Christlicher Glaube und historische Vernunft: Eine interdisziplinäre Untersuchung über die Notwendigkeit eines theologischen Geschichtsverständnisses 9783666562648, 3525562640, 9783525562642


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German Pages [344] Year 1989

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Christlicher Glaube und historische Vernunft: Eine interdisziplinäre Untersuchung über die Notwendigkeit eines theologischen Geschichtsverständnisses
 9783666562648, 3525562640, 9783525562642

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VÔR

ACHIM D U N K E L

Christlicher Glaube und historische Vernunft Eine interdisziplinäre Untersuchung über die Notwendigkeit eines theologischen Geschichtsverständnisses

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Wolfhart Pannenberg und Reinhard Slenczka Band 57

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Dunkel, Achim: Christlicher Glaube und historische Vernunft: eine interdisziplinäre Untersuchung über die Notwendigkeit eines theologischen Geschichtsverständnisses / Achim Dunkel. Göttingen : Vandenhoeck u. Ruprecht, 1989 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie ; Bd. 57) ISBN 3-525-56264-0 NE: GT

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft © 1989 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesetzt aus Garamond auf Digiset 200 Τ 2. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen.

Vorwort

Die Freude ist groß, daß meine im Jahr 1985 abgeschlossene Dissertation nun auch im Druck erscheinen kann. Viele haben das Ihre dazu beigetragen. Allen voran danke ich der DFG, die durch die beträchtliche Höhe ihres Druckkostenzuschusses die Veröffentlichung ermöglicht hat. Ebenso bedanke ich mich bei der VELKD sowie der württembergischen Landeskirche, die die Finanzierung mitunterstützt haben. Angesichts der Kosten fühlt sich der Verfasser gewissermaßen verpflichtet zu hoffen, daß nicht nur die Druckkosten ihr Geld Wert sind, sondern ein bescheidener Anteil auch auf manchen Gedanken fällt, der damit zu Papier gebracht wurde. In diesem Sinne danke ich besonders dem Hause Vandenhoeck & Ruprecht, insbesondere Herrn Dr. Arndt Ruprecht, der mit wohlwollendem Interesse und mit Freundlichkeit die Drucklegung gefördert hat. Im Rückblick auf die Entstehung der Arbeit bleibt mir aber vor allem die Unterstützung und freundschaftliche Begleitung meines verehrten Lehrers, Herrn Prof. Dr. W. Pannenberg D. D., vor Augen. Ihm verdanke ich nicht allein Förderung und Anregung im Fortgang der Arbeit, sondern auch im Werdegang persönlicher Lebenserfahrung. Herrn Prof. Dr. T. Rendtorff danke ich schließlich für die Übernahme des Korreferats. Manch einer mag nachempfinden, wie sehr mit dem Abschluß der Promotion auch lebensgeschichtlich ein Einschnitt gegeben ist, der endgültig den beruflichen Werdegang von der Studienzeit trennt. Daß ich dankbar auf eine schöne und sorglose Studien- und Promotionszeit zurückblicken kann, verdanke ich meinen Eltern, die mich in all den Jahren großzügig und mit liebevoller Anteilnahme unterstützt haben. An sie denke ich, wenn ich mit der Veröffentlichung meiner Dissertation zugleich auf einen wichtigen Teil meines Lebens zurückblicke. München, im Februar 1989

Achim Dunkel

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Inhalt

Vorwort

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Vorbemerkung

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1. Theologie und Geschichte 1.1 Das theologische Interesse an der Geschichte 1.2 Probleme des Geschichtsbegriffs in der Theologie 1.2.1. Die Unterscheidung von Faktum und Bedeutung 1.2.2. Die Enthistorisierung der Geschichte 1.2.3. Sittliche Einsicht und geschichtliche Tat 1.3. Probleme des Geschichtsverständnisses am Beispiel der Kirchengeschichte 1.4. Erwägungen zu einem theologischen Geschichtsverständnis

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2. Geschichte und Geschichtstheorie 2.1. Probleme des geschichtlichen Denkens 2.2. Rekonstruktionsversuche historischer Rationalität 2.2.1. Die methodologische Rekonstruktion historischer Rationalität 2.2.2. Die geschichtstheoretische Rekonstruktion historischer Rationalität I 2.2.3. Zusammenfassung 2.2.4. Die geschichtstheoretische Rekonstruktion historischer Rationalität II 2.2.5. Zusammenfassung 3. Anthropologie und Geschichtstheorie 3.1. Das Konzept einer historischen Anthropologie 3.1.1. T. Nipperdey 3.1.2. O.Köhler 3.2. Geschichte und Sinnbewußtsein

4. Theologische Historik 4.1. Einleitende Bemerkungen 4.2. Der Ansatzpunkt einer theologischen Historik 4.3. Theologische und nicht-theologische Historik 4.4. Geschichte und Identität als Thema theologischer Historik . . . .

Bibliograpie

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303 7

Register

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Namenregister

335

Sachregister

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Vorbemerkung

Die vorliegende Untersuchung widmet sich einem Thema, das in den Auseinandersetzungen um die dialektische Theologie die entscheidenden Gruppierungen in der Theologie geprägt hat, - das heute jedoch weitgehend hinter andere systematische Fragestellungen zurückgetreten ist. Die methodischen und theoretischen Aspekte des Geschichtsbegriffs scheinen keine Probleme mehr zu sein, die die Theologie zur Besinnung auf ihre wissenschaftlichen Grundlagen herausfordern oder gar diese selbst gefährden könnten. Dennoch können die Probleme, die sich mit der Frage nach einem genuin theologischen Geschichtsverständnis verbinden, noch nicht als gelöst angesehen werden. Dem stehen sowohl die innertheologische Sachlage wie auch die Entwicklung, welche die Geschichtswissenschaft insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg genommen hat, entgegen: Zum einen besteht weder in den historischen Disziplinen der Theologie schon ausreichend Klarheit über die methodischen Grundlagen ihrer Forschung und der theologischen Relevanz ihrer Ergebnisse; noch gibt es ein Einverständnis über diejenigen theoretischen Implikationen des Geschichtsbegriffs, die eine eindeutige Zuordnung und gegenseitige Ergänzung der Methoden und Ergebnisse historischer und systematischer Arbeit ermöglichen. Zum anderen hat die geschichtswissenschaftliche Diskusion selbst zu einer immer noch zunehmenden Differenzierung der theoretischen Grundlagen des Geschichtsbegriffs geführt, die in die theologische Diskussion bis jetzt kaum Eingang gefunden haben. Es ist vor allem die aktuelle Diskussionslage der Geschichtswissenschaft selbst, welche die Theologie erneut mit den Problemen geschichtlichen Denkens konfrontiert. Die folgenden Ausführungen beabsichtigen daher in erster Linie eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Entwicklungen der historischen Theoriebildung. Es muß sich dann grundsätzlich die Frage nach der hierfür angemessenen Yorgehensweise stellen. Eine vollständige monographische Darstellung der in Frage kommenden Theoriebildung scheint angesichts der unübersehbaren Fülle einschlägiger Veröffentlichungen unmöglich Gegenstand einer begrenzten Aufgabenstellung sein zu können. Eine solche Darstellung wäre im Rahmen einer theologischen Behandlung des Geschichtsthemas ohnedies nur dann sinnvoll, wenn ihr bereits ein 9

sytematisch formuliertes Interesse am Geschichtsbegriff zugrundegelegt werden kann. Das Interesse der Themenstellung gilt daher auch nicht so sehr der monographischen Darstellung, als vielmehr der Beschreibung systematischer Fragestellungen, die für die interdisziplinäre Diskussion exemplarische und richtungsweisende Bedeutung gewinnen können. In diesem Sinne nimmt die Arbeit ihren Ausgang von bestimmten Problemstellungen, die als Vorgaben der bisherigen theologischen Behandlung des Themas gelten können, Ansätze für eine interdisziplinäre Orientierung über die Notwendigkeiten und Möglichkeiten eines genuin theologischen Verständnisses von Geschichte und geschichtlicher Theoriebildung zu gewinnen.

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1. Theologie und Geschichte

1.1. Das theologische Interesse an der Geschichte Das theologische Interesse an der Geschichte ist in besonderer Weise mit der Tatsache der unwiederholbaren Zeitlichkeit des Auftretens Jesu verbunden. Es ist die kontingente Faktizität dieses Geschehens, welche das christliche Wahrheitsbewußtsein selbst wesentlich als geschichtliches bestimmt sein läßt. „Wir können gar nicht von Offenbarung reden, wenn wir damit nicht eine irgendwie geschichtliche meinen." 1 In diesem elementaren Sinne kann die Bedeutung der Geschichte für die Theologie daher niemals strittig werden 2 . Strittig war und ist vielmehr die begriffliche Auslegung dieses Geschichtsbezuges im Kontext theologischer Reflexion. Denn der Glaube verhält sich zu jenem Ereignis nicht in unmittelbar erlebter Gleichzeitigkeit, sondern im Modus der Erinnerung, die damit ebenfalls zu einem Aspekt jenes Geschichtsbezuges wird. Der Ausdruck „Geschichte" ist in diesem Zusammenhang äußerst vieldeutig, da sich mit ihm recht unterschiedliche Probleme und Erwartungen der geschichtswissenschaftlichen und geschichtsphilosophischen Begriffsbildung verbinden. 1

W. Wiesner, Offenbarung und Geschichte. In: ZSyTh 5 (1928), S.313-346; S.313. Vgl. W. Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte. In: Ders., Grundfragen systematischer Theologie Bd. 1, 2. durchgesehene Auflage Göttingen 1971, S. 22-78; S.22. Es erübrigt sich hier, auf entsprechende Bekräftigungen seitens der Theologie im einzelnen einzugehen. Vgl. als Beispiel nur G. Ebeling, Das Wesen des christlichen Glaubens. Gütersloh 1977, 4. Aufl., S.42: J e s u s ist keine mythische, sondern eine geschichtliche Gestalt. Hätte Jesus nicht gelebt oder würde sich der Glaube an ihn als ein Mißverständnis dessen erweisen, worum es dem historischen Jesus zu tun war, so würde offenbar dem christlichen Glauben der Boden entzogen." Ahnlich äußerte sich schon Th. Häring, „Gäbe es Gewißheit des christlichen Glaubens, wenn es geschichtliche Gewißheit von der Ungeschichtlichkeit der Geschichte Jesu gäbe?" - „Ist", so fragt Häring, „Gewißheit des christlichen Glaubens möglich, wenn die Geschichte Jesu als ungeschichtlich erwiesen würde?" Seine Antwort: „Nein, es ist unmöglich. Das muß unzweideutig ausgesprochen werden ... das Nein ist notwendig, es ergibt sich aus dem Wesen des Glaubens. So gewiß er nämlich nicht eine Folge der geschichtlichen Gewißheit ist in dem Sinn, daß er entstehen müßte, wo diese vorhanden ist, so gewiß ist er eine Folge der geschichtlichen Gewißheit in dem Sinn, daß diese nicht endgültig verneint werden darf. Denn die Geschichte als solche hat eine glaubenwirkende Kraft, wenn sie auch gewiß nicht die einzige den Glauben wirkende Kraft ist. Es ist nicht einmal genug, sie die Vorbedingung zu nennen, dabei könnte jedenfalls das Verhältnis zu äußerlich gedacht werden. Fundament ist sie, freilich nicht das Fundament überhaupt, nicht das Ganze in jedem Sinn." 1

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Es bedarf daher einer vorausgehenden Verständigung darüber, unter welchen Gesichtspunkten die Geschichtsthematik im Folgenden Gegenstand theologischen Fragens sein soll und welche Probleme dabei im Interesse einer überschaubaren Darstellung ausgeklammert werden müssen. Die Tatsache, daß christlicher Glaube sich auf vergangene Ereignisse bezieht, scheint es zunächst nahezulegen, Geschichte als Inbegriff der in einer abgeschlossenen Vergangenheit stattgefundenen Ereignisse zu verstehen. Tatsächlich hat sich die Diskussion der Methodenprobleme in den historischen Disziplinen der Theologie weitgehend an diesem Geschichtsverständnis orientiert und sich damit direkt oder indirekt dem Erkenntnisideal der fachwissenschaftlichen Geschichtsforschung angepaßt. Das historische Interesse richtet sich dann auf die rekonstruierende Darstellung des Vergangenen, insoweit es durch die Anwendung methodischer Regeln zum Gegenstand des Wissens wird. Unbeschadet mancher Einzelprobleme und methodologischer Kontroversen läßt sich kaum bestreiten, daß die historische Wissenschaft auf diesem Wege zu gut begründeten Ergebnissen kommt. Die Ergebnisse erscheinen dabei umso seriöser, je mehr sich die Geschichtswissenschaft philosophischer Annahmen und Theorien über den Sinn der Geschichte enthält. Das heißt nicht, daß die Geschichte überhaupt ohne Sinn und Bedeutung ist. Aber Sinn und Bedeutung sind selbst durch den Fortgang des Geschehens begrenzt und vergangen. Die Tatsache, daß ein bestimmtes Ereignis, wie ζ. B. der Ausbruch der Pest, für die damals Lebenden wirklich die Bedeutung einer göttlichen Strafe hatte, macht diese Bedeutung für die Gegenwart nicht akzeptabler. Stattdessen bestimmt sich der für die Gegenwart noch mögliche Sinn vergangener Geschichte im Sinnhorizont der Gegenwart. Im Falle der Unvereinbarkeit damaliger und heutiger Sinnerfahrung wird die Gegenwart vielfach sogar zu einer kritischen Gegeninstanz geschichtlicher Sinngebung und Sinnerfahrung. Diese traditionskritische Begrenzung geschichtlicher Überlieferung hat ihren Grund vor allem in der Anthropozentrik neuzeitlichen Geschichtsdenkens. Es sind die Kriterien vernünftiger Praxis, welche die Vergangenheit in Beziehung zur Gegenwart setzen und über deren Bedeutung entscheiden. Ausschlaggebend für eine positive Formulierung dieser Beziehung ist die Praktikabilität bzw. gegenwärtige Akzeptanz solcher Vernunftskriterien. Je nachdem kann dabei die Vergangenheit als Vorbild gegenwärtiger Praxis dienen, oder aber die Gegenwart sich als Fortsetzung vergangener Praxis begreifen 3 . Wo dieser 3 Das gebräuchlichste Modell dieser Beziehung ist zur Zeit wohl die exemplarische Funktion der Vergangenheit f ü r die gegenwärtige Praxis. Die These von R. Kosellek, daß im neuzeitlichen Kontext der Topos der Geschichte als Lehrmeisterin („historia magistra vitae") nicht mehr gilt, trifft de facto in dieser Einseitigkeit gar nicht zu. Im Gegenteil könnte man sagen, daß die Funktionalisierung vernünftiger Praxis zu einer fast beliebi-

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Zusammenhang jedoch nicht mehr gewährleistet ist, kommt es entweder zur Distanznahme von der Vergangenheit, oder aber, im extremen Fall, wenn die Bedeutung des Uberlieferten sich in den anthropologischen Horizont möglicher Praxis unter keinen Umständen mehr einfügt, zur Bestreitung historischer Faktizität selbst4. Wie vermag unter solchen Bedingungen die Theologie ihr Interesse an der Geschichte zu artikulieren? Geschieht das schon dadurch, daß sie sich forschend an den „historischen Jesus" und sein Geschick erinnert? Das wäre problematisch, weil dann auch das theologische Interesse an der Geschichte den eben beschriebenen Beschränkungen unterliegt: Der damals lebende und leidende Jesus hat keine unmittelbar gültige Normativität für die Gegenwart 5 . Nicht einmal das als Auferstehung überlieferte Ereignis macht dann davon eine Ausnahme. Denn es läßt sich zwar ein Historiker vorstellen, der nicht bestreitet, daß mit dem Ausdruck „Auferstehung" ein Ereignis beschrieben wurde. Aber die für den Historiker eigentlich relevante Frage ist die, ob die Beschreibung des Ereignisses als Auferstehung, bzw. die Bedeutung, die gen Konvertierbarkeit der Bedingungen menschlichen Handelns geführt haben, die ihrerseits Bedingungen für die exemplarische Funktion der Geschichte ist. 4 Daß die Kriterien vernünftiger Praxis keineswegs für alle in einer Gegenwart lebenden Subjekte immer die gleichen sind und daher nicht nur als kritischer Maßstab der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart gelten, kann man sich ζ. B. daran deutlich machen, daß die Satellitenübertragung der ersten Mondlandung von manchen ungläubig staunenden Zeitgenossen für eine Vortäuschung gehalten und das Stattfinden einer wirklichen Mondlandung bestritten wurde. 5 Bestenfalls scheint er den heute Lebenden noch als Vorbild in kontroversen Fragen gegenwärtiger Lebenspraxis zu imponieren. Das belegt mit wünschenswerter Deutlichkeit die Kontroverse um die friedenspolitischen Konsequenzen aus der Verkündigung und dem Wirken Jesu. Vgl. dazu F.Alt, Frieden ist möglich. Die Politik der Bergpredigt. 12. Aufl. München Zürich 1983 und die Entgegnung von Michael N. Ebertz, Die Bergpredigt in der Jesus- und in der Friedensbewegung. Eine Auseinandersetzung mit Franz Alt. In: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik 39 (1984), S. 15-23. Ebertz zeigt auf, welche Grenzen die Berufung auf den historischen Jesus an der Historie selbst hat: Ebertz versucht, „die .Ethik' der Bergpredigt, besonders die Forderung des Gewaltverzichts und der Feindesliebe in ihrer ,sozialen Handlungsorientierung' zu sehen, also auf dem historisch-gesellschaftlichen Hintergrund, an den sie gebunden war und gebunden bleibt" (ebd. S. 17). Nach seiner Untersuchung kommt Ebertz zu dem Schluß: „Mit der Bergpredigt in der gegenwärtigen politischen Situation zu argumentieren, macht ... keinen Sinn: denn mit der Lage des jüdisch-palästinensischen Volkes vor zweitausend Jahren korrespondieren keine gegenwärtigen Strukturen" (ebd. S. 20). Zur historischen Analyse des Problems und seiner „Aktualisierung" für die Gegenwart vgl. auch P. Hoffmann, Tradition und Situation. Zur „Verbindlichkeit" des Gebots der Feindesliebe in der synoptischen Uberlieferung und in der gegenwärtigen Friedensdiskussion. In: K. Kertelge (Hg.), Ethik im Neuen Testament. Freiburg Basel Wien, S. 50-118. Ungeachtet des Problems der historischen Distanz wäre die Inanspruchnahme Jesu als Vorbild für gegenwärtige Praxis lediglich ein Ausdruck jener oben erwähnten Anthropologisierung und würde somit die Besonderheit des theologischen Interesses an der Geschichte Jesu nicht treffen können.

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dem Ereignis damit beigelegt wird, auch heute noch evident in einem normativen Sinne ist, wobei unter normativ die Wahrheitsfähigkeit und -Verbindlichkeit im Kontext gegenwärtiger Welt- und Selbsterfahrung gemeint ist. Denn im Kontext der alttestamentlichen, mehr noch der apokalyptischen Welterfahrung hat die Rede von der Auferstehung zwar eine für den Historiker nachvollziehbare „historische" Evidenz, ja sogar eine für die damalige Zeit erkennbare normative Evidenz. Aber als bloß Vergangenes hat sie keine normative Evidenz für die Gegenwart. Damit ist implizit immer schon die Frage gestellt, wie sich die normative Evidenz von Ereignissen unter den Bedingungen sich verändernder Wirklichkeitserfahrung tradieren und im Zusammenhang geschichtlicher Erfahrung begreifen läßt. Denn das Bewahren von Traditionen hat, wie W.Kasper betont, „nur dann einen Sinn, wenn man überzeugt ist, daß sie sich an den Problemen der Gegenwart und Zukunft bewährt. Tradition kann gar nicht rein museal, sondern nur auf Zukunft hin weitergegeben werden" 6 . Für den Glauben scheint die Begrenzung des Geschichtsbewußtseins auf den Begriff einer abgeschlossenen Vergangenheit erst recht problematisch zu sein, weil er bei aller historischen Kenntnis die bleibende Normativität des Geschehens, auf das er sich bezieht, letztlich auf Autorität hin oder aber aufgrund eines subjektiven Entschlusses 7 anzunehmen gezwungen wäre, insofern er keine eigene Erfahrung der normativen Evidenz des damals Geschehenen hat 8 . Die Eigenart des Glaubens wäre damit jedoch verfehlt. Denn der Glaube gründet nicht auf Autorität, sondern auf selbständiger Gewißheit. Es ist in der Eigenart des 6 W . K a s p e r , T r a d i t i o n als Erkenntnisprinzip. Systematische Ü b e r l e g u n g e n z u r theologischen R e l e v a n z der Geschichte. In: T h e o l . Q u a r t . 155 (1975), S. 198-215; S . 2 0 1 . 7 Vgl. die zugespitzte F o r m u l i e r u n g von W. Künneth, Z u r F r a g e der Geschichtsgebundenheit des christlichen G l a u b e n s . In: Z S y T h 4 (1930/31), S . 7 3 1 - 7 6 3 ; S . 7 5 5 , d e r z u f o l g e ein Verstehen des überlieferten Zeugnisses „immer ein Akt persönlicher Entscheidung, der aus dem Z e u g n i s selbst nicht unbedingt resultierende irrationale A k t persönlichen Vertrauens o d e r M i ß t r a u e n s " ist. D a h e r hängt „Wert und Gültigkeit eines Zeugnisses . . . in letzter Instanz ab von der persönlichen Entscheidung des Subjekts, daß die S a c h g e mäßheit des Z e u g n i s s e s bejaht, einschränkt oder als Irrtum, Betrug, M y t h u s und L e g e n d e verwirft".

D i e s e A r g u m e n t a t i o n unterscheidet sich freilich in keiner Weise mehr von der gegenwartsbezogenen Anthropozentrik neuzeitlichen Geschichtsdenkens, von der oben die R e d e war. 8 M a n muß dieses Problem zunächst in aller S c h ä r f e sehen und darf nicht vorschnell zu der Antwort greifen, d a ß der G l a u b e seine Gewißheit durch das Wirken des Heiligen Geistes erlangt. Wenn die Gewißheit, die der Heilige Geist vermittelt, zugleich eine Einsicht in die unverwechselbare B e d e u t u n g des Auftretens und Geschicks J e s u von N a z a reths ist, dann besitzt dieses G e s c h e h e n selber eine konstitutive Funktion f ü r das Wirken des Heiligen Geistes; andernfalls w ü r d e die Gewißheit, die der Geist schenkt, g a r nicht an ein besonderes Ereignis in der Geschichte gebunden sein. Allerdings wäre dann d a s damalige Ereignis als ein historisch in R a u m und Zeit geschehenes überflüssig.

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Glaubens selbst begründet, daß das theologische Interesse an der Geschichte über das Wissen von Vergangenem hinausgeht: Denn für den Glauben ist die Bedeutung des damals Geschehenen gerade nicht durch den Fortgang des Geschehens begrenzt. Die Evidenz des Geschehens für die Gegenwart ist vielmehr dieselbe Evidenz, die das Geschehen in der Vergangenheit hatte; mehr noch: sie wird, worauf christlicher Glauben vertraut, dieselbe Evidenz auch in Zukunft haben. Die entscheidende Frage lautet dann, wie sich diese Identität beschreiben läßt, ohne daß der Glaube die historische Differenz von damals und heute einfach überspringt. Der Glaube wird mythologisch, wenn er sich in unmittelbar erlebte Gleichzeitigkeit mit dem Damals meint versetzen zu können. Daher muß der Glaube seine Identität gerade auch in der Wahrnehmung historischer Differenz begreifen und begründen können. Die historische Differenz darf dabei dem Glauben auch nicht äußerlich bleiben, sondern muß als Strukturmoment des Glaubens selber beschreibbar sein. Ein Ansatzpunkt dafür ist im eschatologischen Charakter des Glaubens gegeben: Der Glaube hat eschatologischen Charakter, insofern er auf die Zukunft des Reiches Gottes bezogen ist. Er ist in ein Geschehen hineingenommen und von ihm bewegt, das sich erst in der Zukunft vollenden wird. Der Glaube ist daher keine kraftlose Erinnerung an längst Vergangenes; beschränkt auf die Singularität und Partikularität des bloß Damaligen, bliebe die Gegenwart und die Zukunft des Glaubens leer. Vielmehr lebt der Glaube in der Erwartung der eschatologischen Zukunft Gottes. Die eschatologische Struktur des Glaubens und sein Geschichtsbezug hängen eng zusammen. Denn die eschatologische, zukunftsbezogene Struktur des Glaubens ist in einem vergangenen Geschehen begründet 9 . Es ist die Vergangenheit Jesu Christi selbst, die auf die eschatologische Zukunft des Reiches Gottes verweist und als solche deren antizipierte Gegenwart ist10. Das eschatologisch neue Sein lebt Jesus aber nicht für sich allein. Gewiß ist sein Auftreten und Geschick von unverwechselbarer Einmaligkeit, aber „die Singularität Jesu besteht ... ' Die eigentümliche Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft in einer durch das vergangene Geschehen begründeten Geschichte kann auch im A T festgestellt werden. Das hat zuletzt J. Moltmann in einer Ausführung zum Thema betont: „Der Exodus wird als einmaliges Ereignis verstanden, das sich so niemals wiederholt. Es wird aber zugleich als ein Ereignis ein-für-alle-Mal verstanden, das jede nachfolgende Generation Israels so bestimmt wie die Generation des Auszugs selbst. Das Exodusereignis ist also ein Ereignis der Vergangenheit, aber kein vergangenes Ereignis. Als Ereignis der Vergangenheit bestimmt es die nachfolgenden Zeiten. Es ist ein geschichte-eröffnendes Ereignis. Es setzt die Zeit des Bundes Gottes mit Israel und eröffnet Israel Gottes Zukunft." (J. Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre. München 1985, S. 130). 10 Vgl. G.Wenz, Herrenmahl und Amt. Zum Stand des ökumenischen Dialogs zwanzig Jahre nach dem II. Vatikanischen Konzil. In: Ökumenisches Forum. Grazer Hefte für konkrete Ökumene 7 (1984), S. 83-113; S.98.

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darin, schlechterdings allgemein zu sein" 11 . In ihr kommt die Universalität des göttlichen Heilswillens zum Ausdruck. Jesu Auftreten und Geschick haben daher Bedeutung nicht nur für ihn selbst in seiner menschlichen Einzelheit und Partikularität, sondern für die ganze Menschheit. Diese universale Bedeutung impliziert ipso facto eine geschichtliche Perspektive. Denn die Allgemeinheit des neuen Seins in Christus ist keine bloß abstrakte Idee, sondern schließt notwendig die geschichtliche Besonderheit der Individuen als Empfänger des neuen Seins mit ein. Sie ist m . a . W . inklusiv und konkret. Das hat Konsequenzen für das theologische Interesse am Geschichtsthema. Die „Geschichtlichkeit" des Glaubens kann nicht auf die Besonderheit der Geschichte Jesu fixiert bleiben 12 , sondern schließt die konkrete geschichtliche Existenz des Glaubens in Vergangenheit und Gegenwart mit ein 13 . Für den Glauben stellt sich daher immer auch die Frage nach dem Sinn und der Wahrheit der Geschichte im Zusammenhang des eschatologischen Sinnes der Geschichte Jesu Christi. Oder umgekehrt formuliert: Der Wahrheitsanspruch des damaligen Geschehens ist für den Glauben ein bleibendes Thema der eigenen Erfahrung sich verändernder Wirklichkeit. Das bedeutet konkret, daß man, wie C. Stange es formuliert, „bei der Darstellung der Geschichte immer die Frage im Auge behält, wie sich denn die mancherlei Gestaltungen, zu denen das Christentum im Laufe der Geschichte geführt worden ist, zu dem Offenbarungsanspruch des Christentums verhalten" 14 . Für das christliche Wahrheitsbewußtsein wird der Geschichtsbezug daher in seinem vollen Sinn erst dann erfaßt, wenn die Offenbarung selbst als eine in den fortgehenden Prozeß der Vermittlung und Behauptung ih-

11 G.Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit. Bd. 1 München 1984, S.323. Vgl. auch W.Kasper, Tradition als Erkenntnisprinzip. Systematische Überlegungen zur theologischen Relevanz der Geschichte. In: Theol. Quart. 155 (1975), S. 1 9 8 - 2 1 5 ; S.209: „Die biblische Offenbarung beansprucht in ihrer geschichtlichen Einmaligkeit zugleich universale Geltung." 12 „In diesem Sinn entläßt sich der historische Ursprung des Christentums selbst aus der Fixierung und entschränkt sich in die Welt des Christentums." So G.Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre, S.323. 13 Ein in diesem Sinne geschichtlich reflektiertes Interesse an der Identität des Glaubens im geschichtlichen Wandel läßt sich sogar schon, wie neuerdings P. Hoffmann gezeigt hat, für M t nachweisen. Hoffmann spricht geradezu von einem Geschichtsentwurf des Mt: „Mt leistet in diesem Geschichtsentwurf eine theologiegeschichtliche Verarbeitung der historischen Entwicklung der Jesusbewegung von einer innerjüdischen Gruppierung zu der dem Judentum gegenüberstehenden eigenständigen christlichen Gemeinde . . ( P . Hoffmann, Tradition und Situation. Zur „Verbindlichkeit" des Gebots der Feindesliebe in der synoptischen Uberlieferung und in der gegenwärtigen Friedensdiskussion. AaO., S.90). 14 C. Stange, Die Stellung der Theologie im Zusammenhange der Wissenschaften. In: ZSyTh 2 (1924), S. 3 4 5 - 3 8 4 ; S.384.

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res Geltungsanspruchs sich entschränkende und in diesem Sinne geschichtliche begriffen wird 1 5 . Darin liegt eine für die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung entscheidende Aufweitung des Geschichtsthemas begründet, insofern sich dieses nicht allein auf die Methodenproblematik der Rekonstruktion von Vergangenem beschränkt, wie das in der Frage nach dem „historischen J e s u s " der Fall ist. Die Geschichtlichkeit der O f f e n b a r u n g impliziert vielmehr einen Begriff von Geschichte, in welchem sich die Identität, Allgemeinheit und Definivität ihrer Wahrheit als das zentrale T h e m a jener geschichtlichen Entschränkung der O f f e n b a r u n g vermitteln und beschreiben läßt, wenn anders die geschichtliche Gestalt christlichen Glaubens seinem Wahrheitsbewußtsein nicht äußerlich bleiben soll 1 6 . Im Begriff der Geschichte reflektiert der Glaube seine Identität als eine in den Erfahrungen sich verändernder Wirklichkeit von ihm selbst her begründete Kontinuität 1 7 . 15 Die Geschichte, auf die sich der Glaube bezieht, ist daher nicht nur „eine Geschichte der Vorstellungen, welche die Menschen sich von Gott gemacht, der Riten, durch die sie zu ihm in Beziehung zu treten gesucht, und der asketischen Übungen, durch die sie seine Gegenwart zu erfahren getrachtet haben", auf die z . B . B.Plongeron den Geschichtsbezug begrenzt wissen will. B. Plongeron, Kirchengeschichte am Kreuzungspunkt der theologischen Wissenschaften. In: Concilium 6 (1970), S. 478-486; das Zitat auf S. 482 f. 16 Bezugnehmend auf diesen Zusammenhang von Geschichtlichkeit und Wahrheitsfrage könnte man tatsächlich mit Wiesner sagen: „Die geschichtliche Offenbarung läßt uns sie selbst in ihrer Geschichtlichkeit verstehen, indem sie uns allein enthüllt, was Geschichte ist." (W. Wiesner, Offenbarung und Geschichte, aaO., S.317). Wiesner selbst argumentiert freilich in restriktiver Absicht, insofern es allein die „Geschichte zwischen dem göttlichen Ich und dem menschlichen Du ist . . . , was wir wahrhaft Geschichte nennen" (ebd. S. 326f). Aber „die Bindung des christlichen Glaubens an die Gestalt und Geschichte Jesu . . . verwehrt der Theologie das bequeme Ausweichen vor der Auseinandersetzung um die Eigenart geschichtlicher Wirklichkeit und um den Sinn des Zusammenhangs zwischen der jeweiligen Gegenwart und dem historischen Jesus." (W. Pannenberg, Art. Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie VIII: systematisch-theologisch. In: T R E X I I . Berlin 1984, S. 658-674; S.660). Tatsächlich wohnt der Abkoppelung des christl. Wahrheitsanspruchs von seinem historischen Bewußtsein stets eine doketische Tendenz inne. 17 Nach E. Erikson bezieht sich Identität zunächst auf dasjenige, „was die Fähigkeit vermittelt, sein Selbst als etwas zu erleben, das Kontinuität b e s i t z t . . . " (E. Erikson, Kindheit und Gesellschaft. 2. Aufl. Stuttgart 1965, S.36. In Entsprechung dazu versteht P. Hefner im Blick auf die Kirche christliche Identitätsbildung als denjenigen Vorgang, „in der die Kirche eine anhaltende Teilhabe am zentralen Sinn des christlichen Glaubens erfährt, einem Sinn, der trotz des Wandels in Raum und Zeit Kontinuität und Gleichheit besitzt . . . " (P. Hefner, Dogmatische Aussagen und die Identität der christlichen Gemeinschaft. In: V. Vajta (Hrsg.), Evangelium als Geschichte. Identität und Wandel in der Weitergabe des Evangeliums (Evangelium und Geschichte Bd. 4), S. 220-269; S. 246. Dieser Sinn hat, wie Hefner fortfährt, im Prozeß der Identitätsbildung verschiedene Funktionen, unter anderem die, „einen umfassenden Sinnzusammenhang (zu) bilden, der die gesamte Wirklichkeit - einschließlich der Gemeinschaft, ihrer Welt und anderer Gemeinschaften - verständlich macht" (ebd. S.246).

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Das schließt die spezifisch neuzeitlichen Probleme historischer Kritik nicht aus, sondern gerade mit ein, weil jene Vermittlung nur im begründeten Nachvollzug der im Auftreten und Geschick Jesu sich begründenden und den Fortgang geschichtlichen Geschehens mit umfassenden Identität und Einheit der Offenbarung möglich ist. Gerade die Frage nach der den geschichtlichen Wandel umfassenden Einheit der Offenbarung - und das heißt nichts anderes als ihre in der Einheit und Selbigkeit Gottes gründende Wahrheit - , verbietet jedoch die Reduktion "des Geschichtsthemas auf Methodenprobleme und zwingt nach den besonderen Sinnannahmen zu fragen, in denen sich das theologische Interesse an der Geschichte artikuliert. Das Problem eines genuin theologischen Geschichtsbegriffs stellt sich damit freilich ungleich schärfer. Läßt sich nämlich die inklusive und eschatologische Bedeutung des damaligen Geschehens noch in einem Begriff der Geschichte artikulieren, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch ein gemeinsames Thema verbindet? Läßt sich die universale Bedeutung jenes vergangenen Geschehens im Begriff der Geschichte selbst als bleibendes Moment der sinnhaften Erfahrung geschichtlich sich wandelnder Wirklichkeit verstehen? Und noch einmal anders gefragt: Läßt sich die Identität christlichen Glaubens in Begriffen geschichtlicher Kontinuität explizieren? Mit dieser Frage gewinnt das theologische Interesse am Geschichtsbegriff sein theoretisches Eigengewicht im Kontrast zu dem oben skizzierten Verständnis der Geschichte als methodisch rekonstruierter Vergangenheit. Dieses Eigengewicht läßt sich im Blick auf die biblische Überlieferung und, ihr folgend, die altkirchliche Theologie noch näher entfalten. Geschichte wird dort im Lichte des absichtsvollen Handelns Gottes mit seinem Volk bzw. mit der Menschheit erfahren. Eine ausdrückliche geschichtstheologische Reflexion in diese Richtung wird bereits gegen Ende des 2. Jahrhunderts mit der Vorstellung einer eschatologisch gerichteten Heilsgeschichte, die nach Gottes Plan von Adam über Christus bis zur Gegenwart und zum Ende der Welt verläuft, konkret greifbar 18 . Ihren Anfangspunkt hat diese Betrachtungsweise, wie A. Dihle jüngst im Vergleich zur biographischen Geschichtsschreibung der Antike gezeigt hat, zunächst in den Evangelien 19 . Anders als die „exemplarische, moralisch bewertete Verwirklichung der Menschennatur in den 18 Vgl. dazu H . Frh. v. Campenhausen, Die Entstehung der Heilsgeschichte. In: Saeculum 21 (1970), S. 189-212. B. Seeberg, Die Geschichtstheologie Justin des Märtyrers. In: Z K G 58 (1939), S. 1-81. Der Ausdruck „Heilsgeschichte" - Historia salutis - dürfte nach Campenhausen allerdings nicht vor dem 18. Jahrhundert aufgekommen sein; vgl. v. Campenhausen, aaO., S. 189. " A. Dihle, Die Evangelien und die biographische Tradition der Antike. In: Z T h K 80 (1983), S. 33-49.

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Handlungen eines individuellen Lebenslaufs"20, wie sie Gegenstand der antiken biographischen Geschichtsschreibung war, wollen die Evangelien zeigen, „wie große und unscheinbare Handlungen in einem Menschenleben dem, der hören konnte, das von allem Anfang zielgerichtete und heilsame Tun eines jenseitigen, unbegreiflichen Gottes bezeugen"21. Während die antiken Biographien an der Psychologie und dem Charakterbild der betreffenden Person interessiert sind, aus denen sie die Handlungen erklären, unterscheiden sich die Evangelien dadurch, daß sie die Ereignisse nicht aus dem Handeln des Menschen heraus erklären, sondern in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang stellen. Die Explikation dieses heilsgeschichtlichen Zusammenhangs verblieb zunächst ganz im biblischen Horizont 22 der prophetisch-typologischen und antijudaistischen Rezeption der alttestamentlichen Uberlieferungen, ohne daß diese bereits zu einer genaueren historischen Gliederung der alttestamentlichen Uberlieferung geführt hätte23. Erst die Frage nach der Deutung und Beurteilung des am Sinai erlassenen Gesetzes zwang zu einer differenzierteren, historisch gliedernden Betrachtungsweise jener Uberlieferungen, weil die das alttestamentliche Gesetz außer Kraft setzende Offenbarung in Christus nach dem dann noch möglichen Offenbarungssinn des am Sinai gegebenen Gesetzes fragen ließ 24 . Bereits Paulus sah sich vor diese Frage nach dem positiven Sinn des am Sinai erlassenen Gesetzes gestellt; sie „wird von ihm in geschichtlichen Zusammenhängen gestellt und beantwortet" 25 . So wird in 20

A.Dihle, aaO., S.48. A.Dihle, aaO., S.48. 22 „Die Welt- und Heilsgeschichte, wie Irenaus sie entworfen hatte, war ausschließlich biblisch fundiert. Sie zeichnet sich, wie die entsprechenden älteren Ansätze auch, durch eine „souveräne Nichtbeachtung" des gesamten außerbiblischen Geschehens aus" (v. Campenhausen, aaO., S.208). 23 „Die prophetische und antijudaistische Betrachtung der alten Heilsgeschichte ergänzen einander. Sie sind beide auf Christus bezogen, dessen Erscheinen einerseits die alte Heilsweissagung der Propheten erfüllt und das Schicksal des von jeher widerspenstigen Gottesvolkes andererseits besiegelt. Unter dem einen wie unter dem anderen Blickpunkt ergibt sich dasselbe Resultat, nämlich eine einheitliche und undifferenzierte Beurteilung der ganzen frühen Heilsgeschichte. Darum fehlt in der Regel die Notwendigkeit, das angedeutete Bild auszuführen. Eine tiefer greifend sachliche Gliederung des Stoffes legt sich von hier aus erst recht nicht nah" (v. Campenhausen, aaO., S. 199). 24 Vgl. v. Campenhausen, aaO., S. 199 ff. Ebenso R. Fester, Die Säkularisierung der Historie. In: Historische Vierteljahresschrift 11 (1908), S.441-459: Die Beziehung von altem und neuem Bund „wird für den Christen die Vorbedingung historischen Gedächtnisses" (S.445). Vgl. auch J. Daniélou, The Conception of History in the Christian Tradition. In: The Journal of Religion 30 (1950), S. 171-179; S.172f. 25 U. Luz, Das Geschichtsverständnis des Paulus. (Beiträge zur evangelischen Theologie Bd. 49) München 1968, S.224. Allerdings geschieht dies nach Auffassung von Luz gerade nicht durch einen Gesamtentwurf von Geschichte. „Einzig in Rm 5,12 ff.", so schreibt Luz, „scheint Paulus weiter zu gehen. Dort wird das Gesetz in eine Gesamtschau des alten Äons eingeordnet. 21

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Rom 9-11 die Treue Gottes zur geschichtlichen Erwählung seines Volkes („Denn Gott kann seine Gnadenverheißungen und seine Berufung nicht bereuen", Rom 11,29) in der dialektischen Bewegung einer diese Vergangenheit übergreifenden und sie so erst in ihrem Sinn enthüllenden eschatologischen Geschichte gesehen 26 . Es ist allerdings erst Justin gewesen, welcher, darin Paulus folgend 27 , die Verhältnisbestimmung von Gesetz und Christusoffenbarung auf die breitere Basis geschichtlicher Betrachtung gestellt hat. „Die biblische Vergangenheit hört jetzt auf, gleichsam stillstehend auf Christus zu warten, sondern bewegt sich, von Stufe zu Stufe fortschreitend auf ihn hin."28 Vor allem aber geht bei ihm die Vorgeschichte des Christentums über den bisherigen Horizont hinaus. „Sie ist nicht mehr auf das Judentum und das Alte Testament allein beschränkt, sondern sie umfaßt die ganze Welt."29 Das wird bei Justin durch das Verständnis Christi als des Logos, den Gott aus sich erzeugt und als Person zum Mittler zwischen sich und der Welt eingesetzt hat, begründet. Dabei wird deutlich, wie sehr die Auffassung der Geschichte und der universale Geltungsanspruch des christlichen Gottesgedankens zusam-

Rm 5,12 ff. ist aber nicht Zentrum und Ausgangspunkt des paulinischen Geschichtsdenkens und bezeichnenderweise wird dort das Gesetz nicht in eine Heils-, sondern in eine Unheilsgeschichte eingeordnet, die von dem in ihr geschehenen Heil (z.B. Abraham! Verheißung!) völlig absieht und auch ihrerseits nicht um ihrer selbst willen, sondern nur als Kontrast zu dem um so überragenderen Heil zur Sprache kommt" (ebd. S.225). Dadurch verdichte sich der „geschichtliche" Zusammenhang von Gesetz und Christusgeschehen auf die existentielle Erfahrbarkeit der vergangenen Geschichte als Sünde angesichts des Gnadenhandelns Gottes in der Gegenwart (vgl. ebd. S.226). Das Gegenüber von Einst und Jetzt sei nicht ein Gegenüber der beiden Äonen, sondern die Herrschaft der Sünde und die Befreiung von ihr. Zur Kritik an dieser Ansicht von Luz, insbesondere am Aufall der apokalyptischen Dimension, vgl. U.Wilckens, Das Geschichtsverständnis des Paulus. In: ThLZ 95 (1970), Sp. 401-412. Ebenso U.Wilckens, Der Römerbrief (EKK) Bd. 1-3; Neukirchen 1978-1982. " Vgl. Rom 11,30-32 (30) Denn wie einst ihr gegen Gott ungehorsam gewesen seid, jetzt aber Barmherzigkeit erlangt habt infolge des Ungehorsams dieser, (31) so sind auch diese jetzt ungehorsam gewesen, damit infolge der Barmherzigkeit gegen euch auch sie Barmherzigkeit erlangen. (32) Denn Gott hat alle zusammen in den Ungehorsam hineingebannt, um an allen Barmherzigkeit zu erweisen. 27 Vgl. v. Campenhausen, Die Entstehung der Heilsgeschichte, aaO., S. 204. 28 V. Campenhausen, aaO., S.205. Vgl. auch ebd. S.202: „Seit der Mitte des 2. Jahrhunderts beginnt sich die Arbeit am Alten Testament zu vertiefen und nimmt methodischen Charakter an. Es sammelt sich ein schulmäßiges Wissen, das willkürliche Auslassungen und zufälliges Hängenbleiben an Einzelheiten unmöglich macht und eine durchdachte Gesamtdeutung herausfordert. In dieser Zeit entstehen die ersten im engeren Sinn heilsgeschichtlichen Konzeptionen." 29 B. Seeberg, Die Geschichtstheologie Justin des Märtyrers, aaO., S.54; „Dadurch aber stellt er das Christentum in einen ganz neuen und größeren Zusammenhang. Er erhebt es zu der Universalreligion" (ebd. S.37).

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menhängen 30 . Die so entstehende Auffassung der Geschichte beschränkt sich aber keineswegs nur auf die Aneignung von Tradition, sondern in ihrer Zukunftsgerichtetheit ermöglicht und bestimmt gerade sie den Weg der Kirche hinein in die Welt 31 , so daß hier auch das Missionsmotiv als Ausdruck christlichen Geschichtsdenkens wirksam wird 32 . Diese christliche Auffassung der Heilsgeschichte wäre allerdings nicht denkbar gewesen ohne das bereits im alttestamentlichen Gottesverständnis vorgegebene Verhältnis von Geschichte und Offenbarung, das dort seinen Ausdruck in der Beschreibung des Handelns Gottes als eines geschichtlichen Handelns und darin als Ausführung eines Heilsplanes findet 33 . „Mit dem Glauben an den in der Geschichte handelnden, durch Geschichte sich offenbarenden Gott hat das Alte Testament die Grundlegung der neutestamentlichen Geschichtsanschauung geschaffen." 34 Daher ist es nach J.Jeremias das „große und unverlierbare Verdienst der unmittelbar zurückliegenden Generation von Forschern in Deutschland gewesen, die Geschichte als die spezifische Kategorie herauszuarbeiten, in der sich der alttestamentliche Gottesglaube artikuliert"35. 30

Vgl. auch B. Seeberg, aaO., S.23. H.D.Wendlandt, Geschichtsanschauung und Geschichtsbewußtsein im Neuen Testament. Göttingen 1938, S.6: „Dieses Geschichtsbewußtsein voll scheinbar maßloser Ansprüche ist die Kraft des Sieges der alten Christenheit geworden; es ermöglicht und bestimmt den Weg der Kirche hinein in die Welt ..." 32 Das betont P. Althaus, Missions- und Religionsgeschichte. Drei Vorlesungen. In: ZSyTh 5 (1928), S. 551-590; 722-736. Zur Bedeutung des Missionsmotivs im Zusammenhang der systematischen Rekonstruktion des theologischen Geschichtsbegriffs vgl. unten „Theologische Historik". 33 Vgl. D. Grimm, Geschichtliche Erinnerungen im Glauben Israels. In: Theologische Zeitschrift 32 (1976), S. 257-268; ferner W. Eichrodt, Heilserfahrung und Zeitverständnis im Alten Testament. In: Theologische Zeitschrift 12 (1956),S. 103-125; S. 103: „Das enge Verhältnis von Offenbarung und Geschichte bekommt seinen unmißverständlichen Ausdruck in der Beschreibung des Handels Gottes als Ausführung eines Heilsplanes, durch den die Offenbarung in der Geschichte zu ihrem Ziel gebracht wird." Dieser Befund im Alten Testament legt die methodische Überlegung nahe, das theologische Geschichtsverständnis nicht aus einem isolierten Verständnis des Christusereignisses zu rekonstruieren, sondern aus dem Gottesbegriff selbst und aus dessen universalem Geltungsanspruch für das Verständnis der Wirklichkeit im Ganzen. 34 H.D.Wendlandt, Geschichtsanschauung und Geschichtsbewußtsein im Neuen Testament, S. 13. Vgl. auch A.Alt, Die Deutung der Weltgeschichte im Alten Testament. In: ZThK 56 (1959), S. 129-137; bes. S. 132. 35 J. Jeremias, Geschichte im Alten Testament. Überlegungen zum Geschichtsverständnis im Nord- und Südreich Israels. In: EvTh 40 (1980), S.381-396. Vgl. auch J.A.Soggin, Alttestamentliche Glaubenszeugnisse und geschichtliche Wirklichkeit. In: Theologische Zeitschrift 17 (1961), S. 385-398; S.385: „Es darf heute als eine theologisch anerkannte Tatsache gelten, daß der alttestamentliche Glaube nicht so sehr auf mythischen und naturhaften Ereignissen wie auf der Geschichte des Volkes Israel und darin bezeugten göttlichen Heilstatsachen fußt." - Ebenso W. Beyerlin, Geschichte und heilsgeschichtliche 31

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Bei der alttestamentlichen Erfahrung Gottes in der kontingenten Abfolge seiner Taten handelt es sich nämlich nicht um einzelne unzusammenhängende Manifestationen der göttlichen Allmacht, sondern um „Offenbarungstaten, die im Zusammenhang mit früheren Erweisungen stehen und das einheitliche göttliche Werk fortführen und seinem Ziel näherbringen. Eben deshalb bekommt hier die Zeit eine neue Prägung, sie wird auf Gott hin ausgerichtet und als in die Zukunft schreitende Bewegung erfahren"36. Diese Zukunft „kann nicht nur als existentielle Zukünftigkeit gedeutet werden, denn sie ist auf reale und objektive Ereignisse ... ausgerichtet"37. W. Eichrodt hat zu Recht darauf hingewiesen, daß der theologische Richtungssinn dieser Zeiterfahrung durchaus auch eine chronologische Gliederung des Geschehens impliziert38; dies bleibt allen Versuchen gegenüber festzuhalten, die das theologische Interesse an der Geschichte in einseitiger Weise von einem „objektivistischen" chronologischen Zeitverständnis abzugrenzen und stattdessen „existentiell" zu deuten versuchen 39 . Vielmehr erwächst gerade aus der

Traditionsbildung im Alten T e s t a m e n t (Ri 6-8). In: Vetus Testamentum 13 (1963), S. 1-25; am Beispiel der Gideonerzählung versucht Beyerlin die Verwurzelung der israelitischen Geschichtsschreibung in der historischen Wirklichkeit zuriickzuverfolgen, um von daher die Behauptung eines Gegensatzes des geschichtlichen Geschehens und seiner literarischen Ausgestaltung zu überwinden, wobei Beyerlin sich vorrangig gegen von Rad wendet. Besonders zu nennen ist auch A.Weiser, Glaube und Geschichte im Alten Testament (1931). In: Ders., Glaube und Geschichte im Alten Testament und andere ausgewählte Schriften. N e u d r u c k Göttingen 1961, S. 99-182 (zuerst erschienen in: Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und N e u e n Testament 4.Folge 1931, S.2-207); S. 100: „Alttestamentlicher Glaube", so schreibt Weiser, „ist nur erkennbar, wenn man den Einfluß sieht, den die Geschichte auf die Gestaltung dieses Glaubens ausgeübt hat, und umgekehrt wird man die alttestamentliche Geschichte in ihrem letzten G r u n d e nur dann verstehen können, wenn man vordringt bis zu dem Punkte, wo die Kräfte des Glaubens als geschichtsbildende Faktoren erkannt und in Rechnung gestellt werden". 36

W . E i c h r o d t , Heilserfahrung und Zeitverständnis im Alten Testament, aaO., S. 104. M . Seckler, Das Heil in der Geschichte. Geschichtstheologisches Denken bei T h o mas von Aquin. M ü n c h e n 1964, S. 176 f. 38 Vgl. W. Eichrodt, Heilserfahrung und Zeitverständnis im Alten Testament, aaO., S. 105: „Schon der priesterliche Geschichtsschreiber stellt . . . die Periodenlehre der altorientalischen Weltanschauung in seinen Geschichtsaufriß ein, wenn er an den Bundesschließungen mit N o a h , Abraham, Israel, zu denen beim Chronisten noch ein Davidsbund hinzukommt, die planmäßig fortschreitende Gestaltung des Geschichtsverlaufs anschaulich macht. Die damit verbundene Chronologie . . . benützt er als das sinngebende Element einer Zeitgliederung, die in der Gesetzgebung und im Tempelbau die tragende Mitte besitzt und den ganzen Raum der Geschichte zum dienenden Mittel der göttlichen Heilsverwirklichung macht." 39 Vgl. dazu G.Delling, Das Zeitverständnis des Neuen Testaments. Gütersloh 1940. Delling schreibt d o r t in bezug auf die Unterscheidung von griechischer und alttestamentlicher Zeitauffassung: ,Jener (sc. der Grieche; A.D.) vollzieht die O r d n u n g in der punktuellen Zeitlinie, dieser (sc. der Israelit; A. D.) ordnet im subjektiven Raum bzw. auf der subjektiven Fläche. Jener reiht die Tatsachen in einer losgelösten Sachlichkeit auf, dieser stellt ständig die Beziehung auf das eigene Ich her" (ebd. S.54). Vgl. auch ebd. S. 37

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Erfahrung Gottes seinen kontingenten Taten 40 in auch ein Interesse an der Diachronie der Geschichte. So wird ζ. B. „die chronologische Folge der Geschlechter bei der grundlegend wichtigen Beziehung der Gemeinde zu den die Existenz begründenden Ereignissen nicht außer Acht gelassen, sondern ausdrücklich in Rechnung gestellt"41. Nicht zuletzt deshalb ist es ja allein verständlich, daß die Uberlieferungen des Alten Testaments später den Anstoß zur Herausbildung chronologischer Sammlungen gegeben haben 42 . Seinen nachhaltigsten Ausdruck hat dieses Interesse an der Kontinuität göttlichen Handelns in der Geschichte im israelitischen Erwählungsgedanken gefunden, in dem „das Erleben der eigenen Geschichte als lebendige Form eines zwecksetzenden göttlichen Willens und die Unterstellung der Geschichte . . . unter die leitende Idee der Providenz zum Ausdruck gebracht ist"43. In diesem Sinne kann der Erwählungsge57: „Das durch die Vergangenheit Gegebene wird nicht zeitlich eingeordnet und aus der Geschichte verstanden, sondern nach subjektiven Maßstäben beurteilt." Die bereits klassisch zu nennenden Gewährsleute dieser Unterscheidung sind besonders Bomann, R. Bultmann sowie F. Gogarten. Allerdings hat A. Momigliano schon f r ü h auf die Unklarheiten solcher Abgrenzungen und ihre inhaltliche Unhaltbarkeit hingewiesen (A. M o m i gliano, T i m e in ancient historiography. In: History and the concept of time. History and T h e o r y Beiheft 6 (1966), S. 1-23): „in some cases", so schreibt Momigliano, „they oppose indo-european to somitic, in other cases greek to hebrew, in others still greek to jewishchristian or to christian alone. N o attempt is made to define times, places, authors. Furthermore, some at least of our theologians have very naive ideas about the uniformity of greek t h o u g h t or the continuity of hebrew thought" (S.4). Es sei, so fährt Momigliano fort, nicht schwierig, zu zeigen, daß keiner der behaupteten Unterschiede zwischen jüdischem und christlichem D e n k e n über die Zeit einer genaueren Ü b e r p r ü f u n g standhält: „the weakest argument is clearly that of the absence of a distinction between past, present, and future in the hebrew verbal system. . . . It would be superflous pedantry to summarize what anyone can read in an elementary hebrew syntax about the various devices at the disposal of a writer in biblical hebrew when he wants to express the f u t u r e . . . " (S.5). U n d : „Absence of a verbal or even of a syntactical distinction between past, present and future does not entail inability to distinguish between past, present and f u t u r e " (S.6). 40 „Gott lenkt die Geschichte nicht nach einem starren Schema . . . , sondern in lebendigen Entscheidungen". (G.Delling, Das Zeitverständnis des Neuen Testaments, S.61). Delling hat aus dieser Einsicht in das kontingente H a n d e l n Gottes freilich den Schluß gezogen, d a ß das Interesse an der Geschichte sich aus der jeweiligen Situation bestimmt und auf sie beschränkt bleibt. 41 W. Eichrodt, Heilserfahrung und Zeitverständnis im Alten Testament, aaO., S. 113; mit dem Hinweis auf D t 6,7; 11,2. 7.18-21. 42 Vgl. J . W . J o h n s o n , Chronological Writing. It's concepts and development. In: H i story and T h e o r y 2 (1962), S. 124-145; bes. S. 126: „The nucleus of chronological literature is to be f o u n d in certain portions of the old testament, those obviously derived f r o m the tribal records of the jews." U n d S. 131: „Despite it's minor setbacks, christian chronology triumphantly became the chief historiographical technique of the western empire." 43 W.Staerk, Zum alttestamentlichen Erwählungsglauben. In: Z A W 55 (1937), S. 1-36; S.23. Vgl. auch W . K o c h , Z u r Geschichte der Erwählungsvorstellung in Israel. In: Z A W 6 5 (1953), S.205-236. H.-J.Zobel, Ursprung und Verwurzelung des Erwählungsglaubens in Israel. In: T h L Z 93 (1968), Sp. 1-12.

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danke gewissermaßen als theologisch angemessene Auffassung der Kontinuität göttlichen Handelns in der Geschichte aufgefaßt werden, die auch dann nicht verloren geht, wenn die Widrigkeit und scheinbare Sinnlosigkeit der Ereignisse dem entgegenstehen 44 . Der Begriff der Erwählung bezieht sich damit, wenn auch oft nicht ausdrücklich oder nur indirekt, auf Geschichte überhaupt, weil so gesehen alle Ereignisse unter dem Gesichtspunkt der Frage ihres Verhältnisses zur erwählenden Absicht und Treue Gottes zum Gegenstand theologischer Reflexion werden 45 . Es bedarf nun keines besonderen Nachsatzes, um den Abstand dieser Vorstellung zum heutigen Geschichtsverständnis hervorzuheben. Die Diskrepanz von Faktum und Bedeutung, die anthropologische Konzentration, sowie die Differenz von Vergangenheit und Gegenwart, die das neuzeitliche Geschichtsdenken bestimmen, sind hier noch kein Problem, weil die Faktizität jedes Ereignisses sich in die Kontinuität des göttlichen Heilsplanes einfügt und von ihm her seine bleibende Bedeutung bekommt. Angesichts dieses Abstandes stellt sich aber erst recht die Frage, ob sich das theologische Interesse an der Geschichte noch im Kontext gegenwärtiger Geschichtstheorie formulieren läßt. Eine Beantwortung dieser Frage wird nicht zuletzt davon abhängen, ob sich die mit der Rede vom Handeln Gottes gegebenen „historischen" Kategorien heilsgeschichtlicher Theologie als angemessene Beschreibung historischer Erfahrung rezipieren bzw. in kritischer Absicht neu formulieren lassen. Das schließt auch die Frage ein, ob die Theologie an einem Universalbegriff der Geschichte festhalten kann, welcher der Universalität, Selbigkeit und Einheit göttlichen Handelns auf der Ebene geschichtstheoretischer Begriffsbildung entspricht. Dieser letztSchon an dieser Stelle wäre deshalb zu fragen, ob dem Erwählungsgedanken deshalb nicht eine besondere Bedeutung in einer theologischen Geschichtsauffassung zukommt, weil er die Frage nach dem Sinn der Geschichte nicht mythisch verkürzt oder existentialistisch umdeutet, sondern gerade in der diachronen Perspektive zu beantworten sucht, insofern sie dort als Frage nach der kohärenten Beziehbarkeit des Geschehens auf den Inhalt der Erwählung gestellt ist und damit ihr Kriterium im Rahmen der Diachronie selber definiert. 44 Vgl. D. Grimm, Geschichtliche Erinnerungen im Glauben Israels. In: Theologische Zeitschrift 32 (1976), S.257-268; S.265: „Die Kontinuität des göttlichen Handlungserweises kann als solche nur empfunden werden, wenn parallel dazu ein Bewußtsein der Erwählung durch diesen Gott wächst, ein Bewußtsein, welches sich bei dem Ausbleiben der erwarteten Gotteshilfe enttäuscht oder bestraft gibt." 45 Der Gedanke liegt daher durchaus nahe, im Begriff der Erwählung auch heute noch den Zugang zum theologischen Reden von Geschichte zu suchen. Vgl. W. Pannenberg, Die Bestimmung des Menschen. Menschsein, Erwählung und Geschichte. Göttingen 1978; besonders Kp.5: Erwählung und Geschichte, 85-113. Dazu: Kurt Koch, Gottes Handeln in der Geschichte und die Bestimmung des Menschen. Zur geschichtstheologischen Neuinterpretation des christlichen Erwählungsglaubens bei Wolfhart Pannenberg. In: Catholica 33 (1979), S. 220-239.

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genannte Aspekt dürfte freilich nicht unbestritten bleiben. Es entsteht leicht der Verdacht, als solle damit die konkrete Verantwortung des Redens von Gott durch eine abstrakte Reflexion verdrängt werden. In diesem Sinne hat jüngst J . Moltmann in Anlehnung an Entwürfe einer „narrativen Theologie" gemeint, daß die Geschichte Gottes nur durch Erzählung und nicht durch subsumierende und verallgemeinernde Begriffe erkannt werden kann 46 . Diese kritische Entgegensetzung des Erzählbegriffs gegen eine „begrifflich-argumentative" Verhältnisbestimmung von „Heil" und „Geschichte" ist in aller Schärfe zuerst von J. B. Metz formuliert worden 47 . Eine Theologie, die weder die Heilsgeschichte suspendiert noch die menschliche Leidensgeschichte ignoriert, „kann nicht rein argumentativ, sie muß immer auch narrativ expliziert werden" 48 ; mehr noch: in dem Maße, wie Metz die begrifflich-argumentative Verhältnisbestimmung beider sogar für ausgeschlossen hält 49 , gewinnt das Erzählen selbst einen argumentativen Sinn 50 . Eine solche Entgegensetzung geht jedoch an der hier gestellten theologischen Aufgabe vorbei, insofern es ihr um die Bedingungen der Identität und Wahrheit christlichen Glaubens in den Erfahrungen sich verändernder Wirklichkeit geht. Der Begriff der Erzählung wird dieser Aufgabe nicht gerecht. Denn jede Erzählung benötigt ihrerseits Begriffe, die das zu Erzählende in mitteilungsfähigen Zusammenhängen strukturieren; sie sind daher, wie alle theologisch verantworteten Aussagen, „prinzipiell begrifflicher Art und mit allen Problemen begrifflicher Arbeit belastet" 51 , was insbesondere die Frage nach der Wahrheit einer Aussage, bzw., im Falle des hier zu verhandelnden Themas, die Frage nach der Wahrheit des Geschehenen mit einschließt. Eine Erzählung dagegen zielt nach H.Weinrich „nicht auf das J a oder Nein der Wahrheit, sondern auf ein Mehr oder Weniger an Relevanz" 5 2 . Es sind daher immer, wie U. A. J. Becher schreibt, „Relevanzgesichtspunkte, die . . . darüber entscheiden, ob und welche Geschichten erzählt und welche vergessen werden" 5 3 . Der Gesichtspunkt der Relevanz ist für sich ge46 J . M o l t m a n n , G o t t in der S c h ö p f u n g . Ö k o l o g i s c h e S c h ö p f u n g s l e h r e . M ü n c h e n 1985, S. 130. Z u m A n s a t z narrativer T h e o l o g i e vgl. insbesondere H . W e i n r i c h , Narrative T h e o l o g i e . In: Concilium 9 (1973), S . 3 2 9 - 3 3 4 ; J . B . M e t z , Kleine A p o l o g i e des Erzählens. In C o n c i lium 9 (1973), S. 3 3 4 - 3 4 1 . " J . B . M e t z , Kleine A p o l o g i e des Erzählens, aaO., S . 3 3 8 f . 4 8 E b d . S. 339. 4 9 E b d . S. 339. 50 E b d . S. 337. 51 I. U . Dalferth, Existenz G o t t e s und christlicher Glaube. S k i z z e n zu einer eschatologischen O n t o l o g i e (Beiträge zur evangelischen T h e o l o g i e B d . 9 3 ) . M ü n c h e n 1984, S . 2 8 . 52 H . W e i n r i c h , Narrative T h e o l o g i e . In: Concilium 9 (1973), S . 3 2 9 - 3 3 4 ; S . 3 3 0 . 53 U . A . J . B e c h e r , Didaktische Prinzipien der Geschichtsdarstellung. In: K.-E.Jeissm a n n / S . Q u a n d t ( H r s g . ) , Geschichtsdarstellung. Determinanten und Prinzipien. Göttin-

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nommen jedoch zu unbestimmt und interessengebunden, um als Kriterium einer durch die Wahrheit christlichen Glaubens verbürgten Identität desselben gelten zu können. Im Gegenteil erzeugt der Verzicht auf begriffliche Objektivität den Schein einer reflexionslosen Unmittelbarkeit des Glaubensengagements, das an die Stelle der Wahrheitsfrage die moralisch-pädagogische Aufforderung zum Handeln setzt 54 . An der Aufgabe einer begrifflichen und theoretischen Erörterung des Geschichtsthemas ist daher festzuhalten, was freilich nicht bedeutet, daß jede Begriffsbildung einer Subsumption unter allgemeingültige Gesetze gleichkommt. Allerdings eröffnet sich mit dieser Aufgabe ein Fragehorizont, dessen erschöpfende Beantwortung eine geradezu enzyklogen 1982, S.22-38; S.25. Vgl. auch den Überblick über die einschlägige Diskussion dieses Problems bei A. Sywottek, Geschichtswissenschaft in der Legitimationskrise. Ein Überblick über die Diskussion um T h e o r i e und Didaktik der Geschichte in der Bundesrepublik Deutschland 1969-1973 (Archiv f ü r Sozialgeschichte, Beiheft 1). B o n n - B a d Godesberg 1974, S. 114-128. 54 Erzählungen verlangen nach H.Weinrich „von dem H ö r e r , daß der selber zum T ä ter der Erzählung wird". H.Weinrich, Narrative Theologie, aaO., S.330. Vgl. besonders D . M i e t h , Die Relevanz der Geschichte f ü r eine ethische Theorie der Praxis. In: Theol. Q u a r t . 155 (1975), S.216-231. Z u r Kritik des Relevanzbegriffs vgl. T . N i p p e r d e y , Über Relevanz. In: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte (Kritische Studien z u r Geschichtswissenschaft Bd. 18) Göttingen 1976, S. 12-32. Relevanz ist nicht, wie Nipperdey belegt, eine neue Bezeichnung f ü r Sinn und Bedeutung der Geschichte, sondern ein Kampfbegriff f ü r gesellschafts- und weltveränderndes H a n deln (vgl. insbes. S. 18 ff.). In ihm geht es nicht darum, „die Gegenwart zu begreifen, sich in dieser Gegenwart zu orientieren und damit Einsicht in einen Handlungsspielraum und in Handlungsregeln zu gewinnen, sondern es k o m m t darauf an, in dieser Gegenwart zu handeln, von bestimmten N o r m e n und Werten her auf sie hin zu handeln. . . . Geschichte ist relevant, soweit sie im Dienste politischer Pädagogik steht. Sie hat einen moralischen Beruf, die Pflicht zur politischen Pädagogik" (Ebd. S. 19). Demgegenüber hält Nipperdey daran fest, daß „die Objektivität der Erkenntnis der V e r g a n g e n h e i t . . . f ü r den Historiker die regulative, seine Tätigkeit leitende und regulierende Idee" bleibt (ebd. S.24). D e n n „die Geltung wissenschaftlicher Thesen und Ergebnisse, Beschreibungen und Begründungen ist unabhängig von ihrer Entstehung, von den Motiven, Interessen oder der Weltanschauung der Historiker oder ihrer Zeit. Diese heute o f t verkannte einfache, logische U n terscheidung zwischen Geltung und Genese einer These wird durch das Faktum, daß wissenschaftliche Diskussion zwischen Menschen verschiedener Positionen möglich ist und daß es unabhängig von Motiven und Interessen der Erkennenden einen Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis und ein Urteil über Wahrheit oder Unwahrheit von Erkenntnis gibt, schlechterdings bewiesen" (ebd. S.24). - Ahnliche Kritik wird in einem Beitrag zur Didaktik der Kirchengeschichte von J. Köhler geäußert: „Kirchengeschichte läßt sich nicht reduzieren auf das, was von Interesse ist." (J. Köhler, Kirchengeschichte - ein Schulfach? Bemerkungen des Kirchenhistorikers zur Aufgabe des Kirchengeschichtsunterrichts. In: Theol. Q u a r t . 155 (1975), S.232-243; S.241. Es muß wohl als Entgleisung angesehen werden, wenn Sywottek in seinem erwähnten Beitrag Nipperdey „Mißverständnis, Unkenntnis oder Böswilligkeit" vorwirft (ebd. S. 117), da Sywottek selbst lediglich solche Autoren referiert, die in, überdies ganz unterschiedlicher Weise, Kriterien gegenwärtiger Relevanz zugrunde legen, ohne d a ß in Sywotteks Beitrag die damit verbundenen Annahmen historischer Wissenschaftstheorie näher diskutiert werden.

