mushroom and the Cross, Garden City, N. Y.: Doubleday 1970. Sheehan, The First Coming. NTS, S. 193.
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tendenziell das gleiche Bild vom Leben Jesu wie die Christen vor dreihundert Jahren.«⁵⁴ Harvey findet das verblüffend: »Wie kommt es, dass die Meinung der Historiker, die sich mit dem Neuen Testament befassen, in einer auf allen sonstigen Gebieten dermaßen von Experten dominierten Kultur so wenig Einfluss auf die Öffentlichkeit hat?«⁵⁵ Ignorieren die traditionellen Christen einfach Belege, die ihnen nicht in den Kram passen? Im folgenden versuche ich diese Fragen zu beantworten. Offensichtlich hat die HKB viel zu unserer Kenntnis der Bibel beigetragen, insbesondere im Hinblick auf die Umstände und Bedingungen ihrer Abfassung. Sie hat neue Alternativen aufgezeigt, was das Verständnis der menschlichen Verfasser betrifft, was uns wiederum zu neuen Ideen darüber verholfen hat, wie der göttliche Urheber zu verstehen ist. Dennoch gibt es tatsächlich ausgezeichnete Gründe für die Neigung, die »erhebliche Skepsis«, von der Harvey spricht, unberücksichtigt zu lassen. Damit will ich nicht behaupten, dass der normale Kirchgänger diese Skepsis außer acht lässt, weil ihm diese Gründe deutlich vorschweben – das ist höchstwahrscheinlich nicht der Fall. Ich behaupte lediglich, dass diese Gründe für den traditionellen Christen gute Gründe sind, die deflationären Resultate der HKB zu ignorieren. Welche Gründe könnten das sein? Nun, ein Grund könnte der sein, dass die Meinungen der skeptischen Bibelforscher weit auseinandergehen.⁵⁶ Hinzu kommt die Tatsache, dass zahlreiche Argumente, die sie vorbringen, bestenfalls ziemlich anfechtbar zu sein scheinen.⁵⁷ Vielleicht besteht die eingefleischte Schwäche – oder zumindest die immerwährende Versuchung – der HKB in dem, was man den »Fehlschluss der schleichenden Gewissheit« nennen könnte. Dieser Fehlschluss wird von denjenigen begangen, die das Prinzip der abnehmenden Wahrscheinlichkeiten unbeachtet lassen. Das geschieht folgendermaßen: Man stellt fest, dass die Aussage A, bezogen auf das Hintergrundwissen H, sehr wahrscheinlich ist (beispielsweise 0,9). Also nimmt man A zu H hinzu. Sodann merkt man, dass die Aussage B, bezogen auf H ∧ A, ebenfalls wahrscheinlich ist; also fügt man B zu H hinzu. Daraufhin merkt man, dass die Wahrscheinlichkeit von C, bezogen auf A ∧ NTS, S. 194. Ebd. Besonders gut dokumentiert wird dieser Mangel an Übereinstimmung in: Stephen Evans, The Historical Christ and the Jesus of Faith, S. 322 ff. Dominick Crosson behauptet beispielsweise, der Leib Jesu sei von Hunden gefressen worden; daher sei er nicht von den Toten auferstanden. Welches sind die Belege, die für die Aussage sprechen, Jesu Körper sei wirklich von Hunden gefressen worden? Der einzige Beleg ist der, dass sich diese Beschreibung mit dem deckt, was normalerweise im Fall von Verbrechern geschah, die am Kreuz hingerichtet wurden. Doch dann hätte Crosson sein Argument noch kürzer fassen und sagen können, dass Jesus deshalb nicht von den Toten auferstanden sei, weil die meisten Menschen das nicht tun.
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B ∧ H, ebenfalls 0,9 beträgt, und fügt C ebenfalls hinzu. Ähnlich verhält es sich dann z. B. mit D, E, F und G. Sodann erklärt man A ∧ B ∧ C ∧ D ∧ E ∧ F ∧ G für sehr wahrscheinlich im Verhältnis zu unseren Belegen bzw. Hintergrundinformationen, also H. In Wirklichkeit ist es jedoch (wie uns die Wahrscheinlichkeitsrechnung lehrt) so, dass man diese Wahrscheinlichkeiten miteinander multiplizieren muss, weshalb sich die Wahrscheinlichkeit von A ∧ B ∧ C ∧ D ∧ E ∧ F ∧ G auf 0,9 hoch 7 beläuft, d. h. auf weniger als 0,5!⁵⁸ Werfen wir einen Blick auf die Gründe oder Argumente dafür, die Resultate der HKB den Resultaten der traditionellen Bibelauslegung vorzuziehen. Warum sollte man annehmen, dass wir durch jene der Wahrheit näher kommen als durch diese? Hier sind die Prinzipien von Troeltsch besonders wichtig: So wie sie innerhalb der Interpretationsgemeinschaft der HKB aufgefasst werden, schließen sie göttliche Spezialhandlungen aus, darunter auch die spezielle göttliche Inspiration der Schrift und das Vorkommen von Wundern. Gilkey formuliert es an einer bereits angeführten Stelle so: »Eine ganze Palette göttlicher Handlungen und Ereignisse, von denen in der Schrift die Rede ist, wird plötzlich so angesehen, als seien sie in Wirklichkeit nie geschehen.« Viele Theologen und Bibelforscher, die an der Universität tätig sind, glauben anscheinend, die HKB à la Troeltsch sei de rigueur. Oft wird sie als die einzige in intellektueller Hinsicht respektable Spielart der Bibelforschung angesehen bzw. als die einzige Spielart, die Wissenschaftlichkeit beanspruchen darf. (Auch viele, die im Bereich der Bibelforschung zu relativ traditionellen Schlussfolgerungen gelangen, legen dennoch ein Lippenbekenntnis zum troeltschianischen Ideal ab, da sie das ziemlich konfuse Gefühl haben, das sei die in epistemischer Hinsicht respektable oder privilegierte Vorgehensweise.) Eleonore Stump kritisiert im 3. Kapitel (»Historical Biblical Studies: Practices«) ihres noch unveröffentlichten Buchs The Knowledge of Suffering ein weiteres sehr treffendes Beispiel für dieses Vorgehen. Und William Alston schlägt in seinem Artikel »Biblical Criticism and the Resurrection« (in: Stephen T. Davis, Daniel Kendall u. Gerald O’Collins, The Resurrection: An Interdisciplinary Symposium on the Resurrection of Jesus, Oxford University Press 1998) eine eigene Lesart des Fehlschlusses der schleichenden Gewissheit vor und erwähnt seinerseits den weitverbreiteten Gebrauch des »Arguments aus der ausstehenden Bekräftigung«, das die Nichtbehauptung von p sozusagen hochstuft zur Behauptung, dass nicht-p. (Um ein Beispiel zu nennen: Thomas Sheehan sagt, laut Matthäus gebe es keine Auffahrt Christi in den Himmel [The First Coming, S. 97], wobei er sich auf Matthäus 28, 16 – 20 beruft. An dieser Stelle wird aber gar nicht gesagt, Jesus sei nicht in den Himmel aufgestiegen, sondern es wird bloß nicht gesagt, dass er es getan habe.) Stump und Alston machen (nach meinem Dafürhalten: sehr überzeugend) geltend, dass große Teile der negativen HKB einfach nicht den üblichen Maßstäben ordentlichen wissenschaftlichen Arbeitens genügen. Ich für mein Teil werde hier für die folgende These argumentieren: Selbst wenn diese Forschung wissenschaftlich gesehen einwandfrei wäre, ist sie aufgrund der hier genannten erkenntnistheoretischen Voraussetzungen von zweifelhafter Relevanz für den traditionellen christlichen Glauben.
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Doch es fragt sich, warum die Bibelforschung gerade in dieser Weise verfahren sollte – im Gegensatz sowohl zur traditionellen Bibelauslegung wie auch zu Spielarten der HKB, von denen die Troeltsch-Prinzipien nicht akzeptiert werden. Gibt es irgendwelche Gründe oder Argumente, die für diese Prinzipien sprechen?
A Höhere Gewalt Wenn ja, dann sind sie außerordentlich gut versteckt. Häufig wird jedoch eine Andeutung gemacht, die wie eine Berufung auf höhere Gewalt wirkt, so als bliebe uns keine Alternative: Angesichts unserer historischen Lage können wir gar nicht anders handeln. Historische Kräfte, die wir nicht steuern können, halten uns im Schwitzkasten – diese Kräfte sind stärker als du und ich. Typische Beispiele für diese Reaktion sind jene, die (wie Harvey, Macquarrie und Gilkey) behaupten, dass wir heutzutage unter diesen kulturellen Gegebenheiten einfach keine anderen Optionen haben. Es gebe starke historische Kräfte, die uns diese Denkweisen aufzwingen. Ob wir es wollen oder nicht – wir werden von diesem theoretischen Sturmwind umhergeweht und können uns gar nicht dagegen wehren. »Der Kausalzusammenhang in Raum und Zeit, den die Wissenschaft und die Philosophie der Aufklärung dem abendländischen Geist eingepflanzt haben, […] wird auch von modernen Theologen und Geisteswissenschaftlern unterstellt. Da sie sowohl in intellektueller als auch in existentieller Hinsicht an der modernen Welt der Wissenschaft teilhaben, bleibt ihnen kaum etwas anderes übrig« (Gilkey, s. o, S. 394). Ein weiteres Beispiel ist die folgende berühmte Bemerkung Bultmanns: »Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.«⁵⁹
Bultmann, »Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung« (1941), in: Hans-Werner Bartsch (Hg.): Kerygma und Mythos, Band 1: Ein theologisches Gespräch (1948), 5. Aufl. Hamburg: Herbert Reich – Evangelischer Verlag 1967, S. 15 – 48, Zitat S. 18. Vgl. den neueren Kommentar von Marcus Borg (dem Haushofmeister des Jesus-Seminars): »Das definierende Kennzeichen der modernen wissenschaftlichen Bibelforschung ist vor allem der Versuch, die Schrift ohne Bezugnahme auf eine jenseitige Welt zu verstehen, denn in unserer Epoche ist die sichtbare Welt in Raum und Zeit die Welt, die wir als die ›wirkliche‹ ansehen« (»Root Images and the Way We See«, in: Fragments of Infinity, Dorset/ England u. Lindfield/Australien, S. 38, zit. in: Huston Smith, »Doing Theology in the Global Village«, in: Religious Studies and Theology 13 – 14/2 u. 3, Dezember 1995, S. 12). Im Gegensatz dazu siehe Abraham Kuyper, To Be near unto God, übers. von John Hendrik de Vries, Grand Rapids: Eerdman’s 1918. Kuyper, der kurz nach der Erfindung des »Radioapparats« schrieb, erblickte darin (ebenso wie im Telefon) kein Hindernis für den traditionellen Glauben, sondern eher eine Stütze:
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Aber ist diese Auffassung, wonach wir alle von den historischen Kräften der Jetztzeit dazu gezwungen werden, die fragliche Auffassung zu vertreten, nicht historisch naiv? Zunächst einmal fragt es sich doch, wie man auf die Idee kommt, wir alle marschierten im Gleichschritt durch die Geschichte, so dass wir alle zu jeder gegebenen Zeit notgedrungen die gleichen Ansichten vertreten und die gleichen Voraussetzungen machen. Es liegt doch auf der Hand, dass es sich nicht so verhält. Die intellektuelle Welt von heute erinnert eher an ein Pferderennen (oder vielleicht an ein Karambolage-Rennen zwischen Schrottautos) als an einen Triumphzug,⁶⁰ eher an ein Schlachtfeld als an eine Benefizveranstaltung der Demokratischen Partei, bei der man sich darauf verlassen kann, dass jeder die gleiche Kandidatenliste unterstützt. Jetzt gibt es z. B. viele, die – wie Macquarrie, Harvey und Gilkey – die halb deistische Auffassung vertreten, wonach Gott (sofern es überhaupt eine solche Person gibt) im Zuge der geschichtlichen Entwicklung keine Wunder vollbringen kann oder will. Dabei ist es natürlich nicht so, als würde diese Ansicht heute von fast allen vertreten. Hunderte von Millionen Menschen würden diese Anschauung ablehnen. Es gibt sehr viel mehr Menschen, die diese Anschauung verwerfen, als Menschen, die sie akzeptieren. (Also selbst wenn Gilkey und die übrigen Autoren recht hätten – was den unabänderlichen Tanz der Geschichte betrifft, wären sie doch im Irrtum mit ihrer elitären Vorstellung, wonach der Schritt, den sie tun, zur Zeit angesagt ist.) Die schiere Offenkundigkeit der Sachlage legt eine zweite Interpretation dieser speziellen Rechtfertigung der HKB à la Troeltsch nahe. Vielleicht meinen die Apologeten ja nicht, diese halb deistische Auffassung werde heutzutage von jedem akzeptiert – das wäre trivialerweise falsch –, sondern nur von jedem, der im Bilde ist. Jeder, der richtig gebildet ist, der seinen Kant und seinen Hume (und seinen Troeltsch) gelesen und über den Sinn des Radioapparats und des elektrischen Lichts nachgedacht hat, wisse über diese Dinge Bescheid. Was den Rest der Menschheit angehe (zu der vermutlich auch wir übrigen gehören, die zwar ihren Kant und ihren Hume gelesen, sich aber nicht davon haben beeindrucken lassen), sei das Problem schlichte Unwissenheit. Vielleicht marschieren die Menschen im allgemeinen wirklich nicht im Gleichschritt durch die Geschichte, wohl aber diejenigen, die im Bilde sind, und von ihnen werden Spezialhandlungen Gottes (fast) durch die Bank abgelehnt. Selbst wenn wir uns chauvinistischerweise ausschließlich auf die gebildeten Menschen im Abendland berufen, ist diese Meinung in höchstem Maße frag»Das kommt jetzt unserem schwachen Glauben zu Hilfe«, schreibt er (S. 50). »Nun gibt es einen drahtlosen Telegrafen, der durch sein wundervolles Funktionieren zu einem schönen Symbol für unser Gebet geworden ist: Austausch mit Gott ohne vermittelnde Zwischeninstanzen« (S. 341). Hier habe ich eine Bemerkung von Jerry Fodor umformuliert.
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würdig. »Die traditionelle Auffassung der Wunder«, sagt Macquarrie, »ist mit unserem modernen Wissenschafts- und Geschichtsverständnis nicht zu vereinbaren.« Auf wen bezieht sich hier dieses »unserem«? Auf diejenigen, die eine Universität besucht und eine gute Bildung genossen haben, die sich immerhin ein wenig in den Naturwissenschaften auskennen und darüber nachgedacht haben, welche Auswirkungen diese Dinge auf die Möglichkeit von Wundern haben? Sehr viele gebildete Menschen (darunter sogar einige Theologen) verstehen die Naturwissenschaft und die Geschichte in einer Weise, die mit der Möglichkeit und der Wirklichkeit von Wundern völlig verträglich ist.Viele Physiker und Ingenieure z. B. haben sehr viel mehr Ahnung von »elektrischem Licht und Radioapparat« als Bultmann oder seine heutigen Anhänger, vertreten aber trotzdem genau jene am Neuen Testament orientierten Überzeugungen, von denen Bultmann meint, sie seien nicht verträglich mit dem Gebrauch des elektrischen Lichts und des Radioapparats. Es gibt heute enorm viele gebildete Menschen (von denen einige sogar promoviert sind), die glauben, Jesus sei wirklich und buchstäblich von den Toten auferstanden, Gott vollbringe auch in der heutigen Welt Wunder, und es gebe überdies Dämonen und Geister, die in der Welt von heute aktiv sind. Es ist ein historisches Faktum, dass es eine Unzahl von Zeitgenossen – darunter auch intellektuelle Menschen von heute mit ausgezeichneten naturwissenschaftlichen Kenntnissen – gibt, für die es völlig unproblematisch ist, ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit nachzugehen und zugleich an Wunder, Engel, die Auferstehung Christi und alles Übrige zu glauben. Aber auch das muss Macquarrie und den anderen genauso wohlbekannt sein wie jedem anderen.Was meinen er und seine Freunde also eigentlich? Wie können sie derartige Behauptungen darüber aufstellen, was »wir«⁶¹ – die wir die Ergebnisse der Wissenschaft nutzen und auch ein wenig darüber wissen – glauben bzw. nicht glauben können? Wieso können sie unbekümmert Tausende, ja Millionen von Christen ausschließen oder außer acht lassen, die nicht genauso denken wie sie selbst? Die Antwort muss lauten, dass sie meinen, diese Christen zählten irgendwie nicht.Was sie,wie ich fürchte, wirklich sagen wollen, ist, dass sie und ihre Freunde dieser Meinung sind, während jeder, der sich dagegen sträubt, dermaßen ahnungslos sei, dass man ihn ganz zu Recht links liegen lassen dürfe. Als Grund dafür, die Auffassung von Troeltsch zu akzeptieren, ist das allerdings ein bisschen dürftig und klingt eher nach gehässiger Arroganz. Die Sache wird auch dadurch
Man könnte hier von einem »präventiven« Gebrauch des Wortes »wir« sprechen. Wer uns hinsichtlich der Frage, um die es geht, nicht zustimmt, ist – verglichen mit uns selbst – dermaßen unaufgeklärt, dass wir völlig zu Recht so reden können, als existierte er gar nicht. Freilich, der am Taufbecken erhobene Anspruch auf königliches Geblüt bringt nicht automatisch eine Garantie auf Legitimität mit sich.
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nicht besser, dass sie sich hinter der Andeutung verbirgt, irgendwie könne man ja nicht anders. Natürlich kann es sein, dass Gilkey und seine Freunde wirklich nicht anders können, und in diesem Fall kann man ihnen daraus, dass sie die fragliche Auffassung bejahen, schwerlich einen Vorwurf machen.⁶² Allerdings lässt sich aus dieser Unfähigkeit ihrerseits keine Empfehlung der Troeltsch-Prinzipien ableiten. Das ist also bestenfalls ein kläglicher Grund für die Meinung, ernsthafte Bibelforschung müsse den Weg von Troeltsch einschlagen. Gibt es einen besseren Grund? Ein weiterer Vorschlag, der vielleicht mit der Berufung auf die Unfähigkeit, anders zu verfahren, zusammenhängt, ergibt sich aus der Vorstellung, schon die wissenschaftliche Praxis setze voraus, dass man die Idee des Wunders oder der innerweltlichen Spezialhandlungen Gottes ablehnt. In diesem Sinne schreibt Macquarrie: »Die Naturwissenschaft geht bei ihrer Verfahrensweise von der Voraussetzung aus, dass sich alle innerweltlichen Ereignisse unter Bezugnahme auf andere Ereignisse, die sich ebenfalls in der Welt abspielen, erklären lassen.« Vielleicht möchte er damit den Gedanken nahelegen, schon die Praxis wissenschaftlichen Arbeitens mache es erforderlich, dass man beispielsweise die Vorstellung, Gott habe jemanden von den Toten auferstehen lassen, zurückweist. Natürlich ist das Argumentationsmuster: Wenn X wahr wäre, würde es die Wissenschaft in Schwierigkeiten bringen; deshalb ist X falsch
auch im besten Fall nicht sonderlich zwingend. Es ist keine Gegebenheit für uns, dass der Herr die Welt unter dem Gesichtspunkt eingerichtet hat, der Akademie der Wissenschaft ein leichtes und bequemes Leben zu verschaffen. Wer anders denkt, verhält sich wie der Betrunkene, der darauf pocht, unter der Straßenlaterne nach seinem verlorenen Autoschlüssel zu suchen, weil er dort besser sehen könne. (Im Grunde würde man noch einen Schritt weiter gehen als der Betrunkene, denn man würde darauf bestehen, dass der Schlüssel unter der Laterne liegen muss, da er sonst in der Dunkelheit so schwer zu finden wäre.) Aber warum sollte man überhaupt annehmen, man müsse diese halb deistische Auffassung gutheißen, um Wissenschaft treiben zu können?⁶³ Viele Phy-
Es könnte jedoch sein, dass mancher darin nicht mehr sieht als den Versuch, sich in einer weitgehend säkularen Universitätslandschaft Ansehen und Wertschätzung zu verschaffen, indem man sich eine Haltung zu eigen macht, die sozusagen päpstlicher ist als der Papst. Hier kann ich mich kurz fassen, denn William Alston hat bereits ein zwingendes Argument für die These vorgelegt, die ich auch meinerseits vertreten möchte, nämlich die These, dass man auch dann problemlos wissenschaftlich arbeiten kann, wenn man glaubt, Gott habe Wunder vollbracht und tue es auch heute noch hin und wieder. Siehe Alston, »Divine Action: Shadow or Substance?«,
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siker z. B. glauben heute, Jesus sei von den Toten auferstanden, und dieser Glaube scheint ihrer Physik wenig Eintrag zu tun. Freilich, hier handelt es sich um Physik. Vielleicht läge das Problem (wie Bultmann andeutet) eher im Bereich der Medizin. Ist der Gedanke der, dass man keine medizinische Forschung betreiben oder keine Medikamente verschreiben kann, wenn man glaubt, Gott habe in der Vergangenheit Wunder vollbracht und könne auch heute noch gelegentlich welche vollbringen? Sobald der Vorschlag explizit formuliert ist, ist er auch schon widerlegt, denn es besteht nicht der mindeste Grund, warum man nicht sinnvoll glauben können soll, dass Jesus durch Gott vom Tode erweckt wurde, während man zugleich in der medizinischen Forschung arbeitet und sich beispielsweise mit dem Usher-Syndrom, mit Multipler Sklerose oder mit den Möglichkeiten befasst, den schrecklichen Folgen von Erkrankungen der Herzkranzgefäße vorzubeugen. Worin läge das Problem? Darin, dass es stets möglich wäre, dass Gott etwas anderes tut und damit mein Experiment ruiniert? Aber das ist doch tatsächlich möglich, denn Gott ist allmächtig. (Oder haben wir hier ein neues Argument gegen den Theismus vor uns? »Wenn Gott existiert, kann er mein Experiment verderben. Nichts kann mein Experiment verderben. Also …«) Wenn ich glaubte, Gott handle oft oder normalerweise in eigenwilliger Weise, so dass es eigentlich kaum Regelmäßigkeiten zu entdecken gäbe, wäre es vielleicht wirklich nicht möglich, sinnvoll wissenschaftliche Arbeit zu treiben, denn die setzt voraus, dass es in der Welt eine gewisse Regelmäßigkeit, Vorhersagbarkeit und Stabilität gibt. Doch das ist eine ganz andere Angelegenheit. Was ich voraussetzen muss, um wissenschaftlich arbeiten zu können, ist lediglich dies: dass solche Regelmäßigkeiten normalerweise und meistens gegeben sind.⁶⁴ Demnach ist auch der gerade besprochene Grund ganz und gar nicht ausreichend, um die Meinung zu vertreten, wir seien irgendwie dazu verpflichtet, die Prinzipien, die der Bibelforschung à la Troeltsch zugrunde liegen, zu akzeptieren. Es ist also schwierig, einen Grund zu erkennen, der für die Annahme spräche, die Bibelforschung à la Troeltsch sei irgendwie de rigueur oder uns durch den Verlauf unserer Geschichte aufgezwungen.
in: Thomas F. Tracy, The God Who Acts: Philosophical and Theological Explorations, University Park: Pennsylvania State University Press 1994, S. 49 – 50. In diesem Sinne argumentiert auch Alston.
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B Ein moralischer Imperativ? Van Harvey nennt einen weiteren Grund, weshalb man Bibelforschung im Sinne von Troeltsch treiben und dieses Verfahren der traditionellen Bibelauslegung vorziehen sollte.⁶⁵ Seine Begründung ist, grob gesprochen, moralischer bzw. ethischer Art. Dabei bezieht er sich zunächst⁶⁶ auf eine faszinierende Episode der viktorianischen Geistesgeschichte.⁶⁷ Es gab damals, in der viktorianischen Zeit, eine Reihe von Intellektuellen, die sich mit einem Problem herumschlugen, das ihre intellektuelle Integrität betraf. Aus Harveys Sicht »glaubten sie, es sei moralisch verwerflich, darauf zu bestehen, dass diese Behauptungen [die christlichen Berichte über die Handlungen und die Lehre Jesu] aus Glaubensgründen wahr seien, während man zur gleichen Zeit geltend machte, sie seien außerdem legitime Gegenstände historischer Forschung« (NTS, S. 195). Ich selbst halte diese Darstellung für eine tendenziöse Beschreibung des Problems, dem sich diese Intellektuellen gegenübersahen. Tendenziös ist sie deshalb, weil sie den Eindruck erweckt, diese Intellektuellen hätten zielsicher genau die Position vorausgeahnt, für die Harvey selbst sich stark machen möchte. In Wirklichkeit jedoch war ihre Position, wie ich meine, sowohl weniger idiosynkratisch als auch in weit höherem Maße plausibel. Warum sollte man es für unmoralisch halten, aus religiöser Überzeugung etwas zu glauben, was sich auch anhand anderer Glaubens- oder Wissensquellen untersuchen ließe? Nehmen wir an, ich bin neugierig und möchte wissen, wo du dich am letzten Freitag in den Nachtstunden aufgehalten hast. Warst du vielleicht in unserer Eckkneipe? Womöglich gibt es drei Wege, auf denen ich etwas herausbekommen könnte: indem ich dich frage, indem ich deine Frau frage oder indem ich die Kneipe nach Fingerabdrücken absuche (zum Glück wird in unserer Kneipe nie geputzt). Hätte es etwas Unmoralisches,wenn ich eine dieser Methoden benutzte, während tatsächlich auch die anderen zu Gebote stünden? Nein, das kann man nicht ohne weiteres annehmen. Das war aber nicht schon alles, was diese Viktorianer umtrieb. Wären sie zuversichtlich davon ausgegangen, dass sowohl der Glaube als auch die histori Zumindest vermute ich, dass dieses Argument die HKB à la Troeltsch stützen soll. Es könnte allerdings auch benutzt werden, um die spinozistische oder (was jedoch weniger plausibel wäre) die duhemianische HKB zu untermauern. NTS, S. 194 ff. Eine ausführlichere (wenn auch ältere) und einflussreiche Darstellung der Ansichten Harveys findet der Leser in seinem Buch The Historian and the Believer (vgl. oben, Anm. 27). Eine verständnisvolle und lebendige Darstellung gibt James C. Livingston in seiner Monographie The Ethics of Belief: An Essay on the Victorian Religious Conscience, erschienen in der von der American Academy of Religion herausgegebenen Reihe Studies in Religion, Tallahassee: Scholars Press 1978. Ich danke Martin Cook für den Hinweis auf diese Monographie.
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sche Untersuchung zuverlässige Wege zu den betreffenden Wahrheiten darstellen, hätten sie es sicher nicht für unmoralisch gehalten, ihren Glauben auf die Grundlage des einen (also nicht des anderen oder beider) zu stellen. Ihr Problem reichte tiefer. Was sie (unter anderem) beunruhigte, waren die Ergebnisse der deutschen Bibelforschung, über die sie jedoch nicht sonderlich gut unterrichtet waren. Allerdings wussten sie immerhin genug, um – sei’s zu Recht oder zu Unrecht – zu glauben, sie stellten eine echte Gefahr dar für die christlichen Überzeugungen, die vielen von ihnen ohnehin schon ziemlich wacklig vorkamen. Sie vermuteten oder befürchteten, diese Bibelforschung könne oder werde zeigen oder habe bereits nachgewiesen, dass wesentliche Elemente des christlichen Glaubens schlicht falsch sind.Was sie ebenfalls beunruhigte, war die aus der Sicht vieler gegen den Supranaturalismus und den Theismus gerichtete Tendenz der Wissenschaft: Konnte man denn in einer Zeit der Dampfmaschinen und der Ozeandampfer an die im Neuen Testament geschilderte Welt der Geister und Wunder glauben? Außerdem beunruhigte sie das Aufkommen des Darwinismus, der bei vielen von ihnen den Eindruck erweckte, dass er dem christlichen Bild des Ursprungs des Menschen widerspricht. Sie waren, da sie sich an Locke und die ganze klassische Tradition des Fundierungsdenkens hielten, davon überzeugt, dass die richtige Methode, zu Überzeugungen über diese Themen zu gelangen, darin besteht, dass man den (propositionalen) Belegen auf allen Wegen folgt, auf die sie uns führen. Große Sorgen bereitete ihnen dabei die Frage, wohin sie diese Belege tatsächlich führten. Kurz, was sie beunruhigte, war eine Vielfalt von Faktoren, die alle darauf hinzudeuten schienen, dass der christliche Glaube in Wirklichkeit nichts weiter ist als eine hübsche Geschichte, die zwar anregend, erbaulich und vielleicht zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Moral erforderlich sein mag, aber dennoch nichts weiter ist als eine Geschichte. Angesichts unserer wissenschaftlichen Mündigkeit würden informierte Menschen, wie die viktorianischen Intellektuellen fürchteten, ihren traditionellen christlichen Glauben mit Bedauern aufgeben müssen, wobei sie vielleicht gelegentlich (vor allem bei festlichen Anlässen) einen wehmütigen Blick zurück werfen würden. Andererseits sehnten sich viele von ihnen auch nach dem Trost und der Sicherheit des authentischen christlichen Glaubens. Der Verlust dieses Trosts und dieser Sicherheit wäre vergleichbar der Situation, in der man sein Vaterhaus verlassen und sich in eine feindselige oder gleichgültige Welt hinauswagen muss. Natürlich hatten viele dieser Viktorianer ausgeprägte moralische Ansichten und einen stark entwickelten Sinn für Moral. Sie hielten es für schwach, rückgratlos und feige, sich nicht diesen Gespenstern stellen zu wollen, sie vor dem eigenen Blick zu verbergen und sich auf Selbstbetrug und widersprüchliches Denken einzulassen. All dies war ihrer Ansicht nach einer ernsten und aufrechten Person nicht würdig. Sie verabscheuten die Schwäche und die moralische Schlaffheit
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einer Haltung, aus der heraus man zwar die bittere Wahrheit vermutet, sich aber zugleich weigert, die Sache zu untersuchen, und statt dessen die Wahrheit lieber vor sich selbst versteckt, da man vielleicht hofft, sie werde schon irgendwie verschwinden. Viele von ihnen glaubten, genau dieser Beschreibung entspreche das Verhalten manches Geistlichen und manches Pädagogen – und dafür verachtete man diese Menschen. Viel besser sei es, sich der traurigen Wahrheit mit intellektueller Aufrichtigkeit und männlichem Mut zu stellen und dabei Haltung zu wahren. Es ging also nicht bloß darum, dass man es für verwerflich hielt, aus religiöser Überzeugung zu glauben, was man auch mit Mitteln der Vernunft oder der historischen Forschung ermitteln konnte. Entscheidend war vielmehr, dass die Viktorianer vermuteten und angstvoll befürchteten, der historische Ansatz könne (zusammen mit den anderen Faktoren, die ich erwähnt habe) den religiösen Glauben untergraben. Sie verachteten und verabscheuten die Einstellung, bei der man bewusst den Kopf in den Sand steckt und sich aus Zaghaftigkeit, Angst oder Verlangen nach Trost weigert, den Tatsachen ins Auge zu blicken. Es sind Gründe dieser Art, welche die moralische Leidenschaft, ja Schärfe des häufig wiederabgedruckten Artikels »The Ethics of Belief« von W. K. Clifford erklären.⁶⁸ Wie immer es sich mit den Viktorianern verhalten haben mag, Harvey stellt das folgende moralische Dogma auf: Die Kluft, die konservative, gläubige Christen und wissenschaftliche Forscher, die sich mit dem Neuen Testament befassen, voneinander trennt, kann auch als Konflikt zwischen zwei antithetischen Formen der Ethik des Glaubens gesehen werden. […] Die Forschung zum Neuen Testament ist inzwischen dermaßen spezialisiert und setzt ein solches Maß an Vorkenntnissen voraus, dass der Laie schon allein aufgrund mangelnder Qualifikation kein Recht darauf hat, sich über die Wahrheit oder Falschheit bestimmter historischer Thesen ein Urteil zu erlauben. Insofern der konservative, gläubige Christ ein Laie ist, der sich auf dem Gebiet der Forschung zum Neuen Testament nicht auskennt, hat er schlicht nicht den geringsten Anspruch auf bestimmte historische Überzeugungen. Genauso wie der durchschnittliche Laie kaum dazu in der Lage sein dürfte, sich ein fundiertes Urteil über den Siebenten Brief Platons, das Verhältnis zwischen Montezuma und Cortez oder die Urheberschaft der Konstantinischen Schenkung herauszunehmen, so hat der durchschnittliche Laie auch kein Recht auf eine Meinung über die Urheberschaft des vierten Evangeliums oder die Zuverlässigkeit der synoptischen Evangelien. (NTS, S. 197)
»Der Laie hat schon allein aufgrund mangelnder Qualifikation kein Recht darauf, sich über die Wahrheit oder Falschheit bestimmter historischer Thesen ein Urteil zu erlauben« – das sind harsche Worte! Es gab einmal eine Zeit, in der Priester und
Clifford, »The Ethics of Belief«, Erstveröffentlichung in: The Contemporary Review 29 (1877), wiederabgedruckt in: Clifford, Lectures and Essays, London: Macmillan 1879, S. 345 ff.
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Pfarrer, die ja oft die einzigen gebildeten Mitglieder ihrer Gemeinde waren, eine gewisse intellektuelle und spirituelle Führungsrolle spielten und hofften, ihre Schäfchen würden schon dahin gelangen, die Wahrheit zu sehen, zu würdigen und zu glauben. Hält man sich an Harveys Ausführungen, haben die Schäfchen nicht einmal das Recht auf eine Meinung zu diesen Punkten – nicht einmal auf eine Meinung, die ihnen von den Experten schmackhaft gemacht wurde! Harvey bedauert es (S. 193), dass viele Studenten offenbar nicht viel anfangen können mit den Resultaten der Bibelforschung.Wenn er recht hat, haben die Studenten jedoch nicht einmal das Recht, den Resultaten der Bibelforschung Glauben zu schenken. Daher tun sie eigentlich bloß ihre Pflicht, indem sie sich weigern, diese Resultate zu glauben. Hoffentlich erinnert sich Harvey daran, dass er seine Ansichten im Seminar nicht zu attraktiv und einnehmend darstellt. Denn wenn er es täte, könnten einige der Studenten daran glauben, und in diesem Fall würden sie sündigen, während er selbst im Sinne des Paulus Anstoß erregt (Römer 14, ganz zu schweigen von 1. Korinther 8, 9). Angenommen, wir wenden traurig unseren Blick ab von diesem Amok laufenden Elitismus, dann fragt es sich, warum Harvey meint, nur der Historiker habe das Recht, in diesen Dingen eine Meinung zu vertreten. Die Antwort lautet offenbar: Weil er meint, der einzige Weg, auf dem man zu akkuraten und zuverlässigen Informationen über dergleichen gelangen kann, führe über wissenschaftliche Forschung à la Troeltsch. Diese Meinung wiederum setzt offensichtlich die philosophische und theologische Ansicht voraus, dass es diesbezüglich keinen anderen epistemischen Weg gibt. Sie setzt beispielsweise voraus, dass der Glaube (und der innere Ansporn des Heiligen Geistes) in diesen Dingen weder eine Quelle gewährleisteter Überzeugungen noch von Erkenntnis ist.Wäre der innere Ansporn des Heiligen Geistes eine Quelle gewährleisteter Überzeugungen, und hätte der »durchschnittliche Laie« Zugang zu dieser Quelle, wäre vermutlich gar nichts daran auszusetzen, wenn der Laie auf dieser Basis Meinungen über diese Thematik hätte. Harvey sagt: »Genauso wie der durchschnittliche Laie kaum dazu in der Lage sein dürfte, sich ein fundiertes Urteil über den Siebenten Brief Platons, das Verhältnis zwischen Montezuma und Cortez oder die Urheberschaft der Konstantinischen Schenkung herauszunehmen, so hat der durchschnittliche Laie auch kein Recht auf eine Meinung über die Urheberschaft des vierten Evangeliums oder die Zuverlässigkeit der synoptischen Evangelien.« Der einzige Weg, auf dem sich die Wahrheit über den Siebenten Brief Platons bestimmen lässt, führt über den Weg gewöhnlicher historischer Forschungsarbeit. Das gleiche gilt, wie Harvey annimmt, auch für Fragen bezüglich des Lebens und Wirkens Christi: ob er von den Toten auferstand, ob er sich selbst für einen Messias hielt und dergleichen mehr. Was dieser moralischen These zugrunde liegt, ist eigentlich ein philosophisch-theologisches Urteil, wonach der traditionelle christliche Glaube völlig im
IV Warum sind die meisten Christen nicht besorgter?
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Irrtum ist, wenn er davon ausgeht, der religiöse Glaube sei tatsächlich eine zuverlässige Quelle wahrer und gewährleisteter Überzeugungen im Hinblick auf diese Themen.⁶⁹ Diese Auffassung ist natürlich kein Resultat historischer Forschung, sei’s nach der Methode von Troeltsch oder irgendeinem anderen Verfahren. Sie wird weder von Argumenten gestützt, die irgendjemanden ansprechen werden, der nicht schon der gleichen Meinung ist wie Harvey, noch von irgendwelchen sonstigen Argumenten. Vielmehr ist Harveys Auffassung eine Voraussetzung, eine methodologische Anweisung, die historisch-kritische Methode à la Troeltsch anzuwenden, und ein Verbot der traditionellen Bibelauslegung. Sie kann also kaum als unabhängiger stichhaltiger Grund dafür aufgefasst werden, die erstere der letzteren vorzuziehen. Wir haben es mit verschiedenen philosophisch-theologischen Standpunkten zu tun, die verschiedene Formen der Bibelforschung vorschreiben. Eine Möglichkeit zu zeigen, dass die eine wirklich der anderen überlegen ist, bestünde darin, ein gutes Argument für die eine philosophischtheologische Position oder gegen die andere vorzulegen. Harvey tut weder das eine noch das andere, sondern er bezieht einfach (unkritisch und ohne den Sachverhalt auch nur zu erwähnen) den einen Standpunkt und lehnt den anderen ab. Er geht davon aus, dass es außer der Vernunft keine Gewährleistung oder Erkenntnis gibt. Das leuchtet aber keineswegs von selbst ein. Millionen, vielleicht sogar Milliarden von Christen und anderen Menschen lehnen diese Annahme ab. Ist es dann vernünftig, sie einfach vorauszusetzen, ohne diese entgegengesetzte Meinung auch nur anzuerkennen, und ohne auch nur eine schwach andeutende Geste in Richtung Argument oder Begründung zu machen?
C Ist die historisch-kritische Bibelforschung offener? John Collins sieht ein, dass die Forschung à la Troeltsch von theologischen Annahmen ausgeht, die nicht annähernd allgemein anerkannt sind. Er nennt zwar keine Argumente für die Wahrheit dieser Annahmen, aber er stützt seine Empfehlung auf eine ganz andere Basis. Nachdem er Brevard Childs Vorschlag einer »kanonischen« Herangehensweise an die Bibelforschung⁷⁰ abgelehnt hat, be-
In diesem Sinne schreibt er in The Historian and the Believer: »Bei der Rechtfertigung tatsachenbezogener historischer Argumente hat der Glaube keine Funktion« (S. 112), und »Gläubige haben keine spezifisch christlichen Mittel zur begründeten Feststellung, ob Hitler verrückt war, […] ob Jesus vom Tode erweckt wurde« (S. 242). Siehe beispielsweise Brevard Child, The New Testament as Canon, S. 3 – 53.
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hauptet er, das Problem liege darin, dass der Ansatz von Child keinen offenen Rahmen für diese Forschung bereitstellt: Um ihre Stellung innerhalb der ernstzunehmenden wissenschaftlichen Forschung zu behaupten, muss die theologische Beschäftigung mit der Bibel umfassend genug aufgefasst werden, um einen Rahmen für Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Standpunkten zur Verfügung zu stellen. Sonst wird sie wahrscheinlich zu einem sektiererischen Reservat, das nur für diejenigen von Interesse ist, die bestimmte konfessionelle Glaubenssätze vertreten, die von der Fachdisziplin insgesamt nicht geteilt werden. Childs dogmatische Auffassung des Kanons liefert keine Basis dafür, den Dialog voranzubringen. Meiner Meinung nach stellt die historisch-kritische Methode nach wie vor den befriedigendsten Rahmen für Diskussionen bereit.⁷¹
Außerdem meint er: Ein Kriterium für die Adäquatheit der Voraussetzungen ist das Ausmaß, in dem sie einen Dialog zwischen verschiedenen Standpunkten zulassen und neue Einsichten einbeziehen können. […] Es ist vielleicht die in diesem Jahrhundert herausragende Leistung der historisch-kritischen Methode, dass sie einen Rahmen zur Verfügung gestellt hat, in dem Wissenschaftler mit unterschiedlichen Vorurteilen und Bindungen sich in konstruktiver Weise miteinander haben auseinandersetzen können.⁷²
Warum sollte man die Bibelforschung im Sinne von Troeltsch der traditionellen Bibelauslegung vorziehen? Weil sie einen weiteren Rahmen bietet, in dem Menschen mit einander widerstreitenden theologischen Meinungen ohne Ausnahme teilnehmen können. Egal, ob es sich um konservative Christen, liberale Theologen oder Personen ohne alle theologischen Meinungen handelt – sie alle können sich an der Bibelforschung à la Troeltsch beteiligen, sofern sie den Grundannahmen zustimmen. Das ist der Grund, warum sie der traditionelleren Form vorzuziehen ist. Nun, vielleicht wäre es ein Grund dafür, sich der Duhemschen Methode der Bibelforschung zu bedienen, aber die Bibelforschung à la Troeltsch ist natürlich keine Duhemsche Methode, denn die Prinzipien, nach denen sie verfährt, werden nicht von fast allen akzeptiert. Nur eine winzige Minderheit der heutigen Christen z. B. würde sie akzeptieren. Und das zeigt meines Erachtens, dass Collins’ Verteidigung der Bibelforschung à la Troeltsch eine grundlegende Verwechslung enthält: Seine Verteidigung entspricht der Bibelforschung im Sinne Duhems,
Collins, »Is a Critical Biblical Theology Possible?«, in: The Hebrew Bible and its Interpreters, S. 6 – 7. Collins spricht hier nicht von der HKB à la Troeltsch, sondern von HKB schlechthin. Zwei Seiten früher jedoch setzt er die HKB mit der HKB im Sinne von Troeltsch gleich. Ebd., S. 8.
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während sie zu der Forschung à la Troeltsch gar nicht passt. Interpretiert man die Prinzipien der historischen Forschung im Sinne von Troeltsch so, dass sie Wunder, direkte göttliche Handlungen und die spezielle göttliche Inspiration der Bibel ausschließt, handelt es sich bei ihnen um extrem kontroverse philosophische und theologische Annahmen.Wer diese kontroversen Annahmen nicht akzeptiert,wird nicht dazu neigen, sich an der HKB à la Troeltsch zu beteiligen – genauso wie diejenigen, die philosophische und theologische Anschauungen der traditionellen christlichen Art nicht akzeptieren, sich wahrscheinlich nicht an der traditionellen Bibelauslegung beteiligen werden. (Wer nicht glaubt, es sei der Herr, der in der Schrift spricht, der wird wahrscheinlich nicht viel Zeit auf den Versuch verwenden, herauszubekommen, was er dort sagt.) Die historisch-kritische Methode ist, wie Jon Levenson sagt, nicht dazu angetan, »die Kommunikation mit den Menschen außerhalb ihrer Grenzen zu erleichtern. Sie verlangt, dass Fundamentalisten z. B. als Liberale wiedergeboren werden – andernfalls müssen sie sich ganz aus dem Gespräch heraushalten.«⁷³ Außerdem schreibt er: »Würde die Aufnahmebereitschaft quantitativ gemessen, hätte Brevard Childs keine Mühe, die Partie zu gewinnen, denn bei den gläubigen Christen gibt es sehr viel mehr Personen, die sich für die Bibel interessieren, als auf Seiten der durch und durch historisch Gesinnten. Würde man uns Vertreter der historisch-kritischen Methode als religiöse Körperschaft einstufen, müssten wir als ganz winzige Sekte gelten, und darüber hinaus als eine, der es ausgesprochen schwerfällt, sich mit Gruppen ins Benehmen zu setzen, die unsere Überzeugungen nicht akzeptieren.«
V Nichts, worüber man besorgt sein sollte Jetzt sind wir dazu bereit, auf Harveys Ausgangsfrage zurückzukommen: Woran liegt es, dass der Kirchgänger sich kaum um die moderne HKB kümmert und trotz jahrzehntelanger Forschungsarbeit an einem ziemlich traditionellen Bild des Lebens und Wirkens Jesu festhält? Warum es sich im wirklichen historischen Geschehen so verhält, ist eine Frage, mit der sich die Experten der Geistesgeschichte befassen müssen. Wir haben jedoch gesehen, dass kein zwingendes oder auch nur einigermaßen brauchbares Argument vorliegt, das dafür spräche, die Verfahren und Annahmen der HKB den Verfahren und Annahmen der traditionellen Bibelauslegung vorzuziehen. Schon ein geringes Maß an erkenntnistheoretischer Reflexion genügt auch, um zur folgenden Einsicht zu gelangen: Der traditionelle Christ (ob er nun in die Kirche geht oder nicht) verfügt über gute
Levenson, The Hebrew Bible, the Old Testament, and Historical Criticism, S. 120.
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Gründe, die skeptischen Thesen der HKB zurückzuweisen und sich – der zersetzenden Säure der HKB zum Trotz – an den christlichen Glauben der Tradition zu halten.
A Nochmals zur historisch-kritischen Bibelforschung à la Troeltsch Es gibt, wie wir gesehen haben, im wesentlichen drei Arten von HKB. Was unser jetziges Vorhaben anlangt, können wir die duhemianische und die spinozistische HKB jedoch zusammen betrachten. Dementsprechend wollen wir festsetzen, dass wir es mit troeltschianischer oder nichttroeltschianischer HKB zu tun haben. Schauen wir uns die erste dieser beiden Möglichkeiten an: Der troeltschianische Bibelforscher akzeptiert die von Troeltsch aufgestellten Prinzipien der historischen Forschung und geht dabei von einer Interpretation aus, wonach diese Prinzipien das Vorkommen von Wundern ebenso ausschließen wie die göttliche Inspiration der Bibel (sowie das damit einhergehende Korollar, die Bibel sei so einheitlich wie ein Buch, das auf einen Haupturheber zurückgeht). Doch nun ist es gar nicht überraschend, dass der Troeltschianer tendenziell Schlussfolgerungen vorlegt, die mit denen, die von traditionellen Christen akzeptiert werden, ganz und gar nicht übereinstimmen. In diesem Sinne sagt Gilkey an einer bereits zitierten Stelle: »Eine ganze Palette göttlicher Handlungen und Ereignisse,von denen in der Schrift die Rede ist, wird plötzlich so angesehen, als seien sie in Wirklichkeit nie geschehen.« Würde der Troeltschianer nun (anstatt tendenziöse Behauptungen über unsere Unfähigkeit, anders zu verfahren, aufzustellen) gute Gründe für die wirkliche Wahrheit dieser Troeltsch-Prinzipien anführen, müssten traditionelle Christen die Ohren spitzen und die skeptischen Thesen der historisch-kritisch vorgehenden Forscher ernst nehmen. Die Troeltsch-Anhänger haben jedoch offenbar keine guten Gründe zu bieten. Sie verkünden einfach, heutzutage sei man außerstande, anders zu denken, oder (im Anschluss an Harvey) es sei unmoralisch, beispielsweise an die Auferstehung Christi aus anderen als historischen Gründen zu glauben. Keine dieser beiden Behauptungen liefert einen auch nur entfernt überzeugenden Grund dafür, den traditionellen christlichen Glauben im Hinblick auf Resultate à la Troeltsch zu modifizieren. Was die erste Behauptung betrifft, weiß der traditionelle Christ natürlich, dass sie völlig falsch ist, denn er selbst und viele seiner Freunde (sowie Hunderte von Millionen weiterer Menschen) denken auch heute noch in genau dieser unstatthaften Weise. Und was die impliziten Ansprüche auf Überlegenheit der troeltschianischen Denkweisen betrifft, wird sich der traditionelle Christ nicht davon beeindrucken lassen, es sei denn, es werden ein paar anständige Argumente dieser oder jener Art vorgelegt, oder es wird ein
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guter Grund dafür, sich diese Meinung zu eigen zu machen, präsentiert. Die bloße Behauptung, dies entspreche der Ansicht vieler moderner Experten, wird und sollte den traditionellen Christen nicht einschüchtern. Der zweite (auf Harvey zurückgehende) Grund wiederum scheint seinerseits von der strittigen These selbst abhängig zu sein. Warum hält der Kritiker es für unmoralisch, Überzeugungen über historische Fakten aus anderen Gründen zu bilden als denen der historischen Forschung? Weil er glaubt, der einzige zuverlässige Grund für Überzeugungen jener ersteren Art seien Forschungsergebnisse dieser letzteren Art. Aber auch im vorliegenden Fall wird kein Argument für diese Annahme vorgelegt, sondern nur verkündet, das glaubten diejenigen, die im Bilde sind,wobei man sich vielleicht noch als jemand geriert, der mit gekränkter Verblüffung die Tatsache betrachtet, dass Kirchgänger der Sache offenbar nicht viel Beachtung schenken. Zur Veranschaulichung wollen wir den folgenden Vergleich betrachten: Angenommen, dein Freund wird angeklagt und schuldig gesprochen, eine wertvolle friesische Vase aus dem Museum von Franeker gestohlen zu haben. Zufällig erinnerst du dich deutlich, dass sich dein Freund zur Zeit des Diebstahls in deinem Büro aufhielt und dort seine exzentrischen Ansichten über das Johannesevangelium verteidigte. Beim Prozess hast du eine entsprechende Zeugenaussage gemacht, aber es hat nichts genützt. Nun komme ich daher und biete meine Dienste an, um eine streng wissenschaftliche Untersuchung durchzuführen und zu sehen, ob deine Ansicht in diesem Fall tatsächlich zutrifft. Du bist sehr froh über dieses Angebot, da du ja zu wissen glaubst, dass dein Freund unschuldig ist. Sobald ich dir jedoch meine Methoden erklärt habe, verwandelt sich deine Freude in Bestürzung. Ich weigere mich nämlich, das Zeugnis der Erinnerung zu akzeptieren. Den Umstand, dass du dich an die Anwesenheit deines Freundes im Büro erinnerst, will ich für mein Teil völlig außer acht lassen, und zwar selbst dann, wenn er tatsächlich unschuldig ist. Kann ich dir einen Vorwurf daraus machen, dass du jetzt das Interesse an meiner »wissenschaftlichen« Untersuchung verlierst? Nach meinem Dafürhalten sollte der traditionelle Christ die Troeltsch-HKB mit dem gleichen Argwohn betrachten. Denn sie weigert sich, eine von seiten des traditionellen Christentums akzeptierte Quelle der gewährleisteten Überzeugung überhaupt zuzulassen, nämlich den Glauben und die göttliche Offenbarung, die der traditionelle Christ beide als Quellen der Gewährleistung auffasst. Außerdem ist die Troeltsch-HKB von vornherein außerstande, zu Schlussfolgerungen wie diesen zu gelangen: dass Jesus wirklich von den Toten auferstand und tatsächlich der Sohn Gottes ist.
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B Historisch-kritische Bibelforschung nichttroeltschianischer Provenienz Die HKB à la Troeltsch kann daher keinen Anspruch auf die Aufmerksamkeit echter Christen erheben. Für solche Christen ist es völlig vernünftig, ihre Überzeugungen ganz unabhängig von dieser Bibelforschung zu bilden und aufrechtzuerhalten. Wie steht es nun mit der nichttroeltschianischen (duhemianischen und spinozistischen) HKB? Das ist eine völlig andere Sache. Der Nichttroeltschianer möchte nur Annahmen verwenden, die offenkundig Leistungen der Vernunft sind (bzw. die von jedem akzeptiert werden, der an dem relevanten Projekt beteiligt ist). Was wissenschaftliche Zwecke betrifft, akzeptiert er die traditionell christlichen Ansichten über die Bibel oder das Leben Christi nicht, aber die Troeltsch-Prinzipien akzeptiert er ebensowenig. Er geht zwar nicht davon aus, dass Wunder geschehen sind oder geschehen können, doch das ist etwas ganz anderes als die Annahmen, es seien keine geschehen oder es könnten keine geschehen – und er geht weder von der einen noch von der anderen aus. Er setzt zwar nicht voraus, dass die Bibel tatsächlich das Wort des Herrn und daher maßgeblich und zuverlässig ist, aber er setzt genausowenig voraus, dass sie nicht das Wort des Herrn sei. Mag sein, dass er damit nicht viel in der Hand hat. Der Nichttroeltschianer steht auf diesem Gebiet vor Hindernissen, die es in Bereichen wie Physik oder Chemie nicht gibt. Wenn man von wenigen Streitfragen bezüglich des anthropischen Prinzips und des Indifferenzprinzips absieht,⁷⁴ gibt es in diesen letzteren Bereichen kaum theologische Kontroversen, die für die fachliche Arbeit relevant erscheinen. Mit der Bibelforschung jedoch verhält es sich anders, denn hier sind sogar die Grundlagen des Fachs zutiefst umstritten. Hat die Bibel einen Haupturheber, nämlich Gott selbst? Wenn nicht, dann hat Jowett vielleicht recht, wenn er sagt: »Die Heilige Schrift hat einen Sinn, nämlich den Sinn, der dem Propheten oder Evangelisten vorschwebte, der als erster den Text äußerte oder niederschrieb, und den die Hörer oder Leser erfassten, die als erste davon erfuhren.« Andernfalls liegt er falsch.⁷⁵ Ist die Bibel göttlich inspiriert, so dass ihre Lehre sowohl wahr ist als auch akzeptiert werden muss? Wenn sie über Wunder berichtet – Auferstehung von den Toten, Jungfrauengeburt, Verwandlung von Wasser in Wein, Heilung Blind- und Lahmgeborener –, stellt sich die Frage, ob diese Berichte für bare Münze genommen oder verworfen werden sollen, da sie »unserem heutigen
Siehe Ernan McMullin, »Indifference Principle and Anthropic Principle in Cosmology«, in: Studies in the History and Philosophy of Science 24/3 (1993), und meinen Aufsatz »Methodological Naturalism?«, in: J.van der Meer (Hg.), Facets of Faith and Science, Band 1, Lanham, MD: University Press of America 1996. Siehe oben, Anm. 19.
