Gewalt als Sprache der Straße: Terrorismus und die Suche nach emotionaler Gemeinschaft im Russischen Reich vor 1917 3515130764, 9783515130769

Terrorismus erschütterte das vorrevolutionäre Russland in zwei Wellen von den 1860er Jahren bis zur ersten Russischen Re

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Terrorismus als Begriff und Gegenstand
Zwei Phasen des Terrorismus im Russischen Reich
Zur Rezeptionsgeschichte: Die terroristische Tradition
Der heroische Terrorismus
Rezeption im Westen: „Die Gerechten“
Nach der Zäsur von 1991
Fragestellung: Voraussetzungen, Methoden, Schlüsselbegriffe
Terrorismus als Kommunikation
Gewalt
Akteur*innen
Emotional turn: Der Schrecken in der Geschichte
Historische Kontexte von Gewalt
Der Ort des Terrorismus: Die Straße
Zentrum und Peripherie
Zum Aufbau und zu den Quellen der Arbeit
1. Von der Peripherie ins Zentrum
Dimitrij Karakozov: Der erste Terroranschlag im Russischen Reich
Ideologien
Die revolutionäre Bewegung seit den 1860er Jahren
Die Studierendenbewegung
Der Gang ins Volk
Gewalt als Sprache der Straße: Der Kazaner Platz
Vera Zasulič: Die Audienz
Peripherie
Valerian Osinskij: Die Erfindung des „Exekutiv-Komitees“
Sergej Kravčinskij: Die Straße als idealer Ort des Terrorismus
Zentrum
Der Anschlag auf Dimitrij Kropotkin
Der Anschlag auf Aleksandr Drentel′n
Alesksandr Solov′ev: Attentat auf Alexander II.
Narodnaja volja
Attentate auf den Zaren
Der Anschlag auf den Zarenzug vom 18. und 19. November 1879
Die Explosion im Winterpalast am 5. Februar 1880
Die kommunikative Ausstrahlung der Attentate
Zurück auf die Straße
Der 1. März 1881
Das Blut des Zaren
Die kommunikative Ausstrahlung des 1. März 1881
Sof′ja Perovskaja: Die Hinrichtung der „Zarenmörder“
Die Pogrome von 1881–1882 im terroristischen Kontext
Epilog: Der 1. März 1887
2. Vom Zentrum an die Peripherie
Universitätsstreik: Die Anfänge der Revolution
Das Attentat von Pёtr Karpovič auf Nikolaj Bogolepov
Gewalt auf der Straße
Das Attentat von Stepan Balmašev auf Dmitrij Sipjagin
Grigorij Geršuni und die zentrale Kampforganisation der PSR
Terrorismus an der Peripherie: Das Attentat von Hirš Lekert auf Viktor von Wahl
Das Attentat von Foma Kočura auf Fürst Ivan Michajlovič Obolenskij
Das Attentat von Egor Dulebov auf Nikolaj Bogdanovič
Die „heroische Phase“ der SR-Kampforganisation und der Verräter Evno Azef
Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve
Der Pogrom von Kišinev
1. „Eine Bombe“
2. „Fortwährend beobachten“
Die kommunikative Ausstrahlung des Attentats auf Pleve
Das Attentat der Kampforganisation auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič
„Die Gerechten“ (Albert Camus)
Die kommunikative Ausstrahlung des Attentats auf Sergej Aleksandrovič
3. Die Inflation des Terrorismus an der Peripherie
Sozialrevolutionärer Terrorismus an der Peripherie im Jahr 1905
Odessa
Revolutionär*innen in Odessa
Anarchist*innen – Machaevcy
Zubatovščina
1905 in Odessa
Die Juni-Katastrophe: Der Panzerkreuzer Potemkin
Pogrom: Die „schwarzen Tage“ im Oktober 1905
Anarchistischer Terrorismus in Odessa
Dezember 1905 in Odessa
Das Attentat auf das Porzellangeschäft von Israel Zusman
Moskauer Aufstand
Generalstreik
Der Bombenanschlag auf das Café Libman am 17. Dezember 1905
Die kommunikative Ausstrahlung des Attentats auf das Café Libman
Epilog: Die Inflation des Terrorismus ab Dezember 1905
Kontrollverlust der zentralen Akteur*innen des Terrorismus
Ökonomischer Terrorismus
Aktionismus
Repression
Zum Schluss
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungen
Archive
Zeitungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Personenregister
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Gewalt als Sprache der Straße Terrorismus und die Suche nach emotionaler Gemeinschaft im Russischen Reich vor 1917

Geschichte

Anke Hilbrenner

Franz Steiner Verlag Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa Herausgegeben vom Verband der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V.

92

Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa Begründet von Manfred Hellmann Weitergeführt von Erwin Oberländer, Helmut Altrichter, Dittmar Dahlmann, Ludwig Steindorff, Jan Kusber und Julia Obertreis In Verbindung mit dem Vorstand des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V. herausgegeben von Martin Aust Band 92

Anke Hilbrenner

GEWALT ALS SPRACHE DER STRASSE Terrorismus und die Suche nach emotionaler Gemeinschaft im Russischen Reich vor 1917

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Keine Parasiten mehr!!! Das sicherste Mittel zur Vernichtung des „schädlichen Ungeziefers. Fordert es überall!!!“: Karikatur aus der Sammlung des Sozialrevolutionärs V. S. Minarchorjan aus der Zeit vor 1907, Archiv PSR, IISG, f. 596 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Layout, Satz und Herstellung durch den Verlag Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13076-9 (Print) ISBN 978-3-515-13083-7 (E-Book)

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Jahr 2014 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn angenommen wurde. Im Jahr 2004, nach Abschluss meiner Promotion, habe ich die ersten Überlegungen zum Thema „Terrorismus im Russischen Reich vor 1917“ angestellt. 18 Jahre, zwei Kinder, zwei Bücher und zahlreiche private und berufliche Stationen später liegt endlich das Buch vor, das aus meiner zweiten Qualifikationsschrift entstanden ist. Im Laufe der Zeit habe ich von den unterschiedlichsten Stellen und den verschiedensten Personen viel Unterstützung erfahren. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle danken. Alle zu erwähnen, die mir in dieser langen Zeit zur Seite standen oder ein Stück des Weges mit mir gegangen sind, wird nicht möglich sein, aber ich möchte doch einige Menschen und Institutionen hervorheben. Relativ am Anfang meiner Arbeit, im Jahr 2006, konnte ich gleich einen Glücksfall verbuchen: Ich durfte in den Archiven des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam forschen. Dort fiel mir ein Album mit Karikaturen aus der Sammlung des Sozialrevolutionärs Minarchorjan in die Hände, das mich sofort faszinierte. Diese Karikaturen haben meine Arbeit seitdem begleitet, sie wurden viel präsentiert und diskutiert und haben immer wieder erneuerte Interpretationen erfahren. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass eine dieser Karikaturen mit dem Titel „Keine Parasiten mehr!!! Das sicherste Mittel zur Vernichtung schädlichen Ungeziefers“ auf der Titelseite des vorliegenden Buches abgedruckt ist. Sie zeigt die Vielfältigkeit und Kreativität terroristischer Kommunikationsformen, indem sie eine Werbeanzeige persifliert, und verweist zugleich auf das verstörende Menschenbild der Terrorist*innen, denen ihre Gegner*innen als „Ungeziefer“ galten, sowie auf die Faszination, die Waffen, besonders Pistolen und Bomben, auf die terroristische Bewegung im Russischen Reich vor 1917 und ihre Anhänger*innen ausübte. Ich danke dem Team des IISG für die Unterstützung damals und auch für die Hilfe bei der Reproduktion der entsprechenden Abbildungen für die Drucklegung. Weitere Archive besuchte ich in Moskau, Kiew und St. Petersburg mit der Hilfe der Fritz-Thyssen-Stiftung. In St. Petersburg hat Prof. Dr. Julia Safronova mich bei meinen Archiv-Recherchen unterstützt. In Kiew stand Dr. Kateryna Kobchenko mir mit Rat und Tat freundschaftlich zur Seite. Das Gleichstellungsbüro der Universität

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Vorwort

Bonn half mir in der Habilitationsphase mit den verschiedenen Möglichkeiten, die das Maria von Linden-Programm zur Förderung und finanziellen Unterstützung von Nachwuchswissenschaftlerinnen bereithielt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) förderte mich mit dem Instrument des „Wissenschaftlichen Netzwerkes“, das wunderbare Möglichkeiten zur Veranstaltung von Workshops und für Publikationen eröffnete und Kooperationen über die Grenzen der Fächer hinweg ermöglicht hat. Im Jahr 2016 gewährte sie mir ein „Heisenberg-Stipendium“. All diesen Institutionen und Personen sei für ihre finanzielle und ideelle Förderung mein herzlichster Dank ausgesprochen. Für die lang anhaltende und bis heute fortdauernde Unterstützung über die Grenzen dieses Projektes hinaus möchte ich meinem langjährigen Mentor Prof. Dr. Dittmar Dahlmann danken, der mich bereits während des Studiums für das Fach Osteuropäische Geschichte begeisterte und der meine Doktorarbeit sowie meine Habilitation betreut hat. Er stand nicht nur mit Rat und wertvollen Impulsen an meiner Seite, sondern er hat mir vorgelebt, wie eine gute Gemeinschaft von Studierenden, Mitarbeitenden und Professor*innen im akademischen Alltag funktionieren kann. In unserer Bonner Abteilung für Osteuropäische Geschichte, bei den vielen sozialen Zusammenkünften und vor allem im Kolloquium waren angeregte Diskussionen an der Tagesordnung, bei denen aber stets der Geist von Toleranz sowie gegenseitiger Wertschätzung und Unterstützung herrschte. Nicht zuletzt wegen dieser Offenheit gegenüber anderen Meinungen, Methoden und Zugängen, aber auch gegenüber neuen Themen (wie etwa der Sportgeschichte) ist Dittmar Dahlmann für mich in meiner derzeitigen Position als Professorin für Osteuropäische Geschichte bis heute Vorbild und Inspiration. Die Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn ist über zwei Jahrzehnte meine akademische Heimat gewesen. Sie war für mich als Studentin, als studentische Hilfskraft, als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin, als Doktorandin und Habilitandin immer der Ort für gute Gespräche, wichtige Fragen, gegenseitige Unterstützung und kollegiales Miteinander. Das Team hat sich zwar personell immer wieder verändert, aber dennoch über die Jahre hinweg seinen guten Teamgeist bewahrt. Immer noch an Ort und Stelle ist Ira Pehl, der ich stellvertretend für alle anderen für ihre langjährige Unterstützung danken möchte. Mein Dank gilt darüber hinaus auch den Bonner Mitgliedern meiner Habilitationskommission, dem Vorsitzenden Prof. Dr. Tilman Mayer sowie Prof. Dr. Uwe Baumann, Prof. Dr. Peters Geiss, Prof. Dr. Dominik Geppert, Prof. Dr. Joachim Scholtyseck, Prof. Dr. Manfred Grothen, Prof. Dr. Maximilian Lanzinner und Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Gephart. Im Laufe der Jahre hatte ich zahlreiche Gelegenheiten, meine Arbeit in den verschiedensten Kontexten zur Diskussion zu stellen. Für die vielen Anregungen, klugen Fragen und weiteren Denkanstöße danke ich vielen Kolleg*innen, von denen ich einige namentlich erwähnen möchte. Zunächst möchte ich besonders Prof. Dr. Frithjof Benjamin Schenk danken, mit dem ich 2010 das Themenheft der Jahrbücher für Geschichte Osteuropas zum Thema „Modern Times? Terrorism in Late Imperial Russia“

Vorwort

herausgegeben habe. Mit Dr. Felicitas Fischer von Weikersthal habe ich im Jahr 2016 ein Themenheft der Zeitschrift Osteuropa zu „Terrorismus und imperialer Gewalt“ konzipiert. Meinen Mitherausgeber*innen und den Autor*innen der beiden Bände verdanke ich viele wichtige Anregungen. Prof. Dr. Susanne Schattenberg und Prof. Dr. Martin Schulze Wessel haben mich in den Jahren nach Abschluss der Habilitation durch die Einladung zur Vertretung ihrer Lehrstühle entscheidend gefördert. Ihnen und den Teams an der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen und der Abteilung für Geschichte Osteuropas und Südosteuropas der LMU München sei für die kollegiale Aufnahme und für die gute Atmosphäre ebenfalls herzlichst gedankt. Susanne Schattenberg steht zusätzlich stellvertretend für den unterstützenden Kolleginnenkreis in der Osteuropäischen Geschichte, dem ich für die vergangene Kollegialität und Gastfreundschaft danke, während ich mich zugleich auf zukünftige Treffen und die weitere Zusammenarbeit freue. Zentral für die Weiterentwicklung meiner Thesen zum Terrorismus auch über die Habilitationsschrift hinaus war und ist meine Göttinger Kollegin Prof. Dr. Petra Terhoeven, die mich nicht zuletzt dazu ermutigt hat, das Konzept der „emotionalen Gemeinschaften“, das ich für meine Analyse des Terrorismus nutze, in meinen Texten expliziter zu machen. Ihr verdanke ich nicht nur zahlreiche gute Gespräche und wichtige Anregungen, sondern auch die Möglichkeit, mein Thema auf Konferenzen und in Publikationen, etwa im European History Yearbook von 2018 zum Thema „Victimhood and Acknowlegdement“ auch in Kontexten jenseits der disziplinären Grenzen der Osteuropäischen Geschichte vorzustellen. Petra Terhoeven steht auch stellvertretend für die überaus kollegiale und freundschaftliche Aufnahme in den Kolleg*innenkreis am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Universität Göttingen, wo ich seit 2017 tätig bin. Für die Entdeckung der Objektgeschichte und damit verbundene lange Nächte am Küchentisch in Göttingen danke ich auch Prof. Dr. Margarete Vöhringer. Ebenfalls für lange Abende in Göttingen, Bielefeld und Köln sowie generell für ihre Freundschaft möchte ich mich bei PD Dr. Kirsten Bönker bedanken. Auch Dr. Simone Mergen und Birgit Volk danke ich für ihre freundschaftliche Unterstützung in all diesen Jahren, ebenso wie für gute Ideen und die Durchsicht des Manuskriptes. Vor allem aber danke ich meinem Team, das in guten und in (vor allem durch die Corona-Pandemie verursachten) schlechten Zeiten Großartiges auf die Beine gestellt hat. Dieser Dank gilt vor allem Jennifer Frank und Thomas Vanghele, die beide die verschiedenen Fassungen der Arbeit geduldig und sorgfältig gelesen haben und mich bei der Vereinheitlichung von Fußnoten und der Fahnenkorrektur unterstützt haben. Aber auch allen anderen, die zur Professur für Neuere Geschichte Osteuropas in Göttingen gehören, sei für ihr großes Engagement und für ihre wertvolle Mitarbeit gedankt. Besonders bedanken möchte ich mich bei Dr. Maria Rhode, die uns in der manchmal hektischen Betriebsamkeit unserer Semester mit all ihrer Erfahrung und Gelassenheit die notwendige Ruhe gegeben hat.

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Vorwort

Dem Verband der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V. und seinem Vorsitzenden Prof. Dr. Martin Aust danke ich für die Aufnahme meines Buches in die Reihe „Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa“. Prof. Dr. Julia Obertreis und Dr. Moritz Florin haben mir wertvolle Hinweise zur Überarbeitung des Textes für die Drucklegung gegeben. Den Mitarbeiterinnen des Franz Steiner Verlages, die mich bei der Veröffentlichung unterstützt haben, gilt ebenso mein Dank. Insbesondere bedanken möchte ich mich bei Katharina Stüdemann und bei Josefine Algieri. Auf dem langen Weg, den ich von der Entstehung bis zur Veröffentlichung dieses Buches zurückgelegt habe, wurden immer wieder Pausen notwendig – sowohl aufgrund meiner Arbeit als auch wegen meiner Familie. Diese Pausen, in denen mein Mann Jakob und ich unsere Kinder Konrad und Oskar bekommen haben und in denen wir die Chance hatten, die beiden ein Stück auf ihrem Weg zu begleiten, waren und sind die intensivsten und schönsten Phasen in diesen letzten 18 Jahren. Deshalb gilt allen dreien mein allergrößter Dank. Meinem Mann Jakob ist dieses Buch gewidmet. Köln, im Oktober 2021 Anke Hilbrenner

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Terrorismus als Begriff und Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Phasen des Terrorismus im Russischen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Rezeptionsgeschichte: Die terroristische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der heroische Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeption im Westen: „Die Gerechten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nach der Zäsur von 1991 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragestellung: Voraussetzungen, Methoden, Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . Terrorismus als Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akteur*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotional turn: Der Schrecken in der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Kontexte von Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ort des Terrorismus: Die Straße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentrum und Peripherie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Aufbau und zu den Quellen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 13 17 21 23 24 28 30 30 32 35 36 39 40 41 43

...................................... Dimitrij Karakozov: Der erste Terroranschlag im Russischen Reich . . . . . . . Ideologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die revolutionäre Bewegung seit den 1860er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Studierendenbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gang ins Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewalt als Sprache der Straße: Der Kazaner Platz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vera Zasulič: Die Audienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peripherie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Valerian Osinskij: Die Erfindung des „Exekutiv-Komitees“ . . . . . . . . . . . Sergej Kravčinskij: Die Straße als idealer Ort des Terrorismus . . . . . . . . . . . .

49 50 53 57 58 60 64 68 76 78 81

1.

Von der Peripherie ins Zentrum

10

Inhaltsverzeichnis

Zentrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Der Anschlag auf Dimitrij Kropotkin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Der Anschlag auf Aleksandr Drentel′n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Alesksandr Solov′ev: Attentat auf Alexander II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Narodnaja volja. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Attentate auf den Zaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Der Anschlag auf den Zarenzug vom 18. und 19. November 1879 . . . . . . . 98 Die Explosion im Winterpalast am 5. Februar 1880 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Die kommunikative Ausstrahlung der Attentate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Zurück auf die Straße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Der 1. März 1881 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Das Blut des Zaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Die kommunikative Ausstrahlung des 1. März 1881 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Sof′ja Perovskaja: Die Hinrichtung der „Zarenmörder“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Die Pogrome von 1881–1882 im terroristischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Epilog: Der 1. März 1887 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 2.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Universitätsstreik: Die Anfänge der Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Das Attentat von Pёtr Karpovič auf Nikolaj Bogolepov . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Gewalt auf der Straße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Das Attentat von Stepan Balmašev auf Dimitrij Sipjagin . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Grigorij Geršuni und die zentrale Kampforganisation der PSR . . . . . . . . . . . 186 Terrorismus an der Peripherie: Das Attentat von Hirš Lekert auf Viktor von Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Das Attentat von Foma Kočura auf Fürst Ivan Michajlovič Obolenskij . . . . 206 Das Attentat von Egor Dulebov auf Nikolaj Bogdanovič . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Die „heroische Phase“ der SR-Kampforganisation und der Verräter Evno Azef . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Der Pogrom von Kišinev . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 1. „Eine Bombe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 2. „Fortwährend beobachten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Die kommunikative Ausstrahlung des Attentats auf Pleve . . . . . . . . . . . . 254 Das Attentat der Kampforganisation auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 „Die Gerechten“ (Albert Camus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Die kommunikative Ausstrahlung des Attentats auf Sergej Aleksandrovič . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

Vom Zentrum an die Peripherie

Inhaltsverzeichnis

3.

Die Inflation des Terrorismus an der Peripherie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

303 Sozialrevolutionärer Terrorismus an der Peripherie im Jahr 1905 . . . . . . . . . . 307 Odessa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Revolutionär*innen in Odessa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Anarchist*innen – Machaevcy. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Zubatovščina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 1905 in Odessa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Die Juni-Katastrophe: Der Panzerkreuzer Potemkin . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Pogrom: Die „schwarzen Tage“ im Oktober 1905. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Anarchistischer Terrorismus in Odessa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Dezember 1905 in Odessa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Das Attentat auf das Porzellangeschäft von Israel Zusman . . . . . . . . . . . . 331 Moskauer Aufstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Generalstreik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Der Bombenanschlag auf das Café Libman am 17. Dezember 1905 . . . . . 339 Die kommunikative Ausstrahlung des Attentats auf das Café Libman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Epilog: Die Inflation des Terrorismus ab Dezember 1905 . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Kontrollverlust der zentralen Akteur*innen des Terrorismus. . . . . . . . . . 348 Ökonomischer Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Aktionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Repression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

Zum Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

359

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Archive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Zeitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

Anhang

Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Terrorismus als Begriff und Gegenstand

Am Anfang unseres Jahrhunderts steht der Anschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001, und spätestens seitdem ist der Terrorismus in unserer Gegenwart eine allgegenwärtige Bedrohung. Terroristische Anschläge erschüttern Gesellschaften in allen Ländern der Welt, nicht nur im Nahen und Fernen Osten, in Afrika, Amerika oder an den Peripherien des ehemaligen sowjetischen Imperiums. Auch in den europäischen Metropolen, in London, Paris und Berlin erregen terroristische Attentate die Öffentlichkeit. Selbst in der Provinz, etwa in Halle an der Saale oder im hessischen Hanau, töten terroristische Einzeltäter*innen unschuldige Menschen. Ihre Motive sind ebenso vielfältig, wie manchmal kaum zu ermitteln. Es sind vor allem die Gewalt und die Bedrohung, die von der Allgegenwart und Wahllosigkeit des Terrorismus ausgehen, die uns vermutlich in ähnlicher Weise erschüttert, wie sie die Menschen im Russischen Reich im 19. Jahrhundert bewegt hat. Die Geschichte des russländischen Terrorismus zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen, ist also durchaus vielversprechend, weil sie bei den Leser*innen auf einen Bezugsrahmen stößt, in den sich die vergangenen Ereignisse und ihre Analyse einfügen können. Zugleich aber ist gerade dieser vermeintliche Aktualitätsbezug problematisch, weil die Leser*innen von dieser Geschichte in besonderer Weise erwarten, dass sie den moralischen Anforderungen ihrer gegenwärtigen Position zum Terrorismus genügt.1 Das Dilemma beginnt bereits bei dem zentralen Begriff „Terrorismus“, über den schon Walter Laqueur gesagt hat, dass er nicht definierbar sei.2 Dennoch hat der Soziologe Peter Waldmann eine Definition vorgelegt, die einige wichtige Aspekte des historischen Phänomens Terrorismus berücksichtigt:

Bernard Arthur Owen Williams / Joachim Schulte, Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Frankfurt am Main 2003, S. 366. 2 Walter Laqueur, Terrorismus, Kronberg 1977, S. 5. 1

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Einleitung

Unter Terrorismus sind planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge aus dem Untergrund gegen eine politische Ordnung zu verstehen. Sie sollen vor allem Unsicherheit und Schrecken verbreiten, daneben aber auch Sympathie und Unterstützung erzeugen.3

Terrorismus ist also eine Taktik des gewaltsamen Kampfes. Sie wird unabhängig vom ideologischen oder religiösen Hintergrund der Taten eingesetzt, um einen kommunikativen Zweck zu erfüllen. Doch der analytische Gehalt des Begriffes unterscheidet sich von seinem häufig normativen Gebrauch in den Quellen.4 Dort wird der Begriff „Terror, Terrorismus“ vor allem zur „abgrenzenden Feindbezeichnung“ genutzt.5 In diesem Sinne hat das Bonmot, dass dieselben Personen, die den einen als Widerständler*innen oder Freiheitskämpfer*innen gelten, aus einer anderen Perspektive Terrorist*innen sein können, durchaus seine Bedeutung.6 Sogar Osama bin Laden, der meistgesuchte Terrorist des frühen 21. Jahrhunderts, war für viele Menschen ein Kämpfer für die Sache der unterdrückten Muslim*innen. Für die Geschichte des russländischen Terrorismus gilt zudem, dass der Begriff „Terrorismus“ neben dieser für die Fremdzuschreibung typischen abwertenden Abgrenzung ein Quellenbegriff im Sinne der positiven Selbstidentifizierung ist. Die Memoiren des berühmtesten Mitglieds der Kampforganisation der Partei der Sozialrevolutionär*innen (PSR) Boris Savinkov, die er „Erinnerungen eines Terroristen“ genannt hat,7 oder das „Lied der Terroristen“, das den Terrorist*innen des 19. Jahrhunderts zugeordnet werden kann,8 geben davon beredtes Zeugnis. Noch deutlicher fällt das Bekenntnis der verschiedenen anarchistischen Gruppierungen zum „Terrorismus“ aus – durchaus auch unter Verwendung dieses Begriffes.9 Zudem wurden in der russländischen Öffentlichkeit Ereignisse als terroristisch bezeichnet, die in einem anderen Kontext eher als kriminelle Handlungen oder als Massengewalt zu bezeichnen wären.10 Dennoch „schockierten“ sie die Menschen, sprachen Nachahmer*innen an und etablierten die Praxis, in gesellschaftliche Aushandlungsprozesse mit Gewalt einzugreifen. Der russländische Terrorismus der 1870er und

Peter Waldmann, Terrorismus: Provokation der Macht, Hamburg 2011, S. 9. Zum Forschungsstand einer Begriffsgeschichte des Terrorismus vgl. Michael C. Frank, The cultural imaginary of terrorism in public discourse, literature, and film. Narrating terror, New York, London 2017, S. 35–74. 5 Rudolph Walther, Terror, Terrorismus, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, Stuttgart 1972–1997, S. 323–444, hier S. 324. 6 Vgl. zu dieser Diskussion auch: Carola Dietze, Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Russland und den USA 1858–1866, 12016, S. 71. 7 Boris V. Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, Nördlingen 1985. 8 Pesnja terroristov, vor 1900, IISG, Archiv PSR f. 75. 9 Paul Avrich, The Russian anarchists. The first full history of the anarchist movement in Russia, Princeton, NJ 1967, S. 35–71. 10 Vgl. zu den Übergängen von revolutionärer und krimineller Gewalt z. B. Joan Neuberger, Hooliganism. Crime, culture, and power in St. Petersburg, 1900–1914, Berkeley 1993. 3 4

Terrorismus als Begriff und Gegenstand

1880er Jahre fand auf diese Weise zahlreiche Nachahmer*innen und eskalierte um 1905 herum zum Massenterror. Deshalb muss das Auseinanderfallen von analytischem Terrorismusbegriff und dem „Terrorismus“ in den Quellen immer mitbedacht werden.11 Der russische Begriff „Terror“ bezog sich zunächst auf die Schreckensherrschaft des Wohlfahrtsausschusses während der Französischen Revolution in den Jahren 1793 und 1794: „La terreur“.12 Die Terrorist*innen stellten sich also mit ihrer Selbstbezeichnung in die Tradition der Französischen Revolution.13 Der Rückgriff auf die Französische Revolution einte die russländische revolutionäre Bewegung weit über die Terrorist*innen hinaus. So war die sogenannte „Arbeitermarseillaise“, deren Text im Jahr 1875 von Petr Lavrov ins Russische übertragen und an die politische Situation im Russischen Reich angepasst wurde, sehr populär und wurde zur Nationalhymne nach der Februarrevolution 1917. Dass Gewalt in der Tradition der Französischen Revolution vor allem unter Revolutionär*innen als eine entschiedene Komposition aus Tatkraft und Opfermut heroisiert wurde, ist keine Eigenart der Rezeption terroristischer Gewalt im Zarenreich. Dass diese Wertschätzung aber sowohl innerhalb der kollektiven Erinnerung als auch in der Historiographie das 20. Jahrhundert überdauerte, macht die Geschichte des russländischen Terrorismus zu einem besonders interessanten Fall. Der Gewaltbegriff erfuhr im Laufe des 20. Jahrhunderts eine immer negativere Konnotation. Heroisierung von Gewalt, wie etwa die Begeisterung für nationale Kriege, war spätestens seit dem Vietnamkrieg in weiten Teilen der westlichen Gesellschaften in Verruf geraten. Die Zustimmung zu revolutionärer Gewalt flammte am Rande der sogenannten 68er-Bewegung kurz auf, jedoch sympathisierten auch in den 1970er Jahren nur Minderheiten etwa mit der „Bewegung 2. Juni“, den Roten Brigaden oder der RAF.14 Dagegen erschienen die russländischen Terrorist*innen stets als Märtyrer*innen, die an die „untergangene Welt“ der Revolution erinnerten – bevor das Erbe der Revolution von den Bol′ševiki nachhaltig diskreditiert wurde. Die historischen Narrative sind jedenfalls geprägt von einer Heroisierung der Terrorist*innen im russischen Zarenreich. Nach 9/11 und generell in Zeiten des islamischen Terrorismus

Vgl. dazu auch den Forschungsüberblick: Florin Moritz, Auf dem Weg zu einer Globalgeschichte politischer Gewalt. Ein Forschungsbericht zur Geschichte des Terrorismus im langen 19. Jahrhundert (2019). http://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-4254 (16. August 2020). 12 Terror’, in: F. A. Brokgauz / I. A. Efron (Hg.), Ėnciklopedičeskīj slovar′, Bd. 65, S.-Peterburg 1890–1904, S. 69–81. 13 Vgl. dazu auch die Bildsprache in den politischen Karikaturen der russischen revolutionären Untergrundzeitungen, in denen etwa eine Terroristin mit Jakobinermütze abgebildet wird, oder in der die Bomben der russländischen Terrorist*innen in die Tradition der Guillotine gestellt werden. Vgl. die Sammlung revolutionärer Bilder und Karikaturen in: V. S. Minachorjan, Album with prints of photographs of SRs and Narodovol′cy and their biographical data, of their forerunners, of penal colonies, and caricatures, IISG, Archiv PSR f. 596. Zur Gewalt in französischer und russländischer Revolution vgl. auch: Arno J. Mayer, Furies. Violence and terror in the French and Russian revolutions, Princeton 2002. 14 Vgl. dazu ausführlich: Petra Terhoeven, Deutscher Herbst in Europa. Der Linksterrorismus der siebziger Jahre als transnationales Phänomen, München 2016. 11

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Einleitung

ist wenig von einer romantisierenden Rezeption des Terrorismus geblieben. Das Wort „Terrorismus“ ist wieder zum Kampfbegriff der Gegenwart geworden. Terrorist*innen verkörpern die ultimative Bedrohung unserer Werte. In diesem Spannungsfeld von Heroisierung und Dämonisierung gehen von der Erforschung der Geschichte des russländischen Terrorismus vor 1917 Impulse für eine allgemeine Geschichte des Terrorismus aus.15 Der Terrorismus galt im späten 19. Jahrhundert als „russische Methode“. Zwar war die symbolträchtige Ermordung führender Politiker spätestens seit dem Attentat von Charlotte Corday auf Jean-Paul Marat ein bekanntes Phänomen innerhalb der europäischen revolutionären Bewegung, aber dennoch hielt sich die Wahrnehmung des Russischen Reichs als „Wiege des Terrorismus“ hartnäckig.16 Diese Verortung des Terrorismus sagt mehr über die europäische Wahrnehmung des Russischen Reiches aus als über die Herkunft des Terrorismus. Terrorismus war im 19. Jahrhundert ein transnationales Phänomen, die Gewalttaten von Revolutionär*innen informierten und inspirierten einander von Paris über Harpers Ferry, von Washington nach St. Petersburg.17 Terrorismus, das soll also vorweggenommen werden, war nichts spezifisch „Russisches“. Der Begriff der „russischen Methode“ zeigt etwas ganz anderes: Terroristische Gewalt beflügelte die Wahrnehmung des Russischen Reiches als Peripherie Europas. Gewalt markierte aber auch die Peripherie im Russischen Reich selbst. Terroristische Gewalt war also ein wichtiger Baustein im Prozess, Peripherie – und damit auch das Zentrum und seine wechselseitigen Beziehungen – zu konstruieren. Um diesem Prozess auf die Spur zu kommen, wird die Untersuchung vom Phänomen des Terrorismus an sich ausgehen. Es stehen also nicht spezielle Ereignisse oder einzelne Akteure im Vordergrund, sondern es geht um alle Ereignisse, die unter dem Quellenbegriff „Terrorismus“ im vorrevolutionären Russischen Reich erfasst werden können. Angesichts der großen Anzahl terroristischer Ereignisse muss exemplarisch vorgegangen werden, dennoch werden erstmalig beide Phasen des Terrorismus und alle Gruppen von Akteuren untersucht. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf der Interaktion zwischen Peripherie und Zentrum, und so geraten die zentralen genauso wie die peripheren terroristischen Ereignisse in den Blick. Aufgrund der Einsicht, dass es sich bei terroristischen Ereignissen in erster Linie um Kommunikationsakte handelt, stehen bei der Untersuchung auch nicht vermeintliche politische Motive im Vordergrund, sondern sowohl die kommunikative Intention der Ereignisse als auch ihre kommunikative Ausstrahlung. Dabei geht es vor allem um die