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pädisch angelegte Diskussion über grundsätzliche Fragen des Geschichtsverständnisses und der geschichtsphilosophischen bzw. -theoretischen Begriffsbildung erfordern würde. Eine derart umfassende Behandlung kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden. Mit dem angedeuteten systematischen Interesse an einem Geschichtsbegriff, der über das beschränkte Erkenntnisinteresse der exegetischen und historischen Einzeldisziplinen hinaus die Identität christlichen Wahrheitsbewußtseins im Prozeß seiner geschichtlichen Vermittlung auf Dauer und im Ganzen zu begründen vermag 55 , kann lediglich die Richtung vorgegeben werden, in der sich die folgenden Erörterungen zu bewegen haben. Die wesentlichen Schwerpunkte lassen sich nach dem bisher Gesagten aber bereits nennen; über die Effektivität der jeweils gewählten Schwerpunkte und Fragestellungen kann dagegen erst im Fortgang der Einzelargumentation entschieden werden. Zunächst sollen die Kontroverspunkte der theologischen Diskussion des Geschichtsbegriffs genannt werden. Dabei lassen sich, hier freilich nur in stark idealtypischer Darstellung, verschiedene Argumentationstypen herauskristallisieren. Die dabei entstandene Diskussionlage soll anhand des Beispiels der Kirchengeschichte näher beleuchtet werden. Im Unterschied zu den exegetischen Disziplinen des N T und des AT bietet sich die Kirchengeschichte deshalb an, weil ihr Gegenstand nicht mit derselben Eindeutigkeit theologisch bestimmbar ist, wie das für die neu- und alttestamentliche Wissenschaft zutrifft. Verschiedentlich ist daher die Frage gestellt worden, ob die Kirchengeschichte überhaupt eine theologische und nicht vielmehr eine rein historische Disziplin ist. Am Beispiel der Kirchengeschichte wird die interdisziplinäre Herausforderung für die Theologie daher konkret greifbar. Die knappen Situationsbestimmungen der einleitenden Abschnitte werden bereits die Möglichkeit geben, eigene Argumente einzuführen, um Ansatzpunkte für die Behandlung des Geschichtsthemas zu gewinnen. In einem weiteren Abschnitt soll daher gewissermaßen eine Arbeitshypothese skizziert werden, von der ausgehend die interdisziplinäre Auseinandersetzung zwischen Theologie und Geschichtstheorie sinnvoll und möglicherweise vielversprechend zu sein scheint. Auf dem Hintergrund solcher Überlegungen wird sodann eine Darstellung der geschichtstheoretischen Diskussion in ihren neueren Ent55 Das bedeutet keine Abwertung des Erkenntnisinteresses der exegetischen und historischen Disziplinen gegenüber der systematischen Theologie; vielmehr ist lediglich die Blickrichtung eine andere; während jene danach fragen, was einmal christlich war, ist die systematische Fragestellung daran interessiert, was - in der Kontinuität dessen, was christlich war - , gegenwärtig christlich ist und sich als christlich zu bewähren vermag. Vgl. dazu T. Rendtorff, Historische Bibelwissenschaft und Theologie. Über den Aufbau der Frage: Was ist christlich? In: Ders., Theorie des Christentums. Historisch-theologische Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung. Gütersloh 1972, S. 41-60.

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wicklungen und Tendenzen erfolgen. Dies geschieht zunächst in einem allgemein orientierenden Abschnitt, sodann in thematischen Einzeluntersuchungen. Ein letztes Kapitel schließlich soll die theologischen Aspekte des voranstehend Erörterten entfalten und die Richtung andeuten, in der dem Verfasser eine Rezeption der „historisch-theologischen" Begriffe wie „Handeln Gottes", „Erwählung" und „Gericht" für eine historische Argumentation sinnvoll zu sein scheint.

1.2. Probleme des Geschichtsbegriffs in der

Theologie

Das angedeutete systematische Interesse an einem genuin theologischen Geschichtsverständniss, das die geschichtliche Identität christlichen Glaubens in einer von ihm selbst her begründeten Kontinuität zu denken ermöglicht, ist, wie bereits angedeutet, in der neueren Theologie nicht unbestritten geblieben. Die dialektische Theologie zu Beginn dieses Jahrhunderts kann sogar regelrecht als eine antihistorische Bewegung verstanden werden. Sie steht damit nicht allein. Auch andere Theologen, die jener radikalen Absage nicht gefolgt sind, stehen in erklärter Distanz zur Möglichkeit einer derart objektivationsfähigen Geschichtserfahrung und -erkenntnis. Die Einstimmigkeit dieser kritischen Distanznahme ist aber keineswegs, wie es auf den ersten Blick scheinen möchte, allein theologie-immanent motiviert. Vielmehr ist auch die Theoriereflexion der Geschichtswissenschaft von einem Traditionsbruch geprägt, der seinen Grund in der Krise bisher gültiger geschichtsphilosophischer und geschichtswissenschaftlicher Annahmen hat. Die Parallelität dieses Vorgangs sowohl in der Geschichtswissenschaft wie in der Theologie hat geradezu eine wissenschaftsgeschichtliche Dimension, die hier freilich weder im Blick auf eine der beiden Disziplinen für sich noch gar im Blick auf beide Disziplinen zusammen rekonstruiert werden kann. Dazu bedürfte es einer Themenstellung, die in erster Linie historiographisch und weniger in systematischer Absicht verfährt. Hier sollen lediglich zwei bereits angedeutete Hauptaspekte herausgegriffen werden, die die gegenwärtige Problematik historischer Theoriereflexion beleuchten und die zugleich in der theologischen Diskussion des Geschichtsbegriffs wirksam geworden sind. Zum einen handelt es sich um die Anthropozentrik neuzeitlichen Geschichtsdenkens und zum anderen um die Differenz von Faktum und Bedeutung. Die neuzeitliche Anthropologisierung der Geschichte beschränkt die Normativität des Geschichtlichen auf die Vernünftigkeit menschlicher Praxis. Bedeutung hat die Geschichte in dem Maße, wie sie vernünftiger Praxis entspringt bzw. als Resultat vernünftiger Praxis angeeignet werden kann. Während zunächst jedoch die Vernunftnatur des Men28

sehen universalistisch konzipiert war und dementsprechend die Geschichte als ebenso universaler Prozeß der Selbstdurchsetzung der allgemeinen Vernunftnatur des Menschen interpretiert werden konnte, wird im Laufe der Zeit die Vernünftigkeit menschlicher Praxis zunehmend auf das für die Gegenwart unmittelbar Relevante zusammengezogen 56 . Mit dieser Reduktion des Vernunftanspruchs menschlichen Handelns nimmt zwangsläufig die Normativität der Geschichte als eines transsubjektiven Prozesses sinnhafter Kontinuität ab. Geschichte wird zum Feld gegenwartsbezogener Praxis; an die Stelle der Geschichtstheorie tritt schließlich die Handlungstheorie. Ihren wissenschaftstheoretischen Ausdruck hat diese kritische Begrenzung geschichtlicher Normativität zunächst in der Herausbildung eines eigenen geschichtswissenschaftlichen Methodenideals bekommen. Mit der zunehmenden Ausformulierung des geschichtswissenschaftlichen Methodenideals nämlich schienen die theoretischen und philosophischen Annahmen über Sinn und Bedeutung der Geschichte der historischen Kritik eine Normativität aufzuzwingen, die sich weder aus ihr begründen ließ, noch von ihr überhaupt beabsichtigt war. Denn die kritische Geschichtswissenschaft suchte sich vielmehr auf einen ausschließlich deskriptiven Zugang zur Vergangenheit, wie er im Begriff des objektiven Faktums seinen wissenschaftstheoretischen Ausdruck fand, zu beschränken. Im Medium der historischen Urteilsbildung wandelt sich so geschichtliche Erfahrung zum Gegenstandsbereich objektiver Beschreibungen. Gerade dadurch drohte allerdings ein wie immer gearteter Sinnbezug zu vergangenen Erfahrungen unmöglich zu werden. Denn der Sinn geschichtlicher Erfahrung erwies sich nun selbst als ein Merkmal historischer Faktizität, die für die Gegenwart unwiederholbar ist. Die Bedeutung historischer Erfahrung ist fortan nur noch über den Bruch von Vergangenheit und Gegenwart, von Geschichte und historischer Erkenntnis hinweg auffaßbar. „Historische Kritik durchbricht die selbstverständliche Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart, wie sie in Traditionen dargestellt wird, indem sie die Differenz zwischen der Vergangenheit und ihrer Vergegenwärtigung aufzeigt und die Zusammenhänge von Gegenwart und Vergangenheit kontingent und entscheidbar macht." 57 Als Folge davon treten Faktum und 56 So ausdrücklich neuerdings A. Schütz/T. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt Bd. II. Frankfurt 1984, S.84f. 57 J.Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre München 1985, S. 140. Aus dieser Ungleichzeitigkeit resultiert die erkenntnistheoretische Problematik der Geschichtswissenschaft, Geschichte nicht nur als Darstellung dessen, „was wirklich geschehen ist", sondern zugleich auch als Rekonstruktion begreifen zu müssen. So neuerdings ausdrücklich wieder H. J. Sandkühler, Geschichte, gesellschaftliche Bewegung und Erkenntnisprozeß. Studien zur Dialektik der Theorieentwicklung in der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt 1984, S. 14: „Die Ungleichzeitigkeit, die das Verhältnis zwischen Ge-

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Bedeutung auseinander, weil sie nicht mehr im Medium historischer Erfahrung selbst vermittelt sind. Die Bedeutung historischen Geschehens läßt sich nurmehr aus einer nicht im historischen Wissen selbst begründeten Normativität gegenwärtigen Interesses an der Vergangenheit begründen. Sind die Konsequenzen, die sich dabei für Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie ergeben, schon schwerwiegend genug, so sind sie für die Theologie schlechterdings runiös. Das hat in den Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts niemand so scharfsinnig gesehen wie Franz Overbeck 58 . Das historische Wissen vermittelt nach Overbeck keine wie immer geartete Gleichzeitigkeit mehr mit der ursprünglichen Erfahrung, aus der christlicher Glaube geschichtlich entstanden ist. Das heißt, daß es gar keine in der Geschichte sich erhaltende Identität christlichen Glaubens und somit auch keine vom christlichen Glauben selbst her begründete Kontinuität der Geschichte geben kann. Die sich aus dieser Entwicklung der Historik ergebenden Anfragen zum Verständnis des Geschichtsbegriffs überhaupt können hier nicht schon im Detail vorweggenommen werden. Im Zusammenhang der oben dargelegten theologischen Fragestellung soll vielmehr nur ein groß eingeteilter Überblick vorausgeschickt werden, der die Ausgangslage für eine erneute Reflexion auf das Geschichtsverständnis der Theologie skizziert.

schichte und historischer Erkenntnis prägt, verlangt nach dem klaren Bewußtsein der Tatsache, daß das, was wir als Geschichte bezeichnen, das Ergebnis rekonstruktiver Tätigkeit ist." Ausführlich wird diese Frage bereits von G. Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie. München. Leipzig 1923, erörtert, vgl. S. 38 f.: „Unser Verhältnis zu einem geistigen Inhalt kann das der Gleichheit zwischen Subjekt und Objekt sein; das Verhältnis aber zu dem geschichtlichen Auftreten dieses Inhalts, zu ihm als geschichtlichem, zerbricht diese Gleichheit, um dem tatsächlichen Verlauf eine intellektuelle Nachbildung ... gegenüber zu stellen." Simmel hat in dem erwähnten Buch die Lösung dieses Problems mit Hilfe eines Aprioris des geschichtlichen Erkennens zu lösen versucht, vgl. aaO. S. V: „Den Gegenstand dieses Buches bildet das Problem: wie aus dem Stoffe der unmittelbaren gelebten Wirklichkeit das theoretische Gebilde werde, das wir Geschichte nennen. Es will zeigen, daß diese Umbildung eine radikalere ist, als das naive Bewußtsein anzunehmen pflegt. Damit wird es zu einer Kritik des historischen Realismus, für den die Geschichtswissenschaft ein Spiegelbild des Geschehenen „wie es wirklich war" bedeutet; ... Es handelt sich so um das ... Apriori des geschichtlichen Erkennens. Dem historischen Realismus gegenüber, für den das Geschehen sich ohne weiteres und höchstens mit quantitativer Zusammendrängung in der Historik reproduziert, soll das Recht erwiesen werden, im kantischen Sinne zu fragen: Wie ist Geschichte möglich?" 58

Vgl. dazu R.Wehrli, Alter und Tod des Christentums bei Franz Overbeck. Zürich 1977; bes. S. 58 f. Ebenso P. Vielhauer, Franz Overbeck und die neutestamentliche Wissenschaft. In: EvTh 10 (1950/51), S. 193-207; bes. S. 196.

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1.2.1. Die Unterscheidung

von Faktum und

Bedeutung

In der theologischen Auseinandersetzung um die Geschichtsthematik bildet die Unterscheidung von Faktum und Bedeutung den wohl wichtigsten Ansatzpunkt für eine sowohl die geschichtstheoretischen wie auch die theologischen Aspekte des Themas gleichermaßen berücksichtigenden Argumentation. Das ist deshalb so, weil einerseits die Unterscheidung von Ereignis und Bedeutung eine spezifisch neuzeitliche Erkenntnisproblematik der Historie ist, andererseits aber die Theologie für die biblische Überlieferung einen unhintergehbaren Zusammenhang von Ereignis und Bedeutung behauptet, dessen Begründung eine Antwort auf die angedeutete Problematik bereithalten muß. Die für die neuere Theologie bei weitem wirkungsvollste Darstellung dieses Sachverhalts stammt zweifellos von Martin Kähler 59 . In seiner Schrift „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus" fordert Kähler, daß die Uberlieferung selbst die Bedeutung des ihr zugrundeliegenden Geschehens verbürgen müsse. Diese Forderung richtete Kähler gegen die historisch kritische Methode, die nach einer gewissermaßen hinter der Überlieferung liegenden Objektivität von Fakten forscht. Damit bewege sich die historische Forschung nach Kähler „immer innerhalb des begrenzten Gesichtskreises unserer augenblicklichen historischen Kenntnis und Kunst" 60 . Der Wandel und die gegenwartsgebundene Relativität historischer Forschung läßt die definitive Beschreibung des Geschehens nurmehr als Erkenntnisideal zu, demgegenüber die tatsächlichen Ergebnisse historischer Forschung den Charakter des Vorläufigen haben 61 . Diese Nicht-Abschließbarkeit historischen Wissens sei jedoch für den christlichen Glauben „ganz unerträglich" 62 , weil christlicher Glaube nicht ein „fernes Zukunfts-Ideal wissenschaftlicher Forschung" 63 abwarten könne, sondern der Gewißheit bedürfe, den „geschichtlichen Christum anschaulich vor sich zu haben" 64 . Daher müsse man versuchen, auf einem „anderen Weg zum geschichtlichen Christus zu gelangen, als den der Quellen-prüfenden und historisch-analogisch construierenden Kritik der historischen Theolo" „Es gibt in der neueren Theologiegeschichte nicht viele Dokumente, die in ähnlicher Weise f ü r das Denken der Nachwelt wegweisend gewesen sind, wie M. Kählers V o r trag von 1892 vor der Wuppertaler Pastoralkonferenz mit dem programmatischen Titel: „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus" (J. Roloff, Das Kerygma und der irdische Jesus. Historische Motive in den Jesuserzählungen der Evangelien. Göttingen 1970). 60 M. Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus. 2. erw. und eri. Auflage Leipzig 1928, S. 14. " Kähler, aaO., S . U . " AaO., S.29. " AaO., S. 19. " AaO., S. 18.

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gie"65. Der entscheidende Schritt dahin ist das Verständnis der biblischen Uberlieferung nicht mehr als Urkunde für eine davon unterschiedene Geschichte Jesu und des Urchristentums 66 , sondern als Urkunde der Wirkung der Person Jesu, die „keine andre (ist) als der Glaube seiner Jünger, die Überzeugung, daß man an ihm den Überwinder von Schuld, Sünde, Versucher und Tod habe" 67 . Es scheint zunächst nur eine Verschiebung und Korrektur der historischen Fragestellung zu sein, wenn Kähler in diesem Sinne nicht mehr nach der Bibel (in diesem Fall der neutestamentlichen Schriften) als Urkunde der Geschichte Jesu, sondern als Urkunde ihrer Deutung im Kerygma fragt. Insofern er diese Deutung als Wirkung der Person Jesu versteht, könnte man in gewissem Sinne sogar sagen, daß Kähler das Auseinandertreten von Faktum und Bedeutung, welches der Problematik der Rückfrage nach dem historischen Jesus zugrundeliegt, durch den Gesichtspunkt der Wirkungsgeschichte zu überwinden sucht 68 . Jedoch stellt sich dabei die Frage, wie sich der Glaube als die von der Person Jesu ausgehende „Wirkung" darstellt und begründet. Eine Antwort auf diese Frage läßt sich nach Kähler gerade nicht mehr historisch, sondern nur noch „aus der Erfahrung der einzelnen Christen heraus" 69 geben. Denn der Glaube ist keine geschichtliche, sondern eine übergeschichtliche Größe; darin unterscheidet sich die Wirkung Jesu von der Nachwirkung großer Persönlichkeiten 70 . Als Urkunde der Glaubensverkündigung ist die Bibel daher auch nicht bloß „historisches Resultat", sondern persönlich-übergeschichtliche Wirkung Jesu, die stets nur als Glaube möglich ist71. Die „Wirkung" Jesu setzt sich nicht im Medium historischer Erinnerung fort, sondern im Erlebnis des Glaubens. Das gilt nicht nur für die Bibel als der grundlegenden Verkündigung des Glaubens, sondern auch für die auf ihr sich gründende Geschichte der Kirche. Im Erlebnis des Glaubens ist so zwar die Identität christlichen Glaubens im Fortgang der Geschichte bewahrt; aber diese Identität selbst ist keine geschichtliche, sondern eine übergeschichtliche. Die Ebene der historischen Fragestellung ist dadurch verlassen, weil die Deutung des Auftretens Jesu durch den Glauben nicht mehr auf die Beziehung zu ihrem wirklichen Grund, weder im Sinne ihrer damaligen " AaO., S. 62. " AaO., S. 22. 67 AaO., S.63. 68 W. Pannenberg, Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie: systematisch-theologisch. In: TRE Bd.XII N e w York Berlin 1984, S.658-674; S.662. 69 Kähler, aaO., S.25. 70 Vgl. J. H. Schmid, Erkenntnis des geschichtlichen Christus bei Martin Kähler und bei Adolf Schlatter (Theologische Zeitschrift, Sonderband V). Basel 1978; S. 127f. 71 Vgl. J.H. Schmid, aaO., S. 129.

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Besonderheit als Ursprung des Glaubens noch im Sinne ihrer im Wandel der Geschichte sich bewährenden und erhaltenden Identität, befragbar und historisch nachvollziehbar ist 72 . Die durch die Wirksamkeit der Person Jesu vermittelte Deutung seines Auftretens im biblischen Kerygma wird vielmehr selbst zu einem unhintergehbaren Faktum, in welchem die geschichtliche Erfahrung, aus der christlicher Glaube sich begründet, keine andere ist als eben dieser Glaube selbst. Die Normativität der Deutung wird m.a.W. selbst das Faktum, von dem die Bibel Urkunde ist und das jeder Kritik, die hinter die biblische Schriften zurückfragen will, ihre Berechtigung entzieht. Die Differenz von Faktum und Bedeutung wird von Kähler gewissermaßen durch einen „kerygmatischen Biblizismus" aufgehoben. Allerdings führt Kählers biblizistische Aufhebung der Differenz von Faktum und Bedeutung zu einer Reduktion der Geschichtsthematik, weil die Deutungen des Glaubens, hinsichtlich sowohl der für ihn grundlegenden Ereignisse des Auftretens und Geschicks Jesu wie auch im Blick auf seine Bewährung in den Prozessen sich verändernder Wirklichkeit, nicht mehr als sachgemäße historische Beschreibung begründet werden können. Im Gegenteil unterliegen die Deutungen des Glaubens ständig dem Verdacht, nur äußerlich zu den historischen Beschreibungen hinzuzutreten. Ein geschichtliches Verständnis des Zusammenhangs von Ereignis und Bedeutung scheint daher nur möglich zu sein, wenn zugleich zwischen Ereignis und Deutung methodisch unterschieden wird. Denn erst die Unterscheidung von Ereignis und Deutung ermöglicht es, die Deutungen als angemessene Beschreibungen des Geschehens überprüfen bzw. unter den Bedingungen sich verändernder Wirklichkeit modifizieren zu können. Bereits W.Herrmann hat daher gegen Kähler auf die Notwendigkeit einer Differenzierung von Faktum und Bedeutung, von historischem Jesus und Kergyma hingewiesen. Allerdings ist es hier nicht möglich, die Auseinandersetzungen um die Kerygmatheologie sowie deren Modifikationen weiter zu verfolgen. Neben W.Herrmann wäre hier insbesondere R. Bultmann zu nennen, der.die Kerygmatheo-

72 Im Kreis der liberalen T h e o l o g i e ist daher mit guten G r ü n d e n an der Unterscheid u n g der Person J e s u Christi und ihrer Wirkungen festgehalten worden, um damit den Blick sowohl auf die geschichtlichen V e r ä n d e r u n g e n solcher Wirkungen wie auch auf ihre B e g r ü n d u n g in Auftreten und V e r k ü n d i g u n g der Person J e s u o f f e n z u h a l t e n . S o beschreibt z. B. R . R o t h e das Christentum zwar auch „als Inbegriff der von J e s u s Christus a u s g e g a n g e n e n und f o r t und f o r t ausgehenden geschichtlichen W i r k u n g e n " (ebd. S . 9 4 ) . Aber alles, was „Wirkung dieses J e s u s Christus' ist, das ist seiner N a t u r nach veränderlich" (ebd. S. 102). D a s Christentum wird s o g a r notwendig f o r t w ä h r e n d ein anderes, weil Christus fortwährend geschichtliche Wirkungen auf die Welt ausübt (ebd. S . 9 4 ) . D a r u m auch versteht R o t h e die Kontinuität dieser Wirkungen Christi als Kontinuität einer vom Glauben selbst her begründeten Geschichte (vgl. ebd. S . 9 6 f . ) .

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logie mit der formgeschichtlichen Arbeit am Neuen Testament zu verbinden und dadurch zu präzisieren gesucht hat 73 . Das entscheidende Problem der auf Kähler folgenden Entwicklung bleibt jedoch die Frage nach dem Verhältnis von Faktum und Deutung. Diese Frage teilt, wie bereits angedeutet, die Theologie mit der Geschichtswissenschaft. Die Unterscheidung von Faktum und Deutung begründet dort die Rationalität historischen Wissens, insofern sie die Beschreibung von Ereignissen der kritischen Prüfung und Modifikation zu unterziehen erlaubt. Auch ein theologisches Verständnis der Geschichte kann auf diesen Gesichtspunkt historischer Rationalität nicht verzichten. In der neueren Theologie ist die Unterscheidung von Ereignis und Deutung besonders von O.Cullmann berücksichtigt und gegen die Kerygmatheologie zur Geltung gebracht worden. Allerdings drohen bei Cullmann nun, anders als bei der Kerygmatheologie, Ereignis und Deutung auseinanderzufallen, weil die Deutung der Ereignisse nicht mehr in der Beschreibung der Ereignisse selbst begründet ist. Die Position Cullmanns soll daher im Folgenden kurz skizziert werden. Wie bereits erwähnt, hält Cullmann gegen die Kerygmatheologie an der Unterscheidung von Ereignis und Deutung fest. „Es ist", wie Cullmann schreibt, „ . . . eine Illusion, zu meinen, wir könnten der Schwierigkeit, die Geschichte . . . freizulegen, dadurch entgehen, daß wir sagen, wir beschäftigen uns nur mit der Entstehung des Kerygmas, ohne die Frage nach den geschichtlichen Ereignissen zu stellen. D a das Kerygma durch Entwicklung im Zusammenhang mit Ereignissen zustande kommt, kann es gar nicht erforscht werden, ohne daß jedenfalls versucht wird, bei seinem Zustandekommen zwischen Geschichte und Deutung . . . zu unterscheiden" 74 . Die Unterscheidung von Faktum und Deutung bildet daher auch den methodischen Ausgangspunkt für Cullmanns Geschichtsverständnis, das an die traditionelle Darstellung der biblischen Überlieferung als Heilsgeschichte anknüpft. Grundlage des heilsgeschichtlichen Verständnisses sind zunächst „nackte Ereignisse" 75 , deren Faktizität auf unproblematische Weise evident ist. Ihren kerygmatischen Sinn als Ereignisse, in denen sich Gottes Heilswille offenbart, gewinnen sie erst im Lichte einer entsprechenden Deutung, die das Ereignis in einen offenbarungsgeschichtlichen Deutungszusammenhang mit früheren Ereignissen stellt. Die Deutung selbst enthält zwar „auch unhistorische Elemente, Sagen, Legenden, Mythen, um den kerygmatischen Sinn der Ereignisfolge hervortreten 73 Vgl. J . R o l o f f , D a s K e r y g m a und der historische J e s u s . Historische Motive in den J e s u s ü b e r l i e f e r u n g e n der Evangelien. Göttingen 1970, S. 18 ff. 7 4 O . C u l l m a n n , Heil als Geschichte. Heilsgeschichte Existenz im N e u e n T e s t a m e n t . 2 . d u r c h g e s . Aufl. T ü b i n g e n 1967, S . 7 7 . 75 O . C u l l m a n n , aaO., S . 7 2 .

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zu lassen"76; sie wird aber immer durch konkrete Ereignisse veranlaßt und bezieht sich auf sie77. Mit jedem neu eintretenden Ereignis ändert sich daher der heilsgeschichtliche Deutungszusammenhang, um auch das jeweils neu eintreffende Ereignis integrieren zu können 78 . Das „Kergyma" ist somit nach Cullmann nicht eine übergeschichtliche Größe, sondern eine im Zusammenhang der Ereignisse sich erst herausbildende und entwickelnde Darstellung des Heilshandelns Gottes. Dadurch vermag Cullmann die Erfahrungen sich verändernder Wirklichkeit als konstitutives Element der Identität des Glaubens zu würdigen 79 , ohne das geschichtswissenschaftliche Erkenntnisinteresse vernachlässigen zu müssen. Im Gegenteil bilden die Erfahrungen sich verändernder Wirklichkeit einen integralen Bestandteil des theologischen Verständnisses von Geschichte als Heilsgeschichte, das sich aus dem „Zusammenwirken von Ereignis und Deutung" ergibt 80 . Jedoch stellt sich jetzt erst die unter geschichtstheoretischen Gesichtspunkten entscheidende Frage, wie nämlich der Zusammenhang von Ereignis und Deutung begründet wird. Von der Beantwortung dieser Frage hängt es letztlich ab, ob die Deutung der Ereignisse auch zu deren Beschreibung beiträgt und insofern als ein konstitutives Element historischer Urteilsbildung gelten kann; andernfalls müßte die Deutung der Ereignisse diesen selbst äußerlich bleiben. Gerade darin liegt der schwache Punkt der Argumentation Cullmanns. Denn nach Cullmann wird die Deutung der Ereignisse in einer besonderen Offenbarung (im Falle der atl. Überlieferung: an den Propheten) gegeben. Die Deutung der betreffenden Ereignisse erhält dadurch nicht nur eine neben der historischen Beschreibung selbständige Begründung; sie bildet darüber hinaus auch eine zweite Geschichte neben der Ereignisgeschichte. Man könnte diese „zweite Geschichte" neben der Ereignisgeschichte als Deutungsgeschichte bezeichnen. Die Problematik der Verselbständigung einer Deutungsgeschichte liegt jedoch darin, daß die unhistorischen und mythologischen Vorstellungen, die sie enthält, ein Geschehen beschreiben, das selbst gar nicht mehr historisch ist. Ein Beispiel dafür ist Cullmanns Verständnis der Erzählung vom Sündenfall: „Auch wenn wir", wie Cullmann schreibt, „den nicht-historischen Charakter der Erzählung vom Sündigen der ersten Menschen hervorheben, so halten wir umso mehr daran fest, daß diese genau wie die in der Bibel erzählten historischen Ereignisse Of76

Ebd. S.75. „ . . . der Akt der Deutung . . . wird", wie Cullmann schreibt, „als zur Heilsgeschichte selber gehörig angesehen" (Cullmann, aaO., S.71). 78 Ebd. S. 104. 79 Cullmann kann sogar davon sprechen, daß die geschichtliche Kontingenz mit zur Heilsgeschichte gehört; vgl. ebd. S. 105.106. 80 Ebd. S. 117. 77

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fenbarung bietet. Offenbar nicht über die Beschreibung des Sündenzustandes des Menschen, sondern wirklich über ein Urgeschehen, in dem der Mensch sich gegen seine göttliche Bestimmung aufgelehnt hat" 81 . Unter historischen Gesichtspunkten ist diese Unterscheidung von Ereignisgeschichte und Deutungsgeschichte nicht nur deshalb bedenklich, weil sie die Unterscheidung von Mythos und Geschichte relativiert, sondern mehr noch deshalb, weil sie die Deutung der Ereignisse nicht mehr als Moment der Beschreibung des Was-seins der Ereignisse selbst zu begreifen vermag. Die Normativität der Deutung wird vielmehr theologisch durch Offenbarung begründet und bleibt so der historischen Beschreibung äußerlich. Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit der Geschichtswissenschaft ist unter diesen Voraussetzungen kaum möglich, weil die Normativität theologischer Sinndeutungen der Geschichte hier von vornherein nicht den Anspruch erhebt, historisch, und das heißt in der Beschreibung der Ereignisse selbst, begründet zu sein. Wenn sich jedoch die Normativität theologischer Sinndeutungen auf konkrete Geschehnisse bezieht, wie das zumindest im Blick auf den Ursprung christlichen Glaubens der Fall ist, dann muß sie sich allerdings als konstitutives Moment der Beschreibung der Ereignisse selbst bewähren lassen; das heißt, sie muß in einer methodisch begründbaren Weise zu der Beschreibung dessen, was das Ereignis als dieses besondere Ereignis ist, gehören. Diese Überlegungen verdeutlichen das besondere Gewicht, das der Verhältnisbestimmung von Ereignis und Deutung in der interdisziplinären Auseinandersetzung um das Geschichtsverständnis zukommt. 1.2.2.

Die Enthistorisiemng

der

Geschichte

Ihren stärksten Ausdruck hat die Ablösung der Theologie von der geschichtsphilosophischen und geschichtswissenschaftlichen Tradition zweifellos im Umkreis der sogenannten dialektischen Theologie gefunden. Die theologische Ablehnung des Geschichtsbegriffs wird dort zu der Behauptung zugespitzt, daß „weder .Geschichte' noch ,Zeit' ... eine theologische Kategorie" 82 sind; oder doch zumindest eine theologische Kategorie nur insofern, als sie einen negativen Befund aussprechen: „Die Geschichte, die empirische Geschichte nämlich", so schreibt z.B. E. Reisner, „ist zu betrachten als der Todesgang der in Adam sündig gewordenen Menschheit, als der Fall bis zum Tage des Gerichts" 83 . - „Ge81

Ebd. S. 126. So H.-J. Iwand, Rechtfertigungsglaube und Christusglaube. Eine Untersuchung zur Systematik der Rechtfertigungslehre Luthers in ihren Anfängen. Neudruck Darmstadt 1966, S.4. 83 E. Reisner, Das Recht auf Geschichtsphilosophie. In: ZdZ 6 (1928), S. 126-139; S. 137. Vgl. auch ders., Die Geschichte und das Reich Gottes. In: EvTh 11 (1935), S. 82

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schichte, Zeitlichkeit und Sündenfall gehören zusammen" 84 ; daher könne eine theologische Beschäftigung mit der Geschichte „bloß die Aufgabe haben, die wenigstens relative Unwirklichkeit der Welt nach dem Sündenfall aufzuzeigen und auf ihren Ursprung im sündigen Menschen zurückzuführen" 85 . Geschichte wird dabei auf eine quasi-existentielle Geschichte „zwischen dem göttlichen Ich und dem menschlichen Du" 86 reduziert, deren Inhalt theologisch gesprochen „Schöpfung, Sündenfall und Verwerfung in einem Augenblick" 87 ist. In Karl Barths Kommentar zum Römerbrief von 1922 ist der Gegensatz von Geschichte und göttlichem Handeln programmatisch auf die Spitze getrieben; am Maßstab Gottes gemessen verliert die Geschichte ihre Konturen: „Die Täler werden erhöht, die Hügel erniedrigt. ... Die Menschen treten in eine Linie."88 Was dagegen der forschende Historiker als vermeintlich sinnvolle Besonderheit und Mannigfaltigkeit geschichtlichen Lebens zurückbehält, ist nach Barth ein „zentrifugales Wimmeln und Geschleudertwerden bloßer Erscheinungen", ein „photographiertes und analysiertes Chaos" 89 . Die Entgegensetzung von Geschichte und göttlichem Handeln steht hier im Zusammenhang mit Barths Verhältnisbestimmung von Zeit und Ewigkeit 90 . Unter dem Gesichtspunkt der hier in erster Linie interessierenden geschichtstheoretischen Fragestellung jedoch rückt ein anderer Aspekt in den Vordergrund, der viel unmittelbarer mit der Genese und Problematik des neuzeitlichen Geschichtsbegriffs zusammenhängt und auch bei anderen zur dialektischen Theologie gehörenden oder ihr doch zumindest nahestehenden - Theologen als treibendes Motiv ihrer antihistorischen Kritik geltend gemacht werden kann: 183-198; S. 184: „Für den unbestechlichen Blick des Glaubens ist die Geschichte der Ort, wo der auf die Erde herabgekommene Sohn am Kreuz stirbt, d. h. w o Gott zuschanden wird; und damit ist gesagt, daß diese Geschichte selbst vor Gott und seinem Reich zuschanden werden muß, wenn wir sie im Lichte der Offenbarung einmal als das erkannt haben, was sie wirklich ist. Für alle mildernden Ausgleiche zwischen Gottesreich und Geschichte hat das Evangelium demgemäß nur ein hartes Nein. ... Diese Alternative wird auch dadurch nicht aufgehoben, daß sich Gott in der Geschichte geoffenbart hat, ja die Offenbarung bringt vielmehr den Bruch, von dem wir sonst gar nichts wüßten, gerade erst zum Vorschein." 84

E. Reisner, Das Recht auf Geschichtsphilosophie, aaO., S. 133. " Ebd. S. 134. Vgl. auch W. Trillhaas, Vom geschichtlichen Denken in der Theologie. In: ThLZ 80 (1955), Sp.513-522, der in diesem Sinne die Geschichte eine „Form der Verborgenheit Gottes" nennt (Sp.520). 86 W. Wiesner, Offenbarung und Geschichte, aaO., S. 326 f. 87 W. Wiesner, Offenbarung und Geschichte, aaO., S.334. 88 K. Barth, Der Römerbrief. 11., unveränderter Nachdruck der neuen Bearbeitung 1922. Zürich 1976, S.51. 89 K. Barth, aaO., S.122. 90 Vgl. schon P. Althaus, Theologie und Geschichte. In: ZSyTh 1/4 (1923/24), S. 741-786; S.742.

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Gemeint ist die zunehmende Anthropologisierung des Geschichtsbegriffs, in deren Verlauf sich die Begründung geschichtlichen Sinnbewußtseins auf die in der Geschichte handelnden Subjekte bzw. auf den die Geschichte erforschenden und darstellenden Historiker verlagerte. Die antihistorische Kritik der dialektischen Theologie muß daher auch und vor allem als Kritik an der Anthropozentrik neuzeitlichen Geschichtsbewußtseins gelesen werden. Dafür spricht schon die Tatsache, daß bei ihnen das Nein zur Geschichte ausschließlich als Kritik ihrer anthropologischen Konstitution sich begründet 91 . Das Prinzip dieser Kritik ist freilich nicht eine Bestreitung der Anthropozentrik, sondern ihre Radikalisierung und Steigerung zu einem theologisch konsequent als Sünde qualifizierten Anthropozentrismus, dem die Absolutheit Gottes als Widerspruch gegen die eigene Selbstbehauptung begegnet. Diese dialektische Argumentation ist jedoch problematisch. Denn theologisch gesehen ist es zwar Gott, der in diesem Widerspruch die Initiative behält. Aber die anthropozentrische Übersteigerung des Geschichtsbegriffs schreibt dem Handeln Gottes immerhin seine Logik vor. Gegenüber der anthropozentrisch verabsolutierten Geschichte kann das Handeln Gottes nur ein ebenso absoluter Widerspruch sein; der Widerspruch Gottes bedeutet daher nichts weniger als das Ende der Geschichte und ihr eschatologisches Gericht. „Eschatologie" wird so zum Abgrenzungs- und Gegenbegriff der Theologie gegen die Anthropozentrik des neuzeitlichen Geschichtsbegriffs, die dadurch allerdings auch, wie F. Holmström bemerkt, „fast zu ungeschichtlicher Symbolik entartet" 92 . Beispiele dafür lassen sich auch gegenwärtig leicht zitieren. So schreibt etwa W. Kreck: „Wenn Eschatologie es mit dem künftigen Handeln Gottes in Jesus Christus zu tun hat, mit dem noch ausstehenden, aber durch Christi Gekommensein und sein Kommen im Wort verbürgten, alles vollendenden Tun Gottes, so kann davon doch nur so recht geredet werden, daß es mir in der Verkündigung selbst wieder zur Anrede wird, mich zum Glauben und Gehorsam rufender Zuspruch und Anspruch." 93 Es ist hier nicht möglich, auf alle Aspekte der angedeuteten Argumentationsstruktur einzugehen. Die eigentliche Schwierigkeit dieser 9 1 Vgl. K . B a r t h , D e r R ö m e r b r i e f , S . 5 1 : „Geschichte ist das Spiel der vermeintlichen V o r z ü g e des Geistes und der K r a f t der einen M e n s c h e n vor den andern, der durch die I d e o l o g i e von Recht und Freiheit heuchlerisch verhüllte K a m p f ums Dasein, das A u f und A b w o g e n alter und neuer Menschengerechtigkeiten, die einander gegenseitig an Feierlichkeit und Nichtigkeit überbieten." G e n a u diese A n t h r o p o z e n t r i k der Geschichte ist es, die vor dem Urteil Gottes nicht bestehen kann. 92 F. H o l m s t r ö m , D a s eschatologische D e n k e n der Gegenwart. D i e weltanschaulichen H e m m u n g e n der eschatologischen Renaissance in ideengeschichtlicher und prinzipieller Bedeutung. In: Z S y T h 12 (1934/35), S. 3 1 4 - 3 5 9 ; S . 3 3 1 . 9 3 W. Kreck, D i e Z u k u n f t des G e k o m m e n e n . G r u n d p r o b l e m e der Eschatologie. M ü n chen 1961, S. 107.

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„dialektischen" Argumentation liegt aber zweifellos darin, daß sie die anthropologische Fixierung neuzeitlichen Geschichtsdenkens nicht problematisiert, sondern als Strategie ihrer eigenen Begründung benutzt. In der neueren Theologie hat insbesondere J. Moltmann diese Argumentation der dialektischen Theologie fortzusetzen versucht. Das christliche „Geschichtsbewußtsein" begründet sich nach Moltmann aus dem behaupteten Widerspruch der eschatologischen Zukunft Gottes zur gegebenen Wirklichkeit: „Die Geschichtlichkeit des Wirklichen", so schreibt J. Moltmann, „wird in diesem Widerspruch an der Frontlinie der Gegenwart zur verheißenden Zukunft erfahren" 94 . Jede Bestimmung des Geschichtsbegriffs, die sich der Radikalität dieser theologischen Antithetik nicht fügt, disqualifiziert sich nach Moltmann von vornherein selber als „Datierung und Verrechnung der Wirklichkeit zu Fakten in einem abgeschlossenen Wirkungszusammenhang" 95 , als positivistisch „geschlossener Raum eines innerzeitlichen Kalendariums datierbarer und fixierbarer Ereignisse" 96 , in welchem Geschichte auf einen „Wirkungszusammenhang von Substanzen" 97 hin naturalisiert wird. 1.2.3.

Sittliche

Einsicht

und geschichtliche

Tat

Zuletzt sei hier noch auf den dritten Ansatz theologischer Geschichtsauffassung hingewiesen. Er unterscheidet sich von den vorher genannten dadurch, daß er den Bedeutungsverlust historischer Faktizität durch eine anthropologische Argumentation zu überwinden sucht. Der Sinn der Geschichte wird nicht mehr aus der Beschreibung historischer Faktizität selbst gewonnen, sondern aus der Struktur menschlichen Handelns, das seinerseits aller historischen Faktizität voraus- und zugrundeliegt. Besonders deutlich tritt dieser anthropologische Ansatz in der Theologie von P. Althaus hervor. Eine kurze Skizze seiner Gedanken soll daher zur Erkläuterung dieses dritten Argumentationstyps theologischer Geschichtsauffassung dienen. „Geschichte gibt es, weil der Mensch da ist: wollend, handelnd, auf wesenhaft menschliche Ziele gespannt, in alledem das Geschehen bestimmend und von ihm betroffen." 98 Damit hat Althaus den entscheidenden Gedanken formuliert, mit dem der Handlungsbegriff als anthropologischer Grundbegriff in die Geschichtsthematik eingeführt 94 J. Moltmann, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie. München 1977, 10. Aufl., S.204. 95 J. Moltmann, Exegese und Eschatologie der Geschichte. In: EvTh 23 (1963), S. 31-66; S. 57. 96 J. Moltmann, Exegese und Eschatologie der Geschichte, aaO., S. 59. 97 Ebd. S. 55. 98 P. Althaus, Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik. Gütersloh 1948, S. 103 f.

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wird: Geschichte konstitutiert sich als Zusammenhang menschlichen Handelns. Allerdings ist dieses Handeln nach Althaus kein instrumentelles, auf die Gegenständlichkeit der Welt gerichtetes Handeln, das im Fortschritt der Möglichkeiten seine Resultate als tote Vergangenheit hinter sich läßt. Denn alles Handeln bewegt sich umgekehrt immer schon in einer vorgegebenen, nicht frei gewählten geschichtlichen Situation, aus der es sich nicht entlassen kann; die Geschichte wird zum Schicksal, das der Mensch „als solches nicht wenden, sondern nur hinnehmen kann" 9 9 . Das Schicksal ist aber „kein totes und tötendes Fatum" 1 0 0 , weil es dem Menschen in der personalen Verfaßtheit eines Gemeinschaftslebens begegnet 101 , das seinerseits vom Menschen personale Verantwortung, Entscheidung und Stellungnahme fordert 1 0 2 . Geschichte ist daher zu allererst „der Inbegriff meiner Verantwortungen und Bindungen" 1 0 3 . Im Unterschied zum zweckrationalen, auf die Gegenständlichkeit der Welt gerichteten Handeln gewinnt hier das Handeln in der Situation personaler Verantwortung und Gegenseitigkeit eine sittliche Dimension. „In der sittlichen Erfahrung erschließt sich", wie Althaus daher schreibt, „das Innenbild der Geschichte" 104 . Der Handlungsbegriff wird dadurch in seiner Bedeutung für das Geschichtsverständnis zugleich ausgeweitet. Der Begriff des Handelns beschränkt sich nicht mehr nur auf die für die Möglichkeiten der Zukunft sich entwerfende Tat, sondern umfaßt auch noch das Erleiden und Ertragen einer nicht frei gewählten Situation 105 . Das Moment der in jeder historischen Situation begegnenden Kontingenz und Schicksalhaftigkeit wird gewissermaßen durch den Tatcharakter der Verantwortung entkräftet und die Geschichte so in den gegenwärtigen Tatzusammenhang menschlicher Existenz hineingenommen. Auf diese Weise gewinnt die Geschichte eine über ihre kontingente Faktizität hinausgehende Normativität, welche zum Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen von Althaus wird. Vor allem betont Althaus dabei das in dieser Normativität enthaltene Moment der Unbedingtheit ihres Anspruchs. Die Normativität der Geschichte ist zwar immer die einer konkreten Situation, welche die sittliche Verantwortung des Menschen fordert; " Ebd. S. 104: „Ich muß in einer geschichtlichen Stunde leben, die ich mir nicht gewählt habe" (S. 104). 100 Ebd. S. 105. ιοί Vgl. p. Althaus, Theologie und Geschichte. Zur Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie. In: ZSyTh 1/4 (1923/24), S.741-786; S.749. 102 Die christliche Wahrheit, S. 105: „Es stellt ihm seine Aufgabe und gibt ihm seine Verantwortung . . . " 103 Theologie und Geschichte, aaO., S.748. 104 Ebd. S . 7 4 7 f . 105 Die christliche Wahrheit, S. 105.

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aber in den konkreten Situationen tritt doch eine unbedingte sittliche Forderung an den Menschen heran, die gerade aufgrund ihrer Unbedingtheit nicht mehr allein aus der Geschichte heraus erklärt zu werden vermag. Es entsteht eine „Spannung zwischen der Bedingtheit, Diesseitigkeit, ja oft Nichtigkeit des geschichtlichen Momentes und der Unbedingtheit der Verantwortung" 106 , die nach Althaus nurmehr durch den Gottesgedanken zusammengehalten wird. Es ist Gott selbst, der einerseits die unbedingte Forderung stellt, andererseits aber auch den Menschen an die Geschichte in ihrer Bedingtheit und Nichtigkeit bindet. Die Vertiefung der sittlichen Erfahrung der Geschichte bedeutet daher nichts weniger als „eine Vertiefung der Gotteserkenntnis"; Sittlichkeit und Religion sind konvergent, wenn auch nicht identisch 107 . Aus dieser theologischen Steigerung des Begriffs der Sittlichkeit zum Gebot Gottes ergeben sich nun aber zwei auf die Begründung des Geschichtsthemas gegenläufig sich auswirkende Konsequenzen. So muß Althaus feststellen, daß die (theologisch begründete) Unbedingtheit sittlichen Sollens gerade aufgrund ihrer Unbedingtheit in der Bedingtheit und Endlichkeit menschlichen Handelns keine definitive Gestalt gewinnen kann. Althaus weiß sich sogar darin mit Barth und Gogarten einig, „daß alle, ausnahmslos alle geschichtlichen Werte und Verhältnisse als geschichtliche zum Tode bestimmt sind und unter der Krisis der Ewigkeit stehen" 108 . Die Tatsache unbedingter Verantwortung des Menschen für sein Handeln wird dadurch zwar nicht entkräftet; sie wird aber von der kontingenten Faktizität der konkreten Situation abgelöst. Dann stellt sich aber die Frage, welche Bedeutung in diesem ethischtheologischen Argumentationsgang der historischen Faktizität für sich genommen eigentlich zukommt. Denn was zu tun ist, sagt ja letztlich nicht die historische Situation als solche und für sich allein, „sondern Gottes Gebote und Ordnungen" 109 . Droht die Spannung von Bedingtheit und Unbedingtheit nicht den Geschichtsbegriff zu sprengen? Die Spannung kann jedenfalls nicht im Begriff der Geschichte als objektiver Faktizität ausgetragen werden, denn hier begegnen sich Bedingtheit und Unbedingtheit in vermittlungslosem Beieinander, was letztlich nichts anderes als Gegensätzlichkeit bedeutet. Doch damit wäre Althaus dem Gegensatz von Endlichem und Unendlichem erlegen, den er an der dialektischen Theologie gerade bekämpft. Beide Aspekte werden 106

Theologie und Geschichte, aaO., S. 748. Das Zitat ebd. S.750. Die ethische Beurteilung der Geschichte reicht nach Althaus nicht aus, um die Verlorenheit der Welt aufgrund der Sünde zu erkennen, denn die Geschichte des Bösen werde von einer Geschichte des Guten begleitet. Vgl. dazu P. Althaus, Heilsgeschichte und Eschatologie. In: ZSyTh 2/4 (1924/25), S.605-676; S.612. 108 Theologie und Geschichte, aaO., S.748. 109 P. Althaus, Christliche Wahrheit, S. 105. 107

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von Althaus daher durch den Begriff des Handelns vermittelt. Die undiskutierbare Tatsächlichkeit der historischen Situation läßt die Verwantwortung zum Handeln lediglich am konkreten Fall praktisch werden, während die sittliche Normativität des Handelns sich aus dem Gebot Gottes begründet. Der anthropologische Ansatz tritt dadurch in aller Deutlichkeit hervor. Denn wenn das Gebot Gottes nicht der Bedingtheit der Geschichte angehört, gleichwohl aber in die Geschichte eingeht und in ihr den Menschen zur Verantwortung ruft, dann ist es die Struktur menschlichen Handelns, welche beides zusammenbringt. Diese Verlagerung des Geschichtsthemas auf die Anthropologie durch den Handlungsbegriff wird nicht zuletzt durch die Bevorzugung des Begriffs der Geschichtlichkeit vor demjenigen der Geschichte augenfällig. Ohne die Problematik dieser anthropologischen Argumentation hier in allen Details weiter verfolgen zu können, wird doch bereits deutlich, daß sie im Bereich der Geschichtsthematik zu einer Reduktion der historischen Fragestellung führt. Denn der Ansatz von Althaus gewinnt die gegenwartsrelevante Normativität der Geschichte nicht aus einer geschichtslogischen Reflexion auf die Beschreibung von Ereignissen selbst, sondern auf dem Umweg eines sittlich qualifizierten Handungsbegriffs. Der Handlungsbegriff verbindet historische Faktizität und gegenwartsrelevante Bedeutung dadurch, daß die Normativität des Sittlichen im Medium des Handelns zum praktischen Inhalt der Geschichte wird. Handlung und Geschichte bleiben dabei aufgrund der heteronomen Begründung sittlicher Normativität unterschieden. W. Wimmer registriert daher zu Recht eine „von der ... Welt und der Geschichte abstrahierende Konzentrierung auf die personale Existenz, deren innere Haltung entscheidend ist"110. Die in dem vorangegangenen Uberblick dargestellten Argumentationstypen theologischer Geschichtsauffassung haben die wesentlichen Probleme deutlich gemacht. Was der darin sich spiegelnde Verlust historisch konkreten Wissens für das Wahrheitsbewußtsein der Theologie bedeutet, hat K. Bornhausen mit überraschender Eindeutigkeit schon 1927 ausgesprochen: „Die deutsche evangelische Theologie", so schrieb er, „hat kein vernünftiges Vertrauen mehr zu den historischen Tatsachen, die seit zwei Jahrtausenden ihren Glauben begründet haben; sie sucht allenthalben die rationalen Geschichtsbestände durch Dogma,

110 W. Wimmer, Eschatologie der Rechtfertigung. Paul Althaus' Vermittlungsversuch zwischen uneschatologischer und nureschatologischer Theologie. München 1979. S. 310.

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Glaubensmystik und Kultmystik zu ersetzen" 1 1 1 . Ganz ähnlich hat in jüngerer Zeit auch Ch. Hartlich geurteilt 1 1 2 . Wie kommt, so ist daher zu fragen, die Theologie zu dieser Abgrenzung gegenüber dem historischen Bewußtsein? Denn „aus der Tatsache, daß der Glaube im erkennenden Bewußtsein der Ereignisse des geschichtlichen Handelns nicht aufgeht, darf man ja noch keinen Gegensatz zwischen dem Glauben und den historisch-theologischen Inhalten konstruieren, die ihm vorgegeben sind. Sonst würde der Glaube auf seine formale Struktur fixiert und so gerade der Aspekt entleert, um deretwillen er als glaubendes Vertrauen auf den kommenden Gott bevollmächtigt ist" 1 1 3 . Die Frage nach den Gründen der Ablösung theologischen Denkens vom neuzeitlichen historischen Bewußtsein kann und soll hier nicht in ihrer ganzen historischen Dimension beantwortet werden; dazu bedürfe es weiterer, den Rahmen dieser Arbeit sprengender Detailuntersuchungen über die Entwicklung des historischen Denkens 1 1 4 , aber

111 K. Bornhausen, Der Erlöser. Seine Bedeutung in Geschichte und Glauben. Leipzig 1927. S . 2 ; vgl. auch S. V I I : „Bücher, die die Geschichte ernst nehmen, werde heute belächelt." Bornhausen selbst hat sich allerdings nicht ausdrücklich um die Klärung des G e schichtsbegriffs bemüht; vielmehr meinte er, daß mit der im Pietismus gepflegten persönlichen Verlebendigung und Nachahmung Jesu der geschichtlichen Bedeutung des Erlösers für das christliche Wahrheitsbewußtsein Genüge getan sei. 1 , 2 Ch. Hartlich, Historisch-kritische Methode in ihrer Anwendung auf Geschehnisaussagen der hl. Schrift. In: Z T h K 75 (1978), S. 4 4 7 - 4 8 4 ; S . 4 6 9 : „Soweit neuerdings Stellungnahmen zur theologischen Relevanz der historisch-kritischen Methode vorgelegt worden sind, bewegen sich diese fast ausnahmslos . . . in der Richtung, der menschlichen Wahrheitsfindung mit Bezug auf Geschehnisaussagen der hl. Schrift nur eine beschränkte Geltung zuzugestehen, mithin der menschlichen Rationalität bloß einen usus Instrumentalis im Dienst vorgesetzter Theologumena einzuräumen . . . " Obwohl Hartlich das historisch-kritische Verfahren ausdrücklich anerkennt ( S . 4 7 3 : „für die Ermittlung der W a h r heit ist die historisch-kritische Methode die einzig mögliche."), gelangt auch er nicht zu einer positiven Beurteilung historischen Wissens für das Wahrheitsbewußtsein des christlichen Glaubens.

T . R e n d t o r f f , Säkularisierung als theologisches Problem, aaO., S. 334 f. V o r allem wäre dabei das Verhältnis der Theologie zum Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts und seiner schließlichen Krise näher zu untersuchen. Vgl. in Ansätzen dazu Wolfgang Schweizer, Die Bedeutung des Historismus für die Theologie. In: Studium Generale 7 (1954), S. 5 0 1 - 5 1 2 . Schweizer sieht die aktuellen Gründe für die Ablösung der Theologie vom geschichtlichen Denken in der nicht bewältigten Auseinandersetzung mit dem Historismus des 19. Jahrhunderts, der eine doppelte Wirkung auf die Theologie gehabt habe: „indem er die Wahrheitsfrage relativierte, stellte er die Theologie vor die scheinbar unlösliche Frage nach der sogenannten Absolutheit des Christentums. So gesehen, handelte es sich also um einen Angriff auf die Substanz des christlichen Glaubens. Die Theologie suchte sich mit wechselndem Erfolg und unter Anwendung verschiedener taktischen Methoden dieses Angriffs zu erwehren. D a ß ihr das . . . nicht gelang, wird an der zweiten Wirkung des Historismus auf die Theologie deutlich: jene Kampfsituation hat nämlich die Theologie merkwürdigerweise nicht daran gehindert, dem Gegner . . . ihr eigenes Arbeitsfeld zu überlassen." 113

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auch der Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts. Ungeachtet der neuerlichen Kontroverse um den Säkularisierungsbegriff 115 richtet sich jedoch das Hauptaugenmerk in der Begründung dieses Ablösungsprozesses auf den Begriff der Säkularisierung116. Säkularisierung steht dabei für die unter anderem bereits in der Fortschrittsidee wirksam gewordene anthropologische Neuformulierung der theologisch konzipierten Einheit des Geschehens als einer unviersalen, unter dem Willen Gottes stehenden Geschichte vom Beginn der Welt an bis zu ihrem eschatologischen Ende 117 . Mit dieser Anthropologisierung, die in Zusammen115

Vgl. H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt 1966. „Die Säkularisierung als historisches Problem ... ist trotz zunehmend geläufiger Verwendung des Begriffs noch nicht in der Breite erforscht und zusammenhängend durchdacht worden" (R. Wittram, Möglichkeiten und Grenzen der Geschichtswissenschaft in der Gegenwart. In: ZThK 62 (1965, S. 430-457; S.440). Die wesentlichen Fragen, die sich mit dem Problem der Säkularisierung verbinden, hat R. Wittram daher folgendermaßen zusammengefaßt: Mit dem Begriff der Säkularisierung sei „eine Formel vorgeschlagen, die Wesentliches vom Lauf der europäischen Geschichte wiedergeben soll und zugleich den Ansatz zu einer Deutung enthält. Die Frage, die sich daran knüpft, zielt nicht auf den Vorgang der Säkularisierung als solchen: daß christliche Denkinhalte und Begriffe in einen innerweltlichen Zusammenhang transportiert worden sind, ist vielfältig nachgewiesen. Es ist gewiß auch richtig, daß diese Umsetzungen nicht im Widerspruch zur christlichen Botschaft geschehen zu sein brauchen und daß die Tendenz zur Entsakralisierung der Welt als eine späte Konsequenz des christlichen Glaubens angesehen werden kann. Die Frage ist vielmehr die, ob wir mit dem Nachweis der Säkularisierung als eines geistigen Wandels schon die geschichtliche Veränderung als Ganze begreifen.... Unsere Frage erweitert sich dahin, ob ein geistesgeschichtlicher Prozeß für den ganzen Geschichtslauf stehen kann, was die Frage nach sich zieht, wie denn überhaupt von einem „Ganzen" der Geschichte die Rede sein kann. Hierfür muß geklärt werden, was sich mit dem Begriff der Säkularisierung erfassen läßt und wie wir uns die großen Veränderungen in der Geschichte überhaupt vorstellen können" (ebd. S.440). 116

Vgl. in Auswahl die folgende Literatur: R. Fester, Die Säkularisierung der Historie. In: Historische Vierteljahresschrift 11 (1908), S.441-459; H.Becker, Säkularisierungsprozesse. In: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 10 (1932), S.283-294; F.Gogarten, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theologisches Problem 1958; A. Rieh, Die Weltlichkeit des Glaubens. Diakonie im Horizont der Säkularisierung. 1966; J. M. Lochmann, Herrschaft Christi in der säkularisierten Welt (Theologische Studien 86) 1967; H.Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs. München 1965; H . Blumenberg, Säkularisation. Kritik einer Kategorie historischer Illegitimität. In: H.Kuhn/F.Wiedmann (Hrsg.), Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt. München 1964; A. Loen, Säkularisation. Von der wahren Voraussetzung und angeblichen Gottlosigkeit der Wissenschaft. München 1965; K.Lehmann, Prolegomena zur theologischen Bewältigung der Säkularisierungsproblematik. In: Ders., Gegenwart des Glaubens. Mainz 1974, S.94-108; M.Geiger, Säkularismus als historisch-theologisches Problem. In: Ökumenische Hoffnungen (9. Pro Oriente Symposium 1965-70). Hrsg. im Auftrag des Stiftungsfond Pro Oriente v. T. Pieffl und A. Stirnemann. Innsbruck 1984, S. 72-93; K. Lüthi, Glaube im Dialog mit der säkularisierten Welt. In: Ökumenische Hoffnungen. Innsbruck 1984, S. 94-103; E.Weinzierl, Das historische Phänomen der Säkularisation. In: Ökumenische Hoffnungen. Innsbruck 1984, S. 48-61. 117 Immer noch klassisch dazu die Abhandlung K. Löwiths, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. 1953. Vgl. auch H.Schwarz, Eschatology or Futurology? On the Interdepen-

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hang mit der neuzeitlichen Entwicklung der Privatisierung des Glaubens überhaupt steht 118 , trat nun das im Kollektiv der Menschheit handelnde Subjekt an die Stelle Gottes. Die Begründung des geschichtlichen Sinnbewußtseins verlagerte sich auf die in der Geschichte handelnden Subjekte bzw. auf den die Geschichte erforschenden und rekonstruierenden Historiker 119 . Vornehmlich unter dem Druck der daraus erwachsenden Konkurrenz zwischen theologischem Deutungsanspruch der Geschichte und der anthropozentrisch ausgerichteten Sinngebung derselben erfolgte die Ablösung der Theologie vom historischem Bewußtsein, zu dessen Indikator das Methodenbewußtsein der Geschichtswissenschaft selbst wurde, insofern sich diese zunehmend auf die anthropologischen Voraussetzungen ihres Gegenstandes, insbesondere unter dem Gesichtspunkt menschlichen Handelns, konzentrierte. Demgegenüber stellt, wie G. Rohrmoser schreibt, die Eschatologisierung geschichtlichen Denkens in der Theologie eine bereits zur Zeit der idealistischen Philosophie beginnende Reaktion der Theologie auf die Reduktion und Infragestellung ihrer objektiven Inhalte dar 120 . Freilich wäre es verfehlt, in der „Eschatologisierung" theologischer Inhalte nur eine „Flucht nach vorne" angesichts unbewältigter Probleme der Vergangenheit zu sehen; im Begriff der Eschatologie hält die Theologie vielmehr die mit dem Offenbarungsglauben gegebene Irreduzibilität des Geschichtsthemas als eines theologischen Themas fest, das sie selbst dort nicht auf Anthropologie reduziert wissen will, wo sie in schärfster Antithetik von der Geschichte als Ausdruck sündiger Selbstbehauptung spricht 121 . Gerade deshalb kann nun aber auch das dence between christian Eschatology and secular Progress. In: Theologische Zeitschrift 27 (1971), S. 3 4 7 - 3 6 4 . 118 Vgl. dazu H. Mückler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz. Frankfurt 1982; S.21: „Nicht die Absage an die Glaubensinhalte der christlichen Religion, sondern ihre Verlagerung aus der objektiven Frömmigkeit des Mittelalters in die subjektiven Stimmungen und ästhetischen Bedürfnisse der Menschen i s t . . . die entscheidende Peripetie an der Epochenwelle von Mittelalter und Renaissance. Die Subjektivierung der Religion, die Zusammenfassung des Religiösen im Subjekt, in den individuellen Bedürfnissen und Stimmungen der Menschen und nicht mehr in den Dogmen und Symbolen der christlichen Lehre, im Objekt der Erkenntnis, leitete die neuzeitliche Entwicklung der Privatisierung des Glaubens ein . . . " 119 Zu diesem Gemeinplatz historischen Denkens vgl. wenigstens eine prominente Stimme: K. R. Popper, die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. Dt. München 1980, 10. Aufl. Nachdem Popper sich gegen die Absicht gewandt hat, „daß Gott sich in der Geschichte offenbart . . . , daß die Geschichte sinnvoll ist; und daß ihr Sinn der Zweck Gottes ist" (ebd. S.335), schreibt er: „Obwohl die Geschichte keinen Zweck hat, können wir ihr dennoch . . . unsere Zwecke auferlegen, und obwohl die Geschichte keinen Sinn hat, können wir ihr doch einen Sinn verleihen" (ebd. S.344).

Vgl. G. Rohrmoser, Emanzipation und Freiheit. München 1970, S. 51 f. Vgl. z. B. H.Lilje, Die Frage nach dem Sinn der Geschichte. In: R. v.Thadden-Vahnerow (Hrsg.), Gott und die Geschichte. Vier Vorträge. Berlin 1929. S . 4 3 - 7 8 ; einerseits 120 121

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theologische Verständnis der Geschichte nicht einseitig auf das T h e m a der Sünde reduziert werden, weil damit der anthropologischen Reduktion des Geschichtsthemas faktisch nachgegeben wird. Tatsächlich hat die Theologie auch niemals ganz auf einen theologischen, sich vom Handeln Gottes her begründenden Geschichtsbegriff verzichtet. Insofern dabei jedoch die anthropologische Reduktion des Geschichtsbegriffs selbst nicht problematisiert, sondern im Begriff der Sünde gewissermaßen anerkannt wurde, entwickelte sich eine doppelte „Wahrheit" der Geschichte: der (als sündhaft qualifizierten) Faktizität menschlichen Handelns und seiner Objektivationen einerseits und der theologisch positiv qualifizierten Begegnung Gottes mit dem Menschen andererseits. Diese doppelte Wahrheit der Geschichte diente in Gestalt der Antithese von Kerygma und Historie bzw. bloßem Bericht zugleich der polemischen Abgrenzung gegenüber der Rationalität historischer Kritik. Diese Antithese ist jedoch mit gutem Grund nicht ohne Kritik geblieben: „die Theologie kann nicht", wie W.v. Loewenich bereits 1933 mahnte, „auf die Dauer mit der Theorie von der dopelten Wahrheit leben. Das theologische, das existentielle Erkennen darf niemals Ersatz oder gar Gegensatz des historischen Erkennens sein" 122 . Denn die mit einem solchen Gegensatz einhergehende Ablösung von der fortschreitenden methodischen und theoretischen Entwicklung des Geschichtsbegriffs stellt die Theologie insgesamt vor das Problem, wie sie sich der Identität christlichen Glaubens noch in der Perspektive historischer Kontinuität vergewissern kann, ohne dabei auf eine interdisziplinäre Kommunikabilität ihrer geschichtlichen Identität verzichten zu müssen 123 . „Geschichte", so läßt sich zwar mit Recht sagen, „vollkann Lilje sagen, daß „alle Geschichte und alle Erkenntnis der Geschichte uns zur Begegnung mit dem lebendigen G o t t führen will" (ebd. S.56); andererseits gebe es „keine Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit ohne Erkenntnis von der Wirklichkeit des Bösen" (S.71), so daß auch die Frage nach dem Sinn der Geschichte nur so beantwortet werden könne, „daß sie zu einem Zeugnis von der Todverfallenheit der Geschichte wird" (ebd. S.73). - Angesichts dieser beiden D e u t u n g e n jedoch bekommt, wie Lilje konzediert, „das Problem der Geschichte dualistische Schärfe" (ebd. S.71). 122

W . v . Loewenich, T h e o l o g i e , Geschichte und Kirchengeschichte. In: Z S y T h l l (1933), S. 149-164, S. 157. D a s wird nirgendwo deutlicher als in den historischen Disziplinen der T h e o l o g i e , insbesondere der neutestamentlichen Exegese, die durch die Entgegensetzung von Kerygma und Geschichte in eine immer n o c h anhaltende „tiefe Strukturkrise" geraten ist. Vgl. dazu M. H e n g e l , Kerygma oder Geschichte. Zur Problematik einer falschen Alternative in der Synoptikerforschung aufgezeigt an H a n d einiger neuer M o nographien. In: T h e o l o g i s c h e Quartalschrift 151 (1971), S. 3 2 3 - 3 3 6 ; S.323; vgl. bes. auch S. 329 ff. 123 Vgl. P. M e i n h o l d , Weltgeschichte - Kirchengeschichte - Heilsgeschichte. In: Saeculum 9 (1958), S. 2 6 1 - 2 8 1 ; S.261: „Eine heilsgeschichtliche Schau der Geschichte im Sinne ihrer v o m christlichen Glauben her v o r g e n o m m e n e n D e u t u n g erscheint als ganz unmöglich."