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Wissensstand« widersprechen. Kommt man bezüglich dieser Themen beispielsweise durch den Glauben oder das göttliche Zeugnis an die Wahrheit heran, also auf einem völlig anderen Weg als dem einer gewöhnlichen historischen Untersuchung? Wenn wir von allen diesen Dingen absehen und verantwortungsvoll vorgehen (und nicht vergessen, das Gesetz der abnehmenden Wahrscheinlichkeiten zu berücksichtigen), werden unsere Ergebnisse wahrscheinlich recht dürftig ausfallen. Nach A. E. Harvey z. B. sind die folgenden Punkte von jedem Standpunkt aus gesehen (also im Sinne Duhems) über jeden vernünftigen Zweifel erhaben: »Jesus war sowohl in Galiläa als auch in Jerusalem bekannt. Er lehrte. Er heilte mehrere Krankheiten, insbesondere trieb er Dämonen aus, und diese Heilungen wurden allgemein als Wunder angesehen. Er war an Kontroversen mit anderen Juden beteiligt, bei denen es um Fragen der mosaischen Gesetze ging. Er wurde gekreuzigt, als Pontius Pilatus Statthalter war.«⁷⁶ Dabei ist nicht einmal klar, ob Harvey meint, nicht nur die Wahrheit jedes einzelnen Konjunktionsglieds, sondern der Konjunktion dieser Aussagen sei über jeden vernünftigen Zweifel erhaben.⁷⁷ Ob so oder so – das Ergebnis ist jedenfalls ziemlich dürftig. Oder denken wir an John Meiers monumentales Werk A Marginal Jew: Rethinking the Historical Jesus. (Der erste Band hat 484, der zweite 1055, der dritte 703 und der vierte 735 Seiten. Der fünfte Band soll noch erscheinen.) Meiers Ziel ist es, im Sinne Duhems oder immerhin spinozistisch zu verfahren: »Meine Methode folgt einer einfachen Regel: Es wird von allem abgesehen, was der christliche Glaube oder die spätere Lehre der Kirche über Jesus sagt, ohne solche Behauptungen zu bejahen oder zu bestreiten« (S. 1). (Nach meinem Eindruck möchte er außerdem Annahmen vermeiden, die mit dem traditionellen christlichen Glauben nicht zu vereinbaren sind.) Durch und durch im Sinne Duhems ist auch Meiers Phantasiegeschichte von einem »unpäpstlichen Konklave«, zu dem sich jüdische, katholische, protestantische und agnostische Forscher versammeln und im Keller der theologischen Bibliothek der Harvard-Universität einschließen lassen, bis sie zu einem Konsensus darüber gelangen, was die historischen Methoden im Hinblick auf das Leben und Wirken Jesu zeigen können. Dieses Konklave würde, wie Meier schreibt, »einen skizzenhaften Entwurf liefern, aus dem hervorgeht, was
Harvey, Jesus and the Constraints of History, Philadelphia: Westminster Press 1982, S. 6. Es könnte sein, dass jedes der Konjunktionsglieder über vernünftige Zweifel erhaben ist, ihre Konjunktion dagegen nicht. Nehmen wir – bloß um willkürlich eine Zahl festzusetzen – an: was eine Wahrscheinlichkeit von 0,95 oder mehr hat, sei über jeden vernünftigen Zweifel erhaben. Dann könnte es sein, dass zwar jede der oben genannten Einzelaussagen über vernünftige Zweifel erhaben ist, während ihre Konjunktion dennoch kaum mehr als doppelt so wahrscheinlich ist wie ihre Negation.
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dieses Phantom ›alle vernünftigen Menschen‹ über den historischen Jesus sagen könnte« (S. 2). Meier macht sich in umsichtiger, objektiver und sorgfältiger Weise daran, diesen Konsens zu etablieren.⁷⁸ Frappierend ist jedoch, wie dürftig und wie provisorisch seine Schlussfolgerungen sind, obwohl sogar er sich manchmal nicht enthalten kann, Türme aus Wahrscheinlichkeiten zu errichten. Aus Meiers mühseliger Arbeit ergibt sich kaum mehr, als dass Jesus ein Prophet war, ein Verkünder einer eschatologischen Gottesbotschaft – jemand, der für eindrucksvolle, das Reich Gottes ankündigende und zugleich seine Botschaft ratifizierende Taten, Zeichen und Wunder verantwortlich war.⁷⁹ Als Duhemianer oder Spinozist kann man freilich nicht hinzufügen, dass diese Zeichen und Wunder spezielles bzw. direktes göttliches Handeln voraussetzen – und ebensowenig kann man behaupten, sie setzten es nicht voraus. Man kann also weder sagen, Jesus sei von den Toten auferstanden, noch kann man sagen, er sei nicht auferstanden. Man kann nicht das Fazit ziehen, die Bibel gehe auf spezielle Inspiration zurück, noch kann man das Gegenteil behaupten. Das Charakteristikum der nichttroeltschianischen HKB besteht gerade darin, dass sie die Troeltsch-Prinzipien nicht voraussetzt. Aber auch diese Form der HKB weist jede vermeintliche Quelle gewährleisteter Überzeugungen, die zur spinozistischen Vernunft hinzukäme, ebenso zurück wie theologische Annahmen, die nicht von allen an der Diskussion Beteiligten geteilt werden.⁸⁰ Traditionelle Christen meinen – sei’s zu Recht oder zu Unrecht –, dass ihnen zusätzlich zur Vernunft weitere Quellen gewährleisteten Glaubens zu Gebote stehen, nämlich: das göttliche Zeugnis in der Bibel, der Glaube und das Wirken des Heiligen Geistes sowie das Zeugnis der vom Heiligen Geist geführten Kirche. Es kann sein, dass sie sich irren, aber ehe jemand durch ein brauchbares Argument zeigt, dass sie tatsächlich im Irrtum sind, brauchen sie sich nicht durch das Resultat einer Forschung beeindrucken zu lassen, die diese zusätzliche Quelle der Überzeugung außer acht lässt.Wenn man die Wahrheit über ein bestimmtes Gebiet herausfinden
»Kurz, an Solidität, Zurückhaltung und Frömmigkeit dürfte Meiers Darstellung auf dem Gebiet der historischen Jesus-Forschung nicht zu übertreffen sein.Wichtiger ist, dass Meier ein sorgfältig arbeitender Wissenschaftler ist. Seine Analysen enthalten keine voreiligen Urteile oder Schlampigkeiten. Er zieht alle Meinungen in Betracht und wägt jede Option ab« (Luke Timothy Johnson, The Real Jesus, S. 128). Johnson, The Real Jesus, S. 130 – 131. Natürlich könnte es sein, dass man diese zusätzlichen Quellen des gewährleisteten Glaubens eigentlich akzeptiert, aber herausfinden möchte, wie weit man mit einer Argumentation kommen kann, die von einem streng duhemianischen oder spinozistischen Standpunkt ausgeht. Dass man einem duhemianischen oder spinozistischen Vorhaben nachgeht, heißt nicht unbedingt: glauben, dass es keine zusätzlichen Quellen gibt. Es heißt nur, dass man sie im Hinblick auf das betreffende Vorhaben ausklammert.
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möchte, sollte man sich weder (wie der Spinozist) auf einen bloßen Teil der Quellen gewährleisteter Überzeugungen noch (im Gefolge der Duhemianer) auf Überzeugungen beschränken, die von allen anderen auch akzeptiert werden. Vielleicht weiß man selbst ja etwas, was die anderen nicht wissen. Vielleicht erinnert man sich, dass sich der Freund im Büro aufhielt und zu ebenjener Zeit, da er die friesische Vase gestohlen haben soll, die Irrtümer der Postmoderne anprangerte. Falls niemand anders zugegen war, weiß man etwas, wovon die anderen keine Ahnung haben. Der traditionelle Christ braucht sich also nicht dadurch aus der Fassung bringen zu lassen, dass die nichttroeltschianische HKB seine Ansichten über die Handlungen und Äußerungen Jesu nicht untermauert. Er glaubt, dass er manche Dinge durch den Glauben und den IAHG erkennt – beispielsweise, dass Jesus von den Toten auferstanden ist.Vielleicht räumt der traditionelle Christ ein: Wenn man alles unberücksichtigt lässt, was er auf diesem Wege erkannt hat, wird die Auferstehung mit Bezug auf das übrige Wissens- oder Überzeugungskorpus nicht sonderlich wahrscheinlich sein. Dennoch wird ihn das kaum in eine geistige oder spirituelle Krise stürzen. Man kann sich eine abtrünnige Gruppe skurriler Physiker vorstellen, die den Vorsatz gefasst haben, die Physik zu rekonstruieren, indem sie sich weigern, Überzeugungen zu benutzen, die aus der Erinnerung stammen oder etwa auf Erinnerungen zurückgehen, die weiter als eine Minute zurückreichen. Vielleicht kann man auch auf diesem Weg etwas erreichen, aber es wäre etwas Armseliges, Kärgliches, Verkürztes und Belangloses. Wenn man nun annimmt, dass die Newtonschen Gesetze oder die spezielle Relativitätstheorie von diesem Standpunkt aus gesehen fragwürdig wirken und nicht bestätigt werden können, so würde das traditionelleren Physikern vermutlich kaum zu denken geben. Diese verkürzte Physik wäre schwerlich dazu imstande, die reichhaltigere Spielart der Physik in Frage zu stellen. Ähnlich verhält es sich auch hier. Der traditionelle Christ meint, er wisse durch seinen Glauben, dass Jesus Gott war und von den Toten auferstand. Daher wird es ihn kalt lassen, dass diese Wahrheiten nicht sonderlich wahrscheinlich sind,wenn man nur die Belege heranzieht, auf die sich die nichttroeltschianische HKB beschränkt, nämlich auf Belege, die explizit ausschließen, was man durch den Glauben erkannt hat.Warum sollte ihn so etwas beeindrucken? Dementsprechend lautet die restliche Antwort auf Harveys Frage wie folgt: Ist die betreffende Form von HKB nichttroeltschianisch, lässt sich der Umstand, dass sie die Überzeugungen des traditionellen Christen nicht verifiziert, darauf zurückführen, dass sich diese HKB in der gegebenen Weise beschränkt, indem sie sich weigert, alle Daten oder Belege zu benutzen, über die der Christ zu verfügen meint. Wollte sich der Christ auf die Resultate der nichttroeltschianischen HKB beschränken, wäre das so ähnlich, als wollte man versuchen, den Rasen mit der Nagelschere zu
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schneiden oder das Haus mit der Zahnbürste anzustreichen. Dergleichen könnte ein interessantes Experiment sein, wenn man genügend Zeit übrig hat, aber ansonsten stellt sich doch die Frage, warum man sich diese Grenzen setzen sollte. Wie wir weiter oben (S. 457 f.) gesehen haben, behaupten E. P. Sanders, Barnabas Lindars, Jon Levenson und viele andere Autoren, dass Dinge, die man durch den Glauben erkennt oder aufgrund von theologischen Annahmen, die nicht von allen bejaht werden, im Rahmen einer tadellosen Bibelforschung keine Rolle spielen sollten. Mit dieser Behauptung, könnte man meinen, wird eine unspezifische Billigung der Forschung à la Duhem ausgesprochen. Warum sollten diese Dinge keine Rolle spielen? Wir sollten uns, wie Sanders sagt, ausschließlich auf »Belege [verlassen], über die sich alle einig sein können«. Levenson schreibt: »Die Argumente, die vorgebracht werden, müssen historisch gültig sein, d. h., sie müssen Historiker zur Zustimmung bewegen können – einerlei, welcher Religion sie angehören, ob sie irreligiös sind, welches ihre Herkunft ist, welches ihre spirituellen Erfahrungen oder persönlichen Überzeugungen sind –, und zwar ohne irgendeinen Anspruch auf Offenbarung zu privilegieren.« Und Lindars meint: »Nun steht es dem Wissenschaftler aber nicht frei zu beschließen, bloß weil er gläubiger Christ sei, werde er die Wunder der Evangelien für bare Münze nehmen, während er die der Isis zugeschriebenen Wunder verwirft. Alle derartigen Berichte müssen mit der gleichen Distanziertheit geprüft werden.« Wenn man diese These als Bejahung der nichttroeltschianischen HKB deutet, läuft sie vermutlich darauf hinaus, dass nur diese Art der Forschung wirklich objektiv sei. Trifft das wirklich zu? Und ist Objektivität im Rahmen dieses Unterfangens überhaupt erforderlich bzw. wünschenswert? Hier müssen wir zurückkommen auf eine Unterscheidung, die im 1. Kapitel skizziert wurde. Unter Objektivität kann man etwas verstehen, was davon abhängig ist, dass man sich nicht dem Subjekt, sondern dem Objekt der relevanten Erkenntnis oder Meinung zuwendet oder Aufmerksamkeit schenkt. Das Objektive kann man dann als etwas auffassen, was nicht von mir selbst als dem Subjekt herrührt, sondern vom Objekt. Es ist ein in diesem Sinne objektives Faktum, dass Amsterdam größer ist als Aberdeen. Aber das Wort wird auch benutzt, um eine Meinung zu bezeichnen, die von fast allen geteilt wird. In diesem Fall wird es dem Wort »subjektiv« gegenübergestellt, wie es etwa in der Wendung »Na ja, das ist nur meine subjektive Meinung« gebraucht wird. Meine eigenen subjektiven Meinungen sind jene, die mir (und vielleicht meinen Freunden) eigentümlich sind. In welcher dieser beiden Bedeutungen wird nun behauptet, die nichttroeltschianische Forschung sei objektiv? Offenbar in der zweiten Bedeutung. Jeder wird (wie der Duhemianer) diejenigen Annahmen akzeptieren, die keiner der an dem betreffenden Vorhaben Beteiligten ablehnt. Und vermutlich wird praktisch jeder die Leistungen der Vernunft akzeptieren. Natürlich ist es alles andere als offenkundig, dass es, sofern man die Wahrheit über ein bestimmtes Gebiet herausbekommen möchte, vernünftig ist, nur Annahmen zu benutzen, die von jedem, der sich an der Auseinandersetzung beteiligt, akzeptiert werden. Es kann doch sein, dass man etwas weiß, wovon einige der anderen keine Ahnung haben.
Allgemeiner gesprochen: Die HKB ist entweder troeltschianischer oder nichttroeltschianischer Art. Gehört sie der ersten Kategorie an, geht sie von Annahmen aus, die implizieren, dass ein großer Teil dessen, was der traditionelle Christ glaubt, falsch ist. Daher ist es nicht verwunderlich, dass ihre Ergebnisse nicht mit dem traditionellen Glauben in Einklang stehen. Für den Christen im klassischen Sinn ist sie allerdings auch nicht sonderlich interessant, denn sie bietet ihm gar
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keinen Grund, weshalb er seine Überzeugungen bemäkeln oder modifizieren sollte. Sie wirkt auch nicht sonderlich vielversprechend, wenn es um die Fähigkeit des Christen geht, zu besseren oder tieferen Einsichten in das wirkliche Geschehen zu gelangen. Was jedoch die nichttroeltschianische HKB betrifft, so ist über diese Spielart der historisch-kritischen Methode zu sagen, dass sie viele Belege und Erwägungen unberücksichtigt lässt, die aus der Sicht des Christen relevant sind. Daher bleibt nur wenig übrig, womit man etwas anfangen kann. Auch in diesem Fall braucht der Umstand, dass der traditionelle Glaube nicht gestützt wird, den Vertreter des traditionellen Glaubens nicht zu beunruhigen. Angesichts der genannten Beschränkungen ist damit ja nur zu rechnen; und Zweifel am christlichen Glauben werden damit nicht im geringsten geweckt. Im einen wie im anderen Fall kann der traditionelle Christ problemlos mit den Ansprüchen der HKB leben. Er braucht sich weder in intellektueller noch in sonstiger Hinsicht verpflichtet zu fühlen, seinen Glauben im Lichte dieser Ansprüche und angeblichen Resultate zu modifizieren.⁸¹
C Konditionalisierung Dennoch kann auch der Christ, ohne sich etwas zu vergeben, die Sache aufmerksam betrachten und sogar bei diesem Spiel mitmachen. Vielleicht ist er
Von »angeblichen« Resultaten spreche ich deshalb, weil es angesichts der enormen Kontroversen und Meinungsverschiedenheiten zwischen den Anhängern der HKB überaus schwerfällt, irgendetwas ausfindig zu machen, was man sinnvoll als »Resultate« dieser Forschungen bezeichnen könnte. Dementsprechend schreibt Harold Attridge: Nach wie vor gibt es keine Einigkeit im Kreis derjenigen, die zu beschreiben versuchen, was Jesus wirklich getan, gelehrt und von sich selbst gehalten hat. Einige moderne Forscher halten ihn für einen hellenistischen Zauberkünstler. Die einen meinen, er sei ein galileischer Charismatiker oder Rabbi gewesen, während die anderen glauben, er sei ein prophetischer Reformer gewesen.Wieder andere halten ihn für einen verschmitzten Erzähler ironischer und einnehmender Geschichten. Manche schreiben ihm hochfliegende Ideen zu, während andere denken, er habe solche Ideen gemieden. Im allgemeinen ist es so, dass der Forscher den Jesus sieht, dessen Anblick von der jeweils gewählten historischen Methode zugelassen wird. Es ist heute noch genauso zutreffend wie seinerzeit am Ende der von Albert Schweitzer katalogisierten liberalen Suche nach dem historischen Jesus, dass wir modernen Menschen die Tendenz haben, Jesus nach unserer Vorstellung und unserem Ebenbild zu formen. (Attridge, »Calling Jesus Christ«, in: Eleonore Stump u. Thomas Flint (Hg.), Hermes and Athena, Notre Dame: University of Notre Dame Press 1993, S. 211.) Die Albert-Schweitzer-Anspielung bezieht sich auf dessen 1906 erschienenes Werk Von Reimarus zu Wrede.
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beispielsweise – nach meinem Dafürhalten allerdings fälschlicherweise – davon überzeugt, dass jedes Unterfangen, das (wie etwa die traditionelle Bibelauslegung) von religiösen oder theologischen Annahmen ausgeht, keine echte Wissenschaft ist. Womöglich hält er es für wichtig, auch auf diesem Gebiet wissenschaftlich zu verfahren. Mag sein, dass er Bibelforschung gemeinsam mit Freunden betreibt, die nicht von den gleichen Annahmen ausgehen wie er selbst. Oder er denkt vielleicht, es könne viel Interessantes bei einem Unterfangen herauskommen, das von Menschen mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen angepackt wird. Womöglich ist er der gleichen Meinung wie der Thomist in einem Buch von Étienne Gilson,⁸² der glaubt, Wissenschaft und Philosophie seien rein rationale Unternehmungen, die keine Prämissen unterstellen, die nicht ausschließlich Leistungen der Vernunft wären. Außerdem könnte er es für wichtig halten, Wissenschaft im spinozistischen oder duhemianischen Sinn zu treiben, obwohl die Ergebnisse recht dürftig sind.⁸³ Daher könnte es auch für ihn sinnvoll sein, sich an der Bibelforschung à la Duhem zu beteiligen. Kann die traditionelle Bibelauslegung ebenfalls nach dem Muster von Duhem betrieben werden? Der traditionelle Christ möchte die Antwort auf diverse Fragen bezüglich der Bibel erfahren, zu denen auch die Fragen gehören, mit denen sich die traditionelle Bibelauslegung befasst. Nun wäre es sinnvoll, bei der Suche nach der Antwort auf eine bestimmte Frage so zu verfahren, dass man alles Relevante zum Einsatz bringt, was man glaubt oder zu wissen meint. Auf diese Weise erhält man die beste Ausgangsposition, um zur richtigen Antwort zu gelangen. Doch nehmen wir an, man sei außerdem davon überzeugt, dass es wichtig sei, diese Dinge wissenschaftlich zu untersuchen, und dass die resultierende Untersuchung keine wissenschaftliche sein werde, wenn man Überzeugungen einsetzt, die man aufgrund seines religiösen Glaubens akzeptiert. Angenommen, man möchte wissenschaftlich vorgehen, sich aber zugleich mit den genannten Fragen beschäftigen. Was kann man da tun? Man kann z. B. konditionalisieren.⁸⁴ Anstatt auf die Frage einzugehen: »Welches ist die beste Möglichkeit, über x nachzudenken, wenn man zur Lösung dieser Aufgabe sein gesamtes Wissen einschließlich seiner Glaubenserkenntnisse heranzieht?«, behandelt man die folgende Frage: »Welches wäre die beste Möglichkeit, über x nachzudenken, wenn die Leistungen des Glaubens tatsächlich wahr wären?« An diese Frage kann man nun im Sinne Duhems (oder spinozistisch) herangehen, indem man ausschließlich Überzeugungen verwendet, die zu den Leistungen der Vernunft gehören. Theologische Annahmen oder Leistungen des Glaubens brauchen dabei nicht ins Spiel zu kommen. Wenn man sich diesem Unterfangen widmet, treibt man duhemianische
Gilson, L’Esprit de la philosophie médièvale (1932), übers. von Rainulf Schmücker: Der Geist der mittelalterlichen Philosophie, Wien: 1950. Siehe jedoch mein Buch The Twin Pillars of Christian Scholarship, Grand Rapids: Calvin College 1990. Dort begründe ich meine Ansicht, ein häufig genannter thomistischer Grund für diese Auffassung sei eigentlich kein guter Grund. Damit übernehme ich einen Ausdruck der bayesianischen Erkenntnistheoretiker, die ihn allerdings in ganz anderem Sinne verwenden. Siehe WCD, S. 122.
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Forschung. Die gewonnenen Resultate können in konditionaler Form als »Wenn G, dann P« dargestellt werden, wobei »G« für die Leistungen des Glaubens steht. Wenn man auf dieses Konditional hinarbeitet, treibt man Wissenschaft im Sinne Duhems. Freilich, sobald man das Antezedens des Konditionals bejaht und das Konsequens ablöst, hat man die duhemianische (sowie die spinozistische) Wissenschaft bereits verlassen und ist zur Theologie übergegangen. Darin liegt aber kein Problem. Man verfolgt ja das doppelte Ziel, duhemianisch zu verfahren, während man zugleich den besten Weg zu finden versucht, aus der Perspektive des christlichen Glaubens über das Thema, um das es geht, nachzudenken; und in der genannten Weise kann beides gelingen. Im Grunde wird es sich hier um ein Projekt handeln, an dem auch Menschen, die den eigenen Glauben nicht teilen, sinnvoll mitarbeiten können – genauso wie sich ein Christ in dieser konditionalen Manier auf die HKB à la Troeltsch einlassen könnte (wenn man von Fragen absieht, die aus frivolen Gründen gestellt werden).⁸⁵
VI Coda Aber ist die Stimmung hier nicht ein wenig zu heiter? Ist das nicht ein Rezept zur Vermeidung schwieriger Fragen, zum unbedingten Festhalten am Glauben um jeden Preis, zur Garantiegewährung dafür, dass man sich niemals negativen Resultaten wird stellen müssen, selbst wenn es tatsächlich welche gibt? »Die HKB ist entweder troeltschianisch oder nichttroeltschianisch. Im ersten Fall geht sie von Voraussetzungen aus, die ich ablehne, und im zweiten Fall berücksichtigt sie nicht alles, was ich für relevantes Belegmaterial halte. Ob so oder so – ich brauche mich aus den genannten Gründen nicht darum zu kümmern.« Könnte ich das nicht a priori sagen, ohne die Resultate der HKB auch nur zu mustern? Doch dann muss der betreffende Gedankengang einen Fehler enthalten. Ist es denn nicht offensichtlich möglich, dass Historiker Fakten ausfindig machen, die den christlichen Glauben ernstlich in Frage stellen und entschieden gegen ihn sprechen? Nun ja, mag sein. Wie könnte so etwas passieren? Etwa folgendermaßen: Die HKB beschränkt sich auf die Leistungen der Vernunft. Zumindest im grob gesprochen logischen Sinne des Wortes ist es möglich, dass jemand, der ausschließlich der gewöhnlichen historischen Vernunft folgt und sich der von den Leistungen der Vernunft gebilligten oder vorgeschriebenen Methoden der historischen Forschung bedient, überzeugende Belege gegen zentrale Bestandteile des christlichen Glaubens findet.⁸⁶ Wenn das Weitere Ausführungen zum Thema »Konditionalisierung« in meinem Artikel »On Christian Scholarship«, in: The Challenge and Promise of a Catholic University, Notre Dame: University of Notre Dame Press 1994. In einem noch zu schreibenden Buch über christliche Philosophie hoffe ich diese Themen eingehender zu behandeln. Oder – was weniger gravierend wäre – Belege gegen den augenscheinlich gelehrten Sachgehalt der Schrift. So könnte es etwa sein, dass archäologische Indizien die traditionelle Überzeugung untergraben, es habe einmal eine Stadt wie Jericho gegeben.
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geschähe, stünden die Christen einem wirklichen Konflikt zwischen Glaube und Vernunft gegenüber. Es könnte etwa passieren, dass man eine Reihe von Briefen entdeckt, die zwischen Petrus, Jakobus, Johannes und Paulus ausgetauscht wurden und in denen die Notwendigkeit der geplanten Täuschung und die Mittel ihrer Durchführung sorgfältig und ernsthaft besprochen werden. Diese Briefe könnten sodann dazu führen, dass die Forscher archäologische Stätten finden, an denen noch mehr Material der gleichen Art entdeckt wird …⁸⁷ Der christliche Glaube ist insofern ein historischer Glaube, als er wesentlich vom wirklichen Geschehen abhängt: »Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist, dann ist euer Glaube nutzlos« (1. Korinther 15, 17). Es könnte sicher geschehen, dass wir durch den Einsatz der Vernunft auf überzeugende Belege⁸⁸ gegen etwas stoßen, was wir für eine Leistung des Glaubens halten oder gehalten haben. Es ist auch denkbar, dass die gesicherten Resultate der HKB solche Belege enthalten. In diesem Fall stünden die Christen vor einem Problem – einer Art Konflikt zwischen Glaube und Vernunft. Bis jetzt hat sich allerdings noch nichts dergleichen aus der HKB ergeben – weder aus der troeltschianischen noch aus der nichttroeltschianischen Lesart. Überhaupt ist kaum etwas zum Vorschein gekommen, was man als »gesicherte Resultate« ansehen kann – und sei es nur deshalb, weil sich die an der HKB Beteiligten in so vielen Hinsichten uneinig sind. Wir verfügen über keine auch nur annähernd gesicherten (ja nicht einmal über einigermaßen ausreichend bestätigte) Resultate, die dem traditionellen christlichen Glauben in solcher Weise zuwiderlaufen, dass dieser Glaube nur um einen sehr hohen Preis beibehalten werden kann. Nichts dergleichen ist geschehen.Welches wäre die angemessene Reaktion, wenn es doch geschähe oder vielmehr: wenn ich zu der Überzeugung käme, dass es geschehen ist? Müsste ich entweder den christlichen Glauben aufgeben oder das rationale Denken? Welches wäre die angemessene Reaktion? Nun, welches wäre die angemessene Reaktion, wenn ich zu der Überzeugung käme, jemand habe einen absolut strengen, keine Ausflucht zulassenden Beweis der Nichtexistenz Gottes geführt, vielleicht einen Beweis nach dem Muster des von J. N. Findlay ersonnenen angeblichen ontologischen Beweises der Nichtexistenz?⁸⁹ Oder wie wäre es, wenn ich im Anschluss an Reids Hume (s. o., S. 254 ff.) zu der Überzeugung gelangte, meine kognitiven Vermögen seien wahrscheinlich nicht zuverlässig, um sodann festzustellen, dass ich ebendiese Überzeugung mit Hilfe genau derjenigen Vermö-
Das Beispiel stammt von Bas van Fraassen. Siehe seinen Artikel »Three-Sided Scholarship: Comments on the Paper of John R. Donahue, S. J.«, in: Hermes and Athena, S. 322. Hier sagt van Fraassen: »Erzählt die Geschichte selbst zu Ende, wenn ihr den Mut aufbringt.« Oder wir glauben auf so etwas zu stoßen. Selbst wenn wir uns im Hinblick auf die betreffenden Belege irren, könnte dergleichen dennoch ein Problem dieser Art aufwerfen. Findlay, »Can God’s Existence Be Disproved?«, in: Mind, April 1948.
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gen bilde, deren Zuverlässigkeit von dieser Überzeugung angefochten wird? Wenn ich tatsächlich zu dieser Überzeugung gelangte, was würde ich dann tun sollen? Aufhören, über diese Dinge nachzudenken, mich in praktische Tätigkeiten stürzen (vielleicht indem ich viel Tricktrack spiele oder mich freiwillig melde, um beim Bau von Häusern für Habitat for Humanity zu helfen), oder geistigen Selbstmord begehen? Ich für mein Teil kenne die Antwort auf keine dieser Fragen. Es besteht allerdings keine Notwendigkeit, sich Probleme auszuborgen. Über die Frage der Überquerung dieser Brücken können wir nachdenken, sobald (oder wahrscheinlich eher: sofern) wir sie erreichen.
13 Postmoderne und Pluralismus Was ist Wahrheit? Pontius Pilatus [Joh. 18, 38] Von etwas, was ist, zu sagen, dass es nicht ist, oder von etwas, was nicht ist, zu sagen, dass es ist, ist falsch; doch von etwas, was ist, zu sagen, dass es ist, oder von etwas, was nicht ist, zu sagen, dass es nicht ist, ist wahr. Aristoteles [Met. IV, 7, 1011 b 25 – 28] […] und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. Jesus [Joh. 8, 32]
Mein Plan war es, dieses Kapitel unter den Titel »Postmoderne und Pluralismus« zu stellen, und tatsächlich habe ich mich jetzt für diesen Titel entschieden. Aber vielleicht ist er nicht gut gewählt. In diesem vierten und letzten Teil des Buchs verfolgen wir die Absicht, verschiedene mögliche Bezwinger des christlichen Glaubens zu bewerten. Bei der Postmoderne ergibt sich jedoch das Problem, dass es äußerst schwerfällt, in ihrem Rahmen etwas ausfindig zu machen, was sinnvoll beanspruchen könnte, die Rolle eines Bezwingers des christlichen Glaubens zu spielen. Den religiösen Pluralismus kann man vielleicht mit Ach und Krach für einen solchen Bezwinger halten. Aber im Bereich der Postmoderne ist es sehr viel schwieriger, einen aussichtsreichen Anwärter auf diese Rolle zu finden. Das möchte ich jetzt erläutern.
I Postmoderne Die Postmoderne wird freilich ganz unterschiedlich charakterisiert. Zu den Anschauungen, die unter diese Rubrik fallen, finden sich unter anderem: die Ablehnung des klassischen Fundierungsgedankens; die Botschaft, dass es gar keine Grundlagen gibt – weder im klassischen noch in sonst einem Sinne; die Behauptung, dass es so etwas wie Objektivität gar nicht gibt (»Und das ist auch gut so!«); Dekonstruktion (die »Dekonstruktionsfirma«); die These, so etwas wie die Wahrheit gebe es nicht – oder falls es dergleichen doch gebe, sei es etwas völlig anderes, als wir immer gedacht hatten (vielleicht ist sie eine soziale Konstruktion – »das, was unsere Mitmenschen als Äußerung gelten lassen« – oder sonst etwas dergleichen); die Behauptung, dass es keine objektiven normativen Maßstäbe gebe und dass die Maßstäbe, die es gibt, irgendwie von uns selbst verfertigt worden seien; sowie die These, das einzige, worauf es wirklich ankomme, sei die
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Macht. Ferner wird gegen »Meta-Erzählungen« opponiert; es wird darauf gepocht, dass Gott tot sei (was normalerweise vermutlich implizieren soll, dass eine Person wie Gott gar nicht existiert); und wenn man sich auf Gott bezieht, spricht man von oben herab (der »gute alte Gott«, wie Jacques Lacan ihn nennt¹). Ferner ist da auch eine gewisse Hochjubelung oder Apotheose der Autonomie, so dass man sich (im Anschluss an Heidegger²) schuldig fühlt, nicht selber die Welt geschaffen zu haben, wobei zugleich angedeutet wird, Gott solle sich dafür schämen, dass er die Frechheit besaß, störend in unsere Autonomie einzugreifen.³ Auch die für das neunzehnte Jahrhundert kennzeichnende Selbstbeweihräucherung, Selbstvergöttlichung und Ablehnung aller bürgerlichen Dinge feiern fröhliche Urständ. Zu nennen ist außerdem der Historismus, also die Vorstellung, unser historischer und kultureller Rahmen bestimme, was wir denken können, weshalb wir außerstande seien, etwas anderes zu denken als das, was wir sowieso denken (und das schließe zum jetzigen Zeitpunkt ein, dass authentischer christlicher Glaube für uns nicht akzeptabel sei). Daneben gibt es aufgewärmten Schwulst à la Nietzsche und Sartre – eine Menge Sturm und Drang (»Sturm und Drang und Lehrstuhl«, wie Ernest Gellner sagt⁴) und etliches andere mehr.
A Widerspricht die Postmoderne dem christlichen Glauben? Viele dieser Thesen können allerdings nicht sinnvoll Anspruch erheben auf die Rolle eines Bezwingers des christlichen Glaubens, und einige von ihnen sind diesem Glauben sogar durchaus kongenial. So lehnen die Vertreter der Postmoderne im Regelfall das klassische Fundierungsdenken ab, gegen das auch mancher wackere Sprecher des christlichen Glaubens ankämpft, wie z. B. Abraham Kuyper, William Alston und Nicholas Wolterstorff und in antizipatorischer Weise Augustinus, Thomas von Aquin, Calvin und Edwards. (Die Ablehnung des klassischen Fundierungsgedankens gehört auch zu den zentralen Motiven des vor Zit. in: Grace M. Jantzen, »What’s the Difference? Knowledge and Gender in (Post)modern Philosophy of Religion«, in: Religious Studies 32 (Dezember 1996), S. 446. Jedenfalls nach der Darstellung Rortys, siehe Contingency, Irony and Solidarity, Cambridge: Cambridge University Press 1989, S. 109 (übers. von Christa Krüger: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 182). »Gott ist folglich der Eigenname dessen, was uns um unsere eigene Natur, um unsere eigene Geburt bringt, und das von jetzt an immer heimlich vor uns gesprochen haben wird. Er ist die Differenz, die als mein Tod zwischen mir und mich eindringt«, Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, übers.von Rodolphe Gasché und Ulrich Klöppe, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 276 – 277. Gellner, Postmodernism, Reason and Religion, London: Routledge 1992.
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liegenden Buchs.) Viele weitere Themen der Postmoderne können, aus christlicher Perspektive gesehen, nur begeisterten Beifall auslösen. Man denke etwa an Mitgefühl und Mitleid für die Armen und Unterdrückten, die heftige Empörung angesichts der Ungerechtigkeiten, die unsere Welt an den Tag legt, die Bejubelung der Vielfalt und die »Entlarvung« von Vorurteil, Unterdrückung und Machtstreben, die sich als von selbst einleuchtende Moralprinzipien und Diktate des gesunden Menschenverstands kostümieren. Ein weiteres Thema, mit Bezug auf das Christen und Postmoderne von Herzen einer Meinung sein können, betrifft die Art und Weise, in der auch bei den Besten unter uns der Blick für Recht und Unrecht,Wahr und Falsch häufig getrübt ist und von Eigennutz vernebelt wird. Freilich, tendenziell sehen die Postmodernen diese Balken nicht im eigenen Auge, sondern in den Augen der anderen; aber in dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nicht vom Rest der Menschheit – einschließlich der Christen. Es gibt jedoch andere postmoderne Thesen, die offenbar nicht mit dem christlichen Glauben zu vereinbaren sind, beispielsweise Thesen wie: Gott sei tot, es gebe keine »objektiven« Maßstäbe der Moral und vielleicht auch die Behauptung, so etwas wie die Wahrheit gebe es nicht – jedenfalls nicht, wenn man sie im Sinne des Common sense auffasse. Im Hinblick auf die Ablehnung der Wahrheit gibt es gleich zu Anfang ein Problem, denn was soll es eigentlich heißen, die Wahrheit abzulehnen? Muss man, um das zu bewerkstelligen, behaupten, so etwas wie die Wahrheit gebe es einfach nicht, oder genügt es zu sagen, so etwas gebe es zwar, aber sie sei völlig anders beschaffen, als wir immer gedacht hatten (und es gebe auch nichts anderes, was unserer Vorstellung von der Wahrheit im mindesten ähnele)?⁵ Nach der wundervollen, nachgerade einsilbigen Aristotelischen Erläuterung der Wahrheit, die ich als Motto zitiert habe, gilt: »Von etwas, was ist, zu sagen, dass es ist, oder von etwas, was nicht ist, zu sagen, dass es nicht ist, ist wahr.« Ist nun jemand, der behauptet, so etwas wie die Wahrheit gebe es nicht, dazu verpflichtet, beispielsweise zu bestreiten, dass »Schnee ist weiß« genau dann wahr ist, wenn Schnee weiß ist? Wollen die Vertreter der Postmoderne das wirklich leugnen? Das sind schwierige Fragen. Es gibt jedoch eine verbreitete postmoderne Vorstellung von der Wahrheit, der zufolge das Wahre davon abhängt, was wir Menschen sagen oder denken – und diese Vorstellung scheint tatsächlich mit dem christlichen Glauben unverträglich zu sein. So verhält es sich jedenfalls, wenn wir die folgende einleuchtende Aussage akzeptieren:
Man vergleiche die Behauptung, (a) es gebe keine Elefanten, mit der Behauptung, (b) es gebe zwar Elefanten, aber in Wirklichkeit handele es sich um eine Spielart von Primzahlen (und etwas, was unserer Vorstellung von Elefanten im mindesten ähnele, gebe es nicht). Außerdem vergleiche man die Behauptung, (a) es gebe keine Universalien, mit der Behauptung, (b) es gebe zwar einige, aber sie hätten sich als bloße Namen (nomina) entpuppt.
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(1) Es ist notwendig, dass es eine Person wie Gott genau dann gibt, wenn es wahr ist, dass es eine Person wie Gott gibt. Die postmoderne These bezüglich der Wahrheit impliziert nämlich, dass es von uns und unseren Handlungen oder Gedanken abhängt, ob es wahr ist, dass es eine Person wie Gott gibt. Aber wenn die Wahrheit dieser Aussage von uns abhängt, dann gilt das unter der Voraussetzung von (1) auch für die Existenz Gottes. Nach (1) gibt es eine Person wie Gott genau dann, wenn es wahr ist, dass es sie gibt. Also gilt: Sofern es von uns und unseren Handlungen und Gedanken abhängt, ob es wahr ist, dass es eine Person wie Gott gibt, dann gilt das auch für die Existenz einer Person wie Gott. In diesem Fall hängt die Existenz Gottes von uns ab. Aus christlicher Perspektive betrachtet, ist das völlig absurd. Daher ist diese Auffassung der Wahrheit unter der Voraussetzung von (1) nicht mit dem christlichen Glauben zu vereinbaren. Das gleiche gilt für die Idee, so etwas wie die Wahrheit gebe es einfach nicht. Eine unserer fundamentalsten und grundlegendsten Vorstellungen ist die, dass es so etwas wie das Sosein der Dinge wirklich gibt. Die Dinge hätten sich auch ganz anders verhalten können als in der Wirklichkeit. Es gibt viele mögliche Sachlagen, doch eine von ihnen ist die wirkliche Sachlage, das wirkliche Sosein der Dinge. Pferde gibt es wirklich, Einhörner gibt es dagegen nicht, obwohl es sie (vielleicht) hätte geben können. Dass es Pferde gibt, gehört demnach zum Sosein der Dinge. Nun hängt die Existenz der Wahrheit eng damit zusammen, dass es ein Sosein der Dinge – ein Sosein der Welt – wirklich gibt. Dass es Pferde gibt, ist nämlich genau dann wahr, wenn die Existenz der Pferde mit zum Sosein der Dinge gehört. Freilich könnte ein Vertreter der Postmoderne erwidern: »Es ist doch offensichtlich, dass es so etwas wie das Sosein der Dinge wirklich gibt – wer könnte das denn bestreiten? Aber wenn ich sage, so etwas wie die Wahrheit gebe es nicht, möchte ich das gar nicht bestreiten. Ich möchte lediglich sagen, dass es so etwas wie die in einer bestimmten Weise aufgefasste Wahrheit nicht gibt. So z. B. gibt es keine Wahrheit, die so etwas wie eine detaillierte Strukturübereinstimmung zwischen dem Sosein der Welt und englischen bzw. deutschen, Suaheli- oder chinesischen Sätzen voraussetzt.« Diese These wäre ganz harmlos; aber sie wäre auch uninteressant. Manchmal scheinen die Vertreter der Postmoderne zu schwanken zwischen einer gewichtigen, aber offenkundig falschen These (»So etwas wie die Wahrheit gibt es gar nicht«) und einer sinnvollen, aber ziemlich faden These (»So etwas wie die in einer speziellen und unplausiblen Weise aufgefasste Wahrheit gibt es nicht«). Fasst man die postmoderne These jedoch im anspruchsvollen Sinn auf, so dass sie besagt, so etwas wie das Sosein der Welt gebe es gar nicht – und folglich auch nicht so etwas wie die Wahrheit –, ist sie mit dem christlichen Glauben nicht zu vereinbaren. Denn für den christlichen Glauben ist es gewiss entscheidend wichtig
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anzunehmen, dass es ein Sosein der Dinge wirklich gibt und dass es die großen Dinge des Evangeliums mitumfasst. Es ist für den christlichen Glauben entscheidend wichtig anzunehmen, dass Aussagen wie »Gott hat die Welt erschaffen« und »Christi Leiden und Tod sind eine Sühne für die menschliche Sünde« wahr sind.
B Bezwingen diese Behauptungen den christlichen Glauben? Diverse Thesen, die plausiblerweise als »postmodern« apostrophiert werden, laufen tatsächlich dem christlichen Glauben zuwider. Das heißt allerdings, wie wir bereits im 11. Kapitel (s. o., S. 431) gesehen haben, nicht, dass diese Thesen oder deren Äußerung Bezwinger des christlichen Glaubens darstellen. Häufig hört man, dieses oder jenes Element des christlichen Glaubens sei von der Postmoderne bzw. von postmodernen Denkweisen »in Frage gestellt« worden, oder die Postmoderne habe diese oder jene traditionelle Betrachtungsweise der Welt »zunichte gemacht«. Aber dadurch, dass man sich aufs Dach stellt und (sei’s auch laut und gemessen) »Gott ist tot!« verkündet, produziert man nicht automatisch einen Bezwinger des christlichen Glaubens. (Und zwar nicht einmal dann, wenn man hinzufügt: »Und alle, die ich kenne, sagen es auch.«) Ebensowenig kann man den christlichen Glauben (oder sonst etwas) schon dadurch in Frage stellen, dass man erklärt: »Hiermit stelle ich das hier in Frage!« Man kann keine Denkweise zunichte machen, indem man schlicht verkündet: »Hiermit mache ich diese Denkweise zunichte!« Auf diese Weise ist die Aufgabe auch dann nicht zu bewältigen, wenn der Text stilistisch gesehen in sprühenden Witz gekleidet ist, und auch dann nicht, wenn man sich überlegen geriert und elegante Gebärden ausführt, während man die Worte anstimmt. Dazu ist mehr nötig. Aber was? Nun, um mir einen Bezwinger meiner Überzeugung Ü zu liefern, musst du mich, wie wir im 11. Kapitel gesehen haben, mit einer Handlung oder einer Äußerung konfrontieren, die (sofern ich mir ihrer bewusst bin und sie gehört und verstanden habe) so beschaffen ist, dass es für mich nicht mehr rational ist, Ü zu glauben bzw. Ü weiterhin ebenso fest zu glauben wie bisher. In der Regel wirst du mich, um das zu erreichen, entweder in eine Lage bringen, in der ich erkennen kann, dass meine Überzeugung abgelehnt werden muss (beispielsweise indem du dafür sorgst, dass ich Erfahrungen der richtigen Art mache), oder du wirst mir ein Argument dieser oder jener Art vorlegen. Hier wird man darauf hinweisen, dass viele Vertreter der Postmoderne nicht zustimmen würden. Typischerweise sind sie der Meinung, Argumente seien weder notwendig noch hinreichend für Dinge, die wirklich wichtig sind. Vielleicht sind sie sich nicht sicher, ob es so etwas wie Rationalität überhaupt gibt, ja vielleicht
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lehnen sie die ganze Gewährleistung-und-Bezwinger-Struktur unserer Erörterung in Bausch und Bogen ab. Wenn ja, fragt man sich vielleicht: Wäre es nicht Zeitvergeudung, wenn man herauszubekommen versuchte, ob das postmoderne Denken tatsächlich einen Bezwinger des christlichen Glaubens liefert? Nicht unbedingt. Die Ablehnung des Begriffs des Bezwingers impliziert nicht, dass man faktisch nicht doch einen Bezwinger vorgelegt hat. Es wäre durchaus möglich, dass der Vertreter der Postmoderne einen Bezwinger vorlegt, obwohl er (fälschlich) den ganzen Gedankengang ablehnt, der von der Vorstellung, es gebe tatsächlich oder möglicherweise Bezwinger des christlichen Glaubens, vorausgesetzt wird. Du bist – im Gegensatz zu mir – ein hundertprozentiger Postmoderner und lehnst alles Gerede über Bezwinger ab. Ich glaube nicht, dass es auf der Oberen Halbinsel Kakteen gibt; und nun zeigst du mir eine. Die Tatsache, dass du selbst keine hohe Meinung von Bezwingern hast, reicht nicht aus, um zu implizieren, dass du mir keinen Bezwinger vorgelegt hast, und zwar genausowenig, wie die Tatsache, dass ich nicht an Viren glaube, bedeutet, dass ich dich nicht mit meinem Schnupfen anstecken kann. Wenn ich in puncto Viren recht habe, kann ich dich wirklich nicht anstecken. Ich habe aber nicht recht. Das gleiche gilt für den Vertreter der Postmoderne, der nicht an Bezwinger glaubt: Falls er recht hat mit seiner Behauptung, es gebe keine Bezwinger, dann wird er mich zweifellos nicht mit einem Bezwinger konfrontieren können. Aber vielleicht irrt er sich. Indem wir uns den Gewährleistung-und-Bezwinger-Rahmen zu eigen machen, setzen wir natürlich voraus, dass er sich irrt. Wenn wir richtig liegen, kann es sein, dass der Postmoderne einen Bezwinger des christlichen Glaubens liefert, obwohl er selbst es nicht für möglich hält. Durch bloßes Behaupten – und sei es noch so leidenschaftlich oder zuversichtlich – wird es ihm allerdings nicht gelingen. Müssen also Argumente her? Wie wir im 11. Kapitel gesehen haben, ist es durchaus möglich, bestimmte Überzeugungen ohne Argumente zu bezwingen. Wäre es jedoch möglich, ein Element des christlichen Glaubens zu bezwingen, ohne ein Argument anzuführen? Folgendes wäre eine Möglichkeit: Vielleicht kann mir der Vertreter der Postmoderne einen Bezwinger liefern, indem er mir seinen intellektuellen und spirituellen Lebensweg schildert. Mag sein, dass er im traditionellen Glauben erzogen wurde. Im dritten Semester lernt er Freud, Marx und Nietzsche kennen, und zwei Semester später schreitet er voran zu Heidegger, Derrida und Rorty. Nietzsches brillanter, funkelnder Stil packt ihn ebenso wie Heideggers teutonische Tiefe, wie Derridas verschmitzter und spielerischer Esprit, wie Rortys tapfere Einstellung des Mannes, der auch aus einer wirklich elenden Situation das Beste macht. Mein Bekannter, der Vertreter der Postmoderne, berichtet mir nun über diese Autoren und ihre Ideen, indem er sie bei seiner Darstellung in ein attraktives und günstiges Licht rückt. Erhalte ich auf diese Weise einen Bezwinger? Nicht automatisch. Und ich
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bekomme auch nicht automatisch einen Bezwinger, indem ich den Weg meines Bekannten nachvollziehe und diese Autoren selbst lese. Wo er tiefe Einsichten findet, stoße ich vielleicht nur auf obskurantistisches Gehabe. Die Lektüre dieser Autoren ist etwas anderes als die Wahrnehmung eines Kaktus – die Erkenntnis, dass das Wahrgenommene ein Kaktus ist – auf der Oberen Halbinsel. Es geht nicht an, den Kaktus zu sehen und in rationaler Weise fortfahren zu glauben, dass es da keine Kakteen gibt. Dagegen ist es sinnvoll möglich, diese Autoren zu lesen und – trotz des sprachlichen Feuerwerks und des profunden Gehabes – ungerührt und im Rahmen der Rationalität zu bleiben, während man weiterhin den christlichen Glauben akzeptiert. Gibt es hier noch weitere Möglichkeiten für Bezwinger, die nicht auf Argumenten basieren? Mitunter weisen Vertreter der Postmoderne darauf hin, dass Christen ihren Anteil haben an der Ungerechtigkeit und der Unterdrückung, die unsere triste Welt an den Tag legt. Wie ich jedoch im nächsten Kapitel ausführen werde, liefern mir das Leid und das Übel unserer Welt nicht automatisch einen Bezwinger des christlichen Glaubens. Auch die Tatsache, dass Christen für einen erheblichen Teil dieses Unheils verantwortlich sind, trägt nicht dazu bei, denn schließlich gehört es mit zum christlichen Glauben, die Menschen – einschließlich der Christen – als zutiefst mit Makeln behaftete und sündige Wesen anzusehen. Gibt es noch weitere Möglichkeiten? Vielleicht ja, aber es ist schwer zu erkennen, welche Möglichkeiten das sein könnten. Wie es scheint, ist also etwas von der Art eines Arguments vonnöten. Die Postmodernen führen jedoch normalerweise keine Argumente für Thesen an, die dem christlichen Glauben widersprechen. Ja, sie führen normalerweise für gar nichts Argumente an, was wiederum vielleicht an ihrer Überzeugung liegt, die ganze Einstellung, aus der heraus Argumente nützlich erscheinen, sei etwas, was wir »hinter uns lassen« sollten. Dennoch gibt es mindestens zwei postmoderne Argumente, deren Betrachtung sich hier lohnt, obwohl keines der beiden so beschaffen ist, dass seine Relevanz für den christlichen Glauben völlig auf der Hand liegt.
1 Das Argument der historischen Bedingtheit Das erste Argument beruft sich auf historistische Überlegungen: Wir alle sind sehr stark eingeengt und konditioniert durch die Gesellschaft, in der wir leben und in der wir sozialisiert worden sind. Wäre ich in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort geboren worden, hätte ich viele Dinge, die ich tatsächlich glaube, nicht geglaubt – unter anderem vielleicht auch Dinge, die ich besonders ernst nehme. Es hätte beispielsweise sein können, dass ich kein Christ oder nicht einmal Theist gewesen wäre.Womöglich hätte ich die Menschen, die nicht meinem Stamm oder meiner Sippe angehören, für Untermenschen gehalten. Vielleicht hätte ich
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geglaubt, Sklaverei sei völlig akzeptabel, usw. Die Behauptung läuft also darauf hinaus, dass ich in meinem doxastischen Leben – zumindest was religiöse und philosophische Überzeugungen betrifft – außerstande bin, meinen kulturellen Rahmen zu überwinden.⁶ Doch dann sind diese Überzeugungen irgendwie minderwertig, nicht gewährleistet, irrational oder in irgendeiner anderen Hinsicht unzureichend. Der christliche Glaube ist also irrational oder zumindest nicht gewährleistet.Was uns damit bisher gegeben ist, ist kein vermeintlicher Bezwinger des christlichen Glaubens selbst, sondern der davon verschiedenen Überzeugung, der christliche Glaube sei gewährleistet. Doch wenn ich zu der Einsicht oder der Überzeugung gelange, der christliche Glaube sei für mich nicht gewährleistet, komme ich vielleicht auf diesem Wege zu einem Bezwinger des Glaubens. Warum sollte man dieses Argument akzeptieren? Es gibt überzeugende Gründe, es nicht zu akzeptieren. Denn erstens ähnelt es vielen anderen skeptischen Argumenten insofern, als es sich selbst diskreditiert, sofern es überhaupt etwas diskreditiert. Es tappt in eben die Falle, die es anderen gestellt hat. Betrachten wir nämlich die Hauptprämisse dieses Arguments: (HP) Angenommen, eine Person S vertritt eine religiöse oder philosophische Überzeugung Ü. Wenn Ü derart ist, dass die Person S, wenn sie an einem anderen Ort oder in einer anderen Zeit geboren worden wäre, Ü nicht akzeptiert hätte, dann ist Ü für S nicht gewährleistet. Nehmen wir jedoch an, ich akzeptiere die (HP), die auch ihrerseits eine religiöse oder philosophische Überzeugung ist. Ist es nicht klar, dass es Zeiten und Orte gibt, die derart sind, dass ich, wenn ich damals und dort geboren worden wäre, (HP) nicht akzeptiert hätte? Wäre ich im neunzehnten Jahrhundert in Neuguinea, im Mittelalter in Frankreich oder im siebzehnten Jahrhundert in Japan geboren worden, hätte ich die (HP) – höchstwahrscheinlich – nicht akzeptiert. Also ist die (HP) der (HP) zufolge für mich nicht gewährleistet. Und sobald ich einsehe, dass sie nicht gewährleistet ist, verfüge ich über einen Bezwinger dieser Prämisse. Also sollte ich sie nicht glauben. Vielleicht meint man nun, dieses Argument sei nichts weiter als ein gehässiger kleiner Trick, der nicht ernst genommen zu werden verdient. Da bin ich anderer Meinung: Wer erkennt, dass eine Überzeugung sich selbst bezwingt, kann nicht sinnvoll an dieser Überzeugung festhalten. Nun stellt sich jedoch – einerlei, was man von diesem Argument halten mag – die Frage, warum es nicht möglich sein soll, zu bestimmten Zeiten mehr zu wissen als zu anderen Zeiten? Wäre Einstein im achtzehnten Jahrhundert geboren worden, hätte er nicht an die spezielle Relativitätstheorie geglaubt. Viele Menschen
Siehe John Hick, An Interpretation of Religion, New Haven: Yale University Press 1989, S. 2.