Ein Beispiel dafür wäre: Carola Dietze, Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Russland und den USA 1858-1866, Hamburg 12016. 16 Vgl. z. B. Steven G. Marks, How Russia shaped the modern world. From art to anti-semitism, ballet to bolshevism, Princeton 2003, S. 17. 17 Abermals: Dietze, Erfindung des Terrorismus, 12016. 15

Zwei Phasen des Terrorismus im Russischen Reich

Bedeutung, die den Ereignissen zugemessen wird. Diese kann sich von einer wie auch immer gearteten Intention z. T. deutlich unterscheiden. Die Interaktion zwischen Peripherie und Zentrum lenkt nicht nur den Blick auf die Konstruktion von Raumvorstellungen, sondern auch auf die diskursive Entstehung und wachsende Dynamik des Terrorismus. Die Entstehung des Terrorismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beruht auf einer komplexen Gemengelage, in der Ideen und Vorbilder ebenso eine Rolle spielen wie eine langsame Eskalation der Bereitschaft zur Gewalt durch ihren symbolischen Einsatz, sowohl durch die Obrigkeit als auch durch die revolutionäre Bewegung. Die Hauptrollen dabei spielen das Publikum, das Terrorismus überhaupt erst möglich macht, und das Streben der Akteur*innen, die „Massen“ für ihre „Sache“18 zu gewinnen. Zwei Phasen des Terrorismus im Russischen Reich

Die Geschichte des Terrorismus im Russischen Reich vor 1917 lässt sich in zwei Phasen einteilen.19 Die erste Phase begann in den 1860ern und kann als Inkubationsphase gelten: Am 4. April 1866 ereignete sich das erste terroristische Attentat auf den Zaren durch den Studenten Dimitrij Karakozov, der im Umfeld einer terroristischen Vereinigung – oder auch einer Zelle – aktiv war.20 In den 1870ern bildeten sich politische Gruppierungen der sogenannten Narodniki (Volkstümler), die um die Billigung des Terrorismus als politische Methode rangen. Aus dieser Diskussion heraus formierte sich die terroristische Gruppe Narodnaja volja (Volkswille), die 1879 damit begann, alle Kräfte auf die Ermordung des Zaren zu konzentrieren. Die Narodniki hofften, dass von der Ermordung des Zaren eine Signalwirkung auf das Volk (Narod) ausgehen werde, in deren Folge sich dieses erheben und die herrschenden Verhältnisse einer Umwälzung unterziehen werde. Es folgten eine Reihe spektakulärer Anschläge, so z. B. auf den Zug des Zaren im November 1879.21 Eine weitere Bombe explodierte im Winterpalais, und die Sicherheitslage galt als äußerst angespannt. Am 1. März 1881 schließlich verübten die Mitglieder des berüchtigten „Exekutivkomitees“ der Narodnaja volja unter der Führung von Sofja Perovskaja das tödliche Bombenattentat auf Alexander II., als dieser mit der Kutsche am Katharinenkanal in St. Petersburg entlangfuhr. Aber der Stephan Rindlisbacher, Leben für die Sache. Vera Figner, Vera Zasulic und das radikale Milieu im späten Zarenreich, Wiesbaden 2014. 19 Vgl. zu dieser Einteilung auch: Norman M. Naimark, Terrorism and the fall of imperial Russia, in: Terrorism and Political Violence 2 (1990), S. 171–192. 20 Vgl. dazu ausführlich: Claudia Verhoeven, The odd man Karakozov. Imperial Russia, modernity, and the birth of terrorism, Ithaca 2009. 21 Frithjof Benjamin Schenk, Attacking the empire’s Achilles heels. Railroads and terrorism in tsarist Russia, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 58 (2010), S. 232–253, hier S. 236–241. 18

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Einleitung

Kaiser war nicht das einzige Opfer der Terroranschläge; die ebenso gefürchteten wie bewunderten Terrorist*innen der Narodnaja volja ermordeten oder verletzten Polizeichefs, Gouverneure und Informanten. Nach der Ermordung Alexanders II. allerdings gelang es den Sicherheitskräften schließlich, die Narodnaja volja zu zerschlagen. Die „Erstmärzer“ genannten Attentäter*innen und ihre Helfer*innen wurden hingerichtet. Der Polizei gelang in den folgenden Jahren die Verhaftung der restlichen im revolutionären Untergrund verbliebenen Verschwörer*innen, und damit war dem Terrorismus für die nächsten zwei Jahrzehnte weitgehend die Grundlage entzogen. Die Ereignisse in dieser ersten Phase sind recht gut bekannt und werden meist assoziiert, wenn es um Terrorismus im Russischen Reich geht.22 Die zweite Phase in der Geschichte des russländischen Terrorismus begann im Jahr 1901. Sie kann als Phase der Inflation gelten: Vor allem die Sozialrevolutionär*innen beriefen sich auf die Tradition der Narodnaja volja und ermordeten zunächst hohe politische Funktionsträger als Repräsentanten des zarischen Regimes. Im Laufe der Folgejahre, besonders im Umfeld der Revolution von 1905 bis 1907, wurde Terrorismus zu einer Massenbewegung – sowohl was die Täter*innen als auch was die Reichweite und die Zahl bzw. Herkunft der Opfer angeht. Die erste Russische Revolution war von einer bis dahin beispiellosen Gewalteskalation geprägt, die ihren Schrecken auch  – wenn auch nicht nur  – aus der Ausbreitung des Terrorismus bezog. Neben den gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen revolutionärer Bewegung und Obrigkeit, Aufständen, Generalstreiks und Demonstrationen, die immer wieder blutig niedergeschlagen wurden, sowie der Einrichtung von Standgerichten, mit denen Revolutionär*innen nach dem Kriegsrecht verurteilt und hingerichtet wurden, erschütterte eine Welle von Pogromen das Reich, die in ihrer Brutalität alle bisherigen antijüdischen Ausschreitungen weit übertrafen. Allein in Odessa forderten Pogrome im Jahr 1905 über 1.000 Todesopfer. Auf dem Land versuchten Bäuer*innen, die Gutsbesitzer*innen durch Brandschatzung aus den Herrenhäusern zu vertreiben und das Land an sich zu bringen. Diese Welle der Gewalt bezeichneten Zeitgenossen*innen als „Agrarterror“.23 Trotz der begrifflichen Nähe des Agrarterrors zum Terrorismus handelte es sich dabei um ein anderes Phänomen. Die Gewalt der Bäuer*innen gegen die Großgrundbesitzer*innen war auf ihren materiellen Vorteil gerichtet. Sie hatte die Funktion, unmittelbare Veränderungen im konkreten Lebensumfeld der Täter*innen herbeizuführen, und resultierte häufig aus Streitigkeiten um Land oder Saatgut oder

Franco Venturi, Roots of revolution. A history of the populist and socialist movements in 19th century Russia, London 2001. 23 Manfred Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands. Agrarsozialismus und Modernisierung im Zarenreich (1900–1914), Köln, Wien 1978, S. 126–131. Zu den Bauern auch grundlegend: Heinz-Dietrich Löwe, Die Lage der Bauern in Russland 1880–1905. Wirtschaftliche und soziale Veränderungen in der ländlichen Gesellschaft des Zarenreiches, St. Katharinen 1987. 22

Zwei Phasen des Terrorismus im Russischen Reich

aus Krisen wie Hungersnöten. Brandstiftung und Zerstörung von landwirtschaftlichen Produktionsmitteln richtete sich dabei gegen deren Besitzer*innen. Auch wenn sie Angst und Schrecken unter den adligen Landbesitzenden verbreiteten, so zielten die Bäuer*innen doch nicht auf diese als abstrakt vorgestellte Gemeinschaft der „herrschenden Klassen“, wie es die Revolutionär*innen gerne gesehen hätten, sondern ganz konkret auf ihren Gutsbesitzer, seine Familie und gegebenenfalls seine Verwalter oder die jüdischen Pächter*innen von Schank- und Gewerberechten vor Ort. Eine „Signalwirkung“ hatten die Bäuer*innen nicht im Sinn. So vielfältig die Gewaltpraktiken in der Revolution von 1905 bis 1907 auch waren, der Terrorismus in den Städten hatte einen bedeutenden Anteil am kollektiven Blutrausch. Für die Jahre 1902 bis 1907 geht die Historikerin Anna Geifman von etwa 9.000 Opfern bei Terroranschlägen aus.24 Davon waren etwa die Hälfte im weitesten Sinne Repräsentant*innen des zarischen Staates, wobei das Spektrum vom einfachen Polizisten bis hin zum Innenminister oder Generalgouverneur reicht. Die andere Hälfte bestand aus Zivilist*innen bzw. zufälligen Opfern. Die Anschläge konzentrierten sich also nicht mehr allein auf die zentralen Funktionsträger des Zarenreichs, sondern eskalierten besonders an der Peripherie des Reiches im sogenannten bezmotivnyj terror (unmotivierter Terror), der sich gegen alles und jeden richten konnte. Bomben explodierten in kleinen Ladengeschäften, in Kaffeehäusern und Kinos.25 Auch die Akteur*innen veränderten sich. Es waren nicht mehr einige wenige Held*innen der revolutionären Bewegung, gebildete und opferbereite junge Leute, die von der revolutionären Jugend als Märtyrer*innen verehrt wurden, sondern eine Vielzahl namenlos Gebliebener, die sich manchmal in Unkenntnis des notwendigen Fremdwortes als „terrist“ bezeichneten26 und ohne ideologischen Überbau Bomben warfen, entführten und erpressten. Die Grenze zwischen politisch motivierten Gewalttaten und kriminell motivierten Beutezügen verschwamm. Neben den Sozialrevolutionär*innen waren es vor allem Anarchist*innen, die für eine Vielzahl von Terroranschlägen verantwortlich waren. Obwohl die marxistischen Sozialdemokrat*innen (SD) – sowohl Bol′ševiki als auch Men′ševiki – den Terrorismus als revolutionäre Taktik aus ideologischen Gründen ablehnten, waren vor allem an der Peripherie des Reiches die Übergänge zwischen den Parteien (vor allem zwischen SD, der Partei der Sozialrevolutionär*innen, kurz PSR, und Anarchist*innen) fließend, und Sozialdemokrat*innen beteiligten sich durchaus an Terroranschlägen und z. T. spektakulären

Anna Geifman, Thou shalt kill. Revolutionary terrorism in Russia, 1894–1917, Princeton, N. J. 1993, S. 21. Orlando Figes geht demgegenüber von 17.000 Opfern aus: Orlando Figes, Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, Berlin 1998, S. 151. 25 Vgl. zu der Entwicklung des Terrorismus gegen unbeteiligte Passanten in Frankreich auch: John M. Merriman, The dynamite club. How a bombing in Fin-de-Siecle Paris ignited the age of modern terror, New Haven 2016. 26 Vgl. zur Begegnung mit einem Straftäter, der sich selbst als „terrist“ bezeichnete, die Erinnerungen von Mikhail Shneerov: Shneerov, Mikhail Markovich, Memoirs, 1950–1959, unpaginiert, in: Columbia rare books and manuscripts library, Ms Coll/Shneerov. 24

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Einleitung

Expropriationen (unter diesem Begriff stilisierten die Terrorist*innen Diebstahl und Überfälle zu revolutionären Taten). Sozialdemokrat*innen bildeten Kampfgemeinschaften mit den Sozialrevolutionär*innen, um innerhalb dieser Gruppen terroristische Aktionen durchzuführen. Es entstanden Abspaltungen der revolutionären Parteien, die nur das Ziel verfolgten, den Terrorismus ins ganze Land zu tragen, wie die anarchistischen Bezprimirnye (die Kompromisslosen) oder die von der PSR abgespaltenen Maximalist*innen. Die Biographien einzelner Terrorist*innen zeigen, dass die Mitgliedschaft bei unterschiedlichen Parteien im Laufe eines revolutionären Lebens mehrfach wechseln konnte. Auch die zahlreichen nationalen Minderheiten im Russischen Reich nutzten Terroranschläge für ihre nationale Befreiungsbewegung, wobei die Trennlinie zwischen nationalen und sozialrevolutionären Motiven nicht immer klar gezogen werden kann. Auch deshalb eskalierte an der Peripherie des Reiches die Gewalt in stärkerem Maße zum Massenterrorismus als im Zentrum. Schließlich bedienten sich sogar rechte Gruppierungen wie die Sojuz Russkago Naroda (SRN; Union des Russischen Volkes) des taktischen Mittels des Terroranschlags als Instrument, um linke oder liberale Politiker aus dem Weg zu räumen und damit Zeichen zu setzen. Diese zweite Phase ebbte mit der endgültigen Niederschlagung der russischen Revolution von 1905 im Jahre 1907 ab, auch wenn es in den Jahren danach immer wieder einzelne Terroranschläge – oder Anschläge, die als solche wahrgenommen wurden – gegeben hat.27 Obwohl diese zweite Phase in der Geschichte des russländischen Terrorismus vor 1917 viel mehr Opfer forderte als die erste und auch eine weit größere Anzahl von Akteur*innen involvierte, ist sie im Vergleich zur ersten Phase viel weniger bekannt und erforscht.28 Es sind jedoch beide Phasen, welche die Geschichte des Terrorismus ausmachen, und deshalb sollen im Folgenden auch beide Phasen untersucht und in Beziehung gesetzt werden. Die meisten Arbeiten zur Geschichte des Terrorismus konzentrieren sich auf die eine oder andere Phase, auf einzelne Persönlichkeiten oder spezielle politische Gruppen, wie Sozialrevolutionär*innen oder die Narodnaja volja. Doch obwohl diese Untersuchung mit der Perspektive auf das Phänomen Terrorismus, das beide Phasen und alle Akteure umfasst, Neuland betritt, kann auf zum Teil hervorragende Vorarbeiten und umfangreiches Quellenmaterial zurückgegriffen werden.29 Ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte erhellt jedoch auch den Umstand, dass die russländischen Terrorist*innen in der retrospektiven Betrachtung meist emphatisch als Held*innen gewürdigt wurden. Vgl. z. B. das Attentat auf Petr Stolypin im Jahre 1911: Sergej A. Stepanov, Zagadki ubijstva Stolypina, Moskva 1995; Pavel A. Požigajlo (Hg.), Tajna ubijstva Stolypina, Moskva 2003. 28 Anna Geifman legte im Jahr 1993 die erste und bislang einzige Gesamtdarstellung zur zweiten Phase vor und verwies dabei auf dieses Desiderat: Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 3. 29 Vgl. dazu vor allem den Forschungsüberblick in: Anke Hilbrenner / Frithjof Benjamin Schenk, Introduction: Modern times? Terrorism in late tsarist Russia, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 58 (2010), H. 2, S. 161–171. 27

Zur Rezeptionsgeschichte: Die terroristische Tradition

Zur Rezeptionsgeschichte: Die terroristische Tradition30

Die ersten Autor*innen, die das Bild vom russländischen Terrorismus prägten, waren die Terrorist*innen selbst. Bereits in der ersten Phase der russländischen Terrorismusgeschichte verfasste der ins Ausland geflohene Attentäter Sergej Kravčinskij (auch Stepnjak genannt) feuilletonistische Betrachtungen über die terroristische Szene im Russischen Reich. Diese wurden unter dem Titel La Russia soutterranea (Untergrund Russland) bereits 1882 in italienischer Sprache veröffentlicht und bald darauf in zahlreiche Sprachen übersetzt.31 Die darin publizierten „revolutionären Profile“ machten aus den Terrorist*innen der Narodnaja volja Held*innen der revolutionären Jugend und Celebrity icons ihrer Zeit.32 Bereits 1883 erschien die ebenfalls mit beträchtlichem Einfühlungsvermögen verfasste und äußerst detaillierte Arbeit von Alphons Thun über die „Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland“, die im Sinne eines deutschen akademisch geprägten Sozialismus, des so bezeichneten „Kathedersozialismus“, die Entstehung und Motive des russländischen Terrorismus nachzeichnete.33 Zudem veröffentlichten zwei berühmte Terroristinnen ihre Memoiren: Vera Zasulič, die als „Racheengel“34 1878 ein Attentat auf den Generalgouverneur von St. Petersburg, Fedor Trepov, verübte und trotz dieser Tat von einem Geschworenengericht freigesprochen wurde,35 und die als „Venus der Revolution“36 bekannte Vera Figner, Mitglied des Exekutivkomitees der Narodnaja volja und konspirativ an der Ermordung Alexanders II. beteiligt.37 Obwohl Vera Zasulič sich nach ihrer Tat vom Terrorismus ab- und der marxistisch geprägten Sozialdemokratie zuwandte, war sie aufgrund ihres spektakulären Freispruchs für ihre Zeitgenoss*innen weltweit die berühmteste russische Terroristin. Vera Figner war außerdem nach 1917 in der Sowjetunion als Redakteurin der Zeitschrift Katorga i ssylka (Zwangsarbeit und Verbannung) für die Überlieferung der vorrevolutionären radikalen Bewegung in den Zeiten nach der Oktoberrevolution verantwortlich und prägte so nochmals nachdrücklich die Tradition der russländischen Terrorist*innen.

Lynn E. Patyk, Remembering „The Terrorism“. Sergei Stepniak-Kravchinskii’s „Underground Russia“, in: Slavic Review 68 (2009), S. 758–781. 31 Sergej M. Kravčinskij, Grozovaja tuča Rossii, Moskva 2001, S. 23–233. 32 Vgl. zu den Terrorist*innen als Celebrity icons vor allem den Artikel: Patyk, Remembering „The Terrorism“, 2009, S. 758–781 und ausführlicher zum literaturhistorischen Kontext die Monographie: Lynn E. Patyk, Written in blood. Revolutionary terrorism and Russian literary culture, 1861–1881, Madison 2017. 33 Alphons Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, Leipzig 1883. 34 Ana Siljak, Angel of vengeance. The girl assassin, the governor of St. Petersburg and Russia’s revolutionary world, New York 2008. 35 Vera Zasulič, Vospominanija, Moskva 1931. 36 Lynn E. Patyk, Dressed to kill and die. Russian revolutionary terrorism, gender and dress, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 58 (2010), S. 192–209, hier S. 201. 37 Vera Figner, Nacht über Russland. Lebenserinnerungen, Berlin 1928. 30

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Einleitung

Die berühmtesten Memoiren aus der zweiten Phase der russländischen Terrorismusgeschichte sind die bereits erwähnten „Erinnerungen eines Terroristen“ von Boris Savinkov,38 welcher der Kampforganisation der PSR angehörte und unter anderem an den Verschwörungen zur Ermordung des Innenministers Vjačeslav Pleve 1904 und des Großfürsten Sergej Aleksandrovič 1905 beteiligt war. Savinkov veröffentlichte zudem autobiographische Romane.39 Teile der Erinnerungen erschienen noch in den Jahren vor der Oktoberrevolution und des Bürgerkrieges, dessen Verlauf ihn auf die Seite der Weißen Bewegung brachte. Er wurde schließlich von den Bol′ševiki gefangen genommen und kam in der Ljubanka, dem Moskauer Hauptquartier der sowjetischen Geheimpolizei, die damals Tscheka (VČK) hieß, im Jahr 1925 zu Tode. Zudem existieren die Memoiren der berühmten Sozialrevolutionäre Viktor Černov,40 Grigorij Geršuni41 und Vladimir Burcev. Burcev, der bereits als Mitglied der Narodnaja volja inhaftiert wurde und später im Umfeld der PSR aktiv war, galt als „Historiker der Terroristen“. Er gab unter anderem die Zeitschrift Byloe (Vergangenes) heraus und publizierte einen revolutionären Almanach. Zudem sammelte er belastendes Material gegen die in die PSR eingeschleusten Informanten der Polizei. Sein berühmtester Fall war der des Provokateurs Evno Azef, der bei den Sozialrevolutionär*innen bis in die Leitung der Kampforganisation aufgestiegen war.42 Auch Burcev war ein erbitterter Gegner der Bol′ševiki und nach 1917 in der Weißen Bewegung aktiv.43 Zahlreiche wertvolle Quellen der Terrorismusgeschichtsschreibung sind also vom Standpunkt der Terrorist*innen selbst verfasst.44 Diese relative Einseitigkeit der Sichtweise wog vor allem für die Forschung vor 1991 schwer, als der Archivzugang in der damaligen Sowjetunion beschwerlich war und westliche Historiker*innen vor allem auf Zeugnisse aus dieser Perspektive zugreifen konnten. Zeitgenössische Quellen, die eine kritische Sicht auf die Terrorist*innen vermittelten, waren vor allem in der literarischen Tradition präsent. Fedor Dostoevskij verarbeitete seine Erfahrungen mit dem Terrorismus der ersten Phase sowohl in seinem Roman „Die Dämonen“45, der in mehreren Teilen von 1871 bis 1872 im Russkij vestnik (Russischer Bote) erschien, als auch in dem epochalen Werk „Die Brüder Karamasov“ (1879/80). Andrej Belyjs „St. Petersburg“ (1913/14) war von Savinkov inspiriert. Im Westen warf der aus dem Russischen Reich emigrierte Joseph Conrad einen Blick auf die terroristischen Ereignisse in seiner ehemaligen Heimat mit seinen Romanen „Secret Agent“ (1907) und „Under Western Eyes“ (1911). Doch auch diese z. T. kritischen Perspektiven trugen zum Mythos des 38 39 40 41 42 43 44 45

Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985. Boris V. Savinkov, Das fahle Pferd. Aufzeichnungen eines Terroristen, Kopenhagen 1909. Viktor Černov, Pered burej, New York 1953. Grigorij Geršuni, Iz nedavnego prošlogo, Paris 1908. Anna Geifman, Entangled in terror. The Azef affair and the Russian revolution, Wilmington, Del 2000. Vladimir L. Burcev, V pogone za provokatorami. [Nachdruck], Moskva 1989. Osip S. Minor, K 50-letnemu jubileju „narodnoj voli“, o. O. 1929. Vgl. dazu ausführlich: Patyk, Written in blood, 2017, S. 103–148.

Zur Rezeptionsgeschichte: Die terroristische Tradition

Terrorismus bei und änderten nichts daran, dass ein relativ positives Bild der Terrorist*innen in der retrospektiven Betrachtung verbreitet ist. Der heroische Terrorismus

Eine Schlüsselfigur für die russländische Terrorismusgeschichtsschreibung war Isaak Steinberg. Er gehörte ebenfalls der PSR an und war während der Koalition der Bol′ševiki mit den linken Sozialrevolutionär*innen von Dezember 1917 bis März 1918 Volkskommissar für Justiz der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR). Bereits 1923 musste er jedoch die Sowjetunion, wo ihm Repressionen drohten, verlassen.46 Im Exil in Berlin verfasste er u. a. eine Monographie über „Gewalt und Terror in der Revolution“.47 In diesem Text würdigte er den vorrevolutionären Terrorismus der Narodnaja volja und der Sozialrevolutionär*innen als „heroisch“48 und kontrastierte ihn mit dem repressiven Staatsterror der Bol′ševiki: Gibt es eine größere Lästerung als den Vergleich des staatlichen „roten Terrors“ mit dem heldenhaften Terror aus dem Zeitalter der Revolutionsvorbereitung, mit dem Terror der Vera Figner, der Gerschunis und Ssasonows, der Kaljajews und Spiridonowas?49

Die Gegenüberstellung der verzweifelten Taten Einzelner, die gegen den Staat und zum (vermeintlichen) Wohle der Bevölkerung mit Hilfe von mehr oder weniger gezielten Gewaltaktionen kämpften, und des systematischen „Terrors“ des Staates gegen seine eigene Bevölkerung prägte im Folgenden die Rezeptionsgeschichte des russländischen Terrorismus. Angesichts der Monstrosität der sowjetischen Massenverbrechen  – in der neueren Forschung meist als „Terror“ bezeichnet50  – , erschienen die politischen Gewalttaten, welche einzelne Terrorist*innen vor 1917 ausgeübt hatten – hier wird in der Forschung der Begriff „Terrorismus“ statt „Terror“ verwendet – marginal, und das dadurch verursachte Leid wurde überlagert von dem Opferwillen der jugendlichen Täter*innen selbst. Diese galten Steinberg als Held*innen, weil sie nicht selten das eigene Leben riskierten. In der Sowjetunion blieb die Überlieferung zur Geschichte des vorrevolutionären Terrorismus bis in die 1930er Jahre ambivalent. Während die Sozialrevolutionär*innen,

Vgl. zu Steinberg ausführlich: Tobias Grill, Isaak Nachman Steinberg: „Als ich Volkskommissar war“ oder „Eine soziale Revolution, die die Rechte ihrer Klassengegner verteidigt – das wäre eine große moralische Lehre der Menschlichkeit gewesen!“, in: Nordost-Archiv 23 (2014), S. 141–167. 47 Isaak N. Steinberg, Gewalt und Terror in der Revolution. Oktoberrevolution oder Bolschewismus, Berlin 1931. 48 Ebd., S. 181. 49 Ebd. 50 Jörg Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003. 46

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allen voran die Lenin-Attentäterin Fanny Kaplan,51 den Bol′ševiki als Staatsfeind*innen galten, evozierte die Geschichte der Narodnaja volja lebhafte Debatten über die Frage, ob diese frühe radikale Bewegung als Vorläufer der Bol′ševiki gelten konnte oder ob es sich nicht vielmehr um eine Gruppe von privilegierten jungen Leuten handelte, die bürgerliche Reformen mit der Hilfe von Bomben zu erzwingen suchten. In den 1920er Jahren erschienen noch zahlreiche Forschungsarbeiten und Quelleneditionen.52 Zudem überlieferte die Gesellschaft ehemaliger politischer Zwangsarbeiter,53 der wiederum in der Sowjetunion gebliebene ehemalige Terrorist*innen – wie z. B. die bereits erwähnte Vera Figner – selbst angehörten, wichtige Quellen in den Zeitschriften Katorga i ssylka und Krasnyj archiv (Rotes Archiv). Vor allem um den 50. Jahrestag der Gründung der Narodnaja volja 1929 erreichte die ohnehin rege Publikations- und Forschungstätigkeit einen Höhepunkt.54 Mit dem Erstarken des Stalinismus auch in der Wissenschaft verklang dieser politisch brisante Diskurs jedoch – ebenso wie viele andere –, und spätestens ab Mitte der 1930er Jahre wurde die Geschichte des vorrevolutionären Terrorismus von der sowjetischen Forschung marginalisiert.55 Rezeption im Westen: „Die Gerechten“56

Im Westen waren in der Zwischenkriegszeit zahlreiche Erinnerungen von Terrorist*innen erschienen. Zudem publizierte Isaak Steinberg mit seiner Arbeit über Marja Spiridonova eine wichtige biographische Studie über diese berühmte russische Terroristin in englischer57 und jiddischer58 Sprache. Bevor aber nach dem Zweiten Weltkrieg west-

Vasilij K. Vinogradov, Delo Fani Kaplan, ili kto streljal v Lenina. Sbornik dokumentov, Moskva 22003. Vgl. beispielsweise: Vera Figner, Polnoe sobranie sočinenij, Moskva 21932; Z. Achtyrskaja, Careubijca, Moskva [u. a.] 1930; Vladimir Debagorij-Mokrievič, Ot buntarstva k terrorizmu, Moskva 1930; Aleksandra I. Kornilova-Moroz, Sof ′ja L′vovna Perovskaja, Moskva 1930; Ėsfir′ A. Korol′čuk, Pervaja rabočaja demonstracija v Rossii. K pjatidesjatiletiju demonstracii na Kazanskoj ploščadi v Peterburge 6/18 dekabrja 1876 g; sbornik vospominanij i dokumentov, Moskva 1927. 53 Marc Junge, Die Gesellschaft ehemaliger politischer Zwangsarbeiter und Verbannter in der Sowjetunion. Gründung, Entwicklung und Liquidierung (1921–1935), Berlin 2009. 54 Vgl. z. B. das Sammelwerk: A. V. Jakimova-Dikovska (Hg.), „Narodnaja volja“, v dokumentach i vospominanijach, Moskva 1930 oder auch: Vera R. Lejkina / Natal′ja L. Pivovarskaja / Anna P. Pribyleva-Korba / Sigizmund N. Valk, Archiv ‚Zemli i Voli‘ i ‚Narodnoj Voli‘, Moskva 1930; Sigizmund N. Valk, G. G. Romanenko (iz istorii ‚Narodnoj Voli), in: Katorga i ssylka 11 (1928), H. 48, S. 50–52; Dmitrij V. Kuz′min / Vera Figner, Narodovol′českaja žurnalistika, Moskva 1930. 55 George M. Enteen, The Soviet scholar bureaucrat. M. N. Pokrovskii and the society of Marxist historians, London 1978; John Barber, The establishment of intellectual orthodoxy in the USSR 1928–1934, in: Past and Present 84 (1979), S. 141–164. 56 Albert Camus, Die Gerechten, Stuttgart 1976. 57 Isaak N. Steinberg, Spiridonova. Revolutionary terrorist, London 1935. 58 Isaak N.Steinberg, Maria Spiridonova. (ir lebn un kamf), Varshe 1936. 51 52

Zur Rezeptionsgeschichte: Die terroristische Tradition

liche Historiker die Geschichte des russländischen Terrorismus systematisch erforschten, verstärkte zunächst der französische Philosoph Albert Camus die Traditionslinie, welche den vorrevolutionären Terrorismus als „heroisch“ klassifizierte. Camus’ Bühnenstück „Die Gerechten“ von 1949 war sicher das einflussreichste Werk innerhalb der literarischen Tradition des russländischen Terrorismus. Es zeichnet das moralische Ringen der sozialrevolutionären Terrorist*innen über den Einsatz einer tödlichen Bombe vor dem Attentat auf den verhassten Großfürsten Sergej Aleksandrovič nach.59 Camus bedient sich dabei der „Erinnerungen eines Terroristen“ von Boris Savinkov als Quelle und stellt den Attentäter Ivan Kaljaev als „zartfühlenden Mörder“ dar.60 Dieser Lesart folgte schließlich auch Hans Magnus Enzensberger, der zahlreiche Texte zur Geschichte des russländischen Terrorismus geschrieben und Savinkovs Memoiren herausgegeben hat. Darin beschrieb er die Terrorist*innen der ersten und der zweiten Phase als „schöne Seelen des Terrors“.61 Auch Enzensberger nahm also die Perspektive der Terrorist*innen ein. In den 1950er Jahren setzte der geschichtswissenschaftliche Diskurs mit Franco Venturis „Roots of Revolution“ ein. Venturi war selbst Sozialist und engagierte sich während des Zweiten Weltkriegs in der italienischen Resistenza. Von 1947 bis 1950 war er als Kulturattaché an der italienischen Botschaft in Moskau tätig und erhielt Zugang zu den Archiven der vorrevolutionären Zeit.62 In diesen Jahren entstand das Standardwerk, das 1952 zunächst in italienischer Sprache erschien und 1964 ins Englische übersetzt wurde. Es ist bis heute eine der wichtigsten historischen Arbeiten zur Geschichte der russländischen revolutionären Bewegung im 19. Jahrhundert.63 Dieses Buch bildete die Grundlage für eine erste Welle der historischen Untersuchungen über den russländischen Terrorismus, die sich in den 1970ern vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Terrorismuserfahrungen Bahn brach. Die historische Russlandforschung profitierte in dieser Zeit besonders von den Forschungen der Terrorismusforscher*innen Martha Crenshaw64, Ted Gurr65, David Rapoport66, Paul Wilkinson67 und Walter Laqueur68. Auf der anderen Seite konnte die Russlandhistoriographie einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Diskussion über Terrorismus leisten. Einige dieser Arbeiten Camus, Die Gerechten, 1976. Albert Camus, Der Mensch in der Revolte. Essays, Reinbek bei Hamburg 282011, S. 183. Hans M. Enzensberger, Politik und Verbrechen. Neun Beiträge, Frankfurt am Main 31990, S. 285. Vgl. zu Franco Venturis Interesse für Russland ausführlicher: Michael Confino, Franco Venturi’s Russia, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 11 (2010), H. 1, S. 77–105. 63 Die hier genutzte Fassung ist eine neue Auflage aus dem Jahr 2001: Venturi, Roots of revolution, 2001. 64 Martha Crenshaw, Terrorism in revolutionary warfare, Charlottesville 1969. 65 Ted R. Gurr, Why man rebel, Princeton 31972. 66 David C. Rapoport, Terrorism and assassination, Toronto 1970. 67 Paul Wilkinson, Political terrorism, New York, Toronto 1974. 68 Laqueur, Terrorismus, 1977; Magnus Ranstorp, Mapping terrorism studies after 9/11. An academic field of old problems and new prospects, in: Richard Jackson / Marie B. Smith / Jeroen Gunning (Hg.), Critical terrorism atudies. A new research agenda, New York 2009, S. 13–32, hier S. 19. 59 60 61 62

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stellten wichtige sozialgeschichtliche Analysen zur Verfügung.69 Andere fokussierten stärker auf einen biographischen Ansatz oder auf die politischen Entstehungszusammenhänge.70 Die Frage, warum verhältnismäßig viele Frauen in der terroristischen Bewegung aktiv waren, hat seit dieser Zeit ein besonderes Interesse ausgelöst und wichtige Untersuchungen hervorgebracht.71 Grundlegende Arbeiten haben die Geschichte des Terrorismus im Umfeld größerer politischer Strömungen wie der anarchistischen Bewegung72 oder Parteien wie der PSR73 verhandelt. Einige der genannten Autor*innen haben ihre Ergebnisse in einer vergleichenden Perspektive fruchtbar gemacht und zu dem vom Wolfgang Mommsen und Gerhard Hirschfeld herausgegebenen Sammelband „Sozialprotest, Gewalt, Terror“ beigetragen, der 1982 sowohl in englischer74 als auch in deutscher75 Sprache erschien. Mit dem allmählichen Niedergang der terroristischen Bewegungen in den westeuropäischen Ländern erlahmte auch das Interesse der Forschung in den 1980er Jahren, obwohl einige bedeutende Wissenschaftler*innen wie Norman Naimark76, Deborah Hardy77 und andere78 immer noch einzelne wichtige Bücher zum Thema veröffentlichten. All diese verdienstvollen Arbeiten konzentrierten sich auf die Terrorist*innen, ihre politischen Motive oder ihre sozialen Hintergründe. Einige zeichneten die Entstehungszusammenhänge derart emphatisch nach, dass die Überlieferung des „heroischen“ Terrorismus auch in dieser Phase weitgehend gewahrt blieb. Die Ursache für diese besondere Perspektive, welche die Position der Terrorist*innen privilegiert, mag darin liegen, dass in dieser eben beschriebenen Hochphase der Terrorismusforschung die strukturorientierte Sozialgeschichtsschreibung auf dem Vormarsch war.