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zieht sich eben nicht nur in der Kontinuität, sondern in stetem Wandel, der auch Brüche, Veränderungen, Diskontinuität mit sich bringt"124. Der Gedanke der Kontinuität mag dabei sogar selbst in den Verdacht geraten, bloße geschichtsphilosophische Konstruktion zu sein125. Die damit verbundene Relativierung des Geschichtsthemas bleibt allerdings für die Frage nach der Identität christlicher Uberlieferung nicht ohne Konsequenzen. Denn wie, so wäre dann zu fragen, soll christlicher Glaube den Wahrheitsanspruch seiner Aussagen noch geltend machen können, wenn anders die Identität seines Vollzuges in der Zeit, und das heißt ja nichts anderes als Kontinuität, nicht ihrerseits durch die in der Zeit sich durchhaltende und bewährte Selbigkeit seiner Wahrheit allererst verbürgt wird? Dennoch möchte etwa J.Barr die verstärkte Hinwendung zum Geschichtsthema, wie sie für die Theologie zu Beginn dieses Jahrhunderts kennzeichnend geworden ist, lediglich als Reaktion „to the tremendous and shocking apologetic strain of the nineteenth century imposed primarily by the rise fo historical method and historical criticism"126 verstehen; gerade darin liegt nach Barr freilich die Grenze geschichtlichen Denkens, denn: „Historical science is no longer the chief leader and explorer in the mental environment which surrounds us and challenges us, as was the case in the nineteenth century"127. Die Beobachtung, daß die zunehmende Aufmerksamkeit auf das Thema der Geschichte mit der Ausbildung und schließlich Krise des historischen Denkens zusammenhängt, ist für sich genommen zunächst

124 A. Lindt, Kontinuität und Diskontinuität in der Sicht evangelischer Kirchengeschichte. In: Theologische Zeitschrift 28 (1972), S. 413-426. Vgl. auch U. Neuenschwander, Die Unwandelbarkeit des Glaubens und seine geschichtlichen Wandlungen in ihrem dialektischen Verhältnis zueinander. In: Theologische Zeitschrift 6 (1950), S. 373-385; S. 364: „Daher ist auch ehrlicherweise die Erkenntnis festzuhalten, daß unser heutiger Glaube, wie schon der Glaube der frühen Kirchengeschichte, ein anderer ist als der biblische, und zwar auch bei jenen Theologen, die leidenschaftlich die Schriftgemäßheit der Lehre fordern und sie auch in ihrer eigenen Theologie in Anspruch nehmen." 125

So H . M . Baumgartner, Kontinuität und Geschichte. Z u r Kritik und Metakritik der historischen V e r n u n f t . F r a n k f u r t 1972. Ders., Kontinuität als Paradigma historischer Rekonstruktion. In: Philosophisches Jahrbuch 79 (1972), S.254-268. 126 J.Barr, Revelation through History in the Old Testament and in M o d e r n T h e o logy, aaO., S. 195. „Where history seems to be a force threatening Christianity, empowering secular ideologies and relativising biblical faith in a dangerous way, we answer that we affirm history just as much - no, very much more - and that if history is taken really seriously, these unpleasant consequences d o not follow after all. O n the contrary, we argue, nothing takes history so seriously as does true Christian faith. In many such ways does revelation in history from a basis for a kind of unity in theology today; and above all, it is the response to the apologetic needs of the nineteenth century" (ebd.). 127 J.Barr, aaO., S.203.

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sicherlich zutreffend 128 . Es fragt sich nur, ob sich deshalb die für die Theologie daraus resultierenden Probleme mit dem Hinweis darauf, daß das historische Denken des 19. Jahrhunderts in eine Krise geraten ist, erledigen; - oder ob nicht die Theologie in der Beschäftigung mit der Geschichte eine über solche Krisensymptome hinausgehende Problematik der Begründung ihrer Aussagen verfolgt, wie das in den bisherigen Ausführungen auch bereits angedeutet wurde. Zumindest ist mit dem Hinweis auf Diskontinuitäten das Problem der Kontinuität, und das heißt letztlich: der Identität des den Glauben in seinem geschichtlichen Vollzug begründenden Wahrheitsbewußtseins, noch keineswegs beantwortet. Dem wird man auch kaum mit dem Hinweis entgehen können, daß die biblische Tradition durchaus auch in ungeschichtlicher Weise von Gottes Dasein und Handeln spricht, so daß wir, um mit G. Fohrer zu sprechen, unweigerlich „den Begriff .Geschichte' theologisch überdehnen" müßten, „um solche verschiedenartige Erzählungen, wie diejenigen von der Schöpfung, der Sintflut, dem Traum Jakobs in Bethel, dem Exodus, oder dem Untergang des Nord- und Südreichs darunter zu vereinigen" 129 . Dieser Einwand G. Fohrers geht nämlich an der Sache gänzlich vorbei, weil jedenfalls im neuzeitlichen Horizont die theologischen Probleme mit dem Geschichtsbegriff gerade auch aus solchen „ungeschichtlichen" Inhalten und Vorstellungsweisen, näherhin aus der Frage, wie sich diese Vorstellungsgehalte auf die methodisch kontrollierbare Rekonstruktion geschichtlicher Abläufe beziehen lassen, erwachsen: Die Frage nach der Geschichte scheint für die Theologie im Horizont neuzeitlichen Denkens regelrecht aus der Ungeschichtlichkeit ihrer Uberlieferungen zu erwachsen. Das konzediert ja auch Fohrer selbst, wenn er im Fortgang der zitierten Äußerung schreibt: „Solange wir sagen, daß diese Erzählungen Gott als Handelnden und gegebenenfalls den Menschen als antwortend darstellen, entspricht es dem Text. Sobald wir den Begriff „Geschichte" benutzen, müssen wir die übergreifende Einheit der Erzählungen aufspalten, weil jede Einzelerzählung in einem unterschiedlichen Verhältnis zu dem steht, was man 128 Vgl. auch W.Trillhaas, Vom geschichtlichen Denken in der Theologie, aaO., Sp. 513: „... was wir .moderne Theologie' nennen, beginnt mit dem Eintritt geschichtlicher Fragestellungen in die Theologie. Alle Sachfragen der Theologie, alle Glaubensfragen beginnen im Gewände geschichtlicher Probleme aufzutreten." 129 G.Fohrer, Prophetie und Geschichte. In: ThLZ 89 (1964), Sp.481-500; Sp.485. Vgl. ebd.: „So finden sich zahlreiche mythologische Vorstellungen und Motive von durchaus nichtgeschichtlicher Art, deren Auftreten in den verschiedenen Erzählungen keineswegs einschließt, daß sie damit .historisiert' und also .entmythologisiert' seien." Zu diesem Argument vgl. auch J.Barr, aaO., S. 196 f. Es ist dort in erster Linie die Weisheitsliteratur, in welcher die Geschichte keine Rolle spielt. In diesem Sinne hat sich auch J. Jeremias geäußert in: ders., Gott und Geschichte im Alten Testament. Überlegungen zum Geschichtsverständnis im Nord- und Südreich Israels, aaO.

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„Geschichte" nennen kann, und erhalten sodann den bekannten Konflikt zwischen dem alttestamentlichen und dem historisch-kritischen Geschichtsbild" 130 . Gerade in diesem Auseinanderklaffen zweier Geschichtsauffassungen, einer historisch-wissenschaftlichen und einer kerygmatischen, liegt aber doch wohl das Dilemma des theologischen Interesses an der Geschichte 131 . Denn wie vermag nun die Theologie die kerygmatisch bestimmten Aussagen über Gottes Handeln auf den Verlauf des tatsächlich Geschehenen, wie ihn die Geschichtswissenschaft zu rekonstruieren sich bemüht, so zu beziehen, daß die theologischen Deutungsansprüche dem Vorgang solcher Rekonstruktion nicht äußerlich bzw. nachträglich bleiben? „Es sollte einleuchtend sein, daß es sowohl für den Theologen als für den Profanhistoriker nur eine Geschichte Israels und nicht zwei gibt."132 An der Möglichkeit dieser Kohärenz geschicht150

G. Fohrer, aaO., S.485. Vgl. dazu R. Rendtorff, Hermeneutik des Alten Testaments als Frage nach der Geschichte. In: ZThK 57 (I960), S.27-40; S.35: „Die alttestamentliche Wissenschaft sieht heute zwei Bilder von der Geschichte Israels vor sich: das Bild vom tatsächlichen Verlauf der israelitischen Geschichte, das die historisch-kritische Wissenschaft erarbeitet hat, und das Bild vom Geschichtshandeln Jahwes an Israel, das dieses Ideal selbst in seinen Bekenntnissen und Geschichtsentwürfen darstellt. Beide klaffen weit auseinander." Schon G.v.Rad sah dieses Problem der zwei Aspekte einer Geschichte Israels; G.v.Rad, Theologie des Alten Testaments I, München 1978, 7.Aufl. S. 118f.: „Wird ... von göttlichen Geschichtstatsachen gesprochen, so ist damit an die von dem Glauben Israels gemeinten g e d a c h t . . . , und nicht an die Ergebnisse der modernen kritischen Geschichtswissenschaft, auf die sich der Glaube Israels nie bezogen hat. Damit ist ein schweres Problem gestellt ..." - Das Auseinanderklaffen der beiden „Geschichtsauffassungen" hat denn auch zu ganz kontroversen Auffassungen ihrer jeweiligen theologischen Relevanz geführt. Während v. Rad die Annahme vertrat, daß nur das aus dem Glauben Israels entworfene Geschichtsbild Gegenstand der theologischen Betrachtung sein könne, hebt Fr. Hesse die theologische Bedeutung des historisch-kritisch ermittelten Verlaufs der Geschichte hervor: „Wir erhalten um so mehr Voraussetzungen für die Einsicht in das Wesen der Heilsgeschichte Gottes mit Israel, die als in Jesus Christus kulminierend die Heilsgeschichte überhaupt ist, je deutlicher uns die Einzelheiten der Geschichte Israels in ihrem tatsächlichen Verlauf werden" (Fr. Hesse, Die Erforschung der Geschichte Israels als theologische Aufgabe. In: KuD 4 (1958), S. 1-19; S. 10). Kritisch nimmt R. Rendtorff zu dieser Alternative Stellung; aaO., S. 35 ff., bes. S. 39. Das Problem stellt sich natürlich nicht nur für das Alte Testament, sondern ebenso auch im Blick auf das Neue Testament und die Kirchengeschichte. Auch die dogmatische Theologie läßt sich aus dieser Problematik nicht heraushalten. Vgl. dazu W. Schulz, Dogmenentwicklung als Problem der Geschichtlichkeit der Wahrheitserkenntnis. Eine erkenntnistheoretisch-theologische Studie zum Problemkreis der Dogmenentwicklung. 1969. 131

132 S. Soggin, Alttestamentliche Glaubenszeugnisse und geschichtliche Wirklichkeit. In: Theologische Zeitschrift 17 (1961), S.385-398; S.387. Das heißt m.a.W.: „... das Kerygma und die geschichtlichen Tatsachen, durch deren Bericht es offenbar wird, sind eine unzerbrechliche Einheit" (ebd. S. 390). Vgl. auch G.v.Rad, Theologie des AT Bd 1, S. 120: „Auch das Jkerygmatische' Bild (und zwar auch da, wo es weit von unserem historisch-kritischen Bild abweicht!) gründet in der realen Geschichte und ist nicht aus den Fingern gesogen." Auch W. Beyerlein be-

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lichen Bewußtseins hängt letztlich der Sinn des theologischen Geschichtsinteresses bzw. einer Geschichtstheologie, weil anders sich die Deutungsansprüche der Theologie als lediglich partikular erweisen.

1.3. Probleme des Geschichtsverständnisses der Kirchengeschichte

am Beispiel

In ihrer vollen Konsequenz wird die angedeutete Problematik jedoch in der Kirchengeschichte sichtbar. Das ist im Unterschied zum alttestamentlichen Sachverhalt deshalb so, weil die Kirchengeschichte spätestens mit der Herausbildung der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung im 16. und 17. Jahrhundert weitgehend von einer profanen Geschichtsbetrachtung geprägt ist133, während der Glaube Israels an Gottes Handeln ein so konstitutives Moment seiner Geschichtserfahrung zu sein scheint, daß beide in der Darstellung der Geschichte eine unauflösliche Einheit bilden und daher dort die erst neuzeitlich aufgebrochene Differenz von historisch-kritischem und kerygmatischem Geschichtsbild als eine immer schon vermittelte behauptet werden kann. In diesem Sinne schreibt G.v.Rad: „Mögen Israels Vorstellungen von

tont (in kritischer Wendung gegen v.Rad, bei dem er die alttestamentliche Überlieferungsgeschichte und „tatsächliche" Geschichte zu weit auseinanderklaffen sieht), daß die alttestamentliche Traditionsbildung „in jeder Hinsicht aus der Auseinandersetzung mit geschichtlichen Realitäten erwachsen" ist. (W. Beyerlin, Geschichte und heilsgeschichtliche Traditionsbildung im Alten Testament (Ri 6-8). In: VT 13 (1963), S. 1-25. 153 Vgl. Wetzel, Theologische Kirchengeschichtsschreibung, S.443; 487: „Die orthodoxe protestantische Kirchengeschichtsschreibung in Deutschland bot bis zum Beginn des letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts das Bild eines langsamen, lautlosen Voranschreitens der profanen Anschauung von Geschichte." Erst der Pietismus habe, nach Wetzel, durch sein Verständnis der Kirchengeschichte als des Kampfes gegen den Satan und das Böse in der Welt ein wirksames Bollwerk gegen diese profane Anschauung errichtet, vgl. ebd. S. 487. Die besondere Bedeutung der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung für die Herausbildung historischer Rationalität hat bereits F. Chr. Baur, Die Epochen der kirchlichen Geschichtsschreibung. Tübingen 1852, wieder abgedruckt in: F. Chr. Baur, Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, hrsg. v. K. Scholder, 2. Bd. Stuttgart Bad Canstatt 1963, S. 1-281 betont. Vgl. z.B. S.53: „Man konnte die Grundsätze der Reformation nicht behaupten, die Einwendungen der Gegner nicht wiederlegen, ohne in die Geschichte zurückzugehen und aus ihr die Berechtigung des neu gewonnenen Standpunkts nachzuweisen. Eben deßwegen lag es im Interesse der Reformation selbst, die eigenthümliche Geschichtsanschauung, auf welcher sie beruhte, sich immer mehr zum deutlichen Bewußtsein zu bringen." In diesem Sinn urteilt Baur über die Magdeburger Centurien des Matthias Flacius, „daß mit diesem Werke erst der Kirche das wahrhaft geschichtliche Bewußtsein über ihre Vergangenheit aufgegangen ist." Nach H. R. Seeliger, Kirchengeschichte, Geschichtstheologie und Geschichtswissenschaft. Analysen zur Wissenschaftstheorie und Theologie der katholischen Geschichtsschreibung. Düsseldorf 1981, läßt sich das Zurücktreten der allgemeinen geschichtstheologischen Betrachtungweise bereits seit dem 12. und deutlicher noch seit dem 14. Jahrhundert beobachten (ebd. S.23).

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dem Ablauf seiner Geschichte abweichen von den Ergebnissen der kritischen Geschichtsforschung, so bedeuten diese Differenzen, selbst w o sie erheblich sind, nicht, daß Israels Aussagen nicht auch aus dem Raum der Geschichte kommen und daß es sich in seinen Darstellungen nicht mit geschichtlichen Erlebnissen auseinandersetzt." 134 Mit Hilfe der Kategorie der Uberlieferung erhält die Behauptung der Vermittlung der Differenz von historisch-kritischem und kerygmatischem Geschichtsbild eine methodisch wirksame Begründung; im Blick auf ein solches Konzept der Geschichte als Uberlieferungsgeschichte schreibt z. B. R. Rendtorff: „Die Trennung von Geschichte auf der einen und Zeugnis auf der anderen Seite erweist sich als nicht stichhaltig, denn beide begegnen uns nur als Uberlieferung. Diese Uberlieferung ist aber nicht Uberlieferung von Geschichte, die der Geschichte gegenüber etwas zweites, von ihr ablösbares wäre, sondern sie ist selbst Geschichte." 135 Daher gilt: „Wenn wir theologisch nach der Geschichte fragen, stehen wir nicht vor der Alternative: historisch-kritisches oder bekenntnishaft kerygmatisches Geschichtsbild, sondern wir begegnen der Uberlieferung, die jenseits solcher Unterscheidungen steht."136 Von der theologischen Dimension der Kirchengeschichte dagegen läßt sich nicht sagen, daß sie in demselben Maße Bestandteil ihrer Darstellungsform ist137.

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G.v.Rad, Theologie des AT Bd. 1, S. 120. R. Rendtorff, Hermeneutik des Alten Testaments als Frage nach der Geschichte. In: ZThK 57 (1960), S. 27-40; S.39. 136 R.Rendtorff, aaO., S.39. Vgl. auch T.Rendtorff, Überlieferungsgeschichte des Christentums. Ein theologisches Programm. In: Ders., Theorie des Christentums. Historisch-theologische Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung. Gütersloh 1972, S. 13-40; S.23: „Der Begriff der Geschichte als Uberlieferungsgeschichte hat seine Bedeutung in der Integration der scheinbar zwangsläufig auseinanderfallenden Aspekte des „bloß" Historischen und dessen, was an der Geschichte theologisch bedeutungsvoll ist." 137 Das gilt zunächst unbeschadet der Tatsache, daß man das Konzept der Überlieferungsgeschichte mit guten Gründen auch auf eine neuzeitliche Verhältnisbestimmung von Kirchengeschichte und Profangeschichte ausdehnen kann. In diesem Sinne hat sich T. Rendtorff gegen eine Trennung von Kirchengeschichtsverständnis und „profanem" Geschichtsverständnis ausgesprochen. Vielmehr bewege sich die allgemeine, politische, soziale und kulturelle Geschichte immer schon in der Kontinuität christlicher Überlieferung, deren Ausdruck in erster Linie aber nicht die beschränkte Form einzelner Institutionen, wie sie die Kirche ist, hat, vielmehr ihre Gestalt in der ganzen Weite der Verflochtenheit christlichen Glaubensgutes in die allgemeine Geschichte findet, welche auch noch die säkularisierten Folgen des christlichen Glaubens umgreift. Es handelt sich dann bei dem Konzept der Überlieferungsgeschichte gewissermaßen um eine positiv gewendete Säkularisierungsthese. Deren Berechtigung soll hier keineswegs bestritten werden. Anders K. Bornkamm, Kirchenbegriff und Kirchenverständnis. In: ZThK 75 (1978), S. 436-466. Sie wirft Rendtorff vor, daß die Konstruktion eines solchen Überlieferungszusammenhanges „letztlich auf die Verschmelzung von Universalgeschichte und Christentumsgeschichte hinausläuft" (ebd. S. 463), deren Prämisse Rendtorffs Verständnis der Universalität Gottes sei: „Der biblische Glaube an den universalen Gott erfüllt sich erst, wenn der genetisch-historische Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen Welt und christlichen 115

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Das liegt vor allem daran, daß, beginnend mit der Reformation, in der neueren und neuesten Entwicklung die Kirchengeschichte nurmehr als ein von der allgemeinen, profanen Geschichte abgesonderter Zweig gilt138. Mehr noch, mit dem Entstehen konfessioneller Partikularkirchen scheint sich die theologische Dimension der Kirchengeschichte in der Relativität geschichtlicher Traditionen aufzulösen, für die nun gleichfalls die Regeln historisch-kritischer Rekonstruktion und Darstellung in Anwendung kommen, und dies umso mehr, als damit die nicht-theologischen Faktoren der Kirchengeschichte in den Vordergrund gerückt werden 139 . „Nach außen wird das", wie J.Wach bereits 1930 feststellte, „deutlich in der maximalen Annäherung der historischen und philologischen Disziplinen innerhalb und außerhalb der Theologie, also von Kirchen- und Profangeschichte ζ. B., von denen die erstere unter Verzicht auf jeden Methoden- und überhaupt prinzipiellen Unterschied als die aus praktischen Gründen eximierte Unterabteilung der letzteren erscheint"140; „ob die Kirchengeschichte im strengen Sinn eine theologische Disziplin genannt werden kann", erwog daher W. v. Loewenich, „das ist sehr die Frage"141. C.Stange ging in seiner Kritik sogar noch weiter, indem er den historischen Disziplinen der Theologie für sich genommen überhaupt jeden theologischen Charak-

Grundelementen zustande gekommen ist und das Christentum damit seine universale Ausdehnung gefunden hat" (ebd. S. 463). Diese Kritik K. Bornkamms stellt die Dinge jedoch auf den Kopf. Denn der biblische Glaube an den universalen Gott erfüllt sich nicht erst, wie K. Bornkamm Rendtorff verstehen möchte, wenn der genetisch-historische Zusammenhang der Weltgeschichte zustande gekommen ist (was sollte das auch heißen?), sondern umgekehrt impliziert die im biblischen Glauben bezeugte Universalität Gottes die Frage nach der Identität dieses Glaubens in seinem geschichtlichen Vollzug. Genau an diesem Punkt geht daher auch das Interesse unserer eigenen Arbeit mit den Überlegungen Rendtorffs konform. Doch ist eine Uberlieferungsgeschichte, die ihrerseits noch einmal den Bruch mit der Überlieferung reflektiert und umgreift, von einer Überlieferungsgeschichte zu unterscheiden, die einen solchen Bruch noch nicht kennt, wie das in der alttestamentlichen Traditionsbildung der Fall ist. 118 Vgl. R.V.Thadden, Kirchengeschichte und Gesellschaftsgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 9 (1983), S.598-614; S. 599. Das Auseinandertreten von Kirchengeschichte und Profangeschichte hat insbesondere A. Klempt begriffsgeschichtlich näher untersucht: A. Klempt, Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung, aaO. 139 Vgl. G. Ebeling, Die Geschichtlichkeit der Kirche und ihrer Verkündigung als theologisches Problem. Tübingen 1954, S.86: „Löst sich nicht der Wahrheitsanspruch ... auf in die Relativität geschichtlicher Traditionen verschiedenen Ursprungs?" 140 J.Wach, Die Geschichtstheologie des 19. Jahrhunderts und die Theologie der Geschichte. In: H Z 142 (1930), S. 1-15; S.7. 141 W.v. Loewenich, Theologie, Geschichte und Kirchengeschichte. In: ZSyTh 11 (1933), S. 149-164; S. 158. Loewenich selber meinte daher, daß es „des Hinzutrittes der eigentlichen Offenbarungswissenschaft, der biblischen und systematischen Theologie" bedürfe, um die Kirchengeschichte in die theologischen Disziplinen einzugliedern (ebd. S. 159f.).

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ter absprach 142 . Und mit dergleichen Unmißverständlichkeit hat in neuerer Zeit auch K. Kupisch erklärt: „Die Behauptung, daß die Kirchengeschichte doch etwas anderes sei als die sog. ,Profan'-geschichte, ist klerikale Anmaßung" 143 . Freilich ist nicht zu übersehen, daß das Zugeständnis der nicht-theologischen Interpretation der Kirchengeschichte zugleich von dem als einschneidend empfundenen Verlust ihres theologischen Anspruchs im Zuge der allgemeinen Konfessionalisierung und Partikularisierung des Christentums entlasten soll: Die Säkularisierung der Kirchengeschichtsschreibung ist zugleich ein Entlastungsphänomen angesichts des offenkundig nicht eingelösten Anspruchs der theologisch behaupteten Universalität der Geschichte als Heilsgeschichte 144 . 142 v g i . Q Stange, Die Stellung der Theologie im Zusammenhange der Wissenschaften. In: Z S y T h 2 (1924), S. 3 4 5 - 3 8 4 ; S. 345 f.: Im Unterschied zur systematischen T h e o l o gie habe es die historische Theologie nicht nötig, sich als Wissenschaft zu legitimieren: „Die historische Beschäftigung mit den Gegenständen, mit denen wir es in der Theologie zu tun haben, ist eine Art der Geschichtsforschung und infolgedessen nimmt die historische Theologie auch unbestrittenermaßen an der Anerkennung teil, welche die historische Wissenschaft genießt. Die Gegenstände, mit denen sich die historische Theologie beschäftigt: die Geschichte des Christentums, die Geschichte der christlichen Religion, die Geschichte der christlichen Kirche, - alles das kann gewiß Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung werden. Aber warum alle diese Gegenstände den Anlaß zu einer besonderen Wissenschaft geben sollen, ist nicht ohne weiteres deutlich. Die Geschichte des Christentums ist ein Teil der allgemeinen Kultur- und Weltgeschichte, - also wird auch die profane Geschichtswissenschaft sich mit ihr befassen müssen; wozu bedarf es daneben dann noch einer besonderen Wissenschaft der Theologie? Wenn man die historischen Disziplinen der Theologie für sich in's Auge faßt, wird man also zwar ohne Schwierigkeit die wissenschaftliche Aufgabe dieser Disziplinen bestimmen können; dagegen ist es nicht möglich, den theologischen Charakter, welcher diesen Disziplinen in gleichem M a ß e eigentümlich ist, verständlich zu machen. Die historische Theologie, für sich betrachtet, hat immer die Tendenz, sich der allgemeinen Geschichtswissenschaft einzugliedern, während sie auf der anderen Seite dazu neigt, den theologischen Habitus abzustreifen." Zu einer theologischen Wissenschaft werde die Kirchengeschichte nur dadurch, daß „man bei der Darstellung der Geschichte immer die Frage im Auge behält, wie sich denn die mancherlei Gestaltungen, zu denen das Christentum im Lauf der Geschichte geführt worden ist, zu dem Offenbarungsanspruch des Christentums verhalten" (ebd. S . 3 8 4 ) . Es ist also die Frage nach der Identität christlichen Glaubens in der Geschichte, welche die historische Fragestellung in einen theologischen Begründungszusammenhang einstellt. 1 4 3 K. Kupisch, Wider die Achtung der Geschichte. In: Wider die Achtung der G e schichte. Festschrift H . J . S c h o e p s . Hrsg. v. K . T ö p n e r . München Eßlingen 1969, S. 125 f. 144 Symptomatisch dafür ist, daß sich umgekehrt das erneute Bemühen um eine theologische Sicht der Kirchengeschichte bzw. der Geschichte überhaupt mit einem, wenn auch unterschiedlich artikulierten ökumenischen Interesse verbindet. Vgl. dazu: Y . C o n gar, Die Geschichte der Kirche als „locus theologicus". In: Concilium 6 (1970), S. 4 9 6 - 5 0 1 ; S. 497: „Es gibt ein Gebiet, auf dem sich der Einfluß der Geschichtskenntnis als außerordentlich heilsam erwiesen hat und erweist: der Ökumenismus". - J . V o i g t , Universalgeschichte und Kirchengeschichte in unserer Zeit. Die Neuorientierung der Kirchen-

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Die Frage nach der Identität christlichen Glaubens in der Kontinuität seiner Geschichte stellt sich damit jedoch nur umso radikaler. Wie verhalten sich nämlich, so lautet jetzt die Frage, Kirchengeschichte und Profangeschichte unter dem für die Kirchengeschichte gleichwohl konstitutiven Gesichtspunkt des sie begründenden und nur theologisch zu artikulierenden Geschehens der Offenbarung zueinander? Einerseits erscheint eine „heilsgeschichtliche Schau der Geschichte im Sinne ihrer vom christlichen Glauben her vorgenommenen Deutung . . . als ganz unmöglich" 1 4 5 . Andererseits wird von theologischer Seite weiter behauptet, „daß die Geschichte der Kirche eine universale Geschichte ist, weil sie in der Universalität der Kirche und ihres Auftrags begründet ist, so daß damit auch der kirchlichen Geschichtsbetrachtung universaler Charakter eignet" 146 . Die Kirchengeschichte habe sich, wie H. Jedin schreibt, „zwar aus der Weltgeschichte herauslösen müssen, aber sie kennt keinen profanen Bereich, den man einer „Profangeschichte" überlassen dürfte" 1 4 7 . Wie kann, so läßt sich die eben gestellte Frage nun präzisieren, die Kirchengeschichte diesen Anspruch einlösen, wenn doch umgekehrt die historische Kritik sie immer auch als ein Stück „Welt"-geschichte, d.h. als Gesellschafts-, als Macht- und Politikgeschichte aufdeckt: „Es gibt keine Kirche, die nicht immer auch ein Stück Welt ist. Es gibt also keinen plausiblen Grund, Kirchengeschichte nicht auch als Gesellschaftsgeschichte zu schreiben." 148 Dieses Problem verschärft sich sogar noch weiter angesichts der Tatsache, daß die Einheit der Kirchengeschichte durch ihre Konfessionali-

geschichte aus d e r Sicht des P r o f a n h i s t o r i k e r s . In: T h e o l . Q u a r t . 155 (1975), S. 1 7 5 - 1 8 6 ; S. 182. - K i r c h e n g e s c h i c h t e in ö k u m e n i s c h e r Perspektive. Ein M e m o r a n d u m . In: T h e o l o gische Zeitschrift 38 (1982), S. 2 5 9 - 2 7 1 ; W . P a n n e n b e r g , G e s c h i c h t e / G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g / G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e V I I I . S y s t e m a t i s c h - t h e o l o g i s c h . (Abschnitt 4: „ Ö k u m e n i s c h e E r n e u e r u n g d e r G e s c h i c h t s t h e o l o g i e " ) in: T R E X I I . Berlin 1984, S. 6 5 8 - 6 7 4 . Als hervorstechendes Beispiel einer in d i e s e m Sinne k o n z i p i e r t e n K i r c h e n g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g ist hier E . B e n z , K i r c h e n g e s c h i c h t e in ö k u m e n i s c h e r Sicht. 1961 z u nennen. 1 4 5 P. M e i n h o l d , W e l t g e s c h i c h t e - K i r c h e n g e s c h i c h t e - H e i l s g e s c h i c h t e . In: S a e c u lum 9 (1958), S . 2 6 1 - 2 8 1 ; S . 2 6 1 . 1 4 6 E b d . S. 263. V g l . auch H . J e d i n , K i r c h e n g e s c h i c h t e als H e i l s g e s c h i c h t e . In: S a e c u lum 5 (1954), S. 1 1 9 - 1 2 8 ; S. 125: „ w i e die S e n d u n g d e r K i r c h e universal ist, sich an die M e n s c h h e i t als G a n z e s richtet, s o ist auch ihre G e s c h i c h t e universal im w a h r e n S i n n e d e s Wortes." 147 H . J e d i n , a a O . , S . 1 2 5 . 1 4 8 R . V . T h a d d e n , K i r c h e n g e s c h i c h t e als G e s e l l s c h a f t s g e s c h i c h t e , a a O . , S . 6 1 4 . Während R . V . T h a d d e n j e d o c h d a r a n festhält, d a ß die K i r c h e n g e s c h i c h t e d e r P r o f a n g e schichte „die P r ä s e n z eines wichtigen Wirklichkeitsbereiches, d e r a u c h im Zeitalter d e r S ä k u l a r i s i e r u n g nicht aus d e r G e s e l l s c h a f t der M e n s c h e n w e g z u d e n k e n ist", erhält (ebd. S. 599), s o geht P. Biehl in d e r V e r b i n d u n g von S o z i a l - u n d K i r c h e n g e s c h i c h t e wesentlich weiter. Kritisch f r a g t M . J a c o b s d a z u , o b ein solches K o n z e p t nicht die K i r c h e n g e s c h i c h t e als e i g e n s t ä n d i g e D i s z i p l i n a u f l ö s e . ( M . J a c o b s , K i r c h e n - u n d S o z i a l g e s c h i c h t e in ihrer B e z i e h u n g . In: E v T h 36 (1976), S. 5 1 0 - 5 2 6 ) .

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sierung selbst fraglich geworden ist. „Für alle Konfessionen wurde die Kirchengeschichte zur Geschichte eines immer von neuem sich vollziehenden großen Abfalls: Für die katholischen Kirchen des Ostens und Westens, die in ungebrochener kirchlicher Tradition stehen, zur Geschichte des tragischen Abfalls unzähliger Häretiker - einzelner und ganzer Gruppen, Völker und Zeitalter von der von Christus selbst gestifteten göttlichen Heilsanstalt und ihrer unfehlbaren Lehre; für die Anschauung aller Arten von Protestantismus wurde die Kirchengeschichte zu einem noch tragischeren Abfall der Kirche selbst, der die Verheißung, daß die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen sollten, anscheinend vergeblich gegeben war." 1 4 9 Was heißt es also, von der universalen Geschichte der Kirche zu sprechen, solange die Kirchen nicht zur Einheit ihrer Sendung gefunden haben 150 ? Die beiden genannten Aspekte führen schließlich drittens zu der Frage nach den die Identität der Kirche mit ihrer Sendung begründenden Faktoren 151 . Es handelt sich um das Problem der Tradition: Tradition galt als derjenige Kontinuitätsfaktor, welcher die Einheit der Kirche in ihrer Geschichte garantiert 152 . Doch gerade unter den Bedingungen ihrer historischen Kritik ist diese Funktion der Tradition nun aber auch nicht mehr unangefochten. Im Gegenteil: „Die kritische Geschichtsforschung ist", wie E. Schulin schreibt, „ . . . die Feindin der - bestehenden, herrschenden - Tradition. Sie ist geschaffen worden, um die religiösen, staatlichen und sozialen Uberlieferungen kritisch zu prüfen und in ihrer historischen Relativität zu erkennen" 153 . Eine solche Traditionskritik verfehlt denn auch

1 4 9 L. Müller, D i e Entstehung und B e d e u t u n g des ökumenischen Geschichtsbewußtseins. In: E v T h 9 (1949/50), S. 169-181; S. 176. 150 Vgl. W. Pannenberg, Einheit der Kirche als Glaubenswirklichkeit und als ökumenisches Ziel. In: Ders., Ethik und Ekklesiologie. Ges. A u f s . G ö t t i n g e n 1977, S. 2 0 0 - 2 1 0 . W. Pannenberg, Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie VIII: systematisch-theologisch. In: T R E X I I . Berlin N e w Y o r k 1984; S. 6 5 8 - 6 7 4 ; bes. S . 6 6 6 f . : Ö k u m e nische E r n e u e r u n g der Geschichtstheologie. Sowie: Kirchengeschichte in ö k u m e n i s c h e r Perspektive. Ein M e m o r a n d u m , a a O . 1 5 1 Vgl. G . E b e l i n g , D i e Geschichtlichkeit der K i r c h e und ihrer V e r k ü n d i g u n g als theologisches Problem, S . 6 6 : „Soll die Kirche J e s u Christi sein, so ist sie angewiesen auf das ursprüngliche Christuszeugnis. . . . Welcher Art ist nun diese B i n d u n g der Kirche und ihrer V e r k ü n d i g u n g an diesen historischen U r s p r u n g ? "

Vgl. d a z u G . E b e l i n g , aaO., S . 3 1 - 6 5 . E. Schulin, D i e F r a g e nach der Z u k u n f t . In: Ders., Traditionskritik und R e k o n struktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem D e n k e n . Göttingen 1979, S. 2 0 3 - 2 3 3 ; S . 2 2 5 . Schulin fährt fort: „ D i e T r a d i t i o n s kritik der Geschichte richtete sich zunächst, seit Renaissance und R e f o r m a t i o n , gegen die Autorität der Kirche, dann, seit dem E n d e des 17. J a h r h u n d e r t s , gegen die der Heiligen Schrift, gegen die der klassischen Antike, gegen ständische O r d n u n g und Absolutismus. . . . M a n kann also der Geschichtswissenschaft ohne Übertreibung oder künstliche M o dernisierung eine emanzipatorische B e d e u t u n g für G e g e n w a r t und Z u k u n f t z u s p r e c h e n " (ebd. S . 2 2 5 ) . 152 153

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ihre Wirkung auf die theologische Methode der Kirchengeschichtsschreibung kaum: „die historische Theologie im engeren Sinne", so A. Hegler im Jahre 1903, „mag sich auch künftig noch Kirchengeschichte nennen, tatsächlich ist sie ein Zweig der allgemeinen Religionswissenschaft"154. Auf diese Probleme sind von theologischer Seite ganz unterschiedliche Antworten gegeben worden 155 , die hier freilich unmöglich alle diskutiert werden können 156 . Einen weitgehenden Konsens jedoch bringt Vgl. auch G. Rohrmoser, Freiheit und Emanzipation. München 1970, S.31: „Aufklärung ist die Bewegung der Selbstemanzipation der Vernunft aus der Geschichte ... Die Geschichte, aus der sich diese Vernunft emanzipiert, wird als Tradition gedacht, insofern diese Tradition einen bestimmten Autoritätsanspruch erhebt. ... Die Anwendung dieser sich aus der Tradition emanzipierenden Vernunft auf die christliche Offenbarung als Autorität ist nur eine spezielle im Zusammenhang der Anwendung auf Tradition überhaupt." - Dennoch, wie E. Schulin an späterer Stelle feststellt, „wird der Geschichtswissenschaft die bewahrende Funktion, die sie sich seit dem 19. Jahrhundert neben der kritischen zu eigen gemacht hat, von niemandem abgenommen. Sie hat sie weiter auszuüben, so sehr die positiven Bewertungen dieser Funktion ... in jüngster Zeit verblaßt sind ..." (ebd. S. 299). - Doch geschieht auch solche Bewahrung immer in einem Prozeß kritisch reflektierter Rekonstruktion. 154

A. Hegler, Kirchengeschichte oder christliche Religionsgeschichte. In: ZThK 13 (1903), S. 1-38; S. 17. Heglers Ausführungen bewegen sich unverkennbar im Horizont der von Troeltsch ausdrücklich geltend gemachten Forderung nach einer religionsgeschichtlichen Theologie, die mit der historischen Methode Ernst macht. (Vgl. dazu nur Troeltschs berühmten Aufsatz „Uber historische und dogmatische Methode in der Theologie." In: Ders., Ges. Sehr. II, Zur religiösen Lage. Religionsphilosophie und Ethik. Tübingen 1922, 2.Aufl. Neudruck Aalen 1962, S.729-753; 738. - Gegen die Kritik Niebergalls verteidigt ihn Max Reischle, Historische und dogmatische Methode in der Theologie. In: Theologische Rundschau 4 (1901), S. 261-275). Freilich meldet Hegler selbst Bedenken gegen die religionsgeschichtliche Methode an, weil sie „die Geschichte der christlichen Religion so an die allgemeine Religionsgeschichte anschließen will, daß die Wahrheit des religiösen Verhältnisses dahingestellt bleiben soll. ... diese Zurückhaltung läßt sich den Ansprüchen der christlichen Religion gegenüber für einen Historiker, der Christ ist, nicht fest halten; diese zwingen zur Parteinahme" (ebd. S.25f.). 155 Daß dabei auch frommer Leichtsinn sein Unwesen getrieben hat, sei hier nur als Kuriosum vermerkt: So schreibt F. Blanke, Die göttliche Sinngebung der Geschichte; in R.V. Thadden-Vahnerow. Gott und die Geschichte. Vier Vorträge. Berlin 1929, S. 79-98; S. 94: „Es gibt einen Fortschritt innerhalb der Kirche. ... Die Kirche schreitet von Klarheit zu Klarheit..." Der Fortschritt der Kirche ist sogar der verborgene Sinn der Weltgeschichte: „Daß die Kirche und ihre Entwicklung der verborgene Sinn der Weltentwicklung sei, besagt also einmal, daß die Menschheit sich wird zum Endkampf mit der Christenheit rüsten müssen. Es besagt aber zugleich: Die Welt und ihre Entwicklung muß der Kirche dienen, ob sie es weiß oder nicht und ob sie es will oder nicht" (S.96). 156 Aus der Vielfalt der Publikationen zum Thema soll aber wenigstens einiges genannt werden: P. Stockmeier, Kirchengeschichte und Geschichtlichkeit der Kirche. In: ZKG 81 (1970), S. 145-162; H.Grotz, Der wissenschaftstheoretische Standort der Kirchèngeschichte heute. In: ZkTh 92 (1970), S. 146-166; J.Vogt, Universalgeschichte und Kirchengeschichte in unserer Zeit. Die Neuorientierung der Kirchengeschichte aus der Sicht des Profanhistorikers. In: Theol. Quart. 155 (1975), S. 175-186; V.Conzemius, Kirchengeschichte als „nichttheologische" Disziplin. Thesen zu einer wissenschaftstheoreti-

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H . R. Seeliger mit der Festeilung zum Ausdruck, daß „die Kirchengeschichte zu säkularisieren', weil Heilsgeschichte zu schreiben unmöglich sei . . . , lediglich die Negation der hergebrachten Problemlage" 1 5 7 wäre und daher nicht in Betracht kommt. Für H. Jedin ist es daher die theologische Wesensbestimmung der Kirche, welche die „Kirchengeschichte mit der Theologie verbindet und sie zu einer theologischen Disziplin macht" 158 . Der Begriff der Kirche ist gewissermaßen das „Formalobjekt", welches „die Kirchengeschichte von der Glaubenslehre empfängt" 1 5 9 und dessen Auffassung auf dem Glaubenssatz beruht, „daß die Kirchengeschichte eine Stiftung Jesu Christi und vom Heiligen Geist geleitet ist, daß Sünde und menschliches Versagen in ihr dem göttlichen Heilsplan ein- und untergeordnet bleiben, das sie ungeachtet ihrer menschlichen Unzulänglichkeiten und großer Rückschläge - es gibt keinen gradlinigen Fortschritt - doch erreicht" 160 . Im historischen Erkenntnisprozeß konkret wird dieser universale theologische Begriff der Kirche dann, „wenn der Kirchenhistoriker seinen Standort in der Kirche hat als ihr lebendiges Glied, das durch Glaube und Gnade mit dem Ganzen, dem Corpus Mysticum verbunden ist" 161 . Doch wie genau, so wäre zu fragen, verbinden sich in dem Fall eigentlich der Glaubenssatz einerseits und die Rekonstruktion der Geschichte andererseits zu einem methodisch kontrollierbaren Ansatz, in welchem sowohl die Universalität als auch die Kontinuität dieser Geschichte als leitende Prinzipien des Erkenntnisinteresses gerechtfertigt sind? Die Autorität der Kirche, der sich der Kirchenhistoriker dabei sehen Standortbestimmung. In: T h e o l . Q u a r t . 155 (1975), S. 1 8 7 - 1 9 7 ; N . B r o x , Fragen z u r „ D e n k f o r m " der Kirchengeschichtswissenschaft. In: Z K G 90 (1979), S. 1 - 2 1 . 157 H . R. Seeliger, Kirchengeschichte - Geschichtstheologie - Geschichtswissenschaft. Analysen zur Wissenschaftstheorie und T h e o l o g i e der katholischen Kirchengeschichtsschreibung. D ü s s e l d o r f 1981, S . 2 3 2 . Z u Seeligers eigenem A n s a t z vgl. unten S . 6 3 f . H . Jedin, a a O . , S . 1 2 5 . >" Ebd. S.125. 160 E b d . S. 126. 1 6 1 E b d . S. 127. Ähnlich äußerte sich auch schon H e g l e r , als er die Kirchengeschichte gegen ihre gänzliche A u f l ö s u n g in eine allgemeine Religionsgeschichte verteidigte: D e n n auf allen S t u f e n sei „die Ausbildung der Kirchengeschichte nicht allein durch die wissenschaftlichen M e t h o d e n bestimmt, sondern zugleich durch die praktischen Impulse, die sie aus der christlichen G e m e i n s c h a f t erhält" (A. Hegler, Kirchengeschichte oder christliche Religionsgeschichte, a a O . , S . 2 7 ) . Allerdings zeigt das f o l g e n d e Zitat, d a ß H e g l e r den K i r chenbegriff dabei nicht s o sehr als Wesensbegriff bestimmt, sondern eher als q u a s i - s o z i o logische K a t e g o r i e : „ M a n kann ja wohl versuchen, eine Geschichte des Christentums zu schreiben, und alle religiösen und sittlichen Einwirkungen, die von Christus auf das Leben der V ö l k e r und der einzelnen, auf Religion und Kultur, auf Gesellschft und K u n s t a u s g e g a n g e n sind, zu schildern. M a n w ü r d e dabei aber s o f o r t auf die T h a t s a c h e stoßen, daß diese Einwirkung sich nicht f o r m l o s vollzogen, s o n d e r n g a n z überwiegend in selbstg e s c h a f f e n e n Formen, die wir .Kirche' nennen" (ebd. S . 3 4 ) . 158

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verpflichtet fühlen mag, kann diese methodische Rechtfertigung nicht gut bieten, zumal Jedin etwa der politischen, der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte die methodische Selbständigkeit ihres Vorgehens ausdrücklich konzediert 162 . Wie läßt sich dann die Anthropozentrik einer an der Dynamik sozialer Prozesse und Strukturen interessierten Geschichtsschreibung mit der von Jedin theologisch beanspruchten Theozentrik der Kirchengeschichte, und das heißt auch, der darin mit begriffenen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Aspekte, vereinbaren? An dieser für jede theologische Theorie der Geschichte entscheidenden Stelle konstatiert Jedin lediglich den „Abgrund", der die Kirchengeschichte „von einer bloß humanistischen und positivistischen Geschichtsauffassung trennt", welche den Menschen „allein oder in seinen sozialen Bindungen in den Mittelpunkt rückt" 163 . Es dürfte offenkundig sein, daß mit dieser Diastase von Theozentrik und Anthropozentrik die Behauptung einer Identität christlicher Wahrheit in der Geschichte ihrer Vermittlung eine bloße Behauptung bleibt, weil keine im geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis- und Rekonstruktionsprozeß selbst liegenden Kriterien angegeben werden können, die das theologische Interesse an der Kontinuität von Geschichte begründen, oder doch zumindest den geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis- und Rekonstruktionsprozeß selbst in seinem Vollzug dahingehend über sich hinaustreiben. Das theologische Interesse an der Geschichte bleibt so der fachwissenschaftlichen Methode und Theorie ihrer Rekonstruktion noch äußerlich 164 . G.Alberigo möchte daher Kirche als Formalobjekt der Kirchengeschichte nicht dogmatisch, sondern phänomenologisch verstehen 165 . Das phänomenologische Verständnis umfaßt „alle Äußerungen des Lebens, Denkens, Organisierens, die im Christentum ihren Ausdruck gefunden haben, dessen geschichtlicher Status ein kirchlicher H . Jedin, a a O . , S . 1 2 5 . E b d . S. 127. 1 4 4 Ahnlich kritisch äußert sich auch P. Stockmeier, Kirchengeschichte und Geschichtlichkeit der Kirche. In: Z K G 8 (1970), S. 145-162: G e h e man wie J e d i n von einer „übergeschichtlichen Definition der K i r c h e " aus, dann k l a f f e „zwischen dem systematisch . . . umschriebenen A u s g a n g s p u n k t und der nachfolgenden Geschichte o f t ein seltsamer H i a t u s " . Dieser H i a t u s läßt sich dann offensichtlich nur noch durch das subjektive G l a u b e n s e n g a gement überwinden, was z . B . A.Weiler mit dem Hinweis auf die B e d e u t u n g der Subjektivität des Historikers im historischen Erkenntnisprozeß zu rechtfertigen versucht hat: „Wenn die Subjektivität des Geschichtsschreibers theoretisch anerkannt wird, braucht den katholischen Historiker o f f e n b a r nichts daran zu hindern, aus seinem G l a u b e n zu schreiben" (A.Weiler, Kirchengeschichte und N e u o r i e n t i e r u n g der Geschichtswissenschaft. In: Concilium 6 (1970), S. 4 5 9 - 4 6 7 ; hier S. 464). 162 163

165 G . A l b e r i g o , N e u e G r e n z e n der Kirchengeschichte. In: Concilium 6 (1970), S. 4 8 6 - 4 9 5 ; S. 489. Vgl. auch S. 4 8 9 f . : „ D e r H o r i z o n t , unter dem die Kirchengeschichte die Geschichte studiert, ist folglich der der zeitlichen A u f e i n a n d e r f o l g e ihrer sichtbaren Äußerungen; sie f o r s c h t in den Q u e l l e n nach ihrem Erscheinungsbild, nicht nach ihrem providentiellen Sinn."

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Status ist, wenn auch in den verschiedenen Perioden und von Seiten der verschiedenen Tendenzen in sehr verschiedenem Sinn" 166 . Ihren spezifisch kirchengeschichtlichen Aspekt gewinnt die Vielfalt solcher Phänomene durch eine integrative Zusammenschau und Beziehung auf die gleiche christliche Wirklichkeit 167 . Allerdings hat Alberigo aus seinen Überlegungen keine Konsequenzen für eine genuin theologische Sinndimension der Kirchengeschichte gezogen 1 6 8 . Die Schwierigkeiten einer Verhältnisbestimmung von Theologie und Geschichte ergeben sich auch dann, wenn man, wie P. Stockmeier das vorgeschlagen hat 169 , die theologische Dimension der Kirchengeschichte mit Hilfe der Kategorie des Glaubens zu begründen sucht. Schon im Ursprung erweise sich, wie P. Stockmeier schreibt, „Glaube als konstitutives Element für das Werden der Geschichte und er begleitet sie auch durch die Weltzeit. Man darf solchem Glauben auch eine umfassende Funktion zusprechen, wenn es darum geht, das Erscheinungsbild der Kirche im Lauf der Jahrhunderte zu erhellen und im Rückgriff auf den Ursprung zu konturieren" 170 . Doch wie bestimmt sich dieser Glaube, wenn anders er nicht gleichfalls immer schon als theologisch definierte Größe - als übergeschichtliche Wirklichkeit oder aber als psychologischer Faktor - , vorausgesetzt sein soll? Ist nicht der Glaube seinerseits eine in der Mannigfaltigkeit seiner individuellen Gestaltung im Einzelleben des Menschen selbst wandelbare Größe 171 , deren Relevanz als Identitäts- und Kontinuitätsfaktor sich daher allenfalls im biographischen Zugriff auf Geschichte erweisen könnte, mit der Konsequenz freilich, daß darin die Individualität und „Innerlichkeit" des Glaubens von den objektiven Strukturen kirchlicher Rechtsverfassung, Dogmatik usw. unüberbrückbar unterschieden bleibt? Dem Sinn nach hat dagegen bereits A. Hegler geltend gemacht, daß „die Darstellung des persönlichen Lebens . . . nicht der Hauptzweck der Geschichte" ist 172 . Vielmehr sind ihre Methoden auf die enge Verflechtung des Einzeldaseins mit der Gesellschaft aufgebaut. „Darum ist auch der Gedanke, daß die Religion urAlberigo, N e u e G r e n z e n der Kirchengeschichte, a a O . , S. 489. Ebd. S.492. 168 D a s ist insofern bedauerlich, als die daraus resultierende F r a g e nach denjenigen Beziehungsgrößen und Sinnkriterien, die nach Alberigo das Geschehen nicht nur über die Begrenztheit der damaligen Situation, sondern auch über die Begrenztheit ihrer politikoder sozialgeschichtlichen Beschreibung hinaus auf die eine christliche Wirklichkeit zu beziehen erlauben, sehr wohl einen spezifisch theologischen H o r i z o n t historischer Beschreibungen e r ö f f n e n . In diese Richtung wird sich jedenfalls unsere eigene A r g u m e n t a tion bewegen. 166 167

169 170 171 172

P. Stockmeier, a a O . , S. 163 A n m . 4 8 . P. Stockmeier, a a O . , S. 161 f. Vgl. Ù . N e u e n s c h w a n d e r , a a O . , S . 3 6 8 . A. Hegler, aaO., S . 3 2 .

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sprünglich etwas rein Innerliches sei, dagegen in den großen Systemen, in Dogma, Verfassung, Kultus, schon abgeleitet, für die Geschichte falsch." 173 Einen anderen methodischen Zugang zur theologischen Dimension der Kirchengeschichte sucht G. Ebeling im Gedanken der „Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift" 174 . „Die Existenz der Kirche in der Geschichte ist", wie G. Ebeling schreibt, „voll und ganz davon abhängig, wie sich die Kirche je und je zu ihrem Ursprung verhält." 175 Dieser Ursprung ist „das im historischen Jesus von Nazareth fleischgewordene(n) Wort Gottes", die „eschatologische Tat Gottes in Jesus Christus" 176 . Weil aber diese „historische" Tat Gottes nur „in der Weise des Zeugnisses von einem bestimmten Geschehen in der Geschichte" 177 begegne, will Ebeling unter der Kontinuität der Kirche zu ihrem Ursprung „nicht ... das ... verstehen, was von jedem anderen geschichtlichen Traditionszusammenhang ebenfalls gilt, nämlich die Unablöslichkeit einer geschichtlichen Bewegung von ihrem Ausgangspunkt als ihrem primum movens"178, sondern die „durch dieses Zeugnis erzeugte Verkündigung" 179 . Denn die „Kirche hat nicht nur einmal ihren Ursprung in Jesus Christus gehabt, sondern sie existiert in der Geschichte in dem dauernden Bezogensein auf diesen Ursprung" 180 . Diese bis in die jeweilige Gegenwart reichende und sie bestimmende Kontinuität des Bezogenseins ist möglich nur im „glaubenden Bezogensein auf Jesus Christus" 181 , das die Kirche in ihrer Verkündigung je für ihre Zeit bezeugt. 173

A. Hegler, aaO., S.32f. G. Ebeling, Die Geschichtlichkeit der Kirche und ihrer Verkündigung als theologisches Problem. Tübingen 1954, S.81. Vgl. dazu auswahlweise F. de Boor, Kirchengeschichte oder Auslegungsgeschichte. In: ThLZ 97 (1972), Sp. 401-414; sowie K. Bornkamm, Kirchenbegriff und Kirchengeschichtsverständnis. In: ZThK 75 (1978), S. 436-466. 175 G. Ebeling, aaO., S. 77. I7< · Ebd. S.67. 177 Ebd. S.67. 178 Ebd. S.66. Ebelings Assoziation geschichtlicher Traditionszusammenhänge mit einem kausalen Bewegungsschema dürfte allerdings etwas kurzschlüssig sein. 179 Ebd. S.67. 180 Ebd. S. 77. 181 Ebd. S. 77. Dieses Bezogensein beschreibt K. Bornkamm im Sinne Ebelings so: „In aller Weite der sich neu erschließenden geschichtlichen Erfahrungs- und Erkenntnisräume führt die kirchengeschichtliche Betrachtung immer wieder zurück zum Menschen, dem die biblische Botschaft gilt, und damit letztlich zu uns selbst. In der Konzentration auf die Frage nach dem Menschen geraten wir in Rede und Gegenrede in ein Gespräch mit den Gestalten der Vergangenheit, in dem wir selbst offenbar werden und uns gefragt sehen, was uns unser Leben und Sterben, die Anforderungen unserer Zeit und unserer Lebenssituation, die Erfahrungen unseres Schuldigbleibens und Schuldigwerdens bestehen läßt" (K. Bornkamm, aaO., S.465) - „Damit aber führt der hörbereite Umgang mit der Kirchengeschichte als der Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift immer wieder 174

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Es ist daher diese fort und fort in ihrer Verkündigung bezeugte Antwort auf die Frage, worum es im Verhältnis zu Jesus Christus geht, welche die Identität der Kirche in ihrer Geschichte, d.h. die Einheit der Kirchengeschichte begründet und zugleich damit die Kirchengeschichte als eine theologische Disziplin ausweist, „weil die ihr gemäße Fragestellung eine theologische ist, so wahr es allgemein anerkannt ist, daß die besondere Fragestellung der christlichen Theologie die nach dem Verhältnis zu Jesus ist"182. Dabei scheint sich die theologische Fragestellung nun insofern nicht ihrer methodischen Kontrollierbarkeit zu entziehen, als sie ja in der Kategorie der Auslegung immer schon auf das Zeugnis von Jesus Christus, d. h. die Heilige Schrift, als der verbindlichen Instanz der Vergewisserung ihres Ursprungs gewiesen ist183: „Darum muß jede solche Antwort sich auf ihre Verbindlichkeit prüfen lassen am Text der Heiligen Schrift." Eben dies geschieht im Vorgang der Auslegung, von der Ebeling nun weiter schreibt: „Auslegung ist eine der Kontrollierbarkeit ausgesetzte, allgemein verbindlichen Regeln unterworfene Arbeit. Was sich als Auslegung eines Textes ausgibt, muß die Überprüfbarkeit zugestehen." 184 Die hermeneutische Wendung, die G. Ebeling damit der historischen Frage nach der Kontinuität der Geschichte gibt, bindet das christliche Wahrheitsbewußtsein an den methodisch kontrollierbaren Vollzug der Vergewisserung der Identität seines Inhalts am Zeugnis der Heiligen Schrift und läßt es gerade so, im je und je notwendigen Vollzug von Auslegung, von vornherein als geschichtliches bestimmt sein. Die Einheit der Kirche in ihrer Geschichte wird m.a.W. nicht aus einer abstrakten Wesensbestimmung von Kirche, wie sie bei H. Jedin zu kritisieren war, gewonnen, sondern als erst in diesem hermeneutischen Vollzug jeweils aktuelle bestimmt. Allerdings muß dann an Ebeling auch die umgekehrte Frage gerichtet werden, ob der Gedanke der Kontinuität und Einheit nicht auf einen Aktualismus des hermeneutischen Vollzugs reduziert wird, der wesentliche Aspekt einer tatsächlichen, historisch auch darstellbaren Rekonstruktion solcher Einheit und Kontinuität unberücksichtigt läßt. So dürfte es zweifelhaft sein, ob auch die ζ. B. in politischen und wirtschaftlichen Ereignissen sich erschließende Dimension der Geschichte von der Struktur des hermeneutischen Vollzugs her begriffen und also mit Hilfe der Kategorie der Auslegung re-

in die Erkenntnis dessen, was in der Heiligen Schrift zu verstehen angeboten wird .. (ebd. S.466). 182 G. Ebeling, Die Geschichtlichkeit der Kirche ..., S. 77. 183 Vgl. ebd. S.78Í. 184 Ebd. S.79.

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konstruiert werden kann 185 . Die Kategorie der Auslegung reduziert vielmehr die Geschichte auf die Struktur der Geschichtlichkeit von Auslegung selbst, noch ohne überhaupt Geschichte als jenen sich wandelnden Wirklichkeitszusammenhang zu reflektieren, der so etwas wie Auslegung einerseits erst notwendig, andererseits aber auch erst möglich macht. Die hermeneutische, an der Auslegung der Heiligen Schrift orientierte Fragestellung erreicht somit noch nicht jenen kritischen Begriff von Geschichte, der die Kriterien der Rekonstruktion des Geschehens in einem historiographisch darstellbaren Zusammenhang anzugeben vermag186. Es ist deutlich, daß die hier am Beispiel der Kirchengeschichtsschreibung lediglich exemplarisch genannten Kategorien der Verkündigung, des Glaubens und der Kirche nicht schon für sich genommen ausreichend sind, das theologische Interesse an der Geschichte auf die Ebene einer methodologischen Auseinandersetzung mit der Rationalität neuzeitlichen Geschichtsdenkens zu heben, auf der allein das Auseinanderfallen von profaner und theologischer Geschichtsauffassung überwunden werden kann. Das liegt vor allem daran, daß keiner dieser theologische gefüllten Begriffe als genuine Kategorie historischer Rekonstruktion und Darstellung gelten kann. Vielmehr läßt die „Übergeschichtlichkeit" solcher Begriffe die theologische Auffassung der Geschichte selbst als eine „Ubergeschichte" bzw. als eine Sondergeschichte erscheinen. Doch damit wird der konkrete Sinn des theologischen Interesses 185 Diese Frage stellt mit Recht F. de Boor, Kirchengeschichte oder Auslegungsgeschichte. In: ThLZ 97 (1972), Sp. 401-414. ist Vgl. auch H. R. Seeliger, aaO., der gleichfalls zu dem Ergebnis kommt, daß „der von Ebeling sehr weit gefaßte Begriff der Auslegung ... kein genügend scharfes Prinzip der Stoffwahl für den Historiker" ergibt, „... während ein eng gefaßter Begriff lediglich zu einer Geschichte der exegetisch gefaßten Kommentare führt, welche keinesfalls als Hauptquellen der Kirchengeschichte angesehen werden dürfen. So zeichnet den Entwurf der Kirchengeschichte als Auslegungsgeschichte dasselbe aus, was die Kritik allgemein am Begriff des Wortgeschehens aussetzte: trotz scheinbarer Weite eine gewisse Weltlosigkeit und eigenartige Undurchsichtigkeit" (ebd. S. 139). K. Bornkamm, aaO., möchte in dieser Kritik lediglich ein Mißverständnis sehen, das auf einer verengenden Fehldeutung des Begriffs der Auslegung beruhe (vgl. ebd. 457); allerdings vermag auch sie nicht darzulegen, inwiefern der Begriff der Auslegung die unterschiedlichsten Gegenstände, mit denen es der Historiker zu tun hat, zu einer methodisch nachvollziehbaren Rekonstruktion der Geschichte zusammenzufassen vermag. In differenzierter Weise ist das Anliegen von Ebeling jüngst von U. Luz aufgenommen worden, der die Auslegungsgeschichte in den Zusammenhang der Wirkungsgeschichte christlichen Glaubens stellt; U. Luz, Wirkungsgeschichtliche Exegese. Ein programmatischer Arbeitsbericht mit Beispielen aus der Bergpredigtexegese. In: Berliner Theologische Zeitschrift 2 (1985), S. 18-32. Wirkungsgeschichte mache nach Luz auf die Ganzheitlichkeit des Verstehens biblischer Texte im Prozeß der mannigfaltigen Erfahrungen sich verändernder Wirklichkeit aufmerksam (ebd. S.29). Der Begriff der Wirkungsgeschichte wird dabei nicht im Sinne Kählers verstanden; die Wirkungsgeschichte verhindere vielmehr eine „vorschnelle Gleichzeitigkeit mit einem biblischen Text" (ebd. S.28).

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an der Geschichte korrumpiert, insofern dieses darauf zielt, an der umfassend begriffenen Einheit der Wirklichkeit als Ausdruck der Universalität der geschichtlichen Offenbarung festzuhalten. Gerade deshalb läßt sich nun aber andererseits auf die Bestimmung eines im Erkenntnisprozeß intendierten „Gegenstandes" theologischen Geschichtsinteresses nicht verzichten, wie das für die Kirchengeschichte neuerdings H. R. Seeliger vorgeschlagen hat 187 . So will Seeliger die Lösung des hier dargestellten Problems der Kirchengeschichtsschreibung darin sehen, „statt Voraussetzungen und Topiken zu bedenken, verstärkt die Seite der Pragmatik zu beachten, das Stiefkind der bisherigen Grundlagenüberlegungen" 188 . „Kirchengeschichte heißt also Kirchengeschichte nicht, weil Kirche als ihr (Material-)Objekt definiert würde ..., sondern weil sie im Kommunikationszusammenhang Kirche betrieben wird. Kirchengeschichte wird also nicht topisch, sondern pragmatisch definiert" 189 . Das heißt: „In ihrem Kommunikationszusammenhang erzählt sie Geschichten aus der Vergangenheit des Christentums: Solche Geschichten, die durch Quellen- oder Monumentenbelege ausgewiesen sind und für den gemeinen Menschenverstand vernünftig erklärbar, die dazu beitragen, die Kirche besser zu verstehen, Fremdgewordenes zu erklären und Vertrautes in Frage zu stellen."190 Eine derartige, sich als Konkretion narrativer Theologie verstehende pragmatische Bestimmung des Sinnes historischer, in diesem Fall kirchengeschichtlicher Theologie, vermag jedoch folgende Fragen nicht befriedigend oder gar nicht zu beantworten: Auf welchem Wege gewinnt denn die Kirche, als Kommunikationsgemeinschaft verstanden, jene Inhalte, die ihrer Kommunikation zugrundeliegen, und d.h. im Fall der Kommunikationsgemeinschaft Kirche nun besonders denjenigen Inhalt, der die Kirche von anderen Gemeinschaften unterscheidet und durch den sie sich zum Zeugnis und zur Verkündigung berufen weiß? Es scheint, als behalte der erzählpragmatisch konzipierte Sinn historischen Wissens nurmehr die subjektive Intention auf diesen Inhalt, nicht aber diesen selbst zurück. Das christologische Bekenntnis jedenfalls ist nach Seeliger nur als eine solche Intention explizierbar: „Das Verhältnis des historischen Jesus und der christologischen Aussagen über den Gottessohn im 4. und 5. Jahrhundert ist nur narrativ explizierbar: jener war und ist der, der damit gemeint ist."191. Doch wie gelangt 187

H . R . Seeliger, aaO. H. R. Seeliger, aaO., S.233. „Es soll damit", wie Seeliger schreibt, „der fällige Schritt von der theoretischen zur praktischen Vernunft auch in der Geschichtswissenschaft getan werden" (ebd. S.233). Angesichts der breit geführten Methodendiskussion in der Geschichtswissenschaft hätte Seeliger allerdings bemerken können, daß dieser „fällige Schritt" längst vollzogen, aber gleichwohl nicht unumstritten geblieben ist. 189 Seeliger, aaO., S.236. 1.0 Seeliger, aaO., S.236. 1.1 Seeliger, aaO., S.238. 188

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solches Meinen über bloß subjektive Beliebigkeit hinaus zu intersubjektiver Vernünftigkeit? Denn selbstverständlich erzählt, wie ja auch Seeliger konzediert, die Kirchengeschichte in ihrem Kommunikationszusammenhang nur solche Geschichten, die „für den gemeinsamen Menschenverstand vernünftig erklärbar" sind192. Gerade solche Vernünftigkeit aber impliziert einen Erkenntnisstand, auf den der Erkenntnisprozeß methodisch beziehbar und so überhaupt erst sinnvoll ist. In dieser Absicht wurde der Sinn geschichtlichen Denkens in der Theologie durch den Gedanken der geschichtlich begriffenen Einheit der Wirklichkeit als Ausdruck der Universalität der geschichtlichen Offenbarung Gottes präzisiert. Es ist letztlich das Interesse des Glaubens, das an einer solchen Einheit haftet, weil der Glaube Gott als den Herrn der Geschichte bekennt: „Gerade der Glaube, der ... Gott in seiner geschichtlichen Offenbarung gefunden hat, sieht die verborgenen Fäden seines Wirkens im Gewebe allen geschichtlichen Lebens, sieht das Transzendente der geschichtlich-immanenten Wirklichkeit." 193 Nur in dem Maße, wie daher die Theologie die Universalität der geschichtlichen Offenbarung Gottes konkret im Gedanken der Einheit der Wirklichkeit festzuhalten und als Kontinuität einer Geschichte auf den Begriff zu bringen vermag, vergewissert sie sich der Wahrheit ihres Glaubensgrundes: „Der Gottesgedanke muß die ganze Wirklichkeit unter sich befassen, wenn er seine Wahrheit behalten soll."194 Das theologische Interesse an der Geschichte wird daher auch noch nicht mit der Behauptung der Kontinuität einer besonderen Geschichte der Kirche, des Glaubens oder der Verkündigung befriedigt; seine Begründung bleibt vielmehr auf die Beantwortung der Frage nach der im Gottesgedanken möglichen Begründung der Einheit und Kontinuität von Geschichte überhaupt angewiesen. „Als rein innertheologische oder innerreligiöse Entwicklungsproblematik ... ist", wie T. Rendtorff bemerkt, „das geschichtliche Denken seines konkreten Sinnes beraubt" 195 . Das bedeutet als Aufgabe für die Theologie, eine Theorie der Geschichte zu entwickeln, mit der sie sich die für einen allgemeinen Begriff der Geschichte relevanten Implikationen ihres Gottesgedankens vergegenwärtigt. Eine solche theologische Geschichtsbetrachtung, wie 1.2

Seeliger, aaO., S.236. H.E.Weber, Historisch-kritische Schriftforschung und Bibelglaube. S.215. „Der offenbarungsgläubige Theologe blickt auf die Geschichte ganz allgemein mit dem Bewußtsein, daß sie an ihrem Teil Gottes Werk, Gottes Offenbarung ist" (ebd.). Vgl. zum Gedanken der Einheit ebd. S . 6 7 f . 1.4 H.E.Weber, aaO., S.216. Vgl. auch T.Rendtorff, Säkularisierung als theologisches Problem, aaO., S. 325: „Das Festhalten an der Einheit der Wirklichkeit . . . ist die wahre Legitimation der kritischen Theologie seit der Aufklärung." 1.5 T.Rendtorff, aaO., S.327. 1.3

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sie etwa H.E.Weber in Auseinandersetzung mit der historisch-kritischen Schriftforschung zu begründen suchte, „hat ihr Charakteristikum daran, daß sie ganz bewußt und entschlossen mit der „supranaturalen" Wirklichkeit als dem tiefsten Gehalt und dem letzten wirkenden Faktor des geschichtlichen Lebens rechnet" 196 . Doch muß dabei, wie H . E . W e ber hinzufügt, der Theologe „auf's entschiedendste bestreiten, daß er die Geschichte zu etwas anderem macht als sie ist"197. Das ist konsequent, weil es der theologischen Auffassung der Geschichte ja um die in der Universalität des Gottesgedankens selbst liegende Einheit der Wirklichkeit geht. Zugleich liegt darin aber auch der neuralgische Punkt, wenn es gilt, den Sinn historischer Urteilsbildung für die Theologie zu erschließen 198 . Die Theologie kann daher die fachwissenschaftliche Ausbildung historischen Denkens nicht sich selbst überlassen, besonders dann nicht, wenn dieses sich gegen jegliche theologische Inanspruchnahme und Deutung wendet. Für eine theologische Historik, die vom Gedanken der Einheit der Wirklichkeit bestimmt ist, wird vielmehr die Möglichkeit einer faktischen Weltgeschichte bzw. einer Universalgeschichte zu einem unabweisbaren Problem, dessen Lösung sie gerade in der Auseinandersetzung mit fachwissenschaftlichen Beiträgen zur Geschichtstheorie bewähren muß. Damit wäre die theologische Antwort auf das Problem der Einheit der Geschichte „nicht nur", wie G. Krüger richtig erkannt hat, „für Theologie und Kirche, sondern auch für das ganze moderne Denken von großer Bedeutung, vor allem deshalb, weil es zwischen diesem modernen Denken und der ... Theologie eine Brücke schlagen würde" 199 .