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halten es heute für falsch, jemanden allein deshalb, weil er einer anderen Rasse angehört, mit Hass, Verachtung oder Gleichgültigkeit zu behandeln. Ihre Anschauungen haben nicht automatisch schon deshalb keine Gewähr, weil sie möglicherweise etwas anderes geglaubt hätten, wenn sie in Nazi-Deutschland oder im antiken Sparta erzogen worden wären. Vielleicht sollte man vielmehr meinen, dass sie, wenn sie in Nazi-Deutschland oder im antiken Sparta aufgewachsen wären, etwas nicht gewusst hätten, was sie jetzt wissen. In meinem Buch Warrant and Proper Function habe ich ausgeführt, dass Gewährleistung relativ zu den Umständen ist. Manche Umstände sind gewährleistungsfreundlich, andere Umstände sind es nicht. Es hätte daher sein können, dass ich mich in anderen Verhältnissen und damit unter Umständen befunden hätte, die manche Überzeugungen, die ich tatsächlich vertrete, nicht gewährleistet hätten. Einige dieser Umstände sind sogar derart, dass ich, wenn ich mich in der entsprechenden Situation befunden hätte, Ü gar nicht vertreten hätte. Im Augenblick glaube ich z. B. eine Krähe in dem Wald hinter meinem Haus krächzen zu hören.Wäre ich nicht zu Hause, hätte ich das nicht geglaubt. Diese Tatsache deutet jedoch nicht im geringsten darauf hin, dass meine jetzige Überzeugung keine Gewähr hat. In der gegebenen Formulierung geht die (HP) also offensichtlich zu weit. Nun wird der Verfechter der (HP) höchstwahrscheinlich einwenden, er habe die (HP) nicht so gemeint, als gelte sie für alle Überzeugungen. Sie solle nur für religiöse und philosophische Überzeugungen gelten. Aber warum soll man diese Prämisse, selbst wenn man sie dementsprechend einschränkt, für wahr halten? Angenommen, du glaubst, dass es keine Dinge gibt, die nicht existieren. Der Philosoph Alexius Meinong war da berüchtigterweise anderer Ansicht. Stellen wir uns vor, du hättest seinerzeit bei ihm studiert. Angesichts seiner charismatischen Persönlichkeit und seiner imponierenden intellektuellen Fähigkeiten hättest du dich vielleicht in die Irre führen und auf die Idee bringen lassen, es gebe einige Dinge – wie z. B. Einhörner und goldene Berge –, die nicht existieren. Inwiefern würde das auch nur verstohlen darauf hindeuten, dass du faktisch – so wie die Dinge nun einmal liegen – nicht weißt, dass es keine Dinge gibt, die nicht existieren? Das beschriebene Argument schlägt also fehl. Zweifellos gibt es mehrere Möglichkeiten, das Argument komplizierter und subtiler darzustellen. Nach meinem Dafürhalten führt jedoch keine dieser Möglichkeiten zum Erfolg, denn der Grundgedanke des Arguments ist schlicht fehlerhaft.
2 Ist die Wahrheit Menschenwerk? Daneben gibt es ein weiteres Argument, auf das ich kurz eingehen möchte. Richard Rorty ist derjenige, dem die Ansicht zugeschrieben (bzw., wie manche sagen würden, »angekreidet«) wird, wahr seien jene Äußerungen, die »unsere Mit-
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menschen gelten lassen«.⁷ Das klingt zwar ein bisschen vage, aber wenn man es ernst nimmt, scheint es tatsächlich nicht mit dem christlichen Glauben vereinbar zu sein. Der Grund liegt in folgendem: Wenn eine Aussage (»für mich« muss man wohl hinzufügen) genau dann wahr ist,wenn meine Mitmenschen keine Einwände gegen ihre Äußerung erheben, dann ist die schiere Existenz Gottes unter Voraussetzung des Satzes (1) auf S. 503 (»für mich« – sofern das Sinn hat) von meinen Mitmenschen abhängig. Denn wenn meine Mitmenschen es zulassen, dass ich sage, eine Person wie Gott existiere gar nicht, dann wäre es wahr, dass es keine derartige Person gibt; also würde es in diesem Fall keine solche Person geben. Ob es eine Person wie Gott gibt, hängt demnach vom Verhalten meiner Mitmenschen ab.⁸ Das wirkt nicht sonderlich glaubhaft. Darüber hinaus hat diese Auffassung weitere sonderbare Konsequenzen. So verspricht sie beispielsweise eine günstige Möglichkeit, mit Dingen wie Krieg, Armut, Krankheit und sonstigen Übeln, unter denen wir körperlich zu leiden haben, fertig zu werden. Denken wir an AIDS:Wenn wir alle nichts dagegen einzuwenden haben, dass die jeweils anderen behaupten, so etwas wie AIDS gebe es nicht, dann wäre es dieser auf Rorty zurückgehenden Auffassung zufolge wahr, dass es so etwas wie AIDS gar nicht gibt. Und wenn es wahr ist, dass es so etwas wie AIDS nicht gibt, dann gibt es so etwas wie AIDS auch nicht. Also brauchen wir, um AIDS, Krebs oder Armut abzuschaffen, nichts weiter zu unternehmen, als die Äußerungen gelten zu lassen, mit denen behauptet wird, es gebe dergleichen gar nicht. Das scheint doch sehr viel bequemer zu sein als die konventionelleren Methoden, die soviel Aufwand an Zeit, Kraft und Geld erfordern. Oder denken wir an die chinesische Führung, die auf dem Platz des himmlischen Friedens Studenten ermorden ließ, um der bösen Tat durch unverfrorene Lügen noch eins draufzusetzen und zu behaupten, sie hätten gar nichts dergleichen getan. Vom jetzigen Standpunkt aus betrachtet, ist das eine äußerst hart-
Um den Wortlaut zu zitieren: Für Philosophen wie Roderick Chisholm und Gustav Bergmann müssen solche Erklärungen unternommen werden, soll der Realismus des Common Sense gewahrt bleiben. Alle diese Erklärungen haben die Absicht, Wahrheit zu mehr zu machen als Deweys ›gerechtfertigter Behauptbarkeit‹: zu mehr als dem Umstand, daß unsere Mitmenschen eine Aussage – ceteris paribus – gelten lassen werden. (Der Spiegel der Natur, übers. von Michael Gebauer, 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 196 – 197) Aus dem Kontext geht an dieser Stelle (wie an anderen Stellen) hervor, dass sich Rorty auf die Seite von Dewey stellt und gegen Chisholm und Bergmann Partei ergreift. Wie wäre es nun, wenn ich ungewöhnlich tolerante Mitmenschen hätte, die nichts dagegen einzuwenden haben, wenn ich behaupte, dass es eine solche Person wirklich gibt? Wäre es dann (»für mich«) wahr, dass es eine solche Person gibt, und zugleich wahr, dass es sie nicht gibt?
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herzige Betrachtungsweise der Sache. Denn indem die Führung bestreitet, dass es je passiert sei, versuche sie lediglich, es herbeizuführen, dass ihre Mitmenschen die Äußerung, es sei nie geschehen, gelten lassen. Gelingt das, wäre es wahr, dass es nie geschehen ist, und in diesem Fall wäre es tatsächlich nie geschehen. Von einem Standpunkt à la Rorty betrachtet, liefe die wohlwollende Deutung also darauf hinaus, dass die chinesischen Autoritäten lediglich versucht haben, es herbeizuführen, dass dieses schreckliche Ereignis nie stattgefunden hat.Wer kann ihnen daraus schon einen Vorwurf machen? Das gleiche gilt für die NaziSkinheads, die behaupten, es habe nie einen Holocaust gegeben; Hitler und sein Gefolge seien sanft wie Lämmer gewesen und hätten keiner Seele etwas zuleide getan. Auch diese Skinheads sollte man wohlwollend als Menschen sehen, die es herbeizuführen versuchen, dass diese schrecklichen Dinge nie geschehen sind. Und auch für das eigene Privatleben gilt: Wenn man etwas Böses getan hat, entsteht daraus kein Problem. Man braucht nur zu lügen und dafür zu sorgen, dass die Mitmenschen die Äußerung gelten lassen, man selbst habe es nicht getan. Gelingt das, hat man es wirklich nicht getan. Außerdem stellt sich dann der zusätzliche Vorteil ein, dass man nicht einmal gelogen hat! Darauf wird man höchstwahrscheinlich erwidern, damit hacke man doch nur auf einem Pappkameraden herum. Rorty könne doch gar nicht – als nüchterne Wahrheit – behaupten wollen, Wahrheit sei das, was die Mitmenschen qua Äußerung durchgehen lassen. Das sei doch nur eine grob skizzierte, informelle Redeweise, die dazu diene, im Gesprächston seine eigentliche Meinung mitzuteilen. Diese informelle Ausdrucksweise stehe mit seiner Vorstellung in Einklang, Philosophie sollte man am ehesten als eine Art von Gespräch begreifen, und auch mit seiner Verachtung der für die analytische Philosophie kennzeichnenden Palette der Definitionen, Prinzipien, notwendigen und hinreichenden Bedingungen, Bemühungen um strenge Formulierungen usw. (Wenn man sich mit einem Freund unterhalten wolle, würde man da einen Satz mit einer Formulierung beginnen wie: »Es ist notwendig, dass eine Aussage P genau dann wahr ist, wenn …«? Nun, vielleicht hängt das von dem Freund ab, mit dem man sich unterhält.) Vielleicht stimmt das, aber leider macht es die Dinge komplizierter. Mir geht es hauptsächlich um die Frage, ob ein Denken im Sinne Rortys einen Bezwinger des christlichen Glaubens liefert. Was Rorty über Wahrheit zu sagen hat, gehört nun einmal zu den hervorstechendsten Strängen seines Denkens; doch nun muss ich in Erfahrung bringen, ob das, was er über die Wahrheit sagen möchte, mit dem christlichen Glauben zu vereinbaren ist oder nicht. Zu diesem Zweck wäre es hilfreich, in einigermaßen ernstzunehmender Weise angeben zu können, was denn diesen Strang seines Denkens ausmachen könnte. Nun,vermutlich will Rorty darauf hinaus, dass die Wahrheit einer Überzeugung oder einer Aussage in wichtiger Hinsicht auf diesem oder jenem Aspekt der sozialen Realität beruht. Die
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Wahrheit sei in dieser oder jener Hinsicht abhängig von der Gesellschaft und ihren tatsächlichen oder möglichen Aktivitäten. Was »für uns« wahr ist, wird demnach in irgendeiner Weise von unserer eigenen Gesellschaft abhängen. Zu jeder vorgeschlagenen Wahrheit Ü gebe es eine Eigenschaft E – eine Eigenschaft, die einer Gesellschaft zukommen kann – derart, dass Ü (»für uns«) genau dann wahr ist, wenn unsere Gesellschaft E an den Tag legt.⁹ Natürlich könnte es sein, dass Rorty diese Art der Formulierung als etwas kleinkariert, wenn nicht gar geradewegs töricht ansehen würde (und damit vielleicht auf der gleichen Ebene stehend wie jene obsessive Sorge um Anführungszeichen, die Derrida in seiner spielerischen Art den Oxford-Philosophen unterstellt¹⁰). Das Leben ist jedoch zu kurz, um sich über derlei den Kopf zu zerbrechen. Unser Problem besteht also darin, dass man ohne zusätzliche Erläuterung nicht ohne weiteres angeben kann, ob Rortys Wahrheitsauffassung mit dem christlichen Glauben zu vereinbaren ist oder nicht. Diese Aufgabe – nämlich: herauszubekommen, was Rorty hier im Sinn hat – löst sich nicht von selbst. Gary Gutting etwa schlägt vor, Rorty wolle eigentlich gar nichts Schockierendes oder Paradoxes über die Wahrheit sagen. Er wolle gar nichts sagen, was nicht mit dem robusten Common sense in Einklang stünde. Er wolle nicht wirklich sagen, dass das Wahre irgendwie von Eigenschaften der Gesellschaft abhänge.Vielmehr wolle er nur bestimmte Theorien der Wahrheit ablehnen, die diese Ablehnung in hohem Maße verdient hätten. »Ausschlaggebend ist«, wie Gutting sagt, »dass sich unser ›Wahrheitsdiskurs‹ darauf beschränken sollte, eine von philosophischen Bemerkungen oder Ausführungen freie Auflistung der grundlegenden Gemeinplätze über die Wahrheit zu geben und darzulegen, inwiefern es willkürlich und/oder inkohärent ist, die grundlegenden Wahrheiten kritisieren (d. h. analysieren, modifizieren oder rechtfertigen) zu wollen.«¹¹ Der Grundgedanke ist hier der, dass es eine Reihe von Gemeinplätzen und Common-sense-Wahrheiten über die Wahrheit gebe wie z. B.: dass Überzeugungen wahr oder falsch, aber nicht beides sind; dass man im Normalfall eine Überzeugung nicht wahr machen kann, indem man bloß wünscht, sie möge wahr sein; dass es möglich ist, dass wir allesamt
Hier denken wir natürlich nicht an sogenannte »Cambridge-Eigenschaften« wie »so beschaffen sein, dass Ü wahr ist«. Aber welches sind nun eigentlich die Eigenschaften, die uns hier vorschweben? Es entspräche ganz und gar nicht dem Geist einer Rortyschen Untersuchung, diese Frage zu beantworten. Also werde ich es nicht einmal versuchen. Derrida, The Post Card from Socrates to Freud and Beyond, übers. von Alan Bass, Chicago: University of Chicago Press 1987, S. 98 (übers. von Hans-Joachim Metzger: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits, Berlin: Brinkmann und Bose 1982 und 1987 [2 Bände]). Gutting, »Richard Rorty: The Rudiments of Pragmatic Liberalism«, in: Pragmatic Liberalism and the Critique of Modernity, New York: Cambridge University Press 1999.
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falsche Überzeugungen vertreten (genauso wie wir ja meinen, die Leute hätten früher falsche Überzeugungen bezüglich der Gestalt der Erde vertreten); dass die Überzeugung, alle Menschen seien sterblich, genau dann wahr ist, wenn alle Menschen sterblich sind, usw. Diese Binsenweisheiten seien alle wahr und müssten alle akzeptiert werden. Außerdem werde jede philosophische Kritik an ihnen, jede Ausarbeitung, Modifizierung oder Ablehnung dieser Gemeinplätze letztlich in »Willkür oder Inkohärenz« münden müssen. Gutting präsentiert diesen Vorschlag als Rorty-Interpretation – jedenfalls als Interpretation von Rorty »im Sinne seines besten Selbstverständnisses«. In dieser Interpretation klingt Rorty ein wenig wie ein in die Gesprächstonart transponierter Thomas Reid, vielleicht zusätzlich mit einer Prise Wittgenstein gewürzt. Wenn es das ist, was Rorty meint, kann man ihm mit den häufig in seine Richtung geschleuderten Vorwürfen eines zügellosen Antirealismus und Relativismus sicher nichts anhaben. So aufgefasst, sind seine Anschauungen nicht einmal ein bisschen schockierend und konstituieren gewiss keine Bezwinger des christlichen Glaubens. Aber kann es wirklich das sein, was er meint, wenn er sich beispielsweise auf die Seite Deweys schlägt und geltend macht, Wahrheit sei das, was unsere Mitmenschen als Äußerungen unsererseits gelten lassen? Wenn ja, hat er sich ein wenig sorglos ausgedrückt. Und selbst wenn man ihm alle gebührenden Freiheiten zugesteht, die seine Absicht, nicht pedantisch, sondern im Gesprächston zu reden, mit sich bringt – wäre es nicht trotzdem ein bisschen gewagt zu meinen, er habe hier nichts weiter im Sinn als eine Zurückweisung einiger philosophischer Kritiken an jenen grundlegenden Binsenweisheiten? Und fällt es nicht auch etwas schwer, den Vorschlag zu schlucken, Rorty lasse es in der Schwebe, ob er die Wahrheit selbst oder eine bestimmte Wahrheitstheorie ablehnen wolle? Das wäre so, als wollte man es offen lassen, ob man Känguruhs selbst oder eine Theorie über Känguruhs ablehnen wolle. Mir scheint, dass dieser Vorschlag Rorty in unplausibler Weise den Biss nimmt. Die Auffassung, die Rorty wirklich bekämpft, ist nach Gutting eine, die normalerweise mit dem Realismus bezüglich der Wahrheit in Verbindung gebracht wird. Gemeint sei nämlich der Repräsentationalismus. Das ist die Vorstellung, der zufolge wir (bzw. unser Geist) Repräsentationen haben und mit Hilfe von Repräsentationen denken, die nur dann wahr sind, wenn sie »mit der Realität übereinstimmen«. Das Problematische an dieser Auffassung besteht nach Rorty (laut Gutting) darin, dass sie unweigerlich auf die Frage stößt, woher und ob wir wissen, dass unsere Repräsentationen tatsächlich mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Hier stellen sich allerdings weitere Probleme. Gutting zufolge bejaht Rorty alle dem Common sense verhafteten, grundlegenden Binsenweisheiten über die Wahrheit und unser Verhältnis zu ihr. Aber ist der Repräsentationalismus nicht selbst eine dieser Binsenweisheiten? Ist denn der Repräsentationalismus – zumindest in seiner simpelsten Lesart – nicht selbst ein Gemeinplatz? Es ist jedenfalls eine grundlegende Binsenweisheit, dass Überzeugungen von Dingen dieser oder jener Art handeln, beispielsweise: dass sich einige meiner Überzeugungen auf den Mond beziehen. Eine weitere
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grundlegende Binsenweisheit besagt, dass Überzeugungen dazu imstande sind, die Dinge als so oder anders seiend darzustellen. Eine meiner Überzeugungen, den Mond betreffend, repräsentiert ihn beispielsweise als einen Satelliten der Erde. Hinzu kommt außerdem die grundlegende Binsenweisheit, dass diese Überzeugung genau dann wahr ist, wenn der Mond tatsächlich ein Satellit der Erde ist, d. h. genau dann, wenn das Sosein, das die Überzeugung durch Mondrepräsentation dem Mond zuschreibt, das Sosein ist, das dem Mond wirklich zukommt, d. h. genau dann, wenn die Überzeugung über den Mond der Beschaffenheit des Monds entspricht. Der Repräsentationalismus gehört offenbar selbst zu diesem Vorrat an grundlegenden Binsenweisheiten. Jedenfalls gibt es eine Lesart des Repräsentationalismus, die eine Binsenweisheit ist. Eigentlich kann es also nicht sein, dass Rorty sowohl den Repräsentationalismus ablehnt als auch alle diese grundlegenden Binsenweisheiten akzeptiert.¹²
Nach Guttings Teilinterpretation ist Rorty nicht dem Vorwurf ausgesetzt, einen verantwortungslosen Antirealismus und Relativismus zu vertreten. Allerdings stellen sich seine Ansichten dann als ziemlich hausbacken heraus; und wenn sie so aufgefasst werden, konstituieren sie keinen Bezwinger des christlichen Glaubens (und machen auch sonst nicht viel her). Daher wollen wir Rorty eine robuste Auffassung unterstellen, in deren Rahmen er inhaltlich anspruchsvolle und kontroverse Behauptungen über die Wahrheit aufstellt. Nehmen wir an, er behaupte, die Wahrheit sei eine menschliche Konstruktion, und eine Überzeugung – oder sonst ein möglicher Wahrheitskandidat – sei genau dann wahr (»für uns«), wenn diese Überzeugung in einer bestimmten Beziehung zu der (bzw. unserer) Gesellschaft steht. Das scheint nun, wie bereits angedeutet, tatsächlich nicht mit dem christlichen Glauben verträglich zu sein. Erstens wird die Wahrheit über Gott (und sei’s auch nur die Wahrheit über Gott »für uns«) dadurch offenbar von unserem Handeln oder Denken abhängig. Das ist – soviel ist klar – mit christlichen Vorstellungen von Gott nicht zu vereinbaren, denn diesen Vorstellungen zufolge ist Gott von gar nichts abhängig. Zweitens impliziert diese an Rorty angelehnte Auffassung, dass es eine kontingente (aber nicht im Cambridge-Sinn kontingente) Eigenschaft P gibt, dergestalt, dass es (»für uns«) wahr ist, dass es eine Person wie Gott genau dann gibt, wenn unsere Gesellschaft P hat. Nun ist es vermutlich so, dass unsere Gesellschaft eine Eigenschaft nur dann haben kann, wenn unsere Gesellschaft existiert. Daher hat es den Anschein, als impliziere die Existenz Gottes die Existenz unserer Gesellschaft, so dass Gott nicht existiert hätte, wenn es
Könnte es sein, dass Rorty nicht den Repräsentationalismus als solchen verwirft, sondern eine spezifischere und detailliertere Spielart des Repräsentationalismus? Vielleicht eine Spielart, bei der die relevante Übereinstimmung so etwas wie eine Isomorphie zwischen dem Repräsentanten (dem Gedanken oder dem Satz) und dem Repräsentierten voraussetzt? Mag sein, doch dann ist Rortys Ablehnung des Repräsentationalismus (ebenso wie seine Ablehnung der Wahrheit) längst nicht so interessant, wie es auf den ersten Blick erscheint.
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unsere Gesellschaft nicht gegeben hätte. Auch das ist mit dem christlichen Theismus offenkundig nicht zu vereinbaren. Natürlich wird diese These Rortys nur dann einen Bezwinger darstellen, wenn er uns außerdem einen Grund nennt, weshalb man diese These für richtig halten sollte. Die bloße Tatsache, dass er oder sonst jemand diese These bloß aufstellt, liefert noch keinen Bezwinger. Nun verhält sich Rorty im allgemeinen ein wenig reserviert, wenn es um Argumente geht. Dennoch legt er etwas vor, was man vielleicht als Argument für die Konklusion deuten könnte, die Wahrheit sei in relevanter Hinsicht von uns qua Gesellschaft abhängig. Am Anfang seines Buchs Kontingenz, Ironie und Solidarität (im folgenden: KIS) schreibt er: »Vor etwa zweihundert Jahren fasste in der Vorstellungswelt Europas der Gedanke Fuß, dass die Wahrheit gemacht, nicht gefunden wird« (KIS, S. 21). Das wiederum widerspricht anscheinend einer der genannten Binsenweisheiten, nämlich der Binsenweisheit, der zufolge die Wahrheit (jedenfalls im allgemeinen) nicht verfertigt, sondern entdeckt bzw. gefunden wird. Das klingt zumindest wie der nichttriviale Gedanke, die Wahrheit sei ein soziales Konstrukt, und die Wahrheit eines bestimmten Wahrheitskandidaten sei gegebenenfalls von Handlungen unserer-, also menschlicherseits abhängig. Jedenfalls argumentiert Rorty wie folgt: Dass die Wahrheit nicht dort draußen ist, heißt einfach, dass es keine Wahrheit gibt, wo es keine Sätze gibt, dass Sätze Elemente menschlicher Sprachen sind und dass menschliche Sprachen von Menschen geschaffen sind. Wahrheit kann nicht dort draußen sein – kann nicht unabhängig vom menschlichen Geist existieren –, weil Sätze so nicht existieren oder dort draußen sein können. (KIS, S. 24)
Wie soll man das im einzelnen verstehen? Wirklich sicher kann man sich nicht sein, aber folgendes ist eine Möglichkeit: Wahrheiten sind Sätze; Sätze sind etwas Sprachliches; und Sprachen werden vom Menschen geschaffen. Also sind Wahrheiten menschliche Schöpfungen, und wenn es keine Menschen (oder sonstige Sprachbenutzer) gäbe, würden auch keine Wahrheiten existieren. Diesem Gedanken zufolge erschaffen wir Menschen die Wahrheiten. Wie wir das machen, untersteht zwar vielleicht nicht der unmittelbaren Kontrolle einer bestimmten Person (ähnlich wie das Börsenwesen niemandes direkter Kontrolle untersteht), aber irgendwie kriegen wir das hin. Nach meiner Vermutung ist es das, was Rorty behaupten möchte.Was er wirklich sagt, ist natürlich knapp und rätselhaft, wie es sich für einen Beitrag im Gesprächston gehört. Falls das jedoch tatsächlich seinen Intentionen entspricht, gibt es zweierlei Einwände gegen diese Argumentation. Der erste dieser Einwände ist gravierend, der zweite verheerend. Zunächst zum gravierenden Einwand: Sätze sind zwar tatsächlich wahr oder falsch, aber sie sind nicht die einzigen Dinge, für die das gilt. Überzeugungen sind ebenfalls wahr oder falsch, und ebenso verhält es sich mit Behauptungen, Thesen,
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Hinweisen usw. Rortys Argument scheint vorauszusetzen, dass Überzeugungen, Behauptungen, Thesen, Hinweise usw. durch die Bank ebenfalls Sätze sind.Wenn nicht, schwebt ihm vielleicht der Gedanke vor, Sätze seien im primären Sinn wahr oder falsch, während die anderen Gegenstände (wie z. B. Überzeugungen und Behauptungen) in sekundärem Sinn wahr seien. (Dementsprechend könnte er sagen, eine Behauptung sei wahr, wenn sie einen wahren Satz behauptet.) Dieser Gedankengang ist bestenfalls fragwürdig. Folgendes ist ein Grund zur Annahme, dass zumindest einige der im grundlegenden Sinn wahren Dinge keine Sätze sind. Angenommen, wir benutzen den Ausdruck »Proposition« (oder »Aussage«) zur Bezeichnung der im primären Sinn wahren oder falschen Dinge, wobei wir es offen lassen, was für Dinge das sind, insbesondere: ob sie allesamt Sätze sind oder nicht. Betrachten wir nun die Proposition (die Wahrheit), dass 2 + 1 = 3. Diese Wahrheit ist unserer üblichen Auffassung zufolge notwendig wahr. Das heißt unter anderem, dass sie nicht hätte nicht wahr sein können. Es gibt keine möglichen Umstände, unter denen sie nicht wahr ist. Doch was den Satz »2 + 1 = 3« betrifft, hätte er durchaus nicht wahr sein können. Das liegt daran, dass er ein Satz und – nach Rortys Auffassung – deshalb wahr ist, weil wir etwas mit ihm anstellen. Außerdem ist das, was wir mit ihm anstellen, etwas, was wir auch hätten unterlassen können. Daher hätten sich die Dinge nach Rortys Auffassung so verhalten können, dass es so etwas wie den Satz »2 + 1 = 3« gar nicht gegeben hätte. Unter diesen Bedingungen wäre der Satz nicht wahr gewesen. Also hätte der Satz auch nicht wahr sein können. Also hat die Proposition 2 + 1 = 3 eine Eigenschaft, die dem Satz »2 + 1 = 3« nicht zukommt, nämlich die Eigenschaft, notwendig wahr zu sein, d. h., so beschaffen zu sein, dass sie nicht hätte nicht wahr sein können. Die Proposition (Wahrheit), dass 2 +1 = 3, ist also nicht der Satz »2 + 1 = 3«.¹³ Das gleiche wird naheliegenderweise auch für jede andere notwendige Wahrheit gelten. Damit ist ein Argument für die Konklusion angeführt, dass einige Wahrheiten – notwendige Wahrheiten – keine Sätze sind. Ein ähnliches, wenn auch etwas komplizierteres Argument lässt sich für die gleiche Konklusion bezüglich kontingenter Wahrheiten anführen. Um der Kürze willen (die wir, wie man vielleicht meinen könnte, im vorliegenden Buch ohnehin schon in empörender Weise missachtet haben) werde ich dieses Argument weglassen. Das war der gravierende Einwand: Zumindest einige Dinge, die im primären Sinn wahr oder falsch sind, sind – im Gegensatz zu Rortys Annahme – keine Sätze. Jetzt komme ich auf den verheerenden Einwand zu sprechen. Nehmen wir fürs erste an, Sätze seien tatsächlich die einzigen Dinge, die im primären Sinn wahr
Ebensowenig ist sie irgendein anderer kontingent existierender Gegenstand. Siehe WPF, S. 117 ff.
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(oder falsch) sind. Dann könnte man vielleicht sagen,Wahrheiten würden von uns Menschen gemacht, denn wir sorgen dafür, dass eine gegebene Sequenz von Lauten oder Markierungen tatsächlich zum Satz wird und somit wahr oder falsch sein kann. (Was durch unser Handeln zum Satz wird, sind vermutlich nicht Tokens, sondern Types.) Betrachten wir irgendeine gegebene Wahrheit: Sie ist sowohl eine Sequenz von Formen oder Lauten und zugleich ein Satz. Die Reihe der Formen oder Laute wird allerdings nicht von uns gemacht. Wir verfertigen vielleicht Tokens dieser Types, aber die Types würde es ganz unabhängig von dem, was wir tun oder nicht tun, geben. Dennoch: dass diese Reihe von Formen oder Lauten ein Satz ist, verdankt sie dem, was wir – die Benutzer der Sprache – damit anstellen. Und das ließe sich vielleicht ausdrücken, indem man sagt, Wahrheiten würden gemacht. Natürlich würde daraus weder folgen, dass wir einen gegebenen Satz wahr machen, noch dass ein gegebener Satz vermittels einer Handlung unsererseits tatsächlich wahr ist. Wir sorgen zwar dafür, dass die Zeichensequenz »Früher gab es Dinosaurier« zum Satz wird und somit die Fähigkeit erhält, wahr oder falsch zu sein, aber daraus folgt nicht, dass wir es wahr machen, dass es früher einmal Dinosaurier gegeben hat. Vermittels unserer sprachbildenden Tätigkeit bringen wir es zuwege, dass eine bestimmte Zeichenreihe – »Früher gab es Dinosaurier« – genau dann wahr ist, wenn es früher Dinosaurier gegeben hat. Doch das ist keine hinreichende Bedingung dafür, diesen Satz wahr zu machen. Damit der Satz wahr ist, muss es früher Dinosaurier gegeben haben, was wiederum vermutlich kein Tatbestand ist, den wir durch unsere sprachbildenden Aktivitäten oder in irgendeiner anderen Weise herbeigeführt haben. Einer Deutung zufolge besagt die Konklusion von Rortys Argument also, dass wir Menschen für die Existenz von Sätzen (für die Tatsache, dass bestimmte Reihen von Zeichen oder Lauten Sätze sind) und somit für die Existenz derjenigen Dinge verantwortlich sind, die wahr oder falsch sind. So gedeutet, ist die Konklusion einwandfrei, banal und gewiss kein Anwärter auf die Rolle eines Bezwingers des christlichen Glaubens. Anders gedeutet – nämlich im nicht trivialen Sinn der These, wir Menschen seien beispielsweise nicht nur für den Satzstatus von »Gott hat die Welt erschaffen« verantwortlich, sondern auch dafür, dass Gott die Welt erschaffen hat –, ist die Konklusion tatsächlich nicht mit dem christlichen Glauben zu vereinbaren. Geht man jedoch von dieser Deutung aus, besteht (von einer gewissen Konfusion abgesehen) nicht der leiseste Grund, die Konklusion für wahr zu halten. Aus den Prämissen folgt sie bestimmt nicht. Ob so oder so – mit einem Bezwinger haben wir es hier also nicht zu tun.
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C Postmoderne als Kleinmütigkeit Eine letzte Anmerkung: Fast alle Vertreter der Postmoderne lehnen den klassischen Fundierungsgedanken ab. In dieser Hinsicht sind sie sich mit den meisten christlichen Denkern und den meisten modernen Philosophen einig. Bedeutsam ist allerdings, dass viele Vertreter der Postmoderne offenbar glauben, der Untergang des klassischen Fundierungsdenkens impliziere etwas sehr viel Verblüffenderes, nämlich: dass es so etwas wie die Wahrheit oder ein wirkliches Sosein der Dinge gar nicht gebe. Warum sollte man jedoch diesen Sprung machen, der doch – rein logisch gesehen – gar nicht daraus folgt? Dafür gibt es zweifellos eine Reihe von Gründen, unter denen so etwas wie der prometheische Wunsch, nicht in einer nicht von uns selbst gemachten bzw. aufgebauten Welt zu leben, besonders hervorsticht. Der Vertreter der Postmoderne wird sich vielleicht, ebenso wie der frühe Heidegger, weigern, sich in einer nicht von ihm selbst erschaffenen Welt heimisch zu fühlen.¹⁴ Einiges an dieser Begründung kann man vielleicht nicht so recht ernst nehmen (es erinnert womöglich eher an törichtes Posieren als an prometheischen Trotz), daher wollen wir uns einen anderen möglichen Grund vornehmen: Wie ich bereits (s. o., S. 84) festgestellt habe, ist der klassische Fundierungsgedanke aus einer Situation der Ungewissheit, der Konflikte und der lautstarken sowie bitteren Meinungsverschiedenheiten hervorgegangen. Er kam zu einer Zeit zum Vorschein, als jeder tat, was (epistemisch gesprochen) aus der eigenen Perspektive gesehen richtig erschien. Nun ist ein Leben ohne sichere und zuverlässige Grundlagen furchterregend und beängstigend. Daher rührt Descartes’ schicksalhaftes Bemühen, für die Überzeugungen, die er hatte, einen sicheren und festen Halt zu finden. (Ebenfalls daher rührt auch Kants ähnlich gearteter Versuch, eine unwiderlegbare Grundlage der Wissenschaft ausfindig zu machen.) Christliche Denker wie Pascal, Kierkegaard und Kuyper haben jedoch erkannt, dass es keine sicheren Grundlagen der von Descartes angestrebten Art gibt – oder sie sind, falls es sie doch gibt, äußerst dünn und bieten keine Möglichkeit, ihre Gewissheit auf unsere wichtigen, nicht zu den Grundlagen gehörenden Überzeugungen zu übertragen, die sich auf materielle Gegenstände, die Vergangenheit, andere Personen usw. beziehen. Das ist eine Haltung, die ein gewisses Maß an epistemischem Mut verlangt: Es gibt zwar tatsächlich so etwas wie die Wahrheit – der Einsatz ist äußerst hoch (es kommt sehr darauf an, ob man die Wahrheit glaubt) –, aber es gibt keine Möglichkeit, sicher zu sein, dass man die Wahrheit kennt. Es gibt keine sichere und gewisse Methode, zur Wahrheit zu gelangen, indem man von Überzeugungen ausgeht, im Hinblick auf die man sich nicht irren
Siehe KIS, S. 182.
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kann, um von dort aus unfehlbar zu den übrigen Überzeugungen voranzuschreiten. Hinzu kommt, dass viele andere Menschen ablehnen, was man selbst besonders wichtig findet. Das ist ein Leben in der Ungewissheit, ein dem epistemischen Risiko und der Fehlbarkeit ausgesetztes Leben. Ich glaube tausend Dinge, und viele dieser Dinge werden von anderen – auch von scharfsinnigen und ernsten Personen – nicht geglaubt. Tatsächlich gehören viele Überzeugungen, die mir besonders am Herzen liegen, zu dieser Kategorie. Ich erkenne, dass ich mich in gravierender, schrecklicher, verheerender Weise irren kann und vielleicht Fehler mache, wo es extrem wichtig ist, recht zu haben. So verhält es sich nun einmal mit der Condition humaine. Letztlich muss ich im Sinn der folgenden Worte reagieren: »Hier stehe ich, und das ist der Eindruck, den die Welt auf mich macht.« Auf diese Sachlage kann man allerdings noch anders reagieren. Es bereitet Qualen, in ständiger Unsicherheit und Gefahr zu leben – in einer Situation der Ungewissheit, aber mit hohem Einsatz.Vielleicht sollte man so handeln, dass man einfach den Einsatz reduziert oder überhaupt verwirft. Wenn es beispielsweise so etwas wie die Wahrheit gar nicht gibt, kann man offensichtlich nicht dadurch irren, dass man etwas Falsches glaubt oder es unterlässt, das Wahre zu glauben. Wer schon die bloße Idee der Wahrheit ablehnt, braucht sich keine Sorgen darüber zu machen, ob wir die Wahrheit kennen. An diesem Punkt sollte man das Streben nach der Wahrheit unterlassen und sich auf Projekte anderer Art zurückziehen wie: Selbsterschaffung und Selbstneubestimmung wie bei Nietzsche und Heidegger, Ironie à la Rorty¹⁵ oder vielleicht spielerischer Spott wie bei Derrida.¹⁶ In diesem Sinne aufgefasst, ist die Postmoderne eine Form von Kleinmütigkeit.
Allerdings verhält sich Rorty in dieser wie in anderen Hinsichten nicht eindeutig. Zu beachten ist, dass seine Ironikerin glaubt, es gebe kein wesentlich abgeschlossenes Vokabular. Sie glaubt, keine Denkweise sei ihrem innersten Wesen nach näher an der Wahrheit als irgendeine andere («Philosophen, die, wie ich, zu dieser Vorstellung neigen, die sich mehr als Helfer der Dichter denn der Naturwissenschaftler verstehen, sehen sich einer Schwierigkeit gegenüber: sie müssen vermeiden, dass der Eindruck entsteht, diese Vorstellung erfasse etwas richtig, meine Art Philosophie entspreche der Weise, wie die Dinge wirklich sind« [KIS, S. 28]). Paradoxerweise zerbricht sich die Ironikerin aber auch den Kopf über ihr eigenes letztes Vokabular, denn sie meint, sie könne sich diesbezüglich irren: »Eine Ironikerin bringt ihre Zeit damit zu, sich besorgt zu fragen, ob sie vielleicht im falschen Stamm Aufnahme gefunden, das falsche Sprachspiel zu spielen gelernt habe. Sie macht sich Sorgen, dass der Sozialisationsprozess, der sie zum Menschen gemacht hat, indem er ihr eine Sprache gab, ihr am Ende die falsche Sprache gegeben und sie damit zu einem Menschen der falschen Art gemacht hat« (KIS, S. 129 – 130). Siehe Rorty über Derrida, KIS, S. 202 ff.
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II Pluralismus Die Postmoderne hat also nichts zu bieten, was man sinnvollerweise als Bezwinger des christlichen Glaubens begreifen könnte. Doch wie steht es mit den Fakten des religiösen Pluralismus, also der Tatsache, dass es auf der Welt eine verwirrende und kaleidoskopische Vielfalt religiöser und antireligiöser Denkweisen gibt, zu deren Anhängern auch hochintelligente und ernsthafte Menschen gehören? Unter der enormen Vielfalt von Religionen, die unter die Bezeichnungen »Hinduismus« und »Buddhismus« fallen, gibt es theistische Religionen, aber auch zumindest einige nichttheistische Religionen (oder vielleicht eher: nichttheistische Stränge der Religion). Zu den theistischen Religionen gehören das Christentum, der Islam, der Judaismus, Stränge des Hinduismus und des Buddhismus, Indianerreligionen, einige afrikanische Religionen und andere. Sie alle unterscheiden sich erheblich voneinander. Außerdem gibt es Menschen, die alle Religionen ablehnen. Angesichts der Tatsache, dass uns diese enorme Vielfalt bekannt ist, fragt es sich, ob es nicht irgendwie willkürlich, irrational, ungerechtfertigt, nicht gewährleistet (oder vielleicht sogar repressiv und imperialistisch) ist, eine von ihnen im Gegensatz zu all den anderen herauszugreifen und gutzuheißen. Wie kann es denn richtig sein, bloß ein System des religiösen Glaubens aus diesem ganzen blühenden, sirrenden Wirrwarr auszuwählen und zu akzeptieren? Wird das nicht in irgendeiner Hinsicht irrational sein? Und verfügen wir damit nicht über einen Bezwinger des christlichen Glaubens? In diesem Sinne heißt es bei Jean Bodin, einem Autor des sechzehnten Jahrhunderts: »Jeder wird von allen widerlegt.«¹⁷ John Hick schreibt: »Doch angesichts all des Wissens über die anderen großen Weltreligionen, das wir heute haben, ist diese Schlussfolgerung [des christlichen Exklusivismus], abgesehen von einer Minderheit dogmatisch Ewiggestriger, inzwischen für niemanden mehr akzeptabel.«¹⁸
Bodin, Colloquium Heptaplomeres de rerum sublimium arcanis abditis, geschrieben vor 1593, aber 1857 zum ersten Mal veröffentlicht. Zit. nach der engl. Übers. von Marion Kuntz, Princeton: Princeton University Press 1975, S. 256. Hick, Gott und seine vielen Namen, übers. von Ilke Ettemeyer und Perry Schmidt-Leukel, Frankfurt a. M.: Lembeck Otto Verlag 2001, S. 30. Es ist zweifellos richtig, dass der christliche Exklusivismus (in dem weiter unten definierten Sinn dieses Ausdrucks) von einer Minderheit der Weltbevölkerung vertreten wird. Vermutlich gibt es kaum mehr als zwei Milliarden christliche Exklusivisten, während die Weltbevölkerung insgesamt fast dreimal so groß ist. Natürlich kann man über diese Dinge nicht befinden, indem man die Leute zählt. Würden die Zahlen jedoch eine Rolle spielen, wäre es nicht uninteressant festzustellen, dass es vielleicht eine Million mal mehr »dogmatische Ewiggestrige« gibt als Personen, die eine Auffassung vertreten, die dem Pluralismus von Hick ähnelt.
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Hier haben wir es mit dem Problem des Pluralismus zu tun, und unsere Frage lautet: Summieren sich die Fakten des Pluralismus zu einem Bezwinger des christlichen Glaubens? Das spezifische Problem, das ich hier erörtern möchte, kann man – um es innerlich und persönlich zu formulieren – folgendermaßen auffassen: Ich habe religiöse Überzeugungen, und zwar religiöse Überzeugungen, von denen mir klar ist, dass sie nicht annähernd von allen anderen Menschen geteilt werden. So glaube ich z. B. sowohl (1) als auch (2): (1) Die Welt wurde von Gott geschaffen, einem allmächtigen, allwissenden und vollkommen guten personalen Wesen (einem Wesen, das Überzeugungen, Ziele und Absichten hat und das handeln kann, um diese Ziele zu verwirklichen). Und: (2) Die Menschen bedürfen der Rettung, und Gott hat durch die Fleischwerdung, das Leben, den Opfertod und die Auferstehung seines göttlichen Sohnes eine einzigartige Möglichkeit der Rettung bereitgestellt.¹⁹ Ich bin mir im klaren darüber, dass es viele Menschen gibt, die diese Dinge nicht glauben. Erstens gibt es jene, die mir im Hinblick auf (1), aber nicht im Hinblick auf (2) zustimmen, denn es gibt nichtchristliche theistische Religionen. Zweitens gibt es Menschen, die zwar weder (1) noch (2) akzeptieren, aber dennoch glauben, dass es etwas jenseits der natürlichen Welt gibt – ein Etwas, das so beschaffen ist, dass das menschliche Wohlergehen und die Rettung davon abhängen, dass man im richtigen Verhältnis zu diesem Etwas steht. Drittens gibt es im Westen und zumindest seit der Aufklärung Menschen – vielleicht dürfen wir sie »Naturalisten« nennen –, die keine dieser drei Überzeugungen teilen. Manche Autoren sprechen hier von einem »neuen« Bewusstsein der religiösen Mannigfaltigkeit, und sie drücken sich so aus, als bedeute dieses neue Bewusstsein (für uns im Abendland) eine Krise, eine Revolution, eine geistige Entwicklung von ähnlicher Tragweite wie die kopernikanische Wende des sechzehnten Jahrhunderts und die angebliche Entdeckung der Evolution und unserer tierischen Abstammung im neunzehnten Jahrhundert.²⁰ Daran ist zweifellos etwas Wahres. Natürlich ist es so, dass viele
Es gehört nicht mit zu (2), dass diejenigen, die – wie z. B. die Patriarchen des Alten Testaments sowie zahllose weitere Personen – diesen Weg der Erlösung nicht kannten, nicht daran teilhaben können. So schreibt Joseph Runzo: »Heutzutage konfrontiert das beeindruckende Ausmaß an Gottesfurcht und offenkundiger Rationalität der Glaubenssysteme fremder religiöser Traditionen die Christen unweigerlich mit einer krisenhaften und potentiell revolutionären Situation« (»God,
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abendländische Christen und Juden seit langem gewusst haben, dass es andere Religionen gibt und dass keineswegs auch nur annähernd alle anderen Menschen ihre eigene Religion teilen. Die alten Israeliten – beispielsweise einige der Propheten – hatten offenbar eine gewisse Vorstellung von der kanaanitischen Religion. Und der Apostel Paulus schreibt: »Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit« (1. Korinther 1, 23). Andere Urchristen – wie z. B. die christlichen Märtyrer – müssen vermutet haben, dass nicht jeder das gleiche glaubte wie sie. Die Kirchenväter mit ihren Verteidigungsschriften für das Christentum waren sich gewiss über diese Tatsache im Klaren. Origines etwa schrieb eine achtbändige Replik auf Celsus, der ein ganz ähnliches Argument verfochten hatte wie jenes, das heute von modernen Pluralisten vertreten wird.²¹ Thomas von Aquin hatte natürlich eine Vorstellung von denen, an deren Adresse seine Summa contra Gentiles gerichtet war. Und die Tatsache, dass es nichtchristliche Religionen gibt, hätte weder die missionierenden Jesuiten des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts noch die methodistischen Missionare des neunzehnten Jahrhunderts überrascht. Dennoch ist es so, dass sich in den letzten Jahren wahrscheinlich mehr westliche Christen als bisher der religiösen Vielfalt dieser Welt bewusst geworden sind. Wahrscheinlich haben wir mehr über Menschen mit anderen religiösen Überzeugungen gelernt, und wir haben deutlicher als bisher erkannt, dass sie ein Verhalten an den Tag legen, das aus unserer Sicht wie echte Frömmigkeit, Gottesfurcht und Spiritualität aussieht. Das Neue ist vielleicht eine weiter verbreitete Sympathie für fremde Religionen, eine gewisse Tendenz, sie jetzt als wertvoller zu sehen – als Religionen, die mehr Wahrheit enthalten –, sowie ein neues Gefühl der Solidarität mit ihren bekennenden Anhängern. Eine Möglichkeit, auf diese fremden religiösen Reaktionen auf die Welt zu reagieren, besteht darin, dass ich auch weiterhin glaube, was ich die ganze Zeit schon geglaubt habe. Ich erfahre von dieser Vielfalt, glaube aber nach wie vor Aussagen wie (1) und (2) – d. h., ich halte sie nach wie vor für wahr – und halte folglich alle religiösen oder sonstigen Überzeugungen, die nicht mit (1) und (2) zu Commitment, and Other Faiths: Pluralism vs. Relativism«, in: Faith and Philosophy 5/4 (Oktober 1988), S. 343 ff. Siehe den Artikel »Religious Pluralism and Early Christian Thought« von Robert Wilken (abgedr. in Wilkens Buch, Remembering the Christian Past, Grand Rapids, MI: Eerdmans 1995, S. 25 – 46). Der Autor konzentriert sich hier auf das dritte Jahrhundert. In diesem Rahmen untersucht er die Antwort des Origines auf Celsus und kommt zu dem Schluss, dass zwischen der historischen Situation, in der Origines schrieb, und unserer eigenen Situation frappierende Parallelen bestehen. So schreibt Wilken: »Was heutzutage anders ist, ist nicht der Umstand, dass sich das Christentum fremden Religionen stellen muss, sondern dass wir diese Situation heute als ›religiösen Pluralismus‹ bezeichnen.«
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vereinbaren sind, für falsch. In Übereinstimmung mit der gängigen Praxis werde ich diese Haltung als Exklusivismus bezeichnen. Der Exklusivist ist der Meinung, dass die Lehren bzw. einige Lehren einer Religion – beispielsweise des Christentums – faktisch wahr sind. Dem fügt er naheliegenderweise hinzu, dass alle Aussagen – einschließlich der Überzeugungen anderer Religionen – falsch sind, sofern sie mit diesen Lehren nicht vereinbar sind. An dieser Stelle brauchen wir von Anfang an zwei Einschränkungen: Erstens, ich werde den Ausdruck »Exklusivismus« so gebrauchen, dass man nur dann als Exklusivist gilt: wenn man sich über andere Konfessionen weitgehend im klaren ist; wenn man eindringlich und vielleicht auch ziemlich oft auf ihre Existenz und ihre Ansprüche aufmerksam gemacht worden ist; wenn man gemerkt hat, dass die Anhänger fremder Religionen manchmal offenbar hohe Intelligenz, moralische Vortrefflichkeit und spirituelle Einsicht an den Tag legen; wenn man bis zu einem gewissen Grade über das Problem des Pluralismus nachgedacht und sich gefragt hat, ob es wahr ist bzw. wahr sein könnte, dass der Herr sich und seine Vorhaben den Christen etwa in einer Weise offenbart hat, in der er sich den Anhängern anderer Glaubensrichtungen nicht offenbart hat. Zweitens wollen wir annehmen, ich vertrete mit Bezug auf (1) z. B. eine exklusivistische Haltung, glaube aber in vernünftiger Form – etwa so wie Thomas von Aquin –, dass ich über ein umwerfendes, absolut stichhaltiges Argument, einen demonstrativen bzw. zwingenden Beweis der Aussage verfüge, dass es eine Person wie Gott gibt. Ferner sei angenommen, dass ich meine: Wenn jene, die (1) nicht glauben, von diesem Argument erführen (und die zum Verständnis nötige Fähigkeit und Ausbildung hätten und gerecht und reflektiert über dieses Argument nachdächten), würden sie ebenfalls dahin gelangen, (1) zu glauben. Dann würden mir die Fakten des religiösen Pluralismus offenbar keinen Bezwinger von (1) liefern. Ich befände mich in einer ähnlichen Situation wie Kurt Gödel, nachdem er erkannt hatte, dass er über einen Beweis für die Unvollständigkeit der Arithmetik verfügte. Freilich, viele seiner Kollegen und Fachgenossen glaubten nicht, dass die Arithmetik unvollständig sei, und einige von ihnen glaubten, sie sei in der Tat vollständig. Diese Fakten lieferten Gödel keinen Bezwinger seiner Überzeugung. Er verfügte schließlich über seinen Beweis. Außerdem würden ihm diese Fakten nicht einmal dann einen Bezwinger liefern, wenn er sich geirrt hätte mit seiner Überzeugung, er habe den Beweis. Dementsprechend werde ich den Ausdruck »Exklusivist« so verwenden, dass man nur dann als Exklusivist gilt, wenn man in rationaler Weise meint, einen demonstrativen Beweis oder ein zwingendes Argument für den Glauben zu kennen, mit Bezug auf den man Exklusivist ist, bzw. auch wenn man in rationaler Weise meint, ein Argument zu kennen, das alle oder die meisten intelligenten und aufrichtigen Menschen von der Wahrheit der betreffenden Aussage überzeugen würde. Nun stellt sich uns die Frage, ob es möglich ist, in dem angegebenen Sinn
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Exklusivist zu sein. Das heißt, unsere Frage lautet: Ist mir durch die Kenntnis der Fakten des religiösen Pluralismus zusammen mit der Überzeugung, dass ich weder einen Beweis noch ein Argument kenne, das anders gesinnte Personen zuverlässig überzeugen müsste, ein Bezwinger meines christlichen Glaubens gegeben? Muss ich einsehen, dass mir die Existenz dieser anderen Denkweisen einen Bezwinger meiner eigenen Denkweise liefert?
A Ein probabilistischer Bezwinger? Wie würde ein solcher Bezwinger im einzelnen funktionieren? Beginnen wir mit einem probabilistischen antitheistischen Argument, das vom Pluralismus ausgeht. J. L. Schellenberg fordert uns dazu auf, »zunächst einmal den Fall einer Person zu betrachten, die annimmt, zu einer bestimmten religiösen Überzeugung r gebe es eine Reihe einander wechselseitig ausschließender religiöser Alternativen mit der gleichen Wahrscheinlichkeit wie r«.²² Sodann meint er, eine solche Person sollte annehmen, dass r unwahrscheinlich (weniger wahrscheinlich als seine Negation) ist – zumindest dann, wenn diese Person meint, es gebe mehr als eine Alternative mit der gleichen Wahrscheinlichkeit wie r. Also sollte sie r nicht glauben. Schellenberg räumt zwar ein, dass der typische Gläubige nicht annehmen wird, das, was er glaube, sei nicht wahrscheinlicher als die Alternativen – denn wenn er es annähme, warum sollte er dann daran glauben? –, aber dennoch meint der Autor, er könne sein Argument wie folgt formulieren: Resümierend können wir (indem wir eine nicht einheitliche Zuordnung von Wahrscheinlichkeiten zu den Alternativen berücksichtigen) ganz generell sagen, dass folgendes von seiten des Kritikers als hinreichende Bedingung für die Unwahrscheinlichkeit einer religiösen Überzeugung r mit einem jeder Alternative überlegenen epistemischen Status angesehen werden kann: r ist unwahrscheinlich, wenn die Anzahl der Alternativen größer ist als die Differenzgrade zwischen der Wahrscheinlichkeit von r und jeder einzelnen der verfügbaren, einander wechselseitig ausschließenden Alternativen (oder dem Durchschnitt ihrer Wahrscheinlichkeiten).
Das wird durch folgendes Beispiel erläutert: Selbst wenn der Christ annähme, sein trinitarischer Glaube sei mit erheblich größerer Wahrscheinlichkeit wahr als jede einzelne der diversen Alternativen jüdischer, hinduistischer, buddhistischer […] Provenienz, könnte die Anwendung des hier beschriebenen Ansatzes dennoch zu der Schlussfolgerung führen, dass dieser Glaube wahrscheinlich falsch sei. Denn es könnte dem Christen, wenn er darüber nachdenkt, intuitiv offenkundig oder
Schellenberg, »Pluralism and Probability«, in: Religious Studies 33/2 (1997), S. 147.