69 Vgl. exemplarisch Andreas Kappeler, Zur Charakteristik russischer Terroristen, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 27 (1979), S. 520–547, oder Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, im Anschluss an Eric J. Hobsbawm, Primitive rebels. Studies in archaic forms of social movement in the 19th and 20th centuries, New York, NY 1959. 70 Adam B. Ulam, In the name of the people. Prophets and conspirators in prerevolutionary Russia, New York 1977; David Footman, Red prelude. A life of A. I. Zhelyabov, London 21968. 71 Barbara A. Engel  / Clifford N. Rosenthal (Hg.), Five sisters. Women against the tsar. The memoirs of five young anarchist women of the 1870’s, Boston 1987; Barbara Alpern Engel, Mothers and daughters. Women of the intelligentsia in 19th-century Russia, Cambridge 1983; Vera Broido, Apostles into terrorists. Women and the revolutionary movement in the Russia of Alexander II, New York 1977. 72 Avrich, The Russian anarchists, 1967. 73 Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978; Maureen Perrie, The agrarian policy of the Russian socialist-revolutionary party. From its origins through The revolution of 1905–1907, Cambridge 1976. 74 Wolfgang J. Mommsen / Gerhard Hirschfeld (Hg.), Social protest, violence, and terror in nineteenthand twentieth-century Europe, New York 1982. 75 Wolfgang J. Mommsen / Gerhard Hirschfeld, Sozialprotest, Gewalt, Terror. Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 11982. 76 Norman M. Naimark, Terrorists and social democrats. The Russian revolutionary movement under Alexander III, Cambridge, Mass 1983. 77 Deborah Hardy, Land and freedom. The origins of Russian terrorism, 1876–1879, New York 1987. 78 Jay Bergman, Vera Zasulich. A biography, Stanford 1983.

Zur Rezeptionsgeschichte: Die terroristische Tradition

Angesichts der Staatsverbrechen des Nationalsozialismus, aber auch des Stalinismus wurden individuelle Schuld und individuelles Leid analytisch den strukturellen Voraussetzungen staatlicher Gewaltherrschaft untergeordnet.79 In diese Deutungskategorien, die der Analyse der Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts dienten, passten sich auch die Legitimationsdiskurse der russischen Terrorist*innen ein: Das autokratische Unrechtsregime stellte die verbrecherischen Strukturen bereit. Die Terrorist*innen, die sich dieser im Namen des Staates ausgeübten Gewalt als hilf- und hoffnungslose Individuen entgegenstellten, wurden dadurch zu Opfern und durch ihren verzweifelten Kampf zu Held*innen.80 Hannah Arendt beschäftigte sich in ihrem kritischen Essay „On violence“ von 1970 mit der Frage, ob beispielsweise die Aktionen der Studierendenbewegung gegen staatliche Institutionen gerechtfertigt seien, und kam zu dem Schluss, dass Gewalt gegen den Staat ein Mittel sei, „Missstände zu dramatisieren“ und damit die Aufmerksamkeit auf diese zu lenken.81 Aus einer ähnlichen Richtung argumentierte auch Laura Engelstein, die Gewalt im russischen Zarenreich als „Waffe der Schwachen“ bezeichnet.82 Das Individuum war in der Strukturgeschichte auch als Täter*in immer gleichzeitig Opfer der Umstände und kam deshalb als Urheber*in von Gewalt und Leid nur bedingt in Betracht. Es war also nicht nur die persönliche Gegnerschaft der frühen Chronisten des russischen Terrorismus zum Staatsterror der Bol′ševiki, sondern es waren darüber hinaus auch die folgenden historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, welche die Gewaltgeschichte des vorrevolutionären Terrorismus relativierten. In mehr als einer Hinsicht rehabilitierte der Staatsterror des „Jahrhunderts der Extreme“83 die Terrorist*innen des langen 19. Jahrhunderts.84 Für diesen Zusammenhang spricht abseits eines rein historiographischen Diskurses auch die zeitliche Nähe der moralischen Nobilitierung der Terrorist*innen durch Camus aus dem Jahr 1949 zum Ende des Zweiten Weltkriegs und zur vollständigen Erkenntnis der nationalsozialistischen Massenverbrechen. In diese Zeit fallen nicht zufällig auch die frühen Totalitarismusdebatten, angestoßen unter anderem von Hannah Arendts 1951 erschienenem Buch über „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“.85

Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 22003. 80 Anke Hilbrenner, „Die schönen Seelen des Terrors“. Die russischen Terroristen im historiographischen Diskus des 20. Jahrhunderts, in: Jeanne Riou / Christer Petersen (Hg.), Zeichen des Krieges in Literatur, Film und den Medien, Kiel 2008, S. 145–169, hier S. 166. 81 Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München [u. a.] 222013, S. 65–66. 82 Laura Engelstein, Weapon of the weak (Apologies to James Scott). Violence in Russian history, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 4 (2003), H. 3, S. 680–693. 83 Eric J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995. 84 Hilbrenner, „Die schönen Seelen des Terrors“, S. 145–169. 85 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1955. 79

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Nach der Zäsur von 1991

Bereits in den 1960er Jahren erfreute sich der vorrevolutionäre Terrorismus als Folge der zaghaften Liberalisierung unter Chruščev auch in der Sowjetunion eines neu erwachten Interesses.86 Prominentestes Beispiel für die Renaissance des vorrevolutionären Terrorismus in der breiten Öffentlichkeit war der historische Roman „Ungeduld“ (im Original Neterpenie) von Jurij Trifonov aus dem Jahr 1973.87 Doch erst die intellektuelle Öffnung der sowjetischen Wissenschaft und der erleichterte Zugang zu den Quellen nach dem Zusammenbruch im Jahre 1991 erzeugten einen regelrechten Boom der Historiographie zu dem Thema in russischer Sprache.88 Wichtige Quellen wurden ediert, wie Viktor Kel′ners Materialien zum 1. März 188189 oder Oleg Budnickijs Veröffentlichung historischer Dokumente90 und terroristischer Memoiren.91 Von diesen neuen Voraussetzungen profitierten auch die westlichen Wissenschaftler*innen. Am deutlichsten wird diese neue Grundlage in der Monographie von Anna Geifman, welche die bis zu diesem Zeitpunkt benutzten Quellen einer grundlegenden Quellenkritik unterzog und eine völlig neue Herangehensweise forderte. Ihre Lesart einer nun viel größeren Quellenbasis führte sie zu einer psychohistorisch inspirierten Interpretation.92 Sowohl in Russland als auch in der westlichen Geschichtsschreibung blieb zudem der so bezeichnete Cultural turn nicht ohne Auswirkungen auf die Erforschung des vorrevolutionären Terrorismus. Neue Fragen wurden adressiert und alte Fragen neu gestellt. So konnte die traditionelle Politikgeschichte bislang nicht befriedigend erklären, warum einige Anhänger*innen ein und derselben politischen Ideologie Terrorist*innen wurden und andere nicht. Die Sozialgeschichte blieb die Antwort darauf

Stepan S. Volk, Narodnaja Volja. 1879–1882. [Pod red. Š.M. Levina], Moskva i t.d 1966; Nikolaj A. Troickij, „Narodnaja Volja“ pered carskim sudom (1880–1894), Saratov 21983; Michail G. Sedov, Geroičeskij period revoljucionnogo narodničestva. (Iz istorii političeskoj bor′by), Moskva 1966; Emilija S. Vilenskaja, Revoljucionnoe podpol′e v Rossii. (60-e gody XIX v.) [Pod. red. A.S. Nifontova], Moskva 1965; Sigizmund N. Valk, Revoljucionnoe narodničestvo 70-ch godov XIX veka. Sbornik dokumentov i materialov; v dvuch tomach, Moskva 1965. 87 Jurij V. Trifonov, Ungeduld. Historischer Roman, Berlin 1975; Carolina de Maegd-Soëp, Trifonov and the drama of the Russian intelligentsia, Brugge 1990. 88 Michail I. Leonov, Partija Socialistov-Revoljucionerov v 1905–1907 gg, Moskva 1997; Valerij Volkovyns′kyj / Ivanna Nikonova, Revoljucijnyj teroryzm v Rosijs′kij imperiï i Ukraïna. Druha polovyna XIX – pochatok XX st, Kyïv 2006; Leonid G. Prajsman, Terroristy i revoljucionery, ochranniki i provokatory, Moskva 2001; Roman A. Gorodnickij, Boevaja organizacija partii socialistov-revoljucionerov v 1901–1911 gg., Moskva 1998. 89 Viktor E. Kel′ner (Hg.), 1 marta 1881 goda, kazn′ Imperatora Aleksandra II. Dokumenty i vospominanija, Leningrad 1991. 90 Oleg V. Budnickij (Hg.), Istorija terrorizma v Rossii v dokumentach, biografijach, issledovanijach, Rostov n/D 21996. 91 Oleg V. Budnickij, Terrorizm v rossijskom osvoboditel′nom dviženii. Ideologija, ėtika, psichologija (vtoraja polovina XIX – načalo XX v.), Moskva 2000. 92 Geifman, Thou shalt kill, 1993. 86

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schuldig, warum die Terrorist*innen einer Vielzahl unterschiedlicher Milieus oder sozialer und ethnischer Gruppen entstammten. Welcher Zusammenhang bestand zwischen Terrorismus und dem großen sozioökonomischen und technischen Wandel, der das Zeitalter des Terrorismus prägte? Wie wurde Terrorismus von seinen Opfern erlebt, und wie beeinflusste er Vorstellungen von Sicherheit, die Nutzung und das Erleben des öffentlichen Raumes oder auch die politische Kultur93 im Russischen Reich? Welche Motive trieben die Terrorist*innen tatsächlich an?94 Wie wurden sie von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen wahrgenommen? Erzeugten sie Angst, waren sie selber Objekte von Rachegefühlen und Hass? Kulturgeschichtlich inspirierte Arbeiten untersuchten Diskurse und Bilderwelten des Terrorismus, dessen Wahrnehmung und damit verbundene Fragen nach moderner Sinnsuche in terroristischen Autobiographien.95 Außerdem rückten die Betrachtung des Terrorismus als Form der Kommunikation, die Performativität des terroristischen Aktes und die Erfahrung von Gewalt generell in den Fokus kulturgeschichtlicher Analysen.96 Angeregt durch neue Überlegungen zum modernen Selbst und seinen Ausdrucksformen haben einige Wissenschaftler*innen abermals einen biographischen Ansatz gewählt und wichtige neue Arbeiten zu Dimitrij Karakozov97, Vera Zasulič98 und Marija Spiridonova99 vorgelegt. Nach dem Durchbruch der Kulturgeschichte und dem Aufkommen einer Kulturgeschichte des Politischen100 im Besonderen wurden also zahlreiche wichtige Fragen neu gestellt. Dennoch bleiben auch in den neueren Arbeiten meist die Terrorist*innen – also die Täter*innen – im Fokus.101 Die Opfer oder auch die Gesellschaft, die

Karl Rohe, Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven in der Politischen Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 321–346, hier S. 333. 94 Jörg Baberowski, Das Handwerk des Tötens. Boris Sawinkow und der russische Terrorismus, in: Comparative Politics 23 (2013), H. 2, S. 75–90. 95 Marina Mogil′ner / Oleg A. Lekmanov, Mifologija „podpol′nogo čeloveka“. Radikal′nyj mikrokosm v Rossii načala XX veka kak predmet semiotičeskogo analiza, Moskva 1999; Inessa Medzhibovskaya, Tolstoy’s response to terror and revolutionary violence, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 9 (2008), S. 505–531. 96 Wie bereits hier angedeutet: Anke Hilbrenner, Gewalt als Sprache der Straße. Terrorismus und seine Räume im Zarenreich vor 1917, in: Walter Sperling (Hg.), Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich; 1800–1917, Frankfurt, M, New York, NY 2008, S. 409–432, soll es in dieser Arbeit vor allem um diese Fragen gehen. 97 Verhoeven, The odd man Karakozov, 2009. 98 Siljak, Angel of vengeance, 2008; Rindlisbacher, Leben für die Sache, 2014. 99 Sally Boniece, The Spiridonova case, 1906. Terror, myth and martyrdom, in: Kritika:  Explorations in Russian and Eurasian History 4 (2003), H. 3, S. 571–606. 100 Ute Frevert  / Heinz-Gerhard Haupt, Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt am Main, New York 2005; Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005; Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574–606. 101 Das gilt besonders für eine neuere Monographie, in der die Selbstkonstruktion der Terroristen im Vordergrund steht: Vitalij Fastovskij, Terrorismus und das moderne Selbst, Göttingen 2018. Die Ausnahme ist 93

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mittelbar oder unmittelbar Zeuge des Terroranschlages wird, werden meist auch in den neueren Arbeiten marginalisiert.102 Durch diesen blinden Fleck wird nach wie vor das Bild des „heroischen“ Terrorismus relativ ungebrochen tradiert. Dabei scheint die Marginalisierung der Opfer – oder besser die Privilegierung der Tat und der Täter*innen – in der Natur des historischen Narrativs zu liegen. Auf diese Grundproblematik bei der Beschreibung von Gewalt generell hat bereits Wolfgang Sofsky hingewiesen: „Die Sprache bevorzugt das Aktiv, nicht das Passiv. Sie ist zentriert auf den Täter.“103 Die vorliegende kulturgeschichtliche Analyse des Phänomens Terrorismus im Russischen Reich vor 1917 bricht mit dieser Tradition und nimmt alle Beteiligten, also Täter*innen, Opfer, Zeug*innen bzw. das Publikum, zugleich in den Blick. Um das zu erreichen, richtet sich das Interesse nicht auf die Terrorist*innen, sondern auf die terroristische Tat – also auf das Ereignis oder auf eine Anzahl von Ereignissen und alle Akteur*innen, die damit in Verbindung stehen. Dabei wird das terroristische Handeln als Akt der Kommunikation gedeutet. Fragestellung: Voraussetzungen, Methoden, Schlüsselbegriffe Terrorismus als Kommunikation

Die terroristische Aktion sendet eine politische Botschaft aus.104 Ihr Ziel ist es nicht in erster Linie, eine oder mehrere Personen zu töten oder Werte zu zerstören. Die Opfer von terroristischen Attentaten haben nicht in erster Linie einen intrinsischen Wert für die Terrorist*innen. Peter Waldmann hat diese Beobachtung auf die Aussage

die verdienstvolle Dissertation von Tim-Lorenz Wurr, Terrorismus und Autokratie. Staatliche Reaktionen auf den Russischen Terrorismus 1870–1890, Paderborn 2017, welche die Perspektive des Innenministeriums einnimmt. Vgl. in diesem Zusammenhang auch zur diskursiven Entstehung von Gewalt in der Interaktion von Staat und Terroristen: Martin A. Miller, The foundations of modern terrorism. State, society and the dynamics of political violence, Cambridge, New York 2013. 102 Eine Ausnahme und damit den Auftakt zu einer neuen Herangehensweise markiert dieser Sammelband: Petra Terhoeven (Hg.), Jahrbuch für Europäische Geschichte  / European History Yearbook. Band 19: Victimhood and acknowledgement; The other side of terrorism, München, Wien 2018. Vgl. besonders die Einleitung von Petra Terhoeven, S. 1–18, und für das Russische Reich Anke Hilbrenner, Of heroes and villains. The making of terrorist victims as historical perpetrators in pre-revolutionary Russia, S. 19–38. 103 Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main 1996, S. 67. 104 Vgl. dazu ausführlich: Peter Waldmann, Terrorismus und Kommunikation, in: Klaus Weinhauer u. a. (Hg.), Gewalt ohne Ausweg? Terrorismus als Kommunikationsprozess in Europa seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt 2012, S. 49–61; Klaus Weinhauer / Jörg Requate, Terrorismus als Kommunikationsprozess. Eskalation und Deeskalation politischer Gewalt in Europa seit dem 19. Jahrhundert, in: Klaus Weinhauer u. a. (Hg.), Gewalt ohne Ausweg? Terrorismus als Kommunikationsprozess in Europa seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt 2012, S. 11–47, und insgesamt den Sammelband: Klaus Weinhauer u. a. (Hg.), Gewalt ohne Ausweg? Terrorismus als Kommunikationsprozess in Europa seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt 2012.

Fragestellung: Voraussetzungen, Methoden, Schlüsselbegriffe

zugespitzt: „Ein zu Schaden oder zu Tode gekommener Mensch zählt für die Terroristen nicht. Die Gewalttat hat vielmehr einen symbolischen Stellenwert, ist Träger einer Botschaft“.105 In dieser Arbeit soll es nun darum gehen, die Botschaften, welche die Terrorist*innen aussenden,106 zu entschlüsseln. Dabei stehen nicht nur die Intentionen der handelnden Akteur*innen zur Debatte, sondern auch die unterschiedlichen Arten, auf die ihre Botschaften von verschiedenen Bevölkerungsgruppen gelesen werden. So soll die Frage beantwortet werden, wie es zu terroristischen Anschlägen kommt und warum einzelne politische Aktivist*innen sich dazu entscheiden, Gewalt als taktisches Mittel einzusetzen. Zugleich fällt der Blick darauf, wie Terrorismus wirkt oder auch eben nicht wirkt und warum den prinzipiell gewaltbereiten Akteur*innen die Taktik des Terrorismus in bestimmten Zusammenhängen nicht oder nicht mehr erfolgversprechend erscheint. Das Ergebnis terroristischen Handelns ist in der Forschung häufig als „Schockeffekt“107 oder als „Signalwirkung“ 108 bezeichnet worden. Insofern hat die Terrorismusforschung diese gewaltsame Form politischen Handelns bereits als symbolisches Handeln klassifiziert. Das Opfer des terroristischen Anschlags, die Wahl der Waffen, der Ort des Attentats  – all diese Dinge haben für die Terrorist*innen, aber auch für die Öffentlichkeit symbolischen Charakter. Symbole aber sind nicht eindeutig. Sie haben in unterschiedlichen historischen Kontexten „mehrdeutige Verweiszusammenhänge“109 und bedürfen der Historisierung und Interpretation. Die Kulturgeschichte des Politischen untersucht nun jede Art symbolischen Handelns darauf, wie es „Ordnungen produziert, sie verändert, erhält oder umstürzt.“110 Sie eignet sich deshalb besonders gut dafür, Entstehung und Wandel von Bedeutungen, die durch terroristisches Handeln erzeugt werden, zu analysieren, Kommunikationserwartungen und -routinen zu dechiffrieren und die Eskalationsmechanismen der politischen Handlungsressource Gewalt zu erhellen, die im späten Zarenreich eine wichtige Rolle spielt.111

Waldmann, Terrorismus: Provokation der Macht, 2011, S. 12. Martha Crenshaw, The causes of terrorism, in: Comparative Politics 13 (1981), H. 4, S. 379–399, hier S. 379. Waldmann, Terrorismus: Provokation der Macht, 2011, S. 11. Dittmar Dahlmann, Terrorismus, in: Erwin Fahlbusch (Hg.), Evangelisches Kirchenlexikon. Internationale theologische Encyklopädie, Bd. 4, Göttingen 31986, 711–713. 109 Thomas Mergel, Kulturgeschichte der Politik. http://docupedia.de/zg/Kulturgeschichte_der_Politik (20. August 2020). 110 Ebd. 111 Anke Hilbrenner, Der Bombenanschlag auf das Café Libman in Odessa am 17. Dezember 1905: Terrorismus als Gewaltgeschichte, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 58 (2010), H. 2, S. 210–231. 105 106 107 108

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Einleitung

Gewalt

Eine Geschichte des Terrorismus ist zugleich eine Geschichte politischer Gewalt, denn terroristisches Handeln ist immer auch gewaltsames Handeln, auch wenn nicht jede Form der Gewaltausübung Terrorismus impliziert. Moritz Florin hat in seinem klugen Forschungsüberblick zur Globalgeschichte des Terrorismus darauf hingewiesen, dass Terrorismus selten in „Reinform“, sondern häufig zusammen mit anderen Gewaltformen auftritt.112 Deshalb kommt eine Geschichte des Terrorismus auch nicht ohne eine nähere Bestimmung des Begriffs „Gewalt“ und seiner analytischen Implikationen aus.113 Der Gewaltbegriff kann in zweierlei Hinsicht verstanden werden. Der konkrete Gewaltbegriff, der in der jüngeren Vergangenheit die Debatten über Gewaltgeschichte geprägt hat, bezeichnet eine Aktion, „die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt“.114 Dieser Begriff liegt der Analyse im Folgenden zugrunde. Darüber hinaus existiert das Verständnis von struktureller Gewalt oder Gewaltverhältnissen, die in der Nachfolge Michel Foucaults das moderne Verständnis von Politik prägen, auch wenn sie Gefahr laufen, den Gewaltbegriff allzu sehr auszuweiten und ihn damit seiner analytischen Schärfe zu berauben.115 Beide Formen der Gewalt spielen in der Politik und für die Politik eine wichtige Rolle. Auch wenn politisches Handeln nicht automatisch die konkrete Anwendung von Gewalt impliziert, steht hinter der politischen Macht immer institutionelle Gewalt. Der Kulturgeschichte des Politischen ist vorgeworfen worden, dass die „harten Interessen“ und die Gewalt, die „hinter“ der Politik stehen, nicht in Kommunikation aufzulösen sind und als solche anderer Zugriffe bedürften.116 Manchen Leser*innen mag es in der Tat als unzulässige Banalisierung terroristischer Gewalt erscheinen, im Angesicht von Bomben, Verwundungen und Toten etwa die Kleidung von Terrorist*innen oder die Metaphernsprache ihrer Flugblätter zu analysieren. Dennoch kann aus Gewalt nur Politik werden, wenn sie sich mitteilt. Es ist das Sprechen über Gewalt oder ihre (An-)Zeichen, die Angst erzeugen, aber auch positive Reaktionen hervorrufen. 117 Zudem entstehen Bilder, welche die Gewalt begleiten, in den Köpfen, aber auch auf Leinwand und Papier, die wiederum mediale Verbreitung finden.118 Florin, Globalgeschichte politischer Gewalt. Jörg Baberowski, Gewalt verstehen (2008). http://www.zeithistorische-forschungen.de/site/40208820/ default.aspx (20. August 2020). 114 Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, Tübingen 21992, S. 48. 115 Gertrud Nunner-Winkler, Überlegungen zum Gewaltbegriff, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Gewalt. Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme, Frankfurt am Main 12008, S. 21–61. 116 Bernd Weisbrod, Das Politische und die Grenzen der Kommunikation, in: Adelheid von Saldern / Daniela Münkel / Jutta Schwarzkopf (Hg.), Geschichte als Experiment. Studien zu Politik, Kultur und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert: Festschrift für Adelheid von Saldern, Frankfurt am Main, New York 2004, S. 99–112. 117 Mergel, Kulturgeschichte der Politik, 2020. 118 Vgl. zu den Bildern des Terrorismus vor allem: Charlotte Klonk, Terror. Wenn Bilder zu Waffen werden, Frankfurt am Main 2017, und insbesondere: Charlotte Klonk, In whose name? Visualizing victims of terror, 112 113

Fragestellung: Voraussetzungen, Methoden, Schlüsselbegriffe

Aber auch die konkrete Gewalttat selbst sendet Zeichen aus: Wurde ein Messer, eine Pistole oder eine Bombe eingesetzt? Daran allein schließt sich eine Vielzahl an Fragen an: Wurde eine fortschrittliche Technologie genutzt?119 Trat die Täterin oder der Täter dem Opfer mit einem Messer oder einer Pistole bewaffnet von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und schaffte er oder sie es, diese Waffe auch gegen eine/n konkrete/n Gegner*in zu führen? Oder wurde der Anschlag aus der Ferne ausgeführt, mit einer Bombe oder mit einem Scharfschützengewehr? Gibt die Waffe Aufschluss darüber, ob die Gewalt von Männern oder Frauen ausgeübt wurde oder ob sie Männern oder Frauen galt?120 Traf sie wahllos oder gezielt? Mussten die Opfer leiden? So wird auch die Materialität des Terrorismus zu einer wichtigen Dimension der Sprache der Gewalt.121 Es liegt in der Natur der Sache, dass die Analyse der Gewalt nicht von einem optimistischen Verständnis geglückter Kommunikation ausgehen kann. Nicht jede Kommunikation zielt auf Verständigung, und auch Aggression richtet sich an ein Gegenüber. Gewalt selbst ist also stets Kommunikation und als solche zu untersuchen.122 Die Erforschung des Gewaltkerns des terroristischen Handelns widersetzt sich zudem der in der Rezeptionsgeschichte verbreiteten Heroisierung der Terrorist*innen. Zahlreiche Historiker*innen suchten bislang nach den Ursachen terroristischer Gewalt in den klassischen Quellen der Politikgeschichte, in Parteiprogrammen, politischideologischen Schriften und Bekenner*innenschreiben. Sie folgten damit der Legimitationsstrategie der Terrorist*innen selbst. Die Rechtfertigungen der Taten sind nicht identisch mit ihren Beweggründen. Gewalttäter*innen berufen sich gerne auf ihre prekäre soziale Situation, auf einen Befehlsnotstand oder auf ideologische Verblendung oder Verführung. Ob es aber tatsächlich Ideologien oder soziale Ungerechtigkeiten sind, die Gewalttäter*innen motivieren, sei hier ausdrücklich in Frage gestellt.123

in: Petra Terhoeven (Hg.), Jahrbuch für Europäische Geschichte / European History Yearbook. Band 19: Victimhood and acknowledgement; The other side of terrorism, München, Wien 2018, S. 103–116. 119 Vgl. dazu z. B. Simon Werrett, The science of destruction. Terrorism and technology in the nineteenth century, in: Carola Dietze / Claudia Verhoeven (Hg.), The Oxford handbook of the history of terrorism. Auch dieser Text ist inspiriert von: Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt am Main 2010. 120 Vgl. zu den Genderaspekten dieser Fragen auch: Amandine Regamey, Falsehood in the war in Ukraine. The legend of women snipers (2016). https://journals.openedition.org/pipss/4222 (14. August 2020). 121 Vgl. zur Materialität als Ermöglichung und Entstehungskontext des Terrorismus auch: Mats Fridlund, Affording terrorism. Idealists and materialities in the emergence of modern terrorism. The writing of this chapter has partly been funded through the research project ‚Spreading terror: Technology and materiality in the transnational emergence of terrorism, 1866–98‘, funded by the Swedish Research Council and the University of Gothenberg, in: Maxwell Taylor / P. M. Currie (Hg.), Terrorism and affordance, London, New York 2012, S. 73–92. 122 Vgl. zur Gewalt als Kommunikation auch: Heiko Haumann, Jugend und Gewalt in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus im lebensweltlichen Zusammenhang, in: Heiko Haumann (Hg.), Lebenswelten und Geschichte. Zur Theorie und Praxis der Forschung, Wien 12012, S. 267–304. 123 Baberowski, Gewalt verstehen, 2008, S. 5.

