203 87 3MB
German Pages XIX, 264 [277] Year 2020
Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung
Sabine Fries
Gewalterfahrungen gehörloser Frauen Risikofaktoren, Ressourcen und gesundheitliche Folgen
Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung Reihe herausgegeben von Sigrid Bathke, Fakultät Soziale Arbeit, Hochschule Landshut, Landshut, Deutschland Uta Benner, Fakultät Soziale Arbeit, Hochschule Landshut, Landshut, Deutschland Hubert Beste, Fakultät Soziale Arbeit, Hochschule Landshut, Landshut, Deutschland Stefan Borrmann, Fakultät Soziale Arbeit, Hochschule Landshut, Landshut, Bayern, Deutschland Clemens Dannenbeck, Fakultät Soziale Arbeit, Hochschule Landshut, Landshut, Deutschland Dominique Moisl, Fakultät Soziale Arbeit, Hochschule Landshut, Landshut, Deutschland Karin-Elisabeth Müller, Fakultät Interdisziplinäre Studien, Hochschule Landshut, Landshut, Bayern, Deutschland Mihri Özdogan, Hochschule Landshut, Landshut, Deutschland Barbara Thiessen, Fakultät Soziale Arbeit, Hochschule Landshut, Landshut, Deutschland Mechthild Wolff, Studiengangsleitung Kinder & Jugendhi, Hochschule Landshut, Landshut, Bayern, Deutschland Eva Wunderer, Fakultät Soziale Arbeit, Hochschule Landshut, Landshut, Deutschland
Soziale Ungleichheit bezeichnet ein zentrales gesellschaftliches Phänomen, das mit der Entwicklungsgeschichte der Sozialen Arbeit und anderer Sozialwissenschaften untrennbar verbunden ist. Spätestens mit dem Aufkommen des modernen Industriekapitalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der gesellschaftspolitische Hintergrund geschaffen, auf dem sich Soziale Arbeit als Organisationsinstanz entsprechender Hilfen und Unterstützungsleistungen herausbilden konnte. Während in der fordistischen Phase der Nachkriegsgeschichte die Auswirkungen der Polarisierungsprozesse in den unteren Segmenten der Gesellschaft noch einigermaßen hinreichend abgefedert werden konnten, treten die Konsequenzen dieser „gespaltenen Moderne“ in der neoliberalen Ära immer deutlicher zu Tage. Für die Sozialwissenschaften ist damit ein verstärkter theoretischer wie empirischer Forschungsaufwand verbunden, um die Folgen dieser sozialpolitischen Verwerfungen besser verstehen und darstellen zu können. Das Institut „Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung (IKON)“ legt seinen Fokus einerseits auf die Eruierung dieser tiefgreifenden strukturellen Transformationsprozesse, um andererseits aber auch gesellschaftliche Kohäsionsmomente herausarbeiten zu können, die den zunehmenden Spaltungsprozessen entgegen wirken können. Zentral ist dabei die Analyse der Stärkung von Teilhabe und Lebensbewältigungskompetenzen. So vielfältig wie die zu bearbeitenden Problemstellungen fallen die sozialen Felder aus, in denen kohäsionsbezogene Alternativen zu erforschen sind. Dazu gehören beispielhaft die Kinder- und Jugendhilfe, die Herausforderungen der Pflege und Gesundheitsförderung, die Analyse von Geschlechterverhältnissen und Care sowie Formen der Arbeitsteilung im Kontext von Familie und Beruf, die intersektoralen Prozesse sozialer Ausschließung im Bereich abweichenden Verhaltens und sozialer Kontrolle, die Fragen der Integration, der Inklusion/ Exklusion und Migration sowie der Bereich der betrieblichen Restrukturierung und des demographischen Wandels. „Kohäsion“ bedeutet so verstanden immer auch die Suche nach gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten jenseits von eindimensionalen Kausalitäten. Die grundsätzliche Möglichkeit und das grundlegende Erfordernis einer Gestaltbarkeit von Gesellschaft stehen daher im Vordergrund der maßgeblichen wissenschaftlichen Anstrengungen, die sich auch durch eine Ausrichtung auf externe gesellschaftliche Zwecksetzungen auszeichnen und fachliche Debatten anregen wollen. IKON verfolgt insoweit eine Forschungsprogrammatik, die auf eine etablierte und auch selbstverständliche Forschungspraxis auf dem Gebiet der Hochschulen für angewandte Wissenschaften abzielt, auch um ihre gesellschaftliche Stellung und strategische Gewichtung weiter zu konsolidieren. Zu betonen ist dabei eine Eigenständigkeit und Selbstverantwortung von Forschung. Denn gerade die immer noch wachsenden allgemeinen Ansprüche an die Regulierungsfähigkeit und Steuerungskraft des sozialen Bereichs machen eine entsprechende Grundlegung, die maßgeblich durch empirische Forschung ausgeformt wird, schlicht unverzichtbar.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16176
Sabine Fries
Gewalterfahrungen gehörloser Frauen Risikofaktoren, Ressourcen und gesundheitliche Folgen
Sabine Fries Berlin und Landshut, Deutschland Dissertation Universität Bielefeld 2019
Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung ISBN 978-3-658-31925-0 ISBN 978-3-658-31926-7 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31926-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Danksagung
Für Andrea, Beate, Christa, Dora, Elin, Fee, Gisela, Helena, Inge, Jasmin, Klara und Lucie, die wichtigsten Personen dieser Untersuchung, deren tatsächliche Namen ich nicht nennen darf und die doch wissen werden, dass sie gemeint sind. Und für Claudia, die mich wie ein Schatten durch die ganze Arbeit begleitet hat. Ohne ihre Unterstützung hätte ich diese Untersuchung nicht durchführen können. Berlin und Landshut im Mai 2019
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Zusammenfassung
Im Zentrum der vorliegenden Dissertation stehen Gewalterfahrungen im Leben gehörloser Frauen. Es geht um gehörlose Frauen, deren Erstsprache die Deutsche Gebärdensprache (DGS) ist und die als Mitglieder der Gehörlosengemeinschaft angesehen werden können. Die Dissertation fragt danach, welche Risikofaktoren zur hohen Gewaltbetroffenheit geführt haben, über welche Ressourcen gehörlose Frauen ungeachtet kommunikativer Einschränkungen verfügen, um aus Gewaltsituationen herauszufinden, und mit welchen gesundheitlichen Folgen sie bedingt durch Gewalterfahrungen zu kämpfen haben. Ziel ist es, relevante Handlungsaspekte zu ermitteln, die bei einer Konzeption geeigneter präventiver Maßnahmen berücksichtigt werden müssen. Hintergrund: Ausgangspunkt der Untersuchung und zugleich ihr Problemhintergrund war die Studie Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland (von Schröttle et al. 2013). Die dort ermittelte Datenlage gab das Thema der Untersuchung vor. Es stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der erhöhten Vulnerabilität für Gewaltbetroffenheit und der besonderen Lebenssituation gehörloser Frauen. Dabei wurde der partizipative Forschungsansatz der genannten Studie weitergeführt und als Teil des Theorierahmens (Community Engaged Research) postuliert. Methode: Es wurden qualitative Interviews mit 12 gehörlosen Frauen aus ganz Deutschland im Alter von 25 bis 65 Jahren durchgeführt, die im Lebensverlauf Gewalt erfahren hatten. Die Erhebung wurde auf der Basis eines gehörlosenfreundlichen Designs in DGS durchgeführt. Zu den forschungsethischen Vorkehrungen gehörte unter anderem der Einsatz einer Schattengebärderin. Die gebärdensprachlichen Daten wurden zum Zweck der Auswertung mit der Transkriptionssoftware ELAN erfasst und in die deutsche Sprache übersetzt,
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Zusammenfassung
bevor sie mittels qualitativer Inhaltsanalyse ausgewertet wurden. Um dem Umfang und der inhaltlichen Vielfalt der Interviews Rechnung zu tragen, wurde alle Daten mit einer QDA-Software erfasst und in vier Haupt- und 16 Subkategorien eingeteilt. Ergebnisse: Die Ergebnisse zeigen, dass die Interviewpartnerinnen im Lebensverlauf mehrere und unterschiedliche Formen von Diskriminierung erleben, deren Ursachen in Einflüssen diskriminierender und gewaltfördernder Mechanismen zu suchen sind, die auf unterschiedlichen Ebenen wirken. Es wird erkennbar, dass gehörlose Frauen in mehrfacher Hinsicht benachteiligt sind, da bei ihnen mehrere zu einer Diskriminierung führende Merkmale zusammenwirken und sich wechselseitig beeinflussen. Die Aussagen der Interviewpartnerinnen zeigen in aller Deutlichkeit auf, dass bei ihnen eine intersektionelle Diskriminierung vorliegt, also eine Überschneidung von verschiedenen Diskriminierungsformen in einer Person, wobei die Taubheit und die damit einhergehenden Folgen besonders schwer wiegen. Schlussfolgerungen: Die vorliegenden Ergebnisse bieten Lektionen für alle Beteiligten: Eltern und Schule, Gehörlosengemeinschaft und Partner, Beratungsstellen und Frauenhäuser, Ärzte und Therapeuten und nicht zuletzt gehörlose Frauen selbst. Gewaltbetroffene und gewaltgefährdete gehörlose Frauen benötigen eine bedarfsgerechte Infrastruktur. Sie müssen sich – nicht nur im Notfall – darauf verlassen können, dass sie Anlaufstellen und Unterstützungseinrichtungen vorfinden, die für sie zugänglich sind und in denen Fachkräfte auf ihre speziellen Beratungsbedürfnisse vorbereitet sind.
Abstract
This dissertation focuses on experiences of violence in the lives of deaf women. It deals with deaf women whose first language is German Sign Language (Deutsche Gebärdensprache, DGS) and who can be regarded as members of the deaf community. The dissertation inquires into the risk factors that lead to a high incidence of violence, it considers the resources deaf women can draw on, despite communicative restrictions, in order to find their way out of violent situations, and it looks at health consequences deaf women have to contend with as a result of experiences of violence. The aim is to identify relevant aspects of action that must be taken into account when designing suitable preventive measures. Background: A study on the living conditions of women with disabilities and impairments (Schröttle et al. 2013) indicated the problem background and served as the starting point of the present study. The empirical results of the earlier study provided the subject matter of this dissertation. The question arises as to the connection between an increased vulnerability to violence and the special living conditions of deaf women. The participatory research approach of the earlier study was continued and extended to the theoretical framework (Community Engaged Research) of the dissertation. Methods: Qualitative interviews were conducted with 12 deaf women from all over Germany, aged 25 to 65, who had experienced violence during their lifetime. The survey was conducted on the basis of a deaf-friendly design in DGS. One of the research-ethical precautions was the use of a deaf signer who shadowed the responses of the interviewees. For the purpose of analysis, sign language data were recorded with the transcription software ELAN, translated into German, and evaluated by means of qualitative content analysis. In order to take account of the scope and diversity of the content of the interviews, all the data were recorded using QDA software and divided into four main categories and 16 subcategories.
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Abstract
Results: The results show that the interviewees experience several different forms of discrimination throughout their lives, the causes of which are to be found in the influences of discriminatory and violence-promoting mechanisms that operate at different levels. It can be seen that deaf women are disadvantaged in a number of ways, as several characteristics that lead to discrimination interact and influence each other. The responses of the interviewees clearly show that they suffer from intersectional discrimination, i.e. an overlap of different forms of discrimination in one person, with deafness and the associated consequences weighing particularly heavily. Conclusions: The available results offer lessons for all participants: parents and schools, the deaf community and deaf partners, counselling centres and women’s shelters, doctors and therapists and, last but not least, deaf women themselves. Deaf women who are affected by or at risk of violence need an infrastructure that meets their needs. Not only in emergency situations must they be able to rely on finding contact points and support facilities that are accessible to them and in which specialists are prepared to meet their specific counselling needs.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Annäherung an das Thema. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Forschungsinteresse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.3 Public-Health-Relevanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.4 Ausgangsannahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1.5 Zielsetzung dieser Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2 Zur bilingualen und bikulturellen Lebenssituation gehörloser Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.1 Lebenswelt und Sprache(n) gehörloser Menschen . . . . . . . . . . . . . . 17 2.2 Untersuchungen zur Lebenssituation gehörloser Frauen. . . . . . . . . . 30 2.3 Zwischenfazit I: Die Bedeutung der bilingualen und bikulturellen Prägung der zu befragenden gehörlosen Frauen für die Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3 Gewalterfahrung hörender und gehörloser Frauen . . . . . . . . . . . . . . . 39 3.1 Risikofaktoren für das Erleben von Gewalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3.2 Ressourcen und Bewältigungsstrategien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.3 Gesundheitliche Folgen von Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3.4 Untersuchungen zu spezifischen Gewalterfahrungen gehörloser Frauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.5 Zwischenfazit II: Konsequenzen für die eigene Fragestellung und die Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4 Empirische Umsetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 4.1 Auswahl des Forschungsdesigns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 4.2 Forschungsethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 4.2.1 Wahl eines gehörlosengerechten Forschungsansatzes. . . . . . 59 XI
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4.2.2 Die Methode des Schattengebärdens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 4.2.3 Gehörlosenfreundliches Forschungsdesign. . . . . . . . . . . . . . 70 4.3 Erhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 4.3.1 Interview . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 4.3.2 Leitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 4.3.3 Sampling und Ablauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 4.4 Übersetzung der gebärdensprachlichen Daten. . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4.4.1 Die Transkriptionssoftware ELAN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 4.4.2 Übersetzung der Videoaufzeichnungen in die deutsche Schriftsprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 4.4.3 Ausgewählte Besonderheiten der Übersetzung der gebärdensprachlichen Interviews in die deutsche Schriftsprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 4.5 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4.6 Gütekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen . . . . 103 5.1 Beschreibung der Stichprobe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 5.2 Der Einsatz der Schattengebärderin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 5.2.1 Die Arbeitsweise der Schattengebärderin . . . . . . . . . . . . . . . 108 5.2.2 Zwischenfazit zum Schattengebärden. . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 5.3 Gewaltsituationen im Leben gehörloser Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . 113 5.3.1 Gewaltsituationen in Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . . . . 113 5.3.1.1 Gehörlose und andere hörbehinderte Kinder und Jugendliche als Täter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 5.3.1.2 Hörende als Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 5.3.1.3 Gehörlose Erwachsene als Täter. . . . . . . . . . . . . . . 119 5.3.2 Gewaltsituationen im Erwachsenenleben . . . . . . . . . . . . . . . 119 5.3.2.1 Fortführung der in Kindheit und Jugend erlebten Gewaltsituationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 5.3.2.2 Gewalt in Paarbeziehungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 5.3.2.3 Gewalt durch einen gehörlosen Partner. . . . . . . . . 122 5.3.3 Diskriminierung in der Ausbildung und am Arbeitsplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 5.3.4 Ausmaß der Gewalterfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 5.4 Risikofaktoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 5.4.1 Sprachkompetenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 5.4.1.1 Fehlender Erstspracherwerb. . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 5.4.1.2 Unzureichende Deutschkompetenz. . . . . . . . . . . . . 132
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5.4.1.3 Späte Entdeckung der Gebärdensprache. . . . . . . . . 133 5.4.2 Selbstbild. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 5.4.2.1 Identitätskrisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 5.4.2.2 Unwissenheit und Uninformiertheit. . . . . . . . . . . . 136 5.4.2.3 Scham- und Schuldgefühle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 5.4.2.4 Infragestellen der eigenen Glaubwürdigkeit. . . . . . 137 5.4.2.5 Gewöhnung an das Überschreiten der Intimitätsgrenze und an Übergriffe. . . . . . . . . . . . . 137 5.4.2.6 Selbstkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 5.4.3 Familie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 5.4.3.1 Überforderung durch ein hörbehindertes Kind. . . . 139 5.4.3.2 Schwächendes oder überbehütendes Elternverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 5.4.3.3 Mühsame alltägliche Kommunikation . . . . . . . . . . 141 5.4.3.4 Außenseiterrolle und geringe emotionale Bindung an Eltern und Geschwister. . . . . . . . . . . . 143 5.4.3.5 Unzureichende Information und/oder sexuelle Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.4.4 Schule und Internat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 5.4.4.1 Eingeschränkte Kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . 145 5.4.4.2 Eingeschränkte Wissensvermittlung und sexuelle Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 5.4.4.3 Fehlende oder unzureichende Reaktion auf das Gewalterleben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 5.4.5 Gehörlosengemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 5.4.5.1 Alternativlose Einbindung in eine kleine begrenzte Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 5.4.5.2 Fehlende Freundschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 5.4.5.3 Soziale Kontrolle durch „Klatsch und Tratsch“. . . . . 151 5.4.5.4 Eingeschränkte Peer-Group-Erfahrungen. . . . . . . . 153 5.4.5.5 Gehörlos-gehörlose Paarbeziehungen. . . . . . . . . . . 154 5.4.5.6 Schwangerschaft und Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.5 Ressourcen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 5.5.1 Persönliche Ressourcen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 5.5.1.1 Biografische Wendepunkte, die zur Eigeninitiative führten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 5.5.1.2 Religion und Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 5.5.2 Soziale Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
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5.5.2.1 Unterstützung durch Familienangehörige. . . . . . . . 160 5.5.2.2 Unterstützung durch hörbehinderte Freunde und Bekannte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 5.5.2.3 Selbsthilfegruppen mit anderen gehörlosen betroffenen Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 5.5.2.4 Unterstützung durch Partner. . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 5.5.2.5 Unterstützung durch hörende und gehörlose Arbeitskollegen und Vorgesetzte. . . . . . . . . . . . . . . 167 5.5.3 Professionelle Ressourcen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 5.5.3.1 Polizei. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 5.5.3.2 Weißer Ring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 5.5.3.3 Justiz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 5.5.3.4 Ärzte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 5.5.3.5 Psychotherapeuten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 5.5.3.6 Beratungseinrichtungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 5.5.3.7 Frauenhäuser. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 5.6 Gesundheitliche Folgen von Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 5.6.1 Körperliche Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 5.6.2 Somatische und psychosomatische Folgen . . . . . . . . . . . . . . 183 5.6.3 Psychische Folgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 5.6.4 Verstärkte soziale Isolation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 5.7 Zusammenfassung der Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 5.7.1 Erziehungs- und Kommunikationsversäumnisse in Elternhaus und Schule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 5.7.2 Alternativlose Einbindung in die Gehörlosengemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 5.7.3 Ansatzpunkte für Hilfe und Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . 190 6 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 6.1 Methodendiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 6.1.1 Methodenwahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 6.1.2 Stichprobe, Interviewführung und Interviewauswertung. . . . 193 6.1.3 Reflexion des Einsatzes der Schattengebärderin. . . . . . . . . . 197 6.1.4 Reflexion der eigenen Rolle als gehörlose Forscherin. . . . . . 202 6.2 Ergebnisdiskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 6.2.1 Erziehungs- und Kommunikationsversäumnisse in Elternhaus und gehörlosenspezifischen Institutionen . . . . . . 207 6.2.1.1 Mangelnder Schutz und Respekt in der Herkunftsfamilie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
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6.2.1.2 Frühe Fremdbestimmung und kommunikative Isolation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 6.2.1.3 Unzureichende Reaktion auf Gewaltvorfälle in gehörlosenspezifischen Institutionen . . . . . . . . . . . 212 6.2.2 Beschränkte Peer-Group-Erfahrungen und alternativlose Einbindung in die Gehörlosengemeinschaft . . . . . . . . . . . . . 214 6.2.2.1 Sexuelle Grenzverletzungen durch eigene Peers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 6.2.2.2 Spezifische Abhängigkeitsverhältnisse in gehörlos-gehörlosen Paarbeziehungen und in der Gehörlosengemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 6.2.3 Ansatzpunkte für Hilfe und Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . 221 7 Handlungsempfehlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 7.1 Handlungsempfehlungen für die Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 7.2 Konkrete Handlungsschritte für Beratungseinrichtungen, Frauennotrufe und Frauenhäuser. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 7.2.1 Zugang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 7.2.2 Kommunikative Barrierefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 7.2.3 Einbeziehung von Gebärdensprachdolmetscherinnen. . . . . . 232 7.2.4 Information und Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 7.3 Qualitätssichernde Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 8 Fazit: Gesundheitspolitische Perspektiven für gewaltbetroffene gehörlose Frauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
Abbildungsverzeichnis
Abb. 3.1 Deaf Power and Control Wheel (Deaf Hope 2006). . . . . . . . . . . . . 48 Abb. 4.1 Interviewsetting mit Schattengebärderin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
XVII
Tabellenverzeichnis
Tab. 4.1 Wunschliste Stichprobenauswahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Tab. 4.2 Ergebnis Stichprobenauswahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Tab. 4.3 Thematische Hauptkategorien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Tab. 4.4 Zusammenstellung Hauptkategorien (Beispiel) . . . . . . . . . . . . . . 97 Tab. 4.5 Vollständiges Kategoriensystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Tab. 5.1 Übersicht über Gewalterfahrungen der Interviewpartnerinnen. . . 106 Tab. 5.2 Überblick über Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend. . . . . 114 Tab. 5.3 Formen sexuellen Missbrauchs durch gehörlose Mitschüler . . . . 116 Tab. 5.4 Überblick über Gewalterfahrung im Erwachsenenleben. . . . . . . . 120 Tab. 5.5 Überblick über erfahrene Übergriffe durch einen Partner. . . . . . . 122 Tab. 5.6 Überblick über Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen in Kindheit und Jugend sowie Erwachsenenleben . . . . . . . . . . . . . . 128 Tab. 5.7 Inanspruchnahme professioneller Unterstützung . . . . . . . . . . . . . 169
XIX
1
Einleitung
Violence against women must never be accepted, never excused, never tolerated. Every girl and woman has the right to be respected, valued and protected. (Ban Ki-moon, ehemaliger UN-Generalsekretär, am 29.12.2012 anlässlich des gewaltsamen Todes der Inderin Jyoti Singh Pandey)
1.1 Annäherung an das Thema Gewalt gegen Frauen – diesem Thema kommt in Deutschland eine immer größer werdende gesellschaftliche und gesundheitspolitische Bedeutung zu. Hiervon zeugen unter anderem die in den letzten Jahren veröffentlichten Studien, allen voran die erste bundesweit repräsentative Untersuchung Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland (Müller & Schröttle 2004). Daran anknüpfend lässt sich im letzten Jahrzehnt eine wachsende Sensibilisierung zu diesem Thema feststellen, die sich in entsprechenden Gesetzen, dem Gewaltschutzgesetz von 2002 (Bundesamt für Justiz 2002) und dem Gesetz zur Verbesserung des Schutzes gegen Nachstellungen 2007; 2017 (BMJV o. J.), in Maßnahmen der Prävention und des Opferschutzes (u. a. seit 2012 Bundesweites Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen) und nicht zuletzt in weiteren vertiefenden Forschungsarbeiten1 niedergeschlagen hat. 2010 löste die Aufdeckung von sexuellem Missbrauch in pädagogischen Institutionen eine öffentliche Debatte aus und führte noch im selben Jahr zur
1Einen
Überblick über relevante Studien bietet Abschn. 2.2.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Fries, Gewalterfahrungen gehörloser Frauen, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31926-7_1
1
2
1 Einleitung
Gründung des Runden Tisches des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), um die Gewaltvorkommen in Institutionen historisch aufarbeiten zu können (Bundesregierung 2011; vgl. auch Bange 2016: 33f.). Damit wurde ein Signal gegen das Vertuschen und Verdrängen von Gewalt gesetzt. In Politik und Zivilgesellschaft begann man damit, sich umfassend mit dem Thema zu beschäftigen, und dem ersten Runden Tisch folgten weitere Gesprächsrunden zur Aufarbeitung verschiedenster Formen von Gewalt.2 Gewalt in engen sozialen Beziehungen gilt längst nicht mehr als Privatangelegenheit, die innerhalb der Familie unter Verschluss gehalten wird, sondern wurde in medialen Kampagnen, Veröffentlichungen von Studienergebnissen und einer Reihe von Fachtagungen öffentlich diskutiert und sichtbar gemacht. Aufgrund einer wachsenden Zahl von Umfragen zur Gewaltbetroffenheit liegen nunmehr verlässliche Daten vor, die nicht nur über Ausmaß und Verbreitung von Gewalt informieren, sondern auch auf die Folgen von Gewalt hinweisen. Alle Formen von Gewalt können erhebliche psychische, psychosoziale und gesundheitliche Folgen nach sich ziehen. Die vielfältigen gesundheitlichen Folgen sind mit denen von HIV, Tuberkulose, Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen vergleichbar (WHO 2002; Hornberg et al. 2008: 7). Die Erkenntnis, dass gehörlose Frauen von verschiedenen Formen von Gewalt und ihren Folgen genauso oder sogar weit häufiger betroffen sein können als andere Frauen, ist vor allem Forschungsarbeiten der letzten fünf Jahre zu verdanken, allen voran der Studie Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland (Schröttle et al. 2013). Ein erhöhtes Risiko für Gewalterfahrungen ergibt sich bei gehörlosen Frauen, aber auch bei Männern,3 zunächst vor allem aufgrund einer ausgeprägten sozialen Isolation. Selbst in der hochzivilisierten bundesrepublikanischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts bestehen für gehörlose Menschen nach wie vor gravierende Kommunikationsbarrieren, obwohl sich in den vergangenen 20 Jahren Veränderungen hin zu einer zunehmenden gesellschaftlichen Anerkennung und
2Um
aus der Fülle der Runden Tische einen für diese Studie besonders relevanten herauszugreifen: Die Veröffentlichung der Ergebnisse der Gehörlosenbefragung der Studie Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland (Schröttle et al. 2013) hat 2014 zur Gründung des Runden Tisches gegen Gewalt unter Federführung der Evangelischen Gehörlosenseelsorge Berlin geführt, der seitdem mit Aktionen, Vorträgen, Theaterstücken und anderen Veranstaltungen berlinweit auf dieses Thema aufmerksam macht (www.taub-gewalt-stop.net). 3Im Folgenden werden gehörlose Männer als Gewaltopfer ausgeklammert, was nicht implizieren soll, dass diese nicht oder weniger betroffen sein können als gehörlose Frauen.
1.1 Annäherung an das Thema
3
Wertschätzung der Gebärdensprache vollzogen haben (u. a. Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache im Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Bundesamt für Justiz 2002); vgl. dazu auch Abschn. 2.1). Ein allgemein gegenwärtiger Aspekt, der sozial- und gesundheitspolitisch konsequent mitbedacht wird, ist der Gebrauch der Gebärdensprache deshalb noch lange nicht. Nach wie vor erschweren soziale und kommunikative Einschränkungen Gehörlosen den Zugang zu Informationen und zu Wegen aus der Gewaltsituation. Von Tätern kann dies für ihre Zwecke ausgenutzt werden, wie in der vorliegenden Arbeit aufzuzeigen sein wird. Gewalttätige Übergriffe und die sich daraus ergebende Notsituation sind mit Bezug auf gehörlose Frauen noch schwerer zu erkennen und zu bewältigen, als es für nicht behinderte Frauen auf Grundlage der bestehenden Forschungseinsichten angenommen werden muss. Die Situation gehörloser Frauen ist durch einen weiteren Faktor gekennzeichnet: Sie sind nicht nur Mitglieder einer gesellschaftlichen Randgruppe, sondern stellen aufgrund ihres Geschlechtes innerhalb dieser Minorität wiederum eine benachteiligte Gruppe dar. Eine wichtige Motivation dieser Arbeit besteht darin, zu klären, inwieweit Denkweisen und Strukturen, die innerhalb der Gehörlosengemeinschaft anzutreffen sind, dazu beitragen, gehörlose Frauen in ihrer Rolle als zweites Geschlecht zu fixieren (de Beauvoir 1949; vgl. Fries 2013), und letztlich auch das hohe Ausmaß an Gewaltbetroffenheit begünstigen. Damit verknüpft ist die Hoffnung, das Thema Gewalt innerhalb der Gehörlosengemeinschaft nach ersten erfolgreichen Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung4 konsequent zu enttabuisieren und so das Risiko für gewalttätige Übergriffe gegen gehörlose Frauen zu vermindern. Es mag verwundern, dass in einer Arbeit, in deren Mittelpunkt Frauen stehen, diese häufig ‚nur mitgemeint‘ sind, wenn es um die Bezeichnung gemischtgeschlechtlicher Personengruppen geht. Dass auf eine gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet wurde, geschieht vor allem aus Gründen der besseren Lesbarkeit. Dass es sich bei Ärzten, Autoren oder Dolmetschern häufig, wenn nicht überwiegend, um Frauen handelt, sollte sich von selbst verstehen.
4Durch das Einbeziehen gehörloser Frauen in die BMFSFJ-Befragung (Schröttle et al. 2013) entwickelte sich eine verstärkte Sensibilisierung innerhalb der Gehörlosengemeinschaft. So fanden seit 2013 zahlreiche Frauenseminare zur Gewaltproblematik statt. Auch durch die wöchentliche Fernsehsendung für Hörgeschädigte „Sehen statt Hören“ wurde dieses Thema mehrfach in die Gehörlosengemeinschaft getragen (Bayerischer Rundfunk 2014; 2017).
4
1 Einleitung
1.2 Forschungsinteresse Erste Einblicke zum Thema Gewalt gegen gehörlose Frauen bekam ich durch meine Mitarbeit an der Studie Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland (Schröttle et al. 2013), die vom Interdisziplinären Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung (IFF) und der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld durchgeführt wurde. Diese bundesweit repräsentative, groß angelegte Untersuchung füllte bis dahin bestehende Wissenslücken über das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen mit Beeinträchtigungen, Behinderungen5 und chronischen Erkrankungen und trug zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit für dieses Thema bei. Die erhobenen Daten zeigen nachdrücklich auf, dass ein Zusammenhang von Gewalt und gesundheitlicher Beeinträchtigung oder Behinderung besteht: Frauen und Mädchen mit Behinderungen sind in auffälliger, teilweise erschreckender Weise häufiger als Frauen ohne Behinderungen von Gewalterfahrungen betroffen. Meine Mitwirkung an der Studie bestand darin, die Befragung gehörloser Frauen vorzubereiten, durchzuführen und die Ergebnisse aus der Sicht der Deaf Studies und auf der Grundlage meiner Erfahrungen als Angehörige der Gehörlosengemeinschaft auszuwerten. In dieser zahlenmäßig kleinsten zusätzlichen Befragungsgruppe war ein besonders ausgeprägtes Ausmaß von Gewaltbetroffenheit zu erkennen: Gehörlose Frauen wiesen in allen Formen von Gewalterfahrungen hohe, im Vergleich mit anderen Befragungsgruppen oft sogar höchste Betroffenheit auf. Das betraf sowohl Erfahrungen häuslicher Gewalt im Erwachsenenleben durch gehörlose oder hörgeschädigte Beziehungspartner als auch das Erleben sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend im Umfeld von Schulen und Betreuungseinrichtungen durch gehörlose oder hörgeschädigte männliche Mitschüler. Die Eindringlichkeit dieser Ergebnisse war vermutlich mitbedingt durch die für diese Teilbefragungsgruppe speziell entwickelte methodische Zugangsweise. Da das Interesse des verantwortlichen Forscherteams um Prof. Dr. Claudia Hornberg und Dr. Monika Schröttle groß war, auch solche Gruppen von Frauen einzubeziehen, die durch Standardbefragungen schwer erreichbar sind, wurde es ermöglicht, eine kommunikativ barrierefreie Form der Befragung durchzuführen. So gehörte es zu
5Die
Begriffe „Beeinträchtigung“ und „Behinderung“ werden in der Literatur oft synonym benutzt. Sofern nicht anders ausgewiesen, ist hier vor allem gemeint, dass Bedingungen und Erwartungen einer Gesellschaft zu Beeinträchtigungen und Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen führen können (vgl. Bleidick et al. 1989: 9).
1.2 Forschungsinteresse
5
meinen Aufgaben, die Voraussetzungen für eine direkte, persönliche Befragung in Gebärdensprache zu definieren. Zu diesem Zweck wurden gehörlose Interviewerinnen gewonnen und speziell für diese Aufgabe geschult. Der Fragebogen wurde mit Blick auf die besondere Lebenssituation gehörloser Frauen modifiziert und in angepasster Form in die Deutsche Gebärdensprache (DGS) übersetzt. Die durch diese Interviews an den Tag gebrachte auffällige Präsenz der Gewaltproblematik innerhalb der Gehörlosengemeinschaft überraschte nicht nur das Bielefelder Forschungsteam, sondern auch die involvierten gehörlosen Interviewerinnen, die von mir in kontinuierlichen Feedbackschleifen während der Feldphase begleitet wurden. Tatsächlich waren bis dahin Gewalterfahrungen gehörloser Frauen nur rudimentär dokumentiert worden. In dem zeitgleich mit der Durchführung der Interviews veröffentlichten Forschungsüberblick von Anderson, Leigh und Samar (2011) wurde genau diese Problematik thematisiert. Die Autoren deckten auf, dass zwar Untersuchungen vorlägen, in denen behinderte Frauen und ihre Gewalterfahrungen im Mittelpunkt stünden, und dass in diesem Zusammenhang auch gehörlose Frauen befragt worden seien, man es jedoch versäumt habe, diese Daten gesondert zu analysieren: „This absence of research wrongly implies that intimate partner violence is a non-issue in the Deaf Community“ (7). Aber auch innerhalb der Gehörlosengemeinschaft wurde die in den Studien dokumentierte Gewaltbetroffenheit gehörloser Frauen und Mädchen allem Anschein nach selten angesprochen oder gar problematisiert. Zudem erschwert die besondere Ausprägung der Behinderungsform Gehörlosigkeit betroffenen Personen den Zugang zu Information, Hilfe und Unterstützung. Fehlender Nachdruck seitens der Betroffenen und ein Mangel an gesicherten Erkenntnissen zur Gewaltproblematik innerhalb der Gehörlosengemeinschaft haben dazu geführt, dass diese Personengruppe im Bereich des Gesundheitswesens in Aufklärung und Prävention sowie bei der Bereitstellung unterstützender Maßnahmen kaum jemals angemessen berücksichtigt worden ist: „And although the deaf community has a powerful history of advocacy work, domestic and sexual violence issues in the community are still largely overlooked or misunderstood“ (Rems-Smario 2007: 17). Das weitgehende Fehlen empirischer Studien und differenzierter Analysen zur Lebenssituation gehörloser Frauen erschwert die Ermittlung und Aufdeckung gewaltbegünstigender Risikofaktoren. Die Motivation für die vorliegende Arbeit ergibt sich aus der skizzierten Sachlage. Im Rahmen der Bielefelder Studie waren über die repräsentative Haushaltsbefragung und die Zusatzbefragung hinaus in einer weiteren qualitativen Studie unter der Federführung von Barbara Kavemann und Cornelia Helfferich (2013) auch 31 Frauen mit unterschiedlichen Behinderungen, nicht jedoch gehörlose
6
1 Einleitung
Frauen vertiefend zu ihren Gewalterfahrungen im Lebensverlauf befragt worden. Die vorliegende Arbeit füllt somit eine Lücke: Verlässliche empirische Daten zu den Gewalterfahrungen gehörloser Frauen vorzulegen, um Erkenntnisse über Hintergründe und Verlaufsformen des individuellen Gewalterlebens einerseits und über Erfahrungen mit und Erwartungen an Unterstützung andererseits zu gewinnen, ist ihr ein wichtiges Anliegen. Mein Forschungsinteresse zielt darauf ab, Erkenntnisse über Zusammenhänge, Ausmaß und Hintergründe von Gewalterfahrungen gehörloser Frauen zu gewinnen. Diese sollen Auskunft über die Vielfalt und Komplexität von häufig sich überlappenden Gewaltformen und -erfahrungen innerhalb der Gehörlosengemeinschaft geben. Letztlich sollen damit Ansatzpunkte ermittelt werden, an denen sich gezielte Präventions- und Interventionsmaßnahmen orientieren können.
1.3 Public-Health-Relevanz Gehörlose Menschen können im selben Sinne gesund oder krank sein wie andere Menschen auch, aber der Zugang zum medizinischen Versorgungssystem ist häufig in spezifischer Weise erschwert: Die Teilhabe an Information, Beratung, Unterstützung, Versorgung und Hilfe ist oft in besonderer Weise mit Hürden verbunden und es bedarf eines besonderen Aufwands, um Wege der Verständigung zu schaffen. Höcker (2010) gelangt in seiner Untersuchung zur sozialmedizinischen Versorgung Gehörloser zu folgendem Fazit: „Es hat sich gezeigt, dass gehörlose Patienten häufig Gefahr laufen, ihren Arztbesuch durch vielfältige Kommunikationsbarrieren und Missverständnisse als Zumutung zu erleben“ (80). Man darf davon ausgehen, dass eine pathogenetische Sichtweise auf gehörlose Menschen, die auf pädagogische, vor allem aber auch medizinische Interventionen setzt, gesellschaftlich und institutionell einflussreich und wirkungsmächtig ist. Orientiert man sich an den klassischen Unterscheidungen der Weltgesundheitsorganisation (vgl. DIMDI 2005), dann geht es bei Gehörlosigkeit vor allem um physische Schädigungen des Gehörorgans, denen möglicherweise mit Mitteln medizinisch-technischer Interventionen zu begegnen ist; es geht um Fähigkeitsstörungen, die die Funktion des Hörens betreffen und nur bedingt durch medizinische oder audiopädagogische Maßnahmen auszugleichen sind, und es geht nicht zuletzt um gravierende soziale Beeinträchtigungen, die gesellschaftliche Teilhabe einerseits einschränken, andererseits jedoch autonome soziale Zusammenhänge und Lebensentwürfe zur Folge haben (Ebbinghaus & Heßmann 1989; Woll & Ladd 2003; Heßmann, Hansen & Eichmann 2012).
1.3 Public-Health-Relevanz
7
Gehörlosigkeit bzw. „Taubstummheit“ gehört vom Standpunkt unhinterfragter Normalität in einen Bereich beeinträchtigter Gesundheit, der Eingriffe und Hilfsmaßnahmen aller Art als selbstverständlich geboten erscheinen lässt. Nach den neuesten Schätzungen der World Health Organization (WHO) sind mehr als fünf Prozent der Weltbevölkerung (ca. 360 Millionen Menschen, darunter 32 Millionen Kinder) von einer Hörschädigung betroffen. In einer jüngst verabschiedeten Resolution zur Hörgesundheit hat die WHO bestätigt, dass Hörverlust als ein schwerwiegendes Problem der öffentlichen Gesundheit verstanden wird. In diesem Zusammenhang sind die Regierungen aller Mitgliedsstaaten aufgefordert, diesem Problem künftig eine höhere Priorität einzuräumen und einen nationalen Aktionsplan zur Bewältigung zu entwickeln (WHO 2017). Die Resolution bezieht sich jedoch lediglich auf hörgeschädigte Menschen – gehörlose Menschen und Gebärdensprache werden nicht erwähnt. Der Weltverband der Gehörlosen (WFD), der sich als internationaler Dachverband für die Rechte von über 70 Millionen vorwiegend gebärdensprachorientierten Gehörlosen weltweit einsetzt, hat sich mit einer kritischen Stellungnahme an die WHO gewandt und gefordert, die Förderung der sprachlichen und kulturellen Identität Gehörloser und die gebärdensprachliche Bildung gehörloser Kinder explizit als eine der Gesundheitsmaßnahmen zu benennen (WFD 2017). Dass Gehörlosigkeit durchaus als Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens aufgefasst und gelebt werden kann, ist tatsächlich eine Einsicht neueren Datums, die auch mit einem aufgeklärten Verständnis von Behinderung nicht immer umstandslos vereinbar ist. Längst drückt sich das auch in der Selbstbezeichnung „gehörlos“ aus, die sich spätestens mit Beginn des neuen Jahrtausends auch im allgemeinen Sprachgebrauch gegenüber dem älteren, als diskriminierend empfundenen Begriff „taubstumm“ durchgesetzt hat. In Anlehnung an den englischen Begriff „deaf“ wird in jüngerer Zeit jedoch zunehmend auch die Bezeichnung „taub“ verwendet. Gemeint sind mit all diesen Begriffen in aller Regel Menschen, die seit früher Kindheit mit einer gravierenden Einschränkung ihres Hörvermögens leben und regelmäßig Gebrauch von Gebärdensprache machen. In der vorliegenden Arbeit verwende ich für diesen Personenkreis um des besseren Verständnisses willen vorwiegend die Bezeichnungen „gehörlos“, „Gehörlose“ und „Gehörlosengemeinschaft“. Damit beziehe ich mich auf Menschen mit einer meist frühkindlich erworbenen gravierenden Einschränkung des Hörvermögens, zu deren Alltag der Gebrauch der Gebärdensprache und die Interaktion mit Gleichbetroffenen gehören, und zwar unabhängig davon, ob ein Restgehör vorhanden ist, ob medizinisch-technische Hilfsmittel wie Hörgeräte oder ein Cochlea-Implantat genutzt werden (s. auch Abschn. 2.1) oder ob die Betreffenden regelmäßigen laut- oder schriftsprachlichen Umgang mit Hörenden
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1 Einleitung
haben. Bei aller Variation hinsichtlich der genannten Faktoren ist Gebärdensprache für die hier gemeinten Menschen in aller Regel die kommunikativ eindeutig bevorzugte Sprache und kann in diesem Sinne als ihre Erstsprache angesehen werden. Gehörlose und gebärdensprachorientierte Menschen haben an Stärke und Selbstbewusstsein gewonnen und sind zunehmend stolz darauf, gehörlos oder aucht taub zu sein. Und dennoch soll und darf nicht ausgeblendet werden, dass es daneben auch noch eine „eingeschränkte Leiblichkeit“ (Fries 2012: 328f.) gibt, die das Leben in einer hörenden Mehrheitsgesellschaft und die Bewältigung von alltäglichen Herausforderungen häufig schwer macht. Aus dieser Perspektive heraus greift der Gesundheitsbegriff der WHO in seiner Fokussierung auf pathogenetische Aspekte und Maßnahmen zu kurz, „nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass er zu wenig differenziert zwischen Gesundheit auf der einen und Wohlbefinden (‚well being‘) auf der anderen Seite“ (Hornberg 2016: 64). Die gelebte Wirklichkeit gehörloser Menschen ist eben nicht nur die einer beeinträchtigten Gesundheit. Auf der Suche nach Tiefe und Erkenntnis, was es heißt, als gehörloser Mensch durch die Welt zu gehen, hat sich längst eine weitergehende Perspektive gebildet. So hat sich koexistent und teilweise konkurrierend seit den 1980er-Jahren eine neue, emanzipatorisch inspirierte Sichtweise von Gehörlosigkeit etabliert. Diese Sichtweise nimmt ihren Ausgang von der Einsicht in den Sprachcharakter der lange als primitiv beargwöhnten Gebärdensprachen Gehörloser (vgl. Abschn. 2.1.). Sie hat Anlass zu vielfältigen sozialen Veränderungen gegeben. Akademisch findet sie Ausdruck in der vor einigen Jahrzehnten in den USA gegründeten Wissenschaftsdisziplin Deaf Studies (vgl. Marschark & Spencer 2003; 2010; Bauman 2008a; Kusters, de Meulder & O’Brien 2017), die mittlerweile auch in der deutschen Lehre und Forschung Fuß gefasst hat (vgl. u. a. Fries & Geißler 2013). Gehörlosigkeit wird nunmehr als ein positives Merkmal persönlicher Identität auf der Grundlage einer gebärdensprachlich orientierten Lebensweise und Kultur, so wie sie innerhalb der Sprachund Kulturgemeinschaft Gleichbetroffener wesentlich ausgeprägt ist, verstanden. Im Zentrum steht die Formulierung eines salutogenetischen Selbstverständnisses gehörloser Menschen mit dem Ziel der Nutzung von Ressourcen und der Stärkung von Resilienz in Abgrenzung zu einem traditionellen, medizinisch und karitativ geprägten Behinderungsparadigma (vgl. Abschn. 2.1). Eine solche Auffassung von Gehörlosigkeit fügt sich in ein Verständnis von Gesundheit, das sich im Anschluss an die sogenannte Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation von 1986 entwickelt hat (WHO 1986). Gesundheit ist danach nicht auf das Freisein von Krankheit und Gebrechen zu reduzieren, sondern erweist sich wesentlich als Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens.
1.3 Public-Health-Relevanz
9
Der interdisziplinäre Ansatz der Gesundheitswissenschaften (Public Health)6 ist vor diesem Hintergrund als ein kritisches Bemühen um eine nachhaltige Entwicklung des Gesundheitswesens und die Verminderung gesundheitlicher Ungleichheiten anzusehen. Die Gesundheitswissenschaften verstehen sich als eine Verbindung von Wissenschaft und Praxis und nehmen das körperliche, geistige und soziale Wohlergehen einer ganzen Bevölkerung oder einer spezifizierten Bevölkerungsgruppe in den Blick: „Public Health ist die Wissenschaft und die Praxis zur Verhinderung von Krankheiten, zur Verlängerung des Lebens und zur Förderung von physischer und psychischer Gesundheit unter Berücksichtigung einer gerechten Verteilung und einer effizienten Nutzung der vorhandenen Ressourcen“ (DGPH 2012). Gesundheit wird als eines der Grundrechte des Menschen angesehen. Sie ist ein Zustand, der maßgeblich durch gesundheitsbezogenes Verhalten und gesundheitsschützende Lebensverhältnisse bestimmt ist (vgl. Trojan & Legewie 2001). Es entspricht diesem Denk- und Praxisansatz, das körperliche, geistige und soziale Wohlbefinden gehörloser Menschen nicht losgelöst von der gelingenden gebärdensprachlichen Kommunikation innerhalb der sozialen Gemeinschaft Gehörloser zu betrachten. Es bedarf einer gesundheitswissenschaftlich aufgeklärten ressourcenorientierten Sichtweise auf gehörlose Menschen, um qualitative Daten vorlegen zu können, die mit Bezug auf Gewalterfahrungen über Risikofaktoren und Ressourcen im Leben gehörloser Frauen verlässlich Auskunft geben. Nur so können bestehende Lücken und Schnittstellenprobleme in der Gesundheitsversorgung aufgespürt, entsprechende Optimierungsprozesse angestoßen und in ihrer praktischen Umsetzung langfristig fachlich begleitet werden. Gehörlose Frauen gehören bislang noch zu einer in der gesundheitlichen Versorgung wenig beachteten Teilgruppe. Im Zuge einer gesundheitswissenschaftlich fundierten Herangehensweise können sinnvolle Ansätze für präventive Maßnahmen aufgezeigt werden, die im weiteren Sinn auch ein wesentliches Korrektiv zu vornehmlich medizinisch-rehabilitativen Interventionsperspektiven darstellen.
6In
der Gesundheitsforschung und im Gesundheitswesen wurde für die neue Querschnittsdisziplin in den 1980er-Jahren in Deutschland die Bezeichnung Gesundheitswissenschaften und als englische Entsprechung die Bezeichnung Public Health eingeführt. Mittlerweile hat sich der Oberbegriff Gesundheitswissenschaften weitgehend durchgesetzt: Er steht für „ein Ensemble von Einzeldisziplinen, die auf einen gemeinsamen Gegenstandsbereich gerichtet sind: die bevölkerungs- und systembezogene Analyse von Determinanten und Verläufen von Gesundheits- und Krankheitsprozessen und die Ableitung von bedarfsgerechten Versorgungsstrukturen und deren systematische Evaluation unter Effizienzgesichtspunkten“ (Hurrelmann, Laaser & Razum 2012: 16).
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1 Einleitung
1.4 Ausgangsannahmen Die vorliegende Arbeit bringt mit den Themenfeldern Gehörlosigkeit, Geschlecht und Gewalt soziale Aspekte zusammen, die in einem hohen Maß gesundheitsrelevant sind, aber in der Praxis bislang noch keine hinreichende Berücksichtigung erfahren. Ausgehend von den Ergebnissen der im Kontext der BMFSFJ-Studie (Schröttle et al. 2013) entstandenen Arbeiten lassen sich die wesentlichen Ausgangsannahmen, die dieser Dissertation zugrunde liegen, wie folgt zusammenfassen: 1. Gehörlose Frauen sind überdurchschnittlich häufig von psychischer, körperlicher, sexueller und struktureller Gewalt betroffen. Die BMFSFJ-Studie hat diesen grundlegenden Aspekt bereits zu großen Teilen in generalisierender Form bestätigt: Gehörlose Frauen sind nach den Frauen in Einrichtungen für psychische Erkrankungen die am höchsten von körperlicher und sexueller Gewalt betroffene Gruppe (Schröttle et al. 2013: 415). 2. Die hohe Gewaltbetroffenheit gehörloser Frauen steht in Zusammenhang mit kommunikativen Barrieren. Mit Blick auf die mir – durch meine Einbindung in die Gehörlosengemeinschaft – bekannten Lebensverläufe gehörloser Frauen und den in diesen Lebensverläufen im Besonderen noch zu untersuchenden gewaltbegünstigenden Konstellationen lässt sich ein Zusammenhang zwischen der erhöhten Gewaltbetroffenheit und der besonderen Lebens- und Kommunikationssituation gehörloser Frauen vermuten (Fries 2013: 44; Fries & Schröttle 2015: 87). 3. Die starke, häufig alternativlose Einbindung in die Gehörlosengemeinschaft ist ein weiterer Risikofaktor im Leben gehörloser Frauen und erhöht ihre Gewaltbetroffenheit, besonders in Paarbeziehungen. Die Daten der BMFSFJ-Studie haben eine hohe Gewaltbetroffenheit besonders in Paarbeziehungen aufgezeigt (Schröttle et al. 2013: 416). Auffällig sind auch die Zahlen, die auf sexuellen Missbrauch in Kindheit und Jugend durch gleichaltrige Mitschüler in den Bildungseinrichtungen und Internaten mit Hörbehinderten hindeuten (ebd.: 415). 4. Kommunikative und soziale Barrieren erschweren gehörlosen Frauen den Ausstieg aus der Gewalt. Gehörlose Frauen haben oft einen langen und beschwerlichen Weg hinter sich, wenn sie aus der Gewalt herausgefunden haben (Fries 2013: 45; Fries & Schröttle 2015: 75). 5. Gewalterfahrungen wirken sich bei gehörlosen Frauen in besonderer Weise auf ihre Gesundheit aus und können zu kurz-, mittel- und langfristigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen.
1.5 Zielsetzung dieser Arbeit
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Gewalterfahrungen wirken sich nachhaltig auf das weitere Leben betroffener Frauen aus (Hornberg et al. 2008: 7). Unter „Gewaltfolgen“ versteht man neben akuten physischen Verletzungen auch im Nachhinein auftretende psychische sowie psychosoziale Probleme. Sowohl reale Gewaltereignisse als auch die persönliche und psychische Verarbeitung des Gewalterlebens führen wegen der erschwerten Teilhabe an Unterstützungsangeboten zu weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen und zu sozialer Isolation gehörloser Frauen. 6. Um aus der Gewalt zu finden, nutzen gehörlose Frauen vor allem gebärdensprachbasierte Kontaktmöglichkeiten, Wege und Mittel. Allem Anschein nach finden gehörlose Frauen häufig auch ohne ein adäquates Beratungs- und Unterstützungsangebot aus der Gewalt heraus. Da ihnen die gängigen Wege (Hilfetelefon, Frauenhäuser) aufgrund der kommunikativen Barrieren oft versperrt bleiben, nutzen sie stattdessen möglicherweise alternative Wege und Mittel, insbesondere auf der Basis persönlicher und sozialer Kontakte (Fries 2013: 45; Fries & Schröttle 2015: 78). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die auffällige Prävalenz von Gewalterfahrung bei gehörlosen Frauen, ihr hoher Einfluss auf die Lebensqualität sowie die sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen eine Herausforderung für wirksame Public-Health-Strategien darstellen. Als einem anwendungsorientierten Fachgebiet gehört es zu den Aufgaben von Public Health, auch schwer erreichbare und benachteiligte Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen. Für gehörlose Frauen muss ebenfalls gelten, was für die Durchschnittsbevölkerung gilt, nämlich „die Chancen auf eine lange Lebenszeit bei guter Gesundheit für alle Bürgerinnen und Bürger unabhängig von Region und sozialer Stellung zu verbessern“ (Dragano et al. 2016: 688).
1.5 Zielsetzung dieser Arbeit Im Zentrum der vorliegenden Dissertation steht die Thematisierung von Gewalterfahrungen gehörloser Frauen. Sie zielt darauf ab, Gewalterfahrungen und Gewaltkontexte dieser gesellschaftlichen Minderheitsgruppe zu untersuchen. Es geht um gehörlose Frauen, deren Erstsprache die DGS ist und die als Mitglieder der Gehörlosengemeinschaft angesehen werden können. Alle Interviews wurden daher direkt und ohne Zuhilfenahme von Gebärdensprachdolmetschern oder anderen Kommunikationshilfen in DGS geführt. Zusätzlich zu Fragen des Gewaltausmaßes befasst sich diese Untersuchung auch mit den speziellen
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1 Einleitung
äter-Opfer-Kontexten in dieser Gemeinschaft und den hier vorzufindenden TatT orten, also vor allem Institutionen und Einrichtungen des Gehörlosenwesens, an denen Gewalt erlebt wurde. Darüber hinaus werden Reaktionen auf Gewalt abgefragt, zum Beispiel, ob eine Anzeige erstattet wurde, die Täter gerichtlich belangt wurden oder ob Gegenwehr erfolgte. Aus dem gewonnenen Datenmaterial werden vor allem die Risikofaktoren herausgearbeitet, die zu der hohen Gewaltbetroffenheit geführt haben. Hier werden nicht nur die Einflüsse von Kommunikationshindernissen im familiären, alltäglichen und gesellschaftlichen Umfeld untersucht, sondern auch Beziehungsmuster innerhalb der Gehörlosengemeinschaft mit einbezogen – angefangen von Internatsunterbringung und Beschulung in spezifischen Gehörloseninstitutionen bis hin zur Einbindung in soziale Netzwerke von Gehörlosenvereinen im Erwachsenenleben. Neben der Herausarbeitung von Risikofaktoren wird überprüft, über welche Ressourcen gehörlose Frauen ungeachtet kommunikativer Einschränkungen verfügen, um aus ihrer Gewaltsituation herauszufinden. Darüber hinaus wird ermittelt, mit welchen gesundheitlichen Folgen gehörlose Frauen bedingt durch Gewalterfahrungen zu kämpfen haben. Die Zielgruppe der gehörlosen Frauen nutzt nur selten das Unterstützungssystem, das von Gewalt betroffenen Frauen im Allgemeinen zur Verfügung steht. Gewalt ist in der Gehörlosengemeinschaft stärker tabuisiert und wird deshalb auch seltener institutionell sichtbar bzw. polizeilich bekannt. Aufgrund der Kommunikationsproblematik werden gehörlose Frauen umgekehrt auch vom Unterstützungssystem seltener erreicht als andere Frauen, obwohl ihre Gewaltbetroffenheit, wie noch aufzuzeigen sein wird, um ein Vielfaches höher ist als die des Bevölkerungsdurchschnitts. Diese Phänomene verweisen darauf, dass die Zielgruppe gehörloser Frauen zwar einen erheblichen, aber bisher noch verdeckten Unterstützungsbedarf hat. Ausgehend von den Folgeproblemen, die bei den von Gewalt betroffenen Frauen dieser Studie ermittelt wurden, werden abschließend Maßnahmen benannt, die der Beratung und Unterstützung dieser Zielgruppe aus gesundheitspolitischer Perspektive dienen können. Die vorliegende Studie basiert auf Einzelinterviews, die mit gewaltbetroffenen gehörlosen Frauen im Zeitraum von Oktober 2013 bis Februar 2014 geführt wurden. Sie ist nicht repräsentativ, die abzuleitenden Ergebnisse sind also nur begrenzt verallgemeinerbar. Die hier befragten zwölf Interviewpartnerinnen wurden gezielt nach bestimmten Kriterien ausgewählt, um eine gewisse Bandbreite an Alter, Herkunft, Bildungshintergrund und Familienstand zu repräsentieren. Die vertiefenden qualitativen Interviews fokussieren auf konkrete lebenslaufspezifische Ursachen- und Entstehungszusammenhänge der erlebten Gewalt.
1.5 Zielsetzung dieser Arbeit
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Eine weitere Begrenzung der vorliegenden Untersuchung besteht – wie bei allen anderen qualitativen Studien auch – darin, dass selbst bei einer sensiblen und die betroffenen Frauen so weit wie möglich schützenden Herangehensweise durch eine Schattengebärderin (vgl. Abschn. 4.2.2) niemals das gesamte Ausmaß der Umstände, die zum Gewalterleben geführt haben, erfasst werden kann. Insofern wird bei der Interpretation und Diskussion der Ergebnisse äußerste Vorsicht geboten sein. Falls es darüber hinaus mithilfe dieser Studie gelingen sollte, durch die erhobenen subjektiven Sichtweisen und Bewältigungsprozesse gewaltbetroffenen gehörlosen Frauen eine Stimme zu geben, ist die vordringlichste Zielsetzung dieser Arbeit erreicht, nämlich die verdrängte und tabuisierte Gewalt gegen gehörlose Frauen zu einem öffentlichen Thema zu machen.
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Zur bilingualen und bikulturellen Lebenssituation gehörloser Frauen
Deaf communities are best understood as language minorities rather than a group of disabled people. Deaf communities have experienced a savage form of linguistic oppression which has sought to replace their languages but which has also, often, deprived Deaf communities of access and literacy, access to education, to knowledge about shared collective history and culture. Sign languages have endured in spite of this oppression, which has fostered in its turn a strong community spirit and collective identity. (Ladd, Gulliver & Batterbury 2003: 20)
Die Lebensbedingungen gehörloser Frauen können nicht losgelöst von der allgemeinen Lebenssituation gehörloser Menschen und ihrer besonderen bilingualen und bikulturellen1 Ausprägung betrachtet werden. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Zugehörigkeit der gehörlosen Frauen zur Gehörlosengemeinschaft. Letztere ist von eigenen kulturellen Normen und gemeinsam geteilten Erfahrungswerten in einer hörenden Mehrheitsgesellschaft geprägt. Gehörlose Menschen schließen sich vorzugsweise in einer Gemeinschaft mit anderen gehörlosen Menschen
1Das
Bewusstsein, neben einer eigenen Sprache auch über eine eigene Kultur zu verfügen, ist innerhalb der Gehörlosengemeinschaft noch nicht lange präsent: „Without mentioning the word ‚culture‘, Deaf people have historically maintained a discourse that was about themselves, their lives, their beliefs, their interpretation of the world, their needs, and their dreams“ (Humphries 2008:23).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Fries, Gewalterfahrungen gehörloser Frauen, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31926-7_2
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2 Zur bilingualen und bikulturellen Lebenssituation …
zusammen, mit denen sie ungehindert im Austausch stehen können. Gehörlosengemeinschaften sind „hochgradig endogam“ (Uhlig 2012: 251). Gehörlose wählen für die Organisation sozialer Kontakte und für die Herstellung eigener Familienbeziehungen überwiegend Partner aus, die ebenfalls gehörlos sind. Innerhalb der Gehörlosengemeinschaft werden die Themen „geschlechtergerechte Teilhabe“ und „Frauenrechte“ öffentlich so gut wie nicht diskutiert. Eine kleine, nichtrepräsentative Umfrage, die Sabine Heinecke 2001 im Rahmen einer Diplomarbeit durchgeführt hat, greift dieses Thema erstmals auf. Heinecke, selbst gehörlos, führte fünf umfangreiche Interviews mit gehörlosen Frauen im Raum Berlin durch. Sie geht in ihrer Arbeit vor allem auf die Frage der Selbstbestimmung gehörloser Frauen ein und behandelt Aspekte wie „Vertrauenspersonen in Bezug auf weibliche Themen“ oder „Heutige Einstellung zur Partnerschaft und Sexualität“. In dieser Arbeit kann Heinecke unter anderem aufzeigen, dass gehörlose Frauen sich in der Regel an erster Stelle als gehörlos und erst dann als Frau verstehen (ebd.: 20). Bewusstseinsprozesse und Emanzipationsbestrebungen in der Gehörlosengemeinschaft konzentrierten sich bislang vor allem auf eine „Neuschreibung der Gehörlosenidentität von ‚deaf‘ zu ‚Deaf‘ d. h. von einem pathologischen Zustand des Hörverlustes zu der kulturellen Identität einer sprachlichen Minderheit“ (Bauman 2008b: 222).2 Die Frage, wie Taubsein („Deafhood“, Ladd 2003) als ein positives Merkmal von Identität zu Stärke und geistiger Gesundheit („organic cure of deafness“; Deafhood Foundation o. J.) beitragen kann, hat den Diskurs innerhalb der Gehörlosengemeinschaft weitaus mehr geprägt als Geschlechterfragen und Frauenrechtsdiskussionen. Tatsächlich dürfte die Zugehörigkeit zur Gehörlosengemeinschaft als identitätsstiftender Faktor auch für gehörlose Frauen von besonderer Bedeutung sein. Hier finden sie unter Ausnutzung der gegebenen kommunikativen Ressourcen die im Zweifelsfall besseren Voraussetzungen für ein authentisches Leben.
2Die
verbreitet verwendete Unterscheidung der Schreibweisen „Deaf“ und „deaf“ geht auf James Woodward (1975) zurück, der damit den Unterschied zwischen einer kulturellen Kategorie von Gehörlosigkeit („Deaf“) im Gegensatz zum audiologischen bzw. medizinisch diagnostizierten Zustand des Nicht-Hörens („deaf“) markieren wollte (vgl. auch Woodward & Horejes 2016: 284ff.).
2.1 Lebenswelt und Sprache(n) gehörloser Menschen
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2.1 Lebenswelt und Sprache(n) gehörloser Menschen Obwohl sich Hörverluste messbar in Dezibel ausdrücken und in prä- und postlinguale Gehörlosigkeit kategorisieren lassen,3 ist das Nicht-hören-Können weitaus vielfältiger, als es die medizinische Betrachtungsweise ausdrücken kann. „Many ways to be Deaf“ heißt ein von Taylor und Darby 2003 herausgegebener Reader, in dem Gehörlose aus fünf Kontinenten ihre sehr unterschiedlichen Lebenswege beschreiben. Allen gemeinsam ist, dass der Grad und der zeitliche Eintritt der Hörschädigung keine primäre Rolle spielt, vielmehr ist die vielfältige Gestaltung der Zugehörigkeit zur Gehörlosengemeinschaft und zur Gehörlosenkultur der ausschlaggebende Faktor. Es kann allerdings davon ausgegangen werden, dass bei der betrachteten Personengruppe die audiologische Hörschädigung in aller Regel gravierend ist und zu einem frühen Zeitpunkt im Leben aufgetreten ist. Aus medizinischer Sicht ist dieser Umstand als die erhebliche körperliche Beeinträchtigung zu sehen, als die sie in medizinischen Lehrbüchern beschrieben wird. Im Gegensatz dazu wird die Gehörlosengemeinschaft in der vorliegenden Arbeit als eine bilinguale und bikulturelle Gemeinschaft gesehen. Im Vordergrund steht dabei die Selbstwahrnehmung und Lebensführung gehörloser Menschen, die Gegenstand der Wissenschaftsdisziplin der Deaf Studies ist, einem in Deutschland noch relativ jungem Fach, das sich mit Gehörlosigkeit aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektivebeschäftigt (vgl. Fischer et al. 2009; Fries & Geißler 2011; 2013). Aus der Sicht der Deaf Studies werden im Folgenden die für die vorliegende Untersuchung relevanten Aspekte der bilingualen und bikulturellen Lebenssituation gehörloser Menschen dargelegt: Gebärdensprache; Gehörlosengemeinschaften; Gehörlosenidentität; Anerkennung der Gebärdensprachen, Kommunikationshilfen und Gebärdensprachdolmetscher; Gehörlosigkeit aus medizinischer Sicht; gehörlose Menschen und die deutsche (Schrift)sprache; Bildungssituation Gehörloser; familiäre Sozialisation Gehörloser.
3Eine gängige audiologische Einteilung erfolgt anhand des Zeitpunktes, an dem die Hörschädigung im Leben einsetzt. Man unterscheidet hier zwischen prälingualer und postlingualer Taubheit. Als „prälingual ertaubt“ werden hörgeschädigte Menschen bezeichnet, die vor dem Lautspracherwerb (also in der Regel vor dem 4. Lebensjahr) ertaubt sind, als „postlingual ertaubt“ jene, die erst nach dem Lautspracherwerb (also nach Abschluss des 4. Lebensjahres) einen Hörverlust erlitten haben (vgl. Frings & Müller 2016: 671ff.).
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2 Zur bilingualen und bikulturellen Lebenssituation …
• Gebärdensprache Gebärdensprachen als visuelle Form von Kommunikation bilden die Grundlage der Existenz von Gehörlosengemeinschaften. Diese Sprachen sind darüber hinaus aufs Engste mit der Gehörlosenkultur verwoben (vgl. u. a. Lane 1992; Ladd 2003; Padden & Humphries 2005; Uhlig 2012). Gebärdensprachen sind natürliche, nicht an bildhafte Zeichen gebundene Sprachen, die gesprochenen Sprachen in ihrer Leistungsfähigkeit ebenbürtig und in ihrer Organisationsform vergleichbar sind. Während innerhalb der Gehörlosengemeinschaft das ungezwungene gebärdensprachliche Miteinander traditionell als „Plaudern“ bezeichnet wurde, wuchs in den Sprachwissenschaften – angestoßen von William C. Stokoes Arbeit zum Kommunikationssystem der US-amerikanischen Gehörlosen (Stokoe 1960) – die Erkenntnis, dass die spontan verwendeten Kommunikationsmittel Gehörloser systematische Eigenschaften haben und „real languages in every sense of the term“ sind (Sandler & Lillo-Martin 2001: 533; vgl. u. a. Klima & Bellugi 1979; Pfau, Steinbach & Woll 2012).4 Entgegen einer unter Laien weit verbreiteten Annahme sind Gebärdensprachen nicht international. Zeshan (2012) geht davon aus, dass „sich die Anzahl aller Gebärdensprachen der Welt im Bereich einiger Hundert bewegt“ (312). Davon sind die Gebärdensprachen der großen Industrienationen, allen voran die Amerikanische Gebärdensprache (American Sign Language, ASL), relativ gut dokumentiert (ebd.). Innerhalb der nationalen Gebärdensprachen gibt es regionale Varietäten, Variablen und Varianten (vgl. Lucas 2001; Hillenmeyer & Tilmann 2012). Mit Pfau, Steinbach & Woll (2012) liegt eine umfangreiche Gesamtdarstellung einschlägiger internationaler Forschungsergebnisse zu Gebärdensprachen vor; für die DGS vgl. Eichmann, Hansen & Heßmann (2012). • Gehörlosengemeinschaften Die Heranbildung einer in Deutschland bewusst wahrgenommenen bilingualbikulturellen Gehörlosengemeinschaft, in der Gehörlosigkeit nicht als Behinderung, sondern vielmehr als ein „positives Merkmal von Identität“ (Fries 2013: 34)
4Bereits
im 18. Jahrhundert gab es erste entscheidende Hinweise auf die Eigenständigkeit von Gebärdensprachen (vgl. Fischer 1995). Diese sind dem Franzosen Roch Ambroise Auguste Bébian (Mimographie 1825) zu verdanken, der sich an der Institution Royale des Sourds-Muets de Paris um die Weiterentwicklung der pädagogischen Methoden auf der Grundlage der natürlichen Gebärdensprache bemühte (vgl. auch Oviedo 2009: 180ff.).
2.1 Lebenswelt und Sprache(n) gehörloser Menschen
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reflektiert wird, setzte im Vergleich zur internationalen Entwicklung erst mit einiger Verspätung ein. Wichtige Indikatoren waren der Beginn der linguistischen Erforschung der Gebärdensprache in den 1980er-Jahren (vgl. u. a. Ebbinghaus & Heßmann 1989; Prillwitz 1991 sowie Boyes Braem 1995 für die Deutschschweizer Gebärdensprache), das wachsende Selbstbewusstsein der Gehörlosengemeinschaft (vgl. Mally 1993; Hase 1996), die zunehmende Professionalisierung des Gebärdensprachdolmetschens (BGSD 2002; vgl. auch Ebbinghaus & Heßmann 1989; Hillert 2007; Hillert & Leven 2012) sowie die zunehmende Attraktivität der DGS als zu erlernende Fremdsprache im öffentlichen Leben (Fries & Geißler 2012). Großereignisse der Gehörlosengemeinschaft wie das Berliner Gebärdensprachfestival (vgl. z. B. Vollhaber 2006) und die überregionalen Kulturtage der Gehörlosen finden seit nunmehr drei Jahrzehnten statt und tragen dazu bei, dass sich die Gehörlosengemeinschaft zunehmend auch gegenüber der Mehrheitsbevölkerung als eine bilinguale und bikulturelle Minderheit präsentiert. Ein Motto, wie das im Jahr der Behinderten 1981 bekannt gewordene „Mit der Taubheit leben, kennst du das Problem?“, ist längst passé. Für die zuletzt im Mai 2018 stattgefundenen 6. Deutschen Kulturtage der Gehörlosen in Potsdam wurde, angepasst an das gewachsene Selbstbewusstsein Gehörloser und als Ausdruck zunehmender gesellschaftlicher Akzeptanz, das Motto „Unsere Kultur mit Gebärdensprache: inklusiv und gleichwertig“ gewählt (Deutscher Gehörlosen-Bund e. V. 2017, vgl. auch Grimm 2018; Grönitz 2018; Sequeira 2018; Winand 2018; Zante 2018). Im Mittelpunkt der Ansprachen, Vorträge und Workshops stand das Selbstverständnis der Gehörlosengemeinschaft als Teil einer Gesellschaft, die offen sein soll für Menschen mit und ohne Behinderung. Die Selbstbestimmung Gehörloser in den Bereichen Bildung, Politik und Gesundheitswesen kam hier ebenso zur Sprache wie Widersprüchlichkeiten in den gegenwärtigen Inklusionsbestrebungen aus der Sichtweise von Menschen, die mit ihrer Gehörlosigkeit als einem klaren Identitätsmerkmal leben. • Gehörlosenidentität Im Lauf von nur einer Generation hat sich auf der Grundlage der Anerkennung von DGS innerhalb der deutschen Gehörlosengemeinschaft ein neues Bewusstsein entwickelt, in dessen Mittelpunkt der Wunsch nach Wahrnehmung von sprachlichen Menschenrechten durch die DGS steht. Kollien (2006: 424) drückt aus, wie dieser Prozess von der Mehrheit der gebärdensprachlichen Gehörlosen betrachtet wird, nämlich „als Option der persönlichen Lebensgestaltung“, die zunehmend mehr Einfluss nimmt auf das Alltagsleben Gehörloser. Als Angehörige einer Minderheitenkultur, in der das „Taubsein“ im Sinne von
20
2 Zur bilingualen und bikulturellen Lebenssituation …
„Deafhood“ (vgl. Ladd 2003) und nicht der medizinisch diagnostizierte Hörverlust im Mittelpunkt steht, haben gehörlose Menschen heute in der Regel eine positive Einstellung zu ihrer Gehörlosigkeit entwickelt. Bereits 1990 antizipierte Ulrich Hase, langjähriger Präsident des Deutschen Gehörlosen-Bundes und ein Vorreiter der Emanzipationsbewegung Gehörloser, diese Entwicklung mit folgenden Worten: „Die Gebärdensprache gibt dem Gehörlosen die Möglichkeit zur sozialen Entfaltung und schützt ihn davor, isoliert in der Welt der Normalhörenden zu leben. Nur wer diese akzeptieren kann, kann das medizinische Modell, das von Gehörlosen Anpassung erwartet und ihm kein Recht auf eigene Identität und Sprache zuerkennt, überwinden und damit lernen, Gehörlose in ihrer Einzigartigkeit und nicht in ihrem Defekt zu verstehen“ (160).5 Die sich wandelnden Identitätsprozesse Gehörloser nahm der Deutsche Gehörlosen-Bund e.V. unlängst zum Anlass, ein Projekt zum Thema Sprachen machen mich gesund (Deutscher Gehörlosen-Bund 2016) zu initiieren. Im Fokus dieses Projekts steht eine bimodal-bilinguale Förderung für Kinder mit einer Hörbehinderung. Grundlegender Gedanke dieses Projekts ist es, dass die Mehrsprachigkeit in Gebärdenund Lautsprache von Anfang an nicht nur ein großes Potenzial für gehörlose Menschen bietet, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur gesunden Gesamtentwicklung darstellt. Die Identität gehörloser Menschen ist seit jeher in besonderer Weise geprägt von Erlebnissen und Erfahrungen, die sie miteinander verbinden: Gehörlose Menschen, die gegenwärtig im Alter der von mir interviewten Frauen sind, also 25 Jahre und älter, haben in der Regel spezielle Förderschulen für Hörgeschädigte besucht,6 unterhalten sich in Gebärdensprache und haben einen gemeinsamen Erlebnishorizont („Deaf Experience“, das Wissen darüber, wie es ist, taub zu sein, vgl. Parasnis 1999: 3) sowie eigene Bräuche und Witze. Insofern ist die Gehörlosengemeinschaft mehr als ein lockerer Verbund Betroffener. Sie bildet vielmehr eine eigene Lebenswelt, deren Mitglieder Gehörlosigkeit als ein positives
5Für
weitere frühe Zeugnisse des Ringens Gehörloser um ein neues sprachliches und soziales Selbstverständnis vgl. auch weitere Beiträge Gehörloser zur Identitätsfindung mit Gebärdensprache: Zienert 1987; Mally 1993; Laborit 1995; Gotthardt 2001; Ricke 2001 u. a. 6In den letzten Jahren ist, nicht zuletzt auch durch das Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention, eine verstärkte Tendenz zum Regelschulbesuch von Schülern mit einem „Förderbedarf Hören“, darunter auch gehörlose Schüler, zu beobachten. Laut einer offiziellen Statistik der Kultusministerkonferenz (2014; s. auch Klemm 2013: 27) besuchen 33,6% aller Schüler mit einem Förderbedarf Hören in Deutschland eine Regelschule. In einzelnen Bundesländern liegt die Anzahl bereits bei ca. 50% (Bockhorst o. J.).
2.1 Lebenswelt und Sprache(n) gehörloser Menschen
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Merkmal von Identität erfahren und in der „die Hörbehinderung als Teil des Lebens und nicht als absoluter Mangel“ erlebt wird (Vogel 2003: 14). Anders als bei den meisten Angehörigen der umgebenden Mehrheitskultur findet die identitätsgebende Sozialisation und Enkulturation gehörloser Menschen oft nicht in den eigentlichen (meist hörenden) Herkunftsfamilien oder in der unmittelbaren alltäglichen Umgebung statt, sondern in den Schulen und Internaten oder bei Gehörlosenveranstaltungen oder -treffpunkten (Boyes Braem 1995: 139; vgl. auch Hintermair 2015). Die Zusammenkünfte mit anderen Gehörlosen werden oft als einzige Möglichkeit empfunden, sich voll integriert zu fühlen und allgemeine Akzeptanz zu erfahren: „Deaf communities are felt to be sufficiently powerful to transcend the negative experiences of daily interaction“ (Ladd & Woll 2003: 153). Gehörlosengemeinschaften, wie sie spätestens seit der Begründung der „Pariser Bankette“ im Jahr 1834 bestehen, die als Geburtsstunde der „Tauben Nation“ gelten (vgl. Mottez 1993) sind gewachsen aus der Einsicht, nur unter Gleichbetroffenen ungehindert miteinander kommunizieren zu können und sich über gemeinsame Erfahrungswerte in der „Welt der Hörenden“7 auszutauschen. Die Zugehörigkeit zur Gehörlosengemeinschaft wird zentral durch das Mittel der Gebärdensprache bestimmt: „Deaf community membership is seen as a linguistic membership“ (Woll & Ladd 2003: 153). • Anerkennung der Gebärdensprache, Kommunikationshilfen und Gebärdensprachdolmetscher Emanzipationsprozesse und ein verändertes Selbstverständnis der Gehörlosengemeinschaft haben der Gebärdensprache auch in Deutschland neue Möglichkeiten eröffnet. Gleichwohl muss grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass Gebärdensprachen „charakteristische Merkmale mit den geringer geachteten Sprachen in einer diglossischen Konstellation“ teilen: „Sie sind Umgangssprachen, werden in der Familie und unter Freunden, jedoch nicht in der weiteren Öffentlichkeit, in Schule, Ausbildung und Beruf benutzt, sie sind nicht normiert und besitzen keine schriftsprachliche Tradition“ (Ebbinghaus 2012: 227). Auch wenn
7In
Abgrenzung zu sich selbst bezeichnen Angehörige der Gehörlosengemeinschaft Menschen mit Hörvermögen als „Hörende“, ein Begriff, der den meisten nicht gehörlosen Menschen erst bewusst wird, wenn sie aus beruflichen oder privaten Gründen in Kontakt mit Gehörlosen kommen: „I became hearing at the age of twenty-one, when I was hired as a dormitory supervisor for the Colorado School for the Deaf and the Blind“ (Bauman 2008a: VIII).
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2 Zur bilingualen und bikulturellen Lebenssituation …
die DGS 2002 im Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Bundesamt für Justiz 2002) ausdrücklich Anerkennung gefunden hat, wird sie nur allmählich in der weiteren Öffentlichkeit genutzt und ist bislang noch nicht konsequent in Schulen, Ausbildungsstätten und im Berufsleben präsent (ebd.). Im Rahmen von BGG § 6 Absatz 1 sowie der entsprechenden Ausführungsverordnung (Kommunikationshilfeverordnung vom 17.06.2002) ist die DGS, obgleich als eigenständige Sprache anerkannt, nur im Zusammenhang mit weiteren Kommunikationshilfen bei Verwaltungsverfahren wirkungsmächtig. Damit gilt sie als eine von mehreren Hilfen zur Rehabilitation behinderter Menschen, nicht jedoch als der identitätsgebende Faktor, für die sie innerhalb der Gehörlosengemeinschaft steht. Immerhin haben gehörlose Menschen seither zur Wahrnehmung eigener Rechte einen Anspruch auf die Inanspruchnahme von Gebärdensprachdolmetschern in Verwaltungsverfahren. Dennoch sind zahlreiche andere Kommunikationsprozesse für gehörlose Menschen nach wie vor nicht barrierefrei geregelt. Dazu zählt das Aufsuchen von Beratungsstellen, zum Beispiel im Fall von Gewaltbetroffenheit. Wie in diesem Fall weist auch das am 01.01.2017 in Kraft getretene Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (BMAS 2017) gravierende Lücken auf, was die Kostenübernahme von Gebärdensprachdolmetschern betrifft. Die Formulierung, dass Kommunikationshilfen und Gebärdensprachdolmetscher „aus besonderem Anlass“ (§ 82) in Anspruch genommen werden können, impliziert keine kommunikative Barrierefreiheit, sondern führt zu Einschränkungen und einer Vielzahl von Einzelentscheidungen statt zu generellen Lösungen. Gehörlose Menschen sind auf Kommunikationshilfen und Serviceleistungen wie Gebärdensprachdolmetscher angewiesen, wenn sie am öffentlichen Leben teilhaben wollen. Als bilinguale und bikulturelle Menschen tun sie dies ohnehin täglich: Sie nutzen öffentliche Einrichtungen und die zur Verfügung stehenden Medien und Verkehrsmittel. Dass viele Gehörlose sich darüber hinaus bemühen, in ihrem Lebensalltag so gut es geht von der Sprache und Kultur der umgebenden deutschsprachigen Bevölkerungsmehrheit zu profitieren und mit den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten daran zu partizipieren, ist sicherlich auch eine Folge gestärkten Selbstbewusstseins und gefestigter Identität. • Gehörlosigkeit aus medizinischer Sicht Nicht oder nur eingeschränkt hören zu können schließt nicht nur von der Wahrnehmung der vielfältigen Alltags- und Umgebungsgeräusche aus. Das Hören-Können ist vor allem eine wichtige Voraussetzung für den Erwerb einer
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gesprochenen Sprache. In Deutschland leben etwa 80.000 Menschen, die aufgrund einer Taubheit oder Schwerhörigkeit vorwiegend in Gebärdensprache kommunizieren (Deutscher Gehörlosen-Bund o. J.).8 Für eine Hörschädigung können verschiedene Ursachen verantwortlich sein (RKI 2006; 2012). So kann es durch unterschiedliche externe Schädigungen (z. B. Schädelverletzungen, Geburts- oder Impfschäden) oder interne Schädigungen (z. B. erbliche Folgen, Krankheit der werdenden Mutter) zu Störungen im Hörorgan, den Hörbahnen und dem Hörzentrum kommen (vgl. Clarke 2010: 12f.; Leonhard 2010: 57). Diese Hörschäden reichen von zentralen auditiven Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen über Schallleitungsschwerhörigkeit bis hin zu Schallempfindungsschwerhörigkeit, sind jedoch zu 98% cochleär, also durch eine Schädigung des Innenohres, bedingt (Diller 1997: 12). Je weniger ein Sprachverständnis über das Ohr – mit oder ohne Hörhilfen – möglich ist, umso gravierender sind die entstehenden Kommunikationsbarrieren. Das Sprachverstehen liegt in der Regel im Bereich von 60 bis 80 Dezibel (dB). Bei der Klassifizierung von Hörschädigungen wird nach dem Grad des Hörverlustes unterschieden. So wird ein Hörverlust bis 20 dB, ausgehend von der sogenannten Hörschwelle 0 dB, noch als Normalhörigkeit bezeichnet. Bei einem Hörverlust von mehr als 100 dB spricht man von Gehörlosigkeit bzw. Taubheit (Zenner 2005: 336ff.). Eine hochgradige Schwerhörigkeit liegt vor, wenn die Hörschwelle zwischen 70 und 95 dB beträgt (ebd.; RKI 2006). Eine hochgradige Hörschädigung geht in der Regel mit einer auffällig artikulierenden Sprechweise einher (Zenner 2005: 352) und erschwert damit vor allem die Formen zwischenmenschlicher Gespräche, die auf Basis gesprochener Laute funktionieren. Das Ablesen von Wörtern von den Lippen funktioniert nur eingeschränkt und setzt günstige Bedingungen voraus, sodass große Teile der gesprochenen Inhalte verloren gehen. Grundsätzlich kann man beim Ablesen nicht von sicherem Verstehen ausgehen, sondern es handelt sich eher um ein Kombinieren aus Bruchstücken (Alich 1961; 1977; Günther 2001: 91). Ebbinghaus und Heßmann (1989) sprechen in diesem Zusammenhang von einem „rekonstruierenden Verstehen“: „Ein vager Vorgang der Sinnerschließung, der seinen Ausgang von einzelnen fragmentarisch wahrgenommenen sprachlichen
8Der
Deutsche Schwerhörigenbund (2018) gibt eine Zahl von insgesamt 13,3 Millionen hörbehinderter Menschen an, wobei sich diese Zahl nicht nur auf die hier beschriebene Gruppe der gehörlosen Gebärdensprachnutzer bezieht, sondern alle Formen von Hörschädigungen einschließt.
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Elementen nimmt und auf dem Abwägen von Möglichkeiten vor dem Hintergrund des jeweiligen Kontext- und Weltwissens oder auch schlichtem Raten beruht“ (115). • Gehörlose Menschen und die deutsche (Schrift-)Sprache Gehörlosen Menschen bereitet es jedoch nicht nur große Schwierigkeiten, gesprochene Wörter aufgrund von Ablesen zu verstehen, sondern der Zugang zur deutschen Sprache ist grundsätzlich erschwert. Die größte Hürde besteht darin, dass Gehörlose gesprochene Sprache nicht auditiv wahrnehmen, sondern nur über den schriftlichen Weg erlernen können. Jedes neu gelernte deutsche Wort muss erklärt, gelernt, gelesen und geschrieben werden, d. h. „praktisch aus dem Nichts heraus aufgebaut werden“ (Merkt 2006: 73, vgl. auch Krammer 2001; Krausneker 2004). Anders als oft vermutet wird, kann daher auch die schriftliche Kommunikation für Gehörlose problematisch sein. Gehörlose Menschen haben Schwierigkeiten sowohl in Bezug auf das Lesen (Hennies 2010) als auch das Schreiben (Günther 1999; Krammer 2001; Günther & Schäfke 2004; Schäfke 2005; vgl. auch Becker 2010). Als Hörender entwickelt man für die gesprochene Umgebungssprache bei entsprechendem Stimulus in der Regel eine sichere Sprachkompetenz. Gehörlosen Menschen fehlt dieser natürliche Stimulus, was das Erlernen einer Schriftsprache ungleich schwieriger für sie macht (Musselman 2000). Die deutsche Sprache in ihrer gesprochenen, aber auch in ihrer geschriebenen Form hat für viele Gehörlose von daher den Status einer Fremd- oder Zweitsprache (vgl. List & List 1990; Krausneker 2004; Günther & Hennies 2011). Insgesamt wird in der Forschungsliteratur die Lese- und Schreibkompetenz Gehörloser, bis auf wenige Ausnahmen, als unzureichend für die Teilhabe an der lautsprachlich orientierten Gesellschaft eingestuft. Doch erst gute schriftsprachliche Kompetenzen ermöglichen Gehörlosen einen barrierefreien Zugang zu Information und sichern eine adäquate Partizipation in der hörenden Mehrheitsgesellschaft ab. • Bildungssituation Gehörloser: Oralismus und Bilingualismus Die Verbesserung der eigenen Bildungssituation ist seit jeher ein zentrales Anliegen der Gehörlosengemeinschaft. Insbesondere Gehörlosenschulen mit angeschlossenen Internaten spielen eine prägende Rolle im Leben gehörloser Menschen, da hier für viele der Erstkontakt mit anderen Gehörlosen stattfindet, der die kulturelle Identität im weiteren Lebensverlauf nachhaltig beeinflusst (Ladd 2008: 284f.). Dabei sind Gehörlosenschulen in Deutschland über eine
2.1 Lebenswelt und Sprache(n) gehörloser Menschen
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lange Zeit hinweg sehr stark vom Oralismus, der „reinen“ oder, besser gesagt, einseitigen Lautspracherziehung also, beeinflusst worden. Die oralistische Spracherziehung, bei der die Lautsprache Mittel und Ziel des Unterrichts zugleich ist, begann zum Ende des 18. Jahrhunderts durch Samuel Heinicke in Deutschland, Jacob Rodrigues Pereire in Frankreich und Thomas Braidwood in Großbritannien und wurde besonders im Deutschland des 19. Jahrhunderts von Johannes Vatter fortgeführt (Wolff 1997; 1998). 1880 empfahl der 2. Internationale Taubstummenlehrerkongress in Mailand, diese Methode flächendeckend im Unterricht mit gehörlosen Kindern einzuführen. Gebärdensprache wurde fortan aus dem Unterricht verbannt und gehörlose Gehörlosenlehrer entlassen.9 Dass Gebärdensprache aus den Schulen verbannt und gehörlose Lehrer entlassen wurden, hatte bereits vor 1880 eingesetzt (vgl. Quandt 2011a und b). Im Mittelpunkt des auch unter dem Namen Deutsche Methode bekannten, bis weit in das 20. Jahrhundert hinein praktizierten Unterrichtsverfahrens stand die Anbildung von Sprechlauten sowie das Lippenlesen. Auf den Einsatz von Gebärdensprache wurde hier weitgehend verzichtet, um möglichst wenig von der Lautsprachanbahnung abzulenken (ebd.; vgl. auch Fries, Hennies & Wolff 2006). Die Methode des Oralismus hatte für gehörlose und stark hörgeschädigte Schüler häufig gravierende Nachteile. Die einseitige Fokussierung auf die Lautspracherziehung und die Unterdrückung der Gebärdensprache blieb nicht ohne Folgen für den Wissenserwerb, der dadurch sehr erschwert war (vgl. Fischer et al. 1995a und b), und wirkte sich häufig auch auf die psychische Stabilität Gehörloser aus: „Er zeigt das Wirken von Kontrollinstanzen einer Mehrheitsgesellschaft, die eine stark vereinfachende Ansicht von Gehörlosigkeit durchzusetzen versucht, so als verschwände mit den Gebärden auch das Problem an sich“ (Fischer 2002: 336). Alle in der vorliegenden Studie interviewten Frauen haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Gehörlosenschulen besucht und sind häufig noch mit der oralen Methode unterrichtet worden. In Bezug auf die hohe Gewaltprävalenz Gehörloser lässt sich hier ein Zusammenhang vermuten, der bisher vor allem in Deaf History-Studien (McCullough & Duchesneau 2016; vgl. auch Lane 1992; Séguillon 1996) aufgezeigt wurde. Der Einfluss des Oralismus verhinderte nicht nur den Gebärdensprachgebrauch und die körperliche Ausdrucksweise Gehörloser, er führte auch dazu, dass die Körper gehörloser Schüler zum Zweck einer verbesserten Lautsprachproduktion missbraucht wurden: „Die Körperlichkeit der
9Umstände und Folgen des Ereignisses, das sich als „Mailänder Kongress“ in die Gehörlosengeschichte eingebrannt hat, werden anschaulich geschildert in Lane 1998: 415ff.