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immerhin sehr wahrscheinlich vorkommen, dass der höhere Wahrscheinlichkeitsgrad, den er glaubhaft in Anspruch nehmen könnte, nicht ausreichen würde, um die zusammengesetzte Wahrscheinlichkeit der relevanten Alternativen davon abzuhalten, das Übergewicht über die von unserem Christen vertretenen Überzeugungen zu bekommen. (S. 148)
Der Grundgedanke ist also der, dass das Nachdenken über die Fakten des Pluralismus den Gläubigen zu der Auffassung führen sollte, dass die Wahrscheinlichkeit seines Glaubens relativ gering ist – vielleicht sogar weniger als 0,5. Aber hier stellt sich die entscheidende Frage: Worauf bezieht sich diese Wahrscheinlichkeit? Welches ist das Korpus der Belege, im Hinblick auf das der christliche Glaube nach Schellenbergs Auffassung wahrscheinlicher sein muss als das Gegenteil, um nicht als irrational zu gelten? Falls es sich um die Menge der Überzeugungen handelt, die der Gläubige tatsächlich akzeptiert, beträgt die Wahrscheinlichkeit seiner Überzeugungen natürlich 1. Schließlich hält es der Gläubige beispielsweise nicht bloß für wahrscheinlich, dass Jesus Christus der göttliche Sohn Gottes sei, sondern er glaubt es. Diese Überzeugung ist ein Element der Menge von Propositionen, die der Gläubige glaubt. Also ist ihre Wahrscheinlichkeit bezogen auf diese Menge 1. Falls es jedoch nicht diese Menge ist, die Schellenberg vorschwebt, welche ist es dann? Welches ist das Korpus von Überzeugungen, mit Bezug auf das der christliche Glaube wahrscheinlich sein muss, um als vernünftig zu gelten? Schellenbergs Ansatz scheint (wie so viele andere Ansätze) nur dann Sinn zu haben, wenn der Gläubige, um rational zu sein, seine christlichen Überzeugungen auf der Basis ihrer Beziehung zu anderen seiner Überzeugungen vertritt – oder jedenfalls nur dann, wenn diese christlichen Überzeugungen im Hinblick auf diese anderen Überzeugungen tatsächlich wahrscheinlich sind. Eine der Hauptthesen des vorliegenden Buchs besagt jedoch, dass es für den Gläubigen völlig rational sein kann, einige seiner Überzeugungen in basaler Weise zu akzeptieren – also nicht auf der (probabilistischen oder sonstwie beschaffenen) Basis anderer Überzeugungen. Höchstwahrscheinlich gibt es Teilmengen T der Gesamtmenge der Überzeugungen, mit Bezug auf die der christliche Glaube dieser Person in der Tat unwahrscheinlich ist. Vielleicht ist dieser Glaube tatsächlich unwahrscheinlich, wenn man ihn auf die übrigen Überzeugungen dieser Person bezieht (wobei wir vorläufig annehmen wollen, es gebe eine Möglichkeit, den christlichen Glauben der Person und ihre sonstigen Überzeugungen fein säuberlich auseinanderzuhalten). Aber inwiefern ist das relevant? Das gleiche wird zweifellos auch im Hinblick auf viele andere Überzeugungen gelten, die unsere Person in völlig rationaler Weise vertritt. Sie spielt eine Partie Bridge und bekommt alle Siebenen und alle Achten auf die Hand. Die Wahrscheinlichkeit dagegen ist beachtlich hoch. Es gibt viele Alternativen, die zumindest ebenso wahrscheinlich sind. Be-
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deutet das, dass ihre Überzeugung, alle Siebenen und alle Achten bekommen zu haben, irrational ist? Natürlich nicht. Der Grund liegt offenbar darin, dass diese Überzeugung eine Quelle der Gewährleistung hat, die unabhängig ist von jeder Gewähr, die sie auf dem Wege ihrer probabilistischen Beziehungen zu ihren übrigen Überzeugungen bekommt. Das gleiche gilt für den christlichen Glauben. Sofern es eine Quelle der Gewährleistung für den christlichen Glauben gibt, die unabhängig von jeder Gewähr ist, die er durch probabilistische Beziehungen zu sonstigen Überzeugungen erhält, dann ist die (etwaige) Tatsache, dass der christliche Glaube – bezogen auf jene anderen Überzeugungen – nicht sonderlich wahrscheinlich ist, nicht dazu angetan, irgend etwas einigermaßen Interessantes zu zeigen. Einen Bezwinger des christlichen Glaubens liefert sie bestimmt nicht.
B Der Vorwurf der moralischen Willkürlichkeit Der eben beschriebene Ansatz ist also offenbar völlig aussichtslos. Gibt es in der Nachbarschaft dieses Ansatzes etwas, was einen Bezwinger hervorbringen könnte? Der wichtigste Vorschlag, der hier gemacht wird, ist vielleicht der, dass man sagt, die Akzeptierung des christlichen Glaubens habe etwas Willkürliches an sich. Diese Willkürlichkeit, so meint man, habe sowohl eine moralische als auch eine intellektuelle Komponente: Der christliche Glaube sei sowohl ungerechtfertigt (und verstoße gegen die doxastische Pflicht) als auch irrational. Der moralische Vorwurf besagt, es liege eine Art von Egoismus – vielleicht auch Hochmut bzw. Hybris – darin, Überzeugungen zu akzeptieren, wenn man einerseits merkt, dass sie von anderen nicht akzeptiert werden, und andererseits erkennt, dass man höchstwahrscheinlich über keine Argumente verfügte, die jene Andersdenkenden umstimmen würden. Der epistemische Vorwurf rückt ebenfalls die Willkürlichkeit in den Mittelpunkt. Dieser Vorwurf besagt, der Exklusivist behandele ähnliche Dinge verschieden und verhalte sich somit in intellektueller Hinsicht willkürlich. In beiden Fällen stünde der folgende Grundgedanke dahinter: Sobald der Gläubige diese Dinge erkennt, verfügt er über einen Bezwinger seines Glaubens, also über einen Grund dafür, diesen Glauben preiszugeben oder zumindest weniger fest zu vertreten. Hier werde ich mich auf den moralischen Vorwurf konzentrieren, während ich auf den Vorwurf der epistemischen Willkürlichkeit nebenbei eingehe.
1 Der abstrakte Fall Der moralische Vorwurf läuft darauf hinaus: Es liege eine eigennützige Willkürlichkeit – eine gewisse Arroganz, ein gewisser Egoismus – darin, Aussagen wie (1)
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oder (2) zu akzeptieren. Wer sie akzeptiere, lasse sich einen moralischen Irrtum oder Frevel zuschulden kommen. In diesem Sinne schreibt Wilfred Cantwell Smith: »Nur wenn man Gefühllosigkeit oder sträfliches Verhalten in Kauf nimmt, ist es moralisch möglich, wirklich in die Welt hinauszugehen und zu gottesfürchtigen, intelligenten Mitmenschen zu sagen: ›Wir glauben Gott zu kennen, und wir haben recht. Ihr glaubt Gott zu kennen, und ihr liegt völlig verkehrt.‹«²³ Was kann der Gläubige darauf antworten? Nun, es muss unverzüglich eingeräumt werden, dass er, sofern er wirklich (1) oder (2) glaubt, außerdem annehmen muss, dass jene, die etwas damit Unvereinbares glauben, im Irrtum sind und etwas Falsches glauben. Das ist nichts weiter als Logik. Überdies muss er glauben, dass jene, die nicht das gleiche glauben wie er selbst – d. h. jene, die weder (1) noch (2) glauben –, etwas Wahres, Tiefes und Wichtiges nicht glauben, egal, ob sie die Negation von (1) oder (2) glauben oder nicht. Natürlich glaubt unser Christ diese Wahrheit; also muss er sich selbst als jemanden sehen, der gegenüber den anderen – und zwar gegenüber den anderen beider Arten – privilegiert ist. Er muss meinen, es gebe etwas äußerst Wertvolles, das er besitze, während es den anderen abgehe. Sie wissen etwas – etwas äußerst Wichtiges – nicht, wovon er Kenntnis hat. Aber heißt das, dass man ihm zu Recht den oben genannten Vorwurf macht? Nach meiner Auffassung muss die Antwort »Nein« lauten. Oder falls die Antwort doch »Ja« lautet, haben wir es hier wohl mit einem echten moralischen Dilemma zu tun, also mit einer Situation, in der man – einerlei, wie man handelt –
Smith, Religious Diversity, New York: Harper and Row 1976, S. 14. Ähnlich drückt sich auch John Hick aus: Niemand kann weiterhin vernünftigerweise behaupten, daß seine eigene Form religiöser Erfahrung und diejenige der Tradition, der er angehört, verläßlich sei, die anderen dagegen nicht. Natürlich kann man einen solchen Anspruch erheben, und dies hat sogar praktisch jede religiöse Tradition getan, indem sie andere Religionsformen entweder als falsch oder aber als irregeleitete und geringere Versionen ihrer selbst betrachtete. […] Menschen, die in anderen Traditionen leben, haben daher dasselbe Recht, auf ihre jeweils eigene religiöse Erfahrung zu vertrauen und ihre Überzeugungen auf dieser Grundlage auszubilden. […] Verzichten wir einstweilen jedenfalls auf das unhaltbare willkürliche Dogma, daß alle religiöse Erfahrung eine Täuschung ist, mit Ausnahme der speziellen Form, der man selbst anhängt. (Religion: Die menschlichen Antworten auf die Frage nach dem Leben und Tod, übers. von Clemens Wilhelm, München: Diederichs 1996, S. 256 – 257) Zum Thema der epistemischen Arroganz siehe auch Paul De Vries, »The ›Hermeneutics‹ of Alvin Plantinga«, in: Christian Scholar’s Review (Juni 1989), S. 363 f; Lee Hardy, »The Interpretations of Alvin Plantinga«, in: Christian Scholar’s Review (Dezember 1991), S. 163 ff; meine Replik »Ad De Vries«, in: Christian Scholar’s Review (Dezember 1991), S. 171 ff.; sowie De Vries’ Erwiderung auf Hardy und meine Replik: »Intellectual Humility and Courage: An Essential Epistemic Tension«, in: Christian Scholar’s Review (Dezember 1991), S. 179 ff.
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falsch handelt. Angesichts der pluralistischen Tatsachen gibt es keine echte Alternative. Es gibt keine reflektierte Einstellung, die nicht der gleichen Kritik ausgesetzt wäre. Diese Vorwürfe der Arroganz sind eine philosophische Leimrute: Wer nahe genug herangeht, um sie gegen den gläubigen Christen einzusetzen, klebt wahrscheinlich selbst daran fest. Wieso? Das geschieht wie folgt: Als Exklusivist merke ich zwar, dass ich die anderen nicht dazu überreden kann, das gleiche zu glauben wie ich selbst, aber ich halte dennoch weiterhin an meinem Glauben fest. Der Vorwurf lautet dann, ich sei infolgedessen arrogant bzw. egoistisch, da ich willkürlich lieber so weitermache wie bisher, anstatt mein Verhalten zu ändern.²⁴ Aber welches sind denn meine Alternativen im Hinblick auf eine Aussage wie (1) oder (2)? Hier gibt es drei Wahlmöglichkeiten.²⁵ Ich kann an der Aussage festhalten; ich kann mich (im Sinne Chisholms) des Urteils enthalten und weder die Aussage noch ihre Negation glauben; oder ich kann ihre Negation akzeptieren. Betrachten wir die dritte Möglichkeit, für die sich jene Pluralisten entscheiden, die – wie etwa John Hick – Aussagen wie (1) und (2) sowie deren Gegenstücke aus anderen Konfessionen zwar für buchstäblich falsch, aber für dennoch in gewisser Weise gültige Reaktionen auf das Reale halten. Das bringt uns, wie mir scheint, gar nicht voran, was das Problem der Arroganz oder des Egoismus betrifft. Das ist kein Ausweg.Wenn ich so verfahre, wird meine Lage die gleiche sein wie jetzt, denn ich werde viele Aussagen glauben, die von anderen nicht geglaubt werden, und dabei merken, dass ich über kein Argument verfüge, das die anderen notwendig überzeugen wird. Denn in diesem Fall werde ich die Negationen von (1) und (2) glauben – sowie die Negationen vieler weiterer Aussagen, die von den Anhängern der übrigen Konfessionen ausdrücklich akzeptiert werden. Es gibt natürlich viele andere Menschen, die die Negationen von (1) und (2) nicht glauben, sondern die tatsächlich (1) und (2) glauben. Also befinde ich mich in der Lage, Aussagen zu glauben, die von vielen anderen nicht geglaubt werden. Außerdem erkenne ich, dass ich über keinen Beweis dessen, was ich für wahr halte, verfüge. Sofern das im Fall derjenigen, die (1) und (2) glauben, als hinreichende Bedingung für intellektuelle Arroganz bzw. intellektuellen Egoismus durchgeht, gilt das gleiche auch »Der einzige Grund, warum man seine eigene Tradition anders behandelt als andere, ist der sehr menschliche, aber nicht sehr zwingende Grund, daß es die eigene ist« (Hick, Religion, S. 256). Hier von einer Wahl zu sprechen, legt den Gedanken nahe, man könne es sich einfach aussuchen, welche dieser drei Einstellungen man sich zu eigen machen möchte – was jedoch völlig unrealistisch ist. Vielleicht haben wir ja kaum Kontrolle über unsere Überzeugungen, und in diesem Fall ist der moralische Kritiker des Glaubens eigentlich nicht dazu berechtigt, dem Gläubigen eine Verletzung der moralischen Pflicht vorzuwerfen. Allerdings könnte er weiterhin geltend machen, die Haltung des Gläubigen sei verfehlt, bedauerlich, eine unerfreuliche Angelegenheit. Selbst wenn ich nicht anders kann, als mich arrogant und eingebildet zu verhalten, ändert das nichts daran, dass mein Verhalten etwas Negatives ist.
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für diejenigen, die die Negationen dieser Aussagen glauben. Diese dritte Alternative ist daher gar keine Hilfe im Hinblick auf das Arroganz/Egoismus/Willkürlichkeitsproblem. Werfen wir einen Blick auf die zweite Option: Ich kann mich des Urteils über die betreffende Aussage enthalten. Ich kann mir sagen: »Da es mir nicht gelingt bzw. nicht gelungen ist, den anderen meinen Glauben nahezubringen, besteht das richtige Vorgehen darin, weder diese Aussagen noch deren Gegenteil zu glauben.« Wer den pluralistischen Einwand erhebt, kann demnach sagen, das richtige Verfahren bestehe darin, dass man sich des Glaubens an die strittige Aussage ebenso enthält wie des Glaubens an die Negation dieser Aussage. Dementsprechend wollen wir ihn den »abstinenten Pluralisten« nennen. Gelingt es ihm damit wirklich, sich der Situation zu entziehen, die, sofern der Exklusivist in sie gerät, Vorwürfe des Egoismus und der Arroganz nach sich zieht? Im Grunde nicht. Denken wir einen Augenblick über Meinungsverschiedenheiten nach. Eine Meinungsverschiedenheit hängt im wesentlichen davon ab, dass man sich mit Bezug auf eine gegebene Proposition Einstellungen zu eigen macht, die einander zuwiderlaufen. Im einfachsten und vertrautesten Fall bin ich anderer Meinung als du,wenn es eine Proposition p gibt derart, dass ich p glaube und du -p glaubst. Das ist allerdings bloß der einfachste Fall. Daneben gibt es noch andere. Folgendes ist der Fall, der uns jetzt und hier interessiert: Du glaubst p und ich enthalte mich der Meinung, unterlasse es also, p zu glauben. Die erste Form der Meinungsverschiedenheit wollen wir »Widerspruch« nennen, die zweite »Dissens«. Ich möchte behaupten: Sofern der Widerspruch arrogant und egoistisch ist, gilt das gleiche auch für den Dissens. Nehmen wir an, du glaubst eine Proposition p, die ich nicht glaube. Du glaubst beispielsweise, dass es falsch ist, Menschen allein aufgrund ihrer Rasse zu diskriminieren, während ich, da ich einsehe, dass viele Menschen anderer Meinung sind als du, diese Aussage nicht für wahr halte. Natürlich halte ich ihr Gegenteil ebensowenig für wahr. Aber unter den gegebenen Umständen halte ich es für richtig, sich der Meinung zu enthalten. Heißt das nun nicht, dass ich deine Einstellung – dein Fürwahrhalten der Aussage – implizit verurteile, da sie in irgendeiner Hinsicht nicht angemessen, sondern vielleicht naiv, ungerechtfertigt oder unfundiert sei bzw. in anderer Hinsicht hinter dem Ideal zurückbleibe? Implizit sage ich doch, meine Einstellung sei der deinen überlegen. Ich denke, meine Handlungsweise sei in diesem Fall die richtige, während dein Vorgehen irgendwie verkehrt, unzulänglich, unangemessen und in dieser Situation allenfalls zweitrangig sei. Ich sehe ein, dass es hier nicht darum geht, dir zu zeigen, dass deine Einstellung falsch, unangemessen oder naiv ist. Mache ich mich also nicht der intellektuellen Arroganz schuldig? Also einer Form von Egoismus, da ich es besser zu wissen glaube als du und mir einen im Verhältnis zu dir privilegierten Rang anmaße? Für den Gläubigen lag das Problem
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darin, dass er denken musste, über eine Wahrheit zu verfügen, die vielen anderen entging. Für den abstinenten Pluralisten liegt das Problem darin, dass er denken muss, er besitze eine Tugend, die anderen abgehe, bzw. er handele richtig, wo andere es nicht tun. Wenn man deshalb als arrogant gilt, weil man eine Aussage glaubt, die von anderen nicht geglaubt wird, ist man dann nicht genauso arrogant, weil man sich des Urteils über eine Aussage enthält, mit Bezug auf die andere Menschen ihr Urteil nicht zurückhalten? Vielleicht wird man darauf erwidern, der abstinente Pluralist gerate dadurch in Schwierigkeiten – und in den Zustand der Arroganz –, dass er implizit sage oder glaube, sein Vorgehen sei besser bzw. klüger als sonstige Wege, die von anderen Menschen eingeschlagen werden. Eventuell könne er davonkommen, indem er sich auch dieser Ansicht enthalte. Kann er sich nicht dem Problem entziehen, indem er davon Abstand nimmt zu glauben, Rassenfanatismus sei falsch, und es außerdem unterlässt, die Ansicht zu vertreten, es sei unter den gegebenen Bedingungen besser, sich dieser Aussage zu enthalten, als sie zu behaupten und zu glauben? Ja, das ist möglich. Dann hat er allerdings auch keinen Grund für seine Abstinenz. Er glaubt nicht, dass Abstinenz besser oder angemessener sei, sondern er übt einfach Abstinenz. Kann er sich damit aus der Gefahrenzone des Egoismus befreien? Mag sein. Natürlich kann er nicht, sofern er Widersprüche vermeiden will, außerdem glauben, es sei irgendwie nicht richtig, sich nicht zu enthalten, sondern es auszusprechen und zu glauben, dass der Fanatismus falsch sei. Er büßt seinen Einwand gegen den Exklusivisten ein. Dementsprechend steht dieser Ausweg keinem abstinenten Pluralisten offen, der dem Exklusivisten Arroganz und Egoismus vorwerfen möchte. Nach meinem Dafürhalten wird erkennbar, dass der abstinente Pluralist, der dem Gläubigen intellektuelle Arroganz vorwirft, in einer vertrauten, aber gefährlichen dialektischen Situation steckt. Er schießt sich in den Fuß, er wird mit den eigenen Waffen geschlagen und vertritt einen Standpunkt, der unter den gegebenen Umständen aufgrund von Selbstbezüglichkeit zu Widersprüchen führt. Er glaubt nämlich folgendes: (3) Wenn S weiß, dass andere nicht glauben, dass p (und obendrein weiß, dass er keine Argumente ausfindig machen kann, durch die sich die anderen dazu überreden lassen, dass p), dann sollte S nicht glauben, dass p. Diese Überzeugung (oder eine ähnliche) ist der Grund für die Vorwürfe, die er gegen den Gläubigen erhebt. Der abstinente Pluralist sieht höchstwahrscheinlich ein, dass (3) von vielen nicht akzeptiert wird, und vermutlich sieht er ebenfalls ein, dass es ihm wahrscheinlich nicht gelingen wird, Argumente für (3) ausfindig zu machen, von denen sich die anderen überzeugen lassen. Da er (3) akzeptiert, sollte er es unterlassen, (3) zu glauben; d. h., er sollte (3) zurückhalten bzw. nicht
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glauben. In der faktisch gegebenen Situation, in der er weiß, dass (3) von manchen anderen nicht akzeptiert wird, ist es für ihn nicht angebracht, daran festzuhalten. Also gilt: Sollte (3) wahr sein, kann niemand es glauben, ohne arrogant zu sein. (3) ist entweder wahr oder falsch. Ist die Aussage wahr, verhalte ich mich arrogant, falls ich sie glaube. Ist sie falsch, glaube ich etwas Falsches, wenn ich sie für wahr halte. Also sollte ich sie nicht glauben. Daher neige ich zu der Auffassung, dass es unter den gegebenen Umständen nicht gelingt, in angemessener Weise (3) oder irgendeine sonstige Aussage zu vertreten, welche die Aufgabe erfüllt, deren Erfüllung dem Kritiker am Herzen liegt. Man kann hier kein Prinzip ausfindig machen, auf dessen Grundlage sich die Ansicht vertreten ließe, der Gläubige tue etwas Falsches und leide an einem moralischen Defekt. Das heißt, es lässt sich kein solches Prinzip ausfindig machen, das sich – wie man es vielleicht ausdrücken darf – nicht selbst zum Opfer fällt. Der abstinente Pluralist gerät also in selbstbezüglichkeitsbedingte Widersprüche. Aber selbst wenn man von diesem dialektischen Argument (das manchen ohnehin wie reine Schlaumeierei vorkommt) absieht, stellt sich die Frage, ob die Vorwürfe gegen den Exklusivisten nicht der Überzeugungskraft und der Plausibilität ermangeln. Ich muss zugeben, dass es etliche Hinsichten gibt, in denen ich mich der intellektuellen Arroganz und des intellektuellen Egoismus schuldig machen kann und tatsächlich schuldig gemacht habe. In der Vergangenheit habe ich diese Sünde gewiss begangen, in der Zukunft werde ich sie zweifellos wieder begehen, und auch jetzt bin ich nicht frei von ihr. Dennoch stellt sich die Frage: Bin ich wirklich schon allein deshalb arrogant und egoistisch, weil ich etwas glaube, wovon ich weiß, dass andere es nicht glauben, dabei jedoch außerstande bin, ihnen zu zeigen, dass ich recht habe? Angenommen, ich zerbreche mir den Kopf über die Sache, betrachte die Einwände so sorgfältig wie möglich und erkenne, dass ich ein endliches und überdies sündiges Wesen bin, das keinesfalls besser ist als jene, die anderer Meinung sind als ich, und in moralischer wie intellektueller Hinsicht bestimmt vielen unterlegen, die nicht das gleiche glauben wie ich. Doch ferner sei angenommen, dass es mir trotzdem klar zu sein scheint, dass die fragliche Aussage wahr ist. Ist es wirklich unmoralisch, wenn ich weiterhin an meinem Glauben festhalte? Ich bin absolut sicher, dass es falsch ist, die eigene Karriere dadurch fördern zu wollen, dass ich Lügengeschichten über meine Kollegen verbreite. Ich sehe ein, dass es Menschen gibt, die dem nicht zustimmen (obwohl sie nicht einmal im Traum daran denken würden, Lügen über ihre Kollegen zu verbreiten – sie glauben bloß, nichts sei wirklich richtig oder falsch). Darunter sind auch Personen, vor denen ich tiefen Respekt habe. Außerdem erkenne ich, dass es höchstwahrscheinlich keinen möglichen Weg gibt, auf dem ich ihnen zeigen könnte, dass sie sich irren. Dennoch glaube ich, dass sie tatsächlich
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im Irrtum sind. Gesetzt den Fall, ich bleibe auch nach sorgfältigem Nachdenken bei meiner Meinung, d. h., angenommen, ich betrachte die Thesen der Andersdenkenden mit dem Höchstmaß an Sympathie und tue mein Möglichstes, um die Wahrheit herauszufinden. Trotz allem scheint es mir nach wie vor schäbig, gemein, ja einfach falsch zu sein, Lügengeschichten über meine Kollegen zu verbreiten, um meine Karriere zu fördern. Kann es da wirklich sein, dass ich etwas Unmoralisches tue, wenn ich an meinem bisherigen Glauben festhalte? Nein, ich kann nicht erkennen, wie das möglich sein soll. Wenn man nach sorgfältigem Überlegen und Nachdenken weiterhin überzeugt ist, die richtige propositionale Einstellung zu (1) und (2) sei angesichts der Fakten des religiösen Pluralismus die Enthaltung vom Glauben, fragt es sich, wie einem wegen dieser Abstinenz – auch dann, wenn man andere Personen kennt, die der eigenen Meinung nicht zustimmen – zu Recht der Vorwurf der Egoismus gemacht werden könnte. Und gilt das gleiche nicht auch für jene, die diese Aussagen glauben? Ich vermag also nicht zu erkennen, wie sich der moralische Vorwurf gegen den Exklusivismus durchhalten lässt. Und wenn er sich nicht durchhalten lässt, liefert dieser Vorwurf keinen Bezwinger des christlichen Glaubens.
2 Ein konkretes Beispiel: Gutting Bisher haben wir den Einwand der moralischen Willkürlichkeit unter Absehung von konkreten pluralistischen Gründen für die Willkürlichkeit bzw. den Egoismus der Akzeptierung des christlichen Glaubens betrachtet. Um diesen Mangel zu beheben, möchte ich das Argument betrachten, das Gary Gutting für diese Schlussfolgerung anführt.²⁶ Der Vertreter des klassischen Fundierungsgedankens ist, wie wir gesehen haben, der Ansicht, man sei dazu verpflichtet, ausschließlich das zu akzeptieren, was aus eigener Sicht – und bezogen auf die grundlegenden Gewissheiten – zumindest wahrscheinlich wirkt. Gutting akzeptiert zwar die Deontologie des klassischen Bildes, schlägt aber eine andere Pflicht vor. Aufgrund »des modernen Phänomens religiöser Meinungsverschiedenheiten« bedürfe der christliche Glaube bzw. der Theismus einer Rechtfertigung (S. 11). Gutting möchte die Frage untersuchen, ob es zu rechtfertigen und mit der Pflicht zu vereinbaren ist, den christlichen Glauben unter der Voraussetzung zu akzeptieren, dass man diesbezüglich verschiedener Meinung ist (sowie vermutlich unter der weiteren Voraussetzung, dass man sich über diese Meinungsverschiedenheit im klaren ist). Die Frage lautet (anders als beim klassischen Bild) nicht, ob die Rechtfertigung der
Gutting, Religious Belief and Religious Skepticism, Notre Dame: University of Notre Dame Press 1982. Seitenverweise beziehen sich im folgenden auf dieses Buch.
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Akzeptierung des christlichen Glaubens schon an und für sich der Belege bedarf, sondern ob die Rechtfertigung Belege bzw. Argumente verlangt, sobald man weiß, dass andere Personen anderer Meinung sind als man selbst. Kurz gesagt, läuft Guttings Argumentation wie folgt: (1) Zunächst müssen wir »endgültige Zustimmung« und »vorläufige Zustimmung« auseinanderhalten. Wenn ich p endgültig zustimme, gilt: Aus meiner Sicht gestattet mir die vorliegende Begründung von p, die Suche nach Gründen für oder gegen p abzubrechen. Mit einer vorläufigen Zustimmung dagegen wird p zwar akzeptiert, ohne jedoch die Untersuchung der Frage nach der Wahrheit von p abzuschließen. Der Effekt besteht darin, dass ich mich beim Streit um die Wahrheit von p auf die Seite von p schlage. Allerdings ist meine Bejahung von p mit der Verpflichtung auf die epistemische Notwendigkeit verbunden, die Diskussion um die Wahrheit von p fortzusetzen. (S. 105)
Das heißt, »das Projekt der Bestimmung der Wahrheit von p bedarf weiterer Erörterung«. (2) Einer Aussage, von der man weiß, dass andere ihr nicht zustimmen, darf man nur dann mit Recht endgültig zustimmen, wenn man über ein gutes Argument für diese Aussage verfügt. (3) Einer Aussage, die von anderen abgelehnt wird, darf man auch dann, wenn man keine guten Argumente dafür kennt, vorläufig zustimmen. (4) Da es ein gutes (aus der religiösen Erfahrung gewonnenes) Argument für die Existenz Gottes im vagen Sinne eines »guten und mächtigen Wesens, das sich um uns kümmert und das sich den Menschen offenbart hat«, gibt, sind wir dazu berechtigt, dieser Aussage endgültig zuzustimmen. (5) Ein solches Argument gibt es weder für spezifisch christliche Lehrsätze (etwa für den Glauben, in Christus habe sich Gott mit der Welt versöhnt) noch für spezifischere Überzeugungen bezüglich Gott (wie z. B.: dass er allmächtig, allgütig, allwissend oder der Schöpfer des Himmels und der Erde sei). Es liegt auf der Hand, dass es hier eine Menge zu diskutieren und vieles in Frage zu stellen gibt. Ich werde mich auf die folgenden Punkte beschränken: (1) Was versteht Gutting unter »Rechtfertigung«? (2) Warum ist es nicht gerechtfertigt, einer Aussage endgültig zuzustimmen, für die ich keine guten Argumente anführen kann und von der ich weiß, dass die Menschen diesbezüglich verschiedener Meinung sind? Was die erste Frage betrifft, denkt Gutting offenbar an Rechtfertigung im deontologischen Sinn, mithin im Sinne von Richtig und Falsch, von Pflicht und Verpflichtung, von epistemischer Berechtigung. Demjenigen, der den traditionellen christlichen Glauben trotz gegensätzlicher Meinungen und trotz mangelnder Argumente für die eigenen Überzeugungen akzeptiert, wirft Gutting die Vernachlässigung seiner epistemischen Verpflichtungen vor.Welche Pflicht ist es genau, gegen die damit verstoßen wird? Die Pflicht, den erkenntnistheoretischen Egoismus zu vermeiden. Das sei die Pflicht, gegen die der Christ verstoße,
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der sich über zuwiderlaufende Meinungen im Klaren ist, aber keine guten Argumente kennt: Erstens, p glauben [wenn ich kein Argument kenne und weiß, dass es gegensätzliche Meinungen gibt] ist insofern willkürlich, als es keinen Grund zur Annahme gibt, meine Intuition (d. h. das, was mir offensichtlich wahr erscheint) sei mit größerer Wahrscheinlichkeit zutreffend als die Intuitionen derjenigen, die nicht meiner Meinung sind. Die Aussage p deshalb glauben, weil ihre Wahrheit von meiner Intuition gestützt wird, ist daher ein erkenntnistheoretischer Egoismus, der genauso willkürlich und genausowenig zu rechtfertigen ist, wie man es im allgemeinen vom ethischen Egoismus annimmt. (S. 86, Hervorhebungen von Gutting) Der neutrale epistemische Beobachter hat keine Intuitionen pro oder kontra p und hat soviel über p nachgedacht, dass das Fehlen irgendwelcher Intuitionen signifikant ist. Vom Standpunkt eines solchen Beobachters gesehen, sind folgendes die relevanten Fakten (wobei wir uns der Einfachheit halber den Fall der Meinungsverschiedenheit zwischen zwei Gleichgestellten vornehmen): (1) Nach der Intuition von Person A ist p wahr; (2) nach der Intuition von Person B ist p falsch; (3) es besteht kein Grund zur Annahme, dass die Intuitionen von A oder die Intuitionen von B mit größerer Wahrscheinlichkeit zutreffen. Die einzige richtige Einstellung, die sich ein solcher Beobachter zu eigen machen kann, dürfte die Urteilsenthaltung mit Bezug auf p sein. Aber sollte ich nicht sogar dann, wenn ich selbst A oder B bin, die Situation in der gleichen Weise beurteilen wie der neutrale Beobachter? Es ist gewiss falsch, meine Intuition allein deshalb zu bevorzugen, weil es die meine ist. (S. 87)
Der Gläubige, der weiß, dass andere nicht der gleichen Meinung sind wie er selbst, aber die eigenen Ansichten nicht argumentativ untermauern kann, legt demnach einen moralischen Mangel an den Tag. Denn dadurch, dass er willkürlich die eigene Auffassung der Gegebenheiten gegenüber den Auffassungen der anderen bevorzugt, erweist er sich in epistemischer Hinsicht als arrogant, egoistisch und selbstbezogen. (Vielleicht bekommt er, sobald er das einsieht, einen Bezwinger dieser Überzeugungen in die Hand.) Hier muss ich einige Fragen aufwerfen: Erstens, stimmt es wirklich, dass ich, sofern ich eine Person der genannten Art bin, »meine Intuition allein deshalb bevorzuge, weil es die meine ist«? Nein, das stimmt eigentlich nicht. Nach meiner Auffassung ist es falsch, Menschen allein wegen ihrer Rassenzugehörigkeit zu diskriminieren (obwohl ich weiß, dass andere nicht dieser Meinung sind). Argumente für diese Auffassung sind mir nicht bekannt, jedenfalls keine Argumente, die Andersdenkende überzeugen würden. Diese Auffassung kommt mir einfach richtig vor. Dennoch verhält es sich nicht so, dass ich diese Überzeugung deshalb akzeptiere, weil sie meiner Überzeugung oder meiner Intuition entspricht. Das wäre sinnlos. Ich akzeptiere sie nicht als Konklusion eines Arguments mit der Prämisse, dass dies meiner Intuition entspricht. Ich stelle keine Überlegung der folgenden Art an: p kommt mir richtig vor, also p. Ich akzeptiere p gar nicht auf der
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Basis anderer Aussagen. Es stimmt zwar, dass ich es akzeptiere, weil es mir, wenn ich darüber nachdenke, richtig erscheint. Das »weil« bedeutet hier jedoch nicht, dass das, was mir richtig erscheint, mein Grund, mein Argument oder mein Beleg für p ist. Wirklich Biss hat Guttings Standpunkt nur, wenn er uns mehr über die Argumente sagen kann, deren Vorliegen mich gegen den erkenntnistheoretischen Egoismus schützt, wenn ich etwas glaube, was von anderen nicht geglaubt wird. Welcher Art sollen die erforderlichen Argumente sein? Nun, ein solches Argument, sagt Gutting, müsse ein gutes Argument sein. Zugegeben, schlechte Argumente werden nichts nützen, aber was heißt »gut« mit Bezug auf Argumente? In seinem Rorty gewidmeten Kapitel, auf das ich mich oben (S. 511) bezogen habe, stimmt Gutting offenbar der Meinung Rortys zu, ein gutes (»für mich« gutes) Argument bestehe in Gründen, die von meiner epistemischen Gemeinschaft akzeptiert werden. Sofern das die Richtung ist, aus der der Wind weht, gibt es für den Christen keine Probleme. Schließlich kann es sein, dass die epistemische Gemeinschaft der Christen durchaus bereit ist, Gründe (beispielsweise biblisch bestätigte Gründe) für den christlichen Glauben zu akzeptieren, die von Menschen, die dieser Gemeinschaft nicht angehören, nicht akzeptiert werden. So aufgefasst, lässt sich Guttings Bedingung ohne weiteres erfüllen – ja, im Grunde ist ihre Erfüllung trivial. Nehmen wir also an, Gutting habe eine strengere Bedingung im Sinn. Ein gutes Argument wird vermutlich formal gültig sein, muss aber auch einige nichtformale Vorzüge aufweisen. Es darf beispielsweise nicht zirkulär sein oder die Frage zum Nachteil der Andersdenkenden vorentscheiden. Doch wie steht es nun mit den Prämissen? Falls es sich bei ihnen ebenfalls um Propositionen handelt, die von Personen mit anderer Meinung nicht akzeptiert werden würden, habe ich vermutlich auch mit Bezug auf sie kein Recht, sie zu akzeptieren, sofern ich sie nicht durch ein weiteres Argument untermauern kann. Natürlich werden die Prämissen dieses weiteren Arguments die gleichen Bedingungen erfüllen müssen, d. h., wenn sie von anderen nicht akzeptiert werden, kann ich ihnen nicht endgültig zustimmen, es sei denn, ich verfüge über ein weiteres gutes Argument für sie. Das Resultat scheint darauf hinauszulaufen, dass es meine Pflicht ist, mich nicht an ultimativen Meinungsverschiedenheiten zu beteiligen – jedenfalls nicht an ultimativen Meinungsverschiedenheiten, die mir bewusst sind, und zumindest nicht, insofern es um endgültige Zustimmung geht. Kann das richtig sein? Vielleicht gibt es keine Möglichkeit, eine gemeinsame Basis für Diskussionen mit einem Angehörigen des Ku Klux Klan zu finden. Mag sein, dass man keine Prämissen findet, die von beiden akzeptiert werden und die zugleich im Rahmen eines guten Arguments für meine Ansichten und gegen die seinen zum Einsatz kommen können. Würde daraus wirklich folgen, dass ich nicht das Recht habe, der Aussage, Rassenfanatismus sei falsch, endgültig zuzustimmen? Wohl kaum.
Vielleicht meint Gutting folgendes: Wenn ich kein Argument für p habe und weiß, dass andere es nicht glauben, verhalte ich mich auch dann egoistisch, wenn ich keine Überlegung der eben geschilderten Art anstelle, d. h., wenn ich die Intuition nicht allein deshalb glaube oder akzeptiere, weil sie die meine ist. Aber stimmt das wirklich? Gewiss nicht in der gegebenen Form. Das wird deutlich, wenn wir auf ein früher genanntes Beispiel zurückkommen: Ich werde von der Polizei festgenommen und eines gravierenden Verbrechens beschuldigt. Wieder soll ich deine friesische Flagge gestohlen haben. Auf der Dienststelle der Polizei erfahre ich, dass
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der Major behauptet, er habe mich zur Zeit des Geschehens (nämlich gestern nachmittag) an deiner Hintertür auf der Lauer liegen sehen. Man weiß, dass ich etwas gegen dich habe (unter anderem bin ich verärgert über deinen Artikel in der Nachmittagspost, dem zufolge ich ein eingeschleuster Weltraumbewohner sein soll). Ich hatte die nötigen Mittel, ein Motiv und die Gelegenheit. Obendrein hat es in meiner Vergangenheit bereits ähnliche peinliche Vorkommnisse gegeben. Ich für mein Teil erinnere mich ganz deutlich, dass ich den ganzen Nachmittag auf einer einsamen Wanderung in der Nähe des Hausbergs verbracht habe. Meine Überzeugung, dass ich dort gewandert bin, beruht nicht auf einem Argument. (Ich stelle beispielsweise nicht fest, dass ich mich ein wenig erschöpft fühle, dass meine Wanderschuhe stark verschmutzt sind, und dass eine Wanderkarte der Gegend um den Hausberg in meiner Anoraktasche steckt, um daraus den Schluss zu ziehen, die beste Erklärung dieser Phänomene bestehe darin, dass ich in dieser Gegend gewandert bin.) Außerdem fällt mir kein Argument oder sonst eine Möglichkeit ein, die Polizei davon zu überzeugen, dass ich am Hausberg (also fast hundert Kilometer entfernt) war, als der Diebstahl verübt wurde. Dennoch glaube ich, dass ich in der Nähe des Hausbergs war. Also vertrete ich eine Überzeugung, für die ich kein Argument anführen kann und von der ich weiß, dass sie von anderen bestritten wird. Kann man mir deshalb erkenntnistheoretischen Egoismus vorwerfen? Bestimmt nicht. Warum nicht? Weil ich mich daran erinnere, wo ich war, und das berechtigt mich zu der Annahme, dass ich draußen wandern war, selbst wenn andere Menschen anderer Meinung sind. Nun, so ganz stimmt es nicht. Strenggenommen ist es vermutlich nicht meine tatsächliche Erinnerung, sondern die Tatsache, dass ich glaube, mich daran zu erinnern, die mich moralisch gesprochen zu meiner Überzeugung berechtigt. Ich bin gerechtfertigt, ich verstoße hier gegen keine Pflicht oder Verpflichtung, weil ich – ohne mir etwas zuschulden kommen zu lassen – glaube, über eine Quelle der Erkenntnis bzw. der Information über meine wechselnden Aufenthaltsorte zu verfügen, zu der die Polizei keinen Zugang hat, nämlich: meine Erinnerung. Wäre ich der Ansicht, nicht mehr darüber zu wissen als die Polizei, und würde ich dennoch fest am Glauben an meine Unschuld festhalten, dann würde ich mich – vielleicht – in epistemischer Hinsicht egoistisch verhalten. Ich glaube jedoch etwas zu wissen, was die Polizei nicht weiß, und ich glaube es mit Hilfe eines Erkenntnismittels herausgebracht zu haben, das den Polizisten nicht zu Gebote steht. (Aufgrund ihrer Erinnerung wissen die Polizisten zwar, wo sie waren, aber nicht, wo ich war.) Das ist der Grund, weshalb ich hier nicht gegen irgendwelche Pflichten oder Verpflichtungen verstoße und weshalb ich diesbezüglich gerechtfertigt bin. Deshalb kann man mir auch weder Willkürlichkeit noch Egoismus vorwerfen, wenn ich meine Ansichten denen der anderen vorziehe.
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Da dies der ausschlaggebende Punkt ist, wollen wir uns ein wenig eingehender damit befassen. Der Kritiker sagt, sowohl die Rationalität als auch die epistemische Pflicht verlangten, dass ähnliche Fälle ähnlich behandelt werden. Der gläubige Christ jedoch verstoße gegen diese Pflicht, indem er willkürlich (1) und (2) glaubt (s. o., S. 520), obwohl dem die Vielfalt der zuwiderlaufenden religiösen Überzeugungen dieser Welt entgegenstehe. Nun wollen wir annehmen, es sei tatsächlich so, dass Rationalität und epistemische Pflicht wirklich die Gleichbehandlung gleicher Fälle verlangen. Gegen diese Forderung verstößt man aber offensichtlich nicht, wenn die fraglichen Überzeugungen nicht auf gleicher Stufe stehen. Der gläubige Christ meint tatsächlich, sie stünden nicht auf gleicher Stufe, sondern er hält (1) und (2) für wahr und Überzeugungen, die mit der einen oder anderen der beiden nicht zu vereinbaren sind, für falsch. Also sind sie aus seiner Perspektive nicht in relevanter Hinsicht ähnlich, und es verhält sich gar nicht so, dass er ähnliche Fälle unterschiedlich behandelt. Um seine These zu begründen, müsste der Kritiker also geltend machen, dass der christliche Glaube tatsächlich falsch ist. Vermutlich möchte er aber nicht behaupten, sein Vorwurf der Willkürlichkeit sei von der Annahme der Falschheit des christlichen Glaubens abhängig. Darauf wird man natürlich erwidern, es gehe nicht um alethische Parität (Gleichheit des Wahrheitswerts), sondern um epistemische Parität. Um welche Art von epistemischer Parität? Nun, vielleicht denkt der Kritiker zunächst an interne epistemische Parität, also an Gleichheit mit Bezug auf das, worauf der Glaubende im Inneren Zugriff hat. Zu dem, was innerlich verfügbar ist, gehören beispielsweise auch ermittelbare Beziehungen zwischen der betreffenden Überzeugung und anderen Überzeugungen, die man vertritt. Demnach würde die interne Parität die Parität des propositionalen Belegmaterials einschließen. Zu dem, was dem Glaubenden intern verfügbar ist, gehört außerdem die Phänomenologie, die mit der betreffenden Überzeugung einhergeht, und zwar sowohl die sinnliche Phänomenologie als auch die nichtsinnliche Phänomenologie, die im Falle doxastischer Belege hineinspielt, wenn sich die Überzeugung gerade richtig anfühlt. Um es zu wiederholen: Für den gläubigen Christen stehen (1) und (2) nicht auf derselben Stufe wie Überzeugungen, die mit ihnen nicht zu vereinbaren sind. Schließlich hat es für den Christen den Anschein, dass (1) und (2) wirklich wahr sind. Aus seiner Sicht weisen sie jene Phänomenologie auf, die mit diesem Anschein einhergeht, und es sprechen auch doxastische Belege für sie. Im Hinblick auf Aussagen, die mit diesen nicht vereinbar sind, lässt sich nicht das gleiche sagen. Darauf wird man als nächstes replizieren, ob es denn nicht wahrscheinlich sei, dass jene, die (1) und (2) ablehnen und lieber andere Überzeugungen vertreten, über propositionale Belege für ihre Überzeugungen verfügen, die auf der gleichen
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Stufe stehen wie die Belege, die der Christ für seine Überzeugungen anführen kann. Trifft es nicht außerdem wahrscheinlich zu, dass die Phänomenologie, die mit den Überzeugungen der anderen einhergeht, die gleiche oder eine ähnliche ist wie bei dem Christen? Dann stünden diese Überzeugungen in epistemischer wie in interner Hinsicht wirklich auf der gleichen Stufe wie (1) und (2) – und trotzdem würde der Gläubige diese ähnlichen Fälle verschieden behandeln? Nein, das glaube ich nicht. Nach meiner Überzeugung gibt es mindestens für (1) Argumente, die für keine Konkurrenzüberzeugung verfügbar sind. Und was die Ähnlichkeit der Phänomenologie betrifft, ist es schwierig, Angaben zu machen. Es fällt nicht leicht, dem anderen ins Herz zu schauen. Selbst bei Personen, die man wirklich gut kennt, fällt es schwer, dergleichen herauszubekommen. Trotz allem bin ich bereit, durch Festsetzung zu entscheiden, dass beide Formen von Parität gegeben sind. Um der Argumentation willen wollen wir davon ausgehen, dass diese Überzeugungen epistemisch insofern auf der gleichen Stufe stehen, als Menschen, die verschiedenen religiösen Traditionen angehören, im Hinblick auf ihre Überzeugungen über intern zugängliche Kennzeichen – Belege, phänomenologische Merkmale usw. – verfügen, die der gleichen Art sind wie die Kennzeichen, die der Christ mit Bezug auf (1) und (2) in Anspruch nehmen kann.Was ergibt sich daraus? Kommen wir auf das Beispiel der moralischen Überzeugungen zurück: König David erblickte die schöne Batseba, verfiel ihr, ließ sie holen, schlief mit ihr und schwängerte sie. Batsebas Mann Urija sollte durch List zu der Überzeugung gebracht werden, er sei der Vater des Kindes. Doch nachdem mehrere dieser Pläne gescheitert waren, richtete David es so ein, dass Urija zu Tode käme, indem er seinem Befehlshaber mitteilen ließ: »Stellt Urija an die Front, wo die Schlacht am heftigsten tobt, dann zieht euch hinter ihm zurück, damit er erschlagen wird und umkommt« (2. Samuel 11, 15). Dann kam der Prophet Natan zu David und erzählte ihm eine Geschichte über einen Reichen und einen Armen. Der Reiche besaß viele Schafe und Rinder, während der Arme nur ein einziges kleines Lamm hatte, das zusammen mit seinen Kindern aufwuchs: »Es aß von seinem Bissen, trank aus seinem Becher und schlief an seiner Brust, und es war für ihn wie eine Tochter.« Nun bekam der Reiche unerwarteten Besuch, und anstatt eines seiner eigenen Schafe zu schlachten, nahm er das einzige kleine Lamm des Armen, ließ es schlachten und setzte es seinen Gästen vor. Da entbrannte der Zorn Davids: »Der Mann, der das getan hat, ist ein Kind des Todes!« Daraufhin wendet sich Natan an dieser Stelle der Bibel, die zu den fesselndsten des ganzen Buchs gehört, David zu, streckt den Arm aus, zeigt auf ihn und verkündet: »Du bist der Mann!« Und da erkennt David, was er getan hat. Was mich daran interessiert, ist die Reaktion Davids auf diese Geschichte. Ich stimme David zu: Eine solche Ungerechtigkeit ist völlig falsch und verabscheuenswert. Man weiß kaum, mit welchen Worten man darüber reden kann. Nach
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meiner Überzeugung ist eine solche Handlung verkehrt, und ich glaube, dass die Aussage, die Handlung sei nicht verkehrt – sei’s weil es eigentlich gar nichts Böses gebe, sei’s weil trotz der Falschheit mancher Dinge diese Handlung nicht verkehrt sei –, falsch ist. Tatsächlich ist es so, dass es nur wenige Überzeugungen gibt, die ich mit größerer Entschiedenheit vertrete. Ich bin mir jedoch darüber im Klaren, dass viele Menschen anderer Meinung sind als ich. Viele glauben, einige Handlungen seien in dieser oder jener Hinsicht besser als andere, aber keine sei wirklich in dem drastischen Sinn richtig oder falsch, in dem ich diese Handlung für falsch halte. Auch in diesem Fall möchte ich es bezweifeln, dass ich ein Argument finden könnte, um den anderen zu zeigen, dass ich recht habe und sie unrecht. Außerdem kommt hinzu, dass ihre zuwiderlaufenden Überzeugungen, soweit ich weiß, für sie mutatis mutandis die gleichen intern verfügbaren epistemischen Merkmale – die gleiche Phänomenologie – haben, die meine Überzeugungen für mich haben. Vielleicht sprechen auch ihre doxastischen Belege im gleichen Maße für sie. Verhalte ich mich also willkürlich und behandele ähnliche Fälle unterschiedlich, wenn ich fortfahre, meine tatsächliche Ansicht zu vertreten, wonach ein Verhalten dieser Art wirklich schrecklich verkehrt ist? Nein, das glaube ich nicht. Irre ich mich, wenn ich Rassenfanatismus für verabscheuenswert halte, obwohl ich weiß, dass andere Menschen meine Meinung nicht teilen, und obwohl ich vielleicht meine, ihnen stünden für ihre Überzeugungen die gleichen internen Kennzeichen zur Verfügung wie mir für meine Überzeugungen? Das glaube ich ebenfalls nicht. Ich für mein Teil halte den strengen Aktualismus für richtig, also die Ansicht, wonach kein Gegenstand in einer Welt, in der er nicht existiert, irgendeine Eigenschaft hat – nicht einmal die Eigenschaft der Nichtexistenz. Andere halten diese Auffassung für falsch. Ich bin außerstande, diese anderen Menschen zu überzeugen, und vielleicht haben die inneren Merkmale ihrer anderslautenden Meinungen die gleichen Qualitäten, die meine Überzeugungen für mich aufweisen. Verhalte ich mich willkürlich, wenn ich auch weiterhin an meiner Meinung festhalte? Nein, das vermag ich nicht zu erkennen. Der Grund ist folgender: In jedem dieser Fälle glaubt der Glaubende nicht wirklich, die betreffenden Überzeugungen stünden in epistemischer Hinsicht tatsächlich auf der gleichen relevanten Stufe. Er mag zustimmen und sagen, er und die Andersdenkenden seien von der Wahrheit ihrer Überzeugung gleichermaßen überzeugt, ja sie stünden in interner Hinsicht sogar auf der gleichen Stufe – die intern verfügbaren Merkmale seien ähnlich bzw. in relevanter Hinsicht ähnlich. Dennoch muss er glauben, es gebe hier einen wichtigen epistemischen Unterschied. Er meint, die andere Person habe einen Fehler gemacht, habe einen blinden Fleck, sei nicht mit voller Aufmerksamkeit bei der Sache, ermangele einiger Gnadengaben, die er selbst hingegen empfangen habe, sie sei aus Ehrgeiz, Stolz, Mutterliebe oder irgendeiner anderen Ursache blind. Der Glaubende muss
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meinen, er habe Zugang zu einer Quelle des gewährleisteten Glaubens, die dem anderen fehle.²⁷ Falls der Glaubende einräumt, im Hinblick auf den christlichen Glauben über keine spezielle Quelle der Erkenntnis oder der wahren Überzeugung zu verfügen – keinen sensus divinitatis, keinen inneren Ansporn des Heiligen Geistes, keine Lehre einer vom Heiligen Geist inspirierten und gegen Irrtum geschützten Kirche, also nichts, was ihren Widersachern nicht ebenfalls zu Gebote stünde –, dann kann man ihm eventuell zu Recht den Vorwurf des willkürlichen Egoismus machen, und dann wird er vielleicht einen Bezwinger des christlichen Glaubens in der Hand haben. Aber warum sollte er diese Dinge einräumen? Im Normalfall wird er meinen (oder zumindest sollte er meinen), dass es tatsächlich Quellen gewährleisteter Überzeugung gibt, die in diese Überzeugungen münden. (Und damit haben wir eine Hinsicht gefunden, in der der Erkenntnistheoretiker dem Gläubigen von Nutzen sein kann.) Der Christ glaubt z. B., in Christus habe Gott sich mit der Welt versöhnt, und das kann er auf der Basis dessen glauben, was die Bibel oder die Kirche lehren. Er weiß, dass andere es nicht glauben und in dieser oder irgendeiner anderen Hinsicht weder die biblische noch die kirchliche Autorität akzeptieren. Er für sein Teil verfügt über eine Erklärung: Da ist das Zeugnis des Heiligen Geistes (bzw. der von Gott gegründeten und geführten Kirche); und das Zeugnis des Heiligen Geistes befähigt uns, die Lehre der Schrift zu akzeptieren. Es ist der Heilige Geist, der diese Lehren in »unsern Herzen versiegelt, so dass wir sicher wissen: Gott redet, […] um unsern Herzen die Überzeugung beizubringen, was unsere Ohren hören, sei von ihm ausgegangen«.²⁸ Daher meint der Gläubige, er befinde sich mit Bezug auf die betreffende Aussage in einer besseren epistemischen Lage als jene, die seine Überzeugungen nicht teilen, denn er glaubt, er verfüge über das Zeugnis der von Gott geführten Kirche, das innere Zeugnis des Heiligen Geistes oder vielleicht noch eine andere Quelle seiner Erkenntnis. Er kann sich irren, wenn er das meint – getäuscht und erfüllt von gravierenden und schwächenden Irrtümern, aber er muss sich nicht schuldig machen, indem er seine Überzeugung vertritt. In diesem Fall verhält es sich ähnlich wie im Fall der Geschichte mit der friesischen Flagge:
Der pluralistische Kritiker muss natürlich das gleiche glauben. Er meint, wenn interne epistemische Parität gegeben sei, müsse man sich des Urteils enthalten. Er weiß allerdings, dass andere Menschen anderer Meinung sind (und sich durch kein Argument, das er anführen kann, überzeugen lassen), und soweit er weiß, genießt diese andere Meinung interne Parität mit seiner eigenen. Wenn er an dieser Überzeugung festhält, wird er sich in der gleichen Situation widerfinden, in der sich die von ihm kritisierte Person befindet. Doch wenn er nun aufhört, an seiner Überzeugung festzuhalten, hat er keinen Einwand mehr in der Hand. Calvin, Auslegung der heiligen Schrift in deutscher Übersetzung, Band 14: Ebräerbrief und katholische Briefe, Neukirchen: Buchhandlung des Erziehungsvereins 1919, S. 351.