1.6

H.E.Weber, aaO., S.214. Ebd. S.214. 1.8 Die theologische Literatur zum Problem historischen Denkens in der Theologie ist unübersehbar. Die intensive Auseinandersetzung hat aber noch keineswegs zu sicheren Ergebnissen der Integration historischen und systematischen Denkens geführt. Vgl. die im Unbestimmten bleibende Formulierung von M. Hengel in seinen Thesen „Historische Methoden und theologische Auslegung des Neuen Testaments" (in: Ders., Zur urchristlichen Geschichtsschreibung. Stuttgart 1979, S. 107-113): „Diese historische Forschung innerhalb der Theologie kann den Geltungsanspruch des christlichen Glaubens weder begründen noch widerlegen, wohl aber dient sie der Erweiterung und Korrektur des historischen ,Gesamtbewußtseins' in der Theologie" (These 3.2.1, S. 110). Doch wäre zu klären, welche Funktion dieses „historische Gesamtbewußtsein der Theologie" für ihr eigenes Wahrheitsbewußtsein hat und in welcher Beziehung das „historische Gesamtbewußtsein" zur Rationalität historischer Forschung steht. Vgl. auch M. Hengel, Kerygma und Geschichte. Zur Problematik einer falschen Alternative in der Synoptikerforschung aufgezeigt an Hand einiger neuer Monographien. In: Theol. Quart. 151 (1971), S. 323-336. 1.7

1.9 G.Krüger, Wie ist eine christliche Metaphysik der Geschichte möglich? In: ZdZ 9 (1931), S.480-495; S.80f.

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Die Ausführungen des nächsten Abschnitts wollen daher versuchen, das theologische Interesse an der Geschichte vorläufig so auf den Begriff zu bringen, daß damit ein sinnvoller Ausgangspunkt für eine derartige Auseinandersetzung mit fachwissenschaftlichen Beiträgen zur Geschichtstheorie gewonnen wird. Sie formulieren gewissermaßen die Arbeitshypothese, mit deren Hilfe die fachwissenschaftlichen Beiträge zur Geschichtstheorie im Rahmen des Versuches einer theologischen Historik diskussions- und kritikfähig werden, ohne dabei die Rationalität der jeweiligen Argumentation suspendieren zu müssen. Denn ein theologisches Interesse an der Geschichte, welches im Unterschied dazu in der bloßen Antithetik gegen ein nicht-theologisches Geschichtsdenken bzw. in der Abgrenzung als eines Sonderinteresses bliebe, entginge nicht dem Verdacht, daß sein Verzicht auf eine begründungsfähige Historik zur Verweigerung der geforderten Rechenschaft des Glaubens zu werden droht.

1.4. Erwägungen

zu einem theologischen

Geschichtsverständnis

Das theologische Interesse an der Geschichte konzentriert sich, wie die Überlegungen des ersten Abschnitts nahelegen, vor allem auf zwei Schwerpunkte 200 . Der erste Schwerpunkt liegt in der Entstehung der theologischen Geschichtsschreibung selbst, insofern diese Ausdruck der Erfahrung des je neu und einmalig sich vollziehenden Offenbarungshandelns Gottes ist. Diesen für die biblische Uberlieferung konstitutiven Zusammenhang von Geschichtserfahrung und Gottesverständnis 201 gilt es auch methodisch in Anschlag zu bringen; d. h., daß der Begriff der Geschichte vor allem aus diesem sachlichen Zusammenhang heraus zu entfalten ist. Dieser Zusammenhang ist dabei nicht schon durch eine prinzipielle Unterscheidung von geschichtlichem und ungeschichtlichem Denken, wie sie für Israel als gegenüber seiner Umwelt kennzeichnend behauptet wird, zureichend erfaßt, weil in dem Fall bereits ein autorisierter Begriff von Geschichte als Kriterium vorausgesetzt ist. Im Blick jedenfalls 200

Eine solche zweifache Bestimmung des theologischen Interesses an der Geschichte, wie sie hier angenommen wird, nimmt ähnlich auch J. Daniélou zum Ausgangspunkt seiner geschichtstheoretischen Erwägungen: „Now it seems to me that christian thought was faced with the problem of history particularly during two epochs: that of the foundation and that of today." (J. Daniélou, th Conception of History in the Christian Traditions. In: The Journal of Religion 30 (1950), S. 171-179; S. 171. 201 Vgl. W. Pannenberg: „Die Voraussetzungen des geschichtlichen Bewußtseins in Israel liegen in seinem Gottesgedanken" (W. Pannenberg, Heilsgeschichte und Geschichte. In: Ders., Grundfragen systematischer Theologie. Ges. Aufs. Bd. 1,2. Aufl. Göttingen 1971, S.22-78; S.24).

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auf Israel und seine Umwelt hat H . Gehse eine solche Unterscheidung wohl zu Recht abgelehnt, „weil wir nicht eine einfache Teilung von geschichtlichem und ungeschichtlichem Denken durchzuführen vermögen. Es gab offenbar sehr verschiedene Denkformen, die man als auf der Konzeption der Zeit als Geschichtsablauf beruhende bezeichnen muß" 202 . Charakteristisch für die alttestamentliche Tradition ist vielmehr die Tatsache, daß die geschichtliche Zeit unter dem Gesichtspunkt der Einmaligkeit und Besonderheit göttlichen Handelns als „eine kontingente Abfolge von kairoi" 203 aufgefaßt wird. Der für die biblische Tradition behauptete Zusammenhang von Gotteserfahrung und Geschichtsverständnis muß daher weiter auf solche Kategorien hin durchsichtig gemacht werden, deren konstruktive Funktion dem Geschichtsbegriff einen in diese Richtung weisenden eindeutigen und abgrenzbaren Sinn zu verleihen in der Lage sind. Die Frage nach den den Zusammenhang von Geschichtserfahrung und Gottesverständnis konstituierenden geschichtslogischen Kategorien hat ihre methodologische Bedeutung überdies darin, daß sie die Relevanz des theologischen Interesses an der Geschichte auch unter Bedingungen sich verändernder Wirklichkeitserfahrung festzuhalten und zu rekonstruieren erlaubt. Denn das theologische Interesse an der Geschichte wird nicht lediglich auf bestimmte Vorstellungen derselben verpflichtet, sondern auf seine prinzipielle Bedeutung hin ausgelegt. Das theologische Interesse an der Geschichte erweist sich dabei als fundamentaltheologisches Interesse; als solches muß es schließlich auch im Blick auf den zweiten hier zu nennenden Schwerpunkt des theologischen Interesses an der Geschichte entfaltet werden. Dieser zweite Schwerpunkt liegt in der Auseinandersetzung der Theologie mit dem neuzeitlichen Geschichtsbewußtsein, das seine me202

H. Gehse, Geschichtliches Denken im Alten Orient und im Alten Testament. In: ZThK 55 (1958), S. 127-145; S.127. Vgl. auch R.Schott, Das Geschichtsbewußtsein schriftloser Völker. In: Archiv für Begriffsgeschichte 12 (1968), S. 166-205. Ungeachtet der durchaus bestehenden Unterschiede in der Entfaltung historischen Bewußtseins bei schriftbesitzenden und schriftlosen Völkern zieht Schott aus zahlreichen angeführten Belegen den Schluß: „1.,Geschichtslose Völker' in dem Sinne, daß sich bei ihnen keine Veränderungen vollzogen, gibt es nicht. Geschichtliche Vorgänge lassen sich bei allen Völkern aus Unterschieden und Gemeinsamkeiten ihrer Kultur erschließen. 2. Diese Veränderungen werden auch bei schriftlosen Völkern als wirklich geschehene Ereignisse, die Menschen erlebt oder bewirkt haben, bewußt überliefert" (S.200). Zum Verhältnis von Mythos und Geschichte schreibt Schott: „Von der mythischen Zeit wird die geschichtliche im engeren Sinn unterschieden, nicht aber ihr entgegengesetzt" (ebd.). 203 Vgl. W. Pannenberg, Zeit und Ewigkeit in der religiösen Erfahrung Israels und des Christentums. In: Ders., Grundfragen systematischer Theologie. Ges. Aufs. II. Göttingen 1980, S. 188-206. Ahnlich jetzt auch J. Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre. München 1985, S. 129.

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thodischen Grundlagen zumeist in bewußt antitheologischer Frontstellung herausgebildet hat. Das Thema „Geschichte" ist im Zusammenhang mit der Herausbildung und Herausforderung neuzeitlichen Geschichtsdenkens erneut in das Blickfeld des theologischen Interesses gerückt 204 . Die beherrschende Fragestellung wird nun diejenige nach dem Verhältnis von Geschichte und Offenbarung. J. Barr hat den fundamentaltheologischen Zusammenhang von Gottesgedanken und Geschichtsbegriff daher mit dem Argument bestritten, daß es sich dabei um „eine moderne und nicht eine antike Konstellation in der Theologie" handle 205 . Als typisch neuzeitliche Konstellation birgt nach Meinung Barrs die Verbindung von Geschichtsbegriff und Gottesverständnis, insbesondere im Gedanken einer Offenbarung Gottes durch die Geschichte, den Widerspruch in sich, daß die Geschichte „einmal das Milieu (ist), in dem Gott handelt, und dann das Feld, das durch menschliche Gesichtswissenschaft analysiert und beschrieben werden kann" 2 0 6 . Barrs Kritik richtet sich also darauf, daß trotz aller vorrangigen Bekenntnisse zum Handeln Gottes in der Geschichte „der eigentliche Gravitationspunkt in einer Geschichtsbetrachtung, in einer geschichtlichen Denkweise, in einem geschichtlichen Selbstverständnis oder einer geschichtlichen Lebensphilosophie und nicht im tatsächlichen Geschehen liegt" 207 . Barr unterscheidet damit Geschichte „an sich" im Sinne des Geschehenen „selbst" und Geschichte im Sinne eines „Wissens" ihrer, eines bestimmten Begriffs von Geschichte. Daraus resultiere für den Versuch einer biblischen Begründung des Geschichtsdenkens stets das Problem, „daß man zwar von Gottes Taten in der Geschichte redet, daß aber letztlich nichts anderes greifbar ist als eine israelitische Denkweise, für die das göttliche Handeln in der Geschichte im Mittelpunkt steht" 208 . Anknüpfend an diese nur partikulare israelitische Denkweise sei historisches Denken in der Theologie nicht verallgemeinerungsfähig im Sinne einer fundamentalen Begründungsleistung 209 . - Dieses Argument geht jedoch an dem grundsätzlichen Charakter der theologischen Reflexion auf den Zusammenhang von Vgl. oben S. 28 ff. J . Barr, Alt und N e u in der biblischen Uberlieferung. Eine Studie zu den beiden T e stamenten. M ü n c h e n 1967, S . 7 9 . 206 J . B a r r , a a O . , S . 6 2 . 107 J . B a r r , a a O . , S . 6 3 . 208 J . B a r r , a a O . , S . 6 3 . 2 0 9 In gleichem Sinn argumentiert auch C h . Hartlich, Historisch-kritische M e t h o d e in ihrer A n w e n d u n g auf G e s c h e h n i s a u s s a g e n der hl. Schrift. In: Z T h K 75 (1978), S. 4 6 7 - 4 8 4 ; S . 4 8 2 : „ D i e Autoren heiliger Geschichte, wie sie in der Bibel vorliegt, bedienen sich der F o r m der Geschichte, um mittels ihrer . . . z u m G l a u b e n a u f z u r u f e n . Wer - fehlgeleitet durch ein Mißverständnis ihrer A u s s a g e f o r m - die A u s s a g e n heiliger Geschichte als T a t s a c h e n b e h a u p t u n g e n a u f f a ß t , befindet sich in einem grundlegenden Irrtum hermeneutischer A r t . " 204

205

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Geschichte und Gottesgedanken, besonders unter den Bedingungen neuzeitlichen Denkens, vorbei. Zwar hat Barr recht, wenn er die Verbindung des Geschichtsbegriffs mit dem Offenbarungsverständnis als einen spezifisch neuzeitlichen Ansatz systematischer Theologie konstatiert. Aber er verkürzt die Bedeutung dieses Sachverhalts, wenn er das Verhältnis von Theologie und neuzeitlichem Geschichtsdenken auf die Formel einer Unvereinbarkeit von göttlichem Handeln in der Geschichte „an sich" im Sinne des Geschehens selbst und der menschlichen Vorstellung von Geschichte bringt 210 . Denn Geschichte „an sich" gibt es nur als ein Wissen von ihr. Das gilt auch für das theologische Nachdenken über Geschichte als Geschichte göttlichen Handelns 211 . Die Tatsache, daß die Begriffe der Theologie immer auch Reflexionsbegriffe sind, beweist daher nicht schon deren Illegitimität. Im Gegenteil wird erst in Anerkenntnis dieses Sachverhalts die Aufgabe der Theologie als eine sinnvolle begriffen, insofern sie den Wahrheitsanspruch christlichen Glaubens unter den Bedingungen sich verändernder Wirklichkeitserfahrung zu vermitteln weiß212. Es gehört dabei gerade zur Signatur neuzeitlicher Theologie, mit der Bedingung der Möglichkeit solcher Vermittlungsleistung zugleich die Möglichkeit von Theologie überhaupt zu reflektieren. Das bedeutet im Blick auf die Verwendung des Geschichtsbegriffs in der Theologie, die Erfahrung sich verändernder Wirklichkeit so zu begreifen, daß diese sich der Vermittlung durch den Gottesgedanken als fähig und letztlich auch bedürftig erweist. In dem Fall bleibt die im Geschichtsbegriff sich artikulierende Erfahrung sich verändernder Wirklichkeit keine der Theologie aufgezwungene, ihr fremde Erfahrung, sondern sie erweist sich vielmehr als Implikat ihres Gottesgedankens selbst. Die Legitimität theologischen Geschichtsdenkens, gar einer Geschichtstheologie, ist m. a. W. nicht schon dann gewährleistet, wenn sich dafür biblische bzw. christliche Begriffe zitieren lassen, sondern erst dann, wenn das geschichtliche Denken in der Theologie sich im Zusam2,0

J.Barr, aaO., S.63. Vgl. T.Schneider, Zeichen der Nähe Gottes. Grundriß der Sakramententheologie. Mainz 3.Aufl. 1982; S.33: „Geschichtliche Erfahrung Gottes schließt . . . menschliches Erkennen, menschliches Vernehmen, menschliche Reflexivität ein. Das Insein Gottes in geschichtlichen Situationen, sein Engagement in bestimmten Personen oder Ereignissen wird zur Selbstkundgabe Gottes an den Menschen, zur Offenbarung Gottes erst, wenn und insofern es menschlichem Erkennen und Vernehmen . . . als solches aufgeleuchtet und eingeleuchtet ist." 212 Das heißt natürlich nicht, daß das Verhältnis des Menschen zu sich und zur Welt in diesem Prozeß sich verändernder Wirklichkeitserfahrung nicht auch wesentliche Antriebe und Erkenntnisse aus der christlichen Tradition empfangen, übernommen und fortgebildet hat, so daß in dieser sich verändernden Wirklichkeitserfahrung nicht zugleich auch in einem tieferen Sinne eine bleibende Einheit des Christlichen erkennbar wird. 211

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menhang einer dogmatischen Theorie konzipieren läßt, als ein Denken also, welches den universalen Wahrheitsanspruch der göttlichen Offenbarung in der Erfahrung von Wirklichkeit so begreift, daß die Wirklichkeit darin ihren Zusammenhang und Sinn hat. Das geschichtliche Denken in der Theologie gewinnt seinen konkreten Sinn dadurch, daß es als adaequater Ausdruck des universalen Wahrheitsanspruches göttlicher Offenbarung gelten kann213. Bei dieser methodischen Aufweitung des Geschichtsthemas geht es letztlich um nichts anderes als um die viel diskutierte Verhältnisbestimmung von historischer und dogmatischer Methode in der Theologie 214 . Darüber hinaus bewegt sich die Theologie dort, w o sie den Geschichtsbegriff als Fundamentalbegriff ihrer dogmatischen Methode beansprucht und expliziert, unausgesprochen immer schon auf der Ebene derjenigen Wissenschaft, die ihrerseits am Begriff der Geschichte ihren spezifischen Erkenntnisstand und Erkenntnisvollzug definiert und, durchaus auch gegen die Theologie, zu behaupten sucht, d.i. der Geschichtswissenschaft. Mit dem Anspruch eines genuinen Erkenntnisinteresses an der Geschichte hat die Theologie das Thema der Geschichte mit der Gesichtswissenschaft gemeinsam. Dieser Sachverhalt muß für die Theologie daher auch ausdrücklich zum Gegenstand ihrer Reflexion über den Geschichtsbegriff werden. Die historische Aufgabe der Theologie besteht also, wie schon Troeltsch gesehen hat, „nicht bloß darin, das Maß von Glaubwürdigkeit und Authentie der biblischen Schriften durch fortwährendes Mark213

Vgl. dazu noch einmal T. Rendtorff, Säkularisierung als theologisches Problem,

aaO. 214 Diese Frage nach der Verhältnisbestimmung von historischer und dogmatischer Methode hat bekanntlich E.Troeltsch in seinem berühmten Aufsatz „Über historische und dogmatische Methode in der Theologie" zum Thema gemacht. Vgl. zur Diskussion dieser Verhältnisbestimmung nur die folgende in Auswahl genannte Literatur: M.Reischle, Historische und dogmatische Methode in der Theologie. In: Theologische Rundschau 4 (1901), S.261-275, H.E.Weber, historisch-kritische Schriftforschung und Bibelglaube. Gütersloh 1914. G.Wehrung, Geschichte und Glaube. Eine Besinnung auf die Grundzüge theologischen Denkens. Gütersloh 1933. G.Moldaenke, Probleme historischen und exegetischen Verstehens in der Theologie. In: ZKG 54 (1935), S. 547-564. F. Hohmeier, „Historische und dogmatische Methode in der Theologie" im Denkmodell der Enhypostasie. In: NZSyTh 17 (1975), S. 225-245. Die grundlegende Bedeutung des Zusammenhangs von historischer und systematischer Methode ist insbesondere von F. Chr. Baur im Zusammenhang der Dogmengeschichtsschreibung gesehen und gefordert worden. Vgl. dazu E.Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie in Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, 5 Bde. Gütersloh (1949 ff.) 5.Aufl. 1975, Bd. 5, S.522: „Baur hat als erster gesehen, daß die christliche Dogmengeschichte wissenschaftlich die Verbindung philologisch-historischer und systematischer Bemühung fordert." Zur Würdigung F. Chr. Baurs vgl. auch K. Scholder, Ferdinand Christian Baur als Historiker. In: EvTh21 (1961), S. 435-458; bes. S.449.

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ten um ihren geschichtlichen Wert festzusetzen und dabei größere oder geringere Zugeständnisses an die .Kritik' zu machen, sondern vor allem darin, diese Gesamterscheinung des Christentums ... zu verstehen" 215 . Das allerdings vermag die Theologie nur, wenn sie den Begriff der Geschichte selbst zum Gegenstand ihrer Reflexion macht. Mit der vorliegenden Arbeit soll das wenigstens in Ansätzen geschehen: Sie versucht, die Legitimität des theologischen Interesses am Begriff der Geschichte in der interdisziplinären Auseinandersetzung mit einschlägigen Beiträgen zur Geschichtstheorie so zur Geltung zu bringen, daß sich bestimmen läßt, inwieweit dieses theologische Interesse für den Begriff der Geschichte selbst konstitutiv ist. Implizit ist damit als Frage aufgeworfen, was in anderem Zusammenhang M.Theunissen als Vermutung bereits geäußert hat: daß nämlich die Reflexion auf die Geschichte „nicht nur aus der Theologie hervorgegangen, sondern nach wie vor nur als solche möglich ist"216. In den folgenden Kapiteln wird dieser theologische Anspruch jedoch nur hinsichtlich der immanenten systematischen Aspekte der jeweiligen geschichtstheoretischen Ansätze erörtert werden können. Das bedeutet, daß nicht versucht werden soll, die Legitimität des theologischen Anspruchs auf den Geschichtsbegriff geistesgeschichtlich oder begriffsgeschichtlich zu rekonstruieren. Ein derartiger geistesgeschichtlicher Zusammenhang wird in der Regel mit dem Begriff der Säkularisierung behauptet 217 . Es bedürfte aber einer eigenen Studie, um diese Behauptung hier sowohl methodisch als auch materialiter rekonstruieren und im Zusammenhang der vorliegenden Fragestellung auswerten zu kön-

215 E.Troeltsch, Metaphysik und Geschichte. In: ZThK 8 (1898), S. 1-69; S.9. In diesem umfassenden Sinn bestimmt auch E. Hirsch das Verhältnis von historischer und dogmatischer Methode, vgl. Hirsch, Bd. 5, S. 559: „Es liegt im Wesen der historisch-kritischen Theologie begründet, daß die Dogmatik oder vorsichtiger gesprochen Systematik in ihr nur als der krönende Abschluß der theologischen Arbeit verstanden werden kann. Sie wird zur letzten Rechenschaft des christlichen Bewußtsein von der Ganzheit des uns im Christentum erschlossenen Verständnisses göttlicher Wahrheit und empfängt die zu solcher Rechenschaft nötige Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit unserer Religion von der Historie." In dem Maße also, wie die Dogmatik die historischen Erkenntnisse in ein kohärentes Verständnis der geschichtlichen Wirklichkeit der Offenbarung zu integrieren vermag, bildet sie ihr Wahrheitsbewußtsein heraus. Vgl. dazu auch das erst jetzt unter dem Titel „Theologiegeschichte und die Aufgabe der evangelischen Theologie" von W.Buff veröffentlichte Manuskript, das im Original die Überschrift „Nachwort 1964" (nämlich zu Hirschs Theologiegeschichte) trägt. In: H. M. Müller, Christliche Wahrheit und neuzeitliches Denken. Zu Emanuel Hirschs Leben und Werk. Tübingen 1984, S. 205-234. 216 M.Theunissen, Gesellschaft und Geschichte. In: Kritische Theorie der Gesellschaft. Zwei Studien. Berlin N e w York 1981, S.39. 217 Zum Begriff der Säkularisierung vgl. die bereits oben Anm. 116 zitierte Literatur.

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nen 218 . Allerdings wäre eine so verfahrende, „historisierende" Rekonstruktion der Legitimität des theologischen Anspruchs auch wohl nur dann sinnvoll und aussagekräftig, wenn die daraus resultierende systematische Reflexion des Geschichtsbegriffs weiterhin an die einschlägigen theologischen Implikationen seiner dabei vorausgesetzten Genese gebunden bleibt. „Zur Verifikation des systematischen Aspekts des Säkularisierungsthese wäre", wie diesbezüglich W. Jaeschke durchaus zu Recht bemerkt, „ . . . der Nachweis erforderlich, daß neuzeitliches Geschichtsdenken nicht nur faktisch aus biblischem hervorgegangen sei und prinzipiell nur aus ihm hervorgehen konnte, sondern die in der Eschatologie erschlossene Erfahrung der Geschichte bleibend zur notwendigen Voraussetzung habe" 219 . Nur in dieser bleibenden Gebundenheit geschichtlichen Denkens an die theologischen Implikationen hat der historisierende Hinweis auf den theologischen Urspung des Geschichtsbegriffs einen argumentativen Sinn. Eben deshalb reicht es nun aber auch nicht aus, der in der Säkularisierungsthese historisch rekonstruierten Legitimität theologischen Geschichtsdenkens mit einer ebenso historisierend verfahrenden Rekonstruktion der Illegitimität theologischen Geschichtsdenkens begegnen zu wollen, wie das W. Jaeschke mit dem Argument versucht hat, daß der neuzeitliche (geschichtsphilosophische) Geschichtsbegriff nicht im Kontext christlicher Uberlieferung steht, sondern „im Kontext eines emanzipatorischen Geist- bzw. Vernunftbegriffs gesehen" werden müsse220. Denn die Behauptung der Legitimität des Geschichtsbegriffs aus seiner - nun entweder theologisch oder neuzeitlich-geschichtsphilosophisch verstandenen - Genese heraus impliziert immer auch die Forderung, die in jener Genese wirksamen Inhalte für eine auch weiterhin mögliche Plausibilität geschichtlichen Denkens in Anspruch nehmen zu können. Säkularisierung ist daher auch nur selten als platte Übernahme vorgefertigter Begriffe und Denkstrukturen gedeutet worden; immer geht es auch um 218 Dies gilt insbesondere im Blick auf die neuerdings von R.Kosellek vertretene These, daß der Kollektivsingular Geschichte in seinem begrifflich-präzisen Sinn eine erst neuzeitliche Bildung sei. Vgl. dazu bes. R.Kosellek, Historia magistra vitae, Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt 1979, S. 38-66. Sowie: Dèrs., Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit, ebd. S. 17-37. Im Anschluß an Kosellek vgl. auch R. Stove, Zeitliche Differenzierung und Geschichtsbewußtsein in der neuzeitlichen Historiographie. In: E. Rudolph/E. Stove (Hrsg.), Geschichtsbewußtsein und Rationalität. Zum Problem der Geschichtlichkeit in der Theoriebildung. (Forschungen und Berichte der evangelischen Studiengemeinschaft Bd. 37) Stuttgart 1982. 219 W. Jaeschke, Die Suche nach den eschatologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie. Eine historische Kritik der Säkularisierungsthese. München 1976. S.328. Vgl. auch die Selbstanzeige Jaeschkes zu seinem Buch in: Archiv für Begriffsgeschichte 23 (1979), S. 119 f. 220 W. Jaeschke, Archiv f. Begriffsgeschichte 23 (1979), S.120.

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die durch die Ablösung neuzeitlichen Denkens vom Christentum in Frage stehende Legitimität des christlichen Anspruchs wie auch seiner säkularen Verweigerung 221 . Die im folgenden beabsichtigte interdisziplinäre Auseinandersetzung wird sich daher in zwei einander ergänzenden Schritten vollziehen müssen. Zum einen gilt es, Kriterien eines theologischen Verständnisses von Geschichte zu formulieren, die einerseits als adaequater Ausdruck des im christlichen Gottesgedanken mitgesetzten Verständnisses von Wirklichkeit gelten können; die andererseits aber auch nicht von vornherein die Problematik und Rationalität neuzeitlichen Geschichtsdenkens ausklammern, sondern sich ausdrücklich auf sie zu beziehen erlauben. Die Formulierung solcher Kriterien darf m. a.W. der Geschichtswissenschaft nicht lediglich eine „metabasis eis alio genos" zumuten. Dieser letztgenannten Forderung entspricht die Theologie dadurch, daß sie ihre Kriterien als einer möglichen Logik der Geschichte selbst zugehörige formuliert und nicht von außen an die geschichtstheoretische Reflexion heranträgt. Zum anderen muß aber auch umgekehrt das neuzeitliche Geschichtsdenken auf diejenigen Aspekte hin problematisiert werden, die am ehesten eine Vergleichbarkeit und Auseinandersetzung mit den Kriterien des theologischen Geschichtsinteresses erlauben. Zunächst also sollen die beiden genannten Schwerpunkte theologischen Geschichtsinteresses im Blick auf mögliche Kritierien eines Geschichtsbegriffs sowie deren methodische Relevanz untersucht werden. a) Im theologischen Interesse an der Geschichte, so wurde argumentiert, drückt sich das Verständnis der Eigentümlichkeit göttlichen Offenbarungshandelns aus. Es ist zwar behauptet worden, daß die biblische Uberlieferung keinen terminologisch eindeutig greifbaren Geschichtsbegriff kenne 222 . Das gilt aber lediglich für das spezifisch neuzeitliche Verständnis der Geschichte als eines selbständigen Bereichs menschlicher Handlungen. Demgegenüber konnte sich, wie W. Pannenberg dem entgegenhält, „das moderne theologische Bewußtsein ... in diesen Fragen mit Recht auf biblische Sachverhalte berufen" 223 , insofern dort Geschichte mit der Gesamtheit der „Taten Gottes" gleichgesetzt wird 224 . 221 Besonders deutlich wird das an Gogartens Unterscheidung von Säkularisierung und Säkularismus, mag sie im einzelnen auch manche Probleme in sich bergen; vgl. F. Gogarten, Verhängnis und H o f f n u n g der Neuzeit. München Hamburg 1966, S. 134 ff. 222 „Die Bibel besitzt keinen sprachlichen Ausdruck, der unserem .Geschichtsbegriff entspräche'" (J.Barr, Alt und Neu in der biblischen Überlieferung, S.65). 223 W. Pannenberg (Hrsg.), Offenbarung als Geschichte. Göttingen 1982, 5. Aufl., S. VII. 224 Vgl. W. Pannenberg, Zeit und Ewigkeit in der religiösen Erfahrung Israels und des Christentums. In: Ders., Grundfragen systematischer Theologie Bd. II. Göttingen 1980, S. 188-206, S. 194.

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Es handelt sich dabei um den Sachverhalt, daß Gott gerade durch seine Taten offenbar wird. Im Rahmen des Programms von „Offenbarung als Geschichte" hat R. Rendtorff die Bedeutung der „Taten Jahwes" für das Verständnis von Offenbarung näher untersucht. „Oft ist", so Rendtorff, „ganz ausdrücklich von bestimmten, einzelnen Taten Jahwes gesagt, daß er in ihnen erkennbar wird" 225 . „Das Sehen und Erfahren der Taten Jahwes wirkt Erkenntnis. Das wird ... an bestimmten Einzelereignissen oder begrenzten Geschehenszusammenhängen berichtend dargestellt. In der Einleitungsrede des deuteronomistischen Geschichtswerkes heißt es ... im Rückblick auf die ganze bisherige Geschichte Jahwes mit Israel: „Dir ist dies gezeigt worden, damit du erkennst, daß Jahwe allein Gott ist und keiner außer ihm." (Dt. 4,35, vgl. V. 37-40). Diese ganze Geschichte zielt also darauf ab, Erkenntnis Jahwes zu wirken, Erkenntnis dessen, daß nur er Gott ist und Macht hat." 226 Entsprechend ist die geschichtliche Erinnerung ein konstitutiver Bestandteil des Glaubens, weil „Israel damit bekennt, daß eine Kette glücklicher Umstände, in denen es letztlich nur die Hilfe seines Gottes erkennen konnte, seine Existenz gewährte" 227 . Wenn es hier auch nicht möglich ist, in eine exegetische Erörterung dieses Sachverhalts einzutreten, so läßt sich doch behaupten, daß sich das theologische Interesse an der Geschichte auf eben diese Eigentümlichkeit der Vorstellung vom Offenbarungshandeln Gottes in seinen Taten berufen kann. Die Voraussetzungen des geschichtlichen Bewußtseins liegen, wie W. Pannenberg daher schreibt, „in seinem Gottesgedanken" 228 . Der Gott Israels ist ein lebendiger Gott, indem er immer wieder Neues wirkt. Um diese Eigentümlichkeit göttlichen Offenbarungshandelns im Blick auf einen vorläufigen Begriff von Geschichte zu beschreiben, bieten sich hier die Begriffe der Kontingenz und der Universalität an. Der Begriff der Kontingenz steht dabei für das je neue und besondere Handeln Gottes. Es ist der stets überraschende Erweis seiner Macht, der das göttliche Handeln auszeichnet. Auch dort, wo das göttliche Handeln durch Verheißungen und prophetische Weissagungen in der Kontinuität bisherigen Handelns erwartet wird, bleiben die tatsächlich eintretenden Geschehnisse gleichwohl der schöpferischen Macht Gottes über die Zukunft vorbehalten. Ja, die Kontingenz göttlichen Handelns hängt zunehmend mit dieser auf die Zukunft gerichteten Erwartung seines Selbsterweises zusammen. Besonders im prophetischen Bereich wird die Erwartung des Selbsterweises Gottes mit erst noch be225

R. Rendtorff, aaO., S.27. Ebd. S. 36. 227 D. Grimm, Geschichtliche Erinnerungen im Glauben Israels. In: Theologische Zeitschrift 32 (1976), S.257-268; S.264. 22β -ψ Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte, aaO., S.24. 226

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vorstehenden Ereignissen verbunden 229 . Vor allem aber muß in diesem Zusammenhang auf die mit der Exilsprophetie eingetretene Wendung zur Erwartung eines neues und dann endgültigen Heilshandelns Gottes hingewiesen werden. Mit der Behauptung, daß in Jesus Christus dieses neue und einmalige Heil geschehen ist, wird das Verständnis göttlichen Offenbarungshandelns daher noch einmal radikalisiert. Denn mit der Kontingenz dieses Geschehens verbindet sich unüberholbar der universale Wahrheitsanspruch göttlicher Offenbarung. Dieser Zusammenhang von Kontingenz und Universalität gilt auch schon für die alttestamentliche Uberlieferung. Insofern der einzige und wahre Gott es ist, der in der Geschichte handelt, müssen nicht nur die einzelnen Taten als Ausdruck seines wahrhaften und universalen Seins verstanden werden; sondern es ist immer zugleich auch die Frage nach der Einheit der Offenbarung Gottes selbst in seinen Geschichtstaten gestellt 230 . Der universale Wahrheitsanspruch Gottes in seinen Taten impliziert damit ein Verständnis der Wirklichkeit als einer an der Kontinuität solcher Taten sich bestimmenden Geschichte, die ihre Einheit und Universalität eben in der Bezogenheit auf die Einheit Gottes in seinem Handeln gewinnt 231 . Im Gedanken einer universalen Geschichte, die gleichwohl die Besonderheit und Neuheit des Geschehens nicht ausschließt, sondern gerade umgekehrt zu ihrer Voraussetzung hat, könnte sich daher ein theologisch angemessenes Verständnis von Geschichte erweisen. „Die Einheit der Selbstoffenbarung Gottes ist der Gesichtspunkt, unter dem dieser Gedanke einerseits eine Integrationsfunktion in bezug auf die Vielfalt göttlicher Machterweise in der Geschichte und sie bezeugender Vgl. R. Rendtorff, aaO., S . 3 7 f . 230 W . Pannenberg (Hrsg.), Offenbarung als Geschichte, S.XI. 231 Vgl. A.Weiser, aaO., S. 136: „So dürfen wir zusammenfassend sagen: Erst jener alles umfassende Gottesglaube ist es, der im Alten Testament die .Geschichte' schafft, dadurch, daß er dem Geschehen Sinn und Zusammenhang verleiht." Vgl. ebd. bereits S. 135 f.: „Das im Alten Testament immer wieder der Versuch gemacht wird, das Nebeneinander verschiedener, einander widersprechender religiöser Vorstellungen aufzulösen in ein sinnvolles Nacheinander, in einen von Jahwe allein planvoll geleiteten Geschichtsverlauf, in dem die Traditionen verschiedener Gruppen Israels und auch fremdes Gut seinen bestimmten historischen Platz angewiesen bekam, wird man nur als den Ausdruck eines stark auf den Monotheismus zustrebenden Glaubens zu verstehen haben, der sich weithin ... in der Auseinandersetzung zwischen Natur- und Geschichtsreligion im Sinne der letzteren entfaltet hat. Es geht im Alten Testament letztlich nicht um das Geschehen als solches, sondern um Gott." Und ebd. S. 140: „Und in diesem Versuch, die gesamte Geschichtswirklichkeit unter Einschluß ihres Anfangs in der Weltschöpfung rational und teleologisch als das in sich einheitliche Walten des einen Gottes zu verstehen, ragt das Alte « Testament weit über alles hinaus, was der Alte Orient an Gedanken auszuweisen hat

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biblischer Texte gewinnt, unter dem er aber auch andererseits eine konstruktive Funktion der theologischen Interpretation des Verhältnisses zwischen dem einen Gott und der Mannigfaltigkeit des Weltgeschehens hat." 232 Es ist insbesondere diese konstruktive Funktion des Gedankens einer universalen und zugleich kontingenten Geschichte, die für die Frage nach einem theologischen Geschichtsbegriff von Interesse sein wird. Dabei schließen sich der Gedanke der Universalität bzw. Einheit der Offenbarung Gottes in der Geschichte seiner Taten einerseits und der Gedanke der Kontingenz andererseits nicht aus. Das ist deshalb so, weil diese Einheit des Handelns Gottes eine eschatologische Einheit ist, d.h. eine im Fortgang des Geschehens erst zukünftig vollendete Einheit. So hält gerade die Kontingenz des Geschehens die Frage nach der Einheit der Geschichte, damit aber auch nach der Einheit der Offenbarung Gottes in seiner Geschichte wach. „Die Geschichte wird zum Problem vor allem in ihrem Zusammenhang. Gerade das Problem weist der geschichtliche Zusammenhang auf den transzendenten Einheitsfaktor." 233 Denn angesichts der Kontingenz des Geschehens steht diese Einheit insofern immer noch auf dem Spiel, als erst die Möglichkeit eines sinnvollen Zusammenhangs der kontingenten Ereignisse den Gedanken der Einheit und Universalität überhaupt konkret werden läßt. Diese Einheit läßt sich m.a.W. nie schon definitiv behaupten; sondern sie ist in Gestalt der Frage eine im Fortgang des Geschehens selbst immer noch offene. Unter Berücksichtigung des in a) Gesagten soll nun weiter nach der methodischen Bedeutung des theologischen Interesses an der Geschichte gefragt werden, insofern sich in ihm eben auch der spezifisch neuzeitliche Problemzusammenhang theologischen Denkens darstellt. Wie bereits angeklungen ist, findet dieser Problemzusammenhang seinen Ausdruck in der viel diskutierten Frage nach dem Verhältnis von historischer und dogmatischer Methode 234 . Diese Frage muß daher 212 W. Pannenberg (Hrsg.), Offenbarung als Geschichte, S . X I f . An dieser Stelle kann freilich nicht auf das von W. Pannenberg aufgeworfene Problem des Begriffs der Selbstoffenbarung in seiner Anwendung auf die jeweiligen biblischen Uberlieferungen eingegangen werden. Vgl. dazu W. Pannenberg, Dogmatische Thesen zur Lehre von der O f fenbarung. In: Ders., (Hrsg.), Offenbarung als Geschichte, S.91-114; S.91 (These 1) sowie die kritischen Anfragen von Fr. Hesse, Wolfhart Pannenberg und das Alte Testament. In: NZSyTh 7 (1965), S. 174-199, bes. S. 184; sowie: C.E.Braaten, The Current Controversy on Revelation. Pannenberg and his Critics. In: The Journal of Religion 45 (1965), S. 225-237. 2 " H.E.Weber, Historisch-kritische Schriftforschung und Bibelglaube, S.229. 234 Vgl. F. Hohmeier, „Historische und dogmatische Methode in der Theologie" im Denkmodell der Enhypostasie. In: NZSyTh 17 (1975), S.225-245. R.H.Pfeiffer, Facts and Faith in Biblical History. In: Journal of Biblical Literature 70 (1951), S. 1-14. G. E. Ladd, History and Theology in Biblical Exegesis. In: Interpretation 20 (1966), S. 54-64.

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auch in unserem Zusammenhang Berücksichtigung finden. Allerdings kann hier eine Verhältnisbestimmung von historischer und dogmatischer Methode nicht nach allen Seiten hin vorgenommen werden. Es sollen daher nur diejenigen Aspekte genannt werden, die für die interdisziplinäre Diskussion von besonderer Bedeutung sind. Weil der Glaube auf die zuvorkommende, ihm selbst vorangehende Wirklichkeit der Offenbarung Gottes in der Geschichte bezogen ist, ist die theologische Reflexion auf den Grund des Glaubens immer auch eine eminent historische Angelegenheit; und umgekehrt: weil „die Offenbarung Gottes auch, ja gerade in ihrer geschichtlichen Ursprünglichkeit Offenbarung ist, so ist die Erhebung dieses ihres ursprünglichen Bestandes eine eminent theologische Angelegenheit" 235 . Es sollte unbestritten sein, daß dieser Sachverhalt eine „theologische Eliminierung der Geschichte im Sinne des „Geschehenen" von vornherein ausschließt"236. Aber wie verhalten sich dabei der historische und der theologische Aspekt zueinander 237 ? Ubernimmt die Theologie die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft, um sie dann „theologisch" weiter zu bearbeiten238? In der Tat scheint sich mit der Herausbildung des neu-

235

A. Oepke, Geschichtliche und übergeschichtliche Schriftauslegung. Gütersloh 1947, S. 39. 236 A. Oepke, aaO., S.20. 237 Nach R. H . Pfeiffer, Facts and Faith in Biblical History, aaO., finden sich gegenwärtig drei Möglichkeiten solcher Verhältnisbestimmung: „ M o d e r n biblical scholars thus face the choice of one of three possible methods . . . : An impartial and objective record of all the known facts; religious or theological teaching disguised as historiography; and a combination of the two, in which facts are marshalled as proves of a theory and historical events are presented as acts of G o d in the accomplishment of his great plans" (S. 10). 238 In Variationen scheint ein derartiges quasi-gnostisches Zwei-Stufenmodell historisch-theologischer Erkenntnis am gebräuchlichsten zu sein. Vgl. z.B. E.Dinkier, Bibelautorität und Bibelkritik. Tübingen 1950, S.30: „Die historisch-kritische Exegese hat durch die Erhellung des religionsgeschichtlichen Materials, durch die formgeschichtliche Betrachtung und nicht zuletzt durch die Begriffsgeschichte die historisch-bedingte Form der Bibel aufgezeigt und die zeitgeschichtliche Bedingtheit von Sprache und Weltbild erwiesen." So besehen ist die Bibel nach Dinkier natürlich noch nicht W o r t Gottes: „Die Bibel ist nicht Gottes Wort, wenn sie ungelesen daliegt oder wenn sie als Quelle zur E r f o r schung der Geschichte Israels oder der Urkirche befragt wird" (ebd. S.32). Autorität als W o r t Gottes hat die Bibel erst dann, „wenn sie uns als lesende und hörende ergreift, damit in die Entscheidung zwingt, wenn sie in unsere gegenwärtige Existenz hineinfragende und hineinfassende, bezwingende M a c h t " ist (ebd. S.33). - Vgl. auch Ch.Hartlich, Historisch-kritische M e t h o d e in ihrer Anwendung auf Geschehnisaussagen der hl. Schrift, aaO., S.482: „Der Glaube an Gottes Vergebung ist etwas wesenhaft anderes als das Fürwahrhalten einer Geschichte von Gottes Vergebung." U n d F. Hohmeier, „Historische und dogmatische M e t h o d e in der Theologie im Denkmodell der Enhypostasie, aaO. S. 242: „Wahre kritische V e r n u n f t kann . . . nicht beweisen, d a ß Gottes Heilshandeln nicht geschehen sein kann." D a h e r könne das historische Erkennen „nicht als das alleinige Begegnungsfeld f ü r das gesamte Verstehen des Offenbarungszeugnisses gelten, wiewohl das Historische unerläßliches Kennzeichen d a f ü r bleibt. Das Paradigma f ü r die Bibelausle-

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zeitlichen Geschichtsbewußtseins eine solche auch methodisch verstandene „Arbeitsteilung" durchgesetzt zu haben, die das Verhältnis von Glaube und Geschichte als „Ergänzung des historisch Faktischen durch eine spezifische Glaubensinterpretation" versteht 239 . Allerdings ist die für die Theologie daraus resultierende Spannung unübersehbar. „Schon von Hause aus", so schreibt G. Wehrung in seinem 1933 erschienen Buch „Geschichte und Glaube", „liegt im Begriff der Dogmatik dies: als wahr hinstellen ... Das Thetische, das Anerkennen der Wahrheit, gehört zu ihrem Wesen. ... Eine Wirklichkeitsaussage, die Behauptung eines Daß steht hier am Anfang, eine Aussage aber über eine den höchsten Anspruch erhebende andere Ansprüche ausschließende Wirklichkeit" 240 , das heißt: „Theologie ist der Exponent eines universalen Anspruchs." 241 Es scheint dieser universale Anspruch der Theologie, und mit ihr der biblischen Uberlieferung zu sein, der eine Trennungslinie zwischen dogmatischer und historischer Theologie zieht. Denn „das Absolute" ist nicht Gegenstand der Geschichtsschreibung" 242 . Andererseits aber gerät die Theologie, wie dies E.Troeltsch unmißverständlich ausgesprochen hat, unter den „Zwang der historisch-kritischen Methode ..., die einmal zugelassen, sich keine Grenzen mehr ziehen läßt und am natürlichen Geschehen ausgebildet, bei der Anwendung auf Ubernatürliches dieses notwendig in Natürliches, d. h. allem übrigen Analoges auflöst" 243 . Denn: „Das ist die offenkundig vor Augen liegende Wirkung der historischen Methode. Sie relativiert alles und jedes .. .."244 Mit dieser durch das neuzeitliche historische Bewußtsein in die Theologie ein-

gung in der Gesamtheit ihres Vorganges ist daher nicht die Arbeit der wissenschaftlichen Exegese allein, sondern die der gesamten Predigtvorbereitung, wovon die wissenschaftliche Exegese einen Teil darstellt, und dazu die Predigt selbst" (ebd. S.244f.). S. auch G.E.Ladd, History and Theology in Biblical Exegesis, aaO., S. 63 f.: „the bible is a historical book written by men, and it must be studied critically and historically; but the most important fact about the bible is, that it is also itself the word of god. It is my conviction that any method of exegesis which interprets the bible only as the words of men in the name of „science" and „criticism" has thereby sacrificed it's most important dimension. ... The N e w Testament is both the record and the divinly inspired interpretation of God's self-revelation in the historical event of Jesus of Nazareth." 2J9 -ψ Pannenberg, Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie: systematisch-theologisch, aaO., S. 660. 240 G.Wehrung, Geschichte und Glaube, S. 158. 241 G. Wehrung, aaO., S. 27. 242 H.E.Weber, aaO., S.47. 243 E.Troeltsch, Metaphysik und Geschichte, aaO., S.5. 244 E.Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie, aaO., S.737; vgl. auch ebd. S.730: „Die historische Methode, einmal auf die biblische Wissenschaft und auf die Kirchengeschichte angewandt, ist ein Sauerteig, der alles verwandelt und der schließlich die ganze bisherige Form theologischer Methoden zersprengt."

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getragenen Spannung glaubte Troeltsch schließlich „die ganze bisherige Form theologischer Methoden zersprengt" 2 4 5 . Den Grund d a f ü r sah Troeltsch vornehmlich in dem Prinzip der Analogie, denn „die Beobachtung von Analogien von gleichartigen Vorgängen der Vergangenheit gibt die Möglichkeit,... das Unbekannte des einen aus dem Bekannten des anderen zu deuten" 2 4 6 . So bewirkt „die Allmacht der Analogie" letztlich „die prinzipielle Gleichartigkeit allen historischen Geschehens" 247 . Damit wird, wie Troeltsch fortfährt, „auch die Bibelforschung in die allgemeine, politische, soziale und geistige Geschichte des Altertums hineingezogen, und ist schließlich die Erforschung und Beurteilung des Christentums in den Rahmen der Religions- und Kulturgeschichte hineingestellt" 248 . Auf diese Weise wird der universale Wahrheitsanspruch der biblischgeschichtlichen Uberlieferung auf die vermöge der Gleichförmigkeit menschlichen Wesens durchgängige Immanenz geschichtlichen Lebens hin relativiert. Für die dogmatische Theologie ergibt sich daraus die nicht geringe Schwierigkeit, die Behauptung der Wahrheit Gottes in seiner geschichtlichen O f f e n b a r u n g mit der faktischen Relativität geschichtlichen Geschehens noch vermitteln zu können. Es scheint sich der bedenkliche Ausweg nahezulegen, die Möglichkeit einer solchen Vermittlung im Medium der geschichtlichen Reflexion überhaupt zu bestreiten. „The unhappy marriage of history and theology owing to the prevalence of one over the other or else to mutual incompatibility was never a true union and only divorce can result in the fruitful development of each of the two disciplines." 249 Doch ist demgegenüber daran festzuhalten, daß eine solche Vermittlung unerläßlich ist, weil der Wahrheitsanspruch der Theologie - wie jeder Wahrheitsanspruch - seine Kraft nicht aus der bloßen Behauptung seiner Geltung bezieht, sondern aus der Stimmigkeit, mit der er die Wirklichkeit als immer schon durch den in diesem Anspruch enthaltenen Inhalt konstituiert zu begreifen vermag. Das bedeutet, daß ein theologisches Verständnis der Geschichte keinesfalls eine bloß nachträgliche Beurteilung, eine Deutung im Anschluß an einen von der strengen historischen Forschung gefundenen Ablauf der Ereignisse sein kann 250 . Vielmehr muß das, was als Bedeutung der Ereignisse behauptet wird, zugleich als ein konstitutives Moment ihrer Faktizität selbst begreifbar sein. Es würde daher auch noch zu kurz

245 246 247 249 249 250

E.Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode, S.730. Ebd. S.732. Ebd. S.732. Ebd. S.733. R.H.Pfeiffer, Facts and Faith in Biblical History, aaO., S. 13. Vgl. G. Wehrung, Geschichte und Glaube, S. 141.

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greifen, die Unterscheidung von Faktum und Deutung durch eine Unterscheidung von unterschiedlichen Deutungen aufzuheben, um damit die traditionelle Unterscheidung von Glaube und Geschichte auf einer weniger verbindlichen Ebene historischer Rationalität zu repristinieren, wie das jüngst H . Weder mit dem Argument versucht hat, „daß jede Geschichtserzählung interpretierend über das Faktische hinausgreift" 251 . Es trifft zwar zu, daß jede historische Darstellung interpretative Elemente enthält; aber diese sind kein Selbstzweck historischen Erkenntnisinteresses, sondern zielen auf die Faktizität des Geschehens selber, das so im Medium historischen Wissens erst darstellbar wird. Mit größerem Recht betont daher G. Wehrung: „Faktum und Sinn können methodisch nicht getrennt werden. Gehört denn der Sinn nicht zum Faktischen, gestaltet er nicht entscheidend das Faktische? Auf beides in seiner Einheit muß das Erkennen von vornherein gerichtet sein."252 Diese von Wehrung gewissermaßen als methodisches Prinzip gemeinte Einheit von Faktum und Sinn ergibt sich bereits aus der Sache selbst, insofern in der Auffassung und Überlieferung von Ereignissen solcher Sinn immer schon reklamiert wird. Es gehört daher zur Objektivität historischen Denkens, diesen Sinn zumindest als Hypothese dem Erkenntnisprozeß vorauszusetzen 253 . Gerade aufgrund des hypothetischen Charakters dieser Sinnannahmen ist die historische Erkenntnis nicht zu einem Verzicht auf methodische Rationalität gezwungen, sondern vermag die Geltung solcher Sinnannahmen unter dem Gesichtspunkt der Kohärenz der ihnen zugrundeliegenden Daten und Behauptungen mit anderem dem Historiker vorliegendem Material in begründeter Weise zu überprüfen. Läßt sich so gesehen die Spannung zwischen der historischen und dogmatischen Aufgabe der Theologie überbrücken? Das scheint in der Tat dann möglich, wenn die Theologie für ihre Sinnannahmen auch Kriterien geltend machen kann, die konstruktiv in den Prozeß historischer Erkenntnis und Urteilsbildung mit eingehen und somit die jeweiligen Sinnannahmen empirisch beziehbar und einlösbar sein lassen254. Die konstruktive Aufgabe, die der Theologie damit für das geschichtliche Denken zukommt, ist keine dogmatische Abstraktion, weil nämlich der universale Anspruch des christlichen Gottes251 H. Weder, Das Kreuz Jesu bei Paulus. Ein Versuch, über den Geschichtsbezug des christlichen Glaubens nachzudenken. Göttingen 1981; S. 96. Vgl. ausführlicher auch oben S. 28 ff. 252 G. Wehrung, aaO., S. 141. 2 " In diesem Sinn schreibt G.Wehrung: „Der Gesichtspunkt der Offenbarung ist . . . allen Vorurteilen zum Trotz, wissenschaftlich notwendig, sofern und solange die zu ergründende Wirklichkeit als Offenbarung zu gelten beansprucht" (aaO., S. 131). 254 Zutreffend schreibt H.E.Weber: „So kommt es auf die Darstellung des Immanenten, des Menschlichen und Relativen an" (aaO., S. 49 f.; Unterstreichung von mir).

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begriffs nicht identisch ist mit seinem jeweiligen dogmatischen Begriff 2 5 5 ; der universale Anspruch des christlichen Gottesbegriffs stellt vielmehr die dogmatische Theologie allererst und immer wieder vor die Aufgabe, dessen Wahrheit angesichts der Mannigfaltigkeit von Welterfahrungen über die vorhandene und tradierte Begrifflichkeit hinaus als jeweils konkrete Wahrheit zu formulieren. Dabei muß sie angesichts der im Gottesgedanken selbst liegenden Forderung der Selbigkeit Gottes bzw. der Einheit Gottes zugleich auch die Kohärenz dieser jeweils konkreten Vermittlung des göttlichen Wahrheitsanspruchs behaupten können. Insofern die Darstellung solcher Vermittlung und Kohärenz im dogmatischen Begriff Gottes immer auch eine erst noch zu bewältigende Aufgabe der Theologie ist, gehen die Erfahrungen sich verändernder Wirklichkeit konstitutiv in ihren Erkenntnisprozeß mit ein - und zwar im Medium historischen Bewußtseins und historischer Urteilsbildung. Die Rationalität historischer Urteilsbildung darf also nicht als eine der Theologie bloß aufgenötigte Erfahrung oder gar als „Anpassung an ein glaubensfremdes Denken" 2 5 6 verstanden werden, sondern als eine in der Eigenart des von ihr vertretenen Wahrheitsanspruchs selbst angelegte Aufgabe der Reflexion. Das ist der Fall, wenn die Theologie die Offenbarung als geschichtliche Offenbarung versteht und dieses Verständnis auch methodisch zur Geltung bringt. Eine von diesen Voraussetzungen her betriebene historische Theologie, die nach der Wahrheit der Offenbarung Gottes im Medium historischen Bewußtseins und historischer Urteilsbildung fragt, ist daher auch nicht mit der Zumutung zu verwechseln, „als ob dem Historiker erst einmal ein allgemeiner Gottesgedanke . . . angeboten würde" 2 5 7 . Vielmehr ist die Evidenz ihres Redens von Gott eine im Medium historischer Erfahrung selbst vermittelte Evidenz, insofern umgekehrt die Wahrheit des Gottesgedankens historische Erfahrung impliziert 258 . Freilich ist die Evidenz des Redens von Gott in den Prozessen historischer Urteilsbildung nicht abschließbar und einschließbar; doch ist diese Unabschließbarkeit gerade eine 255 Y g ] T . R e n d t o r f f , Säkularisierung als theologisches Problem, aaO., S . 3 2 5 . 2 5 6 S. H a u s a m a n n , T h e o l o g i e und Geschichte. In: T h e o l o g i s c h e Zeitschrift 33 (1979), S. 100-109; S. 109. " 7 L. Steiger, O f f e n b a r u n g s g e s c h i c h t e und theologische Vernunft. In: Z T h K 59 (1962), S. 8 8 - 1 1 3 ; hier S . 9 9 . Steiger prolemisiert in diesem A u f s a t z hauptsächlich gegen Pannenberg: „ P a n n e n b e r g setzt metaphysisch einen totalen Wesensbegriff von G o t t voraus, und f r a g t . . . dann nachträglich nach seiner offenbarungsgeschichtlichen Vermittl u n g " ( E b d . S. 108). D a m i t stellt Steiger die Argumentation Pannenbergs freilich auf den Kopf. 2 5 8 Vgl. Κ. H . N e u f e l d , D o g m a und Geschichte. Eine Problemanzeige. In: Stimmen der Zeit 202 (1985), S . 5 6 9 - 5 7 1 ; S . 5 7 0 : „ D o g m a kann nichts anderes sein als die geschichtliche Gestalt einer die Geschichte umgreifenden, sie zugleich aber auch durchdringenden und prägenden Wahrheit."

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Signatur des geschichtlichen Sinnes der Offenbarung selber und muß als solche daher auch in die historische Urteilsbildung mit eingehen. Der theologische Umgang mit der Geschichte beschränkt sich daher nicht allein auf die Beantwortung der Frage, was einmal christlich war bzw. als Evidenz des Redens von Gottes Offenbarung in der Vergangenheit eingeleuchtet hat 259 ; vielmehr liegt Sinn und Aufgabe eines theologischen Geschichtsbegriffs immer auch darin, die Behauptung der Geschichtlichkeit der Offenbarung in die Kontinuität einer auch die Zukunft umgreifenden Evidenz der Wahrheit Gottes zu stellen. Unter dem Geschichtspunkt der Frage nach einer auch die Zukunft umgreifenden Evidenz der Wahrheit Gottes stellen historische und systematische Fragestellung einen wechselseitigen Begründungszusammenhang dar, der die traditionelle Alternative von Vernunft und Geschichte hinter sich läßt. Denn die Bewährung der Wahrheit des Gottesgedankens in gegenwärtiger und zukünftiger Erfahrung impliziert mit der Identität des im Wechsel der Erfahrungen zu Bewährenden auch dessen Kontinuität im zeitlichen Wandel, weil anders es sich nicht mehr um den gleichen Sachverhalt handeln würde, der in solchem Erfahrungswandel zur Bewährung steht260. Das heißt nun auch, daß die Kriterien, welche die Sinndeutungen der Theologie konstruktiv auf den Prozeß historischer Erkenntnis zu beziehen erlauben, zugleich an einem geschichtlichen Verständnis der Offenbarung, auf die sie sich beruft, gewonnen werden müssen. Dadurch wird gewährleistet, daß die Theologie in diesem Vermittlungsprozeß die Identität mit dem Ursprung ihres Wahrheitsanspruches bewahrt. Wurde daher unter a) das geschichtliche Verständnis der Offenbarung Gottes mit den Begriffen Kontingenz und Universalität begrifflich zu präzisieren gesucht, so gilt es, diese Begriffe ebenso als konstruktive Kriterien theologischer Wahrheitsforderung gegenüber dem historischen Bewußtsein zu verstehen. Das scheint insofern möglich, als unter Das macht die systematische Bedeutung des Geschichtsbegriffs in der Theologie im Unterschied zur Erkenntnisabsicht der ihr zugehörigen „historischen" Fächer aus; vgl. dazu T. Rendtorff, Historische Bibelwissenschaft und Theologie. Uber den Aufbau der Frage: Was ist christlich? In: Ders., Theorie des Christentums. Historisch-theologische Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung. Gütersloh 1972, S. 41-60. Freilich ist darin auch die Durchdringung beider gegeben. 260 Ansatzweise wird ein solcher Zusammenhang bereits von W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie. Frankfurt 1973, formuliert, vgl. S. 278 ff. Gleichwohl äußert Pannenberg noch gewisse Vorbehalte: „Entscheidend für Wahrheit oder Unwahrheit von Behauptungen i s t . . . nicht der Nachweis ihrer historischen Kontinuität, sondern ihre Bewährung im Zusammenhang gegenwärtiger und künftiger Erfahrung, die als solche allerdings immer auch ein Verhältnis zur Vergangenheit hat" (Ebd. S. 295). Berücksichtigt man jedoch, daß die Bewährung eines Sachverhalts stets auch dessen zeitlich sich realisierende - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft integrierende - Identität voraussetzt, so läßt sich den erwähnten Problemen entgehen.

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dem Gesichtspunkt seiner dargestellten eschatologischen Struktur der Gedanke der Universalität dazu anleitet, die Definitivität der Wahrheit - in der Gestalt ihrer konkreten Vermittlung von Wirklichkeit sowie ihrer Kohärenz - , immer auch als erst noch ausstehende, noch vorläufige zu verstehen. Genau dies bringt in einem gewissermaßen komplementären Sinne der Begriff der Kontingenz zum Ausdruck. Im Kontext historischer Fragestellung vermag der Gedanke der Kontingenz nämlich verständlich zu machen, inwiefern diese Universalität und Einheit eine erst noch in der Zukunft liegende ist: Denn durch die Kontingenz des Geschehens wird die Endgültigkeit der Einheit der Welt und ihres Sinnes immer wieder in die schöpferische Macht Gottes über die Zukunft hineingenommen. Die Universalität des Wahrheitsanspruches göttlicher Offenbarung steht m.a.W. der Mannigfaltigkeit geschichtlichen Lebens nicht entgegen. Im Gegenteil gibt sie dieser Mannigfaltigkeit im Gedanken der schöpferischen Offenheit der Zukunft Raum. Aber sie hält doch daneben auch die Frage nach der diese Mannigfaltigkeit in einem gemeinsamen Sinn zusammenschließenden Einheit und Kohärenz des Geschehens wach 261 . Diese Frage ist der historischen Reflexion nicht fremd. Im Gegenteil: „Geschichtsphilosophie steht auch in der gegenwärtigen Diskussion unter der Frage nach dem Sinn der Geschichte, wie immer die Antwort ausfallen mag. „Die" Geschichte wird dabei notwendig, wenn auch in problematisierender Weise als ein sich zusammenhängendes Ganzes vorausgesetzt." 2 6 2 Ja, mehr noch: „Der Sinn ist in dieser Betrachtung etwas der jeweiligen Gegenwart Transzendentes, noch nicht Erreichtes." 263 Unter den Bedingungen neuzeitlich-historischen Bewußtseins bewältigt die Theologie die kohärente Vermittlung ihres Wahrheitsanspruchs daher nicht schon mit der bloß thetischen Behauptung desselben, sondern dadurch, daß sie die Frage nach der Einheit der geschichtlich aufgefaßten Welt je neu zu beantworten sucht. Damit gewinnt auch die Behauptung der Geschichtlichkeit der Offenbarung erst ihren konkreten Sinn. Sie wird nicht länger in der abstrakten Weise aufgefaßt, als sei Offenbarung als ein punktuelles Ereignis, radikalisiert gleichsam zu einem mathematischen Punkt eines bloßen Daß, mit anderen vorausgehenden und nachfolgenden historischen Punkten zu vermitteln. In die-

2 6 1 D i e T a t s a c h e , d a ß nach dieser K o h ä r e n z bzw. Einheit der Geschichte g e f r a g t wird, heißt keineswegs, d a ß diese als eine durch transzendentale D e d u k t i o n abgeleitete auch schon beantwortet ist. E s handelt sich durchaus um zwei unterschiedliche A r g u m e n t a tionsgänge. 2 6 2 J . S i m o n , D a s N e u e in der Geschichte. In: P h j b 79 (1972), S . 2 6 9 - 2 8 7 ; S . 2 6 9 . 263 J . S i m o n , a a O . , S . 2 6 9 .

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sem Fall würde die das historische Bewußtsein konstituierende Dimension der geschichtlichen Zeit in ihrer die Vergangenheit und Gegenwart voneinander distanzierenden Perspektive regelmäßig übersehen; einmal abgesehen davon, daß das Verständnis geschichtlicher Ereignisse als chronologisch fixierbarer Punkte selbst unhaltbar ist264. Die Geschichtlichkeit der Offenbarung läßt sich nun vielmehr so denken, daß sie in der Perspektive geschichtlich sich verändernder Wirklichkeit überhaupt erst ihre konkrete Gestalt gewinnt. Das hat bereits A. Oepke scharfsinnig gesehen; ihm zufolge wird Offenbarung „durch die ,Kondeszendenz', seine (sc. Gottes; A. D.) Kenose in der Geschichte, auch in der Offenbarungsgeschichte erst wirksame Realität" 265 . Die systematisch-reflektierte Vermittlung des Wahrheitsanspruches der Offenbarung fällt damit nicht lediglich unter den Begriff der „Anwendung" oder des „persönlichen Bekenntnisses" eines zuvor historisch rekonstruierten Sachverhalts; sondern sie gehört selbst zum Begriff der geschichtlichen Offenbarung hinzu. Daraus leitet Oepke weiter die Konsequenz ab, daß die wissenschaftliche Selbstdarstellung des Christentums nicht mehr in der Form eines Systems geschehen kann. Die Theologie „reiht nicht mehr einen ,Lehrbegriff' an den anderen und sieht ihre Aufgabe noch weniger darin, eine geschlossene .biblische Dogmatik' zu erarbeiten, sie stellt vielmehr die Offenbarung in den Fluß der geschichtlichen Entwicklung hinein" 266 . Allerdings haben diese Überlegungen Oepke nicht zu einer grundsätzlichen Neubesinnung auf den Geschichtsbegriff veranlaßt 267 . Statt dessen wird die Geschichtlichkeit der Offenbarung weiterhin nach ihrem geschichtlichen Sinn einerseits und ihrem übergeschichtlichen Sinn andererseits unterschieden. Das heißt, das Offenbarungsgeschehen „muß zunächst in Verbindung mit der konkreten Situation, in die hinein es ursprünglich ergangen ist, verstanden werden, und es muß andererseits in die konkrete Situation des oder der heute Hörenden überführt werden. Das erstere ist die Aufgabe der geschichtlichen, das letztere diejenige der übergeschichtlichen Auslegung" 268 . Zwar betont Oepke, daß die letztere übergeschichtlich nicht in dem Sinne sei, „daß sie einen schlechthin zeitlosen

264 265

Vgl. dazu die späteren Ausführungen S. 132 ff. A. Oepke, Geschichtliche und übergeschichtliche Schriftauslegung, Gütersloh 1947,

S. 38. 266

A. Oepke, aaO., S. 46. Vgl. dazu auch T. Rendtorff, Uberlieferungsgeschichte des Christentums. Ein theologisches Programm. In: Ders., Theorie des Christentums. Historisch-theologische Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung. Gütersloh 1972, S. 13-40; S. 13 ff. 267 Das gilt auch für F. Hohmeier, aaO., der den Zusammenhang von Offenbarung und Geschichte „von dem Leitgedanken der Kondeszendenz des Heiligen Geistes aus konzipiert" (ebd. S.241). 268 A. Oepke, aaO., S.36.