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Einleitung

Viele Forscher*innen haben die Rechtfertigung der russländischen Terrorist*innen, Gewalt sei ein legitimes Mittel des Protestes in einem autokratischen Staat, der seinen Bürger*innen die politische Teilhabe verwehre und seinerseits Gewalt gegenüber den Untertan*innen ausübe, als Ursache der terroristischen Gewalt erforscht und damit einen wichtigen Beitrag zur politischen Geschichte des Russischen Reiches geliefert. Sie haben sich dabei allerdings, wenigstens zum Teil, die Argumentation der Terrorist*innen selbst zu eigen gemacht. So kam nicht zuletzt die Tradierung des Motivs von den „schönen Seelen des Terrors“ und ihrem heroischen Charakter zustande.124 Die terroristische Gewaltanwendung wurde durch diese Art der Untersuchung allerdings nicht hinreichend erklärt. Die moderne Gewaltforschung verweist stattdessen auf zwei Motive der Gewaltanwendung. Erstens wäre da eben der kommunikative Aspekt der Gewalt, der mit dem wissenschaftlichen Terrorismusverständnis zusammenfällt: Wer Gewalt ausübt, macht auf sich aufmerksam und kann nicht mehr ignoriert werden. Vor allem jene, die auf andere Weise keine Aufmerksamkeit für sich beanspruchen dürfen, können solcherart das Heft des Handelns in die Hand bekommen und sich und ihre Anliegen ins Gespräch bringen.125 Das zweite Motiv ist die Machbarkeit: Gewalt ist ein Mittel der Kommunikation, das allen zur Verfügung steht. Die Möglichkeiten, Gewalt auszuüben, werden zwar durch technische Neuerungen beeinflusst oder durch obrigkeitliche Kontrolle begrenzt, aber ganz grundsätzlich können fast alle Menschen Gewalt in irgendeiner Form ausüben. Auch in dieser Hinsicht ist Gewalt eine „Waffe der Schwachen“126 ebenso wie eine Waffe der Mächtigen. Für die terroristische Gewalt ist es geradezu charakteristisch, dass sie die bevorzugte Kampfstrategie sehr kleiner und damit schwacher Gruppen ist.127 Bei einer Analyse terroristischen Handels kann es also nicht um die vermeintlichen Ursachen der Gewalt gehen. Um zu verstehen, wie terroristische Gewalt entsteht und was durch gewaltsames Handeln ausgelöst wird, empfiehlt der Soziologe Trutz von Trotha vielmehr, die Gewaltaktion als Ereignis möglichst dicht zu beschreiben. Die Gewalt selbst ist ein Prozess, der wieder neue Ordnungen und Beziehungen zwischen den Akteur*innen und damit auch die Bedingungen ihrer Rezeption erschafft. Die Ursachen und die Folgen gewaltsamen Handelns können demnach nur aus der Beschreibung der konkreten Gewalttat selbst analysiert werden.128

Hilbrenner, „Die schönen Seelen des Terrors“, S. 145–169. Dirk Baecker, Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt am Main 12005, 171 f. Engelstein, Weapon of the weak, 2003, S. 680–693. Waldmann, Terrorismus: Provokation der Macht, 2011, S. 9. Trutz von Trotha, Soziologie der Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt. Sonderheft 37/1997 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1997, S. 9–56, hier S. 21. 124 125 126 127 128

Fragestellung: Voraussetzungen, Methoden, Schlüsselbegriffe

Akteur*innen

Dabei ist die Beobachtung wichtig, dass die involvierten Akteur*innen durch ihre geschlechtlichen Zuschreibungen auf ein spezifisches Verhältnis zu terroristischer Gewalt festgelegt sind. So hat die Tatsache, dass unter den russländischen Terrorist*innen Frauen eine so prominente Rolle gespielt haben, sowohl unter den Zeitgenoss*innen als auch in der Forschung Aufmerksamkeit erregt. Die Reaktionen reichten dabei von Faszination bis zu Abscheu, auf jeden Fall prägten sie die Wahrnehmung der Botschaft, welche die jeweiligen terroristischen Taten aussendeten.129 Das Geschlecht von Täter*innen und Opfern fließt in die Analyse der Gewalttat ein. Diese bricht die einseitige Perspektive auf die Täter*innen auf und untersucht die Beziehung, die durch die Gewalt zwischen den einzelnen Akteur*innen entsteht. Dieses Verhältnis von Täter*in und Opfer, ihr Tun und Erleiden im Moment des Terroranschlags, lässt sich mit gesellschaftlichen Missverhältnissen oder Mangel an politischer Partizipation im Zarenreich nicht mehr befriedigend erklären. Stattdessen verändert die gewaltsame Tat die Beziehungen zwischen Opfern und Täter*innen und stellt Hierarchien in Frage. Herrschende und Beherrschte, Männer und Frauen empfinden Macht und Ohnmacht im Angesicht des terroristischen Anschlags anders als zuvor und oftmals entgegen einer empfundenen Norm.130 Neben Täter*innen und Opfern sind die Zeug*innen oder Zuschauer*innen eine weitere wichtige Gruppe von Akteur*innen bei einem Terroranschlag. Der Terrorakt, als Kommunikation verstanden, verweist auf den performativen Charakter dieser Art von Gewalttaten. Aufgrund der Performanz, die dem terroristischen Handeln innewohnt, ist das Publikum ebenso zentral wie die Täter*innen oder die Tat: Ohne Zuschauer*innen gibt es keine terroristische Aktion.131 Die Trennlinie zwischen Opfern und Zeug*innen der terroristischen Tat ist dünn. Wenn z. B. eine Bombe explodiert, ist die Unterscheidung zwischen jenen, die getötet oder verletzt werden, und jenen, die mit dem Schrecken davonkommen, oft dem Zufall überlassen. Während der Explosion sind alle Beteiligten der Angst um ihr Leben oder um ihre körperliche Unversehrtheit ausgesetzt. Dazu kommt die Angst um die Nächsten, z. B. um Kinder oder andere Angehörige. Der Gewaltforscher Wolfgang Sofsky hat beobachtet, dass die Gewalt schon vor der Verwundung wirkt, weil die Bedrohung alle Beteiligten traumatisiert.132 Wenn also die Angst im Moment der Explosion und

129 Anke Hilbrenner, The Perovskaia paradox or the scandal of female terrorism in nineteenth century Russia (2016). https://journals.openedition.org/pipss/4169 (14. August 2020). 130 Baberowski, Gewalt verstehen, 2008, S. 6. 131 Bernhard Giesen, Terrorismus als Performanz, in: Herbert Willems (Hg.), Theatralisierung von Gesellschaft. Soziologische Theorie und Zeitdiagnose, Bd. 1, Wiesbaden 2009, S. 615–621, hier S. 619. 132 Sofsky, Traktat über die Gewalt, 1996, S. 71.

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nicht die Verletzung die Menschen zu Gewaltopfern macht, dann sind die Übergänge zwischen Zeug*innen und Opfern fließend. Durch die mediale Ausstrahlung terroristischer Taten werden auch diejenigen zu Zuschauer*innen und zum Publikum, die nur mittelbar an den Anschlägen teilhaben, z. B. über die Zeitungslektüre. Die Intensität und Dauer der terroristischen Erfahrung differiert allerdings je nach Grad der Vermittlung beträchtlich. Auch auf die Gefahr hin, den Akteurbegriff immer weiter auszuweiten, ist für die Analyse auch die folgende Beobachtung von Bedeutung: Als Akteur*innen werden in diesem Zusammenhang nicht nur Täter*innen, Opfer und Zuschauer*innen wahrgenommen, sondern auch für den Terrorismus zentrale Dinge in ihren historischen Entstehungszusammenhängen. Die Erfindung des Dynamits war z. B. ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte des Terrorismus, denn nun konnten Terrorist*in und Bombe eine spezifische Symbiose eingehen, die beide gemeinsam auf eine höhere Bedeutungsebene hob. Dynamit wurde zur typischen Waffe in den Händen der Unterdrückten und die Bombe zum Symbol des revolutionären Terrorismus.133 Emotional turn: Der Schrecken in der Geschichte

Immer wieder wird an die Terrorismusgeschichtsschreibung die Frage gerichtet, ob Terrorismus tatsächlich Angst und Schrecken verbreitet und, wenn ja, bei wem. Die neueren Überlegungen zur Emotionengeschichte können jedoch für die Erforschung des russländischen Terrorismus viel mehr leisten, als die schwierige Frage nach der Repräsentation von Gefühlen wie Angst oder Schmerz in den Quellen zu beantworten.134 Die Quellen zur Geschichte des russländischen Terrorismus sind häufig sehr emotional. Sie handeln z. B. von bösartigen und rücksichtslosen Repräsentanten eines Unrechtsregimes, die Gefangene auspeitschen sowie unschuldige Frauen und Kinder schänden oder töten. Sie schreien nach Rache. Expert*innen der Politik- oder Sozialgeschichte haben diese Art der politischen Argumentation entweder mit der „Rückständigkeit“ des Russischen Reiches und seiner politischen Kultur erklärt135 oder versucht, diese Emotionalität auszuklammern und nach einer tieferen Wahrheit jenseits dieser Gefühlswelten zu fahnden. Um die Geschichte des russländischen Terrorismus

133 Ingo Schulz-Schaeffer, Technik in heterogener Assoziation. Vier Konzeptionen der gesellschaftlichen Wirksamkeit von Technik im Werk Latours, in: Georg Kneer (Hg.), Bruno Latours Kollektive, Frankfurt am Main 2008, S. 108–154, hier S. 120–129; Werrett, The science of destruction. Zu einer Reihe von Beispielen: Merriman, The dynamite club, 2016, S. 69–98; Sarah Cole, Dynamite violence and literary culture, in: Modernism/modernity 16 (2009), H. 2, S. 301–328. 134 Vgl. zu den Theorien der Gefühlsgeschichte einführend: Jan Plamper, Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012. Zu den Quellen: Jan Plamper, Introduction. Emotional turn? Feelings in Russian history and culture, in: Slavic Review 68 (2009), H. 2, S. 229–237. 135 Vgl. z. B. Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978.

Fragestellung: Voraussetzungen, Methoden, Schlüsselbegriffe

zu verstehen, müssen jedoch die emotionalen Narrative der Terrorist*innen und ihrer Opfer sowie die Reaktionen der Öffentlichkeit ins Zentrum der Analyse rücken. William Reddy hat dem Emotional turn mit seiner Arbeit über die Gefühlsgeschichte der Französischen Revolution im Jahr 2001 einen Aufschwung beschert.136 Er zeigte, dass die Revolutionär*innen im Kampf gegen das Ancien Régime eine neue Art von Moralität an den Tag legten. Tugend und Gefühl verwandelten die Politik in einen Kampf von Gut gegen Böse. Wenn Politik eine Frage der Tugend war, dann konnte es keine Kompromisse geben. Die politischen Gegner*innen waren moralisch böse und mussten deshalb bestraft und sogar getötet werden. Reddy erklärte in diesem Rahmen vor allem die „terreur“. Die Schreckensherrschaft der Jakobiner 1793 und 1794 war demnach der Höhepunkt einer Politik gewesen, die sich offensiv von einem emotionalen Regime leiten ließ. Die Ablehnung öffentlicher Gefühlsäußerung in der napoleonischen Ära sei auch eine Verarbeitung dieses gewaltsamen Strebens nach emotionaler Authentizität gewesen.137 Laura Engelstein wandte bereits im Jahre 2003 einige von Reddys Überlegungen zur Tugendhaftigkeit in der Französischen Revolution auf die russländische revolutionäre Bewegung an, indem sie die These aufstellte, dass der politische Kampf im späten Zarenreich in erster Linie ein Ringen um „moralische Überlegenheit“ gewesen sei.138 Viele Quellen zur russländischen Terrorismusgeschichte lassen sich tatsächlich als dualistische Narrative von Gut und Böse lesen. Die Gewalteskalation entstand demnach aus diesem existenziellen Kampf und zwang die Terrorist*innen und ihre Gegner*innen, gewaltsam Position zu beziehen. Die Interaktion zwischen Revolutionär*innen und Obrigkeit radikalisierte die Gewalt, weil jede Seite der anderen immer wieder mit einem jeweils höheren Grad an Gewalt entgegentrat. William Reddy hat gezeigt, dass Emotive im Rahmen der Französischen Revolution eine radikalisierende Dynamik entfalteten. Ein Emotiv ist nach Reddy ein Sprechakt, der ein Gefühl ausdrückt und es im Zuge der Benennung auslöst oder verstärkt.139 Weil Terroranschläge vor allem kommunikative Akte sind, können die Ereignisse selbst als Emotive oder besser als kommunikative emotionale Praxis analysiert werden. Als Praxis verstanden lassen sich Emotionen in den Quellen nachweisen und historisieren.140 Doch die Theorien von der Historisierung der Gefühle können für die Geschichte des Terrorismus noch mehr leisten. Die „emotionalen Gemeinschaften“,141

136 William M. Reddy, The navigation of feeling. A framework for the history of emotions, Cambridge, New York 2001. 137 Ebd., S. 237–248. 138 Engelstein, Weapon of the weak, 2003, S. 680–693. 139 Reddy, The navigation of feeling, 2001, S. 104–110. 140 Monique Scheer, Are emotions a kind of practice (and is that what makes them have a history?). A Bourdieuan approach to understanding of emotions, in: History and Theory 51 (2012), S. 193–220. 141 Barbara Rosenwein, Worrying about emotions in history, in: The American Historical Review 107 (2002), S. 821–845, hier S. 842.

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die Barbara Rosenwein als Konzept in die Debatte eingeführt hat, können helfen, die Verbindungen zwischen den handelnden Akteur*innen und größeren imaginierten Gemeinschaften zu erklären, wo z. B. politische Ideologien dies nicht mehr überzeugend zu leisten vermögen. Das Gedankenmodell der emotionalen Gemeinschaften ermöglicht es, die Beziehung zwischen Terrorist*innen und dem Publikum ihrer Taten und die daraus entstehenden Motivationen zu klären. Nach dem Attentat auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič im Februar 1905 z. B. formierte sich um die Witwe eine emotionale Gemeinschaft, die in Trauer um das Opfer verbunden war. Die Terrorist*innen, weite Teile der revolutionären Bewegung und viele liberale Mitglieder der „Gesellschaft“ reagierten mit Freude auf die Nachricht vom Tod des Großfürsten. Sie trauerten stattdessen um den Attentäter Ivan Kaljaev. Sie bildeten auf diese Weise ebenfalls eine emotionale Gemeinschaft, die sich um ihren Helden scharte. Große Teile der Öffentlichkeit reagierten scheinbar gleichgültig auf das Ereignis. Die beiden konkurrierenden emotionalen Gemeinschaften versuchten, die vermeintlich Gleichgültigen auf ihre Seite zu ziehen. Die Integration der „Massen“ in die je eigene emotionale Gemeinschaft war das Ziel aller Revolutionär*innen.142 Ihre Beziehung zu den sogenannten „Massen“ – oder auch zum „Volk“, nach dem sich die Narodniki ja selbst benannt hatten – beschäftigte die Radikalen im Russischen Reich vom Dekabristenaufstand 1825 bis zu den Revolutionen des Jahres 1917 (und darüber hinaus). Auch wenn sie glaubten, im Namen des Volkes zu handeln, verzweifelten sie doch häufig bei dem Versuch, die Menschen, die sie hinter dem abstrakten Begriff der Massen vermuteten, auch tatsächlich zu erreichen. Der Terrorismus, der unmittelbar emotionale Gemeinschaft (zumindest in der Vorstellung der Akteur*innen) erzeugte, bot so einen Ausweg aus dem ewigen Dilemma der revolutionären Bewegung, das sich hinter dem (Quellen-)Begriff der Massen verbirgt. Zudem verdeutlichen die emotionalen Gemeinschaften, die in der Folge von Terroranschlägen entstanden, wie Terrorist*innen zu Held*innen werden konnten, und spiegeln damit von der Gemeinschaft auf die Intention der handelnden Akteur*innen zurück. Sie erhellen die Motivation der konkreten Handlungen jenseits der Ideologie und erklären die konkurrierenden Rezeptionsgeschichten politischer Gewalt. Die unterschiedlichen Reaktionen auf Terroranschläge, die sich zum Teil überlagern, widersprechen, aber auch unverbunden nebeneinander existieren oder sich wechselseitig verstärken, können durch das Konzept der emotionalen Gemeinschaften plausibel rekonstruiert werden. Gefühle in historischer Perspektive bringen ihre eigenen Notwendigkeiten der Quellenkritik mit sich. Die Gefühlswelten von Herrschenden und Beherrschten waren im Russischen Reich im 19. und im frühen 20. Jahrhundert strengen Konventionen

142 Vgl. zu den emotionalen Gemeinschaften im Zusammenhang mit terroristischen Anschlägen am Beispiel des Attentats auf Sergej Aleksandrovič auführlich: Hilbrenner, Of heroes and villains, 2018, S. 19–38.

Fragestellung: Voraussetzungen, Methoden, Schlüsselbegriffe

unterworfen. So galt z. B. für die männlichen Monarchen ein Verhaltenskodex, der soldatische Tugenden wie Mut und Tapferkeit vorschrieb.143 In diesem Kontext galt es als unwürdig, Angst oder Schmerz zu zeigen. Die Gegner*innen der Obrigkeiten unterstellten den Opfern der Attentate im Gegensatz zu ihrer zur Schau gestellten Tapferkeit Angst und Verwundbarkeit. Dieses Beispiel zeigt, dass der emotionale Diskurs in der Terrorismusgeschichtsschreibung ein umkämpftes Territorium darstellt, auf dem, wie immer, sorgfältige Quellenkritik notwendig ist. Der Schmerz und damit das körperliche Erleiden von Gewalt bleiben in den Quellen meist ein blinder Fleck. Dennoch existieren einige wenige Quellen, die das körperliche Erleben eines Terroranschlages greifbar werden lassen. Eine der wichtigsten ist die Beschreibung des Attentats auf Petr Stolypins Datscha auf der Apothekerinsel in St. Petersburg im August 1906. Die Autorin, Stolypins Tochter Olga, blieb zwar unverletzt, wurde aber unmittelbare Zeugin der Explosion, der Ermordung von 27 Menschen und der Leiden der Verwundeten, darunter ihre Geschwister. Ihre Memoiren beschreiben ihre Erfahrung detailliert und geben so Zeugnis vom Leiden der Opfer.144 Historische Kontexte von Gewalt

Die vom Soziologen Trutz von Trotha geforderte dichte Beschreibung von Körperlichkeit, Emotion und Täter*in-Opfer-Beziehungen läuft Gefahr, das Erleben von Gewalt als überzeitlich zu beschreiben. Demgegenüber soll hier argumentiert werden, dass die Erfahrung von Gewalt sehr wohl von ihren historischen Entstehungszusammenhängen abhängt. Die Frage, ob oder in welchem Maße Gewalt ausgeübt wird, hängt mit der Institutionalisierung von Gewalt in dem jeweiligen historischen Kontext ab.145 Wenn, wie z. B. im Russischen Reich während der Revolution von 1905 bis 1907, revolutionäre und konterrevolutionäre Gewalt die Gesellschaft erschüttern, kann von einer „kulturellen Normalisierung“ der Gewalt gesprochen werden. Diese Form der Institutionalisierung von Gewalt zeichnet z. B. Bürgerkriegsgesellschaften aus.146 Die Menschen, die in diesen Gesellschaften leben, stellen sich auf die Regeln ein, die durch die Gewalt vorgegeben werden. Sie messen ihnen Sinn bei und entwickeln Strategien des Umgangs mit der Gewalt. Zudem sind sie es gewohnt, die Sprache der Gewalt zu dechiffrieren.147 Menschen reagieren unter den Bedingungen der „kulturel-

143 Vgl. dazu Carola Dietze / Frithjof Benjamin Schenk, Traditionelle Herrscher in moderner Gefahr. Soldatisch-Aristokratische Tugendhaftigkeit und das Konzept der Sicherheit im 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), H. 3, S. 368–401. 144 Marija P. Bok, Vospominanija o moem otce P. A. Stolypine, N′ju-Jork 1953. 145 Trotha, Soziologie der Gewalt, 1997, S. 9–56. 146 Peter Waldmann, Terrorismus und Bürgerkrieg. Der Staat in Bedrängnis, München 2003. 147 Baberowski, Gewalt verstehen, 2008, S. 7.

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len Normalisierung“ von Gewalt anders als in einer Umgebung, die weitgehend frei von Gewalt ist.148 Der Ort des Terrorismus: Die Straße

Um die Erfahrung terroristischer Gewalt im Russischen Reich vor 1917 und ihre Kontexte konkret zu machen, wird die Analyse von dem Ort, an dem Terrorismus stattfindet, ausgehen.149 Orte des Terrorismus werden als kulturelle Konstrukte und soziale Aushandlungsräume untersucht. Karl Schlögel, der den Spatial turn in Deutschland populär gemacht hat, weist auf eine scheinbar simple Tatsache hin: „Alle Geschichte hat einen Ort, sie ‚findet statt‘. Alle Geschehnisse und Ereignisse bedürfen eines Schauplatzes so sehr wie des historischen Personals.“150 Die Schauplätze sind indessen nicht beliebige Bühnen, auf denen Konflikte und Machtkämpfe ausgetragen werden. Sie werden von Menschen mit Bedeutungen aufgeladen, die auf sie zurückwirken, ihr Handeln und Denken bestimmen. Menschen machen Orte für sich begreifbar und besetzen sie mit Botschaften, die wiederum neue Gruppen von Sympathisant*innen oder Gegner*innen, neue emotionale Gemeinschaften, erschaffen. Der russländische Terrorismus war in erster Linie ein urbanes Phänomen. Im städtischen Raum fand in der Epoche des Terrorismus die Integration neuer Gruppen in den politischen Kommunikationsprozess statt.151 Neben Klubs oder Vereinen rückt dabei die Straße – als städtischer öffentlicher Raum – ins Blickfeld der Historiker*innen.152 Die Straße ist für die Terrorismusforschung deshalb interessant, weil sie ein wichtiger Schauplatz terroristischer Anschläge war. Die Bedeutung, die dem Schauplatz Straße zukommt, lässt drei Perspektiven auf diesen Ort zu, die sich in ihrer Bedeutung nicht gegenseitig ausschließen, sondern alle zur Komplexität der historischen Erfahrungen auf der Straße beitragen und einander bedingen.

Trotha, Soziologie der Gewalt, 1997, S. 9–56. Vgl. dazu auch: Hilbrenner, Gewalt als Sprache der Straße, 2008, S. 409–432. Karl Schlögel, Chronotop St. Petersburg. Zur Rekonstruktion der Geschichte einer europäischen Metropole, in: Karl Schlögel / Frithjof B. Schenk / Markus Ackeret (Hg.), Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte, Frankfurt am Main 2007, S. 23–46, hier S. 34. 151 Manfred Hildermeier, Bürgerliche Eliten im ausgehenden Zarenreich?, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 48 (2000), S. 1–4. 152 Vgl. z. B. Wolfgang Maderthaner  / Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt/Main 1999; Thomas Lindenberger, Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin, 1900–1914, Bonn 1995; Bernd J. Warneken (Hg.), Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt, New York, Paris 1991. Aktueller und mit Blick auf die Geschichte des Russischen Reiches um die Jahrhundertwende: Mark D. Steinberg, Petersburg fin de siècle, New Haven 2011; Hans-Christian Petersen, „… not intended for the Rich“. Public places as points of identification for the urban poor – St. Petersburg (1850–1914), in: Hans-Christian Petersen (Hg.), Spaces of the poor. Perspectives of cultural sciences on urban slum areas and their inhabitants, Bielefeld 2013, S. 71–96. 148 149 150

Fragestellung: Voraussetzungen, Methoden, Schlüsselbegriffe

Erstens: Auf der Straße war es am leichtesten möglich, Menschen anderer sozialer Herkunft überhaupt anzutreffen und einen Anschlag auf sie zu verüben. Dieser Umstand ermöglichte erst so manche terroristische Tat. Zweitens: Die soziale Vermischung auf der Straße begünstigte den kommunikativen Zweck des Terroraktes. Die Straße und daran angrenzende Räume sind Ort und Medium des sozialen Verkehrs der unterschiedlichsten ständischen, gesellschaftlichen, ethnischen oder anderen Gruppen. Auf der Straße wird gehandelt und verkauft, repräsentiert und beobachtet. Straßen und Plätze waren auch im Russischen Reich Räume politischer Kommunikation. Die Straße war „ein Ort relativ unzensierter Wahrnehmung, eine Art ‚Massenmedium‘ für gesellschaftliche Erfahrungen, die auf Vermischungen, Berührungen und Konfrontationen zwischen Sphären beruhen, die sonst räumlich voneinander getrennt existieren.“153 Drittens: Straßen sind reale Orte des Geschehens, als solche historisch konstituiert und mit einem Nachleben behaftet. Straßen haben eine Geschichte, die durch Erinnerungspraktiken vermittelt wurde und wird. Konkrete Orte, wie z. B. der Kazaner Platz in St. Petersburg, können darüber hinaus zu Gedächtnisorten stilisiert werden und als solche eine Bedeutung und Geschichtsmächtigkeit gewinnen.154 Zentrum und Peripherie

Darüber hinaus verweist die Untersuchung der Straße als Ort des Terrorismus zusätzlich auf ihre Wortbedeutung als infrastrukturelle Größe und wirft damit die Frage nach den räumlichen Bedingungen der Geschichte des russländischen Terrorismus auf. Die räumliche Dimension, die Spannung zwischen Peripherie und Zentrum, ist eines der Schlüsselprobleme der russländischen Geschichte. Dabei sind Zentrum und Peripherie weniger konkrete Orte als vielmehr Raumvorstellungen und Bezüge, die durch historische Akteur*innen konstruiert werden. Diese Raumvorstellungen unterliegen einem stetigen Wandel, der auch von der Perspektive der jeweiligen Akteur*innen abhängt. Deshalb kann ein und derselbe Ort sowohl als Zentrum als auch als Peripherie wahrgenommen werden. Das gilt zum Beispiel für die im Nordwesten des Russisches Reiches gelegene Stadt Vil′na (das heutige Vilnius, jiddisch Vilne, polnisch Wilno). Aus der Perspektive der russländischen Hauptstadt St. Petersburg war Vil′na eine problematische, aber relativ unbedeutende Governementshauptstadt in den Imperial Borderlands.155 Charakteristisch für diese Peripherie war die Besiedlung mit einer nicht-rus-

Lindenberger, Straßenpolitik, 1995, S. 11. Hilbrenner, Gewalt als Sprache der Straße, 2008, S. 409–432. Vgl. zum Konzept den Sammelband: D. R. Brower  / E. J. Lazzerini  / E. Lazzerini (Hg.), Russia’s orient. Imperial borderlands and peoples, 1700–1917, Bloomington, Indianapolis 1997. Dass diese borderlands nicht nur im russländischen Orient, sondern auch in der westlichen Peripherie zu finden sind, zeigt: 153 154 155

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sischen und als fremd und rückständig wahrgenommenen Bevölkerung. Von 1881 bis 1917 galten Sondergesetze, um der brisanten ethnisch-sozialen Gemengelage und den der Region zugeschriebenen Gewalteskalationen Herr zu werden.156 Aus anderer Perspektive aber war Vil′na unter dem Namen Wilno ein Zentrum und unter dem Namen Vilne sogar eine Metropole mit transnationaler Ausstrahlung. Für die Jüd*innen des Russischen Reiches, des Königreichs Polen und darüber hinaus war Vilne eine Stadt von besonderer Bedeutung: Das „Jerusalem Litauens“ verfügte nicht nur über eine zahlenmäßig große jüdische Bevölkerung, es war auch ein im globalen Maßstab bekannter Ort jüdischer Gelehrsamkeit. 157 Für die Pol*innen war Wilno das Zentrum der polnischen Romantik im 19. Jahrhundert, Wirkungsstätte des Nationaldichters Adam Mickiewicz und eine der wichtigen Stätten der polnischen Nationalbewegung.158 Ein ähnliches Auseinanderfallen der Wahrnehmung als Peripherie und Zentrum lässt sich etwa auch für Odessa konstatieren, eine weitere Stadt, die im Folgenden eine wichtige Rolle spielt. Es geht also nicht darum, von vorneherein festzulegen, wo Zentrum und wo Peripherie im Russischen Reich war, sondern darum, die verschiedenen Wahrnehmungen im Blick zu behalten und zu untersuchen, welche Rolle diese divergierenden Raumvorstellungen für die Geschichte des Terrorismus im Russischen Reich in seinen globalen Zusammenhängen spielen. Der Aufbruch des Reiches in die Moderne war eng mit solchen Raumvorstellungen, mit der Frage nach der Durchdringung riesiger Territorien mit Macht, Herrschaft, Zivilisation und ihren Symbolen und Repräsentanten verbunden. Die Eliten setzten dabei spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf neue Kommunikationsmittel wie Telegraph und Eisenbahn – infrastrukturelle Netzwerke, die im Russischen Reich weit größere Distanzen zu überwinden hatten als in anderen Teilen Europas. Zudem verband die Infrastruktur Zentren der wahrgenommenen Fortschrittlichkeit, wie die europäischen Metropolen Moskau und St. Petersburg, aber auch etwa Warschau, Riga oder Odessa, mit den entlegenen Regionen empfundener Rückständigkeit, wie Sibirien, Zentralasien, aber auch den jüdischen Ansiedlungsrayon, der sich von der Ostsee bis ans Schwarze Meer durch die westlichen Gouvernements des Reiches erstreckte.159 Modernisierung bedeutete vor diesem Hintergrund eine „asymmetrische Effizienzsteigerung“, wie Jürgen Osterhammel das genannt hat. Ihre Wahrnehmung

Tuomo Polvinen, Imperial borderland. Bobrikov and the attempted Russification of Finland, 1898–1904, Durham, NC 1995. 156 Vgl. zu den Sondergesetzen und ihrer Bedeutung: Jonathan W. Daly, On the significance of emergency legislation in late imperial Russia, in: Slavic Review 54 (1995), H. 3, S. 602–629. 157 Henri Minczeles / Léon Poliakov, Vilna, wilno, vilnius. La Jérusalem de Lituanie, Paris 2000. 158 Manfred Alexander, Kleine Geschichte Polens, Bonn 2005, S. 255–257. 159 Vgl. zu dieser Auswirkung der Infrastruktur im 19. Jahrhundert auch: Dirk van Laak, Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur 2018, S. 39–49, zum Ansiedlungsrayon: Anke Hilbrenner, Ansiedlungsrayon, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, München 2008, S. 8–10.

Zum Aufbau und zu den Quellen der Arbeit

entlang der infrastrukturellen Netzwerke war typisch für die kolonialen Imperien im 19. Jahrhundert.160 Deshalb wurden die Folgen dieser Ungleichbehandlung zwischen Zentrum und Peripherie, Metropole und Imperial Borderlands auch mit Angriffen auf die sowohl verbindende als auch trennende Infrastruktur ausgetragen. Genau diese Symbole der Durchdringung gerieten in den Mittelpunkt des Ringens um politische Bedeutung. Zahlreiche terroristische Anschläge im späten Zarenreich adressierten dieses Schlüsselproblem, indem sie die konfliktreiche ethnische Gemengelage der Imperial Borderlands vor Ort ausagierten oder die Probleme der Peripherie in die Metropolen trugen, während die Eliten in der Metropole die Bevölkerung an den Rändern mit Gewalt zu kontrollieren suchten. Gerade die Interaktion zwischen Akteur*innen im Zentrum und an der Peripherie trug zur wechselseitigen Eskalation der Gewalt bei. Auch die Rezeption des Terrorismus wird durch das Spannungsfeld von Zentrum und Peripherie beeinflusst. Die Anschläge, die im Zentrum auf hohe zarische Funktionsträger ausgeübt wurden, hatten zumindest zunächst eine große kommunikative Ausstrahlung und sind gut erforscht. Der Massenterror an der Peripherie jedoch blieb diffus, verstärkte aber die Wahrnehmung der entlegenen Regionen des Reiches als gefährlich. Deshalb soll die vorliegende Geschichte des Terrorismus die Spannung zwischen Zentrum und Peripherie und damit eines der Schlüsselprobleme der russländischen Geschichte verhandeln. Die Thematisierung dieses Spannungsfelds nimmt das Russische Reich als Imperium und seine Peripherien als koloniales Problemfeld war. Zum Aufbau und zu den Quellen der Arbeit

Das erste Kapitel analysiert die Inkubationsphase des Terrorismus. Das Phänomen Terrorismus entstand aufgrund einer schleichenden Eskalation von Gewalt, die sich in der Interaktion von Obrigkeit und Radikalen, Zentrum und Peripherie wechselseitig verstärkte. Dieser diskursive Prozess gewann vor allem deshalb an Dynamik, weil Gewalt anfangs nicht die Regel, sondern eine schockierende Ausnahme war.161 Deshalb gibt der Blick auf den Gewaltkontext der terroristischen Ereignisse Aufschlüsse. Auch wenn die ersten beiden Terroranschläge der russländischen Geschichte in St. Petersburg stattfanden und vor allem der Schuss der Vera Zasulič für zahlreiche Nachahmer*innen sorgte, war für die diskursive Eskalation doch auch die Gewalt an der Peripherie des Reiches notwendig. Die Terrorist*innen selbst stießen schließlich einen Zentralisierungsprozess an, der sich sowohl institutionell mit der Gründung des Exekutivkomitees der Narodnaja volja (Volkswille) als auch in der Wahl des Zaren als Ziel äußerte.

160 161

Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, München 52010, S. 1286. Vgl. dazu vor allem: Waldmann, Terrorismus: Provokation der Macht, 2011, S. 12.