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Der Glaubende ist – ohne sich etwas zuschulden kommen zu lassen – der Überzeugung, über eine Quelle der Erkenntnis oder der wahren Überzeugung zu verfügen, die denjenigen, die anderer Meinung sind, nicht zu Gebote stehen. Das schützt ihn sowohl gegen den epistemischen Egoismus als auch gegen den Bezwinger, der mit dem Bewusstsein, tatsächlich Egoist zu sein, einhergehen könnte.²⁹ Infolgedessen wird der Gläubige, der es ernst meint, nicht davon ausgehen, dass wir alle – Gläubige ebenso wie Ungläubige – epistemisch gleichgestellt sind, wenn es um das Thema des christlichen Glaubens geht.Wahrscheinlich wird er ein erhebliches Maß an Sympathie für Kardinal Newman empfinden, der schreibt: In den Schulen der Welt gelten die Wege zur Wahrheit als bequeme Straßen, die allen Menschen zu jeder Zeit offenstehen – egal, wie sie eingestellt sind. Der Wahrheit solle man sich nähern, ohne ihr Huldigungen entgegenzubringen. Jeder gilt als Gleichgestellter seines Nächsten, oder vielmehr: die Verstandeskräfte – Scharfsinn, Klugheit, Findigkeit und Tiefe – werden als Führer zur Wahrheit angesehen. Die Menschen meinen, sie besäßen das uneingeschränkte Recht, über religiöse Themen zu reden, so als wären sie selbst religiös. Sie werden, wie es gerade kommt, die heiligsten Glaubensfragen behandeln, wenn es ihnen in den Sinn kommt – falls es sich so ergibt, auch in leichtsinniger Stimmung, in der Freizeit, beim Wein.³⁰
Newmans Grundgedanke läuft darauf hinaus, dass etwas zu den »Verstandeskräften – Scharfsinn, Klugheit, Findigkeit und Tiefe« hinzukommen muss, damit man in rechter Weise über religiöse Themen reden oder zumindest die Wahrheit mit Bezug auf sie richtig erfassen kann. Das klingt so ähnlich wie das Jesuswort: »Ich preise dich,Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast« (Lukas 10, 21). Sofern diese Dinge den Weisen und Klugen verborgen sind, ist es kein relevanter Selbst wenn sich der Gläubige, indem er den christlichen Glauben akzeptiert, nicht egoistisch verhält, mag man sich fragen, ob ihm hier nicht trotzdem ein Bezwinger geliefert wird, falls der christliche Glaube tatsächlich auf der gleichen epistemischen Stufe steht wie seine Negation. Nicht, wenn er das nicht für zutreffend hält. Man könnte ihm vielleicht einen Bezwinger liefern, falls es Gutting oder sonst jemandem gelänge, ein überzeugendes Argument für die These aufzustellen, dass in diesem Bereich epistemische Parität herrscht. Wie wir jedoch im 8. Kapitel gesehen haben, verhält es sich wahrscheinlich so, dass der christliche Glaube, sofern er wahr ist, für diejenigen, die ihn akzeptieren, auch gewährleistet ist. Das bedeutet, dass ein Argument für die Konklusion, der christliche Glaube stehe auf der gleichen epistemischen Stufe wie der Unglaube, ein vorgängiges Argument für die Falschheit des christlichen Glaubens voraussetzen würde. Doch wenn der Kritiker bereits über ein Argument für die Falschheit des christlichen Glaubens verfügt, warum schlägt er sich dann mit diesem Vorwurf der Willkürlichkeit herum? J. H. Newman, Sermons, Chiefly on the Theory of Religious Belief, Preached before the University of Oxford, London: Rivington 1844, S. 190 – 191.
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Vorwurf, wenn man sagt, von den Weisen und Klugen würden diese Dinge nicht akzeptiert, um hinzuzufügen, es sei in epistemischer Hinsicht egoistisch, etwas den Weisen und Klugen Unbekanntes zu akzeptieren, ohne ein gutes Argument dafür nennen zu können. Der gläubige Christ wird daher meinen, es gebe hier eine wichtige Erkenntnisquelle, die zu den genannten Verstandeskräften hinzukomme. Daher glaubt er diesbezüglich – wahrscheinlich ohne sich etwas zuschulden kommen zu lassen –, dass Andersdenkende eigentlich keine ihm epistemisch Gleichgestellten sind, wenn es um dieses Thema geht, auch wenn er ihnen, epistemisch gesprochen, im Hinblick auf andere Themen völlig unterlegen sein mag. Die Hauptfrage lautet also: Ist es der Fall oder nicht, dass die Überzeugungen des Christen auf der gleichen epistemischen Stufe stehen wie die Überzeugungen derjenigen, die anderer Meinung sind? Das ist die entscheidende Frage. Falls so etwas wie das im 8. Kapitel vorgestellte erweiterte A/C-Modell wirklich zutrifft, besteht ein signifikanter Unterschied zwischen der epistemischen Situation derjenigen, die den christlichen Glauben akzeptieren, und der epistemischen Situation derjenigen, die ihn nicht akzeptieren. Der Opponent setzt daher – ohne dass es zu rechtfertigen wäre oder durch Argumente untermauert würde – voraus, dass weder dieses Modell noch irgendein anderes, dem zufolge es eine Quelle gewährleisteten christlichen Glaubens gibt, tatsächlich zutrifft. Er geht davon aus, dass es eine solche Quelle für den christlichen Glauben nicht gibt. Für diese Annahme spricht gar nichts. Daher zerbröckelt der Vorwurf der Willkürlichkeit. Gary Gutting behauptet freilich (S. 84), der Gläubige habe in diesem Zusammenhang kein Recht auf die Meinung, er sei epistemisch gesprochen besser gestellt als der Ungläubige. Dafür nennt er zwei Gründe.³¹ Erstens, die Anschauung des Gläubigen, dass er Nutznießer des sensus divinitatis bzw. des inneren Ansporns des Heiligen Geistes sei bzw. der Lehre einer vom Heiligen Geist inspirierten und gegen Irrtümer geschützten Kirche, »leite sich von theologischen Lehrsätzen her, die den Theismus voraussetzen und daher nicht zu Recht in Anspruch genommen werden können, um das epistemische Recht des Gläubigen, den Theismus zu akzeptieren, zu verteidigen«. Zweitens »gibt es zumindest einige Gläubige, die auch ihrerseits ›Gott existiert‹ nicht als offenkundig angemessen basale Aussage ansehen; es ist äußerst schwer zu erkennen, inwiefern der Gläubige ohne Willkür dazu imstande sein soll, Calvins Ansichten anzuwenden, um zu bestreiten, dass die anderen ihm epistemisch gleichgestellt sind«.
Bei einer Diskussion hat Marie Pannier darauf hingewiesen, dass Gutting vielleicht eigentlich einen dritten Grund hätte nennen sollen, der auf eine Wiederanwendung seines Prinzips hinausliefe, jeder Aussage, von der man weiß, dass sie von anderen nicht akzeptiert wird, könne man zu Recht nur vorläufig zustimmen, denn vermutlich wisse der Gläubige ja, dass andere – wie z. B. der Opponent – nicht zugeben werden, dass der Gläubige epistemisch gesprochen besser gestellt sei als der Ungläubige.
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Diese Argumente sind offenbar verfehlt. Guttings zweiter Grund für die Annahme, der Christ habe kein Recht zu glauben, es gebe solche Quellen der gewährleisteten Überzeugung, scheint irrelevant zu sein, denn die Tatsache, dass einige Gläubige nicht meinen, der Glaube an Gott sei angemessen basal, deutet nicht einmal ansatzweise darauf hin, dass es solche Quellen wirklich nicht gibt. Wie steht es mit dem ersten Grund, also der These, wonach sich der Gläubige in eine anstößige Form von Zirkularität verstrickt, wenn er in den Genuß einer dieser Glaubensquellen zu kommen meint? Doch wie soll er überhaupt in einen Zirkel geraten können? Er breitet weder ein Argument für irgendetwas aus, noch stellt er eine Definition auf. Inwiefern also kann die Zirkularität auch nur ihr gräßliches Haupt hervorstrecken? Würde der Gläubige ein Argument für den Theismus unterbreiten und dann die Prämisse vorschlagen, er komme in den Genuß einer dieser speziellen Glaubensquellen, dann könnte sein Argument zirkulär sein. Aber er argumentiert weder dafür, noch braucht er für irgendetwas anderes zu argumentieren. Gerate ich denn in einen anstößigen Zirkel, wenn ich mich auf die Physik berufe, um mit ihrer Hilfe zu erklären, wie es kommt, dass ich Bäume und Wiesen wahrnehmen kann – obwohl meine Kenntnis der Physik zum Teil auf Beobachtung beruht? Nicht, wenn ich nicht für die Konklusion argumentiere, die Wahrnehmung sei eine Quelle des gewährleisteten Glaubens.
Aber richten die realen Gegebenheiten des religiösen Pluralismus gar nichts aus? Kann man mit den Thesen der Pluralisten gar keinen Staat machen?³² Zumindest bei einigen gläubigen Christen scheint das Bewusstsein von der enormen Vielfalt der religiösen Reaktionen des Menschen das Vertrauen in den eigenen christlichen Glauben zu vermindern. Das geschieht nicht auf argumentativem Wege bzw. braucht nicht auf diesem Wege zu geschehen. In der Tat gibt es keine respektablen Argumente, die, ausgehend von der Aussage, dass viele offenbar gottesfürchtige Menschen auf der ganzen Welt (1) und (2) nicht gelten lassen, zu der Konklusion führen, dass (1) und (2) falsch sind oder nur um den Preis moralischer oder epistemischer Mangelhaftigkeit akzeptiert werden können. Dennoch kann das Wissen um die Existenz Andersdenkender den Grad des Glaubens an die christliche Lehre reduzieren. Aus christlicher Sicht ist diese Situation des religiösen Pluralismus ihrerseits eine Äußerung unserer elenden menschlichen Lage. Sie kann den Christen etwas von dem Trost und dem Frieden nehmen, die der Herr seinen Anhängern versprochen hat. Außerdem kann sie den Gläubigen um das Wissen bringen, dass (1) und (2) wahr sind – auch wenn sie tatsächlich wahr sind und er glaubt, dass sie es sind. Da der Grad der Gewährleistung zum Teil auf dem Grad des Glaubens beruht, ist es möglich, wenn auch nicht notwendig, dass Kenntnis der faktischen Gegebenheiten des religiösen Pluralismus den Grad seines Glaubens und damit den Grad der aus seiner Sicht gegebenen Gewähr für (1) und (2) reduziert. Daher kann diese Kenntnis ihn des Wissens um (1) und (2) berauben. Es könnte sein, dass er (1) und (2) gewusst hätte, wenn ihm die fakti-
Siehe W. P. Alston, »Religious Diversity and Perceptual Knowledge of God«, in: Faith and Philosophy 5/4 (Oktober 1988), S. 433 ff.
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schen Gegebenheiten des Pluralismus unbekannt geblieben wären. Doch jetzt, da ihm diese Fakten tatsächlich bekannt sind, weiß er (1) und (2) nicht. Auf diese Weise kann es geschehen, dass er durch ein Mehr an Wissen weniger weiß. Es wäre durchaus möglich, dass sich die Dinge für den Exklusivisten so entwickeln. Allerdings müssen sie sich nicht in dieser Weise entwickeln. Betrachten wir nochmals den moralischen Parallelfall. Vielleicht hast du es immer schon für zutiefst verfehlt gehalten, wenn jemand als Anwalt seine Vertrauensposition ausnutzt, um eine Klientin zu verführen. Nun merkst du vielleicht, dass andere Menschen deine Meinung nicht teilen. Sie halten es eher für ein Kavaliersdelikt, so als würde man bei Rot über eine verkehrsfreie Kreuzung fahren. Dabei erkennst du vielleicht, dass sich diese Menschen bei ihren Überzeugungen an die gleichen internen Merkmale halten wie du bei den deinen. Du denkst ausführlicher über die Sache nach, wobei du in deiner Phantasie ähnliche Situationen erfindest und durchgehst und dir auf diese Weise immer mehr Klarheit darüber verschaffst, was in einer derartigen Situation eine Rolle spielt: der Vertrauensbruch, die Ungerechtigkeit und der Mangel an Fairness, die abscheuliche Ironie einer Lage, in der jemand auf der Suche nach Hilfe zum Anwalt geht, aber nur zusätzlich geschädigt wird. Zum Schluss gelangst du zu der noch festeren Überzeugung, dass diese Handlung falsch ist. Auf diese Weise könnte die Überzeugung dadurch, dass du von der abweichenden Meinung anderer Menschen erfährst und darüber nachdenkst, in noch höherem Maße gewährleistet werden. Etwas Ähnliches kann auch im Fall religiöser Überzeugungen geschehen. Ein erneuertes oder verstärktes Bewusstsein von den faktischen Gegebenheiten des religiösen Pluralismus könnte dazu führen, dass man nochmals über die eigene Religiosität nachdenkt, dass man wieder erwacht und so dazu kommt, abermals oder von neuem und vertieft (1) und (2) zu erfassen und zu begreifen. Aus der Perspektive des erweiterten A/CModells betrachtet, könnte diese Situation als Gelegenheit dienen, bei der die Überzeugungen produzierenden Vorgänge, durch die wir zum Verständnis von (1) und (2) gelangen, zu erneuerter und wirksamerer Leistungsfähigkeit gebracht werden. Dabei kann es geschehen, dass die Kenntnis der faktischen Gegebenheiten des Pluralismus anfangs als Bezwinger dient, langfristig jedoch genau die entgegengesetzte Wirkung zeitigt. Daher sind die faktischen Gegebenheiten des religiösen Pluralismus – ebenso wie die historisch-kritische Bibelforschung und die Fakten des Übels – keine Bezwinger des christlichen Glaubens bzw. brauchen keine solchen Bezwinger zu sein.
14 Leiden und Übel Warum läßt du mich Unrecht sehen? Warum schaust du denen zu, die treulos handeln, schweigst, wenn ein Übeltäter den verschlingt, der gerechter ist als er? Habakuk [1, 3 u. 13]
Das Ausmaß und die Vielfalt des Leidens und des Bösen in unserer Welt sind schockierend.Vielleicht gibt es kein Jahrhundert, das in puncto Quantität von Leid und Übel mit dem zwanzigsten konkurrieren könnte. Zum Leiden gehören nach meiner Vorstellung jede Form von Schmerz und Unbehagen – Schmerz oder Unbehagen, die aus Krankheit oder Verletzung resultieren bzw. aus Unterdrückung, Überarbeitung, Altersgründen, aber auch aus Enttäuschung über die eigene Person oder das eigene Lebensschicksal (bzw. das Schicksal von Nahestehenden), aus Einsamkeit, Isolierung,Verrat, unerwiderter Liebe. Außerdem gibt es Leiden, das aus der Kenntnis des Leidens anderer Menschen resultiert. Das Böse bzw. das Übel ist nach meiner Vorstellung im wesentlichen ein Ergebnis der verfehlten Handlungen freier Lebewesen, vor allem der Misshandlungen und Übeltaten, die wir Menschen einander zufügen. Häufig gehen Schmerz und Leiden aus dem Bösen hervor, wie etwa bei einigen der Ereignisse unseres Jahrhunderts, die in Erinnerung bleiben werden: der Holocaust, das entsetzliche, siebzig Jahre währende marxistische Experiment in Osteuropa mit seinen Millionen von Opfern, die Verbrechen von Pol Pot und seinen Anhängern, die Völkermorde in Bosnien und Afrika. Natürlich ist ein großer Teil des Leidens und des Bösen banal und alltäglich, wird dadurch jedoch um keinen Deut besser. Das Böse und das Leiden in unserer Welt haben manchen Christen und andere Menschen, die an Gott glauben, tatsächlich verwirrt und bestürzt. Diese Verwirrung und diese Bestürzung werden in den Heiligen Schriften der Christen und der Juden immer wieder dargestellt, insbesondere – aber keineswegs ausschließlich – im Psalter und im Buch Hiob. Angesichts der schockierenden Konkretheit eines besonders schrecklichen Beispiels für Leiden oder Übel, das sich im eigenen Leben oder im Leben eines Nahestehenden zuträgt, kann es geschehen, dass sich der Gläubige versucht fühlt, eine von ihm selbst beklagte Einstellung zu Gott einzunehmen – etwa Misstrauen, Verdacht, Bitterkeit oder Rebellion. Hierbei handelt es sich, grob gesprochen, um ein spirituelles oder seelsorgerisches Problem. Wer damit zu kämpfen hat, braucht zwar nicht sonderlich versucht zu sein, die Existenz oder auch die Güte Gottes zu bezweifeln, kann ihm aber dennoch zürnen, ihm mit Argwohn begegnen und außerstande sein, ihn als liebevollen Vater zu begreifen, während er ihn eher als distanziertes Wesen ohne Anteilnahme sieht.
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Viele Philosophen und andere Autoren haben geltend gemacht, die Kenntnis der Menge, Vielfalt und Verteilung von Leiden und Übel (kurz: der »Fakten des Übels«) stellten den Gläubigen außerdem vor ein Problem ganz anderer Art.¹ Diese Fakten könnten, wie es heißt, als Prämisse eines starken Arguments gegen die Existenz Gottes dienen, d. h., gegen die Existenz einer allmächtigen, allwissenden und allgütigen Person, die der Schöpfer der Welt sei und die ihre Geschöpfe liebe. Dies wollen wir ein »atheologisches« Argument nennen. Die Geschichte der atheologischen Argumente reicht zurück bis in die Antike, bis hin zu Epikur, dessen Argument im achtzehnten Jahrhundert von Hume wiederholt wird: Epikurs alte Fragen sind noch unbeantwortet. Will [Gott] Übel verhüten und kann nicht? Dann ist er ohnmächtig. Kann er und will nicht? Dann ist er übelwollend.Will er und kann er? Woher dann das Übel?²
Die These läuft darauf hinaus, dass dieses Argument – oder vielmehr: die Kenntnis dieses Arguments – einen Bezwinger des theistischen Glaubens konstituiert. Und wenn es den Theismus bezwinge, dann auch den christlichen Glauben. Daher lautet unsere Frage in diesem Kapitel: Ist die Kenntnis der Fakten des Übels wirklich ein Bezwinger des theistischen und des christlichen Glaubens? Liefert mir die Kenntnis der Fakten des Übels – zusammen mit meinem übrigen Wissen – einen Grund, den Glauben an Gott preiszugeben? Führen diese Kenntnisse eine Situation herbei, in der ich nicht fortfahren kann, in rationaler Weise am christlichen Glauben festzuhalten? Man bedenke, dass es sich hier nicht um das traditionelle Theodizee-Problem handelt. Ich werde keinen Versuch unternehmen, das Verhalten Gottes gegenüber dem Menschen zu »rechtfertigen« oder die Frage zu beantworten, warum Gott überhaupt Böses zulässt oder warum er einige besonders abscheuliche Formen des Bösen gestattet. Unsere Frage ist vielmehr erkenntnistheoretischer Art: Unter der Voraussetzung, dass der theistische und der christliche Glaube in der in den Kapiteln 6 bis 8 angedeuteten Weise gewährleistet sein können, stellt sich die Frage, ob die Kenntnis der Fakten des Übels einen Bezwinger solcher Formen des Glaubens liefert.
Man sollte berücksichtigen, dass es viele verschiedene Probleme, Fragen und Themen gibt, die unter die Rubrik »Problem des Übels« fallen. So gibt es beispielsweise die Probleme der Verhütung von Leiden und Übel, die Probleme ihrer Milderung (also der Kenntnis von Mitteln und Wegen zur Tröstung und Unterstützung derjenigen, die darunter zu leiden haben), die Probleme der Aufrechterhaltung der richtigen Einstellung zu den Leidenden, das bereits genannte seelsorgerische oder spirituelle Problem und manches weitere. Natürlich kann es auch sein, dass eine angemessene Reaktion auf eines dieser Probleme völlig unangebracht ist, wenn es sich um eines der anderen Probleme handelt. Hume, Dialoge über natürliche Religion, hg. von Günther Gawlick, Hamburg: Meiner 1993, S. 86.
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Natürlich braucht die Antwort nicht bei allen Christen gleich auszufallen. Vielleicht konstituieren die Fakten des Leidens und des Übels in unserer traurigen Welt keinen Bezwinger, wenn es sich um sehr junge, kulturell isolierte oder um solche Christen handelt, die wenig über das Leiden und das Böse in unserer Welt wissen, bzw. um solche, die nicht wirklich einsehen, wie gravierend die ihnen bekannten Fakten eigentlich sind. Unsere Frage bezieht sich jedoch auf jene »gebildeten Erwachsenen unserer Kultur«,von denen bei Philip Quinn die Rede ist (s. o., S. 421). Ist es möglich, sich als ein in intellektueller und spiritueller Hinsicht reifer Mensch über die gewaltige und beeindruckende Menge und Tiefe des Leidens und des Bösen in der Welt im klaren zu sein und außerdem die besten der von den Fakten des Übels ausgehenden atheologischen Argumente zu kennen und trotzdem den christlichen Glauben als etwas Rationales und für die eigene Person Gewährleistetes anzusehen? Kann der Glaube ausreichend gewährleistet sein, um für mich Wissen darzustellen? Ich werde für die These argumentieren, dass die richtige Antwort »Ja, das kann er« lautet. Dabei geht es nicht darum, dass das für einige wenige Ausnahmemenschen gilt, beispielsweise für die Mütter Teresa dieser Welt. Ich werde geltend machen, dass die Tatsachen des Übels – wie schockierend sie auch sein mögen – für jeden Christen, der es ernst meint und erkenntnistheoretisch ein wenig bewandert ist, kein Hindernis darstellen, das dem gewährleisteten christlichen Glauben im Weg stünde. Bis vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren waren die bevorzugten atheologischen Argumente, die von den Fakten des Übels ausgehen, derart, dass sie die Schlussfolgerung begründen wollten, die Überzeugungen der Christen enthielten einen logischen Selbstwiderspruch. Die Christen glauben einerseits, dass es eine Person wie Gott gibt (also eine allmächtige, allwissende und allgütige Person), und andererseits, dass es in der Welt Übel gibt. Es sei jedoch logisch unmöglich, dass beide Überzeugungen wahr seien. Dementsprechend schrieb der verstorbene John Mackie: Nach meiner Überzeugung lässt sich die Kritik jedoch überzeugender gestalten, indem man das traditionelle Problem des Übels heranzieht. Hier lässt sich nicht nur zeigen, dass religiöse Überzeugungen ohne rationale Stütze auskommen müssen, sondern auch, dass sie entschieden irrational sind, denn die verschiedenen Teile der theologischen Grundlehre stehen in Widerspruch zueinander.³
Mackie, »Evil and Omnipotence«, in: Mind (1955). Dieser Artikel ist vielfach abgedruckt worden. Auf problematische Seiten der Argumentation Mackies weise ich in meinem Buch God, Freedom, and Evil hin (New York: Harper and Row 1974, sowie Grand Rapids: W. B. Eerdmans 1977, S. 12 ff.). In seinem postum veröffentlichten Buch The Miracle of Theism (Oxford: Oxford University Press 1982) schwankt Mackie hin und her zwischen seiner früher aufgestellten These, die Existenz Gottes stehe in direktem Widerspruch zur Existenz des Übels, und der These, die Existenz des Übels sei
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Anschließend argumentiert Mackie für die These, die Existenz Gottes sei logisch nicht mit der Existenz des Bösen zu vereinbaren. Dann kommt er zu dem Schluss, der theistische Glaube sei offenkundig irrational, da der Theist auf beides festgelegt sei. Zur Zeit wird jedoch weitgehend eingeräumt, dass die gleichzeitige Bejahung der Existenz Gottes und der Existenz des Übels keinen direkten Widerspruch enthält bzw. nicht notwendig falsch ist. Die Existenz des Übels steht nicht in logischem Widerspruch zur Existenz eines allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gottes (und zwar nicht einmal im weiten Sinn von »logisch«).⁴ Beim Nieein zwar starker, aber logisch gesehen nicht zwingender Beleg gegen die Existenz Gottes. Siehe ebd., S. 150 – 175, sowie meinen Artikel »Is Theism Really a Miracle?«, in: Faith and Philosophy (April 1986). Die Behauptung, wer an Gott (den Gott des Theismus) glaube, habe sich darauf festgelegt, einen Widerspruch zu glauben, geht auf einige der französischen Enzyklopädisten zurück sowie auf F. H. Bradley, J. McTaggart und J. S. Mill. Um neben Mackie noch einige weitere neuere Autoren zu nennen, siehe z. B. H. J. McCloskey, »God and Evil«, in: Philosophical Quarterly 10 (1960), S. 97, und Henry David Aiken, »God and Evil«, in: Ethics 48 (1957– 1958), S. 79. Für diese Konklusion argumentiere ich in meinem Buch God, Freedom, and Evil, S. 7 ff. Eine ausführlichere und zutreffendere Darstellung gebe ich in The Nature of Necessity, Oxford: Clarendon Press 1974, 9. Kapitel, sowie in: James Tomberlin u. Peter van Inwagen (Hg.), Alvin Plantinga, Dordrecht: Reidel (Profiles) 1985, S. 36 – 55. Viele faszinierende Probleme und Fragen sind durch die Diskussion der Willensfreiheitsverteidigung der letzten fünfundzwanzig Jahre zum Vorschein gekommen. Besonders zu nennen sind hier Argumente gegen die Existenz (wahrer und nichttrivialer) kontrafaktischer Konditionale bezüglich Freiheit von Robert Adams (»Middle Knowledge and the Problem of Evil«, in: American Philosophical Quarterly [1977]) und William Hasker (»A Refutation of Middle Knowledge«, in: Noûs [Dezember 1986]). Ein besonders interessanter Strang dieser Debatte ist der Einwand des Begründens und Fundierens, dem zufolge kontrafaktische Konditionale bezüglich Freiheit mit falschem Antezedens nicht wahr sein können, da es nicht möglich sei, sie angemessen zu begründen oder zu fundieren. Dieser Einwand reicht weit zurück bis zu der im sechzehnten Jahrhundert geführten Kontroverse zwischen Jesuiten und Dominikanern. Die an diesem Meinungsstreit Beteiligten wurden immer gehässiger zueinander, was den Papst schließlich dazu veranlasste, es den streitenden Parteien zu untersagen, einander in der Öffentlichkeit zu verleumden (obwohl er offenbar nichts dagegen hatte, wenn sich die damit einverstandenen Erwachsenen in der Privatsphäre ihrer eigenen Räumlichkeiten weiterverleumdeten). Eine autoritative Abhandlung über den Einwand des Begründens und Fundierens stammt von meinem Kollegen Thomas Flint, Divine Providence: The Molinist Account, Ithaca: Cornell University Press 1998. Eine weitere hochinteressante Frage betrifft das Problem der »selektiven Freiheit« (um mit David Lewis zu sprechen). (Siehe G. Stanley Kane, »The Free-Will Defense Defended«, in: New Scholasticism 50/4 [1976], David Lewis, »Evil for Freedom’s Sake?«, in: Philosophical Papers [November 1993].) Hätte Gott es nicht so einrichten können, dass Gott jene freien Entscheidungen seiner Geschöpfe, deren Richtigkeit er vorhersah, in die Tat umgesetzt werden,während diejenigen unterbunden werden, von denen er vorhersehen konnte, dass sie falsch sind? Diese Frage hängt mit einer weiteren faszinierenden Frage zusammen, nämlich mit dem Problem der backtracking
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dergang der traditionellen These der Widersprüchlichkeit spielt der Begriff der Willensfreiheit eine gedanklich wichtige Rolle: Es ist zwar logisch möglich, dass es immer nur richtig handelnde freie Wesen gibt (also Wesen, deren Handlungen z. B. weder von Gott noch von Naturgesetzen und Ausgangsbedingungen bestimmt sind), aber es steht nicht in der Macht Gottes, freie Wesen zu schaffen und kausal darauf hinzuwirken, dass sie nur das Richtige tun. (Wenn er es auf kausalem Weg herbeiführt, dass jemand richtig handelt, dann tut dieser Jemand das Richtige nicht aus Freiheit.) Das reicht natürlich nicht unbedingt aus, um den Theisten von allen Problemen zu befreien. Es liegt ja auch kein logischer Widerspruch in dem Gedanken, dass die Erde flach sei oder auf dem Rücken einer Schildkröte ruht, die ihrerseits auf dem Rücken einer weiteren Schildkröte steht usw., so dass die Reihe der Schildkröten immer weiter nach unten reicht. Dennoch sind diese Anschauungen (unter Voraussetzung dessen, was wir heute zu wissen glauben) irrational. (Man wäre niedergeschlagen, wenn sich die eigenen erwachsenen Kinder für solche Auffassungen entschieden.) Die Vertreter atheologischer Argumente, die von den Fakten des Übels ausgehen, haben sich dementsprechend von der These abgewendet, die Existenz Gottes sei absolut unverträglich mit der Existenz des Bösen, und führen nun belegbezogene oder probabilistische Argumente der einen oder anderen Art ins Feld. Dabei geht es nicht um die These der logischen Widersprüchlichkeit des christlichen Glaubens, sondern darum, dass die Fakten des Übels überzeugende Belege gegen die Existenz Gottes liefern. Diese belegbezogenen Argumente sind in der Regel auch probabilistischer Art: In den einfachsten Fällen wird behauptet, die Existenz Gottes sei unwahrscheinlich,wenn man sie auf die Fakten des Übels mitsamt unseren sonstigen Hintergrundkenntnissen bezieht (wobei unter Hintergrundkenntnissen das zu verstehen ist, was wir alle wissen, bzw. das, was alle vernünftigen und gut informierten Menschen heute glauben). Die typische atheologische These besagt heute also nicht mehr, dass die Existenz Gottes mit der Existenz des Übels unvereinbar sei, sondern dass die Existenz des Übels das Rüstzeug für ein starkes belegbezogenes bzw. probabilistisches Argument gegen die Existenz Gottes bereitstellt. Vom atheologischen Standpunkt spricht eine ganze Menge für das alte Argument für die Widersprüchlichkeit des christlichen Glaubens. Es ist kurz und
counterfactuals (siehe David Lewis, »Counterfactual Dependence and Time’s Arrow«, in: Noûs 13/4 [1979], S. 455). Es ist äußerst verlockend, sich an dieser Stelle eingehender mit diesen Fragen zu beschäftigen, doch das würde uns aus dem Bereich der Erkenntnistheorie in den Bereich der Metaphysik führen (manche würden von einem »abstrusen und geheimnisumwobenen« Bereich der Metaphysik sprechen – aber natürlich würden sie falsch liegen). Hier muss Selbstbeherrschung unsere Devise sein.
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elegant. Falls der christliche Glaube einen Widerspruch enthält, ist dieser Glaube falsch, und mehr ist dazu nicht zu sagen. Es spielt dann keine Rolle, was darüber hinaus wahr ist oder nicht; und es spielt auch keine Rolle, ob es gute Argumente oder Belege anderer Art gibt, die für den christlichen Glauben sprechen. Denn wenn dieser Glaube widersprüchlich ist, dann ist er falsch, und damit ist die Sache erledigt. Außerdem gilt: Sobald man einsieht, dass eine Aussage falsch ist, kann man nicht rational fortfahren, sie zu glauben. Ein solches Argument würde also auf einen Schlag zeigen, dass der christliche Glaube sowohl falsch als auch irrational ist – jedenfalls für diejenigen, die über das Argument unterrichtet sind. Bei den heute üblichen belegbezogenen Argumenten, die vom Übel ausgehen, liegen die Dinge jedoch ganz anders. Zunächst wollen wir annehmen, das Übel konstituiere wirklich Belegmaterial irgendeiner Art gegen den Theismus.Was folgt daraus? Nicht viel. Ich glaube viele Aussagen, die wahr, in rationaler Weise akzeptiert und derart sind, dass es Belege gibt, die gegen sie sprechen. Die Tatsache, dass Peter nur drei Monate alt ist, ist ein Beleg gegen die Behauptung, er wiege acht Kilo. Dennoch kann es rational (und wahr) sein, wenn ich glaube, das sei sein Gewicht. Oder ist der Gedanke vielmehr der, dass die Existenz Gottes unwahrscheinlich ist, wenn man sie auf die Gesamtheit unserer Belege bezieht, also den gesamten Rest dessen, was wir wissen oder glauben? Um diesen Nachweis zu erbringen, müsste der Atheologe alle Belege untersuchen, die für die Existenz Gottes sprechen, also die ontologischen, kosmologischen und teleologischen Argumente der Tradition und viele andere mehr.⁵ Er müsste die relativen Verdienste aller dieser Argumente abwägen, und er müsste sie gegen das belegbezogene Argument aus der Existenz des Übels abwägen, um zu der angedeuteten Konklusion zu gelangen. Das ist eine enorm viel unerfreulichere und problematischere Aufgabe als der bündige und elegante Nachweis einer Kontradiktion im Stile Mackies. Ein weiteres Problem, das diesem atheologischen Argument Schwierigkeiten bereitet, lässt sich verdeutlichen, indem man Reaktionen auf die beliebteste zeitgenössische Lesart des teleologischen Arguments betrachtet, nämlich das sogenannte Argument der Feineinstellung. Dieses Argument setzt bei der augenscheinlichen Tatsache an, dass die Grundkonstanten der Physik – Lichtgeschwindigkeit, Gravitation, Stärke der schwachen und der starken nuklearen Kräfte – offenbar Werte haben müssen, die einem extrem engen Bereich angehören, damit Leben überhaupt möglich ist. Wären diese Werte auch nur minimal anders ausgefallen (wäre die Gravitationskonstante z. B. ein winziges bisschen
Siehe meinen Artikel »Two Dozen (or so) Theistic Arguments«, in: Deane-Peter Baker (Hg.), Alvin Plantinga, Cambridge: Cambridge University Press 2007, S. 203 – 227.
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anders ausgefallen), hätten sich keine bewohnbaren Planeten entwickelt und Leben (jedenfalls ein dem unseren im mindesten ähnliches Leben) wäre nicht möglich gewesen. Das wiederum legt den Gedanken nahe oder macht den Gedanken plausibel, dass die Welt von einem Planer entworfen oder geschaffen wurde, der die Existenz lebendiger und letztlich auch rationaler, intelligenter, moralisch signifikanter Geschöpfe beabsichtigt hat. Eine zeitgenössische Erwiderung beruft sich auf die folgende Möglichkeit: »Es gab eine Evolution der Welten (im Sinne ganzer Universen), und die Welt, in der wir uns befinden, ist schlicht eine unter zahllosen anderen, die über die Ewigkeit hinweg existiert haben.«⁶ Unter der Voraussetzung der Existenz unendlich vieler Universen, meint Daniel Dennett, wären alle möglichen Werteverteilungen für die kosmologischen Konstanten ausprobiert worden (ebd., S. 179). Wie es der Zufall will, befinden wir uns natürlich in einem jener Universen, in denen die Konstanten derart sind, dass sie die Entwicklung intelligenten Lebens zulassen. Doch dann ist die Wahrscheinlichkeit des Theismus unter der Voraussetzung dieses ganzen Schwarms von Welten nicht besonders hoch. In der gleichen Weise könnte der Theist nun zustimmen, es sei – unter Voraussetzung genau dessen, was wir über unsere Welt wissen – unwahrscheinlich, dass es eine Person wie Gott gibt. Aber vielleicht hat Gott zahllose Welten geschaffen, ja alle Welten (alle Universen), in denen ein substantielles Gesamtgleichgewicht zwischen dem Guten und dem Bösen besteht. In einigen dieser Welten gibt es gar kein Leiden und kein Übel; in einigen anderen dagegen eine ganze Menge. Wie es der Zufall will, befinden wir uns in einer jener Welten, in denen es eine ganze Menge gibt. Aber unter Voraussetzung des Gesamtensembles solcher Welten, ist die Wahrscheinlichkeit des Theismus nicht besonders niedrig.⁷ Nehmen wir jedoch an, der Theismus sei im Verhältnis zu meinen sonstigen Überzeugungen tatsächlich unwahrscheinlich. Oder nehmen wir an, meine sonstigen Überzeugungen lieferten Belege gegen den Theismus und keine Belege dafür. Was würde daraus folgen? Auch in diesem Fall würde nicht viel daraus folgen. Es gibt nämlich viele wahre Überzeugungen, die ich (völlig rationalerweise) vertrete, obwohl sie unter Berücksichtigung meiner sonstigen Überzeugungen unwahrscheinlich sind. Ein Beispiel: Ich spiele Poker. Unter Berücksichtigung meiner sonstigen Kenntnisse oder Überzeugungen ist es unwahrscheinlich, dass ich gerade Karten für einen Inside Straight auf die Hand bekommen habe. Daraus folgt aber nicht, dass meine Überzeugung, eben die Daniel Dennett, Darwins gefährliches Erbe: Die Evolution und der Sinn des Lebens, übers. von Sebastian Vogel, Hamburg: Hoffmann und Campe 1997, S. 242. Entfaltet wird diese Idee von Donald Turner,vgl. seine Ph.-D.-Dissertation God and the Best of All Possible Worlds (University of Pittsburgh 1994).
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Karten für einen Inside Straight auf die Hand bekommen zu haben, im mindesten irrational ist. Der Grund liegt natürlich darin, dass die Gewährleistung dieser Überzeugung nicht davon abhängt, dass sie, bezogen auf den Rest meiner Überzeugungen, angemessen wahrscheinlich ist. Nein, sie hat eine ganz andere Quelle der Gewähr, nämlich die Wahrnehmung. Ebenso verhält es sich mit dem Theismus. Hier hängt eigentlich alles von der Frage ab, ob der Theismus – wie ich geltend gemacht habe – über eine von der auf meine sonstigen Überzeugungen bezogenen Wahrscheinlichkeit unabhängige Quelle der Gewährleistung verfügt oder verfügen kann: Gotteswahrnehmung, sensus divinitatis oder religiösen Glauben und inneren Ansporn des Heiligen Geistes (s. o., Kapitel 8 u. 9). Die im Hinblick auf diese atheologischen, belegbezogenen Argumente wichtigen Fragen sind daher Fragen der folgenden Art: Was sollen sie eigentlich im einzelnen beweisen? Dass der Theismus falsch ist? Oder dass es für eine denkende, über die Fakten des Übels unterrichtete Person irrational ist, den Theismus zu akzeptieren? Oder dass die Fakten des Übels und die probabilistischen Überlegungen zusammengenommen einen Bezwinger des Theismus konstituieren? Oder dass sie diese Aufgabe, wenn schon nicht bei allen reflektierten Theisten, so doch immerhin bei einigen von ihnen erfüllen? Oder dass die Fakten des Leidens und des Bösen die Ablehnung des Glaubens an Gott rationaler machen als die Akzeptierung dieses Glaubens? Oder was sonst? Eines der Hauptprobleme besteht hier darin, wie man die gemeinte Tragweite der vom Bösen ausgehenden atheologischen Argumente deuten soll: Was genau sollen sie eigentlich leisten? Diese Frage müssen wir im Gedächtnis behalten, während wir einige der Argumente betrachten. Vor fünfundzwanzig Jahren gab es noch keine ausgearbeiteten atheologischen, belegbezogenen Argumente, die vom Übel ausgingen. Das ist auch verständlich, da (anscheinend) fast alle Atheologen der Meinung waren, die Existenz Gottes stünde in direktem Widerspruch zur Existenz des Bösen. Einige dieser Versuche sind ziemlich ausgeklügelt und sogar aufschlussreich. Ich werde jedoch für die These argumentieren, dass ihnen nicht mehr Erfolg beschieden ist als dem einstigen Argument für die Widersprüchlichkeit. Ja, was hier besonders überraschend kommt, ist die Schwäche dieser Argumente. Anschließend werde ich die Möglichkeit eines ganz anderen (und verheißungsvolleren) Weges andeuten, auf dem der Atheologe die These verfechten könnte, dass die Fakten des Übels einen Bezwinger des theistischen Glaubens darstellen. Obschon dieser Weg verheißungsvoll erscheinen mag, ist er nach meiner Meinung jedoch ebenfalls zum Scheitern verurteilt.
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I Belegbezogene atheologische Argumente In den letzten – grob gesprochen – fünfundzwanzig Jahren wurden mehrere verschiedene Lesarten des vom Übel ausgehenden, belegbezogenen Arguments entwickelt. In diesem Abschnitt werde ich zwei der besten untersuchen.
A Die Argumente von Rowe Zunächst befasse ich mich mit einem Argument, das William Rowe in den letzten zwanzig Jahren vorgestellt und weiter ausgearbeitet hat.⁸ Betrachten wir einige besonders entsetzliche Beispiele für Böses oder Leiden: die Vergewaltigung und Ermordung einer Fünfjährigen (B1) oder den allmählichen und schmerzhaften Tod eines Rehkitzes bei einem Waldbrand (B2). Rowes Argument lautet wie folgt: P: Kein uns bekanntes Gut ist derart, dass wir wissen, dass es ein allmächtiges, allwissendes, vollkommen gütiges [kurz: ein vollkommenes] Wesen rechtfertigt, wenn es B1 und B2 zulässt.⁹
Siehe Rowe, »The Problem of Evil and Some Varieties of Atheism«, in: American Philosophical Quarterly (1979), S. 335 – 341, wiederabgedr. in: Daniel Howard-Snyder (Hg.), The Evidential Argument from Evil, Bloomington: Indiana University Press 1996, S. 1– 11; »Evil and the Theistic Hypothesis: A Response to S. J. Wykstra«, in: International Journal for Philosophy of Religion 16 (1984), S. 95 – 100; »The Empirical Argument from Evil«, in: Robert Audi u. William J. Wainwright (Hg.), Rationality, Religious Belief, and Moral Commitment, Ithaca: Cornell University Press 1986; »Evil and Theodicy«, in: Philosophical Topics 16 (1988), S. 119 – 132; »Ruminations about Evil«, in: Philosophical Perspectives 5 (1991), S. 69 – 88; »William Alston on the Problem of Evil«, in: Thomas D. Senor (Hg.), The Rationality of Belief and the Plurality of Faith, Ithaca: Cornell University Press 1994; »The Evidential Argument from Evil: A Second Look«, in: Howard-Snyder (Hg.), The Evidential Argument from Evil (= EAESL). Rowes eigene Formulierung von P lautet »Kein Gut, von dem wir wissen, rechtfertigt ein allmächtiges, allwissendes, vollkommen gutes Wesen, wenn es B1 und B2 zuläßt«. Allerdings kann man weder von dem Theisten noch von dem neutralen Außenstehenden erwarten, dass er diese Prämisse akzeptiert, denn es könnte ja sein, dass ein Gut, von dem wir wissen, tatsächlich ein vollkommenes Wesen rechtfertigt, wenn es B1 und B2 zulässt, obwohl wir nicht wissen, dass es sich so verhält. Rowe lässt auch konjunktive Güter wie G gelten, womit die Konjunktion aller existierenden Güter gemeint ist. Aber G ist (vermutlich) ein guter Sachverhalt; und wenn der Theismus wahr ist, rechtfertigt G ein vollkommenes Wesen, wenn es B1 und B2 zulässt. Eine andere Möglichkeit wäre die, dass der Theist glaubt, das unvorstellbar große Gut der Fleischwerdung und des Sühnopfers – also ein Gut, von dem wir wissen – rechtfertige B1 und B2. Das könnte wie folgt geschehen: Gott wählt eine der besten Welten als diejenige aus, die verwirklicht werden soll. Aber alle besten Welten enthalten die Fleischwerdung und das Sühnopfer (s. u., S. 581) und folglich ziemlich viel Übel – wenn nicht speziell B1 und B2, so doch andere Dinge, die genauso schlimm sind. Nun kann der Atheologe also (sofern er auf Zustimmung von seiten des Theisten und des
I Belegbezogene atheologische Argumente
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Also gilt wahrscheinlich: Q: Gar nichts Gutes rechtfertigt ein vollkommenes Wesen, wenn es B1 und B2 zulässt. Also gilt wahrscheinlich: Nicht-G: Es gibt kein vollkommenes Wesen. Hier werden Güter und Übel als Sachverhalte aufgefasst. Ein Sachverhalt kann wirklich oder nichtwirklich sein. Nach Rowe könnte nur ein wirkliches Gut ein vollkommenes Wesen rechtfertigen, wenn es B1 und B2 (bzw. irgendein anderes Übel) zulässt. Der Grundgedanke, der hinter P steht, besagt also, dass wir kein Gut kennen, das wirklich und so beschaffen ist, dass wir wissen, dass es ausreicht, um ein vollkommenes Wesen zu rechtfertigen, wenn es B1 und B2 zulässt. Dieses Argument ist in mehreren Hinsichten problematisch. Auf der einfachsten Ebene jedoch betrifft das Hauptproblem – sobald die anderen Probleme behoben sind oder außer acht gelassen werden – den Schluss von P auf Q. Angenommen, ich werfe einen Blick in mein Zelt, sehe dort aber keinen Bernhardiner. Dann ist es wahrscheinlich, dass sich auch kein Bernhardiner in meinem Zelt befindet. Das ist deshalb so,weil ich den Hund,wenn einer dort gewesen wäre, höchstwahrscheinlich gesehen hätte. Es ist nämlich nicht leicht für einen Bernhardiner, sich in einem kleinen Zelt der Beobachtung zu entziehen. Nun sei nochmals angenommen, dass ich in mein Zelt schaue, diesmal aber keine Gnitze entdecke. (Gnitzen sind winzige Mücken, deren Stich in keinem Verhältnis zu ihrer Größe steht.) In diesem Fall ist es nicht besonders wahrscheinlich, dass sich keine Gnitzen in meinem Zelt aufhalten – zumindest ist es nicht wahrscheinlicher als zur Zeit vor meinem Kontrollblick. Der Grund ist natürlich der, dass ich, selbst wenn es dort Gnitzen gäbe, sie nicht sehen würde. Sie sind zu klein, um dem Auge aufzufallen. Nun lautet die Frage, ob Gottes Gründe für die Zulassung von B1 und B2 gegebenenfalls Bernhardinern oder Gnitzen ähneln. Angenommen, Gott habe tatsächlich einen Grund dafür, dass er ein bestimmtes Übel wie B1 oder B2 zulässt, und ferner sei angenommen, dass wir herauszubekommen versuchen, welcher Grund das sein könnte. Ist es wirklich wahrscheinlich, dass uns die richtige Antwort in den Sinn käme? Ist es auch nur wahrscheinlich, dass uns plausible Kandidaten für die Rolle von Gottes Grund in den Sinn kämen? In einer Reihe
neutralen Außenstehenden hofft) sinnvollerweise nicht mehr behaupten, als dass kein Gut, von dem wir wissen, so ist, dass wir wissen, dass es ein vollkommenes Wesen rechtfertigt, wenn es B1 und B2 zulässt. Falls Rowe darauf pocht, seine Prämisse in der ursprünglichen Formulierung beizubehalten, sollte der Theist, wie mir scheint, erwidern, dass es keinen Grund gibt, diese Prämisse für wahr zu halten, wohl aber einen guten Grund, sie für falsch zu halten.
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wichtiger Artikel haben Stephen Wykstra, William Alston und Peter van Inwagen vor kurzem (unter anderem) für die These argumentiert, dass es sich nicht so verhält.¹⁰ Der Hauptgrund für diese These ist der epistemische Abstand zwischen uns und Gott. Gesetzt, dass Gott tatsächlich einen Grund dafür hat, diese Übel zuzulassen, warum sollen wir dann glauben, dass wir als erste darüber im Bilde sein werden? Angesichts der Allwissenheit Gottes und unserer erheblichen epistemischen Grenzen ist es überhaupt nicht überraschend, dass uns seine Gründe für einige seiner Handlungen oder Zugeständnisse völlig unklar bleiben. Doch dann ist es so, dass aus dem Umstand, dass keine uns bekannten Güter derart sind, dass wir wissen, dass sie Gott rechtfertigen (ihm als Gründe dienen), wenn er B1 oder B2 zulässt, einfach nicht folgt, dass es, bezogen auf unsere Kenntnisse, wahrscheinlich ist, dass es keine solchen Güter gibt oder dass Gott keinen Grund dafür hat, diese Übel zuzulassen. Die Argumente der genannten Artikel scheinen mir zwingend zu sein. Hier werde ich sie nicht wiederholen. Neuerdings (und teilweise unter dem Druck einiger Texte, die in der Anmerkung 10 genannt werden) ist Rowe dahin gelangt, dieses Argument mit Misstrauen zu betrachten: »Inzwischen glaube ich, dass dieses Argument bestenfalls ein schwaches Argument ist.«¹¹ Daher lässt er es zugunsten eines neuen Arguments fallen, dessen Aussichten seiner Meinung nach rosiger sind: »Ich möchte dieses Argument völlig fallenlassen und ein nach meinem Dafürhalten besseres Argument für die Auffassung anführen, dass Q durch P wahrscheinlicher wird als das Gegenteil von Q« (S. 267). Nachdem er sein neues Argument vorgestellt hat, fährt Rowe fort und sagt: »Dieses Argument lässt sich erheblich vereinfachen, indem man Q völlig beiseite lässt und von P schnurstracks zu -G übergeht« (S. 270). Dieses neue Argument lautet wie folgt: Zunächst muss festgehalten werden, dass P von Rowe so gemeint ist, dass es aus nicht-G folgt. P ist äquivalent mit: P′
Es gibt kein vollkommenes Wesen und kein bekanntes Gut derart, dass das letztere das erstere rechtfertigt, wenn es B1 und B2 zulässt.
Wykstra: »Difficulties in Rowe’s Argument for Atheism, and in One of Plantinga’s Fustigations against It«, Vortrag anläßlich einer Tagung der Pacific Division der American Philosophical Association auf der Queen Mary (1983); »The Humean Obstacle to Evidential Arguments from Suffering: On Avoiding the Evils of ›Appearance‹«, in: International Journal for Philosophy of Religion 16 (1984), S. 73 – 94; »The ›Inductive‹ Argument from Evil: A Dialogue« (Mitautor: Bruce Russell), in: Philosophical Topics 16, S. 133 – 160; Alston: »The Inductive Argument from Evil and the Human Cognitive Condition«, in: Philosophical Perspectives 5, S. 29 – 67; van Inwagen: »The Place of Chance in a World Sustained by God«, in:T. Morris (Hg.), Divine and Human Action, Ithaca: Cornell University Press 1988; »The Magnitude, Duration, and Distribution of Evil: A Theodicy«, in: Philosophical Topics (1988); »The Problem of Evil, The Problem of Air, and the Problem of Silence«, in: Philosophical Topics (1991). Hoffentlich werden diese Texte Argumenten der folgenden Form ein Ende bereiten: »Ich kann nicht erkennen, welchen Grund Gott für p haben könnte; also hat Gott wahrscheinlich keinen Grund für p.« (Aber natürlich wird es ihnen nicht gelingen.) Siehe EAESL, S. 270.
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Sodann nimmt Rowe an, dass sowohl P(G/H) als auch P(P/G ∧ H) gleich 0,5 ist (wobei H unsere Hintergrundinformationen sind, also das, was wir alle oder die meisten von uns wissen oder glauben.) Daraus folgt der Wahrscheinlichkeitsrechnung zufolge, dass P(G/P ∧ H) erheblich viel niedriger ausfällt als P(G/H). Also wird G durch P entkräftet. Das solchermaßen vereinfachte Argument ist das neue – vom Übel ausgehende, belegbezogene – Argument von Rowe. Allerdings muss ich leider gestehen, dass dieses neue Argument allenfalls schwächer ist als das alte. Das ist deshalb so, weil eine Analyse der rein formalen Merkmale des Arguments zeigt, dass es durch andere Argumente neutralisiert wird, und zwar durch Argumente der gleichen Struktur und Stärke, die für eine Konklusion sprechen, welche Rowes eigener Konklusion widerspricht (und mithin für die Negation der Konklusion Rowes spricht).¹² Im wesentlichen handelt es sich um ein doppeltes Problem: Erstens beruht Rowes Argument (wie bereits festgestellt) im Grunde darauf, dass die Konklusion, die er stützen möchte, nämlich: nicht-G: Es gibt kein vollkommenes Wesen. P – also die Prämisse seines Arguments – impliziert. Nun ergibt sich aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung: Wenn eine Aussage A eine Aussage B impliziert, dann wird A von B insofern bestätigt, als die Wahrscheinlichkeit von A bezogen auf B zusammen mit unseren Hintergrundinformationen H größer sein wird als die Wahrscheinlichkeit von A bezogen auf H allein (es sei denn, dass A oder B die absolute Wahrscheinlichkeit 1 hat). Also wird jede kontingente Konsequenz K von nicht-G dieses nicht-G mit Bezug auf jedes Korpus von Hintergrundinformationen H bestätigen (wobei K natürlich weder in H enthalten noch von H impliziert werden kann). Doch dann gilt ebendeshalb auch, dass jede kontingente Konsequenz von G dieses G mit Bezug auf jedes Korpus von Hintergrundinformationen H bestätigen wird. Das bedeutet, dass Rowes Argument durch andere Argumente neutralisiert wird – beispielsweise durch ein Argument, dessen Prämisse von einer der folgenden Aussagen gebildet wird: P*
Weder B1 noch B2 ist derart, dass wir wissen, dass kein Gut ein vollkommenes Wesen rechtfertigt, wenn es B1 oder B2 zulässt. P** Kein Übel, von dem wir wissen, ist derart, dass wir wissen, dass kein vollkommenes Wesen durch ein Gut gerechtfertigt wird, wenn es dieses Übel zulässt. P*** Kein Übel, von dem wir wissen, ist derart, dass wir wissen, dass kein vollkommenes Wesen es zulassen würde. Vermutlich wird es für G ebenso viele Argumente dieser Art geben, wie es Argumente im Stil von Rowe gegen G gibt. Das zweite Problem weist eine gewisse Ähnlichkeit mit dem ersten auf. Im Grunde ist Rowes Argument ein »Argument, das von degenerierten Belegen ausgeht«, also ein Argument, bei dem man als neuen Beleg nicht die in Erfahrung gebrachte neue Aussage heranzieht, sondern eine schwächere Konsequenz dieser Aussage. Das lässt sich aus folgendem ersehen: Rowes Prämisse P ist äquivalent mit:
Was Einzelheiten betrifft, möge der Leser den folgenden Artikel heranziehen: Plantinga, »Degenerate Evidence and Rowe’s New Evidential Argument from Evil«, in: Noûs 32/4 (Dezember 1998); vgl. Rowes Replik »Reply to Plantinga«, ebd.
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P′ Entweder nicht-G oder kein Gut,von dem wir wissen, ist derart, dass wir wissen, dass es B1 und B2 rechtfertigt. Hier rechtfertigt ein Gut g ein Übel b genau dann, wenn: Wenn es ein vollkommenes Wesen w gäbe und g und b wirklich wären, dann wäre w durch g gerechtfertigt, wenn es b zuließe.¹³ (Um ein Beispiel zu nennen: Vielleicht ist, damit ich mich in einer gewissen Hinsicht moralisch entwickle, ein gewisses Maß an Leiden erforderlich; und vielleicht kann man einsehen, dass ein vollkommenes Wesen durch diese moralische Entwicklung gerechtfertigt wäre, wenn es die betreffenden Leiden zuließe.) Was wir nun erfahren, indem wir über B1 und B2 (und weitere Übel) sowie deren Beziehung zu einem vollkommenen Wesen nachdenken, ist eigentlich folgendes: -J Kein Gut, von dem wir wissen, ist derart, dass wir wissen, dass es B1 und B2 rechtfertigt. Offensichtlich folgt P′, die Prämisse von Rowes Argument, aus -J, das seinerseits stärker ist als P′. Das Problematische an solchen Argumenten ist – um es zu wiederholen –, dass es andere Argumente der gleichen Struktur und Stärke geben wird, die eine unverträgliche Konklusion begründen. Nehmen wir beispielsweise an, ich gewinne in der Lotterie von Indiana (L). Die Wahrscheinlichkeit von L bezogen auf H ist sehr niedrig, sagen wir: eins zu einer Million. Nun wollen wir annehmen, dass ich als neuen Beleg nicht L nehme, sondern: L oder -G. Jetzt können wir durch ein Argument vom gleichen Typ, dem auch Rowes Argument angehört,¹⁴ zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit von -G, bezogen auf diese Prämissen zusammen mit den relevanten Hintergrundinformationen, tatsächlich sehr hoch ist – ungefähr 0,999999. Freilich gibt es ein ähnliches Argument auch für G. Hier wird die Prämisse wie folgt lauten: L oder G. Offenbar bringt uns keines dieser Argumente wirklich voran, was wiederum daran liegt, dass sie einander neutralisieren. Rowes Argument, das von P zu -G führt, weist die gleiche Struktur auf wie dieses LotterieArgument. Rowe möchte für -G argumentieren; unser »neuer Beleg« ist eigentlich -J; doch um zu seiner Prämisse P zu kommen, schwächt Rowe diesen neuen Beleg ab, indem er die Konklusion seines Arguments (‐G) als Disjunktionsglied hinzufügt, so dass P mit der Aussage »-J oder -G« identisch oder äquivalent ist. So kommt es, dass es sich hier um ein von degenerierten Belegen ausgehendes Argument handelt. Um das neutralisierende Argument zu konstruieren, schwächen wir -J einfach ab, indem wir G als Disjunktionsglied hinzufügen – also die Aussage, es gebe wirklich ein vollkommenes Wesen, anstelle der Aussage -G. Dieses neutralisierende Argument wird die Verneinung von Rowes Konklusion stützen und ebenso stark sein wie sein eigenes Argument. Es liegt auf der Hand, dass Argumente, die von degenerierten Belegen ausgehen, nicht dazu dienen, die Diskussion voranzubringen.