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Gehalt festzustellen hätte, auch nicht in dem anderen, daß sie über das geschichtlich gegebene Wort als Rohstoff verfügte" 269 . Historisch sei vielmehr auch sie, wenngleich „in einem völlig anderen Sinne als die im engeren Sinne geschichtliche" 270 . Statt von Ubergeschichte spricht Oepke daher auch von einer Metageschichte 271 . Dennoch gelangt Oepke damit nicht zu einer grundsätzlichen Neuformulierung des Geschichtsbegriffs, der beide Aspekte in sich vereinigt. Will daher die Theologie ihren Wahrheitsanspruch als in der Geschichtlichkeit der Offenbarung selbst geschichtlich sich vermittelnden begreifen, wird sie um so mehr an einem Geschichtsbegriff interessiert sein, der die Einheit der Geschichte als Ausdruck der Selbigkeit Gottes in seiner Offenbarung zu denken erlaubt. Das heißt, daß die Frage nach der Geschichte nun erst recht immer auch als Frage nach der Einheit und Universalität dieser Geschichte gestellt werden muß. Die dafür in Frage kommenden konstruktiven Kriterien der Kontingenz und Universalität wurden bereits erwähnt. Es wird die Aufgabe der nächsten Kapitel sein, deren genaue Bedeutung für den Geschichtsbegriff zu ermitteln. An dieser Stelle bleibt der bisherige Gedankengang nun noch dahingehend zu vervollständigen, inwieweit sich für die Theologie aus diesem geschichtlichen Verständnis ihres Wahrheitsanspruchs heraus zugleich auch ein besonderes methodisches Programm ergibt. Immerhin haben solche Programme im heilsgeschichtlichen Denken Tradition 272 . Allerdings ist die Forderung nach einem derartigen besonderen methodischen Programm nicht unproblematisch, weil sie unweigerlich wieder zu einer Abgrenzung gegenüber der fachwissenschaftlichen Historik zu führen scheint und damit die eingangs erwähnten Spannungen zwischen dogmatischer und historischer Methode unter anderem Namen lediglich wiederholt. Mit größerem Recht kann daher A. Oepke behaupten, daß die wissenschaftlich ausweisbaren Möglichkeiten für ein geschichtliches Verständnis der Offenbarung auf Seiten der Theologie wie auf Seiten der fachwissenschaftlichen Historik „eine weite Strecke einfach zusamengehen, wenn nicht immer in den Ergebnissen, so doch grundsätzlich methodisch" 273 . Wenn wir daher, wie Oepke folgert, „bereits für die geschichtliche Exegese theologischen Charakter in AnA. Oepke, aaO., S. 36. Ebd. S. 36 f. 271 Ebd. S. 37. 272 Hier ist natürlich an die verschiedenen Entwürfe zu einer Theologie der Heilsgeschichte gedacht. 273 A. Oepke, aaO., S. 39. „Das hängt", wie Oepke fortfährt, „einfach damit zusammen, daß die Offenbarung Gottes in unsere empirische Welt eingegangen und damit zu einem gewissen Grade allgemein zugänglich geworden ist" (ebd.). Vgl. dazu auch M.Reischle, aaO., S.44. 270

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Spruch nehmen, so geschieht das nicht im Sinne einer besonderen „theologischen" Methode, sondern einfach „im Sinne letzter Sachlichkeit, die das oberste Gebot aller wissenschaftlichen Arbeit ist"274. Die hier von Oepke geforderte Sachlichkeit ergibt sich zunächst aus dem in der biblischen Uberlieferung implizierten Sinnanspruch selbst. Diesen Gedanken macht in ähnlicher Weise auch G. Wehrung geltend, wenn er schreibt: „Der Gesichtspunkt der Offenbarung ist ... wissenschaftlich notwendig, sofern und solange die zu ergründende Wirklichkeit als Offenbarung zu gelten beansprucht." 275 In diesem Sinne war bereits Wehrungs methodische Forderung gemeint, daß „Faktum und Sinn ... methodisch nicht getrennt werden" können 276 . An dieser Stelle ergibt sich nun aber durchaus auch eine Differenz zum neuzeitlich historischen Bewußtsein, insofern dieses den Einheitspunkt des Sinnes historischen Geschehens in der Gleichartigkeit menschlichen Wesens und menschlichen Handelns sucht. Der Gedanke der Analogie erwies sich dabei als konsequentes methodisches Prinzip dieser Anthropozentrik neuzeitlichen Geschichtsdenkens. Demgegenüber wird die Theologie in ihrer dogmatischen Methode die geschichtliche Wirklichkeit, auf die sie sich bezieht, nicht allein aus der Rationalität menschlichen Wesens und Handelns erklären können. Nach dem bisher Gesagten ist die daraus sich ergebende Spannung zur fachwissenschaftlichen Historik freilich keine willkürliche; sie liegt vielmehr im Begriff der Kontingenz beschlossen. Mit dem Gedanken der Kontingenz kommt die Besonderheit und Neuheit geschichtlichen Geschehens gerade so in den Blick, daß sie nicht schon von vornherein auf die Rationalität menschlichen Handelns hin relativiert werden kann. Insofern tritt der Kontingenzgedanke neben das Analogieprinzip. Das heißt, „das der seinem Werk rein hingegebene Historiker durchaus nicht nur in der Kategorie der Analogie denkt, als wäre er überall bemüht, vorzüglich das Gleichgeartete zu sehen. Er weiß sich ebenso verpflichtet, auf die Grenzen der Analogie zu achten; für ihn gilt in Wahrheit neben dem Analogieprinzip zugleich und ebensogut das Kontrastprinzip" 277 . Der Begriff der Kontingenz bietet so zunächst einen Ansatzpunkt, das theologische Interesse an der Geschichte auf einer prinzipiell methodischen Ebene zu artikulieren. Die sich daraus für das Verhältnis von Dogmatik und Historik ergebenden Konsequenzen hat bereits G. 274

A. Oepke, aaO., S.42. G. Wehrung, aaO., S. 131. 276 G. Wehrung, aaO., S.41. 277 G.Wehrung, aaO., S. 102. Vgl. auch H.E.Weber, aaO., S. 104: „Das Analogieprinzip hat da seinen Bereich, wo etwas Neues in den Zusammenhang eintritt. So wird es zum Prinzip der Geschichte. Es ist die Aufgabe, im Rahmen des Gemeinsamen der Individualität des Einzelnen ihr Recht werden zulassen." 275

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Wehrung gezogen, wenn er schreibt: „Jene Spannung wird damit nicht beseitigt; aber sie besteht nun weniger zwischen der Historik und der Dogmatik, sie liegt innerhalb der Historik selbst und wird auf ihrem Boden zum Austrag gebracht. ... Die Historik selbst erhält dadurch eine größere Verantwortung und Tiefe." 278 . Eine grundsätzliche Differenz zwischen theologischem und fachwissenschaftlichem Gesichtsverständnis scheint also nicht gerechtfertigt zu sein. Allerdings bleibt das Erkenntnisinteresse der Theologie durchaus ein von der Geschichtswissenschaft unterschiedenes, insofern nämlich die Theologie ausdrücklich mit der Offenbarungsbezogenheit der Geschichte beschäftigt ist, und das heißt zugleich: mit der Definivität der Wahrheit der für diese Offenbarung in Anspruch genommenen Ereignisse. Die Theologie wird daher auf eine von fachwissenschaftlicher Historik sich unterscheidende theologische Historik nicht verzichten können 279 . „Theologische Exegese und theologische Geschichtsdarstellung", so beschreibt dies W. Pannenberg, „stehen auch bei maximaler Angleichung an allgemein humanwissenschaftliche Verfahren unter weitergehenden Anforderungen: Mag der Ausleger Piatons oder Goethes es dahingestellt sein lassen, welche Gegenwartsrelevanz man seinem Gegenstand zubilligt ..., der Ausleger des Johannesevangeliums oder der paulinischen Briefe kann sich das nicht leisten, wenn er der Endgültigkeit, die seine Texte selber beanspruchen, in seiner Auslegung irgendwie gerecht werden will"280. Das kann aber nicht durch einen bloßen Rückgriff auf traditionelle Programme einer Theologie der Heilsgeschichte geschehen, denn die Theologie muß gerade in der Beschäftigung mit Geschichte immer auch ihre interdisziplinäre Ansprechbarkeit und methodische Überprüfbarkeit zum Ausdruck bringen. Dieser interdisziplinären Verantwortung soll im folgenden durch die Frage nach einer theologischen Historik wahrgenommen werden. Die Verwendung des Begriffs der Historik geschieht dabei in Anlehnung an den geschichtswissenschaftlichen Sprachgebrauch, wo im Anschluß an Droysen „Historik" neuerdings zu einem aktuellen Theoriebegriff avanciert ist und eine „Reflexion auf die Grundprinzipien historischen Denkens" 281 bezeichnet, die „im Grenzbereich geschichtsphilosophi-

278

G. Wehrung, aaO., S. 154. Vgl. auch G. Wehrung, aaO., S. 106: „Damit ist uns die offenbarungs- oder heilsgeschichtliche Betrachtung aufgegeben, also die Betrachtung des innersten, des maßgebenden Lebens der biblischen Wirklichkeit unter dem von ihr geforderten Gesichtspunkt." 280 -ψ Pannenberg, Die Bedeutung der Kategorie „Teil" und „Ganzes" für die Wissenschaftstheorie der Theologie. In: ThPh 53 (1978), S.481-497; S.489. 2,1 G.Hübinger, Wozu „Historik" und was heißt heute „Historische Vernunft"? In: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geisteswissenschaften 2 (1984), S. 115-121; S.115. 279

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scher, erkenntnistheoretischer, methodologischer und ethisch-lebenspraktischer Reflexion" 2 8 2 angesiedelt ist. Theologische Historik sucht dementsprechend die Erkenntnisprinzipien einer möglichen Geschichtstheologie auf der Ebene historischer Theorie zu formulieren. Das besagt zunächst, daß theologische Historik nicht schon selbst eine Theologie der Geschichte ist, - weder in dem konkreten Sinn einer Darstellung des Geschehenen; noch so, daß sie das theologische Interesse an der Geschichte im Rahmen einer ausdrücklichen Lehre vom Handeln Gottes und so als Teil der Gotteslehre verhandelt. Das erste wäre Aufgabe etwa der Kirchengeschichte, oder sogar der Religionsgeschichte, letzteres die einer materialen Dogmatik. Vielmehr sucht theologische Historik anhand der Frage nach den die Rekonstruktion von Geschichte leitenden Prinzipien überhaupt erst die geschichtstheoretischen Anknüpfungspunkte einer solchen theologischen Geschichtsauffassung zu gewinnen. Ohne sie müßte eine theologische Auffassung der Geschichte dem fachwissenschaftlichen Vollzug historiographischer Rekonstruktion äußerlich bleiben. Andererseits bedeutet der Begriff des Anknüpfungspunktes hier aber auch nicht, daß die Theologie lediglich Begriffe oder Prinzipien aus der Geschichtstheorie zu übernehmen hätte. Eine unkritische Übernahme ist deshalb nicht möglich, weil der in solchen Rezeptionen mitgesetzte Wahrheitsanspruch der Theologie immer schon als ein in diesen Prinzipien konkret vermittelter oder doch zumindest vermittelbarer muß gedacht werden können. Eine theologische Historik hat daher die Aufgabe, die Bedingungen der Möglichkeit solcher Vermittlungen zu rekonstruieren; sie formuliert diejenigen Grundbegriffe, mit deren Hilfe die Theologie ihre Erkenntnisabsicht auf der Ebene geschichtstheoretischer Reflexion wirksam zur Geltung zu bringen vermag. Diese aus dem theologischen Wahrheitsanspruch hinsichtlich des Geschichtsthemas resultierende Erkenntnisabsicht wurde durch die Auffassung der Geschichte als Inbegriff des Handelns Gottes bereits angedeutet. „Universalität" und „Kontingenz" dienen dabei gewissermaßen als regulative Begriffe, um die Erkenntnisabsichten der Theologie auf der Ebene der Geschichtstheorie zur Geltung zu bringen. Wenngleich auch beide Begriffe die beschriebene Aufgabe einer theologischen Historik nicht erschöpfend abdecken können - was im Rahmen dieser Arbeit ohnehin nicht möglich sein würde - , so eignen sie sich doch als Ansatzpunkte einer für das theologische Interesse konstruktiven Kritik und Rezeption geschichtstheoretischer Entwürfe. Das ist vor allem deshalb so, weil beide Male zentrale Gesichtspunkte auch der geschichtstheoretischen Diskussion 2

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" G. Hübinger, aaO., S. 115.

berührt sind. Dabei hält insbesondere die Frage nach der Einheit der Geschichte, durch die Geschichte zugleich als Erkenntnisgegenstand begreifbar wird, das Bewußtsein für das theologische Interesse gerade auch innerhalb der Geschichtstheorie wach, wenngleich dort zumeist mit dem Ziel seiner Abwehr. Aber auch der Gedanke der Kontingenz hat innerhalb der geschichtstheoretischen Diskussion erneut an Bedeutung gewonnen 283 . Freilich sind hier die Begriffe der Kontingenz und Universalität erst in einem vorläufigen Sinne gebraucht. Ihr präziser Sinn muß sich aus der nachfolgenden kritischen Auseinandersetzung mit geschichtstheoretischen Entwürfen erst noch ergeben. Das soll in zwei Schritten geschehen. Zum einen müssen die hier vorgeschlagenen Begriffe in der geschichtstheoretischen Diskussion so konkretisiert werden, daß sie sich als methodisch tragfähig erweisen. Diese methodische Tragfähigkeit wird sich zweitens dadurch bewähren müssen, daß die genannten Begriffe zum Ausgangspunkt einer Neuinterpretation theologischer Aussagen über die Geschichte werden können. An dieser Stelle erst würde dann die Rekonstruktion einer eigentlichen Geschichtstheologie beginnen können. Eine materiale Darstellung einer Geschichtstheologie, die ihren dogmatischen Ort zugleich im Rahmen der Gotteslehre hätte, ist im Rahmen dieser Arbeit aber weder beabsichtigt noch auch möglich. Es können lediglich die Linien angedeutet werden, die von den methodischen Überlegungen einer theologischen Historik zu einer möglichen Geschichtstheologie führen. Damit werden zugleich die Beschränkungen dieser Arbeit deutlich. Sie kann keine ausformulierte Theologie der Geschichte darbieten wollen. Vielmehr sollen die Probleme und die methodologischen Erfordernisse auf dem Wege zu einer solchen Theologie der Geschichte beschrieben werden, ohne freilich selbst eine ausgearbeitete theologische Historik bieten zu können. Die Ausführungen dieser Arbeit verstehen sich lediglich als ein erster Beitrag dazu. Als interdisziplinäre Aufgabe ist dies gleichwohl ein dringendes Desiderat gegenwärtiger Theologie. Gewiß hat es auch in der jüngsten Vergangenheit eine lebhafte Diskussion darum gegeben, wie das theologische Interesse an der Geschichte im Horizont geschichtstheoretischer und -philosophischer Reflexion zu begründen sei284; am weitesten sind da-

285

Vgl. H. Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, Analytik und Pragmatik der Historie. Basel Stuttgart 1977. R. Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie. Frankfurt 1984. J. Riisen, Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaften. Göttingen 1983. 284 Erwähnt seien hier vor allem die Schriften von Althaus und Gogarten, der seinerseits die Kritik von E. Kinder hervorrief. Die wichtigste Diskussion hat wohl der Pannen-

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bei wohl die Arbeiten W. Pannenbergs gegangen, die ihren Ausgangspunkt in der Arbeit des Kreises „ O f f e n b a r u n g als Geschichte" haben. Mit der Forderung nach einer zwischen Geschichtswissenschaft und Theologie interdisziplinär vereinbarungsfähigen Rationalität geschichtlicher Erkenntnis und geschichtlicher Urteilsbildung hat Pannenberg den eigentlich entscheidenden, wenn auch nicht unangefochtenen Schritt in dieser Diskussion getan. Die vorliegende Arbeit k n ü p f t daher an diese Forderung an. Sie will vor allem eine breitere Argumentationsbasis als sie in der bisherigen Auseinandersetzung gegeben war, bereitstellen und dabei zugleich eigene Anregungen geben; denn die Entwicklungen und Probleme historischen Denkens, wie sie sich in der Geschichtswissenschaft und ihrem Umfeld vornehmlich seit 1945 herausgebildet haben, sind von der Theologie selten ausdrücklich in den Blick genommen worden. Allzu schnell hatte die Theologie die These von der Krise des sogenannten Historismus akzeptiert und im Sinne eines Gegensatzes von Glaube und Geschichte zu deuten versucht. An der Rekonstruktion des Geschichtsbegriffs im Sinne der Frage nach dem das historische Bewußtsein und Erkennen konstituierenden Gegenstand solchen Erkennens und Bewußtseins hat sich die Theologie, sieht man von der bereits erwähnten Ausnahme ab, kaum mehr beteiligt. Doch bedeutete dieser Verzicht auf die Frage nach der Geschichte als eines objektiven Prozesses zugleich eine Reduktion auf das bloß subjektive Bewußtsein von Geschichte; an die Stelle des Begriffs der Geschichte trat derjenige der Geschichtlichkeit. Bei dieser Reduktion des Geschichtsthemas auf die Subjektivität des historischen Bewußtseins ist es, bis auf wenige Ausnahmen, in der gegenwärtigen Theologie weitgehend geblieben. D e r Geschichtsbegriff vermittelt nicht mehr die f ü r den Realitäts- und Wahrheitsgehalt theologischer Aussagen konstitutive Objektivität eines sinnvollen Geschehenszusammenhangs, sondern nurmehr die Struktur der praktischen Verantwortung des religiösen Subjekts. Das historische Bewußtsein richtet sich nicht mehr auf die Frage „Was kann ich wissen"?, sondern auf die Frage „Was soll ich tun"? 285 ; an die Stelle einer Theorie der Geschichte selbst tritt eine Theorie der in der Geschichte handelnden Subjekte bzw. eine H a n d lungstheorie. Dabei könnte gerade der geschichtliche Sinn, wie M. Rade im Jahre 1900 hellsichtig erkannte, „das unentbehrliche Gegengewicht gegen den in der protestantischen Welt um sich greifenden religiösen Subjektivismus" 286 bilden. berg-Kreis ausgelöst. Zur Diskussionslage der gegenwärtigen Theologie vgl. EvTh 3. Zur Revision geschichtlichen Denkens (1984). 285 J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, S. 165. 286 M.Rade, Die Bedeutung des geschichtlichen Sinnes im Protestantismus. In: ZThK 10 (1900), S. 79-112; hier S. 107.

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2. Geschichte und Geschichtstheorie

2.1 Probleme des geschichtlichen

Denkens

Wenn die beabsichtigte interdisziplinäre Auseinandersetzung nicht dem Verdacht einer bloß zufälligen und unverbundenen Auswahl geschichtstheoretischer Fragestellungen ausgesetzt sein soll, dann wird es zunächst notwendig sein, den Problemhorizont, in dem sich gegenwärtige Geschichtstheorie bewegt, zu bedenken. Das soll hier in einem überleitenden Abschnitt geschehen, ohne daß dabei alle Positionen der neueren geschichtstheoretischen Diskussion bereits namentlich zu referieren wären 1 ; die für unseren Zusammenhang maßgeblichen Theorieansätze werden erst an späterer Stelle Gegenstand einer detaillierten Auseinandersetzung sein. Hier wird dieser Problemhorizont im Blick auf die die geschichtstheoretische Diskussion in ihren Neuansätzen bestimmenden Grundfragen lediglich skizziert. Uber eine Orientierung über die gegenwärtige Situation der Geschichtswissenschaft hinaus hat diese Problemübersicht aber noch eine weitere Funktion für den methodischen Gesamtaufbau der vorliegenden Arbeit. Sie vermag die Erwartungen klären zu helfen, welche sich an eine interdisziplinäre Auseinandersetzung von Theologie und Geschichtswissenschaft sinnvollerweise knüpfen lassen. Denn es ist ja

1 Darüber informieren die einschlägigen Forschungsberichte. Vgl. G. G. Iggers, V o m Historismus zur „Historischen Sozialwissenschaft". Die bundesrepublikanische Geschichtsschreibung seit der Fischer-Kontroverse. In: Ders., N e u e Geschichtswissenschaft. Von Historismus zur historischen Sozialwissenschaft. Dt. M ü n c h e n 1975, S. 97-156. E. Schulin, Z u r Restauration und langsamen Weiterentwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945. In: Ders., Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken. Göttingen 1979, S. 133-143. W. J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus. Düsseldorf 1971. W. Conze, Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945. Bedingungen und Ergebnisse. In: H Z 225 (1971), S. 1-28. H a n s Schleier, Zum Verhältnis von Historismus, Strukturgeschichte und sozialwissenschaftlichen M e t h o d e n in der gegenwärtigen Geschichtsschreibung. In: E. Engelberg (Hrsg.), Probleme der marxistischen Geschichtswissenschaft. Beiträge zur Theorie und Methode. Köln 1972, S. 299-353. A.Sywottek, Geschichtswissenschaft in der Legitimationskrise. Ein Überblick über die Diskussion um Theorie und Didaktik der Geschichte in der Bundesrepublik Deutschland 1969-1973 (Archiv f. Sozialgeschichte Beiheft 1). Bonn - Bad Godesberg 1974. J.Topolsky, M e t h o dology of History (Synthese Library 88) Boston o. J. (Warschau 1976).

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nicht schon von vornherein ausgemacht, in welchem Maß sich das theologische Interesse an der Geschichte mit gegenwärtiger Geschichtstheorie vermitteln läßt und in welchem begrifflichen Rahmen das zu geschehen hat. So gesehen dienen die Ausführungen dieses Abschnitts der weiteren Präzisierung, aber auch der Beschränkung des Themas gegenüber einer umfassend angelegten theologischen Historik. Sie konzentrieren das theologische Interesse an der Geschichte auf einige wenige, aber dafür entscheidende Probleme gegenwärtiger Geschichtstheorie, die damit zugleich den Rahmen bilden, innerhalb dessen die interdisziplinäre Auseinandersetzung hier geführt werden soll. Die Ausführungen dieses Abschnitts sind daher eine nunmehr unter geschichtswissenschaftlichen Gesichtspunkten notwendige Ergänzung zu der in Kapitel 1 vorangegangenen Beschreibung der Aufgabe einer theologischen Historik. Spätestens seit den sechziger Jahren läßt sich in der Geschichtswissenschaft eine deutliche Distanznahme von der historiographischen Tradition beobachten 2 , die von manchen Historikern sogar als Traditionsbruch empfunden wird 3 . Diese Traditionskritik hat ganz unterschiedliche Motive; sie richtet sich aber einmütig gegen den sogenannten Historismus, also gegen diejenige geistige Bewegung des 19. Jahrhunderts, in der die logisch-methodologischen und ontologischen Grundlagen der historischen Wissenschaften neu begründet wurden 4 . Der „Historismus" wurde nun 2 Vgl. W. Conze, Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945, aaO. C o n z e spricht von einer „Wende um 1960" (ebd. S. 13). Freilich gab es dabei zunächst „keinen T r a d i tionsbruch in der Geschichtswissenschaft, wohl aber Kritik aus den eigenen Reihen an ihren theoretischen Grundlagen und bevorzugten Arbeitsfeldern . . . " (ebd., S. 13. Siehe dazu auch G. G.Iggers, aaO., S. 109). 3 Vgl. T h . Nipperdey, Historismus und Historismuskritik heute. In: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte. Göttingen 1976, S. 59-73; S.66. Ebenso W . J . M o m m s e n , Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus. Düsseldorf 1971. In diesem Zusammenhang wird sogar von einem „nachhistorischen Zeitalter" gesprochen. 4 Diese zunächst rein formale Bestimmung in Anlehnung an T h . Nipperdey, aaO., S. 59. Gegenüber einer abwertenden Verwendung des Begriffs „Historismus" z u r Kennzeichnung eines geschichtlichen Relativismus oder gar Nihilismus, der das V o r h a n d e n sein einer ordnenden und sinnstiftenden V e r n u n f t in der Geschichte leugnet, hat Nipperdeys Sprachregelung den Vorteil, den Historismus als ein eigenständiges Bemühen um geschichtswissenschaftliche Theoriebildung würdigen zu können. Die Probleme, die sich im Zuge solcher Theoriebildung einstellen, sind zunächst von dieser selbst zu unterscheiden. Dies ist besonders im Blick auf die undifferenzierte Verwendung des Historismus-Begriffs durch E.Topitsch, D e r Historismus. In: Studium Generale 7 (1954), S. 430-439 zu betonen: Für Topitsch ist Historismus gleichbedeutend mit der generellen Auflösung des Gedankens einer sinnstiftenden und ordnenden V e r n u n f t der Lebenswelt. Daraus resultieren nach Topitsch aber keine erkenntnistheoretischen und philosophischen Probleme, da es de facto einen die menschliche Lebenswelt als ganze tragenden Sinn nie gegeben

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„zum Thema einer Grundlagendiskussion" 5 in der Geschichtswissenschaft, ohne daß es dabei aber bislang zu einer allgemein gültigen wissenschaftstheoretischen Verständigung über den Begriff des Historismus und der Bedeutung der mit diesem Begriff verbundenen geschichtswissenschaftlichen Kategorien gekommen ist6. Es wäre daher müßig, hier eine solche Verständigung erreichen zu wollen 7 ; doch sollen die charakteristischen Merkmale des Historismus an dieser Stelle wenigstens angedeutet werden. Nach allgemein verbreiteter Ansicht sind „individualisierende Betrachtung und Entwicklungsgedanke ... der wesentlichste Inhalt des Historismus" 8 . E.Troeltsch, der für die historiographische Tradition des 19. Jahrhunderts den Begriff des Historismus überhaupt erst geprägt hat, hat besonders die Bedeutung des Entwicklungsgedankens für den Historismus hervorgehoben. Nach Troeltsch steht dieser Begriff „im Mittelpunkt aller geschichtsphilosophischen Überlegungen und bildet ... den Zusammenhang des empirisch-historischen und des material-geschichtsphilosophischen Interesses"9. In Verbindung mit dem Entwicklungsgedanken wird die Geschichte als kontinuierende Entwicklung vernunfthafter und humaner Zwecke bzw. Werte aufgefaßt: Geschichte ist ein universaler, dynamisch sich entfaltender Sinnzusammenhang, in den alle empirisch-historischen Einzelgestalten sich einhabe. Die Historismusdebatte stelle daher „in wissenschaftlicher Hinsicht einen Streit um Pseudoprobleme" dar (ebd. S. 438). Jedoch läßt sich die Frage nach den Vernunftsleistungen im Umgang mit Geschichte zumindest unter geschichtstheoretischen Gesichtspunkten nicht auf den Nenner einer bloß negativ formulierten Metaphysik- und Ontologiekritik bringen. 5 Th. Nipperdey, aaO., S.59. 6 „Eine heute noch oder heute wieder lesbare Geschichte des Historismus, die die Bedingungen der modernen Diskussion erfüllt, gibt es nicht . . . " (Th.Nipperdey zählt 10 Definitionen und Diskussionsprobleme des Historismus auf (ebd. S. 61 ff.). 7 Ansätze dafür finden sich in dem bereits genannten Aufsatz von Th. Nipperdey über „Historismus und Historismuskritik heute"; vgl. auch K. G. Faber, Ausprägungen des Historismus. In: HZ 228 (1979), S. 1-22. 8 R. Wittram, Historismus und Geschichtsbewußtsein. In: HZ 157 (1921), S. 229-240; hier S. 230. ' E.Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, Bd. 1: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (Ges. Sehr.III) Tübingen 1922, S.223. Vgl. auch W.Schweizer, Die Bedeutung des Historismus für die Theologie. In: Studium Generale 7 (1954), S. 501-512; S. 503: „Wir bezeichnen als eine der wesentlichen Kennzeichen des Historismus als Weltbetrachtung den Entwicklungsgedanken." - Im Unterschied dazu hat F. Meinecke in seinem bekannten Werk über „Die Entstehung des Historismus" „in der Entdekkung des Individuellen die eigentliche Revolution" gesehen (Zitat aus E. Schulin, Das Problem der Individualität. Eine kritische Betrachtung des Historismus-Werkes von Friedrich Meinecke. In: Ders., Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken. Göttingen 1979, S. 97-116; S.99). Beide Aspekte schließen sich freilich nicht aus, weil die Bedeutung des Individuellen nur in der Entwicklung eines universalen Ganzen sich entfaltet.

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gliedern, und dem auch menschliches Handeln verpflichtet ist10. Als irreversible Momente in der fortschreitenden Optimierung des Humanuni haben die historischen Ereignisse und Einzelentwicklungen ihre unvertauschbare Individualität und Objektivität. Gegenstand des historischen Erkenntnisinteresses ist daher auch die aus dem universalhistorischen Gedanken abgeleitete Sinnhaftigkeit des Individuellen sowie die Zweckhaftigkeit menschlichen Handelns. Daraus resultiert ein von den Naturwissenschaften verschiedenes Methodenbewußtsein, insofern die Individualität der historischen Gegenstände im Unterschied zu dem kausalen Denken in den Naturwissenschaften ein einfühlendes und nacherlebendes Verstehen, das heißt: eine individualisierende Betrachtungsweise, erfordert. Die Wurzeln dieser Geschichtsauffassung sind vielfältig und nicht weniger umstritten als das Phänomen des Historismus selbst. Sie reichen von der Romantik mit ihrer Forderung nach Einfühlung in den Geist vergangener und fremder Kulturen, von Leibnizens Monadologie und Hegelscher Dialektik bis hin zu den verschiedenen Formen säkularisierter Geschichtstheologie 11 . Von Bedeutung ist schließlich auch „die Beschleunigung des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Wandels im Zeitalter der industriellen und politischen Revolutionen" 12 . Doch wie bereits gesagt, kann hier keine allseitige Darstellung des Historismus gegeben werden. In unserem Zusammenhang geht es vordringlich auch um dessen Krise und um die damit verbundenen Probleme und Aufgaben gegenwärtiger Geschichtstheorie; diese Krise läßt sich zumindest insofern ohne eine detaillierte Darstellung und Rekonstruktion des Historismus diagnostizieren, als sie die Situation der Gegenwart anhaltend bestimmt. Die sogenannte Krise der historischen Tradition mit ihren ontologischen Implikationen soll im Folgenden nach zwei Seiten charakterisiert werden, wobei sich freilich beide Seiten wechselseitig bedingen. Auf der einen Seite läßt sich formal eine Ablösung der historischen Forschungslogik und -praxis von der (geschichtsphilosophischen) Frage nach einer objektiven Kontinuität des historischen Prozesses und der Wahrheit der in ihm sich realisierenden Inhalte feststellen (a); auf der anderen Seite tritt hinsichtlich der materialen Durchführung der Geschichtstheorie eine deutliche Depotenzierung des Geschichtsbegriffs bis hin zu seiner Funktion als einer bloß regulativen Idee zutage (b). 10 Vgl. E.Troeltsch, aaO., S.239. Ebenso K.G.Faber, Ausprägungen des Historismus, aaO., S. 7; W. Scheizer, aaO., S. 503. 11 Vgl. W. J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus. Düsseldorf 1971, S. 6 ff.; ebenso die bereits erwähnten Arbeiten von Troeltsch, Meinecke, Heussi und Sbirsk., 12 K.G. Faber, aaO., S.6.

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a) Idealtypisch lassen sich auch hier zunächst zwei Aspekte nennen, welche die erwähnte Ablösung der historischen Forschungspraxis von der Geschichtsphilosophie verständlich machen. Das ist einmal die in den dramatischen Veränderungen der westlichen Welt zu Beginn dieses Jahrhunderts liegende „reale" erfahrungsweltliche Basis solcher Ablösung, und zum anderen die durch die neu aufkommenden Sozialwissenschaften entfachte wissenschaftliche Kontroverse um die Selbständigkeit des historischen Erkenntnisinteresses. Bereits E.Troeltsch hatte in seinem umfangreichen HistorismusWerk die historische Forschungspraxis von ihren philosophischen Vorgaben unterschieden und dazu festgestellt, daß die eigentliche Krise „bei den philosophischen Elementen und Bezügen der Historie, bei dem was man ihren Zusammenhang und ihre Bedeutung für die Weltanschauung nennen kann" 13 , liegt. War das historische Bewußtsein insbesondere im Fortschritts- und Entwicklungsgedanken „weltanschaulich" wirksam geworden, so kam, wie Troeltsch weiter schrieb, mit dem Ersten Weltkrieg „die ganze furchtbare praktische Probe aller historischen Theorien, die in einer Zeit des Friedens oder doch des Aufstiegs entstanden waren und ihre Wertsysteme wie selbstverständlich in den Fortschritt der Zukunft hinein verlängerten" 14 . Auch G. Ritter erinnerte sich rückblickend daran, „wie sehr die ruhige Selbstgewißheit geschichtlicher Studien ... nach dem Ersten Weltkrieg in's Wanken geriet. ... Man begann unsicher zu werden über die weitere Tragfähigkeit der geschichtlichen Fundamente" 15 . Und als nur wenig später das Kulturund Nationalbewußtsein zum zweiten Mal erschüttert wurde, habe kein Historiker, wie Ritter im Bick auf die Jahre nach 1933 weiter schreibt, „so ungeheure Abgründe der Unmenschlichkeit, aber auch so gewaltige Gefahren der Bedrohung aller Kulturschöpfungen, ja alles menschlichen Lebens vorausgeahnt, wie wir sie schaudernd erlebt haben" 16 . Es „zeigte sich abermals, wie unglaublich dünn, wie überaus brüchig die Decke abendländischer Zivilisation in Wahrheit ist"17. Die Verände13

E.Troeltsch, aaO., S.7. E.Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, S.6. Vgl. auch W.v. Loewenich, Theologie, Geschichte und Kirchengeschichte, aaO., S. 152. 15 G. Ritter, Wissenschaftliche Historie einst und jetzt. Betrachtungen und Erinnerungen. In: H Z 202 (1966), S. 574-601. 16 G.Ritter, aaO., S.580. 17 Ebd. Ahnlich äußert sich auch W. Conze, aaO., S.2: „Die Gegenwartsgeschichte der deutschen Historie beginnt 1945. . . . Sie kann durch die Ereignisse von Hiroshima und Potsdam symbolisiert werden. Hiroshima wies voraus in eine neuartig drohende Zukunft. . . . Die moderne Technologie veränderte seitdem die Lebensbedingungen von Grund auf, tiefgreifender als je in der Frühzeit der industriellen Revolution. ... Potsdam dagegen bezeichnet in erster Linie für die Deutschen die epochale Wende. Im Gegensatz zur Lage nach dem Ersten Weltkrieg konnte und durfte an die Vorkriegs- und Kriegspolitik nicht mehr angeknüpft werden. Die im Namen Deutschlands verübten Frevel traten voll ins Be14

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rung der westlichen Welt, die sich mit diesen dramatischen Ereignissen verband, und darüber hinaus die weiter zunehmende technologische Orientierung der Gesellschaft, sowie das Auftreten bisher übergangener Nationen im politischen Weltgeschehen bildet die reale Basis für das Bewußtsein der Krise bisheriger Geschichtsauffassung 18 . Dennoch brachte das Jahr 1945 zunächst keinen Bruch mit der historischen Tradition 19 . Im Gegenteil könnte man mit E. Schulin „für die ersten 15 oder 20 Jahre nach 1945 von einem politisch-moralisch gezähmten Historismus sprechen" 20 . Der Optimismus einer dem Fortschritt verpflichteten Entwicklungsdynamik der Geschichte wurde unter dem Druck der Ereignisse preisgegeben 21 ; aber die an den Werthaltungen und Zwecksetzungen menschlichen Handelns orientierte Methode individuellen Verstehens blieb bestehen. Ohne das Korrektiv einer objektiven Verlaufsfigur führte die individualisierende Betrachtungsweise allerdings zu einer existentialistisch verengten Geschichtsauffassung, der es primär um den unwiederholbaren Entscheidungscharakter der jeweiligen geschichtlichen Situation geht. Die existentialistische Geschichtsauffassung muß als ein Resultat der lebensweltlichen Krise des Historismus angesehen werden. Daneben gab es aber auch schon recht bald vereinzelte Stimmen, die als Konsequenz dieser Krise eine Neubesinnung auf die methodischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft forderten 22 . Zuerst vollzog sich eine solche Neubesinnung unter dem Einfluß der Theorieentwicklung der Nachbardisziplinen, insbesondere der Soziologie, deren Methoden allmählich Eingang in die Geschichtswissenschaft fanden. Die Analyse gesellschaftlicher Formen und Strukturen erschien jetzt „als eine dringend erforderliche Ergänzung und Uberprüfung dessen, was wußtsein. Nach 1918 war das deutsche Selbstbewußtsein verletzt und gesteigert worden. Nach 1945 war es gebrochen. Ohnmächtig erlebten die Deutschen den Zusammenbruch und das vorläufig unausweichliche Ende ihres Reichs, die Teilung Europas und Deutschlands in zwei Machtblöcke.... All das stellte die deutsche Nation und ihre Geschichtswissenschaft unter neue Bedingungen." 18 Vgl. G.G.Iggers, Neue Geschichtswissenschaft, S. 19 f. " Vgl. G.G.Iggers, aaO., S. 106. 20 E. Schulin, aaO., S. 139. Im Unterschied zu Iggers weist Schulin jedoch auch auf den positiven Aspekt dieses Konservativismus hin: „Auf anderer Ebene als der traditionellen Politik- und Geistesgeschichte wäre eine Erfassung und wirksame Uberwindung von Geschehen und Geschichtsbild der jüngsten deutschen Vergangenheit gar nicht möglich gewesen. Ein Vollziehen anderer . . . Methoden . . . wäre politisch, moralisch einem Ausweichen vor der Verantwortung gleichgekommen" (E. Schulin, aaO., S. 140). 21 R. Wittram, Das Interesse an der Geschichte. Zwölf Vorlesungen über Fragen des zeitgenössischen Geschichtsverständnisses. Göttingen 1963, S.89: „Was uns daran hindert, den Fortschritt als Gesetz der Geschichte im Sinne einer menschlichen Höherentwicklung anzunehmen, ist die Wiederentdeckung des Bösen in der Geschichte." 22 So z. B. G. Ritter, Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft. In: H Z 170 (1950), S. 1 ff.

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man tat, wenn man mit Geschichte umging" 2 3 . Durch die teilweise Übernahme soziologischer Fragestellungen und, damit verbunden, der Hinwendung zu einer empirisch-analytischen Methodologie wurde die Ablösung des historischen Erkenntnisprozesses von den philosophischen Grundannahmen des traditionellen Historismus unausweichlich 24 . In dem Versuch einer methodischen Gleichschaltung der Geschichtswissenschaft mit anderen Wissenschaften wurde diese Ablösung schließlich auch wissenschaftstheoretisch wirksam. Geschichte als Wissenschaft schien sich damit zunehmend in Distanz zur Geschichte als einer lebensweltlichen Erfahrung zu begeben. 1959 veröffentlichte der damals in Göttingen lehrende Historiker A. H e u ß eine Arbeit, in der er diesen Ablösungsprozeß regelrecht mit einem „Verlust der Geschichte" gleichsetzte 25 . H e u ß meinte dabei nicht den Verlust der nahezu unbewußten Alltäglichkeit und Geläufigkeit historischer Denkformen; vielmehr ging es ihm um die Tatsache, daß eben diese Welt, „welche auf der einen Seite mit historischem Wissen im Zustand spezifischen und abseitigen, nur von „Spezialisten" zu handhabenden Verfügbarkeit angefüllt ist, andererseits täglich mit D e n k f o r men umgeht, die sich, direkt oder indirekt, aus dem Historismus ableiten, . . . im Durchschnitt von einem nahezu enthistorisierten oder ahistorischen Bewußtsein repräsentiert" wird, „d. h. durch ein Bewußtsein, welches über keinerlei aktuelle oder aktualisierbare Rapporte zur Vergangenheit verfügt" 2 6 . Es ist m. a .W. die Diskontinuität von Gegenwart und Vergangenheit, der Bruch des historischen Kontinuums, die das historistische Wissenschaftsideal seiner lebensweltlich bedeutsamen Aktualität berauben 2 7 . So gleicht die Gegenwart „dem Mann ohne Gedächtnis, der an totalem Gedächtnisschwund leidet und seine eigene Vergangenheit vergessen hat" 28 . Dieser Verlust an historischem Orientierungssinn resultiert nach H e u ß aus der erwähnten Spannung von Geschichte als lebensweltlicher Erfahrung und Geschichte als Wissenschaft, bzw., wie H e u ß formuliert, von „Geschichte als Erinnerung" und „Geschichte als Wissenschaft": 23

W . C o n z e , aaO., S. 17. Einen solchen M e t h o d e n w e c h s e l propagiert insbesondere H . - U . Wehler, Geschichte als historische Sozialwissenschaft. Frankfurt 1973. Vgl. auch J. Kocka, Sozialgeschichte Strukturgeschichte - Gesellschaftsgeschichte. In: Archiv für Sozialgeschichte 15 (1975), S. 1 ff. W. J. M o m m s e n , D i e Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus. Düsseldorf 1971. 24

25

A. H e u ß , Verlust der Geschichte. Göttingen 1959. A. H e u ß , aaO., S.57. 27 Vgl. auch K. Gründer, Perspektiven für eine T h e o r i e der Geschichtswissenschaft. In: Saeculum 22 (1971), S. 101-113; S. 109: „Vergangenes ist gegenwärtig, aber in irgendeinem Sinne und Grade fremd. Es gibt eine Kontinuität, aber sie ist gebrochen." 28 A . H e u ß , aaO., S.57. 26

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„Während diese in dem Sinne gegenstandsbezogen ist, daß sie sich durchgängig an der Geschichte als dem schlechthin Vergangenen orientiert und ihre einzige Legitimation in der allen empirischen Forderungen vorausgehenden Ansicht findet, daß die Welt eine geschichtlich wirkliche ist, ist jene von einer besonderen Anteilnahme an spezifischen Ausschnitten dieses allgemeinen Zusammenhanges inspiriert und bemüht sich deshalb, dieselben durch ein erhöhtes M a ß von Aufmerksamkeit an sich heranzuziehen. Der erste Schritt hierzu ist selbstverständlich die Auswahl, und diese wiederum beruht auf den Anstößen, welche vom Bewußtsein in seiner Bestimmung durch die Gegenwart ausgehen. Dadurch sucht sich die Gegenwart ihrer selbst zu vergewissern und greift hierbei auch auf die Vergangenheit über als den ihr zugehörenden zeitlichen Horizont. Das ist aber genau der Status, in dem Vergangenheit sich als Gegenstand der Erinnerung zeigt, Vergangenheit, welche den Menschen in seiner Gegenwärtigkeit angeht." 2 9 W o das Bewußtsein einer objektiven historischen Kontinuität verlorengeht, wird die wissenschaftlich geregelte Rekonstruktion der Vergangenheit zur musealen Projektion, der kein genuiner Erfahrungsbestand mehr entspricht. Das empirische Wissen der Historie wird daher auch nur allzu o f t von anderen Wissenschaften übernommen, die es in die Analyse ihrer eigenen, gegenwartsbezogenen, Erfahrungsbestände mit einbeziehen und damit enthistorisieren. Auch R. Wittram hat ähnlich wie A. H e u ß am historischen Wissenschaftsideal die Hinwendung zum Vergangenen in einem „vom gegenwärtigen Leben abgekehrten Sinn 30 " kritisiert. U n d noch in jüngster Zeit hat T h . Nipperdey dieses Urteil bestätigt und darüber hinaus auch auf die gegenwärtige Forschungspraxis ausgedehnt: „die wissenschaftlich analysierte Geschichte im nachideologischen Zeitalter", so Nipperdey, „gibt keinen Sinn her, keinen Sinn der Geschichte, keinen Sinn des Lebens oder Handelns, der sich aus der Geschichte begründen ließe" 31 . Das liegt nach Nipperdey daran, „daß die Wissenschaftlichkeit, im Bemühen über Vergangenheit und Gegenwart zu orientieren, gerade die Orientierungsleistung beeinträchtigt und schwächt" 32 . So erweist sich die Ablösung der historischen Forschungslogik von der (geschichtsphilosophischen) Frage nach einer Kontinuität des historischen Prozesses, in dessen fortschreitende Dynamik sich die Gegenwart als jeweils sinn29

Ebd. S. 50. R. Wittram, Historismus und Geschichtsbewußtsein. In: HZ 157 (1921), S. 229-240; S. 230. 31 Th. Nipperdey, Sich an der Geschichte orientieren? In: Der Mensch als Orientierungswaise. Ein interdisziplinärer Erkundungsgang. Beiträge von H.Lübbe, O.Köhler, W.Lepenies, Th.Nipperdey, G.Schmidtchen, G.Rölleke. München o.J. S. 107-144; S. 137. 32 Th. Nipperdey, Sich an der Geschichte orientieren, aaO., S. 136 f. 50

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volle einzugliedern vermag, als ein Phänomen, das als „Krise des Historismus" die gegenwärtige Situation der Geschichtswissenschaft bestimmt 33 . K. G. Faber spricht daher von einer für die Geschichtswissenschaft derzeit unvermeidlichen doppelten Objektivität, bzw. sogar von einer doppelten Wahrheit als Resultat jenes Ablösungsprozesses 34 . Faber selbst unterscheidet entsprechend zwischen „der mit Hilfe der Quellenkritik und der Analyse historischer Prozesse und Systeme überprüfbaren Stichhaltigkeit wissenschaftlicher Aussagen über die menschliche Vergangenheit und solchen Wahrheiten über die Struktur der Geschichte auf der anderen Seite, die im bewußten Nachvollzug anerkannt werden und für die, als normativ bindende Faktoren jedermann, nicht nur der Historiker, im aktuellen Handeln Partei nehmen kann" 35 . Man wird allerdings fragen, ob sich die Geschichtswissenschaft mit dieser Unterscheidung von Empirie und Geschichtsphilosophie, von Methodologie und Theorie zufrieden geben kann, bzw. welche Alternativen sich dazu ggf. formulieren lassen. Zumindest müßte sich ja ein Zusammenhang zwischen dem auf methodologischer Ebene gewonnenen System überprüfbarer Aussagen über die Vergangenheit und den theoretischen Annahmen über die normative Evidenz von Geschichte selbst aufweisen lassen, da es andernfalls lediglich zu einer Verdoppelung historischer Begriffsbildung kommt. Die Beantwortung dieser Frage muß sich aus der Bestimmung des Gegenstandes historischer Erkenntnis selbst ergeben, weil erst so die methodischen Operationen des Historikers mit den - aus der Reflexion auf ihren Gegenstand resultierenden - Vernunftbestimmungen historischer Erkenntnis vermittelt werden können. Mit der Frage nach dem genuinen Gegenstandsbereich historischer Erkenntnis verbindet sich die philosophische bzw. theoretische Reflexion auf einen Begriff von Geschichte, welcher die Einheit des darin begriffenen Gegenstandsbereiches für das Erkennen überhaupt erst vorstellt. Daher läßt erst die geschichtsphilosophische bzw. -theoretische Reflexion die methodischen Operationen so auf die im Begriff der Geschichte vermittelte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft übergreifende Erfahrung sich verändernder Wirklichkeit bezogen sein, daß das empirische Material des Historikers sinnhaft strukturiert und im Sinne spezifisch historischer Erkenntnisgegenstände identifiziert zu werden vermag. In der Reflexion auf die Konstitution des historischen Erkenntnisgegenstandes könnte somit die Aufhebung der Trennung von Methodologie und Theorie, von Empirie und Geschichtsphilosophie möglich sein. Damit 33 34 35

Vgl. K.G. Faber, Ausprägungen des Historismus, aaO., S. 14. 15. K.G.Faber, aaO., S.20f. K. G. Faber, aaO., S. 20.

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spitzt sich die Fragestellung auf das Problem einer Geschichtstheorie bzw. -philosophie zu, welche „Geschichte" als konkreten Gegenstand historischen Erkennens auf den Begriff bringt. b) Um die Erwägungen hinsichtlich einer die T r e n n u n g von Methodologie und Theorie überwindenden Geschichtstheorie, welche die methodischen Operationen ihrerseits noch einmal als Faktoren im Prozeß historischer Sinnbildung zu begreifen vermag, fortzuführen, müssen allerdings auch die in diesem Bereich theoretischer Reflexion eingetretenen Veränderungen berücksichtigt werden. Die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft im Sinne der Frage nach ihrem spezifischen Erkenntnisgegenstand wird von vielen Historikern durchaus gesehen 36 . D a f ü r spricht zunächst auch der begriffsgeschichtliche Befund des Wortes Geschichte selbst. Sieht man von der Vielfältigkeit der Bedeutungen, die das W o r t historia/historie bzw. Geschichte anfänglich haben konnte, ab, so kristallisiert sich darin ein fester, schließlich mehr und mehr sich durchsetzender Zusammenhang von Geschichte als Forschung und Geschichte heraus: Im W o r t Geschichte als Bezeichnung eines Geschehens schlägt sich zugleich die Reflexion auf die Bedingungen seiner Erforschbarkeit nieder 37 . Es scheint sogar ein Charakteristikum der Bedeutungsgeschichte von „Geschichte" zu sein, „daß der Ausdruck einer „Geschichte selbst" oder der „Geschichte schlechthin" ursprünglich gerade die Theoriebedürftigkeit unserer Wissenschaft meinte" 38 . Geschichte und Geschichtsphilosophie konnten daher im 18.Jahrhundert regelrecht bedeutungsgleich gebraucht werden 3 9 . Die Reflexion auf die Begründung der Geschichte als eines genuinen Erkenntnisbereiches ist m . a . W . stets „Teil des f o r m a len Wissenschaftsbetriebes' gewesen" 40 . Dabei „lassen sich vier verschiedene Traditionsstränge in der Reflexion von Geschichte voneinander abheben: humanistisch-rhetorische, hilfswissenschaftlich-enzyklopädische, geschichtsphilosophische und erkenntnistheoretische oder geschichtslogische" 41 . 36 Vgl. R. Kosellek, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft. In: W. C o n z e (Hrsg.), Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichtes, S. 10-28. 37 H . R u p p / O . K ö h l e r , Historia-Geschichte. In: Saeculum 2 (1951), S.627-638. In der Antike meinte Historie „in erster Linie die Geschichte als Geschehensablauf, der wissenschaftlich untersucht, in Büchern (historie) festgehalten, der Geschichtskenntnis (historia) und als exemplum . . . dient" (ebd. S.627). 38 R. Kosellek, Über die Theoriebedürftigkeit der Historie, aaO., S. 10f. 39 Ebd. S . l l . 40 H . W . B l a n k e , D.Fleischer, J.Rüsen, Historik als akademische Praxis. Eine D o k u mentation der geschichtstheoretischen Vorlesungen an den deutschsprachigen Universitäten von 1750-1900. In: Dilthey Jahrbuch f ü r Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften I (1983), S. 182-255; S.216. 11 Ebd. S. 190 f.

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Sowohl die humanistisch-rhetorische als auch die hilfswissenschaftlich-enzyklopädische Tradition können im Rahmen der Frage nach der Struktur des Geschichtsbegriffs als des maßgeblichen, das Erkenntnisobjekt der Geschichtswissenschaft beschreibenden Theorems, weitgehend vernachlässigt werden. Obzwar wissenschaftsgeschichtlich die am weitesten zurückreichende Tradition, verliert das humanistisch-rhetorische Verständnis von Geschichte in dem Maße an Bedeutung, wie die Geschichtswissenschaft sich zunehmend als kritische Methode objektiver Tatsachenforschung etabliert 42 . Ihren Ausgangspunkt hat die rhetorische Tradition in der sich auf Aristoteles begründenden „Theorie der Rhetorik, in der die Möglichkeiten und Bedingungen sprachlicher Kommunikation überhaupt analysiert werden und Geschichtsschreibung als Sonderfall solcher Kommunikation eingegrenzt werden kann" 43 . Genauer gesagt war die Darstellung des Vergangenen, dessen, was bereits und tatsächlich geschehen ist, Gegenstand der Gerichtsrede als dritter Redegattung neben beratender Rede und Lobrede 44 . Die Gerichtsrede zielte darauf ab, dem Zuhörer eine überzeugende Darstellung der Vergangenheit zu vermitteln 45 . Das bedeutet aber, „daß im Rahmen einer rhetorischen Theorie der Geschichtsschreibung nicht nach jenen Kategorien gefragt werden kann, die der Realität der Vergangenheit an sich zugrunde liegen und eine Auffindung dessen ermöglichen, was wirklich gewesen ist, sondern nach jenen Kategorien, ... die die Auffindung dessen ermöglichen, was der Kommunikationsgemeinschaft als historische Wirklichkeit einleuchtet" 46 . Während somit in der rhetorischen Tradition die Geschichtsschreibung noch wesentlich als literarisches Genus bestimmt bleibt - was im42 Vgl. E.Kessler, Das rhetorische Modell der Historiographie. In: R.Kosellek, H. Lutz, J. Rüsen (Hrsg.), Formen der Geschichtsschreibung (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik Bd.IV) München 1982, S.37-85; S.81: „... das rhetorische Modell der Historiographie verliert im Banne des neuen Wissenschaftsmodells endgültig sein spezifisches Ziel der Konstitution einer wahrscheinlichen und daher vermittelbaren Geschichte." Vgl. auch H. Blanke, D. Fleischer, J. Rüsen, aaO., S.192. 43 E.Kessler, aaO., S.55. 44 Aristot. Rhet. I, 3; 1358 b, 7 ff.; zitiert bei Kessler, aaO., S.39. 45 Vgl. E.Kessler, aaO., S.42. " Ebd. S.41 f. Insbesondere sind in der lateinischen Rhetorik - bei Cicero und Quintilian - die damit zusammenhängenden Bedingungen der Darstellung von vergangenem Geschehen weiter ausgearbeitet worden: „um seine Erzählung wahrscheinlich zu machen, muß der Historiker sich bei der Darstellung von Vergangenheit nicht vor allem darum bemühen, die Struktur der Vergangenheit an sich wiederzugeben; er muß sich jedoch jener Kategorien bedienen, in denen der Mensch faktische Realität zu denken und zu verstehen vermag: die Erzählung muß übereinstimmen mit der allgemeinen Natur- und Welterfahrung, mit der allgemeinen Struktur menschlichen Handelns, mit der besonderen Struktur der Handlungssituation und schließlich mit den Erfordernissen logischer Widerspruchsfreiheit" (ebd. S.49 mit Quellenhinweisen).

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mer wieder, besonders dann in der Renaissance, die Frage nach dem Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung veranlaßt hat 47 -, macht sich das Bedürfnis nach der objektiven Wahrheitsfähigkeit von Geschichte besonders unter dem Einfluß des Christentums geltend 48 . Geschichte ist nun nicht länger das Ergebnis einer literarischen Komposition, sondern die Gesamtheit der vergangenen Ereignisse 49 . Denn durch die Beziehung auf die göttliche Providenz werden die berichteten Ereignisse gerade hinsichtlich ihrer Faktizität ontologisch bedeutsam. Sie sind gleichsam die Explikation des providentiell vorgegebenen Sinnes der Gesamtgeschichte 50 . Die berühmte Definition des Isidor v. Sevilla lautet entsprechend: „Historiae sunt res verae, quae factae sunt." 51 Gegenwärtig erfährt die rhetorische Tradition in den sogenannten erzähltheoretischen Entwürfen zur Geschichte eine gewisse Neuauflage, insofern dort Geschichte als durch Sinnbildung im Medium von Erzählung konstituiert gedacht wird 52 . Doch gehören die erzähltheoretischen Entwürfe in den Zusammenhang der geschichtsphilosophischen bzw. auch geschichtstheoretischen Tradition 53 , da sie spezifisch neuzeitliche Probleme wissenschaftlicher Rationalität voraussetzen. Als weitgehend unproblematisch kann die Rezeption der oben an zweiter Stelle genannten hilfswissenschaftlich-enzyklopädischen Tradition gelten. Die dort ausgebildeten Möglichkeiten der Auswertung des dem Historiker zur Verfügung stehenden Materials, wie etwa der Chronologie, der Genealogie und historischen Geographie, der allgemeinen Quellenkunde, der Paläographie usw.54, sind nach wie vor Vor47 Vgl. K. Heitmann, Das Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung in älterer Theorie. In: Archiv für Kulturgeschichte Bd. 51 (1969), S. 244-279. 48 L. Boehm, Der wissenschaftstheoretische Ort der historia im frühen Mittelalter. In: Speculum Historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung (Festschrift für Joh. Spoerl) Freiburg München 1965, S. 663-693. J. Spoerl, Grundformen hochmittelalterlicher Geschichtsanschauung, S.18: „Die Sprengung dieses von der Antike überkommenen Begriffes der Geschichte durch die „christliche" Geschichtsauffassung, die Idee der Universalgeschichte als Heilsgeschichte, gehört zu den wesentlichen Auseinandersetzungen des Mittelalters mit dem antiken Gedankengut." 49 L.Boehm, aaO., sowie E.Kessler, aaO. 50 Vgl. E.Kessler, aaO., S.59f. 51 Isidor v. Sevilla, Ethymologiae I, 44 (ed. Lindsay, 2 Bde. Oxford 1911). 52 Vgl. bes. Kurt Röttgers, Der kommunikative Text und die Zeitstruktur von Geschichte. Freiburg München 1982. Ders., Geschichtserzählung als kommunikativer Text. In: S. Quandt/H. Süssmuth (Hrsg.), Historisches Erzählen. Formen und Funktionen. Göttingen 1982, S.29-48. 53 Vgl. auch unten S. 136 ff. 54 Vgl. dazu A. v. Brandt, Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften. Stuttgart Berlin Köln Mainz 1973, 7.Aufl. (l.Aufl. 1958). Ebenso A. Demandi, Natur- und Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert. In: H Z 237 (1983), S. 37-66, S. 51: „Im Bereich der elementaren Faktographie gab es niemals Zweifel darüber, daß die quellenkritische Methode zu verläßlichen Resultaten gelangen kann."

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aussetzungen wissenschaftlicher Arbeit, wenngleich auch auf die Problematik einer Verselbständigung solcher methodischen Verfahren hinzuweisen ist55. Die Frage nach der Theoriebedürftigkeit und Theoriefähigkeit konzentriert sich so auf den Bereich der geschichtsphilosophischen und erkenntnistheoretischen Ansätze. Hier erst lassen sich die entscheidenden Wandlungen des Begriffs der Geschichte diagnostizieren. Konnte Ranke ζ. B. noch behaupten, daß die Geschichte als Wissenschaft nichts wäre, „insofern ihr nicht als reales Objekt eine Geschichte als Daseinsform zugrundeläge" 56 , und diese Daseinsform und reale Objektivität als durch „die göttliche Ordnung der Dinge, welche zwar nicht geradezu nachgewiesen, aber doch zu ahnen ist", begründet sehen 57 , - so scheint gegenwärtig der Begriff der Geschichte nurmehr als „metahistorischer Begriff"58, als „transzendentale Kategorie" 59 akzeptabel zu sein. Der „Kollektivsingular Geschichte" funktioniert als semantischer Ersatz für die letztlich nur theologisch zu begründende Annahme der Geschichte als eines universalen Geschehenszusammenhangs 60 . „Mit anderen Worten", so urteilt J.W.Mommsen: „wir können nicht mehr davon ausgehen, daß es die eine Geschichte in einem objektiven Sinne gibt, oder daß der geschichtliche Prozeß einen objektiven Sinngehalt in sich trägt, der sich bei genügend intensiver voraussetzungsloser Inspektion der 55 Das gilt insbesondere f ü r die rein chronologische Geschichtsschreibung, deren mittelalterlicher G r u n d t y p in den letzten zweihundert Jahren zunehmend in eine Krise geriet. Vgl. dazu J . W . J o h n s o n , Chronological Writing: its Concepts and Development. In: History and T h e o r y 2 (1962), S. 124-145. 56 W G Bd. 9,1, S. 270. Zitiert nach Vierhaus, Rankes Begriff der historischen Objektivität. In: R. Kosellek, W. J. Mommsen, J. Rüsen (Hrsg.), Objektivität und Parteilichkeit. (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik Bd. 1) M ü n c h e n 1977, S.63-76; S.68. 57 So Ranke in einem Brief an seinen Sohn O t t o aus dem Jahre 1873. In: Der Briefwechsel, hrsg. v. W. P. Fuchs. H a m b u r g 1949, S. 518 f.; zitiert bei Vierhaus, aaO. Vgl. auch R.Kosellek: „ . . . die Geschichte selber ist ihr Forschungsbereich. Solange es Geschichte gibt, wird es Historie geben" (R.Kosellek, W o z u noch Historie? In: H . M . B a u m g a r t n e r , J. Rüsen (Hrsg.), Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik. F r a n k f u r t 1982, 2. Aufl., S. 17-35; hier S.21). 58 R. Kosellek, W o z u noch Historie? aaO., S.24. 59 Ebd. S. 32. 60 Die im Kollektivsingular der Geschichte sich niederschlagende Säkularisierung des theologischen Geschichtsbegriffs hat R. Kosellek m . E . ganz zutreffend beschrieben. Die göttlichen Epitheta gehen als Säkularisate in den Geschichtsbegriff ein: „ . . . die Weltgeschichte ist das Weltgericht, die Geschichte wird allmächtig, allwissend, allgerecht, deshalb ist man auch vor ihr verantwortlich" (R. Kosellek, W o z u noch Historie? aaO., S. 24); „ . . . die Geschichte wird zum Subjekt und zum O b j e k t ihrer selbst" (ebd.). Allerdings scheint es nicht einleuchtend, diese Substantialisierung als Re-Substantialisierung eines zuvor entdeckten meta-historischen bzw. transzendentalen Begriffs der Geschichte zu beschreiben. Eher scheint es umgekehrt zu sein, daß die „substantialisierte" Fassung ein Säkularisat der theologischen Voraussetzungen des ma. Geschichtsdenkens ist.

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Quellen objektiv erfassen und explizieren läßt, wie dies die Historisten optimistisch annahmen."61 Bereits G. Simmel hatte die These vertreten, daß die Geschichtsdarstellung eine transzendentale Leistung des Subjekts ist: „Die historische Wahrheit", so schrieb Simmel 1923, „ist keine bloße Reproduktion, sondern eine geistige Aktivität, die aus ihrem Stoff ... etwas macht, was er an sich noch nicht ist . . . , indem sie Bedeutungen und Werke ihres Stoffes aufgräbt, die diese Vergangenheit zu einem ihre Darstellung für uns lohnenden Bilde gestalten" 62 . Die Depotenzierung des Geschichtsbegriffs - vom philosophischen Gedanken eines objektiven Geschehensablaufs zu einer regulativen Idee - scheint in der Tat zu den weitgehend gemeinsamen Grundannahmen heutiger Geschichtswissenschaft zu gehören. Die Behauptung einer objektiven Totalität der Geschichte, eines universalen Sinnzusammenhangs des Geschehens in der Einheit einer Geschichte, wie sie insbesondere noch im 19. Jahrhundert die Rationalität historischer Forschung begründete 63 , gilt jetzt als eine Annahme, „deren Geltung mehr voraussetzt als begründet wird und an deren Unwissenschaftlichkeit heute kaum mehr gezweifelt werden dürfte"64. Geschichte, so heißt es nun, ist „überhaupt nicht als Prozeß zu begreifen, sondern ausschließlich als Bewußtseinsphänomen menschlicher Bewältigung von Vergangenem" 65 . So gesehen kann die erklärende Einordnung des historischen Materials in übergreifende Zusammenhänge regelrecht „als eine Art von Sinnstiftung durch den Historiker" 66 beschrieben werden. „Im Be61 D e r perspektivische Charakter historischer Aussagen und das Problem von Parteilichkeit und Objektivität historischer Erkenntnis. In: Theorie der Geschichte Bd. 1. O b jektivität und Parteilichkeit, S. 441-468; S.449. Vgl. auch W. J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft in der modernen Industriegesellschaft. In: Vierteljahresschrift f ü r Zeitgeschichte 22 (1974), S. 1-17; hier S.2: „Wir vermögen heute nicht mehr daran zu glauben, daß die Geschichte gleichsam in sich selbst einen Sinn enthält, der von dem sorgsam analysierenden Historiker aus den Quellen selbst extrapoliert werden könnte." 62 G. Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie. München Leipzig 1923, S.55. Simmel beruft sich ausdrücklich auf Kant, vgl. ebd. S.V. " Das hat K.Scholder vor allem am Beispiel von R . N i e b u h r , L.Ranke und F . C h r . Baur gezeigt; K. Scholder, Ferdinand Christian Baur als Historiker. In: EvTh 21 (1961), S. 435-458; bes. S.442f.: „Das beides gehört notwendig zusammen. Das ganze Gebäude der historischen Kritik hängt nach Sinn und Möglichkeit an der Voraussetzung eines geschlossenen Geschehenszusammenhangs, wie umgekehrt jenes Geschichtsverständnis, sollte es f ü r die Geschichtsschreibung fruchtbar werden, der historisch-kritischen Methode als ihres wissenschaftlichen Gewissens bedurfte." Zu F. Chr. Baur vgl. besonders S. 444 f. 64 J. Rüsen, Für eine erneuerte Historik. Studien zur Theorie der Geschichtswissenschaft. Stuttgart Bad Canstatt 1976, S.33. 65 H . M . B a u m g a r t n e r , Kontinuität und Geschichte. Frankfurt 1972, S.253. 66 W. J . M o m m s e n , Der perspektivische Charakter . . . , aaO., S.457. Vgl. H . M . B a u m gartner, demzufolge Geschichte nichts anderes ist als eine „retrospektive Konstruktion in

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griff der Geschichte, in der Geschichtsauffassung und im Geschichtsbild wird eine „zweite Geschichte" produziert" 6 7 . Die anthropologische Reduktion, die der Geschichtsbegriff in der gegenwärtigen Diskussion erfahren hat, ist damit vollständig. Sie steht im Zusammenhang der neuzeitlichen Hinwendung zum Subjekt als der maßgeblichen Instanz im Prozeß der Erkenntnis. Das historische Bewußtsein reflektiert dabei die Autonomie der menschlichen Vernunft als tätiger, praktischer Vernunft 68 , so daß schließlich Geschichtstheorie in Handlungstheorie umzuschlagen droht. Die bis dahin gültigen Universalbegriffe objektiv-möglicher Erkenntnis werden nun als regulative Begriffe möglicher Erfahrung in das erkennende Subjekt zurückverlegt. Erkenntnis wird zur konstruktiven Leistung, deren „Objektivität" sich an der lebensweltlichen und lebenspraktischen Bedeutung ihrer Ergebnisse bemißt 69 und im äußersten Fall zu Behauptungen wie der folgenden führt: „Wird eine Geschichte mit Wahrheitsanspruch von den Zuhörern einer Erzählsituation als wahr akzeptiert, dann gilt die Geschichte in diesem Zusammenhang als wahr." 7 0 Allerdings ist diese anthropologische Reduktion auch nicht ohne Konsequenzen, denn sie führt, pointiert gesagt, zu einer Enthistorisierung des Geschichtsgedankens selber und damit zum Verlust des geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisgegenstandes überhaupt. Als metahistorische Kategorie steht „Geschichte" nämlich nun nicht mehr für ein genuines Erkenntnisobjekt, von dem her sich die Rationalität des geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisinteresses, vor allem auch hinsichtlich ihrer methodischen Implikationen, im Unterschied zu anderen praktischer Absicht" (ebd. S . 2 5 0 ) , deren Sinn durch nichts gewährleistet ist als durch den „Sinnwillen der Menschen selbst" (ebd. S . 3 2 1 ) . 6 7 H . J. Sandkühler, Geschichte, gesellschaftliche B e w e g u n g und Erkenntnisprozeß. Studien zur Dialektik der Theorieentwicklung in der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt 1974. 6 8 Vgl. K . Zimmermann, U b e r einige Probleme der gegenwärtigen Geschichtsphilosophie. In: Saeculum 14 (1963), S. 11-24; S . 2 2 : „ D a s historische Bewußtsein ist auf der Ents c h e i d u n g s f r a g e a u f g e b a u t : entweder bestimmen die D i n g e und die Ideen den Menschen, s o daß die menschliche V e r n u n f t nur heteronom und rezeptiv ist - o d e r die menschliche V e r n u n f t bringt aus sich die G e s e t z e der D i n g e und die D i n g e selbst hervor." D a h e r kann man nach Z i m m e r m a n n „die Welt nur dann als Geschichte verstehen, wenn man die M e n schen als Wesen versteht, welche die sie bestimmenden allgemeinen M ä c h t e selbsttätig aus sich hervorbringen (pro-ducieren) und infolgedessen auch wieder a u f h e b e n k ö n n e n " (ebd. S. 21). 6 9 Vgl. G . Z e r m e n o , Geschichte und Z u k u n f t . Eine U n t e r s u c h u n g geschichtstheoretischer Probleme im Positivismus und in der kritischen T h e o r i e . M a s s . Diss. F r a n k f u r t 1983, S. 1 : „ D i e historische O b j e k t i v i t ä t . . . i s t . . . eine soziale T a t s a c h e ; sie muß als solche durch die Praxis der G e g e n w a r t selbst mehrfach bestätigt w e r d e n . " 70 K . Röttgers, Geschichtserzählung als kommunikativer T e x t . In: S. Q u a n d t / H . Süssmuth (Hg.), Historisches Erzählen. Formen und Funktionen. Göttingen 1982, S. 2 9 - 4 8 , S. 30.