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Um diesem Inkubationsprozess auf die Spur zu kommen, wird zunächst beschrieben, wie die städtische Topographie St. Petersburgs die Entstehung und Entwicklung radikaler Gewalt bedingte. Die Untersuchung der für den Terrorismus relevanten Ereignisse auf dem Platz vor der Kazaner Kathedrale ermöglicht die Einbettung terroristischer Taten in den größeren Kontext revolutionärer Aktivität auf der Straße. Die überschaubare Anzahl von terroristischen Ereignissen in diesem Zeitraum an der Peripherie und in St. Petersburg und vor allem die „Jagd“ auf den Zaren ermöglichen die genaue Untersuchung der diskursiven Entstehungsumstände des Terrorismus, seiner Symbolik und seines performativen Charakters in dieser Zeit. Eingedenk der Tatsache, dass Terrorismus zuallererst ein kommunikativer Akt war, wird vor allem danach gefragt, wie die Botschaft der Terrorist*innen gelesen wurde, also welche kommunikative Ausstrahlung die Taten hatten und welche emotionalen Gemeinschaften sich bildeten. Das gilt vor allem für den zentralen Terroranschlag auf den Zaren Alexander II., von dem sich die Terrorist*innen die größte Ausstrahlung versprachen. Die Untersuchung der kommunikativen Ausstrahlung der Attentate wirft die Frage nach den Quellen einer solchen Kommunikationsgeschichte des Terrorismus auf. Neben den klassischen Quellen der Terrorismusgeschichte, wie Polizei- und Justizakten, Bekenner*innenschreiben und anderen programmatischen Schriften der Terrorist*innen selbst, hinterlassen terroristische Ereignisse ihre Spuren in den Massenmedien, die für die Entstehung des Terrorismus zentral sind.162 Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Terrorist*innen mit ihren Taten auf die öffentliche Meinung zielen. Diese ist nicht gleichbedeutend mit dem Inhalt der Zeitungen, aber sie wird davon geprägt. Bereits Bruno Latour hat darauf hingewiesen, dass der Mensch bei der Lektüre der Zeitungen automatisch mit der Komplexität der Welt konfrontiert wird.163 Die Zeitung macht ein Zusammenspiel von Politik, Technologie, Wirtschaft und Kultur zur modernen Erfahrung, die wir jeden Tag verarbeiten und die eben nicht in diese unterschiedlichen Sphären aufgeteilt ist. Die Zeitungsleser*innen wissen, dass technische Erfindungen ebensolche Einflüsse auf ihr Leben haben können, wie politische Entscheidungen oder wirtschaftliche Ereignisse. Die Welt, die Zeitungen abbilden, ist also komplex. Zugleich werden Informationen streng gegliedert, um diese Komplexität fassbar zu machen. Die Zeitung unterteilt sehr wohl zwischen Politik, Technik und Feuilleton, zwischen Werbung und Beitrag. Die Leser*innen erkennen die Hierarchie, nach der Meldungen auf der ersten oder auf der vierten Seite zu lesen sind, und strukturieren ihre Erfahrungen dementsprechend. Zudem ist den Lesenden im Russischen Reich nur allzu bewusst, dass sie es mit den Bedingungen einer gelenkten Öffentlichkeit zu tun haben, und das gilt in besonderem Maße vor der partiellen Gewährung bürgerlicher Freiheiten im Oktober 1905. Die offizielle Lesart des heiklen Vgl. dazu auch: Ebd., S. 15. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995, S. 8. 162 163

Zum Aufbau und zu den Quellen der Arbeit

Themas Terrorismus wurde vom Pravitel′stvennyj vestnik (Regierungsanzeiger) vorgegeben. Vor allem die konservative Presse, allen voran die Moskovskie vedomosti (Moskauer Nachrichten) und ihr Herausgeber Michail Katkov, kommentierte die terroristische Bedrohung der russländischen Autokratie ausführlich und überaus kritisch. Die illegalen Zeitungen der revolutionären Bewegung, die zumeist im Ausland produziert wurden, gaben dagegen die Botschaft der Terrorist*innen selbst wieder. Um etwas über die allgemeine Stimmung einer breiten Öffentlichkeit angesichts der Terroranschläge zu erfahren, lohnt ein Blick in die liberalen Zeitungen, wie etwa die Golos (Stimme), aber auch in die ausländischen Zeitungen, die häufig Korrespondenten in der russländischen Hauptstadt hatten. Allerdings sind gerade diese Quellen nicht besonders verlässlich, da es in der Berichterstattung von Fehlmeldungen, falschen Datierungen164 und sonstigen Ungenauigkeiten wimmelt. Dennoch sind die ausländischen Zeitungen ein wichtiges Mosaiksteinchen bei dem schwierigen Versuch, eine Art „öffentliche Meinung“ im Russischen Reich vor 1905 abzubilden.165 Ein weiterer Mosaikstein sind die Erinnerungen von Terrorist*innen einerseits und die von anderen Autobiograph*innen andererseits, so sie denn von den Terroranschlägen berichten. Vereinzelt können auch andere Quellen, wie etwa Kunstwerke, herangezogen werden, deren Urheber*innen auf gesellschaftliche Zustände und Stimmungen Bezug nehmen. Das zweite Kapitel der Untersuchung beschäftigt sich vor allem mit den zentralen Anschlägen in der zweiten Phase der Geschichte des russländischen Terrorismus von 1901 bis 1907. In einer kurzen Einführung wird das revolutionäre Geschehen um die Jahrhundertwende im Hinblick auf die Entstehungszusammenhänge des Terrorismus erläutert und damit der historische Kontext dieser zweiten Phase hergestellt. Dabei spielt vor allem die Studierendenbewegung eine wichtige Rolle. In der zweiten Phase der russländischen Terrorismusgeschichte entwickelt sich die terroristische Gewalt genau andersherum als in der Inkubationsphase. Zunächst ersteht das Phänomen Terrorismus im Zentrum in der Tradition der Narodnaja volja wieder, findet aber dann zahlreiche Nachahmer*innen und weitet sich vor allem an der Peripherie unkontrolliert – auch von den terroristischen Akteur*innen selbst – zum Massenterror aus. Dieser Prozess wird anhand der ersten zentralen Anschläge und der Reaktion darauf nachgezeichnet. Dabei werden die Anschläge auf den Erziehungsminister Nikolaj Bogolepov, die Innenminister Dmitrij Sipjagin und Vjačeslav Pleve, auf den Generalgouverneur Sergej Aleksandrovič und auf andere hochrangige und symbolträchtige Personen untersucht. Wieder entstand eine zentrale Institution in der Tradition des Exekutivkomitees, die Boevaja organizacija (Kampforganisation) der 164 Aufgrund der unterschiedlichen Kalender kommen die Korrespondenten der ausländischen Zeitungen immer wieder durcheinander. 165 Vgl. zur öffentlichen Meinung auch den Klassiker: Walter Lippmann, Public opinion. [Nachdruck], New Brunswick 1991.

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Partei der Sozialrevolutionär*innen. Und abermals spielen die Orte, an denen der Terrorismus stattfand, eine wichtige Rolle. In dieser Phase war die kommunikative Ausstrahlung der Terroranschläge am größten, und die unterschiedlichen emotionalen Gemeinschaften waren stark konturiert. Als Quellen werden neben den offiziellen und illegalen Zeitungen die ausländische Presse und persönliche Erinnerungen verwendet. Das dritte Kapitel untersucht die Inflation des Terrorismus an der Peripherie. Für das inflationäre Auftreten terroristischer Gewalt in der zweiten Phase spielte der Gewaltkontext jener Jahre eine wichtige Rolle. Nicht nur der „Massenterror“166, sondern auch der Blutsonntag, der Moskauer Aufstand und andere brutal niedergeschlagene Erhebungen und Demonstrationen, massenhafte Pogrome mit Tausenden von Toten, die Kriegsereignisse in Japan, Agrarterror und Strafexpeditionen, die hart gegen die Zivilbevölkerung – auch gegen Frauen und Kinder – vorgingen, Meutereien und Streiks sowie Schnellverurteilungen durch Standgerichte trugen dazu bei, dass das Experiment der Revolution von den meisten Zeitgenoss*innen als überaus gewaltsam erlebt wurde. In der individuellen Erinnerung wurde diese Erfahrung allerdings genauso häufig wie in der Forschung durch die Ereignisse von Krieg, Revolution und Bürgerkrieg ein Jahrzehnt später überlagert. Um die Inflation der Gewalt an der Peripherie zu beschreiben, werden zahlreiche neue Akteur*innen eingeführt, die Terrorismus als Kommunikationsmittel einsetzten: lokale und von den zentralen Akteur*innen unkontrollierbare Gruppen der PSR, die Anarchist*innen, rechte Gruppierungen wie die Union des Russischen Volkes oder auch manche Sozialdemokrat*innen. Auch gerieten neue Gruppen ins Visier der Terrorist*innen. Es wurden nicht mehr nur die zentralen Funktionseliten des Zarenreiches Opfer von Terroranschlägen, sondern die Ziele wurden um Polizisten, aber auch um sogenannte „Kapitalisten“ oder die „Bourgeoisie“ erweitert. Weil die Terrorist*innen bestimmten, wer jeweils als „Kapitalist“ oder „Bourgeois“ zu bezeichnen war, konnte in dieser Phase so gut wie jede/r Opfer eines Anschlags werden. Am Beispiel der terroristischen Ereignisse in der Stadt Odessa, im Südwesten des Reiches gelegen, soll die Gewalteskalation im Jahr 1905 an der Peripherie nachgezeichnet werden. Anhand dieser Beschreibung ausgewählter Beispiele geraten bislang namenlos gebliebene Akteur*innen, vor allem anarchistische Terrorist*innen, aber auch die Opfer, die in diesem Falle keine hochrangigen Würdenträger des Zarenreiches waren, in den Blick. Auch hier waren wieder die Orte, an denen der Terrorismus stattfand von Bedeutung. Neben der polizeilichen Überlieferung zu den Ereignissen bzw. Akten zu einzelnen Gewalttäter*innen oder anarchistischen Gruppen spielt als Quelle vor allem die 166 Vgl. zum Begriff des „Massenterrors“ in den Quellen der Zeit z. B.: Vilenskaja federativnaja gruppa anarchistov-kommunistov, Palačam – Smert!, in: Anarchisty, Moskva 1999, S. 339–343. Als analytischen Begriff für die zweite Phase des Terrorismus nutzt ihn auch: Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 31.

Zum Aufbau und zu den Quellen der Arbeit

Berichterstattung in den Zeitungen eine wichtige Rolle. Im Zuge der revolutionären Ereignisse des Jahres 1905 änderten sich die Bedingungen für die Presse im Russischen Reich fundamental. Die Vorzensur wurde aufgehoben, und eine Vielzahl neuer Zeitungen, vor allem im liberalen Spektrum, entstand. Zwar wurde während der Revolution immer wieder der Ausnahmezustand verhängt und damit die Arbeit der Zeitungen temporär eingeschränkt, auch erschienen während der Generalstreiks in der Regel keine Zeitungen, dennoch entstand durch die Aufhebung einer großen Zahl von obrigkeitlichen Regulierungen im Jahr 1905 ein breites Spektrum an Presseorganen, die relativ ungehindert von den politischen Ereignissen in dieser so brisanten und turbulenten Zeit berichten konnten. Neben den liberalen Zeitungen in Odessa, die von der Gewalt berichteten, warfen auch die Printmedien im Zentrum einen Blick auf die Peripherie. Zusätzlich zu der Presse, der wissenschaftlichen, populären und schönen Literatur, der Kunst, den Tagebüchern und Memoiren, den Feuilletons und den edierten Quellen liegen dieser Arbeit auch Quellen aus verschiedenen Archiven zugrunde. Wichtig für die Geschichte des russländischen Terrorismus war und ist das Archiv der „Partija Socialistov-Revoljucionerov (PSR), 1870–1934“ im International Institute of Social History in Amsterdam. Es enthält Materialen sowohl zur Geschichte der Narodnaja volja als auch zur Geschichte der Partei der Sozialrevolutionär*innen, vor allem aus der Perspektive der Partei selbst und ihrer Mitglieder. In den Papieren finden sich Prozessberichte, Flugblätter, Parteiunterlagen auch aus den lokalen Parteigliederungen, persönliche Aufzeichnungen, Pressespiegel, Karikaturen, Fotos und Korrespondenzen. Die Geschichte des Zentrums und des zentralen Zugriffs der zentralen Akteure auf den Terrorismus im Russischen Reich wurde vor allem anhand der Akten im Staatlichen Archiv der Russischen Föderation in Moskau (GARF) und im Russischen Staatlichen Historischen Archiv in St. Petersburg (RGIA) rekonstruiert. Im Zentralen Staatlichen Archiv der Ukraine (CDIAK) in Kiew fiel die auffällige Häufung von terroristischen – vor allem anarchistischen – Gruppierungen in Odessa ins Auge. Die Akten dort ermöglichten eine genaue Untersuchung der anarchistischen terroristischen Anschläge im Dezember 1905. Neben diesen Archiven erwiesen sich einige Bibliotheken oder Handschriftenabteilungen mit ihren Zeitungsbeständen, persönlichen Aufzeichnungen von Zuwander*innen, die im Russischen Reich der PSR nahestanden, oder anderen Rara als sehr ergiebig. Das Material ist vielfältig und verschiedenartig. Die eine Quelle oder Quellengattung, die zuverlässig über die komplexe Frage nach den Intentionen der Terrorist*innen, ihren Botschaften und ihrer Rezeption in verschiedenen emotionalen Gemeinschaften Auskunft geben kann, habe ich leider nicht gefunden. Stattdessen habe ich versucht, verschiedene Perspektiven so zu verweben, dass sie in den folgenden drei Kapiteln Entstehungskontexte, Funktionsweisen und Ausstrahlungen des Terroris-

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mus im Russischen Reich deutlich machen und so terroristische Gewalt im gesamten Zeitraum der russländischen Terrorismusgeschichte zwischen den Polen Zentrum und Peripherie als kommunikative Praxis verständlich werden lassen.

1.

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Zu den Beilen! Schlagt die Zarenpartei ohne Erbarmen, so wie sie uns ohne Erbarmen entgegengetreten ist! Schlagt sie auf den Plätzen, wenn das Hundepack sie zu betreten wagt! Schlagt sie auf den Gassen der Provinzstädte und auf den Boulevards der Metropolen! Schlagt sie auf den Dörfern und in den Weilern!1

Diese Zeilen aus einem Manifest „An das junge Russland“ markieren den Beginn der Geschichte des Terrorismus im Russischen Reich in mehr als einer Hinsicht.2 Sie gelten als erste Manifestation des russländischen Jakobinismus3 und verbreiteten unter den Liberalen und Konservativen Angst und Schrecken.4 Sie bedienten sich einer brutalen und gewaltbereiten Sprache, die sich in die Traditionslinie radikaler Revolutionsrhetorik seit dem Aufstand der Dekabristen einreihte. Zudem nahm sie Anleihen an der gewaltsamen Wortwahl, wie sie während der Französischen Revolution üblich war. So war z. B. Louis Antoine Saint-Just bekannt für seine gewaltverherrlichenden Reden.5 Die russländischen Terrorist*innen nahmen sich das Mutterland der „terreur“ zum Vorbild, das wurde auch an der Sprache deutlich. Davon ausgehend trug die terroristische Rhetorik zur weiteren Radikalisierung dieses Diskurses bei.6 So spricht der Autor von den revolutionären Strömen von Blut, in denen auch unschuldige Opfer umkommen werden.7 Deutsch zitiert nach: Hans Magnus Enzensberger, Die Träumer des Absoluten, in: Politik und Verbrechen. Neun Beiträge, Frankfurt am Main 31990, S. 283–326, hier S. 285. 2 Wann die Geschichte des (russländischen) Terrorismus beginnt, ist nicht unumstritten. Claudia Verhoeven und Carola Dietze legen sich auf das Attentat von Dmitrij Karakozov fest: Verhoeven, The odd man Karakozov, 2009. 3 Vgl. dazu auch: Hilbrenner, Gewalt als Sprache der Straße, S. 409–432. 4 Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 292. 5 Vgl. z. B. Elisabeth Löhlein-Hofstädter, Rhetorik der Französischen Revolution. Untersuchungen auf der Basis eines erweiterten Verständnisses von Rhetorik, Aachen 1997. 6 Vgl. zur Gewaltbereitschaft des radikalen Milieus seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch: Stephan Rindlisbacher, Das radikale Milieu im vorrevolutionären Russland, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (2013), S. 1–16. 7 Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 293. 1

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Von der Peripherie ins Zentrum

Zudem benannte er die Orte, an denen Terrorismus stattfand. Es handelte sich dabei um die „Plätze“, die „Gassen der Provinzstädte“ und um die „Boulevards der Metropolen“. Der Verfasser beanspruchte diese öffentlichen Orte für sich, denn er warnte das „Hundepack“ davor, sie zu betreten. Zudem kündigte er Gewalt im Zentrum („Metropolen“) und an der Peripherie („Dörfer“ und „Weiler“) an. Dieses Manifest begann im Mai 1862 in St. Petersburg zu zirkulieren, doch wo kam es her? Als es erschien, wusste niemand, wer für das in einer solch brutalen Sprache verfasste Schreiben verantwortlich war. Dieser Umstand verstärkte die Angst, die das Pamphlet auslöste. Der Ort der Distribution, St. Petersburg, war in diesem Falle Teil der Konspiration und damit auch Teil der Botschaft einer unheimlichen, weil nicht greifbaren Bedrohung für die „Zarenpartei“ oder die „liberalen und reaktionären Teufel“.8 Urheber des Manifestes war der neunzehnjährige Petr Zaičnevskij, der in Orel′ als Sohn eines nicht besonders wohlhabenden Landbesitzers zur Welt gekommen war. Zaičnevskij war in Moskau wegen der Veröffentlichung revolutionärer Schriften verhaftet worden und schrieb „An das junge Russland“ im Moskauer Gefängnis. Die Haftumstände erwiesen sich für ein solches Pamphlet als äußerst produktiv. Zaičnevskij und einer seiner Mitverschwörer belegten eine Zelle, die sich in einen politischen „Club“ verwandelte. Sie konnten Besuch empfangen, der sie mit Zeitungen (auch illegalen), Büchern und Lebensmitteln versorgte. Außerdem wurde dieser „Club“ Treffpunkt für eine Reihe von politischen Häftlingen im Gefängnis, von denen manche für Teile des Pamphlets verantwortlich sein dürften. Zudem durften die Häftlinge sogar, in Begleitung eines Wärters, das Gefängnis verlassen. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass der Text seinen Weg in eine Druckerpresse nach Rjazan′ fand und dort vervielfältigt wurde. Von dort aus wurde er nach St. Petersburg gebracht, um seine Entstehungszusammenhänge in Moskau zu verschleiern.9 In St. Petersburg wurde das Manifest schließlich veröffentlicht. Die dortige Polizei konnte sich, gemäß den Plänen der Urheber, die Herkunft des Textes tatsächlich nicht erklären. Die Wirkung der Schrift erstaunte wohl auch die Verfasser selbst. Aus der Metropole verbreitete sich das Schreiben in rasanter Geschwindigkeit in den Regionen des Reiches, in denen die revolutionäre Jugend aktiv war.10 Dimitrij Karakozov: Der erste Terroranschlag im Russischen Reich

Vier Jahre nach Zaičnevskijs Manifest unternahm Dmitrij Karakozov den Versuch, den Zaren zu töten. Am 4. April 1866, als Alexander II. aus dem ältesten Park St. Petersburgs, dem Sommergarten, auf die Straße am Neva-Ufer trat, lauerte Karakozov ihm 8 Ebd., S. 292. 9 Ebd., S. 289–293. 10 Ebd., S. 292.

Dimitrij Karakozov: Der erste Terroranschlag im Russischen Reich

inmitten einer Menschenmenge auf. Er zog eine Pistole, schoss damit auf den Autokraten, verfehlte ihn und wurde verhaftet. Karakozov war fiebrig, aufgewühlt und galt als geistesgestört. Aufgrund von Indizien, die sich in seiner Kleidung fanden, begriff die Polizei ihn als Teil einer größeren Verschwörung. Er wurde beschuldigt, der Moskauer sozialistischen Studentenbewegung „Organisation“ anzugehören. Zur „Organisation“ gehörte eine kleine revolutionäre Zelle, welche die „Hölle“ genannt wurde. Die Ermittler brachten sie mit Revolutionären in der sibirischen Verbannung und mit solchen in der Schweiz gleichermaßen in Verbindung. In zwei auf die Tat folgenden Prozessen beschuldigte der Staatsanwalt insgesamt 35 Menschen der Konspiration. Alle wurden verurteilt. Karakozov selbst wurde am 3. September 1866 öffentlich gehängt.11 Am Tatort war eine größere Menschenmenge anwesend. Darunter war auch der Bauer Osip Komisarov. Er sei dem Täter in den Arm gefallen und habe dadurch das Leben des Zaren gerettet, so hieß es. Zum Dank für diese Tat wurde Komisarov in den Adelsstand erhoben.12 Claudia Verhoeven hat in ihrer faszinierenden Studie über dieses Attentat sowohl die Entstehungszusammenhänge als auch die Wirkungsgeschichte des Ereignisses untersucht.13 Sie konnte zeigen, dass das Attentat eine große mediale Ausstrahlung auf das gesamte Reich hatte. So wurde beispielsweise die Geschichte von der Rettung des Zaren durch den Bauern Komisarov zu einem Medienereignis, welches die letzten Winkel des Imperiums erreichte. Zwar äußerten zahlreiche Zeitgenoss*innen ihre Skepsis gegenüber dem genauen Ablauf, aber in Ermangelung eines Narrativs, das dem Anschlag auf den Zaren selbst Sinn hätte geben können, wurde die Rettung wieder und wieder aufbereitet und Komisarov als Held gefeiert. Neben Zeitungsartikeln erschienen Broschüren in mehreren Auflagen, die das Geschehene noch einmal im Detail wiedergaben. Komisarovs Foto-Konterfei konnte auf den sogenannten Visitenkarten – ein Bildmedium der Zeit – zu den unterschiedlichsten Preisen erworben werden. Es wurde in hohen Auflagen gedruckt, war allen Gesellschaftsschichten zugänglich und erwies sich als Verkaufsschlager. Die Zeitungen druckten untertänige Adressen, Dankesbriefe von Untertan*innen aus allen Teilen des Reiches, das sich in der Reaktion auf das ungeheuerliche Ereignis vor den Augen der Leserschaft als patriotisches Imperium manifestierte.14 Diese untertänigen Adressen, deren Erhalt im Pravitel′stvennij vestnik (Regierungsanzeiger) durch Abdruck dokumentiert werden konnte, waren ein wichtiges Instrument der gelenkten Kommunikation im Zarenreich. Individuen, vor allem aber auch Insti11 12 13 14

Verhoeven, The odd man Karakozov, 2009, S. 7–8. Ebd., S. 66–84. Ebd. Ebd., S. 72.

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tutionen wie Zemstva, städtische Parlamente oder Adelsgesellschaften wandten sich mit einem Brief (manchmal auch mit einem Geschenk oder einem Gedicht) direkt an den Kaiser. Dieser konnte diese Adressen entgegennehmen und sich bedanken, was dann im Pravitel′stvennyj vestnik vermeldet wurde. Einerseits war der Aufwand für diese Art der Kommunikation groß, weshalb eine große Zahl der Briefe nicht formal angenommen wurde. Dennoch waren diese Adressen ein wichtiges Instrument zarischer Herrschaftspraxis, die sich mit Hilfe der Zuschriften der Loyalität der Untertan*innen versichern und diese gegenüber der Öffentlichkeit demonstrieren konnte. So konnte der autokratische Herrscher einerseits direkt mit seinen Untertan*innen kommunizieren und auf der anderen Seite deutlich machen, welche Reaktion auf dieses gefährliche Ereignis einerseits und über seine Rettung andererseits angemessen war. Diese Form der Kommunikation spielte in der Kommunikationsgeschichte des Terrorismus auch weiterhin eine bedeutende Rolle.15 Doch nicht nur die offizielle Repräsentation von Dankbarkeit, sondern auch die Mechanismen des Kapitalismus erfassten das Reich im Komisarov-Taumel. So konnten die Untertan*innen des Zaren Komisarov-Pralinen erwerben, Komisarov-Bier trinken oder sogar Komisarov-Zigaretten rauchen und sich durch den Konsum dieser Genussmittel abermals als Patriot*innen präsentieren.16 Der Ort, an dem das Attentat stattfand, war die Straße, ein Ort, an der sich der Zar unter seinen Untertan*innen bewegen konnte. Der Herrscher hatte seinen regulären Nachmittagsspaziergang im Sommergarten beendet. Im Norden, zur Straße am Ufer der Neva hin, wird der Park von dem berühmten schmiedeeisernen Gitterzauns Jurij Feltens, das ein Wahrzeichen St. Petersburgs ist, begrenzt. Vor dem westlichen der drei Tore des Felten-Gitters wartete wie üblich eine Menschenmenge auf Alexander II., um einen Blick auf ihn zu werfen, während er seine Kutsche bestieg. Der Tatort offenbart den Charakter der Straße als öffentlichen Ort, an dem Zar und Untertan*innen sich begegnen. Zugleich zeigt er, dass Karakozov die Tat mit Hilfe des öffentlichen regelmäßigen Tagesablauf des Herrschers geplant hatte. Nach der Rettung des Autokraten wurde das westliche Tor des berühmten Zauns durch eine Kapelle ersetzt. Der Architekt Roman Kusmin plante und baute diesen Erinnerungsort 1867 im neorussischen Stil. Alexander ließ die Kapelle im Gedenken an das durch Komisarov vereitelte Attentat seinem Schutzpatron Aleksandr Nevskij weihen. Die kommunistischen Stadtplaner befahlen 1930 schließlich ihren Abriss.17 Auch Vgl. dazu vor allem: Julija Safronova, Vernopoddanničeskie adresa kak istočnik dlja izučenija obščestvennogo mnenija (na primere adresov po povodu careubijstva 1 marta 1881 g.), in: Evropejskij Universitet v Sankt-Peterburge (Hg.), Sovremennye metody issledovanij v gumanitarnych naukach. Materialy naučnoj konferencii studentov, aspirantov, molodych učenych, S.-Peterburg 2008, S. 24–26. 16 Verhoeven, The odd man Karakozov, 2009, S. 72. 17 Vera Morjachina, Die Gärten St. Petersburgs, in: Karl Schlögel / Frithjof Benjamin Schenk / Markus Ackeret (Hg.), Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte, Frankfurt am Main 2007, S. 385–397, hier S. 392. 15

Ideologien

an dem Ort, an dem Alexander II. fast 15 Jahre später getötet werden sollte, wurde zu seinem Gedenken eine Kirche im neorussischen Stil erbaut: Die Christus-Erlöser-Kathedrale wurde um einiges größer und auch im Sinne der Stadtplanung bedeutender realisiert, als die Gedächtniskapelle zur Errettung des Zaren es war. Die Erinnerungspolitik der russischen Obrigkeit zeigt also, dass die Rettung des Zaren im Vergleich zu seiner Ermordung eine relative Marginalie war. Claudia Verhoeven argumentiert, dass das Attentat Karakozovs als erste terroristische Tat Schock, Irritation und Verwirrung auslöste, weil es zu diesem Zeitpunkt noch keinen Präzedenzfall gegeben hatte. Die Kapelle mag ein weiteres Indiz dafür sein, dass die administrative Elite unter Alexander II. die Bedeutung und das Ausmaß der Tat Karakozovs noch nicht richtig einordnen konnte. Verhoeven zeigt in ihrem Buch, dass der moderne Terrorismus nicht erst mit der Jagd auf den Zaren durch die Narodnaja volja seinen Anfang nahm, sondern dass die Wurzeln in diesem Attentat des „odd man“ Karakozov liegen. Der versuchte Zarenmord Karakozovs unterscheidet sich von den zahlreichen Herrschermorden der Vormoderne durch den neuen Bezugsrahmen. Die Moderne, so Verhoeven, zeichnet sich vor allem durch das Bewusstsein der historischen Subjekte aus, Teil einer imaginierten Gemeinschaft zu sein, die trotz ihrer physischen Verteilung auf einen größeren Raum synchron miteinander lebt. Technologie und Telekommunikation verbinden die Mitglieder dieser Gemeinschaft und unterrichten darüber, was war, was ist und was sein wird. Dadurch erst entsteht Geschichte und ein Verhältnis des Individuums zur Geschichte.18 So wird die Tat des Einzelnen wirkungsmächtig für „die Geschichte“. Karakozovs Attentat zeigt erstmalig eine Grundlage terroristischen Handelns in der Moderne auf, auf die nachfolgende Generationen von Terrorist*innen aufbauen werden: Gewalt wird schnell zu jedermann an jeden Ort kommuniziert. Diese Information garantiert Bedeutung, denn Gewalt ist selbst Bedeutung. Die Tat verändert die Welt.19 Das erste Attentat auf den Zaren von 1866 zeigt den kommunikativen Charakter terroristischer Gewalt, die von Karakozov selbst „faktische Propaganda”20 genannt wurde. Ideologien

Doch wo kamen die Ideen her, die Zaičnevskij und Karakozov propagierten? Alexander Herzen (Aleksandr Gercen, 1812–1870) war einer der Vordenker der russländischen revolutionären Bewegung im 19. Jahrhundert. Das Schicksal der Dekabristen, Vgl. auch: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979. 19 Verhoeven, The odd man Karakozov, 2009, S. 7. 20 Ebd., S. 5, S. 128–149. 18

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das er als junger Mensch gespannt verfolgte, beeindruckte ihn tief.21 Als oppositioneller Literat und Philosoph rang er später um einen spezifisch russischen Sozialismus. Seiner Vorstellung nach stellten die russischen Bäuer*innen und ihre traditionelle Gemeindeverfassung eine gleichsam natürlich vorkommende Zelle sozialistischen Zusammenlebens dar: Wir nennen jenen Sozialismus russischen Sozialismus, der sich vom Boden und vom bäuerlichen Alltag herleitet, von der tatsächlichen Zuteilung und der existierenden Umverteilung von Feldern, von kollektivem Besitz und gemeinsamer Verwaltung, und der Seite an Seite mit dem Arbeiter-Artel′ zu jener ökonomischen Form der Gerechtigkeit führt, die Sozialismus prinzipiell anstrebt.22

Wegen des Bezugs zum russischen bäuerlichen Leben, zum Volk (Narod), nannten die Zeitgenoss*innen den „russischen Sozialismus“ auch Populismus. Der Populismus (Narodničestvo) und seine Anhänger*innen (Narodniki) beherrschten lange Zeit den sozialistischen Diskurs im Russischen Reich. Die universale Modernisierungsideologie des Marxismus setzte demgegenüber die Industrialisierung und darauf folgend den Sieg der Arbeiterklasse als Grundlage einer sozialistischen Gesellschaft voraus. Diese Strömung gewann erst ab den 1870er Jahren an Einfluss und konkurrierte bis zur Oktoberrevolution mit dem Narodničestvo um die Vorherrschaft im linken politischen Spektrum. Alexander Herzen gilt als Erfinder des Populismus. Dagegen charakterisiert Franco Venturi den etwas später geborenen Nikolaj Černyševskij (1828–1889) als „Politiker“ dieser Ideologie. Černyševskij habe, so Venturi, dem Populismus erst seine Inhalte verliehen. Zudem prägte er die Leitlinien populistischen Lebens und Handelns.23 Černyševskij wurde 1862 wegen der Veröffentlichung seiner Thesen in der Zeitschrift Sovremennik (Der Zeitgenosse) verhaftet. Im Gefängnis schrieb er 1863 den Roman „Was tun?“24 Die Helden dieser Sozialutopie – Vera Pavlovna und Pavel Rachmetov – verkörperten den „neuen Menschen“. Die junge Intelligencija der 1860er und 1870er nahm sich sowohl die Lebensführung als auch die soziale Praxis dieser beiden literarischen Figuren, die sich in Arbeit, freier Liebe, Bildung und Ausbildung manifestierte,

Vgl. dazu Alexander Herzen, Die russische Verschwörung und der Aufstand vom 14. December 1825. Eine Entgegnung auf die Schrift des Baron Modeste Korff „Die Thronbesteigung Kaiser Nicolaus I. von Russland im Jahre 1825“, Hamburg 1858. 22 Aleksandr I. Gercen, Porjadok toržestvuet!, in: Ders. Sobranie sočinenij. V tridcati tomach,XIX, Moskva 1954, S. 166–199, hier S. 193. 23 Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 129. 24 Nikolaj G. Černyševskij, Čto dělat′? Iz razskazov o novych ljudjach, Vevey, V Ženevě 1867. 21