Zur Argumentation siehe meinen Artikel »Degenerate Evidence«. Zu den Einzelheiten siehe wieder meinen Artikel »Degenerate Evidence«.
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B Das Argument von Draper Paul Draper legt ein Argument völlig anderer Art vor.¹⁵ Er fordert uns dazu auf, das Muster zu betrachten, das Schmerz und Lust in unserer Welt bilden, also die Menge und Verteilung der beiden sowie die Bedingungen, unter denen sie jeweils zu finden sind. Sodann stellt Draper zwei Behauptungen auf: Erstens, das Muster von Schmerz und Lust sei, wenn man vom Theismus ausgeht, sehr viel weniger wahrscheinlich als beim Ausgang von einer anderen Hypothese h, die mit dem Theismus nicht zu vereinbaren sei. Zweitens, dieses Faktum stelle den theistischen Glauben vor ein gravierendes Problem. Drapers Argument ist der von Rowe exemplifizierten Spielart insofern überlegen, als es nicht von uns verlangt, im Hinblick auf beliebige Arten von Übel beurteilen zu können, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein allwissendes, allmächtiges und vollkommen gutes Wesen diese Übel zulassen würde. Dennoch sei es, wie Draper sagt, so, dass »unser Wissen um Schmerz und Lust den Theisten vor ein epistemisches Problem stellt« (S. 12).Wieso eigentlich?
1 Erste Formulierung von Drapers Argument Das Problem liegt nicht darin, dass eine Aussage über Schmerz und Lust, wie sich zeigen lässt, sowohl wahr ist als auch dem Theismus widerspricht.Vielmehr hängt das Problem mit den Belegen zusammen. Über die Beobachtungen und Zeugnisse, auf denen unser Wissen um Schmerz und Lust basiert, lässt sich ein Bericht formulieren, der in einer signifikanten, belegmäßig negativen Beziehung zum Theismus steht. Deswegen verfügen wir über einen guten epistemischen Prima-facie-Grund zur Ablehnung des Theismus, d. h., einen Grund, der ausreicht, um den Theismus zu verwerfen, sofern er nicht von anderen Gründen, die gegen eine Ablehnung des Theismus sprechen, ausgestochen wird. (S. 12)
Was für ein Bericht ist das? Und welches ist die signifikante, belegmäßig negative Beziehung zum Theismus? Zunächst zum Bericht: Nun möge »O« für eine Aussage stehen, die einerseits die Beobachtungen schildert, welche man im Hinblick auf Menschen und Tiere, die Schmerz oder Lust erleben, angestellt hat, und andererseits die vorgefundenen Zeugnisse bezüglich der Beobachtungen, die andere Men-
Siehe Draper, »Pain and Pleasure: An Evidential Problem for Theists«, in: Noûs 23 (1989), S. 331 ff. (abgedruckt in EAESL; auf diesen Abdruck beziehen sich die Seitenangaben). Siehe außerdem Draper, »Evil and the Proper Basicality of Belief in God«, in: Faith and Philosophy 8 (April 1991), S. 135 ff; »Probabilistic Arguments from Evil«, in: Religious Studies 28/3 (September 1992), S. 285 ff.; »Evolution and the Problem of Evil«, in: Louis Pojman (Hg.), Philosophy of Religion, 3. Aufl. Belmont, CA: Wadsworth 1997.
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schen über die Schmerz- und Lusterfahrungen empfindungsfähiger Wesen angestellt haben. Unter »Schmerz« verstehe ich physische oder mentale Leiden beliebiger Art. (S. 13 – 14)
Demnach ist O die Aussage, die in einer »signifikanten, belegmäßig negativen Beziehung zum Theismus« steht. Hier ist festzuhalten, dass O personenrelativ ist, denn jeder von uns wird sein eigenes O haben, und mein O kann sich von deinem O unterscheiden. Mein O, so könnte man sagen, stellt die meiner Erfahrung entsprechenden Fakten über Größe, Artung, Verteilung, Dauer usw. (kurz: die »Disposition«) von Lust und Schmerz dar. Dein O leistet das gleiche für dich. Doch welches ist diese signifikante, belegmäßig negative Beziehung, in der O zum Theismus steht? Hier macht Draper eine Verbeugung vor David Hume und sagt: Von den meisten heutigen Religionsphilosophen (aber nicht von Hume) werde »übersehen, dass es ohne Betrachtung der Alternativen zum Theismus gar nicht möglich ist, zu bestimmen, welche Fakten bezüglich des Übels der Theismus erklären muss bzw. wie gut er diese Fakten erklären muss« (S. 13). Die wichtige Frage laute, »ob es der Fall ist oder nicht, dass eine dem Theismus widersprechende, ernstzunehmende Hypothese eine signifikante Menge von Fakten bezüglich des Übels bzw. des Guten und des Bösen sehr viel besser erklärt als der Theismus« (S. 13). Die Antwort auf diese wichtige Frage lautet nach Draper, dass es tatsächlich eine solche ernstzunehmende Hypothese gebe, die sowohl dem Theismus widerspreche als auch einige signifikante Fakten bezüglich des Guten und des Bösen sehr viel besser erkläre als der Theismus. Das sei die »Hypothese der Indifferenz« (kurz: HI): HI: Weder die Natur der empfindungsfähigen Wesen noch ihre Situation auf unserer Erde ist das Resultat wohlwollender oder übelwollender Handlungen, die von nichtmenschlichen Personen vollzogen werden. (S. 13)¹⁶
HI steht natürlich in Widerspruch zum Theismus, sofern dieser letztere impliziert, dass die Welt von einer vollkommen guten sowie allmächtigen und allwissenden Person geschaffen wurde. Draper vertritt nun folgende These: C: HI erklärt die von O geschilderten Fakten sehr viel besser als der Theismus.
(S. 14)
In »Evolution and the Problem of Evil« fasst Draper den metaphysischen Naturalismus als die ernstzunehmende Alternativhypothese auf (wobei unter »metaphysischem Naturalismus« die Auffassung zu verstehen ist, es gebe keine Person wie Gott bzw. wie ein gottähnliches Wesen). Meine Bewertung des Ansatzes von Draper ist nicht davon abhängig, wie man sich im Hinblick auf die Wahl zwischen den beiden Kandidaten für die Rolle der ernstzunehmenden Alternativhypothese entscheidet.
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Außerdem behauptet Draper: Wenn man zeigen könnte, dass es eine ernstzunehmende Hypothese gibt, die nicht mit dem Theismus zu vereinbaren ist und die O sehr viel besser erklärt als der Theismus, »hätte man einen guten Prima-facieGrund zur Annahme, dass diese Alternativhypothese wahrscheinlicher ist als der Theismus, und folglich zur Annahme, dass der Theismus wahrscheinlich falsch ist«.¹⁷ Was heißt es: Eine Aussage »erkläre« so etwas wie die von O geschilderten Fakten? Nun werde ich C im Sinne der These umformulieren, wonach die von O geschilderten Fakten beim Ausgang vom Theismus sehr viel überraschender wirken als beim Ausgang von HI – oder um es präziser auszudrücken: wonach die Ausgangswahrscheinlichkeit von O dann sehr viel höher ist, wenn man davon ausgeht, HI sei wahr, als dann, wenn man die Wahrheit des Theismus voraussetzt. (S. 14)
Vermutlich ist die präzisere Formulierung diejenige, die hier zum Einsatz kommen soll. Um eine Erklärung ¹⁸ geht es in diesem Zusammenhang eigentlich gar nicht, sondern bloß um die jeweilige Ausgangswahrscheinlichkeit von O bezogen auf den Theismus bzw. auf HI. Dementsprechend müssen wir fragen, was es mit dieser »Ausgangswahrscheinlichkeit« auf sich hat. »Unter der ›Ausgangswahrscheinlichkeit‹«, schreibt Draper, »verstehe ich die Wahrscheinlichkeit von O unabhängig von den geschilderten Beobachtungen und Zeugnissen (wobei ›unabhängig‹ nicht das gleiche bedeutet wie ›früher als‹)« (S. 14). Die Ausgangswahrscheinlichkeit von O ist demnach die Wahrscheinlichkeit von O bezogen auf so etwas wie den Rest meines Wissens.¹⁹ Abschließend ist zu sagen, dass es sich um epistemische Wahrscheinlichkeit handelt und nicht beispielsweise um logische, statistische oder physikalische Wahrscheinlichkeit. Und was hat es nun mit der epistemischen Wahrscheinlichkeit auf sich?
»The Skeptical Theist«, in: EAESL, S. 178. Siehe William Alstons Erwiderung auf Draper in: »Some (Temporarily) Final Thoughts on Evidential Arguments from Evil«, in: EAESL, S. 328 – 330. Oder vielleicht: bezogen auf eine – meiner eigenen möglichst ähnliche – noetische Struktur, die O weder enthält noch impliziert. Das ist allerdings immer noch nicht ganz richtig ausgedrückt, denn die betreffende noetische Struktur kann außerdem keine Proposition enthalten oder implizieren, die beinahe so stark ist wie O. Vielleicht sollten wir daher an eine noetische Struktur denken, die zwar keine Aussagen über die Verteilung von Schmerz und Lust enthält, aber im übrigen der meinen möglichst ähnlich ist. Was mögliche Schwierigkeiten mit diesem Konzept betrifft, siehe Peter van Inwagen, »Reflections on the Chapters by Draper, Russell, and Gale«, in: EAESL, S. 222.
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Der Begriff der epistemischen Wahrscheinlichkeit ist ein normaler Wahrscheinlichkeitsbegriff, für den meiner Meinung nach bisher noch keine adäquate philosophische Analyse vorgeschlagen worden ist. Als erste Annäherung wird jedoch vielleicht die folgende Analyse ausreichen: Relativ zu der epistemischen Situation K ist die Proposition p in epistemischer Hinsicht wahrscheinlicher als die Proposition q genau dann, wenn jede völlig rationale Person, die sich in K befindet, p mit einem höheren Glaubensgrad glaubt als q. (S. 27, Fußnote 2)
Der Begriff der epistemischen Wahrscheinlichkeit ist, wie Draper sagt, ein normaler Begriff, der schwer zu analysieren oder zu erklären ist. Hier wollen wir die von ihm vorgeschlagene erste Annäherung vorläufig akzeptieren.²⁰ (Ich gehe davon aus, dass der Bereich der Personen implizit auf menschliche Personen beschränkt ist. Wie sich die Dinge entwickeln könnten, wenn wir es mit rationalen Wesen anderer Art zu tun hätten, beschäftigt uns zur Zeit nicht.) Was ist in K enthalten? Was gehört mit zu einer epistemischen Situation? Auf diese Frage werden wir später zurückkommen müssen. Zunächst wollen wir sagen, dass K für eine gegebene Person S zumindest einige weitere Aussagen, die sie für wahr hält, sowie einige ihrer jetzigen und vielleicht auch ihrer früheren Erfahrungen umfasst. Hinzu kämen des weiteren Erinnerungen von S sowie möglicherweise spezifische Angaben zur epistemischen Umgebung von S und zweifellos noch manches andere. Jetzt werden die Konturen des Arguments erkennbar: Die erste Prämisse ist C, also die These, die epistemische Ausgangswahrscheinlichkeit von O sei bezogen auf HI sehr viel höher als die Ausgangswahrscheinlichkeit von O bezogen auf den Theismus. Zweitens gelte (wie Draper sagt), sofern C wahr ist, dass »wir über einen guten epistemischen Prima-facie-Grund zur Ablehnung des Theismus verfügen, d. h., einen Grund, der ausreicht, um den Theismus zu verwerfen, sofern er nicht von anderen Gründen, die gegen eine Ablehnung des Theismus sprechen, ausgestochen wird« (S. 12). Hier stützt er sich offenbar auf ein allgemeines Prinzip, vielleicht auf einen Grundsatz der folgenden Art: (1) Für alle Propositionen P und Q sowie für jede Person S gilt: Wenn S P und Q glaubt, und es gibt eine ernstzunehmende Hypothese R, die mit P unverträglich und so beschaffen ist, dass die Ausgangswahrscheinlichkeit von Q bezogen auf R für S sehr viel größer ist als die epistemische Ausgangswahrscheinlichkeit von Q bezogen auf P für S, dann hat S einen guten epistemischen Prima-facie-Grund zur Ablehnung von P.
Eine ausführlichere Darstellung des eng verwandten Begriffs der bedingten epistemischen Wahrscheinlichkeit gebe ich in den Kapiteln 8 und 9 von WPF.
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Drapers These lautet nun, dass die epistemische Ausgangswahrscheinlichkeit von O bezogen auf HI sehr viel größer ist als bezogen auf den Theismus; und da HI eine ernstzunehmende Hypothese sei und dem Theismus widerspreche, sei uns nun ein guter Prima-facie-Grund für die Ablehnung des Theismus gegeben: Jetzt wollen wir annehmen, dass es mir gelingt zu zeigen, dass C – relativ zu meiner eigenen epistemischen Situation und zur epistemischen Situation meiner Leser – wahr ist. Dann ist die Wahrheit von C (für uns) ein guter epistemischer Prima-facie-Grund zu glauben, dass der Theismus weniger wahrscheinlich ist als HI. Also gilt: Da die Verneinung des Theismus offenkundig von HI impliziert wird und somit mindestens so wahrscheinlich ist wie HI, ist die Wahrheit von C ein guter Prima-facie-Grund zu glauben, dass der Theismus weniger wahrscheinlich ist als sein Gegenteil. Und da es epistemisch irrational ist, sowohl zu glauben, dass der Theismus wahr ist, als auch zu glauben, dass er weniger wahrscheinlich ist als sein Gegenteil, ist die Wahrheit von C außerdem ein guter Prima-facie-Grund für die Ablehnung des Theismus, d. h. dafür, den Glauben fallenzulassen oder sich des Glaubens zu enthalten. (S. 14)
Die These besagt also, dass mir die Wahrheit von C einen »guten Prima-facieGrund gibt zu glauben, dass der Theismus weniger wahrscheinlich ist als sein Gegenteil«, d. h., die Wahrscheinlichkeit des Theismus sei niedriger als 0,5. Weniger wahrscheinlich als das Gegenteil – bezogen auf was? Die Antwort muss lauten: bezogen auf K. Der Gedanke ist der, dass mir die Wahrheit von C einen guten Prima-facie-Grund liefert für die Meinung, der Theismus sei im Hinblick auf meine noetische Situation unwahrscheinlich. Folglich sei es rational, den Theismus preiszugeben, falls es nicht gelingt, ein paar Gründe für den Theismus zu finden.²¹ Das ließe sich auch so formulieren: Nach Draper liefert mir meine Kenntnis der Wahrheit von C einen Bezwinger des Theismus, es sei denn, ich kann einen Grund für den Theismus ausfindig machen. Anders gesagt: Sie liefert mir einen potentiellen Bezwinger des Theismus, und zwar einen potentiellen Bezwinger, der zu einem wirklichen mutieren wird, sofern es mir nicht gelingt, Gründe für den Theismus zutage zu fördern.
In »Evolution and the Problem of Evil« formuliert Draper den gleichen Gedanken ein wenig anders. Mit Bezug auf ein ähnliches Argument sagt er: »Deshalb bleibt mein Plädoyer gegen den Theismus im Prima-facie-Bereich. Ich bin nur zu der Folgerung berechtigt, dass die Falschheit des Theismus sehr wahrscheinlich ist, sofern dafür gesorgt ist, dass die übrigen Belege gleich bleiben.« Was heißt es jedoch: dafür sorgen, dass die übrigen Belege gleich bleiben? Folgendes wäre eine Möglichkeit: Man betrachte die Wahrscheinlichkeit des Theismus mit Bezug auf eine Situation, die in puncto Belege der meinen möglichst ähnlich ist, sofern diese Situation keine Belege für oder gegen den theistischen Glauben enthält, bzw.: sofern die eventuell für den theistischen Glauben sprechenden Belege durch Belege gegen den theistischen Glauben genau wettgemacht werden.
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2 Belegmäßige Herausforderung Das ist ein scharfsinniger Einwand und ein faszinierender neuer Eintrag in die Annalen. Draper bedient sich dieses Einwands mit Überzeugungskraft und Raffinesse. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass es diesem Argument nicht im mindesten gelingt zu zeigen, dass der traditionelle christliche Theismus von einem Bezwinger bedroht wird oder in irgendeiner anderen erkenntnistheoretischen Hinsicht gefährdet ist. Schauen wir uns die Sache genauer an. Drapers Argument hat jetzt zwei Prämissen – C und (1). An anderer Stelle habe ich geltend gemacht, dass C faktisch falsch ist.²² Aus meiner Sicht ist es nicht der Fall, dass die Menge, die Dauer und die Verteilung von Schmerz und Lust bezogen auf HI wahrscheinlicher sind als mit Bezug auf den Theismus. Hier möchte ich mich auf die andere Prämisse konzentrieren, also auf die folgende Behauptung: Wenn O bei Zugrundelegung einer ernstzunehmenden Alternativhypothese wie HI tatsächlich sehr viel wahrscheinlicher ist als unter Zugrundelegung des Theismus, dann hat der Theist einen Prima-facie-Grund dafür, den Theismus abzulehnen. Warum sollte man das meinen? Nehmen wir einmal (aus meiner Sicht: faktenwidrig) an, C wäre wahr. Welcher Art und wie stark wäre der Einwand gegen den theistischen Glauben, der sich daraus ergäbe? Wie häufig kommt diese angebliche belegmäßige Herausforderung eigentlich vor? Ehe wir diese Frage beantworten können, müssen wir jedoch eine weitere Frage stellen: Was ist eigentlich eine ernstzunehmende Alternativhypothese? Drapers Antwort lautet wie folgt: »Genauer gesagt, eine Hypothese ist nur dann eine ›ernstzunehmende‹ Alternative zu einer anderen, (i) wenn sie nicht ad hoc ist – also wenn die zu erklärenden Fakten nicht willkürlich in sie eingebaut sind –, und (ii) wenn sie anfangs mindestens genauso plausibel ist wie die andere Hypothese.«²³ Die Bedingung (i) bedarf einstweilen keines Kommentars. Aber wie steht es mit der Bedingung (ii)? Was sollen wir hier unter »Plausibilität« verstehen? Vermutlich möchte Draper von spezifischen epistemischen Situationen absehen. Wir sollen uns ein Bild machen, wonach die Plausibilität einer Hypothese nicht von Erwägungen wie den spezifischen (propositionalen und nichtpropositionalen) Indizien abhängt, die ich dafür oder dagegen haben mag, sondern von allgemeineren Erwägungen, die beispielsweise ihre Reichweite und ihre Spezifizität betreffen und vielleicht auch die Frage, wie sie sich in unser generelles Wissen einfügt (eine Hypothese, die die Flachheit der Erde impliziert, würde nicht als plausibel gelten). Dementsprechend verteidigt Draper z. B. die Plausibilität von HI auf folgende Weise:
Plantinga, »On Being Evidentially Challenged«, in: EAESL, S. 250 ff. Draper, »Probabilistic Arguments from Evil«, S. 315 – 316.
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Von vornherein ist HI mindestens so plausibel wie G [d. h., der Theismus]. Schließlich ist G eine überaus spezifische, supranaturalistische Hypothese, die mit ausgeprägten ontologischen Verpflichtungen einhergeht. Fassen wir hingegen die Hypothese der Indifferenz als eine Hypothese auf, der zufolge die ersten Ursachen des Universums – sofern es welche gibt – weder wohlwollend noch übelwollend sind, ist diese Indifferenz-Hypothese sowohl mit dem Naturalismus als auch mit vielen supranaturalistischen Hypothesen vereinbar. Außerdem sind ihre ontologischen Verpflichtungen sehr viel weniger stark als die Verpflichtungen von G.²⁴
Was zur Plausibilität beiträgt, sind also diese allgemeinen Fakten bezüglich der relativen Reichweite und Stärke. Außerdem ist zu bedenken: Müsste ich meine spezifischen Belege (propositionaler oder sonstiger Art) berücksichtigen, um die Plausibilität von HI zu beurteilen, wäre ich genötigt, jeden meiner Gründe für den Theismus als Beleg gegen die HI aufzufassen. Dann könnte es sein, dass die HI für mich sehr unplausibel wäre. Daher muss bei der Plausibilität von solchen spezifischen Belegen abgesehen werden. Angenommen, wir sagen, eine Aussage P werde aus der Sicht von S belegmäßig herausgefordert, wenn sie das Antezedens von (1) erfüllt: P ist genau dann belegmäßig herausgefordert für eine Person S, wenn S P glaubt und es Aussagen Q und R gibt derart, dass S Q glaubt, während R eine ernstzunehmende, aber mit P unverträgliche Hypothese ist, wobei Q bezogen auf R sehr viel wahrscheinlicher ist als bezogen auf P. (1) behauptet demnach folgendes: Wenn eine Aussage P für S belegmäßig herausgefordert ist, dann hat S einen guten epistemischen Primafacie-Grund für die Ablehnung von P, also dafür, mit Bezug auf P agnostisch zu bleiben oder das Gegenteil zu glauben. Stimmt das wirklich? Ist belegmäßige Herausforderung ein gravierendes Handicap? Wie weit ist diese Herausforderung verbreitet? Wie viele meiner Überzeugungen sind denn tatsächlich für mich belegmäßig herausgefordert? Vielleicht mehr, als man anfangs denken könnte. Die folgenden drei Aussagen z. B. stehen für mich in den gleichen Beziehungen wie der Theismus, O und HI: (2) Georg ist ein nichtkatholischer Wissenschaftler. (3) Georg ist Professor an der Universität von Notre Dame. (4) Georg ist ein katholischer Wissenschaftler. Zunächst einmal glaube ich sowohl (2) als auch (3). Zweitens ist (3) bezogen auf (4) (und relativ zu K) sehr viel wahrscheinlich als bezogen auf (2). (Schließlich ist der Anteil katholischer Wissenschaftler unter den Professoren der Universität von Notre Dame um ein Mehrfaches größer als der Anteil der nichtkatholischen Pro-
Ebd., S. 316.
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fessoren.) Außerdem ist (4) nicht mit (2) zu vereinbaren. Überdies ist (4) eine ernstzunehmende Hypothese, denn sie ist nicht ad hoc, und sie ist ebenso plausibel wie (2). (Freilich kenne ich eine Menge Belege für (2), wie z. B. die Tatsache, dass Georg Kirchenältester an der – nichtkatholischen – Reformierten Kirche ist, sowie die Tatsache, dass Georg stets betont hat, er sei Protestant, usw. Doch wie wir gesehen haben, sind diese spezifischen Belege nicht relevant für die Plausibilität von (4).) Also ist (2) aus meiner Sicht belegmäßig herausgefordert. Liefert mir dieses Faktum einen Grund dafür, (1) abzulehnen? (Soll ich es mir noch einmal durch den Kopf gehen lassen? Schließlich ist Georg wirklich Professor an der Universität von Notre Dame, und diese Sachlage ist bezogen auf (4) sehr viel wahrscheinlicher als bezogen auf (2). Vielleicht ist er also in Wirklichkeit doch Katholik?) Das ist nicht so klar. Betrachten wir ein ähnliches Aussagentrio: (2*) Ich bin im Arbeitszimmer. (3*) Ich bin nur einen Meter von einem Hund entfernt. (4*) Ich bin am Hundeteich. Wieder ist es so: Ich glaube (2*) und (3*). (4*) ist eine (in Drapers Sinn) ernstzunehmende Alternative zu (2*), und (3*) ist bezogen auf (4*) sehr viel wahrscheinlicher als bezogen auf (2*), denn normalerweise befinden sich keine Hunde in meinem Arbeitszimmer. Also ist (2*) für mich belegmäßig herausgefordert. Das gleiche gilt übrigens auch für (3*) selbst: (3*) Ich bin nur einen Meter von einem Hund entfernt. (5) Ich höre keine hundetypischen Geräusche wie Bellen, Knurren, Hecheln oder das Klingeln von Hundemarken. (6) Ich befinde mich nicht in Hörweite von Hunden. Auch (6) ist eine ernstzunehmende Alternativhypothese zu (3*), und (5) ist mit Bezug auf (6) sehr viel wahrscheinlicher als mit Bezug auf (3*). Also ist (3*) für mich belegmäßig herausgefordert. Um zwei weitere Beispiele zu nennen: Mein Freund hat eine Katze namens Maynard. Ich glaube, dass Maynard eine Katze ist, und ich glaube außerdem, dass Maynard (wie mein Freund berichtet) gekochte grüne Bohnen mag. Letzteres ist jedoch sehr viel wahrscheinlicher, wenn ich die (in Drapers Sinn) ernstzunehmende Alternativhypothese zugrunde lege, wonach Maynard Friese – oder vielleicht Franzose – ist. Also ist die Überzeugung, Maynard sei eine Katze, für mich belegmäßig herausgefordert. Außerdem glaube ich (naheliegenderweise), dass du ein Mensch bist. Du und ich, wir sind jedoch gerade auf einem Waldspaziergang, also glaube ich außerdem, dass du dich im Wald befindest. Natürlich ist diese Aussage sehr viel wahrscheinlicher,wenn wir von der ernstzunehmenden Alternativhypothese ausgehen, dass du ein Baum bist. Also ist
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die Überzeugung, dass du ein Mensch bist, für mich belegmäßig herausgefordert. (Was das betrifft, gilt das gleiche übrigens auch für die Überzeugung, dass ich ein Mensch bin.) Inzwischen dürfte der Leser im Bilde sein. Es ist offenbar wahrscheinlich, dass die meisten unserer Überzeugungen – jedenfalls wenn es sich um Aussagen handelt, die im weiten logischen Sinn kontingent sind – ebenfalls belegmäßig herausgefordert sind. Ich weiß allerdings nicht, wie ich diese These beweisen soll, und wahrscheinlich lohnt es sich nicht, viel Zeit auf die Suche nach einem Beweis zu verwenden. Aber man bekommt gewiss den Eindruck, dass es sich wahrscheinlich wirklich so verhält. Das wiederum deutet darauf hin, dass ein solcher Einwand – für sich selbst genommen oder auf den allgemeinen Fall bezogen – keine sonderlich große Bedeutung hat. Wenn die meisten Aussagen, die ich für wahr halte, belegmäßig herausgefordert sind, erfahre ich nicht viel Interessantes über den Theismus, wenn ich erfahre, dass er ebenfalls dieser Bedrohung ausgesetzt ist. Unter welchen Bedingungen hätte ein Einwand dieser Art tatsächlich eine gewisse Bedeutung? Welche Überzeugungen sind derart, dass der Umstand, dass sie einer belegmäßigen Herausforderung ausgesetzt sind, uns einen ernstzunehmenden Grund dafür liefert, sie in Frage zu stellen? Hier denkt man als erstes an naturwissenschaftliche Hypothesen. Ich stelle die Hypothese H* auf, um das Verhalten von Gasen zu erklären, doch du weist mich darauf hin, dass bestimmte Daten wahrscheinlicher sind, wenn man sie auf eine andere, mit meiner eigenen Hypothese unvereinbare Hypothese H′ bezieht. Das scheint nun gewiss ein starker Prima-facie-Grund dafür zu sein, meine Hypothese in Frage zu stellen. Natürlich müssen die Daten relevant sein, d. h. Daten, deren Erklärung H* obliegt. Angenommen, Hans fühlt einen schwachen Schmerz im linken Knie. Das ist auf H* bezogen sehr viel weniger wahrscheinlich als auf die Hypothese H′ bezogen: Sobald Hans hört, H* sei falsch, fällt er vor Überraschung hin und verletzt sich am Knie. Das spricht allerdings gar nicht gegen H*. Für eine typische naturwissenschaftliche Hypothese H wird es ein Korpus an relevanten – früheren, künftigen und jetzigen – Daten geben, die derart sind, dass der Erfolg von H davon abhängt, wie gut die Hypothese diese Daten erklärt. Viele wissenschaftliche Hypothesen erhalten (jedenfalls den besonders häufig zu hörenden Geschichten zufolge) ihre gesamte oder fast ihre gesamte Gewähr dadurch, dass sie die relevanten Daten erklären.²⁵ Eine solche Aussage ist ernsthaft gefährdet, wenn ihr eine relevante
Das gilt jedenfalls für fast die gesamte ursprüngliche Gewähr. Die spezielle Relativitätstheorie z. B. empfängt die Gewähr, die sie für mich hat, nicht dadurch, dass sie diese Daten in angemessener Form erklärt, sondern dadurch, dass ich gehört habe und glaube, dass es sich so verhält (nämlich dass sie die Daten in solcher Weise erklärt, dass die Bedingungen der Gewährleistung erfüllt sind). Doch wenn diese Bedingungen wirklich erfüllt sind, muss sich jemand am anderen
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belegmäßige Herausforderung droht. Wenn ich herausbekomme, dass eine solche Überzeugung einer belegmäßigen Herausforderung ausgesetzt ist, verfüge ich tatsächlich über erhebliche Belege gegen sie und einen starken Prima-facie-Grund dafür, sie fallenzulassen. Wie ich im vorliegenden Buch immer wieder geltend gemacht habe, ist es jedoch eine extrem anspruchsvolle Annahme zu meinen, der Glaube an Gott bzw., allgemeiner ausgedrückt, die umfassende Menge christlicher (oder jüdischer oder muslimischer) Überzeugungen, zu denen auch der Glaube an Gott gehört, verhalte sich in dieser Hinsicht wie eine wissenschaftliche Hypothese. Diese Annahme ist nicht nur extrem anspruchsvoll, sondern sie ist auch falsch. Sofern diese Überzeugungen überhaupt gewährleistet sind, rührt die Gewähr nicht von der (möglichen) Tatsache her, dass sie ein Korpus von Daten in angemessener Weise erklären. Für die meisten Gläubigen ist der theistische Glaube Teil eines umfassenderen Ganzen (eines christlichen, muslimischen oder jüdischen Ganzen). Er wird als Teil dieses größeren Ganzen akzeptiert und normalerweise nicht deshalb, weil er irgendetwas erklärt. Sofern dem Glauben überhaupt Rationalität oder Gewähr zukommt, hängt das nicht davon ab, dass er ein Korpus von Daten fein säuberlich erklärt.²⁶ Diese Tatsache mag zwar entscheidend wichtig sein, aber befreit sie den Theismus von Drapers belegmäßiger Herausforderung? Sind es ausschließlich die wissenschaftlichen Hypothesen, für die (relevante) belegmäßige Herausforderungen gravierende Folgen haben? Nein. Stellen wir uns vor, du hast den Eindruck, dein Freund Paul sei seit zwei Wochen im Urlaub auf Rügen (du erinnerst dich schwach daran, dass er dieses Ferienziel im Gespräch erwähnt hat), doch die Ansichtskarten, die du von ihm bekommst, wurden im Engadin aufgegeben. Auf den Karten sagt er zwar nichts über seinen Aufenthaltsort, aber er spricht von der bemerkenswert trockenen Luft und den großen Unterschieden zwischen Tagesund Nachttemperatur. Damit dürfte deine Überzeugung, dass er seinen Urlaub auf Rügen verbringt, ernsthaft bedroht sein, und als relevante Alternative bietet sich die Hypothese an, dass er im Engadin Ferien macht. Und so verhält es sich, obwohl die Gewähr für deine Überzeugung, dass Paul seinen Urlaub auf Rügen verbringt, nicht daraus resultiert, dass sie irgendwelche Daten in angemessener Weise er-
Ende der Zeugniskette befinden, für den diese Überzeugungen in anderer Weise als durch Zeugnis gewährleistet sind. Siehe WPF, 4. Kapitel. Siehe meinen Artikel »Is Theism Really a Miracle?«, und vgl. oben, S. 389 ff. Damit möchte ich natürlich nicht bestreiten, dass der christliche bzw. theistische Glaube in stärkerem Maße gewährleistet sein kann, wenn er fein säuberlich etwas anderes erklärt, wovon man ebenfalls überzeugt ist.
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klärt. Es sind also nicht bloß wissenschaftliche Hypothesen, die dadurch in Frage gestellt werden können, dass eine relevante belegmäßige Herausforderung droht. Schauen wir uns die Sache ein wenig gründlicher an. Dass ich im Arbeitszimmer (und nicht am Hundeteich) bin, dass Maynard eine Katze ist, dass du ein Mensch bist – alle diese Dinge sind belegmäßiger Herausforderung ausgesetzt. Damit ist natürlich nicht einmal angedeutet, dass diese Überzeugungen etwas Irrationales oder Problematisches an sich haben, oder dass sie mit Bezug auf unsere epistemische Situation unwahrscheinlich sind. Warum nicht? Weil jede dieser Aussagen aus meiner Sicht ein hohes Maß an Gewähr besitzt, und dabei handelt es sich um eine Gewähr, die von den probabilistischen Beziehungen zu den mit den belegmäßigen Herausforderungen zusammenhängenden Überzeugungen unabhängig ist. In Fällen wie diesen macht es nicht viel aus, wenn man belegmäßig herausgefordert wird. Dabei ist es nicht einmal nötig, dass die betreffende Überzeugung ein hohes Maß an Gewähr aufweist. Ich bin (aufgrund einer recht dürftigen Erinnerung) ziemlich schwach davon überzeugt, dass die Zahl der Einwohner des Großraums von New York City 17 Millionen übersteigt. Außerdem glaube ich, dass das Gebiet des Großraums von New York City 3584 Quadratkilometer umfasst. Diese Aussage ist um ein Mehrfaches wahrscheinlicher, wenn man sie auf die ernstzunehmende Alternativhypothese bezieht, der zufolge die Einwohnerzahl des Großraums von New York City weniger als zehn Millionen beträgt. Meine Überzeugung, die Einwohnerzahl des Großraums von New York City übersteige 17 Millionen ist daher einer belegmäßigen Herausforderung ausgesetzt. Diese Tatsache liefert mir aber keinen Prima-facie-Bezwinger meiner Überzeugung, obwohl diese nicht in hohem Maße gewährleistet ist.Vielleicht sind die meisten meiner Überzeugungen belegmäßig herausgefordert, doch zugleich sind die meisten meiner Überzeugungen (wie man meint) auch auf die eine oder andere Weise gewährleistet. Und wenn Gewähr geleistet wird, kann eine belegmäßige Herausforderung nicht viel ausrichten. Im Hinblick auf die meisten meiner Überzeugungen besteht nicht die Gefahr, dass belegmäßige Herausforderungen als Bezwinger der betreffenden Aussage dienen könnten, und für mein allenfalls gegebenes Wissen um solche Herausforderungen gilt das gleiche. Weder die Herausforderung noch das Wissen darum versetzt mich im Fall der erwähnten Aussagen in eine Lage, in der ich mich, sofern ich an den angegriffenen Aussagen festhalte, irrational oder in sonst einer epistemischen Hinsicht unangemessen verhalte. Das ist deshalb so, weil die betreffenden Aussagen ihre Gewähr aus Quellen wie der Wahrnehmung, der Erinnerung, dem Mitgefühl, Zeugenberichten, apriorischen Intuitionen usw. empfangen. Ihre Gewähr hängt nicht von der Beziehung ab, in der sie zu Aussagen wie denen stehen, von denen die belegmäßige Herausforderung ausgeht.
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Wie steht es nun mit dem Theismus? Nach Draper wäre »der Nachweis der Wahrheit von H [wonach der theistische Glaube einer belegmäßigen Herausforderung ausgesetzt ist] ohne Belang, wenn der typische Theist rational fortfahren könnte, an die Existenz Gottes zu glauben, nachdem er erfahren hat, dass H wahr ist«.²⁷ Ich für mein Teil möchte hier geltend machen, dass der typische Theist in der Tat rational fortfahren kann, an die Existenz Gottes zu glauben, nachdem er erfahren hat, dass der Theismus einer belegmäßigen Herausforderung gegenübersteht. Angenommen, ich akzeptiere den traditionellen christlichen Glauben (der natürlich den theistischen Glauben mit einschließt). Nun sei ferner angenommen, dass ich zu der Überzeugung gelange, der theistische Glaube sei tatsächlich einer belegmäßigen Herausforderung ausgesetzt. In Wirklichkeit glaube ich zwar nicht, dass das Muster von Schmerz und Lust in unserer Welt tatsächlich eine solche Herausforderung ermöglicht – jedenfalls glaube ich nicht, dass Drapers Argument für diese Konklusion erfolgreich ist –, aber wir wollen annehmen, ich käme zu der Überzeugung, dass sich der christliche bzw. theistische Glaube auf diese oder eine andere Weise belegmäßig herausfordern ließe. Würde mir das einen Bezwinger meines theistischen Glaubens liefern? Würde das Festhalten an meinem bisherigen Glauben dadurch irrational werden? Nicht, wenn dieser Glaube für mich in signifikantem Maße gewährleistet ist. Nehmen wir an, der christliche bzw. der theistische Glaube habe aufgrund meines religiösen Glaubens und des inneren Ansporns von seiten des Heiligen Geistes (IAHG) für mich ein erhebliches Maß an Gewähr (s. o., S. 293 ff.). Dann liefert mir die Tatsache, dass der Theismus belegmäßig herausgefordert ist, keinen Bezwinger und macht meinen theistischen Glauben auch nicht irrational. Ziehen wir zum Vergleich den Fall von Maynard heran und meine Überzeugung, dass er eine Katze ist. Nun weist man mich darauf hin, dass diese Überzeugung einer belegmäßigen Herausforderung ausgesetzt ist, denn dass er gekochte grüne Bohnen möge, sei, wenn man davon ausgeht, dass er eine Katze ist, sehr viel weniger wahrscheinlich als dann, wenn man annimmt, dass er Friese ist. Dem stimme ich zwar zu, aber ich lasse mich nicht abschrecken und fahre in durch und durch rationaler Weise fort zu glauben, dass Maynard wirklich eine Katze ist. Diese Überzeugung ist unter diesen Umständen deshalb rational für mich, weil sie für mich ganz unabhängig von ihrer Beziehung zu der Aussage, dass Maynard gekochte grüne Bohnen mag, gewährleistet ist. Natürlich beinhaltet es keine kognitive Fehlfunktion, wenn ich an einer Überzeugung festhalte, deren Gewährleistung sich aus Quellen wie Erinnerung, Wahrnehmung, IAHG und dergleichen speist – und das gilt auch dann, wenn ich erfahre, dass diese Überzeugung be-
»Evil and the Proper Basicality of Belief in God«, S. 138.
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legmäßig herausgefordert wird. Unser kognitiver Bauplan gestattet, ja verlangt es, dass eine solche Überzeugung einer derartigen »Herausforderung« zum Trotz durchgehalten wird. Das gleiche gilt offenbar auch für meinen theistischen Glauben, sofern dieser tatsächlich so, wie wir es im 8. Kapitel vorgeschlagen haben, gewährleistet ist. Das gilt übrigens auch dann, wenn ich selbst gar nicht glaube, dass der theistische Glaube für mich gewährleistet ist. Vielleicht habe ich nie viel über Erkenntnistheorie nachgedacht, mache mir bestenfalls ein verschwommenes Bild vom Wesen der Gewährleistung und habe mich noch nie mit solchen Fragen beschäftigt wie der, ob die belegmäßige Herausforderung einer Aussage mir einen Grund dafür liefert, diese Aussage abzulehnen. Der andere weist mich darauf hin, dass meine Überzeugung, Maynard sei eine Katze, belegmäßig herausgefordert ist. Ich für mein Teil halte (in meiner erkenntnistheoretischen Unschuld) genauso entschieden wie vorher an der Überzeugung fest, dass Maynard eine Katze ist. Weder die Rationalität noch die Gewähr dieser Überzeugung wird dadurch vermindert. Wieder gilt das gleiche auch für den theistischen Glauben, sofern dieser für mich in signifikantem Maße gewährleistet ist. Der andere weist mich darauf hin, dass der Theismus belegmäßig herausgefordert ist. Ich für mein Teil gebe zu, dass das der Fall ist, und fahre fort, genauso entschieden wie bisher an meiner Überzeugung festzuhalten. Sofern der christliche Glaube und folglich der Theismus tatsächlich für mich gewährleistet sind, ist mein Festhalten an diesem Glauben völlig rational und bleibt gewährleistet. In interner Hinsicht ist er deshalb vollkommen rational, weil er mir nach wie vor offensichtlich wahr zu sein scheint. Von außen gesehen ist er deshalb völlig rational, weil die betreffende Überzeugung unter den Bedingungen der Gewährleistung vertreten wird. Wenn er, ehe ich auf die belegmäßige Herausforderung hingewiesen wurde, ausreichend gewährleistet war, um als Wissen zu gelten, dann kommt ihm auch jetzt noch genügend Gewähr zu. Wenn der theistische Glaube für mich in signifikantem Maße gewährleistet ist, dann ist es (im typischen Fall und sofern ich nicht glaube, dass es ihm an Gewähr fehlt) so, dass mein Dafürhalten, der Glaube sei einer belegmäßigen Herausforderung ausgesetzt, keinen Bezwinger des Glaubens liefert. Hier erblicken wir einen Spezialfall eines Musters, das wir schon früher gesehen haben. In den Kapiteln 6 und 8 habe ich geltend gemacht, dass der theistische bzw. der christliche Glaube, sofern er wahr ist, höchstwahrscheinlich auch gewährleistet ist. Daraus ergibt sich die folgende Konsequenz: Wenn der christliche Glaube wahr ist, dann ist eine belegmäßige Herausforderung des Theismus in der Regel höchstwahrscheinlich eine belanglose Herausforderung. Doch selbst wenn der Theismus kaum oder gar nicht gewährleistet ist, könnte es und würde es im Regelfall so sein, dass eine belegmäßige Herausforderung
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weder eine echte Herausforderung darstellt noch einen Prima-facie-Bezwinger liefert. Um einen Vergleich heranzuziehen: Vielleicht wird mir von meiner Freundin wieder berichtet, sie habe ein Haustier namens Maynard, und dieser Maynard sei zwar eine Katze, aber er möge dennoch gekochte grüne Bohnen. Da ich Maynard nie gesehen habe, glaube ich auf der Basis des Zeugnisses meiner Freundin, dass Maynard eine Katze ist.Wie sich herausstellt, frönt meine Freundin ihrer mir unbekannten Neigung, skurrile (und unzutreffende) Geschichten zu erzählen. In diesem Fall ist meine Überzeugung, Maynard sei eine Katze nur in geringem Maße gewährleistet, denn mit der epistemischen Miniumgebung (s. o., S. 185 ff.) stimmt etwas nicht, da sie durch diese Lüge meiner Freundin kontaminiert wird, so dass die Umgebungsbedingung der Gewährleistung nicht erfüllt ist. Dennoch ist meine Überzeugung, Maynard sei eine Katze, unter gleichbleibenden Randbedingungen in interner wie in externer Hinsicht völlig rational (wenn auch nicht gewährleistet). Das trifft sogar dann zu, wenn ich mir über die belegmäßige Herausforderung völlig im Klaren bin. Das gleiche kann auch für den theistischen Glauben gelten. Vielleicht glaube ich irrtümlicher-, aber rationalerweise, er sei gewährleistet. In rationaler Weise glaube ich, dass z. B. einige der theistischen Argumente sehr viel leisten, oder ich glaube fälschlicherweise an eine Geschichte der in den Kapiteln 6 und 8 erzählten Art, der zufolge der theistische Glaube tatsächlich gewährleistet ist. Unter diesen Bedingungen hat mein theistischer Glaube zwar in Wirklichkeit keine Gewähr, aber dennoch wird dadurch, dass ich von seiner belegmäßigen Herausforderung erfahre, weder seine Rationalität beeinträchtigt noch mir ein Bezwinger des Glaubens an die Hand gegeben. Wann könnte die belegmäßige Herausforderung einer Überzeugung – genauer gesagt: mein Wissen, dass diese Überzeugung herausgefordert ist – mir denn wirklich einen Bezwinger des Glaubens liefern und es für mich irrational machen, weiter daran festzuhalten? Ich kann mir zwei Arten von Fällen denken, in denen die Nachricht, der Theismus sei einer belegmäßigen Herausforderung ausgesetzt, einen Bezwinger des Glaubens darstellen könnte. Erstens wollen wir folgende Annahme machen: Ich bin zwar Theist und akzeptiere den Glauben in rationaler Weise, aber ich vertrete ihn mit geringer Entschiedenheit und halte darüber hinaus meine Gründe für den Glauben für äußerst schwach. Sie sind aus meiner Sicht gerade ausreichend, um den Glauben rational zu vertreten.Wenn ich dann erfahre, dass der Theismus einer belegmäßigen Herausforderung ausgesetzt ist, ist mir damit vielleicht wirklich ein Bezwinger des Glaubens gegeben. Das Wort »vielleicht« gebrauche ich hier bewusst, denn die Situation ist nicht wirklich klar. Die zweite Art von Situation ist klarer. Betrachten wir eine Überzeugung Ü, die ich deshalb akzeptiere, weil ich sie für die beste Erklärung einer bestimmten Reihe von Daten D halte. Abgesehen davon, dass Ü eine brauchbare Erklärung für D liefert, gibt es keine Gewähr für diese Überzeugung, und ich bin mir über diesen
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Sachverhalt im Klaren. Die Feststellung, dass Ü einer belegmäßigen Herausforderung ausgesetzt ist, liefert mir, wie man wohl meint, einen Bezwinger dieser Überzeugung – sofern die Überzeugung, die mit Bezug auf die Alternativhypothese wahrscheinlicher ist, zu denen gehört, die Ü erklären soll. Angenommen, ich glaube, der Butler sei es gewesen. Mein einziger Grund für diese Annahme ist der, dass meine Hypothese alle Fakten und Umstände des Verbrechens am besten erklärt. Jetzt komme ich zu der Einsicht, dass die Hypothese, Lady Fauntleroy habe die Tat begangen, einige dieser Tatsachen und Umstände noch besser erklärt.²⁸ Nun ist meine Überzeugung, der Butler sei es gewesen, einer relevanten belegmäßigen Herausforderung ausgesetzt, und zwar einer Herausforderung, die einen Prima-facie-Bezwinger dieser Überzeugung darstellt. (Hier spielt es natürlich keine Rolle, ob es einer Alternativhypothese gelingt, die Tatsache, dass Peking eine große Stadt ist, besser zu erklären.) Nehmen wir also an, ich akzeptiere den Theismus als Hypothese. Ich akzeptiere ihn, weil ich glaube, er sei die beste Erklärung für eine Reihe von Phänomenen, zu denen unter anderem der Ursprung des Universums, die Realität und Objektivität von Richtig und Falsch und auch die Verteilung von Schmerz und Lust gehören. Außerdem sei angenommen, dass ich zu Recht glaube, über keinen sonstigen Grund für den theistischen Glauben zu verfügen – keine Anstöße von seiten des IAHG, des sensus divinitatis oder des Zeugnisses anderer Personen. Ich glaube keine sonstige Quelle zu haben und liege mit dieser Überzeugung richtig. Nun wollen wir annehmen, dass ich zu der Ansicht gelange, die Indifferenz-Hypothese, der Naturalismus oder irgendeine andere Auffassung sei besser dazu imstande, das Ausmaß, die Dauer und die Verteilung von Schmerz und Lust zu erklären. Dann wäre meine theistische Überzeugung einer belegmäßigen Herausforderung ausgesetzt, und zwar einer Voraussetzung, bei der es sich um einen Prima-facie-Bezwinger des theistischen Glaubens handelt sowie um einen Grund dafür, diesen Glauben fallenzulassen. (Allerdings könnte ich selbst in diesem Fall zu dem Schluss kommen, dass es dem Theismus besser gelingt, einige relevante Phänomene anderer Art zu erklären.) Es gibt also einige Situationen, in denen eine belegmäßige Herausforderung – und zwar nicht irgendeine weithergeholte, sondern eine relevante belegmäßige Herausforderung – tatsächlich einen Bezwinger liefert. Dabei handelt es sich um Fälle, in denen jemand glaubt, die Gewähr, die seinem theistischen Glauben zukommt, sei minimal, sowie um Fälle, in denen er glaubt, die Gewähr, die der Theismus aus seiner Sicht hat, hänge nur davon ab, dass er eine bestimmte Reihe von Phänomenen erklärt. Die meisten Theisten befinden sich jedoch weder in der
In diesem Kontext lässt sich »erklären« vielleicht mit Hilfe des Wahrscheinlichkeitsbegriffs erläutern.
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einen noch in der anderen Lage. Gibt es weitere Situationen, in denen sich Theisten des öfteren befinden und in denen die allmählich gewonnene Einsicht, dass der Theismus einer belegmäßigen Herausforderung ausgesetzt ist, tatsächlich einen Bezwinger oder einen Prima-facie-Bezwinger des theistischen Glaubens liefert? Ich habe große Zweifel daran, dass sich der typische Theist je in einer solchen Lage befindet. Daher glaube ich, dass Drapers Herausforderung trotz aller Subtilität und allen Raffinements scheitert. Um seine eigenen Worte zu benutzen: »Der typische Theist könnte rational fortfahren, an die Existenz Gottes zu glauben, nachdem er erfahren hat, dass H [wonach der theistische Glaube einer belegmäßigen Herausforderung ausgesetzt ist] wahr ist.«
II Argumentfreie Bezwinger?²⁹ Diese neuen Argumente von Rowe und Draper sind subtil und raffiniert. Bei ihrer Betrachtung kommen viele tiefe und interessante Themen zum Vorschein. Doch wenn man sie genauer prüft, scheitern sie – ja, sie scheitern fortissimo. Sie liefern keinen Bezwinger des theistischen Glaubens, und dem unvoreingenommenen Beobachter nennen sie kaum einen – oder gar keinen – Grund, weshalb er den Atheismus dem Theismus vorziehen sollte. Sie bedeuten eigentlich keinen Fortschritt gegenüber älteren Argumenten des Typs »Wenn ich keinen Grund zu erkennen vermag, aus dem Gott das Übel B hätte zulassen können, dann hat er wahrscheinlich keinen Grund«. Sollten die Fakten des Übels wirklich eine substantielle Herausforderung des christlichen bzw. theistischen Glaubens darstellen, müssen sie auf einem ganz anderen Weg an uns herangetragen werden. Die probabilistischen Beziehungen, auf die Rowe und Draper verweisen, haben nicht genug epistemische Schlagkraft. Tatsächlich ist es so, dass die meisten Bezwinger nicht so verfahren, dass das Subjekt durch sie probabilistischer Zusammenhänge gewahr wird. Ein Beispiel: Ich habe immer gemeint, du hießest Max. Jetzt sagst du, Max sei bloß dein Spitzname, und dein wirklicher Name sei Moritz. Dann lasse ich die Überzeugung, dass du Max heißt, fallen. Aber ich lasse sie nicht deshalb fallen, weil ich glaube, dein Max-Heißen sei unwahrscheinlich, da du nach eigener Auskunft Moritz heißt, oder weil es wahrscheinlicher ist, dass du dich als Moritz zu erkennen gibst, wenn wir von der Hypothese ausgehen, dass du Moritz heißt, als wenn wir von der Hypothese ausgehen, dass du Max heißt. Die Bezwingung erfolgt In diesem Abschnitt stütze ich mich unter anderem auf Anregungen von seiten der folgenden Prediger: John Cooper (Predigt in der South Bend Christian Reformed Church [SBCRC], 28. 2.1992), John Haas (Predigt in der SBCRC, 5. 5.1997) und Leonard Vander Zee (Predigt in der SBCRC, 5.1. 1997).
II Argumentfreie Bezwinger?