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Wissenschaften zu begründen vermag. Die Geschichtswissenschaft geriet daher auch prompt denjenigen Wissenschaften gegenüber in eine Legitimationskrise, die sich ihre Relevanz durch eine im Unterschied zum 19. Jahrhundert enthistorisierte Theoriebildung, welche den lebensweltlichen Erfahrungsraum in spezifische Erkenntnisobjekte aufgliedert, gesichert haben. „Die methodologische Verwandlung der Erfahrungsbestände in Erkenntnisobjekte", so beschreibt R. Kosellek diesen Sachverhalt, „scheint im Zuge der Enthistorisierung derart komplett, daß f ü r die Historie als solche kein genuines Erkenntnisobjekt übrigt bleibt 71 . Ähnlich äußerte sich J. Haller bereits 1935: „Fragt jemand etwa danach, was die Aufgabe und das Ziel der Naturwissenschaften, der Juriprudenz, der Philologie, der Medizin, Theologie und Philosophie sei? Sie alle wissen, was sie sollen und wollen, und niemand fällt es ein, darüber zu streiten. Einzig die Geschichte sieht sich einem Kreuzfeuer von Fragen und Antworten ausgesetzt, nicht nur nach ihrem praktischen Zweck und Nutzen, sondern nach ihrem Gegenstand selbst, ihrer Aufgabe." 7 2 U n d in der T a t haben inzwischen auch andere Wissenschaften, insbesondere die Soziologie, die Auswertung des Materials, mit dem der Historiker umzugehen pflegt, unter Gesichtspunkten ihres eigenen Erkenntnisinteresses übernommen, das auf die Beschreibung stabiler Strukturen und deren Entwicklungslogik gerichtet ist 73 . „Die systematischen Sozialwissenschaften, in erster Linie Politik und Soziologie, sind heute", wie G. Schultz feststellt, „zu Konkurrenten und teilweise zu Gegnern des geschichtlichen Denkens geworden" 7 4 . Demgegenüber reicht es nicht aus, darauf hinzuweisen, daß die systematische Beschreibung von Strukturen und deren Entwicklungslogik 71

R. Kosellek, Wozu noch Historie? aaO., S. 19. J. Haller, über die Aufgaben des Historikers. Tübingen 1935 (Philosophie und Geschichte Bd. 53). 73 J.R.Hall bemerkt dazu kritisch: „But the main tendency of both sociology and anthropology has been made ahistorical, and even anti-historical." (J.R.Hall, The Time of History and the Histoy of Times. In: History and Theory 19 (1980), S. 113-131; S. 113). 74 G.Schulz, Bemerkungen zur Zeitgeschichte. In: Saeculum 21 (1970), S.287-311; vgl. auch S.288: „Die Soziologie verstand und versteht sich auch heute noch im wesentlichen „als eine adaequate Form des Geschichtsbewußtseins der Gegenwart" (das Zitat entstammt: H . P . Bardt, Marxistisches Denken in der deutschen Arbeiterschaft? In: Die neue Gesellschaft 2 (1955/56), S.463f.). Vgl. auch K.Gründer, Perspektiven für eine Theorie der Geschichtswissenschaft. In: Saeculum 22 (1971), S. 101-113. Gründer spricht von dem Anspruch der Sozialwissenschaften, „zumindest Ansatz und Marschroute für eine Theorie der Geschichtswissenschaft mit zu liefern" (ebd. S. 104). Ahnlich neuerdings auch D. Ruloff, Geschichtsforschung und Sozialwissenschaft. Eine vergleichende Untersuchung zur Wissenschafts- und Forschungskonzeption in Historie und Politologie. München 1984; S. 132: „Es ist nicht einzusehen, warum der Umgang mit dem konkreten Detail sich in der Rekonstruktion von Bedeutungszusammenhängen erschöpfen soll." Vgl. insgesamt den Überblick bei E. Schulin, Das alte und das neue Problem der Weltgeschichte als Kulturgeschichte. In: Saeculum 33 (1982), S. 161-173. 72

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kaum jemals ohne historische Daten auskommt. Nicht nur, daß in dem Fall die Geschichtswissenschaft die subsidiäre Funktion einer bloßen Hilfswissenschaft zu übernehmen sich bescheiden müßte 75 ; vielmehr vermag die Historie die Behauptung solcher historischen Implikationen der Beschreibung von Strukturen und ihrer Entwicklungslogik überhaupt erst dann als Legitimation ihrer wissenschaftlichen Praxis auszuweisen, wenn das darin liegende Moment der Historizität - was immer darunter auch noch zu verstehen sein mag - , für die Umsetzung des empirischen, dem Historiker zur Verfügung stehenden Materials in spezifisch historische Erkenntnisobjekte konstitutiv ist. Das geschieht nicht schon mit dem Rekurs auf das Subjekt historischen Wissens, das im historischen Erkenntnisgegenstand lediglich die Apriorität der zeitlichen Struktur seiner Erfahrung abbildet. Die Frage nach der Rationalität historischer Erkenntnis impliziert vielmehr die Frage nach der Möglichkeit eines genuinen Gegenstandes historischen Erkennens, der auch unter Berücksichtigung der Subjektivität historischen Wissens gleichwohl nicht allein auf die konstruktive Leistung des Subjekts reduziert werden kann. Es ist die herausragende Leistung J. G. Droysens gewesen, diesen Sachverhalt in einer Theorie des historischen Wissens positiv formuliert zu haben. Darin ist Droysens Historik für die gegenwärtige geschichtswissenschaftliche Diskussion von Bedeutung geblieben. Es bietet sich daher an, die überleitenden Ausführungen dieses Abschnitts mit einer kurzen Erörterung der Droysenschen Geschichtstheorie abzuschließen: am konkreten Beispiel wird so noch einmal die beschriebene Problematik historischen Denkens deutlich und ihre weitere Diskussion im Blick auf Droysens Versuch ihrer Lösung vorbereitet. Denn auch Droysens Ausführungen bleiben für unser Thema darin noch zweideutig, daß sie „Geschichte" als Gegenstand historischen Erkennens in erster Linie anthropologisch zu begründen scheinen, während das theologische Interesse doch gerade dort liegt, wo eine bloß anthropologische Begründung nicht mehr ausreicht. Immerhin hat sich Droysen auch positiv zur Möglichkeit einer „Theologie der Geschichte" geäußert 76 . Es wird also besonders darauf zu achten sein, in welcher Weise sich bei ihm ein Zusammenhang von Geschichtsbegriff und Theologie herstellt; denn die Aufgabe einer theologischen Historik soll ja gerade darin bestehen, die methodischen und theoretischen Bedingungen der Möglichkeit eines solchen Zusammenhangs zu klären. In75 Vgl. aber R . Kosellek, W o z u noch H i s t o r i e ? a a O . , S . 2 0 : „ D i e Historie dient in der T a t allen anderen Einzelwissenschaften als eine Art H i l f s - und E r g ä n z u n g s w i s s e n s c h a f t . Keine Systematik k o m m t ohne historische Daten a u s . " 76 J . G . D r o y s e n , T h e o l o g i e der Geschichte. V o r w o r t zur Geschichte des Hellenismus II. H a m b u r g 1843. In: Ders., H i s t o r i k 5 . A u f l . D a r m s t a d t 1967, S. 3 6 9 - 3 8 5 .

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sofern bilden die kurzen Erwägungen zu Droysens Historik zugleich eine Uberleitung zur Einzeldarstellung der Probleme, die es im Blick auf eine theologische Historik zu klären gilt. Im Unterschied zu der oben bereits erwähnten Reduktion des Geschichtsbegriffs hält Droysens Theorie des historischen Wissens an „der Geschichte" als eines genuinen Erkenntnisgegenstandes im Sinne eines universalen Geschehens und Sinnzusammenhanges fest, der damit „nicht erst das Produkt der Objektkonstitution der Geschichtswissenschaft, sondern ein Faktor dieser Konstitution selber 77 " ist. Der empirische Zugang zur Geschichte wird dabei keineswegs aufgehoben, weil Droysen sein Verständnis der Geschichte als eines objektiven Geschehenszusammenhangs gerade aus der Eigenart des empirisch-historischen Materials selber zu begründen sucht. Das historische Material für sich genommen hat es nämlich gar nicht mit objektiven Tatsachen zu tun 78 : „Die objektiven Tatsachen liegen in ihrer Realität unserer Forschung gar nicht vor. Was in irgendeiner Vergangenheit objektiv vor sich gegangen ist, ist ewas ganz anderes als das, was man geschichtliche Tatsache nennt." 79 Was die historische Kritik traditionellerweise als „objektive Tatsache" bezeichnet: „eine Schlacht, ein Konzil, eine Empörung, - sind diese denn", so fragt Droysen, „als solche in der Wirklichkeit dagewesen" 8 0 ? Droysen verneint diese Frage. „Nicht die Schlacht, die Empörung war in jenem Moment das Objektive und Reale, sondern die Tausende, die so gegeneinander und durcheinander liefen und lärmten und sich gegenseitig schlugen usw." 8 1 Das heißt: Was geschieht, wird als Ereignis erst durch die Auffassung in einem Zusammenhang historisch identifizierbar 82 . Eben das ist gemeint, wenn Droysen die Frage „Was ist Geschichte?" in der Form stellt: „Wie wird ... aus Geschäften Geschichte" 83 ? Denn was „der einzelne will und tut und schafft, ist sein Geschäft und auf seine Gegenwart gerichtet, ist nicht Geschichte, sondern wird erst Geschichte" 84 , - und zwar durch 77 J . Rüsen, Für eine erneuerte Historik. Studien zur T h e o r i e der Geschichtswissenschaft. Stuttgart B a d Canstatt 1976, S. 103. D a s ist schon deshalb so, „weil Geschichte als V e r ä n d e r u n g ' von Wirklichkeit sowohl das O b j e k t historischer Erkenntnis [ist] wie auch diese selbst u m g r e i f t " (ebd. S. 104). 78 J. G. D r o y s e n , Historik. V o r l e s u n g e n über E n z y k l o p ä d i e und M e t h o d o l o g i e der G e schichte. H r s g . v. R u d o l f H ü b n e r . D a r m s t a d t 1967, 5. unver. Aufl., S. 133: „ E s heißt die N a t u r der Dinge, mit denen unsere Wissenschaft beschäftigt ist, verkennen, wenn man meint, es da mit objektiven T a t s a c h e n zu tun zu haben." 7 9 Ebd. S. 133. 8 0 Ebd. S . 9 6 . 8 1 E b d . S . 9 7 . D r o y s e n kann dies vielfältige Geschehen an anderer Stelle mit der Beweg u n g von A t o m e n vergleichen; ebd. S. 192, S. 12. 82 E b d . S. 133 f. 85 Ebd. S . 2 8 . 8 4 E b d . S. 183.

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seine Auffassung in einem Zusammenhang, d.i. seine historische Bedeutung 85 . „Die ,historische Bedeutung' ist die Stellung, die ein Ereignis, eine Handlung im Ganzen des jeweils dazugehörenden Verlaufs einnimmt. Sie unterscheidet sich von derjenigen Bedeutung, die das Ereignis oder die Handlung für die jeweils Agierenden oder Betroffenen hatte." 86 Dabei bleibt die historische Bedeutung dem Tun und Leiden der Menschen aber nicht äußerlich, weil umgekehrt erst der geschichtliche Zusammenhang diesem seine Bedeutung und Wirkung gibt87. Erst dadurch also, daß der Mensch in einem jeweiligen geschichtlichen Zusammenhang lebt, wird er „aus einem unsteten Atom in dem ... Ebben und Fluten der Erscheinungswelt zu einem ... Mittelpunkt" 88 , d. h. zu einer konkreten Individualität, und nimmt vor allem auch sein Tun und Leiden erst die Gestalt konkreter unterscheidbarer Ereignisse an. Denn der Mensch ist „nicht durch seine Geburt schon in dem vollen Hier und Jetzt, in der lebendigen Gegenwart des menschlichen Seins"89. Seine Gegenwart ist vielmehr historisches Ergebnis, „die Summe menschlicher, unendlicher historischer Durchlebungen" 90 . Ahnlich wie Herder versteht Droysen damit den Menschen als ein Wesen, das zur Bestimmung seiner Humanität noch unterwegs ist91: „statt des Gattungsbegriff ist ihm die Geschichte." 92 Als Medium der werdenden Humanität ist Geschichte so der Prozeß, in dem das Tun und Leiden der Menschen seine diskreten Inhalte und konkreten Bedeutungen gewinnt 93 . Ihren Ort hat solche Vermittlung zunächst im Bewußtsein, denn „immer ... geht den Geschehnissen die Auffassung derselben, ihre Umsetzung im Bewußtsein und in die Vorstellung zur Seite"94. 84

Ebd. S. 183. D . J ä h n i g , Wissenschaft und Geschichte bei D r o y s e n . In: Wirklichkeit und R e f l e xion. Walter Schulz z u m Geburtstag. Hrsg. v. H.Fahrenbach. Pfullingen 1973, S. 3 1 3 - 3 3 3 ; S.323. 87 J. G. Droysen, Historik, S.97: „ D e n n wenn auch durch den Willen der Beteiligten und nur durch ihn die D i n g e sich vollziehen, so haben sie d o c h nicht in dem Willen und in ihm ihr ganzes Wesen, ihren Ursprung und ihre Richtung. Es k o m m e n noch andere M o m e n t e hinzu, welche diese primäre und nur formale Bestimmung des individuell G e wollten erst sachlich bestimmen und ihm eine Bedeutung und Wirkung geben." D a s T u n und Leiden der Menschen habe daher „in dem geschichtlichen Bereich dieselbe Bedeutung, wie in der Natur die Zelle, die allen organischen Bildungen und Entwicklungen zugrunde liegt" (ebd.). 86

88

J . G . Droysen, Historik, S. 16. Ebd. S. 15. 90 Ebd. S. 16. " Vgl. ebd. S. 16: „Geschichte ist die rastlos werdende humanitas." 92 Ebd. S . 1 0 . 93 D i e Zeit ist dem T u n und Leiden der Menschen daher auch nicht äußerlich, sondern ihren Inhalten nach, als Geschichte, selbst dieses konstitutive M e d i u m der werdenden Humanität. 94 Ebd. S. 134f. 89

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Die Reflexivität, durch welche das Geschehen als konkretes M o m e n t jenes Werdens erst begriffen ist, ist mithin ein konstitutives M o m e n t der geschichtlichen Ereignisse selber; sie begründet damit auch die Rationalität historischer Erkenntnis, weil das historische Material nicht die „Tatsachen" selbst, sondern deren Auffassungen enthält 95 , welche die historische Erkenntnis als „Ausdrücke und Abdrücke desselben Zeichensystems, mit dem wir selbst arbeiten", nachzuvollziehen vermag 96 . Das ist gemeint, wenn Droysen schreibt: „Nicht die Vergangenheiten sind die Geschichte, sondern das Wissen des menschlichen Geistes von ihnen. Und dieses Wissen ist die einzige Form, in der die Vergangenheiten . . . als in sich zusammenhängend und bedeutsam, als Geschichte erscheinen." 97 Hier stellt sich nun die Frage, ob damit Droysens Geschichtsverständnis nicht eine quasi-transzendentale Begründung erfährt, die Geschichte nur mehr als sinnstiftende Leistung des Subjekts zu begreifen erlaubt 98 . Dem kann man zunächst entgegenhalten, daß nach Droysen jene Reflexivität, durch welche die „Vergangenheiten" als „Geschichte" erscheinen, nicht allein im Subjekt begründet ist, sondern auch in den „Vergangenheiten" selber, insofern diese erst durch ihren Zusammenhang untereinander als Ereignisse auffaßbar werden. „Jeder P u n k t in dieser Gegenwart", so schreibt Droysen, „ist ein gewordener. Was er war und wie er wurde, ist vergangen; aber seine Vergangenheit ist ideell in ihm" 99 - und nicht nur im Bewußtsein 100 . Damit bildet sich die Auffassung der Geschichte als einer Kontinuität, eines Sinnzusammen-

95 Ebd. S.137: „Nicht die Summe, die Addition aller Einzelheiten, sondern die erste Zusammenfassung derselben als ein Ganzes, nach ihrem praktischen Verlauf, nach ihrem maßgebenden Grunde und Zweck: das ist die erste Quelle." 96 Ebd. S. 14: „Die Gestaltungen und Deutungen . . . , auf welche die historische Empirie sich wendet, sind uns ... darum faßbar und in höherem Grade zugänglich als die der natürlichen Welt, weil wir sie wahrnehmend nicht bloß Zeichen empfangen, sondern Ausdrücke und Abdrücke desselben Zeichensystems, mit dem wir selbst arbeiten." 97 Ebd. S. 187. 98 So die Interpretation von H. M. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft. Frankfurt 1972, S. 55-87. Ahnlich auch R. Kosellek, Wozu noch Historie? aaO., S.22: „Seit 1770 bereitete sich sprachlich die transzendentale Wende vor, die zur Geschichtsphilosophie des Idealismus führte. Die Droysensche Formel, daß Geschichte nur das Wissen ihrer sei, ist das Ergebnis dieser Entwicklung. Mit anderen Worten, Geschichte wurde zu einer subjektiven Bewußtseinskategorie ..." Vgl. auch J. Rüsen, Historische Vernunft, der mit Anspielung auf Droysen von der Geschichte als „Erinnerungsleistung" spricht (ebd. S.59). Zur Auseinandersetzung mit Baumgartner in dieser Frage vgl. W. Hardtwig, Geschichtsprozeß oder konstruierte Geschichte. Eine Auseinandersetzung mit H. M. Baumgartner ,Kontinuität und Geschichte'. In: Phjb 81 (1974), S.381-390; bes. S.385f. 99

Droysen. Historik, S.327. So ergänzt zutreffend W. Hardtwig, Geschichtsprozeß oder konstruierte Geschichte, aaO., S.385. 100

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hangs, in dem auch gegenwärtiges Leben sich vollzieht und als dessen bisheriges Ergebnis sich die Gegenwart erfährt; in ihm vermag das empirisch-historische Material zu einer sinnvollen Geschichte strukturiert zu werden. Diese Kontinuität ist daher auch das „Allgemeine . . . , welches die einzelnen Tatsachen der Geschichte verbindet und jeder in ihrer individuellen Art ihren Wert g i b t . . . In dieser K o n t i n u i t ä t . . . hat die geschichtliche Welt ihren Gedanken und ihre Wahrheit, und unsere Empirie arbeitet, die Einzelheiten der Vergangenheit, soweit sie irgend noch empirisch zu erfassen sind, zu erforschen, um in ihnen mehr und mehr diese Kontinuität empirisch zu bestätigen . . . , und zwar in allen Richtungen ... der Menschennatur, in der Ernährung wie in den Erkenntnissen, in der Sprache wie in den Sitten, in den Künsten, der Industrie, dem Handel, in Kriegführung wie in den sozialen und politischen Verhältnissen, in allem, was in seiner Gegenwart als Geschäft galt und verlief" 101 . Der zunächst in der Bestimmung der Geschichte als eines Wissens ihrer gewonnene Gedanke der Kontinuität bindet so die Rationalität historischer Erkenntnis an die in eben dieser kohärentialen Struktur historischer Erkenntnis begründete Einheit von Geschichte als eines genuinen Erkenntnisgegenstandes, insofern dieser nämlich in dem möglichen Zusammenhang, das heißt der Kohärenz des empirisch-historischen Materials selbst begründet ist. Damit scheint eine transzendentale Reduktion des Geschichtsbegriffs vermieden zu sein. Es bleibt freilich immer noch die Frage, wie die Kohärenz des Näheren bestimmt wird, wenn anders jene durch die Auffassung des Geschehens vermittelte Struktur der Geschichte als eines Wissens ihrer nicht doch noch zu einer metaphysischen oder transzendentalen Ablösung des Geschichtsbegriffs von dem „tatsächlichen" Geschehen, gleichsam im Sinne einer „Geschichte über der Geschichte", führen soll. Immerhin scheinen einige Äußerungen Droysens diesen Schluß nahezulegen, so wenn er seine Vorlesung zur „Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte" mit dem Satz beschließt, „daß auch die gründlichste Forschung nur einen fragmentarischen Schein von der Vergangenheit erhalten kann, daß Geschichte und unser Wissen von ihr himmelweit verschieden sind . . . Es würde uns entmutigen, wenn nicht eins wäre: die Entwicklung der Gedanken in der Geschichte können wir allerdings verfolgen . . . So gewinnen wir nicht ein Bild des Geschehenen an sich, sondern unserer Auffassung und geistigen Verarbeitung davon" 102 .

101 Droysen, Historik, S. 29 f. Zu Recht weist Baumgartner allerdings auf Unklarheiten gerade an dieser Stelle hin: So ist „unklar, was denn unter den einzelnen Tatsachen in der Geschichte zu verstehen ist" (Baumgartner, aaO., S. 64). 102 Droysen, Historik, S.316.

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Droysen versucht einer transzendentalen Ablösung dadurch zu entgehen, daß er die idealen Gehalte des geschichtlichen Bewußtseins als Gewißheiten der praktischen Vernunft auffaßt, welche den gegenwärtigen „Gesamtinhalt des Ich, . . . aus dem wir wollen und handeln und wirken" 103 , bilden. Als Gewißheiten der praktischen Vernunft sind sie nämlich Resultate konkreter Praxis und darin immer schon geschichtlich vermittelt. „Jene Gewißheiten der praktischen Vernunft sind die Erarbeitungen der Geschichte" 104 , wie Droysen das formuliert. Ausgehend von diesen Gewißheiten der praktischen Vernunft als Erarbeitungen sittlichen Handelns begreift die historische Erkenntnis die Geschichte daher als Kontinuität solcher Arbeit: „Jedes Stückchen Material, das unserer historischen Empirie sich darbietet, erforschen wir, um zu sehen, ob und wie es in diese Kontinuität der geschichtlichen Arbeit eingreift, deren Wahrheit uns feststeht, da wir selbst, unser Volk, unsere Bildung, unsere Zustände deren Summe, deren summiertes Ergebnis sind." 105 Gegen Hegel sich abgrenzend möchte Droysen diese Kontinuität nicht als Entwicklung verstehen, „denn da wäre die ganze Folgereihe schon keimhaft in den ersten Anfängen präformiert" 106 . Vielmehr ist „das Leben in der Geschichte . . . nicht ein nur fortschreitendes; die Kontinuität zeigt sich da und dort unterbrochen, überspringend, selbst zeitweise rückläufig" 1 0 7 . Und trotzdem kann nach Droysen „der Gedanke der Kontinuität auch da noch für uns geltend . . . sein . . . , wo sie aufzuhören scheint" 108 . Denn sie ist „überspringend nur, um das hier Begonnene dort fortzusetzen, rückläufig nur, um dann mit doppelter Spannkraft wieder vorzudringen" 109 . Geschichte ist so die sittliche Arbeit der „sich steigernden Menschennatur" 110 ; und das Subjekt solcher Arbeit ist „das Ich der Menschheit" 111 . Die hier referierten Ausführungen Droysens lassen vermuten, daß die geschichtliche Kontinuität, durch welche aus den Geschäften Geschichte wird, aus einer Teleologik des Handelns abgeleitet wird, die in ihrem Resultat Ausdruck und Erscheinungsform des Sittlichen bzw. der von Droysen sogenannten sittlichen Mächte ist 112 . „Uns täte", wie Droysen daher schreibt, „ein Kant not, der . . . etwa in einem Analogon des Sittengesetzes, einem kategorischen Imperativ der Geschichte, den lebendigen Quell nachwiese, dem das geschichtliche Leben der Menschheit entströmt" 113 . Dabei sind für Droysen allerdings die Religionen letzter Ausdruck solchen sittlichen Wollens: „Das ganze sittliche Leben wurzelt in den 103 105 107 109 1,1 113

112

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

S. 20. S. 30. S. 14. S. 14. S. 354. S.S.378.

104 106 108 110 112

Ebd. S . 2 0 . Ebd. S . 2 9 . Ebd. S. 14. Ebd. S . 2 9 . Vgl. ebd. S. 184.

Religionen, erscheint neben der religiösen Vorstellung als ein zweiter, treffenderer Ausdruck derselben." 114 Es ist gewissermaßen die Idee Gottes als des höchsten Gutes, welche das sittliche Handeln der Menschen bewegt und alle Erscheinungsformen des Sittlichen in sich vereinigt. In diesem Sinne möchte Droysen von einer „Theologie der Geschichte" sprechen 115 . Als Resultat menschlichen Handelns konstituiert sich Geschichte daher nur in dem eingeschränkten Sinne, daß es die höheren Zwecke Gottes sind, welche in ihm sich realisieren. Allerdings hätte Droysen die theologischen Bestimmungen des sittlichen Imperativs menschlichen Handelns deutlicher von der Struktur des Handelns selbst unterscheiden müssen, um dem Verdacht zu entgehen, als resultiere die Geschichte allein aus der sittlichen Arbeit der sich steigernden Menschennatur. Ungeachtet dieser besonderen Schwierigkeiten seines Gedankens einer Theologie der Geschichte läßt sich anhand der Ausführungen Droysens exemplarisch das nach wir vor unerledigte Problem historischer Theorie zusammenfassen. Auf der einen Seite ist Geschichte stets nur als das Wissen von ihr theoretisch abbildbar; das heißt, daß die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit historischen Wissens, gerade auch unter dem Aspekt seiner subjektiv bedingten Perspektivität, zu einem konstitutiven Faktor historischer Urteilsbildung wird, andererseits aber läßt sich das Erkenntnisinteresse der Geschichtswissenschaft nicht so weit auf die Reflexion solcher subjektiven Erkenntnisbedingungen reduzieren, daß sie darüber die Geschichte als einen von solchem Wissen zu unterscheidenden Gegenstand aus den Augen verlöre. Geschichtswissenschaft hat es immer auch mit Geschichte als eines vom erkennenden Subjekt zu unterscheidenden Objekt zu tun, an welchem die Wahrheitsfindung ihres Erkennntisprozesses ihren Maßstab hat. Besonders aus diesem zuletzt genannten Gesichtspunkt ergibt sich ein für die weiteren Ausführungen wichtiger Aspekt. Als Gegenstand eines wahrheitsfähigen Erkenntnisprozesses ist Geschichte nämlich zugleich als Einheit zu begreifen. Damit soll keineswegs die Hypothek traditioneller Fortschrittsmetaphysiken und -Ideologien übernommen werden. Vielmehr liegt im Fall des hier vorwiegend methodisch interessierten Gedankengangs der Begriff der Einheit in der Konsequenz des methodischen Kritieriums der Kohärenz, wie es sich aus der an den Erkenntnisprozeß gerichteten Wahrheitsforderung ableiten läßt 116 . Aller114

Ebd. Ebd. 116 In gewissem Sinne lassen sich auch die traditionellen Fortschrittsmetaphysiken und -Ideologien unter dem Gesichtspunkt des Kriteriums der Kohärenz nachvollziehen, insofern es ihnen um die Anordnung des historischen Materials in einem kohärenten Ganzen geht. Ihre Problematik liegt freilich darin, diese Kohärenz als im Erkenntnisprozeß be115

113

dings ist dann genauer nach derjenigen Rationalität historischen Wissens zu fragen, welche eine solche Forderung im Prozeß der Erkenntnis einzulösen vermag. Diese Frage weist zunächst auf die oben erörterten Probleme gegenwärtigen Geschichtsdenkens zurück, insofern in ihm das historische Wissen an eben jener Forderung zu scheitern droht und sich in die vermeintliche Selbstgegebenheit subjektiven Sinnbewußtseins zurückzieht. Die Probleme geschichtlichen Denkens sollen daher im Weiteren unter diesem spezifischen Gesichtspunkt der Frage nach der Rationalität historischen Wissens im Detail erörtert werden.

2.2 Rekonstruktionsversuche

historischer

Rationalität

Mit der Frage nach der Geschichte als Gegenstand möglicher Erkenntnis verbindet sich, so wurde festgestellt, die Frage nach ihrer Einheit in dem Sinne, daß die für das Begreifen von Geschichte relevanten Sachverhalte untereinander in einem intersubjektiven nachvollziehbaren Zusammenhang stehen. Es bleibt dann immer noch offen, ob solche Annahmen in einer Theorie der Geschichte als konstitutive Bedingungen der Möglichkeit von Geschichte überhaupt 117 expliziert oder aber lediglich als methodologische Regeln zur Aufstellung überprüfbarer Aussagen aufgestellt werden, wobei im letzteren Fall ontologische und erkenntnistheoretische Aspekte des Geschichtsthemas ausgeklammert bleiben. Ihre wissenschaftsgeschichtlich bereits klassisch zu nennende Gestalt hat diese Alternative mit dem noch im Schatten des Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaft des 19. Jahrhunderts stehenden Streit um den positivistischen Wissenschaftsbegriff des vor allem durch K. R. Popper inaugurierten und in Deutschland besonders von H.Albert pro-

reits definitiv einlösbare behaupten zu wollen. Es ist daher sinnvoll, den Gedanken der Einheit der Geschichte in erster Linie auf das methodisch zu beschreibende Kriterium der Kohärenz zu beziehen und erst in zweiter Linie auf spezifische Konzeptionen solcher Kohärenz etwa im Sinne des Fortschrittsgedankens. Ahnlich verhält es sich mit dem Begriff der Kontinuität. Der Begriff der Kontinuität nämlich bringt das methodische Kriterium der Kohärenz unter dem Gesichtspunkt der angesichts des T h e m a s Geschichte zu berücksichtigenden zeitlichen Perspektivität zum Ausdruck. 117 Siehe R. Kosellek, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt. In: R. Kosellek, W. Mommsen, J. Rüsen (Hrsg.), Objektivität und Parteilichkeit (Theorie der Geschichte, Beiträge zur Historik Bd. 1) München 1977, S. 17-46; hier S.45: „Wir benötigen eine Theorie, und zwar eine Theorie möglicher Geschichte. Implizit ist sie in allen Werken der Historiographie vorhanden, nur kommt es darauf an, sie zu explizieren." Vgl. auch S.46: „Das, was eine Geschichte zur Geschichte macht, ist nie allein aus den Quellen ableitbar: es bedarf einer Theorie möglicher Geschichte, um Quellen überhaupt erst zur Sprache zu bringen."

114

pagierten Kritischen Rationalismus gewonnen 118 . Der kritische Rationalismus stellt „die Autonomie wissenschaftlicher Einzeldisziplinen prinzipiell in Frage"119 und intendiert stattdessen eine methodologische Konformität des Verfahrens in allen wissenschaftlichen Disziplinen. Zwar wendet sich der kritische Rationalismus gegen die vom logischen Positivismus zunächst vertretene Konzeption einer Einheitswissenschaft in Gestalt eines einheitlichen Aussagensystems 120 , hält aber doch an der prinzipiellen Einheit der nomologischen, d.h. der durch Subsumption unter als allgemeingültig aufgestellte Gesetze erklärenden Methode in allen Wissenschaften fest. Das bedeutet im Falle der Geschichtswissenschaft, daß die logischen und wissenschaftstheoretischen Probleme historischer Rationalität hinsichtlich der Bedeutung allgemeiner Gesetze sowie ihrer Verifikation und Falsifikation die gleichen sind wie in den Naturwissenschaften 121 . Dieses nomologische Verfahren etablierte sich vor allem in den Sozialwissenschaften, deren Interesse an den Strukturen des gesellschaftlichen Lebens, an den Gesetzmäßigkeiten seiner Veränderung und den allgemeinen Bedingungen menschlichen Handelns damit noch stärker als bisher in Konkurrenz zur Geschichtswissenschaft trat122. „Die syste-

118 Vgl. dazu die von T h . W . A d o r n o herausgegebene Dokumentation „Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie", Darmstadt 1969, 9. Aufl. 1981. Vgl. ebenfalls E. Topitsch, Logik der Sozialwissenschaften, 10. Aufl. 1980 Meisenheim (Neue Wissenschaftliche Bibliothek Bd. 6, Soziologie). H a n s Albert, Theorien in den Sozialwissenschaften. In: H . Albert (Hrsg.), T h e o r i e und Realität. Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften. Tübingen 1964, 2.unveränd. Auflage Tübingen 1972, S.6. 120 Vgl. H.Albert, Die Vielfalt der Sozialwissenschaften und die Frage nach ihrer Einheit. In: E.Topitsch, Logik der Sozialwissenschaften, S. 53-70; hier S.53. Vgl. auch ebd. S.61: „Wenn es eine verstehende M e t h o d e gibt, wie das im historischen Erkenntnisprogramm vorausgesetzt wird, dann gehört eine Hermeneutik . . . zu den Desiderata dieses Programms . . . Die Möglichkeit einer solchen Technologie setzt aber voraus, daß es in dem betreffenden Bereich entsprechende Gesetzmäßigkeiten gibt." 121 So K . G r ü n d e r , Perspektiven f ü r eine Theorie der Geschichtswissenschaft. In: Saeculum 22 (1971), S. 101-113; S. 104. 122 Die Auseinandersetzung zwischem den Kultur- und Wirtschaftstheoretiker Eberhard Gothein und dem politischen Historiker Dietrich Schäfer ist das früheste Beispiel in diesem Methodenstreit, wenngleich auch G. Oestreich mit Recht feststellt, „daß bereits vor der Gothein-Schäfer-Kontroverse ein auf die Sozialhistorie gerichtetes Gesicht der Geschichtswissenschaft an den deutschen Universitäten zu erkennen war" (G. Oestreich, Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialgeschichtlichen Forschung in Deutschland. In: H Z 208 (1969), S. 320-363; S.340). Gegenüber der von Gothein vertretenen generalisierenden Betrachtungsweise hielt Schäfer „am Persönlichkeitsprinzip der politischen Geschichtsschreibung fest. Kenntnis und Erkenntnis von Zuständen ließ er nur f ü r Ethnologen und Anthropologen, aber nicht f ü r den Historiker gelten" (ebd. S.339). Bereits hier werden „die Gegensatzpaare Zustand und Ereignis, generisches und Persönlichkeitsprinzip" formuliert (ebd. S. 329). Einen H ö h e p u n k t erreichte der Streit um die neue sozialwissenschaftliche M e t h o d e in der sogenannten Lamprecht-Kontroverse. „Lamprechts Ab-

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matischen Sozialwissenschaften sind", wie G. Schulz diesen Prozeß resümiert, „zu Konkurrenten und teilweise zu Gegnern des geschichtlichen Denkens geworden" 123 , so daß zuweilen sogar die Soziologie „als eine adaequate Form des Geschichtsbewußtseins der Gegenwart" 124 erscheinen konnte. Diese Entwicklung hat auf Seiten der Geschichtswissenschaft zu einem verstärkten Theorieproblem geführt, der in der bundesdeutschen Diskussion sowohl durch das Programm einer „erneuerten Historik", d. h. einer systematischen Wissenschaftslehre der Geschichte abgedeckt wird 125 , als auch durch eine an die Tradition der Geistesgeschichte an-

sieht war, die rational-kausale Methode in die Geschichtsforschung einzuführen, um die Geschichtswissenschaft in den Rang einer Wissenschaft entsprechend dem herrschenden naturwissenschaftlichen Wissenschaftsbegriff zu erheben" (ebd. S. 353 f.). Vgl. dazu auch Κ. H. Metz, Historisches „Verstehen" und Sozialpsychologie. Karl Lamprecht und seine „Wissenschaft der Geschichte". In: Saeculum 33 (1982), S. 95-104). Seit 1891 war K. Lamprechts vielbändige „Deutsche Geschichte" erschienen, die eine strukturelle Darstellung von Kulturstufen und ihren Entwicklungsreihen bot. Mit der Suche der Sozialwissenschaften nach einer allgemeinen historischen Begriffsbildung, nach Formulierung von Gesetzmäßigkeiten, die dem naturwissenschaftlichen Ideal kausaler Erklärung entsprachen, wurde das an den sittlichen Entscheidungen und freien Handlungen orientierte idealistische Erkenntnisideal der traditionellen Geschichtswissenschaft in Frage gestellt. Vgl. zu Lamprecht jetzt neuerdings Luise Schorn-Schiitte, Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 22) Göttingen 1984. Einen weiteren Markierungspunkt in der Annäherung der Geschichtswissenschaft an die Sozialwissenschaft bildete die sog. Fischer-Kontroverse, ausgelöst durch das von F.Fischer 1961 veröffentlichte Buch „Griff nach der Weltmacht". Düsseldorf o. J. Vgl. dazu wie noch zu K. Lamprecht: G. G. Iggers, Vom Historismus zur „Historischen Sozialwissenschaft". Die bundesdeutsche Geschichtsschreibung seit der Fischer-Kontroverse. In: G. G. Iggers, Neue Geschichtswissenschaft. Ein internationaler Vergleich. Mit Beiträgen von N.Baker und Michael Frisch. Dt. München 1978, S.97-156. 123 G.Schulz, Bemerkungen zur Zeitgeschichte. In: Saeculum 21 (1970), S.287-311. Vgl. auch K. Gründer, aaO., S. 104. 124 Zitiert bei G.Schulz, aaO., S.288 aus: H.P.Bahrdt, Marxistisches Denken in der deutschen Arbeiterschaft? In: Die neue Gesellschaft 2 (1955/56), S.403f. 125 Der Begriff ist von J. Rüsen in die Debatte eingeführt worden: vgl. J. Rüsen, Für eine erneuerte Historik. Studien zur Theorie der Geschichtswissenschaft (Kultur und Gesellschaft Bd. 1) Stuttgart Bad Canstatt 1976. Ebenso: H.M.Baumgartner, J.Rüsen, Seminar: Theorie und Geschichte. Umrisse einer Historik. 2. Aufl. Frankfurt 1982. R.Kosellek, W. J. Mommsen, J. Rüsen, Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft. (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik Bd. 1) München 1977. K. G. Faber, Chr. Meier, Historische Prozesse (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik Bd. 2) München 1978. J. Kocka, Th. Nipperdey, Theorie und Erzählung in der Geschichte (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik Bd. 3) München. R.Kosellek, H. Lutz, J. Rüsen, Formen der Geschichtsschreibung (Theorie der Geschichtsschreibung. Beiträge zur Historik Bd. 4) München 1982. J. Rüsen, Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik Bd. 1: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983. Kritik am Programm einer erneuerten Historik übt U. Muhlack, Probleme einer erneuerten Historik. In: H Z 228 (1979), S. 335-364.

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knüpfenden Kulturgeschichte bzw., in einer hochspezialisierten Form, der Begriffsgeschichte 126 . In Frankreich entstand bereits 1929, mit der Gründung der Zeitschrift „Annales d'histoire économique et sociale", das Programm einer „nouvelle histoire"127 mit dem Ziel einer „histoire totale", d.h. der Geschichte als integraler Humanwissenschaft 128 . Inzwischen haben die Arbeiten der Annales-Historiker zunehmend auch in Deutschland an Einfluß gewonnen 129 .

126 Vgl. dazu in Auswahl die folgende Literatur: P. H. Hutton, The History of Mentalities: The New Map of Cultural History: In: History and Theory 20 (1981), S.237-259. Th. Nipperdey, Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft. In: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Ges. Aufs, zur neueren Geschichte (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 18) Göttingen 1976, S.33-58. J.Ritter, Leitgedanken und Grundsätze des „Historischen Wörterbuches der Philosophie". In: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 75-80. Als wesentlicher Grundsatz wird von Ritter genannt, „in monographischen begriffsgeschichtlichen Untersuchungen die geschichtliche Bewegung des philosophischen Gedankens als für die Philosophie konstitutiv zu begreifen und dies so, statt ihre geschichtliche Erscheinung im Sinne des Historismus zu relativieren, als ein Ganzes zu nehmen, daß geschichtlich in seiner Geschichte Wirklichkeit hat" (ebd. S.79). Zur Bedeutung der Geschichte für die Wissenschaft insgesamt auch die Bemerkungen E. Ströckers, Geschichte als Herausforderung. Marginalien zur jüngsten wissenschaftstheoretischen Kontroverse. In: Neue Hefte für Philosophie 6/7 (1974), S. 27-66). R. Kosellek, Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit. In: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 81-99: „... die Begriffsgeschichte hat die Konvergenz von Begriff und Geschichte zum Thema. Diese Konvergenz wird freilich nicht als Identität von Begriff und Geschichte verstanden oder dahingehend verflacht. Vielmehr besteht zwischen beiden eine Spannung, die bald aufgehoben wird, bald wieder aufbricht, bald unlösbar erscheint" (ebd. S.85). H.G.Gadamer, Begriffsgeschichte als Philosophie. In: Archiv für Begriffsgeschichte 14 (1970), S. 137-151. H.Lübbe, Begriffsgeschichte als dialektischer Prozeß. In: Archiv für Begriffsgeschichte 19 (1975), S. 8-15. I. Veit-Brause, A Note on Begriffsgeschichte. In: History and Theory 20 (1981), S.61-67. 127 Vgl. dazu R.Deutsch, „La nouvelle histoire" - Die Geschichte eines Erfolges. In: H Z 233 (1981), S. 109-129. G.G.Iggers bemerkt allerdings: „Die eigentliche Geschichte der Annales beginnt nicht mit der Gründung der Zeitschrift „Annales d'histoire économique et sociale", sondern schon 1900 mit der Gründung der „Revue de synthèse historique" durch Henri Berr, an der Lucien Fèbvre schon 1907, Marc Bloch 1912 enge Mitarbeiter wurden". (G.G.Iggers, Die Tradition der Annales in Frankreich. Geschichte als integrale Humanwissenschaft. In: Ders., Neue Geschichtswissenschaft, S. 55-96; S.63). M. Wüstemeyer, Die „Annales": Grundsätze und Methoden ihrer „neuen Geschichtswissenschaft". In: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 54 (1967), S. 1-45. 128 Siehe G.G.Iggers, Die Tradition der Annales in Frankreich. Geschichte als integrale Humanwissenschaft, aaO. 129 Vgl. Th. Nipperdey, Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft, aaO. In merklicher Affinität zu der von F. Braudel vorgenommenen Unterscheidung verschiedener geschichtlicher Zeiten, einer fast stationären geographischen Zeit, der „langen Dauer", sowie einer mittleren und einer kurzen Zeitdauer, befindet sich R. Koselleks Theorie der Geschichte als einer Theorie temporaler Strukturen, wenngleich dort auch in transzendentaler Abwandlung; vgl. R. Kosellek, Wozu noch Historie, aaO. Ebenso R. Kosellek, Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen. In: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt 1979, S. 130-143. Ders., Darstel-

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Zeigen sich in diesem ganzen Prozeß der Rekonstruktion der G r u n d lagen historisch-wissenschaftlicher Erkenntnisarbeit auch gewisse Überschneidungen, die die traditionelle Antithese zwischen Geschichtswissenschaft und Naturwissenschaft bzw. einer sich an den naturwissenschaftlichen Methoden orientierenden Soziologie hinter sich lassen 130 , so bleibt neben der methodologischen Gleichschaltung aller Einzelwissenschaften durch das Wissenschaftsideal des Kritischen Rationalismus gleichwohl als prinzipielle Alternative jene Form der Rationalität historischen Wissens möglich, die in der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit ihres Gegenstandes - sowohl als Geschichte selbst wie auch des Wissens von ihr - , sich begründet. In bewußter Ablehnung des Kritischen Rationalismus sucht eine solche Theorie der Geschichte und des geschichtlichen Wissens ihren O r t „zwischen Geschichtswissenschaft und Philosophie" 131 : sie ist mit Rüsens Worten „eine Theorie der Geschichtswissenschaft, die die Vernunftbestimmungen des historischen Denkens in den Fundamenten der Geschichtswissenschaft selber aufdeckt" 1 3 2 , insofern nämlich das von der Geschichtswissenschaft intendierte historische Wissen eine Vernunftleistung im Umgang mit der Geschichte selbst als einer lebensweltlichen Erfahrung der zeitlichen Veränderung der Welt zu sein beansprucht. „Damit wird", wie Rüsen schreibt, „die Frage nach den Grundlagen der Geschichtswissenschaft belastet mit der alten Frage nach der Vernunft in der Geschichte. Ich glaube, daß diese Belastung unvermeidlich ist, weil die Frage nach der Vernunft in der Geschichte immer gestellt werden muß oder zumindest implizit gestellt ist, wenn Grundprobleme des historischen Denkens aufgeworfen werden. Mit dieser Frage geht es schlicht darum, ob die Geschichte einen erkennbaren Sinn hat, und es läßt sich kein Denken über die Geschichte denken (auch nicht das der Geschichtswissenschaft), das nicht von der Sinnfrage motiviert wäre" 133 . Eben aus diesem Grunde wendet sich Rüsen gegen eine melung, Ereignis und Struktur. In: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik historischer Zeiten, S. 1 4 4 - 1 5 7 . 130 R. Kosellek, über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft. In: W. C o n z e (Hrsg.), T h e o r i e der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, S. 10-28, bes. S.10. 151 H . M . B a u m g a r t n e r , J.Rüsen, Seminar: Geschichte und Theorie, S. 8. 132 J. Rüsen, Historische Vernunft, S.9. 133 Ebd. S . 7 f . Zu Recht stellt Rüsen die Frage: „Kann die Geschichtswissenschaft sich für vernünftig halten und sich zugleich für die Frage nach V e r n u n f t in der Geschichte für unzuständig erklären? Dies geht solange nicht, solange die Vernunftfrage eine Wissenschaftsfrage ist. W e n n die Geschichtswissenschaft beansprucht, Vernunftinstanz im U m gang mit der Geschichte zu sein (und von diesem Anspruch lebt sie), dann kann sie die Vernunftfrage nicht einfach abweisen ..." (ebd. S. 8). Vgl. auch J.Simon, D a s N e u e in der Geschichte, S.69: „Geschichtsphilosophie steht auch in der gegenwärtigen D i s k u s s i o n unter der Frage nach dem Sinn der Geschichte, wie immer die Antwort ausfallen mag."

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thodologische Rekonstruktion der Geschichtswissenschaft nach den Gesichtspunkten des Kritischen Rationalismus 134 : „Klammert man die Geschichtsphilosophie aus dem Bereich der Historik aus, um zu einer den heutigen Wissenschaftsstandards entsprechenden Methodologie der Geschichtswissenschaft zu kommen, dann", so Rüsen, „sprechen die Resultate für sich"135; die methodologische Indifferenz des Kritischen Rationalismus gegenüber dem besonderen zeitlichen Status historischer Sachverhalte führt zur „Enthistorisierung der Geschichtswissenschaft" 136 , weil sie die Geschichte als lebensweltlichen und damit prämethodischen Konstitutionsbereich von Geschichtswissenschaft verdrängt. Die folgenden Ausführungen sollen daher Gelegenheit geben, sowohl die methodologische Rekonstruktion historischer Rationalität wie auch diejenige der Geschichtstheorie unter dem Aspekt ihrer Wahrnehmung der möglichen Besonderheiten geschichtlicher Sachverhalte zu erörtern. Zugleich sollen dabei, wie bereits angekündigt, die Begriffe der Universalität und Kontingenz als methodologisch praktikable Kriterien historischer Erkenntnis präzisiert werden. Das mag insofern einleuchten, als andeutungsweise sowohl vom Gesichtspunkt der Universalität im Sinne der methodischen Forderung nach Kohärenz der unter dem Begriff Geschichte zusammengefaßten Sachverhalte als auch der Kontingenz im Sinne der Besonderheit geschichtlichen Sachverhalte bereits die Rede war. Im Rahmen dieser Arbeit kann eine derartige Erörterung freilich nur mit Einschränkungen geschehen. In erster Linie geht es um solche Gesichtspunkte, die das Thema der Geschichte begrifflich so präzisieren, daß, gegenüber allen Vorbehalten philosophischer Spekulation 137 , die Frage nach der Einheit und dem Sinn von Geschichte als Implikation des Geschichtsbegriffs selber diskutabel wird. 2.2.1 Die methodologische

Rekonstruktion

historischer

Rationalität

Das methodologische Konzept einer deduktiven Erkenntnislogik, deren Erkenntnisinteresse sich lediglich auf die Geltung allgemeiner Theorien bzw. Gesetzesformulierungen konzentriert, welche sie anhand der aus diesen Theorien auf logisch-deduktivem Wege gewonne154 Vgl. dazu J. Rüsen, Kritische Argumente zur Logik der historischen Erkenntnis. In: Ders., Für eine erneuerte Historik. Studien zur T h e o r i e der Geschichtswissenschaft, S. 9 2 - 1 6 4 ; bes. S. 1 0 0 - 1 0 4 . 135 J. Rüsen, Kritische Argumente zur Logik der historischen Erkenntnis, S. 104. Ebd. S. 101. 117 D i e s e Vorbehalte richten sich vornehmlich gegen eine „falsche Substantialität" des Begriffs der Geschichte als eines universalen Sinnzusammenhangs. ( H . M . B a u m g a r t n e r , J. Rüsen, Seminar: Theorie der Geschichte, S. 8).

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nen Folgerungen überprüft, ist, nach dem Vorgang von W. Carnap, am erfolgreichsten von K. R. Popper in seinem 1934 erschienenen Buch über die „Logik der Forschung" vorgestellt worden 138 . Eine Theorie bzw. ein allgemeines Gesetz hat in diesem Erkenntnismodell nur solange Geltung, wie die aus ihr gezogenen Folgerungen empirischer Uberprüfung standhalten. Um einer empirisch-wissenschaftlichen Prüfung zugänglich zu sein, müssen die auf logisch-deduktivem Wege gewonnenen Ergebnisse an der Erfahrung scheitern können, d. h. sie müssen prinzipiell falsifizierbar sein. Der Erkenntnisprozeß besteht mithin darin, Erkenntnisproblme durch die Bildung allgemeiner Theorien zu lösen, deren ständige Falsifizierung durch die Uberprüfung der aus ihnen gezogenen Folgerungen den Erkenntnisprozeß vorantreibt. Solche Theorien haben die Aufgabe, „Ereignisse zu erklären und sie vorherzusagen"139. Bereits aus dieser Analogie von Erklärung und Vorhersage ergibt sich jedoch die Schwierigkeit, allgemeine Gesetzesformulierungen auf die Geschichte anzuwenden. Angesichts derjenigen Theorien, welche auf diese Weise versuchen, das Ganze der Geschichte zu verstehen, brauche man nur, wie H.Lübbe ironisch bemerkt, „abzuwarten, ob sie denn tatsächlich in der Lage sind, über die Z u k u n f t . . . genau dasjenige vorauszusagen, was dann diese spätere Geschichtsschreibung im wesentlichen bestätigen wird. Die Absurdität der Behauptung, im Besitz einer „Theorie des Ganzen" zu sein, die dergleichen leisten könnte, käme faktisch auf diese Weise ... heraus" 140 . Während daher noch K. R. Popper die Aufstellung solcher allgemeinen Gesetzesformulierungen lediglich als Voraussetzung der historischen Wissenschaft behauptete und nicht zu deren eigener Forschungspraxis zählte 141 , machte C. G. Hempel das deduktiv-nomologische Ver-

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K.R.Popper, Logik der Forschung. Tübingen 1966. K.R.Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd.2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. Dt. 6. Aufl. München 1980; vgl. auch ebd. S.324f. 140 H. Lübbe, Wieso es keine Theorie der Geschichte gibt. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 4 (1979), S. 1-16; 11 f. 141 Die historische Wissenschaft verwendet zwar allgemeine Gesetze, sie stelle aber keine historischen Gesetze auf, da sie an der „Erklärung eines spezifischen oder besonderen Ereignisses interessiert ist" (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2, S.325): „Wenn wir ein solches Ereignis, z. B. einen bestimmten Unfall, erklären wollen, dann nehmen wir gewöhnlich stillschweigend eine ganz Menge ziemlich trivialer Gesetze an (wie z. B., daß ein Knochen unter bestimmtem Druck bricht oder daß ein Kraftfahrzeug, das in bestimmter Weise mit einem menschlichen Körper kollidiert, auf ihn einen Druck ausüben wird, der hinreicht, um einen Knochen zu brechen usw.)" (ebd. S.325 f.). Das generalisierende Verfahren der Gesetzeswissenschaften gehöre demnach „einem anderen Interessengebiet an, und dies ist scharf vom Interesse an spezifischen Ereignissen und an ihrer kausalen Erklärung zu unterscheiden, worin die Aufgabe der Geschichte besteht" (ebd. S.326). Aus solchen Erwägungen hat Popper allerdings nur die dürftige Konse139

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fahren auch für die historische Forschungspraxis verbindlich 142 . Die Behauptung nämlich, daß ein bestimmtes Ereignis mit einem anderen Ereignis in einem Zusammenhang steht, könne nur aufrechterhalten werden, wenn ein allgemeines Gesetz angegeben werden kann, das zwei Ereignisse hinsichtlich ihrer Anfangsbedingungen verbindet: „In every case where an event of a specified kind C occurs at a certain place and time, an event of a specified kind E will occur at a place and time which is related in a specified manner to the place and time of the occurence of the first event." 143 Die historische Erklärung versucht m. a. W. zu zeigen, „that the event in question ... was to be expected in view of certain antecedent or simultaneaous conditions" 144 . Hempel räumte allerdings ein, daß die historischen Erklärungen keine vollständig-deduktiven Erklärungen seien, weil sie aus gewissen praktischen Gründen unvollständig bleiben. Denn nicht alle allgemeinen Gesetze bzw. universellen Hypothesen, die in einer historischen Erklärung verwendet werden, können hinsichtlich der Anfangsbedingungen der Ereignisse, auf die sie sich beziehen, präzise formuliert werden: „If a particular revolution is explained by reference to the growing discontent of a large part of a population with certain prevailing conditions, it is clear that general regularity is assumed in this explanation, but we are hardly in a position to state what extend and what specific form the discontent has to assume, and what the environmental conditions have to be, to bring about a revolution." 145 Diese Eigenart der historischen Erklärung hat Hempel in seinem 1962 erschienenen Aufsatz „Explanations in Science and in History" 146 quenz gezogen, daß es keine wirkliche Erkenntnis der Geschichte, geschweige denn eines Sinnes in ihr gibt, sondern lediglich historische Interpretationen, die den Bedürfnissen entgegenkommen, die sich aus den praktischen Problemen und den Entscheidungen ergeben, denen wir gegenüberstehen. (Vgl. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2, S. 333). Die Tatsachen der Geschichte „als solche haben keinen Sinn; sie können einen Sinn nur durch unsere Entscheidungen erhalten" (ebd. S.345). Die Argumentation, daß die Historie zwar Theorien benötige, selbst aber keine liefere, vertritt auch H. Lübbe, Wieso es keine Theorie der Geschichte gibt, aaO., S. 6. 142 C. G. Hempel, The Function of General Laws in History. In: Journal of Philosophy 39 (1942), S. 35-48. 143 C.G. Hempel, The Function of General Laws, S. 35. 144 Ebd. S. 39. 145 Ebd. S.41. Vgl. dazu auch die Bemerkung Th.Nipperdeys, Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft, aaO., S.49: „Es genügt nicht, sich mit allgemeinen mehr oder minder ausdrücklichen Annahmen über menschliches Verhalten und Handeln zu begnügen - daß z. B. ökonomische N o t eine politische Radikalisierung bewirke, während sie doch in religiösen Zeiten religiöse Akte z. B. eine Wallfahrt zur Folge hatte; es genügt nicht, empirisch gesicherte Verhaltensmodelle aus der Gegenwart auf die Vergangenheit zu übertragen, also die Entstehung des Urchristentums aus der enttäuschten Erwartung der Wiederkunft nach Analogie des Verhaltens von Autokäufern zu erklären. 146

C.G.Hempel, Explanation in Science and in History, aaO.

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noch stärker betont und präziser zu fassen versucht. Hempel sprach nun von zwei Basistypen wissenschaftlicher Erklärung, der deduktivnomologischen und der probabilistisch-statischen Erklärung. Während deduktiv-nomologisch formulierte Gesetze aussagen, „daß in allen Fällen, in denen bestimmte Bedingungen realisiert sind, ein Ereignis bestimmter Art eintreten wird", so sind probabilistisch-statistisch f o r m u lierte Gesetze „Behauptungen derart, daß bei Vorliegen bestimmter Bedingungen gewisse Ereignisse mit statistischer Wahrscheinlichkeit eintreten werden" 1 4 7 . Die probabilistisch-statistischen Erklärungen der Geschichtswissenschaft sind also durchaus nomologisch „in dem Sinne, daß sie allgemeine Gesetze voraussetzen" 148 . Aber weil diese Gesetze statistisch statt strikt allgemein sind, sind die erklärenden Argumente eher induktiver als deduktiver Natur. Ein induktives Argument dieser Art erklärt eine bestimmte Erscheinung dieser Art dadurch, daß sie zeigt, daß ihr Auftreten im Hinblick auf bestimmte singuläre Ereignisse und bestimmte statistische Gesetze mit hoher logischer und induktiver Wahrscheinlichkeit zu erwarten war." 149 „Eine probabilistische Erklärung ist daher eine solche des Grades, während deduktiv-nomologische Erklärungen nur ein entweder-oder zulassen." 150 Das heißt m.a.W.: „Die N a c h p r ü f b a r k e i t . . . ist in vielen Fällen gegeben, sie ist bloß eingeschränkt im Verhältnis zu der viel weiter gehenden Nachprüfbarkeit von Hypothesen, Modellen und Theorien" 1 5 1 , wie sie die reinen Gesetzeswissenschaften aufstellen. Die modifizierte Behauptung des nomologischen Charakters historischer Erklärungen läßt aber das von Hempel selbst aufgeworfene Problem der Anfangsbedingungen, unter denen die kausale Erklärung von Ereignissen erfolgt, durchaus noch ungelöst. Diese Anfangsbedingungen können, worauf A. Donagan in seiner Kritik an Hempel hinweist, gerade nicht Bestandteil einer allgemeinen Gesetzesformulierung sein, weil die singulären Sätze, die die Anfangsbedingungen mit dem explanandum, also dem Ereignis, das erklärt werden soll, verknüpfen, selbst „weder ein .allgemeines Gesetz' (Popper) noch eine .allgemeine H y p o these' (Hempel)" 1 5 2 sind. Diese Aporie tritt stets dann zutage, wenn „diejenigen Faktoren, die einfach beschrieben (oder stillschweigend vorausgesetzt) anstatt erklärt werden" 153 , lediglich als „Hintergrundbedingungen" aufgefaßt werden, denen gegenüber erst das deduktiv-nomologische Argument den Zweck der Erklärung erreicht. T r o t z d e m will Hempel an der Erklärungsrelevanz dieser Hintergrundbedingun147

148 Ebd. S. 241. Ebd. S. 241. 150 Ebd. S. 243. Ebd. S. 243. 151 Ebd. S. 243. 152 G. Frey, Hermeneutische und hypothetisch-deduktive M e t h o d e . In: Zeitschrift f ü r allgemeine Wissenschaftstheorie 1 (1970), S. 24-40. 153 A. Donagan, Neue Überlegungen zur Popper-Hempel-Theorie, aaO., S. 185. 149

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gen festhalten, weil sie, wie Hempel meint, den Zweck der Erklärung beschreiben 154 . Offensichtlich kann dann aber das in einer Erklärung verwendete deduktiv-nomologische Argument nicht schon für sich eine adaequate Erklärung sein. Eine Erklärung wird „daraus nur unter Voraussetzung einer bestimmten Situation, in der der Hinweis auf ein Gesetz oder Gesetze, denen das nach Erklärung verlangende Ereignis subsumierbar ist, auf dessen Ursache führt"155. In diesem Sinne hat M. Mandelbaum „the establishment of the precise nature of these initial and boundary conditions" 156 als die eigentliche Aufgabe des Historikers bezeichnet. Das ist in der Tat dann gerechtfertigt, wenn die Besonderheit und Einmaligkeit der temporalen Perspektive, welche ein Ereignis im Prozeß des Geschehens als dieses Ereignis charakterisiert, für das Ereignis selber konstitutiv ist. In dem Fall nämlich erklärt ein deduktivnomologisches Argument „too much and too little"157: Es erklärt aufgrund seiner Allgemeinheit eine Klasse von Ereignissen, vermag aber gerade deshalb ein durch die Besonderheit der Situation charakterisiertes Ereignis nicht zu erklären. „The difficulty here is that historical events unlike events studies in the physical sciences are not homogeneous members of a class covered by a general description."158 Ein deduktiv-nomologisches Argument kann m.a.W. im Zusammenhang einer gewünschten Erklärung durchaus korrekt und zutreffend sein, ohne damit aber bereits das durch die Einmaligkeit der Situation konstituierte Ereignis adaequat erklärt zu haben 159 . In diesem Sinn unter154

C . G . Hempel, Erklärungen, S.253. W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie. Frankfurt 1973, S. 142. 156 M. Mandelbaum, Historical Explanation: T h e problem of „Covering Laws". In: H i story and T h e o r y 1 (1961), S.229-242; hier S.237. Vgl. auch M . M a n d e l b a u m , Causal Analysis in History. In: Journal of the History of Ideas 3 (1942), S. 30-50. Auch K . R . Popper spricht davon, daß eine historische Erklärung die „Logik der Situation" berücksichtigen müsse ( O f f e n e Gesellschaft II, S.327). Darunter versteht Popper etwa „die persönlichein) Interessen, Ziele und andere Situationsfaktoren (wie etwa die der betreffenden Person zugängliche(n) Information)" (ebd. S.328). Mit der Berücksichtigung solcher Faktoren nimmt nach Popper die historische Erklärung allerdings „stillschweigend als eine Art erster Annäherung das trivial und allgemeine Gesetz an, daß geistig normale Menschen in der Regel mehr oder weniger vernünftig handeln" (ebd. S.328). Dieses letzte Argument Poppers d ü r f t e freilich nicht richtig sein, denn wenn nach der Logik der besonderen Situation gefragt wird, wird ja nach der Besonderheit der Situation gefragt und nicht nach abstrakt einsehbaren Vernunftsannahmen menschlichen Handelns. 155

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A . C . D a n t o , O n Explanation in History. In: Philosophy of Science 23 (12956), S. 15-30; S.29. 158 D . H . P o r t e r , History as Process. In: History and T h e o r y 14 (1975), S.297-313; S. 299. 159 Vgl. auch J.Topolsky, Conditions of T r u t h of Historical Narratives. In: History and T h e o r y 20 (1981), S.47-60; S.51: »... we find that (1) the truth of all the component statements of an historical narrative (story) does not guarantee the truth of the whole; (2) and historical narrative (story) may remain true even if some of its component statements are false."

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scheidet J. Passmore zwischen einsichtigen und adaequaten Erklärungen 160 . Einsichtige Erklärungen sind Erklärungen , die auf Bedingungen zielen, welche zuweilen oder sogar immer ein bestimmtes Ereignis hervorrufen; eine adaequate Erklärung dagegen zielt genau auf diejenigen Bedingungen, die hinreichend sind, unter besonderen Umständen ein bestimmtes Ereignis zu verursachen 161 . Stellt man auf diese Weise die (zeitlich bestimmte) Besonderheit und Einmaligkeit von Ereignissen für die Struktur historischer Erklärungen in Rechnung, dann wird in der Tat fraglich, welche Erklärungsleistungen allgemeine Gesetzesformulierungen in der Geschichtswissenschaft haben können. Oder anders gesagt: „wenn die ,covering-law'-These richtig ist, dann ist es bis heute keinem Historiker gelungen, eine echte historische Erklärung vorzulegen" 1 6 2 . Denn in ihr hat die temporale Kontingenz eines Ereignisses ausdrücklich „keinen Einfluß auf die Eigenart des Ereignisses. Das, was das Ereignis erklären wird, hätte es vermutlich ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt des Geschehens erklärt, und wenn Ereignisse ähnlicher Art in unserer Zeit vorkommen, werden ähnliche Erklärungen notwendig sein." 163 Offensichtlich ist es aber gerade dieser Gedanke der temporalen Kontingenz historischer Ereignisse, welcher geeignet ist, die Bedeutung allgemeiner Gesetze in den historischen Erklärungen zu hinterfragen. J a es fragt sich sogar, ob der Kontingenzgedanke auch aus dem quasinaturwissenschaftlichen Verfahren der Bildung allgemeiner Gesetze überhaupt ausgeklammert werden kann. Nicht nur, daß „schon die Form der Gesetzlichkeit - die hypothetische Relation ,wenn-dann' 160 Vgl. J. P a s s m o r e , Explanation in Every D a y Life, in Science and in H i s t o r y . In: H i story and T h e o r y 2 (1962), S. 105-123. Passmore, a a O . , S. 112. 162 A . D o n a g a n , N e u e Ü b e r l e g u n g e n . . . , a a O . , S . 1 8 9 . Vgl. auch das z u s t i m m e n d e Zitat bei H.-J. K ü h n e , Z u r Existenz spezifisch-historischer G e s e t z e . In: D e u t s c h e Zeitschrift f ü r Philosophie 5 (1978), S. 8 8 0 - 8 9 3 ; S . 8 8 1 : „Aus keinem gesellschaftlichen G e s e t z kann man auf deduktivem W e g e auch nur einen einzigen F a k t der lebendigen, konkreten G e schichte gewinnen." ( D e r hier zitierte S a t z als Zitat aus A . W . G u l y g a , Estetika istorii. M o s k w a 1974, S . 2 1 ) . Diese A b l e h n u n g historischer G e s e t z e durch K ü h n e ist auch deshalb erwähnenswert, weil sie hier von marxistischer Seite vorgetragen wird. Freilich betont Kühne, d a ß der Historiker zur E r k l ä r u n g geschichtlicher P r o z e s s e historische G e setze benötigt. A b e r solche G e s e t z e dienen nicht der D e d u k t i o n ; vielmehr haben sie „eine wichtige heuristische Funktion bei der komplexen E r f a s s u n g des Geschichtsprozesses und seiner einzelnen S t a d i e n " (Kühne, aaO., S . 8 8 4 ) . W a s K ü h n e allerdings als spezifischhistorische G e s e t z e meint anführen zu können, zeigt freilich, d a ß auf den Begriff des „historischen G e s e t z e s " besser verzichtet werden sollte. „ E i n spezifisch-historisches G e s e t z " , so schreibt K ü h n e , „besteht z . B . darin, daß alle Völker, in G e s e l l s c h a f t s z u s t ä n d e n bis hin zur feudalen G e s e l l s c h a f t s f o r m a t i o n , die als erste in ihrer R e g i o n die Eisentechnologie z u m Zwecke der Fertigung von Arbeitsmitteln und W a f f e n entwickelten, eine H e g e m o n i e über die Bewohner umliegender L a n d s c h a f t e n erreichen konnten . . . " 163

124

Goldstein, D a t e n S . 2 7 3 .

auf ein relativ zu ihr kontingentes Anfangsglied (,wenn') bezogen" ist; „auch der Inhalt der Gesetzesaussagen verweist in dem Maße, wie er durch die Unumkehrbarkeit der Zeit und durch eine statistische Betrachtung der Ereignisse bestimmt ist, auf die Kontingenz des Naturgeschehens, und zwar mindestens im zweiten Falle auch auf seine Geschichtlichkeit" 164 . Insofern verweist tatsächlich das deduktiv-nomologische Verfahren selber „auf Phänomene, von denen es zugleich aus methodischen Gründen immer wieder abstrahiert"165; gemeint ist hier die Kontingenz von Ereignissen, auf deren konstitutive Bedeutung sowohl für die Beschreibung von Ereignissen wie auch für die Rationalität historischer Erklärungen daher noch näher einzugehen ist166. Allerdings kann dabei nicht im einzelnen die philosophische Bedeutung von Kontingenz als Nicht-Notwendigkeit endlicher Existenz erörtert werden, obgleich diese Bestimmung gerade für die theologische Argumentation nach wir vor unverzichtbar ist. So hat erst jüngst J. Moltmann in seiner Schöpfungstheologie die Kontingenz der von Gott geschaffenen Welt betont. „Natur als Schöpfung Gottes zu verstehen, bedeutet", wie Moltmann schreibt, „sie weder für göttlich noch für dämonisch zu halten, sondern als ,Welt' aufzufassen. Ist diese Welt von Gott geschaffen, dann ist sie nicht notwendig da, sondern kontingent. Kontingent ist ihr Dasein und alles, was in ihr geschieht. ... Die rationale Ordnung, in der

164 W. Pannenberg, Kontingenz und Naturgesetz. In: Α. M . K. Müller/W. Pannenberg, Erwägungen zu einer Theologie der Natur, Gütersloh 1970, S. 33-80; beide Zitate S. 57. Einen geschichtlichen Charakter der Naturwissenschaft hat auch R. Kosellek in dem hypothetischen G r u n d z u g ihrer Aussagen gesehen. (Vgl. R. Kosellek, Uber die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, aaO., S. 10). 165 W. Pannenberg, Kontingenz und Naturgesetz, aaO., S. 57. Es stellt sich dann freilich immer noch die Frage, wie „von der Kontingenz des Geschehens her sein Zusammenhang, vor allem seine Gesetzlichkeit sich verstehen lasse" (W. Pannenberg, Kontingenz und Naturgesetz, aaO., S. 57). Dabei handle es sich jedoch nicht mehr um eine Frage, deren Beantwortung selber noch einmal unter das deduktiv-nomologische Verfahren falle. 166 Diese Ausführungen zum Gedanken der Kontingenz von Ereignissen beschränken sich hier zwar auf die historische Fragestellung unseres Themas; dennoch werden damit Aspekte des Ereignisbegriffs berührt, die auch f ü r die naturwissenschaftliche Fragestellung gelten. Vgl. auch M . Mandelbaum, Causal Analysis in History, aaO., S. 32: „Events in nature are likewise in a sense unique: the fall of a certain apple f r o m a tree in my yard happend only once and will not be repeated." Ebenso haben wir beim Anblick verbeulter Autos zwar immer eine allgemeine „Vorstellung davon, welcher Art das Ereignis sein kann, das dem Auto .zugestoßen' sein muß, so daß es jetzt eingebeult ist" (A. C. D a n t o , Analytische Philosophie der Geschichte [Übersetzt von J.Behrens] Frankfurt 1980; S. 388). Beulen in Autos sind daher gewissermaßen „kausal homogen" (ebd.) und es lassen sich allgemeine Gesetze angeben, um deren Zustandekommen erklären zu können. D e n noch sind die Umstände, die nun tatsächlich zu einem Unfall geführt haben, jeweils sehr verschiedener und komplexer N a t u r . Die Unfallforschung beschäftigt sich daher ja auch nicht mit der Frage, wie ein Auto eine Beule bekommen kann, sondern mit den U m s t ä n den, unter denen es zu einem Unfall tatsächlich kommt (dabei stellt sich dann heraus, d a ß nicht jede Beule der anderen gleicht).