Ideologien

zum Vorbild.25 Steven Marks bezeichnet diesen Roman als „die Bibel“ der Radikalen.26 Sein Schicksal, Verhaftung und Verbannung nach Sibirien, machte Černyševskij darüber hinaus zu einem weiteren Märtyrer der revolutionären Bewegung. Als die Begeisterung für Černyševskij ihre Wellen schlug, hatte der international bekannteste russische Radikale die erste Hälfte seiner Karriere schon hinter sich. Michail Bakunin (1814–1876) verließ das Russische Reich, um an den Revolutionen in Ostmitteleuropa im Jahr 1848 teilzunehmen. Dafür wurde er verhaftet und verbrachte mehr als ein Jahrzehnt in europäischen Gefängnissen und im sibirischen Exil. Von dort floh er 1861 in die Schweiz. Der Anarchist Bakunin stritt mit Karl Marx um zentrale Richtungsfragen in der internationalen Arbeiterbewegung. Anders als Marx und im Einklang mit seinen russischen Erfahrungen erwartete Bakunin von den bäuerlichen Massen den gewaltsamen Umsturz der herrschenden Verhältnisse. An die Stelle der zerstörten alten Ordnung sollte, nach seinem Willen, eine neue Gesellschaftsordnung treten: „Die Lust an der Zerstörung ist gleichzeitig eine schaffende Lust“27, war sein linkshegelianisches Credo, das später zum Schlagwort der anarchistischen Terrorist*innen im Russischen Reich avancierte. Mit seiner Theorie fand er Anhänger*innen vor allem in den nicht-industrialisierten Regionen an der südlichen und östlichen Peripherie Europas und in Lateinamerika. Mit seiner Hoffnung auf die mythische Kraft gewaltsamer bäuerlicher Erhebungen und seiner martialischen Bildsprache löste er die Erwartungen der revolutionären russländischen Jugend ein und schloss an ihre Vorbilder und Erfahrungen an. Dabei half ihm die Vorstellung, dass den Russ*innen die Erlösung der Welt in der Revolution oblag: „In Moskau wird aus einem Meer von Blut und Feuer hoch und herrlich das Gestirn der Revolution emporsteigen, und zum Leitstern werden für das Heil der ganzen befreiten Menschheit.“28 Aus diesen pathetischen Zeilen spricht der positive Gewaltbegriff der Revolutionär*innen des 19. Jahrhunderts. Im Jahr 1869 bekam Bakunin, als russische „radical celebrity“29 im Genfer Exil, Besuch von einem jungen Radikalen: Sergej Nečaev (1847–1882). Nečaev war zuvor in der russischen Studierendenbewegung aktiv gewesen, lebte ein asketisches Leben nach dem Vorbild von Černyševskijs Romanhelden Rachmetov und hatte mit einer kleinen Gruppe Verschwörer die Ermordung Alexanders II. für den 19. Februar 1870 geplant. Er überredete 97 Studierende, eine Petition zu unterschreiben, welche die Freiheit der

Vgl. z. B. Adol′f A. Demčenko, N. G. Černyševskij. Pro et contra.; Ličnost ′ tvorčestvo N. G. Černyševskogo v ocenke russkich pisatelej, kritikov ; antologija, Sankt-Peterburg 2008; Andrew Michael Drozd, Chernyshevskii’s What is to be done? A reevaluation, Evanston, Illinois 2001, oder Irina Paperno, Semiotika povedenija: Nikolaj Černyševskij – čelovek ėpochi realizma, Moskva 1996. 26 Marks, How Russia shaped the modern world, 2003, S. 13. 27 Michail [alias Jules Elysard] Bakunin, Die Reaction in Deutschland. Ein Fragment von einem Franzosen, in: Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, 1842. 28 Michail Bakunin, Aufruf an die Slaven. Von einem russischen Patrioten, Koethen 1848, S. 26. 29 Marks, How Russia shaped the modern world, 2003, S. 8. 25

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Versammlung an den Universitäten forderte, und übergab diese Namen anschließend der Polizei, um die Studierenden durch Verhaftung und Strafe zu radikalisieren.30 Nečaev beeindruckte Bakunin mit der Legende, er sei der Kopf einer großen und im Russischen Reich einflussreichen revolutionären Vereinigung. Demgegenüber machte Bakunin Nečaev glauben, er sei der Anführer der international agierenden Allianz der Weltrevolution. Die Zusammenarbeit der beiden Radikalen, die unter anderem auf diesen gegenseitigen Fehlinformationen beruhte, war äußerst folgenreich. Gemeinsam erschufen Bakunin und Nečaev den berüchtigten „Revolutionären Katechismus“ im Sommer 1869 in Genf.31 Der Katechismus besteht aus 26 Geboten, die das Verhalten des Revolutionärs gegenüber sich selbst, gegenüber seinen Kameraden – tatsächlich dachten Bakunin und Nečaev die Revolutionäre hier vor allem als Männer, auch wenn diese Annahme der Realität widersprach – und gegenüber der Gesellschaft regelten. Demzufolge musste der Revolutionär sich von seinen Bindungen, wie Familie, Tradition oder allem anderen, das ihn an sein früheres Leben erinnerte, lossagen. Außerdem stand er außerhalb von Moral und Werten. Revolutionäre Inhalte interessierten ihn nicht, er beschäftigte sich allein mit der Zerstörung des bestehenden Systems. Die Zerstörung, die über allem stand, konnte sich dabei auch gegen den Revolutionär selbst richten. Gedanken über die Inhalte der Revolution wiesen die Autoren kommenden Generationen von Revolutionären zu. Damit wurde der Revolutionär, so der Katechismus, selbst zum „Tyrannen“ – zum „Tyrannen“ gegenüber sich selbst und gegenüber den Protagonisten der bestehenden Ordnung, die der Katechismus in fünf (Frauen in drei) Kategorien, je nach Nützlichkeit für die revolutionäre Sache, einteilte. Diese Menschen wurden entweder benutzt oder getötet (oder beides). Als zentrale Organisationsform führten die Autoren die revolutionäre Zelle ein, in der die Revolutionäre ihre Aufgaben erfüllen sollten. Den Kameraden innerhalb der Zelle galt die höchste Solidarität des Revolutionärs, wobei auch hier nicht die revolutionäre Freundschaft, sondern die revolutionäre Sache im Vordergrund stand. Zudem gab es Revolutionäre zweiter und dritter Klasse, die mitleidlos benutzt werden konnten.32 Der „Revolutionäre Katechismus“ ist ein Dokument, in dem Gewalt und Zerstörung zentrale Bedeutung zukommt. Es zeugt von tiefer Inhumanität, der Mensch als solcher spielte keine Rolle, weder als Revolutionär noch als Opfer. Er war Mittel zum Zweck, der Umsturz als oberstes Ziel stand über den Menschen, auch über denen,

Feliks M. Lur′e, Nečaev. Sozidatel′ razrušenija, Moskva. Molodaja Gvardija 2001, S. 67–68.; vgl. auch: Siljak, Angel of vengeance, 2008, S. 97. 31 Marks, How Russia shaped the modern world, 2003, S. 13. 32 Sergej Nečaev, The revolutionary catechism. http://www.marxists.org/subject/anarchism/nechayev/ catechism.htm (08. September 2020). 30

Die revolutionäre Bewegung seit den 1860er Jahren

in deren Namen um die neue Ordnung gestritten wurde. Diese neue Ordnung selbst blieb jedoch diffus, das utopische Ziel wurde nicht mit Inhalt gefüllt. Dennoch wurde der Katechismus populär, er prägte die terroristische Bewegung im Russischen Reich und wurde zum Vorbild revolutionären Handelns weltweit. Auch wenn der Text sich auf Quellen im Russischen Reich, aber auch in Italien oder Frankreich zurückführen lässt, war der systematische Zugriff auf revolutionäre Konspiration neu. Die Zelle, die als Organisationsform ein wichtiger Schritt bei der Entwicklung des modernen Terrorismus war, wird in diesem Schriftstück als Idealtyp skizziert. Vor allem prägte die Idee der Solidarität der Kamerad*innen innerhalb der revolutionären Zelle das Leben der Terrorist*innen im Russischen Reich bis 1917. Freundschaft und Empathie der Terrorist*innen untereinander bestimmten den revolutionären Verhaltenskodex, sie wurden von den Revolutionär*innen unterschiedlicher Gruppierungen und Generationen immer wieder betont und schienen die Kaltblütigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern und die Unaufrichtigkeit gegenüber Gesellschaft und Sympathisant*innen wettzumachen. Mit dem „Katechismus des Revolutionärs“ im Kontext der revolutionären Ideen im Russischen Reich waren die ideologischen Grundlagen für die rasante Entwicklung des Terrorismus im Russischen Reich gelegt. Programmatische Ideologien oder Visionen für eine neue Gesellschaftsordnung spielten bei den Terrorist*innen, wie im Katechismus bereits angedeutet, wenn überhaupt nur eine untergeordnete Rolle. Die Terrorist*innen wollten, unabhängig von ihren ideologischen Grundlagen, vor allem „im Terror arbeiten“.33 Die revolutionäre Bewegung seit den 1860er Jahren

Auch wenn Nečaev und Bakunin dem jeweils anderen ihre Massenbasis nur vorgaukelten, entstand die terroristische Bewegung im Russischen Reich dennoch nicht aus dem Nichts. Eine vielfältige revolutionäre Bewegung hatte sich seit den Dekabristen immer wieder neu formiert und wurde genauso regelmäßig von der Polizei niedergeschlagen. Unter den Revolutionär*innen bildeten sich intellektuelle Zirkel, in denen eher debattiert wurde, und Gruppen von Aktivist*innen, für die die revolutionäre Tat im Vordergrund stand. Literaten prägten diese häufig jungen Leute. Die Revolutionär*innen hatten zahlreiche Vorbilder, deren Leben zwischen zwei Buchdeckeln stattfand.34 Wie Vera Pavlovna und Pavel Rachmetov wollten sie alle Bereiche ihres Daseins einem revolutionären Lebensstil unterwerfen, der sich in Partnerschaft, Freizeitverhalten, Bildungsidealen, Kleidungsstil und Berufswahl ausdrückte. Obwohl Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 6. Zu den Wechselwirkungen zwischen Literatur und Terrorismus vgl. ausführlich: Patyk, Written in blood, 2017.

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diese Revolutionär*innen von aller Welt „Nihilisten“ genannt wurden, wählten sie diese Bezeichnung zunächst nicht selber. Turgenev hatte in seinem Roman „Väter und Söhne“ von 1862 den Ideal- und Urtypus des Nihilisten charakterisiert, einen jungen Mann, der alle traditionellen Werte ablehnte. Zwar war diese Form des revolutionären Habitus zu diesem Zeitpunkt schon in der Welt, sonst hätte der Realist Turgenev ihn nicht abgebildet, dennoch wurde die mit diesem Begriff verbundene Lebensform erst durch Turgenev bekannt und populär, ähnlich wie das ideale revolutionäre Leben in Černyševskijs „Was tun?“. Die beiden Etappen der revolutionären Bewegung, die als Entstehungskontext des Terrorismus wichtig sind und die ein bezeichnendes Licht auf das Spannungsfeld von Peripherie und Zentrum werfen, waren die Studierendenbewegung und der so bezeichnete „Gang ins Volk“. Die Studierendenbewegung

Die Universitäten des Reiches profitieren als Erste von den umfangreichen Reformen Alexanders II.35 Als Symbol dafür entfiel die ungeliebte Pflicht, eine Uniform zu tragen. Doch die Universitätsreform ging weit über diese formale Lockerung hinaus. Die neue Ordnung schaffte die harschesten disziplinarischen Maßnahmen ab, und militärischer Drill verschwand aus den Stundenplänen. Zudem konnte sich aufgrund der großzügigeren Zugangsbestimmungen eine weit größere Gruppe von Lernenden an den Universitäten einschreiben. Partielle Befreiungen von Steuern und Gebühren ermöglichten jungen Leuten unterschiedlicher Ränge, darunter Kleinbürger*innen, Handwerker oder gar Arbeiter, an die Universitäten zu gelangen. Unter den neuen Studierenden befanden sich in geringerer Zahl auch Juden und Frauen (die nicht überall und meistens als Gasthörerinnen zugelassen waren). 36 Später entstanden spezielle „Kurse“ für Frauen, die studierenden Frauen wurden deshalb häufig als Kursistinnen (russ. Kursistki) bezeichnet.37 Die nun so zahlreichen Studierenden, die aus den unterschiedlichsten sozialen Milieus stammten, erhielten das Recht, sich in der Universität zu versammeln und sich selbst zu organisieren. Sie gründeten Bibliotheken, Hilfsvereine zur Unterstützung der mittellosen Kommiliton*innen und Versammlungen, auf denen über studentische Fragen entschieden wurde. Diese Versammlungen hießen wie die Beratungen der traditionellen Bauerngemeinde. Die Bibliotheken verbreiteten

Vgl. zur Studierendenbewegung grundlegend: Susan K. Morrissey, Heralds of revolution. Russian students and the mythologies of radicalism, New York 1998. Außerdem: Siljak, Angel of vengeance, 2008, S. 38–43.; Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 220–230. 36 Vgl. dazu auch: Barbara A. Engel, Women in Russia, 1700–2000, Cambridge, New York 2004, S. 77–80. 37 „Kursistka“ heißt z. B. auch das berühmte Bild von Nikolaj Jarošenko von 1883, das die Vorstellung davon, wie die Studentinnen ausgesehen haben, nachhaltig geprägt hat. 35

Die Studierendenbewegung

verbotene Literatur, und die Versammlungen entwickelten sich zu politischen Foren. Zudem erschienen fast überall studentische Publikationen mit Universitätsnachrichten und akademischen Veröffentlichungen, die manches Mal politische Themen tangierten. An verschiedenen Universitäten des Reiches versuchten die Studierenden, ihren neuen Einfluss geltend zu machen und beispielsweise ungeliebte Professoren zu entlassen. Zu Zusammenstößen mit der Obrigkeit kam es in den späten 1850er Jahren sowohl in St. Petersburg und Moskau als auch in Kiew, Char′kov oder Kazan′. Zunehmend wurde die studentische Bewegung als Bedrohung der bestehenden Ordnung wahrgenommen, und die Rechte wurden nach und nach wieder eingeschränkt. Im Herbst 1861 begann die Vorlesungszeit mit einem Eklat. So kursierten neue Instruktionen, die das studentische Leben stark reglementierten und vor allem die Versammlungsfreiheit sowie die Selbstverwaltung beschränkten. Bei der Einschreibung sollten alle Studierenden die neuen Regeln unterschreiben. Um Versammlungen zu unterbinden, blieben die Vorlesungsräume verschlossen. In St. Petersburg verschafften sich am 23. September 1861 über 1000 Studierende gewaltsam Zutritt zu einem Auditorium und entschieden, dass sie sich diesen Regeln nicht beugen würden. Der Rektor der Universität weigerte sich im Anschluss, die Tore der Universität am Tag der Einschreibung zu öffnen. Die Studierenden beschlossen, ihren Protest auf die Straße und vor das Haus des Rektors zu tragen. Eine regelrechte Demonstration zog bei schönstem Sonnenschein über die Neva-Brücke in die Innenstadt, eskortiert von der Polizei und beobachtet von einer wachsenden Anzahl von Passant*innen. Die auf dem Nevskij Prospekt ansässigen französischen Barbiere riefen angesichts des Schauspiels scherzhaft: „Revolution! Revolution!“38 Eine solche Demonstration hatte die Hauptstadt des Russischen Reiches bis zu diesem Tage noch nicht erlebt. Dennoch blieb die Polizei zunächst untätig. Vor dem Haus des Rektors skandierten die Studierenden ihre Forderungen und dieser gab sein Ehrenwort, die Universität wieder zu öffnen. Den Wortführenden der Demonstration sicherte er Straffreiheit zu. Dennoch wurden in der folgenden Nacht zahlreiche Studierende verhaftet, unter ihnen auch jene, denen der Rektor Immunität zugesichert hatte. Dieser Umstand sicherte den Studierenden die Sympathien der Intelligencija. Trotz zahlreicher Versuche, einen geregelten Universitätsablauf zu gewährleisten, musste die Obrigkeit die Universität fast zwei Jahre lang schließen. Selbst die gemäßigten Studierenden und zahlreiche der jüngeren und liberalen Professoren verweigerten die Kooperation.39 Dennoch scheiterte der Versuch, das akademische Leben mit Hilfe einer freien Universität weiterzuführen. Das Geschehen im Zentrum wiederholte sich in den anderen Regionen des Reiches in unterschiedlicher Weise. In Moskau nahm der Protest die Form einer Kranzniederlegung am Grab des Historikers Granovskij,

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Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 227; Siljak, Angel of vengeance, 2008, S. 33. Ebd., S. 33–34.

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eines Freundes von Alexander Herzen, an.40 Auch in Kiew und in anderen Universitätsstädten kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Diese ersten Studierendenunruhen dauerten von 1861 bis 1863. Im Jahr 1869 brachen sie erneut in Moskau und St. Petersburg aus. Sie radikalisierten die Studierenden, gaben der Generation der Šestidesjatniki (Sechziger) ihre Identität und ihre Ideologie:41 den Populismus. 1862 gründete sich die erste politische Gruppierung unter dem Namen Zemlja i volja (Land und Freiheit), der sich einige der radikalisierten Studierenden anschlossen. Ebenfalls in diesem Jahr schrieb Nikolaj Ogarev im Londoner Exil über die Schließung der Universitäten: Lasst Euch die Schließung der Universitäten zum Vorteil gereichen: Geht nicht in die Universitäten! Lasst sie doch die Universitäten schließen. Wenn die akademische Jugend sich in ganz Russland verteilt, dann wird sie die unterschiedlichen Klassen vereinigen. Um frei zu werden ist es nötig, ins Volk zu gehen!42

Der Gang ins Volk

Von den Universitätsstädten ausgehend, versuchte die populistische Jugend des Russischen Reiches, den Massen endlich näherzukommen und Anfang der 1870er Jahre „ins Volk“ zu gehen.43 Gebildete und privilegierte Frauen und Männer ließen ihre Familien und ihr bisheriges Leben zurück, um als Dorfbewohner*innen auf dem Land zu leben. Pёtr Lavrov inspirierte den „Gang ins Volk“ mit seinen „Historischen Briefen“.44 Von Lavrov übernahmen die Narodniki die Überzeugung, dass ihre Privilegien durch die harte Arbeit, das Blut und das Leid der Massen erkauft seien. Die Aufklärung der Arbeiter*innen und Bäuer*innen und die damit verbundenen Härten galten deshalb als Sühne für das Privileg der Möglichkeit der eigenen geistigen Entwicklung. Die Aufgabe lautete, den Fortschritt mit den Armen zu teilen. Diese Herausforderung, so sagte Lavrov voraus, würde mit größten Schwierigkeiten verbunden sein:

Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 229. Zur Geistesgeschichte der Šestidesjatniki vgl. auch: Aleksandr K. Voronskij (Hg.), Šestidesjatniki. Izbrannye proizvedenija, Moskva 1933. 42 Zitiert nach: Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 231. Zu Ogarev und seiner Verbindung zu Herzen und anderen Intellektuellen seiner Zeit vgl. auch: Aleksandr I. Gercen / Nikolaj P. Ogarev / Leonid R. Lanskij (Hg.), Gercen i Ogarev v krugu rodnych i druzej, Moskva 1997. 43 Vgl. grundlegend: Anke Hilbrenner / Gennadij Nikolaevič Mokšin, Der „Gang ins Volk“. Terrorismus in Russland, in: Helmut Altrichter / Nikolaus Katzer / Wassili Dudarew (Hg.), Das 19. Jahrhundert, 2020, S. 247–256; Boris S. Itenberg, Dviženie revoljucionnogo Narodničestva. Narodničeskie kružki i „Choždenie v narod“ v 70-ch godach 19. v, Moskva 1965. 44 Petr L. Lavrov / S. Davidov / Charles Rappoport, Historische Briefe, Berlin 1901. 40 41

Der Gang ins Volk

Energische und fanatische Menschen, die alles zu opfern bereit sind, werden gebraucht. Märtyrer werden gebraucht, deren Legende ihren Wert und ihre tatsächlichen Werke bei weitem überstrahlen wird.45

Die jungen Menschen, die meisten in ihren Zwanzigern, einige aber auch noch jünger, zeigten sich nur allzu bereit, sich, in der Tradition der Dekabristen, als Märtyrer*innen zu opfern.46 Sie wollten bei den Arbeiter*innen und Bäuer*innen wie ihresgleichen leben und ihr Vertrauen gewinnen. Außerdem strebten sie danach, von ihnen die tatsächlichen Umstände des bäuerlichen Lebens kennenzulernen, von dem sie glaubten, dass es eine Urform des Sozialismus darstellt. Dabei erfuhren sie vor allem vom Elend der so bezeichneten Massen.47 Zugleich zielten sie darauf, die Bäuer*innen mit der neuen und weltlichen Idee des Sozialismus zu agitieren.48 Der „Gang ins Volk“ galt als Propaganda-Arbeit. Er war von keiner zentralen Stelle organisiert oder geplant. Der Aufbruch der jungen Leute aus den Zentren des russischen Geisteslebens, aus St. Petersburg, Moskau und aus den anderen Universitätsstädten verlief häufig spontan. Sie verteilten sich entlang der Flussläufe von Dnepr und Wolga. Im Jahre 1874/75 gab es wohl keine russische oder ukrainische Provinz, in der keine sozialistischen Propagandanetzwerke existierten, die ihren Ausgang jeweils an der nächstgelegenen höheren Lehranstalt genommen hatten.49 In der Vorgehensweise unterschieden sich die Propagandist*innen zum Teil deutlich. Die einen begaben sich auf Wanderschaft, um da und dort unter den Bäuer*innen zu agitieren und Broschüren zu verteilen. Diese Art der „fliegenden“ Propaganda war wenig nachhaltig und hatte eher den Charakter einer Reise zu den Bäuer*innen, die möglicherweise der Selbstbildung diente, aber den Bäuer*innen selbst keinerlei Fortschritt brachte. Der Charakter der „fliegenden Propaganda“ zeigt sich sehr zugespitzt in einer selbstironischen Anekdote von Sergej Kravčinskij, auch Stepnjak genannt: Eines Tages […] ging ich mit einem Kameraden einen Weg entlang, als uns ein Bauer in einem Schlitten einholte. Ich ging sofort ans Werk, sagte ihm zunächst, daß er keine Steuern zu zahlen brauchte, daß die Beamten das Volk plünderten, und versuchte, ihn unter Anführung von Bibelstellen von der Notwendigkeit einer offenen Empörung zu überzeugen. Der Bauer peitschte auf sein Pferd los, aber wir folgten eilends; er ließ sein Pferd

Zitiert nach: Siljak, Angel of vengeance, 2008, S. 138. Vgl. zum Opferwillen der Bewegung auch: Fastovskij, Terrorismus und das moderne Selbst, 2018, S. 97–100. Es gibt zahlreiche Berichte von den Eindrücken der jungen Leute, die an dem „Gang ins Volk“ auf die ein oder andere Weise teilnahmen, vgl.: Nikolaj A. Čarušin, O dalekom prošlom, Moskva 1931; Kivšenko/ Mokšin, Dnevnik sel′skoj učitel′nicy, 2017, S. 163–260. Vgl. als Forschungsliteratur auch: Ben Ėklof, A generation of revolutionaries. Nikolai Charushin and Russian populism from the great reforms to Perestroika, Bloomington, Indiana 2017. 48 Jurij A Pelevin, „Choždenie v narod“ 1874–1875 gg., in: Voprosy istorii: VI: ežemesjačnyj žurnal (2013), H. 5, S. 83–98. 49 Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S. 103. 45 46 47

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traben, wir fingen an, hintendrein zu laufen, während ich dabei immer weiter zu ihm von Steuern und Empörung redete. Schließlich brachte er sein Tier in Galopp, aber es taugte nicht viel – es war ein schlecht genährtes Bauernpony – so konnten mein Kamerad und ich noch eine gute Weile Schritt halten und die Propaganda fortsetzen, bis wir ganz außer Atem waren.50

Die pointiert erzählte Szene gibt Wesen und Probleme der Propaganda treffend wieder. Stepnjak skizziert kurz den Inhalt der studentischen Agitation, die zunächst von den tatsächlichen Problemen der Bäuer*innen (wie z. B. den Steuern) ausging. Die sozialistischen Inhalte wurden häufig in einem religiösen Kontext vermittelt, um an die Erfahrungen und Vorstellungen der ländlichen Bevölkerung anzuknüpfen. Dabei halfen Bibelstellen oder umgedichtete Gleichnisse, Märchen und Volkserzählungen. Manche Revolutionär*innen versahen ihre Pamphlete sogar mit einem gefälschten Stempel: „Genehmigt durch den Hl. Synod“.51 Gleichzeitig macht sich Stepnjak in seiner Anekdote über sich selbst lustig, weil er keine Rücksicht auf den Bauern nahm, sondern diesem seine Propaganda gegen seinen Willen in einer denkbar unangemessenen Situation aufgedrängt hatte. Die Flucht des Bauern vor den Narodniki war ebenfalls kein untypisches Verhalten, schließlich wurden die jugendlichen Enthusiast*innen von der Bevölkerung häufig als Störenfriede empfunden, weil sie die hergebrachte Ordnung auf dem Land in Frage stellten. Bei der Verfolgung des Bauern, dem doch eigentlich geholfen werden sollte, nutzte Stepnjak, dem Witz zufolge, die Hilflosigkeit des Bauern, der nur über ein schlecht ernährtes und schwaches Bauernpony verfügte, und führte selbstgerecht seine Aufgabe bis zur eigenen Erschöpfung zu Ende. In dieser scherzhaften Übertreibung beschrieb Stepnjak also zugespitzt die Probleme der Narodniki, die vielfach an den Bedürfnissen der Bäuer*innen vorbeiargumentierten und deren Leben nicht unbedingt erleichterten. Die „Sesshaften“, die sich mit einer nützlichen Tätigkeit auf dem Land niederließen, versuchten demgegenüber, das Leben vor Ort zu verbessern und durch tätige Mithilfe das Vertrauen der Bäuer*innen zu erringen. Nun gingen junge Männer als Ärzte, Heilgehilfen, Lehrer, Dorfschreiber, selbst als landwirtschaftliche Arbeiter, Schmiede, Holzfäller usw. in die Dörfer, um dort in inniger Berührung mit den Bauern zu leben. Die Mädchen bestanden die Lehrerinnenprüfung, bildeten sich als Hebammen oder Pflegerinnen aus und gingen zu Hunderten in die Dörfer, um sich gänzlich dem Dienste der Ärmsten zu weihen.52

Diese Tätigkeit prägte auch die Biographien der Revolutionär*innen, die später „im Terror“ aktiv wurden. So ließ sich z. B. Vera Figner in der Provinz Samara als Kranken50 51 52

Zitiert nach: Pëtr A. Kropotkin, Memoiren eines Revolutionärs. In zwei Bänden, Stuttgart 1900, II, 136. Siljak, Angel of vengeance, 2008, S. 143. Kropotkin, Memoiren eines Revolutionärs, 1900, S. 111.

Der Gang ins Volk

schwester nieder und half notleidenden Kranken, wo sie konnte. Diese Tätigkeit war den Bäuer*innen unmittelbar nützlich, auch wenn Figner das manchmal bezweifelte.53 Dennoch war auch dieses Vorgehen im Sinne der Propaganda wenig erfolgreich. Die Erfahrungen, die Figner machte, erweckten ihr Mitgefühl für die elenden Massen. Männer, Frauen und Kinder litten an den vielfältigsten und z. T. unheilbaren Krankheiten, und Figner bezweifelte, dass das Leben der russischen Bäuer*innen ein menschenwürdiges wäre.54 Der spätere Terrorist Lev Gartman unterrichtete als Lehrer auf dem Land.55 Sofia Perovskaja arbeitete als Impferin in den Kama-Dörfern und Ekaterina Breško-Breškovskaja schuf sich bei ihrem „Gang ins Volk“ die Reputation einer „weisen Frau“, die Lesen und Schreiben konnte und als solche unter den Bäuer*innen hohes Ansehen genoss. 56 Doch trotz dieser einzelnen Beispiele, die den zumindest punktuellen Erfolg des „Gangs ins Volk“ belegen, scheiterte die Bewegung. Bereits seit 1873 mehrten sich die Verhaftungen wegen der Verbreitung revolutionärer Schriften. Im Mai 1874 machte eine Denunziation der Obrigkeit die Propagandatätigkeit in der Umgebung Saratovs offenbar. Auf diese Nachricht hin folgten im gesamten Reich zahlreiche Repressionen gegen die Propagandist*innen. 770 Personen wurden beschuldigt, davon 265 verhaftet. Zahlreiche Aktivist*innen wurden überwacht, eine Reihe von Menschen administrativ verbannt. Nachdem der Justizminister Graf Konstantin von Pahlen der Bewegung mit den Mitteln staatlicher Repression ein Ende gesetzt hatte, legte er im Jahre 1875 eine Denkschrift vor, die eine wichtige Quelle für die Geschichte der „Propaganda“ darstellt und die rasch von den Revolutionär*innen im Exil verbreitet wurde.57 Nicht nur die harte Hand der Obrigkeit verursachte das Scheitern der Bewegung, sondern auch die mangelnde Akzeptanz der jungen Leute und ihrer Ideen bei den Bäuer*innen. Zudem verfügten zumindest einige der Aktivist*innen nur über einen relativ kurzen Atem. Der anfängliche Enthusiasmus und der spontane Charakter der Bewegung spülten eine Reihe von Propagandist*innen in die Reihen der Revolutionär*innen, die den Belastungen der Arbeit, aber auch den Bedrohungen durch die Polizei nicht standhalten konnten. Diese Personen waren für einen Teil der Denunziationen verantwortlich.58 Nach dem Scheitern der Propaganda hielten einige der Narodniki nach einer neuen Strategie Ausschau. Sie kamen auf den Terrorismus.