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offenbar nicht auf dem Weg einer probabilistischen Argumentation. Ein weiteres Beispiel: Auf einem weit entfernten Felsvorsprung erblicke ich etwas, was ich für Schnee halte. Während ich näherkomme, beginnt sich der Schnee jedoch anscheinend zu bewegen. Da glaube ich nicht mehr, dass es sich um Schnee handelt. Ist es vielleicht eine Bergziege? Auch hier spielen probabilistische Überlegungen keine Rolle. Oder nehmen wir folgenden Fall: Ich habe gedacht, deine Postleitzahl sei 49506. Doch dann bekomme ich einen Brief von dir, und im Absender steht die Postleitzahl 49508. Jetzt glaube ich nicht mehr, dass deine Postleitzahl 49506 lautet, aber das hat nichts mit probabilistischen Überlegungen zu tun. In den meisten Fällen, in denen ein Bezwinger wirklich funktioniert, spielt probabilistisches Denken anscheinend keine Rolle. Vielleicht verhält es sich mit Bezug auf das Übel ähnlich. Es gibt kein zwingendes Argument für die Konklusion, die Existenz des Übels sei nicht mit der Existenz Gottes zu vereinbaren. Es gibt auch kein ernstzunehmendes belegmäßiges oder probabilistisches Argument, das von der Existenz des Bösen ausginge. Damit muss man sich wohl abfinden. Daraus folgt aber nicht, dass Leiden und Böses kein ernsthaftes Hindernis für den christlichen Glauben oder für den theistischen Glauben darstellen, und daraus folgt auch nicht, dass sie keinen Bezwinger konstituieren. Immer wieder habe ich geltend gemacht, dass der Glaube an Gott in angemessener Weise basal sein kann. Der rationale Glaube an Gott beruht nicht darauf, dass stichhaltige Argumente für die Existenz Gottes verfügbar oder vorhanden sind. Sollte man etwas Ähnliches auch im Hinblick auf die als potentieller Bezwinger des theistischen Glaubens aufgefassten Fakten des Übels sagen? Vielleicht hängt die bezwingende Kraft dieser Fakten in keiner Weise davon ab, dass es gute antitheistische Argumente (deduktiver, induktiver, abduktiver, probabilistischer oder sonst einer Art) gibt, die von den Fakten des Übels ausgehen. Es liegt auf der Hand, dass Leiden und Übel zumindest für manche Menschen, die an Gott glauben, ein gewisses Problem darstellen. Das Alte Testament (vor allem das Buch Hiob und der Psalter) wimmelt von Beispielen. Im Grunde gehört auch der Schmerzensschrei Christi hierhin: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« – ein Schrei, in dem die Worte des 22. Psalms nachhallen. Im Buch Hiob – einer tiefschürfenden und eindringlichen Erkundung der Fakten des Übels und der menschlichen Reaktionen darauf – meint Hiob, Gott habe ihn unfair behandelt. Er ist empört und fordert Gott heraus, er solle sein Tun erklären und rechtfertigen. Zahllose Menschen, die grausames Leid oder das Leid Nahestehender erdulden mussten, haben mit Zorn auf Gott reagiert. In solchen Situationen kann man verbittert, argwöhnisch, feindselig und gehässig werden. Dennoch liefern diese Situationen im Regelfall keinen Bezwinger des theistischen Glaubens.Weder Jesus noch der Psalmist, noch Hiob ist im geringsten geneigt, den
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theistischen Glauben preiszugeben. Das Problem gehört einer anderen Kategorie an. Es handelt sich nicht um einen Bezwinger des theistischen Glaubens, sondern um ein spirituelles oder seelsorgerisches Problem. Vielleicht lässt Gott es zu, dass mein Vater, meine Tochter, mein Freund oder ich selbst in schrecklicher Weise leiden. Vielleicht denke ich dann: »Bestimmt hat er alle diese famosen göttlichen Qualitäten, und bestimmt hat er einen Prachtgrund dafür, dieses abscheuliche Geschehen zuzulassen – ich kann ihm ja nicht das Wasser reichen, wenn es darum geht, Gründe zu ersinnen, insbesondere Gründe, die mir völlig unverständlich sind –, doch was er hier erlaubt, ist grässlich, und ich hasse es!« Vielleicht möchte ich ihn von Angesicht zu Angesicht beschimpfen: »Mag sein, dass du wunderbar und großartig und allwissend und allmächtig (und womöglich sogar allgütig) und sonst noch was Hochtrabendes bist, aber ich verabscheue durch und durch, was du hier tust!« Ein Problem dieser Art hat mit Belegen eigentlich gar nichts zu tun, und es ist auch kein Bezwinger des Theismus. Aber vielleicht ist das in dieser Situation nicht die einzige realistische Reaktion. Vielleicht kann ich in dieser Weise reagieren, aber gibt es nicht noch andere Reaktionen, die mir tatsächlich einen Bezwinger liefern würden? Könnte das Leiden und das Böse – unter bestimmten Umständen zumindest – nicht tatsächlich als Bezwinger des Glaubens an Gott dienen? Man denke an einige der entsetzlichen Beispiele des Bösen, die in unserer Jammerwelt vorkommen. Die folgende klassische Schilderung Dostojewskijs steht zwar in einem Roman, aber sie wirkt deshalb nicht weniger überzeugend und verstörend: »Übrigens hat mir kürzlich ein Bulgare in Moskau erzählt«, fuhr Iwan Fjodorowitsch fort, als hörte er seinem Bruder gar nicht zu, »wie die Türken und Tscherkessen dort, bei ihnen, in Bulgarien allerorten wüten, aus Angst, die Slawen könnten sich zusammenschließen und sich gegen sie erheben – das heißt, sie brandschatzen, morden, vergewaltigen Frauen und Kinder, nageln Gefangene mit den Ohren an die Zäune, lassen sie über Nacht stehen und knüpfen sie bei Anbruch des Tages auf – und so weiter, man kann es sich gar nicht vorstellen. Natürlich spricht man gelegentlich von der ›bestialischen‹ Grausamkeit des Menschen, aber das ist furchtbar ungerecht und beleidigend für die Bestien; das Tier kann niemals so grausam sein wie der Mensch, so artistisch, so künstlerisch grausam. Ein Tiger zerfleischt, zerstückelt, und das ist das einzige, was er kann. Es käme ihm niemals in den Sinn, die Menschen über Nacht an den Ohren festzunageln, selbst wenn er dazu imstande wäre. Diese Türken haben mit Wollust auch Kinder gemartert, angefangen mit den Ungeborenen, die sie mit dem Dolche aus dem Mutterleib geschnitten haben, bis zu den Säuglingen, die sie in die Luft geworfen haben, um sie vor den Augen der Mütter mit den Bajonetten aufzufangen und aufzuspießen. Der höchste Genuß bestand gerade darin, es vor den Augen der Mütter zu tun.³⁰
Dostojewskij, Die Brüder Karamasow, übers. von Swetlana Geier, 4. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer 2012, S. 383 – 384.
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Die Liste der Greueltaten, die Menschen einander antun, ist entsetzlich und scheußlich. Sie ist außerdem so lang und voller Wiederholungen, dass sie letztlich ermüdet. Hin und wieder werden jedoch neue Tiefpunkte erreicht: Eine junge muslimische Mutter wurde in Bosnien vor ihrem Mann und ihrem Vater mehrmals vergewaltigt, während ihr schreiendes Baby auf dem Boden neben ihr lag. Als ihre Peiniger schließlich von ihr abließen, bat sie darum, das Kind stillen zu dürfen. Darauf antwortete einer der Vergewaltiger, indem er dem Säugling den Kopf abschlug und diesen der Mutter in den Schoß warf.³¹
Diese Dinge sind absolut grässlich. Es tut weh, nur daran zu denken und sich so etwas plastisch vorzustellen.Wenn man dergleichen im Rahmen einer abgeklärten philosophischen Erörterung wie der unseren aufs Tapet bringt, ist es erschreckend und kann unangebracht, ja gefühllos wirken. Und nun stellt sich die Frage: Würde ein vernünftiger Mensch nicht angesichts solcher erschreckenden Übeltaten denken, es könne einfach keine allmächtige, allwissende und allgütige Person geben, die unsere Welt überwacht? Mag sein, dass er nicht beweisen kann, dass keine vollkommene Person dergleichen zulassen könnte. Vielleicht gibt es auch kein gutes probabilistisches oder belegmäßiges atheologisches Argument. Na und? Ist es denn nicht offensichtlich, schlicht evident, dass ein Wesen, das seinem Ruf, Gott zu sein, wirklich gerecht wird, solche Dinge nicht zulassen kann? Habe ich damit nicht einen Bezwinger, auch wenn es kein gutes,vom Übel ausgehendes, antitheistisches Argument gibt? Vielleicht gebe ich den Glauben an Gott angesichts der Fakten des Übels nicht wirklich auf. Aber liegt das womöglich nicht bloß daran, daß ich den Gedanken des Lebens in einer gottlosen Welt nicht ertrage? Etwa aufgrund eines nicht auf die Wahrheit abzielenden psychischen Mechanismus, beispielsweise eines Mechanismus der Wunscherfüllung, wie er von Freud nahegelegt wird? Wenn ja, dann würde oder könnte das Leiden und das Böse (bzw. meine Wahrnehmung dieser Fakten) für mich einen Bezwinger³² des christlichen Glaubens darstellen, auch wenn ich den Glauben letztendlich nicht preisgebe. Solche Überlegungen sind, wie ich meine, die beste Lesart des vom Übel ausgehenden atheologischen Arguments. Die These läuft im wesentlichen darauf hinaus, dass jemand, der genügend Feingefühl besitzt und sich im klaren ist über den schieren Horror des Bösen, der in unserer düsteren und unglücklichen Welt zum Vorschein kommt, einfach sieht, dass kein Wesen, wie es der angebliche Gott
Eleonore Stump, »The Mirror of Evil«, in: Thomas Morris (Hg.), God and the Philosophers, New York: Oxford University Press 1994, S. 239. Einen »rein epistemischen« Bezwinger, vgl. oben, S. 428.
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sein soll, dergleichen zulassen könnte. Das ist so etwas wie ein umgekehrter sensus divinitatis: Mag sein, dass es kein gutes antitheistisches Argument gibt, das vom Übel ausgeht, aber ein solches Argument wird auch nicht gebraucht. Bei diesem Appell wird man nicht so verfahren, dass Argumente durchprobiert werden, sondern der Gesprächspartner wird in eine Situation versetzt, in der der ganze Horror des Leidens und des Bösen dieser Welt in all seiner Abscheulichkeit klar zu erkennen ist. Vom atheologischen Standpunkt aus betrachtet, würde sich das Anführen von Argumenten an dieser Stelle nachteilig auswirken, denn es gibt dem Theisten die Möglichkeit, seine Aufmerksamkeit abzuziehen, den Blick von der Scheußlichkeit des Leidens abzuwenden und seine Zuflucht in antiseptischen Diskussionen über mögliche Welten,Wahrscheinlichkeitsfunktionen und sonstige Geheimkünste zu suchen. Damit wird die Aufmerksamkeit von den Situationen abgelenkt, die tatsächlich einen Bezwinger des Glaubens an Gott darstellen. Diese These wollen wir uns näher anschauen. Zunächst müssen wir bedenken, daß etwas nur relativ zu einer noetischen Struktur ein Bezwinger einer Überzeugung ist. Ob meine neue Überzeugung Ü eine alte Überzeugung Ü* bezwingt, ist von meinen sonstigen Überzeugungen und der Beschaffenheit meiner Erfahrungen abhängig. Angenommen, ich halte den Baum dort drüben für einen Ahornbaum. Du sagst mir, in Wirklichkeit sei das eine Ulme. Das wird meine Überzeugung, dass es sich um einen Ahornbaum handelt, bezwingen, wenn ich meine, dass du dich auskennst und die Wahrheit zu sprechen beabsichtigst, aber nicht dann, wenn ich glaube, dass du dich, was Bäume betrifft, noch weniger auskennst als ich selbst, oder dass du nur in der Hälfte der Fälle äußerst, was du selbst für die Wahrheit hältst. Die Einsicht in das ganze Entsetzen des Übels der Welt mag ein Bezwinger des theistischen Glaubens sein, wenn man sich auf bestimmte noetische Strukturen bezieht, aber nicht, wenn andere noetische Strukturen angesprochen werden. Zunächst möchte ich folgendes geltend machen: Wenn die klassische christliche Lehre wahr ist, ist die Wahrnehmung des Übels kein Bezwinger des Glaubens an Gott, sofern wir es mit völlig rationalen noetischen Strukturen zu tun haben, also noetischen Strukturen ohne kognitive Fehlfunktion – Strukturen, in denen alle kognitiven Vermögen und Prozesse richtig funktionieren.Vom Standpunkt der klassischen christlichen Lehre betrachtet (jedenfalls wenn man das Modell der Kapitel 6 und 8 zugrunde legt), schließt das auch das richtige Funktionieren des sensus divinitatis ein. Jemand, bei dem dieser Prozess richtig funktioniert, verfügt über intimes, detailliertes, lebendiges und explizites Wissen um Gott. Er hat ein intensives Bewusstsein von Gottes Präsenz, Herrlichkeit, Güte, Macht und Vollkommenheit, von seiner wundervollen Attraktivität und Anmut. Er ist von der Existenz Gottes genauso überzeugt wie von seiner eigenen. Das Vorkommen dieser schlimmen Dinge in Gottes Welt kann ihn daher in Verwirrung stürzen – denn Gott
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hasst bekanntlich das Böse mit heiliger und inbrünstiger Leidenschaft –, aber die Vorstellung, möglicherweise könne es eine Person wie Gott gar nicht geben, kommt ihm zweifellos überhaupt nicht in den Sinn. Angesichts des Bösen und des Leidens wird er sich vielleicht fragen, warum Gott sie zulässt. Die Fakten des Übels können ein Ansporn zu forschenden Fragen und zu gewissen Handlungen sein. Findet der Gläubige keine Antwort, wird er höchstwahrscheinlich den Schluss ziehen, Gott habe einen Grund, der ihm selbst verborgen bleibt. Aber er wird nicht im mindesten zu bezweifeln geneigt sein, dass es eine Person wie Gott überhaupt gibt. Für einen durch und durch rationalen Menschen konstituiert die Existenz des Bösen also nicht einmal ansatzweise einen Bezwinger des Glaubens an Gott. In einer früheren Arbeit habe ich die bedingte epistemische Wahrscheinlichkeit (in groben Zügen und ohne Komplikationen sowie Einschränkungen zu erwähnen) wie folgt erklärt: Die bedingte epistemische Wahrscheinlichkeit von A bezogen auf B ist demnach – vorläufig und annäherungsweise gesprochen – der Grad, bis zu dem eine rationale Person, also eine Person mit richtig funktionierenden Vermögen, A akzeptieren würde, sofern sie im Hinblick auf B gewiss wäre; wüsste, dass sie B akzeptiert; A in reflektierter Weise im Lichte von B betrachtete; und, was A oder die Negation von A betrifft, über keine sonstige Quelle der Gewährleistung oder des positiven epistemischen Status verfügte.³³ An einer späteren Stelle habe ich dann (wohl aufgrund meiner Jugend, mangelnden Erfahrung und epistemischen Unschuld) hinzugefügt, dass die Existenz Gottes in diesem Sinne tatsächlich epistemisch unwahrscheinlich sei, wenn man sie auf die Existenz bestimmter Formen des Übels bezöge (S. 576). Doch erstens führt diese Erklärung der epistemischen Wahrscheinlichkeit gar nicht zu diesem Resultat. Genauer gesagt, sie hat keine klare Anwendung auf diesen Fall oder irgendeinen anderen Fall, in dem eine Überzeugung für eine Person S einen positiven epistemischen Status oder Gewähr schon allein dadurch hat, dass S im relevanten Sinn rational ist.³⁴ Dem erweiterten A/ C-Modell zufolge gehört der sensus divinitatis zu unseren kognitiven Fähigkeiten bzw. Prozessen. Wenn er bei der Person S richtig funktioniert, wird die Überzeugung, dass es eine Person wie Gott gibt, für S automatisch gewährleistet sein. Angewandt auf die Existenz Gottes als A und die Existenz irgendeines Übels als B, wird die Definition nicht zu der Konsequenz führen, dass A bezogen auf B unwahrscheinlich ist. Das ist deshalb so, weil die durch die letzte Klausel der Definition (»und, was A oder die Negation von A betrifft, über keine sonstige Quelle der Gewährleistung oder des positiven epistemischen Status verfügte«) ausgedrückte Bedingung durch den Glauben an die Existenz Gottes nicht erfüllt ist, sofern die kognitiven Vermögen des Glaubenden richtig funktionieren. Zweitens, betrachten wir eine Person S, bei der der sensus divinitatis tatsächlich nicht richtig funktioniert. S hat nur einen schwachen und äußerlichen Restglauben an Gott, der irgendwie vom Kinderglauben übrig geblieben ist. Außerdem wollen wir annehmen, dass S ausschließlich an dieser (und keiner anderen) kognitiven Fehlfunktion leidet. Jetzt sei angenommen, dass S sich
Plantinga, »Epistemic Probability and Evil«, in: Archivio di Filosofia (1988), S. 574. An dieser Stelle schulde ich Richard Otte tiefen Dank.
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über die Fakten des Übels klar wird und in Zusammenhang mit der Existenz Gottes über sie nachdenkt. Vielleicht wird S unter diesen Bedingungen den Glauben an Gott aufgeben oder die Existenz Gottes im Hinblick auf die gegebenen Belege für unwahrscheinlich erachten. Würde daraus folgen, dass die Fakten des Übels in irgendeinem Sinne negative Belege bezüglich der Existenz Gottes sind, also Belege, die im Falle einer völlig rationalen noetischen Struktur durch die von einem richtig funktionierenden sensus divinitatis gelieferten positiven Belege neutralisiert und wettgemacht werden? Nein. Denn vielleicht sind verschiedene Module des kognitiven Gesamtgefüges dazu bestimmt, zusammenzuarbeiten. Wenn dem so ist, kann es sein, dass die Leistungen eines Moduls m, das seinerseits keiner Fehlfunktion unterworfen ist, trotzdem keine epistemische Gültigkeit hat, sofern ein anderes Modul m* nicht richtig funktioniert. Dass m in dieser Weise funktioniert – d. h., in der Weise, in der es funktioniert, wenn m* fehlfunktioniert, ohne dass m bei gegebener Fehlfunktion von m* selber fehlfunktioniert –, braucht gar kein Bestandteil des Bauplans zu sein. Wenn es aufgrund eines Verkabelungsproblems zu Stromschwankungen kommt, gibt die Warnsirene einen schwachen und jämmerlichen Piepser von sich. Daraus folgt nicht, dass die vibrierende Scheibe, die dieses Geräusch hervorbringt, dazu bestimmt ist, unter diesen Bedingungen diesen Piepser von sich zu geben. Sie wurde zwar so entworfen, dass sie in dieser Situation faktisch diesen Piepser von sich geben wird. Aber dass sie es tut, ist kein Bestandteil des Bauplans. Dass sie unter diesen Bedingungen in dieser Weise funktioniert, ist natürlich ein Bestandteil des Maxi-Plans (WPF, S. 22 ff.). Daraus folgt aber nicht, dass das gegebene Verhalten ein Bestandteil des Bauplans ist. Vielmehr könnte dieses Verhalten eine unbeabsichtigte Nebenwirkung sein, ohne zum Bauplan selbst zu gehören. Das gleiche gilt auch für den sensus divinitatis und die übrigen Prozesse, die bei der Entstehung oder Unterdrückung des theistischen Glaubens tatsächlich eine Rolle spielen.Vielleicht sind der sensus divinitatis und der ›sensus probabilitatis‹ dazu bestimmt, als Einheit zusammenzuarbeiten.Wenn dem so ist, braucht den Leistungen des einen bei gegebener Fehlfunktion des anderen gar kein Grad von Rationalität oder Gewährleistung zuzukommen. Folglich ist die hier ausgemalte Situation nicht dazu angetan zu zeigen, dass die Fakten des Übels in irgendeiner Form als Belege gegen die Existenz Gottes eingesetzt werden können.
Dem A/C-Modell zufolge konstituieren die Fakten des Übels also keinen Bezwinger des Glaubens, sofern wir es mit einer völlig rationalen Person zu tun haben, deren sämtliche kognitive Vermögen richtig funktionieren. Dennoch (so wird der listige Atheologe behaupten) ist dieser Umstand allenfalls von zweifelhafter Relevanz für die Frage, ob christliche Theisten – also jene Gläubigen, die wirklich existieren – in Gestalt der Übel dieser Welt über einen Bezwinger des Theismus verfügen. Denn die christliche Lehre selbst sagt, dass keiner von uns Menschen in den Genuss dieses makellosen Zustands der vollständigen Rationalität gelangt. Der sensus divinitatis ist durch die Sünde stark beschädigt worden. Den meisten von uns leuchtet die Anwesenheit Gottes meistens nicht ohne weiteres ein. Für viele von uns sind Gottes Existenz und seine Güte (jedenfalls häufig) ein wenig zweifelhaft und flüchtig und keineswegs so offenkundig wie die Existenz anderer Personen oder der Bäume hinter dem Haus. Es mag ja sein, dass die Kenntnis der Fakten des Übels keinen Bezwinger des Theismus konstituiert, wenn man sie auf eine vollständig rationale noetische Struktur bezieht (beispielsweise auf die noetische
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Struktur eines Menschen vor dem Sündenfall). Bezieht man sie jedoch auf eine noetische Struktur der uns Menschen tatsächlich zukommenden Art, konstituieren sie (dieser These zufolge) eben doch einen Bezwinger. Angesichts der noetischen Resultate der Sünde (siehe Kapitel 7) verfüge der typische Theist tatsächlich über einen Bezwinger in Gestalt der Fakten des Übels. Wollte man diesem Weg weiter nachgehen, würde man jedoch ein anderes Merkmal des christlichen Glaubens vernachlässigen, nämlich den Gedanken, dass der Schaden am sensus divinitatis im Prozess des Glaubens (siehe Kapitel 8) und der Erneuerung grundsätzlich und zunehmend behoben wird. Der Gläubige kann wieder so werden, dass ihm die Anwesenheit Gottes zumindest bei bestimmten Gelegenheiten völlig einleuchtet. Außerdem weiß er von der durch die Fleischwerdung offenbarten göttlichen Liebe, dem unvorstellbaren Glanz des Leidens und des Todes Jesu Christi, der sie als göttlicher und einziger Sohn Gottes um unseretwillen erduldet hat. Natürlich liefert dieses Wissen keine Antwort auf die Frage »Warum lässt Gott das Böse zu?«. Dennoch ist es hier von ausschlaggebender Wichtigkeit.³⁵ Angenommen, ich lese einen Bericht über eine weitere schreckliche Greueltat und bin womöglich erschüttert. Doch dann denke ich an die unvorstellbar große Liebe, die im Leiden und Tod Christi zum Vorschein kommt, an seine Bereitschaft zur Entsagung und zur Annahme von Knechtsgestalt, seine Bereitschaft zum Leiden und zum Tod, auf dass wir sündigen Menschen zur Erlösung gelangen können. Und wenn ich daran denke, wird mein Glaube vielleicht wiederhergestellt. Ich kann mir immer noch kein Bild davon machen, warum Gott dieses Leiden zulässt oder warum er es gestattet, dass die Menschen einander foltern und umbringen, warum er gewaltige und entsetzliche soziale Experimente wie den Nationalsozialismus und den Kommunismus erlaubt, oder warum er den Holocaust zulässt. Dennoch sehe ich ein, dass er dazu bereit ist, unser Leid mit uns zu teilen, auch seinerseits schreckliche Leiden zu Das hat auch Albert Camus (seinerseits wohl kaum ein geradliniger Apologet des christlichen Glaubens) deutlich erkannt. Christus, sagt Camus, ist die Lösung der Probleme des Bösen und des Todes: Seine Lösung bestand zuerst darin, sie [diese Probleme] auf sich zu nehmen. Der Gottmensch leidet auch, und mit Geduld. Das Böse wie der Tod können ihm nicht völlig zugeschrieben werden, da auch er zerrissen ist und stirbt. Die Nacht von Golgatha hat nur darum für die Geschichte der Menschen soviel Bedeutung, weil in ihrem Dunkel die Gottheit, sichtbar auf alle hergebrachten Privilegien verzichtend, bis zu ihrem Ende, alle Verzweiflung eingeschlossen, die Todesangst durchlebt. So erklärt sich das Lama asabthani und Christi grauenhafter Zweifel in der Agonie. (Camus, Essais, Paris: Gallimard 1965, zit. in: Bruce Ward, »Prometheus or Cain? Albert Camus’s Account of the Western Quest for Justice«, in: Faith and Philosophy [April 1991], S. 213, übers. von Justus Streller: Der Mensch in der Revolte, Reinbek: Rowohlt 1980, S. 29).
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erdulden – und sie um unseretwillen zu ertragen. Angesichts eines besonders abscheulichen Beispiels des Bösen fühle ich mich vielleicht geneigt, Gott in Frage zu stellen und womöglich sogar zornig zu sein und zu grollen: »Warum soll ich oder meine Familie leiden, um seine (zweifellos hochfliegenden) Ziele zu fördern, während ich nicht einmal den Schimmer einer Vorstellung davon habe, inwiefern mein Leid einen positiven Beitrag leistet?« Doch dann besinne ich mich auf die Bereitschaft Gottes, größere Leiden um meinetwillen zu erdulden, und schon bin ich getröstet oder zumindest beruhigt. Hier ist eine Hinsicht gegeben, in der der christliche Theismus über ein Hilfsmittel zum Umgang mit dem Übel verfügt, das anderen Formen des Theismus nicht zu Gebote steht.³⁶ Zu beachten ist, dass Wahrscheinlichkeiten kaum etwas damit zu tun haben. Ein solcher Mensch denkt nicht wie folgt: Es ist zwar nicht sonderlich wahrscheinlich, dass eine allmächtige, allwissende und allgütige Person solche Greuel zulassen würde, aber es ist immerhin wahrscheinlicher, dass ein Wesen, das seinerseits bereit ist, um unseretwillen Leiden zu erdulden, dergleichen zuließe. Der Trost, um den es hier geht, kommt nicht auf dem Wege des probabilistischen Denkens. Es gibt eine Menge, was über das Leiden im christlichen Sinne zu sagen wäre,³⁷ und vieles davon stellt weitere epistemische Ressourcen bereit, die uns helfen, mit dem Übel zurechtzukommen. Vielleicht ist unser Leiden zutiefst mit der dem Menschen gegebenen Möglichkeit der Erlösung verbunden.³⁸ Vielleicht sind wir in einer Weise am Leiden Christi beteiligt, die auch unser Leiden heilbringend macht, und womöglich ist es sogar ein wesentlicher Bestandteil des Heilsplans.³⁹ Wer leidet, kann sich dann darauf freuen, für die Mitwirkung an diesem Erlösungsprojekt die Dankbarkeit Gottes zu empfangen,⁴⁰ und darauf, dass er der Liebe und Ein weiteres dieser Hilfsmittel hängt damit zusammen, dass persönliche Beziehungen wie z. B. die Liebe vom Standpunkt der christlichen Dreifaltigkeitslehre aus gesehen auch auf den tiefsten Ebenen der Realität zu finden sind. S.o., S. 377 ff. Manches davon wird in Salvifici Doloris (1984) gesagt. Dieses Apostolische Schreiben von Johannes Paul II. ist eine tiefschürfende Meditation über das Leiden und ein eindrucksvoller Versuch, den Sinn des Leidens aus christlicher Perspektive zu erkennen. Salvifici Doloris, Boston: Pauline Books and Media, S. 30 ff. Angedeutet wird das in der folgenden enigmatischen Bemerkung des Paulus: »Jetzt freue ich mich in den Leiden, die ich für euch ertrage. Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt« (Kolosser 1,24). »Bei Juliana von Norwich heißt es: Ehe die Auserwählten die Möglichkeit erhalten, Gott für alles zu danken, was er für sie getan hat, wird Gott seinerseits sagen: ›Ich danke euch für all euer Leiden, das Leiden eurer Jugend‹« (Marilyn Adams, »Horrendous Evils and the Goodness of God«, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Supplementary Volume 63 [1989], verbesserter Abdruck in: Marilyn Adams u. Robert Adams [Hg.], The Problem of Evil, New York: Oxford University Press 1990, S. 219; die von Adams zitierte Stelle stammt aus dem 14. Kapitel der Offenbarungen der göttlichen Liebe).
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Billigung Gottes für immer teilhaftig wird. Dann wird er dem folgenden Ausspruch des Paulus zustimmen können: »Sind wir aber Kinder, dann auch Erben; wir sind Erben Gottes und sind Miterben Christi, wenn wir mit ihm leiden, um mit ihm auch verherrlicht zu werden.«⁴¹ So kommt er vielleicht auf den Gedanken, dass das menschliche Leiden in gewisser Weise ein Anlass zur Dankbarkeit ist. Es gibt auch noch eine weitere Hinsicht, in der das Leiden vielleicht zur Dankbarkeit Anlass gibt. Es ist einleuchtend zu meinen, dass die besten möglichen Welten, die Gott hätte verwirklichen können, das unvorstellbar große Gut der göttlichen Fleischwerdung und Erlösung enthalten – doch dann enthalten sie natürlich auch Sünde und Leid. Gott wählt eine dieser Welten aus und lässt sie wirklich werden; und in dieser Welt leidet die Menschheit. Aber in dieser Welt gibt es außerdem die wundervolle Chance zur Erlösung und zur ewigen Gemeinschaft mit Gott – ein unvorstellbar großes Gut, das die Leiden, die wir erdulden müssen, bei weitem überwiegt.⁴² Ferner ist zu bedenken, dass wir Menschen, indem uns die ewige Gemeinschaft mit Gott angeboten wird, dazu aufgefordert werden, uns dem Zauberkreis der Dreieinigkeit selbst anzuschließen, was wiederum eine Aufforderung ist, die vielleicht nur an Geschöpfe ergehen kann, die der Sünde anheimgefallen sind, die gelitten haben und erlöst worden sind.⁴³ Wenn es sich so verhält, ist die Lage der Menschheit enorm viel besser, als sie es gewesen wäre, wenn es weder Sünde noch Leiden gegeben hätte. Daher gilt wirklich: O felix culpa! Dementsprechend werden jene, die Glauben haben (und in denen der Prozess der Erneuerung bereits stattgefunden hat oder gerade stattfindet), auch so beschaffen sein, dass die Anwesenheit und Güte Gottes ihnen bis zu einem gewissen Grad offenkundig ist. Für sie wird die Überzeugung, dass es eine Person wie Gott gibt, also ein erhebliches Maß an Gewähr haben. Auch sie werden sich dann – ebenso wie jemand, in dessen Innerem der sensus divinitatis nie beschädigt worden ist – kaum oder gar nicht geneigt fühlen, zum Atheismus oder Agnostizismus überzugehen, sobald sie mit Fällen grässlichen Übels konfrontiert werden.
Römer 8, 17.Vgl. 2. Korinther 4, 17: »Denn die kleine Last unserer gegenwärtigen Not schafft uns in maßlosem Übermaß ein ewiges Gewicht an Herrlichkeit [. . .].« In Römer 8, 18 fährt Paulus folgendermaßen fort: »Ich bin überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll.« In diesem Sinne schreibt Abraham Kuyper: »Die Engel Gottes haben keine Kenntnis von der Sünde, und daher haben sie auch keine Ahnung von der Vergebung, weshalb sie auch nichts von jener zärtlichen Liebe wissen, die aus der Vergebung entsteht. Ebensowenig verfügen sie über jene reichhaltigere Gotteskenntnis, die aus diesen eher zärtlichen Affekten hervorgeht. Vor diesem Phänomen stehen sie wie Fremde, und deshalb sagt der Apostel, dass die Engel im Hinblick auf dieses Geheimnis gleichsam eifersüchtig wünschen, einen Blick hineinzuwerfen« (To Be near unto God, S. 307).
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Sie mögen verwirrt und sie mögen schockiert sein; vielleicht werden sie durch das Vorhandensein entsetzlichen Übels in Gottes Welt zu Handlungen und forschendem Nachfragen angespornt. Aber die Preisgabe des Glaubens wird für sie keine Option sein. Sofern das Leiden, um das es geht, ihr eigenes ist, werden sie vielleicht mit dem Verfasser des Psalms 119, 75 – 76 einig gehen und sagen: »Herr, ich weiß, dass deine Entscheide gerecht sind; du hast mich gebeugt, weil du treu für mich sorgst. Tröste mich in deiner Huld, wie du es deinem Knecht verheißen hast.« Vielleicht werden sie auch gesegnete Genugtuung empfinden. Betrachten wir beispielsweise den folgenden Brief, den Guido von Bray kurz vor seiner Hinrichtung durch den Strang an seine Frau schrieb: Dein Herzeleid und Deine Qual, die mich hier inmitten meiner Fröhlichkeit und Freude beunruhigen, sind die Ursache dafür, dass ich Dir diesen Brief schreibe. Ich bitte Dich inständig, Dich nicht allzusehr zu grämen. […] Hätte der Herr es gewollt, dass wir länger zusammenleben, wäre es für ihn ein leichtes gewesen, es so einzurichten. […] Lass also seinen guten Willen geschehen, und lass Dir das als ganzen Grund genügen. […] Ich bitte Dich, meine liebe und treue Gefährtin, zusammen mit mir froh zu sein und Gott zu danken für das, was er tut, denn er tut nichts anderes als das, was ganz und gar richtig und gut ist […]. Ich bin hier in den sichersten und elendsten Kerker eingesperrt. Dieses Verlies ist so dunkel und so finster, dass man es das »schwarze Loch« nennt. Luft bekomme ich nur wenig, und was ich an Luft bekomme, ist verpestet. Meine Hände und meine Füße sind in schwere Ketten eingeschlossen, die mich ständig quälen und mir bis auf die armen Knochen ins Fleisch schneiden. Aber trotz allem versäumt Gott es nicht, sein Versprechen zu halten und mir das Herz zu trösten und mir höchst gesegnete Genugtuung zu verschaffen.⁴⁴
Guido von Bray musste schrecklich leiden. Dennoch wurde ihm höchst gesegnete Genugtuung zuteil. Nichts dürfte seinem Sinn ferner gelegen haben als der Gedanke, eine Person wie Gott könne es womöglich gar nicht geben – vielleicht sei er fortwährend getäuscht worden. Dieses Festhalten am Glauben lässt – unter Voraussetzung des im 8. Kapitel beschriebenen Modells – gar keine Irrationalität erkennen. Es verhält sich nicht so, als wäre ihm durch sein Leiden ein Bezwinger des theistischen Glaubens gegeben, den er jedoch irgendwie verdränge, so dass er – vielleicht mit Hilfe von Wunschdenken – trotz allem am Glauben festhält. Nein, sein Glaube ist vielmehr ein Resultat des richtigen Funktionierens der kognitiven Prozesse – ein verjüngter sensus divinitatis und der innere Ansporn des Heiligen Geistes –, die den Glauben an Gott hervorbringen.
Zitiert in: Cornelius Plantinga jr., A Place to Stand, Grand Rapids: Board of Publications of the Christian Reformed Church 1981, S. 35. Guido von Bray (1522– 1567) war der Verfasser der Confessio Belgica.
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Natürlich sind die meisten von uns nicht in der gleichen spirituellen Verfassung wie Guido von Bray. Längst nicht alle von uns kommen angesichts des Leidens in den Genuss von soviel Trost und Genugtuung. Calvin weist (in der Institutio III, ii, 15) darauf hin, dass es den meisten von uns mitunter schwerfällt zu glauben, dass Gott es wirklich gut mit uns meint. Und selbst die großen Meister des spirituellen Lebens befinden sich manchmal in spiritueller Finsternis.⁴⁵ Auch Christen müssen einräumen, dass sich ihre epistemische und spirituelle Situation von Person zu Person – und bei ein und derselben Person von Zeitpunkt zu Zeitpunkt – sehr stark unterscheidet. Gibt es also gar keine Bedingungen, unter denen die Fakten des Übels einen Bezwinger des christlichen Glaubens konstituieren? Nun, die richtige Antwort dürfte »Wahrscheinlich nicht« lauten. Stellen wir uns eine Person vor, in deren Innerem der sensus divinitatis gar nicht gut funktioniert, etwa eine Person, die in gedankenloser und bloß äußerlicher Weise glaubt und für die der Glaube keine wirkliche Anschaulichkeit oder Lebendigkeit hat. Vielleicht wird eine solche Person, sobald sie der Fakten des Übels wirklich innewird, normalerweise den theistischen Glauben fallenlassen. Das zeigt jedoch, wie ich oben (S. 576 ff.) ausgeführt habe, nicht, dass diese Person über einen Bezwinger des theistischen Glaubens verfügt. Einen solchen Bezwinger hat sie nur dann, wenn es zu unserem kognitiven Bauplan gehört, unter solchen Umständen den theistischen Glauben preiszugeben. Wir haben aber keinen Grund zu der Annahme, dass das der Fall ist. Der Bauplan umfasst das richtige Funktionieren des sensus divinitatis. Es wäre zwar möglich, dass die faktische Entwicklung der Dinge im Fall einer Fehlfunktion im Ablauf dieses Prozesses mit zum Bauplan gehörte, aber wahrscheinlicher ist, dass es sich nicht um einen Teil des Bauplans handelt, sondern um eine unbeabsichtigte Nebenwirkung. Dennoch wollen wir – allein um der Argumentation willen – annehmen, dass eine solche Person tatsächlich über einen Bezwinger des theistischen Glaubens verfügt. Hier ist es wichtig zu erkennen, dass sie, sofern sie wirklich einen Bezwinger hat, ausschließlich aufgrund einer Fehlfunktion der Rationalität an ir-
So schreibt Teresa von Liseaux: »Ich werde dieser Finsternis, die überall um mich herum ist, überdrüssig. [. . .] Die Qual ist schlimmer denn je zuvor. Die Finsternis selbst scheint von den Sündern, die in ihr leben, die Gabe der Rede zu borgen. Ich höre den spöttischen Tonfall, wenn sie sagt: ›Das ist alles nur ein Traum, dieses Gerede von einem himmlischen, in Licht getauchten Land, das nach köstlichen Düften riecht, von einem Gott, der dies alles geschaffen hat und den du in alle Ewigkeit besitzen sollst! [. . .] Der Tod wird deinen Hoffnungen allen Sinn rauben. Er wird nur eine Nacht bedeuten, die noch dunkler ist als alles Frühere – die Nacht des reinen Nichtseins.‹ [. . .] Und die ganze Zeit über ist da nicht nur ein Schleier, sondern eine hohe Mauer, die bis zum Himmel emporreicht und die Sterne verdeckt.«
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gendeinem Punkt ihrer noetischen Struktur darüber verfügt (vielleicht betrifft diese Fehlfunktion den sensus divinitatis). Nun wollen wir jedoch auf unsere Ausgangsfrage zurückkommen: Hat eine Person S, die glaubt, dass es eine Person wie Gott gibt, durch das Vorliegen der Fakten des Übels einen Bezwinger in der Hand? Jetzt können wir erkennen, dass kein Grund besteht, so etwas anzunehmen. Schon der Umstand, dass die Person S an ihrem theistischen Glauben festhält, ist ein Beleg dafür, dass der sensus divinitatis in ihrem Inneren zumindest bis zu einem bestimmten Grad richtig und in solcher Weise funktioniert, dass die Kenntnis der Fakten des Übels keinen Bezwinger konstituiert. Sollte die Preisgabe des Glaubens doch zum Bauplan gehören, wäre es zwar vielleicht möglich, dass S über einen Bezwinger verfügt, aber es besteht kein Grund anzunehmen, dass es sich tatsächlich so verhält. Daher komme ich zu dem Schluss, dass Menschen, die an Gott glauben, durch die Kenntnis der Fakten des Übels höchstwahrscheinlich nicht über einen Bezwinger des theistischen Glaubens verfügen. Natürlich ist dies alles aus der Perspektive des christlichen Theismus gesagt. Sofern der christliche Theismus wahr ist, konstituiert das Vorkommen der Sünde und des Bösen und des Leidens, dessen wir ansichtig werden, im Regelfall keinen Bezwinger des Glaubens an Gott. Insbesondere stellt es für den »gebildeten Erwachsenen unserer Kultur«, von dem Quinn (s. o., S. 422) spricht, keinen Bezwinger dar, jedenfalls nicht, wenn dieser Erwachsene ein wenig über die erkenntnistheoretische Seite der Sache nachgedacht hat. Wer allerdings den christlichen Theismus nicht akzeptiert, wird sich davon eventuell nicht beeindrucken lassen. Er wird vielleicht einräumen, dass Leiden und Böses vom Standpunkt des christlichen Theismus aus gesehen keinen Bezwinger des christlichen Glaubens konstituieren, aber der christliche Glaube sei nun einmal falsch. Folglich sei dieser Umstand – nämlich dass das Übel, sofern der Theismus wahr wäre, keinen Bezwinger des christlichen Glaubens darstellen würde – völlig ohne Belang für seine These, dass das Böse de facto einen solchen Bezwinger konstituiert. Sollte er dabei jedoch an einen internen Bezwinger des theistischen Glaubens denken, ist er im Irrtum. Die Kenntnis der Fakten des Übels konstituiert keinen internen Bezwinger – jedenfalls nicht für jene Gläubigen, für die es völlig offensichtlich ist, dass es eine Person wie Gott gibt und dass die ganze christliche Erzählung überhaupt zutrifft. Für eine solche Person wird das auch dann auf der Hand liegen, wenn sie sich über die Übel dieser Welt völlig im klaren ist und intensiv über sie nachgedacht hat. Ihr Glaube an diese Dinge hat daher in interner Hinsicht gar nichts Irrationales. Weder geschieht es, dass sie etwas nicht glaubt, was ihr offenkundig wahr zu sein scheint, noch geht sie mit den epistemischen Dingen stromabwärts von der Erfahrung falsch um. Falls hier doch Irrationalität vorliegt, muss sie demnach externer Art sein: Es muss sich so verhalten, dass diese Neigung zum Glauben – diese doxastischen Belege – ihrerseits ein Produkt einer
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kognitiven Fehlfunktion oder das Ergebnis von kognitiven Prozessen sind, die nicht auf die Wahrheit abzielen. Hier wird der gläubige Christ bzw. Theist natürlich nicht zustimmen, sondern den eigenen Glauben als das Produkt angemessen funktionierender kognitiver Vermögen auffassen: als das Produkt von Vermögen, die so funktionieren, wie es von Gott beabsichtigt wurde, und die auf die Hervorbringung wahrer Überzeugungen abzielen. Was wir hier vor uns haben, ist ein weiteres Beispiel eines allgemeinen Musters; und wieder verhält es sich offenbar so, dass Fragen bezüglich der Rationalität des Glaubens an Gott (und an die ganze christliche Erzählung) nicht rein erkenntnistheoretischer Art sind.Was die rationale Person tun wird, sobald sie mit Leiden und Übel konfrontiert wird, hängt davon ab, wie der kognitive Bauplan für Menschen beschaffen ist. Aber aus einer erfüllten christlichen Perspektive gesehen, wird dieser Bauplan derart sein, das jemand, der – wie beispielsweise Mutter Teresa – trotz der Leiden und Übel dieser Welt am christlichen Glauben festhält, gar keine Irrationalität an den Tag legt. Im Grunde ist es derjenige, der unter diesen Umständen den Glauben an Gott preisgibt, der kognitives Fehlfunktionieren an den Tag legt. Bei einer solchen Person muss der sensus divinitatis zumindest teilweise in Unordnung geraten sein. Der Atheologe kann daher nur dann zu Recht behaupten, dass das Übel einen Bezwinger des christlichen Glaubens konstituiere, wenn er bereits davon ausgeht, dass der christliche Glaube falsch ist. Doch dann kann man von dem gläubigen Christen nicht sinnvollerweise erwarten, dass er einräumt, tatsächlich über einen Bezwinger des christlichen Glaubens zu verfügen – jedenfalls nicht, ehe der Atheologe ein oder zwei gute Gründe für die Annahme nennt, der christliche Glaube sei falsch. Da er jedoch gläubiger Christ ist, wird er natürlich meinen, dass sein christlicher Glaube wahr ist; und in diesem Fall wird sein Glaube durch die Fakten des Übels nicht bezwungen. In diesem Kapitel haben wir uns mit der Frage befasst, ob Kenntnis der Fakten des Übels einen Bezwinger des christlichen Glaubens konstituiert. Natürlich gibt es viele damit zusammenhängende Projekte, die in der unmittelbaren Umgebung dieser Frage schlummern. Ein besonders interessantes Projekt bestünde darin, dass man die Ressourcen des christlichen Glaubens in unsere Überlegungen zum Thema »Sünde und Übel« einbringt, und zwar nicht zum Zwecke der Verteidigung des epistemischen Status des christlichen Glaubens, sondern als Bestandteil eines umfassenderen Vorhabens der christlichen Wissenschaft, um auf diese Weise die Hinsichten zu ermitteln, in denen der christliche Glaube auf viele der wichtigen Bereiche menschlicher Belange Licht wirft. Das ist eine äußerst wichtige Aufgabe, der von seiten der christlichen Philosophen nicht annähernd die Aufmerksamkeit zuteil geworden ist, die ihr gebührt.⁴⁶ Zu den Fragen, die
Hier möchte ich die folgenden interessanten und einflussreichen Arbeiten empfehlen: Salvifici Doloris (siehe Anm. 37); Marilyn Adams, »Horrendous Evils and the Goodness of God« (siehe
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sich in diesem Bereich stellen, gehört auch die folgende: Dem christlichen Glauben zufolge ist Gott vollkommen gut, aber außerdem vollkommen liebevoll, und er liebt jedes seiner Geschöpfe mit vollkommener Liebe. Wie kann es dann unter dieser Voraussetzung sein, dass er es zulässt, dass eine Person S um des Wohls einer anderen Person willen leidet? (Abstrakter gefragt: Wie kann er das Leiden von S deshalb zulassen, weil das Leiden von S ein Element der besten Welt ist, die Gott verwirklichen kann?) Sofern er vollkommen liebevoll ist, würde er in diesem Fall das Leiden von S nicht ausschließlich dann zulassen, wenn es dazu diente, ein überwiegendes Wohl für S selbst herbeizuführen? Das ist eine faszinierende und komplexe Fragestellung, aber hier habe ich nicht genügend Raum, um sie angemessen zu erörtern. Klar ist jedoch, dass wir einige Unterscheidungen benötigen. Zunächst einmal kann Gott (unter der Voraussetzung, dass er vollkommen liebevoll ist) es bestimmt zulassen, dass jemand um des Wohls anderer Personen willen leidet, wenn dieses Leiden – wie im Falle Christi – freiwillig ertragen wird. Nehmen wir daher an, ich habe mein Leiden nicht freiwillig auf mich genommen, denn ich bin aus dem einen oder anderen Grund nicht dazu imstande, eine Entscheidung darüber zu treffen, ob ich das Leid akzeptieren möchte (genauso wie jemand, der im Koma liegt, nicht dazu imstande ist, eine wichtige Entscheidung zu treffen, die das eigene Leben betrifft). Nehmen wir ferner an, Gott wisse außerdem, dass ich, wenn ich diese Entscheidung doch treffen könnte, das Leiden akzeptieren würde. Auch in diesem Fall würde Gottes vollkommene Güte ihn nicht im mindesten daran hindern, mein Leiden zum Nutzen anderer zuzulassen. Oder nehmen wir einmal an, dass ich die Entscheidung treffen kann und das Leiden nicht akzeptieren würde. Gott weiß, dass diese mangelnde Bereitschaft meinerseits meiner Unwissenheit geschuldet ist. Wären mir die relevanten Fakten bekannt, würde ich das Leiden akzeptieren. Auch in diesem Fall stünde die vollkommene Güte Gottes nicht seiner Entscheidung im Wege, mich leiden zu lassen. Das würde auch dann gelten, wenn ich für mein Teil mich keiner Missetat schuldig gemacht hätte. Ja, nehmen wir an, Gott wisse, dass ich dann, wenn ich genug wüsste und die richtige affektive Einstellung hätte, das Leiden akzeptieren würde. Auch in diesem Fall würde seine vollkommene Liebe nicht die Entscheidung ausschließen, mich leiden zu lassen. An diesem Punkt muss eine weitere Unterscheidung getroffen werden. Vielleicht liegt Gottes Grund für die Entscheidung, mein Leiden zuzulassen, nicht darin, dass ich durch das Erdulden dieser Leiden ein höheres Gut zu erreichen vermag (beispielsweise Gottes Dankbarkeit, vgl. Anm. 40), sondern darin, dass er auf diese Weise eine insgesamt bessere Welt verwirklichen kann. Dennoch ist es vielleicht ebenfalls zutreffend, dass er mich nicht um dieses Zwecks – also eines außerhalb meines eigenen Wohls liegenden Zwecks – willen leiden lassen würde, es sei denn, er könnte auch etwas für mich Gutes aus diesem Übel herausholen. In diesem Fall würde sein Grund für das Zulassen meines Leidens zwar nicht darin liegen, dass dieses Leiden zu meiner eigenen Besserung beiträgt, aber dennoch würde er mein Leiden nicht zulassen, sofern es sich nicht irgendwie zu meinem eigenen Wohl umfunktionieren ließe. Eine (vielleicht auf Gottes vollkommene Liebe zurückgehende) Einschränkung, die sich auf seine Gründe bezieht, ist etwas völlig anderes als eine Einschränkung, die sich auf die Bedingungen bezieht, unter denen er unfreiwilliges und unschuldiges Leiden zulassen würde. Um auf ein früher (s. o., S. 581) genanntes Beispiel zurückzukommen: Vielleicht sieht Gott, dass die besten Welten, die er verwirklichen kann, diejenigen sind, die das unvorstellbar hohe Gut der Fleischwerdung Gottes und seines Sühnopfers enthalten. Deshalb, so wollen wir annehmen, verwirklicht er eine Welt α, in der die Menschen der Sünde und dem Bösen anheimfallen, woraus sie durch die Fleischwerdung und das Sühnopfer
Anm. 40); Diogenes Allen, The Traces of God in a Frequently Hostile World, Lanham, MD: Cowley Publications 1980; Eleonore Stump, »The Mirror of Evil« (siehe Anm. 31).
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erlöst werden. Ferner sei angenommen, dass der Letztzustand der Menschen in α besser ist als in den Welten ohne Sündenfall, aber auch ohne Fleischwerdung und Erlösung. Dann zieht Gottes Verwirklichung von α für viele Menschen Leiden nach sich. Sein Grund dafür, dass er dieses Leiden zulässt, besteht nicht darin, dass die leidenden Individuen irgendwie davon profitieren werden, sondern sein Grund ist der, dass er eine sehr gute Welt verwirklichen möchte, die das hohe Gut der Fleischwerdung, des Sühnopfers und der Erlösung enthält. Dennoch macht es seine vollkommene Güte vielleicht nötig, dass er eine Welt verwirklicht, in der die Leidenden insofern einen Vorteil daraus ziehen, als ihre Lage besser ist als in jenen Welten, in denen sie nicht leiden.
Im Buch Hiob werden einige der Themen dieses Kapitels vortrefflich behandelt.⁴⁷ Am Anfang der Geschichte wird Gott von Satan herausgefordert: Dein Diener Hiob, sagt er, ist ein Speichellecker, ein kriecherischer Opportunist, der sich über Gott beschweren und ihn direkt verfluchen wird, wenn sich die Dinge nicht nach seinem Willen entwickeln. Gott widerspricht und gestattet es dem Satan, Hiob heimzusuchen. Dessen Freunde Elifas von Temon, Bildad von Schuach und Zofar von Naama kommen herbei, um ihn zu trösten. Sieben Tage und sieben Nächte verbringen sie, ohne ein Wort zu sagen. (Man stellt sich vor, dass sie derweil um ein Lagerfeuer gehockt dasitzen.) Dann sagen sie immer wieder und ausführlich, dass es den Gerechten stets gut geht, während die Bösen immer im Elend enden: Bedenk doch! Wer geht ohne Schuld zugrunde? Wo werden Redliche im Stich gelaßen? Wohin ich schaue: Wer Unrecht pflügt, wer Unheil sät, der erntet es auch. (4, 7– 8) Der Frevel bebt in Ängsten all seine Tage, die Zahl der Jahre ist dem Tyrannen verborgen. In seinen Ohren hallen Schreckensrufe, mitten im Frieden kommt der Verwüster über ihn. Er kann nicht hoffen, dem Dunkel zu entfliehen, aufgespart ist er für das Schwert. Er irrt umher nach Brot […]. Not und Drangsal erschrecken ihn […]. (15, 20 – 24)
Hiob muss also wirklich ein schrecklich böser Mensch sein, um dermaßen großes Leid verdient zu haben: Wegen deiner Gottesfurcht sollte er dich strafen, vor Gericht mit dir gehen? Ist nicht groß deine Bosheit, ohne Ende dein Verschulden? […] ziehst Nackten ihre Kleider aus. Den Durstigen tränkst du nicht mit Wasser, dem Hungernden versagst du das Brot. Dem Mann der Faust gehört das Land, der Günstling darf darin wohnen. Witwen hast du weggeschickt mit leeren Händen, der Verwaisten Arme zerschlagen. Deswegen liegen Fallstricke rings um dich her, und jäher Schrecken ängstigt dich, oder Dunkel, worin du nicht siehst, und Wasserflut, die dich bedeckt. (22, 4– 11)
Einen sehr verständnisvollen Kommentar zu den Hauptthemen des Buchs Hiob gibt Eleonore Stump in ihrer Stob Lecture »Second-Person Accounts and the Problem of Evil«, Calvin College, Januar 1999 (Grand Rapids: Calvin College 1999).
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Hiob müsse Reue zeigen und sich bessern: Wenn du mit Eifer Gott suchst, an den Allmächtigen dich flehend wendest, wenn du rein bist und recht, dann wird er über dich wachen, dein Heim herstellen wie es dir zusteht. (8, 5 – 6)
Darüber ist Hiob verständlicherweise verärgert: Wahrhaftig, ihr seid besondere Leute, und mit euch stirbt die Weisheit aus. Aber ich habe auch Verstand wie ihr […] (12, 1– 3) »[…] leidige Tröster seid ihr alle. Sind nun zu Ende die windigen Worte […]?«
(16, 2– 3)
Er weiß, dass der Regen auf Gerechte und Ungerechte gleichermaßen fällt, und dass es den Bösen oft gut geht: Warum bleiben Frevler am Leben, werden alt und stark an Kraft? Ihre Nachkommen stehen fest vor ihnen, ihre Sprößlinge vor ihren Augen. Ihre Häuser sind in Frieden, ohne Schreck, die Rute Gottes trifft sie nicht. Ihr Stier bespringt und fehlt nicht, die Kühe kalben und verwerfen nicht.Wie Schafe treiben sie ihre Kinder aus, ihre Kleinen tanzen und springen. […] verbrauchen ihre Tage im Glück und fahren voll Ruhe ins Totenreich. (21, 7– 13)
Außerdem weiß Hiob, dass er nichts ungewöhnlich Abscheuliches oder Böses getan hat: »Doch kein Unrecht klebt an meinen Händen, und mein Gebet ist lauter« (16, 17) Gewiss gibt es niemanden, keinen einzigen, der wirklich Gutes tut, doch im Prolog wird Hiob als »schuldlos und aufrecht« beschrieben. Er weiß, dass er nicht deshalb ausgewählt wurde, weil er soviel böser gewesen ist als die übrigen Menschen (insbesondere ist er kein größerer Sünder als Elifas, Bildad und Zofar). Also macht er Gott Vorwürfe, weil er ihn ungerecht behandelt und es zugelassen habe, dermaßen zu leiden: Erkennt doch, daß Gott mich niederdrückt, da er sein Netz rings um mich warf.
(19, 6)
So wahr Gott lebt, der mir mein Recht entzog […].