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Gebärdensprachverwendung wird ersetzt durch erzwungene körperliche Nähe beim Sprechtraining; der Übelkeit erregende schlechte Atem des hautnah Vorsprechenden ersetzt die luftigen Bilder kommunizierender Hände“ (Fischer 2002: 342). Auf diese Weise wurden gehörlose Kinder schon früh an Berührungen und körperliche Übergriffe durch andere gewöhnt. Körperliche Nähe durch außenstehende, fremde Personen wurde als etwas Selbstverständliches erfahren, als etwas, das dazu gehört, weil mit ihrem eigenen Körper etwas nicht in Ordnung ist: „Dadurch fällt es ihnen schwerer, den eigenen Körper positiv wahrzunehmen und die eigenen Grenzen zu spüren und zu schützen“ (Eckerli Wäspi 2013: 33). In der Erkenntnis, dass der Oralismus und die mit ihm verwandten Methoden der hörgerichteten Gehörlosenbildung (Löwe 1992; Diller 2005) den natürlichen Kommunikationsbedürfnissen Gehörloser meistens zuwiderlaufen, wuchs auch bei den im professionellen Feld mit gehörlosen Menschen agierenden Personen gegen Ende des 20. Jahrhunderts der Wunsch nach einem bimodal-bilingualen Unterricht: „Unabhängig vom Grad der Hörbehinderung bietet Gebärdensprache durch ihre visuelle Modalität diesen uneingeschränkten Zugang und sichert somit einen altersgemäßen Spracherwerb von Anfang an. […] Eine bimodal-bilinguale Sprachbildung in Deutscher Gebärdensprache und Deutsch sichert somit eine gesunde kindliche Gesamtentwicklung und eröffnet dem Kind die Möglichkeit, in jeder Situation kommunizieren – also teilhaben – zu können“ (Deutscher Gehörlosen-Bund 2016b: 4; vgl. auch Hänel-Faulhaber 2016). Das traditionelle Bekenntnis zur lautsprachlichen Erziehung hat Gebärdensprache und Gehörlosenkultur über eine lange Zeit hinweg und noch bis in die Gegenwart hinein aus dem offiziellen Schulalltag verbannt. Gehörlosen- und Hörgeschädigtenschulen, die heutzutage häufig als „Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation“ ausgewiesen sind, waren für die Gruppe der interviewten Frauen dieser Arbeit vor allem Orte, an denen gehörlose und schwerhörige Kinder auf ein Leben angepasst an die lautsprachorientierte Gesellschaft vorbereitet werden. „Dass dabei auch elementare Bildungsziele auf der Strecke blieben, wurde in dem Maße zum Gegenstand entschiedener Kritik, wie die Überzeugung wuchs, dass die von den Pädagogen vernachlässigte Gebärdensprache ein geeignetes Mittel der Wissensvermittlung und Bildung sein könnte“ (Heßmann, Hansen & Eichmann 2012: 3; vgl. auch Hennies, Günther & Hintermair 2009; Becker 2012). Das Bild gehörloser Menschen in der Pädagogik, das häufig einseitig durch das Vorhanden- oder Nicht-Vorhandensein lautsprachlicher Fähigkeiten geprägt war, ist dabei, sich zu wandeln. In den letzten Jahren haben in der deutschen Schullandschaft für gehörlose Kinder viele Veränderungen stattgefunden (vgl. Becker et al. 2017). Die linguistische Forschung und die Anerkennung der
2.1 Lebenswelt und Sprache(n) gehörloser Menschen
27
Deutschen Gebärdensprache sowie die Empowerment-Bewegung der Gehörlosengemeinschaft führten zu einer teilweise gelungenen Umsetzung einer bimodal-bilingualen Bildung in DGS und Deutsch an einigen Förderschulen, aber auch an Regelschulen mit einem inklusiven Schwerpunkt (vgl. Hennies & Hennies 2017). Der Weg zur zweisprachigen Bildung in Deutschland war vor allem geprägt durch zwei Schulversuche, die an den Förderschulen in Hamburg und Berlin in der Primar- und Sekundarstufe I durchgeführt wurden (Günther & Schäfke 2004; Günther & Hennies 2011). Es darf als ein Anzeichen sich verändernder pädagogischer Einstellungen angesehen werden, wenn 2016 im Editorial der vom Berufsverband Deutscher Hörgeschädigtenpädagogen (BDH) herausgegebenen Fachzeitschrift Hörgeschädigtenpädagogik das Vorhaben angekündigt wird, man wolle „gegenüber der Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) die Forderung“ erheben, „Deutsche Gebärdensprache als Unterrichtsfach/Sprache“ einzuführen (Keppner 2016: 226).10 • Familiäre Sozialisation Gehörloser Allgemein wird angenommen, dass über 90% der Gehörlosen hörende Eltern haben (vgl. Boyes Braem 1995: 139). Für hörende Eltern geht diese Diagnose oft mit einer Verunsicherung und Überforderung einher, da die Hörschädigung die Kommunikation mit dem Kind gravierend erschweren kann (Hintermair 2011a: 12). Die Unsicherheit, wie man mit einem hörgeschädigten Kind kommunizieren soll, beeinflusst die Beziehung schon gleich nach der Geburt, wenn infolge des standardisierten Neugeborenenscreenings die Hörschädigung festgestellt wird (G-BA 2008). Die unmittelbare Schockerfahrung nach der Diagnose hat eine Mutter eines gehörlosen Kindes einmal sehr anschaulich beschrieben: „Mein Gehirn arbeitet noch. Aber meine Seele ist in tausend Stücke zersprungen“ (zit. nach Boy und von Stosch 1999: 13). Inzwischen liegt ein gut ausgearbeiteter Ratgeber für Eltern eines hörbehinderten Kindes vor (Herrmann 2011), der
10Lehrpläne
für ein Unterrichtsfach Deutsche Gebärdensprache liegen bereits in folgenden Bundesländern vor: Bayern, Berlin, Brandenburg, Baden-Württemberg, Hamburg und Sachsen-Anhalt. Sie werden je nach vorhandener Qualifikation der Lehrkräfte und den Rahmenbedingungen der Kultusministerien der Länder unterschiedlich im Unterricht implementiert, in den meisten Fällen für bestimmte Sprachlerngruppen (Bayern) oder als Wahlfach (Brandenburg, Sachsen-Anhalt und B aden-Württemberg). Ein konsequentes bilinguales Konzept bieten hingegen lediglich die Hamburger Elbschule sowie die ErnstAdolf-Eschke-Schule in Berlin an (Krausmann 2009:273f.; Rörig & Poppendieker 2013: 98f.).
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umfassende und wertneutrale Hinweise für betroffene Eltern nach der Diagnose gibt (ebd.: 25) und dabei auf die Erfahrung von Fachleuten (Hennies 2011: 72), insbesondere auch Fachleute mit Hörbehinderung (Herrmann 2011: 84; Kollien 2011: 44), zurückgreift. Häufig jedoch beziehen sich die meist hörenden Eltern auf die vorherrschende Meinung von Medizinern, deren Therapieansatz nach wie vor stark auditiv orientiert ist und auf eine Rehabilitation der Hörschädigung durch technische Hilfsmittel zielt: „Die sinnesspezifische Frühförderung des hörgeschädigten Kindes sollte in enger Kooperation mit der vorgelagerten audiologisch-medizinischen Therapie u. Rehabilitation mit Hörsystemen erfolgen“ (Bursig et al. 2014: 8). In Ratgebern wie diesen wird zur Vorbereitung auf das spätere Leben in einer lautsprachorientierten Gesellschaft der Erwerb und Ausbau der Lautsprache auf der Basis von akustischen Reizen gefordert. Das führt häufig dazu, dass Eltern und Kinder unter einem Erfolgsdruck stehen und zuweilen überhöhten Erwartungen ausgesetzt sind (Herrmann 2011:26). Szagun (2010) beschreibt diese vorwiegend medizinische Sicht auf eine Hörschädigung als kulturbedingt: „Der Glaube, dass medizintechnische Errungenschaften ein gesundheitliches Problem optimal lösen, ist Teil unserer Kultur“ (49). Tatsächlich zielt der medizinisch-technische Fortschritt des 21. Jahrhunderts immer mehr darauf ab, Hörschädigungen nicht nur zu rehabilitieren, sondern auch zu heilen: „At no time in our history has there been more overt stress on the miraculous abilities of science to cure deafness“ (Branson & Miller 2005: 228). Sowohl für Eltern als auch für Kinder stellt dieser Fortschrittsglaube einen großen Erfolgsdruck dar. Dass hörgeschädigte Personen selbst mit sehr guter medizinisch-technischer Versorgung de facto hörgeschädigt bleiben, wird häufig ausgeklammert. Auswirkungen der individuellen Hörschädigung und der Umgang damit bleiben außerdem im Einzelfall schwer vorhersehbar, da noch nicht alle Faktoren, die den Spracherwerb von Kindern mit Cochlea-Implantat beeinflussen, bekannt sind (vgl. Szagun 2010: 15). Gegen ein frühes Gebärdensprachangebot wird häufig noch das Argument eingebracht, „dass ja erst, wenn der Lautspracherwerb nicht gut verlaufen würde, immer noch Gebärden angeboten werden können“ (Hänel-Faulhaber 2010:51). Es gibt bis heute allerdings keinen Beleg dafür, dass sich die Gebärdensprache und die Lautsprache im Erwerb stören (Günther et al. 2009), eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Sprachwissenschaftliche Studien sowie neurowissenschaftliche Erkenntnisse tragen seit nunmehr 30 Jahren dazu bei, Verunsicherungen und Vorurteile gegenüber einem Aufwachsen in Laut- und Gebärdensprache abzubauen (vgl. u. a. Prillwitz & Wudtke 1988; Wisch 1990; Emmorey 2002; Hänel 2005; Hänel-Faulhaber 2010). Während Kinder gehörloser Eltern die DGS mühelos als Erstsprache lernen, „bleibt diese Möglichkeit 90 Prozent aller gehörlosen
2.1 Lebenswelt und Sprache(n) gehörloser Menschen
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oder hochgradig schwerhörigen Kinder verwehrt“ (Belz & Latuske 2010:163). Nach wie vor fällt es hörenden Eltern aus unterschiedlichen Gründen schwer, auf eine konsequente bilinguale Förderung ihrer hörbehinderten Kinder zu setzen mit der Folge, dass diese Kinder bei ihrer Einschulung keine „tragfähige Basissprache“ (Belz & Latuske 2010:163) haben. Gelingt der Lautspracherwerb nicht oder ist er durch die Hörschädigung nachhaltig erschwert, stellt sich bei hörenden Eltern oft ein Gefühl der Enttäuschung ein (Hintermair 2005). Gleichzeitig steigt der Druck auf die Eltern, alles perfekt machen zu wollen und nicht selten führt dieser Drang zu einer Frustration auf beiden Seiten (ebd.). Oft treten bei hörenden Eltern Gefühle der Fremdheit und Distanz gegenüber dem gehörlosen Kind auf: „Die Teilnahme dieser Kinder an Interaktion und Kommunikation in der Familie ist oft mehr oder weniger eingeschränkt. Vieles, was innerhalb ihres Lebenskreises geschieht, bekommen die Kinder gar nicht oder nur bruchstückhaft mit“ (Eckerli Wäspi 2013: 13). Verständigung besteht oft nur mit Bezug auf die konkrete kommunikative Situation (vgl. Prillwitz 1982; Hintermair 2011a und b). Hintermair, Sarimski und Lang (2015: 170f.) zufolge muss davon ausgegangen werden, dass hörende Eltern aufgrund der von Barrieren geprägten Kommunikation dazu tendieren, das Kind überzubehüten und so zu bevormunden, oft sogar bis in das Erwachsenenalter hinein. Aber auch das Gegenteil, die Vernachlässigung des gehörlosen Kindes, kann der Fall sein. Dadurch wächst eine Persönlichkeit heran, die mit Ängsten und Unsicherheiten zu kämpfen hat (ebd.). Hörende Eltern und Angehörige wissen wenig oder gar nichts von der Gehörlosenkultur, da das pathologische Verständnis in der gesellschaftlichen Wahrnehmung im Vordergrund steht und Gehörlosigkeit aus medizinischer Sicht heraus oftmals nach wie vor als eine gravierende gesundheitliche Beeinträchtigung angesehen wird, die es zu behandeln oder gar auszumerzen gilt (Hintermair 2014: 219ff.; vgl. auch Uhlig 2012: 44). In den letzten Jahren lässt sich eine leicht positive Tendenz zu einem ganzheitlichen Umgang mit einem hörgeschädigten Kind beobachten, wozu vor allem auch die Aktivitäten des Bundeselternverbands gehörloser Kinder e. V. beigetragen haben. In den verbandseigenen Aufklärungsbroschüren und Publikationen (u. a. Bundeselternverband e. V. 2016; vgl. auch Belz 2005) und vor allem bei dem jährlich stattfindenden Bundeselterntreffen (vgl. Belz 2008; Fries 2008) wird darauf hingewiesen, dass die Diagnose „hörgeschädigt“ nicht nur aus medizinischer Sicht betrachtet werden darf. Vielmehr geht es darum, die unterschiedlichsten Entfaltungsmöglichkeiten eines hörgeschädigten Kindes kennenzulernen, damit die bestmögliche Lebensqualität und Förderung dieser Kinder erreicht werden kann. Im Vordergrund steht dabei der schnellstmögliche Aufbau einer altersgemäßen Kommunikation und eben nicht nur die Versorgung mit technischen Hilfen,
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2 Zur bilingualen und bikulturellen Lebenssituation …
eine gute Hörresteförderung und die Lautspracherziehung. Auch der Gebrauch von Gebärdensprache für eine weitgehend ungestörte soziale und kognitive Entwicklung der Kinder wird vom Bundeselternverband aktiv gefördert. Diese Sichtweise entspricht einer gesellschaftlichen Situation, die in der UN-Behindertenrechtskonvention von 2009 deutlich Ausdruck gefunden hat: Menschen mit Behinderungen sind in einer Menschenrechtsperspektive zu sehen; ihr legitimer Beitrag zur menschlichen Vielfalt wird nicht länger ignoriert. Auch die Gehörlosengemeinschaft mit ihrer Sprache und Kultur sowie ihren besonderen Lebensumständen kann unter diesen Bedingungen in sichtbarer und höchst lebendiger Weise einen Beitrag zur Bereicherung der menschlichen Existenz leisten. Sie bildet das soziale Milieu und stellt das soziale Umfeld bereit, aus dem die Interviewerinnen dieser Studie rekrutiert wurden.
2.2 Untersuchungen zur Lebenssituation gehörloser Frauen Die bilingual-bikulturelle Gehörlosengemeinschaft in Deutschland ist klein. Weiter oben wurde bereits angeführt, dass die deutsche Gehörlosengemeinschaft aus ca. 80.000 Gehörlosen besteht (Deutscher Gehörlosen-Bund o. J.). Für eine so kleine Gruppe, deren erste Sprache nicht Deutsch ist und die einen stark eingeschränkten Zugang zu Bildung hat, ist es schwierig, ihre Anliegen und Positionen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu kommunizieren und durchzusetzen. Das gilt besonders für gehörlose Frauen, die nicht nur mit den Auswirkungen oralistischer und bevormundender Strukturen kämpfen müssen, sondern darüber hinaus auch innerhalb der Gehörlosengemeinschaft Unterdrückungserfahrungen machen müssen.„The deaf community reflects the most traditional and conservative attitudes that our society holds about women“, stellen Becker und Jauregui (1985: 23) im Rahmen einer frühen medizinisch-anthropologischen Untersuchung fest, die „the invisible isolation of deaf women“ thematisiert. Während sich die Neubewertung der tradierten Geschlechterrollen, die im Zusammenhang der Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts erkämpft wurde, längst schon im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs widerspiegelte, blieben taube Frauen in Deutschland bis vor wenigen Jahren davon noch weitestgehend unberührt. Zweifellos haben dazu kommunikative Barrieren, mit denen taube Menschen konfrontiert sind, maßgeblich beigetragen: „This barrier places great limitations on the deaf woman by preventing her from obtaining knowledge that would help her to cope with the events of daily life as well as life crises“ (ebd.: 32).
2.2 Untersuchungen zur Lebenssituation gehörloser Frauen
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Eine weitere Studie belegt diese Feststellung 1991 auch für die deutsche Gehörlosengemeinschaft. In ihrer Dissertation Gehörlosigkeit in Ehe und Familie beschäftigt sich Gotthardt-Pfeiff mit sozialen Lebensverhältnissen und zwischenmenschlichen Beziehungen von Gehörlosen in Ehe und Familie. Insgesamt wurden 54 gehörlos-gehörlose heterosexuelle Ehepaare getrennt voneinander interviewt. Auch hier spielen die ungünstige Bildungssituation und die lautsprachlich ausgerichteten Unterrichtsinhalte und -ziele eine Rolle (ebd.: 40). Die große Mehrheit (90%) der von Gotthardt befragten gehörlosen Männer und Frauen hatten die Gehörlosen- oder Schwerhörigenschule besucht und verfügten lediglich über einen Hauptschulabschluss (ebd.: 27). „Aus der Sicht der Frauen mangelt es den Männern häufig an Verständnis und Hilfsbereitschaft; ihre ‚andere Meinung‘, ‚Grobheiten‘, ‚Seitensprünge‘ und ‚Langeweile‘ werden besonders beklagt“ (ebd.: 125; vgl. auch Abschn. 2.2 der vorliegenden Arbeit). Gotthardt-Pfeiff stellt in ihrer Untersuchung weiterhin fest, dass gehörlose Männer in der Ehe „zur Übernahme der traditionellen (patriarchalen) Rollenmuster“ neigen (ebd.: 111). Befragt danach, was ihnen an der gehörlosen Partnerin gut gefällt, standen ganz obenan stereotype weibliche Attribute wie „macht den Haushalt gut (43%)“, „kocht gut (17%)“, ist „fleißig (21%)“, während individuelle Persönlichkeitsmerkmale wie „selbstständig“ oder „starke Persönlichkeit“ mit jeweils nur 2% ganz unten auf der Werteskala standen. Gehörlose Frauen dagegen beklagten bei ihren Männern öfter Seitensprünge (13%), mangelnde Unterstützung (24%), Nervosität (16%) und Grobheiten (12%). Aus den Antworten, so Gotthardt-Pfeiff, „lassen sich Rückschlüsse auf Mängel an emotionaler Zuwendung und Rücksichtsnahme seitens der gehörlosen Ehemänner ziehen“ (ebd.: 125). In ihrer Freizeit, die überwiegend im Kreis anderer Gehörloser in Gehörlosenvereinen verbracht wird – nur knapp ein Viertel aller Befragten gab an, neben gehörlosen auch hörende Freunde zu haben (Gotthardt-Pfeiff 1991: 117) –, weisen gehörlose Männer weitaus mehr außerhäusliche Kontakte auf als die Frauen (ebd.: 76). Überhaupt, so Gotthardt-Pfeiff, lässt sich im Alltag gehörloser Frauen und Männer beobachten, dass eher „geschlechterhomogene Gruppen“ gebildet werden (ebd.: 118) und gehörlose Frauen ihre Partnerbeziehungen und die Rollenverteilung in der Ehe durchweg kritischer und negativer beurteilen (ebd.: 126). Diese Beobachtungen wurden einige Jahre später in der ersten großen Studie, Gehörlose Frauen 95, die sich ausschließlich der Befragung gehörloser Frauen widmet, im Wesentlichen bestätigt. Im Auftrag des Deutschen Gehörlosen-Bundes e. V. führte die damalige Frauenbeauftragte Gerlinde Gerkens eine umfangreiche Fragebogenaktion zur Lebenssituation gehörloser Frauen
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2 Zur bilingualen und bikulturellen Lebenssituation …
durch (Deutscher Gehörlosen-Bund 1996). Hier beantworteten 1.240 gehörlose Frauen aus dem gesamten Bundesgebiet Fragen zu ihrer persönlichen Situation, angefangen von Familienverhältnissen in der Kindheit, über den schulischen und beruflichen Werdegang, Erfahrungen mit Sexualität und gesundheitlicher Versorgung, bis hin zum Vereinsleben und ihrer gegenwärtigen Situation als Ehefrau, Mutter oder Berufstätige. Da die Verteilung der Fragebögen über Vereins- und Verbandsmultiplikatoren (Frauenseminare, Frauenbeauftragte) erfolgte, liegt hiermit keine probabilistische Stichprobe vor. Die hier dokumentierten Ergebnisse können deshalb zwar nicht als repräsentativ gewertet werden, aber aufgrund der hohen Fallzahl lassen sich doch verallgemeinerbare Tendenzen aufzeigen. Diese zeichnen, wie auch die Studie von Gotthardt-Pfeiff (1991), ein überwiegend konservatives und traditionelles Bild des Rollenverständnisses: „Das gehörlose Mädchen lernt, wie eine Maschine zu funktionieren […] und übernimmt die Rolle einer Umsorgerin, einer Dienerin. Dadurch lernt es kein soziales freies Handeln, sondern eignet sich traditionelle, oft überholte (nicht emanzipierte) Rollen an“ (Deutscher Gehörlosen-Bund 1996: 4), lautet Gerkens’ kritisches Resümee. Allein schon die Verteilung der Fragebögen habe zu Unruhe innerhalb der Gehörlosengemeinschaft geführt: „Nach Aussagen einiger Frauen wurde von den männlichen Vorstandsmitgliedern sogar die Verteilung der Fragebögen untersagt“ (ebd.: 5) Auch wurden viele Frauen von ihren Partnern beim Ausfüllen des Fragebogens überwacht (ebd.). Auf der Basis der trotz dieser Widerstände zahlreich ausgefüllten Fragebögen lassen sich wesentliche Faktoren der Lebenssituation gehörloser Frauen wie folgt charakterisieren: Deutlich werden die vielfältigen gesellschaftlichen Barrieren, die vor allem durch mangelhafte kommunikative und sprachliche Zugangsmöglichkeiten bedingt sind. Die Fragebogenaktion zeigt weiterhin sehr klar auf, dass gehörlose Frauen auf dem Gebiet der gesundheitlichen Versorgung und auf dem Arbeitsmarkt stark benachteiligt sind: So gaben lediglich 12,5% aller befragten Frauen an, regelmäßig einen Frauenarzt aufzusuchen. Gerkens stellt in diesem Zusammenhang fest, „daß die Frauen während des Untersuchungsvorganges kaum oder überhaupt keine Informationen erhalten“ (ebd.: 31). Über die Hälfte der befragten Frauen (51,1%) gab an, Kommunikationsprobleme am Arbeitsplatz zu haben. Darüber hinaus verfügten sie über ein auffällig niedriges Nettoeinkommen (ebd.: 19). Neben dem vergleichsweise niedrigen Bildungsabschluss (knapp 10% der befragten Frauen gaben sogar an, über gar keinen Schulabschluss zu verfügen; ebd.: 13), wurde als ein weiterer Grund dafür genannt, dass gehörlose Frauen vielfach keine Anstellung in ihrem erlernten Beruf finden konnten, sondern gezwungen waren, einen Arbeitsplatz anzunehmen, der ihnen aufgenötigt wurde (ebd.: 17).
2.2 Untersuchungen zur Lebenssituation gehörloser Frauen
33
Doch nicht nur Zugangsschwierigkeiten gehörloser Frauen im Bereich des Gesundheitswesens und auf dem Arbeitsmarkt werden in dieser Studie deutlich. Lange bevor im Zusammenhang der UN-Behindertenrechtskonvention auf die besonderen Bedürfnisse gehörloser Menschen hingewiesen wurde,11 zeigt die Studie Gehörlose Frauen 95 bereits auf, dass gravierende Unterschiede zwischen der Lebenssituation gehörloser Frauen und der Lebenssituation von Frauen mit anderen Behinderungen bestehen: „Die doppelte Benachteiligung der gehörlosen Frau ist nicht mit Frauen mit Behinderungen zu vergleichen, denn die gehörlose Frau ist alltäglich und lebenslang durch Kommunikationsbarrieren in einer Welt der Hörenden behindert“ (ebd.: 4). Diese Feststellung ist bis in die Gegenwart hinein aktuell, denn nur allmählich setzt sich die Einsicht durch, dass nicht nur gegenständliche und mobile Einschränkungen behindern, sondern sich auch mangelnder gesellschaftlicher Zugang und fehlende Kommunikation nachteilig auf die Lebenssituation der betroffenen gehörlosen Frauen auswirken, besonders dann, wenn Hilfe- und Unterstützungsbedarf bestehen (vgl. auch Abschn. 2.3). Mit der 2013 vorgelegten Studie zur Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderung und Beeinträchtigungen in Deutschland liegt erstmals eine Untersuchung vor, in der den besonderen kommunikativen Voraussetzungen gehörloser Frauen Rechnung getragen wurde (Schröttle et al. 2013). In einer nicht repräsentativen Zusatzbefragung wurden 83 gehörlose Frauen durch gehörlose Interviewerinnen in Gebärdensprache zu ihrer Lebenssituation, zu Belastungen und zu Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen befragt.12 Hier wird deutlich, dass gehörlose Frauen in Bezug auf Familienstand, Alltagsbewältigung und Erwerbsarbeit eher der Mehrheitsbevölkerung entsprechen als andere Frauen mit Behinderungen: Gehörlose Frauen leben weit häufiger als diese in
11In der UN-Behindertenrechtskonvention wird auf die besonderen Bedürfnisse Gehörloser vor allem in Artikel 2 (Bestimmung des Begriffs „Gebärdensprache“), Artikel 9 (Formulierung von Zugangsmöglichkeiten durch Gebärdensprachdolmetscher), Artikel 21 (Hinweis auf kommunikativ barrierefreies Recht auf Meinungsfreiheit und Meinungsäußerungen); Artikel 24 (Formulierung des Rechtes auf Bildung mit und in Gebärdensprache) und Artikel 30 (Erwähnung von Gehörlosenkultur) eingegangenen (vgl. auch Hase & Schomacher 2010). 12Neben der repräsentativen Haushalts- und Einrichtungsbefragung wurden in dieser Studie auch diejenigen Frauen erfasst, die durch das Raster der Zufallsauswahl gefallen wären. Gehörlose Frauen mussten über Lobbyverbände und Internetaufrufe in Gebärdensprache gezielt gesucht werden. Von daher gilt diese Teilbefragung als nicht repräsentativ, doch es lagen mit N = 83 Fallzahlen in ausreichender Höhe vor, um auch bei dieser Befragungsgruppe allgemeine Tendenzen aufzeigen zu können (ebd.: 269).
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aarbeziehungen und haben häufiger Kinder (ebd.: 270).13 Ihre BeziehungsP partner14 sind jedoch überwiegend gehörlos, lediglich ein Fünftel der befragten Frauen gab an, mit einem hörenden Partner zusammenzuleben (ebd.: 271). Hier lässt sich eine interessante Entwicklung im Vergleich zu der Fragebogenaktion des Deutschen G ehörlosen-Bundes von 1995 feststellen: Damals gaben nur 7% der befragten Frauen an, einen hörenden Partner zu haben (vgl. Deutscher Gehörlosen-Bund 1996: 22). Die Anzahl der Beziehungen mit einem hörenden Partner hat sich im Lauf der letzten beiden Jahrzehnte wesentlich erhöht, was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass die DGS in der Gesellschaft zunehmend anerkannt ist und immer mehr hörende Personen sie erlernen. Das veränderte Partnerverhalten hat sicherlich auch etwas mit dem veränderten Selbstverständnis und der veränderten Außenwahrnehmung zu tun. Zu jemanden, den man nicht primär als „behindert“ ansieht, lässt sich leichter Kontakt herstellen (vgl. Abschn. 2.1). Bei den in der Studie von Schröttle et al. (2013) befragten gehörlosen Frauen fällt außerdem das für die Gehörlosengemeinschaft vergleichsweise hohe Bildungsniveau auf: 13% der befragten Frauen gaben an, über Abitur und Hochschulabschluss zu verfügen (ebd.: 275). Mangels vergleichbarer Daten dürfen hier Rückschlüsse nur vorsichtig gezogen werden, jedoch ist davon auszugehen, dass gehörlose Abiturientinnen und Hochschulabsolventinnen überproportional häufig in der Stichprobe vertreten waren. Vermutlich haben die vergleichsweise hohen Bildungsabschlüsse innerhalb dieser Befragungsgruppe auch damit zu tun, dass der Aufruf zum Mitmachen vornehmlich besser gebildete Frauen erreichte, die eher bereit waren, an der Befragung teilzunehmen – ein Aspekt, der bei der Rekrutierung der Interviewerinnen der vorliegenden Studie unbedingt zu berücksichtigen war. Ein weiterer wichtiger Grund für den überdurchschnittlich hohen Bildungsstand kann sein, dass knapp ein Drittel der gehörlosen Interviewpartnerinnen angab, gehörlose bzw. hörbehinderte Eltern oder Elternteile zu haben. Nach allgemeinen Schätzungen hat jedoch nur ein Bruchteil aller gehörlosen Kinder gehörlose Eltern (s. auch Abschn. 2.1). Die Vorteile, die gehörlose Eltern ihren Kindern durch eine bessere sprachliche und soziale E ntwicklung
13Gehörlose
Frauen haben mit 71% etwa gleich häufig Kinder wie Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt. Nur 41% der blinden und 42% der schwerstkörperbehinderten Frauen haben eigene Kinder (ebd.: 270). 14Hier und im Folgenden geht es tatsächlich fast ausschließlich um Männer, insofern nur eine gehörlose Interviewpartnerin angab, in aktueller Paarbeziehung mit einer Frau zu leben (ebd.: 271).
2.2 Untersuchungen zur Lebenssituation gehörloser Frauen
35
bieten, können vermutlich auch als Grund für das hohe Bildungsniveau der befragten Frauen in dieser Studie angeführt werden: Über zwei Drittel der befragten Frauen (69%) gehen einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nach, wenn auch mit einem vergleichsweise niedrigen Nettoeinkommen. 36% der erwerbstätigen gehörlosen Frauen gaben an, weniger als 1.500 Euro netto im Monat zur Verfügung zu haben (ebd.). Bei den übrigen Befragungsgruppen gaben nur 16–22% der Frauen mit Behinderungen an, ein geringes Haushaltseinkommen zu haben. Finanzielle Einschränkungen treffen gehörlose Frauen besonders hart, da sie häufiger als andere Frauen mit Behinderungen Kinder und einen Partner im Haushalt mitzuversorgen haben: Über 60% der gehörlosen Frauen gaben an, dass sie finanzielle Engpässe haben, im Vergleich mit nur 25% der blinden, 37% der körperbehinderten und 39% aller Frauen der repräsentativen Haushaltsbefragung (ebd.: 277), obwohl sie weit häufiger einer Erwerbsarbeit nachgehen (69%) als die anderen Frauen dieser Befragungsgruppe (32% bzw. 37%; vgl. ebd.: 275). Diese Angaben decken sich in etwa mit einer vergleichenden demografischen Untersuchung von gehörlosen und hörenden Frauen in den USA, die 2008 im Monroe County (New York) durchgeführt wurde: „The women in the Deaf sample, on average are more highly educated than in the hearing sample, although their level of pay is below that of hearing women“ (Anderson 2010: 40). Aus dieser Studie geht hervor, dass trotz der weitaus besseren Bildungsabschlüsse, über die gehörlose Menschen in den USA im Allgemeinen verfügen, gehörlose Frauen auch dort häufiger als hörende Frauen in Bezug auf Lohn und Gehalt deutlich niedriger eingestuft werden und damit vermutlich auch schlechteren Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind. Eingeschränkte Berufsbildungs-, Ausbildungs- und Karrieremöglichkeiten für Gehörlose sind auch in Deutschland nach wie vor aktuell. Die von den Förderschulen ermöglichten Bildungswege können gesellschaftliche Ausgrenzung häufig nicht verhindern und müssen als Teil einer allgemeinen gesellschaftlichen Benachteiligung Gehörloser angesehen werden. Das bestätigt auch eine empirische Studie aus Österreich zur Teilhabe gehörloser Frauen auf dem Arbeitsmarkt: „Insbesondere gehörlose Frauen sind […] in einem hohen Ausmaß als Hilfsarbeiterinnen in unqualifizierten Beschäftigungsfeldern tätig“ (Grünbichler & Andree 2010: 209). Nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen fühlen sich gehörlose Frauen aktuell immer noch ausgegrenzt. In der Studie von Schröttle et al. (2013: 388f.) gaben gehörlose Frauen mit 86% als die am häufigsten betroffene Befragungsgruppe eine Benachteiligung durch andere Menschen und Institutionen an. Dazu gehören vor allem Grenzverletzungen und Bevormundungen durch Ämter, Juristen und Behörden sowie
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durch medizinisches und pflegerisches Personal. In dieses Bild passt es, wenn invasive Chirurgie und Medizintechnik ein „Ende der Taubheit“ verheißen (Deutsche Gesundheits-Nachrichten 2013) oder der Gehörlosengemeinschaft der Charakter einer „Notgemeinschaft“ zugewiesen wird (Müller & Zaracko 2010: 244). Dass die Einbindung in die Gehörlosengemeinschaft oft alternativlos ist und damit auch Anlass zu Problemen gibt, wird erstmals in der Studie von Schröttle et al. (2013) thematisiert. Die Untersuchung deckt auf, dass die starke Vernetzung innerhalb der Gemeinschaft der Gehörlosen Schattenseiten hat, denen für die vorliegende Untersuchung besondere Relevanz zukommt. Vielen gehörlosen Frauen fehlen offenbar Vertrauenspersonen oder gute Freunde innerhalb der Gemeinschaft, mit denen sie beispielsweise Probleme besprechen oder sich in Konfliktsituationen austauschen können (ebd.: 289f.). 40% aller befragten Frauen gaben an, niemanden zu haben, mit dem sie über sexuelle Erfahrungen und Probleme in der Partnerschaft sprechen können. Fast die Hälfte (48%) der gehörlosen Frauen stellte fest, dass ihnen eine richtig gute Freundin oder ein richtig guter Freund fehle und dass sie im Zusammensein mit anderen Geborgenheit und Wärme vermissten (53%). Offenkundig kann sich die Begrenztheit und Intimität der kleinen Gemeinschaft der Gehörlosen in einer Weise problematisch auswirken, die als eine Form der „doppelten Isolation“ angesehen werden muss: Gehörlose Frauen sind nicht nur innerhalb der Gesellschaft im Allgemeinen, am Arbeitsplatz, bei Kontakten im Ort und in der Nachbarschaft aufgrund ihrer Kommunikationsbehinderung isoliert, sondern auch innerhalb der Gehörlosengemeinschaft selbst. In der vorliegenden Untersuchung wird diese Einsicht mit in den Zusammenhang der Forschungsfragen aufgenommen und in ihrer Relevanz in Bezug auf die Gewaltbetroffenheit gehörloser Frauen vertiefend untersucht.
2.3 Zwischenfazit I: Die Bedeutung der bilingualen und bikulturellen Prägung der zu befragenden gehörlosen Frauen für die Untersuchung Vor dem Hintergrund des bislang Festgestellten wird hier zusammengefasst, womit mit Blick auf die zu befragenden gehörlosen Frauen zu rechnen ist und was ihre bilingual-bikulturelle Prägung für diese Untersuchung bedeutet. • Zweifellos können wohlmeinende, häufig jedoch durch Unwissenheit, Vorurteile oder gar Ablehnung geprägten Einstellungen von Fachleuten und Pädagogen, aber auch von Eltern und Familienmitgliedern gegenüber den
2.3 Zwischenfazit I …
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Gehörlosen als das Ergebnis einer langen Geschichte von pädagogischen Irrwegen und fehlgeleiteten Anpassungsbemühungen betrachtet werden. • Das Selbstverständnis der Gehörlosen hat sich im Vergleich zu vorhergehenden Generationen stark verändert. Sie sind selbstbewusst geworden und widersprechen in jeglicher Hinsicht dem traditionellen Bild des Gehörlosen als dankbarem Objekt von Fürsorge und Bevormundung. • Gehörlose wollen als Menschen mit einer anderen Sprache gesehen werden, der Gebärdensprache, die unzweifelhaft als natürliche Sprache anzusehen ist. • Die Gehörlosengemeinschaft ist klein. Die geringe Anzahl ihrer Mitglieder führt zu einem engen sozialen Zuschnitt dieser Gemeinschaft und begrenzt die Auswahl von Beziehungspartnern, Vertrauenspersonen und Freundschaften. • Dennoch bietet die Gehörlosengemeinschaft als häufig alternativlose Möglichkeit der barrierefreien Kommunikation einen wichtigen Ort des Miteinanders und der Beziehungspflege. • Die Zugehörigkeit zur eigenen Herkunftsfamilie ist dagegen häufig von einer fehlenden oder unzureichenden Kommunikation geprägt. • Auch in der schulischen Bildung bestehen Kommunikationsdefizite, die häufig eingeschränkte Wissensvermittlung führt zu Chancenungleichheiten im Alltags- und im Berufsleben. • Auch die oft unzureichende Deutschkompetenz Gehörloser stellt im Alltagsund im Berufsleben oft eine Barriere dar. • Gebärdensprachdolmetscher sind ein wichtiges Mittel zur gesellschaftlichen Teilhabe. Die Kostenübernahme ist jedoch nur für bestimmte Einsatzgebiete gesichert.
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Gewalterfahrung hörender und gehörloser Frauen
Der vorliegenden Studie liegt eine Definition des Europarates (2011: 5) zugrunde. Gewalt gegen Frauen wird hier als „eine Menschenrechtsverletzung und eine Form der Diskriminierung der Frau verstanden und bezeichnet alle Handlungen geschlechtsspezifischer Gewalt, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen oder führen können, einschließlich der Androhung solcher Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsentziehung, sei es im öffentlichen oder privaten Leben“. Damit wird die Bestimmung des Gewaltbegriffes der WHO (2002: 6) erweitert und speziell für die Personengruppe der Frauen konkretisiert.1 Die Definition des Istanbuler Übereinkommens zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Europarat 2011) umfasst sowohl Formen sexueller und nicht sexualisierter2 körperlicher als auch
1Der
Begriff „Gewalt“ wird von der WHO (2002) wie folgt definiert: „Der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichen Zwang oder psychischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklungen oder Deprivation führt.“ 2Wenn hier und im Folgenden der Ausdruck „sexualisierte Gewalt“ benutzt wird, ist damit ein breites Spektrum an Handlungen gemeint, wobei die Wahrnehmung und Perspektive der aus den Interviews generierten Aussagen im Zentrum steht. Dazu gehören unter anderem sexualisierende Ansprachen, Spitznamen oder Kommentare, Spiele, in denen sich zum Beispiel jemand ausziehen oder über intime Dinge reden muss, Präsentation sexueller Bilder, Videos, Schriften und allgemein als sexuell eingestufte Handlungen wie zum Beispiel Oral- und Analverkehr oder Berührungen (insbesondere Berührungen von intimen Körperbereichen) sowie sexuelle Handlungen, die nicht an, aber vor den Betroffenen vorgenommen werden (etwa das Zeigen von Geschlechtsteilen). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Fries, Gewalterfahrungen gehörloser Frauen, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31926-7_3
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3 Gewalterfahrung hörender und gehörloser Frauen
psychischer, emotionaler und ökonomischer Gewalt und berücksichtigt ferner auch die gesundheitlichen Folgen von Gewalt. Für die vorliegende Studie sind vor allem Formen geschlechtsbezogener und diskriminierungsbedingter Gewalt relevant. Es geht hier in erster Linie um die Gewalterfahrung gehörloser Frauen. Die untersuchte Gewaltbetroffenheit steht also im Zusammenhang mit der biologischen, sozialen und kulturell konstruierten Geschlechtlichkeit der betroffenen Person sowie ihrer Zugehörigkeit zu einer sozial benachteiligten Gruppe, der Gehörlosengemeinschaft. Der Begriff Gewalt wird darüber hinaus im Rahmen der vorliegenden Studie auch kontextspezifisch modifiziert, insofern es im Folgenden um Risikofaktoren für das Erleben von Gewalt (Abschn. 3.1), Ressourcen und Bewältigungsstrategien (Abschn. 3.2) sowie um verletzungs- und gesundheitsrelevante Ausprägungen von Gewalt geht (Abschn. 3.3). Vor diesem Hintergrund werden abschließend die vorliegenden Untersuchungen zu Gewalterfahrungen gehörloser Frauen betrachtet (Abschn. 3.4).
3.1 Risikofaktoren für das Erleben von Gewalt Das Risiko, als Frau Gewalt zu erfahren, hängt zum einen stark mit individuellen Lebensbedingungen und biografischen Gegebenheiten zusammen, zum anderen spielen gesellschaftliche, politische und kulturelle Faktoren eine wichtige Rolle. Als klassische, dem individuellen Bereich zuzuordnende Risikofaktoren werden in Untersuchungen zu Gewalt gegen Frauen häufig genannt: traditionelles Partnerschaftsverständnis, niedriger sozialer Stand (Armut), niedrige oder schlechte Bildung, Alkoholprobleme, soziale Isolation, Abhängigkeitsverhältnisse, frühe Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend (Ashcroft, Daniels & Hart 2004; Schröttle & Ansorge 2008: 26f.). Allerdings liegen keine Belege für konsistente Einflüsse spezifischer Risikofaktoren vor, denn allgemeine Erfahrungen aus Gewaltberatungsstellen und Frauenhäusern berichten davon, dass Gewalt jede Frau treffen kann und dass sowohl Opfer als auch Täter allen sozialen Schichten angehören können (Godenzi 1996: 27; Müller & Schröttle 2004: 27f.; Hornberg et al. 2008: 11). Allgemein wird davon ausgegangen, dass viele Faktoren mit dem Vorkommen von Gewalt korrelieren und in der konkreten Situation immer mehrere solcher Risikofaktoren vorhanden sind. Es ist schwierig, ursächliche Faktoren oder die eigentliche Wurzel von Gewalt als solche zu definieren und von anderen Einflussfaktoren, die verstärkend hinzukommen, scharf abzugrenzen (Schröttle & Ansorge 2008: 135). Unbestritten ist in der Gewaltforschung allerdings, dass Personen, die in ihrer Kindheit selbst
3.1 Risikofaktoren für das Erleben von Gewalt
41
Opfer oder Zeugen von Gewalt im näheren sozialen Umfeld geworden sind, als Erwachsene besonders häufig zu Opfern, aber auch zu Tätern werden (Müller & Schröttle 2004: 30, 78 u. ö.). Unbestritten ist ferner, dass besonders bei Frauen bestimmte Lebensphasen die Vulnerabilität für Gewalterfahrungen erhöhen können. Hornberg et al. (2008) nennen hier „komplexe Problemkonstellationen, besondere Lebenssituationen und Umbruchphasen im Lebenslauf“ (20). Dazu zählen beispielsweise individuelle Faktoren wie Schwangerschaft und Mutterschaft, Behinderung, Krankheit, hohes Alter, ungesicherter Aufenthalts- oder Minoritätenstatus. Weiteren Studien zufolge ist die Gefährdung von Frauen am größten, wenn sie sich von ihrem Partner trennen wollen oder dabei sind, eine Beziehung zu beenden (Godenzi 1996: 259). Auch in der großen deutschen Repräsentativstudie von 2004 gaben 17% der Befragten an, dass eine Trennung der gewaltauslösende Faktor gewesen sei (Schröttle & Müller 2004: 261 und 295). Neben der Trennungsphase gilt internationalen Studien zufolge auch die Schwangerschaft oder die Geburt eines Kindes als Zeit der besonderen Anfälligkeit für Gewalterleben. In der Untersuchung von Müller und Schröttle wurde die Schwangerschaft von 10%, die Geburt eines Kindes von 20% der betroffenen Frauen als Lebenssituation genannt, bei der Gewalt durch den Partner zum ersten Mal erlebt wurde (ebd.: 262; vgl. auch Brownridge et al. 2011: 859). Oft ist in diesen Fällen die Schwangerschaft selbst Produkt sexueller Gewalt gewesen (ebd.). Neben den aufgezählten Risikofaktoren, die auf bestimmte Konstellationen im Leben von Frauen zurückgehen, nennen Hornberg et al. (2008) weitere Faktoren, die vor allem mit benachteiligten Lebens- und Arbeitsverhältnissen zusammenhängen oder mit einer Einbindung in Institutionen mit spezifischen Abhängigkeiten einhergehen. Zu Frauen in benachteiligten Lebensverhältnissen zählen neben Migrantinnen und Angehörigen von Minoritätsgruppen (vgl. Schröttle & Martinez 2006; Schröttle & Ansorge 2008) vor allem auch Frauen mit Behinderungen oder mit Beeinträchtigungen, die mit einer Behinderung einhergehen: „Viele Betroffene sind besonders gefährdet, Gewalt zu erfahren, da ihr Leben, abhängig von den vorliegenden Beeinträchtigungen und funktionellen Einschränkungen, in diversen Bereichen fremdbestimmt ist“ (Hornberg et al. 2008: 22). Bereits in der deutschlandweiten Repräsentativstudie zu Lebenssituationen von Frauen ohne spezifischen Fokus auf das Thema Behinderung (Müller & Schröttle 2004) wurden Hinweise ersichtlich, „dass auch in Deutschland die Gewaltbetroffenheit von Frauen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen in Bezug auf alle erlebten Gewaltformen höher zu sein scheint als in anderen Bevölkerungsgruppen“ (Hornberg et al. 2008: 23f.). Doch erst in
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3 Gewalterfahrung hörender und gehörloser Frauen
der von Schröttle et al. vorgelegten Studie (2013), in der über 1.500 Frauen mit unterschiedlichen Behinderungen und Beeinträchtigungen repräsentativ befragt wurden, konnten im Rahmen von quantitativen und qualitativen Erhebungen Daten gesichert werden, die diesen Verdacht bestätigten. Die Daten zeigen in aller Deutlichkeit, dass ein Zusammenhang von Gewalt und gesundheitlicher Beeinträchtigung oder Behinderung im Leben von Frauen besteht, sodass die Studie zu der zusammenfassenden Feststellung gelangt: „Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen waren im Lebensverlauf allen Formen von Gewalt deutlich häufiger ausgesetzt als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt“ (ebd.: 264). Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen waren zwei- bis dreimal häufiger als der Durchschnitt aller Frauen unterschiedlichen Formen von Gewalt im Lebensverlauf ausgesetzt (ebd.; vgl. auch 415) und hatten fast durchgängig Erfahrungen mit Diskriminierungen gemacht (ebd.: 266 und 414). Die Studie verdeutlicht, dass spezifische Formen und Ausprägungen von Behinderungen und Beeinträchtigungen zu einem Risikofaktor für Gewalterleben werden, weil sie mit einer eingeschränkten Wehrhaftigkeit (ebd.: 265) oder spezifisch gefährdeten Lebens- und Abhängigkeitssituationen wie zum Beispiel einem Angewiesensein auf körperliche Pflege (ebd.) einhergehen. Auch besondere Reaktionen der Umwelt auf die Behinderung oder Beeinträchtigung, wie zum Beispiel Überbehütung oder Vernachlässigung durch Eltern oder Erziehungspersonal (ebd.: 285f.) zählen dazu. Besonders gefährdet sind dieser Studie zufolge Frauen mit psychischen Erkrankungen, kognitiv beeinträchtigte Frauen, Frauen mit Körper- und Mehrfachbehinderungen sowie Frauen mit erheblichen Hör-, Sprech- und Sehbeeinträchtigungen (ebd.: 264 und 415). Insbesondere gehörlose Frauen weisen eine stark erhöhte Vulnerabilität für das Erleben von Gewalt im Kindes- und Erwachsenenalter auf. Das bestätigen vor allem die Ergebnisse der Sekundärauswertung mit speziellem Fokus auf die Risikofaktoren für gehörlose Frauen (Fries & Schröttle 2015: 32): „Werden psychische, körperliche und sexuelle Gewalt in Kindheit/Jugend und im Erwachsenenleben jeweils mit einem Punkt versehen und daraus ein Summenindex gebildet, dann zeigt sich, dass gehörlose Frauen um ein Vielfaches häufiger als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt, aber auch deutlich häufiger als andere Frauen mit Behinderungen mehrere Formen von Gewalt sowohl in Kindheit/Jugend wie auch im Erwachsenenleben erlebt haben.“ Die erneute Sichtung und Feinauswertung der Daten konnte aufzeigen, dass keine der befragten gehörlosen Frauen angegeben hatte, keine Gewaltform im Lebensverlauf erlebt zu haben – im Vergleich zu 14% im Bevölkerungsdurchschnitt (ebd.). Darüber hinaus waren 46% dieser Befragungsgruppe in hohem Maße von multipler Gewalt im Lebensverlauf betroffen – im Vergleich zu 7% der Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt (ebd.).
3.2 Ressourcen und Bewältigungsstrategien
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Das entspricht einer fast siebenfach erhöhten Betroffenheit gehörloser Frauen durch multiple Formen und fortgesetzte Gewalt im Lebensverlauf (ebd: 33). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Behinderungsart Gehörlosigkeit im Vergleich zu anderen Beeinträchtigungen und Behinderungen mit dem erhöhten Risiko verbunden sein kann, von Gewalt im Lebensverlauf betroffen zu sein. Nicht die Behinderung selbst, sondern die mit der spezifischen Form der Behinderung verbundenen Einschränkungen und speziellen Lebensumstände erhöhen das Risiko, Opfer von Gewalt zu werden. Gehörlose Frauen haben aufgrund ihrer Behinderung häufig mit Kommunikations- und Sprachbarrieren zu kämpfen. Sie haben von daher einen eingeschränkten Zugang zu gesundheitlicher Vorsorge, zu Beratungsstellen und anderen Hilfsangeboten. Auf diese Aspekte ist bei der Befragung der Interviewpartnerinnen detailliert einzugehen.
3.2 Ressourcen und Bewältigungsstrategien Das Modell der Salutogenese, in den 1970er-Jahren von Aaron Antonovsky entwickelt, (Antonovsky 1997) läutete in den 1980er-Jahren einen Paradigmenwechsel in der Gesundheitsforschung ein.3 Antonovsky relativierte das bisher vorherrschende pathogenetische Paradigma der Erforschung der Ursachen von Krankheit und stellte ihm das Modell der Salutogenese, der Ergründung von Gesundheit also, zur Seite. Galt der Schwerpunkt der Analyse bis dahin der Entstehung von Krankheiten und den einflussnehmenden Risikofaktoren oder krankmachenden Stressoren (Pathogenese), so stehen seitdem die Gesundheit und gesundheitserhaltende Faktoren, also die persönlichen und sozialen Ressourcen eines Individuums (Salutogenese) im Mittelpunkt der Gesundheitsförderung. Antonovsky geht dabei von einem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum aus: Menschen sind also nicht entweder krank oder gesund, sondern bewegen sich auf einem Kontinuum zwischen diesen Polen (ebd.: 29f.). Einem BelastungsBewältigungs-Konzept folgend fragt Antonovsky danach, welche Faktoren es dem Individuum ermöglichen, trotz der im Leben unumgänglichen widrigen
3Schon
vor Antonovsky gab es Anläufe, den Begriff der Gesundheit positiv und nicht nur anhand von Abwesenheit medizinisch definierter Krankheit zu beschreiben. So definiert die WHO bereits 1948 in der Präambel ihrer Verfassung Gesundheit wie folgt: „Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity“ (WHO 1948; vgl. Hornberg 2016).
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Umstände, trotz Risiken und Belastungen gesund zu bleiben. Ein Wechsel der Perspektive von den Risikofaktoren hin zu Schutzfaktoren und Ressourcen ist vor allem durch drei Faktoren bedingt: 1) der Fähigkeit, äußere Schicksalsschläge als verstehbar und erträglich aufzufassen (sense of comprehensibility); 2) dem Vertrauen auf die eigenen Widerstandsressourcen, um die Schicksalsschläge bewältigen zu können (manageability); 3) dem Gefühl, dass die Herausforderungen des Lebens es wert sind, sich ihnen zu stellen (sense of meaningfulness) (ebd.: 34). Eine Person mit einem ausgeprägten Kohärenzgefühl (sense of coherence) ist gegenüber den Herausforderungen des Lebens besser gewappnet: „Bevor sie handelt, hat sie Ressourcen mobilisiert, um dem Stressor zu begegnen“ (ebd.: 130). Das von Antonovsky beschriebene Kohärenzgefühl wird beeinflusst durch verschiedene Lebenserfahrungen wie Gleichgewicht zwischen Überlastung und Überforderung, Konsistenz und aktive Einflussnahme auf die Lebensgestaltung (ebd.: 91f.). Antonovskys Modell der Salutogenese hat die Gesundheitswissenschaften und die gesundheitsbezogenen Arbeitsfelder maßgeblich beeinflusst (Daiminger 2016: 62). In seiner Nachfolge entstanden weitere Modelle, die um Schutzfaktoren oder Ressourcen kreisen (COR-Theory, Capability-Ansätze, vgl. Hobfoll & Buchwald 2004; Keupp 2012; Knecht 2012). Als Ressourcen werden die zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten und Mittel verstanden, die eine Adaption an ein Problem erleichtern (Daiminger 2016: 68f.). Dazu zählen zum einen personale Ressourcen wie Selbstwert und Selbstkonzepte, eine positive Lebenseinstellung und Religiösität und Spiritualität (Adams 2012: 313) sowie eigene Bewältigungs- und Problemlösungskompetenzen (Schubert & Knecht 2012: 21), zum anderen aber auch soziale Ressourcen (auch externe Ressourcen oder Umfeldressourcen genannt, vgl. ebd.: 22) wie beispielsweise Rückgriffsmöglichkeiten auf Unterstützungsangebote, die im familiären oder näheren sozialen Umfeld vorhanden sind. Aber auch Ressourcen, die professionell angeboten werden, wie zum Beispiel Beratungsstellen oder professionell betreute Zufluchtsorte sind hier zu nennen (Werner & Nestmann 2012). Eine hohe soziale Kompetenz, d. h. die Bereitschaft und Fähigkeit einer Person, andere Personen oder Institutionen aktiv um Unterstützung zu bitten, führen zu einer größeren Unterstützung (vgl. Keupp 2012: 46). Die Studienergebnisse belegen darüber hinaus eine Interdependenz zwischen personalen und sozialen Ressourcen.
3.3 Gesundheitliche Folgen von Gewalt
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Personale Ressourcen üben nach Knoll und Schwarzer (2005) einen stetigen Haupteinfluss aus, während soziale Ressourcen als Puffer in Krisensituationen des Lebens dienen. Aus den Berichten betroffener Frauen in den vorliegenden Studien geht hervor, dass sie in der Folge von Gewalthandlungen meistens psychisch stark belastet und in der Folge andauerndem Stress ausgesetzt waren (s. Abschn. 3.3; vgl. auch Müller & Schröttle 2004: 139). Diese Gewaltfolgen werden durch ein vermindertes Selbstwertgefühl und fehlende soziale Netzwerke verstärkt, insofern Gewalterfahrungen häufig mit einer starken sozialen Isolation und Ausgrenzung einhergehen. So ver- und behindert beispielsweise Isolation in einer gewalttätigen Paarbeziehung das Aufrechterhalten sozialer Netzwerke und freundschaftlicher Beziehungen, die als wichtige Ressourcen gelten. Ein soziales Umfeld kann sich auch negativ auf das Hilfesucheverhalten von gewaltbetroffenen Frauen auswirken, wenn ihnen im sozialen Umfeld kein Gehör geschenkt wird. Die betroffenen Frauen werden dadurch demotiviert und in ihrem Bemühen um Problemlösung gebremst (vgl. Ford-Gilboe et al. 2009). Bei gehörlosen Frauen kommt in der Inanspruchnahme von sozialen und professionellen Ressourcen neben der eigenen Gewaltbetroffenheit immer auch die besondere Kommunikationsproblematik dazu, die es ihnen zusätzlich schwer macht, Beratungsstellen und unterstützende Einrichtungen aufzusuchen: „Die Hürden, hörende Einrichtungen zu besuchen, sind hoch, und viele Frauen kennen die Angebote nicht“ (Fries et al. 2013: 447). Es ist ein besonderes Augenmerk darauf zu richten, inwieweit die Gehörlosengemeinschaft zum unterstützenden Netzwerk wird und wie weit solidarische Unterstützung durch gehörlose Freunde und Bekannte reicht. Weiterhin dürften aufgrund von Bildungsdefiziten und oft nicht ausreichenden Schriftsprachkenntnissen (s. auch Abschn. 2.1) große Informationslücken bei gewaltbetroffenen gehörlosen Frauen bestehen, die zu Unsicherheit und Überforderung führen können (s. auch Abschn. 2.2). Hier ist zu prüfen, inwieweit personale Ressourcen dieses Defizit auffangen können und ob beispielsweise Selbstwertgefühle und Selbstkonzepte Wege aus der Gewalt weisen können.
3.3 Gesundheitliche Folgen von Gewalt Alle Formen von Gewalt wirken sich in gravierender Weise auf die Gesundheit betroffener Frauen aus. Die WHO bewertet das Erleben von Gewalt aufgrund der vielfältigen Auswirkungen, die damit einhergehen, als ein zentrales Risiko für die
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3 Gewalterfahrung hörender und gehörloser Frauen
Gesundheit von Frauen (WHO 2013: 10). Das belegen auch zahlreiche nationale und internationale Untersuchungen, die längst schon einen Zusammenhang zwischen Gewalterfahrungen und direkten sowie indirekten somatischen und psychosomatischen Beschwerden sowie psychischen Folgeproblemen feststellten (vgl. Arias 1999; Campbell 2002). In der deutschen Repräsentativstudie zu Gewalt gegen Frauen konnte ein hoch signifikanter Zusammenhang zwischen der Betroffenheit von Gewalt im Lebensverlauf und der gesundheitlichen Situation der Befragten nachgewiesen werden (Müller & Schröttle 2004: 151). Frauen, die Gewalt ausgesetzt waren, beurteilten den eigenen Gesundheitszustand im Vergleich zu nicht betroffenen Frauen negativer. Zudem klagten sie vermehrt über Kopf- und Bauchschmerzen, Magenund Darmprobleme, Zittern, Nervosität und Schwindel (ebd.). Auch psychische Beschwerden gehen vermehrt mit Gewalterfahrungen einher (RKI 2008: 17). Betroffene Frauen wiesen gesundheitliche Beeinträchtigungen wie Depressionen, Stresssymptome, Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), Essstörungen und Suizidalitätstendenzen auf (ebd.; vgl. auch Müller & Schröttle 2004: 151f.). Daneben kann es zu Problemen im Umgang mit Männern, Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen sowie zu Antriebslosigkeit und Konzentrationsschwäche kommen (ebd.: 138). Die gesundheitlichen Folgen von Gewalt werden in kurz-, mittel- und langfristige Beeinträchtigungen eingeteilt (RKI 2008: 13). Die kurzfristigen, unmittelbaren Beeinträchtigungen sind das Ergebnis akuter körperlicher Verletzungen. Sie können aber auch aus den direkten psychischen und psychosozialen Folgen von Gewalt resultieren. Dazu zählen beispielsweise chronische Schmerzsyndrome, Atemwegsbeschwerden, posttraumatische Belastungsstörungen, Essstörungen, Depressionen und Panikattacken (ebd.: 14; vgl. auch Martinez et al. 2007; G iG-net 2008). Erleben Frauen bereits in der Kindheit Gewalt und setzen sich diese Erfahrungen im Lebenslauf fort, kann der gesamte psychische und physische Gesundheitszustand nachhaltig negativ beeinflusst werden (vgl. auch Müller & Schröttle 2004: 30). Dies äußert sich beispielsweise in einem fortgesetzten Alkohol-, Drogen- und Medikamentenkonsum oder selbstverletzendem Verhalten (RKI 2008: 14). Hellbernd et al. (2004) unterscheiden weiterhin zwischen tödlichen und nicht tödlichen Folgen von Gewalt, die durch den Täter oder auch durch die betroffene Person selbst verursacht sein können. Bei den nicht tödlichen Folgen wird zwischen körperlichen, psychosomatischen und psychischen Folgen sowie Auswirkungen auf die reproduktive Gesundheit und gesundheitsgefährdendem Verhalten unterschieden. Zu den tödlichen Folgen zählen – neben den unmittelbar tödlichen Verletzungen als Folge des Gewalterlebens – Totschlag, Mord und Suizid (vgl. RKI 2008: 14). Da das
3.4 Untersuchungen zu spezifischen Gewalterfahrungen gehörloser …
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Gewaltereignis nicht als isolierter Faktor für den Einfluss auf die Gesundheit betrachtet werden kann, sondern stets ein multifaktorieller Wirkungszusammenhang berücksichtigt werden muss, sind die genauen gesundheitlichen Folgen von Gewalt empirisch nur schwer zu fassen (ebd.: 38). Auch sind die Wechselwirkungen zwischen gesundheitlicher Beeinträchtigung oder Behinderung und erhöhter Vulnerabilität und Gewaltbetroffenheit bislang noch nicht ausreichend wissenschaftlich untersucht: „Beim Vorliegen einer Behinderung werden solche Symptome von professioneller Seite nicht selten als behinderungsspezifisch (fehl)interpretiert, so dass der Gewalthintergrund unentdeckt bleibt“ (RKI 2008: 24). Um diesen Aspekt in der vorliegenden Studie zu erfassen, müssen die von Gewalt betroffenen Frauen einfühlsam nach ihrem aktuellen Gesundheits- und Befindlichkeitszustand gefragt werden. Davon ausgehend ist abzuwägen, ob die Interviewsituation und die Stabilität der Interviewpartnerin es zulässt, auch nach direkten Verletzungsfolgen und gegebenenfalls nach psychischen und psychosomatischen Folgebeschwerden zu fragen.
3.4 Untersuchungen zu spezifischen Gewalterfahrungen gehörloser Frauen Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen im Leben gehörloser Frauen unterscheiden sich, bedingt durch ihre Einbettung in einen anderen Sprach- und Kulturkreis, von denen normalhörender Frauen und jenen von Frauen mit anderen Behinderungen und Beeinträchtigungen (Anderson & Kobek Pezzarossi 2011; Anderson, Leigh & Samar 2011; Pollard, Sutter & Cerulli 2014). Eine Studie der US-amerikanischen Hilfsorganisation für gehörlose Frauen Deaf Hope,4 für die fünf Jahre lang Interviews mit acht gewaltbetroffenen gehörlosen Frauen geführt wurden, veranschaulicht die besonderen Merkmale der Gewalt gegen taube Frauen im Deaf Power and Control Wheel (Abb. 3.1):
4Deaf
Hope ist eine in Kalifornien ansässige US-amerikanische Organisation, die es als ihre Aufgabe versteht „to end domestic and sexual violence against Deaf women and children through empowerment, education and services“ (Deaf Hope 2006; vgl. RemsSmario 2007).
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3 Gewalterfahrung hörender und gehörloser Frauen
Abb. 3.1 Deaf Power and Control Wheel (Deaf Hope 2006)
Gewalttätiges Verhalten manifestiert sich in der gebärdensprachlichen Kommunikation vor allem dadurch, dass der Täter nah am Gesicht des Opfers gebärdet oder durch aggressives Auf-den-Boden-Stampfen Aufmerksamkeit einfordert. Auch angsteinflößendes, übertrieben großes Gebärden mit verzerrter oder starrer Mimik gehört dazu. Oft wird die besondere Form der körperlich orientierten Kommunikation vorgeschoben, um den Verdacht eines Missbrauchs zu entkräften: „Denying abuse by saying it is ok to touch you roughly or talk to you roughly“ (Deaf Hope 2006). Dazu gehört auch das Werfen von Gegenständen auf die Person, um ihre Aufmerksamkeit einzufordern. Eine Form des emotionalen Missbrauchs kann die Bezeichnung des Opfers als „Hörende“ sein oder auch die Verspottung und Herabwürdigung ihrer Laut- oder
3.4 Untersuchungen zu spezifischen Gewalterfahrungen gehörloser …
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ebärdensprachkompetenz: „If your partner is Deaf, he puts you down by calling G you ‚hearing‘ because you are not fluent enough in ASL or because you do not identify strongly as Deaf“ (ebd.). Eine Folge davon kann die üble Nachrede innerhalb der Gehörlosengemeinschaft sein, die schnell auch zu Ausgrenzung und Stigmatisierung der betroffenen Person führt. Ist die gewalttätige Person ein anerkanntes Mitglied der Gehörlosengemeinschaft, kann sie ihr Prestige und Ansehen ausnutzen, um die Versuche des Gewaltopfers, ihre Erlebnisse im gehörlosen Freundeskreis zu kommunizieren, zu diskreditieren. Dazu gehört auch das Überprüfen und Manipulieren von Handy-, Chat- oder E-Mail-Nachrichten – Medien, die im Leben gehörloser Menschen immer wichtiger werden (vgl. Rathmann & Raule 2015). Aber auch ständiges Beobachten gebärdensprachlicher Unterhaltungen mit anderen Gehörlosen durch den Partner oder gar das Festlegen von Themen, über die innerhalb der Gehörlosengemeinschaft kommuniziert werden darf, sind als Akte einschüchternder Kontrolle anzusehen. Das Einbehalten von behinderungsbedingten Zuwendungen, vergleichbar etwa dem Gehörlosengeld in Deutschland, gilt als Missbrauch in wirtschaftlicher Hinsicht. Ein Täter kann sich ferner die kommunikativen Einschränkungen seiner Partnerin zunutze machen, indem er dem Opfer vor Augen führt, dass es zwecklos sei, für sich oder die Kinder Schutz zu suchen, weil die Hörenden, die in entsprechenden Institutionen arbeiten, nicht über Gebärdensprachkompetenz verfügten. Auch die Überlegenheit eines hörenden Partners wird in der oben abgebildeten Grafik mit einbezogen. Sowohl Hörende als auch Gehörlose können zum Täter werden, doch hörende Täter können eine Überlegenheit gegenüber der gehörlosen Partnerin ausspielen, indem sie Vorteil aus der Tatsache ziehen, dass sie besser hören und sprechen können. Rems-Smario (2007: 14f.) bezeichnet diese Form der Gewaltausübung als „hearing privilege“. Dazu gehört unter anderem, dass hörende Partner ihre gehörlose Partnerin von wichtigen Telefonaten ausschließen und zum Beispiel eigenmächtig finanzielle Entscheidungen treffen. In sozialen Situationen mit hörenden Menschen kann der gehörlose Partner leicht ausgeschlossen werden, wenn der hörende Partner nicht zur Verständnissicherung beiträgt. Weiterhin verbieten hörende Partner den Zugang zur Gehörlosenkultur und untersagen Kontakte zu gehörlosen Freunden. Sie behandeln ihre Partner aufgrund der Hörbehinderung herablassend. In Notsituationen ist der hörende Partner von Vorteil, weil er aufgrund der besseren Kommunikationsmöglichkeiten versuchen kann, die Situation zu seinem Vorteil zu interpretieren. Es liegt nahe, dass sich die aufgezählten Privilegien Hörender in leicht veränderter Form auf Situationen übertragen lassen, in denen gehörlose Frauen
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3 Gewalterfahrung hörender und gehörloser Frauen
und Mädchen Gewalterfahrungen mit hörenden Eltern, pädagogischem Personal, Lehrern, Vorgesetzten oder Kollegen machen. Da es zu diesem Aspekt keine aussagekräftigen Studien gibt, soll diese Fragestellung in die vorliegende U ntersuchung miteinbezogen werden. Das betrifft sowohl Erfahrungen häuslicher Gewalt im Erwachsenenleben als auch das Erleben sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend (Schröttle et al. 2013: 414). Jede zweite (52%) der gehörlosen Frauen gab an, sexuellen Missbrauch in Kindheit und Jugend erlebt zu haben, wobei sie „besonders häufig von sexuellem Missbrauch in Schulen und Einrichtungen (häufig auch Förderschulen) betroffen“ waren (ebd.: 348). Dass sonderpädagogische Einrichtungen signifikant zur Erhöhung des Risikos sexueller Gewaltbetroffenheit gehörloser Kinder und Jugendlicher beitragen, ist seit längerer Zeit bekannt und wurde bereits in einigen Studien erforscht. In einer norwegischen Studie wurden bereits 1999 alle erwachsenen Gehörlosen, die im Register des Gehörlosenverbands verzeichnet waren (N = 1.150), zu ihrem Gewalterleben während Schulzeit und Internatsunterbringung befragt. 125 gehörlose Frauen dieser Befragungsgruppe gaben an, sexuellen Missbrauch mit Körperkontakt noch vor Erreichen des 18. Lebensjahrs erfahren zu haben. Das war mehr als das Doppelte als in einer Vergleichsstudie zu der hörenden Bevölkerung (Tambs 1994). Gehörlose Männer waren sogar dreimal so häufig wie hörende Mitbürger betroffen. Die Autorin dieser norwegischen Studie, die selbst gehörlose Marit Kvam, stellt weiterhin fest, dass in sehr wenig Fällen Eltern, Lehrer oder anderes pädagogisches Personal davon in Kenntnis gesetzt wurden (Kvam 2004). Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch vergleichbare Studien anderer Länder. Eine Befragung von Bisol et al. (2008) in Brasilien innerhalb einer Stichprobe von 92 Schülern (davon 42 gehörlose und 50 hörende Schüler im Alter von 15 bis 21 Jahren) ergab: 31% der gehörlosen Schüler gaben an, sexuelle Missbrauchserfahrungen gemacht zu haben – im Vergleich zu nur 2% der hörenden Schüler. Erfahrungen dieser Art haben offenbar vor allem auch damit zu tun, dass gehörlose Kinder, wie die Gehörlosengemeinschaft insgesamt, in besonderer Weise mit einem „problem of voice“ konfrontiert sind: Sie sind nur unzureichend in der Lage, die ‚Stimme zu erheben‘, und finden weder institutionell noch gesellschaftlich Gehör. Unter dem Titel „Silenced bodies“ widmen Padden und Humphries (2005: 11ff.) den Gewaltverhältnissen in Gehörlosenbildungsstätten ein Kapitel ihrer Untersuchungen signifikanter Ereignisse und Erfahrungen in der Geschichte der amerikanischen Gehörlosengemeinschaft und gelangen zu dem Schluss: „Once deaf children had been brought within these institutions, the relationship between caretaker and deaf child became fraught with issues of
3.4 Untersuchungen zu spezifischen Gewalterfahrungen gehörloser …
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power and control“ (ebd.: 164).5 Allerdings ist damit nicht erklärt, warum zahlreiche sexuelle Übergriffe von Kindern und Jugendlichen selbst ausgehen: Von sexuellem Missbrauch betroffene gehörlose Frauen geben an, dass die erlebten Übergriffe in Kindheit und Jugend zu 36% durch Kinder und Jugendliche erfolgten (Schröttle et al. 2013, 344). Bei keiner anderen Befragungsgruppe wurde ein vergleichbarer Wert ermittelt; die Angaben liegen hier zwischen 9 und 17% (ebd). Dass sexuelle Übergriffe zu den Grenzverletzungen gehören, von denen gehörlose Mädchen meinen, sie akzeptieren zu müssen, wird in einigen früheren Studien vermutet, jedoch nicht empirisch dokumentiert. So berichtet Leven (1994) aus ihrer Erfahrung als speziell auf den Hörgeschädigtenbereich fokussierte Verhaltenstherapeutin: „Ich habe bei Hörgeschädigten noch mehr den Eindruck als bei Hörenden, daß auch sexuelle Übergriffe zu etwas gehören, was sie im Leben einfach glauben hinnehmen zu müssen“ (58). Diese Einschätzung wird durch weitere kleinere Untersuchungen bestätigt: Im Rahmen ihrer Diplomarbeit zur sexuellen Aufklärung gehörloser Frauen und Mädchen führte Sabine Heinecke (2001) Interviews durch und kam dabei zu folgendem Ergebnis: „In den Interviews zeigte sich, dass fast jedes gehörlose Mädchen in den Gehörlosenschulen sexuelle Übergriffe und Belästigungen erlebt und kaum Unterstützung und Hilfe erwarten kann“ (53; vgl. auch Dietzel 2004). Zu dieser Erkenntnis kommen auch internationale Studien zur Prävalenz von Gewalt unter gehörlosen Studentinnen. Francavillo (2009, 2) schätzt auf der Grundlage einer schriftlichen Befragung von 360 gehörlosen und schwerhörigen Collegestudierenden, dass zwischen 50% und 83% aller Befragten „will experience sexual assault in their lifetime“ (2). Die Befragung von über 80 gehörlosen Frauen in der Studie von Schröttle et al. (2013) belegt diese Vermutungen: Die in Kindheit und Jugend begonnene Gewaltspirale setzt sich in auffälliger Weise im Erwachsenenleben fort. Dabei sind gehörlose Frauen weitaus häufiger betroffen als Frauen ohne bzw. mit anderen Behinderungen oder gesundheitlichen Einschränkungen. Während
5Der
sexuelle Missbrauch Gehörloser in pädagogischen Institutionen wurde vor einigen Jahren besonders auch durch den Dokumentarfilm Mea Maxima Culpa: Silence in the House of God (2012) bekannt. Der Regisseur Alex Gibney deckt hier Details der ersten bekannten Protestaktion gegen kirchlichen sexuellen Missbrauch in den Vereinigten Staaten auf, den vier gehörlose Männer in ihrer Jugend erlitten. Sie waren in der St. John’s School for the Deaf (Wisconsin) sexuell missbraucht worden (s. auch Trailer zum Film: https:// www.youtube.com/watch?v=lLZDLp7lx28).
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3 Gewalterfahrung hörender und gehörloser Frauen
im Bevölkerungsdurchschnitt etwa ein Drittel aller befragten Frauen angeben, körperliche Gewalt erlebt zu haben, sind drei Viertel der gehörlosen Frauen betroffen (ebd.: 357). Damit stellen sie wiederum die Gruppe mit der höchsten Betroffenheit dar. Erzwungene sexuelle Handlungen haben 43% aller gehörlosen Frauen erlebt (ebd.: 369). Auch diese Zahl nimmt in der Befragung eine Spitzenposition ein: Nur 13% des weiblichen Bevölkerungsdurchschnitts erlebt sexuelle Gewalt im Erwachsenenleben. Genauso alarmierend wie diese Zahlen ist auch das Täterprofil: Knapp die Hälfte aller erzwungenen sexuellen Handlungen (19%) erlebten gehörlose Frauen durch aktuelle oder frühere Beziehungspartner (ebd.: 372).6 Ein ähnlich hohes Vorkommen gewalttätiger Übergriffe durch den eigenen Partner liegt mit 20% wiederum nur bei psychisch erkrankten Frauen, die in Einrichtungen leben, vor (ebd.: 205). Bei den anderen Befragungsgruppen wird der Partner in 4–14% aller Fälle als Verursacher sexueller Gewalt angegeben. Auch in Bezug auf psychische Gewalt (84%) sind gehörlose Frauen, zusammen mit der Befragungsgruppe der in Einrichtungen lebenden psychisch erkrankten Frauen (90%) die am höchsten betroffene Gruppe. Auch hier werden Partner von 45% der gehörlosen Frauen als Verursacher genannt, während bei den psychisch erkrankten Frauen lediglich 28% der Befragten angeben, dass die psychische Gewalt vom Partner ausgegangen sei. Es ist davon auszugehen, dass die sehr hohe Gewaltbetroffenheit gehörloser Frauen durch den eigenen Partner „auf einen Zusammenhang mit Geschlechterbeziehungen und Gewaltverhältnissen in der Gehörlosengemeinschaft, auf Isolation gegenüber Hörenden oder auf eingeschränkte Unterstützungsmöglichkeiten für gehörlose Frauen aufgrund der Kommunikationsbarrieren“ verweist (Schröttle et al. 2013: 416). In der vorliegenden Untersuchung werden alle diese Aspekte differenziert betrachtet und es ist herauszuarbeiten, warum gerade gehörlose Frauen als eine besonders schwer belastete Personengruppe in allen Lebensbereichen einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, Opfer von Gewalt zu werden.
6Andersons
(2010) Befragung von 183 US-amerikanischen gehörlosen Frauen zeigt ebenfalls eine hohe Betroffenheit durch häusliche bzw. Partnergewalt: „This heightened prevalence of violence against Deaf women emphasizes the need to establish intimate partner violence as a health priority in the Deaf Community, with the obligation to create accessible domestic violence resources and mental health services for Deaf survivors of violence“ (64).
3.5 Zwischenfazit II: Konsequenzen für die eigene Fragestellung …
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3.5 Zwischenfazit II: Konsequenzen für die eigene Fragestellung und die Forschungsfragen Mit Blick auf die nachfolgende Untersuchung lassen sich folgende Kernaussagen der in diesem Kapitel gewonnenen Erkenntnisse zusammenfassen: a) Gewalterfahrungen • Gehörlose Frauen sind in einem hohen Maße psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt in Kindheit und im Erwachsenenleben ausgesetzt sowie in besonderer Weise psychisch belastet. Zudem sind sie einem breiteren Spektrum einschränkender Benachteiligungen und diskriminierender Situationen ausgesetzt. • Gehörlose Frauen sind in ihren Paarbeziehungen überdurchschnittlich häufig einem erheblichen Maß an körperlicher und sexueller Gewalt ausgesetzt. • Darüber hinaus erfahren sie häufiger als andere Frauen mit Behinderungen Diskriminierung und Ausgrenzung in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld, im Berufsleben und in der Öffentlichkeit. b) Risikofaktoren • Gehörlosigkeit als Behinderung mit ihren Folgen, insbesondere den damit einhergehenden kommunikativen Einschränkungen, ist ein Risikofaktor für das Erleben von Gewalt. • Dieser Risikofaktor wird verstärkt durch die häufig weitgehend alternativlose Einbindung in die Gehörlosengemeinschaft. Eine Kontaktaufnahme und Einbindung in die lautsprachorientierte Gesellschaft der Hörenden ist stark erschwert. Bereits in der eigenen Herkunftsfamilie haben Gehörlose häufig mit gravierenden Kommunikationsproblemen zu tun gehabt. Alternative Freundes- und Paarbeziehungen außerhalb der Gehörlosengemeinschaft können nur schwer aufgebaut werden. • Die hohe Gewaltprävalenz gehörloser Frauen steht auch in Zusammenhang mit diskriminierenden Erfahrungen in Schule und Internat, einer oft unzureichenden Allgemeinbildung, begrenzten Erfahrungen mit Sexualerziehung und weiteren sprachlichen, kommunikativen und kulturellen Barrieren. c) Ressourcen • Missbrauchserfahrungen, die gehörlose Frauen in Kindheit und Jugend machen, dürften ihr Vertrauen in das eigene Selbstwertgefühl nachhaltig beeinträchtigen, sodass ihnen nur wenige persönliche Ressourcen zur Verfügung stehen.
54
3 Gewalterfahrung hörender und gehörloser Frauen
• Andererseits kann sich das enge Netzwerk und die starke Solidarität innerhalb der Gehörlosengemeinschaft auch positiv auf die Entfaltung persönlicher und sozialer Ressourcen auswirken. • Gesellschaftliche Institutionen und Unterstützungsangebote für gewaltbetroffene Frauen sind für gehörlose Frauen oft nur mangelhaft barrierefrei ausgestaltet. Als professionelle Ressourcen stehen sie gehörlosen Frauen deshalb nur eingeschränkt zur Verfügung. d) Gewaltfolgen • Abgesehen von allgemein in vielfältiger Form auftretenden Gewaltfolgen kann ein enger Bezug zur Gehörlosengemeinschaft bei gleichzeitigem Fehlen enger vertrauensvoller Beziehungen eine Form der sozialen Isolation befördern, die für gehörlose Frauen in verstärktem Maße gilt. Das in Abschnitt 1.2 vorgestellte Forschungsinteresse lässt sich ausgehend von diesen Einsichten in den folgenden Forschungsfragen präzisieren:
Gewalterfahrungen
Welche Gewaltsituationen haben die gehörlosen Interviewpartnerinnen in unterschiedlichen Lebensphasen (Kindheit- und Erwachsenenleben) und in unterschiedlichen Lebenssituationen (Familie, Partnerschaft, Arbeitsplatz usw.) erlebt? In welchem Ausmaß haben die befragten Frauen Gewalt erduldet?
Risikofaktoren
Welche schwächenden, einschränkenden oder anderweitig belastenden Erfahrungen und Konstellationen, die in ursächlichem oder begünstigendem Zusammenhang mit Gewalterfahrungen stehen oder stehen könnten, werden von den Interviewpartnerinnen benannt?
Ressourcen
Welche Form der Unterstützung und Hilfe wird von den gehörlosen Interviewpartnerinnen in Betracht gezogen, wird gesucht, ist verfügbar oder wird in Anspruch genommen? Was wird als hilfreich wahrgenommen? Welche Aktivitäten entfalten die Interviewten aus eigener Kraft und was
3.5 Zwischenfazit II: Konsequenzen für die eigene Fragestellung …
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waren die Wendepunkte, die dazu geführt haben? Auf welche persönlichen, sozialen und professionellen Ressourcen können sie dabei zurückgreifen? Welche Schwierigkeiten ergeben sich? Welche Bedingungen für gelingende oder scheiternde Bewältigungsversuche werden genannt?
Gesundheitliche Folgen von Gewalt
Wie wirken sich die Gewalterfahrungen nach Auskunft der Interviewpartnerinnen auf ihr Leben aus? Welche kurz-, mittel- und langfristigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und sozialen Folgeprobleme werden benannt?
Das folgende Methodenkapitel nimmt diese Forschungsfragen auf und zeigt auf, in welcher Weise sie die Befragung angeleitet haben und schließlich in ein Kodiersystem für die qualitative Inhaltsanalyse der erhobenen Daten eingegangen sind.
4
Empirische Umsetzung
We hope that serious reflection on these issues before embarking on a research study into deafness or sign language will mean that researchers (both Deaf and hearing ones) are able to ensure that their research is both scientifically valid and in harmony with the cultural and practical experiences of the people who are involved as participants or faciliators. (Singleton, Martin & Morgan 2015: 9)
Die vorliegende Studie fühlt sich dem Ansatz des sogenannten community-engaged research (CEnR) verpflichtet. Forschungsarbeiten dieser Art werden von Prinzipien geleitet, die insbesondere das Verhältnis zwischen den Forschenden und den zu Beforschenden festschreiben. CEnR erfordert eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Mitgliedern der jeweiligen sozialen Gemeinschaft, die erforscht werden soll (Israel et al. 1998; 2008; Ross et al. 2010). In Anlehnung an MacQueen et al. (2001) kann man unter einer Gemeinschaft (community) eine Gruppe von Menschen mit unterschiedlichen Eigenschaften verstehen, die durch signifikante soziale Bindungen eng miteinander verknüpft sind und Erfahrungen, Einstellungen und Perspektiven teilen. CEnR berücksichtigt die individuellen Voraussetzungen von Angehörigen einer bestimmten Gemeinschaft – in der vorliegenden Studie der Gehörlosengemeinschaft – im Forschungsprozess und richtet die Auswahl der Forschungsmethodik an deren speziellen Stärken und Ressourcen aus. Gehörlosengemeinschaften bilden in von hörenden Menschen geprägten Gesellschaften sprachliche Minderheiten, ihre Mitglieder definieren sich vor allem über die Gebärdensprache und die Gehörlosenkultur und sind stark miteinander vernetzt (s. auch Abschn. 2.1). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Fries, Gewalterfahrungen gehörloser Frauen, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31926-7_4
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58
4 Empirische Umsetzung
Angestrebt wird ein gerechtes Miteinander in allen Phasen der Forschung von der Rekrutierung der Forschungsteilnehmenden und der Datenerhebung bis hin zur Veröffentlichung der Ergebnisse der Untersuchung, die zum Vorteil aller Beteiligten – nicht nur der Forschenden, sondern auch der zu Beforschenden – gereichen soll. Dabei versteht sich die CEnR nicht als eine spezielle Methodik. Ihre Prinzipien lassen sich sowohl für quantitative als auch qualitative Vorgehensweisen anwenden und sind vor allem mit Blick auf einen respektvollen und angemessenen Umgang mit den Teilnehmerinnen der vorliegenden Studie relevant. Von daher wird das Augenmerk vor allem auch auf forschungsethische Fragen zu richten sein. Das nun folgende Kapitel dient der Darstellung des Forschungsdesigns. Hier wird die methodische Vorgehensweise beschrieben, die zur Beantwortung der Forschungsfragen gewählt wurde. Um die Nachvollziehbarkeit der Vorgehensweise zu gewährleisten, erfolgt zunächst eine Erläuterung des gewählten Forschungsdesigns (Abschn. 4.1). Eine Auseinandersetzung mit forschungsethischen Fragen (Abschn. 4.2) schließt sich an, da Letztere in Bezug auf die Erhebungsformen (Abschn. 4.3) von besonderer Relevanz sind. Es folgen Ausführungen zur Übersetzung (4.4) und zur Auswertung (4.5) der erhobenen Daten. Vor diesem Hintergrund werden schließlich die Gütekriterien qualitativer Forschung betrachtet (4.6).