125

und durch die wir das weltliche Geschehen auffassen und erkennen, ist darum selbst kontingent, zeitlich und veränderlich"167. Die nachstehenden Überlegungen beschränken sich auf den Kontext historischer Urteilsbildung. Allerdings scheint gerade hier der Kontingenzgedanke am problematischsten zu sein, weil er die Rationalität historischer Urteilsbildung einzuschränken droht. Kontingent ist das Hier und Jetzt, von dem schon Aristoteles sagte, daß es nicht erklärbar ist168. Die wesentlich auf das unveränderte Sein der Dinge gerichtete Erkenntnistätigkeit schließt daher die Aufeinanderfolge der endlichen, raum-zeitlichen Seinszustände aus dem Bereich der Erkenntnis aus169. In diesem Sinne ist sogar noch im Programm der hypothetisch-deduktiven Methode von der „Tatsache eines ... kontingenten Restes" die Rede, der „in allen Deutungen und Erklärungen ... als unverstehbar, undeutbar und unerklärbar übrig bleiben muß"170. Eine historische Erklärung hätte demnach von der Kontingenz des Geschehens zu abstrahieren. Verfehlt aber eine derartige Abstraktion nicht den Sinn historischer Erklärung und Beschreibung, insofern sie gerade die Veränderungsprozesse und die Bewegung im Geschehen zu ihrem Gegenstand haben171? Oder ist Kontingenz nicht vielmehr ein konstitutives Moment historischer Veränderungsprozesse und damit für deren Erkenntnis mit in Rechnung zu stellen? In diesem Sinne ist die Funktion des Kontingenzgedankens für die Erkenntnis historischer Prozesse erst kürzlich von A. Demandt untersucht worden. Dabei versteht Demandt Kontingenz als Alternativität 167

J. Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre. M ü n c h e n

1985. 168

G.Frey, Hermeneutische und hypothetisch-deduktive Methode, aaO., S.32. Im Schatten dieses aristotelischen Wissenschaftsbegriffs ist der Wissenschaftscharakter der Historia, die sich ja gerade auf das Konkrete und Individuelle richtet, stets problematisch gewesen. Vgl. L. Boehm, Der wissenschaftstheoretische O r t der historia im f r ü h e n Mittelalter, aaO. „Allerdings ergibt sich", wie L. Boehm schreibt, „gegenüber dem aristotelischen Wissenschaftsbegriff eine gewisse Legitimation der Geschichte als wissenschaftliche Erkenntnisweise aus dem christlichen Denken, näherhin aus dem von T h o m a s wie einst von Augustinus betonten Sachverhalt, daß „impossibile est non esse quod factum est" - oder, mit den Worten Augustinus, „quia quae transierunt, nec infecta fieri possunt, in ordine temproum habenda sunt, quorum est conditor et administrator Deus". T r o t z der begrenzten Erkenntnisgewißheit trägt damit auch das historische O b j e k t eine beschränkte intelligible Wesensnotwendigkeit, insofern der O r d o temporum als eine die willkürlichen, kontingenten Zufälligkeiten ausschließende einheitliche und teleologische Bewegung begriffen wird, dessen Faktenreihe unzerstörbaren Existenzcharakter hat" (ebd. S.668). 169

170

G.Frey, aaO., S.32. Vgl. A . C . D a n t o , Analytische Philosophie, S.371: man hat, so schreibt Danto, „trotz mancherlei Bemerkungen in Auseinandersetzungen über die Funktion von Erklärungen in der Geschichtswissenschaft und anderswo, einen Sachverhalt nicht hinreichend berücksichtigt, und zwar den Umstand, daß das explanandum nicht einfach ein Ereignis beschreibt - etwas, das geschieht - , sondern eine Veränderung". 171

126

von Möglichkeiten, unter denen das faktisch Geschehene nur eine von vielen, mithin selber kontingent ist172. Kontingent ist also dasjenige, was auch anders hätte kommen können. Die Frage „was wäre geschehen, wenn ... ?" ist nicht nur ein müßiges Spiel der Phantasie. Sie hilft vielmehr die offenen Entscheidungssituationen des geschichtlichen Prozesses zu entdecken; denn die Bewegung der Geschichte erkennen wir nur, „indem wir jene Augenblicke betrachten, in denen sich etwas entscheidet" 173 . Der Historiker blickt zwar auf das Vergangene in seiner irreversiblen Faktizität zurück; aber „alle geschichtliche Vergangenheit war einmal menschliche Zukunft" 174 . Daher „müssen wir die einzelnen Fakten auch im ungeborenen Zustand betrachten, als bloßen Plan, als pure Möglichkeit" 175 . Es stellt sich dann heraus, daß die von den damals Lebenden in Betracht gezogenen Möglichkeiten das Arsenal dessen, was hätte kommen können, bei weitem nicht ausschöpfen. „Spätere Beobachter entdecken weitere denkbare Konsequenzen. ... Auch sie müssen in unser Urteil eingehen." 176 Denn erst auf dem Hintergrund alternativer Möglichkeiten läßt sich die Bedeutung des faktisch Geschehenen beurteilen. „Die Ereignisse, die eingetreten sind", so schreibt Demandi, „gewinnen ihr Profil erst vor dem Hintergrund jener, die andernfalls zu erwarten gewesen wären." 177 Das heißt für die Geschichtswissenschaft: „Wenn wir ungeschehene Möglichkeiten nicht konstruieren dürfen, können wir geschichtliche Wirklichkeit nicht rekonstruieren. Das Nachdenken über Alternativen ist ein unentbehrliches Geschäft der Geschichtswissenschaft." 178 Natürlich stellt sich die Frage, nach welchen Gesichtspunkten die Konstruktion von Alternativen möglich und sinnvoll ist. Sie würde für den historischen Erkenntnisprozeß wenig austragen und wäre nicht selten unglaubwürdig, wenn sie nur der Intuition oder der ungebundenen Phantasie des Historikers entspringen würde. „Ernstzunehmende Alternativen brauchen", wie Demandi daher fordert, „Anhaltspunkte, die im Geschehen selbst aufgewiesen werden müssen" 179 . Das heißt: „Die Begründung alternativer Möglichkeiten und die Abschätzung der ihnen innewohnenden Wahrscheinlichkeit muß ihren Ausgang nehmen von der Situationsanalyse." 180 Es stellt sich dann heraus, daß die Feststel172 A. Demandi, Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: was wäre geschehen, wenn ... ? Göttingen 1984. In diesem Sinne spricht auch H.-J.Kühne von einer „Alternativstruktur der Geschichte" (H.-J.Kühne, Zur Existenz spezifisch-historischer Gesetze, aaO., S.885). 173 Demandt, aaO., S. 16. „Entscheidungssituationen bilden", wie Demandt schreibt", die Gelenke der Geschichte" (ebd. S. 16). 174 175 Demandt, aaO., S. 17. Ebd. S. 17. 176 177 Ebd. S. 18. Ebd. S. 33. 178 17 Ebd. S. 33. ' Ebd. S.43. 180 Ebd. S.41.

127

lung der Kontingenz des Geschehens dessen Rationalität nicht aufhebt. Im Gegenteil: „Indem wir die Grenze des Planbaren zu ermitteln suchen, forschen wir nach dem Grad an Rationalität im Geschehen." 181 Der Kontingenzgedanke nivelliert nicht die Unterschiede im Geschehen. Problematisch an der Argumentation Demandts ist jedoch die Annahme, daß der Möglichkeitshorizont des Geschehens ein Horizont von Handlungsalternativen ist. Diese Annahme beruht auf zwei Voraussetzungen: Erstens ist Geschichte das Resultat menschlichen Handelns182; und zweitens ist dieses Handeln rational: „... jede rationale Handlung resultiert aus einem vorgreifenden Urteil über das, was passieren würde, wenn sie geschähe. Der Denkende simuliert ungeschehene Geschichte und entscheidet danach unter den ihm erkennbaren Alternativen." 183 Aber weder kann menschliches Handeln in uneingeschränktem Sinne als rational gelten, noch läßt sich der Kontingenzgedanke auf die Alternativität von Handlungsmöglichkeit reduzieren 184 . Dennoch bestätigen die Ausführungen Demandts, daß ohne den Gesichtspunkt der Kontingenz die Beschreibung des Geschehens allgemein und abstrakt bleibt. Freilich sind alle Beschreibungen von Ereignissen in gewissem Sinne allgemein. Das liegt an dem begrifflichen und definitorischen Gebrauch unserer Sprache und „natürlich bedarf auch die Geschichtswissenschaft regelrechter Definitionen" 185 . Aber „die Fälle, welche eine allgemeine Beschreibung unter sich faßt - ζ. B. „eine Revolution" - sind eindeutig und oftmals gewaltig voneinander verschieden. Wir denken nicht automatisch zugleich auch an jede andere Revolution, wenn wir an die 181 Ebd. S.26. Demandt macht dazu verschiedene methodische Vorschläge, die hier nicht im einzelnen diskutiert zu werden brauchen; vgl. nur S. 44 f.: „Plausible Alternativkonstruktionen beruhen darauf, daß wir die in bestimmten Situationen vorhandenen Kräfteverhältnisse verschieben. . . . Ein naheliegender Fall der hypothetischen Kräfteverschiebung ist die gedankliche Übertragung historischer Funktionen auf andere Menschen." Und S. 47: „Ungeschehene Geschichte läßt sich aus der Verschiebung von Kräfteverhältnissen konstruieren, sie läßt sich ebenso aus räumlicher und zeitlicher Umgruppierung des geschichtlichen Faktoren gewinnen." Insgesamt gilt jedoch: „Was überhaupt möglich ist, lehrt uns die Vorstellung; was in der Vergangenheit möglich war, zeigt uns die Erfahrung. Zur Annahme von nichtverwirklichten Möglichkeiten in der Geschichte gelangen wir durch analoge Rückübertragung eigenen Zeiterlebens" (ebd. S. 37). Letztere ist freilich insofern problematisch, als nach Demandt Geschichte durch menschliches Handeln konstituiert wird; vgl. dazu Anm. 541. 182 Ebd. S.45: „Die Geschichte ist vielmehr das, was dabei herauskommt, wenn der Mensch handelt." 183 Ebd. S. 17. 184 Vgl. dazu unten „Die geschichtstheoretische Rekonstruktion historischer Rationalität" zu Lübbe und Bubner, S. 151 ff. 185 M. Schmidt, Die Empirie der Geschichtswissenschaft. In: Studium Generale 11 (1958), S.205-218; S.208.

128

Französische Revolution denken" 186 . Im Unterschied zu begrifflichen Beschreibungen erfordern historische Ereignisse daher dokumentarische Beschreibungen 187 , das heißt Beschreibungen, die das historische Material hinsichtlich derjenigen Veränderungen untersuchen und ordnen, welche in ihrer Gesamtheit das in Frage stehende Ereignis, etwa die Französische Revolution, konstituieren. Solche dokumentarische Beschreibungen nennt A.C.Danto Erzählungen, die insofern „bereits eine Form der Erklärung" 188 sind, als sie die Ereignisse in einer zeitlich sich erstreckenden Veränderung als Momente der Einheit dieser Veränderung auffassen; die Verbindung ist dabei die der Teile zum Ganzen 189 . „Dementsprechend hängt die Frage, ob im explanans allgemeine Gesetze enthalten sein müssen, von unserer ursprünglichen Beschreibung desjenigen Ereignisses ab, für das wir eine Erklärung suchen." 190 Mit anderen Worten: Nur im Falle allgemeiner, begrifflicher Beschreibungen von Ereignissen vermag deren Erklärung unvierselle Gesetze zu enthalten. Das heißt wohlgemerkt nicht, daß es nicht auch von historischen Ereignissen allgemeine und begriffliche Beschreibungen gibt. In jede dokumentarische Beschreibung gehen vielmehr immer auch allgemeine Begriffe ein, wie z. B. Staat, Demokratie, Stadt, Bürger, Revolution usw. „Kein Einzelereignis läßt sich sprachlich mit Kategorien gleicher Einmaligkeit erzählen, die das Einzelereignis zu haben beanspruchen darf." 191 Aber solche Begriffe sind ihrerseits noch einmal Indikatoren historischer Erfahrung 192 : erst die diachronische Tiefengliederung eines Begriffs erschließt seinen ganzen Bedeutungsumfang 193 . „Das System der Sprache ist", wie K. Stierle schreibt, „nie in seiner eigenen Gegenwart beschlossen, es ist durchdrungen von Vergangenheit 186

A.C.Danto, Analytische Philosophie, S.388. 348. Die Unterscheidung von begrifflichen und dokumentarischen Beschreibungen ist in Anlehnung an A . C . D a n t o formuliert; vgl. dort S.208ff. 188 A.C.Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, S.230. „Eine Erzählung beschreibt und erklärt ineins" (ebd.). 189 Ebd. S.374. Danto bemerkt dazu: „Mir entgeht dabei nicht, daß Worte wie „Ganzes" notorisch schwer zu analysieren sind und daß gelegentlich behauptet wird, wir verbänden mit dem Wort „Ganzes" mehr als nur die Vorstellung einer Ansammlung von Teilen. Wir meinen damit eine zur Einheit gebrachte Ansammlung, und die Hauptschwierigkeit liegt vermutlich im Begriff der Einheit" (ebd. S.394). 1,0 Ebd. S. 348. 191 R. Kosellek, Darstellung, Ereignis und Struktur. In: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt 1979; S. 144-157; hier S. 154. 1.2 R. Kosellek, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte. In: R. Kosellek/K. Stierle (Hrsg.), Sprache und Geschichte, Bd. 1: Historische Semantik und Begriffsgeschichte. Stuttgart 1979, S. 19-36. Inzwischen auch in R. Kosellek, Vergangene Zukunft, S. 107-129. 1.3 Vgl. K. Stierle, Historische Semantik und die Geschichtlichkeit der Bedeutung. In: R. Kosellek/K. Stierle (Hrsg.), Sprache und Geschichte, S. 154-189. 187

129

bisheriger Sprachgeschichte, zugleich aber auch offen auf zukünftige Sprachentwicklung" 194 . Das zeigt sich ζ. B. daran, „daß es nicht möglich ist, einen geschichtlich sinnvollen Begriff etwa für die Stadt zu finden, der sowohl auf die Antike wie auf das Mittelalter und die Neuzeit, oder einen Begriff des Lehenswesens, der sowohl auf den abendländischen wie auf den fernöstlichen Feudalismus paßt"195. Im Rahmen der Begriffsgeschichte und der historischen Semantik werden daher diese diachronen Gehalte der Sprache zum Gegenstand wissenschaftlichen Interesses196. Sie interpretieren die Geschichte durch ihre jeweiligen Begriffe 197 , insofern die Begriffe selbst ein Reflex sich verändernder Wirklichkeit sind: „Wenn die Wirklichkeit, in Bezug auf die uns unsere Begriffe orientieren, sich ändert, brauchen wir neue Begriffe, oder wir müssen die alten ändern."198 Freilich stößt auch eine rein begriffsgeschichtlich orientierte Geschichtsschreibung an Grenzen: „the limits ... are more or less strictly defined by the actual occurence of the key word in the sources."199 Begriffsgeschichte ist daher selber noch einmalan ein umfassenderes Wissen von Geschichte gebunden: „Vorausset-

194

K. Stierle, aaO., S. 161 ff. - Bereits H u m b o l d t hat in seiner Sprachphilosophie die Geschichtlichkeit der Sprache berücksichtigt. Wenn H u m b o l d t schreibt, daß „die Sprache ein Abdruck der nationalen Individualität" (III, 296), ein „geistiger Aushauch eines nationeil individuierten Lebens ist" (III, 301), so bezieht sich das auf die gleichsam „natürlichen, in dem gewöhnlichen Gange der Schicksale der Sprachen und nationalen Entstehungsgründe ihrer Umwandlungen" (III, 354), zu denen H u m b o l d t den „Verlauf der Zeit", die „Verrückung des Wohnplatzes" und die „Mischung der Völkerstämme (III, 354), vor allem aber die „geschichtlichen Ereignisse, welche den Zustand der Nationen . . . verändern" (III, 355), zählt. Die Verschiedenheiten der Sprachen und ihrer Weltansichten sind nach H u m b o l d t gewissermaßen Resultate ihrer jeweiligen Geschichte, so d a ß sie, in ihrer Vielfalt genommen, geradezu „eine welthistorische Ansicht" (III, 7) bieten (zitiert nach W.v. H u m d o l d t , Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Andreas Flitner und Klaus Giehl, Darmstadt 3. Aufl. 1969, Bd. 3. Schriften zur Sprachphilosophie). Auf die von H u m b o l d t andererseits betonte Apriorität der Sprache kann hier naturgemäß nicht weiter eingegangen werden. So konnte H u m b o l d t ζ. B. an den „Naturinstinct der Thiere erinnern, und die Sprache einen intellectuellen der V e r n u n f t nennen" (III, 11). 195

E.Pitz, Geschichtliche Strukturen. Betrachtungen zur angeblichen Grundlagenkrise der Geschichtswissenschaft. In: H Z 198 (1946), S. 265-305; S.287. ι « Vgl Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. O . Brunner, W. Conze, R. Kosellek. Bd. 1. Stuttgart 1972. J.Ritter, Leitgedanken und Grundsätze des Historischen Wörterbuchs der Philosophie. In: Archiv f ü r Begriffsgeschichte 11 (1967, S.75-80. R.Kosellek, D e r neuzeitliche Revolutionsbegriff als geschichtliche Kategorie. In: Studium Generale 22 (1969), S. 825-838. 1.7 Vgl. R.Kosellek, Richtlinien f ü r das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der N e u zeit, aaO. 1.8 H . L ü b b e , Begriffsgeschichte als dialektischer Prozeß. In: Archiv f ü r Begriffsgeschichte 19 (1975), S.8-15; S . l l . 1.9 I. Veit-Brause, A N o t e on Begriffsgeschichte. In: History and T h e o r y 20 (1981), S. 61-67; S.67.

130

zung ist in gewisser Weise Vorkenntnis der historischen Gegebenheiten und Ereignisse." 200 Im Blick auf das Verhältnis von allgemeinen begrifflichen und dokumentarischen Beschreibungen historischer Ereignisse heißt das, daß die allgemeinen, begrifflichen Beschreibungen stets im Lichte dokumentarischer Beschreibungen modifiziert werden müssen 201 . Erklärungen historischer Ereignisse haben daher eher den Charakter von Hypothesen, das heißt von Annahmen, die eine Vielzahl von Einzelbehauptungen, unterschiedlicher Perspektiven und Zusammenhänge auf induktivem Wege zu einem evidenten Zusammenhang integrieren. Der Hypothesencharakter historischer Erklärungen ist also nicht durch die Unvollständigkeit einer deduktiv-nomologischen Begründung (die im strengen Sinne ja selber Hypothesen sind) erzwungen, sondern durch das Erkenntnisinteresse des Historikers bedingt, das sich auf die Besonderheit von Ereignissen im Zusammenhang eines Geschehens richtet. Man kann diesen Sachverhalt mit Joynt und Rescher pointiert so formulieren, daß der Historiker keine Fakten sammelt um irgendwelche allgemeinen Gesetze oder Theorien zu bestätigen bzw. aufzustellen; vielmehr sucht er allgemeine Theorien daraufhin zu befragen, inwiefern sie Fakten zu erklären vermögen 202 . Denn: „facts are not evidence for one another per se, for the very idea of evidence rests upon the mediation of our knowledge regarding the relationship between facts." 203 Historische Erklärungen erklären ein Ereignis mithin „not by reducing it to a basic kind of reality, but by showing how that object is spatially and temporally ... related to other objects or processes in its environment" 204 . Kriterium der Aufstellung von Hypothesen und ihrer Bestätigung ist somit die Kohärenz des dem Historiker zur Verfügung stehenden Materials 205 . So gesehen bleibt das Moment der Kontingenz, das Ereignis und Begriff niemals kontaminieren läßt206, nicht als Mangel und methodische 200 R. Kosellek, Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit, aaO., S. 84. 201 Vgl. A.C.Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, S.208. 202 Vgl. Joynt-Rescher, The Problem of Uniqueness in History, aaO., S. 154. 203 Ν. Rescher, Evidence in History and in the Law. 204 D.L. Miller, Novelty and Continuity. In: Journal of Philosophy 47 (1950), S. 369-378. 205 Vgl. M.Mandelbaum, Causal Analysis in History, aaO., S.46: „No hypothesis is ever verified except to the extend that it afford us the more comprehensive and intellegible account of the facts which fall within its scope than any alternative hypothesis is able to do." Ebenso M.Mandelbaum, The Problem of Historical Knowledge, aaO., S.258: „The nature of this activity is clear: the historian always selects his material in such a way that his account presents a unified structure and pattern, each of the parts being seen in its relation to the whole." 206 Vgl. R. Kosellek, Darstellung, Ereignis und Struktur, aaO., S. 150.

131

Aporie von der methodischen Rekonstruktion historischer Rationalität ausgeschlossen; vielmehr gewinnt sie in der im Verhältnis von Teil und Ganzem bereits angedeuteten Frage nach der Einheit des Geschehens einen präzisen historischen Sinn. Die von A. C. Danto in ausdrücklicher Unterscheidung von der deduktiv-nomologischen Methode aufgeworfene Frage nach der Einheit des Geschehens markiert überdies den Punkt, wo historische Rationalität sich zumindest insofern nicht mehr mit einer bloß methodologischen Rekonstruktion ihrer universalen Annahmen (im Sinne allgemeiner Gesetzesformulierungen) begnügen kann, als der für den Ereignisbegriff konstitutive Aspekt der zeitlichen Abfolge und des zeitlichen Wandels nunmehr Geschichte selber, will sagen: Geschichte als lebensweltlichen Erfahrungsraum in Anschlag bringt 207 .

2.2.2.

Die geschichtstheoretische Rekonstruktion

historischer Rationalität

I

An die Stelle der nomologisch, durch die Aufstellung allgemeiner Gesetze konzipierten universellen Annahmen historischer Rationalität tritt nun der Gedanke der Einheit der Geschichte in dem oben beschriebenen Sinn der Kohärenz des dem Historiker zur Verfügung stehenden Materials als Kriterium der Beschreibung von Ereignissen. Die Frage nach dieser Kohärenz ergab sich zunächst aus dem Sachverhalt, daß die historische Darstellung und Erklärung von Ereignissen nur in der Weise ihrer temporalen Verbindung mit anderen Ereignissen möglich ist: „Beschreibungen von Dingen oder Ereignissen zu geben, erfordert, daß wir zwischen ihnen und anderen Dingen und Ereignissen Verbindung herstellen." 208 Der Gedanke der temporalen Kontingenz bedarf daher ergänzender Erläuterungen, die hier zunächst anhand von Dantos Kritik an der Unterscheidung von „Chronik" und „Geschichte" gegeben werden 209 . Diese Unterscheidung behauptet zwei Ebenen historischen Wissens: Die Ebene der bloß darstellenden Beschreibung von Ereignissen und die der Interpretation ihrer Bedeutung. „Chroniken wären demgemäß einfache Erzählungen; und eigentliche Historie würde sich in signifikanten Erzählungen ausdrücken." 210 Ferner würde bereits die Chronik 207

Vgl. dazu die Ausführungen oben S. 107 ff. A.C.Danto, Philosophie der Geschichte, S.229. 20 ' Im Rahmen dieses Abschnitts bleiben sie daher noch vorläufig; vgl. zur späteren Darstellung die Seiten 209 ff. Zu Dantos Kritik an der Unterscheidung von Geschichte und Chronik vgl. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, S. 190 ff. 210 „Von der Chronik sagt man, sie sei eben eine Darstellung von dem, was geschieht, und nichts weiter ... Die eigentliche Historie betrachtet Chroniken lediglich als vorbereitende Übungen. Ihre eigene Aufgabe liegt darin, daß sie den Tatsachen, wovon die Chro208

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eine vollständige Beschreibung von Ereignissen enthalten können 211 . Beide Annahmen sind nach Danto allerdings in höchstem Maße problematisch. Als signifikant können solche Erzählungen gelten, die die Bedeutung gewisser Konsequenzen, die ein Ereignis hat, aufzeigen und beschreiben 212 . Wenn wir dagegen „von einem Ereignis sagen, es sei ohne Bedeutung, dann meinen wir damit nicht, daß es überhaupt keine Folgen habe, sondern daß ihm keine wichtigen Folgen beizumessen sind. Demnach ist dieses Verständnis von Signifikanz logisch verknüpft mit einem davon unabhängigen Begriff der Wichtigkeit, wobei diese wiederum von einer Mannigfaltigkeit verschiedener Kriterien abhängig sein mag" 2 1 3 . So gesehen scheint Signifikanz aber „ein wesentliches Strukturmerkmal von Erzählungen schlechthin zu sein" 214 , weil ja historische Ereignisse überhaupt erst im Kontext anderer, späterer Ereignisse beschreibbar sind. Wenn statt dessen Ereignissen ohne derartige Beziehungen beschrieben werden, „dann ist das Ergebnis . . . nicht eine Geschichte, sondern eine bloße Aussagenreihe" 2 1 5 . Das bedeutet, „daß zumindest einige der späteren . . . Ereignisse signifikant im Hinblick auf einige der früheren Ereignisse sein müssen, d. h. jene späteren Ereignisse sind die Bedeutung der früheren" 2 1 6 . Eine Erzählung, die die Ereignisse beschreibt, ist m.a.W. zugleich auch eine Erzählung, die die Bedeutung der Ereignisse aufzeigt und umgekehrt 217 . Denn die Bedeutung eines Ereignisses läßt sich eben nicht ohne die Beschreibung seiner Verbindung mit anderen Ereignissen aufzeigen und diese ist streng genommen nichts anderes als jene. Zwar räumt Danto ein, „daß es in der historischen Praxis so etwas gibt, wie ein für allemal als Tatsache festzuhalten, daß ein bestimmtes Ereignis sich zugetragen hat" 218 . Aber auch das ist nicht möglich, „ohne daß Verbindungen zwischen diesem Ereignis und anderen Ereignissen der Vergangenheit hergestellt worden sind" 219 . Genau das ist nun auch der niken angeblich berichten, irgendeine Bedeutung beilegt oder irgendwelchen Sinn darin erkennt" (ebd. S. 191 f.). 211 Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, S. 192. Im folgenden unterscheidet Danto vier Arten der Signifikanz: pragmatische Signifikanz, theoretische Signifikanz, Konsequenz-Signifikanz und erhellende Signifikanz. Unsere Ausführungen im Text beschränken sich auf den Gesichtspunkt der Konsequenz-Signifikanz. 212 Vgl. Danto, ebd., S . 2 4 0 f . 213 Ebd. S. 218 f. 214 Ebd. S.218. 215 Ebd. S.219. 216 Ebd. S.219. Oder anders gesagt: „Wenn ein früheres Ereignis im Hinblick auf ein späteres Ereignis einer Geschichte nicht signifikant ist, dann gehört es nicht in diese Geschichte" (ebd.). 217 Ebd. S.225. 218 Vgl. ebd. S. 226. 219 Ebd. S..228. 133

Grund, warum es keine vollständige Beschreibung vergangener Ereignisse geben kann. Unter der vollständigen Beschreibung eines Ereignisses (E) versteht Danto dabei „eine Reihe von Sätzen, die absolut alles aussagen, was in E geschehen ist. Da die Reihenfolge des Geschehens wichtig ist, möchten wir erreichen, daß durch die eine oder andere Vorkehrung diese Ordnung in der vollständigen Beschreibung widergespiegelt wird. Eine vollständige Beschreibung wird also eine in Ordnung bewahrende Beschreibung sein müssen" 220 . Das heißt: „es besteht eine Isomorphic zwischen der vollständigen Beschreibung und dem Ereignis, für das sie gilt." 221 Diese Fähigkeit einer vollständigen Beschreibung müßte einer Chronik bzw. einem Chronisten zumindest prinzipiell zugeschrieben werden können. Danto führt daher das Bild des idealen Chronisten ein: „Was immer geschieht, er weiß es stets im selben Moment, in dem es geschieht, er weiß sogar, was in anderen Köpfen vorgeht. Er besäße zudem die Gabe der instanten Transkription: All das, was längs dem vorgeschobenen Saum der Vergangenheit geschieht, würde vom ihm - sobald es geschieht, in der Weise, in der es geschieht - unmittelbar niedergelegt. Die sich daraus ergebende laufende Darstellung werde ich die Ideale Chronik (im folgenden abgekürzt I. C.) nennen. Sobald sich E sicher in die Vergangenheit eingegangen ist, steht seine vollständige Beschreibung in der I. C." 222 Die Ideale Chronik enthielte gewissermaßen vollkommene Augenzeugenberichte über die jeweiligen Ereignisse 223 . Trotzdem gibt es Beschreibungen von Ereignissen, „in deren Rahmen das Ergebnis nicht bezeugt werden kann, und diese Beschreibungen sind notwendig . . . von der I. C. ausgeschlossen. . . . Es handelt sich dabei um etwas, das selbst der beste Zeuge nicht wissen kann. Womit wir in voller Absicht den Idealen Chronisten nicht ausgestattet haben, war das Wissen von der Zukunft" 224 . Ein derartiges Wissen um die Zukunft ist etwa in dem Satz impliziert: „Der dreißigjährige Krieg begann im Jahre 1618." 225 Offensichtlich konnte niemand diese Aussage schon im Jahre 1618 treffen. „Gewiß konnte jemand vorhersagen, daß der Krieg solange dauern werde, und hinlänglich Vertrauen in seine Vorhersage Ebd. S. 228. Ebd. S. 240. In diesem Sinne betont M. Mandelbaum, The Problem of Historical Knowledge, aaO., daß Relevanz „a category of facts" sei (S. 209): „Relevance must be taken as a category of facts, and not as product of our apprehension and description of them" (S. 209). Denn: „one fact is relevant to another when they are so connected that the mind cannot apprehend the nature of the latter without an understanding of the former" (S. 211). 222 Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, S. 241. 225 Ebd. S. 244. 224 Ebd. S. 245. 225 Das Beispiel bei Danto, ebd., S.246. 220 221

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setzen, um den Krieg in dieser Weise wirklich beschreiben zu können. Doch er würde damit einen Vorgriff auf die Zukunft machen, und das gerade ist es, was wir der I. C. nicht gestatten können." 226 Die Zukunft ist ja noch offen, kontingent und unbestimmt. Wenn aber „die Zukunft offen ist, kann die Vergangenheit nicht endgültig verschlossen sein"227; oder anders gesagt: „wenn es wirkliche Zukunftskontingenzen gibt, dann muß es, so scheint es mir jedenfalls, ebensowohl Vergangenheitskontingenzen geben: mit der Sache unvereinbare Beschreibungen, die gewissermaßen über einem gegebenen vergangenen Ereignis schweben, außerstande, definitive semantische Beziehungen zu dem Ereignis herzustellen, solange sich nicht irgend etwas in der Zukunft ereignet." 228 Ereignisse sind also in dem Sinne temporal kontingent, daß erstens ihr Eintreten, bevor sie geschehen sind, nicht sicher vorauszusehen ist, und zweitens auch für schon geschehene Ereignisse die für die Definitivität ihrer Beschreibung notwendige Verbindung mit anderen Ereignissen aufgrund der Offenheit der Zukunft noch problematisch und vorläufig bleibt. Die vollständige Beschreibung von Ereignissen als Momente einer zeitlich sich erstreckenden Veränderung in Gestalt einer einzigen, universalen Geschichte ist daher unmöglich, „weil wir im Blick auf die Zukunft zeitlich provinziell sind" 229 . Statt dessen ist es nach Danto die „implizite Beziehung auf ein kontinuierliches Subjekt, die einer historischen Erzählung ein gewisses Maß von Einheitlichkeit verleiht" 230 . Das heißt, daß der Beschreibung von Ereignissen als notwendiges Prinzip ihrer temporalen Organisation die Vorstellung eines kontinuierlichen Subjeks unterlegt wird, auf dessen „Erhaltung" die Ereignisse als Momente von Veränderungen bezogen sind. Danto sah sich hier selbst „mit einem ungemein schwierigen Problem der historischen Ontologie konfrontiert, dem Problem nämlich, welches die Elemente sind, die sich in einer Veränderung enthalten" 231 . Allerdings hat Danto nicht gesehen, daß diese Schwierigkeit gerade auch seine eigene Annahme eines kontinuierlichen Subjekts, das den Ereignissen als eines organisierenden Prinzips ihres Zusammenhangs zugrunde liegen soll, belastet, da dann die Beschreibung des Geschehens 226

Ebd. S.246. Ebd. S. 314. 228 Ebd. S. 312. 22 ' Ebd. S.230. Aus diesem Grunde wendet sich Danto auch gegen eine substantialistisch verstandene Geschichtsphilosophie, die das Ganze der Geschichte zu kennen meint. Sie versucht „faktisch, die Geschichte dessen, was geschieht, zu schreiben, bevor es geschehen ist, und Darstellungen der Vergangenheit zu geben, die auf Darstellungen der Zukunft beruhen" (ebd. S.30). Vgl. auch H . N . L e e , The Hypothetical Nature of Historical Knowledge, S.219: „... a universal pattern in history ... would itself be hypothetical." 230 Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, S. 375. 231 Ebd. S. 396. 227

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dasjenige immer schon voraussetzt, was die Beschreibung ja gerade erklären soll: nämlich „die Verbindung zwischen den Ereignissen, die erklärt werden soll"232. Anstatt also zu fragen, wie sich solche historischen Subjekte überhaupt konstituieren, setzen historische Erzählungen nach Danto ein kontinuierliches Subjekt der Veränderung bereits voraus. Mit dieser Konstitutionsproblematik der Subjekte historischer Erzählungen rückt der von A. C. Danto lediglich deskriptiv-analytisch gemeinte Gedanke der Einheit der Geschichte im Sinne eines organisierenden Prinzips der temporalen Beschreibung von Ereignissen in eine umfassendere geschichtstheoretische und -philosophische Perspektive ein. In dieser Richtung hat insbesondere H. M. Baumgartner den erzähltheoretischen Ansatz von Dantos Historik radikalisiert 233 . Baumgartner übernimmt dabei zunächst den Begriff der Erzählung, wie er von Danto und, ihm folgend, auch von Habermas verwendet wird 234 . Hatte Danto dabei ganz allgemein gezeigt, daß es die Struktur der Erzählung ist, welche den Zusammenhang von Ereignissen im historiographischen Kontext einer Geschichte abbildet, und hatte Habermas diese konstitutive Leistung der Erzählung noch einmal auf die in der Gattungsgeschichte sich reflektierende Praxis emanzipatorischer Vernunft bezogen, so möchte Baumgartner in kritischer Abhebung von Danto (und Habermas) zeigen, daß die narrative Konstruktion von Geschichte allein durch die gemeinsame Lebenspraxis von bereits konstituierten Subjekten motiviert ist, und somit diese Konstitution nicht ihrerseits noch einmal auf einen dieser Erzählung vorausliegenden Prozeß der Geschichte „selber" als Bildungsgeschichte des Subjekts bezogen werden kann. Sowohl bei Danto als auch bei Habermas bleibe der Gedanke der narrativen Konstruktion von Geschichte in einer historischen Ontologie befangen, deren theoretisch abbildende Begriffe die Kontinuität eines objektiven Geschichtsprozesses dadurch suggerieren, daß sie „Kontinuität" in der „Identität" von Subjekten verankern 235 . 232

Ebd. S.374. H. M. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft. Frankfurt 1972. Vgl. besonders S. 249-343. 234 Zu Habermas vgl. unten S. 147 ff. Obgleich Baumgartner in seiner Arbeit bereits kritisch auf Habermas Bezug nimmt, soll hier die Reihenfolge der Besprechung bewußt eine umgekehrte sein, da Habermas sich in seiner letzten großen Veröffentlichung über die „Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 1 und 2, Frankfurt 1981, von den philosophischen Voraussetzungen des Geschichtsbegriffs, die zu Baumgartners Kritik geführt haben, distanziert hat. 235 In der Tat ist bereits bei Danto der Begriff der Erzählung mit der Zweideutigkeit belastet, sowohl konstruktive Leistung des Historikers zu sein, als auch abbildende Beschreibung eines originären Prozesses der Geschichte. Allerdings scheint dieser Widerspruch in gewissem Sinne an der Eigenart der narrativen Konstruktion von Vergangen235

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Insbesondere gegen Danto wendet Baumgartner ein, daß dieser die Kontinuität des Geschehens durch ein ihm zugrundeliegendes Subjekt der Veränderung zu wahren gesucht habe. Eine derartige Ineinssetzung historischer Kontinuität mit der Identität von Subjekten hält Baumgartner aber zunächst aus zwei Gründen für fraglich. Im Blick auf Ereigniszusammenhänge, wie etwa die Französische Revolution, läßt sich kein identisches Subjekt bestimmen: „Was hier als identisch über die Zeit hinweg gedacht wird, ist mit Sicherheit nicht das eine oder andere Subjekt, oder eine Mehrzahl von Subjekten. Es ist ein spezifischer Sinnzusammenhang, der als Intention im jeweiligen Thema der Geschichte festgehalten ist." 236 Individuelle Subjekte können das Kriterium der Kohärenz von Ereigniszusammenhängen nicht sein, wenn diese eo ipso nur als transsubjektive begreifbar sind. Aber selbst im Blick auf eine biographisch begrenzte Erzählung garantiert das in dieser Biographie gemeinte Subjekt nicht schon die Kontinuität der erzählten Geschichte, denn: „Die abstrakte Identität desselben Subjekts", so Baumgartner, „ist nicht geschichtliche Identität: sie ist Identität unter einer hinreichend generellen Beschreibung" 237 . Die narrative Konstruktion von Geschichten bleibt mithin dem Subjekt selbst äußerlich 238 . Sie ist nicht ein Moment des Prozesses der Konstitution bzw. der identitätsbildenden Lebensgeschichte dieses Subjekts, sondern setzt ihrerseits vielmehr das Vorhandensein bereits konstituierter Subjekte voraus. Geschichte ist eine dem Konstitutionsprozeß von Subjekten sekundäre, nachfolgende Objektivation ihrer Lebenswelt. Dagegen hat J. Habermas seinerseits eingewendet, ob sich nicht vielmehr umgekehrt „die narrativ hergestellte Kontinuität der erzählten Episoden auf die einheitsstiftende Kraft der Lebenszusammenhänge (stützt), in denen Ereignisse ihre Relevanz für die Beteiligten schon gewonnen haben, bevor der Historiker hinzutritt" 239 . Diese, bereits auch bei Danto in der Frage nach der Möglichkeit der historischen Beschreibung von Ereignissen vorgefundene Zweideutigkeit, inwieweit solche Beschreibung eine Leistung des Historikers ist oder dem Geschehen selbst entspricht, wird von Baumgartner durch die Unterscheidung von Lebenswelt und Geschichte zugunsten der ersten heit selber zu liegen, insofern die O r g a n i s a t i o n vergangener Ereignisse zu narrativen Ganzheiten nicht beliebig geschehen kann. D i e narrative Struktur muß vielmehr der Eigenart des G e s c h e h e n s a b l a u f s entsprechen. 2 3 6 H . M . B a u m g a r t n e r , Kontinuität und Geschichte, S . 2 9 8 . 237 E b d . S . 2 9 7 . 2 3 8 D a f ü r spricht nach B a u m g a r t n e r auch, daß die narrative K o n s t r u k t i o n in nicht-historischen B e g r i f f e n erfolge. D i e Prinzipien der Geschichte sind selber nicht geschichtlich. D a h e r stehe der „ H i s t o r i k e r . . . prinzipiell ebenso außerhalb der Geschichte wie seine Wertungen und Interessen" (Baumgartner, a a O . , S . 2 8 1 ) . 2 3 ' J . H a b e r m a s , Geschichte und Evolution. 1976, S . 3 5 4 .

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Möglichkeit zu lösen versucht. Im Unterschied zur Lebenswelt als der Sphäre unmittelbar gelebter Praxis, in welcher Subjektivität sich bildet, ist Geschichte lediglich die nachgeholte, zur Objektivation erstarrte Rekonstruktion solcher Praxis. „Wir können etwas als historischen Gegenstand nur über einen Bruch hinweg auffassen. Gemeint ist der Bruch zwischen Lebenswelt und Geschichte, der sich in dem Bruch und der Asymmetrie der Zeiten „Gegenwart" und „Vergangenheit" spiegelt"240. Die Unmittelbarkeit der lebensweltlichen Praxis von Subjekten ist gewissermaßen der transzendentale Vorsprung, der für die Objektivationen der historischen Erinnerung prinzipiell nicht einholbar ist. Wohl gesteht auch Baumgartner zu, daß die lebensweltlich-transzendentale Konstitution des Subjekts stets zeitlich bestimmt ist im Sinne von zeitlichen Ekstasen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese Zeitekstasen möchte Baumgartner allerdings von einem objektivierenden Zeitverständnis historischer Beschreibungen im Sinne des zur bloßen Chronologie heruntergestimmten Früher oder Später unterschieden wissen. Die Antithese von existentialer Zeit und ihrer verobjektivierenden Verkürzung zur bloßen Chronologie variiert lediglich die Unterscheidung von Lebenswelt und Geschichte, auf die daher noch näher einzugehen ist. Der Begriff der Lebenswelt ist von Husserl geprägt worden und taucht im Zusammenhang mit der Geschichtsthematik bei ihm ausdrücklich erst in seinen späteren Arbeiten zur Krisis der europäischen Wissenschaften auf 241 . In der von Husserl herkommenden phänomenologischen Tradition hat dann insbesondere sein Schüler L. Landgrebe den Lebensweltbegriff mit der Geschichtsthematik enger zu verbinden gesucht 242 . Die Krise der neuzeitlichen Wissenschaften hat nach Husserl ihren Ursprung in dem Auseinandertreten von wissenschaftlich gesicherter Objektivität des Seinssinnes und der Seinsgeltung von Welt einerseits, sowie der durch die Subjektivität immer schon vermittelten Erfahrung von Welt und ihren Inhalten andererseits 243 . „Die Bestimmung der Le-

240

W. Oelmüller (Hrsg.), Normen und Geschichte (Materialien zur Normendiskussion Bd. 3). Paderborn München Wien Zürich 1979; dort das Protokoll der Diskussion über den Ansatz von Baumgartner. Das im Text verwendete Zitat stammt aus Baumgartners eigener Einführung dazu, S.286. 241 Vgl. Husserliana Bd. 6. Die Krise der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. 2. Aufl. The Hague 1962. Dazu auch K.Wiegeling, Husserls Begriff der Potentionalität. Eine Untersuchung über Sinn und Grenze der transzendentalen Phänomenologie als universaler Methode (Mainzer philosophische Forschungen Bd. 27) Bonn 1984, S. 135. 242 Vgl. L. Landgrebe, Phänomenologie und Geschichte. Gütersloh 1968. Ders., Phänomenologie und Marxismus. 243 Vgl. auch L. Landgrebe, Phänomenologie und Geschichte, S. 149.

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bensweit erfolgt bei Husserl (daher) in Abgrenzung von der objektivwissenschaftlichen Welt." 244 Indem die neuzeitlichen Wissenschaften die Welt als ein Reich an sich seiender Gegenständlichkeiten verobjektivieren, welche der Vernunft unabhängig von aller Relativität auf subjektive Erfahrung in zeitloser Gültigkeit zugänglich ist, diskreditieren sie die subjektive Erfahrungswirklichkeit als bloßen Schein und als Unwahrheit. Damit ignorieren die Wissenschaften freilich die Vorgegebenheit einer noch nicht wissenschaftlich interpretierten Welt subjektiver Erfahrung, der sie ihre Entstehung doch allererst verdanken. Diese vorgegebene Welt nun nennt Husserl die Lebenswelt: „Die Lebenswelt ist ein Reich ursprünglicher Evidenzen" 245 ; sie ist die „stets bereite Quelle von Selbstverständlichkeiten, die wir, ob als praktische Menschen oder als Wissenschaftler ohne weiteres in Anspruch nehmen" 246 . Diese „in schlichter Erfahrungsgewißheit, vor allem wissenschaftlichen, sei es physiologischen, psychologischen, soziologischen usw. Feststellungen" 247 gegebene Evidenz einer vortheoretischen Welt nennt Husserl Urevidenz im Unterschied zur bloß objektiv-logischen Evidenz der wissenschaftlichen Leistungen. Diese Urevidenz hat als nicht hintergehbare Erfahrungsevidenz „eine höhere Dignität der Erkenntnisbegründung" 248 gegenüber dem „Objektivismus" wissenschaftlicher Evidenz, weil letztlich auch dessen Erfahrungsgrundlage eine rein in der Lebenswelt sich zeigende Evidenz ist249. Die Rückbeziehung der objektiv interpretierten Welt auf ihr Fundament in der Lebenswelt wird nun von Husserl regelrecht geschichtsphilosophisch ausgedeutet: Die Letztbegründung wissenschaftlich-theoretischer Evidenzen in den Urevidenzen der Lebenswelt wird als in einem geschichtlichen Ursprung auftretende Urstiftung interpretiert, die als Teleologik der zu sich selber findenden Vernunft in allen Gestalten geschichtlichen Lebens sinnstiftend gegenwärtig bleibt. Einer solchermaßen „teleologischen Geschichtsbetrachtung" 250 sind die Hervorbringungen der Geschichte sedimentierte Formen jener zielhaften ersten Sinnstiftung. Die apriorischen Evidenzen der wissenschaftlichen Vernunft sind somit eigentlich die Resultate der historischen Vernunft; oder anders gesagt: Das Apriori der objektiven Vernunft ist stets historisches Apriori, insofern die geschichtlichen Sinnbeziehungen die Bedingung ihrer Möglichkeit sind. Genau an diesem Punkt stellt sich nun aber auch das Problem, inwieweit eine derart teleologische Geschichtsbetrachtung, „die hinter den .historischen Tatsachen' ... eine sinnhaft-finale Harmonie aufleuchten 244 246 248 250

K. Wiegerling, aaO., S. 131. Ebd. S. 124. Ebd. S. 131. Ebd. S. 131.

245 247 249

Husserliana 6, S. 130. Ebd. S. 107. Ebd. S. 130f.

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läßt" 251 , mit der Tatsache der je besonderen Geschichtlichkeit der Lebenswelt vereinbar ist? Wenn nämlich Geschichte die Apriorität der lebensweltlichen Letztbegründung wissenschaftlicher Evidenzen dadurch verbürgen soll, daß sie in immer neuen Sedimentierungen die Stiftung ursprünglicher Evidenz als Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlicher Evidenz tradiert, dann müssen „historische Tatsachen", die in diesem Sinne Geltung haben sollen, selber noch einmal das absolute Apriori jener ursprünglichen Evidenz der Lebenswelt als Bedingung ihrer Möglichkeit voraussetzen. „Geschichtlichkeit meint nicht das Historisch-Tatsächliche, sondern das dem Historisch-Tatsächlichen schon Vorausliegende und es so Bestimmende." 252 „Leitfaden der Geschichtlichkeit ist demgemäß das Wesens-Apriori selber."253 Spätestens hier wird dann die in der kontingenten Faktizität und Individualität von Ereignissen begründete Dynamik der Geschichte durch die Statik einer apriorischen Vernunft stillgelegt. Die Lebenswelt ist, so muß L. Landgrebe zugeben, „das Apriori der Geschichte, und das heißt, das Invariante, das allen jeweiligen individuellen Lebenswelten gemeinsam ist, und allen ihren Abwandlungen zugrunde liegt"254. Inwiefern ist aber dann die allen gemeinsame Lebenswelt auf den Prozeß der Vermittlung ihrer konkreten Inhalte befragbar; und wie bestimmt sich ferner das Verhältnis der invarianten einen, allen individuellen Lebenswelten zugrundeliegenden „Lebenswelt" zu den vielfältigen und unterschiedlichen „Lebenswelten" der einzelnen Subjekte, die nicht gleichermaßen für alle Menschen den Horizont ihrer Lebensgeschichte bilden255? L. Landgrebe hat letzteres Problem dadurch zu lösen versucht, daß er die allen Menschen gemeinsame Lebenswelt als Resultat einer Bildungsgeschichte dieser gemeinsamen Lebenswelt verstehen möchte. „Gemeinsamkeit einer Welt als Horizont schwebt nicht über den ein251

Ebd. S. 131. L.Eley, Die Krise des Apriori in der transzendentalen Phänomenologie Husserls (Phänomenologica 10) Den Haag 1962, S. 121. 253 L. Eley, aaO., S.122. 254 L. Landgrebe, Phänomenologie und Marxismus. Die in der Verbindung von Geschichte und Apriorität liegende Aporie ist auch von L. Eley namhaft gemacht worden: „Man wird einwenden, daß jene Lebenswelt doch ihre eigene Geschichtlichkeit hat; so ist z. B. für uns Europäer gerade nicht die chinesische Geschichte verbindlich, andererseits müßte aber doch die transzendentale Subjektivität alle Sinnstiftung der Menschheit überhaupt in sich begreifen" (L.Eley, aaO., S. 130). Zwar lasse bei Husserl „die transzendentale Reflexion allgemeine invariante Wesensbestimmungen offenbar werden" (ebd. S. 130), aber „andererseits ist doch die Lebenswelt eine je relative" (ebd. S. 130). 255 In diesem Problem liegt ferner auch, wie N. Luhmann gesehen hat, ein „prinzipieller Einwand gegen die Hypostasierung eines einheitlichen, transzendentalen Subjekts" (N. Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie. In: J. Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? Frankfurt 1971, S.25-100; hier S.51, Anm.25). 252

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zelnen, die ihn gemeinsam haben, sondern ist das Ergebnis einer Bildungsgeschichte dieses Horizonts, welches die vielen einzelnen voraussetzt, die in ihrem Miteinander und Gegeneinander, in ihrem Sich-Bewegen und ihren individuellen Unterschieden, die durch ihre jeweilige Lebensgeschichte gegeben sind, den gemeinsamen Horizont bilden." 256 Daher lassen sich nach Landgrebe auch die empirisch rekonstruierbare Geschichte und die transzendentale Geschichte des lebensweltlichen Horizontes nicht voneinander trennen: „Transzendentale Geschichte des Bewußtseins und empirische Geschichte sind ... nicht zweierlei, sondern sind ein und dasselbe, aber von verschiedenen Stufen der Reflexion aus betrachtet." 257 Die eigene Lebenswelt „impliziert immer die darin „sedimentierte" Geschichte, in die die Erfahrungen der anderen mit eingegangen sind als den Horizont der konkreten Lebenswelt bildend, in der sich der Besinnende in seinem „Da" findet" 258 . In dieser Überlegung scheint zunächst die oben gestellte Frage nach der Vermittlung konkreter Inhalte in der Bildungsgeschichte der Lebenswelt berücksichtigt zu sein. Aber auch nach Landgrebe ist dieses Bewußtsein der sich in der Geschichte bildenden Welt streng genommen gar kein „Bewußtsein von einer Geschichte, sondern ihr Bildungsort" 259 , der Ort also, in welchem die empirische Geschichte allererst eine solche wird. So kommt Landgrebe zu der Behauptung, daß die empirische Geschichte „jeweils als eigene Vorgeschichte erinnert" 260 wird und insofern der transzendentalen „Geschichte" des Bewußtseins entspringt. Im transzendentalen Bewußtsein ist somit die in historischen Objektivationen erinnerte Geschichte auf den transzendental vorausliegenden Vollzug der Bildungsgeschichte einer gemeinsamen Lebenswelt, wie sie von Landgrebe im Handlungsbegriff begründet wird, bezogen und gewinnt von daher Sinn und Zusammenhang. Zwar scheint Landgrebe damit die Kontinuität der historisch erinnerten Geschichte zumindest insofern als eine tatsächliche behaupten zu können, als sie auf die in der Einheit des transzendentalen Bewußtseins begründete Einheit des Handelns bezogen ist. Doch wird damit die empirisch erinnerte Geschichte wiederum in das sich selbst absolut setzende Subjekt zurückgenommen. „Die transzendentale Geschichte, die nur in der Reflexion ... erschlossen wird, führt auf das Absolute in allem Relativen, auf das Dasein dessen, für den sie Geschichte ist und für den sie sich als seine geschichtliche Welt bildet" 261 . „Geschichtlichkeit ist dann die Entfaltung des in der transzendentalen Subjektivität je schon Vorgezeichneten" 262 . 256 Landgrebe, Phänomenologie und Marxismus, S.51. 258 » 7 Ebd. S. 55. Ebd. S. 55. 260 Ebd. S. 55. Ebd. S. 55. 2 " Ebd. S. 56. 262 262 L. Eley, Die Krise des Apriori, S. 132.

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Es bleibt das Problem, wie sich die invariante, im Subjekt je schon vorgezeichnete Sinnstiftung der einen Lebenswelt als „transzendentale Geschichte" zu der unvertauschbaren Besonderheit individueller Lebensgeschichten verhält. Der Handlungsbegriff vermag das nicht schon zu klären, weil, wie noch näher darzulegen sein wird, Geschichte und Handlung nicht einfach identisch sind. Es erscheint jedoch nach dem bisher Gesagten konsequent, wenn Baumgartner den transzendentalen Ansatz dahingehend radikalisiert, daß er „Geschichte als Erinnerung" von der transzendentalen Konstitution der Lebenswelt trennt 263 . Das bedeutet, daß „historisches Wissen nicht notwendig als M o m e n t in die apriorische Konstitution des Bewußtseins eingeht" 264 . Der O r t des historischen Wissens ist nach Baumgartner vielmehr die „unter transzendentalen Gesichtspunkten sekundäre, apriori nicht konstruierbare, zufällige und freie . . . Kommunikation und Interaktion bereits konstituierter Subjekte." 265 Entsprechend werden die Strukturen historischen Wissens auf die Strukturen von Narrativität reduziert. Baumgartners Radikalisierung des transzendentalen Ansatzes, die in der Reduktion von Geschichte auf Narrativität kulminiert, wirft allerdings massive Fragen auf. Denn „angesichts der Restriktion von Geschichte auf Narration stellt sich f ü r Baumgartner selbst die Frage nach der Identität des Objekts historischen Interesses, sei es eines Ereignisses oder eines Menschen. Ist sie gegeben als objektive Identität in der Vergangenheit oder wird sie .konstruiert'?" 266 Wenn Baumgartner z.B. die Identität von Individuen nicht mehr in deren Lebensgeschichte ansetzt, sondern nurmehr in einer hinlänglich generalisierenden Beschreibung derselben, so bleibt diese Identität in der T a t ein bloß theoretisches Konstrukt. Denn Identität ist schlechterdings nicht ohne ihre Realisierung in der Zeit zu denken möglich 267 . „Es genügt daher nicht, sie in

263 W. Hardtwig, Geschichtsprozeß oder konstruierte Geschichte. Eine Auseinandersetzung mit H.M.Baumgartner, „Kontinuität und Geschichte". In: Phjb 81 (1974), S. 381-390; S.383. 264 H.M.Baumgartner, Kontinuität und Geschichte. Zur Geschichte und Metakritik der historischen Vernunft. Frankfurt 1972, S.254. 265 Baumgartner, ebd. S.254. 266 W. Hardtwig, aaO., S.383. 267 Dazu H. Leitner, Identität, Körper und Zeit. In: Wege zum Menschen 34 (1982), S. 180-192. Das Erleben sinnhaft zusammenhängender Dauer sowohl der inneren wie der äußeren Realität ist für die Identität des Menschen nach Leitner unerläßlich, vgl. insbes. S. 187ff. Allerdings ist Leitner der Ansicht, daß die Zeit als Dauer innerer und äußerer Realität durch das Handeln des Menschen erst entworfen werden muß. Im Entwerfen von Handlungszielen wird Zukunft antizipiert und der Zeit eine sachlich-inhaltliche Qualität verliehen (ebd. S. 188). Zwar erkennt Leitner an, daß menschliches Handeln und Erleben systematisch überfordert wären, „müßte es sich seine Zeit in den laufenden Akten des Handelns und Erlebens stets neu entwerfen ..." (ebd. S. 188). Diesem Problem

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hinlänglich generalisierender Beschreibung anzusetzen, vielmehr muß sie aus der Kontinuität in der Geschichte gedacht werden." 268 Ebenso bleibt die durch ihren Sinnzusammenhang aufgefaßte Identität und Bedeutung von Ereignissen als eine im jeweiligen Thema der Erzählung bloß intendierte ein theoretisches Konstrukt, das nicht mehr auf seine Objektivität hin befragbar ist. Die konsequente Reduktion von Geschichte auf Narration suspendiert die lebensweltliche Vernunft von der Rationalität historischen Wissens. Dann ist freilich auch umgekehrt die historische Erzählung nicht mehr auf ihre Vernünftigkeit hin befragbar. Der Begriff der Erzählung, der bei Danto noch dazu diente, den Zusammenhang der Ereignisse in der Struktur des Wissens von ihnen theoretisch abzubilden, wird so zu einem Konstruktionsbegriff radikalisiert, der Objektivität und Fiktionalität geschichtlicher Gegenstände nicht mehr unterscheidbar sein läßt. Der Verzicht auf eine in der Objektivität ihrer Gegenstände sich begründende Rationalität historischen Wissens läßt Geschichte nicht mehr unterschieden sein von dem bloß Erdichteten und illusionär Gewünschten. Dieser Problematik sind in ähnlicher Weise auch andere Ansätze narrativer Geschichtstheorie verhaftet, wie insbesondere am Beispiel der von K. Röttgers vertretenen Konzeptualisierung der Geschichtstheorie als kommunikativer Texttheorie deutlich wird 269 . Auch Röttgers sieht die eigentliche Leistung der Präsentation von vergangenem Geschehen darin, „Kontinuität zu konstruieren" 270 . Denn „Bewußtsein hat, um Bewußtsein von etwas Identischem sein zu können, einen Kontinuitätsbedarf" 271 . Das Erzählen von Geschichten dient der Befriediwill Leitner durch die A n n a h m e einer Objektivität und Institutionalisierung der im H a n deln entworfenen Zeitperspektiven entgehen. D i e im H a n d e l n entworfenen Zeitperspektiven werden gewissermaßen auf die Realität projiziert. E s ist jedoch nicht einzusehen, inwiefern damit die angedeutete Schwierigkeit vermieden werden soll, weil die Projektion der im H a n d e l n entworfenen Zeitperspektiven den M e n s c h e n nicht auch schon von der P e r m a n a n z solcher Projektion entlastet. D e r G e d a n k e der Institutionalisierung allein klärt dieses Problem nicht, weil dann Institutionen als Eigengebilde verstanden werden müssen, die sich dem H a n d e l n des M e n s c h e n gerade entziehen. Wenn jedoch Institutionen nicht als v o r g e g e b e n e Gestalten, sondern als F o r m e n des Selbstzwanges und der Selbsterziehung b e g r i f f e n werden müssen, dann bleibt im Falle einer Ableitung sinnhaftzeitlicher Z u s a m m e n h ä n g e allein aus dem H a n d l u n g s b e g r i f f die erwähnte Schwierigkeit der Ü b e r f o r d e r u n g des H a n d e l n s bestehen. (Zur D i f f e r e n z i e r u n g des Institutionenbegriffs in dem hier gemeinten Sinn vgl. W. H u b e r , Freiheit und Institutionen. Ü b e r l e g u n g e n zu einem G r u n d p r o b l e m der Sozialethik. In: E v T h 40 (1980), S . 3 0 2 - 3 1 5 ; bes. S . 3 1 0 f f . ) . Ebd. S.384. " K . Röttgers, Geschichtserzählung als kommunikativer T e x t . In: S. Q u a n d t / H . Süssmuth ( H g . ) , Historisches Erzählen. F o r m e n und Funktionen. Göttingen 1982, S. 2 9 - 4 8 . Vgl. auch ders., K o m m u n i k a t i v e r T e x t und Zeitstruktur von Geschichten. Freiburg M ü n chen 1982. 2 7 0 K. Rötters, Geschichtserzählung als kommunikativer T e x t , a a O . , S. 40. 271 E b d . S . 4 0 . 268 2

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gung des Bedürfnisses nach Kontinuität und Gemeinsamkeit der Erfahrungswelt; Geschichten werden erzählt, um „die je eigene Welt als eine gemeinsame Welt zu erfahren, und um zu gewährleisten, daß die Gegenwart, die uns im Erzählen kommunikativ umschließt, eine gemeinsame Vergangenheit (und Zukunft) hat" 272 . Die entscheidende Frage ist natürlich, was die Gemeinsamkeit der Erfahrungswelt und mit ihr die Kontinuität einer gemeinsamen Geschichte begründet? Da eine Geschichte zu erzählen immer auch bedeutet, „sich nicht mehr selbst vollständig in der Sphäre der Erzählgegenstände zu befinden" 273 , wird „Kontinuität ... nicht vom erzählten Gegenstand her gewiß" 274 . Zwischen Erzähltem und Erzählsituation besteht ein Bruch, weil jede Erzählung „verschweigt oder übergeht" 275 und damit ein von ihr Ausgeschlossenes erzeugt und dieses als schlechthin Diskontinuierliches setzt 276 . Die Kontinuität des Erzählten wird aber auch nicht einfach durch das erzählende Subjekt hergestellt, weil das Erzählte nicht nur auf den Erzähler selbst und dessen Identität bezogen ist, sondern auch auf die Erzählsituation bzw. diejenigen, denen die Geschichte als wahre Geschichte zugemutet wird 277 . Die Erzählsituation ist daher mehr als eine unter zufälligen Gesichtspunkten erfolgende Weitergabe und Übermittlung einer Geschichte an andere, sondern sie stellt allererst die Rahmenbedingungen für den möglichen Sinn erzählter Geschichte her 278 . Röttgers definiert diesen Sachverhalt mit dem Begriff des „kommunikativen Textes": „Darin ist zu denken ein zeitlicher Prozeß, der den anderen mit sprachlichen Mitteln in einen gemeinsamen Text „verwebt"." 279 Die Kontinuität der Geschichte wird mithin als Leistung dieses kommunikativen Geschehens von all denen erbracht, „die an den Erzählsituationen teilnehmen, die sich in den kommunikativen Text des Geschichtenerzählens einbringen" 280 . Uber den Wahrheitsanspruch einer Geschichte kann daher nicht außerhalb dieses kommunikativen Sinnrahmens entschieden werden, was Röttgers zu folgender Schluß-

272

273 Ebd. S. 31. Ebd. S. 35. 275 Ebd. S. 43 . Ebd. S.43. 276 Vgl. S.43: J e d e Kontinuitätskonstruktion erzeugt zugleich sein Anderes als Ausgeschlossenes, und dieses aus den Erzählinhalten und den Erzählsituationen Aussortierte ist durch die Kontinuitätskonstruktion als Diskontinuierliches schlechthin gesetzt." 277 Ebd. S. 37. 278 Ebd. S. 33: „Das Erzähltwerden ist „der Geschichte nicht äußerlich und keine Frage der Darstellung des nach anderen Gesichtspunkten Entworfenen, keine Frage der Performanz oder einer additiv hinzutretenden Didaktik, sondern der Sinnrahmen für Geschichte ist etwas, was ich mit dem Begriff des kommunikativen Textes zu fassen versuche." 279 Ebd. S. 33; Röttgers gibt dazu die präzisierende Bestimmung: „Die Verbindung der Dimension von Sprache und Zeit ergibt den Textbegriff, die Verbindung von Sprache und Sozialdimension den Begriff der Kommunikation" (ebd. S.33). 280 Ebd. S. 38. 274

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folgerung veranlaßt hat: „Wird eine Geschichte mit Wahrheitsanspruch von den Zuhörern einer Erzählsituation als wahr akzeptiert, dann gilt die Geschichte in diesem Zusammenhang als wahr." 2 8 1 Kann mit dieser Bestimmung mehr als eine nichtssagende Tautologie gemeint sein, dann offensichtlich nur dies, daß die Wahrheit einer Geschichte zur uneingeschränkten Disposition steht, - was freilich den Wahrheitsbegriff selbst aufhebt. Denn etwas als wahr anzuerkennen, bedeutet immer auch, anzuerkennen, daß etwas nicht zur Disposition steht. W. Oelmüller hat daher gegen den Begriff der Erzählung zu Recht den Einwand erhoben, daß er die Grenzen zwischen Mythos und Logos verwische 282 , weil die Struktur des historischen Wissens im Modus der Erzählung hier nicht mehr einem, in forschendem Verstehen zugänglichen Zusammenhang geschichtlichen Geschehens selber als Kriterium seiner Wahrheit verpflichtet ist, sondern einem davon abgehobenen „Sinnwillen des Menschen" 2 8 3 . Diese Kritik richtet sich vor allem gegen Baumgartner, bei dem dieses „Sinnprinzip" ausdrücklich als „apriorischer, normativer Bezugspunkt" funktioniert, „der . . . in bestimmter Hinsicht als Fundamentalnorm ausgelegt werden kann", welche jeder Geschichtsschreibung vorausliegt und „sowohl für die Eröffnung wie für die Darstellung von Geschichte bereits in Anspruch genommen ist" 284 . Es ist nach dem bisher Gesagten deutlich, daß die für die Rationalität historischen Wissens transzendental begründete Normativität von Sinn solange dezisioniär und abstrakt bleiben muß, wie sie sich nicht an dem zeitlichen Zusammenhang der tatsächlichen Veränderungen des Menschen und seiner Welt zu bewähren vermag 285 . Die Frage, wie eine derartige „apriori geltende Fundamentalnorm . . . in einen Zusammenhang mit dem zeitlichen Wandel und der zeitlichen Erstreckung des Lebens gebracht" werden kann 286 , ist insbesondere von J. Rüsen an Baumgartner gerichtet worden. J . Rüsen hat sie dabei selbst in kritischer Unterscheidung von Baumgartners Geschichtstheorie zu beantworten versucht. Damit möchte er zugleich die transzendentale Aufhebung der in der Struktur historischer Rationalität gelegenen Frage nach der Einheit der Geschichte Ebd. S. 30. Vgl. W. Oelmüller (Hrsg.), Normen und Geschichte, S.300. K.-G. Faber hat sich in der Auseinandersetzung mit A . C . D a n t o bereits ähnlich geäußert. Vgl. K.-G.Faber, Geschichtstheorie, S. 159. 283 Baumgartner, aaO., S.321. 284 Baumgartner, bei W. Oelmüller (Hrsg.), Normen und Geschichte, S.288. 285 Damit wiederholt sich die oben erwähnte Aporie der Verhältnisbestimmung von Lebenswelt und Geschichte. 286 J. Rüsen, Geschichte und Norm. In: W. Oelmüller (Hrsg.), Normen und Geschichte, S. 110-139; S. 318. 281

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rückgängig und auf ihre Begründung in tatsächlich geschehender Geschichte, in welche die Menschen verstrickt sind, korrigieren 287 . Das geschieht so, daß die erfahrungs- und bedeutungsmäßige Erschlossenheit der Lebenswelt als „Einheit eines zeitlich erstreckten Sinnzusammenhangs" gedacht wird288, ohne dessen Vermittlung menschliches Handeln nicht möglich ist289. Die Form, in der solche Vermittlung geschieht, ist auch für Rüsen die Erzählung. Geschichten sind Erzählungen zeitlicher Abläufe „unter dem Gesichtspunkt einer identitätssichernden Kohärenz von Erinnerung und Erwartung"290, ohne die menschliches Handeln nicht möglich ist. Geschichten setzen mithin „ein Orientierungsbedürfnis in aktuellen Handlungszusammenhängen"291 voraus, d. h. aber immer auch: „ein Bewußtsein der Handelnden von sich selbst, mit dem sie ihre Welt und sich selbst handelnd verändern und dabei sie selbst bleiben können." 292 Geschichten erzählen daher vergangene Handlungen so, daß deren zeitlicher Verlauf eine Bedeutung für gegenwärtiges und („da gegenwärtiges Handeln intentional immer auf Zukunft gerichtet ist"293) zukünftiges Handeln gewinnt 294 . In Geschichten geht es daher fundamental um die Identität der an ihnen beteiligten Handlungssubjekte: „in ihnen verständigen sich Handlungssubjekte darüber, wer sie sind."295 Der Sinn einer Geschichte ist gewissermaßen der „Entwurf der historischen Selbstidentifizierung der an dieser Geschichte Interessierten"296. Er beschränkt sich also nicht, wie bei Baumgartner, auf die zufällige Kommunikation be-

287

Zu Rüsen vgl. später S. 223 ff. Rüsens Geschichtstheorie wird an späterer Stelle unter anderen Gesichtspunkten noch einmal Gegenstand der Diskussion sein. 288 Insofern gehen in jede Geschichte die, wie Rüsen formuliert, empirische Triftigkeit und normative Triftigkeit als Kriterien ihrer Wahrheit ein. Vgl. dazu J. Rüsen, Geschichte und Norm. In: W. Oelmüller (Hrsg.), N o r m e n und Geschichte, S. 110-139; S. 121: „Empirisch triftig sind Geschichten, wenn die in ihnen behaupteten Tatsachen durch E r f a h r u n gen gesichert sind." - „Das Kriterium der empirischen Triftigkeit teilt eine Geschichte mit jeder Tatsachenbehauptung" (ebd. S. 124). - „Normativ triftig sind Geschichten, wenn die in ihnen behaupteten Bedeutungen durch geltende N o r m e n gesichert sind" (ebd. S. 122). Geschichten teilen „dieses Kriterium der normativen Triftigkeit mit jeder Verpflichtung auf N o r m e n " (ebd. S. 124). 289 J. Rüsen, Geschichte und N o r m , aaO., S. 124. 2,0 2,1 Ebd. S. 123. Ebd. S. 118. 2,2 2,3 Ebd. S. 117. Ebd. S. 131. 2.4 Ebd. S. 110. 2.5 „In Geschichten geht es also immer um zweierlei: U m Erfahrungen vergangenen Handelns und um die Abschätzung zukunftsgerichteter Handlungsabsichten. . . . Geschichten realisieren einen Zusammenhang von beidem, indem sie vergangenes H a n d e l n in seinem zeitlichen Verlauf so erzählen, d a ß dieser Verlauf eine Bedeutung f ü r die Selbstverständigung von Handlungssubjekten gewinnt, die in die normative Regelung ihrer Handlungsentwürfe (Zwecksetzungen) eingeht" (ebd. S. 118). 2.6 Ebd. S. 117; vgl. auch S. 117 f.: „ . . . von ihnen werden handlungsnotwendige Identitäten von Subjektem dem zeitlichen Wechsel ihrer Welt und ihrer selbst abgerungen."