Rindlisbacher, Leben für die Sache, 2014. Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 28. Iz vospominanij L′va Gartmana, 1903, S. 180–187. Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S.  98; Ekaterina K. BreškoBreškovskaja, The little grandmother of the Russian revolution. Reminiscences and letters of Catherine Breshkovsky, Westport 1973. 57 Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S.  105–106.; Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 506. 58 Vgl. auch: Ulam, Prophets and conspirators in prerevolutionary Russia, 1998, S. 203–230. 53 54 55 56

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Von der Peripherie ins Zentrum

Gewalt als Sprache der Straße: Der Kazaner Platz

Doch nicht nur Terrorist*innen wie Karakozov und jene, die ihm nachfolgten, sondern auch politische Gruppen, die auf die terroristische Taktik verzichteten, trugen Gewalt auf die Straße, um dieses Medium zum Kommunikationsraum für revolutionäre Botschaften zu machen.59 Laura Engelstein beschreibt die Ausübung von Gewalt in der Geschichte Russlands als „Waffe der Schwachen“60. Es waren nun diese Schwachen, welche die soziale Ordnung auf der Straße umkehrten und auf die eine oder andere Weise in den Raum des Politischen eingriffen. Die Revolutionär*innen wähnten sich auf der Seite der Schwachen und fühlten sich stellvertretend für sie als Opfer des herrschenden Regimes. Die Opferrolle rechtfertigte ihr politisches Handeln, das die Anwendung von Gewalt häufig implizierte. Dabei zielte ihr gewaltsames Handeln nicht in erster Linie auf die Durchsetzung der eigenen politischen Vorstellungen. Ihre Revolution, so hat Laura Engelstein treffend formuliert, war weniger ein Ringen um politische Inhalte als vielmehr ein Kampf um moralische Überlegenheit.61 Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, dass für die Botschaft der moralischen Überlegenheit die gezielte Anwendung von Gewalt äußerst nützlich war. Als probate Möglichkeit, die Botschaft moralischer Überlegenheit auf die Straße zu bringen, erwiesen sich die Beerdigungen von Revolutionären.62 Vorbild für dieses später immer wiederkehrende Ritual wurde die Beisetzung des zur revolutionären Bewegung der Narodniki gehörenden Häftlings Pavel Černyšev am 30. März 1876. Hartnäckig hielt sich in der Öffentlichkeit das Gerücht, Černyšev sei ein Freund Dmitrij Karakozovs gewesen. Eine persönliche Verbindung Karakozovs zu Černyšev erscheint unwahrscheinlich, weil Karakozov bereits zehn Jahre vor dem Tod des 21-jährigen Černyšev gehängt worden war. Dennoch wirft diese Art der Legendenbildung ein Schlaglicht auf die Popularität Karakozovs innerhalb der revolutionären Bewegung.63 Der Trauerzug für den in Untersuchungshaft an Tuberkulose verstorbenen Černyšev nahm in der Form Anleihen bei der orthodoxen Tradition. So sang die im Laufe der Prozession anwachsende und schließlich über tausend Menschen zählende Menge religiöse Trauerlieder, laut und stolz, um die Aufmerksamkeit der Passant*innen zu erregen. Die Menschen, die sich dem Trauerzug spontan anschlossen, bildeten eine emotionale Gemeinschaft, die sich in diesem Moment der Trauer um den verstorbenen Häftling vereinte – und nach der Veranstaltung wieder auseinanderfiel. Aber

Vgl. dazu sowie zum Kazaner Platz als Medium politischer Kommunikation und generell zu der folgenden Argumentation ausführlich: Hilbrenner, Gewalt als Sprache der Straße, 2008. 60 Engelstein, Weapon of the weak (Apologies to James Scott), 2003, S. 680–693. 61 Ebd., S. 685. Vgl. auch Fastovskij, Terrorismus und das moderne Selbst, 2018, S. 59–96. 62 Vgl. dazu Tom Trice, Rites of protest. Populist funerals in imperial St. Petersburg, 1876–1878, in: Slavic Review 60 (2001), S. 50–73. 63 Ebd., S. 50–51. 59

Gewalt als Sprache der Straße: Der Kazaner Platz

solange die Menschenmenge beisammenblieb, bildete sie eine mächtige Gruppe mit einer starken Botschaft: Der Beerdigungszug hatte sich von der Vyborger Seite im Norden ins Stadtzentrum bewegt und machte vor dem Untersuchungsgefängnis auf dem Litejnyj Prospekt halt. Der Priester sprach ein Gebet, und die Träger hoben den offenen Sarg dreimal in die Luft, wobei sie den Blick auf die Leiche freigaben. Dasselbe Vorgehen wiederholte sich am Gerichtsgebäude. Mit diesem Ritual, das dem orthodoxen Brauch entsprach, Schicksalsorte des Lebens der Verstorbenen abzuschreiten, brachten die Revolutionär*innen die Botschaft auf die Straße, dass der Tote Opfer der polizeilichen Willkür und des Unrechtsregimes geworden war. Durch dieses und weitere der religiösen Tradition entliehenen Rituale machte die Bewegung Černyšev zu ihrem Märtyrer. Die Beerdigung des dem Anschein nach zu Tode gequälten Helden verwandelte sich in eine politische Demonstration. Die Straßen Petersburgs wurden dabei zur Bühne einer Inszenierung, die eine große Öffentlichkeit erreichte. Die Revolutionär*innen besetzten ein zentrales Ritual der Autokratie: den öffentlichen Beerdigungszug. Dieser fand im öffentlichen Raum statt und transportierte politische Botschaften. Die politischen Akteure nutzen diese Beerdigungen und füllten sie mit neuen Inhalten.64 Den Märtyrer Černyšev nahm sich die revolutionäre Jugend zum Vorbild. Seinem Beispiel wollten viele folgen und ihr Leben geben. So erinnerte sich der Teilnehmer Sergej Švecov: „Jeder von uns ging den Tod erwartend zum Friedhof “.65 Doch die Beerdigung blieb friedlich und gewaltlos. Die emotionale Gemeinschaft, die sich spontan gebildet hatte, war groß und suggerierte Unterstützung über die Kreise der Revolutionär*innen hinaus. Im Sinne der moralischen Überlegenheit wurde es von den Revolutionär*innen allerdings als problematisch empfunden, dass sich keine Gelegenheit zum Märtyrertod ergab. Die Radikalen unter den „Trauergästen“ waren geradezu enttäuscht über das Ausbleiben einer gewaltsamen Reaktion auf den Beerdigungszug. Deshalb planten sie eine „echte“ politische Demonstration, um „die Regierung zu provozieren“.66 Eine gewaltsame Konfrontation der Polizei mit einem friedlichen Demonstrationszug würde das Regime, so das Kalkül der Revolutionär*innen, weiter diskreditieren.67 Die illegale Versammlung, die am 6. Dezember 1876 vor der Kazaner Kathedrale im Herzen von Sankt Petersburg stattfand, ging als erste politische Demonstration der radikalen Intelligencija und der Arbeiterschaft im Russischen Reich unter dem Namen

Ebd., S. 52. Zitiert nach: Ebd., S. 59. Michail M. Černavskij, Demonstracija 6 dekabrja 1876. Po vospominanijam učastnika, in: Katorga i ssylka No. 7/8 (1926), 28–29, S. 7–20, hier S. 11. 67 Vgl. Korol′čuk, Pervaja rabočaja demonstracija v Rossii, 1927, S. 152. 64 65 66

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Von der Peripherie ins Zentrum

Kazanka in die Geschichte ein.68 Die Kazanka galt zudem als erster öffentlicher Auftritt der revolutionären Gruppe Zemlja i volja (Land und Freiheit), die in den 1870ern die wichtigste Vereinigung der russländischen Revolutionär*innen war und in der die meisten zukünftigen Terrorist*innen ihre Wurzeln hatten. Zemlja i volja war die erste „Partei“, die sich unter den Bedingungen der russischen Autokratie gebildet hatte, und Vorbild für alle revolutionären Parteien, die ihr nachfolgen sollten. Bei der Demonstration vor der Kazaner Kathedrale hielten die Aktivist*innen für wenige Minuten ein Banner mit der Aufschrift „Zemlja i volja“ empor.69 Dieses Bekenntnis erhöhte die Bedeutung, welche die eigentliche gescheiterte Demonstration im Nachhinein erhielt. Nach einer Messe in der Kazaner Kathedrale versammelten sich etwa 150 bis 200 Demonstrant*innen auf dem halbrunden Platz. Sie lauschten zunächst einer improvisierten Rede Georgij Plechanovs, des späteren Wortführers des Marxismus in Russland, und zogen anschließend in Richtung der Flanier- und Hauptstraße Petersburgs: des Nevskij Prospekt. Doch nach wenigen Schritten wurde der Zug von der Polizei aufgehalten. Einige der Demonstrant*innen führten Schusswaffen mit sich, die aber nicht benutzt wurden. Die Polizei verhaftete 21 Personen. In vielerlei Hinsicht war die Demonstration also ein Misserfolg. Das größte Problem sahen die Initiator*innen in der mangelnden Resonanz bei den Passant*innen. Der Versuch, die ursprüngliche Menge zu vergrößern, was während der Beerdigung von Černyšev gelungen war, scheiterte. Eine Botschaft um eine größere emotionale Gemeinschaft zu bilden, hatten die Revolutionär*innen – anders als nach Černyševs Tod – nicht zur Hand. Eine politische Rede vermochte es nicht, Gemeinschaft über die Gruppe der ohnehin Überzeugten hinaus zu stiften. Statt die Massen auf ihre Seite zu ziehen, erreichte die Demonstration das Gegenteil: Zahlreiche Zuschauer*innen eilten der Polizei im Handgemenge zur Hilfe, wohl auch, weil sich das Gerücht verbreitet hatte, die Demonstrant*innen seien aufständische Pol*innen.70 Auch die liberale Presse sowie zahlreiche Sozialist*innen verurteilten die Aktion harsch.71 Doch trotz dieses offensichtlichen Misserfolgs wurde die Demonstration auf dem Platz vor der Kazaner Kathedrale im kollektiven Gedächtnis der revolutionären Bewegung zu einem zentralen Ereignis. Vera Figner erinnert sich in ihren Memoiren: So sollte die Demonstration auf dem Kazaner Platz eine Antwort sein auf die unerhörte Behandlung der politischen Gefangenen durch den Gendarmerie-Chef, eine Herausforderung an die Regierung, sollte mitten in der allgemeinen Grabesstille die Gegner

Vgl. dazu z. B.: Jurij A Pelevin, Pervaja protestnaja demonstracija v Rossii, in: Voprosy istorii (2012), H. 8, S. 14–29. 69 Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 558–632. 70 Pamela S. McKinsey, The Kazan square demonstration and the conflict between Russian workers and intelligenty, in: Slavic Review 44 (1985), S. 83–103, hier S. 96. 71 Ebd., S. 97. 68

Gewalt als Sprache der Straße: Der Kazaner Platz

durch ihre Verwegenheit überraschen und die Anhänger ermutigen. Dieses Ziel erreichte sie in der Tat.72

Wie bereits bei der Beerdigung von Černyšev war das gemeinsame Anliegen der Demonstrant*innen das Los der politischen Gefangenen. Die besondere Nachwirkung der Demonstration an der Kazaner Kathedrale entstand wiederum durch die neuen Märtyrer, die neuen politischen Gefangenen, die das Regime anlässlich der Kazanka gemacht hatte. Die Demonstrierenden vom Kazaner Platz wurden vom Sondergericht des Regierenden Senats (Osoboe Prisutstvie Pravitel′stvujuščago Senata, OPPS) verurteilt. Diese besondere Kammer, die seit 1872 existierte, war wegen ihrer strengen Rechtsprechung in den politischen Verfahren, die ihr zugedacht waren, bereits im juristischen Apparat und in der Öffentlichkeit in Verruf geraten. Zudem setzte der Justizminister Konstantin von der Pahlen durch, dass in dem Prozess auf ein gesondertes Untersuchungsverfahren verzichtet wurde. So wurden die Demonstrant*innen der Kazanka ohne eine sachliche Untersuchung verurteilt und mit großer Härte bestraft: Diejenigen, die als Anführer*innen galten, bekamen zwischen sechs und 15 Jahren Zwangsarbeit, während die übrigen in die Verbannung nach Sibirien verschickt wurden. 73 Während die Liberalen die Demonstration in ihrer ersten Reaktion noch scharf verurteilt hatten, nahmen sie bald die zarische Obrigkeit in die Kritik. Der Prozess gegen die bei der Demonstration Verhafteten, so abermals Figner, „erregte Unwillen in den liberalen Gesellschaftskreisen durch die Strenge der Strafen, die manchmal bei völligem Fehlen eines Beweises verhängt wurden“.74 So wurde auch Archil Petrovič Emel′janov, der unter dem Pseudonym Archip Bogoljubov bekannt war, festgenommen und wegen Waffenbesitz und Widerstand gegen die Staatsgewalt zu 15 Jahren Straflager verurteilt. 75 Dieser Bogoljubov sollte eine wichtige Rolle für das Attentat der Vera Zasulič spielen, das wiederum eine Initialzündung für die Geschichte des Terrorismus im Zarenreich darstellte. Dieser Wandel der Rezeption und der damit verbundene Impuls, der von der staatlichen Repression der an der Demonstration Beteiligten ausging, geben beredtes Zeugnis von dem diskursiven Entstehungskontext terroristischer Gewalt, die sich nicht auf die Initiative einzelner Terrorist*innen reduzieren lässt. Auch wenn die Person der Attentäterin, wie im Fall der Vera Zasulič, zu einer solchen Personalisierung einlädt.

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Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 71. Baberowski, Autokratie und Justiz, 1996, S. 658–666. Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 74. Fastovskij, Terrorismus und das moderne Selbst, 2018, S. 116.

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Von der Peripherie ins Zentrum

Vera Zasulič: Die Audienz

Am 23. Januar 1878 endete der „Prozess der 193“, mit dem zahlreiche Propagandist*innen des „Gang ins Volk“ abgeurteilt wurden. Im Vergleich zum Prozess gegen die Demonstrant*innen der Kazanka, waren die Urteile, die das OPPS fällte, dieses Mal sehr milde. Konservative Vertreter der Obrigkeit werteten sie gar als Ermutigung zu Aufruhr und Gewalt, weil sie die nötige Konsequenz vermissen ließen. 28 Angeklagte wurden verbannt, der Rest kam frei. Unter diesen befanden sich u. a. die späteren Terrorist*innen Sofija Perovskaja und Andrej Željabov, die wesentlich an der Ermordung Alexanders II. 1881 beteiligt waren.76 Das Attentat von Vera Zasulič auf den Generalgouverneur Trepov ereignete sich nur einen Tag später.77 Am 24. Januar 1878 brach Vera Zasulič in aller Frühe auf und verließ ihre St. Petersburger Wohnung für immer. Sie begab sich mit ihrer Komplizin Maša Kolenkina zum Moskauer Bahnhof, um sich umzukleiden. Am Bahnhof zog sie neue, ihrer Rolle als Bittstellerin um ein Leumundszeugnis angemessene Kleidung an. Die beiden Frauen wählten aus konspirativen Gründen eine modische und elegante Garderobe, um keinen Verdacht zu erregen. Vera Zasulič legte zudem einen großen Schal um, in dem sie eine Pistole verstecken konnte.78 Bei der Waffe handelte es sich nach der Erinnerung Zasuličs um eine British Bull Dog, die von ihrer Größe her für die Manteltasche entworfen worden war.79 Handfeuerwaffen dieser Marke blieben im zivilen Gebrauch populär. Auch nach dem Attentat der Zasulič bewarben Zeitungsannoncen diese Taschenpistole, die in Waffengeschäften auf dem Nevskij Prospekt frei verkäuflich war.80 Im Juni 1881 sollte Charles Guiteau ebenfalls mit einer British Bull Dog auf den amerikanischen Präsidenten James Garfield schießen. Vom Bahnhof aus begab Zasulič sich, den Nevskij Prospekt entlanglaufend, zur privaten Residenz des Generalgouverneurs Fedor Trepov, die gegenüber der Admiralität – an der Kreuzung Admiralitejskij Prospekt und Ulica Gorochovaja – im Herzen der Stadt lag. Von dort war es nicht weit zum Gebäude des Senats und Synods oder auch zum Winterpalast. Bei der für den Vormittag geplanten Audienz wollte Zasulič den Generalgouverneur erschießen. Vor der Tür hatte sich bereits eine Gruppe von Bittsteller*innen versammelt.81 Die Audienz bei hohen Offiziellen war im 19. Jahrhundert eine übliche Praxis, mit der Untertan*innen ihre Anliegen persönlich vortragen konnten. Die Gesuche betrafen formale Prozesse, wie Stempel in Pässen oder Genehmigungen, für welche keine Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 596, Baberowski, Autokratie und Justiz, 1996, S. 674–679. Vgl. zu Zasulič′ auch: Rindlisbacher, Leben für die Sache, 2014, S. 135–164. Zasulič, Vospominanija, Moskva 1931, S.  65–70. Vgl. dazu auch: Patyk, Dressed to kill and die, 2010, S. 192–209. 79 Zasulič, Vospominanija, 1931, S. 66. 80 Werbe-Annonce, Bull-Dog, in: Golos, 3. März 1881. 81 Siljak, Angel of vengeance, 2008, S. 5. 76 77 78

Vera Zasulič: Die Audienz

bürokratischen Verfahren zur Verfügung standen, oder es ging um Fälle, in denen diese Verfahren z. B. durch Korruption erschwert waren. Mit Gnadengesuchen konnten die Untertan*innen etwa um Hafterleichterung für Familienmitglieder oder um die Beilegung von rechtlichen Streitigkeiten bitten.82 Diese Praxis, die persönliche Ansprache und Gnadenakte an die Stelle von allgemeingültigen Regeln setzte, zeigte die rechtliche Unsicherheit und die administrative Willkür im Russischen Reich auch nach den so bezeichneten „Großen Reformen“. Die Audienzen fanden in der Regel in den privaten Residenzen der Würdenträger*innen statt, die ihre Räumlichkeiten zu bestimmten Zeiten den Menschen von der Straße öffneten. Ana Siljak vergleicht die Empfangszeit des Generalgouverneurs mit einer höfischen Zeremonie. Die Bittsteller*innen mussten häufig lange auf die Audienz selbst warten. Im scharfen Kontrast zum Vorbild der königlichen Audienz, während derer Herrscher oder Herrscherin Gnade erweisen, scheinen die russländischen Offiziellen in ihren Empfangszeiten ihre Macht nach Belieben missbraucht zu haben. Demütigungen der Bittsteller*innen schienen die Regel gewesen zu sein.83 Die Audienz erschuf unabsichtlich einen Raum der Begegnung zwischen Untertan*in und Obrigkeit, der für ein Attentat geradezu ideal geeignet war. Wie auf der Straße, die in diesem Falle in die privaten Gemächer eines Mächtigen hineingeholt wurde, vermischten sich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären. Ein Kontakt zwischen Attentäter*in und Opfer wurde dadurch erst möglich. Durch die Geschlossenheit der Räume und die Inszenierung, die auf Kommunikation und Begegnung angelegt war, entstand eine Nähe der Sphären, die einen gewaltsamen Übergriff begünstigte. Die Nähe der Audienz, die mit den Untertan*innen auch die Attentäter*innen in das Heim des Offiziellen hineinbat, machte die scheinbar allmächtige Obrigkeit verletzbar. Sie konterkarierte den Zynismus der Macht, mit der General Trepov oder seinesgleichen bei ihren Empfängen ihre Untertan*innen ihrer Willkür aussetzten, sie demütigten oder zurechtwiesen. Eine Kugel während der Audienz stellte das Machtgefälle, das während dieser Zeremonien inszeniert und ausagiert wurde, auf den Kopf. Vera Zasulič kam zeitig zur Audienz, um zu erfahren, ob der Gouverneur persönlich empfangen würde. Sie spielte ihre Rolle nahezu perfekt und verhielt sich unauffällig. Schließlich wurde sie mit einer Gruppe anderer Bittsteller*innen vorgelassen und feuerte aus nächster Nähe einen Schuss auf Trepov ab, der dadurch verletzt wurde, aber nicht starb. Während Trepov zu Boden sank und ein Blutfleck sich auf seiner Uniform ausbreitete, flohen die anderen Bittsteller*innen. Trepovs Wachen holten Arzt und Polizei, während der Assistent Trepovs, Fedor Kurneev, Zasulič angriff und ihrer Erinnerung nach ihr Gesicht und ihre Augen zu verletzen suchte. Zasulič empfand zu ihrer

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eigenen Überraschung durch diesen Übergriff keinen Schmerz. Dennoch schildert sie es als Erlösung, als die Polizei kam und regelgerecht eine Untersuchung einleitete. Den Regeln entsprach auch, dass die Durchsuchung Zasuličs nach weiteren Waffen nur von einer Frau vorgenommen werden konnte. Zasulič selbst machte die Polizei auf diese Notwendigkeit aufmerksam, und ihrem Wunsch wurde entsprochen.84 Die gesonderte Erwähnung der Rücksichtnahme auf die weibliche Attentäterin ebenso wie die Höflichkeit des Polizisten im Umgang mit ihr, entspringt der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Frauen, die Gewalt ausüben. Das Spannungsfeld von Frauen und Gewalt ist in der Geschichte des russländischen Terrorismus allgegenwärtig. Nicht nur im Russischen Reich im 19. Jahrhundert, sondern in nahezu allen Entstehungskontexten der Terrorismus-Historiographie galt es als ungeheuerlich, dass Frauen, das vermeintlich zarte, schöne und schwache Geschlecht, Gewalt ausübten. Deutungen, die versuchen, diesem scheinbaren Paradoxon Sinn zu geben, prägen sowohl die zeitgenössischen Quellen als auch den historiographischen Diskurs über den Terrorismus.85 In der weiteren Untersuchung, in der sowohl Terroristen als auch Terroristinnen und ihre Taten analysiert werden, wird davon ausgegangen, dass Frauen sowohl körperlich als auch moralisch in der Lage sind, Gewalt auszuüben, und dass weibliche Gewalt nicht an sich „ungeheuerlicher“ ist als von Männern ausgeübte. Dennoch gilt es gerade in einer Kommunikationsgeschichte des Terrorismus der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass Frauen, die töten oder auf andere Weise Gewalt ausüben, von ihren Zeitgenoss*innen als „Ungeheuerlichkeit“ wahrgenommen wurden und dass ihrem Tun ein Skandal innewohnte, der nicht mit der Rezeption gewalttätiger Männer vergleichbar ist. Es ist diese Skandalisierung weiblicher Gewalt, welche die Botschaft und die Wahrnehmung terroristischer Ereignisse beeinflusst, und deshalb gilt es auch, diese Skandalisierung zum Thema zu machen. Das Opfer des Anschlags, Generalgouverneur Fedor Trepov, war dem politisch interessierten und revolutionär gesonnenen Teil der Bevölkerung besonders verhasst. Er war seit dem Attentat Karakozovs im Amt, und es war es seine Aufgabe, Aufruhr und politische Gewalt zu unterbinden. Diese unpopuläre Aufgabe, zusammen mit seinem „tyrannischen“ Führungsstil und seinem Misstrauen gegenüber jeder Art von gesellschaftlicher Bewegung, machten ihn in weiten Kreisen der Gesellschaft und auch innerhalb der höheren Kreise unbeliebt. Mythen und Gerüchte darüber, dass er Untergebene und Strafgefangene misshandele, sowie über permanenten Amtsmissbrauch begleiteten seine Karriere und sein Bild in der Öffentlichkeit. Der Schuss aus Zasulič′ Revolver traf Trepov, verletzte aber keine inneren Organe. Die Ärzte versuchten sofort nach der Tat, die Kugel aus der Hüfte Trepovs zu entZasulič, Vospominanija, 1931, S. 70. Vgl. dazu ausführlich: Hilbrenner The Perovskaia paradox or the scandal of female terrorism in nineteenth century Russia (2016). https://journals.openedition.org/pipss/4169 (7. Oktober 2020).

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fernen, was sich als schwierig herausstellte. Trotz starker Schmerzen schien Trepov bei Bewusstsein geblieben zu sein.86 Eine Infektion seiner Wunden blieb aus, deshalb überlebte Trepov den Anschlag relativ unbeschadet. In der Folge wurde das überlebende Opfer in den Augen der Öffentlichkeit zum Übeltäter.87 Zum Motiv ihrer Tat befragt, antwortete Zasulič mit den Worten: „Für Bogoljubov“88 und wurde ohne weitere Erläuterungen verstanden. Diese mühelose Dekodierung des symbolischen Aktes des Attentats auf Trepov durch die Polizei verweist auf den diskursiven Entstehungskontext, ohne den der Terroranschlag und seine Rezeption nicht zu verstehen sind: Am 13. Juli 1877 traf General Trepov bei einer Inspektion des Gefängnisses auf den während der Kazanka verhafteten Bogoljubov, den er beschuldigte, ihn nicht ehrerbietig genug begrüßt zu haben. Diese Respektlosigkeit ließ Trepov mit einer Prügelstrafe ahnden. Der Zusammenstoß zwischen Trepov und Bogoljubov führte zum Ausbruch von gewaltsamen Ausschreitungen, die über 24 Stunden andauerten. Nachrichten von der Verhängung der Prügelstrafe und die darauffolgenden Gefängniskrawalle drangen über allerlei Kanäle an die Öffentlichkeit, zugleich wurden unschöne Details über die Haftbedingungen bekannt. Bogoljubov wurde nach der Prügelstrafe in ein anderes Gefängnis verlegt. Im Jahr 1880 wurde eine psychische Erkrankung bei ihm diagnostiziert, und er verbrachte die folgenden Jahre bis zu seinem Tod in einer geschlossenen Heilanstalt in Kazan.89 Die Prügelstrafe, die Trepov gegenüber Bogoljubov verhängt hatte, erregte den Protest weiter Teile der Gesellschaft. Ana Siljak und Richard Pipes haben darauf hingewiesen, dass die Gewalt gegen den politischen Gefangenen Bogoljubov gerade deshalb die Gemüter erregte, weil körperliche Bestrafungen im Justizvollzug der Post-Reform-Ära nicht mehr der Norm entsprachen. Ein solcher Übergriff war die Ausnahme und erregte deshalb die Gemüter. Pipes zitiert in diesem Zusammenhang einen zeitgenössischen Artikel in der London Times, der die Empfindlichkeit der russländischen Gesellschaft gegenüber körperlicher Züchtigung thematisierte. Gerade weil in den Jahren vor den Großen Reformen Prügelstrafen so eine prominente Rolle gespielt hätten, wies die Öffentlichkeit sie nun umso stärker zurück.90 In einem Kontext, in dem Gewalt und Willkür in Gefängnissen an der Tagesordnung gewesen wären, wäre die Prügelstrafe, die Trepov gegen Bogoljubov verhängt hatte, nicht als ungeheuerlicher Normverstoß der Obrigkeit wahrgenommen worden und hätte deshalb keine Siljak, Angel of vengeance, 2008, S. 9. Vgl. dazu auch: Ebd., S. 218–219, zur diskursiven Umdeutung von Täter- und Opferschaft durch die Terrorist*innen auch: Hilbrenner, Of heroes and villains, 2018, S. 19–38. 88 Vgl. zum weiteren Verlauf des Ereignisses auch die Erinnerungen der Attentäterin: Zasulič, Vospominanija, 1931, S. 70. 89 Siljak, Angel of vengeance, 2008, S. 180–188. 90 Richard Pipes (Hg.), The trial of Vera Z. Sonderheft von „Russian History“ 37 (2010) Heft 1, S. 17. 86 87

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vergleichbare kommunikative Ausstrahlung gehabt. So aber warfen die Liberalen der Obrigkeit vor, die Regeln des Rechtsstaates, die durch die Großen Reformen gerade erst eingeführt worden waren, zu brechen. Diese öffentliche Empörung brachte auch die höheren Gesellschaftskreise gegen den ohnehin ungeliebten Trepov auf, dem nun die Verantwortung dafür zugewiesen wurde, dass die Obrigkeit kollektiv am Pranger der öffentlichen Meinung stand. Die allgemeine Missbilligung des Vorgangs stärkte die Sache der Radikalen. 91 Der 13. Juli 1877 wurde zu einem Datum, das die revolutionäre Bewegung einte. An den unterschiedlichsten Orten des Reiches kamen junge Leute zu der Überzeugung, dass Trepov sterben müsse.92 Der kollektive Widerwille gegen die Repression durch die Obrigkeit ließ sich in der Person des verhassten Trepov symbolisch bündeln. Zusammen mit der Bereitschaft der Radikalen zur gewaltsamen Tat machte er das folgenreiche Attentat der Zasulič erst möglich. Diese komplexe Gemengelage ließ sich durch ein sehr emotionales Motiv für die Gewalttat vermitteln: Dieses Motiv war Rache.93 Das archaische Bedürfnis nach Vergeltung erschien schlüssig und lud weite Teile der Bevölkerung zur Identifikation mit den Gewalttäter*innen ein. Sergej Kravčinskij brachte diese Ansicht mit dem ihm eigenen Pathos zu Papier: „Sie war ein Engel der Rache“. Rache sollte deshalb auch im Folgenden in zahlreichen Debatten um den Terrorismus eine wichtige Rolle spielen. Doch auch wenn Sergej Kravčinskij schrieb: „Zasulič war überhaupt keine Terroristin. Sie war ein Engel der Rache“ 94, sprechen die Quellen deutlich dafür, dass Zasulič mit der Tat eine Botschaft aussenden wollte. Bei der Gerichtsverhandlung sagte sie aus, dass es ihr nicht darum gegangen sei, Trepov zu töten, vielmehr habe sie „Aufmerksamkeit auf die Untat [Bestrafung Bogoljubovs] lenken wollen“.95 Auch der Vorsitzende Richter Anatolij Koni erinnerte sich an den performativen Gestus der Angeklagten.96 Und tatsächlich: Weil die Nachricht von den Gefängnisunruhen und der willkürlichen Gewalt gegen den Gefangenen Bogoljubov im ganzen Reich verbreitet war und in den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten Wirkung zeigte, war auch der Schuss der Vera Zasulič auf Trepov ein Schuss, der überall im Reich – und darüber hinaus überall in der Welt – gehört wurde. In Windeseile waren Informationen von der Tat aus der Residenz des Generalgouverneurs auf den Nevskij Prospekt gelangt, von wo aus sie sich rasch weiterverbreiteten. Vor dem Eingang zur Residenz versammelte sich eine Menschenmenge. Die Menschen versuchten, über die Wächter und Polizisten Neuigkeiten zu erfahren oder einen Hilbrenner, Gewalt als Sprache der Straße, 2008. Siljak, Angel of vengeance, 2008, S. 188. Vgl. z. B. Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S. 155, 156, 161; zu Zasulič als Rächerin auch: Rindlisbacher, Leben für die Sache, 2014, S. 135–164. 94 Kravčinskij, Grozovaja tuča Rossii, 2001, S. 47. 95 Zitiert nach: Ingrid Leitner / Vera I. Zasulič, Die Attentäterin Vera Zasulič, Freiburg i. Br. 1996, S. 111. 96 Anatolij F. Koni, Sobranie sočinenij v vos′mi tomach, Moskva 1966–1969, S. 65. 91 92 93

Vera Zasulič: Die Audienz

Blick ins Innere der Räume zu erhaschen. Der Revolutionär Michail Popov, der sich im Auftrag der Gruppe Zemlja i volja unter die Menge mischte, erfuhr vom Hören-Sagen von der Tat Zasuličs. Er informierte seine Gruppe.97 Auch in der höheren Gesellschaft verbreitete sich die Kunde von dem Attentat auf Trepov schnell. Militärs und hohe Offizielle trafen ein, um vor Ort auf diese neue politische Herausforderung zu reagieren. Sogar Alexander  II. selbst eilte herbei, um dem Generalgouverneur symbolisch zur Seite zu stehen und im Angesicht der Bedrohung Präsenz zu zeigen.98 Innerhalb weniger Tage berichtete jede russische und fast alle größeren Zeitungen der westlichen Welt von Zasuličs Attentat auf Trepov.99 Die Zeitungen identifizierten die Täterin als die Adlige Vera Zasulič und enthüllten als Motiv der Tat die Verhängung der Prügelstrafe gegen Bogoljubov durch Trepov. Das Attentat wurde als Indiz für die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierung gewertet und als Krisensymptom gedeutet.100 Bald jedoch gewannen die unterhaltsamen Aspekte des Skandals die Oberhand in der Berichterstattung, die Zeitungen spekulierten über die „wahren“ Motive der jungen Frau oder einen mysteriösen Mann im Hintergrund. In der höheren Gesellschaft zirkulierten Polizeiaufnahmen von Vera Zasulič , welche die Frau des Justizministers Graf Konstantin von der Pahlen aus den Ermittlungsakten an sich genommen hatte. Selbst in diesen Schichten wurde die Attentäterin als mutig und opferwillig gepriesen.101 Auf der Straße, bei den einfachen Leuten, die Trepov als Reaktionär hassten, galt sie erst recht als Heilige.102 In der lokalen Berichterstattung über das Attentat spielte der Ort, an dem der Anschlag stattgefunden hatte, eine wichtige Rolle. Die Zeitung Sankt-Peterburgskija vedomosti druckte am 25. Januar 1878 einen Lageplan der dritten Etage der Residenz des Generalgouverneurs ab, um ihren Leser*innen den genauen Hergang der Tat nahezubringen.103 Diese Art der Verortung von Gewalt sollte in der Berichterstattung über Terrorismus im Russischen Reich in den folgenden Jahren üblich werden und zeigt, welche Bedeutung der jeweilige Tatort für die Kommunikationsgeschichte des Terrorismus hat. Die Skizze verdeutlichte das Nebeneinander von privaten und offiziellen Räumlichkeiten Trepovs. Das Kabinett und das Wartezimmer des Generalgouverneurs Michail R. Popov, Zapiski zemlevol′ca, Moskva 1933, S. 92–94. Siljak, Angel of vengeance, 2008, S. 8–9. Vgl. z. B. A Disturbance in St. Petersburg, in: New York Times, 15. April 1878, M. Broling, Tentative d’assasinat le général Trépow, chef de la police, in: Le Monde illustré, 9. März 1878, Pokušenie na žizn′ s.-peterburgskago gradonačal′nika F. F. Trepova, in: Sankt-Peterburgskija vedomosti, 25. Januar 1878. 100 Siljak, Angel of vengeance, 2008, S. 9. 101 Ebd., S. 10. 102 Ebd., S. 11. 103 Pokušenie na žizn′ s.-peterburgskago gradonačal′nika F. F. Trepova, in: Sankt-Peterburgskija vedomosti, 25. Januar 1878; Die Sankt-Peterburgskie vedomosti war bis 1875 ein Sprachrohr der Liberalen gewesen, wurde aber seitdem vom Erziehungsministerium kontrolliert, das die Zeitung im Kontext der offiziösen Berichterstattung nutzte. 97 98 99