4.1 Auswahl des Forschungsdesigns Für die vorliegende Untersuchung wurde ein qualitatives Vorgehen gewählt. Helfferich (2009; 2016) folgend, begründet die qualitative Forschung ihr Vorgehen in Abgrenzung zu quantitativen Verfahren mit dem besonderen Charakter ihres Gegenstands: Sie „rekonstruiert Sinn oder subjektive Sichtweisen“ (2009: 21), deren Erfassung sich in einer Kommunikationssituation ergibt. Der Begriff der qualitativen Forschung steht für „sehr unterschiedliche theoretische, methodologische und methodische Zugänge zur sozialen Wirklichkeit“ (von Kardorff 1991: 3). Nach Flick, von Kardorff und Steinke (2004) hat die qualitative Forschung „den Anspruch, Lebenswelten von innen heraus aus der Sicht der handelnden Menschen zu beschreiben“ (14). Qualitative Forschung steht zwar den quantitativen Verfahren in ihrer Standardisierung nach (Lamnek 2010: 151), kann jedoch ein wirklichkeitsgetreueres Bild zeichnen: „Im Mittelpunkt dieser Forschungsperspektive steht das Subjekt, seine Sichtweisen, Weltbilder, lebensgeschichtlichen (Leidens-)Erfahrungen, Hoffnungen und Handlungsmöglichkeiten“ (Lüders & Reichertz 1986: 92).
4.2 Forschungsethik
59
Die Auswahl des Forschungsdesigns richtet sich nach der Fragestellung und den Zielsetzungen des geplanten Vorhabens (Flick 2009: 38ff.). Gewalterfahrungen gehörloser Frauen und insbesondere die Frage nach den Risikofaktoren, den Ressourcen und den Gewaltfolgen sind, wie die Ausführungen zum Stand der Forschung gezeigt haben, bislang kaum Gegenstand empirischer Forschung gewesen. In der Gewaltforschung eignen sich qualitative Zugangsweisen in besonderer Weise: Sie gelten als „besonders geeignet, um sich der subjektiven Erleidens- und Erlebnisdimension anzunähern“ (Helfferich 2016: 121). Schon bei der Erhebung ist man frei von Standardisierungen, was die Möglichkeiten, das Gewalterleben in seiner Komplexität zu erfassen, erweitert. Es geht bei qualitativen Verfahren darum, „die Vielfalt und Tiefe subjektiver Deutungen aus dem Material heraus entwickeln zu können, ohne sie gleich in ein vorgegebenes ordnendes Raster einzuzwängen“ (ebd.). So können durch die Gewinnung von Innenansichten gewaltbetroffener gehörloser Frauen in den qualitativen Einzelinterviews wesentliche belastende Erfahrungen und Konstellationen, die in ursächlichem oder begünstigendem Zusammenhang mit ihren Gewalterfahrungen stehen, detailliert herausgearbeitet werden, das Bemühen der Frauen um individuelle Bewältigungsstrategien wird erkennbar und Folgen der erfahrenen Gewalt können aus der Erlebnisperspektive der Betroffenen nachvollzogen werden. Die „Opferperspektive“ auf diese Weise detailliert kennenzulernen, ist schließlich auch „notwendig, um Präventions-, Interventions- und Rehabilitationsangebote angemessen gestalten zu können“ (ebd.: 122; vgl. die in Kap. 7 aufgeführten Handlungsempfehlungen).
4.2 Forschungsethik 4.2.1 Wahl eines gehörlosengerechten Forschungsansatzes Forschungsethische Fragen sind vor jeder Untersuchung zu beantworten. Hopf (2016: 195) weist vor allem auf die beiden Prinzipien der „informierten Einwilligung“ und der „Nicht-Schädigung“ hin. Insbesondere bei sensiblen Themen und vulnerablen Gruppen werden dafür hohe Maßstäbe angelegt. Im Ethik-Kodex der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS 2017) findet man eine Aufzählung von Rechten, die den Teilnehmern einer wissenschaftlichen Studie zugestanden werden müssen (ebd.: 458). Neben der Nennung allgemein bekannter forschungsethischer Grundsätze wie Freiwilligkeit, Informiertheit,
60
4 Empirische Umsetzung
Anonymität, Vermeidung von Nachteilen und Vertraulichkeit ist in Bezug auf die vorliegende Untersuchung vor allem folgende Bestimmung hervorzuheben: „Besondere Anstrengungen zur Gewährleistung einer angemessenen Information sind erforderlich, wenn die in die Untersuchung einbezogenen Individuen über eine geringe Bildung verfügen, einen niedrigen Sozialstatus haben, Minoritäten oder gesellschaftlich marginalisierten Bevölkerungsgruppen angehören“ (ebd.: 458). Die in der vorliegenden Studie befragten gehörlosen Frauen gehören einer sprachlichen und gesellschaftlichen Minderheit an. Das Forschungsdesign hat sich von daher den besonderen Bedingungen und Voraussetzungen dieser befragten Gruppe anzupassen: „[…] researchers who include Deaf participants in their research are nevertheless expected to conduct their investigations in an ethical manner, protecting the integrity of their research and the individual rights of the participants“ (Singleton, Martin & Morgan 2015: 8). Die in diesem Zusammenhang notwendigen forschungsethischen Vorkehrungen wissenschaftlicher Untersuchungen, an denen gehörlose Personen beteiligt sind, werden in der Literatur unter dem Stichwort einer gehörlosenfreundlichen oder gehörlosengerechten Forschung (Deaf-friendly research; vgl. ebd.: 9) zusammengefasst. Doch nicht nur im Hinblick auf die Teilnehmerinnen dieser Untersuchung sind Vorkehrungen zu leisten, auch das Thema, um das es in dieser Studie geht, setzt eine besonders sensible Vorgehensweise im Umgang mit allen an der Untersuchung Beteiligten voraus. Es gilt vor allem, die Interviewpartnerin zu schützen: „Nicht nur demographische Daten, auch die Schilderung der Gewalt kann ein (zuweilen gefährliches) Wiedererkennen ermöglichen“ (Hagemann-White 2016: 26). Die Interviewpartnerinnen können sich aktuell immer noch in Situationen befinden, die als gefährlich einzustufen sind. Sind sie beispielsweise noch in Beziehungen eingebunden, in denen der Partner nach wie vor übergriffig ist, sind Forschende dazu angehalten, die betroffene Frau über Hilfe- und Unterstützungsangebote zu informieren bzw. sie an Anlaufstellen und Beratungsangebote zu vermitteln. Darüber hinaus wird in der allgemeinen Gewaltprävalenzforschung mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass bei Interviews mit gewaltbetroffenen Frauen Maßnahmen zur Sicherheit der Interviewten gemäß den internationalen Standards und den WHO-Richtlinien zur Befragung von Gewaltopfern ergriffen werden müssen und entsprechende Gesprächstechniken vor dem Hintergrund therapeutischer Überlegungen anzuwenden sind (WHO 2016; vgl. auch Ellsberg & Heise 2005; Martinez et al. 2007). Unter anderem sind Forschende dazu angehalten, die Würde und Integrität der zu beforschenden Frauen während des gesamten Forschungsprozesses zu achten, indem sie dafür sorgen, dass die dabei möglicherweise entstehenden Belastungen auf ein Minimum reduziert werden:
4.2 Forschungsethik
61
„Es sollte selbstverständlich sein, Methodik und Durchführung der Forschung so zu gestalten, dass es weder zu starken psychischen Belastungen noch zu bedrohlichen Folgen im sozialen Umfeld kommt“ (Hagemann-White 2016: 20). So kann beispielsweise eine differenzierte Aufforderung, erlebte Gewaltsituationen genauer zu beschreiben, emotional aufwühlend sein. In einem qualitativen Interview soll von daher den Interviewerinnen auch immer die Möglichkeit angeboten werden, Gewalterfahrungen zu überspringen. Die befragte Frau sollte immer das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie diejenige ist, die das Interview steuert und entscheidet, „wie sehr sie belastende Erfahrungen vertieft“ (Helfferich, Kavemann & Rabe 2010: 20). Auch die Kontaktaufnahme mit den Frauen sollte mit Bedacht erfolgen und die Orte der Gespräche müssen mit Sorgfalt gewählt werden, um die Opfer nicht zusätzlich zu gefährden (ebd.). Es sollte darüber hinaus darauf geachtet werden, den Studienteilnehmerinnen und ihren Gemeinschaften einen maximalen Nutzen aus der Untersuchung (beneficence; vgl. Ellsberg & Heise 2005: 43) ziehen zu lassen und ihnen damit die Möglichkeit zu geben, von den Ergebnissen der Untersuchungen zu profitieren. Eine gute Leitlinie für Forschungsvorhaben mit von Gewalt betroffenen Personen bietet das Ethikmodell von Downes, Kelly und Westmarland (2014: o. S.), das als ein „‚positive empowerment‘ approach“ folgende Empfehlungen für ethische Entscheidungen in der Gewaltforschung gibt: • From participant-centred ethics to broader ethical responsibilities: Es kann keine allgemeine Regel dafür aufgestellt werden, ob die Teilnahme an einem Interview eine Belastung oder Stärkung bedeuten wird oder eine Re-Traumatisierung oder Bewältigungshilfe ist. Von daher ist die informierte Einwilligung kein einmaliger Vorgang, sondern muss während des gesamten Forschungsverlaufs als ein dynamischer und situativer Prozess gesehen werden. Als handelnde Subjekte treffen die am Forschungsprozess beteiligten Personen eigene Entscheidungen, ob und wie sie sich an der Forschung beteiligen. • Victim-survivors and perpetrators as active agents: Die Forschenden werden dazu angehalten, die an der Untersuchung teilnehmenden Personen darin zu unterstützen und zu befähigen, Entscheidungen zur Verbesserung ihrer Lebensqualität zu treffen. Forschende müssen im Voraus klären, wie sie mit Informationen und Hinweisen auf mögliche Gefährdungspotenziale umgehen wollen und gegebenenfalls Rücksprache mit qualifizierten Experten halten. • Maximise opportunities for positive experiences and impacts of research for participants, domestic violence services and social justice: Die Untersuchung selbst sollte darauf angelegt sein, den Teilnehmern zurückzuspiegeln, dass die
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4 Empirische Umsetzung
Forschung auch für sie gewinnbringend ist und sinnvolle Auswirkungen auf ihre Situation sowie die Situation anderer betroffener Personen hat. Sie sollten schon bei der Erhebung der Daten darüber informiert werden, dass sie in die gewonnenen Erkenntnisse einbezogen werden können. Um diesen Grundsätzen Genüge zu tun, sind zunächst einige forschungsethische Voraussetzungen zu klären (und auch im weiteren Prozess im Blick zu behalten), bevor zur Darstellung des methodischen Vorgehens im engeren Sinn übergegangen werden kann. Damit wird auch in besonderer Weise der Sensibilität entsprochen, die für Untersuchungsgruppen, die einer Minderheit angehören und gesellschaftlich marginal angesiedelt sind, gefordert ist, und der Anspruch dieser Studie, den CEnR-Ansatz zu verwirklichen, eingelöst. In zurückliegenden Forschungsarbeiten innerhalb der Gehörlosengemeinschaft wurden forschungsethische Aspekte häufig vernachlässigt: „Historically a lack of awareness of various cultural aspects of the Deaf community led to research that today can be considered ethically abusive“ (Harris, Holmes & Mertens 2009: 106). Tatsächlich wurden gehörlose Menschen über lange Zeit als Außenseiter in Forschungszusammenhängen behandelt: Sie stellten als Informanten Daten für forschungsrelevante Themen zur Verfügung oder waren als Mitarbeiter für die Aufbereitung und Transkription von Daten zuständig, übernahmen aber kaum jemals führende oder verantwortliche Positionen in Forschungsprozessen: „[…] they are the sample, they provide the data“ (Young & Hunt 2011: 12; vgl. auch Napier & Leeson 2016: 243ff.). In einer von Singleton, Martin und Morgan (2015) durchgeführten Fokusgruppenstudie berichteten Gehörlose, die als Informanten an akademischen Studien teilgenommen hatten, von problematischen Situationen während der Interviewführung: „The participants expressed their feeling that they lacked the power to change uncomfortable situations with researchers (including communication inadequacy and cultural insensitivity)“ (10). Um solche Situationen in wissenschaftlichen Untersuchungen zu vermeiden und gehörlosen Forschungsteilnehmenden im Sinne des eingangs beschriebenen CEnRAnsatzes respektvoll und auf Augenhöhe zu begegnen, hat die Sign Language Linguistics Society forschungsethische Richtlinien erarbeitet, die konkrete Orientierungspunkte für Forschungsvorhaben innerhalb der Gehörlosengemeinschaft definieren (SLLS 2014). Sie betreffen vor allem die Frage der informierten Einwilligung sowie Fragen danach, wie mit Datenschutz und Anonymität innerhalb der sozial eng vernetzten Gemeinschaft der Gehörlosen umzugehen ist. Bereits in älteren Untersuchungen wurden diese besonderen Umstände reflektiert, „because it is highly likely that a research participant will know, be related, or
4.2 Forschungsethik
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have some p re-existing connection with one or more members of a research team, particularly if that team is led by or includes Deaf researchers“ (Young & Hunt 2011: 16; vgl. auch Pollard 2002: 165). Hier sind angemessene und sichere Vorkehrungen zu treffen, die ich im Hinblick auf mein Untersuchungsvorhaben an den drei nachfolgend skizzierten Problemstellungen erläutern möchte: 1. Das Problem der Sichtbarkeit der befragten gehörlosen Frauen Interviews sind eine besonders gängige Methode qualitativer Forschung, bei der Daten in direkter, persönlicher Kommunikation erhoben werden. Anders als in Interviews, die in gesprochener Sprache geführt werden, müssen gebärdensprachliche Interviewdaten grundsätzlich mittels Videotechnik erhoben werden. Mit diesem Erhebungsverfahren wird in Kauf genommen, dass es – anders als bei reinen Tonbandinterviews, in denen lediglich die Stimme der zu Interviewenden zu hören ist, die zur weiteren Anonymisierung bei Bedarf noch bearbeitet werden kann – nicht möglich ist, die erhobenen Daten von der persönlichen Identität des Teilnehmers zu trennen (SLLS 2014: 130). In der vorliegenden Untersuchung etwa würde eine Anonymisierung der gehörlosen Interviewpartnerinnen durch Verdecken oder Verschatten des Gesichtes die erhobenen Daten unbrauchbar machen, da wesentliche Elemente der Gebärdensprachgrammatik mit der Gesichtsmimik zusammenhängen: „In removing the image one removes the language“ (Young & Temple 2014: 66; vgl. auch Crasborn 2010). Neuere Technologien wie die des Gebärdensprachavatars (ebd.: 282) ermöglichen eine Anonymisierung der gebärdenden Person, indem die aufgezeichnete persönliche Identität digital manipuliert und ein Computerabbild generiert wird. Allerdings handelt es sich hierbei um eine Animation, deren Bewegungen bislang noch recht weit von einer natürlich wirkenden Gebärdensprachverwendung entfernt sind, sodass das Verständnis gebärdensprachlicher Äußerungen entsprechend eingeschränkt ist. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung stellte ein Einsatz von Avataren keine realistische Möglichkeit dar. Gerade bei der Generierung hochsensibler Daten wie solchen zur Gewaltthematik stellt sich das Problem der Anonymisierung in besonderer Weise. Es gilt nach den oben beschriebenen WHO-Richtlinien, die Würde und Integrität gewaltbetroffener Frauen, die sich zu einem Interview bereit erklärt haben, nachhaltig zu schützen. Es müssen geeignete Vorkehrungen getroffen werden, die zum einen die Qualität der erhobenen Daten als authentische gebärdensprachliche Mitteilungen gewährleisten, zugleich aber die Anonymität und Privatsphäre der Interviewpartnerinnen respektieren und vor unzulässiger Einblicknahme schützen.
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4 Empirische Umsetzung
2. Das Problem der Übersetzung und Analyse vertraulicher gebärdensprachlicher Daten Young und Hunt (2011) weisen darauf hin, dass das Problem der Anonymisierung gebärdensprachlicher Daten nicht nur die Datenerhebung betrifft, sondern weitergehend im Prozess der Aufbereitung und Analyse von Daten besteht: Bei der Analyse gebärdensprachlicher Daten muss im Vorfeld überlegt werden, wo und unter welchen Umständen diese Daten bearbeitet werden und ob möglicherweise auch nicht am Forschungsprozess Beteiligte ungeplant Einblick nehmen könnten. Das kann der Fall sein, wenn man beispielsweise Büroräume mit anderen Kollegen teilt, die zufällig oder auch beabsichtigt einen Blick auf den Computerbildschirm werfen, auf dem die zu analysierenden Daten bearbeitet werden. Die Identität der Interviewpartnerinnen kann dabei offengelegt werden, „thus breaking promises of both, confidentiality and anonymity“ (ebd.: 17). Auch hier sollte nach geeigneten Vorkehrungen gesucht werden, die es möglich machen, gebärdensprachliche Daten zu analysieren, ohne sich hierfür in abgeschlossene, für andere Personen des professionellen und alltäglichen Umfelds unzugängliche Räume begeben zu müssen. 3. Das Problem der Präsentation der Untersuchungsergebnisse Aus Gründen von Datenschutz und Anonymität könnten normalerweise auch die Ergebnisse solcher gebärdensprachlicher Interviews nicht in originaler Form gezeigt und überprüft werden. Allein schon der in der Einverständniserklärung vorab zugesicherte Grundsatz, demzufolge Ausschnitte aus den Interviews nur in anonymisierter Form gezeigt werden dürfen, macht dies unmöglich. Wie aber soll dann Veröffentlichung und Informationsverbreitung gewährleistet werden, wie sie der CEnR-Ansatz vorsieht? Im Hinblick darauf, dass insbesondere auch die Gehörlosengemeinschaft von dieser Untersuchung profitieren und für das Tabuthema Gewalt sensibilisiert werden soll, stellt sich die Frage der angemessenen Präsentation der erhobenen Daten. Werden die Originalzitate lediglich in deutscher Schriftsprache gezeigt, kann das zur Folge haben, dass die Eingängigkeit und Unmittelbarkeit von Interviewaussagen verloren geht. Es muss auch damit gerechnet werden, dass ein Teil der Gehörlosengemeinschaft schriftsprachlich präsentierte Daten nicht oder nur teilweise versteht, da die Deutschkenntnisse möglicherweise nicht ausreichend sind, um die oft komplex formulierten Aussagen der gehörlosen Interviewpartnerinnen zu verstehen (s. auch Abschn. 2.1). Gerade auch im Hinblick auf die praktischsoziale Wirksamkeit der Untersuchung ist es daher wünschenswert, einen Weg zu finden, der den direkten Mitteilungscharakter der gebärdensprachlichen Daten wahrt, ohne die Anonymität der sich gebärdensprachlich mitteilenden Frauen zu gefährden.
4.2 Forschungsethik
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Vor dem Hintergrund dieser drei auf die vorliegende Untersuchung zu beziehenden ethischen Problemstellungen war bereits bei der Wahl des methodischen Vorgehens besondere Sensibilität gefordert. Das Forschungsdesign musste den aufgeworfenen Problemen gerecht werden und entsprechend gestaltet werden. Sowohl für die Datenerhebung als auch für das Vorgehen bei der Analyse der erhobenen Daten sowie die spätere Veröffentlichung der Untersuchung mussten bereits im Vorfeld Vorkehrungen getroffen werden, für die in der bisherigen Forschung keine Vorbilder vorlagen. Im Ergebnis wurde in dieser Studie ein bisher meines Wissens nach noch nicht praktiziertes Erhebungsdesign entwickelt und eingesetzt. Genutzt wurde dafür eine „Methode des Schattengebärdens“, die es ermöglicht, Interviews mit den gehörlosen Teilnehmerinnen in bewährter Weise gebärdensprachlich zu führen und mittels einer Videokamera aufzuzeichnen, ohne dass dabei die Identität der zu interviewenden Person aufgedeckt wird. Das entsprechende Verfahren wurde für die vorliegende Untersuchung konzipiert, erprobt und angewendet und darf als Novum bei der Erhebung qualitativer gebärdensprachlicher Daten angesehen werden.
4.2.2 Die Methode des Schattengebärdens Für den Begriff „Schattengebärden“ gibt es in der Forschungsliteratur kein Äquivalent.1 Der Begriff „Schatten“ ist hier im Sinn eines ständigen Begleiters zu verstehen, der sich zwar dezent verborgen im Hintergrund hält, aber doch ein Abbild der realen Person darstellt. Als Abbild spiegelt der Schatten alle Bewegungen, Gesten und Gebärden natürlicher Personen simultan wider, und zwar oft ohne
1Vom
„Schattengebärden“ zu unterscheiden ist das „Schattendolmetschen“ (shadow interpreting), welches vor allem beim Dolmetschen von Theaterstücken Anwendung findet. Wie ein Schatten folgen Gebärdensprachdolmetscher den Akteuren auf der Bühne und übersetzen die gesprochenen Worte in die DGS, indem sie Rolle und Haltung der Schauspieler übernehmen (vgl. Hillert 1998; 2005; Ugarte Chacón 2015: 161f.). „Schattengebärden“ bzw. „Schatten“ (shadowing) findet dagegen gelegentlich in der Praxis gehörloser Gebärdensprachdolmetscher Anwendung, etwa bei großen Konferenzen mit vielen gehörlosen Teilnehmern. Das Schattengebärden besteht hier darin, gebärdensprachliche Äußerungen möglichst genau abzugebärden, um sie einem größeren Publikum sichtbar zu machen, z. B. wenn Fragen aus Reihen des Publikums gestellt werden, die von weiter hinten sitzenden Teilnehmern nicht gesehen werden können, weil die gebärdende Person ihnen den Rücken zuwendet (vgl. Boudreault 2005: 329; Adam et al. 2014: X).
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4 Empirische Umsetzung
dass sich die agierende Person dessen bewusst ist. Ein Schatten ist nicht greifbar, bleibt im Hintergrund und verschwindet in der Regel aus dem Wahrnehmungsfokus der schattenwerfenden Person. Die radikalste Definition des Schattens stammt aus dem Höhlengleichnis von Platon, für den alles, was wir wahrnehmen, nur ein Schatten, ein Abbild ist, hinter dem die reale Welt verborgen bleibt. Ein Schattengebärder ist durchaus im Sinne von Platons Höhlengleichnis zu verstehen: Der Schattengebärder spiegelt eine reale Situation wider, die sich außerhalb der Wahrnehmung des Betrachters befindet. Die Ausgangssituation liegt in diesem Fall nicht wie in Platons Gleichnis in einer Sphäre, von der nur gleißendes Licht durch einen Spalt in die Höhle fällt, sondern bleibt lediglich dem Kameraauge verborgen. Gefilmt wird in dieser Situation der Schattengebärder, der ein Abbild der zu interviewenden Person ist, deren Gebärden, Gesten, Körperhaltung und Mimik er simultan widerspiegelt. Die folgende grafische Darstellung verdeutlicht die Anlage des Befragungssettings mit der Methode des Schattengebärdens (Abb. 4.1):
Abb. 4.1 Interviewsetting mit Schattengebärderin
4.2 Forschungsethik
67
Im Interviewaufruf in DGS (Video „Aufruf“ 00:01:44–00:02:20) wurde das Prinzip des Schattengebärdens detailliert erklärt, sodass sich die zu einem Interview bereiten Frauen im Vorfeld bereits ein klares Bild von der Interviewsituation machen konnten: „Sie gebärden direkt mit mir, ohne dass eine Kamera auf Sie gerichtet ist“, erläutere ich das Verfahren. „Ihnen schräg gegenüber sitzt eine Schattengebärderin, die genau das nachgebärdet, was Sie erzählen“, heißt es weiter. „Das bedeutet, dass Sie als interviewte Person nicht zu sehen sind“ (Übersetzung des gebärdensprachlichen Aufrufs; S.F.). Über die Identität der Schattengebärderin wurde im Interviewaufruf noch nichts verlautbart, um die Schattengebärderin selbst zu schützen. Sie war, wie alle Beteiligten an dieser Untersuchung, ebenfalls Teil der Gehörlosengemeinschaft und über soziale Netzwerke gut bekannt. Es sollte verhindert werden, dass die Schattengebärderin durch neugierige Fragen oder auch Bitten um Information über die Untersuchung außerhalb des Untersuchungskontextes zusätzlich belastet würde. Erst wenn ein Kontakt mit potenziellen Interviewpartnerinnen durch E-Mails oder persönlich durch Gatekeeper2 zustande kam, wurden die Frauen darüber aufgeklärt, wer die Schattengebärderin war (s. auch Abschn. 5.2). Ausgewählt für diese Aufgabe hatte ich die gehörlose Gebärdensprachdolmetscherin Claudia Mechela aus Berlin, die mir sowohl von ihrer Profession her als auch aus ihrem langjährigen ehrenamtlichen Engagement in verschiedenen Zusammenhängen und nicht zuletzt auch als native signer für diese Aufgabe als besonders geeignet erschien (s. auch Abschn. 5.2). Da es in der Literatur bislang keinen vergleichbaren Ansatz gibt, aus dem sich Qualitätsanforderungen für die Methode des Schattengebärdens erschließen lassen, wurden für die vorliegende Studie eigens die nachfolgend erläuterten Gütekriterien aufgestellt. Sie beruhen vor allem auf Erfahrungswerten, die ich in der vorausgegangenen Teilbefragung gehörloser Frauen (Schröttle et. al 2013: 32) hatte sammeln können. Auch wenn der methodische Ansatz hier ein ganz anderer war, lassen sich aus dem Einsatz der sieben gehörlosen Interviewerinnen, den Vorüberlegungen zu Qualitätskriterien, der Spezialschulung zur Befragung in DGS (ebd.: 37) und letztlich auch aus den Feedbackschleifen zwischen den
2Mit
Gatekeepernsind Multiplikatoren gemeint, die als „Türöffner“, über einen besonders guten Überblick über bzw. Zugang zu potenziellen Stichprobenmitgliedern verfügen. Im Zusammenhang qualitativer Forschungsvorhaben können diese angesprochen und gebeten werden, geeignete Personen ausfindig zu machen bzw. zu benennen und für eine Teilnahme am Forschungsprozess zu gewinnen (vgl. Helfferich 2009: 175).
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4 Empirische Umsetzung
Interviewerinnen und mir während und nach der Feldphase (ebd.: 34) folgende Erfahrungswerte ableiten, die dem Einsatz des Schattengebärdens in der vorliegenden Studie als Gütekriterien zugrundeliegen: 1. Übereinstimmung mit dem Gegenstand der Forschung und dem Forschungsdesign: gehörlos, gebärdensprachorientiert Gemäß der Prämisse des CEnR-Ansatzes, an dem sich diese Untersuchung orientiert, sollte die Schattengebärderin – wie die Interviewerin und Interviewpartnerin auch – aus der Gehörlosengemeinschaft stammen, gehörlos sein und mit den Normen und der Kultur dieser Minderheitsgruppe vertraut sein. Hörende Personen, etwa ausgebildete Gebärdensprachdolmetscher, in den Rahmen dieser Untersuchung einzubeziehen, wäre dem CEnR-Ansatz zuwidergelaufen, da diese, auch wenn sie über sehr gute gebärdensprachliche und professionelle Kompetenz verfügen, nicht in gleicher Weise als Angehörige der Gehörlosengemeinschaft angesehen werden können (vgl. dazu Abschn. 2.1). Im Interesse des „gehörlosenfreundlichen Designs“ dieser Studie sollte diese so weit wie möglich „for, with and by Deaf people“ (Harris, Holmes & Mertens 2009: 116) durchgeführt werden. 2. Qualifizierung als Gebärdensprachdolmetscherin Die Aufgabe der Schattengebärderin verlangt mit Blick auf Professionalität und Neutralität beim Verstehen und Wiedergeben gebärdensprachlicher Äußerungen etwa ähnliche Voraussetzungen, wie man sie von einer professionellen Gebärdensprachdolmetscherin erwarten darf. Sie sollte sich während des Interviews im Hintergrund halten und bis auf notwendige Nachfragen, die beispielsweise dem Verständnis einer Aussage dienten, in keiner Weise in das Interview einmischen. Sie musste darüber hinaus der anspruchsvollen Aufgabe gerecht werden, gebärdensprachliche Äußerungen zu kopieren und auch feine körperliche Signale möglichst originalgetreu wiederzugeben. Die wiedergegebenen Äußerungen dürfen keine eigenen Interpretationen enthalten und müssen die Qualität der Originalaussage weitestgehend bewahren. Die beschriebenen Anforderungen gleichen dem Berufsbild des Gebärdensprachdolmetschers (vgl. bgsd 2019; s. auch Abschn. 2.1). Der Berufsstand „tauber Gebärdensprachdolmetscher“3 ist in Deutschland relativ neu. Während er sich international seit ca. 30 Jahren bereits durch entsprechende Ausbildungsprogramme etabliert hat (Forestal 2011: 13ff.; vgl.
3Gehörlose
Gebärdensprachdolmetscher sind in Deutschland seit 2011 im Berufsverband der tauben GebärdensprachdolmetscherInnen e. V. organisiert (http://www.tgsd.de/).
4.2 Forschungsethik
69
auch Boudreault 2005; Winston 2005), wurde in Deutschland erst vor wenigen Jahren eine erste Qualifizierungsmaßnahme für gehörlose Gebärdensprachdolmetscher auf den Weg gebracht. Die Ausbildung für taube Dolmetscherinnen und Dolmetscher bzw. Übersetzerinnen und Übersetzer in Deutschland hat die Form eines weiterbildenden Studiums, das gemeinsam vom Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser (IDGS) der Universität Hamburg und der ebenfalls dort ansässigen Arbeitsstelle für wissenschaftliche Weiterbildung (AWW) angeboten wurde und auf die von der Hessischen Lehrkräfteakademie angebotene Staatliche Prüfung für Dolmetscher für Deutsche Gebärdensprache und Internationale Gebärden bzw. eine Fremdgebärdensprache oder die deutsche Schriftsprache vorbereitet. Auch die für die vorliegende Studie eingesetzte Schattengebärderin Claudia Mechela hat das Hamburger weiterbildende Studium absolviert und ist damit eine der bislang ca. 30 ausgebildeten tauben Gebärdensprachdolmetscherinnen in Deutschland. Während die meisten hörenden Gebärdensprachdolmetscher lautsprachlich aufgewachsen sind und die Gebärdensprache als Fremdsprache erlernt haben, ist für taube Gebärdensprachdolmetscher die DGS die Erst- und Alltagssprache. Sie sind seit ihrer Kindheit mit der Gehörlosengemeinschaft vertraut und werden unter anderem in Dolmetschsituationen eingesetzt, bei denen zwischen unterschiedlichen Gebärdensprachen gedolmetscht wird. Nach Adam et al. (2014) besteht die Stärke des Einsatzes tauber Gebärdensprachdolmetscher darin, „[…] [to] ensure full understanding of information being communicated“ (X). So werden taube Gebärdensprachdolmetscher oft auch im Team mit hörenden Dolmetschern in sensiblen Bereichen wie Konfliktsituationen, im Bereich der medizinischen Rehabilitation und der psychischen Gesundheit sowie bei Gerichtsverhandlungen eingesetzt (Forestal 2011). Von größter Bedeutung in diesen Situationen ist die genaue Verdolmetschung von Informationen an gehörlose Klienten in einer kulturell angemessenen Weise (ebd.: X). Taube Gebärdensprachdolmetscher verfügen als „Insider“ über dieses spezielle kulturelle Wissen: „The major advantage of including DI’s [Deaf Interpreters; S.F.] is that they are first language users of the signed language of the region and share the Deaf experience with the Deaf consumer; this ‚sameness‘ is an important factor in establishing rapport and communicating effectively“ (Boudreault 2005: 335).4 4Tatsächlich
dürfte die positive psychologische Wirkung einer gehörlosen Schattengebärderin auf die Interviewpartnerin im Kontext der vorliegenden Studie nicht gering zu schätzen sein, insofern beide über gemeinsame Erfahrungs- und kulturelle Identifikationswerte (sameness) verfügen.
70
4 Empirische Umsetzung
Zum Berufsbild des Gebärdensprachdolmetschers gehört weiterhin die Einhaltung der Schweigepflicht (bgsd 2019) und der sensible Umgang mit den verschiedenen Rollen, die einem Mittler in einer eng umschriebenen sozialen Gruppe mit Notwendigkeit zuwachsen. Regeln des Datenschutzes sowie ein angemessen diskretes Verhalten bei der Begegnung mit gehörlosen Personen, für die sie dolmetschend in möglicherweise intimen persönlichen und vertraulichen Zusammenhängen (etwa bei medizinischen Untersuchungen oder bei Gerichtsverhandlungen) im Einsatz gewesen sind, sind professionell ausgebildeten Gebärdensprachdolmetschern vertraut. Auch dies ist ein Argument dafür, dass für die Wahl der Schattengebärderin eine professionelle Qualifikation als Gebärdensprachdolmetscherin ein wichtiges Kriterium ist. 3. Hohe Vertrauenswürdigkeit Die Schattengebärderin gehört – wie die Interviewerin auch – der gleichen community an wie die zu befragenden gehörlosen Frauen. Young und Temple (2014) sprechen hier von einer dualen oder multiplen Beziehung zwischen Teilnehmern und den Mitarbeitern und Verantwortlichen einer wissenschaftlichen Untersuchung: „These multiple relationships raise inevitable questions about whether their data would truly remain confidential“ (70). Im Zusammenhang mit den notwendigen Sicherheitsvorkehrungen, die die Anonymität der Interviewpartnerinnen schützen sollten, war es weiterhin wichtig, eine Schattengebärderin zu finden, die bereit war, alle 12 Interviews zu begleiten. Das sollte vor allem Rückschlüsse auf die Identität der Interviewpartnerinnen unmöglich machen. Zum Zeitpunkt der Durchführung der Interviews standen etwa 15 zertifizierte gehörlose Gebärdensprachdolmetscher in Deutschland zur Verfügung, davon waren etwa die Hälfte Frauen. Wären drei oder vier von ihnen je nach Region, in der die Interviews stattfinden sollten, zum Einsatz gekommen, hätte sich das Risiko erhöht, dass, ausgehend vom Wohnort der gehörlosen Gebärdensprachdolmetscherin, Rückschlüsse auf mögliche Interviewpartnerinnen möglich geworden wären. Die Hinzuziehung ein und derselben Schattengebärderin für alle Interviewsettings schien von daher nur konsequent, um die mit diesem Erhebungsdesign angestrebte Anonymisierung konsequent zu ermöglichen.
4.2.3 Gehörlosenfreundliches Forschungsdesign Neben dem Einsatz einer Schattengebärderin waren für die Durchführung dieser Untersuchung weitere Vorkehrungen im Sinn der oben erläuterten ethischen Richtlinien des Deaf-friendly research notwendig:
4.2 Forschungsethik
71
1. Interviewaufruf in DGS Die potenziellen Studienteilnehmerinnen wurden im Vorfeld ausführlich über das Forschungsvorhaben informiert. Das geschah im Zusammenhang mit dem Interviewaufruf, der im September 2013 auf den Internetseiten des Deutschen Gehörlosen-Bundes (www.gehoerlosen-bund.de) und der Plattform Taubenschlag (www.taubenschlag.de) in Deutscher Gebärdensprache zu sehen war. Die Plattform Taubenschlag wird regelmäßig von Angehörigen der Gehörlosengemeinschaft frequentiert; sie dient dem Austausch von Nachrichten und Neuigkeiten und enthält Hinweise auf interessante Veranstaltungen, Termine und Veröffentlichungen. Hier wurde das Untersuchungsprojekt sowie das Erhebungsvorgehen mit dem Einsatz einer Schattengebärderin vorgestellt. Um gewaltbetroffene gehörlose Frauen zu motivieren, sich an diesem Projekt zu beteiligen, wurde auf die Ergebnisse der Erststudie (Schröttle et. al. 2013) und die hier aufgezeigte hohe Gewaltbetroffenheit gehörloser Frauen hingewiesen.5 Weiterhin stellte ich mich in diesem Interviewaufruf als Interviewerin vor. Young und Hunt (2011) weisen darauf hin, dass es in Interviewaufrufen wichtig sei, sich als untersuchungsleitende Person mit einem Foto vorzustellen: „To understand the significance of this point it is important to realise that amongst Deaf communities, people are not usually known by their written/spoken name“ (Young & Hunt 2011: 17; vgl. auch Young & Temple 2014: 71). Als Interviewerin musste ich mir selbst auch über meine multiplen Rollen innerhalb der zu erforschenden Gemeinschaft bewusst werden: • Ich bin als Tochter und Enkelin gehörloser Eltern und Großeltern von klein auf in der Gehörlosengemeinschaft unterwegs gewesen. Mein Vater und mein Großvater haben sich in sozialen Netzwerken der Gehörlosengemeinschaft viele Jahre lang ehrenamtlich engagiert. Mein Familienname ist in weiten Teilen der Gehörlosengemeinschaft bekannt. • Als bislang einzige ausgebildete und ordinierte gehörlose Pfarrerin habe ich eine gewisse Sonderstellung: Nicht nur in meiner Berliner Gemeinde kennt man mich als „gehörlose Pastorin und Seelsorgerin“, sondern auch bundesweit bin ich durch Gottesdienste, die anlässlich großer Gehörlosenveranstaltungen wie dem Tag der Gehörlosen oder den Kulturtagen der Gehörlosen stattgefunden haben, bekannt.
5Eine
Übersetzung des Aufrufs findet sich im Anhang (Anlage 1).
72
4 Empirische Umsetzung
• Von 2005 bis 2014 war ich im Deutschen Gehörlosen-Bund ehrenamtlich aktiv, zuletzt als Präsidiumsmitglied und Beauftragte für Bildung. Hier habe ich mich politisch engagiert und Interessen der Gehörlosengemeinschaft bei politischen Veranstaltungen, Tagungen und Seminaren vertreten. • Familienhintergrund und Engagement tragen dazu bei, dass ich innerhalb der Gehörlosengemeinschaft über ein gut ausgebautes Netzwerk verfüge, das mir bei der Durchführung dieser Untersuchung zugute gekommen ist. Meine Tätigkeit als Pastorin trägt dazu bei, dass mir häufig Vertrauen entgegengebracht wird. Sicherlich waren die von mir befragten Interviewpartnerinnen auch aus diesem Grund dazu bereit, über persönliche und intime Erfahrungen zu berichten. Mein Bekanntheitsgrad innerhalb der Gehörlosengemeinschaft und das mir gewährte Vertrauen haben mir vielleicht mehr noch als ethische Forschungsrichtlinien den alten medizinethischen Grundsatz „primum nihil nocere“ auferlegt, der schon im Hippokratischen Eid und in vielen anderen (Selbst-)Verpflichtungen verankert ist. Dieser Grundsatz hat mich motiviert, möglichst geeignete Vorkehrungen in dieser Richtung zu treffen.6 2. Informierte Einwilligung Dass Studienteilnehmende ausreichend und in vollem Umfang über Zweck und Ziele von Forschungsvorhaben informiert sind, gehört zu den zentralen Voraussetzungen wissenschaftlichen Forschens (Helfferich 2009: 190). Einverständniserklärungen liegen üblicherweise in schriftlicher Form vor, was im Hinblick auf die gehörlosen Interviewpartnerinnen problematisch sein konnte. Im vorliegenden Fall musste Aufklärung auf „einfache, zugängliche Weise“ erfolgen, wie es die Richtlinien der Sign Language Linguistics Society vorgeben (SLLS 2014: 130). Was für die gehörlosen Interviewpartnerinnen einfach und zugänglich ist, war von Fall zu Fall abzuwägen. Es bestand die Option, die informierte Einwilligung „entweder in der Schriftform der vorherrschenden Lautsprache oder in […] ihrer Gebärdensprache“ (ebd.) zur Kenntnis zu nehmen. Ein Vorbild guter Praxis war auf den Internetseiten der US-amerikanischen Gallaudet University zu finden, wo
6Zur
ausführlichen Reflexion meiner Rolle als Forscherin innerhalb der Gehörlosengemeinschaft s. auch Abschnitt 6.1.4.
4.2 Forschungsethik
73
ein Beispiel für informierte Einwilligung in Amerikanischer Gebärdensprache gegeben wird.7 Allen Interviewpartnerinnen wurde bereits vor dem Interview die schriftsprachliche Fassung der vorgesehenen Einwilligung per E-Mail zugeschickt. Direkt vor dem Interview wurden anhand der schriftsprachlichen Vorlage Verständnisfragen geklärt und bestimmte Begriffe oder Formulierungen in der DGS erklärt. Besondere Schwierigkeiten machte beispielsweise die Formulierung „Ich erkläre mich mit der anonymisierten Nutzung meiner Angaben einverstanden“. Was eine „anonymisierte Nutzung“ ist und was unter „Angaben“ zu verstehen ist, war für einige Interviewpartnerinnen in schriftsprachlicher Form nicht unmittelbar zu verstehen. Erst im gebärdensprachlichen Gespräch konnte die Bedeutung dieses Satzes geklärt werden. 3. Anonymisierung der Daten Durch die Schattengebärderin konnten keine Rückschlüsse auf die interviewte Person gezogen werden, aber die Interviewdaten waren dadurch nicht automatisch anonymisiert. Eine Anonymisierung erfolgte in einem weiteren Schritt, und zwar im Rahmen der schriftsprachlichen Übersetzung der gebärdensprachlichen Daten, die für die weitere Datenanalyse erforderlich war. Alle Namen, Ortsangaben und andere persönliche Informationen, die die Interviewpartnerinnen erwähnt hatten, wurden hier unkenntlich gemacht. Angaben zum Wohnort und zur Berufstätigkeit sowie Namen von Personen, Gehörlosenschulen, Internaten und Berufsbildungszentren für Hörgeschädigte wurden entfernt oder durch Codenamen ersetzt. Weiterhin wurden in der Übersetzung andere personenbezogene Daten, wie zum Beispiel Auskünfte über Anzahl, Geschlecht und Alter der Kinder, die möglicherweise Anlass zu Rückschlüssen auf die Identität der Interviewpartnerin hätten geben können, verändert. Die entsprechenden Passagen im gebärdensprachlichen Original, in denen vertrauliche und personenbezogene Daten in der Wiedergabe durch die Schattengebärderin zu sehen waren, wurden markiert, um sie aus dem Pool präsentierfähiger Ausschnitte auszusondern.
7In
diesem Video erklärt Dr. Jenny Singleton vom Visual Language Visual Learning Center der Gallaudet-Universitätin Amerikanischer Gebärdensprache die Prinzipien einer informierten Einwilligung für potenzielle Teilnehmer an Forschungsvorhaben (Singleton o. J.).
74
4 Empirische Umsetzung
4.3 Erhebung Die Erhebung der gebärdensprachlichen Daten erfolgte anhand qualitativer Interviews mit Unterstützung durch Schattengebärden (s. Abschnitt 4.2.2). Interviewt wurden insgesamt zwölf gehörlose Frauen aus dem gesamten Bundesgebiet.8 Im Folgenden wird auf die Interviewführung (Abschn. 4.3.1), die Erhebungsform (Abschn. 4.3.2) sowie die Stichprobenkonstruktion und den Zugang zu den Befragten (Abschn. 4.3.3) näher eingegangen.
4.3.1 Interview In der qualitativen Forschung wird von einer Vielzahl unterschiedlicher Interviewformen Gebrauch gemacht (Flick 2007: 94ff.; Diekmann 2011, 434ff.). Mit Christel Hopf (1978) lassen sich prototypische Eigenschaften qualitativer Interviews zusammenfassend folgendermaßen charakterisieren: Es handelt sich um ein „wenig strukturiertes Interview, das, von lockeren Hypothesen angeleitet, der Exploration eines bestimmten, wissenschaftlich wenig erschlossenen Forschungsfeldes dienen soll, und das – zumindest der Intention nach – den Befragten einen breiten Spielraum der Strukturierung und Äußerung subjektiver Deutungen einräumt“ (99). Das qualitative Interview ist also in besonderer Weise geeignet, zu möglichst neuen, substanziellen Erkenntnissen über einen Forschungsgegenstand zu gelangen, der theoretisch unzureichend erfasst ist und zu dem nur wenige empirische Daten zur Verfügung stehen, und zwar „insbesondere dann, wenn es um die Aufdeckung komplexer Strukturen in Bezug auf hochgradig subjektive, emotional stark besetzte Gegenstände geht“ (Hohl 2000: 145). Über erlebte Gewalterfahrungen zu berichten, ist ein hochgradig subjektiver und intimer Vorgang, der besondere Vorkehrungen bei der Gestaltung der
8Die
Erhebung mittels Schattengebärderin konnte im Rahmen von Projektförderungen realisiert werden. Interviews mit zehn gewaltbetroffenen Frauen wurden innerhalb des durch das BMFSFJ in Auftrag gegebene Projekt „Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen im Leben gehörloser Frauen – Ursachen, Risikofaktoren, Prävention“ (Fries & Schröttle 2015) durchgeführt, die anderen beiden Interviews wurden im Zusammenhang mit dem DAPHNE-Projekt „Zugang von Frauen mit Behinderungen zu Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen bei Gewalterfahrungen“ (Mandl et al. 2014) ermöglicht. Die vertiefte Auswertung und Analyse der erhobenen Daten erfolgte im Rahmen der Erstellung der vorliegenden Arbeit.
4.3 Erhebung
75
Interviewform einschließlich des Verhaltens des Interviewers erforderlich macht. Im Zusammenhang dieser Untersuchung bot sich die Durchführung von Einzelinterviews in einer geschützten Interviewsituation in besonderer Weise an (s. auch Abschn. 4.2.3). Um aus dem Spektrum der möglichen qualitativen Interviewformen die am besten geeignete zu wählen, wurde zunächst die Passung zur Fragestellung und zum Forschungsgegenstand abgewogen. Denn die Auswahl einer spezifischen Interviewform impliziert bereits mögliche Ergebnisse: „So erbringt eine erzählgenerierende Interviewtechnik andere Arten von Aussagen, vermutlich auch andere Themen, auf jeden Fall anders strukturierte Daten als ein Leitfaden-Interview“ (Friebertshäuser 1997: 375). Sich mit Blick auf theoretische Vorgaben auf eine ganz bestimmte Interviewform einzulassen, kann jedoch zur Folge haben, dass möglicherweise nur ein Teil der benötigten Daten erhoben wird, andere dagegen nicht generiert werden können. Bei heterogenen Forschungsgegenständen ist es nach Helfferich (2009) hilfreich, „Mischformen“ bei der Wahl der Interviewführung zuzulassen, zumal diese aus der Perspektive der praktischen Interviewführung „deutlich größer sind als bei der methodologischen Abgrenzung voneinander zu vermuten ist“ (13). Die von Helfferich empfohlene und in vielen Forschungsarbeiten9 bereits praktizierte Mischform der Interviewführung ist „so offen und monologisch wie möglich, so strukturiert und dialogisch wie nötig“ (169). Ein gemischtes Vorgehen bei der Interviewführung erschien vor allem mit Blick auf das komplexe Thema der Gewalterfahrung gehörloser Frauen, dem mehrere Fragestellungen (s. auch Abschnitt 3.5) zugeordnet sind, als angemessen. So fiel die Wahl der Interviewform auf eine Mischform aus narrativem Interview und Leitfaden-Interview, die mir am besten geeignet schien, um den unterschiedlichen Forschungsfragen mit je eigenen Erhebungsanforderungen gerecht zu werden. Für die Frage nach Gewalterfahrungen im Lebensverlauf gehörloser Frauen wird eine biografisch-narrative Perspektive benötigt. Für Fragestellungen im Zusammenhang mit besonderen Gefährdungsmomenten, den zu ermittelnden Risikofaktoren, galt es dagegen, möglichst genaue Faktenauskünfte zu
9Unter
anderem wurde diese Mischform des teilnarrativen Interviews auch im qualitativen Studienteil zur Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen (Kavemann & Helfferich 2013) bei der Befragung von 31 gewaltbetroffenen Frauen angewendet (vgl. auch das Vorgehen bei der qualitativen Opferbefragung in Helfferich, Kavemann & Rabe 2010).
76
4 Empirische Umsetzung
erhalten. Das Interview musste also so gestaltet sein, dass es den unterschiedlichen Forschungsgegenständen angemessen war und unterschiedliche Formen qualitativer Daten generiert werden konnten, wie die folgenden drei Beispiele exemplarisch verdeutlichen:
Forschungsgegenstand: Art, Situation, Ausmaß von Gewalterfahrungen im Lebensverlauf
Nimmt man den Interviewzeitpunkt als „Endpunkt“, dann sollte der Weg bis zu der Interviewsituation als biografischer Prozess erfasst werden, und zwar so, wie die befragten gehörlosen Frauen ihn deuten, vom Beginn der Gewaltsituation und der auf sie hinführenden Vorgeschichte, unter Berücksichtigung einzelner biografischer Phasen und mit Erklärungen und Deutungen von Entwicklungsdynamiken. Um solche Beschreibungen biografischer Handlungsabläufe zu erhalten, war ein maximal offener, nicht durch Intervention der interviewenden Person strukturierter Erzählraum notwendig. Die Interviewpartnerinnen sollten dazu aufgefordert werden, ihre eigene Geschichte mit einem Minimum an Vorgaben von Relevanzen, Begriffen und Fragen zu erzählen. Dazu war eine umfassende Erzählaufforderung notwendig, die zu einer ungestörten Narration veranlasst, auf deren Grundlage Aussagen über Ablaufmuster und Gesamtgestalt individueller Erfahrungen getroffen werden können. Forschungsgegenstand: Risikofaktoren und besondere individuell erlebte Gefährdungsmomente; Ressourcen und angewandte Bewältigungsstrategien
In diesem Interviewteil stand die subjektive Problemsicht und die subjektive Deutung spezifischer inhaltlicher Aspekte im Vordergrund. Die Befragten mussten zu einzelnen interessierenden Aspekten umfänglich Auskunft erteilen. Werden diese Aspekte von allein nicht in ausreichendem Maß angesprochen, müssen die Fragen der interviewenden Person „dazu beitragen, die in einem bestimmten Problemzusammenhang stehenden Einzelheiten dem Vergessen zu entreißen“ (Witzel 1982: 70).
4.3 Erhebung
77
Forschungsgegenstand: Fakteninformationen, welche die subjektiven Deutungen ergänzen und erhellen können, da sie Informationen geben über mögliche Ursachenzusammenhänge von Gewalterfahrungen. Das sind vor allem Fakten zu biografischen Daten (z. B. Internatsunterbringung), Informationen zum Hörstatus der Täter, zur Informiertheit bzw. NichtInformiertheit über Unterstützungsmöglichkeiten etc..
Die Fakteninformationen müssen in geeigneter Weise konkret erfragt werden. Sie ergänzen als Hintergrundauskünfte die Aussagen der Interviewpartnerinnen. Deutungen sind hierbei nicht von Interesse. Um den aufgeführten drei Ebenen der geplanten Interviews gerecht zu werden, wurde ein Leitfaden in Anlehnung an Helfferich (2009: 167ff.) entwickelt. Erzählaufforderungen wurden mit gezielten Nachfragen kombiniert. Konkrete Falldaten wurden entweder aus dem einleitenden Gesprächsteil generiert oder am Ende des Interviews nachgefragt und in einem gesonderten Interviewbogen (s. Anhang 2) notiert. Auch im Hinblick auf die vorangegangenen ethischen Überlegungen schien diese Interviewform angebracht, weil die Interviewpartnerinnen so selbst entscheiden konnten, an welcher Stelle des eigenen Lebenslaufs sie ihren Bericht einsetzen lassen wollten und wie viel sie zu erzählen bereit waren. Im einleitenden Frageteil wurden die Befragten ausdrücklich dazu aufgefordert, selbst zu entscheiden, was sie erzählen wollten und was nicht. Ein qualitatives Interview bietet keine objektive Erhebung sozialer Wirklichkeit. Vielmehr begegnet einem Realität hier „als immer schon interpretierte, gedeutete und damit interaktiv hergestellte und konstruierte Wirklichkeit“ (Helfferich 2009: 76). Bei der Durchführung der zwölf gebärdensprachlichen Interviews mit gehörlosen Frauen war es mir wichtig, in der Interaktion eine möglichst reflektierte Subjektivität zu kultivieren. Mein privilegierter Zugang zu den Interviewpartnerinnen, deren Sprache und Kultur ich teile und deren Lebensumfeld mir gut bekannt ist, schien mir dafür von Vorteil. Konsequenterweise ergaben sich daraus auch Nachteile. Durch meine soziale Einbindung in die Gehörlosengemeinschaft und meinen Bekanntheitsgrad in dieser verhältnismäßig kleinen sozialen Gruppe, musste ich einigen willigen Interviewpartnerinnen von meiner Seite aus absagen. Eine zu große persönliche Nähe und Verbundenheit einer Interviewpartnerin zu mir oder auch zu der Schattengebärderin, so schien mir, würde sich eher nachteilig auf die Interviewqualität auswirken.
78
4 Empirische Umsetzung
4.3.2 Leitfaden Der Interview-Leitfaden wurde im Wesentlichen nach den Empfehlungen des Manuals zur Durchführung qualitativer Interviews von Helfferich (2009) entwickelt. Fragen wurden an die spezielle biografische Situation der gehörlosen Frauen angepasst. Der Interviewleitfaden war teilnarrativ angelegt und ließ einerseits freie, biografienahe Erzählpassagen zu und ermöglichte andererseits Nachfragen mit dem Charakter einer gemeinsamen, aufdeckenden Problemsicht zu bestimmten Gefährdungs- oder Bewältigungsmomenten im Leben der Interviewpartnerinnen. Gezielte Fragen zur Generierung von Fakteninformationen, die in einer eigenen „Check-up“-Spalte zu überprüfen waren, runden den Leitfaden ab. Durch diese Struktur „standardisiert der Leitfaden in gewissem Sinn die inhaltliche Struktur der Erzählungen und erleichtert dadurch die Auswertung“ (Helfferich 2009: 180) der zu erwartenden dichten gebärdensprachlichen Interviewberichte. Erzählerische Passagen elaboriert auszugestalten und durch Hinzufügung vielfältiger Nebeninformationen zu ergänzen, ist ein besonderes Merkmal der Gehörlosenkultur. Hier sollte ein formal übersichtlicher und gut zu handhabender Leitfaden helfen, den Überblick zu behalten, gezielt Nachfragen zu stellen und fehlende Informationen abzurufen. Für die Entwicklung des Leitfadens wurde das sogenannte qualitative „SPSS“Verfahren angewandt, es geht also um die Schritte des Sammelns, Prüfens, Sortierens und Subsumierens (vgl. Helferrich 2009: 182), mit denen sich Offenheit und Erzählanreiz einerseits sowie Nachfragen und Informationsgewinn andererseits erzielen lassen. Das schrittweise, detaillierte Vorgehen fordert zur Genauigkeit bei der Erstellung des Leitfadens auf, da er „gleichzeitig der Vergegenwärtigung und dem Explizieren des eigenen theoretischen Vorwissens und der impliziten Erwartungen an die von den Interviewten zu produzierenden Erzählungen“ dient (vgl. ebd.). Es wurden also zunächst alle Fragen gesammelt, die im Zusammenhang mit dem Forschungsgegenstand von Interesse waren. Grundlage dafür bildeten die bearbeitete Literatur und der Forschungsstand. Hier war besonders auch der bereits vorliegende Leitfaden der qualitativen Erststudie (Helfferich & Kavemann 2013) eine wichtige Orientierungshilfe. Im nächsten Schritt wurden die gesammelten Fragen unter den Aspekten des Vorwissens und der Offenheit geprüft mit dem Ziel, „ein unrealistisches Pensum an Fragen“ und das Thematisieren zu vieler „Einzelaspekte“ (Helfferich 2009: 180) zu vermeiden. Im dritten Schritt wurden die verbliebenen Fragen nach inhaltlichen Aspekten sortiert. Im letzten Schritt des Subsumierens erhielt der Leitfaden seine eigentliche Form.
4.3 Erhebung
79
Der Leitfaden gliedert sich in die folgenden fünf Themenbereiche: I. Gewalterleben II. Bewältigung, Hilfesuche und Unterstützung III. Vertrauenspersonen, soziales Umfeld zum Zeitpunkt des Gewalterlebens IV. Verbindung: Gewalt und Kommunikation V. Empfehlungen, Ausblick Die Forschungsfrage nach den gesundheitlichen Folgen von Gewalt war kein eigener Themenschwerpunkt im Leitfadeninterview. Gesundheitliche Folgen wurden im Zusammenhang mit dem Gewalterleben erfragt; häufig ergab sich ihre Thematisierung aber auch zwanglos von selbst. Der erstellte Interviewleitfaden wurde nach den Vorgaben von Helfferich (2009: 186) folgendermaßen gegliedert: Leitfrage/Erzählaufforderung
Check – wurde das erwähnt?
Konkrete Fragen
Aufrechterhaltungsfragen
In der ersten Spalte Leitfaden/Erzählaufforderung wurde eine möglichst einfache Erzählaufforderung eingetragen. Die Stichworte in der zweiten Spalte Check – wurde das erwähnt? fungieren als Erinnerungshilfe für mögliche Nachfragen und als Checkliste für eine schnelle Überprüfung, ob diese Aspekte vielleicht bereits von allein thematisiert wurden. Die dritte Spalte Konkrete Fragen enthält alle Fragen, die obligatorisch und mit einer vorgegebenen Formulierung allen Interviewpartnerinnen gestellt werden sollten. Die vierte Spalte ergänzt Vorschläge zu Aufrechterhaltungsfragen oder Steuerungsfragen, die die Interviewpartnerinnen bei Bedarf zum Weitererzählen motivieren sollten und mit deren Hilfe Interesse und Verstehen bekundet werden konnte. Im Folgenden wird der Aufbau des Leitfadens überblicksartig dargestellt; in vollständiger Form ist er Anhang 3 zu entnehmen. Das Interview begann mit einem lockeren Gespräch, das die Abfrage persönlicher Daten einschloss. Dieser Eingangsteil wurde dem Interview bewusst vorgeschaltet, um die Interviewpartnerin mit der besonderen Beschaffenheit der Interviewsituation vertraut zu machen. Sie sollte vor allem mit der Rolle der Schattengebärderin vertraut gemacht werden und Sicherheit gewinnen, dass ihre gebärdensprachlichen Angaben verstanden, vollständig weitergegeben und in geschützter Weise dokumentiert werden. Zugleich diente dieses „Warmgebärden“ auch der Generierung biografischer Eckdaten. Es wurden Fragen
80
4 Empirische Umsetzung
gestellt zu Aufwachsen und Elternhaus, schulischer und beruflicher Bildung, Alter und Familienstand, Kommunikationsgewohnheiten sowie der Einbindung in die Gehörlosengemeinschaft. Die Erhebung dieser Rahmendaten war auch im Hinblick auf das Thema der Risikofaktoren von besonderer Bedeutung. Hier wurden bereits wichtige Informationen erhoben, die auf problematische Lebenssituationen der interviewten Frauen (z. B. schwieriges Verhältnis zu den Eltern, mangelhafte Schulbildung, hohe soziale Kontrolle im Zusammensein mit anderen Gehörlosen, Rückzug aus der Gehörlosengemeinschaft) hinweisen konnten. Im Zusammenhang der Berichte über Gewalterleben und Bewältigungsstrategien wurde mitunter auf hier angesprochene Aspekte zurückgegriffen und es wurden gezielt Nachfragen gestellt. Das eigentliche Interview begann mit einer Erzählaufforderung zur erlebten Gewaltsituation im Lebensverlauf. Dabei blieb es der Interviewpartnerin überlassen, wo in ihrer Biografie sie anfangen wollte zu erzählen; es wurde lediglich auf gewisse Anhaltspunkte Bezug genommen, die die Frau als Reaktion auf den Interviewaufruf im Vorfeld des Interviews per E-Mail, Post oder durch Gatekeeper (s. auch Abschnitt 4.3.3) genannt hatte. In der einleitenden Frage wurde die Gebärde GEWALT nicht verwendet, um der Interviewpartnerin selbst Gelegenheit zu geben, ihre Erlebnisse begrifflich zu fassen und zu benennen. Stattdessen wurden die neutralen Gebärden ÜBERGRIFF und GRENZE&VERLETZEN benutzt.10 Das Interview begann mit der offen formulierten Leitfrage (Ia), um den Interviewpartnerinnen den Einstieg in das Interview so leicht wie möglich zu machen. Einige wenige Frauen bevorzugten einen an der Biografie orientierten Erzähleinstieg und begannen mit dem Gewalterleben in Kindheit oder Jugend. Meistens erzählten die Frauen jedoch, was sie zum Zeitpunkt des Interviews unmittelbar beschäftigte, und berichteten erst im Fortgang des Interviews auf eine entsprechende Nachfrage hin (Leitfrage II) über weiter zurückliegende oder andere Gewalterfahrungen. Während des gesamten Interviews blieb es der interviewten Frau selbst überlassen, welche Erfahrungen sie thematisieren und wie weit sie darauf eingehen wollte. Nachfragen bezogen sich lediglich auf die Erhebung subjektiver Sichtweisen oder dienten reinem Informationsgewinn. Im Zusammenhang mit der Generierung subjektiver Problemsichtweisen wurden thematische Steuerungen in der Regel ebenfalls als Erzählimpulse formuliert. So
10Bei
der Glossierung der Gebärden orientiere ich mich an den Konventionen von Papaspyrou 2008.
4.3 Erhebung
81
war beispielsweise in fast allen Interviews eine Nachfrage zur Kommunikationssituation im Elternhaus notwendig, die in der Regel mit der Aufforderung zu berichten, wie die Situation am Esstisch mit Eltern und Geschwistern gewesen sei, eingeleitet wurde. Gezielte Nachfragen zum Gewinn von Fakteninformationen betrafen etwa den Hörstatus des Täters („War Ihr Partner hörend oder gehörlos?“) oder die Kommunikationsform im Zusammenhang mit Hilfesuche und Unterstützung („War ein Gebärdensprachdolmetscher dabei?“). Diese Nachfragen waren notwendig, weil durch die Interviews ja vor allem auch Ursachenzusammenhänge für eine hohe Gewaltvulnerabilität gehörloser Frauen und ihre trotz begrenzter Zugangsmöglichkeiten möglicherweise entwickelten Bewältigungsstrategien eruiert werden sollten. Diese hängen sehr mit den besonderen Lebensumständen der Frauen zusammen, die den Befragten nicht notwendig bewusst sein müssen. Was im Leben der gehörlosen Frauen selbstverständlich scheint, zum Beispiel, dass eine gutsprechende schwerhörige Freundin für die Hilfesuche hinzugezogen wird oder dass man sich der eigenen Mutter nicht anvertrauen will, da jene hörend und gebärdensprachunkundig ist, spielt eine wichtige Rolle, um zu verstehen, warum die Betroffenen so häufig Gewalt im Lebensverlauf erlebt haben. Besonders im mittleren Frageteil, in dem es um die Rolle des sozialen Umfelds zum Zeitpunkt des Gewalterlebens ging und die Beziehung zwischen Gewalterleben und Kommunikationssituation in den Mittelpunkt rückte, wurden Nachfragen dieser Art notwendig. Um das Ende des Interviews sensibel und forschungsethisch vertretbar zu gestalten, erfolgte hier ähnlich wie in der anfänglichen Anwärmphase ein langsamer Ausstieg aus dem Thema. Die Interviewpartnerinnen wurden danach gefragt, was sie anderen gewaltbetroffenen gehörlosen Frauen empfehlen würden, und dabei ausdrücklich als Expertinnen angesprochen. Dadurch hatten sie die Möglichkeit, sich langsam aus der Rolle der gewaltbetroffenen Frau zu lösen und den Blick nach vorne zu richten. Das Interview mündete schließlich in einen Ausblick auf Wünsche und zukünftige Vorhaben. Der Leitfaden wurde im Vorfeld der eigentlichen Interviews in einem Probeinterview mit der Schattengebärderin getestet. Dadurch erhielt die Schattengebärderin Gelegenheit, sich mit dem Ablauf und den inhaltlichen Aspekten der Interviewsituation vertraut zu machen. Auf diese Weise konnten aber auch „problematische, zu komplexe oder unverständliche Formulierungen“ (Mayer 2013: 45) identifiziert und verbessert werden. Durch den Pretest war es möglich, die Qualität des Leitfadens zu sichern und den Umgang mit ihm für die gebärdensprachliche Interviewsituation zu üben. Eine Optimierungsnotwendigkeit, die der Pretest verdeutlichte, war beispielsweise, dem eigentlichen Leitfadeninterview eine
82
4 Empirische Umsetzung
Einstiegsphase voranzustellen, die es der Interviewpartnerin ermöglichen würde, sich mit der besonderen Interviewsituation vertraut zu machen. Im Probeinterview hatten sowohl die Interviewführerin als auch die Probandin den Eindruck, dass der Einstieg mit einer erzählgenerierenden Frage (Leitfrage I) zu unvermittelt sei. Es wurde befürchtet, dass Interviewpartnerinnen, die sich mit der Interviewsituation nicht hinreichend vertraut machen konnten, möglicherweise nicht bereit sein würden, von intimen, emotional belastenden Gewaltsituationen zu berichten. Auch mit Blick auf die zuvor diskutierten ethischen Gesichtspunkte war es wichtig, der Interviewpartnerin zu vermitteln, dass sie trotz der Kamera vor Ort nicht befürchten musste, ihre Identität könnte preisgegeben werden. Eine weitere wichtige Überlegung betraf die Möglichkeit, sich mit der Schattengebärderin vertraut zu machen, die durchgängig die gebärdensprachlichen Äußerungen der zu Interviewenden kopierte. Die Interviewpartnerinnen mussten im Blickfeld der Schattengebärderin sitzen und konnten so während des Interviews beobachten, wie ihre Äußerungen, die Gebärden, aber auch Gesichtsausdruck und Körperhaltung „gespiegelt“ wurden. Das, so unsere Vorüberlegung, mochte am Anfang des Interviews ungewohnt und möglicherweise sogar befremdlich erscheinen. Auch von daher schien es angebracht, dem Interview einen eher gesprächseinstimmenden, allgemeinen Teil vorzuschalten.
4.3.3 Sampling und Ablauf „Sampling“ bedeutet in der qualitativen Forschung die Auswahl einer Untergruppe von Fällen, die für das untersuchte Feld charakteristisch sind, ohne jedoch an das Kriterium der Repräsentativität gebunden zu sein. Repräsentativität ist für qualitative Stichproben kein sinnvolles Kriterium, da qualitative Forschung anders als standardisierte Verfahren, die das Ziel verfolgen, allgemeingültige statistische Fakteninformationen zu generieren, „auf das Besondere“ zielt (Helfferich 2009: 172f.). So ist in der qualitativen Forschung nicht eine bestimmte Anzahl von Fällen bedeutsam, sondern es geht um Fälle, die der Fragestellung gemäß als typisch erscheinen (Lamnek 2010: 169). Verallgemeinerungen von Interpretationen qualitativer Interviews zielen auf die „Rekonstruktion typischer Muster“ ab (Helfferich 2009: 173). Helfferich (ebd.: 175) schlägt bei qualitativen Interviews einen „mittleren“ Stichprobenumfang von sechs bis dreißig Interviews vor. In der vorliegenden Studie wurden zwölf leitfadengestützte Interviews mit gewaltbetroffenen gehörlosen Frauen durchgeführt. Dem Stichprobenumfang waren Grenzen gesetzt durch die zur Verfügung stehenden Mittel, mit denen die aufwendig organisierten Interviews durchgeführt
4.3 Erhebung
83
werden konnten, und dem zeitlichen Aufwand, der vor allem für die Übersetzung der gebärdensprachlichen Interviews einzuplanen war. Um vom theoretischen Gerüst zur praktischen Umsetzung zu gelangen, wurde bei der Rekrutierung der Interviewpartnerinnen nach dem von Helfferich (ebd.: 173) vorgeschlagenen dreistufigen Verfahren vorgegangen. Im ersten Schritt („enge und präzise Bestimmungen“) wurde das inhaltliche Interesse an bestimmten Interviewpartnerinnen präzisiert und möglichst eng bestimmt: Gesucht werden sollte nach gehörlosen Frauen, die bereits Gewalterfahrungen erlebt hatten und bereit waren, darüber ein in DGS geführtes Interview zu geben. In einem zweiten Schritt („innere Repräsentation“) wurde überprüft, ob in der gewählten Stichprobe der Kern des Feldes vertreten ist, aber auch abweichende Vertreterinnen hinreichend aufgenommen wurden. Die Stichprobe sollte also als typisch geltende Fälle und ebenso maximal unterschiedliche umfassen (Helfferich 2009: 173). Die Überlegungen gingen dahin, ein breites Spektrum an Unterschiedlichkeit im Hinblick auf die Auswahl der Interviewpartnerinnen aufzustellen. Dafür wurde folgendes Schema erstellt, mit dem festgelegt wurde, welche unterschiedlichen oder kontrastierenden Merkmale in der Stichprobe vertreten sein sollten (Tab. 4.1).
Tab. 4.1 Wunschliste Stichprobenauswahl Merkmal
In der Stichprobe gewünscht:
Alter
gehörlose Frauen unterschiedlichen Alters, nicht nur die stärkeren mittleren und älteren Jahrgänge
Eltern
gehörlose Frauen, die mit hörenden und gehörlosen Eltern aufgewachsen sind
Bildungs- und Berufsabschluss
gehörlose Frauen mit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen, auch solche mit höherem Abschluss und solche ohne Berufsabschluss
Familienstand/mit und ohne Kinder
gehörlose Frauen mit und ohne Kinder, die einen unterschiedlichen Familienstand aufweisen
Sexuelle Orientierung
gehörlose Frauen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung
Internatsunterbringung
gehörlose Frauen, die neben dem Besuch einer speziellen Schule für Hörgeschädigte zum Teil auch ein Internat besucht haben
Wohnort
gehörlose Frauen, die in etwa gleicher Nord-Süd/ Ost-West-Verteilung in Städten, Großstädten und in ländlichen Gebieten zu Hause sind
84
4 Empirische Umsetzung
Mit dieser Varianz sollte es gelingen, unterschiedliche Gewalterfahrungen einschließlich ihrer gesundheitlichen Folgen abzubilden, die gehörlose Frauen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft sowie heterogener Bildungsvoraussetzungen und persönlicher Einbindungen gemacht haben. Außerdem sollte die Bandbreite der Interviewpartnerinnen dazu beitragen, unterschiedliche Hintergründe und Risikofaktoren für das Erleben von Gewalt zu generieren sowie das in den Forschungsfragen aufgeworfene Thema der Bewältigung (Ressourcen) einzufangen und als Phänomen besser zu verstehen. Der Interviewaufruf wurde im September 2013 in DGS auf die Internetseiten des Deutschen Gehörlosen-Bundes und der Plattform Taubenschlag gestellt. Im Verlauf von zwei Wochen meldeten sich über dreißig gehörlose Frauen per E-Mail oder Post, die bereit waren, an der Befragung teilzunehmen. Für die Durchführung der Interviews war wegen des zu erwartenden Organisationsaufwands etwa bei der Terminierung des Interviews zwischen Interviewerin, Interviewpartnerin und Schattengebärderin ein Zeitraum von fünf Monaten, von Oktober 2013 bis Februar 2014, vorgesehen. Der längere Zeitraum ermöglichte einen sukzessiven Aufbau der Stichprobe, „indem der (n plus 1) Fall danach ausgesucht wird, wie er in kontrastierender Relation zu den bisher interviewten (n) Fällen steht“ (Helfferich 2009: 174). So war es möglich, noch zusätzliche Interviewpartnerinnen über Frauenbeauftragte und andere ehrenamtliche Aktivistinnen des Deutschen Gehörlosen-Bundes als Gatekeeper einzuwerben, die gezielte, in bisherigen Interviews nicht vertretene Merkmale aufweisen sollten. Alle gehörlosen Frauen, die sich auf den ursprünglich ergangenen Internetaufruf hin gemeldet hatten, waren ausschließlich in den alten Bundesländern (und Berlin) wohnhaft. Aus den neuen Bundesländern hatte sich zunächst keine potenzielle Interviewpartnerin gemeldet, was darauf hindeuten könnte, dass das Thema Gewalt innerhalb der Gehörlosengemeinschaft der neuen Bundesländer noch stärker tabuisiert ist. Erst in der Folge eines von mir angebotenen Seminars in einem ostdeutschen Bundesland, bei dem ich die Gelegenheit hatte, die Erststudie mit der Teilbefragung gehörloser Frauen vorzustellen (Schröttle et al. 2013), meldete sich eine interessierte gehörlose Frau aus den neuen Bundesländern. Eine weitere gezielte Suche betraf das Merkmal Eltern, da angenommen wurde, dass gehörlose Frauen, die von ihren gehörlosen Eltern die DGS als Muttersprache gelernt hatten, über bessere kommunikative Voraussetzungen verfügen als Interviewpartnerinnen mit hörenden Eltern (s. auch Abschn. 2.1). In der
4.3 Erhebung
85
tichprobe sollte gemäß der durchschnittlichen Anzahl von etwa 10%11 gehörS loser Kinder, die über gehörlose Eltern verfügen, wenigstens eine Interviewpartnerin mit einem gehörlosen Elternhaus vertreten sein. Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die Stichprobe, die sich aufgrund der genannten Merkmale ergab (Tab. 4.2).12 Tab. 4.2 Ergebnis Stichprobenauswahl Merkmal
Stichprobenbeschreibung
Alter
25 bis 65 Jahre; die Hälfte der Interviewpartnerinnen ist zwischen 40 und 50 Jahre alt; 2 Interviewpartnerinnen 50 Jahre
Eltern
11 Interviewpartnerinnen sind Töchter hörender Eltern; bei einer Interviewpartnerin sind beide Elternteile gehörlos
Bildungsabschluss 3 Interviewpartnerinnen mit Hochschulreife, davon eine mit abgeschlossenem Studium alle übrigen Interviewpartnerinnen haben einen mittleren Schulabschluss (Haupt- oder Realschule), davon sind zwei ohne regulären Berufsabschluss Familienstand/ Kinder
4 Interviewpartnerinnen sind verheiratet; 5 Interviewpartnerinnen ledig; 3 Interviewpartnerinnen geschiedena 8 Interviewpartnerinnen mit und 4 Interviewpartnerinnen ohne Kinder
sexuelle Orientierung
unterschiedliche sexuelle Identitäten
Internatsunterbringung
6 Interviewpartnerinnen waren während der Schulzeit im Internat untergebracht; die übrigen 6 Interviewpartnerinnen wuchsen bei ihren leiblichen Eltern auf
Wohnort
8 Interviewpartnerinnen leben in einer deutschen Großstadt, 2 Interviewpartnerinnen in kleineren Städten; 2 Interviewpartnerinnen in ländlichen Gebieten
aAbgesehen von der Gewaltproblematik erleben gehörlose Paare häufiger eine Scheidung als die übrige Bevölkerung. Laut jüngeren Studien ist die Scheidungsrate bei Gehörlosen viermal so hoch wie in der übrigen Bevölkerung (Abedi et al. 2018: 182).
11Da geeignete demografische Daten nicht vorliegen, ist dies nur ein vorsichtig zu interpretierender Schätzwert, der auf allgemeinen Erfahrungen beruht. Auch in medizinischen Nachschlagewerken werden unterschiedliche Angaben gemacht. Symptomat nennt 5% (http://symptomat.de/Taubheit_%28Geh%C3%B6rlosigkeit%29), Onmeda 15% vererbte Gehörlosigkeit (http://www.onmeda.de/krankheiten/taubheit-ursachen-1290-4.html). 12Im
Rahmen des Anonymisierungsverfahrens (s. auch Abschn. 4.2.3) wurden die hier genannten Merkmale zusammenfassend dargestellt und es wurde keine Zuordnung zu den einzelnen Interviewpartnerinnen vorgenommen.
86
4 Empirische Umsetzung
Nach Durchführung der zwölf Interviews wurde in einem dritten Schritt („Überprüfung“, vgl.: Schröttle et al. 2013: 174) noch einmal kontrolliert, welche Konstellationen nicht in der Stichprobe vorgekommen sind. Wie die Übersicht über die Interviewpartnerinnen zeigt, ist im Sampling besonders die Gruppe der 40–50-jährigen gehörlosen Frauen vertreten, während aus der Gruppe der unter 20-Jährigen keine und aus der Gruppe der über 50-Jährigen lediglich eine Interviewpartnerin vertreten ist. Überrepräsentiert ist auch die Zahl der Interviewpartnerinnen, die in einer Großstadt wohnen; allerdings hat dies auch mit der besonderen Situation gehörloser Menschen zu tun, die sich aufgrund besserer Kontaktmöglichkeiten untereinander vor allem in Großstädten und Ballungsräumen niederlassen, wo auch Treffpunkte, Kirchen und Vereine für gehörlose Menschen zu finden sind (s. auch Abschn. 2.1). Überrepräsentiert in dieser Stichprobe ist, wie schon in der Erststudie, die Anzahl der gehörlosen Interviewpartnerinnen, die über den höchsten schulischen Bildungsabschluss verfügen (ebd.: 273). Sicherlich steht dies mit der Methode des Internetaufrufs in Zusammenhang, der vor allem politisch interessierte und sozial gut vernetzte Gehörlose erreicht haben dürfte. An den Wohnorten der Befragten musste ein Raum gefunden werden, der den gewaltbetroffenen Frauen Schutz und Neutralität sicherte und zugleich den technischen Voraussetzungen der Untersuchungsanlage gerecht wurde. Allen Befragten wurde die Möglichkeit gegeben, sich die Räumlichkeiten, in denen die Interviews durchgeführt wurden, selbst auszuwählen, wobei hier – wie schon in der Erststudie – Wert auf die Sicherheit und Atmosphäre des Ortes gelegt wurde (ebd.: 33). Es wurde im Vorfeld geklärt, dass für die angekündigte Interviewzeit keine weiteren Personen stören sollten. In einem Fall konnte für ein Kind im Grundschulalter nicht rechtzeitig eine Kinderbetreuung organisiert werden. Eine Lösung fand sich dadurch, dass das Interview in der Privatwohnung durchgeführt wurde, während das Kind im Nebenzimmer spielte. Das Interview konnte, bis auf eine kurze Unterbrechung, in der das Kind mit einer Frage ins Zimmer kam, mit dem Einverständnis aller Beteiligten durchgeführt werden. Zwei weitere Interviewpartnerinnen wünschten sich, das Interview bei sich zu Hause durchzuführen. Die meisten anderen Interviews fanden in geschützten halböffentlichen Räumen statt, beispielsweise in Büros oder Einrichtungen der Gehörlosenselbsthilfe, in denen uns für den Tag des Interviews freier Zugang unter Ausschluss der Öffentlichkeit gewährt wurde. In einem Fall bat uns die Interviewpartnerin, an ihrem Arbeitsplatz im eigenen Büro, befragt zu werden, und in zwei anderen Fällen fanden die Interviews in geschützten Räumen anderer Selbsthilfeprojekte statt. Alle Aufnahmen wurden vor einem möglichst neutralen Hintergrund (weiße Wand, Tür) gemacht; in den privaten Wohnungen wurden Hintergründe (z. B.
4.4 Übersetzung der gebärdensprachlichen Daten
87
Bücherregale), die potenziell zu einer Identifizierung des Raumes hätten führen können, durch Abhängen mit Tüchern unkenntlich gemacht. Am Ende des Interviews erhielt jede Interviewpartnerin die in DGS erhältliche DVD Häusliche Gewalt ist nie in Ordnung! (BIG e. V. 2010). Auf Wunsch wurden weiterführende wohnortsbezogene Kontakte zum Hilfe- und Unterstützungssystem für gewaltbetroffene Frauen genannt. Sofern dies möglich war, wurde ein Kontakt zu Unterstützungseinrichtungen vermittelt, die über Gebärdensprachkompetenz verfügen.
4.4 Übersetzung der gebärdensprachlichen Daten Das gebärdensprachliche Datenmaterial liegt in Form von Videoaufnahmen vor, die für die geplante Inhaltsanalyse in geeigneter Weise aufgearbeitet werden mussten. Bei qualitativen Interviews, in denen Gespräche mithilfe von Audioaufnahmen aufgezeichnet werden, erfolgt als nächster Arbeitsschritt üblicherweise die Übertragung der in gesprochener Sprache vorliegenden Daten in eine schriftliche Form, für die bestimmte Transkriptionsregeln einzuhalten sind (vgl. z. B. Mayring 2002: 89; Flick 2007: 242). Mit den gebärdensprachlichen Daten liegt jedoch Material vor, das für die Analyse nicht in der sonst üblichen Weise orthografisch transkribiert13 werden kann, sondern in die deutsche Schriftsprache übersetzt werden muss. Young und Temple (2014) weisen auf die besondere Problematik hin, die damit in Zusammenhang steht: „To transcribe, to fix in a written form, has implicitly involved movement from a signed to a different written language, although this is not routinely acknowledged. The change in modality is accompanied by a change in language, something that is usually defined as translation and not transcription“ (Young & Temple 2014: 145). Für die Übersetzung der gebärdensprachlichen Daten (vgl. dazu auch Abschn. 4.4.1) konnte auf eine Software zurückgegriffen werden, die es erlaubt, die schriftliche Übersetzung im Sinne von Annotationen direkt mit korrespondierenden Segmenten auf den Videos zu verlinken (vgl. Perniss 2015: 63). In der
13Eine
Transkription ist möglich und üblich, auch wenn sie nicht orthografisch erfolgen kann; diverse Systeme sind dafür verfügbar (s. Abschn. 4.4.1). Transkriptionsverfahren für gebärdensprachliche Daten sind in der Regel sehr aufwändig und in Hinblick auf die hier formulierte inhaltliche Fragestellung nur bedingt nützlich. Für den Zweck meiner Arbeit war es vorteilhaft, auf einen geschriebenen Text (die Übersetzung) zurückzugreifen.
88
4 Empirische Umsetzung
ebärdensprachforschung wird hauptsächlich mit den Softwareprogrammen G ELAN, Anvil und i-Lex gearbeitet, von denen mir für meine Zwecke das Softwareprogramm ELAN am geeignetsten erschien.
4.4.1 Die Transkriptionssoftware ELAN ELAN ist ein speziell entwickeltes Softwareprogramm für die Erstellung von schriftlichen Annotationen auf der Grundlage von Audio- oder Videodateien. Es eignet sich in besonderer Weise für die Analyse gebärdensprachlicher Daten und ist in der Gebärdensprachforschung als professionelles Tool für die Arbeit mit gebärdensprachlichen Daten international verbreitet (Johnston & Schembri 2007; Crasborn, Hulsbosch & Sloetjes 2012; Perniss 2015). In der vorliegenden Studie konnte die Annotationsfunktion genutzt werden, um Übersetzungen mit direktem Bezug zum Videomaterial vorzunehmen. Zu diesem Zweck wurde ein Zeitintervall der Videodatei, das einer gebärdensprachlichen Äußerung entspricht, ausgewählt und markiert; dem markierten Intervall konnte dann auf einer gesonderten Zeile eine deutsche Übersetzung zugeordnet werden. Eine Annotation entspricht dabei in etwa einem gebärdensprachlichen Satz oder einem kurzen Sinnabschnitt.14 Da der Übersetzungsprozess in mehreren Schritten erfolgte, wurden neben der Zeile „Übersetzung“ noch weitere Zeilen für „Fragen“ und „DGS-Anmerkungen“ hinzugefügt. In die Zeile „Fragen“ wurden beim Übersetzungsvorgang offen gebliebene Formulierungen, Unklarheiten oder alternative Übersetzungsvorschläge eingegeben. Die Zeile „DGS-Anmerkungen“ diente dazu, Beobachtungen zum gebärdensprachlichen Ausgangsmaterial festzuhalten. Hier wurde beispielsweise notiert, welche Gebärden die interviewten Frauen benutzten, um Gewaltsituationen zu beschreiben, oder es wurden Anmerkungen zum Gebärdenstil, zu nichtmanuellen Signalen oder zu gebärdensprachlichen Merkmalen wie Rollenübernahme, idiomatischen Gebärdenverwendungen und anderen grammatischen Besonderheiten vermerkt.
14Linguistisch
betrachtet ist die Frage, was ein DGS-Satz ist und wie Satzgrenzen markiert werden, alles andere als trivial (vgl. etwa Hansen & Heßmann 2013). Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung ließ sich die Frage nach „satzähnlichen Sinneinheiten“ jedoch im Allgemeinen recht klar beantworten. Entscheidend war letztlich, dass die von den Befragten intendierten Bedeutungen und Zusammenhänge angemessen erfasst wurden.