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reits konstituierter Subjekte. Der Sinn historischer Rationalität besteht vielmehr darin, die historische Selbstidentifizierung der Subjekte in ihrer Geschichte und damit den die Geschichte konstituierenden Sinn überhaupt über die Partikularität der einzelnen Handlungssubjekte hinaus „durch die Erfahrungsakkumulation der historischen Forschung empirisch und durch die Bedeutungsakkumulation der Perspektivenerweiterung normativ" 297 zu konkretisieren und zu erweitern: „Das Referenzsubjekt muß sozusagen bis an die Grenze der historischen Erfahrung und ihres Bedeutungsspielraumes erweitert werden, d. h. es muß als Menschengattung im Prozeß einer universalen Evolution definiert werden. Geschichten, die dem Leitfaden einer solchen Theorie folgen, steigern die Möglichkeit der Selbstidentifizierung ihrer Adressaten nach Maßgabe der regulativen Idee einer alle Geschichten in sich begreifenden einen Geschichte der Menschheit." 298 Der Sinn einer Geschichte intendiert die historische Selbstidentifizierung gegenwärtiger Subjekte im Prozeß dieser universalen Evolution der Menschengattung; daher auch reihen sich die vielen Geschichten in die eine, universale Geschichte der Menschheit ein 299 . Rüsen betont damit die identitätsbildende Funktion von Geschichten, und zwar näherhin so, daß die kommunikative Verfaßtheit der Identität von Subjekten zugleich nach der Kohärenz einer gemeinsamen Menschheitsgeschichte fragen läßt. Die Tatsache allerdings, daß diese historische Selbstidentifizierung von Subjekten durch den Gedanken der Handlungsorientierung vermittelt ist, scheint zur Folge zu haben, daß die Menschheit zumindest tendenziell auch als Handlungssubjekt dieser Geschichte gedacht wird 300 , Geschichte also als universaler Bildungsprozeß der Menschengattung ausgelegt wird. Dieser Gedanke eines universalen Bildungsprozesses der Menschengattung berührt sich eng mit dem von Habermas bereits 1968 formulierten Gedanken der „in einem Bildungsprozeß sich selber erst konstituierenden Gattung" 3 0 1 . Darauf soll im folgenden noch kurz eingegangen werden, weil so Struktur und Problematik dieses Gedankens deutlicher werden. Den Bildungsprozeß der Menschengattung sucht Habermas in einer Theorie des kommunikativen Handelns auf seine Dynamik hin durch-

2 , 7 Ebd. S. 132; vgl. auch noch ebd.: „Geschichten dienen der zeitlichen Orientierung von Handlungssubjekten, indem sie ihnen vergangene Veränderungen ihrer Welt so erinnern, daß sie dabei ein solches zeitüberdauerndes Bewußtsein von sich selbst gewinnen." " » Ebd. S. 132. 2 " Ebd. S. 132. 300 Vgl. Rüsen, ebd. S.138. 301 Vgl. R. Piepmeier in der Diskussion des Ansatzes von Rüsen. In: W.Oelmüller (Hrsg.), Normen und Geschichte, S. 247-285; hier S.251.

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sichtig zu machen 302 . Der Handlungsbegriff erfährt dabei eine kommunikationstheoretische Erweiterung insofern, als erst im Medium der Sprache die Bedingungen der sozialen Koordination von Handlungsvollzügen ausdrücklich zu werden vermag. „Der Begriff des kommunikativen Handelns setzt Sprache als Medium einer Art von Verständigungsprozessen voraus, in deren Verlauf die Teilnehmer, indem sie sich auf eine Welt beziehen, gegenseitig Geltungsansprüche erheben, die akzeptiert und bestritten werden können." 303 Im Unterschied zur monologischen Struktur zweckrationalen Handelns, dessen Sinn in der zielkonsistenten Beziehung des Handelnden auf Sachverhalte einer bestehenden Welt aufgeht, intendiert kommunikatives Handeln Sinn als intersubjektive Anerkennung von Geltungsansprüchen in Gestalt eines sozialen Konsensus 304 . Das Modell konsensorientierter Verständigung verfügt darin über ein genuines Kriterium seiner Rationalität: „Rational ist eine solche Kommunikation zu nennen, die die Bildung und Vermittlung von Sinn erlaubt."305 Auch das historische Bewußtsein wird in dieser praktischen Absicht beansprucht306, weil es Geschichte als äußersten Horizont der in diesem Verständigungsprozeß „engagierte(n) Frage nach einem in diagnostizierter Lage praktisch Notwendigen" 307 begreift: „Wenn", wie Habermas schreibt, „die natürliche Welt, in der

302 J . H a b e r m a s , Erkenntnis und Interesse. Mit einem neuen Nachwort. 4.Aufl. Frankf u r t 1977, S.240. In gewisser Hinsicht schließt sich H a b e r m a s dabei an die hermeneutische Theorie Diltheys an, ohne freilich deren bewußtseinsphilosophische Voraussetzungen teilen zu wollen. Hatte nämlich Dilthey das Verstehen als Nacherleben von originären Lebensäußerungen rekonstruiert, dessen praktisches Interesse die in den intersubjektiven Lebensäußerungen sich bildende gemeinsame Lebenswelt ist, so möchte H a b e r m a s gegenüber Diltheys Modell das Hineinversetzen den Zusammenhang von Erlebnisausdruck und Objektivation einer gemeinsamen Lebenswelt aus der Situation des Dialogs heraus erklären, „in der mindestens zwei Subjekte in einer Sprache kommunizieren, die ihnen erlaubt, unter intersubjektiv verbindlichen Symbolen das schlechthin Unteilbare, Individuelle zu teilen, eben kommunikabel zu machen. Das hermeneutische Verstehen bindet den Interpreten an die Rolle eines Dialogpartners" (J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 225 f.). 303 J . H a b e r m a s , Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt 1981, S. 148. 304 Yg[ Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 196: „Verständigungsprozesse zielen auf einen Konsensus, der auf der intersubjektiven Anerkennung von Geltungsansprüchen beruht." Vgl. auch R. Bubner, Sprache, H a n d l u n g und V e r n u n f t . Grundbegriffe praktischer Philosophie. Frankfurt 1982, S. 52: „Der Sinn, der nicht in subjektiver Meinung bloß a u f g e f u n d e n und je vom H a n d e l n d e n mit seinem T u n verknüpft werden soll, stellt sich in sozialer Interaktion erst her." 305 Bubner, aaO., S. 52. joe Yg] J a z u Habermas, Karl Löwiths stoischer R ü c k z u g vom historischen Bewußtsein. In: Ders., Philosophisch-politische Profile. F r a n k f u r t 2. Aufl. 1973, S. 116-140; hier bes. S. 131. 307 J. Habermas, Karl Löwiths stoischer Rückzug vom historischen Bewußtsein, aaO., S. 135.

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die menschliche Gattung ihr Leben erhält und führt, als ganze kontingent ist und ihren Logos nicht sprachlos in sich selber hegt, ist die Geschichte ... der Prozeß einer nachgeholten Schöpfung: auf dem Boden der Natur, der natürlichen Welt über sie hinaus ist sie die Bildung der Menschenwelt durch die Hand des Menschen selbst."308 Im Rahmen dieses Konstitutionsprozesses einer intersubjektiv akzeptablen Lebenswelt lokalisiert sich historische Rationalität in Form „narrative(r) Darstellung von Begebenheiten" 309 bzw. als „Erzählpraxis" 310 hinsichtlich ihrer „Funktion für das Selbstverständnis der Personen" 311 : „Sie können nämlich eine persönliche Identität nur ausbilden, wenn sie erkennen, daß die Sequenz ihrer eigenen Handlungen eine narrativ darstellbare Lebensgeschichte bildet, und eine soziale Identität nur dann, wenn sie erkennen, daß sie über die Teilnahme an Interaktionen ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen aufrechterhalten und dabei in die narrativ darstellbare Geschichte von Kollektiven verstrickt sind."312 Es wird deutlich, daß Habermas, und ihm folgend auch J. Rüsen, Geschichte als Praxis der narrativen Verständigung vergesellschafteter Handlungssubjekte zum Zweck einer konsensorientierten Thematisierung und Konstruktion gemeinsamer Lebenswelt verstehen. Eine derartige Konzeption scheint in der Tat nicht ohne ein „Bewußtsein der Handelnden von sich selbst, mit dem sie ihre Welt und sich selbst handelnd verändern und dabei sie selbst bleiben können" 313 , auskommen zu können. Wie verhält sich dann aber dieser Versuch, den Gedanken einer dem Konstitutionsprozeß von Lebenswelt vorausliegenden transzendentalen Subjektivität durch die Annahme der Bildungsgeschichte der Gattung zu überwinden, zur Behauptung einer im narrativen Prozeß der Darstellung und Erweiterung intersubjektiv akzeptabler Lebenswelt zugrundeliegenden Identität des Bewußtseins? Wiederholen sich nicht im Handlungsbegriff die Probleme jener transzendentalen Konstruktion? Lag nämlich Habermas daran, die bewußtseinsphilosophische Verankerung der Bildung einer gemeinsamen Lebenswelt zu verabschieden, so erforderte andererseits doch auch sein eigener Gedanke der im Bildungsprozeß sich selber erst konstituierenden Gattung seinerseits immer noch ein Moment der Selbstreflexivität praktischer Vernunft, das Habermas letztlich mit Selbstkonstitution 308

Ebd. S. 134 f. Zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Geschichtstheorie vgl. K.-G. Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft. München 3. Aufl. 1974, S. 184-203. 309 J. Habermas, Theorie des kommuniktiven Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt 1981, S.206. 310 Ebd. 311 Ebd. S. 106. 312 Ebd. Dort auch mit ausdrücklichem Hinweis auf A . C . D a n t o u.a. (vgl. auch S.206 f.). 313 J. Rüsen, Geschichte und Norm, aaO., S. 131.

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ineins setzt. So wird „faktisch die Menschheit als Handlungssubjekt ihrer eigenen Geschichte gedacht" 314 . Dann allerdings entsteht die Frage, „wie denn die als Voraussetzung der Vorstellung eines Bildungsprozesses der Menschengattung notwendige Ich-Identität dieser Gattung" 315 gedacht werden könne, zumal dann, „wenn Totalität und Einheit des Subjekts als selber geschichtliche Ereignisse erst innerhalb dieses Prozesses auftreten" 316 . Habermas hat daher den Gedanken eines sich selbst erzeugenden Subjekts später zurückgezogen: „Das sich selbst herstellende Subjekt der Geschichte", so schrieb Habermas nun, „war und ist eine Fiktion" 317 . Mit diesem Verzicht auf den Gedanken eines sich selbst erzeugenden Subjekts verband sich bei Habermas konsequenterweise aber auch die Ablehnung einer geschichtsphilosophischen bzw. -theoretischen Vergewisserung des Bildungsprozesses der Menschheit in der Einheit einer universalen Geschichte, wei sie zuvor Habermas und noch vor ihm die ältere kritische Theorie für sich in Anspruch genommen hatten 318 . „Die Theorie des kommunikativen Handelns soll", so resümierte Habermas 1981, „eine Alternative für die unhaltbar gewordene Geschichtsphilosophie bieten, der die ältere kritische Theorie noch verhaftet war" 319 . Anstelle der geschichtsphilosophischen Prätentionen, mit denen sich die ältere kritische Theorie der Entwicklungslogik der universalen Bildung einer gemeinsamen Lebenswelt zu versichern sucht, vergewissert sich die Theorie des kommunikativen Handelns nurmehr „des vernünftigen Gehalts anthropologisch tiefsitzender Strukturen in einer zunächst rekonstruktiven, d.h. unhistorisch ansetzenden Analyse"320. Von dieser anthropologischen Betrachtungsweise führt nach Habermas „kein Weg zurück zu einer Geschichtstheorie, die nicht a

314

W. Pannenberg, Anthropologie. Anthropologie in theologischer Perspektive. Göttingen 1983, S.496f. Vgl. auch die scharfe Kritik von W.Marx, Grundbegriffe der Geschichtsauffassung bei Schelling und Habermas. In: Phjb 81 (1974), S. 50-76: S.75: „Habermas denkt gleichermaßen noch auf dem traditionellen Boden einer teleologischen Subjektivität. Seiner säkularisierten Fassung des letzten Zieles der Gattungsgeschichte wegen, konstruiert er die Geschichtstheorie teleologisch und aus Glauben an die Macht von Aufklärung und gesellschaftler Praxis versucht er zugleich die Reflexion, und d.i. eine Gestalt der traditionellen Vernunft und Freiheit zu retten." 315 H. M. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte, S. 229. 316 Ebd. S. 229; vgl. dazu auch W. Pannenberg, Anthropologie, S. 496 f. 317 J. Habermas, Über das Subjekt in der Geschichte. In: H. M. Baumgartner/J. Rüsen (Hrsg.), Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik. Frankfurt 2.Aufl. 1982, S. 388-396; S.395. 3,8 Vgl. dazu A.Schmidt, Die kritische Theorie als Geschichtsphilosophie. Frankfurt 1976. 319 J.Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd.2, S.583. 320 Ebd. S. 561.

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fortiori zwischen Problemen der Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik trennt" 321 . Während so bei Habermas die Aporien des Gedankens eines sich selbst als Subjekt seiner eigenen Geschichte konstituierenden Menschheitssubjekts zum Verzicht auf die geschichtstheoretische Vergewisserung der identitätsbildenden Dynamik historischer Prozesse überhaupt führte 322 , möchte Rüsen dagegen an der konstitutiven Bedeutung der Geschichtsthematik für die Identitätsbildung von Handlungssubjekten festhalten. Dann aber muß die Rückbindung des Geschichtsthemas an das Orientierungsbedürfnis von Handlungssubjekten und von anderen Handlungszwecken zumindest insofern zweideutig bleiben, als, ähnlich wie bei Habermas, unter dem Gesichtspunkt der Identitätsbildung die konstitutive Funktion des Handlungsbegriffs zu einer Reduktion der Geschichtsthematik führt 323 . Das wird später noch in einem anderem Problemzusammenhang deutlicher darzulegen sein. Dagegen hat besonders H.Lübbe die „Identitätspräsentationsfunktion" von Geschichte eindeutig von der Handlungsrationalität von Subjekten zu unterscheiden gesucht 324 . Geschichten sind nach Lübbe gerade nicht handlungsrational, sie entziehen sich vielmehr der Handlungsraison der daran Beteiligten325. Darin ist ihm neuerdings R. Bubner gefolgt 326 . Anders als Lübbe jedoch möchte Bubner den dafür maßgeblichen Begriff der Kontingenz seinerseits noch einmal aus dem Handlungsbegriff ableiten. Sowohl die Überlegungen Lübbes wie auch diejenigen Bubners können jedenfalls an dieser Stelle exemplarisch als Beleg für die Abkehr von einer allzu unvermittelt gedachten Begründungsfunktion des Handlungsbegriffs in der Geschichtstheorie herangezogen werden. Mit der folgenden Diskussion der Ansätze von Lübbe

521

Ebd. S.562. Mit der Trennung von Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik in einer möglichen Theorie der Geschichte konzedierte Habermas zugleich die Kritik Baumgartners. 322 Man darf allerdings fragen, welchen Sinn dieser Verzicht hat, wenn Habermas doch andererseits dem historischen Prozeß eine Entwicklungslogik nach Analogie der ontologischen Entwicklungsstadien unterlegt? 323 Vgl. die späteren Ausführungen zu Rüsen. 324 Vgl. H. Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie. Basel Stuttgart 1977, bes. S.55. Vgl. auch H.Lübbe, Die Identitätspräsentationsfunktion der Historie. In: Ders., Praxis der Philosophie, Praktische Philosophie, Geschichtstheorie. Stuttgart 1978, S. 97-122. 325 Vgl. H.Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, S.55: „Geschichten sind Vorgänge, die der Handlungsraison der Beteiligten sich nicht fügen. Sie sind „nicht handlungsrational". Sie sind deshalb auch nicht, wie Lübbe insbesondere gegen Habermas betont, in einen gesellschaftlichen Konsens intersubjektiver Anerkennung gegenseitiger Geltungsansprüche konvertierbar. 326 R. Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsformen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie. Frankfurt 1984.

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und Bubner soll daher die bisherige Kritik an einer subjektivitätstheoretischen und handlungstheoretischen Begründung des Geschichtsthemas in grundsätzlicher Weise zusammengefaßt werden. Zugleich verbindet sich damit eine weitergehende Präzisierung des Begriffs der Kontingenz unter geschichtstheoretischen Gesichtspunkten. Sein Verständnis von Geschichte erläutert Lübbe mit Hilfe der Begriffe „Identität" und „Kontingenz". Als „theorieresistente(s) Element" 327 konstituiert gerade „Kontingenz" die Eigenart geschichtlicher Erkenntnis, so daß sich „Geschichtserfassung generell als Kontingenzerfahrung thematisieren läßt" 328 . Dabei wird der Kontingenzbegriff in logische Opposition zur Behauptung von Handlungsrationalität gebracht und als „Handlungsinterferenz" beschrieben, d.h. als eine aus „der Perspektive des jeweils dominierenden Handlungszwecks ... unbeabsichtigte Nebenwirkung(en), auf die man sich als auf veränderte, selbstverursachte, nicht-intendierte Realitätsbedingungen hernach dann einstellen muß" 329 und für deren phänomenologische Evidenz bereits Hegels „List der Vernunft" und W. Wundts „Heterogonie der Zwecke" einstehen. Anders als bei der an seinen Handlungsmöglichkeiten bemessenen Identitätsbestimmung des Subjekts bedeutet dies, daß sich die „Identität von Subjekten ... vollständig nur über deren Geschichte vergegenwärtigen" 330 läßt, weil sich keine generellen Verhaltens- und Handlungsregeln formulieren lassen, deren konstante Rationalität die Beschreibung von Identität bereits anhand gegenwärtigen Verhaltens und Handelns ermöglicht 331 . Vielmehr unterbricht hier der Gedanke der Kontingenz die Persisitenz subjektiv-intendierter Handlungsrationalität; das gilt nicht nur dann, wenn dem positiv gemeinten Worumwillen des Handelns, wie im Falle intendierter Optimierung des Lebensglücks, der Erfolg versagt bleibt, sondern gerade auch dann, wenn das Subjekt in seiner Lebenssituation sich glücklich empfindet. Auch das tatsächlich erreichte Lebensglück des Einzelnen entspringt keineswegs schon allein aus subjektivem Glückskalkül: Kein Handlungssubjekt hat", so Lübbe, „je seine Geschichte gewollt und zwar auch dann nicht, wenn es in ihr sich gegenwärtig glücklich befindet" 332 . Daher können wir nur aus der Geschichte lernen, „wer einer ist und wieso er ist, wie er ist und wieso er sich so verhält, und wir können aus der Geschichte lernen, ihn zu verstehen" 333 . Diese Nicht-Zuständigkeit bloßer Handlungsrationalität für die Bildung von Identität nun begründet einen strukturellen Zusammenhang von Geschichte und Identität, der zwar weiterhin auf die anthropologische Beschreibung faktischer 327 528 330 332

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H.Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, S.26. 329 Ebd. S. 276. Ebd. S. 56. 331 Ebd. S. 153 . Ebd. S. 240. 333 Ebd. S. 56 . Ebd. S. 236.

Identität angewiesen bleibt, jedoch nicht weiter durch das Argument der Selbstkonstitution von Subjekten anthropologisch begründet zu werden scheint. Die Zuordnungsverhältnisse von Geschichte/Identität einerseits und Handlungsabläufen andererseits zu einem dazugehörigen Subjekt sind vielmehr zu differenzieren: Die „Koinzidenz der Resultate einer Handlung mit den Absichten ihres Subjekts" 334 scheint eine problemlose Zuordnung von Handlung und Subjekt durch den Begriff der Zweckursache zu ermöglichen, während die mit Hilfe des Gedankens der Identitätsbildung entfaltete Struktur des Geschichtsbegriffs eine derart eindeutige Relation nicht in gleicher Weise impliziert. Diesen Unterschied hält Lübbe mit der begrifflichen Differenz von Handlungssubjekt und Referenzsubjekt fest 335 ; das heißt, daß der Begriff des Referenzsubjektes eben jene nicht handlungsrationale, anthropologische Beziehung von Geschichte auf die Identität von Subjekten zum Ausdruck bringen soll. Als Referenzsubjekt wird daher allgemein dasjenige Subjekt bezeichnet, „wovon eine Geschichte erzählt wird" 336 , denn es gibt „keine Geschichte, von der nicht gesagt werden könnte, wessen Geschichte sie ist"337. Wenn aber „die Handlungskompetenz der Referenzsubjekte einer Geschichte für die Anwendbarkeit des Prädikators „Geschichte" irrelevant" 338 ist, dann fragt sich freilich, mit welchen Kategorien sonst die anthropologisch bedeutsame Relation von Geschichte und Subjekt, wie sie im Begriff der Identität angezeigt ist, beschrieben werden kann. Wie werden m.a.W. Geschichte und Subjekt vermittelt, so daß darin so etwas wie Identitätsbildung nachvollziehbar wird? Das soll, ähnlich wie schon bei Danto und Baumgartner, auch bei Lübbe der Begriff der Erzählung leisten: Die Relation von Geschichte und Subjekt wird nurmehr über die Erzählung einer Geschichte als Geschichte dieses Subjekts vermittelt 339 . Es fragt sich nur, ob dieser Be334

Ebd. S. 75. Ebd. S. 75. Das erlaubt zugleich eine Ausweitung des Geschichtsbegriffs über seine anthropologische Anwendung hinaus: „nicht nur, was handelnde Subjekte sind, tun und erleiden oder haben, taucht somit als Subjekt von Geschichten auf, sondern auch das, was überhaupt nicht durch Handlungen vermittelt ist, wie die Erde, das Sonnensystem, die paläontologischen Spezies, ja, ,die Natur' selbst" (ebd. S.77). 336 Ebd. S.77. 337 Ebd. S.75. 338 Ebd. S.77. 339 Der Zusammenhang von Erzählung und Erinnerung der unverwechselbar eigenen, sich im Fortgang der Erfahrung auch wandelnden Lebensgeschichte, ist aus psychotherapeutischer Sicht von W. A. Schelling betont worden: Erinnern und Erzählen. Psychotherapeutische und autobiographische Deutungen der Lebensgeschichte. In: Wege zum Menschen 35 (1983), S.416-422. Vgl. S.416f.: „In der autobiographischen Darstellung .erzählt' der Mensch sich selbst und anderen seine Lebensgeschichte. In dem Maße, wie er seine Lebensgeschichte erzählen kann, kann er seinen Lebenslauf verstehen, d.h. als einen 335

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griff der Geschichte nicht ähnlichen Bedenken wie bereits die D a n t e sche Konzeption der Geschichte als Erzählung unterliegt, insofern die Kohärenz historischer Erzählung und Darstellung dort durch die Beziehung auf ein bereits zugrundeliegendes Subjekt konstituiert wurde? Die Erzählung einer Geschichte als Geschichte eines bestimmten Subjekts begründet ja nicht schon selbst die Zugehörigkeit des Erzählten zu diesem Subjekt, sondern setzt sie immer schon voraus; die Einheit der Geschichte soll doch aber gerade ihrerseits erst die Identität des Subjekts begründen. Andernfalls wäre das Subjekt in der T a t nur, wie F.A. Olafson gegen eine narrative Geschichtstheorie geltend gemacht hat, „simply the logical container" 3 4 0 der erzählten Geschichte. M u ß also nicht auch Lübbes Begründung der Identität des Subjekts aufgefaßt als das Resultat einer Geschichte - , auf den Gedanken der Selbsterhaltung des Subjekts zurückgreifen? In der T a t scheint dies der Fall zu sein; denn Identität als Resultat einer Geschichte ist, wie Lübbe schreibt, zugleich „ R e s u l t a t . . . der Selbsterhaltung und Entwicklung eines Subjekts unter Bedingungen, die sich zur Raison seines jeweiligen Willens zufällig verhalten" 341 . Damit tritt nun erneut die Schwierigkeit auf, die Behauptung einer geschichtlich vermittelten Identität des Subjekts ohne die Voraussetzung solcher Vermittlung als Leistung eben desselben Subjekts beschreiben zu können; jedenfalls bezieht der Begriff der Selbsterhaltung „Identität" auf die Funktion der Repräsentation von Geltungsansprüchen bereits konstituierter Subjekte 342 , so daß die Frage naheliegt, ob sich Lübbes Identitätsbegriff einer Pragmatik verdankt, welche die Unterscheidung von Referenz- und Handlungssubjekt wieder aufhebt, weil Identität sich nun doch als Resultat subjektiver Selbstbehauptung unter den Bedingungen gesellschaftlicher Interaktion bestimmt und damit faktisch der Logik des Handlungsbegriffs folgt. Von einer Theorie kommunikativen Handelns im Habermasschen Sinne wäre die Pragmatik des Identitätsbegriffs dann lediglich durch den Verzicht auf eine universelle Zustimmungsfähigkeit der

sinnvollen Zusammenhang konkret rekonstruieren" (Schelling bezieht sich vor allem auch auf W.Dilthey). 340 F.A.Olafson, Narrative History and the Concept of Action. In: History and Theory 9 (1970), S. 265-289. 541 H.Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, S.218. 342 H.Lübbe, Die Identitätspräsentationsfunktion . . . , aaO., S. 105. In psychotherapeutischer Sicht versteht W.A. Schelling im Anschluß an J. Cremerius, Die Konstruktion der biographischen Wirklichkeit im analytischen Prozeß (in: Freiburger literaturpsychologische Gespräche I, 1981) die Erzählung der eigenen Lebensgeschichte zugespitzt als „Sinn-Schöpfung" des erzählenden Subjekts (Schelling, aaO., S.421). Das erzählende Subjekt wird zum Autor seines biographischen „Romans": „Aus frühen Enttäuschungen, Verletzungen und Mangelerfahrungen entwirft jeder Mensch in .kompensatorischer Absicht' seinen .Roman', der als Resultat einer gelungenen oder mißlungenen ,inneren Auseinandersetzung' mit den realen Vorgaben des Lebens begriffen wird" (ebd. S.421).

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sich mit der Erzählung von Geschichten verbindenden Geltungsansprüche unterschieden. Dieser Reduktion historischer Erzählung auf Kommunikation zum Zwecke gegenwartsorientierter Konsensbildung vergesellschafteter Subjekte sucht Lübbe daher mit der Behauptung einer objektiven Begründungsfähigkeit der zum Zweck der Identitätspräsentation erzählten Geschichte zu entgehen, deren Einlösbarkeit, wie Lübbe eigens betont, von der „Tatsache ihrer (sc. der Geschichte; A. D.) Variabilität nach guten Gründen unterschiedlicher Selbstdarstellung unberührt" bleibt, bzw. umgekehrt mit ihr „durchaus vereinbar" 343 ist. Das bedeutet, daß die Pragmatik der Identitätspräsentationsfunktion erzählter Geschichte von einer konsensorientierten Interaktion im Sinne der Habermasschen Theorie kommunikativen Handelns sich insofern unterscheidet, als sie an einer über das gesellschaftliche Interaktionsgefüge hinausgehenden Objektivität festhält, welche durch den „unverzichtbaren Begriff der abgeschlossenen Vergangenheit" 344 als historische sich bestimmt und von Lübbe als Begründungsobjektivität polemisch gegen den Begriff der Konsensobjektivität im Sinne „allgemein intersubjektiver Zustimmungsfähigkeit abgesetzt wird" 345 . „Das Problem der sogenannten Objektivität erzählter Geschichte ist freilich", wie Lübbe dabei konzediert, „ein vielschichtiges Problem" 346 . Immerhin wäre an Lübbe die Frage zu richten, ob der Begriff der Erzählung für sich genommen schon Kriterien möglicher Objektivität bereitzustellen vermag. Denn auch die narrative Konstruktion darf nicht willkürlich sein; vielmehr unterliegt auch sie rationalen Bedingungen möglicher Überprüfbarkeit, für die jüngst D. Ruloff die Kriterien der Faktenwahrheit, der Vollständigkeit der Rekonstruktion sowie ihrer Plausibilität geltend gemacht hat 347 . Gerade deshalb bleibt der Begriff der Erzählung in der Tat historisch amorph, weil er nicht schon für sich genommen solche Kriterien einer Unterscheidung von wahren und falschen Geschichtserzählungen an die Hand gibt. Historische Authentizität wird keineswegs schon durch bloßes Erzählen ereicht, sondern erst durch seine begründete Beziehung auf die Erfahrung wirklichen Geschehens. Mehr noch läßt sich die geschichtswissenschaftliche Relevanz des Objektivitätskriteriums nicht ohne den Gedanken einer die Pluralität solcher Erfahrungen in sich begreifenden geschichtlichen Allge343

Lübbe, aaO., S. 114. H.Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, S.218. 345 Vgl. H.Lübbe, ebd. S.217-222; und: ders., Die Identitätspräsentationsfunktion . . . , aaO., S. 105-110. 436 H.Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, S. 172f.; vgl. auch J.Rüsen (Hrsg.), Historische Objektivität. Aufsätze zur Geschichtstheorie. Göttingen 1975. 347 D. Ruloff, Geschichtsforschung und Sozialwissenschaft. Eine vergleichende Untersuchung zur Wissenschafts- und Forschungskonzeption in Historie und Politologie. München 1984, S. 378 f. 344

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meinheit ihrer Sinnbeziehungen, und das heißt: nicht ohne die Totalitätsbestimmung einer die Vielfalt der Erfahrungen sinnhaft darstellenden Geschichte denken, welche über die historische Selbstidentifizierung partikularer Subjekte nach Maßgabe ihrer jeweiligen Selbstbehauptungsbedürfnisse hinausgeht. „Nicht jede Erzählung ist historisch im spezifischen Sinne der Geschichtserzählung, sondern nur diejenige, die den Gang tatsächlichen Geschehens wiederzugeben beansprucht. Dabei sind nicht nur Einzelfakten, sondern auch deren Zusammenhänge dem Erzählen des Historikers schon vorgegeben, wenn er sie auch aus dem Blickpunkt seines eigenen Standortes rekonstruiert." 348 Nicht ohne Ironie befand schon J. G. Droysen: „Es ist, glaube ich, ein bloßer Schlendrian, wenn man unter historischer Darstellung immer nur die erzählende versteht." 349 Die von der Transzendentalphilosophie an dieser Stelle vorgenommene Restriktion der Totalitätsbestimmung im Sinne eines Vernunftbegriffs, welcher die Totalitätsbestimmung in eine nach Anzahl der vielen Subjekte sich variierende regulative Idee auflöst, vermag die Frage nach der Faktizität geschichtlicher Allgemeinheit letztlich nicht zu umgehen, weil die mit der transzendentalen Reduktion verbundene Pluralisierung der einen Geschichte zu den vielen Geschichten ja keineswegs schon von der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der diese Geschichten nunmehr je für sich konstituierenden Einheit ihrer Inhalte insbesondere unter Berücksichtigung ihrer intersubjektiven Verflechtung - , dispensiert. „Den Kollektivsingular Geschichte beseitigt man nicht durch Pluralbildung", wie Habermas dazu treffend bemerkt 350 . Diese in der Frage nach der Objektivität geschichtlicher Erkenntnis liegende Verschränkung der methodisch ausweisbaren Kohärenz historisch relevanter Daten und einer Theorie der Geschichte, welche diese Kohärenz auf den Begriff einer Geschichte bringt, die die Sinnabsichten von Handlungssubjekten mit ihrer eigenen Partikularität konfrontiert und über sie hinausführt, hat in Lübbes Begriff der Begründungsobjektivität keinen Eingang gefunden, weil Objektivität sich dort auf die methodologisch verfahrende Begründung historischer Behauptungen „nach Regeln der Kunst 351 " beschränkt, während die im Begriff der 348 W. Pannenberg, Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie VIII: Systematisch-theologisch. In: TRE XII. Berlin 1984, S.658-674, S.668. Eine ähnliche Kritik an der narrativen Geschichtstheorie übt auch J. Habermas mit der Bemerkung, daß sich „die narrativ hergestellte Kontinuität der erzählten Episoden auf die einheitsstifende Kraft der Lebenszusammenhänge (stützt), in denen Ereignisse ihre Relevanz für die Beteiligten schon gewonnen haben, bevor der Historiker hinzutritt" (J.Habermas, Geschichte und Evolution. 1976, S.354). Vgl. auch Anm. 107a. 350 351

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J.G. Droysen, Historik, S.273. J.Habermas, Über das Subjekt der Geschichte, aaO., S.393. H.Lübbe, Geschichtsbegriff, S.177.

Geschichte als Frage nach ihrem Sinn und ihrem Zusammenhang gelegenen Implikation historischer Rationalität und Objektivität sich der Interaktionspragmatik bereits konstituierter Subjekte im Sinne der Präsentation ihrer Identität verdanken 352 . Die Beschränkung auf einen nur methodologischen konzipierten Objektivitätsanspruch schließt damit eine Reflexion auf die Geschichtlichkeit von Identität selber „nach Maßgabe der sich ändernden Geschichte" 353 vom Prozeß der historischen Begründung aus. Statt dessen erscheint der Aspekt der Geschichtlichkeit pragmatisch transformiert als Wandel der Präsentation von Identität nach Bedürfnissen der Selbsterhaltung des Subjekts 354 . Zwar ist die Präsentation von Identität ihrerseits „eine Funktion unserer Geschichte ..., durch die wir, mit dieser sich ändernd, unsere eigene Identität haben" 355 , so daß objektive Darstellungen von Geschichte in der Tat „nicht ohne ein Absehen von ihrer Funktion, Identität zu vergegenwärtigen", möglich sind 356 . Diese Identitätspräsentationsfunktion geht aber nicht konstitutiv in den Begriff der Objektivität ein, sondern stellt lediglich das pragmatisch unerläßliche Prinzip der Auswahl der für eine Situation relevanten Identitätsmomente aus der Geschichte des Subjekts dar. Der von Lübbe letztlich nicht hinterfragte Gedanke der Selbsterhaltung des Subjekts 357 überlagert somit die geschichtliche Konstitution des Subjekts durch die Behauptung einer lediglich pragmatischen Beschränkung der Variabilität möglicher Identität zugunsten wirklich beanspruchter Identität, ohne zu berücksichtigen, daß eben dieser Anspruch das Problem der Deutung und Bedeutung der Geschichte für die Konstitution des Subjekts allererst aufwirft. Denn die relevanten Aspekte individuell beanspruchter Identität sind immer schon Bestandteile einer gemeinsamen Lebenswelt; sie sind daher Momente im Individualisierungsprozeß nicht nur eines Individuums, sondern zugleich 352

Vgl. J. Rüsen, Für eine erneuerte Historik. Studien zur Theorie der Geschichtswissenschaft. Stuttgart Bad Canstatt 1976, S. 134: „Geschichte läßt sich nicht mehr auf den Inbegriff des Erkenntnisobjekts der historischen Wissenschaften beschränken, sondern muß in der historischen Erkenntnis selbst als deren Strukturierung durch den Lebensvollzug des Erkennenden ausgemacht werden." 355 H.Lübbe, ebd. S.185. 3S< Ebd. S. 174. 355 Ebd. S.185. 356 „Den Fall einer von der Erfüllung von Identitätspräsentationsfunktionen freien Geschichtsdarstellung kann es deswegen nicht geben, weil in dieser Freiheit überhaupt kein Prinzip für die Beschreibung einer Geschichte zur Verfügung stünde. Man würde, sozusagen, im Meer der Möglichkeiten, das Ineffabilität des Individuellen darstellt, ertrinken" (Lübbe, Geschichtsbegriff, S. 174). 357 Lübbe beschränkt sich darauf, den Begriff der Selbsterhaltung aus der Systemtheorie zu übernehmen, ohne jedoch die in dieser Hinsicht bestehende Analogie zum philosophischen Gedanken der Selbsterhaltung und seiner Problematik zu berücksichtigen.

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mehrerer Individuen, so daß ihre identitätsbgründende Funktion dauerhaft nur im Bewußtsein einer die Partikularität der Individuen überschreitenden Bedeutung und Kohärenz möglich und nicht bereits durch die Akzeptanz wechselseitig prekärer Geltungsansprüche gewährleistet ist. Es ist ja gerade die Pointe des Kontingenzgedankens, eben auch in dem von Lübbe erhobenen Sinn, daß er die Reduktion der Bedeutung von Ereignissen auf die Perspektivität subjektiver Pragmatik verhindert. Unter diesem Aspekt gesehen müssen nun die Ausführungen von R. Bubner zum Kontingenzbegriff aus besonders problematisch gelten. Zunächst gesteht auch Bubner zu, daß das Moment der Kontingenz oder, wie er sich ebenfalls ausdrückt, des Zufalls, das Geschehen überhaupt erst in die Perspektive historischer Bedeutsamkeit rückt. Denn „was immer gleich ist und überall zu jeder Zeit ganz ähnlich geschehen könnte, entbehrt gerade der Besonderheit, auf die ein historisches Interesse sich richtet" 358 . Bubners These stimmt damit zunächst mit der von uns vertretenen Auffassung überein, daß erst das Moment der Kontingenz dem Geschehen eine historisch unterscheidbare Perspektivität und Objektivität im Sinne eines Ablaufs von Ereignissen verleiht. Ahnlich wie Lübbe kann Bubner sogar sagen, daß unter dem Gesichtspunkt der Kontingenz das Geschehen nicht der Rationalität von Handlungszwecken folgt: „Deshalb gehen im Zeichen des Zufalls die Ereignisse anders aus, als das Handeln für sich intendierte." 359 Um so mehr muß es daher überraschen, wenn Bubner daran festhält: „Geschichte besteht aus Handlungen." 360 Die Vermittlung der beiden Aussagen klingt zunächst eher wie ein dürftiger Kompromiß. „Die Menschen", so schreibt Bubner, „machen ihre Geschichte, aber sie haben sie nicht vollständig unter Kontrolle" 361 . Eine nähere Erklärung dieser auf den ersten Blick widersprüchlich anmutenden Argumentation liegt darin, daß Bubner unter einem kontingenten Ereignis „das unerwartete Auftreten eines Ereignisses, das an sich auch zweckmäßigem Handeln hätte entspringen können 362 , versteht. Bubner beruft sich dafür auf die Zufallslehre des Aristoteles 363 , die „den Zufall in solchen Zusammenhängen aufsucht, in denen ein

358 R. Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie. Frankfurt 1984, S.33. 359 Vgl. ebd. S. 37: „Der Zufall macht ein Handeln zum Ereignis. Was geschieht, tritt ohne vollkommene Zuständigkeit des Handelns ein. Deshalb gehen im Zeichen des Zufalls die Ereignisse anders aus, als. das Handeln für sich intendierte." 360 Ebd. S. 30. 361 Ebd. S.25. 362 Ebd. S. 37. 363 Aristoteles, Physik II/5; Metaphysik V/30, IV/2; De Interpretation IX.

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„Worumwillen" (...) angenommen werden muß, sei es aufgrund der praktischen Zielsetzung oder aufgrund der Naturteleologie" 3 6 4 . Das Beispiel des Aristoteles von dem Schatzsucher, der einen Baum eingräbt und einen Schatz findet, zeigt die „Als-ob-Zweckmäßigkeit" 365 kontingenten Geschehens. Der Schatzsucher hätte nämlich den Schatz, den er nun zufällig gefunden hat, ebensogut auch absichtsvoll suchen (und finden) können. Auch naturale Zufälle lassen sich so in Analogie zu praktischen Zielsetzungen deuten: „Wenn ein Stein so vom Dach fällt, als ob er geworfen wäre, um jemanden zu treffen, stellt sich eine Als-ob-Zweckmäßigkeit ein." 366 Kontingente Ereignisse haben demnach mit Handlungen dies gemeinsam, daß sie sich im Bereich der Zweckmäßigkeit realisieren, - mit dem charakteristischen Unterschied freilich, daß kontingente Ereignisse nicht Resultat tatsächlicher, praktischer Zielsetzungen von Subjekten sind. Das läßt sich an dem Beispiel des Schatzsuchers noch einmal verdeutlichen: Zwar hätte dieser den Schatz auch absichtsvoll suchen können; doch heißt das nicht schon, daß er ihn auch hätte absichtsvoll finden können. Gerade in diesem Unterschied liegt daher auch der springende Punkt, weshalb das Argument der „Als-ob-Zweckmäßigkeit" an sich genommen für die Begründung der Geschichte vom Handlungsbegriff her nichts austrägt. Wo ζ. B. plötzliche Erkrankung als Strafe Gottes aufgefaßt wird, verbindet sich die Unvorhersehbarkeit dieses (naturalen) Vorgangs durchaus mit der Auffassung seiner Zweckmäßigkeit, einer Zweckmäßigkeit allerdings, die nicht der praktischen Zielsetzung endlicher Subjekte entspringt, was am Beispiel der Krankheit auch als besonders plausibel erscheint 367 . Die von Aristoteles allem Geschehen zugrundegelegte Teleologik der Natur läßt sich eben nicht, wie bereits an diesem einfachen Beispiel deutlich wird, auf Handlungstheorie reduzieren. Gerade in dieser Reduktion liegt die Schwäche der Argumentation Bubners. Denn Bubner ist gezwungen, die Als-ob-Zweckmäßigkeit kontingenter Ereignisse so zu verstehen, als ob es sich dabei lediglich um die vom Subjekt nicht realisierten, obgleich möglichen Alternativen seiner tatsächlichen Bubner, a a O . , S. 36. D e n Begriff der Als-ob-Zweckmäßigkeit übernimmt Bubner vonW. Wieland, D i e aristotelische Physik. Göttingen 2. Aufl. 1970, S . 2 5 6 ; bei Bubner, a a O . , S . 3 7 . 3 " Bubner, a a O . , S. 37. 3 6 7 Z w a r kann man jemanden sprichwörtlich eine K r a n k h e i t „an den H a l s " wünschen; aber so verstanden würde der praktische V o r g a n g des Wünschens (jedenfalls dann, wenn das Erwünschte als Resultat des Wünschens auch eintreten soll) eine Vielzahl zusätzlicher, durchaus transsubjektiver Annahmen erfordern, um eine plötzlich eintretende Krankheit auch tatsächlich als Resultat eines Wunsches erscheinen zu lassen. Z u r Bezeichnung subjektiv erreichbarer Z w e c k e d ü r f t e der Begriff des Wünschens jedoch zu vage sein, um eine konsistente Zweck-Mittel-Relation bezeichnen zu können. Anders verhält es sich freilich mit der M a g i e . 364 365

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Handlungszwecke handelt. Das wird von ihm zunächst mit der Endlichkeit des Handelns begründet, „das als das praktische Setzen einer Bestimmung ... ineins das Ausschließen anderer ebenso möglicher Bestimmungen" bedeutet, wobei die ausgeschlossenen Alternativen Möglichkeiten sind, „die das Handeln auch hätte wählen können" 368 . „Weil nicht alle Möglichkeiten gleichermaßen realisiert werden oder im Handlungsvollzug offen bleiben können, stellen sich zufällige Verläufe ein, die niemand gewollt hat, die aber ein Worumwillen darstellen können369. Gegen diesen aus der handlungstheoretischen Reduktion des aristotelischen Teleologiegedankens gewonnenen Begriff von Kontingenz müssen jedoch zwei gewichtige Einwände vorgebracht werden. Erstens zeigt bereits das oben beigebrachte Beispiel einer plötzlichen Erkrankung, daß es durchaus Ereignisse gibt, die sich dem Bereich des praktischen Setzens einer Bestimmung von Seiten des Subjekts entweder ganz entziehen oder zumindest, wie sich am Beispiel des Verkehrsunfalls etwa zeigen läßt, teilweise, weil ein Verkehrsunfall gerade keine gleichberechtigte Alternative zum ordnungsgemäßen Ablauf des Straßenverkehrs darzustellen scheint, wie das nach Bubners Auffasung der Fall sein müßte. Die Auffassung kontingenten Geschehens als eines quasi-zweckmäßigen Verlaufs, der auch Resultat unmittelbar praktischer Zielsetzung hätte sein können, setzt daher zumindest die weitere Annahme voraus, daß bereits die Möglichkeit des Handelns Resultat praktischer Überlegung ist. Und in der Tat ist das die Meinung Bubners: „Die praktische Überlegung entwirft Möglichkeiten, um sich unter ihnen eine zu wählen, die es als seine Bestimmung setzt .. ."370 In diesem Sinne ist „das Handeln, das sich verwirklicht, indem es eine Bestimmung setzt, zugleich das Voraussetzen jener Sphäre des Unbestimmten, aber Bestimmungsfähigen ..." 371 . Doch wie soll das Handeln zugleich die Bedingungen schaffen können, unter denen es selbst allererst möglich wird? An dieser Stelle führt Bubners Versuch, Kontingenz als komplementäre Bestimmung zweckrationalen Handelns einzuführen, in eine Aporie, weil die dabei vorauszusetzende uneingeschränkte Vernünftigkeit des Handelns de facto nicht besteht: „Uneingeschränkte Vernünftigkeit des Handelns setzt so viel voraus, daß gewöhnliche Sterbliche kaum hoffen dürfen, sie je erreichen zu können. In Bereichen der Lebenswelt, in denen die Bedingungen des täglichen Lebens nicht außer Kraft gesetzt werden können, 368

Bubner, aaO., S.41. " Ebd. S.41. Bubners weitere Erläuterung dieses Sachverhalts ist allerdings nicht sehr erhellend. Das Eintreten kontingenter Ereignisse erfolge „nur begleitend zum jeweils konkreten Handeln, so daß die Als-ob-Zweckmäßigkeit auf der eigentlichen Zweckmäßigkeit aufsitzt" (S.41). 370 Bubner, aaO., S.41. 371 Ebd. S. 32. 3

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wird ein vernünftiger Mensch auch gar nicht erst nach ihr suchen." 372 Aber welchen theoretischen Aufschluß vermag der Handlungsbegriff über die Bildung der geschichtlichen Welt dann noch zu geben, wenn seine Vernünftigkeit sich auf eine „unter den einschränkenden Bedingungen der Alltagswirklichkeit" 373 stehende Pragmatik beschränkt, die auf ihre Bedingungen nicht mehr hinterfragbar ist374? Damit hängt die zweite Schwierigkeit in Bubners Argumentation zusammen. Denn die Ausführungen Bubners geben überhaupt keine Erklärung dafür, worauf es hier in erster Linie doch ankommt, nämlich die Faktizität von Kontingenz. Kontingent ist nicht allein schon das bloß Mögliche, sondern erst zugleich auch faktisch Geschehene. Oder noch pointierter gesagt: kontingent ist genau diejenige Faktizität, welche als erwartungsgemäße Möglichkeit gerade nicht in Betracht kam; kontingent ist das scheinbar Unmögliche, welches sich in der Normalität möglichen Geschehens nicht fügt. Dieser zentrale Aspekt des Kontingenzbegriffs wird vefehlt, wenn man statt dessen Kontingenz als Möglichkeit des So-und-auch-anders-Handelns deutet. Die historische Bedeutsamkeit kontingenten Geschehens erschließt sich daher für Bubner auch nur demjenigen, „der in gewissem Sinne schon weiß, wie sich menschliche Praxis abspielt"375. Doch bedeutet eben dies in letzter Konsequenz die Auflösung des Kontingenzgedankens. Als Ergebnis muß daher zunächst dies festgehalten werden, daß die von Lübbe formulierte Unterscheidung von Kontingenz und Handlungsrationalität für die Beschreibung historischer Prozesse unverzichtbar ist. Das gilt ungeachtet des Rückgriffs auf den Gedanken der Selbsterhaltung des Subjekts, der bei Lübbe allerdings nicht ausdrücklich subjektivitätsphilosophisch, sondern in seiner systemtheoretischen Version zugrunde gelegt ist. Doch sind die Konsequenzen, die Lübbe aus dieser Unterscheidung zieht, gleichwohl negativ. Denn die Kontingenz des Geschehens wird nun umgekehrt zum Argument dafür, daß historisches Wissen nicht theoriefähig ist376: „Geschichten sind theorieunfä372 So neuerdings A. Schütz/T. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt Bd. II. Frankfurt 1984, S. 84. 373 Schütz/Luckmann, aaO., S. 85. 374 Vgl. dazu Schütz/Luckmann, aaO., S. 47: „Wir wissen zwar, daß das, was sich morgen ereignen wird, nur zu einem gewissen, vielleicht sehr geringen Teil durch uns beeinflußbar ist und daß Vieles unabhängig von unserem Tun oder Lassen geschehen wird. Aber gerade dieser „machbare" Teil der Zukunft ist für uns Menschen in der natürlichen Einstellung des Alltags von überragender Bedeutung." Doch zwingt selbst noch dieser pragmatisch reduzierte Handlungbegriff zu Annahmen, die unter Gesichtspunkten der kontingenten Komplexität zeitlichen Wandels in ihrer Unschärfe nicht akzeptabel sind, nämlich „daß das Heute im Wesentlichen wie das Gestern ist und daß es ein Morgen wie das heute geben wird" (ebd. S.41). 375 Ebd. S. 32. 376 Vgl. H.Lübbe, Wieso es keine Theorie der Geschichte gibt. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 4 (1979), S. 1-16.

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hig, weil die Reihe der Ereignisse und Zustandsänderungen, über deren Wirkungen sich ein Geschichtssubjekt ändert, aus Elementen besteht, die ... kontingenten Charakter haben." 377 Der Begriff der Kontingenz bezeichnet so jenes Defizit an Allgemeingültigkeit und Funktionalität, derzufolge Geschichte kein Gegenstand theoretischen Wissens ist. Diese defizitäre Deutung des Kontingenzbegriffs ist in der Historiographie weitgehend traditionell. Sie gewinnt in Lübbes Argumentation freilich eine wissenschaftstheoretische Aktualität dadurch, daß Kontingenz als Gegenbegriff zur Funktionalität von Systemen bestimmt wird. Das heißt, daß die Theorieunfähigkeit von Geschichte darauf beruht, „daß diejenigen Ereignisse oder Zustandsänderungen in der Systemumgebung, die das System verändern, in Relation zum Funktionszusammenhang dieses Systems kontingenten Charakter haben" 378 . Sieht man einmal von den subjektivitätsphilosophischen Vorgaben, die sich noch in der Systemtheorie selbst bewahrt haben, ab, so verfehlt die Argumentation Lübbes gleichwohl ihr Ziel. Sie schließt gerade jene Bedingungen von der Beschreibung funktionaler Systeme aus, welche Systeme hinsichtlich ihrer Funktionalität überhaupt erst voneinander unterscheidbar macht. Andernfalls nämlich verflüchtigt sich die Beschreibung von Systemen in eine Abstraktion, in der nicht mehr hinreichend angebbar ist, welche besonderen Funktionen ein System eigentlich erfüllen soll. Die von Lübbe hinsichtlich der Funktionalität von Systemen als sekundär deklassierte Kontingenz von Ereignissen ist für die Beschreibung der Funktionalität von Systemen durchaus von Bedeutung; die Funktionalität ändert sich mit ihr. Ohne die Abstraktion der systemtheoretischen Sprache gesagt, heißt das nichts anderes, als daß auch kontingente Ereignisse bedeutsam sind; ja, sie sind es oft mehr als solche Ereignisse, die als erwartungsgemäße Möglichkeit normalen Geschehens immer schon in Betracht kamen. Ihre Bedeutsamkeit bemißt sich freilich nicht an ihrer Verallgemeinerungsfähigkeit bzw. Subsumierbarkeit unter quasi gesetzmäßigen Verlaufsbeschreibungen. Darin bleibt Lübbes Funktionalismus den Schwierigkeiten des kritischen Rationalismus verhaftet. Die Bedeutung kontingenter Ereignisse erschließt sich vielmehr erst durch ihre Kohärenz mit anderen Ereignissen. Die Verwendung des Kohärenzbegriffs wird im weiteren noch näher zu klären sein. Jedenfalls ist unter dem Gesichtspunkt der Kohärenz der Kontingenzbegriff kein Argument gegen die Theoriefähigkeit historischen Wissens. Bevor in dieser Richtung weiter argumentiert wird, soll das bisher Gesagte noch einmal kurz resümiert werden.

377 378

162

Ebd. S. 16. Ebd. S.10.

2.2.3.

Zusammenfassung

Versucht man im Rückblick auf die bisherige Darstellung eine vorläufige Zusammenfassung, so kristallisieren sich besonders zwei Gesichtspunkte heraus, deren Komplementarität f ü r die weitere Behandlung des Geschichtsthemas von grundlegender Bedeutung ist. Es handelt sich dabei erstens um den gewissermaßen die „Logik" der historischen Forschung unmittelbar betreffenden Sachverhalt der Kontingenz von Ereignissen in dem oben beschriebenen Sinn, welcher die Darstellung und Feststellung von Ereignissen nur im Kontext mit anderen - gleichzeitigen, früheren und späteren - , Ereignissen erlaubt. Ereignisse sind der historischen Urteilsbildung daher nur im Kontext eines historiographisch darstellbaren, zeitlichen Zusammenhangs zugänglich. Insofern ist die historische Zeitstelle f ü r den Bedeutungsgehalt von Ereignissen selbst konstitutiv; „The time position is a part of the content and not only a condition for assuming the contents." 379 Die mit der so beschriebenen Kontingenz historischer Ereignisse aufgeworfene Frage nach der Einheit des Geschehens, innerhalb deren das Was-Sein von Ereignissen allererst bestimmbar wird, leitete sodann zu dem zweiten Gesichtspunkt über, wie nämlich solche Einheit im Erkenntnisprozeß theoretisch abbildbar sei. In den bisher darstellten Theorieentwürfen geschah das durchweg mit der Annahme der Beziehung von Ereignissen auf ein kontinuierliches Subjekt, das die Einheit der Ereignisse und ihrer Reihe als Momente seiner Selbsterhaltung bzw. Selbstkonstitution unter der Bedingung zeitlich sich erstreckender Veränderungen begründet. Für die Rekonstruktion des Geschichtsthemas wurden so anthropologische Annahmen über die in der Geschichte handelnden und leitenden Subjekte leitend: Insbesondere die Frage nach der Einheit der Geschichte wird unter dem Gesichtspunkt der Identität der in dieser Geschichte handelnden Subjekte anthropologisch neu formuliert. Das ist freilich insofern legitim, als eine Konzeption des Geschichtsbegriffs, die statt dessen von den in der Geschichte handelnden und leidenden Subjekten absieht, schlechterdings unmöglich ist380: Die theoretisch rekonstruierten Verlaufsfiguren und Strukturen historischer Prozesse blieben dann abstrakt. Das heißt, daß der Gedanke der Einheit der Geschichte sich durchaus auch in der Reflexion auf die anthropologischen Konkretionen seiner Möglichkeit bewähren muß. So gesehen bleibt allerdings die in den bisher dargestellten Theorieentwürfen jeweils mit anderen Akzenten vorgenommene Rekonstruktion des Geschichtsbegriffs vom Gedanken eines kontinuierlichen 579

N. Rotenstreich, Between Past and Present, S. 133. Darin liegt die Berechtigung der Kritik an den traditionellen Konzeptionen der Universalgeschichte, die die Faktoren geschichtlicher Kontinuität und Einheit anthropologisch nicht mehr zu identifizieren vermögen. 380

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Subjektes her gerade problematisch, weil sie mit der Voraussetzung eines solchen Subjekts den Geschichtsbegriff anthropologisch verkürzt: „Geschichte" wird zum Funktionsbegriff der Selbstkonstitution, der Selbsterhaltung und Selbstdarstellung von Handlungssubjekten. Aber weder der dabei zugrunde gelegte Begriff der Erzählung, noch der Handlungsbegriff selbst vermochten eine derartige Rekonstruktion des Geschichtsbegriffs wirklich zu begründen. Das dürfte zum einen am Gedanken der Selbsterhaltung des Subjekts selbst liegen; bislang ist es nämlich noch nicht gelungen, „die Momente neuzeitlicher Setzung sich selbst erhaltener Subjektivität so miteinander zu vermitteln, daß der Entwurf einer umfassenden Theorie der Subjektivität auch nur möglich geworden wäre. An einer solchen konsistenten Theorie ist nun allerdings viel gelegen, weil ohne sie nicht zureichend verständlich wird, als was denn ein menschliches Subjekt der Moderne sich überhaupt Grundlage seiner selbst und Produzent seiner Selbsterhaltung werden kann" 381 . Zum anderen ist es aber die temporale Kontingenz der Ereignisse, die nach ihrem Zusammenhang fragen läßt. Dieser Zusammenhang ist als Referenzsubjekt noch nicht zureichend beschrieben, weil es sich dabei, wie Baumgartner am Beispiel der Französischen Revolution verdeutlicht hat, nicht um ein Subjekt handelt, das als identisch über die Zeit hinweg gedacht wird, sondern um einen spezifischen Sinnzusammenhang 382 , der zutreffender durch das Verhältnis von Teil und Ganzem bestimmt wird. Die anthropologische Dimension des Geschichtsbegriffs wird damit keineswegs dementiert; für sie werden lediglich andere Kategorien als diejenige der Handlung maßgebend. Die Kritik des Handlungsbegriffs als der zentralen Kategorie des Verständnisses von Geschichte stellt vor allem einen Ansatz für die beabsichtigte Verständigung von historischer Theoriereflexion und Theologie dar, insofern sie die Frage nach dem Sinn der Geschichte erneut zur Disposition stellt383. Gerade die Theologie sollte daher nicht aus vordergründigen apologetischen Motiven die Gleichschaltung von Handlung und Geschichte favorisieren, wie das erst in jüngster Zeit 381

H.Ebeling (Hrsg.), Subjektivität und Selbsterhaltung, S. 10. Vgl. oben Anm. 32. 383 In gleicher Weise sieht auch W. Pannenberg „die Frage nach dem Subjekt der Geschichte" und „die Frage nach der Rolle des Handungsbegriffs überhaupt für das Verständnis geschichtlicher Prozesse" als Ansatzpunkte für eine positive „Wiederaufnahme des Gesprächs zwischen historischer Theoriereflexion und Theologie" (W. Pannenberg, Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie VIII: systematisch-theologisch. In: TRE XII. Berlin 1984, S. 658-674; S.667). Mit Nachdruck betont Pannenberg: „Geschichte ist nicht so etwas wie eine Schöpfung menschlichen Handelns" (ebd. S.668). In Anlehnung an H.Lübbe versteht Pannenberg „die Eigenart von Geschichten (vielmehr) als Prozesse der Identitätsbildung ihres Referenzsubjekts", in welchem die Inhalte des Erlebens von Geschichte auf vorgegebene Sinnzusammenhänge bezogen sind (ebd. S.668). 382

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wieder G. Bader vorgeführt hat384. Als problematisch erweist sich aber auch die theologische Rezeption des Erzählbegriffs im Zusammenhang einer hermeneutischen Vergegenwärtigung des Kerygmas, die im Unterschied zu ihrer Reduktion auf die existentielle Begegnung mit dem Vergangenen als eines Aktes der Entscheidung nunmehr ausdrücklich das „extra-nos" des Glaubens in der geschichtlichen Erfahrung zur Geltung zu bringen sucht. In diesem Sinne hat neuerdings H. Weder unter ausdrücklicher Bezugnahme auf A . C . D a n t o und H.Lübbe das Verhältnis von Glaube und Geschichte zum Thema gemacht 385 . Insofern allerdings für Weder der Bezug auf die Geschichte nur vermittels einer die Faktizität des Geschehens übersteigenden Möglichkeiten sei-

38,1

G.Bader, Rom 7 als Skopus einer theologischen Handlungstheorie. In: ZThK 78 (1981), S. 31-56; S.50: „Im normalen Sprachgebrauch bezeichnen Handlung und Geschichte fast dasselbe. Nach allem, was wir wissen, ist dies auch angemessen." Die Differenzierung von Handlung und Geschichte, wie sie von H. Lübbe vorgenommen worden ist und die von Bader in diesem Zusammenhang ausdrücklich erwähnt wird, diene, theologisch geurteilt, nur „zum Zweck der Entschuldigung" (ebd. S. 51) für geschichtliches Übel: „Geschichten zu erzählen beinhaltet immer die Erklärung der Unzuständigkeit des Handlungssubjekts, Zuständigkeit vielmehr der Geschichte . . . " (ebd. S. 51). Das Bedürfnis nach Entschuldigung setzt nach Bader freilich „Angeklagtsein und somit auch den Begriff des Gesetzes voraus" (ebd. S.51). Die Unterscheidung von Handlung und Geschichte dient ihm daher letztlich zur bloßen Illustration der theologisch verstandenen Gesetzesthematik: es ist „offenbar der Druck eines Gesetzes, die Drohung einer Verurteilung, der nachgebend die Begriffe Handlung und Geschichte nicht mehr umgangssprachlich vermischt bleiben können, sondern zerfahren in die Opposition: Handlung ist nicht Geschichte, und Geschichte nicht Handlung" (ebd. S. 51). Zwar wird man Bader zugestehen können, daß die Unterscheidung von Handlung und Geschichte nicht den Sinn haben kann, den Menschen aus der Verantwortung für seine Lebensführung zu entlassen; es dürfte jedoch deutlich sein, daß in Baders Argumentation historische und theologische Reflexion nur durch eine Metaphorik zusammengezwungen werden, die die Unterscheidung von Geschichte und Handlung nicht als Beschreibung historischen Geschehens, sondern nur als „theoretische" List des sündigen Subjekts, in diesem Fall des Herrn Lübbe und derer, die ihm folgen, zu sehen vermag. Damit verliert die Unterscheidung von Handlung und Geschichte freilich ihren geschichtstheoretischen Sinn. " s H. Weder, Das Kreuz Jesu bei Paulus. Ein Versuch, über den Geschichtsbezug christlichen Glaubens nachzudenken. Göttingen 1981. Vgl. S. 110: „Wenn also der christliche Glaube die Geschichte Jesu Christi erzählt, so bezeugt er damit seinen Respekt vor der Unverwechselbarkeit dessen, dem er sich verdankt. In der Erzählung der Geschichte des irdischen Jesus vollzieht sich die Würdigung der Externität des Christus, indem in ihr das zum Zuge gebracht wird, was gerade nicht zur Disposition des Glaubens steht." Nicht berücksichtigt werden in diesem Zusammenhang die „radikalen Theorien von Narrativität, die die biblische Uberlieferung konsequent auf ihre literarische Faktizität als „Kanon" beschränken und damit dem historischen Zugriff zu entziehen suchen: „On this basis it can be argued that, like any piece of realistic literature, scripture's meaning and significance are not contingent on it's historical referentiality". (Vgl. nur: Hans Frei, The Eclipse of biblical Literature. New Haven 1983; B.S.Childs, Biblical Theology in Crisis. Philadelphia 1970; M.Ellingsen, Luther as Narrative Exegete. In: The Journal of Religion 63 (1983), S. 394-413; das Zitat bei Ellingsen S. 395). „Therefore, the biblical claims cannot be discredited by historical research any more ..." (Ellingsen, ebd. S. 395).

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ner Deutung - und das heißt auch für Weder letztlich: nur im Medium der historischen Erzählung - gegeben ist, wird die geschichtliche, an Jesus von Nazareth orientierte Rede von Gott eine solche, die „die Geschichte Jesu und seinen Kreuzestod als eine Möglichkeit unter anderen und in diesem Sinne als das übersteigende Heil Gottes zur Sprache bringen" will386. Es ist offenkundig, daß es sich bei dieser „geschichtlichen Erfahrung des Kreuzes Christi" 387 um eine theologisch bereis sehr voraussetzungsreich gedeutete Geschichte handelt, die ihrerseits qua Deutung nicht mehr auf ihre Legitimität hin befragbar zu sein scheint, zumal nach Weder ausgerechnet die Auferweckung als Grund dieser Erfahrung ihr einen „unaufhebbaren fiktionalen Zug" verleiht 388 . Gleichwohl möchte Weder den eigentümlichen Status der historischen Erzählung als einer die Faktizität des Geschehens übersteigenden Möglichkeit seiner Deutung geschichtstheoretisch begründet wissen. Dafür beruft er sich gleichermaßen auf die geschichtstheoretischen Entwürfe Dantos und Lübbes, deren eigentliche Argumentationsabsicht er dabei jedoch verfehlt. Ging es bei Danto um die Beschreibung des Was-seins von Ereignissen selbst, deren Definitivität hinsichtlich der für sie notwendigen Verbindung mit anderen Ereignissen aufgrund der Offenheit der Zukunft noch problematisch und vorläufig bleibt, so versteht Weder dies im Sinne einer Unterscheidung von Faktum und Bedeutung, die Danto selbst freilich gerade vermieden wissen wollte. Nach Weder ist die historische Erzählung nunmehr eine Interpretation des Vergangenen im Lichte des Zukünftigen 389 , während nach Danto die historische Erzählung die Faktizitität des historischen Gegenstandes selbst insofern theoretisch abzubilden sucht, als dieser sich durch die Verbindung mit anderen, früheren und späteren Ereignissen überhaupt erst konstituiert, so daß auch die Unterscheidung von Faktum und Bedeutung eine bereits die Konstitution des historischen Gegenstandes selbst betreffende, nämlich die Differenz von Vorläufigkeit und Definitivität seiner Beschreibung meinende Unterscheidung ist. Die Reduktion des Kontingenzbegriffs auf seine moraltheoretische Bedeutung im Sinne ei38