(27, 2)
Er schreckt nicht davor zurück, dem Herrn die Meinung zu sagen. An manchen Stellen schleicht sich sogar ein gewisser Anflug von Sarkasmus ein: »Nützt es dir, daß du Gewalt verübst, daß du das Werk deiner Hände verwirfst, doch über dem Plan der Frevler aufstrahlst?« (10, 3), aber auch eine gewisse Selbstgerechtigkeit: »Nun hörten jene drei Männer auf, Hiob zu entgegnen, weil er gerecht war in seinen Augen« (32, 1), ja sogar eine gewisse Aufsässigkeit: »Fern sei es mir, euch recht zu geben, ich gebe, bis ich sterbe, meine Unschuld nicht preis. An meinem Rechtsein halt’ ich fest und lass’ es nicht« (17, 5 – 6). Nach seiner Überzeugung ist er
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keiner Missetaten schuldig und möchte mit Gott vor Gericht gehen, um die Sache klären zu lassen: Gäbe es doch einen, der mich hört. Das ist mein Begehr, daß der Allmächtige mir Antwort gibt: Hier ist das Schriftstück, das mein Gegner geschrieben. Auf meine Schulter wollte ich es heben, als Kranz es um den Kopf mir winden. (31, 35 – 36)
(Wieder klingt ein gewisser Sarkasmus an.) Doch sobald es ihm reuig in den Sinn kommt, dass Gott Staatsanwalt, Richter, Schöffe und Scharfrichter zugleich sein wird, ist Hiob nicht mehr so optimistisch, was das Ergebnis anlangt: Sage ich: Ich will meine Klage vergessen, meine Miene ändern und heiter blicken, so graut mir vor all meinen Schmerzen; ich weiß, du sprichst mich nicht frei. (9, 27– 28)
Hier gibt es mindestens zwei Möglichkeiten, Hiob zu verstehen. Die erste Möglichkeit ist die, dass Hiobs Problem eher theoretischer Natur ist: Er kann gar keinen Grund erkennen, weshalb Gott es gestatten sollte, ihn dermaßen heimsuchen zu lassen. Ohne weiter darüber nachzudenken, neigt er zu der Schlussfolgerung, Gott habe einfach keinen guten Grund. Entscheidend ist hier, dass der Grund für die Leiden Hiobs etwas ist, was sein Wissen oder Bewusstsein völlig übersteigt. Aber dass er nicht einsehen kann, welchen Grund Gott dafür haben könnte, dass er Hiobs Leiden zulässt, spricht nicht einmal ansatzweise dafür, dass Gott auch keinen Grund hat. Und sobald Gott dem Hiob eine Antwort gibt, sagt er ihm nicht, welches sein Grund dafür ist, dass er diese Leiden zugelassen hat (vielleicht wäre Hiob außerstande, diesen Grund zu erfassen oder zu verstehen).Vielmehr greift er den impliziten Schluss an, der von Hiobs Unfähigkeit, den Grund Gottes zu erkennen, zu der Vorstellung hinführt, Gott habe wahrscheinlich gar keinen Grund. Diesen Angriff leitet Gott ein, indem er darauf hinweist, wie gewaltig die Kluft zwischen dem Wissen Hiobs und dem Wissen Gottes ist: Da antwortete der Herr dem Hiob aus dem Wettersturm und sprach: Wer ist es, der den Ratschluß verdunkelt mit Gerede ohne Einsicht? Auf, gürte deine Lenden wie ein Mann: Ich will dich fragen, du belehre mich! Wo warst du, als ich die Erde gegründet? Sag es denn,wenn du Bescheid weißt. Wer setzte ihre Maße? Du weißt es ja. Wer hat die Meßschnur über ihr gespannt? Wohin sind ihre Pfeiler eingesenkt? Oder wer hat ihren Eckstein gelegt, als alle Morgensterne jauchzten, als jubelten alle Gottessöhne? […] Bist du zu den Quellen des Meeres gekommen, hast du des Urgrunds Tiefe durchwandert? Haben dir sich die Tore des Todes geöffnet, hast du der Finsternis Tore geschaut? Hast du der Erde Breiten überblickt? Sag es, wenn du das alles weißt. Wo ist der Weg zur Wohnstatt des Lichts? Die Finsternis, wo hat sie ihren Ort, daß du sie einführst in ihren Bereich, die Pfade zu ihrem Haus sie führst? Du weißt es ja; du wurdest damals ja geboren, und deiner Tage Zahl ist groß. (38, 1– 7, 16 – 21)
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Hiob beklagt sich darüber, dass Gott anscheinend keinen guten Grund dafür hat, das Übel, das ihm zustößt, zuzulassen. Er vermutet, dass Gott gar keinen guten Grund hat, da er – Hiob – sich nicht vorstellen kann, welcher Grund das sein könnte. Darauf antwortet Gott nicht, indem er ihm den Grund nennt, sondern statt dessen greift er Hiobs gedankenlose Annahme an, wenn er (Hiob) außerstande sei, sich den Grund vorzustellen, den Gott haben könnte, habe Gott wahrscheinlich gar keinen Grund. Diese Annahme attackiert Gott, indem er darauf hinweist, wie begrenzt das Wissen Hiobs auf diesem Gebiet ist.⁴⁸ Zweifellos kann er nicht erkennen, welches der Grund Gottes sein könnte, doch daraus folgt nichts Interessantes. Insbesondere folgt daraus nicht, dass Gott wahrscheinlich gar keinen Grund hat. »Schon recht, Hiob, wenn du so gescheit bist und soviel weißt, dann erzähle mir etwas darüber! Sag mir, wie die Welt erschaffen wurde! Berichte mir von den Gottessöhnen, die bei der Schöpfung jubelten! Du warst ja zweifellos dabei.« Und jetzt kommt Hiob zur Einsicht: »So habe ich denn im Unverstand geredet über Dinge, die zu wunderbar für mich und unbegreiflich sind.« Daneben gibt es eine völlig andere Möglichkeit, Hiob zu verstehen; und diese zweite Möglichkeit lässt sich mit der ersten verknüpfen. Im Sinne dieser zweiten Möglichkeit aufgefasst, geht es nicht darum, dass Hiob vermutet oder zu denken geneigt ist, Gott habe wahrscheinlich gar keinen Grund dafür, seine Heimsuchungen zuzulassen. Vielmehr ist es so, dass Hiob einfach zornig wird auf Gott, dass er die Handlungen oder Unterlassungen Gottes hasst und verabscheut, dass er sein Missvergnügen zum Ausdruck bringt – und all dies ganz unabhängig davon, ob er Gott einen Grund zuschreibt oder nicht. »Freilich mag Gott einen Grund haben. Da er Gott ist, wird er natürlich einen Grund haben – oder etwa nicht? Doch ich für mein Teil kann nicht einmal ansatzweise erkennen, was für ein Grund das sein könnte. Und warum muss ich leiden, damit er seine zweifellos famosen Zwecke durchsetzen kann, ohne um Rat gefragt zu werden, ohne ein ›mit Verlaub, bitte‹? Ich kann das nicht ausstehen. Ich bin wütend auf ihn. Wie immer diese ›Gründe‹, die er haben mag, beschaffen sein mögen – sie sind völlig unerforschlich. Und warum sollte ich für diese Dinge, von denen ich keine Ahnung habe, leiden? Diese Gründe kümmern mich überhaupt nicht, und ich verabscheue, was er tut.« Hier wird nicht einmal angedeutet, Gott habe womöglich gar keine Gründe und sei vielleicht sogar ungerecht. Dieser Gedanke kommt hier eigentlich nicht ins Spiel, oder zumindest steht er nicht im Vordergrund. Statt dessen wird Gott misstraut: Es besteht Argwohn ihm und seinen angeblich großartigen Zwe-
Womit er Hiob zugleich dazu auffordert, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, die Gründe Gottes dafür, das Übel zuzulassen, könnten den Gnitzen ähnlicher sein als den Bernhardinern (s. o., S. 553).
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cken gegenüber, und es regt sich Hass auf das, was er Hiob antut und von ihm verlangt – ein Anflug, ja vielleicht mehr als ein Anflug von Auflehnung. Und sobald Gott den Hiob im Wettersturm aufsucht, geschieht es nicht, um ihn davon zu überzeugen, dass Gott in Wirklichkeit doch Gründe hat (was allerdings durchaus unterlaufen mag), sondern um den Sturm in seiner Seele zu beschwichtigen, um ihn zu beruhigen und sein Gottvertrauen wiederherzustellen. Der Herr gewährt Hiob einen Blick auf seine Größe, seine Schönheit, seine glänzende Güte. Die Zweifel und der Tumult verschwinden und werden von Liebe und Vertrauen verdrängt, so dass sich ein Seelenzustand einstellt, der vom Apostel Paulus in all seiner christlichen Vollendung wie folgt zum Ausdruck gebracht wird: Doch all das überwinden wir durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiß: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.⁴⁹
Es ist an der Zeit, ja überfällig, dass dieses Buch und damit diese Trilogie zum Abschluss gebracht wird. In Warrant: The Current Debate und Warrant and Proper Function habe ich im wesentlichen geltend gemacht, dass die einzige tragfähige Antwort auf die Frage »Was ist Erkenntnis?« irgendwo im Bereich des richtigen Funktionierens liegt: Eine Überzeugung ist genau dann gewährleistet, wenn sie von kognitiven Vermögen erzeugt wird, die in einer günstigen epistemischen Umgebung gemäß einem erfolgreich auf die Hervorbringung wahrer Überzeugungen abzielenden Bauplan richtig funktionieren. (Das ist der Grundgedanke. Darüber hinaus bedarf es erheblicher Feineinstellungen, zu denen auch manches gehört, was im 6. Kapitel des vorliegenden Buchs ausgeführt wird.) In diesem – dem abschließenden Band – der Trilogie habe ich in Teil I (Kapitel 1 und 2) zunächst einmal geltend gemacht, dass es so etwas wie den christlichen Glauben wirklich gibt und dass wir (anders als Kaufman, Hick und eine Kant-Lesart behaupten) tatsächlich dazu imstande sind, über Gott zu sprechen und nachzudenken. Im II. Teil, also den nächsten drei Kapiteln, unterscheide ich De-jure-Einwände von De-facto-Einwänden gegen den christlichen Glauben. Die ersteren sollen zeigen, dass ein solcher Glaube in intellektueller bzw. rationaler Hinsicht selbst dann fragwürdig ist, wenn er wahr ist. Seit der Aufklärung werden De-jure-Einwände zwar immer wieder erhoben, aber es fällt nicht leicht anzugeben, was es eigentlich mit ihnen auf sich haben soll. Ich argumentiere hier für die These, dass es im Bereich der Rechtfertigung oder der internen Rationalität Römer 8, 37– 39.
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keinen tragfähigen De-jure-Einwand gibt. Dem einzigen anfangs vielversprechenden Kandidaten für die Rolle eines tragfähigen De-jure-Einwands gegen den christlichen Glauben kann man sich, wie ich dort ausführe, nähern, indem man von Freuds Behauptung ausgeht, der christliche Glaube habe keine Gewähr oder zumindest nicht genug Gewähr, um als Wissen durchzugehen. Freud setzt jedoch schlicht voraus, dass der theistische und folglich der christliche Glaube falsch sei. Daher ist dieser angebliche De-jure-Einwand nicht unabhängig von der Wahrheit des christlichen Glaubens. Wäre der christliche Glaube falsch, hätte Freud vielleicht recht. Aber der De-jure-Einwand sollte unabhängig von der Wahrheit oder Falschheit des Glaubens funktionieren. Also haben wir es hier nicht mit einem erfolgreichen De-jure-Einwand zu tun. Ferner habe ich geltend gemacht, dass das gleiche Schicksal jeden weiteren angeblichen De-jure-Einwand ereilen wird, dessen Formulierung sich auf den Begriff der Gewährleistung stützt. Das liegt daran, dass der christliche Glaube, sofern er wahr ist, höchstwahrscheinlich auch gewährleistet ist. Daher wird jeder Einwand dagegen, dass er gewährleistet sei, auch ein Einwand gegen seine Wahrheit sein müssen. In diesem Fall entpuppt sich der angebliche De-jure-Einwand jedoch als De-facto-Einwand oder er setzt einen De-facto-Einwand voraus. Dementsprechend stellt sich heraus, dass eine weitverbreitete Form der agnostischen Einstellung – »Ich habe keine Ahnung, ob der christliche Glaube wahr ist, aber ich weiß, dass er irrational bzw. nicht gerechtfertigt oder … ist« – nicht verteidigt werden kann. Im 6. Kapitel (Teil III) stelle ich das Thomas-von-Aquin/Calvin-Modell vor, das zeigen soll, inwiefern der Glaube an Gott Gewähr haben kann, und zwar sogar genug Gewähr, um als Wissen zu gelten. Im nächsten Kapitel betrachte ich die noetischen Auswirkungen der Sünde und die Art und Weise, in der die Existenz der Sünde Sand ins Getriebe des A/C-Modells streut. In den Kapiteln 8 und 9 erweitere ich das A/C-Modell in solcher Weise, dass es sowohl mit der Sünde als auch der gesamten Palette des christlichen Glaubens – der Dreifaltigkeit, der Fleischwerdung, dem Sühnopfer und der Auferstehung – zurechtkommt. Im 10. Kapitel werden Einwände gegen dieses Modell behandelt. Im IV.Teil schließlich wende ich mich potentiellen oder wirklichen Bezwingern des christlichen Glaubens zu, also möglichen Gründen, die dafür sprechen sollen, den Glauben preiszugeben oder weniger fest zu vertreten. Besprochen werden projektive Theorien (Kapitel 11), die moderne historisch-kritische Bibelforschung (Kapitel 12), die Postmoderne und der Pluralismus (Kapitel 13) sowie das seit alters schwelende Problem des Übels (Kapitel 14). Auf keinem dieser Wege, so behaupte ich, kommt es zu einem gravierenden Einwand gegen die Gewähr, die dem christlichen Glauben zukommen kann, wenn unser Modell, ja der christliche Glaube selbst wirklich wahr ist. Aber ist er wirklich wahr? Das ist die eigentlich wichtige Frage. Und damit verlassen wir den Zuständigkeitsbereich der Philosophie, die auf diesem Gebiet
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vor allem dazu beitragen kann, bestimmte Einwände, Widerstände und Hindernisse auf dem Weg des christlichen Glaubens auszuräumen. Um für mich selbst – und natürlich nicht im Namen der Philosophie – zu sprechen, kann ich nur sagen, dass dieser Glaube nach meinem Eindruck tatsächlich wahr ist und die wichtigste aller Wahrheiten darstellt.
Bibliographie In der Originalausgabe von Warranted Christian Belief werden alle Literaturhinweise in den Fußnoten vorgenommen und in der Übersetzung auch dort belassen. Auf Wunsch des Verlages haben wir basierend auf Plantingas Quellenangaben zusätzlich eine alphabetisch geordnete Bibliographie erstellt. Wo deutsche Texte (Übersetzungen) verfügbar waren oder im Original ohnehin vorliegen (wie etwa bei Kant), wurden die Angaben entsprechend angepasst. Diese Bibliographie wurde von Christian Prust erstellt. Abraham, William (1985): An Introduction to the Philosophy of Religion, Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall. Abraham, William (1990): »The Epistemological Significance of the Inner Witness of the Holy Spirit«, in: Faith and Philosophy 7 / 4. Adams, Marilyn (1989): »Horrendous Evils and the Goodness of God«, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Supplementary Volume 63. Adams, Marilyn / Adams, Robert (Hgs.) (1990): The Problem of Evil, New York: Oxford University Press. Adams, Robert (1972): »Must God Create the Best?«, in: Philosophical Review 81. Adams, Robert (1977): »Middle Knowledge and the Problem of Evil«, in: American Philosophical Quarterly. Aiken, Henry David (1957): »God and Evil«, in: Ethics 48. Allegro, John (1970): The Sacred Mushroom and the Cross, Garden City, NY: Doubleday. Allen, Diogenes (1980): The Traces of God in a Frequently Hostile World, Lanham, MD: Cowley Publications. Allison, Henry (1983): Kant’s Transcendental Idealism, New Haven, CT: Yale University Press. Alston, William P. (1988): »A Doxastic Practice Approach to Epistemology«, in: Clay, Marjorie / Lehrer, Keith (Hgs.): Knowledge and Skepticism, Boulder, CO: Westview Press. Alston, William P. (1988): »Religious Diversity and Perceptual Knowledge of God«, in: Faith and Philosophy 5 / 4. Alston, William P. (1991): Perceiving God, Ithaca, NY: Cornell University Press. Alston, William P. (1993): The Reliability of Sense Perception, Ithaca, NY: Cornell University Press. Alston, William P. (1994): »Divine Action: Shadow or Substance?«, in: Tracy, Thomas F. (Hg.): The God Who Acts: Philosophical and Theological Explorations, University Park, PA: Pennsylvania State University Press. Alston, William P. (1999): »Biblical Criticism and the Resurrection«, in: Davis, Stephen T. / Kendall, Daniel / O’Collins, Gerald (Hgs.): The Resurrection: An Interdisciplinary Symposium on the Resurrection of Jesus, Oxford: Oxford University Press. Alston, William P.: »The Inductive Argument from Evil and the Human Cognitive Condition«, in: Philosophical Perspectives 5. Ameriks, Karl (1982): »Recent Work on Kant’s Theoretical Philosophy«, in: American Philosophical Quarterly 19. Ameriks, Karl (1992): »Kantian Idealism Today«, in: History of Philosophy Quarterly 9. Armstrong, David (1984): What Is a Law of Nature?, Cambridge: Cambridge University Press. Attridge, Harold (1993): »Calling Jesus Christ«, in: Stump, Eleonore / Flint, Thomas (Hgs.): Hermes and Athena, Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press.
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Register A/C-Modell 194 – 213, 232, 234, 283. – s.a. erweitertes A/C-M. – diesbezügliche Thesen Plantingas 194 – 196, 383 – in Bezug auf Gewährleistung 206 – 208 – in Bezug auf Rationalität 202 – 205 – in Bezug auf Rechtfertigung 205 – 206 – Modelle 194 – u. Sünde 213 – 216 – u. Wahrnehmungs- vs. Erfahrungserkenntnis 209 – 213 Abraham, William 106, 232 – 233, 284, 345 Adams, Marilyn 580, 585 Adams, Robert 31, 547 Aiken, Henry David 547 Aktualismus 135 Allegro, John 473 Allen, Diogenes 83, 104, 184, 586 Allison, Henry 14 Allwissenheit 7 Alston, William 38, 129, 147 – 151, 153, 158, 179, 354, 369, 382, 396, 398, 475, 479 – 480, 501, 542, 552, 554, 559 – über praktische Rationalität 139 – 145 – über Rechtfertigung 122 – 127, – über Wahrnehmung (vs. Erfahrung) Gottes 209 – 211, 338 – 341 Alter, Robert 459 Alvin Plantinga 31 – 32, 78, 135, 154, 547 Ameriks, Karl 14, 22 angemessen basaler Glaube – s. Glaube an Gott, angemessene Basalität Anselm 357 Apostolisches Glaubensbekenntnis 236 Aristoteles 15, 83, 90, 129, 170, 500 Armstrong, David 462 Arroganz – s. Glaube an Gott Attridge, Harold 495 Auerbach, Erich 379 Aufklärung 82, 95, 172, 178, 297, 450 Augsburger Konfession 236
Augustinus 30, 230, 244, 246, 287, 362 – 363, 369, 378, 441, 451, 501 Ayer, A. J. 8, 48 Baillie, John 384 Barth, Karl 287, 441 basale Überzeugungen 96 – 99, 202 – 205, 405 – 413 Bayes, Satz von 269 – 270, 320 Bedingung der Problemlösung (resolution condition) 186 – 188 – s.a. Gewährleistung Beilby, James 269 Bekehrung 367 Belege 96 – 98, 103 – doxastische (impulsbedingte) B. 132, 212, 311, 393 Belegthese (evidentialism) 78 – 80, 94 – 96, 99, 103 – 107, 120 Bergmann, Gustav 509 Bergmann, Michael 423 Beversluis, John 198 Bezwinger XII – XIII, 188, 221, 263, 286, 300, 417 – 418, 421 – 592 – abhängig von noetischer Struktur 424 – 425 – argumentative/ argumentfreie B. 505 – 506 – Gewährbezwinger 423 – 424 – irrationale oder ungerechtfertigte B. 429 – 430 – „optimistischer Entkräfter“ 427 – 428 – Rationalitätsbezwinger 423 – 424, 434 – 435 – rein epistemischer B. 428 – 429 – Teilbezwinger 426 – 427, 434 – untergrabende B. 423 – Wesen des B. 422 – 431 – Widerlegende B. 304, 423 Bezwinger christlichen Glaubens 431 –433 – argumentfreie B. c. G. 572 – 575 – Bibelforschung 309, 315, 441 – 442, 458 – 459, 466, 468 – 470, 475 – 476, 479 – 482, 484 – 486, 490, 494, 496
Register
– historisch-kritische Bibelforschung 441 – 499 – Postmodernismus 500 – 518 – Problem des Bösen 544 – 592 – religiöser Pluralismus 519 – 543 Bibel 234, 239, 285, 293 – 296, 304 – 309, 319 – 331, 335, 441 – 500, 539 – als selbst-beglaubigend 304 – 309 – Autorität der B. 450 – 452 – Inspiration der B. 296, 307, 315, 318 – 320, 442 – 448, 452 – 454 – Interpretation der B. 448–451, 453 –454 – Kanon der B. 444 – 448 – Offenbarung durch Ereignisse oder Propositionen 295 – u. angemessene Basalität 304 – 310 – u. theologische Uneinigkeit 448 – 450 – u. traditionelle Bibelkommentare 451– 454 – wissenschaftliches Studium der B. 456– 460 – Zuverlässigkeit der B. 307 Bird, Graham 14 Blanshard, Brand 104 – 105 Bodin, Jean 519 Bonaventura 284 Bonhoeffer, Dietrich 249 Borg, Marcus 476 Böses 244, 510, 538, 545, 552, 573, 584, 588 – moralisch B. 544 – natürlich B. 422 – s.a. Problem des B. – u. sensus divinitatis 576 – Unnötigkeit des B. 552 – 572 Bradley, F. H. 547 Brown, Raymond 453, 456 Bultmann, Rudolf 290, 464, 476, 478, 480 Calvin, Johannes 52 – 53, 154, 162, 173, 193 – 194, 204 – 205, 211, 234 – 235, 239 – 240, 254, 282, 284, 286 – 287, 310, 314 – 315, 317, 332, 342 – 346, 359, 370, 441, 451 – 452, 471, 496, 501, 539, 541, 583, 587 – u. der sensus divinitatis 196 – 201
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– u. Heiliger Geist 301, 305, 344 – 345 – über die Heilige Schrift 305 – 308, – über die Kenntnis das Wesens Gottes 52 – 53 – über Gläubigkeit 290 – 295, 301 – über Sünde 246 – 247 Calvinismus 257 Camus, Albert 579 Cantors Satz 126 Carnap, Rudolf 8, 90 Carroll, Michael P. 8, 224 Cavin, Robert 325 Celsus 327, 521 Chesterton, G. K. 241, 421 Childs, Brevard 471 – 472, 485 – 487 Chisholm, Roderick 112, 131, 509, 527 Christlich-mystische Praktik 139 – 157 – Agnostizismus bzgl. der Leistungen der c.m. P. 154 Chrysostomos, Johannes 441 Cicero 198 Clifford, W. K. 103 – 104, 483 Collins, John 86, 458, 460 – 461, 463, 475, 485 – 486 Cook, Martin 481 Cooper, John 572 Crisp, Thomas 187 Crossan, John Dominic 474 Cummins, Robert 277 Cupitt, Don 45, 168, 176, 252 Daniels, Charles 168 – 169 Darwin, Charles 160, 271 Darwinismus 482 – s.a. Evolution Davis, Stephen T. 284, 475 Dawkins, Richard 48, 176, 204, 233, 267 – 268, 287 De Bres, Guido 582 De Vries, Paul 526 Deismus, Semi479 Dekonstruktion 500 – 501 Dennet, Daniel 48, 133, 176, 204, 233, 266, 267, 268, 287, 455 Deontologismus, klassischer 94 – 96, 99 – 102 – s.a. Rechtfertigung
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Register
– Variationen des k. D. 121 – 123 Derrida, Jacques 501, 505, 511, 518 Descartes, René 82, 86, 97 – 98, 110, 115, 132, 147, 152, 156, 174, 237, 257 – 258, 407, 462, 517 Devitt, Michael 14 Dewey, John 509, 512 Dole, Andrew 302 Donne, John 370 Dostojewski, Fjodor 407 Draper, Paul 68, 557 – 562, 564, 566, 568, 572 Dreifaltigkeit, Trinität 232, 376 – 378, 579 – 581 – soziale Trinitätsauffassung 378 Dryer, D. P. 14 Duhem, Pierre 466 – 470, 486, 491, 494, 496 – 497 – s.a. historisch-kritische Bibelforschung, duhemianische Durkheim, Emile 422, 433 Edwards, Jonathan 38, 92, 118, 230, 249, 283, 293, 304, 308, 339 – 340, 342, 346 – 360, 362 – 364, 369 – 370, 374, 377, 416, 441, 448, 501 – über die Sünde 347 – 348 – über Intellekt u. Wille 348 – 358 Eigenschaften 16 – 18 Einfachheit 363 – 364 Einstein, Albert 361, 507 Einwände gegen den Glauben an Gott – de-facto-Einwand IX-XI, 3, 193, 195, 222, 226 – de-jure-Einwand IX-XI, 77 – 79, 103, 108 – 109, 119 – 120, 123 – 128, 134 – 136, 138 – 139, 154 – 155, 158, 193, 195, 222, 226 – Verhältnis zw. De-facto- u. De-jure-Einwand 221 – 222 Ellis, Albert 223 Empfindungen, religiöse (affections, religious) 235 – 236, 342 – 381 – Grad der r. E. 365 – u. Analogien der Rationalität, Rechtfertigung u. Gewährleistung 235 – 236 – u. Gewährleistung 365 – 366 – u. Rechtfertigung 365
– u. Sünde 348 – u. willentlich (voluntary) Kontrolle 365 Engels, Friedrich 164, 223 Epikur 545 Epiphänomenalismus 271 – 273, 276 – 278 Erfahrung, religiöse – s. religiöse Erfahrung Erlösung (salvation) 234 – 235, 238, 331 – 333 – das Wesen der E. 240 – 248 – Erbsünde 241 – u. die Empfindungen 242 – 248 – u. Hochmut 246 – 250 Eros 367 – 381 – menschlicher vs. göttlicher E. 378 – 381 – s.a. Glaube an Gott – u. religiöse Erfahrung erweitertes A/C-Modell 283 – 284, 337, 389, 442, 541, 578 – Bezwinger des e. A/C-M.. s. Bezwinger des christlichen Glaubens – diesbezügliche Thesen Plantingas 234, 383, 416 – Einwände gegen e. A/C-M. 382 – 416 – erste Formulierung des e. A/C-M. 236 – 240 – Notwendigkeit des e. A/C-M. 316 – 331 Esterson, Allen 230 Evans, C. Stephen 148, 284, 442, 474 Evidenz, Einleuchten 96 – 98, 103 – doxastische (oder impulsbedingte) E. 132, 212, 311, 393 Evolution 175 – 176, 180, 250, 266 – 282, 389 – u. wahre Überzeugung 271 – 319 Evolutionäres Argument gegen Naturalismus 266 – 282, 332 – 336, 415 – 416 Exklusivismus 519, 522 – als arbiträr 525 – 543 – Definition des E. 522 Fales, Evan 161 Feenstra, Ronald 374, 378 Feldman, Richard 184 Fideismus 84 Findlay J. N. 498 Finke, Roger 225
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Fitelson, Branden 269 Fleischwerdung 234 Flew, Antony 8, 105, 117 Flint, Thomas 495, 547 F&M-Einwand 159 – 179, 182, 188 – 190, 193 – 194, 205 – 206, 223 – 231 – s.a. Freud, Sigmund; Marx, Karl Fodor, Jerry 268, 477 Foucault, Michel 81 Franz von Sales 369 Fraser, Alexander 83 Freddoso, Alfred 95 Frege, Gottlob 31, 406, 426 Frei, Hans 291 freier Wille 303, 547 – 548 – selektive Freiheit 547 Fremdaussagen, Zeugnis (testimony) 171 – 172, 216, 251 – 252, 294 – 295, 303, 315, 441 – u. Übertragung auf Gewährleistung 412, 429 – 430, 444 Freud, Sigmund 117, 158 – 169, 174, 177 – 178, 188 – 190, 193, 212 – 213, 216, 218, 222 – 224, 226 – 231, 233, 347, 350, 360 – 362, 364 – 365, 371 – 379, 422, 427, 433 – 434, 489, 505, 511, 575, 582, 592 – s.a. Wunscherfüllung Frye, Northrop 167 – 168 Fuller, Margaret 290 fundierende (foundational) Überzeugungen 97 – 99 Fundierungsgedanke, klassischer (Foundationalism, Classical) 94 – 99, 108 – 116, 482, 500, 531 – Chisholms Verteidigung des F. 111 – 114 – Selbstreferentielle Inkohärenz 110 – 114 – Variationen zum F. 120 – 121 – Verhältnis zu Belegen 96 – 98 Funktion. 170 – 171, 180 – 181 – s.a. richtiges Funktionieren; Gewährleistung Gale, Richard 105, 354, 396 – 404, 559 Gaskin, J. C. A. 105 Gellner, Ernest 501 genetischer Fehlschluss 225
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Gettier-Beispiel 183 – 184, 219, 337 – 338 Gewährleistung (warrant) X, 158, 179 – 188, 193 – 231, 232 – 233, 237, 240, 283 – 284, 289, 409 – 416, 565 – abgeleitete Gewährleistung 335 – 336 – als richtiges Funktionieren 179 – 180, 181 – Grade der G. 542 – relativ zu Umständen/Umwelt 507 – 508 – u. Bauplan 180, 183, 577 – 578 – u. Bedingungen der Problemlösung 184 – 188 – u. Evidenz-Berücksichtigung 567 – 568 – u. falsche Überzeugung 216 – 218 – u. F&M-Einwand 188 – u. Gettier-Beispiele 183 – 186 – u. Gläubigkeit 301 – 303, 318 – 320 – u. günstige Umwelt, Umgebung 181 – 182 – u. irreführende Evidenz 185 – 187 – u. kognitive Mini/Maxiumgebung 186 – 188, 301 – 302, 424 – 425, 570 – u. Produktion übernatürlicher Überzeugung 288 – 289 – u. religiöse Erfahrung 384 – 418 – u. richtige Basalität 206 – 207 – u. schlecht funktionierende kognitive Fähigkeiten 338 – u. Wahrheit 182 – 184 – u. Zeugnis 412, 429 – 230 Gewissheit 97 Gilkey, Langdon 465, 475 – 477, 479, 488 Gilson, Etienne 197, 496 Ginet, Carl 179, 424 Glaube an Gott – als eine Hypothese 106 – 108, 388 – 390, 437, 565 – 566 – als Selbstbeglaubigung 304 – 309 – als übernatürliches Geschenk 288, 289 – als Wahrnehmungswissen 209 – 213, 338 – 341, 397 – 399 – angemessene Basalität des G. a. G. 202 – 206, 304 – 305, 308, 311 – 315, 405 – 413 – angemessene Basalität in Bezug auf Gewährleistung 206 – 208, 216 – 221, 405, 409 – 416
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– bewusste (voluntary) Kontrolle des Glaubens 199 – 200 – Bezwinger des G. a. G 421 – 593 – Einwände gegen G. a. G.. s. Einwände gegen den G. a. G. – falsch, aber gewährleistet? 216 – 218 – G.a.G. u. Arroganz 297 – 298, 525 – 531 – G. a. G. vs. Glaube, dass Gott existiert 345 – 346 – Grad des Glaubens 310 – Mangel an Erklärungskraft 436 – 439 – naturalistische Erklärungen des G. a. G. 169 – Projektionstheorien des G. a. G. 422, 433 – 440 – s.a. sensus divinitatis – u. andere Religionen 413 – 416 – u. die Beziehung zw. Verstand u. Wille 348 – 358 – u. die Bibel 442 – 499 – u. die Schönheit u. Herrlichkeit der großen Dinge des Evangeliums 355 – u. Erfahrung 209 – 213 – u. Geschichte 497 – 499 – u. religiöse Empfindungen 342 – 381 – u. religiöse Erfahrung 384 – 418 – u. Sünde 213 – 216 – u. Wahrheit 194 – 196, 233, 502 – 503, 592 – u. Wunscherfüllung 363 – wahr, aber ohne Gewähr? 219 – 221 – wenn durch „normale Fähigkeiten“ erzeugt 318 – 319 Glaubensbereitschaft (credulity) 172 Gläubigkeit (faith) 193, 216, 233 – 234, 240, 289 – 341, 357, 491 – 492 – als „Glaubenssprung“ 310 – 311 – Calvins Definition der G. 291 – Inhalt der G. 291 – 292 – Mark Twains Meinung über G. 290 – 291 – u. andere überzeugungschaffende Mechanismen 308 – u. der Wille u. Empfindungen 240, 290, 317 – 318, 345 – u. Evidenz 312 – u. externe Rationalität 301 – 304 – u. Gewährleistung 301 – 304
– u. historisch-kritische Bibelforschung 487 – 497 – u. interne Rationalität 299 – 300 – u. Rechtfertigung 296 – 299 – u. Wissen 301 God, Freedom, and Evil 546, 547 God and Other Minds 78, 79 – 80, 94, 159 Gödel, Kurt 522 Goodman, Nelson 363 Gott – Bezug zu G. 3 – 74 – Ungerührtheit (impassibility) 276 – 377 – Wahrnehmung von G. 209 – 213 Gottesbild 238 – enges G. 238 – Weites G. 238 göttliche Rede 443 – s.a. Wolterstorff, Nicholas Griechische Philosophie u. die Bibel 376 Grim, Patrick 7, 235 Großer-Kürbis-Einwand 405 – 408 – Sohn des großen Kürbis 408 – 416 Grünbaum, Adolf 178, 230 Gutting, Gary 106, 396, 398, 400, 511 – 513, 531 – 534, 540 – 542 Haas, John 572 Hardy, Lee 526 Harvey, Anthony E. 491 Harvey, Van Austin 442, 461, 464, 473 – 474, 476 – 477, 481, 483 – 485, 487 – 489, 493 Hasker, William 547 Hegel, G. W. F. 164 Heidegger, Martin 243, 501, 505, 517 – 518 Heidelberger Katechismus 71, 145, 227, 236, 242, 290, 292, 301, 340 Heilige Schrift, s. Bibel Heiliger Geist X, 36, 93 – 94,118, 173, 208, 213, 216, 232 – 235, 239 – 240, 283, 285 – 288, 289, 290, 293 – 298, 300 – 306, 315 – 317, 326, 331 – 333, 335, 342, 344, 345, 347 – 349, 359, 445 – 448 – innere Aufforderung des H. G. 153, 173, 208, 233, 240, 293 – 296, 299 – 300, 316, 389, 394, 399, 405, 411, 441, 448, 493, 539, 541, 568
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– u. Hervorbringung der Gläubigkeit 293 – 296 – warum notwendig? 316 – 331 Hempel, Carl 9 Herbert, George 362 Herodot 319 Hick, John 5 – 7, 35, 48 – 60, 62 – 73, 507, 519, 526 – 527, 591 – kantianische Elemente 48 – 49 – mythodologische Wahrheit 65 – 66, 71 – positive vs. negative Eigenschaften 60 – 64 – substantielle vs. formale Eigenschaften 51 – 55 – über religiösen Pluralismus 519 historisch-kritische Bibelforschung X, XVI, 285, 442, 454 – 473, 486 – als Projekt der Aufklärung 454 – 456, – Argumente für h.-k. B. 476 – 487 – duhemianische h.-k. B. 466 – 469, 481, 486 – 487, 491 – 494, 496 – 497 – Effektivität der h.-k. B. 497 – 499 – Gründe für Ablehnung der h.-k. B. 487 – 497 – nichttroeltschianische h.-k. B. 490 – 495, 498 – spinozistische h.-k. B. 469 – 471, 481, 488, 491 – 492, 496 – troeltschianische h.-k. B. 460 – 466, 477 – 484, 485 – 489, 496 – 498 – u. Gläubigkeit 456 – 460 – u. traditionelle Bibelkommentare 495 – 497 – u. wissenschaftliches Studium der Heiligen Schrift 456 – 457 – Uneinigkeit innerhalb der h.-k. B. 475 historischer Relativismus – s. Relativismus, historischer u. kultureller HKB – s. historisch-kritische Bibelforschung Howsepian, Albert 235 Hume, David 9, 20, 86, 95, 105, 107 – 108, 114 – 115, 153, 166 – 167, 182, 203, 215, 233, 251, 255 – 268, 280 – 283, 307, 336, 351, 414 – 415, 477, 498, 545, 558 Huxley, T. H. 271 – 272
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IAHG – s. Heiliger Geist, innere Aufforderung des Iannaccone, Laurence 225 Induktion 171 Inkohärenz, selbstbezüglichkeitsbedingte (self-referential incoherence) 110 – 114, 529 Introspektion 171 Involuntarismus s. Voluntarismus James, William 31, 81, 102 – 104, 135, 310, 367, 369, 377, 384, 460, 547 Jantzen, Grace 501 Jeffreys, Derek 238 Jesus Christus 232, 235, 249, 285, 299, 318 – 327, 331, 342, 442, 444 – 445, 452, 454, 459 – 460 – historischer J. C. 471 – 473, 491, 495, – Leiden J. C. 579 – Notwendigkeit der Erlösung 285 – Wiederauferstehung J. C. 325 – 327, 472 – 473, 478 – 479, 488 Jesus Seminar 458, 476 Johannes Paul II 580 Johnson, Luke Timothy 235, 458 – 459, 472, 492 Jones, E. M. 229 Jowett, Benjamin 457 – 458, 490 Kane, G., Stanley 547 Kant, Immanuel 3, 5 – 16, 18 – 25, 29, 33 – 35, 37, 41, 48 – 50, 59, 68, 78, 86, 95, 200, 320, 477, 517, 591, 594 – Antinomien 24 – 31 – Bezug auf das Noumenon 16 – 23 – „Eine Welt“ Interpretation 13 – 16 – „Zwei Welten“ Interpretation 11 – 14, 18 – 23 Kaufman, Gordon 4 – 6, 18, 35 – 46, 450 – 451, 591 – Einwände gegen das Sprechen über Gott 35 – 44 – Einwände gegen die Vorstellung von Gott als Person 44 – 48 – Verbindung zu Kant 37 Kenny, Anthony 106, 267
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Keynes, J. M. 90 Kierkegaard, Søren 517 Kirche 327 – 328 klassischer Fundamentalismus – s. Fundamentalismus, klassischer klassisches Paket – s. Fundamentalismus, klassischer; Deontologismus, klassischer – u. Evidentialismus Klein, Peter 184, 517 – 518, 588 kognitive Zuverlässigkeit 259 – 266 – Bezwinger der k. Z. 266 – 282 – Vermutung der k.Z. 173, 177, 265 – 266 Kohärenz 133 Konditionalisierung 495 – 497 kontrafaktisch 547 Kreationismus 253 Kretzmann, Norman 95, 120 – 121 Kulturrelativismus – s. Relativismus, historischer u. kultureller Kuyper, Abraham 370, 375, 377, 476, 501, 517, 581 Lacan, Jacques 501 Laplace 107 Lehrer, Keith 140, 153, 172, 235, 241, 259, 301, 333 – 334 Leibniz 59, 363 Leiden 544, 585 – 587 – s.a. Problem des Bösen Levenson, Jon 457 – 458, 471, 487, 494 Levine, Michael 374 Lewis, C.S. 8, 239, 252, 374 – 375, 380 Lewis, David 462, 547 Lindars, Barnabas 458, 494 Lindbeck, George 291 Livingston, James C. 481 Locke, John 81 – 91, 93 – 95, 97 – 103, 105, 109 – 110, 115, 128, 172, 174, 313 – 316, 319, 351, 407, 455, 482 – Ausrichtung von Meinung u. Vernunft 86, 92 – über Deduktion 90 – über Fideismus 84 – über Fremdaussagen 98, 171 – 172 – über Meinung 86 – 89
– über Offenbarung 92 – 94 – über Tradition 85, 172 – über Vernunft 89 – 91 – über verschiedene Arten des Wissens 86 – 89 – über Wahrscheinlichkeit 90, 98 logischer Positivismus 8 Lombard, Peter 246 Lüdemann, Gerd 473 Luther, Martin 246, 287, 340, 345 – 346 MacIntyre, Alasdair 8 Mackie, John 100, 105 – 108, 117, 120 – 121, 233, 387 – 392, 395, 455, 546 – 547, 549 – u. Belegthese 99.100, 107 – 108 – über das Problem des Bösen 546 – 547, 549 – über religiöse Erfahrung 387 – 391 Macmillan, Malcolm 104, 230, 239, 272, 376, 461, 483 Macquarrie, John 297 – 298, 464 – 465, 476 – 479 Martin, Michael 405, 407 – 410, 413 Marx, Karl 117, 158 – 160, 164 – 167, 169, 174, 177 – 178, 189 – 190, 193, 213, 222 – 223, 422, 433 – 434, 505 Matthews, H. E. 14 Mayr, Ernst 268 McCloskey, H. J. 547 McFague, Sallie 5 McGonagall, William E. 57 McMullin, Ernan 490 McTaggart, J. 547 Meier, John 456, 469, 491 – 492 Meinong, Alexius 508 Menzel, Christopher 332 – 333 Merricks, Trenton 186 Metaphysik 466 – 468 methodologischer Naturalismus 456 – 460, 467 – 469 Mill, John Stuart 24, 227, 547 Milton, John 244, 343, 362, 371 Mitchell, Basil 106 Mitgefühl 172 Modelle 194 – s.a. A/C-Modell; erweitertes A/C-Modell
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Möglichkeit – epistemische vs. logische M. 194, 195 Moore, Brian 242 Mormonismus 235 Morris, Thomas 332, 554, 575 Muyskens, James 310 Naturalismus XVII, 520 – das evolutionäre Argument gegen N. 266 – 282 Nature of Necessity, The 31, 39, 63, 136, 547 Naturgesetze (natural laws) 204, 462 – 466 natürliche Theologie 78, 153, 197, 202 – 203, 207 negative Theologie 5, 51 – 53 Neuer Katholischer Katechismus 236 Newman, John 114, 540 Niederländisches Glaubensbekenntnis 447, 582 Nielsen, Kai 117 Nietzsche, Friedrich 67, 117, 145, 159 – 160, 166, 233, 343, 501, 505, 518 Nizänisches Glaubensbekenntnis 235 Noble, Paul 416 noetische Auswirkung der Sünde – s. Sünde, noetische Auswirkungen der Sünde Nygren, Anders 376 Oakes, Edward T. 201, 251 Ockhams Rasiermesser 435 – 436 Offenbarung, göttliche 92 – 94 O′Hair, Madalyn Murray 48 O′Hear, Anthony 105, 384 – 388, 392 ontologisches Argument 63 Origines 521 Ostler, Blake T. 235 Ostow, Mortimer 371 Otte, Richard 577 Otto, Rudolf 52, 212, 242, 519 Parität, epistemische 536 – 538 Pascal, Blaise 244 – 245, 346, 517
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Paulus von Tarsus (Apostel Paulus) 115 – 116, 193, 197, 210, 231, 245, 252, 286, 296, 316, 331, 340, 342 Pauw, Amy Plantinga 370 Peirce, Charles Sanders 98, 201, 251 Penelhum, Terence 106 Perrin, Norman 325 Pflicht, epistemische 115 – 116, 205, 531 – 532 – objektive vs. subjektive e. P. 116 – s.a. Deontologismus, klassischer – u. Arroganz / Egoismus 532 – 543 Phillips, D. Z. 9 Piper, John 378 Plantinga, Cornelius 135, 159, 179, 184, 198, 266, 269, 302, 334, 378, 405, 408, 423, 554 – 555, 562, 577, 582, 594 Plaskow, Judith 175 – 176 Platon 83, 87, 170, 179, 452, 457, 483 – 484 Pluralismus s. religiöser Pluralismus Pollock, John 135, 423 Postliberalismus 291 Postmodernismus 291, 297, 453 – als Bezwinger christlichen Glaubens 500 – 501, 504 – 518 – u. Absicht des Autors 453 – u. der Tod der Erkenntnistheorie 83 – u. historische Bedingtheit 506 – 508 – über Argumentation u. Bezwinger 505 – über Wahrheit 502 – 503, 508 – 520 – widerspricht er dem christlichen Glauben? 501 – 504 Preus, J. Samuel 169 Pringle, William 471 Problem des Bösen X, XII, 136, 506, 544 – 545 – als argumentfreier Bezwinger christlichen Glaubens 572 – 575 – als erfolgreicher Bezwinger christlichen Glaubens 571 – 572, 583 – 584 – evidentes (evidential) P. d. B. 548 – 572 – logisches P. d. B. 546 – 551 – Themen unter der Rubrik des P. d. B. 545 – u. das Buch Hiob 587 – 591
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– Zweck des P. d. B. 551 Psychoanalyse 163, 228 Quine, W. V. O. 254, 258, 275 Quinn, Philip 111, 421 – 422, 431, 433, 435, 439, 546, 584 Rationalität XII, 128 – 157, 206, 215, 232, 283 – 284, 408 – 410 – als richtiges Funktionieren 130 – 134 – Aristotelische R. 129, 130, 134, 135, 137 – deontologische R. – externe R. 133 – 134, 233, 237, 289, 301 – 304, 423 – interne R. 130 – 133, 233, 236 – 237, 289, 299, 430, 584 – praktische R. im Sinne Alstons 139 – 157, 338 – u. die Leistungen der Vernunft 134 – 136 – u. Kohärenz 133 – u. theologische Meinungsverschiedenheiten 300 – Zweck-Mittel-R. 137 – 139, 143 Rawls, John 144 Reale, das s. Hick, John Realismus, theologischer 168 Reason and Belief in God 78, 95, 96, 97, 109, 112, 158, 199, 203, 205, 249 Recht, epistemisches – s. Klassischer Deontologismus Rechtfertigung (in Bezug auf die Erlösung) 312 Rechtfertigung (in Bezug auf Erkenntnistheorie XI, 80 – 81, 102, 109, 117 – 119, 128, 205 – 206, 216, 233, 237, 283 – 284, 289, 338, 410 – 411, 532 – 533 – Alston-R. 122 – 127, 158 – objektive vs. subjektive R. 119, 236 – 237 – u. Gläubigkeit 296 – 299 – u. Rationalität 129 Reformation 82 reformierte Erkenntnistheorie 232 reformierte Scholastik 344 reformierte Theologie 233, 298 Regeneration. 331, 356 – s.a. Erlösung
Reid, Thomas 95, 114 – 115, 140, 153, 172, 203, 252, 255, 257 – 259, 261, 265, 303, 455, 498, 512 Relativismus – epistemischer R. 513 – historischer u. kultureller R. 501, 506 – 508 religiöse Erfahrung 209 – 213, 304 – Einwände gegen Gewährleistung durch r. E. 384 – 418 – Kognitivität 396 – 404 religiöse Sprache 36 – 73 religiöser Pluralismus XX, 500 – als wahrscheinlicher Bezwinger christlichen Glaubens 523 – 525 – Auswirkung auf christlichen Glauben 542 – 543 – u. Arbitrarität christlichen Glaubens 523 – 527 – u. Arroganz/Egoismus christlichen Glaubens 531 – 542 Repräsentationalismus 512 – 513 Rey, Abel 466 – 467 richtiges Funktionieren (proper function) XIV, 156, 170, 180 – 181 – s.a. Gewährleistung Rorty, Richard 133, 154, 243, 245, 258, 501, 505, 508 – 516, 518, 534 – über Wahrheit 510 Rousseau, Jean-Jacques 166, 224 Rowe, William 105, 552 – 557, 572 Runzo, Joseph 520 Russell, Bertrand 31, 48, 105, 135, 184, 214 – 215, 261, 266, 406, 426, 559 Russell, Bruce 554 Ryan, Sharon 186 Sagan, Carl 235 Salmon, Nathan 135 Salmon, Wesley 105 Sanders, E. P. 457 – 458, 469, 494 Sartre, Jean-Paul 375, 501 Satan 334, 587 Schellenberg, J.L. 523 – 524 Schmidt, Wilhelm 161, 519 Schönheit u. Herrlichkeit der großen Dinge des Evangeliums (the great things of the
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gospel) 92, 118, 291, 292 – 293, 296, 358 – 360 – u. Schlussfolgerung 358 – 360 Schweitzer, Albert 495 scientia 83, 95 Scougal, Henry 369 – 370 Scriven, Michael 105 Selbstevidenz 87 – 88, 134 – 135, 151, 306 – 308 – s. Evidenz, Einleuchten semantischer Epiphänomenalismus 271 – 272 sensus divinitatis 153, 154, 162, 173, 199 – 203, 205, 208, 210 – 213, 216, 232, 239, 250 – 253, 282, 288, 289, 331 – 332, 359, 389, 394 – 395, 405, 411, 539, 541, 576 – 578, 582 – 585 – Beschädigung des s. d. 245, 250 – 252 – Reparatur des s. d. 331 – 332 – Widerstand gegen s. d. 239 Seraphim von Sarow 345 Sheehan, Thomas 325, 472 – 473, 475 Shope, Robert 183 Simon, Herbert 105, 133, 176, 204, 224, 250, 266 – 267, 455, 473 Skeptizismus 4, 254 – 266, 507 Smith, Huston 476 Smith, J. M. 272 Smith, John E. 118 Smith, Morton 325, 473 Smith, Wilfred Cantwell 526 Sober, Elliott 269 Sokrates 55, 125, 134, 171, 195, 243, 511 Spinoza 455, 470 Stark, Rodney 225 Steup, Matthias 179 Strauss, David 464, 471 strenger Aktualismus 135 Stump, Eleonore 95, 475, 495, 575, 586 – 587 Sudduth, Michael 204 Sühne (atonement) 234 Sünde XI, 220, 232 – 282, 302 – 304, 331 – 334, 372, 506 – als Trägheit (lat. acedia) 251 – Göttliches Heilmittel gegen die S. 234 – 235
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– noetische Auswirkungen der S. 198 – 199, 208, 219, 221, 240, 248 – 253, 331 – 333 – u. die Konsequenzen aus dem Versagen, Gott nicht zu kennen 253 – 282 – u. mangelndes Wissen 266 – 282 – u. Skeptizismus 254 – 266 Sündenfall 246 – 248 s.a. Sünde Swinburne, Richard 106, 179, 307, 313, 319 – 323, 328, 374, 396, 398, 452 Talbott, William 428 Tamburello, Dennis 344 Taylor, James 179 teleologischer Gottesbeweis s. teleologisches Argument teleologisches Argument (argument from design) 549 Teresa von Avila 367, 403 Tertullian 252 Theismus 235 theistische Argumente / Beweise 80, 154, 550 – 551 Theodizee 545 Therese von Lisieux 583 Thiering, Barbara 472 Thomas, der Apostel 15, 86, 95, 193 – 194, 196 – 197, 204, 239, 290, 293 – 296, 299, 312 – 313, 317 – 318, 345, 451, 465, 480, 552 Thomas von Aquin 15, 83, 95, 193, 196, 238, 284, 287, 293, 313, 345, 441, 501, 521 – 522 Thomas-von-Aquin/Calvin-Modell s. A/C-Model Tillich, Paul 235, 251 Troeltsch, Ernst 460 – 466 – s.a. historisch-kritische Bibelforschung, troeltschianische Turner, Donald 550 Tyrell, James 83 Überzeugung (belief) – apriorische Ü. 124, 131, 169, 171, 202, 206 – 207, 212 – 213, 226, 311, 391
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– bewusste (voluntary) Kontrolle über Ü. 113, 122, 144, 527 – Erinnerungsüberzeugungen 124, 131, 150, 202, 206, 226, 308, 390 – 391 – Ethik der Ü. 481 – 485 – Gründe für Ü. 123 – 126 – Meinungsenthaltung 214 – 215 – ob Gott Ü. hat 147 – u. ästhetische Faktoren 362 – 364 – u. Beziehung zum Verhalten 270 – 278 – Wahrnehmungsüberzeugungen 150, 202, 206, 226, 308, 390 unkorrigierbare Überzeugungen 88, 97 f. Van Cleve, James 14 van Fraassen, Bas 205, 245, 266, 273, 462, 498 van Inwagen, Peter 31 – 32, 135, 442, 547, 554, 559 van Til, Cornelius 254 Vander Zee, Leonard 572 Verifikationskriterium des Sinns 8,39 Vernunft 171 – 174 Verstand u. Wille – abhängiges Verhältnis zw. V. u. W. 355 – Priorität 348 – 358 Vitz, Paul 229 Voltaire, François 224 Voluntarismus – u. Empfindungen 365 – u. Überzeugung 112, 122, 144 – 145 Vos, Arvin 294 Wahrheit 252, 500 – 501, 517 – 518, 525 – 526 – als menschliche Konstruktion 500, 508 – 516 – u. Fallibilismus 517 – 518 – u. Sprache 514 – 516 – u. Toleranz 525 – 531 – Verwerfung der W. 502 – 504 Wahrnehmungsüberzeugung (perceptual beliefs) 88 – 89 Wahrscheinlichkeit 523 – 524 – Bayesianische W. 261 – 262, 269 – 271, 320 – epistemische W. 320, 559 – 560, 577
– objektive W. 123, 126, 218, 261 – 262, 270, 320 – u. das Böse 548 – 573 Wainwright, William 105, 354, 396, 398, 416, 552 Wallace, Anthony F. C. 225 Warrant and Proper Function 24, 40, 59, 268, 289, 295, 508, 591 Warrant: the Current Debate 259, 591 Weinberg, Steven 361 – 363, 368 Wells, G. A. 473 Wesley, John 340, 345 Westminster, Bekenntnis v. 236, 373 Westphal, Merold 10, 15, 148, 159 Wilken, Robert 521 Willard, Samuel 254, 370, 374 Wille 238,344 – s.a. Empfindungen, religiöse; Verstand u. Wille, Priorität Willensfreiheit s. freier Wille Willensfreiheitsverteidigung 547 – 548 Williams, Bernard 371, 374, 379 Wilson, Warren 224 Wissen XI, 83, 179, 186, 291, 301, 311 Wittgenstein, Ludwig 9, 140, 512 Wolterstorff, Nicholas 9, 78, 82, 158, 199, 249, 295 – 296, 319, 444, 501 Woozley, A. D. 86 Wunder 317, 336, 465, 472, 476–478, 487 Wunscherfüllung XI, 118, 162 – 164, 165, 226 – 231, 362, 372 – 373, 427 – 429, 433 – s.a. Freud, Sigmund Wykstra, Stephen 105 – 106, 120 – 121, 552, 554 Yale-Theologie Yeago, David
291 456
Zagzebski, Linda 95, 111, 422 Zeis, Johns 95 Zeugnis-Modell 313 – 315, 342 – 381 – s.a. erweitertes A/C-Modell, Notwendigkeit des Z.-M. Zeugnis (testimony) 172, 216, 251, 295 – 296, 303, 315, 412, 430, 441, 444 Zirkularität, epistemische 141
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