4.4 Übersetzung der gebärdensprachlichen Daten
89
4.4.2 Übersetzung der Videoaufzeichnungen in die deutsche Schriftsprache Die Übersetzung der vorliegenden gebärdensprachlichen Interviews stellte eine Herausforderung dar. Einer klassischen Bestimmung zufolge lässt sich Übersetzen als eine Form der Translation mit folgenden Merkmalen auffassen:„Wir verstehen […] unter Übersetzen die Translation eines fixierten und demzufolge permanent dargebotenen bzw. beliebig oft wiederholbaren Textes der Ausgangssprache in einen jederzeit kontrollierbaren und wiederholt korrigierbaren Text der Zielsprache“ (Kade 1968: 35; Herv. im Orig.). In der Praxis des Übersetzens bedeutet dies üblicherweise, dass Inhalte eines schriftlich fixierten Textes, des sogenannten Ausgangstextes, in die schriftlich fixierte Form einer Zielsprache übertragen werden, und zwar so, dass „some kind of relevant similarity“ zwischen Ausgangs- und Zieltext gegeben ist (Zethsen 2009: 799). Im vorliegenden Fall liegt der Ausgangstext gemäß Kades Bestimmung zwar fixiert und im Prinzip beliebig oft wiederholbar vor, jedoch nicht als schriftlicher Text, sondern als Video und damit nicht nur in einer anderen Sprache, sondern auch in einer anderen Modalität. Die DGS ist eine Kommunikationsform, die vorwiegend im direkten Kontakt, von Angesicht zu Angesicht, praktiziert wird. Es gibt keine Schriftform im Sinne einer alltäglich verwendeten Gebrauchsschrift, was in den spezifischen Merkmalen dieser Sprache begründet liegt: Gebärdensprachen sind auf die besonderen Bedürfnisse ihrer Benutzer, der gehörlosen Menschen, zugeschnitten (König & Schmaling 2012: 341). Sie sind visuell wahrnehmbare, mit sichtbaren körperlichen Mitteln produzierte Sprachen, die aus einer Verbindung von Körperaktionen und Mimik, lautlos gesprochenen Wörtern und Handzeichen bestehen. Die verschiedenen, miteinander kombinierten und in der Sprachverwendung oft simultan gebrauchten Elemente müssen in eine andere sprachliche Modalität übertragen werden. Young und Temple (2014) weisen auf die besonderen Herausforderungen hin, die das Übersetzen zwischen unterschiedlichen sprachlichen Modalitäten mit sich bringt: „In social research the term ‚translation‘ is generally used to reference the act of turning a written source text into a written target language text. Research involved signed languages challenges and extends this meaning“ (146). Dieser Prozess erfordert besondere Sorgfalt, denn gebärdensprachliche Äußerungen sind oft komplex und komprimiert gestaltet. Die Gebärdenzeichen, ihre Bewegung und ihre Verortung im Raum, werden simultan mit nonmanuellen sprachlichen Komponenten wie Gesichtsausdruck, Blickrichtung und Körperbewegungen ausgeführt. Eine Übersetzung aus der DGS in die deutsche Schriftsprache erfordert also einen Transformationsprozess, der die simultan geprägten
90
4 Empirische Umsetzung
Strukturen der visuell-gestischen Sprache in die Linearität des Geschriebenen mit seinen Abfolgen von Satzgliedern überführt (ebd.: 147). Ladd (2008: 278) argumentiert darüber hinaus, dass kulturelle Eigenschaften von Gebärdensprachen eine besondere Herausforderung für die Übersetzung in eine Schriftsprache darstellen können. Das ist vor allem dann der Fall, wenn – wie in den Interviews häufig geschehen – sehr bildhaft erzählt wird oder die Interviewpartnerinnen bei der Wiedergabe von Gewaltsituationen aus der Perspektive und in der Rolle von Situationsbeteiligten berichten. Die Übersetzung der zwölf vorliegenden Interviews fand im Zeitraum von April 2014 bis Dezember 2014 statt. Insgesamt waren 947 Minuten Interviewmaterial zu übersetzen. Im Folgenden verdeutliche ich den Übersetzungsprozess, indem ich mein Vorgehen in drei Schritten charakterisiere: 1. Erstellen einer Rohübersetzung Im ersten Schritt erfolgte die Erstellung einer Rohübersetzung, die sich möglichst eng an den Ausgangstext anschloss und häufig Übersetzungsalternativen vorsah. Gebärdensprachliche Formulierungen, für die sich keine unmittelbare Übersetzung in die geschriebene Sprache anbot, wie es zum Beispiel bei umgangssprachlichen Ausdrücken, Metaphern oder Idiomen der Fall war, wurden durch Klammern markiert und unter Angabe vorläufiger Entsprechungen und möglicher Übersetzungen festgehalten. Beispiel I (Beate15, 00:10:56ff.): Es hörte nicht auf, noch mit 8, 9 Jahren waren wir Mädchen und Jungen (untereinander immer zusammen/ohne Aufsicht zusammen). Ja, auch mit 10 Jahren waren wir (nur untereinander zusammen/ohne Aufsicht zusammen). Die Jungen (zeigten nun gezielt auf uns Mädchen, sie begannen damit, uns gezielt auszusuchen/fingen an, uns Mädchen zu dissen). Beispiel II (Christa, 04:33:02): Zu Hause war Mama (immer um mich herum, indem sie mich ständig hätschelte und anfasste, kommunizierte sie mit mir/sie suchte Körperkontakt mit mir, um mit mir kommunizieren zu können/dabei fasste sie mich auf eine Weise an, die mir nicht gefiel). Das war ganz schlimm!
15Bei
diesem und den folgenden Namen handelt es sich um anonymisierte Codes.
4.4 Übersetzung der gebärdensprachlichen Daten
91
Beispiel III (Klara, 00:19:03): Sie sagten zu mir: „Komm mit!“ (Und dann gingen wir um die Ecke in ein Versteck).„Komm mit“, sagten sie (und wir gingen in eine andere Ecke in ein Versteck). 2. Verfeinerung der Übersetzung In einer zweiten Durchsicht wurden die in der Rohübersetzung markierten Stellen überprüft und Mehrfachbedeutungen mit Blick auf Lesbarkeit überarbeitet und reduziert. Wichtig war es hier, die dahinter stehende kommunikative Idee möglichst angemessen wiederzugeben und dem Gehalt des Originaltextes möglichst nahe zu bleiben: Beispiel I (Beate, 00:10:56ff.): Das hörte auch nicht auf, als wir größer wurden. Nicht nur mit 8, 9 Jahren, auch als wir 10 Jahre alt waren, blieben wir uns selbst überlassen. Die Jungs fingen an, uns Mädchen nachzustellen. Beispiel II (Christa, 04:33:02): Mamas Art, mich zu Hause zu bemuttern und mit mir zu kommunizieren, war ganz schlimm. Beispiel III (Klara, 00:19:03): Ich sollte mit denen mitkommen zu verschiedenen abgelegenen und versteckten Plätzen. 3. Überprüfung der Übersetzung durch eine zweite Person Nach Abschluss der Feinübersetzung wurde diese der Schattengebärderin, die die Interviews gespiegelt hatte, zur Überprüfung vorgelegt. Als zertifizierte Gebärdensprachdolmetscherin in den Arbeitssprachen Deutsch und DGS (s. auch Abschnitt 4.2.2) konnte sie einen kompetenten Blick auf die erstellte Übersetzung werfen. Zugleich blieb damit die forschungsethische Anforderung an Datenschutz und Anonymität gewahrt. In den Originalvideos wird lediglich die Identität der Interviewpartnerin geschützt. Eigennamen, Namen von gewalttätigen Personen oder Ortsnamen sind hier noch nicht codiert. Es war von daher nicht ohne Weiteres möglich, den gesamten Inhalt der gebärdensprachlichen Videofassungen ohne weitere datenschutzsichernde Abklärungen einer außenstehenden Person zur Einsicht zu geben. Erst mit der schriftlichen Übersetzung liegt eine anonymisierte Form der Daten vor. Hier wird anstelle der Namen der interviewten gehörlosen Frauen jeweils ein Codename als Zuordnung verwendet. Eigennamen und Institutionen werden durch Beschreibungen in eckigen Klammern ersetzt.
92
4 Empirische Umsetzung
4.4.3 Ausgewählte Besonderheiten der Übersetzung der gebärdensprachlichen Interviews in die deutsche Schriftsprache Ähnlich wie in einem Theaterstück, das sich auf einer Bühne abspielt, werden von den gehörlosen Interviewpartnerinnen in DGS Personen eingeführt und Handlungsabläufe zuweilen bis in einzelne Details beschrieben. Die Rollen von Angreifer und betroffener Person werden in der gebärdensprachlichen Berichterstattung von der erzählenden Person übernommen, wie im folgenden Beispiel deutlich zu sehen ist: „Er war so aggressiv. Wie ein böser Wolf wirkte er auf mich. Ein angreifender Wolf mit fletschenden Zähnen. Ich blickte hilflos zu ihm auf“ (Fee a, 00:29:38). Man sieht im gebärdensprachlichen Datenmaterial, wie der aggressive Angreifer mit verzerrtem Gesicht und sprungbereitem Körper dasteht, bereit zum Angriff auf sein wehrloses Opfer. Im Rollenwechsel wird das Opfer gezeigt, das hilflos zum Täter aufblickt und abwehrend die Hände erhebt. Die von dem Angriff überraschte Frau nimmt eine unterwürfige, hilflose Haltung ein und zeigt sich machtlos, was in der gebärdensprachlichen Berichterstattung durch den hilflosen, nach oben auf den angreifenden Täter gerichteten Blick zu erkennen gegeben wird. Der nach oben gerichtete Blick markiert in den gebärdensprachlichen Beschreibungen von Gewaltsituationen nicht nur die Rolle der betroffenen Frau, sondern kennzeichnet darüber hinaus – unabhängig von realen Größenoder Lageverhältnissen – die ohnmächtige Perspektive des Opfers.16 Das Opfer sieht sich dem gewalttätigen Überfall, Schlägen oder Verletzungen ausgesetzt, denen es nichts entgegenzusetzen weiß (vgl. zum Beispiel auch Christa, 00:52:23; Dora, 00:06:42; Gisela, 00:11:28 u. a.). Es liegt in der Logik der perspektivischen gebärdensprachlichen Darstellung, dass die Interviewpartnerinnen die in der Realität erfahrenen Schläge oder Handgreiflichkeiten fiktiv in Richtung ihres eigenen Körpers ausführen. Nur in zwei Interviews werden körperliche Aktionen zum Täter hin ausgeführt – in der Absicht einer Gegenwehr. Man sieht hier im gebärdensprachlichen Original, wie sich die Opfer versuchen zu erheben, um dem Täter auf Augenhöhe oder sogar von einer höheren Warte aus zu begegnen. Einen solchen demonstrativen Akt der Gegenwehr beschreibt Andrea, indem sie erzählt, wie sie
16„Powerful
is up“ lautet eine der gängigsten Metaphern, die bildhafter gebärdensprachlicher Darstellung zugrunde liegt (vgl. Taub 2001: 149ff.).
4.4 Übersetzung der gebärdensprachlichen Daten
93
sich auf einen Tisch stellt und den angreifenden Täter mit Besteck bewirft. Angesichts des stärkeren Gegenübers erweisen sich diese Versuche, der erfahrenen Gewalt etwas entgegenzusetzen, jedoch als wirkungslos, wie das folgende Beispiel verdeutlicht: „Immer, wenn er mich nun schlug, schlug ich zurück. Aber dann wurde die Spirale immer schlimmer, es wurde immer mehr, bis ich dann schließlich aufgab. Ich ließ dann zu, dass er mich weiter schlug“ (Dora, 00:07:41). In den Interviews dominiert die Erzählweise der Frauen aus der Opferperspektive. Eine weitere kulturelle Eigenschaft gebärdensprachlicher Erzählungen ist die akribisch genaue Beschreibung von Handlungsabläufen oder erlebten Situationen (vgl. Hansen 2012: 218f.). Erlebtes wird häufig minutiös und mit großer Detailgenauigkeit wiedergegeben. Diese besondere Eigenart gebärdensprachlichen Erzählens war auch in den Interviews zu beobachten, wie die folgenden vier kurzen Zitate aus dem Interview mit Christa zeigen: Über einen Erzählzeitraum von sechs Minuten nähert sich die Interviewpartnerin langsam und mit wachsender Spannung der eigentlichen Gewaltsituation an: „Dann zog ich zu ihm hin. Ein Jahr später waren wir im Skiurlaub. Da merkte ich, dass mein Mann gierig auf Sex war“ (Christa, 00:46:02). „Mein Mann wollte immer mehr Sex mit mir haben“ (Christa, 00:46:36). „Mein Mann griff mich nun sexuell immer heftiger an“ (Christa, 00:51:01). „Aber dieses Mal griff er mich total brutal an“ (Christa, 00:52:23).
Der lange Erzählbogen mit seinen sich mehr und mehr steigernden Momenten muss in der schriftsprachlichen Übersetzung mit entsprechenden Mitteln der deutschen Sprache wie Steigerungsformen und einer Variation von Adjektiven kenntlich gemacht werden. Doch nicht nur die Hinführung zu Gewaltsituationen, auch die Gewaltsituation selbst beschreiben die gehörlosen Interviewpartnerinnen in vielen Fällen sehr detailliert. Simultan und komprimiert ausgeführt, sind die gebärdensprachlichen Äußerungen oft weitaus kürzer, eleganter und prägnanter gehalten, als es in der schriftsprachlichen deutschen Übersetzung möglich ist, wie das folgende Beispiel illustriert. Hier beschreibt die Interviewpartnerin mit wenigen, komprimiert ausgeführten Gebärdenzeichen eine Gewaltsituation: Mit einer einzigen Bewegung wird der auf dem Tisch liegende Körper gezeigt, wobei zugleich die Perspektive des Täters erkennbar ist, der den vor ihm liegenden Körper so hingelegt hat, wie es für seine Absichten am brauchbarsten war. In der deutschen Übersetzung kann dies nur vergleichsweise weitschweifig und schwerfällig wiedergegeben werden:
94
4 Empirische Umsetzung „Auf diesem Tisch lag ich flach ausgestreckt, mein Betreuer hat mich so hingelegt, dass mein Kopf oben an der Tischkante lag und der Körper vor ihm auf dem Tisch ausgestreckt war“ (Jasmin, 00:40:48).
Die angeführten Beispiele verdeutlichen, welche besonderen Probleme sich beim Übersetzen aus der DGS in die deutsche Schriftsprache ergeben haben. Wie bei allen Übersetzungen geht es letztlich auch hier darum, „quasi dasselbe mit anderen Worten“ (Eco 2006) zum Ausdruck zu bringen. Indem das Wort die Stelle der körperlichen Darstellung einnimmt, tritt jedoch zweifellos ein Verlust an Unmittelbarkeit und Abbildungskraft ein, der nicht vollständig zu kompensieren ist.
4.5 Auswertung Um das übersetzte und transkribierte Datenmaterial in seiner ganzen Komplexität zu erfassen und methodisch kontrolliert und in systematischer Weise auszuwerten, habe ich mich für die Durchführung einer inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse entschieden, wie sie Kuckartz (2016) in Anlehnung an Mayrings klassische Definition der qualitativen Inhalts-analyse (2010) beschreibt. In der qualitativen Sozialforschung existiert eine Vielzahl von Methoden und Techniken der qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Gläser & Laudel 2010; Lamnek 2010). Der Begriff „qualitative Inhaltsanalyse“ wird häufig mit dem Titel von Mayrings Buch (2010) assoziiert, der aber allein acht verschiedene qualitativ-inhaltsanalytische Techniken aufzählt (ebd.: 113f.). Kuckartz’ (2016) Ansatz dagegen konzentriert sich gezielt auf die systematische, kategorienbasierte Auswertung verdichteter qualitativer Daten und kam damit meinem Wunsch nach einer sorgfältigen und möglichst präzisen Erfassung des Datenmaterials in besonderer Weise entgegen. Kuckartz Ansatz’ möchte die von Siegfried Kracauer, Clive Seale und anderen „erhobene Forderung nach methodischer Strenge auch in der qualitativen Sozialforschung“ erfüllen (ebd.: 6). Im Mittelpunkt des von ihm beschriebenen Verfahrens der qualitativen Inhaltsanalyse steht die im Vergleich zu anderen Ansätzen wesentliche große Nähe zu den Originalaussagen der erhobenen Daten mit dem Ziel einer besseren Nachvollziehbarkeit und Transparenz, um damit die Glaubwürdigkeit qualitiver Analysen positiv zu beeinflussen (ebd.: 7). Im Mittelpunkt qualitativer Inhaltsanalysen steht die Entwicklung eines Kategoriensystems. Die qualitative Inhaltsanalyse wird von vorab formulierten Regeln bestimmt, die den Prozess der Textanalyse formen und führen. Durch diese Regeln wird die Analyse „für andere nachvollziehbar und intersubjektiv überprüfbar,
4.5 Auswertung
95
dadurch wird sie übertragbar auf andere Gegenstände, für andere benutzbar, wird sie zur wissenschaftlichen Methode“ (Mayring 2010: 59). Kuckartz (2016, 48ff.) beschreibt drei Basismethoden einer qualitativen Inhaltsanalyse, die alle auf der Idee einer kategorienbasierten Auswertung beruhen, sich aber in ihrer Herangehensweise stark unterscheiden: Die inhaltlich-strukturierende Inhaltsanalyse, die evaluative qualitative Inhaltsanalyse und die typenbildende qualitative Inhaltsanalyse. Da in dieser Studie Erkenntnis über Inhalt generiert wird, wurde als Auswertungsmethode für die geführten Interviews die inhaltlich-strukturierende Inhaltsanalyse gewählt: „Auch nach der Zuordnung zu Kategorien bleibt der Text selbst, d. h. der Wortlaut der inhaltlichen Aussagen, relevant und spielt auch in der Aufbereitung und Präsentation der Ergebnisse eine wichtige Rolle“ (ebd.: 49). Kern der inhaltlich-strukturierenden Vorgehensweise ist es, am Datenmaterial ausgewählte inhaltliche Aspekte zu identifizieren und zu konzeptualisieren und auf diese Weise systematisch zu beschreiben, was zu bestimmten Themen im Interview ausgesagt wurde. Diese Aspekte bilden zugleich die Struktur des Kategoriensystems. Bei der Bildung relevanter Kategorien befürwortet Kuckartz ausdrücklich ein gemischtes deduktiv-induktives Vorgehen: „Für die Hauptthemen gilt, dass sie häufig mehr oder weniger direkt aus der Forschungsfrage abgeleitet werden können und sie bereits bei der Erhebung von Daten leitend waren“ (ebd.: 101). Diese sogenannten thematischen Kategorien bilden das Gerüst des Kategoriensystems, das in einem mehrstufigen Verfahren durch die am Material gebildeten Subkategorien weiter ausgebaut und verfeinert wird (ebd.: 106ff.). Das von Kuckartz (2016) beschriebene mehrstufige Verfahren bei der Kategorienbildung und Codierung des Materials schien mir für die Auswertung der inhaltlich und erzählerisch dichten Interviews in besonderer Weise geeignet. Der sich wiederholende, zyklische Rückgriff auf das vorliegende Material zwingt zu einer ständigen systematischen Überprüfung des Auswertungsprozesses. Die einzelnen Auswertungsschritte werden mehrfach durchlaufen, und es besteht die Möglichkeit, dabei Subkategorien neu zu identifizieren und zu ergänzen. Im Folgenden wird das gewählte mehrstufige Verfahren der inhaltlichstrukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse im Einzelnen näher beschrieben: Entwicklung von thematischen Hauptkategorien Das Grundgerüst für das Kategoriensystem (s. Anhang 4: Kodierplan) baut auf der Fragestellung dieser Studie auf. So lag bereits eine erste grobe Ebene des Kategoriensystems durch die Unterteilung in die vier Themenbereiche Gewalterfahrungen, Risikofaktoren, Ressourcen und Gewaltfolgen vor. Bereits unmittelbar nach jedem Interview wurden in Form von Interviewkurzberichten Stichpunkte aus den Interviews zu jedem der vier Themen festgehalten,
96
4 Empirische Umsetzung
um ihre konkrete Anwendbarkeit auf das Material zu überprüfen. Je mehr Interviews durchgeführt wurden, umso mehr zeichnete sich ab, dass alle Forschungsfragen in Bezug auf die geführten Interviews relevant waren und für die Beantwortung dieser Fragen in ausreichender Weise Material aus den erhobenen Daten zur Verfügung stehen würde. Die Liste der thematischen Hauptkategorien wurde wie folgt definiert (Tab. 4.3): Tab. 4.3 Thematische Hauptkategorien Thematische Hauptkategorie
Codierregel Zugeordnet werden alle Passagen, in denen …
Gewalterfahrungen … die Interviewpartnerin (IP) berichtet, welche Gewalterfahrungen sie in verschiedenen Lebensphasen gemacht hat; Hintergründe/ Risikofaktoren
… die IP von schwächenden, einschränkenden oder anderweitig belastenden Erfahrungen und Konstellationen berichtet, die in ursächlichem oder begünstigendem Zusammenhang mit Gewalterfahrungen stehen oder stehen könnten;
Bewältigung/ Ressourcen
… die IP von Bewältigungsstrategien berichtet, mit der sie auf die erlebte Gewalt reagiert hat;
Auswirkungen/ Gewaltfolgen
… die IP von physischen, psychischen oder sozialen Folgen ihrer Gewalterfahrungen berichtet.
Einsatz von QDA-Software Da bereits während der Übersetzungsarbeit absehbar wurde, dass eine große Menge an Daten zu codieren sein würde, wurde ab diesem Schritt mit einer computergestützten Software weitergearbeitet. Dafür wurden die übersetzten und anonymisierten Interviewdaten zunächst in das gewählte Softwaresystem (MaxQDA)17 importiert. Codieren des gesamten Materials mit den Hauptkategorien In einem ersten Codierdurchgang wurden alle Texte Zeile für Zeile sequenziell bearbeitet. Dabei wurden die thematischen Hauptkategorien einschlägigen Textstellen zugeordnet. Nicht sinntragende Textstellen bzw. Textstellen, die zur Beantwortung der Forschungsfragen nicht relevant waren, blieben uncodiert. 17Die
MaxQDA-Software erschien als Hilfsmittel bei der Analyse qualitativer Daten unter der Federführung von Udo Kuckartz erstmals 1989. Sie enthält Funktionen zur grundlegenden Analyse qualitativer Daten und wird inzwischen standardmäßig in der qualitativen Forschung verwendet (vgl. Kuckartz 2007; 2012; vgl. auch Bazeley 2007; Lewins & Silver 2007).
4.5 Auswertung
97
Aufgrund der Dichte der Erzählpassagen war es möglich, dass ein Textabschnitt mehrere Passagen enthielt und folglich mit zwei oder mehreren thematischen Kategorien codiert werden musste. Das Codieren erfolgt mit den Codes aus dem Codiersystem, indem Text und Kategoriensystem am Bildschirm nebeneinander platziert werden. Inhaltlich relevante Textstellen können so identifiziert und „per drag and drop“ (Kuckartz 2007: 68) einem Code zugeordnet werden. Zusammenstellen aller mit der Hauptkategorie codierten Textstellen und induktives Bestimmen von Subkategorien am Material Nach dem ersten Codierungsprozess wurden alle Textstellen einer Hauptkategorie mithilfe eines Text-Retrievals in Form einer Tabelle zusammengestellt. An diesem Material wurden nun die Subkategorien entwickelt. So konnten beispielsweise den Aussagen von Interview 04 (Dora), die unter der Hauptkategorie Gesundheitliche Folgen von Gewalt verzeichnet waren, folgende Subkategorien zugeordnet werden (Tab. 4.4):
Tab. 4.4 Zusammenstellung Hauptkategorien (Beispiel) Code
Kommentar
Dokument
Vorschau (Timecode und Übersetzung)
16. Gewaltfolgen
körperliche Folgen
Interview 04
00:07:59 Fortan war ich übersät von blauen Flecken am Oberkörper, ja sehr oft passierte es dann, dass er mich schlug.
16. Gewaltfolgen
somatische Folgebeschwerden
Interview 04
00:12:54 Ich wurde krank und als mir bewusst wurde, wie krank ich war, fühlte ich mich total hilflos.
16. Gewaltfolgen
verstärkte soziale Isolation
Interview 04
00:27:11:17 Am Anfang war ich noch ganz gern dabei, einen Monat später bin ich aber weggezogen. Weit weg. Ich zog einen Schlussstrich. Ich konnte nicht mehr in meiner heimatlichen Umgebung bleiben.
16. Gewaltfolgen
psychische Interview 04 Folgeprobleme
00:28:34 Ich verfiel in Depressionen, wusste nicht wohin, fühlte mich ausgegrenzt, hatte keine Kontakte.
16. Gewaltfolgen
verstärkte soziale Isolation
Interview 04
00:49:43 Als Hörende hat man eher die Möglichkeit, ein völlig neues Leben zubeginnen.
98
4 Empirische Umsetzung
Auf diese Weise wurden zu jeder einzelnen Hauptkategorie die Subkategorien aus dem Material entwickelt. Damit war das Kategoriensystem vollständig. Den vier Hauptthemen waren nun insgesamt 16 Subthemen wie folgt zugeordnet (Tab. 4.5): Tab. 4.5 Vollständiges Kategoriensystem
1. Gewalterfahrungen im Leben gehörloser Frauen • Gewaltsituationen in Kindheit und Jugend • Gewaltsituationen im Erwachsenenleben • Diskriminierung in der Ausbildung und am Arbeitsplatz • Ausmaß der Gewalterfahrung 2. Risikofaktoren • Sprachkompetenzen • Selbstbild • Familie • Schule und Internat • Gehörlosengemeinschaft 3. Ressourcen • persönliche Ressourcen • soziale Ressourcen • professionelle Ressourcen 4. Gesundheitliche Folgen von Gewalt • körperliche Folgen • somatische und psychosomatische Folgen • psychische Folgeprobleme • verstärkte soziale Isolation
Codieren des kompletten Materials mit dem ausdifferenzierten Kategoriensystem Der zweite Codierprozess erfolgte nun mit dem ausdifferenzierten Kategoriensystem. In einem erneuten Materialdurchlauf wurden alle neu gebildeten Subthemen zugeordnet. Dabei wurde geprüft, ob die Bildung weiterer Subthemen notwendig war oder die bereits entwickelten Subthemen noch differenzierter benannt werden sollten. Das war am angeführten Beispiel der Kategorie Gesundheitliche Folgen von Gewalt der Fall. Das Subthema Somatische Folgen wurde ausgeweitet in Somatische und psychosomatische Folgen, als dazu in einem weiteren Interview entsprechendes Material codiert wurde. Kategorienbasierte Auswertung und Ergebnisdarstellung Die Auswertung erfolgte kategorienbasiert entlang der Hauptthemen: „Leitend ist hier die Frage: ‚Was wird zu diesem Thema alles gesagt?‘ und ggf. auch die Frage ‚Was kommt nicht oder auch nur am Rande zur Sprache?‘“ (Kuckartz
4.6 Gütekriterien
99
2007: 118). Bei der Darstellung im Ergebnisbericht können „durchaus auch Zahlen berichtet werden“ (ebd.). Das geschieht in Form von einfachen Häufigkeiten und Prozentangaben, um Verhältnismäßigkeiten oder auch Abweichungen, die sich in den Aussagen der zwölf Interviewpartnerinnen finden lassen, zu verdeutlichen. Im Zentrum steht jedoch die Präsentation der inhaltlichen Ergebnisse in qualitativer Weise, „wobei durchaus auch Vermutungen geäußert und Interpretationen vorgenommen werden können“ (ebd.: 119). Die Haupt- und Subthemen werden in Kapitel 5 durch Paraphrasieren des Inhalts dargestellt und mit Beispielen aus den Interviews verdeutlicht. Diese Beispiele sind in Anführungszeichen gesetzt sowie kursiv gekennzeichnet, mit dem Codenamen der Interviewpartnerin versehen und mit dem jeweiligen Timecode (Stunde:Minute:Sekunde) der zugehörigen Übersetzung gekennzeichnet. So können sie bei Bedarf in der originalen Fassung in DGS eingesehen und in der deutschen Übersetzung nachgelesen werden. Insgesamt wurden auf diese Weise Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Aussagen der gehörlosen Frauen herausgearbeitet.
4.6 Gütekriterien In der empirischen Sozialforschung wird die Qualität und Verlässlichkeit von Untersuchungen anhand der Gütekriterien „Objektivität“, „Validität“ und „Reliabilität“ gemessen. Diesem Standard wird vor allem bei quantitativen Verfahrensweisen ein hoher Stellenwert zugeschrieben (Flick 2007: 487ff.; Mayring 2010: 116; Kuckartz 2016: 201ff.). Mit Blick auf ihre Anwendbarkeit in der qualitativen Forschung müssen diese Gütekriterien modifiziert und neu formuliert werden. Im Folgenden werden die von Steinke (2004: 319ff.) aufgestellten allgemeinen Gütekriterien qualitativer Forschung vorgestellt, anhand derer, soweit es in diesem Rahmen möglich war, die Qualität der vorliegenden Untersuchung überprüft werden kann. Die von Steinke genannten Kriterien stellen dabei lediglich einen Katalog dar, der einer grundsätzlichen Orientierung dient. • Intersubjektive Nachvollziehbarkeit Der Forschungsprozess wurde Schritt für Schritt dokumentiert, sodass die einzelnen Phasen des Vorgehens eingesehen und nachvollzogen werden können. Das eigene Vorverständnis, die Wahl der Interviewform, der besondere Interviewablauf mit dem Einsatz der Schattengebärderin, der Prozess der Übersetzung (anstelle der üblicherweise vorzusehenden Auswahl von Transkriptionsregeln), die Entstehung des Samplings, die
100
•
• •
4 Empirische Umsetzung
uswertungsmethode sowie alle anderen dieser Arbeit zugrunde liegenden A Kriterien wurden dokumentiert. Es wurde die qualitativ strukturierende Inhaltsanalyse in computergestützter Form nach Kuckartz (2016) als kodifiziertes Verfahren angewendet. Damit ist die Regelgeleitetheit dieser Untersuchung gesichert. Allein die Codierung durch mehrere unabhängig voneinander codierende Personen konnte nicht realisiert werden, da dazu im Rahmen der vorliegenden Arbeit keine Möglichkeit bestand. Empirische Verankerung Die empirische Verankerung dieser Untersuchung ist durch die strikte Befolgung des Ablaufs der inhaltlich-strukturierenden Analyse nach Kuckartz (2012: 78) gewährleistet. Codierregeln sowie der Aufbau des Kategoriensystems wurden offengelegt (s. Anhang 4: Kodierplan). Die Kategorien mit den Haupt- und Subthemen wurden sowohl anhand der Forschungsfragen als auch am Material gebildet. Den Kategorien sind Ankerbeispiele zugeordnet, die einen Bezug zwischen den Kategorien und dem Datenmaterial herstellen. Bei der Inhaltsanalyse wurde das ganze Datenmaterial berücksichtigt. Dabei wurde das Material bis zur endgültigen Codierung in mehrfachen Durchläufen gesichtet. Kohärenz Zur Gewährleistung von Kohärenz wurden Widersprüche und ungelöste Fragen, soweit sie sich gestellt haben, offengelegt. Relevanz Die Fragestellung der vorliegenden Studie ist relevant. Die Ergebnisse können dazu beitragen, Gewalterfahrungen gehörloser Frauen mitsamt den gesundheitlichen Folgen von Gewalt besser zu verstehen und bei der Erstellung von gesundheitsfördernden Konzepten für diesen Personenkreis unterstützende Hinweise geben. Die Erkenntnisse, die in Bezug auf die Ursachen und Risikofaktoren für die bereits bekannte hohe Gewaltvulnerabilität dieses Personenkreises gewonnen werden, können für eine zukünftig verbesserte Präventionsarbeit genutzt werden. Die Darstellung der Bewältigungsstrategien kann darüber hinaus Hinweise darauf geben, welche zusätzlichen Maßnahmen erforderlich sind, damit gehörlose Frauen in Zukunft leichter Wege aus der Gewalt finden. Damit entspricht diese Untersuchung auch externen Gütekriterien wie Übertragbarkeit und Verallgemeinerbarkeit. Die Resultate dieser Studie sind nicht ausschließlich situationsbedingt, sondern haben den Anspruch, auch über die vorliegende Untersuchung hinaus Gültigkeit zu besitzen.
4.6 Gütekriterien
101
• Reflektierte Subjektivität Vor und während des Forschungsprozesses wurde meine Rolle als gehörlose Forscherin kritisch betrachtet und reflektiert. Bereits vor der vorliegenden Untersuchung habe ich mich in anderen Studienzusammenhängen mit der Thematik und meiner Rolle darin auseinandersetzen können. Zu den Interviewpartnerinnen bestand eine Vertrauensbeziehung, die zum einen mit der besonderen sprachlichen Situation zusammenhing, zum anderen aber auch durch die ethischen Vorkehrungen, die die Anonymität der Interviewpartnerinnen sicherstellen sollten, gegeben war. Während des gesamten Forschungsprozesses wurden fortlaufend Memos geschrieben, die jedes Interview im unmittelbaren Anschluss reflektierten. Alle Fragen, die sich im Analyseprozess stellten, wurden schriftlich festgehalten und in die Theoriebildung einbezogen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Anlass dazu besteht, der gewählten qualitativ-empirischen Vorgehensweise insoweit Vertrauen zu schenken, als die Ergebnisse die subjektive Wirklichkeit der befragten Frauen angemessen widerspiegeln dürften und nicht beliebig reproduzierbare, aber doch in ihrem Erfahrungsgehalt typische Aussagen zu treffen erlauben. Das folgende Kapitel stellt die Ergebnisse der Befragung im Detail vor.
5
Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
Ich gab mir einen Ruck und entschied, dass ich einmal alles loswerden wollte, einmal alles erzählen wollte. […] Und das ist auch der Grund, warum ich heute hierhergekommen bin. Das ist nicht einfach für mich gewesen, und ich denke, dass es noch viele andere gibt, denen es so wie mir geht, die nicht wissen, wie sie mit einer solchen Erfahrung umgehen sollen. (Interviewpartnerin, 01:07:51)
In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der qualitativen Interviews dargestellt. In die computergestützte qualitative Inhaltsanalyse (Kuckartz 2010; 2016) sind alle ausgewerteten zwölf Interviews einbezogen. Den Ergebnissen vorangestellt ist eine zusammenfassende Beschreibung der Stichprobe (s. auch Abschn. 5.1). Sie dient dazu, einen Überblick über die Interviewpartnerinnen und die Gewaltsituationen, von denen sie berichten, zu geben. Die Darstellung der Ergebnisse zu den Gewalterfahrungen der Interviewpartnerinnen, den Risikofaktoren, den Bewältigungsstrategien sowie den gesundheitlichen Folgen von Gewalt entspricht dem in Abschnitt 4.5 beschriebenen Vorgehen bei der Datenauswertung. Die Darstellung folgt also den im Kategoriensystem zusammengefassten „Themen und Subthemen“ (Kuckartz 2012: 92) und gibt die Inhalte der Interviews gegliedert nach den vier an den Forschungsfragen orientierten Themen mit ihren insgesamt 16 Subthemen wieder.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Fries, Gewalterfahrungen gehörloser Frauen, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31926-7_5
103
104
5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
5.1 Beschreibung der Stichprobe Im Folgenden werden die in der Stichprobe zu verzeichnenden Gewalterfahrungen für jede der befragten gehörlosen Frauen, gekennzeichnet durch Codenamen und Angabe des Alters zum Zeitpunkt des Interviews, kurz charakterisiert und anschließend in einer tabellarischen Übersicht zusammengefasst. Andrea erfuhr in Kindheit und Jugend körperliche und sexuelle Gewalt durch Bruder und Vater. Nach der Geburt ihrer eigenen Kinder erlebte sie eine Retraumatisierung der gewalttätigen Kindheitserfahrungen und begann mit der Bewältigung des Gewalterlebens. Beate erfuhr in Kindheit und Jugend sexuelle Gewalt durch den Stiefvater. Der Missbrauch durch den Stiefvater hielt an, bis sie mit ca. Mitte 20 Jahren das Elternhaus verlassen konnte. Beate erlebte auch in der Schule sexuelle Gewalt durch Mitschüler. Sie berichtet ferner über Diskriminierung und Mobbing am Arbeitsplatz. Christa erfuhr sexuelle Gewalt durch ihre Geschwister sowie während der Schulzeit im Internat durch Mitschüler. Auch ihr Ehemann übte sexuelle Gewalt gegen sie aus. Sie berichtet von einer schweren körperlichen Erkrankung als Folge der wiederholten Gewalterfahrung. Dora erfuhr als Jugendliche sexuelle Gewalt durch einen Bekannten. Später übte ihr Partner schwere körperliche Gewalt gegen sie aus. Eine sehr schwere körperliche Erkrankung im jungen Erwachsenenalter war der Auslöser dafür, einen Weg aus der Gewalt zu suchen. Elin erfuhr körperliche und sexuelle Gewalt durch ihren Ehemann. Bedingt durch soziale und ökonomische Zwänge lebt sie weiterhin mit ihrem Ehemann zusammen, beabsichtigt aber, sich zu trennen, sobald es die Umstände zulassen. Fee erfuhr schwere körperliche Gewalt durch ihren Ehemann. Der Ehemann bedrängte sie durch Kontrollausübung auch wirtschaftlicher Art sowie durch Stalking. Fee erlebte die durch die Gehörlosengemeinschaft ausgeübte soziale Kontrolle als Form psychischer Gewalt. Sie hat gute Erfahrungen mit einem Frauenhaus gemacht und lebt heute sehr zurückgezogen.
5.1 Beschreibung der Stichprobe
105
Gisela erfuhr im schulischen Internat sexuelle Gewalt durch Mitschüler. Der Ehemann übte psychische, körperliche und sexuelle Gewalt gegen sie aus und maßregelte sie durch Kontrolle auch wirtschaftlicher Art sowie durch Kontaktverbote und Ausgangssperren. Gisela berichtet von einem mehrmonatigen Aufenthalt in einem Frauenhaus, bei dem gravierende Kommunikationsprobleme bestanden. Helena erfuhr in Kindheit und Jugend psychische Gewalt und Mobbing durch Mitschüler. Ihr Ehemann übte schwere körperliche Gewalt gegen sie aus. Er kontrollierte sie auch wirtschaftlich und misshandelte das gemeinsame behinderte Kind. Helena erlebte in der Folge körperliche Gewalt, Stalking und Kontrollausübung durch mehrere weitere Partner. Einen Frauenhausaufenthalt brach Helena nach kurzer Zeit als nicht aushaltbar ab. Sie berichtet von kommunikativen Notlösungen bei Anwaltskonsultationen. Inge erfuhr durch eine gehörlose Mitschülerin bis weit ins Erwachsenenleben psychische, körperliche und sexuelle Gewalt, an der später auch der Ehemann der Mitschülerin beteiligt war. Die durch die Gehörlosengemeinschaft ausgeübte soziale Kontrolle erlebte sie als Form psychischer Gewalt. Jasmin erfuhr in der Kindheit sexuellen Missbrauch durch Betreuungspersonal. Die Eltern vertuschten den Vorfall viele Jahre lang. Erst im Erwachsenenalter erinnerte sich Jasmin wieder an die zuvor vollständig verdrängte Gewaltsituation. Jasmin berichtet auch über sexuelle Belästigung in der Zeit der Berufsausbildung durch ihren Ausbilder. Karla erfuhr zunächst in der Grundschule, später noch einmal in der schulischen Oberstufe sexuelle Gewalt durch Mitschüler. Sie erlebte Diskriminierung am Arbeitsplatz und im Studium. Im Interview berichtet sie erstmals über das Erlebte. Lucie erfuhr in Kindheit und Jugend langjährigen schweren sexuellen Missbrauch und sexuelle Gewalt durch ihren Vater. Der Vater missbrauchte auch andere Frauen und Mädchen und wurde strafrechtlich verfolgt. (Tab. 5.1)
106
5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
Tab. 5.1 Übersicht über Gewalterfahrungen der Interviewpartnerinnen Name
Zeitpunkt
Gewaltform
Täter
Andrea
Kindheit & Jugend
körperlich, sexuell
Bruder und Vater
Beate
Kindheit & Jugend
sexuell
Stiefvater
Kindheit & Jugend
sexuell
Mitschüler
Christa
Dora
Erwachsenenleben
Diskriminierung
Kollegen
Kindheit & Jugend
sexuell
Geschwister
Kindheit & Jugend
sexuell
Mitschüler
Erwachsenenleben
sexuell
Ehemann
Kindheit & Jugend
sexuell
Bekannter
Erwachsenenleben
körperlich
andere Partner
Elin
Erwachsenenleben
körperlich, sexuell
Ehemann
Fee
Erwachsenenleben
körperlich
Ehemann
Erwachsenenleben
psychisch
Gehörlosengemeinschaft
Gisela
Kindheit & Jugend
sexuell
Mitschüler
Erwachsenenleben
körperlich, sexuell, psychisch
Ehemann
Kindheit & Jugend
psychisch
Mitschüler
Erwachsenenleben
körperlich
Ehemann
Erwachsenenleben
körperlich
andere Partner
Inge
Kindheit & Jugend, Erwachsenenleben
körperlich, sexuell, psychisch
Mitschülerin
Erwachsenenleben
psychisch
Gehörlosengemeinschaft
Jasmin
Kindheit & Jugend
sexuell
Betreuer
Kindheit & Jugend
sexuell
Ausbilder
Karla
Kindheit & Jugend
sexuell
Mitschüler
Erwachsenenleben
Diskriminierung
Kollegen und Vorgesetzte
Kindheit & Jugend
sexuell
Vater
Helena
Lucie
Die vorangehenden Informationen machen deutlich, dass bei den interviewten gehörlosen Frauen im Durchschnitt von 39,6 Jahren ganz unterschiedliche Gewalterfahrungen vorlagen, die nicht auf ein einfaches Muster zu reduzieren sind. Unterschiedliche Formen von Gewalt wurden sowohl in Kindheit
5.2 Der Einsatz der Schattengebärderin
107
und Jugend als auch im Erwachsenenleben erlebt, nicht selten auch kumulativ. Auch die Reaktionen auf die erfahrene Gewalt unterscheiden sich stark. Bereits bei einer ersten Sichtung der Daten fällt auf, wie häufig gehörlose Mitschüler und Partner als Täter genannt wurden. Neben Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen, die aus Ausbildungszeiten oder Berufstätigkeit berichtet wurden, kamen wiederholt auch psychische Belastungen zur Sprache, die der persönliche Umgang innerhalb der Gehörlosengemeinschaft verursacht. Die nachfolgende Ergebnisdarstellung schlüsselt die berichteten Erfahrungen der interviewten gehörlosen Frauen im Einzelnen auf.
5.2 Der Einsatz der Schattengebärderin Als ein Ergebnis etwas anderer Art soll in diesem Kapitel zunächst der Einsatz der Schattengebärderin beschrieben werden, die eine zentrale Funktion bei der Erhebung der Daten hatte. Die Methode des Schattengebärdens wurde eigens im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung konzipiert, um den gewaltbetroffenen gehörlosen Frauen ein Höchstmaß an Anonymität und Schutz zu gewähren (vgl. auch Abschn. 4.2.2). Mit dieser innovativen Methode wurde abgesichert, dass die Interviewpartnerinnen anonymisiert befragt werden konnten und nicht auf dem Videomaterial zu sehen sind. Dies erhöhte auch das Vertrauen in der Interviewsituation und schützte zugleich Würde und Respekt der gehörlosen Frauen, indem sie durch diese Verfahrensweise davor bewahrt wurden, über persönliche Gewalterlebnisse direkt in eine Kamera zu gebärden und sich damit einer Situation auszusetzen, in der sie zum Betrachtungsobjekt gemacht und ihre Erfahrungen symbolisch bzw. körperlich vereinnahmt werden. Dadurch, dass alles Erzählte und die erlebten Gewaltsituationen durch den eigenen Gesichts- und Körperausdruck und deutlich sichtbare emotionale Regungen zum Ausdruck kamen, hätte der Eindruck einer „Enteignung“ entstehen können, da das Erlebte aufgenommen und „auf Zelluloid gebannt“ wurde. Demgegenüber bot die Aufnahme über eine Schattengebärdung eine größere Möglichkeit der Distanzierung für die Betroffenen, wie sie etwa auch bei Tonbandmitschnitten eher gegeben ist. Von daher ist der methodische Ansatz des Schattengebärdens als ein Teil des Ergebnisses hier zu beschreiben. Der Einsatz der Schattengebärderin beantwortet zwar nicht die Forschungsfragen, aber die Forschungsfragen ließen sich dadurch unbelasteter und zielgenauer beantworten. So wurde parallel zur Gewinnung der Interviewpartnerinnen die gehörlose Schattengebärderin Claudia Mechela rekrutiert und eingearbeitet. Als ausgebildete gehörlose
108
5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
ebärdensprachdolmetscherin brachte sie die gewünschten Gütekriterien mit, die G im Methodenkapitel beschrieben wurden (vgl. Abschnitt 4.2.2).
5.2.1 Die Arbeitsweise der Schattengebärderin Alle zwölf Interviewpartnerinnen wurden im Vorfeld der Interviews sowohl über die Arbeitsweise als auch über die Person der Schattengebärderin informiert. Im Interviewsetting selbst hielt Claudia Mechela gemäß ihrer Rolle als Schattengebärderin Distanz zur interviewten Person. Nachdem ich Begrüßung und Vorstellung übernommen hatte, war es ihre Aufgabe, sich um den Aufbau der Kamera und die Organisation der Aufnahme zu kümmern. Sie kontrollierte auch die Lichtverhältnisse und gab allenfalls Empfehlungen für die Sitzverhältnisse, hielt sich aber diskret im Hintergrund. Wenn die Interviewpartnerin und ich bereit waren, trat sie in Aktion, überprüfte erneut die Kameraeinstellungen und platzierte sich so, dass sie im Ergebnis gut zu sehen war. Nach den Interviews wiederholte sich das Procedere in umgekehrter Weise. Nach einer kurzen Erholungspause außerhalb des Interviewraums, die nach den hochkonzentrierten und oft sehr langen Einsätzen ohne die für Gebärdensprachdolmetscher üblichen Pausen oder eine Übernahme durch Teampartner notwendig war, baute Claudia Mechela die technischen Geräte wieder ab. Währenddessen hatte ich Gelegenheit, mich bei der Interviewpartnerin zu bedanken und uns wieder auf eine alltägliche Small-Talk-Ebene zurückzuholen, bevor wir uns voneinander verabschiedeten. Der Einsatz der Schattengebärderin wurde von allen Interviewpartnerinnen vorbehaltlos akzeptiert. Es bedurfte bis auf eine Ausnahme keiner anfänglichen Gewöhnungsphasen für die Interviewpartnerinnen, denen Claudia Mechela in der Regel direkt gegenübersaß, sodass sie ihre gebärdensprachlichen Äußerungen spiegelbildlich mitverfolgen konnten. Lediglich im Interview mit Inge wird zu Beginn des Interviews eine Unsicherheit sichtbar: Inge wird von der Schattengebärdung leicht abgelenkt, was sich durch ihren verlegenen Blick und ein kleines Lächeln äußert. Auch das wird von der Schattengebärderin widergespiegelt, um die Authentizität der Interviewsituation möglichst genau wiederzugeben (Inge_a, 00:00:38). Als routinierte Übersetzerin und kompetente DGS-Verwenderin war Claudia Mechela durchweg in der Lage, die gebärdensprachlichen Äußerungen der Interviewpartnerinnen vollständig wiederzugeben. Das betraf nicht nur die lexikalischen Inhalte, sondern auch die Nachahmung von Stil und Mimik sowie die Verwendung dialektaler Gebärden, welche die Interviewpartnerinnen je nach regionaler Herkunft benutzten. Die Gebärde FRAU zum Beispiel wird im
5.2 Der Einsatz der Schattengebärderin
109
Berliner Dialekt anders gebärdet als im Hamburger Dialekt und noch einmal anders als im süddeutschen Dialekt. In einer Situation kam es im Zusammenhang mit der Gebärde FRAU zu einer Unsicherheit im Verständnis, als die Schattengebärderin im Interview mit der sehr gut deutschkompetenten Klara die Wendung „ich bin Mädchen für alles“ (Klara, 00:13:50) mit „ich bin Frau für alles“ wiedergibt, weil Klara eine der gängigen Gebärden für Frau benutzt, aber dazu „Mädchen“ artikuliert.1 In den Interviews mit Klara, Inge und Jasmin kann man besonders deutlich sehen, wie gut die Adaption von Stil und Mimik gelingt und mit welchen Herausforderungen die Schattengebärderin in ihrer Arbeit konfrontiert ist: • Die Interviewpartnerin Klara hat eine sehr stark ausgeprägte Mimik, die sie oft am Ende eines Satzes zum Einsatz bringt, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen. So zeigt ihr Gesichtsausdruck ein verzweifeltes Herunterschlucken, wenn sie beschreibt, wie sie ins Krankenhaus eingeliefert wird. An einer anderen Stelle beschreibt Klara Schwierigkeiten mit der deutschen Schriftsprache, indem sie das Tippen eines Textes demonstriert und eine Begleitmimik dazu macht, die als „Hilfe, wie schreib ich das jetzt?“ interpretiert werden kann. Als ein letztes Beispiel, welches auch gebärdensprachlich sehr gekonnt gemacht ist, sei eine Abfoge verschiedener Mimiken genannt: Klara beschreibt hier ihr Verhältnis zur Gehörlosengemeinschaft, welches sie als belastend empfindet. Sie deutet mit Gebärden an, wie sie sich in diese Gemeinschaft hineinbegibt, es eine Weile dort aushält und dann ganz froh ist, wenn sie sich wieder von ihr entfernt. Begleitet wird diese kleine gebärdensprachliche Sequenz von einer abschließenden Mimik der Erleichterung. • Inge ist die älteste Interviewpartnerin und hat noch eine sehr strenge orale Erziehung erfahren (vgl. dazu auch Abschn. 2.1). Ihr gebärdensprachlicher Stil ist teilweise sehr nah am Deutschen, was daran erkennbar ist, dass deutsche Satzstrukturen wie die Verwendung des Konjunktivs oder Steigerungsformen anstelle der in gebärdensprachlichen Äußerungen üblichen begleitenden Mimik und emphatische Ausdrucksweisen der deutschen Sprache weitgehend beibehalten werden. Auf typische gebärdensprachliche grammatische Mittel wie den Einsatz von Rollenübernahmen verzichtet Inge weitgehend. Stärker idiomatische Mittel werden lediglich vereinzelt eingesetzt, wie zum Beispiel
1Eine
ausführliche Reflexion der Arbeit der Schattengebärderin erfolgt in Kapitel 6 („Diskussion“).
110
5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
die Gebärde OHREN-ANLEGEN, um auszudrücken, dass Gehörlose oft bevormundet werden. • Jasmins Gebärdensprachstil kann mit einem der Gebärdensprache entlehnten Ausdruck als „wasserfallartig“ beschrieben werden: Sie gebärdet sehr schnell und vielseitig unter Aufbietung aller gebärdensprachlichen Mittel, wechselt in Sekundenschnelle zwischen verschiedenen Rollen hin und her und bedient sich eines reichhaltigen Gebärdensprachvokabulars. Sehr schön sieht man das beispielsweise in der Reaktion der Interviewpartnerin auf die schlichte Frage: „Wurden Sie aufgeklärt“? Die Interviewpartnerin verneint dies, benutzt dafür neben dem eigentlich an sich schon ausreichenden Kopfschütteln auch eine Reihe verschiedener, zum Teil sich wiederholender Verneinungsgebärden: NULL NEIN1 NEIN2 NEIN1 THEMA NULL-NEIN2 NEIN3.2 Die rasche Folge der verschiedenen Verneinungsgebärden wird authentisch von der Schattengebärderin kopiert. Eine weitere Herausforderung in diesem Interview ist für die Schattengebärderin auch die detailgetreue Wiedergabe verschiedener Rollenübernahmen. Beispielhaft sei hier auf eine Passage im Interview verwiesen, in der Jasmin das Kommunikationsverhalten des Schwiegervaters beschreibt. Um die Bildhaftigkeit ihrer Äußerungen auch in der Übersetzung zu demonstrieren, habe ich mich um eine möglichst nah am Ausgangstext bleibende Übersetzung bemüht. Die folgende kleine Passage soll dies demonstrieren, auch wenn die deutsche Übersetzung nur einen Teil der hier zum Ausdruck kommenden Kommunikationsschwierigkeiten, die mit Gefühlen der Empörung, Ungeduld und Wut einhergehen, wiedergeben kann: „Er versucht dann so Buchstaben an seinem Mund zu machen, indem er seine Zähne für ein F anfasst oder für ein N an der Nase rumfummelt oder andere Buchstaben am Mund zu zeigen versucht. Das geht aber alles an mir vorbei und ich verstehe ihn überhaupt nicht.“ Die verlässliche Arbeit der Schattengebärderin zeigt sich auch an Stellen, an denen sie eine kleine Pause macht, um einen Schluck Wasser zu trinken. Um den sensiblen Dialog zwischen der Interviewpartnerin und mir nicht zu unterbrechen, memoriert sie das Gesagte und gibt es, nachdem sie einen Schluck getrunken hat, mit einer kleinen Verzögerung, aber ohne inhaltliche Verluste wieder. Sie greift nur dann ein, wenn Verständnisprobleme bestehen oder sie selbst den Faden verloren hat. Solche eher seltenen Fälle seien an einigen Beispielen demonstriert:
2Die
Glossierung der Verneinungsgebärden erfolgt hier nach Heßmann (2001).
5.2 Der Einsatz der Schattengebärderin
111
• Elin: An einer Stelle bittet die Schattengebärderin um eine Wiederholung, weil sowohl die Interviewpartnerin als auch ich gleichzeitig angefangen haben zu gebärden, und sie nicht weiß, mit welcher der beiden Aussagen sie anfangen soll. • Helena: Hier kommt es zu einer etwas längeren, ca. 45 Sekunden dauernden Unterbrechung der Schattengebärdung. Die Interviewpartnerin ist an dieser Stelle sehr aufgewühlt und möchte sagen, dass sie bereits Gewalt erfahren hat, als sie noch im Bauch ihrer Mutter war. Ihr leiblicher Vater hatte die Mutter während der Schwangerschaft körperlich misshandelt. Helena drückt sich aber undeutlich aus und es ist nicht ganz klar, wer schwanger ist und wer misshandelt wird, da sie das Ganze aus ihrer eigenen Perspektive als Fötus im Bauch der Mutter zu erzählen versucht. Die Schattengebärderin ist zunächst – genauso wie ich als Interviewpartnerin – bemüht, zu verstehen und zu einer kohärenten Deutung zu gelangen, muss dann aber nach ca. 30 Sekunden, als sie merkt, dass sie kurz davor ist, den Faden zu verlieren, unterbrechen. Sie greift in das Interview ein, stoppt das Interview und fragt konkret nach: „Das mit der Schwangerschaft verstehe ich jetzt gerade nicht. Als Ihre Mutter schwanger war, hat sie Gewalt durch Ihren Vater erlebt?“ • Fee: Hier nutzt die Schattengebärderin eine natürliche Unterbrechung durch die Interviewpartnerin, um kurz eine Verständnisfrage mit mir zu klären. Vorangegangen war eine Erzählsequenz, in der die Interviewpartnerin den deutschsprachigen Ausdruck „jemandem den Rücken freihalten“ etwas unbeholfen in DGS wiedergibt. Es geht um Paarbeziehungen, in denen man sich gegenseitig hilft und unterstützt und sich gegenseitig den Rücken freihält, um gelegentlich etwas anderes machen zu können, als sich um Haushalt und Kinder zu kümmern. Die Wendung ist der Schattengebärderin nicht geläufig. Sie gibt sie jedoch wieder und lässt nur durch ihre Mimik erkennen, dass sie nicht versteht, was sie hier wiedergibt. In der etwa zweiminütigen Interviewpause, in der die Interviewpartnerin den Raum verlässt, erkläre ich der Schattengebärderin kurz die Bedeutung des deutschen Ausdrucks. Weitere Verständnisschwierigkeiten waren eher belanglos und klärten sich nach einem kurzen Abwarten und dem Erschließen des weiteren Kontextes von selbst. Sie betreffen typische Probleme, die im Dolmetschprozess generell zu beobachten sind, wie die akkurate Wiedergabe von Namen, Begriffen oder Zahlen (vgl. Hillert & Leven 2012: 439). Beispielhaft sei hier auf „Star Wars“, „Erding“, und „Weißer Ring“ verwiesen. Hier erschließt sich das Verständnis jeweils durch eine kurze Nachfrage der Schattengebärderin. In einem anderen Fall wird statt der Uhrzeit das Alter der Zahl beigegeben. Die Schattengebärderin gibt wieder
112
5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
„Früher, bis ich 15, 16 Jahre alt war, hatte ich einen langen Schultag“. Später, beim Übersetzen dieser Stelle war es klar, dass es „Früher hatte ich einen langen Schultag, bis 15, 16 Uhr“ hätte heißen müssen. Eine weitere Strategie bei Verständnisschwierigkeiten ist es, einfach das Gesagte so wiederzugeben, wie es verstanden wurde. Das sieht man besonders gut an folgenden Beispielen, die beide aus dem Interview von Inge entnommen sind, deren Gebärdensprache aufgrund ihrer bereits weiter oben beschriebenen Nähe zur deutschen Sprache für die Schattengebärderin nicht ganz einfach zu verstehen war: • Inge: Die Interviewpartnerin sagt an einer Stelle, dass sie sich früher stark für Esoterik interessiert habe. Für den Begriff Esoterik gibt es keine spezielle Gebärde, da es sich um einen in der DGS ungebräuchlichen Begriff handelt. Die Schattengebärderin gibt den Begriff so wieder, wie Inge ihn gebärdet hat. Man sieht das Mundbild „eso“ statt „Esoterik“ und die begleitende Gebärde, die eigentlich für BUDDHISMUS benutzt wird, eine meditierende Haltung der Hände. • Inge: Hier erzählt die gleiche Interviewpartnerin, die eine konfessionelle Schule besucht hat, von der „Oberin“. Sie benutzt aber eine sehr merkwürdige Gebärde dazu, die wie ein Schlag auf den Mund aussieht und nicht etwa, wie in diesem Fall eher üblich wäre, mit einer Gebärde, die auf die herausgehobene Position einer Führungsperson (bspw. mit hochgehobenem Daumen) hindeutet oder den Schleier von Ordensschwestern andeutet. Die Schattengebärderin ist durch die Form der merkwürdigen Gebärde, die sie detailgetreu nachahmt, offensichtlich irritiert, benutzt aber dazu das Mundbild „Oberin“, sodass die Irritation nur auf ihrer Seite bestehen bleibt und im Nachgespräch über das Interview aufgeklärt werden kann.
5.2.2 Zwischenfazit zum Schattengebärden Die hier beschriebenen Auffälligkeiten und Schwierigkeiten weisen darauf hin, dass die Aufgabe des Schattengebärdens die betreffende Schattengebärderin vor Herausforderungen stellt, die nur mit Kenntnis professioneller Strategien und fachlichen Kompetenzen zu bewältigen sind. Die in Abschnitt 4.2.2 genannten Gütekriterien für eine Schattengebärdung haben sich während des Einsatzes als notwendige Voraussetzung erwiesen. Schattengebärden ist mehr als nur bloßes Nachgebärden und erfordert eine hohe Konzentration, eine breite Flexibilität in der Anwendung der DGS und eine gute Kenntnis auch der deutschen Sprache.
5.3 Gewaltsituationen im Leben gehörloser Frauen
113
Die Schattengebärderin muss aufgrund des Gewaltthemas in der Lage sein, professionelle Distanz zur Interviewsituation, zu den interviewten Frauen und zu den Inhalten der Gespräche zu wahren und die mitgeteilten Inhalte strikt vertraulich behandeln. Inwieweit sich die genannten Gütekriterien auch über den eigentlichen Einsatz hinaus bewährt haben, wird in Abschnitt 6.1.3 zu reflektieren sein.
5.3 Gewaltsituationen im Leben gehörloser Frauen In der ersten thematischen Hauptkategorie sind alle Aussagen der Interviewpartnerinnen erfasst, die Auskunft geben über die erlebte Gewalt.3 Die zwölf gehörlosen Interviewpartnerinnen haben in unterschiedlichen Lebensphasen Gewalt erfahren. Oft wird von mehrfachen und kumulativen Gewalterfahrungen berichtet. Gewalterfahrungen, die in Kindheit und Jugend gemacht wurden, unterscheiden sich in Bezug auf Gewaltkontexte und Täterprofil von den Gewaltsituationen im Erwachsenenleben. Um die Gesamtheit der Gewaltsituationen im Einzelnen zu verstehen und die besonderen Gefährdungskontexte herauszuarbeiten, wurden folgende Subkategorien gebildet: (1) Gewaltsituationen in Kindheit und Jugend (2) Gewaltsituationen im Erwachsenenleben (3) Diskriminierung in der Ausbildung und am Arbeitsplatz (4) Ausmaß der Gewalterfahrung
5.3.1 Gewaltsituationen in Kindheit und Jugend In dieser Kategorie wird nur auf die Interviewpartnerinnen Bezug genommen, die Gewalt in Kindheit und Jugend erlebt haben. In zehn der zwölf Interviews wird in dieser Lebensphase erlebte Gewalt thematisiert. Tabelle 5.2 gibt einen ersten Überblick:
3Um
die „erlebte Gewalt“ zu beschreiben, benutze ich im Folgenden die Begriffe „Gewaltsituationen“ bzw. „Gewaltsituation“, wenn klar auf einen singulären Vorfall Bezug genommen wird. Aus Gewaltsituationen schließlich resultiert die „Gewalterfahrung“.
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5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
Tab. 5.2 Überblick über Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend Name
Erlebte Gewalt
Andrea
körperlicher und sexueller Bruder Missbrauch
sexuelle Belästigung (Tochter als Aktmodell benutzt) Beate
Täterprofil
Vater
sexueller Missbrauch und Stiefvater Vergewaltigung
Reaktionen von Bezugspersonen Eltern vernachlässigen die Kinder, kümmern sich nur wenig, bekommen nichts mit. Mutter findet, die Tochter soll dem Vater den Gefallen tun. Mutter schaut weg, unzureichende Kommunikationsbasis im Elternhaus.
sexuelle Belästigung mit versuchtem körperlichen Kontakt
Mitschüler
B. vertraut sich einem Lehrer an, der sie als „Petze“ beschimpft und ihr nicht glaubt.
sexuelle Übergriffe
Geschwister
Eltern erfahren nichts; fehlende Kommunikationsbasis.
sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung
Mitschüler
Erzieher glauben nicht ihr, sondern dem Täter, der besser spricht als sie und alles abstreitet.
Dora
Vergewaltigung, nachfolgend Stalking durch Täter
Jugendliche auf Gehörlosenveranstaltung
D. erzählt nichts aus Scham und wegen unzureichender Kommunikation.
Elin
–
Fee
–
Gisela
sexuelle Belästigung; zum Vorzeigen von Geschlechtsteilen gezwungen; eine Vergewaltigung erlebt
Mehrere Mitschüler im Internat
G. versucht, sich ihrer Mutter mitzuteilen, wird aber von der Mutter nicht verstanden.
Helena
psychische Gewalt; jahre- Mitschüler in der Schule H. teilt sich niemandem langes Mobbing mit.
Christa
(Fortsetzung)
5.3 Gewaltsituationen im Leben gehörloser Frauen
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Tab. 5.2 (Fortsetzung) Name
Erlebte Gewalt
Inge
Mitschülerin psychische Gewalt; Unterwerfung und Hörigsein bis hin zur Aufgabe der eigenen Persönlichkeit; später auch sexuelle Gewalt
I. teilt sich nicht mit; hat das Gefühl, Erfahrung nicht in Worte fassen zu können.
Jasmin
sexueller Missbrauch; Vergewaltigung
Betreuer
J. teilt sich nicht mit, aber Eltern wissen davon, da auch das behinderte Geschwisterkind sexuell missbraucht wurde. Eltern erstatten Anzeige, verschweigen den Vorgang aber, bis es J. mit 20 Jahren selbst herausfindet.
sexuelle Belästigung in der Sauna
Lehrer
Schulleiterin hilft. Es kommt zu einem Disziplinarverfahren gegen den Lehrer.
Klara
Lucie
Täterprofil
Reaktionen von Bezugspersonen
Mitschüler sexueller Missbrauch; Zwang zum Ausziehen, zum Berühren von Geschlechtsteilen und zur sexuellen Befriedigung
Vom Lehrer in einer Missbrauchssituation entdeckt. Doch niemand spricht mit ihr darüber, auch die Eltern nicht.
Vergewaltigung
Mitschüler
Teilt sich nicht mit. Gibt Kindheitserfahrung, dass niemand darüber spricht, als Grund an.
jahrelanger täglich wiederholter sexueller Missbrauch und Vergewaltigung
Vater
Mutter, der L. sich offenbart, behauptet noch heute, dass die Tochter lügt. Geschwister bekommen es mit, aber schweigen.
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5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
Bei den Gewalterfahrungen, die zehn Interviewpartnerinnen in Kindheit und Jugend erlebt haben, fällt vor allem auf, dass bis auf eine Ausnahme alle Interviewpartnerinnen mehrfach und von unterschiedlichen Formen sexualisierter Gewalt betroffen waren. Für drei der Frauen begann der sexuelle Missbrauch schon im frühesten (ab dem Alter von einem Jahr) oder frühen Kindesalter (im Alter von sieben Jahren). Die übrigen sieben betroffenen Frauen erlebten sexualisierte Gewalt erst im Teenageralter. Gisela berichtet, wie sie in einer Gewaltsituation versucht, den Tätern klarzumachen, wie jung sie noch ist: „Ich habe dann zwar schon gesagt, dass ich das nicht möchte, sondern erst später, wenn ich 14 oder 15 Jahre alt bin. Ich habe gesagt, dass mir das zu früh ist jetzt. Aber die Jungen haben das nicht kapiert“. Fünf der zehn in Kindheit und Jugend bereits von Gewalt betroffenen gehörlosen Frauen erlebten mehr als eine Gewaltsituation.
5.3.1.1 Gehörlose und andere hörbehinderte Kinder und Jugendliche als Täter Bei den gehörlosen Interviewpartnerinnen fällt zunächst die hohe Anzahl von gehörlosen Mitschülern und Internatsmitbewohnern als Täter auf. Sieben der zehn in Kindheit und Jugend gewaltbetroffenen gehörlosen Frauen berichten von sexualisierten Übergriffen durch Angehörige der eigenen Peergroup, die meistens in den Gehörlosenschulen oder Internaten stattfanden. Dabei variieren die erlebten sexualisierten Gewaltformen. Es lassen sich drei Formen sexuellen Missbrauchs durch gehörlose Mitschüler unterscheiden, über die in den Interviews berichtet wird (Tab. 5.3):
Tab. 5.3 Formen sexuellen Missbrauchs durch gehörlose Mitschüler sexueller Missbrauch ohne körperlichen Kontakt
Beim Duschen beobachtet werden. Dazu gezwungen werden, sich auszuziehen, weil man die nackten Geschlechtsteile sehen wollte (Christa, 00:35:59; Gisela, 00:36:59).
sexueller Missbrauch mit körperlichem Kontakt
An allen möglichen Körperstellen angefasst werden. Dazu gezwungen werden, den Täter sexuell zu befriedigen.
sexueller Missbrauch mit oralem, analem oder genitalem Eindringen
Zum Geschlechtsverkehr gezwungen werden.
5.3 Gewaltsituationen im Leben gehörloser Frauen
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In den meisten Fällen wehrten sich die Frauen nicht. Die Situation wurde eher als „normal“ empfunden. Nur in einem Fall wird von einer ausgeübten Gegenwehr passiver Art berichtet: „Er machte seine Hose auf und zeigte mir seinen Penis. Dann forderte er mich auf, mich ebenfalls auszuziehen und ihm zu zeigen, was ich habe. Ich weigerte mich und sagte ihm, dass ich solange warten würde, bis er aufhört damit, egal wie lange es dauern würde. Er gab es dann auf und haute ab“. Dass so selten Gegenwehr ausgeübt wurde und insgesamt die Tendenz zur Normalisierung vorherrscht, steht vermutlich im Zusammenhang damit, dass innerhalb der kleinen Peergroup, in der gehörlose Kinder und Jugendliche aufwachsen, ein Druck mitzumachen empfunden wurde: „Ich musste da mitmachen, sonst hätten mich die anderen Mädchen kritisiert und ich wäre die einzige gewesen, die nicht mitgemacht hätte“. Auf das Motiv der nur unwesentlich älteren Täter angesprochen, können die meisten Interviewpartnerinnen keine Antwort geben. Allein Gisela weist auf pubertäre Neugier als ein mögliches Motiv hin: „Sie wollten unsere Brüste sehen und wissen, wie sie aussehen. Sie wollten auch sehen, wie unsere Pflaumen aussehen“. Der hier angesprochenen Neugier der jugendlichen Täter mag ein Informations- und Wissensdefizit zugrundegelegen haben, dem durch unmittelbare Anschauung abgeholfen werden sollte. Nahezu alle von Gewalt in Einrichtungen und in der Schule betroffenen Frauen sind sich im Rückblick der Tatsache bewusst geworden, dass das Entstehen dieser Situation wesentlich damit zusammenhängt, dass Lehrer und Internatserzieher ihrer Aufsichtspflicht nur unzureichend nachkamen, wie das folgende Zitat stellvertretend verdeutlicht: „Ich musste ja da lang, die Türen standen auf und da fingen die mich ab und schleppten mich auf die Toilette weiter hinten. Und die Lehrer haben ja die Toiletten niemals kontrolliert“. Oft haben Erzieher und Lehrer auch schlichtweg „nix gemerkt“. oder sie „kriegten davon nichts mit“. Kommunikationsbarrieren zwischen dem gebärdensprachunkundigen pädagogischen Personal und den gehörlosen Kindern und Jugendlichen dürften diese Situation begünstigt haben. Dass häufig vorkommende Gewaltsituationen unter gehörlosen Kindern und Jugendlichen unbemerkt blieben, verwundert in Hinblick darauf, dass als Tatkontexte häufig Räume genannt werden, die gerade auch für das pädagogische Personal zugänglich sind, wie Fernsehraum, Klassenraum oder Internatszimmer. Offenbar boten auch Duschen und Toiletten den Mädchen keine ausreichende Privatsphäre und keinen Schutz vor ungewollten Beobachtern und Übergriffen: „Sie schauten uns beim Duschen zu, wir konnten nicht abschließen“. Ein Fall fällt aus der Reihe: Helena ist die einzige der von Gewalt in Kindheit und Jugend betroffenen gehörlosen Interviewpartnerinnen, die nicht von
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5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
sexualisierter Gewalt betroffen war, sondern von Spott und Mobbingerfahrungen. Ein leicht entstellter Körper ließ sie die ganze Schulzeit hindurch zu einer Außenseiterin werden. Wenn sie sagt, „nein, ich hatte gar keine Freunde in der Gehörlosenschule“, bedeutet dies auch, dass es ihr verwehrt war, ihrer eigenen Peergroup anzugehören. Tatsächlich blieb sie die ganze Schulzeit hindurch „Außenseiterin“ in ihrer Klasse und hat es, wie im weiteren Interviewverlauf deutlich wird, auch im Erwachsenenleben nicht leicht, Anschluss an die Gehörlosengemeinschaft zu finden.
5.3.1.2 Hörende als Täter Vier der in Kindheit und Jugend von Gewalt betroffenen Interviewpartnerinnen nennen hörende Personen als Täter. Es handelt sich hierbei ausschließlich um Personen, die den gehörlosen Mädchen in besonderer Weise nahestanden bzw. in einem Fall mit der Betreuung des Kindes professionell betraut waren. Alle diese Personen haben sexuellen Missbrauch ausgeübt. Drei der betroffenen vier Frauen sind sich einig, dass die Täter sich vor allem durch die Behinderung geschützt fühlten. Christa, die durch ihre älteren Geschwister zu Hause sexualisierte Gewalt erlebte, schätzt rückblickend ein, dass ihre Geschwister „davon ausgegangen sind, dass ich gar nichts verraten würde, weil ich taub bin“. Auch Jasmin weist auf die eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten hin, die sie als Kind hatte, und in ähnlicher Weise blickt auch Beate auf die erlebte Situation zurück: „Ich glaube heute, dass mein Stiefvater es tat, weil ich ein behindertes Kind war. Das glaube ich, weil ich ja nicht aussprechen konnte, was er mit mir machte, und geschwiegen habe“. In diesen Mitteilungen wird deutlich, dass die hörenden Täter sich die eingeschränkte Mitteilungsfähigkeit des gehörlosen Kindes in besonderer Weise zunutze machten. Sie gingen davon aus, dass die Tat im Wortsinn „nicht ausgesprochen“ werden konnte und nutzten somit die Behinderung des Kindes für ihre Zwecke aus. In den drei beschriebenen Fällen fehlte eine gebärdensprachkundige Vertrauensperson in der Familie, aber auch in der hörbehindertenspezifischen Einrichtung. Die Interviewpartnerinnen hatten nicht nur keine Möglichkeit, über das Erlebte zu sprechen, weil sie der gesprochenen Sprache nicht mächtig waren, sie hatten darüber hinaus auch keine Vertrauensperson, der sie sich hätten anvertrauen können. In einem Fall wird von einer speziellen Täter-Opfer-Konstellation berichtet, die auf ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis hinweist. Andrea erlebte jahrelange körperliche Gewalt durch ihren Bruder und schließlich auch sexuellen Missbrauch. Zu diesem Bruder bestand ein ganz besonderes Abhängigkeitsverhältnis,
5.3 Gewaltsituationen im Leben gehörloser Frauen
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denn der Bruder war der einzige in der Familie, der die Gebärdensprache erlernte: „Als mein Bruder zu gebärden anfing und immer besser wurde, hing ich mich an ihn und wir wuchsen ganz eng verbunden zusammen auf“. So entstand zwischen den Geschwistern ein intensives Vertrauensverhältnis, dessen Charakter sich veränderte, als die gehörlose Schwester in die Pubertät kam und sich zu einer Frau entwickelte: Der Bruder wurde zum Täter. Er nutzte die kommunikative und emotionale Abhängigkeit der jüngeren Schwester für die eigene körperliche und sexuelle Befriedigung aus: „Er hat toll gebärdet, aber im Inneren, in seiner Seele war alles schwarz“. Dass die Eltern in dieser Situation nicht eingreifen bzw. zu Ansprechpartnern für die Tochter werden, ist durch die Kommunikationssituation bedingt: Der Bruder ist im Gespräch mit den Eltern Dolmetscher, ohne seine Hilfe ist keine gelingende Kommunikation mit den Eltern möglich.
5.3.1.3 Gehörlose Erwachsene als Täter In nur einem Fall wird von einem gehörlosen Erwachsenen als Täter sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend berichtet. Die Interviewpartnerin wurde von ihrem ersten Lebensjahr an von ihrem Vater sexuell missbraucht, während ihre Mutter sich heraushielt und wegschaute: „Meine Mutter hielt sich aus allem heraus, war sehr oft weg, zog sich zurück, um abzuwaschen, während ich regelmäßig dann von meinem Vater angegangen wurde“. Sie trug schon früh die Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister, da die Eltern „keine Erziehungsaufgaben“ übernahmen und insbesondere die Mutter die Kinder stark vernachlässigte. Die Sorge, dass die Geschwister auch zu Opfern des Vaters werden könnten, nennt die Interviewpartnerin als Motiv für ihr langes Aushalten und Schweigen über die fast täglich erlebten sexuellen Übergriffe: „Ich habe die ganze Zeit geglaubt, dass ich die einzige von uns Brüdern und Schwestern war, die vom Vater sexuell missbraucht wurde. Dass ich mich für sie opfern würde, damit er sie in Ruhe lässt. Das habe ich wirklich geglaubt. Umso erstaunter war ich zu erfahren, dass es auch meiner Schwester passiert ist.“ Erst lange, nachdem sie ausgezogen war, suchte sie das Gespräch mit ihren gehörlosen Geschwistern und gemeinsam gelang es ihnen, eine Strafanzeige gegen den Vater zu stellen.
5.3.2 Gewaltsituationen im Erwachsenenleben Unter diese Kategorie fallen alle Gewaltsituationen, die die gehörlosen Frauen im Erwachsenenleben erlebt haben. Davon berichten acht der zwölf
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5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
Interviewpartnerinnen. In den meisten Fällen, bei sechs der acht Interviewpartnerinnen, handelt es sich um Partnergewalt. In den beiden anderen Fällen handelt es sich um eine Fortführung der bereits in Kindheit und Jugend erlebten Gewaltsituationen durch denselben Täter. Diese werden im Folgenden zuerst betrachtet, in einem zweiten Teil geht es um die erlebte Partnergewalt (Tab. 5.4). Tab. 5.4 Überblick über Gewalterfahrung im Erwachsenenleben Name
Erlebte Gewalt
Täterprofil
Beate
Fortgesetzter sexueller Missbrauch und Vergewaltigung
Stiefvater
Christa
Partnergewalt
Verschiedene Partner
Dora
Partnergewalt
Verschiedene Partner
Elin
Partnergewalt
Ehemann
Fee
Partnergewalt
Ehemann
Gisela
Partnergewalt
Ehemann
Helena
Partnergewalt
Verschiedene Partner
Inge
Fortgesetzte körperliche und sexuelle Übergriffe, Zwang zum Gruppensex
Mitschülerin und andere
5.3.2.1 Fortführung der in Kindheit und Jugend erlebten Gewaltsituationen Die Täter-Opfer-Konstellation ist in den beiden hier zu beschreibenden Fällen sehr unterschiedlich. Beate wurde bis weit in das Erwachsenenalter hinein von ihrem Stiefvater missbraucht und fand erst mit ihrem Auszug aus der elterlichen Wohnung aus der Gewaltsituation heraus. Ihre Mutter, mit der Beate nie über die Übergriffe des Stiefvaters gesprochen hatte, sträubte sich lange gegen den Auszug der Tochter. Die Interviewpartnerin gibt an, dass die Mutter von den sexuellen Übergriffen des Ehemanns gewusst und trotzdem versucht habe, die Tochter daran zu hindern, aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen: „Mutter sagte nein und bat mich, bei ihr wohnen zu bleiben. Ich konnte mich nicht dagegen wehren“. Beate berichtet von großen Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche,
5.3 Gewaltsituationen im Leben gehörloser Frauen
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da ihre Mutter sich weigerte, auf Annoncen hin anzurufen. Vermutlich nutzte die Mutter die Abhängigkeit der Tochter jahrelang aus, um an der bestehenden Familienkonstellation festzuhalten. Tatsächlich kam es kurz nach dem Auszug der Tochter zur Trennung der Eltern. Im zweiten Fall wird die Gewaltsituation durch eine Mitschülerin bis in das Erwachsenenleben hinein fortgeführt. Inge berichtet, wie sie seit dem Alter von sechs Jahren einer gehörlosen Mitschülerin ausgeliefert war und von ihr zunehmend Gewalt in Form von Erpressung, später auch in Form von körperlicher und sexualisierter Gewalt erfuhr. Im Erwachsenenalter bestand diese von Inge als „Abhängigkeitsverhältnis“ beschriebene Situation fort und wurde dadurch verschärft, dass nun auch der gehörlose Partner der Täterin miteinbezogen war: „Als ich entlassen wurde und gearbeitet habe, hat meine Freundin einen Mann geheiratet. Die haben auch in Kleinstadt4 gewohnt. Die sind dann in meine Wohnung eingedrungen, um mit mir zu schlafen“. Als es Inge viele Jahre später gelang, aus dieser erzwungenen Dreiecksbeziehung auszubrechen, musste sie feststellen, dass sie dafür in der Gehörlosengemeinschaft nachhaltig gebrandmarkt war. Überall, wo sie hinkam, war ihr Fall bekannt. Sie hatte es fortan schwer, Kontakte zu anderen Gehörlosen aufzubauen oder Freundschaften zu schließen. Die Begrenztheit und Enge der Gehörlosengemeinschaft erlebte Inge als psychische Folgegewalt, was auch dazu führte, dass sie sich verstärkt isoliert fühlte und den Kontakt zu anderen Gehörlosen weitgehend mied.
5.3.2.2 Gewalt in Paarbeziehungen Die übrigen sechs Interviewpartnerinnen berichten von körperlichen, sexuellen und psychischen Übergriffen durch einen Partner. Tabelle 5.5 gibt eine genauere Übersicht:
4Anonymisiert.
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5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
Tab. 5.5 Überblick über erfahrene Übergriffe durch einen Partner Name
Gewalt in Paarbeziehungen
Reaktion
Christa
körperliche und sexuelle Gewalt durch Trennung vom Partner und Neubeginn verschiedene gehörlose Partner in einer anderen Stadt Strafanzeige und laufendes Verfahren zum Zeitpunkt des Interviews
Dora
schwere körperliche Gewalt über viele Trennung vom Partner nach vielen Jahre hinweg, zunächst mit Gegenwehr, Jahren ertragener Gewalt die aber angesichts einer Eskalation von Wegzug und Neubeginn Gewaltsituationen aufgegeben wurde
Elin
psychische, körperliche und sexuelle Gewalt
Fee
schwere körperliche Gewalt; Kranken- endgültige Trennung vom Partner erst hausbehandlung nach lebensbedrohlicher körperlicher Verletzung Wegzug; Frauenhaus als erster Zufluchtsort Strafanzeige und abgeschlossenes Verfahren
Gisela
psychische, körperliche und sexuelle Gewalt über viele Jahre hinweg
Flucht ins Frauenhaus nach jahrelangem Erdulden häuslicher Gewalt in allen Ausformungen Neubeginn in einer anderen Stadt
Helena
tägliche Bedrohungen und körperliche Übergriffe, in der Folge fortgesetzte psychische und körperliche Gewalt auch durch weitere Partner
Anzeige bei der Polizei, die zum Kontaktverbot und Platzverweis des gewalttätigen Partners führte
nach vielen Jahren des Aushaltens von Gewalt Versuch einer gemeinsamen Therapie Trennung vom gewalttätigen Partner ist gewünscht, aber noch nicht vollzogen
5.3.2.3 Gewalt durch einen gehörlosen Partner Alle sechs von Partnergewalt betroffenen gehörlosen Frauen haben Gewalt durch gehörlose Partner erfahren. Fünf Interviewpartnerinnen nannten körperliche, eine Interviewpartnerin nannte vorwiegend sexuelle Gewalt, wobei es Überschneidungen gab und sexuelle Gewalt häufig in Kombination mit körperlicher Gewalt auftrat. Fünf der sechs von Partnergewalt betroffenen Frauen haben Kinder mit dem gewalttätigen Partner bekommen. In einem Fall führte die bereits
5.3 Gewaltsituationen im Leben gehörloser Frauen
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während der Schwangerschaft erlebte körperliche Gewalt zu einer dramatischen Geburt, bei der das Kind gesundheitliche Schäden davontrug: „Es hieß, dass entweder mein Kind oder ich sterben würde, weil ich bis zu diesem Tag – ich war im 8. Monat schwanger – Gewalt ausgesetzt war“. Alle sechs von Partnergewalt betroffenen Frauen berichten von der Dominanz des Partners, die zunächst als Vorstufe der eigentlichen körperlichen und sexuellen Gewalt, später auch parallel dazu, erlebt wird: „In meiner Ehe waren die Machtverhältnisse ganz klar definiert. Wir waren nicht gleichberechtigt, sondern mein Mann war mir deutlich überlegen“. Die betroffenen Frauen nennen unterschiedliche Gründe für das Entstehen und die Entwicklung der Partnergewalt. Helena berichtet, dass sie von ihrem späteren Partner zur Eheschließung gezwungen wurde; er hatte ihr bereits vor der Hochzeit ständig gedroht und sie hatte Angst vor ihm. Eine weitere Interviewpartnerin nennt depressive Verstimmungen des Ehemanns, die einen zunehmenden Alkoholkonsum zur Folge hatten, als Auslöser der sich steigernden gewalttätigen Übergriffe. In einem anderen Fall führt die zunehmende „Sexgeilheit“ des Partners zu sexuellen Übergriffen. Zwei Interviewpartnerinnen schließlich beschreiben, wie zunehmende, von ihnen selbst angestoßene Streitigkeiten dazu führten, dass sie von ihren Partnern geschlagen wurden: „Immer wenn ich etwas meckerte oder ihn irgendwie sonst provozierte, naja, wie es so typisch ist für uns Frauen. Er wurde dann sehr aggressiv und schlug mich dann. Ich hatte dann an beiden Armen blaue Flecken“. Kontroll- und Dominanzverhalten wird auch von Seiten eines weiblichen Partners erfahren. Eine Interviewpartnerin, die in einer bestimmten Lebensphase bisexuell orientiert war, berichtet davon, dass ihr von ihrer gehörlosen Partnerin verboten wurde, sich mit einem Mann zu unterhalten: „Ich durfte mich mit keinem Mann unterhalten. Wenn sie mich mit einem Mann quatschen sah, gab sie mir gleich eine schallende Ohrfeige“. Zwischen den Gewaltausbrüchen erlebten die Interviewpartnerinnen auch Phasen der Ruhe, in denen sie glaubten, alles sei wieder in Ordnung: „Ein Jahr lang war Pause und dann fing es wieder an damit. Er schubste mich, stieß mich weg“. Die Partner zeigten zuweilen Reue, entschuldigten sich und baten um einen Neubeginn. In einem Fall erwies sich eine Familientherapie zunächst als hilfreich, doch die Interviewpartnerin gab an, dass ihr nach wie vor das Vertrauen in den Partner fehle. In einem weiteren Fall kam es erst während der Trennungsphase zu einem körperlichen Übergriff, der zum sofortigen Wegzug der betroffenen Frau in eine andere Stadt führte, wo sie bis heute unter einer anonymen Adresse lebt.
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5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
Alle Interviewpartnerinnen, die von Gewalt in Paarbeziehungen betroffen waren, berichten, wie schwer es ihnen gefallen ist, aus dieser Situation herauszukommen. Sie litten unter einer verstärkten Isolation, weil es innerhalb der umgebenden Gehörlosengemeinschaft, aber auch in der eigenen Familie kaum jemanden gab, dem sie sich hätten anvertrauen können, und sie sich deswegen immer mehr zurückzogen. Das folgende Beispiel von Gisela beschreibt die Einsamkeit, die diese gehörlosen Frauen empfunden haben – abgeschnitten von Kontakten zu anderen Gehörlosen und somit alternativlos angewiesen auf die oft mühsame Kommunikation mit hörenden Nachbarn oder Familienmitgliedern: „Ich durfte nur mit der hörenden Familie Kontakt haben. Es war mir [durch den gehörlosen Partner; S.F.] strengstens untersagt, mit Gehörlosen Kontakt zu haben“. Die erlebte Kommunikationslosigkeit, die Unmöglichkeit, sich jemandem mitzuteilen, führte zu einer verstärkten Abhängigkeit gegenüber dem gewalttätigen Partner und erschwerte den Weg aus der Gewalt gravierend. Die betroffenen Frauen erzählen, dass sie sich wie gelähmt fühlten in dieser Situation, hilflos und handlungsunfähig: „Ich war oft traurig und innerlich zerrissen und weinte sehr oft. Ich war oft auf dem Balkon. Die Landschaft war sehr schön und wirkte auf mich ein, aber ich weinte und trauerte viel. Warum, wusste ich nicht. Ich hatte keine Hilfe“. Zwei der von Partnergewalt betroffenen Interviewpartnerinnen erlebten durch mehr als nur einen Partner Gewalt. In einem Fall wird von einer seit 14 Jahren erlebten Folge von gewalttätigen Partnerbeziehungen, ausnahmslos mit gehörlosen und schwerhörigen Partnern, berichtet: „Insgesamt hatte ich mit einigen Männern Pech, jetzt bin ich mit einem neuen Mann zusammen und hoffe, dass es gutgeht“.5 Bis auf eine Interviewpartnerin haben sich alle gehörlose Frauen von ihrem gewalttätigen Partner getrennt. In diesem einen Fall wurde während des Interviews die Möglichkeit einer Trennung erwogen und dann wieder verworfen: „Ich weiß, und ich will mich ja auch trennen, aber ob das richtig ist oder falsch?“. Am Schluss des Interviews stellte die Interviewpartnerin für sich fest: „Ich will mich trennen, das habe ich auch heute nochmal gemerkt“.
5Durch
eine vertrauliche Mitteilung nach dem Interview erfuhr ich, dass die Interviewpartnerin inzwischen von ihrem neuen Partner schwanger war. Die Zukunft der Beziehung war zu diesem Zeitpunkt offen.
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5.3.3 Diskriminierung in der Ausbildung und am Arbeitsplatz Der Begriff „Gewalt“ wird im Zusammenhang mit den in der Ausbildung und am Arbeitsplatz erlebten problematischen Situationen von den interviewten Frauen nicht gebraucht: „Hier erlebe ich Diskriminierungen, aber das hat ja nichts mit dem Gewaltthema zu tun“. Ähnlich will auch Beate Diskriminierungserlebnisse am Arbeitsplatz nicht als Gewaltform verstanden wissen, obwohl sie fortlaufend davon betroffen ist und erheblich darunter leidet. Gewalterfahrungen am Arbeitsplatz sehen die gehörlosen Frauen als eine Form der Benachteiligung im Alltag an, die ihnen aufgrund bekannter schwieriger Kommunikationsverhältnisse vertraut ist und als nicht ungewöhnlich erscheint. Zwei der Interviewpartnerinnen benutzen den relativ neuen Begriff „Mobbing“ (vgl. Weber, Hörmann & Köllner 2007; Brandt 2012), der auch in die DGS Einzug gehalten hat, für den es aber keine eigene, neue Gebärde gibt. Vielmehr wird eine ältere und bekanntere Gebärde (DISKRIMINIERUNG) mit dem englischen Mundbild mobbing zu der neuen Gebärde MOBBING kombiniert. Diese Gebärde wird dafür benutzt, um diskriminierendes und belästigendes Verhalten am Arbeitsplatz zu benennen. Alle berichteten Fälle von Diskriminierungserfahrungen in der Ausbildung und am Arbeitsplatz stehen auf unterschiedliche Art und Weise zumindest indirekt im Zusammenhang mit der Hörbehinderung. Sie betreffen auch die besser gebildeten gehörlosen Frauen. Drei der zwölf Interviewpartnerinnen haben mit dem Abitur den höchstmöglichen deutschen Schulabschluss geschafft, doch nur eine von ihnen konnte ein Hochschulstudium erfolgreich abschließen. Die beiden anderen stießen dagegen auf Barrieren, vor allem in der Dolmetscherversorgung. Jasmin berichtet davon, wie sie erst gar nicht anfing zu studieren, weil für das geplante Studium, für das sie bereits einen Studienplatz hatte, keine fachlich kompetenten Gebärdensprachdolmetscher zu finden waren. Klara absolvierte nach dem Abitur zunächst eine Berufsausbildung. Als sie nach erfolgreichem Ausbildungsabschluss studieren wollte, ließ sich eine Finanzierung von Gebärdensprachdolmetschern nicht realisieren: „Das Problem war: Ich bekam keine Dolmetscher, weil ich ja schon vorher eine Ausbildung gemacht hatte. Das war dann eine riesengroße Barriere für mich. Wenn man nach Abschluss einer Ausbildung noch studieren möchte, bekommt man keine Dolmetscher finanziert.
126
5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
Ich sah mich also mit dieser Barriere konfrontiert“.6 Da sie auch durch ihre Kommilitonen und Professoren keine Unterstützung erhielt, gab sie nach einigen Versuchen und Studienfachwechseln schließlich auf und arbeitete nach weiteren vergeblichen Versuchen, sich beruflich weiterzubilden, als „Mädchen für alles“. Dass im beruflichen Bereich nur beschränkte Wahlmöglichkeiten bestehen, erlebten neben Klara auch drei weitere gehörlose Interviewpartnerinnen. Der erlernte Beruf sei kein „Traumberuf“ gewesen. Man sei „gezwungen“ worden, diese Ausbildung zu machen, da in den Berufsbildungswerken für Hörbehinderte keine alternativen Möglichkeiten bestanden: „Ich hatte mir diesen Beruf nicht ausgesucht, aber damals zur DDR-Zeit war nichts anderes möglich gewesen, und ich musste das so akzeptieren“. Auch bei der Arbeitssuche erlebten die gehörlosen Frauen Barrieren. Einige der Interviewpartnerinnen berichten von langjähriger vergeblicher Arbeitssuche oder von Versuchen, mithilfe von Eingliederungsmaßnahmen im Berufsleben Fuß zu fassen. Von Beförderungen oder Karrierechancen im Laufe des Arbeitslebens kann nur eine der zwölf befragten Frauen berichten. Sie hatte das Glück, innerhalb einer Behörde eine Aufgabe zu bekommen, die ihren besonderen Voraussetzungen und Fähigkeiten entspricht: „Seit einigen Jahren bin ich hier angestellt und für ein Thema verantwortlich, das mir am Herzen liegt“. Die übrigen elf Interviewpartnerinnen erlebten, dass sie trotz langjähriger Betriebszugehörigkeit „trotzdem nicht befördert, sondern einfach links liegen gelassen“ wurden, was als frustrierend und demotivierend empfunden wird. Häufig arbeiten die Frauen nicht in ihren erlernten Berufen, sondern notgedrungen in angelernten (Teilzeit-)Jobs, als Aushilfe oder bei großen Firmen. Am Arbeitsplatz selbst werden kommunikative Barrieren zu den hörenden Kollegen als problematisch empfunden. Zwei Interviewpartnerinnen berichten, wie sie zunehmend depressiv wurden, weil sie nicht in der Lage waren, am Small Talk im Kollegenkreis teilzunehmen, und sich zunehmend ausgegrenzt und
6Das
Sozialgesetzbuch (SGB) XII (Bundesamt für Justiz 2003) regelt die sogenannte Eingliederungshilfe für behinderte Menschen. Es enthält die Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen nach dem SGB IX (Bundesamt für Justiz 2016). Gehörlose, die nach abgeschlossener Berufsausbildung mit Bezugnahme auf diese Regelungen einen Gebärdensprachdolmetscher beantragen, etwa um ein Studium zu beginnen, erhalten in der Regel einen abschlägigen Bescheid, weil gesellschaftliche Eingliederung als gegeben angesehen wird, insofern die abgeschlossene erste Ausbildung die Möglichkeit der Berufsausübung bietet. Für weiterführende Leistungen der Eingliederungshilfe wird demnach oft kein Bedarf mehr anerkannt.
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isoliert fühlten: „Aber trotzdem ist die Atmosphäre unter den hörenden Kollegen für mich überhaupt nicht angenehm, es gibt kaum Gespräche. Vor 10 Jahren war das besser, da war mehr Austausch. Heute sind die Hörenden für sich und quatschen untereinander. Ich bin immer wieder ausgeschlossen und ausgegrenzt. Früher waren die Kollegen noch offener, sagten mir hin und wieder dies und das, ein kleiner Austausch war vorhanden. Heute ist das nicht mehr so. Für mich ist das schlimm“. In einem Fall wird davon berichtet, wie das Ausgeschlossensein von kollegialen Gesprächen während der Ausbildung in eine sexuelle Belästigung mündete. Die gehörlose Auszubildende bekam nicht mit, dass für den folgenden Tag eine Baustellenbegehung geplant war und erschien in als unpassend angesehener Bekleidung am Arbeitsplatz. Sie musste nicht nur die Blicke der Bauarbeiter über sich ergehen lassen, sondern auch Gelächter und Anspielungen durch ihren Ausbilder und ihre Kollegen erdulden, die sie nur halb verstand. Erst später erfuhr sie den Grund: „Als wir von dieser Fahrt wieder zurückgekehrt waren, fingen meine beiden Mitauszubildenden an, zu erzählen. Ich staunte nicht schlecht, als ich erfuhr, dass der Abteilungsleiter vorne im Auto die ganze Zeit über mich geredet hatte, über meinen Minirock und das Top. Ich konnte es nicht fassen“. Eine andere, ungewöhnliche Form der Diskriminierung am Arbeitsplatz erlebte Klara, als sie von ihrem Vorgesetzten dazu aufgefordert wurde, langsamer zu arbeiten, um nicht aus der monatlichen Statistik herauszufallen. Sie erledigte weitaus mehr Arbeitsaufträge als ihre hörenden Kollegen, die während der Arbeit Gespräche führten und längere Kaffeepausen machten, von denen die gehörlose Kollegin aufgrund der kommunikativen Barrieren ausgeschlossen war. Während die hörenden Kollegen nebenan Kaffee tranken und miteinander plauderten, erledigte Klara einen Arbeitsauftrag nach dem anderen. Für ihre schnelle und konzentrierte Art zu arbeiten erfuhr sie wenig Verständnis. Da sie zunehmend das Gefühl bekam, dass dieser Arbeitsplatz nicht zu ihr passt, kündigte sie.
5.3.4 Ausmaß der Gewalterfahrung Aus den bisherigen Ausführungen wird bereits deutlich, dass die zwölf in der Studie befragten gehörlosen Frauen im Lebensverlauf häufig von mehrfacher und kumulativer Gewalt betroffen waren. In dieser Kategorie wurde explizit nach kumulativem Gewalterleben und den verschiedenen Gewaltformen gefragt. Tabelle 5.6 stellt die Ergebnisse zu einer Übersicht zusammen („XX“ = mehr als ein Täter pro Gewaltsituation):
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5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
Tab. 5.6 Überblick über Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen in Kindheit und Jugend sowie Erwachsenenleben Name
psychisch
Andrea Beate
X
körperlich sexuell X
X
X
X
Christa
Diskriminierung
Dora
X
X
X
X
Felicitas
X
X
Gisela
X
X
Helena
X
X
Inge
X
X
X
X
XX
X
XX
X X
XX X
X
X
XX
XX
X
X
X
Karla
X
X
XX
X
X X
Jasmin Lucie
Erwachsenenalter
X X
X
Elin
Kindheit
X
X
X
X
Erwartungsgemäß haben die befragten Frauen häufig mehr als nur eine Gewalterfahrung im Lebensverlauf gemacht. Von den zwölf befragten Frauen haben sieben Gewalt sowohl in Kindheit und Jugend als auch im Erwachsenenleben erlebt. Auffällig ist dabei das kumulative Gewalterleben der Frauen, die Partnergewalt erfahren haben. Vier der sechs Interviewpartnerinnen, Christa, Dora, Gisela und Helena, die im Erwachsenenleben gewalttätigen Übergriffen durch den eigenen Partner ausgesetzt waren, hatten bereits in Kindheit und Jugend Gewalt durch gehörlose Peers erfahren. Die betroffenen Frauen stellen in den Interviews jedoch keinen Bezug zwischen der Gewalt, die sie in Kindheit und Jugend, und der, die sie später in Paarbeziehungen erlebt haben, her, sondern betrachten diese als völlig unabhängig voneinander. Des Weiteren fällt auf, dass die von Gewalt in Kindheit und Jugend betroffenen gehörlosen Frauen überwiegend von mehreren Tätern berichten. Das betrifft vor allem die oben bereits beschriebenen Gewaltsituationen, die sich im Kontext von Gehörlosenschulen und -internaten oder innerhalb der gehörlosen Peergroup bei Gehörlosenveranstaltungen zugetragen haben. Hier treten die Täter immer in der Mehrzahl auf. Das folgende Beispiel steht stellvertretend dafür, wie sich die erlebten Situationen in den Schultoiletten, Internatsräumen oder
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auf Partys im Gehörlosenzentrum zugetragen haben: „Es waren drei Personen. Einer von der Hauptschule, so ein richtig großer, kräftiger, muskelbepackt […] Ich schaute zu ihm auf und hatte furchtbare Angst. Und die anderen beiden sagten Folgendes zu mir, nämlich: Wenn ich nicht machte, was der da von mir wollte, würden sie mich verprügeln“. Meistens bleibt es aber nicht bei dem Erleben durch eine einzelne Tätergruppe. In der kleinen Peergroup gehörloser Kinder und Jugendlicher spricht sich schnell herum, was passiert ist und wer Opfer geworden ist. Auf diese Weise kann sich der Gewaltzyklus durch andere Täter erweitern: „Das kam so weit, dass einer von den Jungen einem anderen erzählte, dass ich richtig gut sei. Da wollte es der andere Junge auch mit mir versuchen“. Dora berichtet davon, wie sich nach dem ersten gewalttätigen Übergriff durch gehörlose Peers andere gehörlose Männer bei ihr meldeten und wissen wollten, wann sie bei ihr an die Reihe kämen. Im Verhältnis zu der häufig im Lebensverlauf erfahrenen sexuellen (N = 9), körperlichen (N = 7) und psychischen Gewalt (N = 6) nehmen sich die von den Befragten direkt angesprochenen Diskriminierungserfahrungen (N = 4) eher geringfügig aus. In allen in den Interviews berichteten Fällen handelt es sich um erlebte Diskriminierung durch Mobbing und Zurücksetzung am Arbeitsplatz. Für die übrigen Betroffenen war dieser Aspekt unter Umständen schwierig zu thematisieren bzw. oft nicht als Diskriminierung identifizierbar, weil entsprechende Erfahrungen möglicherweise zu sehr als Teilaspekt alltäglich erlebter Benachteiligungen und schwieriger Situationen angesehen wurden.
5.4 Risikofaktoren In der Kategorie „Risikofaktoren“ wird untersucht, welche einschränkenden oder anderweitig belastenden Erfahrungen und Konstellationen, die in ursächlichem oder begünstigendem Zusammenhang mit Gewaltsituationen stehen oder stehen könnten, von den gehörlosen Interviewpartnerinnen benannt wurden. Um die besonderen Risikofaktoren, von denen gehörlose Frauen möglicherweise betroffen gewesen sind, herauszuarbeiten, wurden für gehörlose Frauen (und Männer) typische Lebensbereiche nach schwächenden Faktoren untersucht. Im Mittelpunkt der Risikofaktorenanalyse steht dabei der Einfluss folgender für den Lebensverlauf gehörloser Frauen typischer Faktorenbündel, die in ihrem konkreten Erfahrungsgehalt erfasst und in ihrer Bedeutung für Gewaltsituationen beschrieben werden sollen: (1) Sprachkompetenzen (Abschn. 5.4.1), (2) Selbstbild (Abschn. 5.4.2), (3) Familie (Abschn. 5.4.3), (4) Schule und Internat (Abschn. 5.4.4) und (5) Gehörlosengemeinschaft (Abschn. 5.4.5).
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5.4.1 Sprachkompetenzen Wie andere gehörlose Menschen auch sind die Interviewpartnerinnen im Alltag grundsätzlich mit zwei Sprachen konfrontiert, zum einen mit der DGS, die in der Kommunikation untereinander benutzt wird, aber auch mit der deutschen Sprache als dominierender Umgebungssprache. Beide Sprachen spielen in ihrem Leben eine wichtige Rolle. Alle Interviewpartnerinnen geben an, sich am leichtesten und ungezwungensten in DGS verständigen zu können, doch keine von ihnen hat systematischen Unterricht in DGS als Unterrichtsfach erfahren. Trotzdem ist sie für alle Interviewpartnerinnen die favorisierte Erstsprache. Das Fach Deutsch dagegen war Bestandteil der schulischen Bildung von Anfang an und auch die Muttersprache fast aller Eltern der Interviewpartnerinnen.7 Doch keine der gehörlosen Frauen gibt an, Deutsch auf Mutter- oder Erstsprachniveau zu beherrschen. Die Subkategorie Sprachkompetenz setzt sich mit den zwiespältigen Erfahrungen und den Folgen eines unvollständigen Spracherwerbs auseinander, der sich belastend in den Gewaltsituationen auswirkte, die die gehörlosen Frauen in Kindheit und Jugend erlebten.
5.4.1.1 Fehlender Erstspracherwerb Die einzige Interviewpartnerin mit gehörlosen Eltern war gleichzeitig auch die einzige Befragte, die mit DGS als Erstsprache aufgewachsen ist. Tatsächlich finden sich bei ihr keinerlei Aussagen zum Risikofaktor „Sprachkompetenz“. Lediglich ein einziges Mal benennt sie ein sprachliches Problem, und zwar im Zusammenhang mit der lautsprachlichen Verständigung mit den hörenden Großeltern: „Die Eltern meiner Mutter sind ganz ok, mit denen kann man kommunizieren. Mit den Eltern meines Vaters dagegen ist kaum Kommunikation möglich“. Alle übrigen gehörlosen Frauen berichten von einem fehlenden oder stark verzögerten Erstspracherwerb. Fast alle Interviewpartnerinnen beschreiben diese Erfahrung damit, sie seien „rein oral“ oder „rein lautsprachlich“ aufgewachsen. In der Regel bedeutete dies, dass die Eltern die Gebärdensprache nie oder nur
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auf eine befragte Frau haben alle Interviewpartnerinnen hörende Eltern und sind deutscher Herkunft. Eine Interviewpartnerin hat ein ebenfalls hörgeschädigtes Geschwisterkind, mit der sie aber in der Kindheit nicht gebärdensprachlich kommunizierte, weil die Eltern es auch nicht taten. In dieser Familie war die deutsche Lautsprache, vermischt mit ein paar begleitenden Gebärden, die Familiensprache.
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ansatzweise erlernten. Oft geht dies auf eine einseitige Beratung durch Ärzte oder Beratungsstellen zurück, die die Eltern ausdrücklich dazu anhielten, mit ihrem gehörlosen Kind auf gewohnte Weise zu sprechen und keine Gebärden zu benutzen. Mit Bezug auf die eigene Mutter verdeutlicht Elin, was Eltern von hörbehinderten Kindern von vielen Fachleuten geraten wurde (und wird): „Meine Mutter fragte überall, was sie machen sollte. Ich sollte zur Logopädie und immer sprechen üben. Gebärden waren verboten“. Zuweilen dehnte sich das Gebärdenverbot daheim so aus, dass es Schläge gab, wenn das Kind sie gelegentlich doch benutzte: „Früher haben mir meine Eltern das Gebärden ganz klar verboten und mir auf die Hände geschlagen, wenn ich es versuchte“. Für die gehörlosen Interviewpartnerinnen bedeutete dies, dass sie im Kleinkindalter darauf angewiesen waren, Sprache über mühsames Lippenlesen zu lernen, und ohne Zuhilfenahme des Gehörs versuchen mussten, Gesprochenes zu verstehen. Trotzdem ist nicht die auf so mühsame Weise erlernte Sprache Deutsch die Erstsprache dieser Frauen, sondern vielmehr die in der Regel erst deutlich später im außerunterrichtlichen Schulkontext zugängliche Gebärdensprache. Selbst eine der Interviewpartnerinnen, die sich als „eigentlich schwerhörig“ beschreibt, da sie über ein gutes Restgehör verfügt, durch das sie besser als die anderen interviewten Frauen in der Lage war, die Lautsprache über das Gehör zu lernen, stellt für sich fest: „Ja! Im Deutschen bin ich ziemlich fit. Aber meine Hauptsprache, meine Mutter- oder Identitätssprache ist ganz klar die Gebärdensprache“. In den meisten Elternhäusern der Interviewpartnerinnen musste das Fingeralphabet als minimaler Ersatz für das Fehlen einer visuellen Kommunikation herhalten. Es erleichterte die mühsame Kommunikation zwar ein wenig, bot jedoch keinen Ersatz für ein Gespräch: „Fließende, entspannte Kommunikation war das aber nicht“, wird diese rudimentäre und behelfsmäßige Art zu kommunizieren beschrieben. Wie es für ein gehörloses Kind ist, auf diese Weise aufzuwachsen, beschreibt Andrea wie folgt: „An meine Zeit von null bis sechs Jahren habe ich keinerlei Erinnerung. Da ist alles schwarz“. Oft wird den Interviewpartnerinnen diese frühkindliche Lücke, in der sie ohne eine funktionierende Sprache aufgewachsen sind, erst bewusst, wenn sie selbst Kinder haben. Angesichts der Herausforderung, als Mütter eine gute und gelingende Kommunikation mit ihren Kindern aufzubauen, wird ihnen die eigene frühkindliche sprachliche Situation schmerzlich in Erinnerung gerufen: „Mir ist dadurch aufgefallen, wie viele Kommunikationsschwierigkeiten es früher zwischen mir und meinen Eltern gab“. Der fehlende Erstspracherwerb hatte zur Folge, dass die Interviewpartnerinnen, die schon in Kindheit und Jugend mit Gewaltsituationen konfrontiert waren, nicht in der Lage waren, sich mitzuteilen: Es haben „Worte“
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gefehlt, man konnte nicht „aussprechen“, was mit einem geschah. „Wie hätte ich darüber kommunizieren sollen“, stellt eine Interviewpartnerin mit Blick darauf, dass in ihrer Kindheit eine stabile kommunikative Basis fehlte und keine funktionierende Erstsprache verfügbar war, ernüchtert fest.
5.4.1.2 Unzureichende Deutschkompetenz Alle Interviewpartnerinnen haben Bildungseinrichtungen für Hörgeschädigte besucht und Deutsch als Unterrichtsfach gehabt. Doch nur drei von ihnen reagierten mit einer positiven Selbsteinschätzung, als sie während des Interviews darum gebeten wurden, ihre Deutschkompetenz zu bewerten. Für eine Interviewpartnerin ist vor allem der andere Sprachmodus, das Hervorbringen und Verstehen von Sprachlauten anstrengend und mühsam. Sie ist sich bewusst, dass ihre Aussprache für Hörende nicht leicht zu verstehen ist. Eine andere Interviewpartnerin berichtet, dass sie zuweilen nur von nahestehenden Familienangehörigen einigermaßen problemlos verstanden wird. In der Regel wird die lautsprachliche Kommunikation mit Hörenden auf ein Minimum reduziert und sie findet, wie Helena es treffend beschreibt, „nicht so in Sätzen, sondern mehr zusammengefasst“ statt. Eine weitere Interviewpartnerin berichtet, dass sie in Dolmetschsituationen gerne selbst sprechen würde, aber sogar von den Gebärdensprachdolmetschern so schlecht verstanden werde, dass man sie bitte, zu gebärden: „Das ist für sie angenehmer, als wenn ich meine Stimme benutze“. Auch die eigene Lese- und Schreibkompetenz wird im besten Fall noch als „so ganz in der Mitte, normal bis gut würde ich sagen“ eingeschätzt. Die Interviewpartnerinnen beklagen ihre Schwierigkeiten damit, sich in der deutschen Sprache sicher auszudrücken. Ihre Grenzen spüren sie, wenn ihnen „schwierige Wörter“ begegnen, die ihnen im Deutschunterricht unzureichend vermittelt wurden: „Ach, das war recht einfaches Deutsch, was wir gelernt haben“. Der Deutschunterricht in der Schule wurde in der Regel als „mühsam und nicht notwendig“ empfunden. Zu hoch waren, wie später noch zu zeigen sein wird, die Verständnisprobleme im Unterricht, die insbesondere auch das Verstehen und Erlernen der deutschen Grammatik erschwerten. Jasmin und Inge berichten, dass sie erst nach der Schulentlassung anfingen, Bücher zu lesen. Jasmin beschreibt im Interview sehr anschaulich, wie sie den Zugang zum Lesen durch einen bekannten Bestseller gefunden habe. Sie brauchte lange, um sich dieses Buch lesend anzueignen, „denn es waren viele Fremdwörter für mich darin, die ich nicht verstand. Trotzdem interessierte mich dieses Buch so sehr, dass ich es schaffte, es zu Ende zu lesen“. Auch Deutsch zu schreiben stellt die Interviewpartnerinnen vor große Herausforderungen. Es fällt den Interviewpartnerinnen schwer, sich schriftsprachlich
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klar auszudrücken. Klara, die ihre Deutschkompetenz als sicher beschreibt, gibt im gebärdensprachlichen Original auf sehr anschauliche Art und Weise zu erkennen, wie sie sich fühlt, wenn sie vor der Aufgabe steht, einen schriftsprachlichen Text zu verfassen: „Dann starre ich auf die Tastatur und kriege ewig keinen Satz getipp“. Dora schließlich erlebte in einer konkreten Gewaltsituation ihre Hilflosigkeit, als sie eine Textnachricht verschicken wollte: „Zum Beispiel, als mir das passiert ist, hätte ich gerne eine SMS verschickt, aber das ging nicht. Ich wusste nicht, wie ich sie schreiben sollte“.
5.4.1.3 Späte Entdeckung der Gebärdensprache Wie zu sehen war, wird der Zugang zur deutschen Sprache allgemein als mühsam und problematisch beschrieben. Zugang zu DGS zu finden, fiel den Interviewpartnerinnen dagegen leicht und wird als ein Glücksmoment beschrieben: „Mit ihr fand ich meine Identität, eine Identität, die zu mir passt“. Für alle interviewten Frauen gilt Fees Aussage, die Gebärdensprache „bis in alle Ewigkeit“ benutzen zu wollen, weil sie ihre eigentliche Erst- und Muttersprache sei. Keine der Interviewpartnerinnen hat, wie oben bereits erwähnt, DGS in der Schule als Unterrichtsfach gehabt oder sie als Unterrichtssprache erlebt. Sie war lediglich auf informellen Wegen zugänglich und wurde meistens in der außerunterrichtlichen Kommunikation mit anderen gehörlosen oder hörbehinderten Mitschülern während der Schulzeit, im Internat oder im Schultaxi aufgeschnappt. Eine wichtige Rolle spielten dabei Mitschüler, die gehörlose Eltern hatten und die die DGS im eigentlichen Sinn als Erstsprache erwerben konnten: „Wie ich die Gebärdensprache gelernt habe? Natürlich durch ein anderes Kind, das gehörlose Eltern hatte“. Bei allen elf Interviewpartnerinnen, die hörende Eltern haben, setzte der Gebärdenspracherwerb daher auch erst ein, nachdem sie eingeschult waren, zum Teil sogar noch später. Zwei Interviewpartnerinnen waren beide über zehn Jahre alt, als sie das erste Mal mit DGS in Berührung kamen. Christa lernte die Gebärdensprache erst mit Beginn ihrer Berufsausbildung. Für die Spätlerner ging die Begegnung mit der Gebärdensprache oft mit einer Art Kulturschock einher. Sie begegneten einer Sprache, die ihnen in Modalität und Ausdruck völlig fremd war: „Ich war schockiert und fühlte mich zuerst nicht wohl. Ich hab das erst einmal verdauen müssen, weil so viele gebärdende Hände in der Luft waren“. Auch wenn die Gebärdensprache am Anfang noch „sehr verwirrend“ war oder „nichts von den Gebärden verstanden“ wurde, wurde sie doch sehr schnell als perfekt funktionierendes Kommunikationsmittel angenommen, das keine der Interviewpartnerinnen missen möchte: „Ich fühlte mich leicht und glücklich. Ich habe gemerkt, wie eingeschränkt ich davor nur kommuniziert habe, und nun wurde es plötzlich viel besser“.
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5.4.2 Selbstbild In der Subkategorie Selbstbild wird all jenen Aussagen Aufmerksamkeit geschenkt, in denen Äußerungen zur Selbstwahrnehmung der Interviewpartnerinnen gemacht werden: • Von welchen einschränkenden oder anderweitig belastenden Erfahrungen und Konstellationen im Prozess der Identitätsfindung wird berichtet? • Welche Rolle spielen Unwissenheit und Uninformiertheit im Allgemeinen, aber auch ganz persönliche Scham- und Schuldgefühle, die bis hin zur Infragestellung der eigenen Glaubwürdigkeit reichen können? • An welchen Punkten der persönlichen Entwicklung setzt eine Gewöhnung daran ein, dass Intimitätsgrenzen überschritten werden und Übergriffe stattfinden? Da fast alle Interviewpartnerinnen den Weg aus der Gewalt heraus gefunden haben, ist in dieser Kategorie auch nach einer selbstkritischen Reflexion möglicher eigener Schwächen und Versäumnisse im Zusammenhang mit den erfahrenen Übergriffen zu fragen.
5.4.2.1 Identitätskrisen Im Zusammenhang mit Erfahrungen, die im Prozess der Identitätsfindung als einschränkend oder belastend empfunden wurden, nennen die Interviewpartnerinnen die folgenden Entwicklungsmomente: • Drei Interviewpartnerinnen problematisieren die Suche nach sprachlicher Identität; • drei Interviewpartnerinnen problematisieren die Suche nach sexueller Identität; • eine Interviewpartnerin problematisiert die Suche nach beruflicher Identität. Die Suche nach der sprachlichen Identität, also die Frage, welche der nur halb gelernten oder rudimentär zur Verfügung stehenden Sprachen als die eigene Mutter- oder Erstsprache anzunehmen ist, betrifft vor allem diejenigen gehörlosen Frauen, die erst im Teenageralter zur Gebärdensprache und damit auch zur Gehörlosengemeinschaft gefunden haben. Christa, Fee und Klara haben lange kein klares Bild von sich selbst, wie folgende Aussage stellvertretend deutlich macht: „Ich habe ja erst sehr spät die Gebärdensprache gelernt und war ganz fasziniert von ihr. Da fing es an, dass ich nicht wusste, bin ich schwerhörig? Nein!
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Bin ich gehörlos? Nein, doch eher schwerhörig. Eine Gemeinschaft Schwerhöriger gibt es ja nicht. Also hab ich versucht, mich zu den Hörenden zu gesellen, aber das hat auch nicht gepasst. Und so kam es, dass ich ständig hin- und hergerissen war auf der Suche nach meiner Identität“. Oft wird durch die Einschulung in eine Schwerhörigen-oder Gehörlosenschule ein Identitätsmerkmal gesetzt. Je nachdem, auf welche Schule man geht, gilt man entweder als schwerhörig oder gehörlos. Während man auf der Gehörlosenschule am ehesten noch die Möglichkeit hat, durch andere gehörlose Mitschüler die Gebärdensprache zu lernen und auf diese Weise eine eigene, wenn auch oft unbewusst erlebte sprachliche Identität aufzubauen, fehlt dieser wichtige Entwicklungsschritt an den Schwerhörigenschulen: „Für mich war das dort ein ganz großer Druck, ich habe vieles nicht verstanden und wusste nicht, um was es ging. Meine eigene Identität war mir völlig unklar“. Schwerhörige, die ohne gebärdensprachliches Input aufwachsen, sehen sich selbst als „komische Nummer“, bis sie durch die Begegnung mit einem gebärdensprachlichen Umfeld in der Lage sind, zu einer Identität zu finden, die zu ihnen passt und mit der sie sich eins fühlen können. Nicht nur die Suche nach sprachlicher Identität wird als belastend und einschränkend für das eigene Selbstwertgefühl empfunden, sondern auch die Entwicklung der sexuellen Identität. Zwei der zwölf Interviewpartnerinnen bezeichnen ihre sexuelle Orientierung klar als lesbisch. Beide Interviewpartnerinnen geben jedoch an, dass der Weg zur sexuellen Identitätsfindung von Unkenntnis und Uninformiertheit geprägt war und als ein langer, über viele Jahre andauernder Prozess verlief. Eine dritte Interviewpartnerin, die ihre geschlechtliche Identität zunächst als heterosexuell angibt, gibt im Verlauf des Interviews zu erkennen, dass sie sich eigentlich mehr zu Frauen hingezogen fühlt. Sie lebt nach wie vor in einer von Partnergewalt geprägten Beziehung mit einem gehörlosen Mann, von dem sie sich aktuell (noch) nicht trennen kann oder will. Auch Zufriedenheit und Erfüllung im Berufsleben können nur wenige der gehörlosen Frauen für sich beanspruchen. Die meisten Interviewpartnerinnen finden sich, wie oben zu sehen war, mit der gegebenen Situation am Arbeitsplatz ab. Von einer beruflichen Identitätskrise berichtet nur eine der jüngeren Interviewpartnerinnen, die ihre Arbeitssituation kritisch reflektiert: „Ich hadere gerade mit meiner Identität. Ich finde die Arbeit, die ich mache, und den Beruf, den ich gelernt habe, falsch. Das fühlt sich alles nicht mehr richtig an“. Im weiteren Gesprächsverlauf gibt Dora an, ihre instabile berufliche Situation als belastend zu empfinden, da sie auch zu einer klaren Einschränkung ökonomischer Ressourcen geführt habe, der ihr den Weg aus der Gewalt erschwert hat und sie nun eher resigniert in die Zukunft blicken lässt: „Es ist besser, nicht zu viele Träume zu haben. Das klappt dann nicht. Es ist besser, ohne Erwartungen zu sein“.
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5.4.2.2 Unwissenheit und Uninformiertheit Viele Interviewpartnerinnen geben im Verlauf des Interviews an, dass ihnen in Bezug auf die erlebte Gewalt „Informationen“ gefehlt oder sie diese „zu spät“ bekommen hätten. Die Interviewpartnerinnen, die bereits in Kindheit und Jugend Gewalt erlebten, beklagen vor allem ihre Unwissenheit in Bezug auf Sexualität, weil niemand mit ihnen darüber gesprochen habe: „Mein größtes Problem war, dass ich bis dahin, seitdem ich ein Kind war, eigentlich nichts über Sexualität wusste“. Wörter wie „Gewalt“ oder „Missbrauch“ waren schlichtweg nicht bekannt; damit fehlte auch ein stabiles Wissen über die eigenen Rechte und über das, was in Bezug auf den eigenen Körper erlaubt ist oder nicht: „Ich hatte keine Worte dafür, wusste als Heranwachsende nichts über solche Begriffe wie Missbrauch, kannte meine Rechte nicht. Null!“. Als Beispiele für die eigene Unwissenheit in konkreten Gewaltsituationen schildern die Interviewpartnerinnen ihre Ratlosigkeit angesichts von „Sperma, das auf meinem Bein landete“ oder mit Bezug darauf, „unten“ durch den Stiefvater angefasst zu werden. Unwissenheit und Uninformiertheit führen dazu, dass die Interviewpartnerinnen sich nicht in der Lage sehen, „nein“ zu sagen und Grenzen zu setzen. Das trifft auch auf Gewaltsituationen zu, die erst später im Erwachsenenleben erlebt wurden: „Ich habe mir das eingeredet, dass er im Grunde ein guter Mensch ist. Seine dunkle Seite hielt ich für normal. Ich hatte ja keine Ahnung und habe mir den Ernst der Situation nicht bewusst machen können“. Unwissenheit und Uninformiertheit betreffen aber nicht nur das Erkennen von Gewaltsituationen als solche, sondern auch – und zwar auch noch im Erwachsenenleben – den Umgang mit Gewaltsituationen: Fehlende Kontaktmöglichkeiten und Vertrauenspersonen werden genannt, aber auch die vollständige Hilflosigkeit angesichts der eigenen Situation und dem Gefühl, gefangen in den Umständen und isoliert von jeglicher Hilfe und Unterstützung zu sein: „Ich war ja total isoliert und konnte mich nicht über einen Radius von 10 km hinausbewegen“. Helena, die in Kindheit und Jugend psychische Gewalt erfuhr und im Erwachsenenleben mit einer Reihe gehörloser Partner Gewalterfahrungen machen musste, berichtet im Interview, wie sie erst im Zusammenhang mit einer Integrations- und Weiterbildungsmaßnahme, die in den Zeitraum des Interviews fiel, über das Thema „Gewalt“ aufgeklärt wurde: „Zum Thema Gewalt habe ich gerade einiges erfahren, dadurch wurde mir vieles klar“.
5.4.2.3 Scham- und Schuldgefühle In den Interviews wird gelegentlich von Scham- und Schuldgefühlen berichtet. Insgesamt scheinen sie aber keine dominierende Rolle bei den gehörlosen Interviewpartnerinnen zu spielen. Das Gefühl des Sich-Schämens kommt meistens
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erst zur Sprache, wenn es um die Frage geht, warum nach den Übergriffen so lange geschwiegen wurde: „Jahrelang schwieg ich darüber aus Scham“. Eine Interviewpartnerin schämt sich so sehr für das, was ihr angetan wurde, dass sie am liebsten keine Anzeige erstattet hätte: „Mir war das total unangenehm und ich wollte es nicht, aber mein Vater bestand darauf. Ich habe mich so geschämt und es abgewehrt“. Eine andere Interviewpartnerin dagegen berichtet, dass sie gegenüber anderen keine Schamgefühle kenne, sondern froh darüber sei, sich anderen Gehörlosen mitteilen zu können: „Geschämt habe ich mich nicht dabei, es musste raus aus mir“. Gisela war viele Jahre lang in ihrer Partnerschaft isoliert und hatte aufgrund der isolierten Wohnsituation und der hohen sozialen Kontrolle durch ihren Ehemann kaum Möglichkeiten, andere Gehörlose zu treffen. Sie gehörte in dieser Zeit auch keinem Verein oder einer Organisation für Gehörlose an. Nach dem Ausbruch aus ihrer stark isolierten Lebenssituation empfindet Gisela es als Befreiung, alte gehörlose Bekannte aus der Schul- und Jugendzeit wiederzutreffen und sich mit ihnen auszutauschen. In nur einem Interview wird über das Gefühl, mitschuldig an der Gewaltsituation zu sein, nachgedacht.
5.4.2.4 Infragestellen der eigenen Glaubwürdigkeit Die eigene Glaubwürdigkeit wird nur im Zusammenhang mit Übergriffen, die Interviewpartnerinnen in Kindheit und Jugend erfuhren, reflektiert. Zwei Interviewpartnerinnen geben an, man hätte ihnen sowieso nicht geglaubt, weil sie schlechter sprechen konnten als die Täter: „Der Junge konnte gut lügen, weil er gut sprechen konnte und so glaubhafter war als ich“. Wenn hier die Vertrauenswürdigkeit des gehörlosen Kindes an der Sprach- bzw. Sprechkompetenz gemessen wird, ist selbstverständlich die Lautsprach- und nicht die Gebärdensprachkompetenz gemeint. Wer sich im Deutschen besser verständlich ausdrücken kann, wirkt glaubwürdiger, so die Erfahrung der Befragten. In einem anderen Interview wird ausgesagt, dass der Täter glaubwürdiger als das gehörlose Mädchen gewirkt habe, weil er von Beruf Polizist war. Stellte man seine und ihre eigenen Aussagen gegenüber, so seien seine für stichhaltiger und damit unanfechtbar angesehen worden.
5.4.2.5 Gewöhnung an das Überschreiten der Intimitätsgrenze und an Übergriffe In den Interviews wird mehrfach eine Tendenz zur Normalisierung im Zusammenhang mit dem Gewalterleben angesprochen. Die Interviewpartnerinnen berichten davon, wie wiederholte gewalttätige Übergriffe dazu geführt hätten, dass man sie als „normal“ empfunden habe: „So ging das die
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ganze Zeit. Ich bin damit aufgewachsen, mit Gewalt und Missbrauch. Aber mir war das nicht bewusst“. Vor allem diejenigen Interviewpartnerinnen, die in Kindheit und Jugend regelmäßig Übergriffen ausgesetzt waren, wussten zu berichten, dass der alltägliche Rhythmus von gewalttätigen Phasen unterbrochen wurde, die zum Teil sogar in den normalen Tagesablauf mit eingeplant wurden: „Wenn meine Mutter auf der Arbeit oder nicht da war, dann tat es mein Stiefvater mit mir. Dann sprach er mich so an: ‚Heute Abend können wir ja was machen, Mutter ist ja nicht da‘“. Gewalttätige Übergriffe von gleichaltrigen Mitschülern im Internat bewerten die betroffenen Frauen als nicht besonders auffällig, sie seien eben „typisch“ gewesen, gehörten zum Internatsalltag dazu. Die Gewöhnung an Grenzüberschreitungen äußert sich auch darin, dass man schließlich begann, sie gedanklich zu verdrängen: „Nein, für mich waren andere Themen wichtiger. Die Schläge habe ich einfach verdrängt und beiseite geschoben“. Zwei Interviewpartnerinnen berichten, dass die Tendenz, die Übergriffe zu verdrängen, fast dazu geführt habe, auf eine Strafanzeige zu verzichten. Als zu belastend wurde der Gedanke empfunden, alles noch einmal erzählen zu müssen und sich mit der erlebten Gewaltsituation auseinanderzusetzen: „Die Anwältin der Mutter meiner Partnerin drängte mich dazu, Strafanzeige gegen meinen Mann zu stellen. Ich konnte das nicht, sie drängte mich dazu, wir diskutierten hin und her […] Doch ich wollte nicht darüber streiten, sondern das einfach alles abwerfen. Ich wollte einfach nur zufrieden sein und einen neuen Weg gehen“.
5.4.2.6 Selbstkritik Alle Interviewpartnerinnen nehmen im Verlauf des Interviews mindestens einmal selbstkritisch Stellung zu der von ihnen erlebten, von Gewalt geprägten Situation. In den meisten Fällen kritisieren die gehörlosen Frauen ihr widerspruchloses Mitmachen und ein Aushalten der Gewaltsituation, als befänden sie sich in einer „Sackgasse“, über viele Jahre hinweg. Sie nennen dafür unterschiedliche Motive: Man sei früher „dumm und unwissend“ oder zu „brav“ gewesen und habe kein ausreichendes Selbstbewusstsein gehabt: „Ich war damals überhaupt noch nicht selbstbewusst, sondern voll naiv und unterwürfig“. Andere Interviewpartnerinnen berichten aber auch davon, wie sie bemüht waren, nach außen hin stark und selbstbewusst zu wirken, weil sie niemanden in ihr verletztes, kaputtes Innere hineinsehen lassen wollten: „Ich wurde von vielen als coole, starke Frau angesehen. Man sah es mir nicht an, dass ich gleichzeitig so viel Schlimmes erlebte“. Die beiden Interviewpartnerinnen, die sexuellen Missbrauch durch den Vater bzw. Stiefvater erlebten, berichten davon, wie sie anfangs noch stolz darauf
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gewesen seien, von ihrem Vater derart intime Zuwendung zu erleben: „Als ich heranwuchs, war ich stolz und froh, auf diese Weise für meinen Vater da zu sein. Ich hatte ja keine Ahnung“. In dem einen besonderen Fall, in dem die Interviewpartnerin noch mit ihrem ehemals gewalttätigen Partner zusammenlebt, klingt im Laufe des Interviews immer mehr Selbstkritik an. Zunächst wird als Grund für das Verharren in der Beziehung noch auf die gemeinsamen Kinder verwiesen. Dann wird selbstkritischer mitgeteilt, dass eigentlich nur noch der Schein einer funktionierenden Beziehung gewahrt werden. Schließlich, kurz vor Schluss des Interviews, reflektiert die Interviewpartnerin ihre eigene Unsicherheit und formuliert eine tentative Überzeugung: „Ich will mich trennen, das habe ich auch heute noch einmal gemerkt. Ich muss wirklich ernsthaft über eine Trennung nachdenken.“ (Elin, 00:49:41).
5.4.3 Familie In der Subkategorie Familie werden alle Aussagen der Interviewpartnerin zu Erziehungs- und Kommunikationsversäumnissen im Elternhaus zusammengefasst, die als besonders belastend empfunden wurden. Im Mittelpunkt steht hier zum einen die Hilflosigkeit und Unfähigkeit von Eltern und Bezugspersonen, mit der Hörbehinderung des Kindes und seinen sich daraus ergebenden speziellen Bedürfnissen umzugehen. Die kommunikativen Probleme im Elternhaus wirken sich vielschichtig aus. Nicht nur die Informationsweitergabe ist dadurch deutlich beschränkt, auch die emotionale Bindung an Eltern und Geschwister leidet darunter. Die Interviewpartnerinnen reflektieren im Rückblick ihre Außenseiterrolle in der Familie, die dazu geführt habe, dass kaum vertrauensvolle Bindungen aufgebaut werden konnten und die Familie in schwierigen Lebenssituationen keinen Rückhalt bieten konnte.
5.4.3.1 Überforderung durch ein hörbehindertes Kind Einige Interviewpartnerinnen berichten, dass ihre Eltern auf die Mitteilung, ihr Kind habe eine Hörbehinderung, mit Schock, Trauer und großer Unsicherheit reagiert hätten. Es sind im Folgenden ausschließlich die Verhaltensweisen der Mütter, die in diesem Zusammenhang beschrieben werden. Die Väter spielen im frühkindlichen Kontext, wie noch zu zeigen sein wird, kaum eine Rolle. Typisch ist die wie folgt beschriebene Reaktion einer Mutter, die später der erwachsenen Tochter erzählt wurde: „Sie wusste nicht, was sie mit einem gehörlosen Baby anfangen sollte, und war sehr hilflos“.
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Eine Erschwernis kommt dazu, wenn lange unklar geblieben ist, dass das Kind eine Hörschädigung hat. Das Kind gilt als schwierig, weil es sich nicht normal verhält, sondern scheinbar „ungehorsam“ ist und „weghört“. In einem Fall wird erzählt, dass die Mutter mit der Situation, ein gehörloses Kind aufzuziehen, in einer Weise überfordert war, dass die Tante sich helfend einschaltete. Sie übernahm es, sich anstelle der Mutter über eine passende Schule für das Kind zu informieren, und kümmerte sich auch um die Internatsunterbringung. Möglicherweise hat die Überforderung, ein gehörloses Kind aufzuziehen, auch zu der hohen Trennungsquote der Eltern beigetragen: Sechs der zwölf Interviewpartnerinnen geben an, dass die Eltern sich noch während ihrer Kindheit und Jugend trennten. Allerdings lassen die Aussagen der Interviewpartnerinnen keinen Schluss auf direkte kausale Zusammenhänge zu: „Ob wir behinderten Kinder der Grund waren oder meine Eltern sich nicht mehr liebten oder mein Vater fremdgegangen war oder meine Mutter überfordert war mit der Kindererziehung oder weil mein Vater sonst was dachte? Ich wusste es absolut nicht“. Die Unwissenheit über die Trennungsgründe der Eltern, die hier zum Ausdruck kommt, wirft ein bezeichnendes Licht auf die weiter unten beschriebene schwach ausgeprägte Familienkommunikation, die zum Lebensalltag der Interviewpartnerinnen gehörte.
5.4.3.2 Schwächendes oder überbehütendes Elternverhalten Als besonders belastend wurden von den Interviewpartnerinnen bestimmte Verhaltensweisen der Eltern beschrieben, die möglicherweise auch als eine Folge der besonderen Beanspruchung im Umgang mit einem hörbehinderten Kind anzusehen sind. So werden Tendenzen einer Vernachlässigung, aber auch einer deutlichen Bevormundung beschrieben, wobei vor allem ein überbehütendes Verhalten der Mütter betont wird: „Aber auch zuhause war Mamas Art, mich zu bemuttern und mit mir zu kommunizieren, sehr schlimm.“ Die Interviewpartnerinnen berichten, dass ihre Mütter sich noch lange, nachdem die gehörlose Tochter die Volljährigkeit erreicht hatte, dagegen sträubten, dass diese allein wohnt oder mit gehörlosen Freunden in den Urlaub fährt: „Sie behandelt mich heute noch wie ein Kind, obwohl ich schon lange erwachsen bin“. Die übertriebene Fürsorge der Mütter führte so weit, dass die Interviewpartnerinnen ihnen nichts von ihren Gewaltsituationen berichteten, weil sich die Probleme dadurch nur „verdoppelt“ hätten. Das Verhalten der Mütter im Spannungsfeld von Überbehütung, unzureichender Kommunikation und Vernachlässigung ist vor allem auch dann problematisch, wenn es um die Aufdeckung von Missbrauch in der Kernfamilie geht. In den beiden Fällen, in denen die Interviewpartnerinnen von ihrem Vater bzw. Stiefvater sexuell missbraucht wurden, wird berichtet,
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die Mütter hätten weggeschaut; eine Mutter habe so getan, „als ob sie völlig ahnungslos [...] [sei]“, eine andere habe „alles von sich abprallen“ lassen. Wenn die Väter ins Spiel kommen, geht es vor allem um gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Eltern, die die Befragten erleben mussten. Davon berichten zwei Interviewpartnerinnen. Es ist aber davon auszugehen, dass lautstarke Streitigkeiten zwischen den Eltern den gehörlosen Kindern oft auch verborgen blieben, sofern sie sich nicht direkt vor ihren Augen abspielten. In einem Interview wird davon berichtet, wie die Tochter eher zufällig Zeuge einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen den Eltern wurde: „Ich saß in der Küche und rauchte, heute rauche ich nicht mehr, das war früher. Ich ging in die Küche und rauchte und Mama ist gekommen und hat ein Messer geholt und ging wieder. Ich dachte, dass sie irgendeine Pflanze abschneidet oder irgendwas macht, ich wusste es nicht. Auf einmal war Mama wieder da, total nervös. Dann kam Vater dazu und erklärte sie für bescheuert und Mama blutete an der Nase. Das hieß also, dass die zwei sich verprügelt haben im Wohnzimmer, ohne dass ich es mitbekommen habe“. Väter und Mütter zeigen gewalttätiges Verhalten, wenn Alkohol im Spiel ist. Das trifft besonders auf die Mutter von Beate zu, die ihre Tochter im alkoholisierten Zustand schlug, sowie den Vater von Lucie, dessen sexuelle Übergriffe durch Alkoholeinfluss an Intensität und Häufigkeit zunahmen: „Sein Verhalten wurde immer schlimmer, als er begann, Alkohol zu trinken, das war etwas Neues. Vorher nicht, als ich kleiner war. Er wollte nun immer mehr und öfter etwas von mir, täglich“.
5.4.3.3 Mühsame alltägliche Kommunikation Alle elf Interviewpartnerinnen mit hörenden Eltern berichten ausnahmslos von gravierenden Kommunikationsversäumnissen im Elternhaus. Die Art der Verständigung wird allgemein mit der Gebärde ORAL (s. auch Abschn. 2.1) zusammengefasst, die wie oben beschrieben, auf eine mühsame, überwiegend lautsprachlich geführte Verständigungsweise durch Sprechen und Lippen-Lesen hinweist: „Das heißt, dass wir zu Hause mehr gesprochen haben“. ORAL impliziert aber auch die Abwesenheit von gebärdensprachlicher Kommunikation im Familienalltag, weil die Eltern sie entweder „nie versucht haben zu lernen“ oder nur in Ansätzen, aber eben doch „nicht richtig gelernt“ haben. Die auf dieser Basis geführte unausgebildete, verkümmerte, stark reduzierte Kommunikation im Elternhaus wird von den Interviewpartnerinnen als „oberflächlich“ und „sehr mühevoll“ beschrieben. Beate teilt über die alltägliche Kommunikation in ihrem Elternhaus mit: „Es gab viele Missverständnisse zwischen uns“. Inge gibt an, dass „keine tiefergehenden Gespräche möglich“
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gewesen seien. Kommunikation im Elternhaus grenzt aufgrund großer Verständigungsprobleme zuweilen an Sprachlosigkeit: „Ich habe meine Eltern nicht verstanden“. Christa fasst diese Art, miteinander zu kommunizieren, wie folgt zusammen: „Wenn ich vom Internat nach Hause kam am Wochenende, konnte ich meinen Eltern nichts erzählen. Sie verstanden mich ja auch nicht, wir waren eben nicht auf derselben kommunikativen Wellenlänge“. Kommunikation blieb in diesen Elternhäusern auf das Notwendigste beschränkt. Alltägliche Dinge wurden eher mühsam miteinander abgesprochen. Ansonsten vermied man es, längere oder tiefergehende Gespräche zu führen. Es fällt bei den Aussagen der Interviewpartnerinnen auf, dass mit den Vätern im Allgemeinen ein noch schlechteres Kommunikationsverhältnis vorherrschte, als es ohnehin schon bestand. Während einige Mütter versuchten, sich ein paar Gebärden anzueignen oder sogar Gebärdensprachkurse zu besuchen, gaben die Interviewpartnerinnen an, fast gar nicht mit ihren Vätern kommuniziert zu haben, weil diese kaum gebärden konnten: „Mein Vater kann nur ein bisschen Fingeralphabet und ein paar ganz einfache Gebärden wie ESSEN, GEHEN, BESUCHEN, ARBEITEN, MALEN und etwas Gestik“. Die Mütter bemühten sich insgesamt mehr darum, mit ihrem Kind zu kommunizieren, aber oft scheiterten diese Bemühungen, wie Beates Fall stellvertretend veranschaulicht: „Meine Mutter gebärdete ARBEIT statt PAPIER. Ich korrigierte sie daraufhin, aber sie blieb bei dieser Gebärde für PAPIER hängen.“ In den meisten Fällen hat sich auch im Erwachsenenleben der Interviewpartnerinnen an der beschriebenen Kommunikationssituation wenig geändert. Nur Elin berichtet davon, dass die Bemühungen ihrer Mutter, die Gebärdensprache zu erlernen, erfolgreich gewesen seien. Ihre Mutter ist ihr heute eine wichtige Ansprechpartnerin in Bezug auf die nach wie vor bestehende problematische Beziehung mit einem gewalttätigen Partner. Bei den übrigen Frauen besteht die Kommunikationsproblematik im Verhältnis zu den Eltern unverändert fort. In einem Fall wird über eine unangemessene Reaktion auf die Gewaltsituation durch die Eltern berichtet, die mangels tiefergehender klärender Gespräche mit Unverständnis und wenig Empathie auf die Notsituation ihrer Tochter reagierten. Dies führte schließlich zu einem völligen Kontaktabbruch. Wie nachhaltig prägend die gestörte Kommunikation mit den Eltern in das Leben der inzwischen erwachsenen gehörlosen Frauen hineinreicht, zeigt das Beispiel von Jasmin. Sie lässt sich, wenn sie heute ihre Eltern besucht, von ihrem schwerhörigen Sohn dolmetschen. Wie Andrea sieht sie an den eigenen Kindern und im Bemühen, die im Elternhaus erlebten kommunikativen Versäumnisse nicht zu wiederholen, „wie im Spiegel“, was damals schief lief und auch heute noch die kommunikative Beziehung zu den Eltern belastet. Klara berichtet, erst im
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Alter von über 30 Jahren den Mut gefunden zu haben, sich ihren Eltern zu widersetzen: „Wenn meine Eltern dann losquatschen, sag ich ihnen heute, dass ich sie nicht verstehen kann. Die beiden regen sich jedes Mal darüber auf, aber das ist mir jetzt egal […]. ‚Trag deine Hörgeräte‘, sagen sie dann. ‚Gebärdet doch mit mir‘, antworte ich. Für die ist das mühsam, aber ich sehe das cool. Dass ich einknicke vor denen und wieder Zugeständnisse an die Kommunikation mache, das mache ich heute nicht mehr! Das war früher, jetzt nicht mehr“. Die hier beschriebene Kommunikationsproblematik im Elternhaus führte dazu, dass der Aufbau einer vertrauensvollen Bindung zu den Eltern erschwert, zum Teil auch unmöglich wurde, wie im Folgenden zu sehen sein wird.
5.4.3.4 Außenseiterrolle und geringe emotionale Bindung an Eltern und Geschwister Die geringe Bindung an Eltern und Geschwister wird von den gehörlosen Interviewpartnerinnen häufig in weitgehend identischer Weise mit der folgenden einleitend gebrauchten Wendung zum Ausdruck gebracht: „Die ganze Familie ist hörend, alle außer mir. Ich bin die einzige Gehörlose in der Familie“. Die Interviewpartnerinnen geben an, sich als Kind oft „einsam“, „verletzt“ und „frustriert“ oder gar wie eine „Idiotin“ oder „geistesgestört“ gefühlt zu haben, und machen dies vor allem anhand typischer Familiensituationen am Esstisch deutlich. Hier empfanden sie ihre Außenseiterrolle besonders stark: „Ich war außen vor und sagte nur wenig, beteiligte mich kaum am Gespräch“. Von positiven Gefühlen wie Interesse, Freude oder einem fröhlichen vertrauensvollen familiären Miteinander erzählt keine der Interviewpartnerinnen. In Abgrenzung zum als trostlos erlebten Elternhaus bot das Zusammensein mit anderen gehörlosen Kindern und Jugendlichen im Internat die bessere Alternative: „Eigentlich war es ein Glück, dass ich im Internat wohnte“. Die im Internat erlebte zwanglose und natürliche Kommunikation band die gehörlosen Kinder in besonderer Weise aneinander und entschädigte vermutlich in einem gewissen Grad auch für das Außenseiterdasein in der eigenen Familie.
5.4.3.5 Unzureichende Information und/oder sexuelle Aufklärung Nicht nur die emotionale, sondern auch die geistige und intellektuelle Entwicklung blieb im Elternhaus auf der Strecke. Den gehörlosen Interviewpartnerinnen entging eine Vielzahl an Informationen, die zur normalen kindlichen Entwicklung gehören. Es blieb den Interviewpartnerinnen oft nichts anderes übrig, als zu versuchen, Situationen, Gegenstände und Personen, um die es bei den Gesprächen im Elternhaus ging, nach eigenem Vermögen einzuordnen und
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annähernd zu verstehen, wie in der folgenden Aussage von Andrea deutlich wird: „Hätte ich hören können, hätte ich mitbekommen, was stimmt und was nicht, und hätte das selbst steuern können. Ich hätte prüfen können, was gesagt wurde, und alles um mich herum besser verstehen können“. Für das gehörlose Kind wurden Gespräche, in denen es um Problemlösungen oder Familienpläne ging, im besten Fall auf das Wichtigste reduziert und zusammenfassend am Rande erklärt. Meistens jedoch „blieb ich still und zurückhaltend“. So entgingen den Kindern wichtige Informationen, wie zum Beispiel, dass die Eltern beschlossen, sich zu trennen, oder nach erfolgter Trennung wieder zusammenzuziehen. Im letztgenannten Fall ergaben sich gravierende Folgen, denn mit diesem Beschluss zog der gewalttätige Stiefvater wieder in den Haushalt ein und der sexuelle Missbrauch wurde fortgesetzt. Eine Interviewpartnerin berichtet davon, wie sie erst im Alter von 30 Jahren mitbekam, dass ihr vermeintlicher Bruder nur ihr Halbbruder war, eine andere versuchte vergeblich, sich von ihrer Mutter das wahrgenommene Wort „Playboy“, das ihr irgendwie peinlich vorkam, erklären zu lassen: „Aber sie winkte nur ab und meinte, das wäre nichts, nur ein blödes Wort. Aber ich wusste immer noch nicht, was es bedeutete, sie erklärte es mir nicht, und ich sollte aufhören, davon zu reden. Erst viel später habe ich herausgefunden, was das bedeutet“. Darüber hinaus wurden heikle Themen wie Sexualität oder sexuelle Aufklärung in diesen Elternhäusern überhaupt nicht angesprochen. Keine der Interviewpartnerinnen kann berichten, von ihren Eltern aufgeklärt worden zu sein. Lediglich eine Interviewpartnerin gibt an, am Tag ihrer ersten Regelblutung von ihrer Mutter eine Binde in die Hand gedrückt bekommen zu haben, mit der Mahnung, „wenn ich in der Schule bin, nie mit einem Jungen zusammen zu schlafen, weil ich nun meine Periode, meine Regel habe“. Die Interviewpartnerin glaubte fortan, alles, was mit Jungen zu tun hatte, sei verboten und die Regelblutung stelle eine Strafe für unverständlich bleibende Sünden dar. Wie die anderen gehörlosen Frauen erlebte Inge eine bruchstückhafte sexuelle Aufklärung, indem die gehörlosen Kinder sich gegenseitig erzählten, was sie diesbezüglich wussten, was aber zu weiterer Irritation Anlass gab und oft in Unwissenheit mündete. Dieser Umstand ist vor dem Hintergrund der hohen Zahl der in Schulen und Internaten erlebten sexuellen Übergriffe bedenkenswert.
5.4.4 Schule und Internat Alle Interviewpartnerinnen haben eine spezielle Schule für Hörgeschädigte besucht. Sieben der zwölf befragten gehörlosen Frauen waren zudem in einem
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Internat untergebracht, also einer ebenfalls auf hörgeschädigte Kinder und Jugendliche spezialisierten Einrichtung. Beide Institutionen dürfen als dominante, oft auch von der Außenwelt isolierte Sozialisationsräume angesehen werden. Außenkontakte etwa zu hörenden Kindern und Jugendlichen waren eher selten. In der Subkategorie „Schule und Internat“ sind alle Aussagen zusammengefasst, in denen die Interviewpartnerinnen von einschränkenden oder anderweitig belastenden Erfahrungen und Konstellationen berichten, die im Zusammenhang mit der Sonderbeschulung und einer damit verbundenen Internatsunterbringung stehen. Auch hier waren die Grenzen der Kommunikation täglich spürbar. Lehrer und anderes pädagogisches Personal beherrschten nur in sehr seltenen Fällen die DGS oder auch nur lautsprachbegleitende Gebärden. Die Verständigung im Unterricht und durch betreuende Erzieher ist, ähnlich wie in der Kategorie „Elternhaus“ beschrieben, oft schwierig und reicht für tiefergehende Wissensvermittlung und differenzierte Erziehungsansätze nicht aus. Mit Blick auf die Gewaltbetroffenheit der gehörlosen Interviewpartnerinnen führt die Kommunikationssituation dazu, dass auf Übergriffe, die von den Interviewpartnerinnen im schulischen Umfeld erlebt wurden, unangemessen oder gar nicht reagiert wurde.
5.4.4.1 Eingeschränkte Kommunikation Wie schon in der Beschreibung der Kommunikationssituation im Elternhaus deutlich wurde, benutzen die befragten gehörlosen Frauen in der Regel spontan die Gebärde ORAL, wenn das Gespräch auf die kommunikative Situation in Schule und Internat kommt. Der Unterricht war vorwiegend lautsprachlich orientiert, oft „rein oral“, also ohne jegliche gebärdensprachliche Mittel. Die ausgeprägte lautsprachliche Ausrichtung der doch für den Umgang mit gehörlosen Kindern spezialisierten Schulen und Einrichtungen führte nicht nur, wie noch zu zeigen sein wird, zu einem eingeschränkten Wissenserwerb, sondern prägte auch das Kommunikationsverhalten der gehörlosen Schüler. Für gebärdensprachliche Kommunikation war im schulischen Leben kein Platz und der Einfluss der „oralen“ Bildungsideologie ging zuweilen so weit, dass die hörgeschädigten Kinder sogar untereinander überwiegend lautsprachlich miteinander kommunizierten: „Auch auf dem Pausenhof sprachen die Kinder mit unbeholfenen Gesten. Vielleicht waren hier und da ein paar Gebärden dabei, aber eine entspannte gebärdensprachliche Kommunikation war das nicht“. Auf diese Weise wurde den gehörlosen Interviewpartnerinnen nicht nur ein stabiler, altersgerechter Spracherwerb vorenthalten, sondern auch eine zwanglose, natürliche Kommunikation der hörgeschädigten Kinder untereinander war im schulischen Kontext oft nicht möglich. Es ist davon auszugehen, dass die
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gehörlosen Interviewpartnerinnen in Kindheit und Jugend sehr stark durch diese unsichere Kommunikationssituation belastet waren, die das Mitteilen kindlicher Fragen, Wünsche und Bedürfnisse erschwerte und zu gravierenden Verständ nisproblemen führte: „Naja, meine Lehrer, vor allem die Männer, hatten oft so ein kleines Mundbild. Das war sehr schwer abzulesen und zu verstehen“. Ausnahmen gab es nur in sehr seltenen Fällen. Jasmin berichtet von einem einzelnen Lehrer während ihrer gesamten Schulzeit, der sich „echt Mühe gegeben“ habe, und betont nachdrücklich, dass es sich hier um eine „absolute Ausnahme“ gehandelt habe. Tatsächlich berichtet keine der übrigen Interviewpartnerinnen von einem vergleichbaren Glücksfall guter Unterrichtskommunikation. Zuweilen erscheint die lückenhafte Kommunikation in der Schule immer noch besser als die im Elternhaus. Beate vergleicht das Kommunikationsverhalten der Eltern mit dem der Lehrer, wobei Letztere besser abschneiden: „Bei den Lehrern war das auch so, sie fuchtelten unbeholfen mit den Händen in der Luft herum und artikulierten dabei überdeutlich. Aber wenigstens konnten sie ein kleines bisschen mehr gebärden. Einfache Gebärden wie ARBEITEN, FRÜHER, SPÄTER und so was. Mutter dagegen konnte nichts“. Auch die Erzieher im Internat konnten nicht gebärden. Die beschriebenen Kommunikationsversäumnisse verstärkten Ängste und Einsamkeitsgefühle der Kinder, die oft schon in sehr frühem Kindesalter von den Eltern auf das Internat gegeben wurden. Folgendes Beispiel von Christa belegt dies stellvertretend auch für andere Berichte: „Mit drei Jahren war ich im Internat. Ich verstieß gegen irgendeine Regel. Ich hörte nicht, was die Erzieherinnen sagten, und wurde oben auf dem Boden in eine Ecke gesteckt. Dort musste ich mich ganz nah an die Wand stellen, für eine halbe Stunde. Dort war ich dann allein mit meinen Gedanken und Ängsten und diese nahm ich abends auch mit ins Bett“. Für einen intensiven Austausch mit den Internatserziehern, die für die oft noch sehr jungen gehörlosen Kinder doch eigentlich Elternersatz oder wenigstens wichtige Bezugspersonen hätten sein sollen, fehlen geeignete kommunikative Voraussetzungen. Wenn Gewalterfahrung hinzukommt, wird die Zeit im Internat damit rückblickend zur „Leidenszeit“: „Aber jetzt ist mir bewusst, dass mein Leben früher sehr hart war und ich innerlich sehr verletzt wurde“. Auch die Schulzeit wird unter den gegebenen kommunikativen Bedingungen im Unterricht beurteilt und zumeist negativ bewertet.
5.4.4.2 Eingeschränkte Wissensvermittlung und sexuelle Aufklärung Die eingeschränkte kommunikative Situation an den Schulen für Hörgeschädigte wirkte sich gravierend auf den Bildungsstand der Interviewpartnerinnen aus.
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Keine der zwölf gehörlosen Frauen glaubt, durch schulische Bildung hinreichend für das spätere Berufsleben gerüstet gewesen zu sein. Abgebrochene Ausbildungen und fehlgeschlagene Berufswege, von denen die Interviewpartnerinnen berichten, scheinen diese Einschätzung zu bestätigen, obwohl der Bildungsstand in der vorliegenden Stichprobe vergleichsweise hoch ist, insofern immerhin ein Viertel der Interviewpartnerinnen mit dem Abitur über den höchsten möglichen Schulabschluss verfügt (vgl. Abschn. 5.1). Doch wird der Bildungsstand nach Besuch einer speziellen Schule für Hörgeschädigte von den befragten Frauen allgemein als unzureichend bewertet; es sei zu viel Gewicht auf das Hör- und Sprechtraining gelegt worden, sodass man „nicht so viel gelernt“ habe. Das betrifft offenbar auch den schulischen Aufklärungsunterricht, von dem überhaupt nur zwei der Interviewpartnerinnen zu berichten wissen. Aufklärung sei als Teil des Biologieunterrichts nur recht oberflächlich erfolgt: „Viel wurde uns aber nicht erklärt. Klar, wie man sich beim Sex schützt, aber eigentlich ging es hier mehr um das Thema AIDS. Sonst war nicht viel“. Hinsichtlich des Wissenserwerbs wird der Unterricht an den Hörgeschädigtenschulen überwiegend negativ beurteilt: „Es fehlt überall an Bildung“, was in vielen Fällen dazu geführt habe, dass man nicht genügend auf das Alltags- und Berufsleben vorbereitet worden sei. Die Probleme hätten nach der Schulentlassung oft erst richtig begonnen, trotz guter Schulnoten: „Die Gesprächsformen in der hörenden Welt, das freie Reden war mir fremd. In der Schule hatten wir ja nur ganz formale deutsche Sätze gelernt, die gar nicht alltagstauglich waren“. Vor dem Hintergrund der erlebten Gewalt wird dieser Bildungsrückstand besonders schmerzhaft reflektiert. „Gewalt“ war als Begriff in Kindheit und Jugendalter unzugänglich und fremd und nie Thema des schulischen Unterrichts. Gehörlose Frauen, die später Kinder geboren haben, erfuhren oft erst durch die Regelbeschulung ihrer Kinder mehr über relevante Zusammenhänge: „Erst durch meine Tochter, die ja eine hörende Schule besucht, erfuhr ich darüber. So ein Widerspruch. Jedenfalls begann ich dann, mich dafür zu interessieren, stieg in das Thema ein und lernte jede Menge dazu. Dadurch konnte ich mich schlau machen“. Eine Interviewpartnerin stellt den direkten Bezug zwischen dem eigenen Gewalterleben und der eingeschränkten Wissensvermittlung her: „Mir hat aber auch die Bildung gefehlt. Ich wusste ja noch nicht einmal, was mit mir los war. Warum ich so anders war, was anders war. Das wusste ich einfach nicht“. Lucie, die durch ihre gehörlosen Eltern anders als alle anderen Interviewpartnerinnen über eine gut ausgebildete Erstsprache verfügte, verdeutlicht ihre damalige Situation damit, dass sie nicht gewusst habe, dass es ein Wort wie „Vergewaltigung“ gibt, mit dem sie ihre damalige Situation hätte beschreiben
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können. Ihr Beispiel zeigt, dass auch eine gute sprachliche Basis nicht das notwendige Wissen darum, was Gewalt bedeutet, ersetzen kann. Zu erwarten wäre, dass entsprechende Klärungen als Bestandteil schulischer Wissensvermittlung vorgenommen werden.
5.4.4.3 Fehlende oder unzureichende Reaktion auf das Gewalterleben Die Berichte der Interviewpartnerinnen machen deutlich, dass Lehrern und pädagogischem Personal häufig sehr wohl bewusst war, dass es Gewaltvorfälle gab, oder dass sie zumindest davon hätten wissen können. Eine Interviewpartnerin, die als Grundschulkind fast täglich sexuelle Übergriffe von älteren Mitschülern ertragen musste, erzählt, wie die Folge der Gewalttaten ein Ende nahm, nachdem ein Lehrer Täter und Opfer während des Übergriffs, „ich war schon halbnackt ausgezogen“, erwischte: „Dieser Lehrer war mein Klassenlehrer, und er war so sauer auf uns beide. Wir mussten uns anziehen, also zogen wir uns wieder an. Ich musste dann in den Klassenraum gehen, mich hinsetzen und das war es dann auch. So verging auch der nächste Tag und der zweite Tag danach, ohne dass etwas passierte. Und so ist es bis heute“. Die Haltung dieses Lehrers zeigt, was auch andere Interviewpartnerinnen berichten: Ihnen wird nicht geglaubt oder sie gelten als mitschuldig an der Situation: „Als ich es meinem Lehrer erzählte, sagte er mir, dass ich petzen würde. Er nahm also hin, dass ich sexuell belästigt wurde. Ich war machtlos“. Die sexuellen Übergriffe, von denen die Interviewpartnerin erzählt, passierten vorwiegend in den Toilettenräumen, die nach ihren Angaben in der Pause von den Lehrern nicht kontrolliert wurden. Sie berichtet, wie die Lehrer an den Türen zum Pausenhof stehen blieben und die dahinter liegenden Toilettengebäude nicht kontrollierten. Von einer solchen versäumten Überprüfung berichten auch andere gehörlose Frauen, vor allem diejenigen, die Gewalt im Internat erfahren haben. Heikle Räume waren die Duschen, die offenbar nicht abzuschließen waren und so den gehörlosen Mädchen keinen Schutz boten. Mit der in diesem Zusammenhang wiederholt gebrauchten Gebärde IM-STICH-LASSEN bringen die Interviewpartnerinnen zum Ausdruck, dass sie sich selbst überlassen waren und keine Hilfe von außen erhielten. In den Internaten gab es häufiger Situationen, in denen gehörlose Mädchen8 einem erhöhten Risiko ausgesetzt waren, sexuelle
8Dass
dies auch gehörlose Jungen betrifft, zeigen vorläufige Ergebnisse einer Studie, in der u. a. auch gehörlose Männer über ihre Gewalterfahrung berichten (Rieske et al. 2018, vgl. auch Abschnitt 6.2.1.3).
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Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen im eigenen Zimmer zu erfahren, während die Erzieher davon tatsächlich oder vermeintlich nichts mitbekamen: „Sie waren in ihrem Erzieherzimmer und hatten Pause“. Anstatt die Kinder zu informieren und aufzuklären, hätten sie wesentliche Erziehungsaufgaben versäumt und immer nur geschimpft. Die mit „schimpfen“ beschriebenen Situationen blieben jedoch folgenlos für die betroffenen Kinder, weil Erklärungen, die möglicherweise zu einer Reflexion der grenzüberschreitenden Situationen und zu einem respektvolleren Umgang miteinander hätten Anlass geben können, fehlten: „Wir Kinder hätten Informationen gebraucht. Was unser Verhalten bedeutet und auch Erklärungen darüber, warum es diese Probleme gibt. Das alles gab es nicht und deshalb ist ja auch so viel passiert“. Im eingangs beschriebenen Fall hatte die Kommunikationslosigkeit des Lehrers schwerwiegende Folgen für ihren weiteren Lebensverlauf: „Und wenn ich heute zurückdenke, das muss man sich mal vorstellen, es gab kein Gespräch, nichts“. Die Interviewpartnerin weiß bis heute nicht, ob ihre Eltern über den geschilderten Vorfall informiert waren, und traut sich nicht, sie darauf anzusprechen. Auch als sie im weiteren Lebensverlauf erneut sexuellen Missbrauch durch einen Mitschüler erfuhr, fehlte ihr eine Vertrauensperson, mit der sie hätte reden können. Sie führt das auch auf die unangemessene Reaktion im ersten Fall zurück. Nach den Erfahrungen, die sie als kleines Mädchen machen musste, verinnerlichte sie, dass ihr „eh niemand helfen kann“. Auch andere Interviewpartnerinnen berichten angesichts von Erfahrungen, die sie mit Lehrern und pädagogischem Personal im Internat machten, von der Unmöglichkeit, Hilfe zu finden oder sich jemandem anzuvertrauen.
5.4.5 Gehörlosengemeinschaft Ohne Ausnahme sehen sich alle Interviewpartnerinnen als Teil der Gehörlosengemeinschaft an. Die Einbindung in die Gehörlosengemeinschaft wird von den befragten Frauen im Zusammenhang mit der erlebten Gewalt problematisiert und teilweise als einschränkend oder belastend empfunden. Angaben, die die Interviewpartnerinnen dazu gemacht haben, sind in der Subkategorie „Gehörlosengemeinschaft“ zusammengefasst. Die oft sehr früh erfolgte Betreuung in speziellen Einrichtungen für hörgeschädigte Kinder bildet die Wurzel für eine meist lebenslang andauernde Bindung an die Gehörlosengemeinschaft. Die persönlichen und sozialen Verbindungen und Aktivitäten Gehörloser untereinander stellen für alle interviewten Frauen den einzigen Sozialisationsraum dar, der ihren kommunikativen Voraussetzungen vollständig entspricht. Als solcher
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bleibt er oft lebenslang alternativlos. In Kindheit und Jugend der befragten Frauen bedeutet dies die Zugehörigkeit zu einer Peergroup mit anderen hörgeschädigten Kindern und Jugendlichen. Im Erwachsenenleben setzt sich die Einbindung in die kleine, begrenzte Gehörlosengemeinschaft insbesondere dadurch fort, dass Partnerschaften vorwiegend mit gehörlosen Beziehungspartnern geschlossen werden (s. auch Abschnitt 2.1). Wie zu sehen war, sind mit diesen beiden typischen Konstellationen im Lebensverlauf Gehörloser Bereiche benannt, in denen sich häufig Gewalt ereignet. Mit der vorliegenden Subkategorie wird auf alle wichtigen Lebenszusammenhänge innerhalb der Gehörlosengemeinschaft fokussiert, die die gehörlosen Interviewpartnerinnen thematisieren. Das betrifft sowohl innere Komponenten wie die alternativlose Einbindung, den Mangel an echten Freundschaften und die hohe soziale Kontrolle innerhalb der eng umgrenzten Gemeinschaft, aber auch äußere Komponenten wie das gemeinsame Aufwachsen in einer Peergroup und gehörlos-gehörlose Paarbeziehungen sowie die daraus hervorgehenden Schwangerschaften und Familiengründungen.
5.4.5.1 Alternativlose Einbindung in eine kleine begrenzte Gemeinschaft Die Gehörlosengemeinschaft wird, wie zu sehen war, im Allgemeinen als ein wichtiger Rückzugsort im oft mühsamen Alltag in einer hörenden Welt beschrieben – ein Ort, an dem man sich wohlfühlt, weil man hier ungehindert miteinander kommunizieren kann und unter Menschen ist, die ähnliche Erfahrungen der Benachteiligung und Ausgrenzung gemacht haben (s. auch Abschn. 2.1). Diese oft einseitige und idealisierende Sicht auf die „Solidaritätsgemeinschaft“ wird in Frage gestellt, wenn individuelle Probleme auftauchen, die mit persönlichen Verletzungen einhergehen, wie sie in Gewaltsituationen gegeben sind. Eine der Interviewpartnerinnen fasst diese Erkenntnis wie folgt zusammen: „Mir war bis dahin auch die spezielle Problematik unserer kleinen Gehörlosenwelt nicht bewusst“. Die spezielle Problematik der Gehörlosengemeinschaft besteht gerade darin, dass sie der einzige Sozialisationsort ist, der für gehörlose Menschen kommunikativ mühelos zugänglich ist: „Aber was Kommunikation angeht, in der ich mich wohlfühle, wo ich alles verstehe und wo ich mitdiskutieren kann, dafür brauche ich Gehörlose“.
5.4.5.2 Fehlende Freundschaften Die Gehörlosengemeinschaft bietet ein vertrautes soziales Umfeld. Gerät man jedoch in eine persönliche Problemsituation, wie dies für die gehörlosen Interviewpartnerinnen der Fall war, kann sich das soziale Netz als brüchig herausstellen. Es mag sich zeigen, dass tiefergehende Beziehungen und echte
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Freundschaften, die auf einem Vertrauensverhältnis beruhen, fehlen. Tatsächlich beklagen die befragten gehörlosen Frauen wiederholt das Fehlen wirklich guter, verlässlicher Kontakte zur Gehörlosengemeinschaft vor Ort. Inge stellt fest, dass der langjährige Kontakt zum immer gleichen Personenkreis gelehrt habe, dass Vertrauen immer wieder enttäuscht wurde. Kommt es zum Versuch, etwas über die eigenen Probleme zu erzählen, wird gelegentlich auch die Erfahrung gemacht, dass andere Gehörlose sich nicht „in meine Situation einfühlen können“. In einem Fall wird berichtet, wie das Bemühen um Eingliederung in einen gehörlosen Frauenkreis daran scheiterte, dass die hilfesuchende Frau wegen ihrer Gewalterfahrung aus dem Rahmen der bekannten Beziehungsmuster dieser Frauen fiel: „Die denken, weil ich keinen Mann habe, bin ich eine Gefahr für die anderen Frauen“. Auch werde Privates nur zu leicht öffentlich gemacht. Die von Gewalt in Paarbeziehungen betroffenen Frauen berichten davon, dass ihre problematische Beziehung sich nicht vor der Gehörlosengemeinschaft verbergen ließ, da beide Partner dem gleichen gehörlosen Freundeskreis angehörten. Ihre privaten Streitigkeiten und die damit einhergehenden Spannungen wurden von anderen Gehörlosen genau beobachtet und weitererzählt. In einem weiteren Fall stellte sich heraus, dass der Vater auch andere Mädchen und Frauen, die dem Bekannten- und Freundeskreis der missbrauchten Tochter angehörten, sexuell belästigt hatte: „Das fand ich besonders belastend, denn wir kennen uns ja alle untereinander. Wir begannen, einander schief anzuschauen“. In der Tat stellt das Gerede über andere gerade in einer so kleinen Gemeinschaft einen zusätzlich belastendenden Faktor für die gewaltbetroffenen gehörlosen Frauen dar. Es ist schwierig, Vertrauenspersonen zu finden, die nicht nur mit gutem Rat zur Seite stehen können, sondern auch Schweigen über das bewahren, was sie gesehen haben oder was ihnen anvertraut wurde.
5.4.5.3 Soziale Kontrolle durch „Klatsch und Tratsch“ In nahezu allen Interviews fällt auf, dass die gehörlosen Frauen angeben, soziale Kontakte nach der Gewalterfahrung stark reduziert zu haben bzw. zu meiden. Wie noch zu sehen sein wird, geben sie fast übereinstimmend an, sich im gehörlosen Freundeskreis nicht mehr wohlzufühlen oder unsicher zu sein. Die Interviewpartnerinnen führen das auf Klatsch und Tratsch zurück, der als „typisch“. für diese kleine soziale Gemeinschaft gilt, in der sich persönliche Kontaktsphären nicht voneinander abgrenzen lassen und die Kontaktpartner der unterschiedlichen Sozialbereiche gut miteinander bekannt sind. Dass private Informationen anderen weitererzählt werden, wird von den Interviewpartnerinnen neben dem Gewalterleben als ein zusätzlich belastender Faktor empfunden. In einem Fall, in dem eine Interviewpartnerin und ihr Kind die Flucht aus einer gewalttätigen
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Beziehung gerade glimpflich überstanden hatten, kam das Gerücht innerhalb der regionalen Gehörlosengemeinschaft auf, die Mutter habe die Tochter entführt. Eine andere Interviewpartnerin berichtet, dass sie der gehörlosen Person, deren Unterstützung man ihr und ihrem nach dem Gewalterleben traumatisierten Sohn angeboten habe, „ein paar Sachen erzählt“ habe. Plötzlich wurde sie von anderen Gehörlosen auf genau diese Themen angesprochen. Dies hatte zur Folge, dass die als Unterstützung gedachte Hilfe nicht weiter in Anspruch genommen wurde, was den sozialen Rückzug dieser Frau verstärkte. Klatsch und Tratsch beginnen aber oft schon mit Bezug auf das Gewalterleben selbst. Einige Täter nutzen ihre Vorrangstellung in der Gehörlosengemeinschaft aus, indem sie sich nicht nur mit der Tat brüsten, sondern das Opfer sogar „weiterempfehlen“: „Und dann sprachen mich andere Gehörlose an und meinten, ich könnte auch mal mit ihnen dasselbe tun. Plötzlich sah ich mich von allen Seiten bedrängt. Alle wollten es mit mir tun. Sie wollten wissen, wann ich einsatzbereit bin und reihten sich auf, um der Nächste zu sein bei mir“. Bei Gewalt in Paarbeziehungen sind die Folgen von Klatsch und Tratsch oft besonders schwerwiegend, da die Täter mitunter versuchen, ihre Tat innerhalb ihres Freundeskreises oder der regionalen Gehörlosengemeinschaft zu ihren Gunsten auszulegen. Am deutlichsten wird dies im Fall von Fee, die an mehreren Stellen des Interviews davon berichtet, wie ihr ehemaliger Beziehungspartner versuchte, seine Tat herunterzuspielen: „Die Gehörlosen bei uns waren natürlich auch sehr verunsichert und wussten nicht, was sie glauben sollten. Ich habe zwar versucht, das alles klar darzustellen, aber mein Mann gab immer noch seinen Senf dazu. Er wusste ja, dass ihm das Wasser bis zum Halse stand, und er versuchte sich rauszugebärden, indem er einfach alles Mögliche erzählte, was nicht stimmte“. Als das Strafverfahren wegen schwerster Körperverletzung für den Ehemann mit einer Bewährungsstrafe endete, brach noch im Gerichtssaal unter den Freunden, die er mitgebracht hatte, großer Jubel aus. Die Bewährungsstrafe wurde als Freispruch gefeiert. Die Freundin der Ehefrau wurde als vermeintliche Komplizin zum Opfer von Ausgrenzung: „Ich bin ja zum Glück weit weggezogen, aber meine Freundin, die noch dort lebt, die ist schlimm dran jetzt“. Einige der gehörlosen Interviewpartnerinnen sehen sich im Rückblick nicht nur als Opfer von Gewalt, sondern zugleich auch als Opfer von Klatsch und Tratsch: „Nach dem Strafverfahren gegen meinen Mann wurden ganz ganz schlimme Dinge über mich herumerzählt. Das war dann wirklich schlimm.“ (Fee_a, 01:01:32). Durch die von der Gehörlosengemeinschaft wegen der relativ guten Zugänglichkeit hoch frequentierten sozialen Netzwerke wie zum Beispiel Facebook sei „alles nur schlimmer geworden“.
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5.4.5.4 Eingeschränkte Peer-Group-Erfahrungen Bis auf eine Interviewpartnerin, die wegen einer auffälligen körperlichen Besonderheit in ihrer Schulklasse und im Kreis gehörloser Kinder und Jugendlicher als Außenseiterin behandelt wurde, waren alle interviewten Frauen bereits in Kindheit und Jugend Mitglied einer Peergroup mit anderen gehörlosen Kindern und Jugendlichen. Diesen Peergroups kommt eine wichtige Rolle zu, da sie ein sozialer Ort sind, der gehörlosen Kindern und Jugendlichen in besonderer Weise Möglichkeiten der Identifikation und Selbstdarstellung bietet. Auch die Interviewpartnerinnen berichten davon, wie sie hier zu ihrer sprachlichen Identität gefunden haben (s. auch Abschnitt 2.1) und durch soziale Kontakte innerhalb der gehörlosen Peergroup Einsamkeitsgefühle, wie sie oft in der eigenen hörenden Familie verspürt wurden, kompensieren konnten: „Wir Kinder haben gemeinsam gespielt und dort hatten wir auch unsere Freunde. Wenn ich nach Hause fuhr, war es schlimm“. Es wird jedoch davon berichtet, dass innerhalb dieser Peergroup ein sehr hoher Konformitätsdruck herrscht, wie er für marginale Gruppen typisch ist (vgl. Sader & Weber 2000). Die Interviewpartnerinnen berichten, wie sie diesem Gruppendruck im Zusammenhang mit Gewalterlebnissen häufig gegen den eigenen Willen nachgaben. Das Dilemma, in dem sie sich dabei sahen, beschreibt Dora wie folgt: „Ich wusste nicht, ob ich mich richtig oder falsch verhalte und machte, egal wie, einfach mit“. Eine Interviewpartnerin berichtet davon, wie sie vergeblich versucht hat, ihre Peers davon zu überzeugen, dass sie noch nicht mit einem Jungen schlafen, sondern „abwarten“ wollte. Noch war sie auf der Suche nach ihrer sexuellen Identität und noch lange nicht so weit, sich selbst die eigene Homosexualität einzugestehen, geschweige denn, selbstbewusst gegenüber der Gruppe von Mitschülern zu vertreten. Der Konformitätsdruck war aber schließlich so hoch, dass die Interviewpartnerinnen sich der Gruppennorm anpassten und ungewollte Sexualkontakte zuließen, die in beiden Fällen zu Gewalterlebnissen führten. Eine weitere Frau beschreibt, wie die Anpassung an die Erwartungen der Peergroup sie zu eigentlich ungewollten Lebensentscheidungen gedrängt habe: „Also habe ich mich angepasst an die anderen und mir auch einen Mann gesucht. Dann haben alle geheiratet und Kinder bekommen, also habe ich das auch getan“. Der Konformitätsdruck wirkt sich ferner auch auf die Zeugen von gewalttätigen Übergriffen aus, die die Führungsrolle von Meinungsmachern innerhalb ihrer Peergroup zum Teil vorbehaltlos akzeptieren. In einem Fall ringt die Interviewpartnerin um Zeugenaussagen für eine Strafanzeige, die sie nach einem gewaltsamen Übergriff durch gehörlose Peers gestellt hatte: „Es waren ja auch viele gehörlose Zeugen dabei. Wobei diese eher zurückhaltend waren in ihren
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Aussagen. Sie haben erst ein bisschen angefangen zu gebärden, was sie gesehen haben, aber dann mit Blick auf den Typen sofort wieder aufgehört zu gebärden“. Offenbar bildeten sich für die befragten Frauen selten Vertrauensverhältnisse zu einzelnen innerhalb der Peer-Groups heraus. Denkbar wäre, dass die Peergroup, anders als Elternhaus, Schule oder Internat, einen Rahmen bietet, in dem die Möglichkeit besteht, sich anderen in direkter und ungehinderter Kommunikation mitzuteilen. Tatsächlich jedoch scheuten die Interviewpartnerinnen davor zurück, Angehörigen der eigenen Peergroup von ihrer Gewalterfahrung zu erzählen. Das allgemein konstatierte Fehlen von Freundschaften zeigt sich auch hier: Keine der Interviewpartnerinnen kann auf eine verlässliche Freundin oder eine gleichaltrige Vertrauensperson zurückgreifen. Nur Dora berichtet, wie sie sich nach langem Nachdenken dazu durchrang, ihren Freundinnen „eher locker“ von ihren Gewalterlebnissen zu berichten. Zwei Interviewpartnerinnen geben an, dass sie zusätzlich zur Gewalterfahrung erleben mussten, wie sich Täter und Täterin über die Gewalttat innerhalb der Peergroup bereits ausgelassen hatten und sie dadurch brüskierten. Dass man von der eigenen Peergroup Hilfe oder Unterstützung in schwierigen Lebenssituationen erwarten kann, wird in keinem Interview thematisiert oder sogar, wie im folgenden Beispiel, von vornherein ausgeschlossen: „Und dass sich da jemand für mich eingesetzt hätte oder einem Lehrer Bescheid gesagt hätte, das hätten meine Peers nie gemacht“.
5.4.5.5 Gehörlos-gehörlose Paarbeziehungen Die Auswertung der Gewaltsituationen hat gezeigt, dass die gehörlosen Interviewpartnerinnen sehr hoch von Partnergewalt betroffen sind (s. auch Abschn. 5.3.2.2). Neben der in diesem Zusammenhang bereits beschriebenen Kontrolle und Dominanz durch gehörlose Beziehungspartner fällt auf, dass die Paarbeziehungen Gehörloser vielfach durch traditionelle Rollen- und Aufgabenverteilung sowie entsprechende Verhaltensmuster geprägt sind. Die Interviewpartnerinnen berichten davon, dass zentrale Haushaltsaufgaben wie Einkaufen, Kochen, Waschen und Putzen, überwiegend von ihnen übernommen wurden. Dazu gehört auch das Erledigen von „Papierkram“, und selbst nach einem Kaiserschnitt, der infolge von Partnergewalt anberaumt werden musste und sehr kompliziert verlief, musste die betroffene Frau so schnell wie möglich aus dem Krankenhaus entlassen werden: „Ich war ja für alles im Haushalt zuständig, musste kochen und alles, was so anfiel, machen“. Besonders, wenn gemeinsame Kinder zu erziehen waren, fällt auf, dass die Hauptlast der Betreuung und Erziehung der gemeinsamen Kinder bei den Müttern lag, obwohl diese häufig auch erwerbstätig waren. Auch eine Interviewpartnerin mit Kindern, die nicht von
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Partnergewalt betroffen war, berichtet davon: „Mein Mann hat sich niemals um unsere Kinder gekümmert. Von Anfang an nicht“. In finanziellen Angelegenheiten ist es aber oft der Ehemann, der die Kontrolle ausübt. Die Interviewpartnerinnen berichten davon, über kein eigenes Konto und kein eigenes Geld verfügt zu haben. Sie mussten genau Rechenschaft ablegen, wofür sie Geld benötigten und wofür sie es ausgaben: „Auch in Gelddingen hatte er die Macht! Wenn ich ihn nach Geld gefragt habe, wollte er genau wissen, für was ich es brauche“. Ökonomische Abhängigkeit erschwerte oder verzögerte oft den Ausbruch aus der Gewaltsituation.
5.4.5.6 Schwangerschaft und Kinder Wie schon zu sehen war, fällt die hohe Anzahl früher und ungewollter Schwangerschaften in gehörlos-gehörlosen Paarbeziehungen auf. Alle Interviewpartnerinnen, die Partnergewalt erfuhren und Kinder bekamen, berichten davon, „versehentlich“ (Helena, 00:08:01), „ungeplant“ oder „ungewollt“ schwanger geworden zu sein. In zwei Fällen befanden sich die Interviewpartnerinnen noch in der Ausbildung und mussten sie zeitweilig unterbrechen oder sogar abbrechen. In einem anderen Fall wird davon berichtet, dass man erst nach der Geburt des Kindes überhaupt zusammengezogen sei und von Anfang an eine von Streit und Gewalt belastete Partnerschaft gehabt habe. Die ungeplanten Schwangerschaften werden von den Frauen sehr unterschiedlich bewertet. Christa berichtet, dass sie ihr Kind trotz der Aufforderung ihres Partners, es abtreiben zu lassen, behalten habe. Eine andere Interviewpartnerin führt aus, dass der Partner die Schwangerschaft gezielt angestrebt habe, um sie fest an sich zu binden: „Er war schlau: Erst schwängerte er mich, dann heiratete er mich. So wurde er zu meinem Besitzer“. Die heranwachsenden Kinder wurden Zeugen gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen den Eltern. Alle Interviewpartnerinnen, die von Partnergewalt betroffen waren und Kinder hatten, berichten davon, wie die Kinder zu Zeugen der gewaltsamen Übergriffe wurden, obwohl sie als Mütter versucht hätten, dies zu verhindern. Dass die gewalttätigen Partner nicht bereit waren, sich vor den Kindern zurückzunehmen, empfinden die betroffenen Frauen als zusätzliche Belastung. Rückblickend sind es Situationen wie die im Folgenden beschriebene, die die Frauen lange nachdem sie aus der Gewaltsituation herausgefunden hatten, verarbeiten mussten: „Die Kinder standen dabei und sahen alles. Sie fingen an zu weinen und baten ihn aufzuhören. ‚Stop, stop‘, gebärdeten sie zu ihrem Vater“. In einem Fall führte der dringende Wunsch, die Kinder fortan vor Szenen dieser Art schützen zu wollen, zur Trennung. Aber auch das Gegenteil ist möglich: „Für mich ist eigentlich schon klar, dass nichts mehr wird aus uns beiden. Aber die Kinder sind noch da, deswegen halte ich den Mund und ertrage das alles“.
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Zusätzlich zu den eigenen belastenden gesundheitlichen und psychosozialen Gewaltfolgen fühlen sich die gehörlosen Mütter in der Verantwortung gegenüber ihren Kindern. Kommt es zu einer Trennung, sind es die Mütter, die das Hauptsorgerecht für die Kinder tragen müssen. Wo von einer Trennung berichtet wird, bricht der Kontakt zum Vater ab, auch weil die Kinder einen Kontakt zum Vater verweigern: „Mein Sohn ist aber immer bei seinem Standpunkt geblieben und hat klar gesagt, dass er keinen Kontakt zum Vater mehr wünscht“. Die Verarbeitung der eigenen traumatischen Situation wird dadurch erschwert, dass das Erlebte Spuren im Verhalten der Kinder hinterlassen hat und sie verstärkt die mütterliche Aufmerksamkeit brauchen, um wieder in den normalen Lebensalltag hineinzufinden: „Ich weiß, dass da noch einiges auf mich zukommen wird, vor allem mit den Kindern, aber die können ja nichts dafür“.
5.5 Ressourcen In den vorangegangenen Kapiteln wurde die Gewaltbetroffenheit der Interviewpartnerinnen thematisiert und nach den Ursachen und Risikofaktoren für die hohe Vulnerabilität dieser speziellen Personengruppe gefragt. Hier geht es darum, welche Form der Unterstützung und Hilfe gehörlose Frauen in Betracht ziehen, um aus der Gewaltsituation herauszufinden: • Was stand ihnen zur Verfügung oder wurde in Anspruch genommen? • Welche Aktivitäten entfalteten die Interviewten aus eigener Kraft und was waren die Wendepunkte, die dazu geführt haben? • Auf welche auch persönlichen Stärken konnten sie dabei zurückgreifen? • Welche Schwierigkeiten ergaben sich? • Welche Bedingungen für gelingende oder scheiternde Bewältigungsversuche werden genannt? In den Interviews wurde deutlich, dass die Wege aus der Gewaltsituation sehr unterschiedlich waren und die gehörlosen Interviewpartnerinnen auf v erschiedene Ressourcen zurückgreifen konnten. Sie wurden zum einen aus eigener Kraft und unter Ausnutzung persönlicher Stärken, Resilienzen also, aktiviert, zum anderen wurden verfügbare Personen aus dem engeren sozialen Umfeld um Unterstützung und Hilfe ersucht. Es wurden aber auch Erfahrungen mit Unterstützung im professionellen Kontext berichtet. Alle Bewältigungsversuche waren immer auch mit dem Problem der Hörbehinderung verbunden, und es hing oft von den
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kommunikativen Bedingungen ab, ob sie zum Erfolg führten oder nicht. Um die unterschiedlichen Ebenen der Bewältigungsversuche herauszuarbeiten, wurden drei Subkategorien gebildet: (1) Persönliche Ressourcen (Abschn. 4.5.1), (2) soziale Ressourcen (Abschn. 4.5.2) und (3) professionelle Ressourcen (Abschn. 4.5.3).
5.5.1 Persönliche Ressourcen In dieser Kategorie sind alle Aussagen der Interviewpartnerinnen zusammengefasst, in denen berichtet wird, auf welche persönlichen Stärken sie zurückgreifen konnten, um aus der Gewaltsituation herauszufinden. Ihre Berichte machen deutlich, dass das Gewalterleben nicht automatisch zu einer Schwächung der Person oder Handlungsfähigkeit führen muss. Ein erkennbarer Beginn zur Bewältigung von Gewalterleben wurde meistens durch einen biografischen Wendepunkt markiert. Eine weitere wichtige Rolle für die Motivation, das eigene Leben mit seinen Problemen offensiv in die Hand zu nehmen, spielt die von einigen Interviewpartnerinnen betonte Verbundenheit mit Religion und Spiritualität.
5.5.1.1 Biografische Wendepunkte, die zur Eigeninitiative führten Für acht der zwölf Interviewpartnerinnen waren es biografische Wendepunkte, die entscheidend dazu beitrugen, die Gewaltsituation nicht länger zu akzeptieren bzw. sich selbst bewusst zu machen, dass es sich um eine Gewaltsituation handelt. Für zwei Interviewpartnerinnen, die von sexuellem Missbrauch in Kindheit und Jugend betroffen waren, war ein solcher Wendepunkt der Auszug aus dem Elternhaus. In einem Fall wird der Umzug in eine eigene Wohnung wie ein „Befreiungsschlag“ erlebt. Nicht nur die räumliche Distanz zum Täter spielte eine Rolle, sondern auch das damit einhergehende Bewusstwerden dessen, was ihr angetan worden war. Als ihr Stiefvater sie in ihrer neuen Wohnung besuchte, mit einem Dusch-Shampoo als Geschenk und dem Ansinnen, „bitte jetzt zusammen in die Dusche“ zu gehen, gelang es ihr erstmals, sich erfolgreich zu wehren und den Täter damit ein für alle Mal abzuwehren: „Das war das letzte Mal und wir hörten nix mehr voneinander“. Der anderen Interviewpartnerin, die von den sexuellen Missbrauchserfahrungen in früher Kindheit so traumatisiert war, dass sie sich nicht mehr genau daran erinnern kann, fällt beim Auszug von zu Hause ein Aktenordner in die Hände, in dem ihr Fall dokumentiert ist. Die Eltern hatten eine Strafanzeige gegen den Täter gestellt, der ihre Tochter als Kind sexuell missbraucht hatte. Das Strafverfahren hatte mit einer Verurteilung des
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Täters geendet, aber mit ihrer Tochter, die jahrelang mit dunklen Erinnerungsbildern konfrontiert war, hatten die Eltern nie darüber gesprochen. Erst als Jasmin beim Ausräumen von Möbeln aus dem Elternhaus einen Aktenordner findet, kann sie darin nachlesen, was damals passiert ist, und ihre Mutter zur Rede stellen „Da stand meine Mutter ziemlich auf dem Schlauch, sie hatte wohl damit gerechnet, dass ich alles vergessen würde. Aber ich erinnerte mich noch daran, später, ich erinnerte mich noch an ein paar Kleinigkeiten. Meine Mutter schaute mich an und knickte dann schließlich ein. Ich habe sie dann gefragt, ob der Betreuer mich auch missbraucht hat. Meine Mutter schaute mich an und antwortete: ‚Ja, stimmt´“. Bei zwei weiteren Interviewpartnerinnen spielten das Verantwortungsgefühl für die eigenen Kinder und der Wunsch, sie vor den gewalttätigen Auseinandersetzungen zu beschützen, eine große Rolle: „Die Vorstellung, dass meine Kinder weiterhin damit aufwachsen müssen und später auch Opfer der gewalttätigen Auseinandersetzungen werden, hielt ich nicht mehr aus. Ich beschloss, mich von meinem Mann zu trennen“. Beide Interviewpartnerinnen ergriffen mit Blick darauf, die Kinder davor zu bewahren, weiterhin Zeugen der offen ausgetragenen gewalttätigen Auseinandersetzungen sein zu müssen, die Initiative zum Auszug aus der gemeinsamen Wohnung und schließlich auch zur Trennung vom Partner. Bei zwei anderen Interviewpartnerinnen gab eine schwere Erkrankung Anlass dazu, im Zusammenhang mit Partnergewalt Beratung und Hilfe zu suchen, was schließlich zur Trennung führte. Dora erzählt, wie sie bis zum Krankheitsausbruch anderen Freundinnen half, die in gewalttätigen Beziehungen waren, aber selbst nie dazu bereit war, ihr eigenes Leben in Ordnung zu bringen: „Das war schon vor der Trennung, dass ich anderen Frauen geholfen habe. Ich habe bloß dabei vergessen, in mich selbst reinzuschauen und meine Situation zu erkennen. Das war das Problem. Erst durch meine Erkrankung begann ich, bewusst über mich selbst nachzudenken, und konnte dann auch sehen, was das eigentliche Problem war“. Christa konnte erst nach einer lebensgefährlichen Operation über das, was sie erlebt hatte, nachdenken und anfangen, sich sowohl mit dem Gewalterleben auseinanderzusetzen als auch die mit der Trennung einhergehenden psychischen Probleme mit einer Therapeutin zu besprechen: „Nun kann ich endlich trauern und weinen. Sehr viel, immer wieder“. Einer Interviewpartnerin ist es erst möglich, die Geschichte des sexuellen Missbrauchs durch ihren Bruder aufzuarbeiten, als er stirbt. Sie berichtet davon, wie sie die belastenden Ereignisse ihrer Kindheit jahrelang verdrängt hatte und in Suchtabhängigkeit geriet. Als sie später eigene Kinder bekam, hatte sie Flashbacks zurück in die eigene Kindheit und bekam psychosomatische Probleme, die sie vergeblich zu behandeln versuchte. Erst als ihr Bruder stirbt, gelingt ihr
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die Aufarbeitung der traumatisierenden Kindheitserlebnisse, indem sie sich in psychotherapeutische Behandlung begibt: „Seit mein Bruder tot ist, kann ich klarer sehen, meine Kindheit stand mir klarer vor Augen. Als er noch lebte, war das nicht so, eher verschwommen und schwarz. Ist schwierig zu beschreiben, ich hatte mein Leben damals immer dunkel im Hinterkopf“. Eine Interviewpartnerin gibt an, einen besonders extremen körperlichen Angriff des Partners erlebt zu haben, der für sie zu einem persönlichen Wendepunkt wurde und durch den die jahrelange ausgehaltene psychische und körperliche Gewalt einen Höhepunkt erreichte. Sie wurde durch diesen Angriff im Beisein der Kinder so schwer verletzt, dass ihr schlagartig klar wurde, „dass ich für ihn nichts wert bin. Ich wollte nicht mehr seine Dienerin sein. Auch spürte ich keine Liebe mehr zu ihm“. Mithilfe einer Freundin und ihres Vaters erstattete sie umgehend Anzeige gegen ihren Mann, der einen Platzverweis erhielt und die gemeinsame Wohnung räumen musste.
5.5.1.2 Religion und Spiritualität Für drei Interviewpartnerinnen war der Bezug zu Religion und Spiritualität eine bedeutsame persönliche Ressource für die Bewältigung und Verarbeitung der Gewaltsituationen. Während eine ältere Interviewpartnerin ihren Bezug zur Religion als christlich, „im Glauben an Jesus Christus“ definiert, beziehen sich die beiden anderen eher allgemein auf übersinnliche Erfahrungen, die mit einer „spirituellen Lebensweise“ und „Meditation“ einhergehen. Alle drei Frauen betonen, wie sehr ihnen dieser Weg bei der Bewältigung der erlebten Gewaltsituationen helfe. In einem Interview wird mehrfach das Thema Selbstverletzung und Suizid im Zusammenhang mit der erlebten Gewalt angesprochen. Die Interviewpartnerin gibt an, sich jahrelang am Körper „geritzt“ und sich ernsthaft mit Selbsttötungsabsichten herumgeschlagen zu haben. Allein der Glaube habe sie schließlich davon abgehalten, den Suizid zu realisieren: „Aber ich habe es nicht geschafft, Selbstmord zu begehen, zu groß war der Einfluss des Glaubens an Jesus. Er hat mich davon abgehalten“. Ein weitere Interviewpartnerin, die von früher Kindheit an täglich sexuellen Missbrauch erlebte, leidete auch sieben Jahre nach Beendigung der Gewaltsituation noch an anhaltenden und ätiologisch unklaren Körperbeschwerden, wie Halsschmerzen, fehlendem Körpergefühl und Kraftlosigkeit in den Gliedmaßen. Eine begonnene Psychotherapie brach sie ab, weil sie das Gefühl hatte, diese bringe sie nicht weiter. Erst nachdem sie einen „anderen Weg, den spirituellen“ eingeschlagen hatte, spürte sie eine allmähliche Besserung ihrer Beschwerden: „Ich spüre jetzt endlich wieder ein Gefühl in meinen Beinen. Das ist schon angenehm. Sie sind auch nicht mehr so angespannt, sondern von anderen Gefühlen überlagert. Und so muss ich mit meinem Körper
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weiter arbeiten. Das dauert noch. Deshalb denke ich auch, dass eine Psychotherapie allein nicht ausreicht. Sie allein wird niemals helfen. Man muss auch spirituelle Dimensionen einbeziehen, Schamanismus, Heilprozesse sind notwendig“. Auch Klara, die ebenfalls in Kindheit und Jugend sexuell missbraucht wurde, berichtet davon, wie ihr erst die Beschäftigung mit Spiritualität ermöglicht habe, sich mit der dunklen Seite ihres Lebens auseinanderzusetzen, und dass ihr dadurch die Bewältigung der lange zurückliegenden Gewaltsituationen besser gelungen sei: „Seit zwei Jahren beschäftige ich mich damit und ich habe schon gemerkt, dass ich eine Menge verarbeitet habe“. Motiviert davon, beginnt sie eine Psychotherapie, nicht speziell zur Verarbeitung der erlebten Gewalt, sondern vielmehr, um in Zukunft „leichter durch das Leben zu gehen“.
5.5.2 Soziale Ressourcen Unter die Subkategorie Soziale Ressourcen fallen alle Angaben über die Inanspruchnahme von Unterstützung und Hilfe im engeren sozialen Umfeld. Es geht also darum festzuhalten: Welche Personen im unmittelbaren sozialen Netzwerk standen den gewaltbetroffenen gehörlosen Frauen als Ansprechpartner zur Verfügung oder wurden als Ansprechpartner in Anspruch genommen? Das konnten Eltern sein, Freunde und Bekannte, im Erwachsenenleben auch Beziehungspartner oder Arbeitskollegen.
5.5.2.1 Unterstützung durch Familienangehörige In Abschnitt 5.4 („Risikofaktoren“) wurde bereits deutlich, dass die Unterstützung durch Eltern und Geschwister durch die eingeschränkte Kommunikationssituation im Elternhaus und die daraus resultierende fehlende vertrauliche Nähe erschwert war oder unmöglich gemacht wurde. Bei Gewalterleben in Kindheit und Jugend hat keine der davon betroffenen gehörlosen Interviewpartnerinnen eine Möglichkeit gesehen, sich ihren Eltern mitzuteilen. Nur eine Interviewpartnerin berichtet davon, dass sie versucht habe, ihrer Mutter von den sexuellen Übergriffen der gehörlosen Jungen im Internat zu erzählen, aber die Mutter habe sie nicht verstanden (Gisela, 00:37:26). Interessanterweise gelingt es aber ihrer Freundin, in ihrem Elternhaus darüber zu erzählen und verstanden zu werden. Diese Freundin ist schwerhörig und hat es deshalb „viel leichter, sich mitzuteilen“. Gisela erlebt, wie die Mutter der Freundin aktiv wird und mit den Internatserziehern über das Vorgefallene spricht. Danach bessert
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sich die Situation im Internat ein wenig, aber Gisela redet nach diesem einen gescheiterten Versuch nie wieder mit ihrer Mutter über das Erlebte. Und auch sonst suchte keine der von Gewalt in Kindheit und Jugend betroffenen Interviewpartnerinnen die Nähe der Eltern. Dass insbesondere die Mütter nicht als Ansprechpartnerinnen in Kindheit und Jugend zur Verfügung standen, wird von einer der Interviewpartnerinnen rückblickend bedauert: „Meist spricht man doch mit der Mutter darüber. Wie es beim ersten Mal ist, wie sich das anfühlt und so. Man ist doch neugierig und aufgeregt, spricht über Ängste. Die Mutter kann einen dann beruhigen und viel erklären. Meiner Mutter habe ich nichts von alledem erzählen können“. Alle in Kindheit und Jugend von Gewalt betroffenen Interviewpartnerinnen geben auf Nachfragen, warum sie sich den Eltern nicht mitgeteilt hätten, an – abgesehen von gravierenden Kommunikationsproblemen (s. auch Abschn. 2.1) –, keine „vertrauensvolle Beziehung“ gehabt zu haben, sich „unsicher“ gefühlt zu haben und deshalb gegenüber der eigenen Mutter wie „gelähmt“ gewesen zu sein; sie wollten die Eltern nicht zusätzlich „belasten“ oder ihnen nicht noch mehr „Sorgen“ bereiten, als sie ohnehin schon durch ein behindertes Kind hatten. Tatsächlich fallen die Eltern als soziale Ressource bei allen Interviewpartnerinnen, die in Kindheit und Jugend Gewalt erlebt haben, vollständig aus. Erst bei Gewaltsituationen im Erwachsenenalter kommt den Eltern einiger Interviewpartnerinnen eine unterstützende Rolle zu: Zwei Interviewpartnerinnen berichten davon, dass die Eltern die Gewaltvorfälle durch den Partner mitbekamen und sie in Gesprächen von ihnen immer wieder ermutigt wurden, sich zu trennen. In einem Fall kam es so weit, dass die Eltern dem gewalttätigen Schwiegersohn ein Besuchsverbot aussprachen. Sie hofften, dass das die Trennung beschleunigen würde: „Sie sagten mir, nur die Kinder und ich seien bei ihnen willkommen. Mein Mann möge bitte fortan zu Hause bleiben“. Fees Eltern spielten im anschließenden Trennungsprozess eine wichtige Rolle: Der Vater begleitete sie, als sie bei der Polizei Strafanzeige gegen den Ehemann stellte, und half ihr, nach Unterbringungsmöglichkeiten in Frauenhäusern zu suchen. Helena berichtet, dass die Gespräche mit der Mutter ihr besonders im laufenden Strafverfahren nach der Trennung „Kraft gegeben“ hätten, weil die Mutter bei der Gelegenheit erzählte, dass sie früher selbst Ähnliches erlebt habe. Auch sie sei in einer gewalttätigen Beziehung mit Helenas Vater gewesen, von dem sie sich aber bereits getrennt hatte, bevor die Tochter geboren wurde.
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Bei einer weiteren Interviewpartnerin helfen die Eltern mit alltagspraktischen Dingen. Sie finanzieren der Tochter heimlich einen Führerschein, damit es ihr möglich wird, aus dem isolierten Leben in einer gewaltbelasteten Ehe zumindest gelegentlich herauszukommen und damit auch der starken sozialen Kontrolle der Dorfgemeinschaft zu entfliehen. Zwei andere Interviewpartnerinnen berichten aber auch von gegenteiligen Erfahrungen, als sie die Eltern um Hilfe bitten. In einem Fall war die Mutter, der die Tochter sich anvertraute, „ziemlich überfordert mit dieser Situation“ und konnte keine praktische Hilfestellung geben. In einem anderen Fall verurteilten die Eltern das Verhalten der Tochter, welche sie nach erlebter sexueller Gewalt durch den Partner besuchte, um sich ihnen anzuvertrauen: „Sie erwiderten auf die Erzählung von der Vergewaltigung durch meinen Mann, dass das doch normal sei und vorkommen kann. Sie kritisierten mich nur und überhäuften mich mit vielen anderen Vorwürfen, bis es mir zu viel wurde“. Christa brach daraufhin den Kontakt zu ihren Eltern ab. In einem weiteren Fall von Partnergewalt vermutete die Interviewpartnerin von Vornherein, dass ihre Eltern die Trennung und vor allem die Trennungsgründe nicht akzeptieren würden, weil sie froh waren, die gehörlose Tochter gut versorgt und in einer Beziehung mit einem Mann zu wissen, der für sie wie ein eigener Sohn war. Dora löste dieses Problem, indem sie den Eltern nicht nur nichts über die langjährigen gewalttätigen Übergriffe durch den Partner erzählte, sondern einen anderen Trennungsgrund angab: Sie sagte ihren Eltern, dass sie ihren Partner nicht mehr liebe. Die Eltern reagierten enttäuscht und mit Unverständnis über das Verhalten der Tochter, die einen vermeintlichen „guten Mann“ sitzen lasse. Da von ihnen keine Hilfe und keine Unterstützung zu erwarten gewesen sei, musste diese Erklärung genügen, um die Eltern nicht wissen zu lassen, „dass ihre Tochter so etwas erlebt“. In einem anderen Fall spielt die besondere Beziehung zur hörenden Schwester eine zentrale Rolle dabei, einen Ausweg aus der Gewaltsituation zu finden. Gisela, die 14 Jahre lang durch ihren Mann Partnergewalt erfuhr und sehr stark von Außenkontakten isoliert war, gelang mithilfe der Schwester die Flucht ins Frauenhaus. Die Flucht wurde als Urlaubsreise zur Schwester getarnt, Papiere und persönliche Dokumente wurden heimlich ins Gepäck genommen, nachdem die Faxkommunikation mit der Schwester die Interviewpartnerin dazu ermutigt hatte, endlich aus der gewaltbelasteten Ehe auszubrechen. Alles wurde sorgfältig vorbereitet: „Meine Schwester hatte sich auch Urlaub genommen und war vorbereitet auf das, was nun kam. Kaum waren meine Schwiegereltern weg, berieten
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wir uns, was zu tun ist. Meine Schwester rief dann in verschiedenen Frauenhäusern an. Aber alles stellte sich als schwierig heraus. Als letzte Möglichkeit bot sich das Frauenhaus hier in [Kleinstadt] an. Hier war noch ein Platz frei“. Die hörende Schwester dolmetschte das Aufnahmegespräch im Frauenhaus und klärte die mit der Situation überforderten Mitarbeiterinnen auf, wie die Kommunikation mit Gehörlosen abläuft. In einem weiteren Fall sind es die gehörlosen Geschwister, die sich wechselseitig ermutigen, Anzeige gegen den misshandelnden Vater zu stellen. Alle sind schon im Erwachsenenalter und waren in Kindheit und Jugend auf unterschiedliche Art und Weise von körperlichen oder sexuellen Übergriffen des Vaters betroffen. Niemand redete darüber, obwohl alle davon wussten. Erst im Erwachsenenalter, als die meisten nicht mehr zu Hause wohnen, gelingt den Geschwistern ein Austausch: „Wir saßen schon öfter so zusammen, aber nicht in der Weise, wie an diesem Tag. Das war wie ein Aufbruch für uns. Hier tauschten wir uns ganz vertraulich über das Verhältnis zu unserem Vater aus. Es war eine besondere Situation in dieser Form. Wir waren uns alle einig, dass mein Vater im Unrecht war. Wir sind dann alle zur Polizei gegangen“. Gegen den Vater wurde Anzeige erstattet. Die Geschwister sagten im Strafverfahren gegen den Vater füreinander als Zeuginnen aus und versuchten in gemeinsamen Gesprächen, die traumatischen Kindheitserlebnisse zu verarbeiten. Zwei Jahre lang trafen sich die Geschwister mit noch einer weiteren gewaltbetroffenen gehörlosen Freundin, um sich gegenseitig im Bewältigungsprozess zu stützen und zu helfen.
5.5.2.2 Unterstützung durch hörbehinderte Freunde und Bekannte Bevor gewaltbetroffene gehörlose Frauen, und vor allem diejenigen von ihnen, die im Erwachsenenleben Gewalt in gehörlos-gehörlosen Partnerschaften erfahren haben, sich an Institutionen oder professionelle Unterstützungsangebote wandten, suchten sie meistens Hilfe bei Personen im nahen Umfeld. Das sind nicht unbedingt enge Freunde oder gar Vertrauenspersonen. Dass solche nahestehenden Personen häufig fehlten, wurde bereits deutlich (s. auch Abschn. 4.4.5.2). Aus der Notsituation heraus suchten sich die Frauen jedoch gezielt Personen aus der regionalen Gehörlosengemeinschaft aus, die ihnen dabei helfen konnten, die Polizei anzurufen oder in häufig sehr unvollkommener Weise zu dolmetschen. In der Regel sind es schwerhörige Bekannte, Frauen und Männer, die von den Frauen in den Interviews rückblickend auch als Freund oder Freundin bezeichnet werden, weil sie sich als tatsächlich hilfreich
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erwiesen: „Ja, diese Person, also ich sag jetzt mal, dass das meine Freundin ist, die ist schwerhörig und verkehrte sonst kaum mit Gehörlosen, ist aber eine sehr angenehme Person“. Wichtig für die gehörlosen Interviewpartnerinnen war es, dass diese schwerhörigen Personen mit Hörenden kommunizieren konnten, aber auch die Gebärdensprache beherrschten, sodass es möglich war, direkt mit ihnen zu kommunizieren: „Ja, eigentlich war sie schwerhörig, aber sie benutzt die Gebärdensprache“. Von den sechs Interviewpartnerinnen, die partnerschaftliche Gewalt erfahren haben, nutzten vier solche schwerhörigen Personen, um in Kontakt mit professionellen Unterstützungsangeboten zu treten. Es wird davon berichtet, dass die hörbehinderten Helfer bei der Polizei anriefen und bei der ärztlichen Untersuchung beim Anwalt oder sogar auch im weiteren Strafverfahren dolmetschten. In einem Fall kam einer schwerhörigen ehemaligen Mitschülerin eine besonders wichtige Rolle zu. Eine Interviewpartnerin, die sehr stark isoliert lebte, nutzte eine medizinische Untersuchung ihres Sohnes, die jährlich erfolgen musste, um auf dem Weg zum Krankenhaus bei der Mitschülerin vorbeizufahren. Die schwerhörige Schulfreundin riet ihr beim ersten Besuch bereits dringend, sich von ihrem Mann zu trennen und rief beim nächsten Besuch ein Jahr später die hörende Schwester der gehörlosen Interviewpartnerin an, um mit ihr einen Plan zur Flucht aus der häuslichen Isolation ins Frauenhaus zu besprechen. Ohne solche Personen aus der Gehörlosengemeinschaft, die über bessere Hörreste verfügen und deshalb auch telefonieren oder sogar behelfsmäßig dolmetschen können, hätten die Interviewpartnerinnen vermutlich nicht so schnell den Weg aus der Gewalt gefunden: „Ich hätte das aus eigener Kraft nicht machen können, ganz klar. Wenn sie nicht für mich gedolmetscht hätte, wäre ich nicht zur Polizei gegangen“. In einem Fall erweist sich die Unterstützung durch eine gehörlose Bekannte jedoch als problematisch. Diese hatte der Interviewpartnerin eine Zuflucht in ihrer Wohnung angeboten, nachdem die Unterbringung im Frauenhaus fehlgeschlagen war. Das Problem war jedoch, dass diese gehörlose Bekannte auch mit dem Partner der gewaltbetroffenen Frau befreundet war. Mit diesem hielt sie Kontakt und ließ ihn heimlich Helenas Tagebücher lesen. Als Helena davon erfährt und ihr Vertrauen enttäuscht sieht, kommt es zum Abbruch der Beziehung. Hier erweist sich die Vernetztheit der Gehörlosengemeinschaft als problematisch. Dass sie nicht in jeder Lebenslage als soziales Netzwerk geeignet ist, wird auch in den nachfolgenden Aussagen von Interviewpartnerinnen deutlich, die überlegt hatten, Selbsthilfegruppen innerhalb der Gehörlosengemeinschaft aufzusuchen.
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5.5.2.3 Selbsthilfegruppen mit anderen gehörlosen betroffenen Frauen Nur eine Interviewpartnerin kann von einer Selbsthilfegruppe berichten, die ihr sehr hilft. Diese Gruppe wird von einer hörenden Therapeutin geleitet und richtet sich speziell an gehörlose Frauen, die von Gewalt betroffen sind: „Es kommen dort gehörlose Frauen zusammen, die von verschiedenen Formen von Gewalt betroffen sind: Körperlich, sexuell, Mobbing und so weiter. Wir tauschen uns aus und es gilt die Schweigepflicht. Sobald eine von uns etwas nach außen trägt, wird ihre Therapie sofort abgebrochen“. Die Betonung der Schweigepflicht ist besonders wichtig, denn schlechte Erfahrungen mit der innerhalb der Gehörlosengemeinschaft ausgeübten sozialen Kontrolle (s. auch Abschn. 5.4.5.1) sind für einige Interviewpartnerinnen der Hauptgrund, weshalb sie sich nicht vorstellen können, mit anderen gewaltbetroffenen Frauen in eine Selbsthilfegruppe zu gehen: „Ich bin doch keine gläserne Person, sondern eine Person, die besonders geschützt werden muss. Das macht es ja so schwierig“. Die gehörlosen Frauen befürchten vor allem, in Selbsthilfegruppen auf Gehörlose zu treffen, die sie bereits kennen, und in diesem Kreis gezwungen zu sein, etwas von den eigenen Problemen zu erzählen. Inge, die bereits gute Erfahrungen in einer Selbsthilfegruppe mit hörenden Personen gemacht hat, kann sich auf keinen Fall eine solche Gruppe für Gehörlose vorstellen: „Nein, für Gehörlose kann ich mir das ganz unmöglich vorstellen. Ich hätte auch gar kein Vertrauen unter Gehörlosen. Unter Hörenden kann ich auspacken und loswerden, was mich belastet“. Christa bringt einen anderen Argumentationszusammenhang ein: Sie befürchtet, durch die gebärdensprachlichen Schilderungen anderer gehörloser Frauen, die Ähnliches erlebten wie sie, „retraumatisiert“ zu werden, da sie bisher keine Möglichkeit gehabt habe, die eigenen Erfahrungen ausreichend zu verarbeiten. In den Interviews wurde gezielt auch nach den Erfahrungen mit der KoFit-Bewegung gefragt, einer zum Zeitpunkt der Interviewführung bestehenden Interessensvertretung und Selbsthilfegruppe gehörloser und hörbehinderter Menschen mit psychischen, psychosozialen oder somatischen Störungen (http:// www.kofit.de). Doch nur zwei der zwölf Interviewpartnerinnen waren bei einem KoFit-Treffen dabei, zeigten sich jedoch positiv beeindruckt, wie folgende Aussage von Christa deutlich macht: „Eine gehörlose Person erzählte dort sehr offen von ihren Gewalterlebnissen, die äußerst brutal waren und schlimm gewesen sind. Mich hat es beeindruckt, dass sie so mutig über ihre Erlebnisse berichtet hat. Ich dachte dann, dass ich das auch mal so machen sollte wie sie. Das war bei Kofit der Fall. Das fand ich supertoll“. Beide Interviewpartnerinnen waren
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beeindruckt von diesem informellen Treffen, nutzten aber für sich selbst nicht die Möglichkeit, sich über ihre Erfahrungen auszutauschen.
5.5.2.4 Unterstützung durch Partner Zwei Interviewpartnerinnen, die von sexuellem Missbrauch in Kindheit und Jugend betroffen waren, berichten davon, von ihren Partnern bei der Bewältigung dieser Erfahrungen unterstützt worden zu sein. Sie hätten sich dem jeweiligen Partner gegenüber geöffnet und von der Gewalterfahrung erzählt. Die eine hat einen verständnisvollen Partner, der im Laufe der langjährigen Beziehung auch immer wieder versuchte, mit ihrem Bruder, der sie in Kindheit und Jugend körperlich und sexuell missbrauchte, zu sprechen. Als durch die Geburt der Kinder bei Andrea Retraumatisierungen und psychosoziale Belastungsstörungen einsetzten, motivierte der Partner sie zu einer Therapie Bei der anderen interviewten Frau, die mit einem gehörlosen Partner zusammen ist, zeigte sich eine andere Entwicklung. Das am Anfang der Ehe gezeigte Verständnis für die sexuellen Missbrauchserfahrungen der Partnerin kippte schnell um, als es in der Ehe zu kriseln begann. Jasmins Partner warf seiner Frau vor, dass sie aufgrund ihrer Kindheitserfahrungen immer weniger mit ihm schlafe: „Vor zwei, drei Jahren fing es an, dass er mich verachtend anschaute und mir mitteilte, dass doch klar sei, warum es zwischen uns nicht mehr läuft. ‚Was ist los?‘, wollte ich wissen. Da warf er mir an den Kopf, dass ich deshalb auch nicht mehr mit ihm schlafen würde und auch nicht mehr mit ihm schmusen mag“. Die Partnerschaft zerbricht, nachdem der Partner sie immer wieder mit anderen Frauen betrügt und schließlich eine neue Partnerin findet, für die er seine Frau verlässt. Für zwei andere Interviewpartnerinnen ist der jeweilige neue gehörlose Partner im Bewältigungsprozess nach dem Erleben von Partnergewalt eine wichtige Stütze. Eine Interviewpartnerin, die während der Trennungsphase erneut einen körperlichen Angriff vom eigentlich schon getrennt lebenden Partner erlebte, informierte den neuen Partner unmittelbar, bevor die Situation zu eskalieren drohte, per SMS, dass sie Angst habe und „nervös“ sei, schrieb jedoch keinen zusammenhängenden Satz, sondern nur unklare Bruchstücke: Der neue Partner, der in einer weit entfernten Stadt wohnte, war beunruhigt und benachrichtigte eine Freundin vor Ort, vorbeizugehen und nach dem Rechten zu schauen. Die Freundin fand die Interviewpartnerin schwer verletzt am Boden liegend vor, konnte jedoch die Polizei informieren und einen Krankenwagen holen. Auch beim nachfolgenden Prozess gegen den ehemaligen Partner erweist sich der neue Partner als eine wichtige Stütze.
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Eine andere Interviewpartnerin berichtet, wie sie von ihrer neuen gehörlosen Partnerin, bei der sie nach der Trennung von ihrem Ehemann Zuflucht und Aufnahme fand, ermutigt wurde, Strafanzeige zu stellen. Die Unterstützung, die sie auch emotional durch die neue Partnerin erfährt, hilft ihr nicht nur in praktischer Hinsicht: „Sie unterstützt mich so, dass sie mich dadurch auch therapiert. Sie ist auch von ihrer Mutter so erzogen worden und kennt allgemein die psychischen Probleme. Ich bin meiner Freundin sehr dankbar“. Wie später noch zu sehen sein wird, ist der Zugang zu Therapieangeboten für gehörlose Frauen besonders schwierig, weil es kaum gebärdensprachkompetente Therapeuten gibt oder oft lange Wartezeiten in Kauf zu nehmen sind, bis die Behandlung beginnen kann. Ein verständnisvoller Partner, der sich in die eigene Lage hineinversetzen kann und mit dem der kommunikative Austausch uneingeschränkt möglich ist, kann für gewaltbetroffene gehörlose Frauen eine wichtige Unterstützung sein.
5.5.2.5 Unterstützung durch hörende und gehörlose Arbeitskollegen und Vorgesetzte Trotz der bestehenden Kommunikationsbarrieren erweisen sich hörende Kollegen als verständnisvoll und hilfsbereit. Christa berichtet, dass ihr hörende Kollegen raten, sich von ihrem Mann zu trennen und eine eigene Wohnung zu suchen, und ihr dafür ihre Unterstützung anbieten. Gisela, die mithilfe ihrer Mutter heimlich den Führerschein macht (s. auch Abschn. 5.5.2.1), muss ihren Vorgesetzten in diese Pläne einweihen und um eine Notlüge bitten: „Ich habe dann meinen Chef eingeweiht und ihn gebeten, mich zu unterstützen. Wenn meine Schwiegermutter anrufen sollte, sollte er ihr sagen, dass ich länger arbeiten muss. Es musste um jeden Preis verheimlicht werden, dass ich nach Feierabend die Fahrschule besuchte. Zum Glück hatte mein Chef Verständnis und unterstützte mich“. In beiden Beispielen wird deutlich, dass hörende Kollegen und Vorgesetzte ein positiver Unterstützungskontext sein können. Zwei andere Interviewpartnerinnen berichten dagegen von negativen Erfahrungen, die sie am Arbeitsplatz mit gehörlosen Kollegen machen mussten. Eine Interviewpartnerin, die während ihrer Ausbildung in einer großen Firma, in der auch andere Gehörlose beschäftigt waren, sexuell belästigt wurde (s. auch Abschn. 5.3.3), erlebte, wie ihre gehörlosen Kollegen den Vorfall herunterspielten und ihr vorhielten, sie „sei ja empfindlich und hätte übertrieben reagiert“. Sie zeigten kein Verständnis für ihre Geschichte und machten ihr darüber hinaus Vorwürfe, weil sie den Vorgesetzten von dem Vorfall in Kenntnis gesetzt hatte. Der hörende Vorgesetzte erwies sich als hilfreich und unterstützend und
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bedachte Jasmins Ausbilder als Verursacher der sexuellen Belästigung mit einer Abmahnung. Anstatt den Mut anzuerkennen, mit dieser Geschichte als Auszubildende an die betriebliche Öffentlichkeit zu gehen, wurde sie von den gehörlosen Kollegen fortan verachtet, weil sie ja „gepetzt habe“. In einem anderen Fall wird erzählt, dass die betroffene gehörlose Frau bei einem gehörlosen Vorgesetzten nicht mit Unterstützung hätte rechnen können und deshalb geschwiegen habe: Eine interviewte Frau berichtet, wie sie nach vielen Jahren zufällig dem einstigen Täter, der sie als kleines Mädchen sexuell missbraucht hatte, gegenübersteht. Sie ist seine Dozentin und er sitzt ihr in der Klasse als Schüler gegenüber. Im Interview beschreibt sie, wie schwer es ihr fiel, diese Situation auszuhalten, zumal der ehemalige Täter, den sie aus den Augen verloren hatte, sie wiedererkennt und während des Unterrichts wiederholt auf die frühere Situation anspielt. Die Dozentin überlegt, ob sie den Unterricht abbrechen und ihren Vorgesetzten ins Vertrauen ziehen soll. Sie verwirft diese Überlegung aber, weil sie mutmaßt, dass sie von dem Vorgesetzten keine Solidarität erwarten könne: „Der Grund war, dass mein Chef dort auch gehörlos war und dass den meine persönlichen Gründe nicht die Bohne interessiert hätten. Er hätte mich sowieso sofort in den Unterricht zurückgeschickt. Ich wusste also nicht, was ich machen sollte“. Die Interviewpartnerin versucht, allein mit der Situation zurechtzukommen und führt ihren Unterricht mit viel Mühe und Selbstbeherrschung fort. Auch hier wird deutlich, wie dünn die Vertrauensbasis innerhalb der Gehörlosengemeinschaft ist. Man kann darüber spekulieren, warum sie den gehörlosen Vorgesetzten nicht ins Vertrauen ziehen wollte. Offenbar vermutete sie bei ihrem Vorgesetzten einen Mangel an Empathie und Verständnis, wie dies auch die andere interviewte Frau bei ihren gehörlosen Arbeitskollegen erlebte. Ein weiterer Grund mag die Sorge gewesen sein, dass ihre Geschichte, einmal erzählt, in der Gehörlosengemeinschaft bekannt werden könnte.
5.5.3 Professionelle Ressourcen Alle Interviewpartnerinnen haben in unterschiedlicher Weise professionelle Dienstleister und Institutionen in Anspruch genommen. Das waren vor allem therapeutische, medizinische, soziale und rechtliche Angebote. In dieser Subkategorie sind alle Aussagen versammelt, die die gehörlosen Frauen zur Inanspruchnahme von professioneller Unterstützung gemacht haben. Die folgende Tabelle zeigt zunächst übersichtsartig an, welche Angebote die Interviewpartnerinnen in Anspruch nahmen, ob sie Anzeige erstatteten und ob ein Strafverfahren stattfand (Tab. 5.7).
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Tab. 5.7 Inanspruchnahme professioneller Unterstützung Name
Anzeige/Verfahren
Dienstleister/ Institutionen
Ergebnis erfolgreiche Einzeltherapie
Andrea nein
Therapie bei hörbehinderter Therapeutin in DGS
Beate
ambulante Psychotherapie ambulante Therapie kann bei hörender Therapeutin nicht fortgesetzt werden, da Krankenkasse die Kosten in DGS bei dieser Therapeutin nicht weiter übernimmt
nein
Christa ja: Anzeige und Verfahren
stationärer Aufenthalt im Behandlungszentrum für Hörgeschädigte
Behandlung wurde von der Interviewpartnerin wegen unpassender Arzneimittelgabe abgebrochen
Rehabilitation in einer Fachklinik für Hörgeschädigte
erfolgreiche Einzeltherapie bei hörgeschädigtem Psychologen
sichert die kommunikative Weißer Ring: Kostenübernahme für Gebärden- Barrierefreiheit in Gesprächen mit der sprachdolmetscher Anwältin abgebrochen, da sie sich Ambulante Therapie bei hörender Therapeutin mit unverstanden fühlte DGS-Kompetenz Dora
Elin
erfolgreiche Einzeltherapie bei hörgeschädigtem Psychologen
ja: Anzeige und Verfahren gegen den jugendlichen Straftäter
Rehabilitation in einer Fachklinik für Hörgeschädigte
nein
Familientherapie zusammen mit dem gewalttätigen Partner bei hörender gebärdensprachkompetenter Therapeutin
Therapeutin muss Gebärdensprach dolmetscherin als Unterstützung miteinbeziehen, da sie mit zwei gehörlosen Klienten überfordert ist und das Gespräch nicht mehr steuern kann
Rehabilitation in einer Fachklinik für Hörgeschädigte
erfolgreiche Einzeltherapie bei hörgeschädigtem Psychologen
erfolgreiche, zum Zeitambulante Psychotherapie bei hörbehinderter punkt des Interviews noch laufende Therapie Therapeutin
(Fortsetzung)
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5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
Tab. 5.7 (Fortsetzung) Name
Anzeige/Verfahren
Dienstleister/ Institutionen
Fee
Anzeige, Platzverweis Aufnahme im Frauenhaus und Verfahren, Verurteilung des Täters auf Bewährung
Einzel- und Gruppentherapie bei hörender, gebärdensprachkompetenter Therapeutin Gisela
nein
Ergebnis kurzer und als hilfreich erfahrener Aufenthalt im Frauenhaus, Gebärdensprachdolmetscher standen zur Verfügung, konstruktive Gespräche führen dazu, dass die Interviewpartnerin bald wieder eigenständig leben kann Einzel- und Gruppentherapie mit anderen gewaltbetroffenen gehörlosen Frauen wird positiv erlebt
Aufnahme im Frauenhaus große kommunikative Barrieren im Frauenhaus, da keine Gebärdensprachdolmetscher zur Verfügung standen
Helena ja: Anzeige gegen mehrere gewalttätige Partner in Folge
Aufnahme im Frauenhaus abgebrochen, da sich Interviewpartnerin nicht wohlfühlte
Inge
Gruppentherapie zur Stärkung des Selbstbewusstseins bei hörender gebärdensprachkompetenter Therapeutin
nein
Therapie wird als erfolgreich bewertet, auch wenn hier keine Aufarbeitung des Gewalterlebens erfolgt
Jasmin Anzeige und Verfahren durch die Eltern
Abbruch der Therapie Therapie bei einem hörenden Psychologen, zu wegen gravierender kommunikativer Probleme dem sie als Jugendliche von ihrer Mutter geschickt wird
Klara
Therapie wird trotz Therapie bei einer hörenden Therapeutin, die kommunikativer Barrieren nur wenig gebärden kann als erfolgreich bewertet, auch wenn hier keine Aufarbeitung des Gewalterlebens erfolgt
nein
(Fortsetzung)
5.5 Ressourcen
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Tab. 5.7 (Fortsetzung) Name
Anzeige/Verfahren
Dienstleister/ Institutionen
Ergebnis
Lucie
Anzeige und Verfahren; Verurteilung des Täters
Therapie bei gebärdensprachkompetenter hörender Therapeutin
Therapie wird nach fünf Sitzungen abgebrochen, da sie als wenig erfolgversprechend empfunden wird
alternative Heilungsmethoden: Inanspruchnahme einer Schamanin und Heilerin; regelmäßige Meditation in einer Gruppe durch einen hörenden gebärdensprachkompetenten Yogi-Lehrer
alternative Heilmethoden bringen der Interviewpartnerin großen Gewinn und helfen ihr dabei, ihr Körpergefühl zurückzubekommen
Die folgenden Abschnitte, die sich auf den konkreten Erfahrungsgehalt bei der Inanspruchnahme professioneller Unterstützung beziehen, sind nach Bereichen bzw. Institutionen gegliedert, die von den Interviewpartnerinnen aufgesucht wurden.
5.5.3.1 Polizei Für sechs der zwölf Interviewpartnerinnen war die Polizei ein wichtiger Kontakt im Zusammenhang mit erlebter Gewalt. In drei Fällen wurde die Polizei sofort nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung herbeigerufen. Dabei wurde der direkte telefonische Weg gewählt, der jedoch für die gehörlosen Interviewpartnerinnen nicht zugänglich ist, sodass sie verschiedene, meist schwerhörige Personen aus dem sozialen Umfeld bitten mussten, den Kontakt für sie herzustellen. Eine Interviewpartnerin berichtet, wie sie zunächst versuchte, einen für gehörlose Menschen eigentlich barrierefreien Notruf per SMS an die Polizei zu schicken. Trotz guter Deutschkenntnisse sah sie sich jedoch nicht in der Lage, den Notruf zu formulieren: „Zum Beispiel, als mir das passiert ist, hätte ich gerne eine SMS verschickt, aber das ging nicht. Ich wusste nicht, wie ich sie schreiben sollte. Dabei war nicht Angst der Grund. Ich stieß einfach an meine Grenzen. Ich überlegte, wie ich das kommunizieren soll, wie ich das der Polizei sagen soll. Das war das Problem“.
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5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
Der Kontakt zur Polizei erfolgte aber auch indirekt über dritte Personen, ohne dass die Interviewpartnerinnen das beabsichtigt hätten. Eine Interviewpartnerin, die bereits mehrfach von verschiedenen Partnern Gewalt erfahren hatte und Gewalt möglicherweise als Teil ihres Alltags akzeptierte, war überrascht, als Nachbarn, die die Auseinandersetzungen in der Nachbarwohnung mitbekommen hatten, die Polizei alarmierten. Die gehörlose Interviewpartnerin beschreibt, wie das Auftauchen der Polizei sie erschreckte und sie mit ansehen musste, wie die Beamten mit gezückter Waffe die Wohnung stürmten und ihren Partner in Gewahrsam nahmen. Als die Polizei den Partner abführen wollte, bat sie darum, ihn freizulassen: „Ich habe dann darum gebeten, dass man ihn frei lässt. Denn einfach so kaltherzig sein, wollte ich ja doch nicht“. In einem weiteren Fall suchte die Polizei die zu ihrer Schwester geflohene gehörlose Frau auf, da der gehörlose Partner die Schwester wegen angeblicher Entführung seiner Frau angezeigt hatte. Die hörende Schwester konnte in diesem Fall den Sachverhalt schnell und unkompliziert mit der örtlichen Polizeidienststelle klären. In zwei Fällen wird davon berichtet, wie die Polizei erst einige Zeit nach dem Gewalterleben aufgesucht wird. Beide Interviewpartnerinnen geben an, dass man sich dort recht schnell um einen Gebärdensprachdolmetscher gekümmert habe, nachdem zunächst noch mühsam per Aufschreiben kommuniziert worden sei. Als es der Interviewpartnerin gelang, den diensthabenden Polizeibeamten, die das Erscheinen der gehörlosen Interviewpartnerin anfänglich „ganz merkwürdig“ fanden, per schriftlicher Mitteilung klarzumachen, worum es ging, wurde schnell eine Gebärdensprachdolmetscherin herbeigeholt: „Ja, die haben sich selber um eine Dolmetscherin gekümmert, ziemlich viel telefoniert, irgendwer kannte diese Frau über irgendwelche Ecken herum, das klappte auch und sie kam dann dazu“. In zwei Fällen wurden die betroffenen Frauen bei der Polizei auf das Gewaltschutzgesetz hingewiesen: „Das kannte ich überhaupt nicht und wusste nicht, was es bedeutet. Mir war die Vorstellung, dass mein Mann aus der Wohnung sozusagen rausgeschmissen würde und ich dann wieder nach Hause gehen kann, zuerst einmal befremdlich, weil ich vorher nichts von dieser Möglichkeit mitbekommen hatte“. Beide betroffenen Frauen nahmen diese Möglichkeit auf Anraten der Polizei in Anspruch. Von negativen Erfahrungen mit der Polizei wird nur indirekt berichtet. In einem Fall ist der Täter selbst von Beruf Polizist. Aus diesem Grund sieht die betroffene Interviewpartnerin keine Möglichkeit, die sexuellen Missbrauchserfahrungen polizeilich anzuzeigen oder sich überhaupt jemandem anzuvertrauen. In einem anderen Fall wird die Interviewpartnerin als Zeugin von der Polizei verhört. Da sie noch Schülerin ist, findet das Verhör in der Gehörlosenschule im
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eisein des Schulleiters statt. Ihr Klassenlehrer wird kurzerhand als Dolmetscher B eingesetzt. Die Interviewpartnerin erlebt die Verhörsituation als besonders belastend, weil sie das Gefühl hat, vor ihrem Lehrer und dem Schulleiter nicht offen reden zu können: „Der Polizist wollte es genauer wissen. Ich konnte es nicht erzählen. Der Lehrer sagte mir, ich müsse es dem Polizisten genauer erzählen, weil er das wissen müsse. Er fragte, warum ich schweige und nichts mehr sage“. Die Interviewpartnerin beschreibt, wie sie sich nur mit großer Mühe zu dieser Zeugenaussage überwinden konnte.
5.5.3.2 Weißer Ring Eine wichtige Rolle beim Zugang zu Hilfe und Unterstützung spielt die Organisation „Weißer Ring“, auf die zwei Interviewpartnerinnen beim Erstkontakt mit der Polizei hingewiesen wurden. Für beide betroffenen Frauen erwies sich der Hinweis als hilfreich bei der Bewältigung der Vorgänge, die nach der Anzeigeerstattung bei der Polizei auf sie zukamen. Anders als bei der Kontaktaufnahme mit der Polizei und in Gerichtsverfahren bestehen, wie im Folgenden noch zu sehen sein wird, bei der Inanspruchnahme weiterer professioneller Hilfen, wie zum Beispiel eines Rechtsbeistands oder einer therapeutischen Betreuung, nach wie vor große Zugangsbarrieren. Die Frage der Kostenübernahme von Gebärdensprachdolmetschern ist hier oft nicht geklärt. Durch die Hilfe des Weißen Ringes konnten die beiden betroffenen gehörlosen Frauen barrierefrei mit Anwälten kommunizieren oder erhielten Zugangsmöglichkeiten für Erstkontakte zu weiterführender und ergänzender Unterstützung: „Der Weiße Ring hat die ersten beiden Sitzungen bei der Therapeutin bezahlt. Ich bin dann die beiden Male hingegangen und anschließend stellte die Therapeutin einen Antrag auf Kostenübernahme bei der Krankenkasse. Die haben dann die Kosten übernommen. Diese Therapie läuft heute noch“.
5.5.3.3 Justiz In fünf Fällen kam es zu einem Strafprozess, zwei davon standen im Zusammenhang mit Partnergewalt. In einem Fall wurde der Täter auf Bewährung verurteilt, das andere Strafverfahren war zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht abgeschlossen. In einem weiteren Fall handelte es sich um ein Strafverfahren wegen schweren sexuellen Missbrauchs. Der Täter wurde dafür mit einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Die vierte Interviewpartnerin berichtete von einem Strafverfahren mit noch nicht abgeschlossener Schmerzensgeldklage wegen eines körperlichen Übergriffs durch einen gehörlosen Bekannten, durch den die gehörlose Frau zuvor bereits sexualisierte Gewalt erfahren hatte. Der fünfte und letzte Fall fällt ein wenig aus der Reihe, weil hier die Eltern gegen den Betreuer geklagt
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5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
hatten, der ihre minderjährige Tochter missbraucht hatte. Der Fall wurde gegenüber der Tochter verschwiegen und gelangte ihr erst zur Kenntnis, als sie viele Jahre später den Aktenordner mit den entsprechenden Unterlagen entdeckte. Dank der Aktenlage konnte sie sich informieren und weiß, dass der Täter bestraft wurde. Die Frauen berichten davon, wie schwer es gewesen sei, sich für eine gerichtliche Klärung zu entscheiden und tatsächlich Anklage zu erheben, aber auch, dass sie im Nachhinein froh gewesen seien, diesen Weg gegangen zu sein: „Ich bin darüber erleichtert, weil er mich wirklich sehr verletzt hat. Er soll sich schämen“. Für eine andere Interviewpartnerin war „das Strafverfahren eine Erleichterung“, weil sie merkte, dass der Täter es mit der Angst zu tun bekam und sich nicht mehr hinter falschen Aussagen zurückziehen konnte. Eine Interviewpartnerin, die vor Gericht als Zeugin erscheinen musste, hatte im Vorfeld große Sorgen und Ängste bei der Vorstellung, auszusagen. Ihre Befürchtungen erwiesen sich aber als unbegründet, weil sie erleben konnte, wie „behutsam“ man vor Gericht mit ihr kommunizierte. Dass sie vor Gericht respektvoll behandelt und ihr am Schluss für ihre Aussage gedankt wird, hat für sie als Gehörlose große Bedeutung. Sie betont, dass es wichtig sei, andere gehörlose Betroffene darüber zu informieren, wie solche Verfahren ablaufen. Hier gebe es noch große Unkenntnis und es herrschten Ängste vor, die viele davon abhielten, als Reaktion auf das Gewalterleben den Rechtsweg einzuschlagen. Besonders wichtig sei es zu wissen, dass es in Bezug auf Kindesmissbrauch spezialisiertes Personal gebe, welches sich mit viel Empathie um sie gekümmert habe: „Das tat mir gut“. Bei allen Gerichtsverfahren wurden Gebärdensprachdolmetscher hinzugezogen. Zweifellos ist dies ein wichtiger Grund dafür, dass keine der an den Verfahren beteiligten Frauen über Zugangsbarrieren oder kommunikative Hindernisse berichtet. Dass die Bereitstellung von Gebärdensprachdolmetschern bei gerichtlichen Verhandlungen dennoch nicht selbstverständlich ist, zeigte sich in den Interviews in einem einzigen Fall. Gisela berichtet, dass bei ihrem Scheidungstermin keine Gebärdensprachdolmetscher vor Gericht zur Verfügung standen, obwohl sie ihren Anwalt mehrfach darauf hingewiesen hatte. Als sie beim Gerichtstermin mit dieser Situation konfrontiert ist, bittet sie darum, einen neuen Termin mit Gebärdensprachdolmetschern anzusetzen, wird aber durch die Anwälte mit dem Hinweis darauf, dass dies das Verfahren erheblich verzögern würde, überredet, das Scheidungsverfahren ohne Gebärdensprachdolmetscher zu akzeptieren: „Ich weiß nicht, was bei meinem Scheidungstermin besprochen wurde. Ich wollte das Ganze ja verschieben, aber irgendwie hatten alle anderen Schwierigkeiten, einen neuen Termin abzumachen oder so ähnlich. Ich weiß es nicht. Ich kriegte ja nichts mit! Schließlich gab ich es auf und ließ mich einfach
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so scheiden. Was dabei besprochen wurde, weiß ich nicht. Als wir fertig waren, bin ich gegangen. So ist das abgelaufen. Deshalb habe ich auch keine Möbel bekommen. Eigentlich hätten wir alles teilen müssen, das ganze Geld und so. Aber ich bekam nichts davon. Mein Mann behielt alles“. Giselas Beispiel zeigt, dass auf Seiten der Gerichte und Anwälte noch erheblicher Informationsbedarf besteht, um dem Recht gehörloser Menschen, bei Gerichtsverfahren, an denen sie beteiligt sind, in ihrer Sprache kommunizieren zu können, Geltung zu verschaffen. Während bei Gerichtsverfahren die Kostenübernahme von Gebärdensprachdolmetschern grundsätzlich geregelt ist und es hier keine Zugangsbarrieren für Gehörlose geben sollte, ist oft unklar, wer die entsprechenden Kosten bei Anwaltsgesprächen trägt. Für gehörlose Betroffene ist es eine zusätzliche Belastung, sich darum kümmern zu müssen. Die interviewten Frauen, die Unterstützung durch den Weißen Ring erfuhren, empfehlen dringend, diese Möglichkeit in Anspruch zu nehmen, um die kommunikativen Zugangsbarrieren so niedrig wie möglich zu halten: „Die Schritte sollen so aussehen: zuerst zur Polizei, und dann zum Weißen Ring gehen“ (s. a Abschn. 5.5.3.2). In einem anderen Fall sind es nicht so sehr die kommunikativen Barrieren, die sich im Gespräch mit dem Anwalt für die gehörlose Interviewpartnerin als mühevoll erweisen. Die Frau beklagt, dass der Anwalt „keine Ahnung hat von uns Gehörlosen“ und deshalb ihre Interessen nicht angemessen vertreten könne. Er verstehe die besonderen Konstellationen innerhalb der Gehörlosengemeinschaft nicht, verdächtige seine Mandantin, mit dem „Täter gemeinsame Sache“ zu machen, und zeige sich ihr gegenüber „sehr kritisch“. Die Interviewpartnerin berichtet, dass sie viel Aufklärungsarbeit leisten musste, und zwar unter kommunikativ stark eingeschränkten Bedingungen: „Ich erkläre ihm immer, wie wir Gehörlose miteinander umgehen und dass wir die Gebärdensprache benutzen. Hörende sprechen miteinander und hören sich gegenseitig, unsere Form der Kommunikation ist anders, erklärte ich ihm. Das Problem ist aber auch, dass kein Dolmetscher dabei ist bei den Anwaltsgesprächen. Dann entstehen auch solche Bilder, wie die, die mein Anwalt hat. Hörende denken einfach anders. Das ist ein Riesenproblem für mich“.
5.5.3.4 Ärzte Nur wenige Interviewpartnerinnen haben Ärzte als Ansprechpartner nach der Gewalterfahrung konsultiert. Die Interviewpartnerinnen erwähnen diese Kontakte nur kurz und ohne weitere Kommentierung. In einem Fall wird die betroffene Interviewpartnerin bei einem Arztbesuch von einer schwerhörigen Freundin begleitet, die für sie dolmetscht, um die Sache als für eine mögliche Anklage
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5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
wichtige „Dokumentation der körperlichen Verletzungen“ schnell hinter sich zu bringen. In zwei anderen Fällen wird das Fehlen einer solchen ärztlichen Dokumentation als Hindernisgrund für eine Anzeige genannt: „Normalerweise geht man ja, wenn man zusammengeschlagen wird, zum Arzt. Dieser schreibt dann einen Bericht, erst dann kann ich zur Polizei gehen. Das läuft doch so. Und ich hatte keinen Arztbericht. Wie sollte ich da einfach zur Polizei gehen?“. Gisela berichtet davon, wie sie ebenfalls nach einer Gewaltsituation ärztlich untersucht wurde, aber letztlich war es nicht sie, sondern der Partner, der behandelt wurde und Beruhigungsspritzen bekam. Die ärztliche Untersuchung bleibt für sie ohne Konsequenzen, obwohl sie angibt, überall am Körper blaue Flecke gehabt zu haben. Allerdings ist in dieser Situation auch die Schwiegermutter dabei, die alles tut, um das gewalttätige Verhalten des Sohnes herunterzuspielen. Es sei „nur eine einmalige Sache gewesen, die nicht wieder passieren würde“, redet ihr die Schwiegermutter nach der ärztlichen Untersuchung ein, die folgenlos blieb und nicht als Beweismittel für eine Anzeige benutzt wurde. Außerhalb der akuten Krisensituation wird von Arztbesuchen berichtet, die im mittelbaren Zusammenhang mit der Gewalterfahrung stehen, weil sich körperlich unspezifische Symptome zeigen, die die Interviewpartnerinnen belasten. In einem Fall erkennt der Hausarzt die Notwendigkeit einer psychologischen Weiterbehandlung: „Mein behandelnder Arzt sagte mir auch, dass ich eine Therapie machen müsste, weil ich sonst immer wieder ins Krankenhaus eingeliefert würde, aber auch weiterhin möglicherweise keine Befunde festgestellt werden könnten. Er sagte mir direkt auf den Kopf zu, dass ich ein psychisches Problem hätte. Ich verstand dann so langsam, was mit mir los war, obwohl ich nie auf die Idee gekommen bin, ein solches Problem zu haben“. Für die Interviewpartnerin erweist sich diese Diagnose als hilfreich, denn in der nachfolgenden Therapie, die sie bei einer gehörlosen Therapeutin machen kann (s. auch Abschn. 5.5.3.5), berichtet sie erstmals über als Kind erlebte Missbrauchserfahrungen. Mit der Zeit klingen auch die körperlichen Beschwerden ab.
5.5.3.5 Psychotherapeuten Bezüglich der Inanspruchnahme professioneller Hilfe im Bewältigungsprozess von Gewalterleben kommt der Psychotherapie eine weitaus wichtigere Rolle zu als der ärztlichen Unterstützung und Behandlung. Zehn der zwölf Interviewpartnerinnen haben trotz erschwerter innerer und äußerer Zugangsmöglichkeiten im direkten oder auch indirekten Zusammenhang mit dem Gewalterleben eine Therapie begonnen. Zugangsmöglichkeiten und Auswahl sind jedoch sehr eingeschränkt. Gerade in therapeutischen Gesprächen ist eine gelingende gebärdensprachliche Kommunikation unabdingbar. Scheitert die Kommunikation, so scheitert auch
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die Therapie, wie das Beispiel einer Interviewpartnerin zeigt, die im Alter von 19 Jahren von ihrer Mutter zu einem befreundeten Psychologen geschickt wurde; der Psychologe beherrschte keine Gebärdensprache und kommunizierte schriftsprachlich mit ihr: „Er schrieb zum Beispiel: ‚Wie fühlst du dich?‘ Aber ich war total gehemmt und konnte nichts antworten. Was sollte ich aufschreiben, ich hatte keine Erfahrung, wie man so was schreibt und war total gehemmt“. Die Therapie musste abgebrochen werden, da die Interviewpartnerin sich bereits nach der ersten Sitzung weigerte, den Psychologen weiter aufzusuchen. Die Auswahl an qualifizierten gebärdensprachkompetenten Therapeuten in Deutschland ist klein. Um einen der wenigen Therapieplätze zu bekommen, sind oft lange Wartezeiten in Kauf zu nehmen. Von den meisten Interviewpartnerinnen wird eine direkte gebärdensprachliche Kommunikation mit dem Therapeuten gewünscht. Das sind im Idealfall die wenigen gehörlosen oder hörbehinderten Therapeutinnen und Therapeuten, die mit den Klientinnen die Gebärdensprache als Erstsprache und den Lebensalltag als Hörbehinderte in einer hörenden Mehrheitsgesellschaft teilen und sich in besonderer Weise in die Lebensumstände ihrer Patienten einfühlen können. Ihnen ist das soziale Umfeld der Interviewpartnerinnen bekannt, weil sie ihm selbst angehören. Es gibt einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund und geteiltes kulturelles Hintergrundwissen, das Empathie ermöglicht: „Wir taube Menschen haben ein gemeinsames Taubseinsgefühl, wir kennen das einfach. Die Psychologin hatte ja auch eigene Erfahrungen damit und kennt diese Situationen und die Reaktionen darauf. Diese Erfahrungen waren es, die uns besonders verbunden haben“. Es gibt hier aber auch Gegenmeinungen. Eine Interviewpartnerin gibt an, dass sie eine Therapie mit einer ebenfalls gehörlosen Person als nicht hilfreich empfinden würde, da die „Erklärungsansätze an der Gehörlosenkultur, an typischen Merkmalen“ festgemacht würden. In einem anderen Fall ist die Therapeutin eine CODA, Tochter gehörloser Eltern, mit der man sich mühelos gebärdensprachlich austauschen kann und die durch das Aufwachsen in einem gehörlosen Elternhaus die Lebenssituation Gehörloser gut kennt. Aber die gehörlose Interviewpartnerin fühlt sich bei dieser Therapeutin nicht wohl, weil diese sich wie jemand verhalte, „der gehörlos ist, so ganz typisch“, und ihr in der Therapie eine gewisse professionelle Distanz fehle. Unter anderem rät die Therapeutin der gehörlosen Patientin, die von ihrer schwierigen ehelichen Situation berichtet, direkt und ohne Umschweife, sie solle sich „einfach scheiden lassen und das Problem wäre erledigt“. Der Interviewpartnerin ist mit einer solchen Form von Therapie nicht geholfen und sie grübelt darüber nach, ob die Therapeutin wirklich eine ausgebildete Psychologin sei, da sie „Scheidung als bestes Rezept“ empfiehlt. Eine andere Interviewpartnerin dagegen schätzt an der
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CODA-Therapeutin, dass sie „weiß, wie mit tauben Menschen umzugehen ist“, und möchte deshalb nur von ihr behandelt werden. Neben der kleinen Gruppe von Therapeuten, die selbst gehörlos oder CODA sind, gibt es eine langsam wachsende Zahl hörender Therapeutinnen und Therapeuten mit guter Gebärdensprachkompetenz. Der gute kommunikative Zugang zu diesen Therapeutinnen wird von den Interviewpartnerinnen allgemein geschätzt und gelobt: „Ja, die Therapeutin bei der Caritas konnte ganz toll die Gebärdensprache. Sie hat auch viel dafür geübt und gelernt“. Es wird aber auch von hörenden Therapeuten berichtet, die die Gebärdensprache nicht ausreichend beherrschen. Das Therapiegespräch wird dadurch erschwert, weil die gehörlosen Frauen verstärkt auf Lippenablesen angewiesen sind und oft auch selbst lautsprachlich kommunizieren müssen. Auch dies wird unterschiedlich beurteilt. Eine Interviewpartnerin, die noch über ein gutes Restgehör verfügt und keine Probleme damit hat, lautsprachlich zu kommunizieren, erzählt von einer solchen Form der Therapie: „Die Therapeutin hat mich gebeten, mit ihr lautsprachlich zu kommunizieren. Ob ich dabei Gebärden benutze oder nicht, konnte ich selbst entscheiden. Sie brauchte halt nur immer meine Stimme dabei. Ich musste schmunzeln, als sie mir das sagte, aber für mich war es ok. Ich habe dann gesprochen und gebärdet und es kam vielleicht drei- bis vier Mal vor, dass wir uns nicht verstanden haben. Aber sie war sehr geduldig. Für mich war es ok“. Wer nicht wie diese Interviewpartnerin über Restgehör oder einigermaßen gute lautsprachliche Fähigkeiten verfügt, ist im Therapiegespräch auf die Hinzuziehung einer Gebärdensprachdolmetscherin angewiesen. Dass eine weitere Person am vertraulichen Therapiegespräch beteiligt ist, wird in der Regel nicht als bestmögliche Option beurteilt. Ein drittes Paar Augen wird als störend empfunden, und es gibt die Befürchtung, dass Gebärdensprachdolmetscher, anders als Therapeuten, Schwierigkeiten mit der Verarbeitung der Gesprächsinhalte haben könnten: „Es ist doch so, dass man sich alles merkt, was aus dem Rahmen fällt, was besonders ist. Das beschäftigt dann doch die Leute, ist doch typisch so. Jedenfalls stelle ich mir das so vor, dass es so für einen Dolmetscher ist“.9 Die Hinzuziehung von Gebärdensprachdolmetschern
9Gebärdensprachdolmetscher
werden zuweilen in emotional belastenden Situationen eingesetzt und oft arbeiten sie hier mit gehörlosen Kunden, die ein hohes Maß an traumatischen Erfahrungen erlebt haben. Diese Begegnungen können einen bleibenden Einfluss auf die Gebärdensprachdolmetscher haben und eine indirekte bzw. sekundäre Traumatisierung bewirken. Diese wird in der psychologischen Literatur allgemein als „vicarious trauma“ (McCann und Pearlman 1990) bezeichnet. Zu den Ursachen und Folgen eines „vicarious trauma“ bei Gebärdensprachdolmetschern vgl. auch Dean & Pollard 2001; Harvey 2003; Bontempo & Malcolm 2012.
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wird dennoch in Kauf genommen, wenn dies zur Entspannung der kommunikativen Situation beiträgt. Elin berichtet von einer Therapie, die sie gemeinsam mit ihrem Partner gemacht hat. Obwohl die Therapeutin die Gebärdensprache gut beherrschte, konnte sie dem Gespräch mit zwei Gehörlosen nicht folgen: „Ihr war es zu stressig, das Gespräch zwischen zwei Gehörlosen zu moderieren“. Es wurden daher zwei Gebärdensprachdolmetscherinnen hinzugezogen, um das Gespräch zu übersetzen und damit der Therapeutin die Arbeit zu erleichtern. Die eingeschränkte Verfügbarkeit von Therapeuten, die gehörlose Frauen in Anspruch nehmen können, führt zu begrenzten Wahlmöglichkeiten. So gibt es beispielsweise in einem größeren Bundesland in der Mitte Deutschlands nur eine Therapeutin, die für die Interviewpartnerin in Frage kommt. Beate berichtet davon, dass die Krankenkasse ihr eine Auswahlliste von angeblich gebärdensprach kompetenten Therapeuten zukommen ließ, für die eine Kostenübernahme möglich sei. Nachdem Beate alle vier kontaktiert hatte, stellte sich heraus, dass keine der aufgelisteten Personen für sie geeignet war: „Also, eine ist ausgebucht, zwei können nicht gebärden und der Mann, der vierte, den möchte ich nicht. Ich möchte eine Frau als Therapeutin haben.“ Auch für eine andere Interviewpartnerin steht nur ein männlicher Therapeut zur Verfügung, mit dem sie sich notgedrungen arrangiert. Ein weiteres Problem der eingeschränkten Auswahlmöglichkeit besteht darin, dass gehörlose Frauen kaum alternative Möglichkeiten haben, wenn eine Therapie nicht erfolgreich verläuft. Aus den Aussagen der Interviewpartnerinnen wurde bereits deutlich, dass eine gute kommunikative Basis kein Garant für das Gelingen oder Nicht-Gelingen einer Therapie ist. Auch im Fall einer sehr guten gebärdensprachlichen Kompetenz kann es vorkommen, dass Therapien aus verschiedenen Gründen abgebrochen werden, zum Beispiel weil sie als „oberflächlich oder gleichförmig“ empfunden werden und die betroffene gehörlose Frau das Gefühl hatte, keine „richtigen Fortschritte machen“ zu können. Eine weitere Interviewpartnerin bricht die Therapie ab, weil sie mit der Methode, die die Therapeutin anwendet, nicht zurechtkommt. Eine besondere Form der Therapie, die für ein Viertel der Interviewpartnerinnen vor allem bei der Aufdeckung des Gewalterlebens große Bedeutung hatte, waren Gespräche mit einem hörbehinderten Therapeuten, die im Rahmen der psychologischen Betreuung bei einer stationären Rehabilitationsmaßnahme stattfanden: „Dort erzählte ich dem Therapeuten, der gehörlos ist, erstmals offen über meine Vergewaltigung und den sexuellen Missbrauch durch meinen Mann“. Durch diesen Therapeuten kam besonders für eine der betroffene Frauen der entscheidende Anstoß, sich zu vergegenwärtigen, dass sie sich in einer Gewaltsituation befindet. Andere Interviewpartnerinnen konnte er gezielt auf weiterführende ambulante Hilfen am Wohnort hinweisen.
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5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
5.5.3.6 Beratungseinrichtungen Kaum eine der zwölf Interviewpartnerinnen suchte im Zusammenhang mit der Gewalterfahrung eine Beratungsstelle für Hörbehinderte auf oder wandte sich in ihrer Notsituation mit der Bitte um Hilfe an gebärdensprachkompetente Sozial-, Familien- oder andere Fachberater für Gehörlose, die es in fast allen bundesdeutschen Städten gibt. Eine Interviewpartnerin gibt an, dass sie versucht habe, eine solche Anlaufstelle zu nutzen: „Bei der Gehörlosenberatungsstelle war es einfach unmöglich. Ja, ich war dort, aber diese Person von der Gehörlosenberatungsstelle konnte mir nicht helfen. Sie war zu schwach und wollte sich nicht mit einer solchen komplizierten Angelegenheit befassen, was mir gar nicht gefiel. Daher ließ ich von dieser Gehörlosenberatungsstelle ab. Ich ging da nicht mehr hin“. Eine andere Interviewpartnerin hatte indirekt mit dem gehörlosen Mitarbeiter einer örtlichen Beratungsstelle für Hörbehinderte zu tun, als es zum Gerichtsverfahren kam. Der Mitarbeiter, ein ausgebildeter Sozialarbeiter, begleitete den unter Anklage auf schwere Körperverletzung stehenden Ehemann der Interviewpartnerin zur Verhandlung. Er begleitete ihn jedoch als Freund, nicht in seiner Funktion als Sozialarbeiter, was die betroffene Frau als zusätzlich belastend empfand, vor allem, weil er nach dem Urteilsspruch, einer Bewährungsstrafe, zu denen gehörte, „die in lauten Jubel ausgebrochen sind und Hurra gerufen haben“. Die Bewährungsstrafe wurde von den anwesenden Freunden des Mannes wie ein Freispruch gefeiert. Der Beratungsstellenmitarbeiter unterstellte der betroffenen Frau nach dem Verhandlungstermin, sie habe seiner Ansicht nach „falsch ausgesagt“ und ihren Mann willentlich zu der Gewalthandlung provoziert. Für die Interviewpartnerin ist es undenkbar, sich von dem Sozialarbeiter beraten zu lassen: „Mit diesem Sozialarbeiter habe ich weiter keine Kontakte und ich wollte auch nicht mehr, dass er für mich weiterhin tätig ist“. Eine weitere Interviewpartnerin bedauert, dass ausgerechnet ein Mann in der Familienberatungsstelle vor Ort tätig sei. Sie hätte gern den einfachen Zugangsweg zu einer Fachberatungsstelle für Hörbehinderte genutzt, konnte sich aber nicht vorstellen, über ihre Gewalterfahrung mit einem Mann zu sprechen. Für sie wäre nur eine weibliche Beratungsperson in Frage gekommen, die aber nicht zur Verfügung stand. Sie verzichtete deshalb auf eine Beratung und schlug sich, wie im Folgenden noch zu sehen sein wird, ohne jede Unterstützung oder Verdolmetschung allein in einem Frauenhaus durch.
5.5.3.7 Frauenhäuser Drei Interviewpartnerinnen konnten Erfahrungen mit Frauenhäusern machen. Eine der betroffenen gehörlosen Frauen verließ das Frauenhaus bereits nach
5.6 Gesundheitliche Folgen von Gewalt
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einem Tag, weil sie sich dort nicht wohlfühlte: „Weil da waren so Punks und andere heruntergekommene Frauen, und als ich die sah, konnte ich mir nicht vorstellen, da zu bleiben“. Zwei andere Interviewpartnerinnen blieben mehrere Monate im Frauenhaus und machten in Bezug auf kommunikative Zugänglichkeit konträre Erfahrungen. Eine Interviewpartnerin berichtet, wie die Frauenhausmitarbeiterinnen überfordert sind mit der Situation, ihr die notwendigen kommunikativen Hilfen bereitzustellen. Sie verbringt vier Monate im Frauenhaus, kommuniziert wird ausschließlich schriftlich: „Naja, das ständige Aufschreiben war schon sehr mühsam. Das waren am Ende riesige Stapel von Papier, die wir beschrieben haben“. Die Frauenhausmitarbeiterinnen sind bemüht und helfen bei alltagspraktischen Erledigungen. So holen sie zum Beispiel die Sachen der geflüchteten gehörlosen Frau aus der alten Wohnung ab und helfen ihr beim Einzug in eine neue Wohnung. Aber es wird nur das Nötigste kommuniziert, ein Beratungsgespräch oder die Vermittlung anderer Hilfen, wie zum Beispiel einer Therapie, ist aufgrund der eingeschränkten Kommunikation nicht möglich: „Die vom Frauenhaus hätten mir gerne geholfen, aber wie sollte das gehen ohne Dolmetscher! Die wussten nicht, wie man den Bedarf anmeldet und was man in dieser Situation macht“. Bei einer weiteren Interviewpartnerin dagegen zeigten sich die Frauenhausmitarbeiterinnen von Anfang an besser informiert. Sie gaben sich Mühe mit der Kommunikation und kümmerten sich um Gebärdensprachdolmetscher, die zwar nicht immer dabei sein konnten, aber doch an allen wichtigen Gesprächen teilnahmen. Die Mitarbeiterinnen besorgten ein Faxgerät, sodass sie die Möglichkeit hatte, nach außen zu kommunizieren. Sie organisierten einen Therapieplatz und stellten den Kontakt zur Familiennothilfe her, damit auch die Kinder therapeutisch versorgt werden konnten: „Ich denke, dass sie sich viel Mühe gegeben haben und ich würde dieses Frauenhaus auch uneingeschränkt anderen gehörlosen Betroffenen empfehlen“. Die Frauenhausmitarbeiterinnen sind gut informiert im Umgang mit der gehörlosen Frau und können die Interviewpartnerin in der ersten schweren Zeit dabei unterstützen, sich zu orientieren und Kraft für einen Neubeginn zu finden.
5.6 Gesundheitliche Folgen von Gewalt In der Darstellung von Gewaltfolgen wird zwischen kurz-, mittel- und langfristigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen unterschieden (s. auch Abschn. 3.3). Akute körperliche Verletzungen haben eine unmittelbare gesundheitliche Beeinträchtigung
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5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
zur Folge. Weitere mittel- und langfristige gesundheitliche Beeinträchtigungen können aus den psychischen sowie psychosozialen Folgen von Gewalt resultieren. Doch nicht nur die realen Gewaltereignisse, sondern auch die persönliche und psychische Verarbeitung unter erschwerten Zugangsmöglichkeiten sowie soziale Folgen aufgrund der besonderen Einbindung in die Gehörlosengemeinschaft gehören zu den komplexen multifaktoriellen Ursachen- und Wirkungszusammenhängen, die bei der Betrachtung von gesundheitlichen Folgen für gehörlose Frauen zu berücksichtigen sind. Um alle Angaben, die die Interviewpartnerinnen dazu gemacht haben, zu erfassen, wurden folgende Subkategorien gebildet: (1) Körperliche Folgen (Abschn. 5.6.1), (2) somatische und psychosomatische Folgen (Abschn. 5.6.2), (3) psychische Folgen (Abschn. 5.6.3) und (4) soziale Folgen (Abschn. 5.6.4).
5.6.1 Körperliche Folgen Die Hälfte der Interviewpartnerinnen berichtet von körperlichen Verletzungen infolge von sexueller und körperlicher Gewalt. Die angegebenen Verletzungen umfassten Hämatome, Kopf- und Gesichtsverletzungen sowie Verletzungen im Genitalbereich. Bei drei gehörlosen Frauen waren diese Verletzungen so schwer, dass medizinische Hilfe in Anspruch genommen werden musste: „Ja, er hat mich im wahrsten Sinne des Wortes krankenhausreif geschlagen“. Vor allem die von Partnergewalt betroffenen Frauen geben an, dass die Verletzungsfolgen so gravierend gewesen seien, dass sie „überall am Körper schwere Verletzungen“ gehabt hätten und „Blut, soviel Blut“ dabei geflossen sei. Fee und Gisela berichten, dass sie infolge von konkreten Gewaltereignissen glaubten, „sterben“ zu müssen. Auch die Interviewpartnerinnen, die in Kindheit und Jugend sexueller Gewalt ausgesetzt waren, berichten von heftigen Schmerzen, besonders infolge vaginaler Verletzungen: „Ich musste jede Stunde die Binden wechseln und hatte unglaublich starke Schmerzen. Das war ganz schlimm“. Doch anders als die erwachsenen Frauen konnten sie aufgrund eingeschränkter Mitteilungsmöglichkeiten, fehlender Vertrauenspersonen und vor allen Dingen fehlender Anlaufstellen keine Hilfe im Sinn einer medizinischen oder psychischen Versorgung in Anspruch nehmen: „Für das, was mir passiert ist, waren die Sozialarbeiter in der Schule ja nicht zuständig [..] aber ich wusste nicht, an wen ich mich wenden konnte.“. Man habe die körperlichen Schmerzen „ausgehalten“ und eine „gläserne Wand“ um sich herum aufgebaut, um sich gegen Schmerzen und weitere körperliche Berührungen zu immunisieren.
5.6 Gesundheitliche Folgen von Gewalt
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5.6.2 Somatische und psychosomatische Folgen Auch wenn über somatische und psychosomatische Folgen von Gewalt in ihren konkreten Wirkungszusammenhängen wenig systematisches Wissen vorliegt (s. auch Abschn. 2.2), geben die Aussagen von zwei Dritteln der Interviewpartnerinnen Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Gewalterfahrung und körperlichen Symptomatiken, die zum Teil noch lange nach der erlebten Gewalt bestanden. Genannt werden am häufigsten gastrointestinale Symptome: „Ich hatte zum Beispiel alle ein bis zwei Wochen schlimmen Durchfall. Obwohl ich gesund aß, Suppe und andere gesunde Speisen. Trotzdem hatte ich Durchfall ohne Ende, bin viel aufs Klo gerannt. Als die Kinder da waren, sie waren noch sehr klein, wurde es immer schlimmer mit dem Durchfall. Ich nahm total ab, wurde ins Krankenhaus eingeliefert“. Zwei weitere Interviewpartnerinnen berichten von einer großen Gewichtsabnahme von 10 bzw. 15 Kilogramm, die nach der Beendigung der Gewaltsituation erfolgte, aber von den betroffenen Frauen als damit im Zusammenhang stehend interpretiert wird. Als weitere langfristig anhaltende Beschwerden werden in den Interviews „chronische Kopfschmerzen“, ständige „Rückenschmerzen“, und wiederkehrende „Halsschmerzen“ genannt: „Ich hatte früher immer ganz furchtbare Halsschmerzen und war deshalb auch beim Arzt. Aber alle Untersuchungen haben nichts ergeben. Mein Hals sei in Ordnung, sagte man mir. Trotzdem hatte ich immer ganz furchtbare Halsschmerzen, zwei Jahre lang“. Der Interviewpartnerin gelingt es erst mit alternativen Heilmethoden, die Halsschmerzen loszuwerden, die sie als Symbol dafür auslegt, dass sie als Kind und Jugendliche nie über den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater reden konnte und deshalb alles Unsagbare im Hals „gefangen“ halten musste. Fünf Interviewpartnerinnen stellen einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen einer Erkrankung und einer Gewaltsituation her, die zum Zeitpunkt der Erkrankung noch bestand. Bei einer Interviewpartnerin führten Störungen im Verdauungstrakt zu einem „Darmverschluss“, der operiert werden musste. Während dieser Operation erlitt die zu diesem Zeitpunkt durch fortgesetzte Gewaltsituationen geschwächte Interviewpartnerin einen Herzinfarkt und musste mehrmals wiederbelebt werden. Eine weitere Interviewpartnerin stellt einen Zusammenhang zwischen Ängsten, die sie infolge der Gewaltsituation durchlebte, und einer schweren Erkrankung her: „Es war zu viel für mich, ich hatte viel Angst. Vor ein paar Jahren dann ging es mir immer schlechter. Jahr für Jahr ging ich zur Kontrolle“. Schließlich musste sie sich einer Herzoperation unterziehen und wurde kurz darauf frühzeitig verrentet. Eine weitere Interviewpartnerin, die von einem Zusammenhang von körperlicher Erkrankung
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5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
und erlebter Gewaltsituation berichtet, ist Dora: „Das ging noch so lange, bis ich krank wurde. Ich wurde sehr schwer krank und war ein halbes Jahr damit beschäftigt“. Die Interviewpartnerin ist erst Mitte 20, als die Erkrankung einsetzt, für sie ein entscheidender Grund, aus der Gewaltsituation auszubrechen (s. auch Abschn. 5.5.1.1). Eine andere noch sehr junge Interviewpartnerin beschreibt, wie ihr sich noch entwickelnder Körper reagierte, als sie auch in der Pubertät fortgesetzten sexuellen Missbrauch durch ihren Vater erlebte: Ihre Brüste formten sich unterschiedlich, eine Brust deutlich kleiner als die andere. Die junge Frau führt das darauf zurück, dass der regelmäßige sexuelle Missbrauch durch den Vater ihre hormonelle Entwicklung beeinträchtigt hat: „Bei mir sind die sexuellen Hormone empfindlich gestört worden. Man sieht es an meinen Brüsten. Sie sind nicht gleich, eine Brust ist größer. Ich habe das damals gemerkt, dass sie sich unterschiedlich entwickeln, dass sie nicht gleich sind“. Sie berichtet, dass die unterschiedliche Brustgröße vor allem in der Zeit des Heranwachsens dazu geführt habe, dass sie sich nicht vorstellen konnte, jemals mit einem Mann zusammen zu sein. Sie arbeite daran, es „lockerer“ zu sehen und mit dieser zusätzlichen körperlichen Besonderheit zu leben. Eine letzte Interviewpartnerin schließlich berichtet von zerebralen Beschwerden, die sie befielen, als sie am Arbeitsplatz diskriminiert wurde. Sie wurde mit einem „Verdacht auf Schlaganfall oder MS“ ins Krankenhaus eingeliefert, der sich diagnostisch allerdings nicht bestätigen ließ. Die Beschwerden klingen ab, als sie sich entschließt, das schwierige Arbeitsverhältnis zu kündigen: „Seitdem war ich nicht mehr krank, und ich hab dann viel später auch kapiert, dass das psychisch bedingt gewesen ist durch die Arbeit damals“.
5.6.3 Psychische Folgen Elf der zwölf Interviewpartnerinnen geben an, von psychischen Beschwerden und Symptomatiken, die mit Gewalterfahrung in Kindheit oder Erwachsenenleben in Zusammenhang stehen, betroffen zu sein. In den Interviews wurde nicht gezielt danach gefragt (s. auch Abschn. 3.3), die gehörlosen Interviewpartnerinnen sprechen das Thema selbst an: „Ich war auch psychisch verletzt, nicht nur die Vergewaltigung hat mich verletzt“. Die Frauen berichten, wie sie unmittelbar nach erlebter Gewalt von starken Ängsten und von depressiven Verstimmungen überwältigt wurden. Zustände der Empfindungslosigkeit und Erstarrung sowie Alpträume und Schlaflosigkeit werden dagegen eher als langanhaltende Gewaltfolgen, vor allem nach dem Erleben von Gewalt in Kindheit und Jugend beschrieben: „Drei bis vier Jahre später hatte ich Kinder, da kamen in
5.6 Gesundheitliche Folgen von Gewalt
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mir Erinnerungen hoch, gleich nach der Geburt. Innerhalb kurzer Zeit bekam ich Alpträume. In denen verprügelte mich mein Bruder, danach ermordete er Tiere. […] Ich erlitt jedes Mal einen Riesenschreck und brach in Tränen aus“. Von posttraumatischen Belastungsstörungen wird in zwei Interviews im Zusammenhang mit dem Strafverfahren, in denen die gehörlosen Frauen als Zeuginnen aussagen mussten, berichtet: „Nachdem ich meinen Vater angezeigt hatte und so detailliert zu allem befragt wurde, bin ich erst einmal ganz schön abgestürzt, hatte traumatische Erlebnisse, alte Wunden brachen auf“. Hohe psychische Belastungswerte sind bei den Betroffenen zu erkennen, die in Kindheit und Jugend neben häufiger sexueller Gewalt zusätzlich von körperlicher oder psychischer Gewalt betroffen waren. Beate beschreibt den Zustand, den sie als erwachsene Frau lange nach Beendigung der Gewaltsituation erlebte, als ein „inneres Fass“, das sich im Laufe der Jahre langsam mit psychischen Beschwerden füllte, bis sie schließlich monatelang krankgeschrieben wurde. Eine andere Interviewpartnerin, die wie Beate als Kind über viele Jahre hinweg sexuellen Missbrauch erlebte, zählt eine Reihe von psychischen Problemen auf, die sie mit professioneller Hilfe an sich selbst rückblickend erkennt: „Heute weiß ich, dass ich damals schon an Assoziationsstörungen gelitten habe. Daneben hatte ich noch viele weitere Störungen: ADS, also Aufmerksamkeitsstörungen, multiple Persönlichkeitsstörungen, posttraumatische Störungen und vieles mehr noch“. Beate gibt während des Interviews an, bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch unter den Selbstmordgedanken zu leiden, die sie seit ihrem 12. Lebensjahr begleiten: „Ich möchte tot sein, bis heute denke ich daran zu sterben. Die Psychologin weiß das. Aber ich habe das Versprechen gegeben, dass ich es nicht tun werde, naja…“. Suizidgedanken als langanhaltende Folgen von Gewalt nennen auch Inge und Helena. Eine Sonderstellung unter den Interviewpartnerinnen nehmen zwei Interviewpartnerinnen ein, die versuchen, die ständig wiederkehrenden Flashbacks und Bilder, durch die sie an die erlebten Gewaltsituationen erinnert werden, durch gesundheitsgefährdende Bewältigungsstrategien aus ihren Gedanken zu verbannen: „Ich nahm jede Droge, die ich kriegen konnte: Alkohol, Medikamente, Beruhigungspillen, Heroin, Kokain, einfach alles“. Die zweite Frau berichtet, dass sie versuchte, den Bildern in ihrem Kopf, die sie immer wieder in die Nähe des Suizids brachten, durch selbstverletzendes Hautritzen zu begegnen. Es ist schließlich ihr christlicher Glaube, der sie vom Selbstmord abhält (s. auch Abschn. 5.5.1.2), auch wenn sie abschließend dazu bemerkt: „Jetzt geht es zwar schon langsam besser, aber vorbei ist es auch noch nicht. […] Ich muss das wohl so akzeptieren. Ich wäre so gerne ein selbstbewusster und freier Mensch“.
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5 Ergebnisse der Befragung gewaltbetroffener gehörloser Frauen
5.6.4 Verstärkte soziale Isolation Im Zusammenhang mit gesundheitlichen Auswirkungen von Gewalt werden unter anderem „Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen“ (Hornberg et al. 2008: 17) genannt. Die gehörlosen Interviewpartnerinnen sind davon in auffälliger Weise betroffen: „Mein ganzes Verhältnis zur Gehörlosengemeinschaft hat sich nach allem, was ich erlebt habe, geändert. Es ist zu einem schwierigen Thema geworden“. Bis auf eine einzelne Ausnahme,10 geben alle Interviewpartnerinnen an, nach der Gewaltsituation verstärkt von sozialer Isolation betroffen zu sein oder das „Ende aller sozialen Kontakte“ zu erleben: „Ich pflege keinen regelmäßigen Verkehr in der Gesellschaft mit anderen Gehörlosen, sondern lebe eher zurückgezogen“. Der ohnehin eingeschränkte soziale Kreis in der Gemeinschaft mit anderen Gehörlosen reduziert sich insbesondere für die gehörlosen Frauen, die durch Gewalt in Paarbeziehungen betroffen waren, drastisch und bleibt auf einzelne Kontakte beschränkt. Fee und Helena problematisieren in diesem Zusammenhang, dass ihre ehemaligen Partner „aus Rache“ alle möglichen Unwahrheiten im Freundeskreis erzählten, sodass ein Teil der Freunde entschied, sich gegen die betroffene Frau mit dem Täter „zu solidarisieren“. Problematisch ist dies vor allem, weil den Frauen ohnehin nur eine begrenzte Auswahl von gehörlosen Freunden zur Verfügung steht. Selbst im Fall eines Wegzugs sprechen sich private Einzelheiten herum und erschweren damit einen Neuanfang erheblich (vgl. auch Abschn. 5.4.5.1). Die Mitgliedschaft im Gehörlosenverein wird nach der Trennung vom gewalttätigen Partner aufgehoben. Die betroffenen Frauen besuchen nur noch selten oder gar nicht Veranstaltungen der Gehörlosengemeinschaft, ziehen einen „Schlussstrich“ unter bisherige Kontakte und weichen zufälligen Begegnungen aus, weil sie nicht auf ihre Situation angesprochen werden möchten: „Meistens habe ich mich versteckt, wenn ich Gehörlose gesehen habe, einmal sogar auch auf der Toilette. Auch wenn ich nach XY gefahren bin, habe ich mich versteckt, bin allem ausgewichen, wo es nur ging“. Wie Lucie geben auch andere gehörlose Interviewpartnerinnen an, vorsichtig geworden zu sein im Umgang mit anderen Gehörlosen, vor allem weil sie Angst
10Gisela ist die einzige Interviewpartnerin, die eine umgekehrte Erfahrung macht. Ihre Isolation in einer gewaltbelasteten Partnerschaft dauerte 14 Jahre, in denen ihr der Kontakt mit anderen Gehörlosen verboten war (00:14:54ff.). Nachdem es ihr gelang, aus dieser Situation auszubrechen, konnte sie an alte Kontakte anknüpfen und sich mit gehörlosen Freunden, die sie aus ihrer Schul- und Jugendzeit kannte, treffen (00:09:47).
5.7 Zusammenfassung der Ergebnisse
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haben, ihrem Täter bei einer Gehörlosenveranstaltung oder in einem Gehörlosentreffpunkt über den Weg zu laufen. In der kleinen Gehörlosengemeinschaft ist die Chance dafür relativ hoch. Eine Interviewpartnerin berichtet davon, wie sie ihrem ehemaligen Täter zufällig 20 Jahre später wieder begegnet: „Ich bin also hin, schaute mich um, und da saß dann dieser Typ in der Runde. Ich musste ganz schön schlucken. Innen drin blieb mir richtig die Luft weg, nach außen hin zeigte ich es nicht, denn ich war bemüht, nicht aus meiner Rolle zu fallen.“ Fee erzählt davon, wie sie eine bundesweite Großveranstaltung der Gehörlosengemeinschaft mit über 12.000 Teilnehmern besuchte, dort aber die ganze Zeit fürchtete, ihrem ehemaligen Partner zu begegnen. Die Teilnahme an der Veranstaltung hat ihr, obwohl sie sich längst von ihrem damaligen Partner getrennt hatte, „sehr zugesetzt“, sodass sie in absehbarer Zeit „auf keinen Fall“ eine solche Gehörlosenveranstaltung mehr besuchen will. Das Problem, auch nach der Gewaltsituation demselben sozialen Umfeld wie der Täter anzugehören, nennen auch andere Interviewpartnerinnen. Sie problematisieren dabei die Enge der Gehörlosengemeinschaft, in der man ständig auf der Hut sein müsse, dem Täter wieder zu begegnen: „In der hörenden Welt verläuft sich ja alles viel mehr und dort wäre eine solche Begegnung vielleicht eher nicht passiert oder nur durch Zufall. Kein Zufall ist aber doch eine solche Begegnung in der Gehörlosenwelt“. Gewaltbetroffene gehörlose Frauen ziehen sich zurück und sitzen „viel zu Hause rum“. Sie tun dies aus Selbstschutz, weil sie der sozialen Kontrolle, der sie innerhalb der Gehörlosengemeinschaft in besonderer Weise ausgesetzt sind, ausweichen möchten (vgl. dazu auch Abschnitt 5.4.5.1). Selbst ein Umzug in eine andere Stadt, den vier Interviewpartnerinnen in Kauf nehmen, um Abstand zu dem Ort zu finden, an dem sie Gewalt erfahren haben, bedeutet nicht das Ende der am vorangegangenen Wohnort erfahrenen verstärkten sozialen Isolation. Es bleibt das Gefühl, sich als Angehörige einer überschaubaren Gemeinschaft „im Kreis“ zu drehen und sich zusätzlich zur eingeschränkten sozialen Teilhabe in der hörenden Welt auch mit einem eingeschränkten sozialen Leben innerhalb der Gehörlosengemeinschaft abfinden zu müssen.
5.7 Zusammenfassung der Ergebnisse Nachfolgend werden die wichtigsten Ergebnisse der Interviewauswertung mit Blick auf die Forschungsfragen thematisch orientiert an den Aussagen der gehörlosen Interviewpartnerinnen zusammengefasst. Da es sich hier um vertiefende qualitative Interviews handelt, wurden die Gewaltsituationen nie für
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sich genommen beschrieben. Vielmehr standen sie stets im Kontext mit dem unmittelbaren Umfeld, den Lebensbedingungen und weiteren individuellen Umständen der gehörlosen Frauen. In der Zusammenschau lässt sich ein Muster von besonders gefährdeten Situationen im Lebensverlauf und den damit einhergehenden Risikokonstellationen erkennen. Daraus ergeben sich folgende drei relevante Themenfelder, die auch die Grundlage für die Diskussion der Untersuchungsergebnisse im folgenden Kapitel bilden: Erziehungs- und Kommunikationsversäumnisse in Elternhaus und Schule (Abschn. 5.7.1), alternativlose Einbindung in die Gehörlosengemeinschaft (Abschn. 5.7.2) und Ansatzpunkte für Hilfe und Unterstützung (Abschn. 5.7.3).
5.7.1 Erziehungs- und Kommunikationsversäumnisse in Elternhaus und Schule Erziehungs- und Kommunikationsversäumnisse in Elternhaus und Schule schränken nicht nur das Identitätsbewusstsein der gehörlosen Interviewpartnerinnen ein, sondern führen auch bezüglich des Wissens um eigene Rechte und um die Unantastbarkeit des eigenen Körpers zu Informationsdefiziten. Das betrifft vor allem die allgemein erst später im Lebensverlauf erkannten und bewusst wahrgenommenen Schwierigkeiten beim Äußern von Bedürfnissen, Wünschen und Grenzen in Bezug auf die eigene Sexualität. Insgesamt ist die durch Eltern, andere Erziehungsberechtigte sowie pädagogisches Personal gewährte Unterstützung durch die in den Interviews immer wieder erwähnten Kommunikationsbarrieren als pädagogisch unzureichend anzusehen. Sie führen zu schwächenden Erfahrungen in Kindheit und Jugend, welche gehörlose Frauen anfälliger für Gewalterfahrungen machen können. Gerade gehörlose Kinder müssen von klein auf mit viel Fremdbestimmung durch Ärzte, Therapeuten, Logopäden und pädagogischem Betreuungspersonal leben, die ihre Autonomie stark beeinträchtigen. Dass gehörlose Kinder in Bezug auf Nähe und Distanz stark verunsichert sind, geht aus den Interviews hervor, wenn gehörlose Frauen berichten, dass sie das Berühren und Betatschen von Mitschülern an intimen Körperstellen als „normal“ empfunden haben. Es fehlt eine pädagogische Vermittlung oder Aufklärung darüber, welche Berührungen gut sind und welche nicht und das Entwickeln eines gesunden Körpergefühls. Die hier interviewten gehörlosen Frauen erlebten stattdessen schon früh, dass sie ein Defizit haben, dass ihr Körper nicht vollkommen ist und dass sie trotz Sprachtherapien und anderer hörgerichteter Übungen nicht normal mit Eltern und Lehrern kommunizieren können, wie es von diesen gewünscht wird. Sie haben nicht gelernt, die eigenen
5.7 Zusammenfassung der Ergebnisse
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Grenzen zu spüren und zu sagen, was ihnen gefällt und was nicht. Das kann auch mit dazu beigetragen haben, dass so häufig von fortgesetzter Gewalt und Missbrauchserfahrungen berichtet wird.
5.7.2 Alternativlose Einbindung in die Gehörlosengemeinschaft Alle Interviewpartnerinnen geben an, dass ihnen begrenzte soziale Spielräume zur Verfügung stehen. Die Gehörlosengemeinschaft als erste und einzige Adresse zur persönlichen Entfaltung und zum Aufbau von Freundschaften oder gar einer Ersatzfamilie – vor allem dann, wenn die eigene Familie versagt – bietet nur einen begrenzten Ausschnitt an Orientierungs- und Entfaltungsmöglichkeiten. Aufgrund der Isolation und der kommunikativen Barrieren besteht oftmals nur eine geringe Chance, außerhalb der Gehörlosengemeinschaft signifikante soziale Beziehungen zu knüpfen. Freundschaften mit hörenden Peer-Groups bestehen auch bei den Interviewpartnerinnen nicht oder werden allenfalls als oberflächlich eingeschätzt. Selbst eine Interviewpartnerin, die sich als schwerhörig bezeichnet und als „Grenzgängerin“ zwischen hörender und gehörloser Welt verortet, berichtet, dass sie sich auch der Welt der Hörenden nicht zugehörig fühlt. Ehen und langjährige Paarbeziehungen bestehen – bis auf eine Ausnahme – mit ebenfalls hörbehinderten Partnern. Die interviewten Frauen schätzen ihren Erfahrungshorizont durch das Verbleiben in der Gehörlosengemeinschaft als „eng“ und „eingeschränkt“ ein. Das bezieht auch die privaten Beziehungspartner mit ein. Sie geben darüber hinaus überwiegend an, dass sie eigene Wünsche und Bedürfnisse zugunsten ihrer männlichen Partner zurückgestellt haben. So übernehmen sie in allen beschriebenen Fällen die gesamte häusliche Organisation und, sofern Kinder zur Familie gehören, auch hauptsächlich die Kinderbetreuung und -erziehung. Oft stehen sie in der Ausübung des Berufes zurück und beschränken sich auf Teilzeitstellen, deren Arbeitszeiten es ermöglichen, die Kinder pünktlich aus den Betreuungseinrichtungen oder Schulen abzuholen. Auffällig sind auch die zahlreichen Hinweise in den Interviews, die auf ein Kontroll- und Dominanzverhalten des männlichen Partners schließen lassen. Während die männlichen Partner sich die Freiheit nehmen und sich häufig mit gehörlosen Freunden treffen bzw. Veranstaltungen des Gehörlosenvereins besuchen, geben die Frauen an, Rechenschaft über ihre außerhäuslichen Kontakte gegenüber dem Partner ablegen zu müssen. Damit einher geht häufig auch die ökonomische Abhängigkeit vom Partner, die dazu führt, dass sich traditionelle Muster in gehörlosen Beziehungen möglicherweise länger und unwidersprochen halten können.
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5.7.3 Ansatzpunkte für Hilfe und Unterstützung Die Interviewpartnerinnen, die Hilfe suchen, wenden sich aus der Not heraus eher an schwerhörige Freunde und Bekannte, die die Erstvermittlung zu Unterstützungs- und Anlaufstellen übernehmen. Sie lassen sich dabei von Personen aus dem näheren Bekannten- oder Freundeskreis begleiten, die besser sprechen oder von den Lippen ablesen können als sie selbst. Obwohl Polizei und Gericht vom Gesetz her verpflichtet sind, die Kosten für Gebärdensprachdolmetscher zu übernehmen, und auch die medizinische Versorgung die Übernahme von Dolmetscherkosten einschließt, wird der Einsatz von Gebärdensprachdolmetschern häufiger kritisiert. Eine Hauptsorge dabei ist die Anwesenheit einer zusätzlichen Person, vor der man ungeachtet bestehender Schweigepflicht nicht seine tiefen persönlichen Nöte und Verletzungen offenbaren möchte. Gebärdensprachdolmetscher, die von der Polizei oder vom Arzt hinzugezogen werden, dolmetschen üblicherweise auch in anderen alltäglichen Zusammenhängen. Einige der betroffenen Interviewpartnerinnen erzählen, wie sie plötzlich in einer der oben genannten Situationen einer Gebärdensprachdolmetscherin gegenübersitzen, die für sie gerade beim Elternabend oder bei einer Gehörlosenveranstaltung gedolmetscht hat. Hinzu kommt die Problematik, dass Gebärdensprachdolmetscher in Notsituationen oft nicht zur Verfügung stehen. Das gilt besonders auch für Institutionen, bei denen die Kostenübernahme nicht geregelt ist. Hier muss notgedrungen oft auf provisorische und unbefriedigende Lösungen zurückgegriffen werden. Dass trotz erheblicher Gewalterfahrungen nur vier der interviewten Frauen überhaupt Anzeige erstattet oder professionelle Hilfen in Anspruch genommen haben, bestätigt die mangelnde Barrierefreiheit der Institutionen für von Gewalt betroffene gehörlose Frauen. Ebenfalls von Bedeutung sind einschlägig negative Vorerfahrungen mit Behörden, Polizei oder Einrichtungen der medizinischen Versorgung, die viele Gehörlose aufgrund kommunikativer Barrieren bereits gemacht haben. Etwas anders stellt sich die Situation im therapeutischen Bereich dar, da es dort inzwischen vereinzelt Angebote in Gebärdensprache gibt bzw. selbst hörbehinderte Therapeuten ihre Dienste anbieten.
6
Diskussion
There is evidence that the rigour of research conducted with minority language groups is enhanced when researchers share the language and culture of that group. (Harris et al. 2009: 124)
Der Diskussionsteil ist zweigeteilt. Im ersten Teil wird der besondere methodische Ansatz kritisch reflektiert (Abschn. 6.1). Im zweiten Teil werden die gewonnenen Ergebnisse der Untersuchung inhaltlich diskutiert und in die wissenschaftliche Literatur eingeordnet (Abschn. 6.2).
6.1 Methodendiskussion Im nachfolgenden Kapitel erfolgt zunächst eine kritische Auseinandersetzung mit den eingesetzten Forschungsmethoden hinsichtlich ihrer Eignung und Umsetzung für die Beantwortung der Forschungsfragen (Abschn. 6.1.1). Im Anschluss daran werden Interviewführung und Interviewauswertung rückblickend diskutiert (Abschn. 6.1.2) und die in Abschnitt 4.2.2 beschriebene Rolle der Schattengebärderin hinsichtlich der Gütekriterien kritisch betrachtet (Abschn. 6.1.3). Abschließend reflektiere ich meine eigene Rolle als gehörlose Forscherin im Kontext des Untersuchungsdesigns sowie als Mitglied der Gehörlosengemeinschaft (Abschn. 6.1.4).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Fries, Gewalterfahrungen gehörloser Frauen, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31926-7_6
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6 Diskussion
6.1.1 Methodenwahl Vorangegangene Studien, besonders die quantitative Erhebung der Daten gehörloser Frauen im Rahmen einer Teilbefragung der Studie Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen (Schröttle et al. 2013) sowie die anschließende Sekundärauswertung dieser Daten (Fries & Schröttle 2015) haben gezeigt, dass gehörlose Frauen einem hohen Maß an Gewalt in unterschiedlichen Lebensbereichen, in Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben ausgesetzt sind. Die vertiefende Sekundäranalyse hat darüber hinaus differenzierte Informationen und Hintergrundwissen über die konkrete Gewaltbetroffenheit hervorgebracht und Risikofaktoren sowie erste Ansatzpunkte für eine verbesserte Gewaltprävention und Unterstützung identifiziert (ebd.: 9). Im Zusammenhang mit der Anschlussuntersuchung konnten bereits qualitative Interviews mit gewaltbetroffenen Frauen geführt werden, die aufgrund der Komplexität der Daten nur übersichtsartig und im Wesentlichen nur auf der Grundlage der schriftlichen Memos ausgewertet wurden. Die Laufzeit der kleinen Sekundärstudie war mit fünf Monaten (Oktober 2013 bis Februar 2014) zu kurz, um Übersetzungen der gebärdensprachlichen Interviews anzufertigen, ein entsprechendes Kodiersystem zu erstellen und die übersetzten Daten zu codieren. All dies konnte erst im Zusammenhang mit der vorliegenden Untersuchung durchgeführt werden. Die Wahl des qualitativen Vorgehens hat sich, wie die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen, bewährt, um neues Wissen zu generieren und vertiefende Aussagen zu ermitteln, die über die reine Gewaltbetroffenheit und allgemeine Reaktionen darauf hinausgehen. Besonders zu den in der vorliegenden Arbeit thematisierten Risikofaktoren, Ressourcen und gesundheitlichen Folgen konnten konkrete und detaillierte Aspekte herausgearbeitet werden, die die Ergebnisse der vorangegangenen Studien differenzieren und empirisch belegen. Durch die Face-to-face-Interviews in DGS wurde der Forschungsgegenstand „von innen heraus“ (Flick 2009: 14) aus der Sicht der betroffenen Akteurinnen beschrieben, um komplexe Zusammenhänge besser zu verstehen und darstellen zu können. Mit der durch Offenheit geprägten Datenerhebung, dem Einsatz der Schattengebärderin und umfassenden Maßnahmen zu einer geschützten Interviewatmosphäre (s. auch Abschn. 4.3.3) wurde versucht, dem von Flick beschriebenen Aspekt Genüge zu tun. Die Wahl des qualitativen Forschungsdesigns zur Beantwortung der vorliegenden Fragestellung kann folglich im Nachhinein als geeignet erachtet werden. Durch die qualitativen Interviews konnten nicht nur vertiefende Informationen für eine weitergehende Interpretation der statistischen Daten der standardisierten Studie und ihrer Sekundärauswertung gewonnen werden. Die Sichtweisen der betroffenen Frauen verdeutlichen
6.1 Methodendiskussion
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darüber hinaus komplexe Gewaltverhältnisse und Beziehungsdynamiken, die konkret aufzeigen, warum sie als eine besonders gefährdete Risikogruppe für das Erleben von Gewalt gelten müssen, warum sie von bestehenden Präventionsund Unterstützungsangeboten wenig oder gar nicht profitieren und inwiefern sie in besonderer Weise von eigenen Ressourcen und den Ressourcen ihrer sozialen Netzwerke profitieren. Die Schilderung der Gewaltfolgen zeigt auf, dass sich diese zwar grundsätzlich behandeln lassen, dass dies jedoch in der Regel einen lebenslang begleitenden Prozess darstellt. Ausschlaggebend dafür ist die Lebenssituation gehörloser Frauen als Mitglieder einer kleinen, überschaubaren Minderheitsgruppe.
6.1.2 Stichprobe, Interviewführung und Interviewauswertung • Stichprobe Die in der Untersuchung interviewten zwölf gehörlosen Frauen wurden nach bestimmten Kriterien ausgewählt, mit dem Ziel, typische Vertreterinnen des untersuchten Feldes zu beteiligen, ohne jedoch an das Kriterium der Repräsentativität gebunden zu sein. Die Auswahl der Interviewpartnerinnen für die qualitative Studie war geleitet von dem Anliegen, ein gewisses Maß an Heterogenität weiblicher Angehöriger der Gehörlosengemeinschaft in Bezug auf Alter, Familienstand, Bildung sowie soziale und regionale Herkunft abzu bilden (s. auch Tab. 4.1 „Wunschliste Stichprobenauswahl“) und somit Fälle aufzunehmen, die der Fragestellung gemäß als typisch erscheinen. Bereits die ersten Rückmeldungen auf den im Internet veröffentlichten Interviewaufruf signalisierten ein großes Interesse, an dieser Studie mitzuwirken. Die Anzahl der zu einem Interview bereiten gehörlosen Frauen erreichte schnell den erwarteten Umfang, sodass der Aufruf bereits 14 Tage nach seiner Veröffentlichung seinen Zweck mehr als erfüllt hatte. Auch fehlende Wunschkandidatinnen (s. auch Abschn. 4.3.3) konnten relativ unkompliziert innerhalb des für die Interviewführung vorgesehenen Zeitraums über Gatekeeper rekrutiert werden. Die sich hier spiegelnde hohe Bereitschaft der Frauen, sich zu einem sensiblen und problematischen Thema befragen zu lassen, zeigt, dass der Zeitpunkt gut gewählt war. Für eine Thematisierung von Lebensumständen, die durch Gewalterfahrungen belastet sind und im Zusammenhang mit gehörlosenspezifischer Erfahrung und der engen Einbindung in die Gehörlosengemeinschaft stehen, war zum Zeitpunkt des Interviewaufrufes im Herbst 2013 der
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6 Diskussion
Boden bereitet. Die Teilbefragung von 83 gehörlosen Frauen im Zusammenhang mit der Studie Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen (Schröttle et al. 2013) hatte innerhalb der Gehörlosengemeinschaft großes Interesse erfahren. Auf den Kulturtagen der Gehörlosen im September 2012 in Erfurt konnte auf breiter Basis über die Ergebnisse informiert werden (Brandes et al. 2012: 652; Pethke 2012: 636). Die sieben gehörlosen Interviewerinnen sowie das Bemühen des Bielefelder Forschungsteams um Prof. Dr. Claudia Hornberg und Dr. Monika Schröttle um eine Einbeziehung gehörloser Fachleute bei der Planung, Durchführung und Auswertung dieser Studie wurden als deutliches Zeichen dafür wahrgenommen, dass nicht über die Köpfe der betroffenen Frauen hinweg geforscht wurde, sondern Befragung und Ergebnispräsentation den sprachlichen und kulturellen Gepflogenheiten der Gehörlosengemeinschaft entgegenkamen (s. auch Abschn. 2.1). Nicht nur die Erfurter Kulturtage ließen die Interessen gehörloser Frauen innerhalb der Gehörlosengemeinschaft erkennbar werden, verstärkend kam auch eine Reihe von Frauenseminaren hinzu, die ich in den Jahren 2012–2014 als Frauenbeauftragte des Deutschen Gehörlosen-Bundes e. V. in zahlreichen Landesverbänden und Vereinen durchführen konnte (u. a. Hand zu Hand e. V. 2014, Gehörlosenverband Schleswig-Holstein e. V. 2014; vgl. auch Gonsior et al. 2013: 7). Im Lauf der Feldphase und darüber hinaus erreichten mich auch weiterhin schriftliche und persönliche Anfragen gewaltbetroffener gehörloser Frauen, die sich interviewen lassen wollten, „um mein schwer Leben endlich loswerden“ (private Mail vom 11.11.2013), „weil ich habe erfahren, Interview rein in Gebärdensprache“ (private Mail vom 09.12.2013) oder „da ich mit Schattengebärde und ohne mein Bild frei erzählen möchte“ (private Mail vom 16.10.2013). Eine Erhöhung der Anzahl der Interviews ließ das verfügbare Budget jedoch nicht zu. Zudem war erfahrungsgemäß besonders für die schriftliche Übersetzung und Auswertung der Daten viel Zeit einzuplanen, sodass der angestrebte Stichprobenumfang (N = 12) nicht überschritten werden sollte. Das hat sich im Nachhinein als eine gute Entscheidung herausgestellt, da die Bearbeitung der Interviews tatsächlich erhebliche Ressourcen forderte (s. u.), der Erkenntnisgewinn allein auf der Basis der zwölf durchgeführten Interviews aber auch bereits deutlich über das erwartete Maß hinausging. Helfferich (2016) bringt die Entscheidung für die Stichprobengröße mit Blick auf forschungspraktische Realisierungsprobleme der beschriebenen Art auf folgenden guten Nenner: „Eine gute Stichprobe ermöglicht Aussagen über eine eingegrenzte Gruppe […], innerhalb dieser Gruppe werden möglichst unterschiedliche Fälle zusammengestellt.“ (125).
6.1 Methodendiskussion
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• Interviewdurchführung Bezüglich der Teilnahmemotivation der gewaltbetroffenen Frauen ist eventuell kritisch anzumerken, dass dieses häufig aus dem Bedürfnis heraus gewachsen war, endlich die eigene Geschichte erzählen zu können. Im Vorfeld der Feldphase bewegten mich Fragen und Unsicherheiten, wie es bei einem so stark tabuisierten Thema gelingen könnte, die Interaktions- und Kommunikationssituation angemessen zu gestalten, sodass die Interviewten in der Lage wären, ohne Scham und Ängste frei zu erzählen, zumal in der Gegenwart der Schattengebärderin als einem dritten Paar Augen. Die Interviewsituation so zu gestalten, dass die erzählende Person ganz bei sich ist und möglichst authentisches Material erhoben werden kann, war mir ein besonderes Anliegen. Tatsächlich lösten sich die Bedenken und Überlegungen zur Gestaltung der Interviewsituation während der Gespräche weitgehend von selbst auf. Die interviewten Frauen empfanden auf Nachfrage hin die abgeschirmte und vertrauliche Interviewsituation und die durch die Schattengebärderin gewährte Anonymität als entlastend, zum Teil sogar als befreiend. Eine Herausforderung während der Interviews war für mich als Interviewende der Wechsel zwischen zwei Sprachen. Die Fragen im Interviewleitfaden waren schriftlich niedergelegt und lagen mir während der Interviews vor. Die Steuerung der Interviews in DGS mit Rückgriff auf den in Deutsch verfassten Leitfaden erforderte eine hohe Konzentration. Die stete Übersetzungsarbeit, die zwischen Leitfaden und Interviewführung zu bewältigen war, musste so unauffällig wie möglich erfolgen, um sich nicht nachteilig auf die Interviewatmosphäre auszuwirken. Translatorische Vorgänge hatten allein im Kopf stattzufinden und sollten mir nicht anzusehen sein. Es waren flüssige Übergänge zwischen den Fragen zu gestalten und ich durfte den sprachlichen Vorgaben des Fragebogens nicht zu dicht folgen. Obwohl ich mich als geübte Verwenderin beider Sprachen sehe, erforderte die Interviewsituation ein erhöhtes Maß an Achtsamkeit und war mit einer nicht geringen Anspannung verbunden. Der Leitfaden sollte darüber hinaus aber auch so offen wie möglich gehandhabt werden, um den interviewten Frauen Raum für die Entfaltung ihrer eigenen Geschichte zu geben. Als Interviewerin machte ich hier die Erfahrung, dass ich zwar die „Kontrolle“ über die Fragen hatte, nicht jedoch über die Antworten. Ich konnte mich nicht darauf vorbereiten, wie berührend oder bedrückend die Schilderungen sein würden und wie intensiv ich als Interviewerin in diese Erzählungen hineingezogen werden würde. Zuweilen kam ich hier an meine Grenzen bis hin zu Anzeichen einer sekundären Traumatisierung, die nur schwer abzuschütteln waren.
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6 Diskussion
Ein weiteres Problem bestand für mich vom ersten bis zum letzten Interview darin, das Gespräch zu einem angemessenen Abschluss zu bringen. Es fiel mir schwer, den Erzählfluss der Frauen zu stoppen, insbesondere war dies der Fall in den Interviews mit Andrea, Christa, Fee, Jasmin, Karla und Lucie. Zum Teil wiederholten sich hier Gedanken und Verarbeitungsprozesse, die ich nicht unterbrechen wollte, „um den Interviewten Raum für die Entfaltung ihres eigenen Sinnsystems und ihrer eigenen Relevanz zu bieten“ (Helfferich 2016: 131). Dies setzte voraus, dass ich mich als Interviewerin in Geduld und Langmut üben musste, um ihnen Raum zu geben, das zu sagen, was sie sagen wollten. Wichtig war auch, die mitunter scheinbar zusammenhanglosen ausschweifenden Gedankengänge der Interviewten nicht zu unterbrechen, die notwendig waren, um das ausdrücken zu können, was sie sagen wollten und was ihnen selbst wichtig war. Nach Helfferich besteht die eigentliche Herausforderung für Interviewende im Einlassen auf zum Teil „ganz anders geartete Normalitäten“ (ebd.). • Interviewauswertung Die Schritte zur Übersetzung der gebärdensprachlichen Interviews wurden bereits in Abschnitt 4.4 ausführlich dargestellt. Das Hauptproblem hier war zunächst der zeitliche Aufwand, den ich im Vorfeld schlicht unterschätzt hatte. Die Übersetzung gebärdensprachlicher Interviews und die Annotation durch ELAN sowie die begleitende methodische Kontrolle des Fremdverstehens, hat mich viele Monate beschäftigt, in denen mir durch das wiederholte Ansehen der Aufnahmen die Erlebnisse der gewaltbetroffenen gehörlosen Frauen besonders nahe gekommen sind, bis hin zu dem Punkt, dass ich sie nicht mehr aus dem Kopf kriegen konnte. Für den anschließenden Auswertungsschritt, das kategorienbildende inhaltsanalytische Verfahren, erwies sich die genaue Kenntnis der Inhalte zweifellos als Vorteil, da die Erzählungen hinsichtlich der Komplexität, in der unterschiedliche Gewalterlebnisse in den individuell verschiedenen Lebenskontexten verortet waren, eine besondere Herausforderung auch für die Bildung eines Kategoriensystems darstellten. Die inhaltsanalytische Auswertung des Materials verdeutlichte durchaus eindrucksvoll die Funktion einer maßvollen Interviewsteuerung und die Vorzüge, die ein vorgegebener Gesprächsrahmen und ein stabiles Frage-Antwort-Schema bieten. Zugleich lassen sich Gewalterfahrungen und subjektive Erleidens- und Erlebnisdimensionen jedoch nicht in ein festes Gefüge pressen, ohne ihre Komplexität zu reduzieren. Mit Blick auf die hier vorzunehmende inhaltsanalytische Auswertung war es vielmehr notwendig, zunächst die Vielfalt und
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Tiefe subjektiver Deutungen aus dem Material heraus zu entwickeln, bevor ich ordnend und kategorisierend Einfluss nehmen konnte. Diese Art der Auswertung überzeugt mich auch im Rückblick als geeignete Methode für die Bearbeitung von komplexen Daten. Die Auswertung konnte viele Aspekte herausfiltern und ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit einen großen Teil des Ausmaßes der Gewaltbetroffenheit gehörloser Frauen aufzeigen. Fachlich wie persönlich vorteilhaft wäre es gewesen, Ergebnisse während der Übersetzungsarbeit sowie im Zusammenhang mit der Kategorienbildung und dem Kodierungsprozess durch eine Feedbackschleife zusätzlich zu sichern, was jedoch im gegebenen Rahmen nicht leistbar war. Und schließlich: Wie jede andere qualitative Untersuchung hat auch diese Studie ihre Grenzen in der Methodik: Dokumentiert und rekonstruiert werden können nur persönliche Sichtweisen von Gewalt. Die Studie gibt lediglich das bearbeitete und gedeutete Geschehen wieder. So muss abschließend darauf hingewiesen werden, dass bei der Auswertung qualitativer Daten nie völlig ausgeschlossen werden kann, dass subjektive Meinungen und Deutungen einfließen. Die detaillierte Beschreibung des Vorgehens bei der Auswertung im Methodikteil (Kap. 4) arbeitet dem entgegen, ohne Subjektivität gänzlich ausschließen zu können.
6.1.3 Reflexion des Einsatzes der Schattengebärderin Befragungen und Untersuchungen innerhalb der Gehörlosengemeinschaft sind aus vielerlei Gründen schwierig. Neben der grundsätzlichen Problematik des Zugangs und der gehörlosengerechten Adaption eines Untersuchungsdesigns sind es vor allem ethische Fragen, die hier zu berücksichtigen sind. Im Methodenkapitel (s. Kap. 4) wurde darauf bereits ausführlich eingegangen. Auch für eine Untersuchung in der überschaubaren und eng miteinander verbundenen Gehörlosengemeinschaft war die Methodik so zu wählen, dass sie in erster Linie der Beantwortung der Forschungsfragen dient, oder, in den Worten von Napier und Leeson: „The most appropriate method should be selected in order to answer the research question(s) rather than drawing up the questions to fit the methodology“ (2016: 240). Da die Qualität der Ergebnisse dieser Untersuchung entscheidend davon abhing, was und wie viel die befragten gewaltbetroffenen Frauen bereit waren zu erzählen, wurde die Methode des Schattengebärdens eigens für diese Untersuchung konzipiert und in der akademischen Fachwelt zur Diskussion gestellt (Fries 2015; Fries & Schröttle 2015). Dort erfährt sie mittlerweile erste
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6 Diskussion
Anwendungen in der Forschungspraxis1 und wird als eine der „innovations in Deaf Studies“ begrüßt (Kusters, De Meulder, O’Brien 2017: 50). Ohne den Einsatz einer Schattengebärderin wäre es sehr schwierig gewesen, gehörlose Frauen, die bereit waren, von ihren Gewalterfahrungen vor laufender Kamera zu erzählen, für die Befragung zu gewinnen. Es ist und bleibt eine empfindliche Hürde bei der Generierung gebärdensprachlicher Daten, dass die Anonymität und der Schutz der Interviewten sehr schwer zu wahren sind, „given the visual nature of the language and the fact that participants are easily identifiable“ (Napier & Leeson 2016: 246; vgl. auch Abschnitt 4.2). Möglicherweise wäre eine verminderte Anonymisierung auch auf Kosten des Erkenntnisgewinnes gegangen und die Grenzen der Erforschbarkeit von erlebter Gewalt innerhalb der Gehörlosengemeinschaft wären enger gewesen. Der hier praktizierte Einsatz einer Schattengebärderin bot noch einen weiteren forschungsethischen Vorteil, der erst im Laufe der Interviews hervortrat: Das Vorgehen schützt Würde und Respekt der gehörlosen Frauen im Sinn der WHO-Richtlinien zur Befragung von Gewaltopfern (WHO Department of Gender, Women and Health 2001) in besonderer Weise. Es bewahrte die gehörlosen Interviewpartnerinnen davor, über persönliche Gewalterlebnisse direkt in eine Kamera zu gebärden und sich damit einer Situation auszusetzen, in der sie zum (Anschauungs-)Objekt gemacht und ihre Erfahrungen symbolisch bzw. körperlich vereinnahmt werden. Dass alles Erzählte, die erlebten Gewaltsituationen wie auch die zum Teil starken sichtbaren emotionalen Regungen durch das eigene Gesicht und den eigenen Körper zum Ausdruck gelangen, könnte als eine Form der „Enteignung“ wahrgenommen werden, indem Erlebtes vergegenständlicht und, mit einem traditionellen Ausdruck gesprochen, „auf Zelluloid gebannt“ wird. Demgegenüber bietet die vermittelte Wiedergabe durch die Schattengebärderin eine größere Möglichkeit der Distanzierung für die Betroffenen, wie sie etwa auch bei unkörperlich bleibenden Tonbandmitschnitten gegeben ist.2
1Die
Methode des Schattengebärdens wurde u. a. in einer Befragung gehörloser Asylsuchender in den Niederlanden (https://www.dovenschap.nl/rapport-dove-asielzoekers/) sowie in einer laufenden Befragung über Gewalterleben in den niederländischen Internatsschulen für Gehörlose (https://www.commissiegeweldjeugdzorg.nl/vooronderzoek/rapport/) eingesetzt. 2Ein interessanter Aspekt, der in weiterführenden Studien diskutiert werden könnte, ist der, ob man Tonbandmitschnitte nachsprechen lassen sollte, um das durch die Stimme gegebene persönliche Moment zu vermeiden.
6.1 Methodendiskussion
199
Gemäß der in der Einleitung des Methodenkapitels ausgeführten Prämisse des leitenden Ansatzes dieser Untersuchung, des community-engaged research, stammt Claudia Mechela, wie die Interviewerin und Interviewpartnerinnen auch, aus der Gehörlosengemeinschaft, sie ist selbst gehörlos und mit den Normen und der Kultur dieser Minderheitsgesellschaft bestens vertraut. Es wurde bewusst darauf verzichtet, hörende Personen, etwa ausgebildete Gebärdensprachdolmetscher, in den Rahmen dieser Untersuchung einzubeziehen, da sie trotz professioneller Kompetenz nicht in gleicher Weise als Angehörige der Gehörlosengemeinschaft gelten können. Young und Temple (2004) weisen darauf hin, dass Insider-Außenseiter-Identitäten und -Grenzen nicht leicht gezogen werden können, wenn es darum geht, hörende Personen in Untersuchungen mit gehörlosen Probanden einzubeziehen (s. auch Abschn. 4.2.1). Im Zusammenhang mit Erkenntnissen über die besondere Sensibilität bei der Erforschung von Minderheitsgemeinschaften wird die Einbeziehung hörender Personen in gebärdensprachliche Forschungssettings zunehmend diskutiert und zum Teil auch von hörenden Forschern selbst kritisch reflektiert. Sutton-Spence und West (2011) thematisieren die heikle Problematik ihrer Rolle als hörende Forscherinnen in gebärdensprachlichen Untersuchungen wie folgt: „A Hearing person working in Deaf Studies lives two lives: one as a Deaf Ally, working by choice in Deaf Studies, and one as a hearing person. It is not easy. It is a daily battle of being aware that we do not understand, and often never can. We cannot cross the border into the Deaf World“ (423). Allein die Tatsache, dass hörende „Außenseiter“ in gebärdensprachlichen Forschungssettings involviert sind, kann Folgen für die Untersuchung haben, da jede interkulturelle Interaktion die Gefahr von Missverständnissen erhöht (vgl. auch Sak 2010: 131f.) Natürlich bedeutet der Umstand, dass alle Beteiligten gehörlos sind, nicht automatisch, dass es in diesen Forschungskontexten keine Missverständnisse geben kann. Dennoch darf über die durch den Hör- und vor allem Kommunikationsstatus bedingten Unterschied bestehender abweichender Erfahrungen und Erwartungen auf beiden Seiten nicht hinweggesehen werden. Hörende Forschungsteilnehmer wissen nicht, was es heißt, alltägliche Verständnisprobleme zu erleben, zum Beispiel bei der sprachlichen Kommunikation mit hörenden Eltern, Erziehern und Lehrern. Sie kennen nicht das Gefühl der Not, nicht kommunizieren zu können, wenn man Hilfe und Unterstützung braucht. Sie können möglicherweise auch nur schwer nachvollziehen, als wie belastend die Enge der Gehörlosengemeinschaft empfunden werden kann, und Gefühle von innerer Isolation innerhalb eines allem Anschein nach lebendigen Netzwerkes von sozialen Beziehungen mögen ihnen fremd sein. Dass man als Hörender in der Lage sein kann, die Gebärdensprache sehr gut zu beherrschen und sie tagtäglich einzusetzen, etwa als Gebärdensprachdolmetscher
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6 Diskussion
im Umgang mit Gehörlosen, kann nicht über die Einsicht hinwegtäuschen, die Sutton-Spence und West (2011: 423) aufgrund ihrer Erfahrungen als gebärdensprachkompetente Akademikerinnen, die viele Jahre auf dem Gebiet der Deaf Studies tätig waren, formulieren: „We may one day become deaf, but we will never become Deaf“ (ebd.).3 Der Einsatz einer gehörlosen Schattengebärderin war jedoch nicht unkritisch und ließ sich nicht auf die Vorteile von „Deaf Like Me“4 reduzieren. Auch die gehörlose Claudia Mechela ist Teil der kleinen, überschaubaren Gemeinschaft der Gehörlosen, und es war darauf zu achten, dass trotz der gegebenen Nähe professionelle Distanz gewahrt werden konnte. So wurden alle potenziellen Interviewpartnerinnen unmittelbar nach dem Erstkontakt von der Identität der angekündigten Schattengebärderin in Kenntnis gesetzt und gebeten zu überprüfen, ob Claudia Mechela ungeachtet einer abgegebenen Schweigepflichtserklärung für sie als dritte anwesende Person im Interview akzeptabel sei. In einem Fall erwies sich dies tatsächlich als problematisch. Eine potenzielle Interviewpartnerin schrieb mir in einer Mail vom 20.09.2013: „Leider ist mir Schattengebärder-Frau Claudia Mechela gut von früher bekannt und ich habe keine gute Erfahrungen mit Claudia. Meine Frage, ob sie eine andere Person besorgen können.“ Da ich mich aus methodischen Gründen (vgl. Abschn. 5.2) für den durchgängigen Einsatz ein und derselben Schattengebärderin entschieden hatte, konnte ich dieser Frau keine positive Antwort geben und bat sie um Verständnis, dass ich in diesem Fall auf ein Interview mit ihr verzichten müsste. In einem anderen Fall war die Bekanntheit mit der Schattengebärderin für die Inter viewpartnerin kein Problem. Hier wurde mir sogar die besorgte Frage gestellt, ob die Tatsache, dass diese Kontakte längere Zeit zurücklagen, möglicherweise gegen ihre Auswahl als Interviewpartnerin spräche: „Mit Claudia bin ich gemeinsam zur Schule gegangen, vor 15–20 Jahren. Danach hatten wir kaum Kontakt. Ist das für Sie ein Problem? ich hoffe nicht, denn ich möchte den Interview gern machen“. Nach Rücksprache mit Claudia Mechela konnte ich davon ausgehen, dass in diesem Fall keine zu große persönliche Nähe zwischen den beiden bestand und entschied mich für die Rekrutierung. In einem weiteren Fall ergab es sich nach dem Interview, dass die Interviewpartnerin sich persönlich an
3Zur
Unterscheidung von „deaf“ und „Deaf“ siehe Fußnote 8 auf S. 11. Wendung „Deaf Like Me“ ist dem Titel eines Buches entnommen, in dem die Geschichte eines heranwachsenden gehörlosen Mädchens und Teenagers beschrieben wird, das in einem oralen Umfeld aufwächst und im Laufe ihrer Adoleszenz lernt, was es heißt „Deaf“ (mit großem D) zu sein (Spradley & Spradley 1985).
4Die
6.1 Methodendiskussion
201
die Schattengebärderin wandte: „Ich soll dich von meinem Freund grüß dieser Interviewpartnerinnen“ (Mündliche Mitteilung nach einem Interview). Es stellte sich heraus, dass der neue Partner der Interviewpartnerin mit dem Bruder der Schattengebärderin in eine Klasse gegangen war. Claudia Mechela reagierte darauf sachlich zurückhaltend, wies darauf hin, dass sie in einer anderen Rolle im Einsatz sei, und betonte nachdrücklich ihre Schweigepflicht. In diesem Zusammenhang bat sie die Interviewpartnerin darum, der Partner solle sie bei einem künftigen Treffen nicht auf die Interviewsituation ansprechen. Von der interviewten Frau wurde dies vorbehaltlos akzeptiert und als ein Zeichen für ein Bemühen um Anonymität gewertet. Neben der Wahrung professioneller Distanz war auch die Profession an sich, nämlich eine Qualifikation als taube Gebärdensprachdolmetscherin, ein wichtiges Gütekriterium für die Schattengebärderin.5 Ihre im Rahmen einer akademischen Ausbildung erworbene Qualifikation kam der Schattengebärderin während der anspruchsvollen Einsätze, die hohe Konzentration und sprachliche Genauigkeit erforderten, zugute. So wurden kleinere Missverständnisse oder Ungenauigkeiten im Prozess des Schattengebärdens, wie sie in Abschn. 5.2 beschrieben wurden, relativ schnell erkannt. Als problematisch kann die Tatsache angesehen werden, dass der Einsatz der Schattengebärderin im Alleingang zu bewältigen war. Der Berufsverband der Gebärdensprachdolmetscher empfiehlt in der Regel eine Doppelbesetzung, wenn der Einsatz mehr als 60 Minuten währt, schränkt diese Forderung aber auch ein: „In Einzelfällen kann in Abhängigkeit von den Einsatzmodalitäten nach Rücksprache mit dem/der Dolmetscher/in eine Einzelbesetzung möglich sein“ (BGSD 2002). In den Interviews schien eine Einzelbesetzung allein schon wegen der Wahrung der Schutz-und Privatsphäre der interviewten Frauen angebracht. Begünstigend kam hinzu, dass ich aufgrund meiner eigenen bilingualen Kompetenz und jahrelanger beruflicher Praxis in der akademischen Ausbildung von Gebärdensprachdolmetschern mit dem Prozess des Verstehens und Wiedergebens von Gebärdensprache vertraut bin. So konnte ich während der Interviews bei Verständnisschwierigkeiten schnell eingreifen oder auf der Grundlage meiner Mitschriften nach den Interviews Übersetzungsdefizite rekonstruieren. Nützlich in diesem Zusammenhang war auch das Nachbereitungsgespräch, das ich mit der Schattengebärderin direkt nach jedem Interview geführt habe und in dem wir das Interview gemeinsam noch einmal durchgegangen
5Zur Person und Arbeitsweise von Claudia Mechela als taube Gebärdensprachdolmetscherin in der Berliner Gebärdenfabrik s. https://www.gebaerdenfabrik.de/uebersetzung/.
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6 Diskussion
sind. Zuweilen dienten diese Gespräche auch der kollegialen Supervision, um etwa belastende Eindrücke gemeinsam zu verarbeiten. Als verantwortliche Person für diese Untersuchung war es mir ein Anliegen, die Arbeitsbedingungen der Schattengebärderin im Rahmen meiner Möglichkeiten angemessen zu gestalten und ihr neben einem konstruktiven kritischen Feedback Raum für eine Bewältigung intensiver, bedrückender, zuweilen traumatischer Eindrücke zu geben.
6.1.4 Reflexion der eigenen Rolle als gehörlose Forscherin Die vorliegende Studie hat sich methodisch am Ansatz der community-engaged research orientiert (s. Kap. 4), der auch meine Rolle als Forscherin und mein Verhältnis zu den Interviewpartnerinnen prägt. Mit anderen Gehörlosen teile ich Sprache und Kultur sowie gemeinsame Erfahrungen, Netzwerke und die Zugehörigkeit zu einer soziolinguistischen Minderheit (s. Abschn. 2.1). Auf der anderen Seite unterscheide ich mich in vielerlei Hinsicht von den meisten Gehörlosen: Ich hatte durch meine gehörlosen Eltern und Großeltern einen frühen Zugang zur Gebärdensprache, kann erfolgreich die deutsche Laut- und Schriftsprache verwenden, habe Regelschulen besucht und bin eine der nach wie vor wenigen Gehörlosen, die ein Hochschulstudium absolvieren konnten. Seit vielen Jahren arbeite ich in akademischen Zusammenhängen: „As such, most deaf scholars of the current generation are not representative of wider deaf communities, do not necessarily identify with the ‚classic native deaf‘ model …“ (Kusters, de Meulder & O’Brien 2017: 24f.). Durch meine Bildungsbiografie habe ich einen privilegierten Status innerhalb der Gehörlosengemeinschaft. Sie eröffnete mir auch den Zugang zur akademischen Welt, ohne den die vorliegende Untersuchung nicht zustande gekommen wäre. Hier kann jedoch durchaus nicht von gleichberechtigter Zugehörigkeit die Rede sein: Als gehörlose Wissenschaftlerin stoße ich in einem hörenden akademischen Umfeld fast durchgehend auf Barrieren, die mir ein gleichwertiges Forschen erschweren. Dass ich wegen fehlender Finanzierung von Gebärdensprachdolmetschern nicht am Promotionsstudium teilnehmen konnte, ist dafür nur ein Beispiel. Benachteiligungen haben meine Arbeit als gehörlose Forscherin im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit erheblich beeinträchtigt. Mir fehlten während des Promotionsprozesses der Austausch mit anderen Mitpromovierenden sowie die fachlich-inhaltliche Unterstützung, die das Programm des Promotionsstudiums an der School of Public Health
6.1 Methodendiskussion
203
der Universität Bielefeld für diesen Zweck vorsieht. Gerade in der Anfangszeit meiner Untersuchung, als noch viel Unsicherheit bezüglich Fragestellung, Methodenwahl und Zielsetzung bestand und ich auf der Suche nach der richtigen Vorgehensweise war, vermisste ich Austausch und Anleitung. Lange Zeit fühlte ich mich nicht angemessen gerüstet für die neuen akademischen Herausforderungen, zumal sich die Augen der Gehörlosengemeinschaft mit einigen Erwartungen auf mich richteten. Die gehörlose norwegische Sozialanthropologin Hilde Haualand setzt sich mit der Situation, als gehörlose communityengagierte Forscherin in einem akademischen hörenden Umfeld tätig zu sein, in einem Artikel mit dem sprechenden Titel „When inclusion excludes: Deaf researcher – either, none, or both“ auseinander und fasst ihre Problemlage wie folgt zusammen: „As a deaf researcher, I felt like a condensation of the tangible consequences of exclusion“ (Haualand 2017: 328). Die fehlende Einbeziehung in das Promotionsstudium ließ sich teilweise durch die Mitwirkung an Studien ausgleichen, die um inklusive Gestaltung bemüht waren (Schröttle et al. 2013; Mandl et al. 2014; Fries & Schröttle 2015; Rieske et al. 2018). In allen vier Studien hatte ich Gelegenheit, zum Thema Gewalt in der Gehörlosengemeinschaft mitzuarbeiten. Dadurch war mir das Thema bekannt und ich konnte mich darauf vorbereiten, in einer eigenen Arbeit vertiefend einzusteigen und Interviews zur Gewaltproblematik zu führen. Dass die Gewaltproblematik innerhalb der Gehörlosengemeinschaft in dieser Weise verbreitet ist, war mir ungeachtet meiner frühen intensiven Bindung an diese Gemeinschaft lange Zeit nicht bewusst, und die Aussicht, ein weitgehend tabuisiertes Thema aufzudecken und die Diskussion dazu innerhalb der Gehörlosengemeinschaft anzustoßen, motivierte mein Forschungsinteresse (s. auch Abschn. 1.1). Ich wollte in direkt geführten gebärdensprachlichen Interviews vertieft Gründe und Ursachen für die hohe Gewaltbetroffenheit gehörloser Frauen erfragen, also konkretes gebärdensprachiges Material sammeln, es übersetzen und auswerten. Dabei kamen mir meine Ausbildung und mein akademischer Hintergrund zugute. Doch nicht immer ließ sich die professionelle Perspektive einer Akademikerin einhalten: Zunächst bestätigte sich in der Feldphase die allgemeine Auffassung, „deaf people often open up more easily to a deaf researcher“ (Kusters, de Meulder & O’Brien 2017: 26) und ich sah mich in einer komfortablen Ausgangssituation, gelang es mir doch in den Interviews, eine Vertrautheit zu den interviewten Frauen zu entwickeln, die auch „eine offene Erzählung zu Gewalt tragen kann“ (Helfferich 2016: 126). Jedes Interview brachte Ergebnisse, kein Gespräch musste abgebrochen werden und alle Interviewpartnerinnen erzählten offen und bereitwillig ihre Geschichten, die mir oft auch innerlich nahe gingen und mich aus der Komfortzone hinauswiesen: Zu gut konnte ich mich in viele geschilderte
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6 Diskussion
Lebensberichte hineinversetzen. Sutton-Spence und West beschreiben die Perspektive, die hörende Forscherinnen gegenüber der Gehörlosengemeinschaft einnehmen, in folgendem Bild: „We can go up to the fence and look through, but we cannot cross“ (2011: 423). Gelegentlich hätte ich es mir gewünscht, auf der anderen Seite des Zaunes zu stehen und mit etwas mehr Distanz zu betrachten, was dahinter zu sehen war. Erzählten die Frauen davon, wie es war, sich von Ärzten oder Therapeuten falsch behandelt zu fühlen, von misslingender Kommunikation im Alltag oder von Barrieren am Arbeitsplatz, deckte sich das häufig mit meiner eigenen Wahrnehmung und den Erfahrungen in der hörenden Welt. Nur zu gut konnte ich ihre Schilderungen nachvollziehen, wie es war, das einzige gehörlose Kind in der Familie zu sein, sich in der eigenen Herkunftsfamilie einsam und als Außenseiterin zu fühlen und keine andere Zuflucht zu haben als die kleine Welt der Gehörlosengemeinschaft, die für fast alle Interviewpartnerinnen in Bezug auf Partnerwahl und Vertrauenspersonen alternativlos war. Erlebtes Unrecht, Ausgrenzungserfahrungen und Informationsdefizite führten mir die Mängel der Gesellschaft, in der wir leben, vor Augen, und immer wieder sah ich mich damit konfrontiert, wie schwierig es sein würde, daran etwas Grundsätzliches zu ändern. Auch die vorliegende Arbeit kann in dieser Hinsicht nicht mehr tun, als auf Probleme hinzuweisen und Anstöße und Empfehlungen (s. auch Kap. 7) zu geben. Verändern wird sie die Gesellschaft nicht, die Gehörlosengemeinschaft vielleicht ein klein wenig. Während mir die Interviews in organisatorischer und kommunikativer Hinsicht leicht von der Hand gingen, wurden mir von Seiten der Interviewten sehr unterschiedliche Erwartungen entgegengebracht. Einige Frauen nahmen die Gelegenheit wahr, zum ersten Mal über das Erlebte zu sprechen. Ihnen war Respekt, Dankbarkeit und besondere Aufmerksamkeit zu zollen. Andere wiederum hatten sehr schlechte Erfahrungen mit der Offenlegung ihrer Gewalterlebnisse anderen gegenüber gemacht. Sie wurden mit Beschuldigungen oder Klischees konfrontiert, als Person und Partnerin abgewertet oder sahen sich Vorwürfen ausgesetzt, ihre Darstellungen seien unwahr oder verfälschend gewesen. Diesen Frauen musste ich Empathie und Sicherheit vermitteln, aber auch deutlich machen, wo meine Grenzen als Forscherin lagen. In solchen Fällen war in besonderer Weise dafür Sorge zu tragen, dass die Beteiligung an dieser Studie nicht zu einer weiteren schlechten Erfahrung wurde. Da für die Feldphase ein begrenzter Zeitrahmen zur Verfügung stand und ich durch die Finanzierung der Schattengebärderin durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) angehalten war, die Datenerhebung in den dafür vorgesehenen knapp vier Monaten abzuschließen, gab es zwischen den Interviews kaum Möglichkeiten, die Erzählungen der gehörlosen Frauen zu verarbeiten.
6.1 Methodendiskussion
205
Während es mir in der aktuellen Interviewsituation möglich war, die notwendige professionelle Distanz einzuhalten, holte mich das Ergriffensein von den persönlichen Berichten bei der intensiven Beschäftigung mit den einzelnen Interviews, besonders in der Phase der Datenauswertung und Ergebnissicherung, unvermittelt ein. Die sprachliche Arbeit an der Verschriftlichung der gebärdensprachlichen Daten, das Abwägen von Übersetzungsmöglichkeiten und Formulierungen bis hin ins Detail (vgl. Abschn. 4.4) war eine einsame und schwierige Zeit, auf die ich besser hätte vorbereitet sein sollen. In dem knapp zwei Jahre nach dieser Arbeitsphase erschienenen Forschungsmanual Gewalt (Helfferich, Kavemann & Kindler 2016) wurde zur „Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten und Selbstschutzstrategien“ (Helfferich 2016: 130) auf Seiten der Forschenden geraten. Mein Fokus lag jedoch vielmehr auf der Sorge um Belastungen für die Interviewten und die Schaffung guter Arbeitsbedingungen für die Schattengebärderin. Eigene Unsicherheiten im Umgang mit den Inhalten der Interviews sowie die Möglichkeit einer ausreichenden Struktur zur Selbstreflexion standen mir zum Zeitpunkt der Feld- und Auswertungsphase nicht zur Verfügung. Für eine fachliche Supervision hätte ich nicht nur eine geeignete Person, sondern auch Gebärdensprachdolmetscher gebraucht. Dieser Mehraufwand war organisatorisch und finanziell nicht zu bewältigen. Barbara Kavemann hat dieser besonderen Thematik ein hilfreiches Kapitel („Erinnerbarkeit, Angst, Scham und Schuld als Grenzen der Forschung zu Gewalt“) in dem oben genannten Sammelband gewidmet, in dem dieser Aspekt wie folgt zusammengefasst wird: „Die Forschenden geben einen Rahmen von Datenerhebung vor, der mit fachlicher Sorgfalt erarbeitet ist und forschungsethischen Ansprüchen genügt. Sie wissen um die Belastungen, die Forschung zum Thema Gewalt mit sich bringen kann, und treffen sowohl für die Befragten als auch für sich selbst angemessene Vorsorge.“ (Kavemann 2016: 66). Dass ich inzwischen Gelegenheit zur Nachsorge hatte, kommt mir nicht nur für weitere Forschungsvorhaben zugute. Es lässt sich nicht vermeiden, dass ich als Angehörige der Gehörlosengemeinschaft Interviewpartnerinnen regelmäßig auf Veranstaltungen, bei Vorträgen oder Seminaren begegne. Zuweilen passiert dies auch bei Institutionen oder Einrichtungen, auf die ich als gehörlose Privatperson, als Patientin oder Ratsuchende angewiesen bin. Es kommt vor, dass mir bei solchen Gelegenheiten Mitteilungen in Bezug auf das geführte Interview gemacht werden. Sie reichen von „Danke, dass ich damals alles erzählen konnte“ bis hin zu „Bei mir läuft alles unverändert schlecht, Sie wissen schon, was ich meine.“. In solchen Situationen lassen sich die Grenzen zwischen meiner Rolle als Forscherin und als Privatperson nicht klar ziehen. Das Wissen, das ich generieren konnte, wird mich noch auf lange Sicht mit den interviewten Frauen verbinden, da wir derselben Community angehören.
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6 Diskussion
Damit muss ich umgehen lernen wie auch mit der Einsicht, dass mir meine professionelle Identität nicht immer Rückzugsmöglichkeiten bietet, wenn ich in einem Feld forsche, in dem ich zugleich „zu Hause“ bin. Das war in nicht wissenschaftlicher Hinsicht vielleicht der größte persönliche Zugewinn, den ich durch diese Studie erfahren habe.
6.2 Ergebnisdiskussion That which has no name, that for which we have no words or concepts, is rendered mute and invisible. (Barbara Du Bois 1983:108)
Die gehörlosen Frauen, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen, sind Teil einer marginalisierten Bevölkerungsgruppe. Es galt herauszuarbeiten und aufzuzeigen, wie vielfältig und unterschiedlich die Faktoren sind, die zu Gewalterfahrung und Diskriminierung führen. Die Ergebnisse zeigen in aller Deutlichkeit, dass die Interviewpartnerinnen im Lebensverlauf mehrere und unterschiedliche Formen von Diskriminierung erleben, deren Ursachen in einer bloßen Aufzählung oder Aneinanderreihung nicht im Kern erfasst werden können. Um eine aussagekräftige argumentative Grundlage zu erstellen, müssen die auf unterschiedlichen Ebenen wirkenden Einflüsse diskriminierender und gewaltfördernder Mechanismen diskutiert werden. Zu sehen ist auch, dass gehörlose Frauen in mehrfacher Hinsicht benachteiligt sind, da bei ihnen mehrere zu einer Diskriminierung führende Merkmale zusammenwirken und sich wechselseitig beeinflussen. Die Aussagen der Interviewpartnerinnen zeigen in aller Deutlichkeit auf, dass bei ihnen eine intersektionelle Diskriminierung vorliegt, also eine Überschneidung von verschiedenen Diskriminierungsformen in einer Person aufgrund der Behinderung.6 Sie tritt bei den in dieser Studie befragten Frauen häufig an der Schnittstelle eingeschränkter, unzureichender oder fehlender Kommunikation als Folge der Behinderung auf. In der folgenden Ergebnisdiskussion werden im Hinblick auf ein intersektionelles Zusammenwirken von
6In
der Intersektionsforschung spielte der Aspekt der Behinderung lange Zeit keine Rolle. Die Intersektionalitätstheorie in der Frauen- und Geschlechterforschung (Crenshaw 1989; Wansing & Westphal 2012) kreiste vielmehr um die Triade Geschlecht, Klasse, Rasse. Erst in neueren Forschungsarbeiten und Veröffentlichungen wird auch die Intersektionalitätstheorie genutzt, um die Vielschichtigkeit von Behinderung sowie ihre Wechselwirkung mit anderen Ungleichheitsfaktoren adäquat beschreiben zu können (Baldin 2014: 49; s. auch Raab 2007).
6.2 Ergebnisdiskussion
207
Diskriminierungsfaktoren vor allem folgende drei Hauptaspekte im Mittelpunkt stehen: Geschlecht, Behinderung (Gehörlosigkeit) und Kommunikation. Die drei zusammenwirkenden Persönlichkeitsmerkmale sind im Fall der in dieser Studie befragten Frauen relevant dafür, dass sie Opfer von Gewalt und Diskriminierung geworden sind. Die Diskussion der Ergebnisse erfolgt nach der in Abschnitt 5.7 thematisch orientierten Zusammenfassung der ausgewerteten Interviews. Erlebte Gewaltsituationen wurden in den Aussagen der Interviewpartnerinnen weitgehend kausal reflektiert. Auch wenn die vorliegende Studie nicht als repräsentativ gelten kann, so zeigt sie dennoch Tendenzen der Gewaltproblematik innerhalb der Gehörlosengemeinschaft auf. Und nicht nur das. Die ausgewerteten Aussagen in den Interviews geben Zeugnis davon, dass die Gewaltproblematik, von der die gehörlosen Frauen berichten, kein isoliertes Geschehen ist, sondern eingebunden ist in ein komplexes System von Risikokonstellationen und Ressourcen, die stets im Gesamtkontext der Lebenssituation dieser Personengruppe zu betrachten sind. Wenn im Folgenden die Ergebnisse dieser Untersuchung diskutiert werden, geschieht das also immer auch vor dem Hintergrundder in Abschnitt 2.1 beschriebenen Lebenssituation gehörloser Menschen in unserer Gesellschaft, deren Bedingungen oft erst viele der von den Interviewpartnerinnen erlebten Gewaltsituationen verursachen. So sind die Muster von Gewaltsituationen und was daraus folgt immer auch ein Spiegelbild von den Lebensumständen und den strukturellen Voraussetzungen, die hörbehinderte Menschen in unserer Gesellschaft vorfinden. Sie nehmen einen entscheidenden Einfluss auf ihre Lebenssituation und beeinflussen unter anderem auch die in dieser Untersuchung im Mittelpunkt stehende Gewaltproblematik gehörloser Frauen: Erziehungs- und Kommunikationsversäumnisse in Elternhaus und gehörlosenspezifischen Institutionen (Abschn. 6.2.1) und beschränkte Peer-Group-Erfahrungen und alternativlose Einbindung in die Gehörlosengemeinschaft (Abschn. 6.2.2). Mit Blick auf die Handlungsempfehlungen (Kap. 7) werden abschließend Ansatzpunkte für Hilfe und Unterstützung (Abschn. 6.2.3) diskutiert.
6.2.1 Erziehungs- und Kommunikationsversäumnisse in Elternhaus und gehörlosenspezifischen Institutionen Bei fast allen Interviewpartnerinnen lässt sich die Spirale der Gewalterfahrungen bis hinein in die Kindheit und Jugend der gehörlosen Frauen zurückverfolgen: In zehn der vorliegenden zwölf Interviews wird die frühe Gewalterfahrung
208
6 Diskussion
thematisiert (s. auch Tab. 5.1) und bis auf eine Ausnahme handelt es sich um Formen sexueller Gewalt. Die hier befragten Frauen hatten diese intimen Übergriffe mit oder ohne Körperkontakt bis hin zum erzwungenen Geschlechtsverkehr erlebt (s. Tab. 5.2). Anknüpfend an diese Ergebnisse stellt sich hier die Frage, warum gerade diese Gruppe einem so hohen Risiko ausgesetzt ist, von sexuellem Kindesmissbrauch betroffen zu sein. Elternhaus und Schule bzw. gehörlosenspezifische Institutionen sind dabei die beiden wesentlichen Eckpfeiler, in denen sich wiederholt typische Erziehungs- und Kommunikationsversäumnisse abgespielt haben, die schließlich auch Einfluss genommen haben auf die hohe Vulnerabilität der befragten Frauen, bereits in Kindheit und Jugend Gewaltsituationen ausgesetzt gewesen zu sein. Im Folgenden sollen im Zusammenhang mit den Kommunikationsversäumnissen in Elternhaus und Schule folgende drei Ergebniskomplexe genauer betrachtet werden: fehlender Schutz und Respekt in der Herkunftsfamilie (Abschn. 6.2.1.1), frühe Fremdbestimmung und kommunikative Isolation (Abschn. 6.2.1.2), unzureichende Reaktion auf Gewaltvorfälle in gehörlosenspezifischen Institutionen (Abschn. 6.2.1.3).
6.2.1.1 Mangelnder Schutz und Respekt in der Herkunftsfamilie Den notwendigen Respekt und Schutz in der Familie hat kaum eine der Interviewpartnerinnen erfahren. Wie bereits aufgezeigt (vgl. Abschn. 2.1) haben fast alle gehörlose Kinder hörende Eltern, welche die Gebärdensprache oft nicht genügend bzw. kaum beherrschen. Auch zwischen oral erzogenen gehörlosen Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern bestehen oft Verständigungs- und Kommunikationsprobleme (vgl. Abschn. 2.1). Der Mangel an Möglichkeiten, sich mit den engsten Vertrauenspersonen im Leben wirklich zu verständigen, lässt das hörbehinderte Kind oft resignieren und führt dazu, dass es Missbrauchserfahrungen verschweigt (Dietzel 2004: 62; Admire & Ramirez 2017: 3): „Schon nur das Notwendigste miteinander zu kommunizieren erfordert meist so viel Mühe, dass alles, was darüber hinaus geht, zur Luxuskommunikation wird“ (Eckerli Wäspi 2013: 13). Sich in der eigenen Familie als Kind wenig oder gar nicht angenommen gefühlt zu haben, schilderten 39% der von Schröttle et al. befragten gehörlosen Frauen (2013: 285, vgl. auch Sebald 2008: 379). Die in dieser Studie interviewten Frauen berichten fast alle davon, dass ihre Hörschädigung oft erst im Alter von zwei, drei Jahren von den Eltern bemerkt wurde. Den Eltern fiel erst dann auf, dass mit dem Kind etwas nicht stimmte, wenn es keine Lautsprache entwickelte (vgl. Hintermair 2015: 265; Hintermair, Sarimski & Lang 2015: 170f.). In den ersten zwei Lebensjahren des Kindes kann sich
6.2 Ergebnisdiskussion
209
aufgrund einer unentdeckten Hörschädigung eine Störung der Kommunikation und Bindung zwischen Säugling und Mutter entwickeln, die für beide Seiten zu Frustrationen führen kann: „If there is a disruption in this reciprocal interaction between mother and infant, frustrations and challenges may arise for both parties. Infants may believe they are not getting their needs met and thus may cry out or, worse, become withdrawn. Mothers may have feelings of rejection and may not understand why their newborn is not interacting with them.“ (Sebald 2008: 380). Rückblickend bestätigen erwachsene gehörlose Frauen in den Interviews diese Annahme (vgl. Abschnitt 5.4.3.1). Hier wird vor allem sichtbar, in welchem Maße gerade diese Befragungsgruppe von früh an aus der Kommunikation und Integration innerhalb der eigenen Familie ausgeschlossen ist. Die Aussagen der Interviewpartnerinnen bestätigen vorangegangene Untersuchungen, die bereits auf die häufig gestörte Beziehung zwischen den gehörlosen Frauen und ihren hörenden Eltern hingewiesen haben: Gehörlose Frauen gaben in den Studien von Schröttle et al. (2013) sowie Fries und Schröttle (2015) an, in Kindheit und Jugend sehr häufig psychische, körperliche und sexuelle Gewalt in den Elternhäusern erlebt zu haben: „Bei den konkret genannten Gewalthandlungen, die durch Eltern in Kindheit und Jugend erlebt wurden, fällt auf, dass die gehörlosen Frauen sehr häufig seelisch verletzende Handlungen durch Eltern berichten (42% vs. 23% im weiblichen Bevölkerungsdurchschnitt) oder angeben, niedergebrüllt worden zu sein (46% vs. 26%)“ (vgl. Fries & Schröttle 2015: 22). Darüber hinaus haben sie doppelt so häufig wie Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt Gewalt zwischen den Eltern, zumeist vom Vater gegen die Mutter, miterlebt (51% vs. 18%) (ebd.: 21). „Es muss vermutet werden, dass Kinder mit Gewalterfahrungen im Elternhaus weniger Widerstandskraft gegen die Übergriffe eines potentiellen Täters aufbringen können, und ihre Abwehr geschwächt ist“ (Eckerli Wäspi 2013: 30). Zuweilen wird die unzureichende Möglichkeit, miteinander zu kommunizieren, von Eltern gehörloser Kinder oft auch mit einer (gut) gemeinten Überbehütung (Hintermair, Sarimski & Lang 2015: 174) kompensiert, welche einen Mangel an Entwicklung sozialer Fähigkeiten befördert und eine „Sozialisation zur Anspruchs- und Wehrlosigkeit“ dieser Kinder verstärkt (Urbann et al. 2015: 38). Gehörlose Kinder werden so zum Beispiel daran gehindert, eigene Entscheidungen zu fällen und zu sagen was sie mögen bzw. was ihnen nicht gefällt (Job 2004: 272f.; Suter, McCracken & Calam 2012: 163). Ferner werden sie von klein auf daran gewöhnt, dass erwachsene Menschen in ihren persönlichen und intimen Angelegenheiten mitbestimmen. Das bestätigen auch Aussagen der Interviewpartnerinnen dieser Studie (vgl. vor allem Abschn. 5.4.3 und 5.4.4). In der Forschungsliteratur wird diese Sozialisation hörbehinderter Kinder zu Passivität und Wehrlosigkeit durch
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6 Diskussion
kommunikative Deprivation auch als ein Risikofaktor bestimmt: „Von Anfang an findet kaum Interaktion mit den Familienmitgliedern statt und die passive Rolle des gehörlosen Kindes verfestigt sich mit zunehmendem Alter. […] Die Funktion der Sprache ist überwiegend handlungsregulierend und dient in erster Linie zur Bewältigung des familialen Alltags.“ (Dietzel 2004: 64; vgl. auch Crossmaker 1991; Sobsey 1994; Sebald 2008; Schröttle et al. 2013; Fries & Schröttle 2015). Dass die interviewten Frauen überwiegend von einer eher oberflächlichen Bindung zu den Eltern berichten, mag auch daran liegen, dass sie zum Teil weit entfernt von den Familien in schulischen Einrichtungen lebten, wo sie mitunter bereits im Alter von drei Jahren untergebracht worden waren. Die Außenseiterrolle des gehörlosen Kindes führte so zwangsläufig zu einer frühen emotionalen Trennung von Eltern und Geschwistern (vgl. Abschn. 5.4.3.4). Dass die Trennung von der Familie und/oder Vertrauenspersonen besonders bei sehr jungen hörbehinderten Kindern eine emotionale Instabilität hervorrufen kann, ist in der Forschung gut belegt (u. a. Hintermair 2015; Hintermair, Sarimski & Lang 2015). Hinzu kommt, dass mit Beginn der Aufnahme in einer Institution vorwiegend fremde Bezugspersonen den Tagesablauf dominieren und Entscheidungen für das gehörlose Kind treffen (vgl. Abschn. 5.4.2.5).
6.2.1.2 Frühe Fremdbestimmung und kommunikative Isolation Kinder und Jugendliche mit einer Hörbehinderung „sind gewöhnt, dass sie von einer Vielzahl erwachsener Personen begleitet werden und in gewissem Maße abhängig von diesen sind“ (Urbann et al. 2015: 38, vgl. auch Eckerli Wäspi 2013: 33). Dadurch fällt es ihnen schwerer, eigene Grenzen zu spüren, ihren Körper als etwas Positives wahrzunehmen und ihn zu schützen. Dass sie zu wenig implizites Wissen über ihre eigene Bedürfnisse haben und nicht sagen können, welche Berührungen in Ordnung sind und welche nicht (ebd.), liegt auch daran, dass weder in der Schule noch im Elternhaus über Sexualität, Gefühle und Empfindungen gesprochen wird und diese Themen auch nur selten Inhalte von Sprachförderung und Unterricht sind. So wird in allen Interviews der Mangel an sexueller Erziehung und Bildung als ein deutlicher zusätzlicher Risikofaktor identifiziert und durch weitere Studien bestätigt: „Wer nicht weiß, wie er Geschlechtsorgane benennen soll, tut sich schwer, ein Gespräch über die als problematisch erlebten Widerfahrnisse zu führen“ (ebd.: 205; vgl. auch Kvam 2004: 7; Iqbal, Dolan & Monteiro 2006: 499; Sebald 2008: 378). In einer kleinen Studie von Wienholz et al. (2013), die im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erfolgt ist, wurden unter anderem auch 74 Schüler mit einer Hörbehinderung in Sachsen zum Thema Sexualität und
6.2 Ergebnisdiskussion
211
sexuelle Aufklärung mittels eines Fragebogens in leichter Sprache befragt. Im Vergleich zu den übrigen befragten Kindern und Jugendlichen mit Körper- und Sehbehinderungen waren hörbehinderte Jugendliche die größte Gruppe, die sich „ungern“ über das Thema Sexualität austauscht (ebd.: 68). Über die Hälfte von ihnen (52,8%) gab jedoch an, gern mehr Informationen dazu im Schulunterricht erhalten zu wollen (ebd.: 70). Im Unterricht würden jedoch biologisch orientierte Themengebiete dominieren und praxisrelevante und sozial-ethische Fragen im Zusammenhang mit der Sexualaufklärung diesen nachgestellt sein (ebd.: 78). Hörgeschädigte Jugendliche wünschen sich vor allem mehr Informationen zu den Themengebieten „Liebe und Zärtlichkeit“, „Verhütung; sexuelle Praktiken“ und vor allem auch „sexuelle Gewalt“ (ebd.: 131). Sie haben aufgrund ihres eingeschränkten Sprachverständnisses einen erschwerten Zugang zu Informationskanälen und Medien. Jugendzeitschriften, Aufklärungsliteratur und Jugendbücher werden, das ergab auch die Studie von Wienholz et al., kaum als Quellen der Sexualaufklärung genutzt (ebd.: 68f.; vgl. auch Eckerli-Wäspi 2013: 20). So bleiben viele Fragen zur Sexualität, die über das reine anatomische Wissen hinausgehen, unbeantwortet. Oft basieren Informationen dazu auf dem rudimentären Wissen von anderen Peers, was die Gefahr der Fehlinformiertheit erhöht (Eckerli-Wäspi 2013: 21). Neben dem fehlenden Wissen über Sexualität und den sprachlichen Problemen, Missbrauchserfahrungen in Worte (oder Gebärden) zu fassen, ist der Mangel an Möglichkeiten von Bedeutung, sich über Missbrauchserfahrungen mit einer Vertrauensperson auszutauschen. Die in dieser Untersuchung interviewten Frauen berichten davon, dass sich an ihrer Situation durch die Mitteilung des Missbrauchs nichts ändern würde, weil ihnen sowieso nicht geglaubt werden würde (vgl. Abschn. 5.4.2.4; vgl. auch Allnock 2010). Dass den Aussagen gehörloser Menschen aufgrund ihrer unzureichenden Möglichkeiten, zu sprechen oder sich schriftsprachlich auszudrücken, und der allgemeinen Mühe, die es macht, mit ihnen lautsprachlich zu kommunizieren, nicht geglaubt wird bzw. sie mit ihrem Anliegen nicht ernst genommen werden, ist nach wie vor problematisch. Dabei beklagt bereits 1958 der Diplompsychologe Dietrich Klinghammer, der als Sachverständiger bei Sittlichkeitsdelikten tätig war, die „weitreichende Unkenntnis von Juristen, Psychiatern und Psychologen“ hinsichtlich der Glaubwürdigkeit gehörloser Personen. Täter würden sich ein „taubstummes Kind“ oft nur deshalb als Opfer aussuchen, da dieses später nicht gegen sie aussagen könne (Klinghammer 1958: 77). Noch heute ziehen sich vermutlich auch deshalb gehörlose Gewaltopfer zurück, wenden sich von der Außenwelt ab und nehmen kaum Hilfsangebote in Anspruch. Oft suchen die Betroffenen eher die Schuld bei sich selbst als bei den gesellschaftlich strukturierten Umständen oder
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6 Diskussion
den Lebensbedingungen, in die sie gepresst werden. So berichtet ein Großteil der Interviewpartnerinnen davon, bis weit in das Erwachsenenleben hinein die Ursachen für das Gewalterleben bei sich selber gesucht zu haben (vgl. Abschn. 5.4.2.3). Sie gingen davon aus, wie Ridgeway (1993: 166) es beschreibt, „dass Missbrauch Teil der Taubheit ist“ (vgl. auch Rieske et al. 2018: 160 und 165). Leven beschreibt 1994 hinsichtlich sexueller Ausbeutung gehörloser Kinder, wie sich dieser Rückzug im Erwachsenenleben fortsetzt und hier oft mit Depression und Alkoholsucht einhergeht (54). Im schlimmsten Fall kommt es zu Suizidversuchen (Dietzel 2004: 86f.).
6.2.1.3 Unzureichende Reaktion auf Gewaltvorfälle in gehörlosenspezifischen Institutionen Zwei Studien, die mit mehr als 150 Schülern von Gehörloseninternaten durchgeführt wurden, ergaben, dass 50% der Schüler angaben, sexuell missbraucht worden zu sein. Eine dritte Studie von 100 Opfern von sexuellem Missbrauch ergab, dass 49% in der Schule missbraucht wurden, 31% zu Hause und 20% zu Hause und in der Schule (Sullivan, Vernon & Scanlan 1987: 256): „The deaf youth stated that the sexual abuse tended to occur in vans or buses when going to and from school, in bathrooms and in beds. Most of the mainstreamed students were abused at home, however the residential children were more likely to be abused at school“ (ebd.: 257). Ein Jahrzehnt später wird das hohe Gewaltvorkommen im Kontext von Gehörlosenschulen und -internaten in einer norwegischen Studie (Kvam 2004) bestätigt. Sie befragte mittels eines Fragebogens 302 vor dem 9. Lebensjahr ertaubte gehörlose Erwachsene (58,6% Frauen und 41,4% Männer) im Alter von 18 bis 65 Jahren. Von ihnen hatten insgesamt 134 Personen (45,8% der Frauen und 42,4% der Männer) Formen sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend erlebt (Kvam 2004: 7). 125 gehörlose Frauen dieser Befragungsgruppe gaben an, sexuellen Missbrauch mit Körperkontakt noch vor Erreichen des 18. Lebensjahrs erfahren zu haben. Das war mehr als das Doppelte als in einer Vergleichsstudie der hörenden norwegischen Bevölkerung (Tambs 1994). Gehörlose Männer waren sogar dreimal so häufig wie hörende Männer betroffen (ebd.). Die Häufung sexualisierter Übergriffe in Gehörloseneinrichtungen wird auch in der Untersuchung von Schröttle et al. (2013) bestätigt. In der Befragungsgruppe gehörloser Frauen (N = 87) zeigte sich hierzu eine hohe Betroffenheit: 52% hatten Formen sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend erlebt, sie „waren besonders häufig von sexuellem Missbrauch in Schulen und Einrichtungen (häufig auch Förderschulen) betroffen“ (ebd.: 348).
6.2 Ergebnisdiskussion
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Auch die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung sowie in einer von Dissens e. V. zeitlich fast parallel dazu erfolgten qualitativen Befragung von vier gehörlosen Männern im Rahmen einer Studie von Aufdeckungsprozessen männlicher Betroffener von sexualisierter Gewalt (Rieske et al. 2018) deuten darauf hin, dass es sich bei den Missbrauchserfahrungen im Umfeld von Gehörlosenschulen und -internaten nicht um Einzelfälle, sondern um ein soziales und vor allem institutionalisiertes Problem handelt. Die hier durch meine Beteiligung in DGS und mittels einer Schattengebärderin generierten Daten decken sich in vielerlei Hinsicht mit den Befunden der vorangegangenen Untersuchungen und geben Informationen zu Verläufen und Dynamiken von Gewaltsituationen, die den Ergebnissen der vorliegenden Studie ähneln: So hatten alle vier männliche gehörlose Interviewpartner in der Studie von Rieske et al. (2018) einen großen Teil ihrer Kindheit und Jugend in Heimen oder Internaten verbracht und in diesem Umfeld sexualisierte Übergriffe vor allem durch „gleichaltrige oder etwas ältere gehörlose Peers“ erlebt (ebd.: 146). In fast allen Interviews mit gehörlosen Männern und Frauen beider Studien gibt es darüber hinaus auch deutliche Hinweise auf ein Versagen des pädagogischen Personals, der Erziehungsberechtigten und Eltern. Bereits in der oben genannten Studie von Sullivan, Vernon und Scanlan (1987) wurde darauf hingewiesen, dass Übergriffe von älteren gehörlosen Schülern auf jüngere geradezu zur Kultur der Schulen dazuzugehören scheinen und dass die Tätlichkeiten und Angriffe vom pädagogischen Personal nicht immer als ernsthafte Delikte wahrgenommen werden (ebd.: 257). Die Interviewpartnerinnen dieser Studie bestätigen das: Sie berichten, dass Lehrer und pädagogisches Personal häufig sehr wohl gewusst haben, dass es Gewaltvorfälle gab – sie griffen jedoch kaum oder nur selten ein (vgl. Abschn. 5.4.4.3). Anknüpfend an die Studienergebnisse der letzten Jahre, in denen auf das hohe Gewaltvorkommen von gehörlosen Kindern und Jugendlichen aufmerksam gemacht wurde, wurde im Rahmen einer Studie zur Gewaltprävention (SeMB / Vorbeugen und Handeln – Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen mit Behinderung; Scharmanski et al. 2015) erstmals eine Sensibilisierung unter anderem auch von Lehr- und Fachkräften an Schulen mit dem Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Im Rahmen dieser Studie wurden teilnehmende Personen vor und nach der Fortbildung zu ihrem Wissen zu dem Thema und zu ihrem Umgang mit Verdachtsfällen befragt (ebd.: 15). Die Ergebnisse dieser Befragung zeigen auf, dass über ein Viertel der befragten Lehr- und Fachkräfte in den letzten drei Jahren mit mindestens einem Verdachtsfall konfrontiert waren, aber oftmals nicht wussten, wie sie auf diesen Missbrauchsverdacht unter den
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6 Diskussion
hörgeschädigten Schülern adäquat reagieren sollten (Scharmanski et al. 2015: 193). Darüber hinaus gaben über zwei Drittel der Mitarbeiter an, dass ihnen eine Thematisierung von Grenzverletzungen durch betroffene Schüler unbekannt sei (ebd.: 191). Und nahezu alle befragten Mitarbeiter der Förderschulen Hören und Kommunikation (91,9%) wussten nicht, ob eine institutionelle Mitbestimmung der Schülerschaft zu Schutzkonzepten und Präventionsmaßnahmen zu sexuellem Missbrauch überhaupt gegeben ist (ebd.). Es ist vor diesem Hintergrund in Erwägung zu ziehen, ob das hohe Gewaltvorkommen unter gehörlosen Kindern und Jugendlichen in den Einrichtungen überhaupt thematisiert und problematisiert wird: In einem Interview mit dem Leiter des Instituts für Beratung und Schulung für Gehörlose und Hörende, Frank Karstens, äußert dieser die Besorgnis darüber, dass Mitarbeitende sexuelle Übergriffe zuweilen nicht als Problem ihrer Einrichtung wahrnehmen: „Manchmal wird in Einrichtungen also eine Verhaltensweise toleriert, die in der Öffentlichkeit als übergriffig bewertet wird“ (Krieg et al. 2015: 33).So kann es zur Fortdauer und damit zur Verfestigung gewaltförmiger Sexualität kommen (vgl. schon Zemp 1997 und aktuell Lißeck & Urbann 2017; Lißeck et al. 2018). Dabei liegen Materialien zur präventiven Arbeit an der Gehörlosenschule zum Thema sexuelle Gewalt durch die 2004 veröffentlichte Dissertation von Anja Dietzel längst vor. Ihr breit angelegtes Konzept berücksichtigt die unterschiedlichen sprachlichen und kommunikativen Voraussetzungen gehörloser Kinder und Jugendlicher und reicht weit über die sachliche Information zum Thema Gewalt heraus. Es beinhaltet die wesentlichen Bereiche der Prävention, wie beispielsweise Körperrechte, Gefühle und Neinsagen (Dietzel 2004: 147). Auch ein spezielles Antigewalttrainig für gehörlose Kinder, wie es seit einiger Zeit durch das Projekt TESYA® deaf erarbeitet wurde (Bundeselternverband gehörloser Kinder e. V. 2014), wird bei konsequenter und flächendeckender Anwendung in gehörlosenspezifischen Institutionen zur Gewaltprävention beitragen (s. auch die im Anschluss an diese Diskussion aufgezeigten Handlungsempfehlungen in Kap. 7).
6.2.2 Beschränkte Peer-Group-Erfahrungen und alternativlose Einbindung in die Gehörlosengemeinschaft Das Zusammensein mit anderen Gehörlosen ist bei allen interviewten Frauen von Kindheit an eine prägende Konstante in ihrem Leben. Ihre Berichte zeigen aber auch, dass es eine ganz andere Seite dieser Gemeinschaft gibt als die in der Literatur oft als „eng“, „warm“ und „unterstützend“ beschriebene (Ladd 2003:
6.2 Ergebnisdiskussion
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360f.; vgl. Schein 1989). Wie zu sehen war, wird die Einbindung in die Gehörlosengemeinschaft vor dem Hintergrund von Gewalterfahrung als Belastung empfunden (vgl. Abschn. 5.4.5.3) und die begrenzte Fähigkeit, mit der hörenden Lebenswelt zu kommunizieren, wird in Gewaltsituationen als ein großer Nachteil angesehen: „The Deaf community has a close knit bond; many deaf survivors have a concern for privacy and anonymity when so much of their personal life is shared amongst their peers“ (Taylor & Gaskin-Laniyan 2007: 25). Das gilt nicht nur für das Erwachsenenleben, sondern in den Interviews war zu sehen, dass Übergriffe von Peers einen prägenden Teil der Gewalterfahrung ausgemacht haben (vgl. Abschn. 5.3.1.1). Im Folgenden sollen im Zusammenhang mit der alternativlosen Einbindung in die Gehörlosengemeinschaft folgende Ergebniskomplexe genauer betrachtet werden: sexuelle Grenzverletzungen durch eigene Peers (Abschn. 6.2.2.1) sowie spezifische Abhängigkeitsverhältnisse in gehörlos-gehörlosen Paarbeziehungen und in der Gehörlosengemeinschaft (Abschnitt 6.2.2.2).
6.2.2.1 Sexuelle Grenzverletzungen durch eigene Peers Sexuell grenzverletzendes Verhalten durch gleichaltrige Mitschüler macht einen wesentlichen Anteil des sexuellen Missbrauchs aus. Das belegen die Ergebnisse der bereits weiter oben angeführten Studien: „Auffällig ist auch, dass die gehörlosen Frauen in so hohem Maße sexuellen Übergriffen durch Kinder und Jugendliche ausgesetzt waren, die sie, wie die weitere Auswertung zeigen wird, in nicht unerheblichem Maße in den Gehörlosenschulen und Bildungseinrichtungen erlebt haben dürften“ (Schröttle et al. 2013: 345; vgl. auch Wienholz et al. 2013: 118). In der folgenden vertiefenden Studie (Fries & Schröttle 2015), deren Daten sich – anders als in der Erstauswertung – nur auf die in DGS befragten gehörlosen Frauen beziehen, wird ein extrem hohes Ausmaß an sexueller Gewalt durch gleichaltrige Peers dokumentiert. Demnach hatten 40% der gehörlosen Frauen mindestens eine Situation sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend durch andere gehörlose Kinder oder Jugendliche erlebt (ebd.: 25). Die Feinauswertung ergab dezidiert, dass Täter und Täterinnen sexuellen Missbrauchs in Kindheit und Jugend mit Abstand am häufigsten (zumeist männliche gehörlose) Mitschüler waren (ebd.). Bislang gibt es noch keine Forschungsberichte zu den Ursachen von Peer-Übergriffen im Hörgeschädigtenbereich. Vergleichswerte lassen sich lediglich in Untersuchungen von Kindern und Jugendlichen mit kognitiven Beeinträchtigungen finden (vgl. Zemp 1997; Zemp et al. 1997; Egli-Alge 2009). Demnach sind es vor allem zwei Faktoren, die die hohe Anzahl der Übergriffigkeit durch andere Kinder und Jugendliche ausmachen: Der erste hängt mit der
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6 Diskussion
unzureichenden Vermittlung von körperlich grenzwahrenden Umgangsweisen und mit Schwierigkeiten im differenzierten Ausdrücken und dem Erkennen von Gefühlen und Empfindungen zusammen. Es fehlt diesen Kindern an sozialen Voraussetzungen, einvernehmliche sexuelle Erfahrungen mit Gleichaltrigen zu initiieren. Zum anderen entstehen bewusste Grenzüberschreitungen vor allem bei männlichen Kindern und Jugendlichen dadurch, dass sie den Weg des direkten körperlichen Zu- und Übergriffs gegenüber Mädchen wählen, um eigene Begierden oder Bedürfnisse zu befriedigen, oder auch, um eigene Ohnmachtserfahrungen zu kompensieren (Zemp 1997: 86ff.; Egli-Alge 2009: 31ff.). Es ist anzunehmen, dass in der Gruppe gehörloser Kinder und Jugendlicher die Tatgründe ähnlich sind. In einem Workshop, der mit gehörlosen Expertinnen im Zusammenhang der vertiefenden Studie von Fries und Schröttle (2015) durchgeführt wurde, wurde deutlich, dass viele gehörlose Frauen sexuelle Übergriffe als etwas Normales betrachten, da sie in keiner Weise gelernt hatten, wo und wie Grenzen zu setzen sind und was es bedeutet, über den eigenen Körper selbstbestimmt zu verfügen. Zu hoch waren vielfach der Druck des „Mitmachen-Müssens“ und der Anpassungszwang, besonders in gehörloseninternen Kreisen, sei es in Schulklassen, Internatsgemeinschaften, auf Sportveranstaltungen oder in Gehörlosenvereinen (ebd.: 70). Hier wurde auch bestätigt, dass das hohe Maß an früh erfahrenen sexuellen Übergriffen im Lebensverlauf häufig dazu führt, dass weitere sexuelle Grenzverletzungen im weiteren Lebensverlauf weniger trennscharf wahrgenommen werden und gehörlose erwachsene Frauen Schwierigkeiten haben, Grenzen zu setzen oder sich gegen Übergriffe durch spätere (meist gehörlose) Beziehungspartner zu wehren.
6.2.2.2 Spezifische Abhängigkeitsverhältnisse in gehörlosgehörlosen Paarbeziehungen und in der Gehörlosengemeinschaft Die in dieser Studie interviewten Frauen hatten überwiegend aktuelle und frühere gehörlose Beziehungspartner. Auch heute noch sind Partnerschaften Gehörloser untereinander eher die Regel als die Ausnahme (vgl. Abschn. 2.1): „Dass gehörlose Menschen sich oft fast ausschließlich in der Gemeinschaft der Gehörlosen bewegen und diese Gemeinschaften in europäischen Ländern sehr klein sind, schränkt die Auswahl der Sexual- und/oder Lebenspartner für Gehörlose deutlich ein“ (Eckerli-Wäspi 2013: 23). Der Mangel an potenziellen Sexualund Beziehungspartnern wird vor dem Hintergrund von folgendem übereinstimmenden Ergebnis verschiedener Studien zum Problem: Die am häufigsten berichtete Gewaltsituation im Erwachsenenleben gehörloser Frauen ist die Partnergewalt.
6.2 Ergebnisdiskussion
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Die hohe Betroffenheit von Partnergewalt innerhalb gehörlos-gehörloser Beziehungen wurde in ihrem gravierenden Ausmaß erst in der Studie von Schröttle et al. 2013 und früheren kleineren Untersuchungen (vgl. Abschn. 2.2) deutlich: „Besonders auffällig ist, dass die befragten gehörlosen Frauen zu über 40% – und damit mit Abstand am häufigsten von allen Befragungsgruppen – körperliche Gewalt in Paarbeziehungen erlebt haben“ (ebd.: 364). Weitere wissenschaftlich fundierte Studien zur Partnergewalt zwischen Gehörlosen (Mason 2010; Anderson, Leigh & Samar 2011; Anderson & Kobek Pezzarossi 2011) konzentrierten sich vor allem auf Befragungen innerhalb der Studierenden der Gallaudet University, wo fast alle Studierenden gehörlos oder hörbehindert sind.7 Jede dieser Untersuchungen verwendete jedoch in englischer Schriftsprache verfasste Fragebögen und nicht gebärdensprachbasierte Befragungen. Mason (2010) befragte 226 Gallaudet-Studenten (beiderlei Geschlechts) und stellte fest, dass 27% über frühere Missbrauchserfahrungen in Beziehungen berichten und 16% über aktuellen sexuellen Missbrauch durch den Partner. Pollard, Sutter und Cerulli (2014) schränken ein, dass diese Zahlen durchaus auch eine Untererfassung widerspiegeln können, „since deaf female undergraduates appear to set a very ‚high bar‘ in labeling IPV behavior as abusive, at least on English language measures“ (950). In der Studie von Anderson, Leigh und Samar (2011) wurde das Dating-Verhalten junger gehörloser Frauen in einer Stichprobe von 100 gehörlosen Studentinnen in Bezug auf Partnergewalt untersucht. Im Vergleich zu einer Stichprobe von hörenden Studentinnen (Sabina & Straus 2008) gaben hier doppelt so viele (52%) gehörlose Studentinnen an, dass sie im Jahr zuvor gewalttätige Übergriffe durch den Dating-Partner erlebt hatten. In einer weiteren Studie von Anderson und Kobek Pezzarossi 2011 zur Kennzeichnung von Missbrauchserfahrungen in einer Stichprobe von 97 gehörlosen weiblichen Studenten gaben 56% der befragten Studentinnen an, im Jahr zuvor von einem Partner zum Geschlechtsverkehr gezwungen worden zu sein, bei 20% der Frauen wendete der Sexualpartner Gewalt an: „This finding is consistent with previous research in this population, with an alarmingly high percentage of Deaf college women reporting being coerced by their partner to have sex without a condom, which has
7Die
Gallaudet University in Washington, D.C. ist weltweit die einzige Universität für gehörlose und schwerhörige Studenten, die ihr gesamtes Programm und sämtliche Leistungen speziell auf die Bedürfnisse gebärdensprachlich orientierter hörbehinderter Studierender zugeschnitten hat. Der besondere Status, den diese Universität innerhalb der globalen Gehörlosengemeinschaft genießt, kommt in dem Titel des Imagefilms zum Ausdruck: There is no other place like this in the world (http://www.gallaudet.edu).
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6 Diskussion
significant implications for both sexual and mental health“ (Anderson & Kobek Pezzarossi 2011: 283). In einer Studie von McQuiller Williams und Porter (2011) wurden Statistiken aus Umfragen, die mit 1.881 Studenten des Rochester Institute of Technology (RIT) gemacht wurden, ausgewertet, darunter auch mit 222 gehörlosen Studierenden des dem RIT zugehörigen National Technical Institute for the Deaf.8 Hier wurde festgestellt, dass gehörlose oder schwerhörige CollegeStudenten doppelt so häufig psychologischen Missbrauch melden und fast 2,5mal häufiger berichten sie, dass sie von einem Partner körperlich misshandelt wurden, als dies bei ihren hörenden Kommilitonen im gleichen Zeitraum der Fall war (Porter, McQuiller & La Verne 2014). Die Autoren betonen das auffällige hohe Vorkommen psychischer Gewalt durch den Partner: „The most prevalent type of abuse at the hands of a partner was psychological abuse with 136 students or 61.3% of the sample reporting such abuse“ (ebd.: 4). Das wird auch in allgemeinen Untersuchungen zur Partnergewalt bestätigt: „Schwerwiegende körperliche Gewalthandlungen wie auch sexuelle Gewalt in bestehenden Paarbeziehungen traten so gut wie nie als einmalige Taten auf und waren fast immer in einen Misshandlungskontext mit mehreren Gewaltformen eingebettet“ (Schröttle & Ansorge 2008: 104f.). In den Studien deutet sich an, was in der vorliegenden Untersuchung durch die vertiefte Befragung bestätigt wird: Gewaltsituationen in gehörlos-gehörlosen Paarbeziehungen unterscheiden sich nicht nur in ihrem Ausmaß, sondern auch in ihrer Erscheinungsform von denen in der hörenden Bevölkerung. Davon berichten die Interviewpartnerinnen dieser Studie: Zum Beispiel kann sich die Einschüchterung manifestieren, wenn der gewalttätige Partner sehr nahe kommt und direkt vor dem Gesicht des Opfers groß und heftig gebärdet und dabei die bewegten Hände absichtlich Gesicht und Körper der Partnerin streifen oder ihr gar wehtun. Sprachliche Verletzungen mutieren hier zu körperlichen Verletzungen. Gehörlose Täter machen oft auch davon Gebrauch, mit dem Fuß laut und fordernd zu stampfen, oder mit der Hand oder Faust auf Möbel zu schlagen, um Aufmerksamkeit zu bekommen (vgl. Abschn. 5.3.2.3). Emotionaler Missbrauch durch einen gehörlosen Partner kann beinhalten, dass die betroffene Frau beleidigt wird, indem der Partner sich über ihre Form der Gebärdensprache lustig
8Das
National Technical Institute for the Deaf ist eines der neun Colleges des Rochester Institute of Technology im US-Bundesstaat New York. Unter den insgesamt etwa 15.000 eingeschriebenen Studierenden sind auch ca. 1.200 gehörlose oder schwerhörige Studierende.
6.2 Ergebnisdiskussion
219
macht und sie dadurch innerhalb der Gehörlosengemeinschaft herabwürdigt. Die soziale Isolation wird verstärkt, indem Smartphones überprüft oder weggenommen werden oder die Partnerin gezwungen wird, auf jede Nachricht, die oft in kontrollierter, schneller Folge eintrifft, sofort zu antworten. Den missbrauchten Frauen wird psychisch gedroht und Angst gemacht, indem ihnen gesagt wird, dass sie und ihre Kinder nicht in eine Klinik, Beratungsstelle oder in ein Frauenhaus gehen könnten, weil die hörenden Menschen dort nicht in der Lage wären, mit ihnen zu kommunizieren (vgl. Abschn. 5.3.2.3).9 Die Aussagen der in dieser Studie interviewten Frauen belegen all diese auf dem Power and ControlWheel (s. auch Abb. 3.1) festgehaltenen Indizien für Partnergewalt. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach Faktoren, die die Gewalt speziell in gehörlos-gehörlosen Paarbeziehungen beeinflussen. Die besondere Art und Weise, in der sich allgemein gültige Risikofaktoren auf gehörlose Menschen auswirken, und die spezifischen Risikokonstellationen im Leben der gehörlosen Bevölkerung sind in der Forschung kaum belegt. Untersuchungen von gewaltbeeinflussenden Faktoren in Paarbeziehungen der Durchschnittsbevölkerung weisen darauf hin, dass „vor allem qualitative individuelle und beziehungsdynamische geschlechtsspezifische Aspekte eine Rolle für das Auftreten von (schwerer) Gewalt in Paarbeziehungen spielen, etwa ungleiche Macht- und Rollenverteilung, soziale Einbindung/Isolation und Alkoholkonsum, welche eine Vorbedingung, aber auch eine Folge von Gewalt sein können“ (Schröttle & Ansorge 2008: 160). Alle diese Faktoren spielen sicherlich auch im Fall gehörlos-gehörloser Paarbeziehungen eine Rolle und sind relevant, erklären allein aber nicht die hohe Gewaltprävalenz. Auch zu dieser Thematik geben die vertiefenden Interviews weitergehende Hinweise: Aus den Aussagen der interviewten gehörlosen Frauen haben sich zwei Aspekte herauskristallisiert, die möglicherweise einen direkten Einfluss auf das Gewaltvorkommen in diesen Beziehungen haben können, deren Relevanz jedoch weitergehender und vertiefender Untersuchungen bedürfen. Der erste Aspekt kreist um den Faktor Sprache bzw. den bereits oben beschriebenen Defiziten beim Erstspracherwerb. Der zweite Aspekt betrifft den Mangel an formaler Bildung und Information, von denen Gehörlose besonders betroffen sind. Beide hängen miteinander zusammen und stellen gehörlose Menschen in eine besonders verletzliche Position, die sie anfällig machen kann für Gewalterfahrungen, sowohl aus der Täter- als auch aus
9Anschauliche
Beispiele für die speziellen Gewaltsituationen in gehörlos-gehörlosen Beziehungen hat die Organisation Deaf Hope zu Aufklärungszwecken auf Videos demonstriert: http://www.deaf-hope.org/videos/.
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6 Diskussion
der Opferperspektive. Die im Folgenden diskutierten Vermutungen zu gewaltbeeinflussenden Faktoren sind jedoch nur unzureichend untersucht und können von daher nur unter Vorbehalt zur Interpretation herangezogen werden: • Gewaltfördernder Faktor Sprache Gerade Sprache hat im Zusammenhang mit Beziehungen und im Austausch mit anderen eine große Bedeutung. Sich klar abzugrenzen oder deutlich zuzustimmen, Wünsche und Gefühle zu äußern, schlechte oder unangenehme Erfahrungen wahrzunehmen und zu einer gesunden körperlichen und sexuellen Identität zu finden, hat viel mit gelingender Kommunikation zu tun. Die fehlende gemeinsame Sprache hat schon in Kindheit und Jugend die Kommunikation mit den Eltern als erste Vertrauenspersonen erschwert. Im Erwachsenenleben erschwert der späte oder unzureichende Erstspracherwerb die Kommunikation zwischen gehörlos-gehörlosen Beziehungspartnern. In einer US-amerikanischen Studie wurde der Zusammenhang von sexueller Kommunikation und sexuellen Übergriffen zwischen gehörlosen und schwerhörigen Collegestudenten untersucht (Francavillo 2009). Die Autorin nennt folgende Problematik: „Linguistic barriers compromise Deaf and Hard of Hearing individuals’ ability to learn the skills necessary to communicate about sexuality with their partners“ (ebd.: 3f.). In ihrer Studie zeigt sie auf, dass in Beziehungen Hörbehinderter ein gravierender Mangel an klarer Kommunikation über sexuelle Wünsche und Vorlieben (ebd.: 128) besteht. Sie regt an, innerhalb der Gemeinschaft Gehörloser Kompetenzen aufzubauen, damit sie lernen können, wie man direkt mit dem Sexualpartner kommuniziert und in Rollenspielen zu trainieren, wie man seine sexuellen Bedürfnisse gegenüber dem hörbehinderten Partner deutlich machen kann (Francavillo 2009: 129). Auch dieser Aspekt wird in den Handlungsempfehlungen (vgl. Kap. 7) zu berücksichtigen sein. • Gewaltfördernder Faktor Bildungsmangel Der Mangel an formaler Bildung und Information wird ebenfalls bereits in Kindheit und Jugend der gehörlosen Menschen angelegt und reicht bis in das Erwachsenenleben hinein: Unzureichende Ressourcen in Bezug auf Bildung und Information limitieren nicht nur das Wissen der Betroffenen bezüglich sexueller Gesundheit, sondern auch darüber, wie man existenziellen Krisen, wie Gewalt in der Partnerschaft, Zwang in traditionellen Rollenmustern und Schutz der Kinder bei Trennung und Scheidung, vorbeugen oder sie bewältigen kann (Grünbichler & Andree 2010: 209; Eckerli-Wäspi 2013: 14). Damit einher gehen
6.2 Ergebnisdiskussion
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sozialökonomische Gefährdungsfaktoren, von denen besonders auch gehörlose Frauen betroffen sind. Aus den Interviews wird deutlich, dass bezüglich der Arbeitsteilung in gehörlos-gehörlosen Beziehungen meist klassische Rollenmuster vorherrschen: Die Interviewpartnerinnen, die Kinder haben, gehen davon aus, dass sie es sind, die für die Kindererziehung zuständig sind, und verzichten oft auf eine berufliche Weiterbeschäftigung bzw. steigen nach der Geburt der Kinder lediglich teilzeitbeschäftigt wieder in den Beruf ein. Auch eine partnerschaftliche Aufteilung der Erziehungs- und Betreuungsarbeit wurde von den Interviewpartnerinnen weniger häufig angedacht, was möglicherweise auch ihre Vulnerabilität und den Ausstieg aus gewaltbelasteten Partnerschaften erschwert hat.
6.2.3 Ansatzpunkte für Hilfe und Unterstützung Eine gravierende Barriere ist nach wie vor die fehlende Niedrigschwelligkeit von Anlaufstellen für gehörlose Frauen: Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff): Frauen gegen Gewalt e. V. berichtet davon, dass gewaltbetroffene Frauen mit Behinderungen die Angebote von Fachberatungsstellen sowie Frauenhäusern noch zu selten in Anspruch nehmen (Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff): Frauen gegen Gewalt e. V. 2012). Oftmals sind die Angebote zu wenig zielgruppenspezifisch und nicht niedrigschwellig genug aufgebaut (ebd.). Das gilt besonders auch für die Zielgruppe gehörloser Frauen, die vorwiegend in Gebärdensprache kommunizieren. 2009 wurde von diesem Bundesverband eine Untersuchung durchgeführt, bei der eine Bestandsaufnahme von Frauenberatungseinrichtungen für Frauen mit Behinderungen erfolgte (Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff): Frauen gegen Gewalt e. V. 2012). In der Studie waren nur Mitgliedseinrichtungen des bff eingeschlossen. Dabei wurde festgestellt, dass 39% der Einrichtungen für gehörlose Frauen eine Beratung in Gebärdensprache anbieten können. Doch in nur drei der befragten Einrichtungen beherrschte jeweils eine Mitarbeiterin selbst Gebärdensprache. In den anderen Beratungseinrichtungen wurde im Bedarfsfall auf Gebärdensprachdolmetscher zurückgegriffen (ebd.). Fries et al. (2013) kamen in einer Onlinebefragung von Einrichtungen, die spezielle Angebote für hörgeschädigte Frauen unter Berücksichtigung der Gebärdensprache anbieten, zu dem Ergebnis, dass etwa zwei Drittel der Mitarbeiterinnen ihre Gebärdensprachkenntnisse als mittelmäßig einstufen. Mit diesem Sprachstand ist, so die eigene Einschätzung der befragten Mitarbeiterinnen, eine Kommunikation im Alltag möglich, tiefergehende
222
6 Diskussion
Gespräche können damit jedoch nicht geführt werden, sondern erfordern den Einsatz von Gebärdensprachdolmetschern. Die fehlende Niedrigschwelligkeit wurde in den Ergebnissen des Projekts „Lauterstarke Frauen“, welches von 2008 bis 2011 durchgeführt wurde, bestätigt. Das Projekt beschäftigte sich mit der Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen mit Behinderung und chronischer Erkrankung (NetzwerkBüro für organisierte und nicht organisierte Frauen und Mädchen mit Behinderung und/oder chronischer Erkrankung NRW 2011). Darin wird beschrieben, dass Frauenberatungseinrichtungen und Frauennotrufe zwar über eine hohe Fachkompetenz im Umgang mit Gewalt gegen Frauen und Mädchen verfügen, jedoch die Zugänglichkeit der Angebote für Frauen mit Behinderung insgesamt nicht ausreichend gewährleistet ist (ebd.). Im Zusammenhang mit der Zielgruppe gehörloser Frauen wird von „Kommunikationsproblemen mit dem Bundesverband der Gehörlosen“ (ebd.: 28) berichtet. Gemeint ist hier, dass selbst Gespräche mit Experten in eigener Sache (hier ist offenbar der Deutsche Gehörlosen-Bund e. V. gemeint) schwierig sind, da wie so oft nicht an die Kommunikationssituation gedacht wird. Dieses Beispiel zeigt auch auf, dass selbst die Lobbyarbeit zwischen den Fachverbänden bereits ein Problem sein kann – um wie viel verschärfter sich die Kommunikationsproblematik für ratsuchende gehörlose Frauen darstellt, kann man nur erahnen. Dass es vor allem die kommunikativen Barrieren sind, welche die Hürden für beratungssuchende gehörlose Frauen so hoch legen, ergab auch eine Auswertung von Experteninterviews mit Mitarbeiterinnen von Beratungsstellen und Frauenhäusern (Fries et al. 2013: 442ff.). Die befragten Expertinnen äußerten, dass trotz der vorhandenen Grundkenntnisse in DGS und der Möglichkeit, Dolmetscherinnen und Hilfsmittel für die Kommunikation hinzuzuziehen, die Angebote nur von ein bis zwei gehörlosen Frauen pro Jahr in Anspruch genommen werden (ebd.). Zudem ist allein schon die Erreichbarkeit der Einrichtungen nicht auf gehörlose Menschen ausgerichtet. Expertinnen berichten davon, dass es in ihrer Einrichtung „nur ein Notfalltelefon [gäbe; S.F.], jedoch keine Handynummer, über welche die Mitarbeiterinnen per SMS rund um die Uhr erreichbar seien“ (ebd.). So wendet sich eine Hilfe suchende gehörlose Frau meistens an die Polizei, da es dort mittlerweile eine SMS-Notfallnummer gibt. Aufgrund der hohen Prävalenz von Gewalterfahrungen dieser Zielgruppe sollte man eigentlich davon ausgehen, dass der Beratungs- und Unterstützungsbedarf sehr hoch ist. Tatsächlich jedoch ergab eine Umfrage, dass Beratungsstellen, Frauennotrufe und andere Dienste kaum von gehörlosen Frauen aufgesucht werden: „Die Angebote sind in der Gehörlosengemeinschaft noch nicht etabliert genug und Gewalt ist ein Tabuthema. Die Hürden, hörende
6.2 Ergebnisdiskussion
223
inrichtungen zu besuchen, sind hoch, und viele Frauen kennen die Angebote E nicht“ (ebd.: 443; vgl. auch Fries & Schröttle 2015: 88). Ähnliche Erfahrungen wurden auch mit dem bundesweiten Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ gemacht. Das Beratungsangebot richtet sich ausdrücklich an Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen, so auch an Frauen mit einer Hörbehinderung (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ 2018)). Gehörlose Frauen haben die Möglichkeit, über Online-Beratung, Chat, E-Mail oder telefonisch unter Nutzung von Tess-Relay-Diensten Kontakt mit der Beratungsstelle aufzunehmen. Im Jahresbericht 2017 konnte festgestellt werden, dass in insgesamt 2.398 Fällen eine Dolmetscherin für verschiedene Fremdsprachen zur Beratung hinzugeschaltet wurde. Das Angebot der Beratung über einen Gebärdensprachdolmetscher wurde in keinem einzigen Fall genutzt (Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben 2018: 9). Dies weist darauf hin, dass die Zielgruppe der gehörlosen Frauen vom Angebot – trotz entsprechender Vorkehrungen – nicht erreicht wurde. Gegebenenfalls ist eine weitere Anpassung des Angebots an die Zielgruppe unter anderem durch Aufklärung und Informationskampagnen bei Veranstaltungen der Gehörlosengemeinschaft und/oder direkt in den Gehörlosenvereinen notwendig. Neben der fehlenden Niedrigschwelligkeit wird auch die Notwendigkeit eines zielgruppenspezifischen Angebotes bei den Handlungsempfehlungen zu berücksichtigen sein (vgl. Nicke 2017). So zeigt die Arbeit von Sullivan et al. (2000) – und bereits vorher schon der Artikel von Leven (1994) – die positiven Auswirkungen einer intensiven psychotherapeutischen Behandlung von gehörlosen sexuell missbrauchten Teenagern auf. Die Jugendlichen wurden von gebärdensprachigen Therapeuten betreut und durchliefen ein mehrwöchiges Behandlungsprogramm, das auf die speziellen Bedürfnisse und Missbrauchserfahrungen abgestimmt war (Sullivan, Brookhouser & Scanlan 2000: 306f.). In Deutschland fehlen solche Therapieprogramme für gehörlose Kinder und Jugendliche völlig. Möchte man darüber hinaus den scheinbaren Widersprüchen zwischen geringer Nachfrage und vermutetem hohen Bedarf auf den Grund gehen, so muss vertiefend untersucht werden, ob die vorhandenen Angebote den sprachlichen und kulturellen Bedürfnissen gehörloser Frauen entsprechen. Um den ganz eigenen Strukturen der eng vernetzten Gehörlosengemeinschaft Rechnung zu tragen, sind hier die besonderen Bedarfe zu berücksichtigen, die nicht allein durch Sprache und technische Hilfsmittel abgedeckt werden können. Dafür ist es notwendig, Kenntnisse über die besondere Risikokonstellation gehörloser Menschen, die sich aus sprachlichen Defiziten und dem Mangel an formaler
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6 Diskussion
Bildung und Information ergibt, zu haben. Dazu gehört es zum Beispiel, die besondere Konstellation der Gehörlosengemeinschaft zu verstehen, da die Zugehörigkeit zu ihr wie bereits weiter oben in Abschnitt 6.2.2 dargelegt, weitere Belastungen mit sich bringen kann. Neben Fehlinformationen ist es die Angst vor übler Nachrede und Gerüchten, die sich leicht verbreiten können (vgl. auch Abschn. 5.4.5.3). Wie hier zu sehen war, übersteigt die Angst, dass das Erlebte in der Gemeinschaft weitererzählt wird, oft den Mut, sich Unterstützung zu holen (vgl. auch Fries et al. 2013: 445; Fries & Schröttle 2015: 68f.). Auch das kann möglicherweise dazu beitragen, dass gehörlose Frauen sich nur schwer gegen Gewalt zur Wehr setzen oder auch ein gewaltfreies Leben aktiv für sich einfordern können, wenn die Gewalt von einem Partner ausgeht, der aus derselben sozialen Gemeinschaft kommt. Nicht zuletzt ist auch die Einbeziehung gehörloser Experten, also von Fachleuten und betroffenen Frauen selbst, ein wichtiger Ansatzpunkt für geeignete Hilfe- und Unterstützungsmaßnahmen. Im Rahmen der psychosozialen und psychiatrischen Arbeit konnten in den bereits vorliegenden Studien (Fries et al. 2013; Schröttle et al. 2013; Fries & Schröttle 2015: 7) Tendenzen festgestellt werden, dass vermeintliche „Hilfe“ im Fall von Gewalt gegenüber gehörlosen Frauen nicht greift und zum Teil sogar mit negativen Folgen für die Betroffenen einhergeht. Das ist der Fall, wenn etwa Jugendämter die tatsächliche Gewaltsituation falsch beurteilen und/oder den Frauen vorschnell mangelnde Erziehungsfähigkeit unterstellen (Fellinger, Holzinger, Schoberberger & Lenz 2005; Höcker 2010; Fellinger, Holzinger & Pollard 2012). Hier wären professionelle Unterstützungsangebote erforderlich, die fachlich versiert und inhaltlich informiert auf die spezifische Situation gehörloser Frauen eingehen können (Fries & Schröttle 2015: 7). Auf der anderen Seite hat das Bekanntwerden der Gewaltproblematik innerhalb der Gehörlosengemeinschaft auch bei (professionellen) Fachkräften viel Unwissenheit, Unklarheit und Unsicherheit hervorgerufen (Fries et al. 2013: 445ff.). Der Bedarf an Beratung in diesem Bereich ist jedoch nach wie vor als sehr hoch einzuschätzen. Entsprechende Angebote sollten demnach nicht nur die sprachlich-kommunikativen Hürden gehörloser Frauen kennen, sondern auch kulturelle, soziale und psychische Besonderheiten, um die Art und Inhalte der Hilfen adäquat (weiter-)entwickeln zu können. Nur so kann es betroffenen gehörlosen Frauen ermöglicht werden, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und ihre Rechte wahrzunehmen, um ein sicheres und unabhängiges Leben führen zu können.
7
Handlungsempfehlungen
Voraussetzung dafür ist mehr Aufgeschlossenheit und Wertschätzung gegenüber Fachfrauen (und in Erweiterung auch gegenüber Fachmännern) mit Behinderungen in medizinischen Arbeitskontexten. Mit ihren speziellen Ressourcen können sie die Arbeit mit den Patientinnen und Patienten deutlich bereichern. Der Leitgedanke der Inklusion ist an dieser Stelle eng verbunden mit der Botschaft, dass es im medizinischen Handlungsfeld Mut und Querdenken benötigt, wenn es darum geht, neue, unkonventionelle Wege zu beschreiten. (Hornberg, Pauli & Wrede 2016: 9)
Geeignete Unterstützungsmaßnahmen für gehörlose Frauen, sei es in medizinischen Arbeitskontexten, aber auch in Beratungs- und Therapiezusammenhängen, sind bis heute nur vereinzelt und in Ansätzen vorhanden. Trotz der hohen Gewaltbetroffenheit ist diese Zielgruppe im Unterstützungssystem immer noch deutlich unterrepräsentiert. Das wurde auch durch die Daphne-Studie Zugang von Frauen mit Behinderungen zu Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen bei Gewalterfahrungen bestätigt (Mandl et al. 2014). Hier wurde aufgezeigt, dass Frauen mit Sinnesbeeinträchtigungen das Unterstützungssystem im Vergleich zu anderen eher selten aufsuchen, da für sie nach wie vor kaum Barrierefreiheit gegeben ist (vgl. Schröttle et al. 2013: 50; Fries & Schröttle 2015: 88). Wie in Abschnitt 6.2.3 dargestellt, liegt das häufig daran, dass bestehende Hilfs- und Unterstützungsangebote nicht am konkreten kommunikativen Bedarf dieser Zielgruppe ansetzen. Auf der anderen Seite fehlt es allgemeinen Gehörlosenberatungsstellen dagegen in der Regel an Fachwissen im Zusammenhang mit Gewalterfahrung und Gewaltprävention sowie an grundlegenden Kenntnissen für eine traumasensible Beratung. Betroffene gehörlose Frauen haben zudem oft Angst, sich ihrem © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Fries, Gewalterfahrungen gehörloser Frauen, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31926-7_7
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226
7 Handlungsempfehlungen
Umfeld a nzuvertrauen, da es schwierig ist, innerhalb der Gehörlosengemeinschaft Anonymität zu wahren (s. auch Abschn. 6.2.2). Hier zeigt sich eine gravierende Lücke im Unterstützungssystem, die zu einem Dilemma in der Beratung und Unterstützung gewaltbetroffener gehörloser Frauen führt: Während Fachstellen für gehörlose Frauen nicht auf spezielle Bedarfe ausgerichtet sind, fehlt es Gehörlosenberatungsstellen oft am erforderlichen Wissen im Bereich Gewaltschutz und -prävention. Mit diesem Dilemma im Blick werden im Folgenden Handlungsempfehlungen für die Politik (Abschn. 7.1) gegeben sowie konkrete Handlungsmöglichkeiten für die Arbeit in Beratungseinrichtungen, Frauennotrufen und Frauenhäusern aufgezeigt (Abschn. 7.2).
7.1 Handlungsempfehlungen für die Politik Das Recht auf ein gewaltfreies Leben ist ein Menschenrecht. Forderungen, entsprechende Maßnahmen auch speziell für Frauen mit Behinderungen zu initiieren und damit dieses Recht umzusetzen, finden sich in dem erst jüngst durch Deutschland ratifizierten Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt (BMFSFJ 2017). Die sogenannte Istanbul-Konvention von 2011 ist ein völkerrechtlich bindender Menschenrechtsvertrag, der die Vertragsstaaten verpflichtet, „umfassende Maßnahmen zur Prävention, Intervention, Schutz und zu rechtlichen Sanktionen gegen geschlechtsspezifische Gewalt zu ergreifen“ (Deutsches Institut für Menschenrechte 2018). Sie wurde am 17.07.2017 im Deutschen Bundestag abgestimmt und trat zum 01.02.2018 in Kraft. Die Unterzeichner der Istanbul-Konvention verpflichten sich, offensiv gegen alle Formen von Gewalt, einschließlich Nachstellung, sexueller Belästigung, Genitalienverstümmelung, Zwangsverheiratungen und Zwangsabtreibung vorzugehen (ebd.). Unter anderem ist hier festgehalten, dass Hilfsangebote für Frauen verbessert werden und eine Sensibilisierung für die Gewaltproblematik etwa über Bildungsangebote (Artikel 6, 14) erfolgen sollte. Als einzelne Maßnahmen werden genannt: Rechtsberatung, psychologische Betreuung, finanzielle Beratung, Hilfe im Zugang zu Unterbringungsmöglichkeiten (Frauenhäuser), Aus- und Weiterbildung sowie Unterstützung gewaltbetroffener Frauen, z. B. bei der Suche nach Arbeit (Artikel 18, 20). Für die Verbesserung des Hilfs- und Unterstützungssystems der Zielgruppe gehörloser Frauen ist Artikel 19 von besonderem Interesse. Hier wird ein Recht formuliert, „dass Opfer angemessen und rechtzeitig über verfügbare Hilfsdienste
7.1 Handlungsempfehlungen für die Politik
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und rechtliche Maßnahmen in einer ihnen verständlichen Sprache informiert werden“. Der hier aufgezeigte Ansatz zu einer barrierefreien Beratung setzt sich u. a. in Artikel 20 fort, der eine Schulung von bestimmten Berufsgruppen vorsieht, „um die Opfer zu unterstützen und sie an die geeigneten Dienste zu verweisen“. Für bestimmte Zielgruppen sind laut Artikel 22 „spezialisierte Hilfsdienste“ vorzusehen, damit auch wirklich alle Frauen, die im Geltungsbereich dieses Gesetzes Opfer von Gewalt wurden, aufgefangen werden. Das Gesetz zu dem Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (BMFSFJ 2017) ist für die Zielgruppe der gehörlosen Frauen in politischer Hinsicht eine gute Ergänzung zu den in der UN-Behindertenrechtskonvention bereits geforderten Maßnahmen zu Gewaltschutz (Artikel 16) und der Sicherstellung von Zugängen (Artikel 28) (Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen 2017). Mit den beiden vorliegenden Dokumenten liegt eine fundierte rechtliche Grundlage vor, mit denen darauf hingearbeitet werden kann, bestehende Lücken im Hilfs- und Unterstützungssystem zu schließen, eine bedarfsgerechte Beratung bereitzustellen und nicht zuletzt auch gehörlose Frauen dabei zu unterstützen, ihre Rechte selbstbewusst wahrzunehmen. Doch nach wie vor können gewaltbetroffene Frauen nicht ohne Weiteres bestimmte Rechte auf der Grundlage dieser Dokumente einklagen. So ist zum Beispiel längst nicht sichergestellt, dass alle Frauen in allen Regionen Deutschlands gleichen Zugang zu Frauenhäusern und Beratungsangeboten erhalten, auch unabhängig von einer Behinderung oder vom Aufenthaltsstatus (Rabe & Leisering 2018). Politische Entscheidungsträger werden so dazu aufgefordert, bestehende Handlungskonzepte zu überprüfen, zu ergänzen und neu zu organisieren. Ein umfassendes staatliches Handlungskonzept zum Schutz von gewaltbetroffenen gehörlosen Frauen und Mädchen sollte auf den Weg gebracht werden. Nach wie vor ist trotz des Aktionsplans I und II (BMAS 2016) zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention eine nachhaltige Finanzierung der Beratungsund Unterstützungsangebote für Frauen mit Behinderungen nicht langfristig und dauerhaft gesichert. Es besteht weiterer Aufklärungs- und Diskussionsbedarf, um auch gehörlosen Frauen ein angemessenes Maß an flächendeckender und umfassender Hilfe und Schutz anbieten zu können. Eine bedarfsgerechte Aufklärung, Informationsverbreitung und Beratung ist dringend erforderlich (Fries & Schröttle 2015: 89f.). Konkrete Handlungsschritte sollten eine Verbesserung des Zugangs und die Implementierung kommunikativer Barrierefreiheit (neben der bereits verbreiteten mobilen und baulichen Barrierefreiheit) sowie die Einbeziehung von Gebärdensprachdolmetschern und die Verbesserung
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7 Handlungsempfehlungen
von Information und Aufklärung einschließen. Auch sind bestehende Projekte und Maßnahmen wie zum Beispiel das Hilfetelefon der Bundesregierung gegen Frauengewalt (Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben 2018) in diesem Zusammenhang auf Zugänglichkeit zu überprüfen und gegebenenfalls zu modifizieren. Darüber hinaus kann ein Blick auf bereits bestehende einzelne Projekte hilfreich sein, um zu prüfen, ob vergleichbare Angebote flächendeckend und dauerhaft ausgebaut werden könnten.
7.2 Konkrete Handlungsschritte für Beratungseinrichtungen, Frauennotrufe und Frauenhäuser Frauenhäuser und Beratungseinrichtungen werden auch in den Interviews häufig als erste mögliche Anlaufstelle genannt. Hier ist vor allem die Erreichbarkeit und Zugänglichkeit ein großes Thema. Nach wie vor sind die Hürden, eine solche Einrichtung aufzusuchen, sehr hoch und viele gehörlose Frauen scheuen den Erstkontakt in einem für sie nicht barrierefreien Umfeld. Es fehlt an Information und Aufklärung auf vielen Ebenen. Die ungeklärte Frage der Kostenübernahme für die Hinzuziehung einer Gebärdensprachdolmetscherin setzt gehörlose Frauen in den Zwang, nach Alternativlösungen zu suchen (vgl. Fries et al. 2013: 446). Die vergleichsweise kleine Gemeinschaft der Gehörlosen hat ganz eigene Strukturen und dementsprechend ganz eigene Bedarfe, die nicht nur durch Sprache oder technische Hilfsmittel abgedeckt werden können.
7.2.1 Zugang Gehörlose Frauen müssen, um dem Inklusionsgedanken gerecht zu werden, den gleichen Zugang zu Informations- und Beratungsangeboten haben wie hörende Frauen auch. Das heißt zuallererst, dass Frauenhäuser, Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, die Angebote für gehörlose Frauen entwickeln wollen, ihre Zugangsmöglichkeiten für diese Zielgruppe überprüfen müssen. Hier ist vor allem zu berücksichtigen, dass der sonst übliche telefonische Erstkontakt, wie er auf den meisten Internetseiten von Beratungsstellen, Frauennotrufen und Frauenhäusern zu finden ist, für gehörlose Frauen nicht möglich ist. Gehörlose Frauen müssen erst Dritte bitten, einen telefonischen Kontakt herzustellen. Eine Möglichkeit wäre sicherlich, den Erstkontakt ausdrücklich auch in deutscher Schriftsprache anzubieten, also per SMS, Fax, Chat oder E-Mail.
7.2 Konkrete Handlungsschritte für Beratungseinrichtungen …
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Das setzt allerdings voraus, dass diese Kommunikationswege regelmäßig überprüft und eingehende Nachrichten sofort und unmittelbar bearbeitet werden. Ein solcher Service ist jedoch verwaltungstechnisch oder aufgrund fehlender Kapazitäten oft nicht leicht zu ermöglichen. Allerdings würde erst die Sicherheit, dass nach eingehender Mitteilung mit einer Antwort zu rechnen ist, ein solches Angebot für gehörlose Frauen attraktiv machen. Ein vorbildliches Beispiel guter Praxis bieten seit Anfang 2019 die Hamburger Frauenhäuser auf ihrer Internetseite an. Ein Video in DGS erklärt genau, wie die Kontaktaufnahme zum Frauenhaus funktioniert (https://hamburgerfrauenhaeuser.de/ajutor/gebaerdensprache/ Beratungsstelle). Bei Zartbitter e. V. Münster besteht ebenfalls die Möglichkeit, Kontakt per SMS und Whatsapp aufzunehmen. Eingehende Nachrichten auf diesem Weg zu lesen und zu beantworten ist Bestandteil des Angebotes von Zartbitter e. V..1 Allerdings ist hier zu berücksichtigen, dass gehörlose Frauen in akuten Gewaltsituationen oft nicht in der Lage sind, eine Mitteilung in deutscher Schriftsprache verständlich und problembezogen zu formulieren. Schriftsprachliche Mitteilungen können durch die Notsituation und die damit einhergehenden Gefühlslagen eingeschränkt sein, sodass eingehende schriftliche Notrufmeldungen per SMS, Chat oder E-Mail rudimentär ausfallen und schwer zu verstehen sind. Das kann im Übrigen auch eine schriftsprachliche Beratungssituation betreffen, sofern eine direkte gebärdensprachliche oder lautsprachliche Kommunikation nicht möglich ist. Schriftsprachliche Kommunikation ist in jedem Fall nur als ein sekundäres Kommunikationsmittel zu betrachten, das eine direkte Voice-to-voice- oder, in diesem Fall wohl eher, Face-to-face-Kommunikation nicht ersetzen kann. Die optimale Lösung wäre es, eine direkte Kontaktaufnahme mittels eines Videotelefonieservices in DGS anzubieten. Es kommt immer noch vor, dass Initiativen und Projekte für gehörlose Frauen initiiert werden, deren Nutzbarkeit nicht ausreichend und ohne Einbeziehung von Expertinnen in eigener Sache geprüft wurden. Ein Beispiel gut gemeinter, aber leider verfehlter Praxis ist die fehlende Niedrigschwelligkeit des bundesweiten Hilfetelefons Gewalt gegen Frauen für gehörlose Hilfesuchende (s. o.). Obwohl es damit wirbt, dass „Frauen mit Hörbeeinträchtigung oder Hörschädigungen […] ganz einfach mit uns in Kontakt treten“ (Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben Öffentlichkeitsarbeit: o. J.) können, ist eine solche
1Die
Anlaufstelle Zartbitter e. V. Münster ist eine Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt mit dem Fokus auf Aufklärung in Schulen (http://www.muenster.org/zart-bitter/ cms/beratung/fuer-hoergeschaedigte-menschen).
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7 Handlungsempfehlungen
Kontaktaufnahme in der Praxis nur schwer zu handhaben. So setzt es für die Anwendung ein bestimmtes Know-how im Umgang mit Technologie und Internetnutzung sowie das Vorhandensein entsprechender Hard- und Software voraus, es steht nur zeitlich eingeschränkt und lediglich über die Vermittlung eines Dolmetschdienstes zur Verfügung. Das Bekanntwerden des an den Bedürfnissen gehörloser Frauen vorbeigehenden Services hat zu einer Protestwelle geführt (vgl. u. a. Deutscher Gehörlosen-Bund 2013; Probst 2013), die jedoch bislang zu keiner Verbesserung Anlass gegeben hat. Frauenhäuser, Frauennotrufe und Frauenberatungsstellen, die Angebote für gehörlose Frauen entwickeln wollen, sollten unbedingt die Zusammenarbeit mit gehörlosen Expertinnen suchen, damit die oft mit hohem Aufwand angebotenen Dienstleistungen tatsächlich die Zielgruppe erreichen. Eine weitere nach wie vor verbreitete Zugangshürde für gehörlose Frauen, die in einer Notsituation eine Anlaufstelle aufsuchen, sind Eingangstüren mit einer Sprechanlage. Verschlossene oder gesicherte Eingänge dienen gemeinhin als Schutz vor unerwünschtem Besuch, vor Stalkern oder Verfolgern. Als gehörlose Frau vor einem so gesicherten Eingang zu stehen und mit einer Sprechanlage konfrontiert zu sein, ist jedoch mehr als nur abschreckend. Sprechanlangen zwingen gehörlose Frauen, „auf gut Glück“ lautsprachlich artikulierend ihr Anliegen vorzutragen, was oft in dem Bewusstsein erfolgt, dass eine auffällige und/oder schwer verständliche Artikulation ein Hindernis darstellen könnte, zumal auf Rückfragen durch eine Sprechanlage nicht reagiert werden kann. Schon allein deshalb werden gehörlose Frauen Einrichtungen häufig mit einer besser hörenden oder besser sprechenden Begleitperson aufsuchen (s. auch Abschn. 5.5.2.2). In vielen Frauenhäusern ist es jedoch nicht möglich, eine private Begleitperson mitzubringen. Umso wichtiger dürfte es sein, möglichst schnell und effektiv auf professionelle Dolmetschdienste zurückgreifen zu können bzw. bereits im Erstgespräch ein Mindestmaß an kommunikativer Barrierefreiheit zur Verfügung zu stellen.
7.2.2 Kommunikative Barrierefreiheit Hier ist im Vorfeld zu klären, was ein Label wie „kommunikativ barrierefrei“ beinhalten sollte. Eine Minimalanforderung wäre, dass Beratungsstellen und Einrichtungen grundsätzlich wissen, wie man mit gehörlosen Frauen kommuniziert. Sie sind auf die oft schwer verständliche Artikulation gehörloser Frauen vorbereitet und reagieren nicht ablehnend oder mit Befremden darauf. Mitarbeiterinnen von Beratungsstellen oder Frauenhäusern sollten auch darüber
7.2 Konkrete Handlungsschritte für Beratungseinrichtungen …
231
informiert sein, dass die deutsche Sprache für gehörlose Frauen in schriftund lautsprachlicher Form in den meisten Fällen eine häufig unvollkommen beherrschte Zweitsprache ist. Sie sollten mit den Besonderheiten der Lebenssituation gehörloser Menschen vertraut sein und über die enge Einbindung in die Gehörlosengemeinschaft Bescheid wissen. Um darüber hinaus zu einem effektiven Zufluchtsort für gehörlose Frauen zu werden, sollten Mitarbeiterinnen von Beratungseinrichtungen und Frauenhäusern darauf vorbereitet sein, wie die Erstkommunikation mit einer gehörlosen Frau erfolgreich geführt werden kann. Im besten Fall verfügen sie über eine mehr oder weniger gute Gebärdensprachkompetenz oder sollten zumindest einige Gebärden kennen, um die Frauen begrüßen und willkommen heißen zu können. Sollte eine direkte gebärdensprachliche Kommunikation in den Einrichtungen nicht möglich sein, muss eine Gebärdensprachdolmetscherin hinzugezogen werden. Dafür sollte von gesetzgebender Seite die Finanzierung geklärt sein (vgl. auch Nicke 2017: 380) und es sollte eine Liste von geeigneten und verfügbaren Gebärdensprachdolmetscherinnen vorliegen, die möglichst schnell zur Verfügung stehen können. Ein gutes Beispiel hierfür war das Notfallprojekt des Berufsfachverbandes der Gebärdensprachdolmetscher_innen Bayern e. V.. In ganz Bayern stand seit April 2013 eine Telefonnummer zur Verfügung, über die man auch nachts und am Wochenende Bereitschaftsdolmetscherinnen erreichen konnte, die als Ansprechpartner und zur Erstaufklärung über Gehörlosigkeit zur Verfügung standen. Bei Bedarf begaben sie sich zum Einsatzort oder versuchten in der Nähe befindliche Kollegen zu schicken (http://www.bgsd-bayern.de/Notfallprojekt/). Leider wurde dieses Projekt aufgrund fehlender langfristiger Finanzierung zum 31.05.2018 eingestellt.2 Der Berufsverband der Gebärdensprachdolmetscher bedauert diesen Schritt und gibt Folgendes zu bedenken: „Die Versorgung gehörloser Bürger in Bayern mit Gebärdensprachdolmetschern ist somit nach wie vor nicht gesichert. Vor allem in der Nacht, am Wochenende und an Feiertagen, wenn die Vermittlungsstellen geschlossen haben, hat ein hörbehinderter Mensch keine Möglichkeit, in kurzer Zeit einen Dolmetscher zu erreichen. Dadurch sind Gehörlose in Situationen, die eine reibungslose Kommunikation erfordern,
2Seit dem 15.10.2020 gibt es für gehörlose Menschen in Bayern in Notsituationen erneut die Möglichkeit über eine App von Montags bis Freitags von 17:00 Uhr bis 08:00 Uhr und an Wochenenden und Feiertagen rund um die Uhr Gebärdensprachdolmetscher hinzuzuziehen. Finanziert wird dieser Service vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration und der kassenindividuellen Projektförderung. Damit wird der Wichtigkeit eines solchen Bereitschaftdienstes Rechnung getragen und die Teilhabebedingungen für gehörlose Menschen in Bayern werden gestärkt.
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7 Handlungsempfehlungen
e ntscheidend benachteiligt“ (BGSD Bayern 2018). In den fünf Jahren, in denen dieses Projekt unter ehrenamtlichem Engagement einzelner Gebärdensprachdolmetscher gehörlosen Menschen zur Verfügung stand, konnte nach Angaben des Berufsverbandes bei insgesamt 94 Notfalleinsätzen eine schnelle Versorgung mit Dolmetschern gewährt werden (ebd.). In Bezug auf das Label „kommunikative Barrierefreiheit“ wird ferner zu berücksichtigen sein, dass aufgrund der besonderen Kommunikationssituation mehr Zeit für Gespräche einzuplanen ist. Das betrifft auch Erstkontakte und Erstaufnahmegespräche in akuten Notfällen. Es wird hier immer neben der akuten Notfallsituation darum gehen, die Kommunikation zu sichern und auszuloten, wie man sich miteinander verständigen kann, ob also etwa ein schriftsprachlicher Austausch ausreicht, ob man sich durch langsames und deutliches Artikulieren mitteilen kann, ob die lautsprachlichen Äußerungen der gehörlosen Frau verständlich sind oder ob eine Gebärdensprachdolmetscherin hinzuziehen ist. Nur in den allerwenigsten Fällen wird eine Face-to-face-Beratung in fließender Gebärdensprache zwischen Mitarbeiterinnen der Einrichtung und ratund hilfesuchenden Frauen möglich sein. Beratungsstellen sollten sich keinesfalls mit unvollständiger oder beschwerlicher Verständigung zufriedengeben, sind aber leider in den allermeisten Fällen allein aus pekuniären Gründen dazu gezwungen. Gerade in einer Notsituation ist ungehinderte Kommunikation unverzichtbar.
7.2.3 Einbeziehung von Gebärdensprachdolmetscherinnen In den vorliegenden Interviews äußern die gehörlosen Frauen überwiegend den Wunsch nach direkter Kommunikation bei Beratungsgesprächen oder in Notfallsituationen. Sollte diese Möglichkeit jedoch nicht gegeben sein, ist die Hinzuziehung einer Gebärdensprachdolmetscherin eine gute Alternative. Hier ist unbedingt darauf zu achten, nur qualifizierte Gebärdensprachdolmetscherinnen, möglichst mit Erfahrung in Krisengesprächen oder zumindest mit einer fachlichen Einarbeitung in das Thema „Gewaltproblematik in der Gehörlosengemeinschaft“, einzubeziehen. Es sollte ernsthaft über entsprechende Weiterbildungsangebote für das Gebärdensprachdolmetschen in Krisensituationen nachgedacht werden. Entsprechende Angebote, vorzugsweise mit begleitender Supervision, könnten in Kooperation zwischen Beratungseinrichtungen und den Berufsorganisationen der Gebärdensprachdolmetscher sowie den akademischen Ausbildungsstellen entwickelt und eingerichtet werden. Gebärdensprachdolmetscherinnen sind gerade in Krisengesprächen oft mehr als
7.2 Konkrete Handlungsschritte für Beratungseinrichtungen …
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nur bloße Sprachmittlerinnen. Als Kulturmittlerinnen greifen sie ein, wenn es der Gesprächsverlauf erfordert. Das kann etwa der Fall sein, wenn die Notwendigkeit besteht, beratende Personen über die besondere Situation der Gehörlosengemeinschaft zu informieren, um Unklarheiten zwischen hörender Beraterin und gehörloser Frau in einer akuten Krisensituation zu beseitigen. Gebärdensprachdolmetscherinnen sind bei solchen Settings in der Regel die einzigen Personen, die auf Verständnisschwierigkeiten und Unsicherheiten reagieren können. Sie können durch umsichtiges Interagieren und Vermitteln auf Missverständnisse oder Fehlinterpretationen beider Seiten reagieren, ohne dabei ihre primäre Aufgabe als Dolmetscherin aus dem Blick zu verlieren. Das setzt ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Erfahrung mit der Lebenswelt Gehörloser voraus. Ein klares Bewusstsein über das eigene Berufsbild, wie es in der Berufsordnung der Dolmetscher_innen und Übersetzer_innen für Deutsche Gebärdensprache festgehalten ist, kann dabei hilfreich sein, genügt jedoch nicht (bgsd 2019). So müssen Gebärdensprachdolmetscherinnen damit rechnen, unvermittelt und oft unbeabsichtigt zu einer Vertrauensperson für die gewaltbetroffene gehörlose Frau zu werden. Hier sind die Gefahren einer sekundären Traumatisierung im Auge zu behalten (Harvey 2003). Bei aller persönlichen Nähe und Bereitschaft zur vertrauensvollen Begleitung sollte die professionelle Distanz nicht aus dem Blick verloren werden. Aber auch die umgekehrte Situation kann der Fall sein, wenn die Anwesenheit der Gebärdensprachdolmetscherin als störend empfunden wird und sich hemmend auf die Unterstützungs- und Beratungssituation auswirkt. Möglicherweise fühlen sich gehörlose Frauen durch eine zusätzliche fremde Person befangen und haben Angst, sich umfassend anzuvertrauen. Oft aber sind es eher organisatorische Hürden, die die Hinzuziehung einer Gebärdensprachdolmetscherin erschweren. Wenn gehörlose Frauen in akuten Notsituationen beispielsweise vor häuslicher Gewalt fliehen und innerhalb kürzester Zeit, womöglich zu später Stunde, am Wochenende oder an Feiertagen Hilfe benötigen, kann es schwierig sein, eine verfügbare und geeignete Gebärdensprachdolmetscherin zu finden. Hier kann alternativ überlegt werden, ob auf eine Schriftverdolmetschung ausgewichen wird. Diese setzt jedoch voraus, dass die gehörlose Frau über ausreichende Schriftsprachkenntnisse verfügt.
7.2.4 Information und Aufklärung Betroffene gehörlose Frauen und Mädchen müssen wissen, wo und wie sie konkret Hilfe nach Missbrauchs- und Gewalterfahrungen erhalten können
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7 Handlungsempfehlungen
und darin bestärkt werden, diese Angebote in Anspruch zu nehmen. Hierfür ist es zuallererst notwendig, Adressen und Anlaufstellen durch alle verfügbaren sozialen Netzwerke der Gehörlosengemeinschaft bekannt zu machen. Auch hier zählt wie in den Beratungsgesprächen das Face-to-face-Prinzip mehr als eine unpersönliche Mitteilung: Eigene Erfahrungen im Zusammenhang dieser Studie haben gezeigt, dass Informationsveranstaltungen zum Thema „Gewalt, Unterstützungssuche und Hilfsangebote“ von großem Nutzen sind und auf große Resonanz stoßen (Fries & Schröttle 2015: 68ff.). Geeignete Veranstaltungen können beispielsweise bei Zusammenkünften in den Gehörlosenvereinen und -verbänden oder bei Großveranstaltungen der Gehörlosengemeinschaft wie den Kulturtagen oder Bundesversammlungen des Deutschen Gehörlosen-Bundes durchgeführt werden. Eine weitere wichtige Anlaufstelle für Gewaltprävention sind Schulen und berufsbildende Einrichtungen für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche. Hier kann durch gezielte Information und Aufklärung bereits im Vorfeld viel dafür getan werden, dass die Gewaltprävalenz innerhalb dieser Zielgruppe eingegrenzt und vermindert wird. Ein Beispiel guter Praxis ist das sexualpädagogische Angebot der Beratungsstelle für hörgeschädigte Menschen in Münster. 2014 wurde das dreijährige Schulprojekt „Barrierefreie Beratungs- und Präventionsangebote für von sexualisierter Gewalt betroffene hörgeschädigte Jugendliche ab 14 Jahren“ von der Aktion Mensch mit unterstützt. Durch ein spezielles Konzept für Schulen mit hörgeschädigten Schülern zielte dieses Projekt direkt auf die Schüler ab und trug damit wesentlich zur Gewaltprävention bei (vgl. Lißeck & Ortgies: 2015, 392). Neben gebärdensprachlichen Aufklärungsveranstaltungen mit Publikum ist das Internet ein für gehörlose Frauen grundsätzlich gut zugängliches Medium, das den Zugang zu Informationen erleichtert und aktiv genutzt werden kann. Es existieren bereits einige wenige Internetseiten, die gebärdensprachlich aufbereitete Informationen zum Thema „Gewalt und Gewaltschutz“ bereitstellen. Zu nennen ist hier vor allem eine Initiative des Frauennotrufs Bielefeld, bei der im Rahmen eines Projektes zehn Aufklärungsvideos in DGS unter Mitwirkung von gehörlosen Fachkundigen entstanden sind (Frauennotruf Bielefeld 2012). Loggt man sich auf die Internetseite des Frauennotrufs ein, wird man darüber hinaus von einer der Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle in DGS begrüßt. Gehörlose Frauen in Notsituationen werden so ermutigt, Kontakt aufzunehmen. Zur Aufklärung und Information eignen sich ferner auch Veranstaltungen, bei denen gehörlose Frauen unter sich sind. Die meisten Landesverbände der
7.3 Qualitätssichernde Maßnahmen
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ehörlosen verfügen über eigene Frauenreferate (vgl. z. B. Gehörlosenverband G Niedersachsen e. V.: o. J.). Zum Beirat des Deutschen Gehörlosen-Bundes gehört eine Frauenbeauftragte, zu deren Aufgaben es unter anderem gehört, regelmäßig über anstehende Veranstaltungen speziell für gehörlose Frauen zu informieren. Auch für bereits bestehende und noch zu entwickelnde Unterstützungs- und Hilfsangebote ist die Frauenbeauftragte des Deutschen Gehörlosen-Bundes eine wichtige Ansprechpartnerin. Nicht zuletzt haben auch kulturelle Veranstaltungen zum Thema „Gewalt“ einen hohen Aufklärungs- und Informationswert. Als vorbildlich kann in dieser Hinsicht das Berliner Aktionsbündnis gegen Gewalt an gehörlosen Menschen Taub.Gewalt.Stop angesehen werden, das mit der Theateraufführung „Vagina Monologe“ in DGS mit Übersetzung in Lautsprache erfolgreich Öffentlichkeitsarbeit machen konnte.
7.3 Qualitätssichernde Maßnahmen Gewaltbetroffene und von Gewalt gefährdete gehörlose Frauen benötigen eine bedarfsgerechte Infrastruktur. Sie müssen sich – nicht nur im Notfall – darauf verlassen können, dass sie Anlaufstellen und Unterstützungseinrichtungen vorfinden, die für sie zugänglich sind und in denen Fachkräfte auf ihre speziellen Beratungsbedürfnisse vorbereitet sind. Als qualitätssichernde Maßnahmen, von denen gehörlose Frauen profitieren, sind vor allem die folgenden anzusehen: 1. Schulung relevanter Berufsgruppen für die Lebenssituation gehörloser Menschen sowie zur Gewaltproblematik. Dazu zählen zum Beispiel Sozialarbeiter, medizinisches Personal und Ärzte, Polizei und Staatsanwaltschaft. Um sie für die Problematik dieser Zielgruppe zu sensibilisieren, sollten entsprechende Fortbildungen verpflichtend für diese Berufsgruppen eingeführt werden. 2. Die ungeregelte Finanzierung von Gebärdensprachdolmetschern in Beratungsund Notfallsituationen ist durch entsprechende Gesetze und Verordnungen zu verbessern. Gehörlose Frauen müssen eine verlässliche Grundlage dafür haben, im Umgang mit Beraterinnen, Einrichtungen und Frauenhäusern im Bedarfsfall die Dienste einer Gebärdensprachdolmetscherin in Anspruch nehmen zu können. Das bisher geltende Recht, wie es im Sozialgesetzbuch und im Bundesteilhabegesetz festgeschrieben ist (s. auch Abschn. 2.1) reicht dafür nicht aus. Derzeit beteiligen sich die Kommunen nur in Einzelfällen an
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7 Handlungsempfehlungen
Dolmetscherkosten. Vielfach erfolgt eine Finanzierung nur durch die Initiative einzelner Personen, Institutionen oder Sponsoren. 3. Von politischer Seite aus sollten allgemein die Rechte gehörloser Menschen besser berücksichtigt werden. Die speziellen Bedarfe können unter dem Label „kommunikative Barrierefreiheit“ für alle strukturellen Planungen und Maßnahmen zusammengefasst werden. 4. Ferner sind von Seiten der Politik die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, dass regional vernetzte Beratungsstellen und Frauenhäuser in allen größeren Städten in die Lage versetzt werden, ein Konzept zur Deckung der Beratungsbedarfe gehörloser Frauen zu entwickeln und strukturelle Veränderungen ihrer Arbeit etwa durch die Implementierung von kommunikativer Barrierefreiheit herbeizuführen. 5. Nicht zuletzt sollte die Politik auch mit dabei helfen, das Selbstbewusstsein von gehörlosen Frauen zu stärken, damit diese für ihre Interessen einstehen und sich politisch engagieren. Dazu bedarf es einer verbesserten Öffentlichkeitsarbeit, die das Engagement bei allen gesellschaftlichen Gruppen sowie die Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderungen fördert.
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Fazit: Gesundheitspolitische Perspektiven für gewaltbetroffene gehörlose Frauen
Von daher gesehen profitiert […] die Arbeit vor Ort in den pädagogischen und klinischen Einrichtungen sehr viel mehr davon, wenn sie sich – ganz im Sinne einer salutogenetischen Perspektive – wegbewegt von der Frage „Was ist im Zusammenhang mit einer Hörbehinderung alles problematisch und womöglich gestört?“, hin zu der Frage „Was brauchen hörbehinderte Menschen, um subjektives Wohlbefinden trotz der Hörbeeinträchtigung zu entwickeln?“. (Hintermair & Tsirigotis 2008, 33)
Die vorliegende Arbeit gehört zu einer Reihe von Untersuchungen, die Aufschluss über die aktuelle Lebenssituation gehörloser Frauen und vor allem die darin verborgen liegende Gewaltproblematik geben. Die Studie „Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland“ (Schröttle et al. 2013) hat erheblich dazu beigetragen, auf die hohe Gewaltprävalenz gehörloser Frauen aufmerksam zu machen. In der sich daran anschließenden Sekundärauswertung (Fries & Schröttle 2015) sowie der vorliegenden Arbeit steht die Gewaltproblematik dieser Frauen im Mittelpunkt. In den nächsten Jahren wird sich zeigen müssen, wie Politik und soziale Einrichtungen auf diese Einsichten reagieren und inwieweit zielgruppenorientierte Angebote und präventive Maßnahmen verstärkt und wirkungsvoll auf den Weg gebracht werden können. Dass dies bereits geschieht, ist anhand einiger Beispiele in Kapitel 7 dieser Arbeit dokumentiert. Doch weitere Schritte werden vonnöten sein, denn nach wie vor sind gehörlose Frauen und Mädchen, wenn sie Gewalterfahrungen machen, weitgehend auf sich allein gestellt. Die angestrebten Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention nach einem gleich großen Angebot, nach gleicher Qualität und gleichen Standards der gesundheitlichen Versorgung für Menschen mit © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Fries, Gewalterfahrungen gehörloser Frauen, Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31926-7_8
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einer Behinderung im Vergleich zu anderen Menschen kann damit als noch nicht erfüllt angesehen werden. In Artikel 17 Absatz 2 der Konvention werden die dafür geeigneten Maßnahmen konkretisiert. So sollen die Staaten, die die Konvention ratifiziert haben, geeignete Formen von Hilfe und Unterstützung für Menschen mit Behinderungen, ihre Familien und Betreuungspersonen gewährleisten. Dies schließt auch die Bereitstellung von Information und Aufklärung darüber ein, wie Fälle von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch verhindert, erkannt und angezeigt werden können. Letztlich geht es hier auch darum, den Rahmen des Gewaltschutzgesetzes auszuschöpfen. Seit seiner Einführung im Jahr 2002 gibt es vereinzelte Bemühungen, indem zum Beispiel Mitarbeiter von Frauenhäusern oder Frauenberatungsstellen Grundkenntnisse in der Gebärdensprache erwerben (Fries et al. 2013: 13) und einschlägige Internetseiten durch Gebärdensprachvideos zugänglich gemacht werden (ebd.). Vielerorts stehen für die Umsetzung des Gewaltschutzgesetzes jedoch keine ausreichenden finanziellen Mittel zur Verfügung, sodass längerfristige Beratungen und Therapien sowie niedrigschwellige Angebote nach wie vor nicht in genügendem Maße zur Verfügung gestellt werden können (vgl. Allianz von Frauenorganisationen Deutschlands 2008). Wenn aus den oben genannten Studien neben Maßnahmen auf politischer Ebene weitere ernsthafte Bestrebungen zur Reduktion der Gewaltbetroffenheit gehörloser Frauen erfolgen sollen, dann sollte darüber nachgedacht werden, wie die kommunikative Isolation gehörloser Frauen – aber auch von gehörlosen Männern – innerhalb der hörenden Mehrheitsgesellschaft zunehmend aufgehoben werden kann. In diesem Zusammenhang könnte beispielsweise überlegt werden, Gebärdensprache bundesweit in das Fremdsprachlehrangebot an Regelschulen zu integrieren, als Wahlfach oder gar als festen Bestandteil des Lehrplans. Dadurch könnte sich das Bewusstsein der Bevölkerung für eine andere Modalität der Kommunikation erhöhen und die DGS würde als Teil der Vielfalt menschlicher Ausdrucksweisen angenommen. Zum anderen erhöht sich durch eine solche Maßnahme auch die Wahrscheinlichkeit, dass hörende und gehörlose Menschen in unterschiedlichen Lebensbereichen miteinander in Kontakt treten. Auf der unmittelbar persönlichen Ebene könnten sich dadurch mehr Freundschaften oder tiefergehende Beziehungen zwischen Hörenden und Gehörlosen entwickeln. Die nach wie vor fast zwanghafte bestehende enge Einbindung in die Gehörlosengemeinschaft und an gehörlose Beziehungspartner könnte dadurch zu einer Frage der persönlichen Entscheidung und Orientierung werden. Auf sozialer und professioneller Ebene stünden gehörlosen Menschen zusätzliche Ressourcen durch mehr Ansprechpartner zur Verfügung, mit denen eine Kommunikation möglich ist. Die besondere Lebenssituation gehörloser Menschen muss nicht notwendig mit Marginalisierung und Ausgrenzung einhergehen.
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Weiterhin sollte man ungeachtet des sicherlich notwendigen Ausbaus von speziellen Präventions- und Unterstützungsmaßnahmen dort ansetzen, wo die Gewaltproblematik in den meisten Fällen ihren Ursprung hat: Bei den potenziell gewalttätigen gehörlosen Jungen und Männern selbst. Die alleinige Fokussierung auf Schutzmaßnahmen für gehörlose Frauen schafft lediglich Möglichkeiten zur Schadensvermeidung oder Schadensbegrenzung. Eine frühe Aufklärung von gehörlosen jungen und heranwachsenden Männern, die zum respektvollen Umgang mit Mädchen und Frauen anhält, Empathiefähigkeit und emotionale Steuerung fördert und den Erwerb sozialer Kompetenzen stärkt, könnte dagegen einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, Gewaltsituationen zu reduzieren. Als letzte Ebene, auf der Interventionen angeregt werden sollten, ist die Gesellschaft zu nennen. In der Gesellschaft sollte ein Bewusstsein dafür verankert werden, dass sich die Gehörlosengemeinschaft als eine kulturelle Minderheit sieht. In der Gesellschaft muss sich ein Wandel weg von Ignoranz, Missverständnissen oder sogar Unterdrückung hin zu Wissen, Akzeptanz und Respekt vollziehen. Das gilt vor allem auch für Eltern und andere Beziehungspersonen gehörloser Kinder sowie für Fachleute, die mit Erziehung und Bildung dieser Zielgruppe zu tun haben. Das Verständnis für die besondere sprachliche und kulturelle Situation könnte dazu beitragen, die in dieser Untersuchung aufgezeigten Risikofaktoren zu minimieren und weitere Ressourcen zu aktivieren. Abschließend lässt sich festhalten, dass die Gewaltproblematik gehörloser Frauen immer auch ein Spiegelbild der Entwertung ist, die gehörlose Menschen als Folge struktureller Bedingungen und fehlenden Wissens erfahren. Um die Gewaltprävalenz bei gehörlosen Menschen nachhaltig zu reduzieren, muss sich das breitere soziale, in wesentlicher Hinsicht medizinisch geprägte Verständnis von Gehörlosigkeit ändern. Gewaltprävention muss mit dem Überdenken weit verbreiteter Vorstellungsbilder über Gehörlose und dem Abbau negativer Bilder von Behinderung beginnen. Ein weiterer kritischer Schritt wäre die Schaffung und Umsetzung von Strategien und Maßnahmen in Medizin und Bildung, aber auch in rechtlicher, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht, die darauf abzielen, die soziale Isolation Gehörloser und Ungleichheiten im Verhältnis zu den Hörenden abzubauen. Besonders wichtig ist es in diesem Zusammenhang, Dolmetschdienste als ein sprachliches Menschenrecht anzuerkennen und gehörlosen Menschen einen barrierefreien und niedrigschwelligen Zugang zu allen Institutionen und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts in der ihnen in besonderer Weise nahen und vertrauten Sprache zu ermöglichen. Es wäre wünschenswert, wenn damit parallel auf allen Ebenen angesetzt werden könnte, da diese nicht unabhängig voneinander sind und somit eine Reduzierung der Barrieren und Problematiken auf vielschichtige Weise erreicht werden könnte.
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Eine letzte Anmerkung: In der vorliegenden Studie hatten alle befragten Frauen einen Weg aus der Gewalt gefunden und nahezu alle beschreiben dies als einen Prozess, der ihr Leben grundlegend verändert hat. Viele konnten eigene, persönliche Ressourcen einsetzen und daraus die für Veränderungen notwendige Kraft schöpfen (vgl. Abschn. 5.5.1). Es bedurfte jedoch erst einer offensichtlichen, extrem bedrohlichen und hochgradig belastenden Lebenssituation, um aus der Gewalt auszubrechen und den Mut zu finden, Hilfe und Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Die Frauen fanden darüber hinaus auch den Mut, für die vorliegende Studie Rede und Antwort zu stehen und einen tiefen Einblick in ihre Gewaltproblematik zu geben. Um das „subjektive Wohlbefinden“ zu entwickeln, von dem Hintermair im Eingangszitat zu diesem Kapitel spricht, haben die Frauen noch einen langen Weg vor sich. Es sollte im Interesse aller sein, die an wesentlichen Schaltstellen sitzen, seien es Gesetzgeber, Berater, Pädagogen, Forscher, aber auch Eltern, Freunde und Nachbarn, diesen und anderen gehörlosen Frauen den Weg zu Gewaltfreiheit und subjektivem Wohlbefinden zu ebnen.
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