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grenzten direkt an Ankleide- und Schlafzimmer. Durch die Anlage der Räumlichkeiten überlappen sich die Sphären der Privatperson und des Amtsträgers Trepov. Die Trennung von Amt und Person war in diesem Milieu und in dieser Zeit offensichtlich nicht durchgängig verbreitet. Insofern betraf ein Angriff gegen das Amt auch immer gleichzeitig die Person. Anhand dieser Skizze gab die Zeitung den genauen Ablauf der Tat akribisch wieder. Sehr detailliert war auch das medizinische Bulletin zu den Verwundungen Trepovs, das Art der Verwundung, Position der Kugel, allgemeinen Zustand und Körpertemperatur des Generalgouverneurs wiedergab. Diese Informationen komplettierten die Berichterstattung über das Attentat und wurden an den folgenden Tagen ebenso ausführlich aktualisiert. Generell ist die Detailtreue, mit der die zeitgenössischen Zeitungen über die konkreten Folgen körperlicher Gewalt berichteten, aus heutiger Sicht bemerkenswert. Auch dieser Befund gilt für die gesamte Geschichte des russländischen Terrorismus bis 1914. Gewalt war dementsprechend in diesem Zeitraum bei der Zeitungslektüre fast schmerzhaft gegenwärtig. Die Geheimpolizei, die seit dem Karakozov-Attentat verstärkt auf terroristische Gefahren zu achten hatte, erbrachte den Beweis, dass Vera Zasulič nicht einfach eine junge Frau war, die sich angesichts der Ungerechtigkeit der körperlichen Bestrafung Bogoljubovs mutig, aber vor allem ihren Emotionen folgend zu einem Anschlag auf den Generalgouverneur entschieden hatte. Die Informationen der Polizei legten vielmehr nahe, dass das Attentat Ergebnis einer revolutionären Verschwörung war, die auch andere Ziele für Attentate ausgemacht hatte, und dass hinter Zasulič eine größere Gruppe stand.104 Dennoch entschied sich der Justizminister Konstantin von der Pahlen, möglicherweise unter dem Eindruck des gerade beendeten Großprozesses gegen die 193, diese Informationen gegenüber der Öffentlichkeit zu unterdrücken. 105 So wurde vor Gericht kein terroristisches Attentat verhandelt, sondern die emotionale Tat einer jungen Frau, welche die ungerechte Behandlung des Gefangenen Bogoljubov rächen wollte. Das Verfahren war demnach kein politisches, das wie die Verhandlung gegen die Demonstranten des Kazaner Platzes vom Sondergericht des Regierenden Senats (OPPS) verhandelt werden musste, sondern es wurde als Kriminalfall vor ein St. Petersburger Geschworenengericht gebracht.106 Dort unterhielt der Fall die Öffentlichkeit – die Verhandlung galt als das wichtigste gesellschaftliche Ereignis des Jahres 1878. Im Publikum saßen der Außenminister und der Reichssekretär, verschiedene Richter Siljak, Angel of vengeance, 2008, S. 220. Pipes (Hg.), The trial of Vera Z., 2010, S. 44–45; zur Kommunikationspolitik der Obrigkeit vgl. auch: Wurr, Terrorismus und Autokratie, 2015, S. 61–68. 106 Dieses Verfahren hat Richard Pipes jüngst als „das wichtigste Gerichtsverfahren in der Rechtsgeschichte des Russischen Reiches“ klassifiziert und ihm ein ganzes Heft der Zeitschrift „Russian History“ gewidmet: Pipes (Hg.), The Trial of Vera Z., 2010, S. 2. Vgl. auch: Baberowski, Autokratie und Justiz, 1996, S. 680–686. 104 105

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und Staatsanwälte ebenso wie berühmte Intellektuelle, wie z. B. Fedor Dostoevskij oder der Historiker und Philosoph Boris Čičerin.107 Von der Pahlen hatte gehofft, dass die Geschworenen – und damit auf symbolische Weise das Volk – die Gewalttat der Zasulič verurteilen würden, doch das Gegenteil trat ein.108 Der Verteidiger von Vera Zasulič, Petr Aleksandrov, schilderte vor Gericht ausführlich die elende und erniedrigende Situation der politischen Häftlinge in den russländischen Gefängnissen. Außerdem stellte er Vera Zasulič, die als junges Mädchen in den 1860er Jahren bereits administrativ verbannt worden war, selbst als Opfer der willkürlichen und unbarmherzigen Justiz dar. Er vertrat die Ansicht, dass in solchen Fällen, in denen die Menschenrechte nicht in ausreichendem Maße durch den Staat geschützt würden, ein denkender und fühlender Mensch wie Vera Zasulič sich zur Selbsthilfe gezwungen gesehen habe. Sie sei moralisch unschuldig, und die Umstände hätten sie zu Verbrecherin gemacht.109 Es war diese Version der Ereignisse, die wiederum den diskursiven Entstehungskontext terroristischer Gewalt betonte und die sowohl die öffentliche Meinung als auch die Historiographie über die Ereignisse prägte. Der Verdacht liegt nahe, dass das Geschlecht der Attentäterin diese Version der emotionalen und individuellen Vergeltung beförderte. Zasulič wurde bewusst kein politisches Motiv unterstellt, sondern ein emotionales Bedürfnis nach Vergeltung. Zudem wurde sie nach den Darstellungen ihres Anwaltes selbst zum Opfer der politischen Verhältnisse stilisiert. Dieses Narrativ konnte dem scheinbaren Paradoxon von einer gewalttätigen Frau nicht nur Sinn geben, sondern diese Frau in der öffentlichen Meinung zum „Racheengel“ erheben.110 Um diesen Racheengel konnte sich nun eine emotionale Gemeinschaft bilden, die angesichts der Vergeltung von empfundenem Unrecht Genugtuung empfand. Die emotionale Gemeinschaft reichte weit über die Kreise der revolutionären Bewegung hinaus. Tatsächlich wurde Vera Zasulič unter dem Beifall der Zuschauer*innen und dem Jubel der auf der Straße versammelten Menschenmenge am 31. März 1878 freigesprochen. So erinnerte sich der Vorsitzende Anatolij Koni an den Moment der Urteilsverkündung: Schreie, unbeherrschter Freude, hysterisches Schluchzen, heftiger Applaus, Stampfen mit den Füßen, Ausrufe: „Bravo!, Hurra!, […] Vera!, Veročka!, Veročka, alles verschmolz zu einem einzigen Knall, Ächzen und Geschrei. “111

Ebd., S. 683. Pipes (Hg.), The trial of Vera Zasulich, 2010, S. 44–45. Petr Aleksandrov, Iz reči prisjažnogo poverennogo P. A. Aleksadrova v zaščitu V. I. Zasulič 31 marta 1878 g., in: Budnickij (Hg.), Istorija terrorizma v Rossii v dokumentach, 21996, S. 68–73. 110 Vgl. zum Racheengel noch einmal: Siljak, Angel of vengeance, 2008. 111 Koni, Sobranie sočinenij v vos′mi tomach, 1966–1969, II, S. 172. Zu Koni auch: Pipes (Hg.), The trial of Vera Z., 2010, S. 42–45, und: Carla Cordin, Anatolij F. Koni (1844–1927) zwischen Herrscher und Volk. Ein liberaler Jurist und seine autobiografische Praxis in Zarenreich und Sowjetunion, Göttingen 12019. 107 108 109

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Ivan Turgenev schrieb unmittelbar nach dem Prozess ein Gedicht mit dem Titel Porog (Die Schwelle), das die Gewissenszweifel der Vera Zasulič im Moment vor dem Attentat thematisierte und ihre Tat abermals rechtfertigte. Es endete mit den Worten: „Eine Heilige!“112 So wurde „Veročka“ als Heilige und Heldin verehrt. Die quasi-hagiographische Überhöhung der weiblichen Attentäterin, die trotz oder gerade wegen ihres gewaltsamen Normverstoßes idealisiert wurde, sollte auch im Folgenden die Rezeption der Terroristinnen und ihrer Taten prägen. So groß die emotionale Gemeinschaft, die sich um den Racheengel scharrte, auch war, so selbstverständlich ist es, dass es auch kritische Stimmen gab: Die Konservativen, wie z. B. der Fürst Vladimir Meščerskij, unkten, dass dieser Freispruch die revolutionäre Bewegung ermutigen und neue Gewalt auslösen werde.113 Der konservative Journalist Michail Katkov empörte sich darüber, dass der „Gerichtsskandal“, wie er ihn nannte, „nicht nur in Moskau, sondern in der ganzen Welt Eindruck gemacht“ habe – natürlich im negativen Sinne.114 Und tatsächlich nahmen zahlreiche Regierungen in Europa und darüber hinaus Stellung zum Attentat und zum Freispruch der Zasulič, ebenso wie Zeitungen weltweit.115 Peripherie

Der Schuss von Vera Zasulič wurde also sofort nicht nur weltweit, sondern auch in allen Teilen des Reiches gehört und inspirierte die Radikalen, die von den Nachrichten über Bogoljubov und der Härte, mit der das Regime gegen seine Gegner*innen vorging, alarmiert waren. Bereits eine Woche nach dem Schuss auf Trepov kam es in Odessa zum „ersten Akt des bewaffneten Widerstandes“, wie er später bezeichnet werden sollte.116 Ivan Koval′skij, bekannt als Experte für die Geschichte und Gegenwart der russländischen Sekten, betrieb in seiner Wohnung eine illegale Druckerpresse. Er war im Rahmen der Studierendenbewegung in den 1860er Jahren radikalisiert worden und genoss großen Einfluss in den revolutionären Kreisen der Stadt. Durch seine revolutionäre Tätigkeit hatte er Kontakt zu dem später in der Narodnaja volja aktiven

112 Vgl. dazu auch: Anthony Anemone, Just assassins. The culture of terrorism in Russia, Evanston, Illinois 2010, S. 83. In der Historiographie war es vor allem die Untersuchung von Jay Bergman über Vera Zasulič aus dem Jahr 1983, welche die Tat als Ergebnis der Konspiration einer revolutionären Gruppe identifizierte: Vgl. vor allem: Bergman, Vera Zasulich, S. 36–37; vgl. auch ausführlich: Siljak, Angel of vengeance, 2008, S. 215–247. 113 Vladimir P. Meščerskij, Knjaz′ Meščerskij. Vospominanija, Moskva 22003, S. 517–519. 114 Michail N. Katkov, Moskva, 11-go aprelja, in: 11. April 1878. 115 Vgl. zur internationalen Reaktion auf den Freispruch der Zasulič auch: Leitner/Zasulič, Die Attentäterin Vera Zasulič, 1996, S. 112–114. 116 N. A. Vitaševskij, Pervoe vooružennie soprotivlenie – pervyj voennyj sud. Prozess I. M. Koval′skogo, in: Byloe (1906), H. 2, S. 220–245.

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Andrej Željabov.117 Er hatte sich an der Propagandawelle des Jahres 1874 beteiligt, vor allem mit Agitationen unter Sektenanhänger*innen, und er unterhielt ab 1876 einen revolutionären Zirkel, der nach seiner Adresse in der Sadovaja-Straße in Odessa Sadovcy genannt wurde.118 Dieser Zirkel befürwortete bereits seit Mitte der 1870er Jahre den Terrorismus, weil die Propagandatätigkeit auf dem Land keine Wirkung gezeigt hatte. Am 30. Januar 1878 versuchte eine starke Polizeieinheit, Koval′skij und andere Mitglieder seines Zirkels zu verhaften. Sie stürmten seine Wohnung auf der Sadovaja. Doch die Revolutionäre wollten sich nicht einfach festnehmen lassen und versuchten, sich mit Hilfe von Revolvern zu verteidigen. Sie gewannen Zeit, um kompromittierende Dokumente zu vernichten und die Menge vor dem Haus auf sich und das Geschehen aufmerksam zu machen. Damit trugen die Radikalen in größter Not den Kampf gegen die Obrigkeit aus der konspirativen Wohnung hinaus auf die Straße. Wie in der Inszenierung eines klassischen Terroranschlags wechselten die Radikalen auch hier in einem Moment von Konspiration und Geheimhaltung auf Öffentlichkeit und Publikumswirksamkeit. Im Unterschied zum geplanten terroristischen Anschlag bestimmten die Verschwörer*innen diesen Zeitpunkt aber nicht selbst, sondern er wurde ihnen durch die Polizei aufgezwungen. Die Kommunikationsstrategie Koval′skijs und seiner Mitstreiter*innen erwies sich trotzdem als äußerst folgenreich. Während der Gerichtsverhandlung, in der Koval′skij zum Tode verurteilt wurde, formierte sich eine bewaffnete Demonstration auf der Straße vor dem Gericht, um Koval′skij zu befreien.119 Dieser Protest war die erste bewaffnete Demonstration in der russischen Geschichte.120 Es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei, bei der zwei Menschen getötet wurden. Koval′skij konnte zwar nicht gerettet werden, aber seine Verhaftung und der Versuch seiner Befreiung waren ein weiteres wichtiges Element in der diskursiven Entstehungsgeschichte des russländischen Terrorismus. Sein aktiver Widerstand überzeugte zahlreiche Narodniki, dass gewaltsamer Kampf nötig sei.121 Das Todesurteil gegen Koval′skij wurde in aller Öffentlichkeit vollstreckt. Damit zeigte die Obrigkeit ihre Bereitschaft, ebenfalls in aller Öffentlichkeit Gewalt auszuüben, um dadurch ihrerseits eine Botschaft an die Untertan*innen auszusenden. Diese Gewalt der

117 Guido Hausmann, Universität und städtische Gesellschaft in Odessa, 1865–1917. Soziale und nationale Selbstorganisation an der Peripherie des Zarenreiches, Stuttgart 1998, S. 197–199. 118 I. Miller, 14 agusta 1878 g. Pis′mo I. Millera P. L. Lavrovu ob odesskom revoljucionnom podpole, o sude nad členami kružka I. M. Koval′skogo i demonstracii po povodu vynesennnogo prigovora, in: Vladimir Nikolaevič Ginev (Hg.), Iz istorii „Zemli i Voli“ i „narodnoj voli“. Spory o taktike: sbornik dokumentov, Moskva 2012, S. 212–218. 119 Ebd. 120 S. Leon, Pervaja vooružennaja demonstracija. Po ličnym vospominanijam i archivnym materialam, in: Katorga i ssylka (1928), 45–46, S. 54–60; S.I Feochari, Vooružennaja demonstracija 1878 g. v Odesse. Sud nad I. M. Koval′skim, in: Katorga i ssylka (1924), H. 8, S. 109–113. 121 Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 600.

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Obrigkeit gegen die Revolutionäre radikalisierte weite Teile der Studierendenbewegung und polarisierte die Gesellschaft.122 Valerian Osinskij: Die Erfindung des „Exekutiv-Komitees“

Bis zu diesem Zeitpunkt waren gewaltsame Anschläge gegen einzelne Vertreter der Obrigkeit vor allem dem Motiv der Vergeltung entsprungen, zumindest wurden die Taten öffentlich so legitimiert. Aus diesem Vorgehen entwickelte sich langsam an der südwestlichen Peripherie des Reiches die Taktik des Terrorismus. Der Revolutionär Valerian Osinskij, der vor allem in Rostov am Don, Kiew und Odessa aktiv war, trieb diesen Prozess voran.123 Alphons Thun bezeichnete ihn als den „empirischen Gründer des Terrorismus“124, also als denjenigen, der durch seine Taten die Entwicklung des Terrorismus beförderte. Zunächst waren auch Osinskijs Taten vor allem beflügelt vom Prinzip der Rache. Der aus einer adligen Familie stammende Osinskij war zunächst offiziell in der Verwaltung seiner Heimatstadt Rostov am Don tätig. Aufgrund seiner Tätigkeit war der Einfluss der Revolutionär*innen sowohl bei den Behörden als auch in der Arbeiterschaft der Stadt groß. Eine Denunziation zerstörte die Früchte seiner Arbeit. Osinskij organisierte die Ermordung des Informanten namens Nikonov am 2. Februar 1878. Auf Plakaten bekannte ein „Exekutiv-Komitee“ sich zu der Tat: „Das ist das Schicksal, das die Judasse erwartet!“ Dieses Plakat kursierte nicht nur in den Straßen Rostovs, sondern in der Folge in weiteren Städten des Südens.125 Zudem druckten die revolutionären Zeitschriften Obščina (Gemeinde) und Nabat (Sturmgeläut) es ab.126 Die Poster trugen einen Stempel, in dessen Mitte sich Dolch, Axt und Revolver kreuzten. Die Aufschrift „Exekutiv-Komitee der sozialrevolutionären Partei“ umrahmte das Symbol.127 Das Exekutiv-Komitee diente zu diesem Zeitpunkt als ein frei erfundenes „Markenzeichen“, das eine organisierte Kraft hinter der punktuellen politischen Gewalt suggerierte. Die Institution verwies auf den „Revolutionären Katechismus“ von Sergej Nečaev und verbreitete deshalb bei den Gegner*innen Angst und Schrecken, während es den Sympathisant*innen durch den Anschein von Strukturen Mut machte. Die solcherart eingeführte „Marke“ erwies sich als erfolgreich. Eine Kom-

Hausmann, Universität und städtische Gesellschaft in Odessa, 1998, S. 198. Zu Osinskij vgl. Adam Bruno Ulam, Prophets and conspirators in prerevolutionary Russia, New Brunswick 1998, S. 278–285; Kravčinskij, Grozovaja tuča Rossii, 2001, S. 72–80; Biografičeskie zametki o Valeriane Osinskom, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Literatura social′no-revoljucionnoj partii „Narodnoj Voli“, Narodnaja volja, god pervyj, No. 2, S.l 1905, S. 101–116. 124 Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S. 167. 125 Footman, Red prelude, 21968, S. 73. 126 Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 600. 127 Footman, Red prelude, 21968, S. 73. 122 123

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munikationskampagne, die sich jeweils auf das nunmehr berüchtigte „Exekutiv-Komitee“ bezog, begleitete alle weiteren Aktionen des Zirkels um Osinskij. Es war diese Strategie viel mehr als eine tatsächliche Struktur, die das Komitee und damit die Idee des Terrorismus nečaevscher Prägung im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zum Leben erweckte.128 Als wichtiger Mann im Kreis um Osinskij galt Michail Frolenko aus Odessa. Frolenko war gut in der Organisation der Buntari vernetzt, die vor allem im Süden des Reiches großen Einfluss auf die revolutionäre Bewegung hatten und zu der auch Vera Zasulič gehört hatte. Später trug Frolenko den Geist der südlichen Rebell*innen und Terrorist*innen in die Reihen der Narodnaja volja als führender Kraft organisierter terroristischer Aktionen.129 Außerdem übernahm die Narodnaja volja nach dem Tod Osinskijs als Vermächtnis Begriff und Idee des „Exekutiv-Komitees“, das in der ersten Phase der Geschichte des russländischen Terrorismus Herz und Zentrum der Radikalen war. Zunächst aber begleitete das Exekutiv-Komitee mit seinen Flugblättern die Anschläge, die im Umfeld Osinskijs geplant wurden. Zunächst verkündete es die „Urteile“ und vermeldete schließlich den Vollzug. Als nächstes Opfer wählte die Gruppe um Osinskij den stellvertretenden Kiewer Staatsanwalt, Michail Kotljarevskij, der bei der Verfolgung politischer Verbrecher*innen durch besonderen Eifer aufgefallen war und deshalb in weiten Kreisen der revolutionären Bewegung Unwillen auf sich gezogen hatte. Es ging das Gerücht, dass er zwei junge Frauen durch Polizeibeamte nackt hatte ausziehen lassen und dass er Geständnisse bei Revolutionären durch Androhung der Todesstrafe erpresst hatte. 130 Der sexuelle Übergriff, der hier suggiert wurde, stellt ein wiederkehrendes Motiv in den revolutionären Darstellungen obrigkeitlicher Gewalt dar, das schließlich 1906 im Mythos um Marija Spiridonova einen Höhepunkt erreicht.131 Der aufgrund dieser Ereignisse und Gerüchte diskreditierte Kotljarevskij ging am 23. Februar 1878 auf der Straße spazieren. Osinskij gab mehrere Schüsse aus seiner Pistole auf ihn ab, um für die politischen Gefangenen und entehrten Frauen Rache zu nehmen, und verließ den Tatort in der Überzeugung, sein Opfer sei tot. Doch dieses überlebte unverletzt.132 Auch zu diesem Anschlag bekannte sich das Exekutiv-Komitee.133 Das Attentat zog im Nachgang große Aufmerksamkeit auf sich. Die Behörden verdächtigten einen Studenten, an dem Anschlag beteiligt gewesen zu sein, und nahmen ihn fest. Daraufhin kam es in Kiew zu Unruhen. Im Zuge der Tumulte wurden an die Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 602; Siljak, Angel of vengeance, 2008, S. 269. Michail F. Frolenko, Vozniknovenie „Narodnoj Voli“. Kommentarii k stat′e N. A. Morozova (Byloe 1906, Nr. 12), in: Zapiski semidesjatnika, Moskva 1927, S. 176–184, hier S. 176–184. 130 Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S. 162. 131 Boniece, The Spiridonova case, 2003, S. 571–606. 132 Vladimir Debagorij-Mokrievič, Ot buntarstva k terrorizmu, Moskva 1930; Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 602; Footman, Red prelude, 21968, S. 74–75. 133 Wurr, Terrorismus und Autokratie, 2015, S. 73. 128 129

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150 Studierende exmatrikuliert und 30 in die nördlichen Provinzen verbannt. Große Ansammlungen revolutionärer Jugendlicher begrüßten die Verbannten auf den Bahnhöfen von Kiew, Char′kov und Moskau, um ihre Solidarität auszudrücken. Namentlich in Moskau kam es daraufhin zu Straßenschlachten zwischen den Studierenden und kaisertreuen Kleinhändlern.134 Das erfolglose Attentat zog also eine Reihe von Ereignissen nach sich, die der Straßenpolitik zugeordnet werden konnten. Emotionale Gemeinschaften, die sich mit den Studierenden solidarisierten, trafen auf jene, die empört auf die aufständischen Jugendlichen reagierten. Ihr Aufeinanderprallen machte den Kampf der Radikalen gegen die Obrigkeit vor aller Augen und an zahlreichen Orten des Reiches sichtbar. Am 25. Mai 1878 verübte Osinskijs Mitverschwörer Grigorij Popko einen Anschlag auf den Polizeioberst von Kiew, Baron Gustav von Gejking. Dabei erstach Popko Gejking ebenfalls auf der Straße mit einem Messer. Die Art der konspirativen Planung sollte sich für die Geschichte des Terrorismus als prägend erweisen. Popko hatte herausgefunden, dass Gejking am Abend der Tat ein Cabaret besuchte. Er wusste, dass das Opfer also diesen Ort auch wieder verlassen musste. Auf dem Rückweg von dieser öffentlichen Veranstaltung hatte Popko die Möglichkeit, den Anschlag auf das Leben des Polizeichefs zu begehen.135 Allerdings galt Gejking als Liberaler, deshalb blieb der Anschlag umstritten. Popko musste auf seiner Flucht mehrere Schüsse abgeben. Dabei erschoss er einen Diener und verletzte einen Polizisten schwer.136 Möglicherweise aufgrund der in der Folgezeit vielfach diskutierten „unschuldigen Opfer“ und weil Gejking als Liberaler im Sinne der terroristischen Botschaft kein ideales Opfer darstellte, bildete sich anlässlich dieses Mordes keine emotionale Gemeinschaft, die die Tat begrüßte. Dennoch bekannte sich das Exekutiv-Komitee mit Flugblättern zu dieser Tat. Sogar auf der Türschwelle des Gendarmeriechefs von Poltava wurde eines gefunden.137 Einen spektakulären Erfolg der Verschwörer*innen um Osinskij stellte die Befreiung einiger berühmter Revolutionäre, unter ihnen Lev Deič, aus dem Kiewer Gefängnis im Mai 1878 dar.138 Die gewaltsamen Aktivitäten, die im Namen des südlichen Exekutiv-Komitees unter der Führung von Valerian Osinskij verübt wurden, zeichneten bereits wesentliche Merkmale des zukünftigen russländischen Terrorismus vor:

Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S. 162. Footman, Red prelude, 21968, S. 75–76; Debagorij-Mokrievič, Ot buntarstva k terrorizmu, 1930. Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 602; Stepan Stepanovič Volk, Narodnaja Volja. 1879–1882. [Pod red. Š.M. Levina], Moskva i t.d 1966, S.  69; Footman, Red prelude, 21968, S.  76; Wurr, Terrorismus und Autokratie, 2015, S. 73. 137 Wurr, Terrorismus und Autokratie, 2015, S. 73. 138 Vgl. dazu auch: Lev G. Dejč, Za polveka, Cambridge 1975. 134 135 136

Sergej Kravčinskij: Die Straße als idealer Ort des Terrorismus

1. 2. 3. 4.

symbolische Akte der Gewalt gegen Vertreter der Obrigkeit, Gewalt gegen Spitzel und Informanten im Namen von Selbstschutz und Rache, Befreiung politischer Gefangener, Expropriationen, also die Beschaffung von materiellen Grundlagen für die terroristische „Arbeit“ im Untergrund auf illegale Weise.139

Dabei wurde bereits in dieser frühen Phase das Problem der unschuldigen Opfer offenbar: Der Diener, den Popko beim Attentat auf Gejking erschoss, war sicher kein Vertreter der Obrigkeit. Im Frühjahr 1879 wurde Osinskij in Kiew verhaftet und im Mai desselben Jahres gemeinsam mit einigen Mitverschwörer*innen zum Tode verurteilt. Darunter befand sich auch Osinskijs Lebensgefährtin Sofija Lešern, die ebenfalls zum Tode verurteilt, aber kurz vor der Vollstreckung des Urteils begnadigt wurde. Sofija Lešern, die diese Gnade als Strafe empfand, schrieb in der Nacht vor seinem Tod Osinskijs politisches Testament auf. Der Trost, den der verurteilte Osinskij seiner Freundin spendete, die verzweifelt über ihr Weiterleben war, ist ein wichtiger Bestandteil der Märtyrer-Erzählung über Osinskij.140 Sein politisches Testament sollte die Geschichte des russländischen Terrorismus nachhaltig beeinflussen. Sergej Kravčinskij: Die Straße als idealer Ort des Terrorismus

Der Schuss der Vera Zasulič auf General Trepov war ein Schuss, der nicht nur an der Peripherie des Reiches, sondern auf der ganzen Welt gehört wurde. Nachrichten sowohl vom Attentat als auch von der Gerichtsverhandlung und von Zasulič′ Freispruch wurden in Zeitungen weltweit kolportiert.141 Besonderen Eindruck machte das Ergebnis des Prozesses auf den in Zürich im Exil lebenden Revolutionär Sergej Kravčinskij, der jubelte: „Der russische Absolutismus ist tot. Der 31. März war sein Todestag.“142 Sergej Kravčinskij, auch bekannt unter seinem revolutionären Kampfnamen Stepnjak (Sohn der Steppe), schrieb 1882 in seinem Buch über „Untergrund Russland“: „Zasulič war keine Terroristin. […] Aber dennoch waren die Ereignisse des 24. Januar ein wichtiger Impuls für die Entwicklung des Terrorismus.“143 Obvinitel′nyj akt (20 narodovol′cy), IISG, Archiv PSR f. 79. Vgl. z. B. Biografičeskie zametki o Valeriane Osinskom, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Literatura social′no-revoljucionnoj partii „Narodnoj Voli“, 1905, S. 101–116. Vgl. zu Sofija von Lešern: D.I Solov′ev, Pis′mo D. I. Solov′eva S. A Lešern fon Gercfel′dt i drugim ženščinam, zaključennym v moskovskuju tjur′mu. Ranee 2 ijulja 1879 g., in: Ginev (Hg.), Iz istorii „Zemli i Voli“ i „narodnoj voli“, 2012, S. 259–262. 141 Vgl. zur internationalen Reaktion: Leitner/Zasulič, Die Attentäterin Vera Zasulič, 1996, S. 112–114. 142 Zitiert nach: Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 609. 143 Sergej M. Kravčinskij, Grozovaja tuča Rossii, Moskva 2001, S. 47. 139 140

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Einen Beweis für diese These lieferte vor allem sein eigenes Verhalten. Stepnjak reiste unter konspirativen Umständen nach St. Petersburg, um dort mit den führenden Köpfen der Zemlja i volja ein Attentat zu planen und damit Vera Zasuličs Beispiel zu folgen.144 Gemeinsam mit den Strategen der Partei, vor allem mit Aleksandr Michajlov (1855–1884), dem Drahtzieher der späteren Attentate auf den Zaren Alexander  II., wählte er sorgfältig ein symbolisches Opfer. General Nikolaj Mezencov war der Chef der Staatspolizei, die bis 1880 im Russischen Reich als „Dritte Abteilung der Eigenen Kanzlei Seiner Kaiserlichen Majestät“ berüchtigt war. Die kurz so genannte Dritte Abteilung überwachte sowohl die Öffentlichkeit als auch den Staatsapparat. Ihr unterstand die Gendarmerie.145 Deshalb galt sie als zentrale Institution zur Verfolgung politischer Vergehen. In dieser Position hatte sich Mesencev während der politischen Prozesse (so z. B. dem Prozess der 193) zur Hassfigur der revolutionären Jugend entwickelt. Kravčinskij wollte dem Vorbild der Zasulič in allen Details folgen und plante zunächst, auch Mezencov in seinen Empfangsräumen während einer Audienz zu erschießen. Doch das Planungskomitee einigte sich auf ein anderes Vorgehen. Auch wenn Kravčinskij zunächst nicht die Absicht hatte, nach dem Attentat auf Mezencov zu entkommen, sondern entweder den Märtyrertod sterben oder ebenso wie sein Vorbild zu seiner Tat vor Gericht stehen wollte, beschlossen die Parteistrategen, allen voran Aleksandr Michajlov, bis 1880 der wichtigste Vordenker der russländischen Terrorist*innen, dass er den Versuch machen sollte, nach der Tat zu entkommen. Stepnjak sei als Person zu wichtig für die Sache, um sich zu opfern. Diese Überlegungen führten dazu, dass das Attentat an einen anderen Ort verlegt wurde – auf die Straße.146 Damit „erfand“ Aleksandr Michajlov, möglicherweise das Vorbild Osinskijs antizipierend, die Straße als idealen Schauplatz des Terrorismus. Dieser Tatort sollte die Geschichte des Terrorismus im Weiteren prägen. Auch wurde – erstmalig in der Geschichte des Terrorismus und bedingt durch die Möglichkeiten des neuen Tatorts – als Fluchtfahrzeug eine offene Kutsche bereitgestellt.147

144 Zur Person als Autor und Terrorist vgl. Charles A. Moser, A Nihilist’s career. S. M. Stepniak-Kravchinskij, in: American Slavic and East European Review 20 (1961), H. 1, S. 55–71; Taratuta, S. M. StepnjakKravčinskij – revoljucioner i pisatel′, Moskva 1973; Donald Senese, S. M. Stepniak-Kravchinskii, the London years, Newtonville Mass 1987; James W. Hulse, Revolutionists in London: a study of five unorthodox socialists, Oxford 1970. 145 Vgl. zur Dritten Abteilung: Peter Stansfield Squire, The Third Department. The establishment practices of the political police in the Russia of Nicholas I, Cambridge 1968; Sidney Monas, The Third Section. Police and society in Russia under Nicholas I, Cambridge 1961; Nikolaj P. Eroškin, Istorija gosudarstvennych učreždenij dorevoljucionnoj Rossii, Moskva 31983. 146 Siljak, Angel of vengeance, 2008, S. 267. 147 Vgl. zum Ablauf die Erinnerungen des Studenten Berdnikov, die er allerdings erst 1932 zu Protokoll gab: L. F. Berdnikov, Kazn′ šefa žandarmov Mezencova, in: Ginev (Hg.), Iz istorii „Zemli i Voli“ i „narodnoj voli“, 2012, S. 218–227.

Sergej Kravčinskij: Die Straße als idealer Ort des Terrorismus

Sergej Kravčinskij führte seine Tat gemeinsam mit Aleksandr Barannikov aus. Nikolaj Mezencov wurde sein regelmäßiger und öffentlicher Tagesablauf zum Verhängnis. Wie jeden Morgen ging er auch am 4. August 1878 auf dem Michajlovskij-Platz in St. Petersburg spazieren. Kravčinskij war elegant gekleidet und konnte so, ohne Verdacht zu erregen oder gleich als „Nihilist“ erkannt zu werden, selbstbewusst direkt auf Mezencov zulaufen und ihn wie einen alten Freund begrüßen. Auf Armlänge herangekommen, zog Kravčinskij ein Messer aus der Zeitung, die er bei sich trug, und stach Mezencov damit in die Brust. Mezencov erlag am Abend desselben Tages seinen Verletzungen. Barannikov gab einen Schuss auf den Adjudanten ab, der versuchte, die beiden aufzuhalten, traf aber nicht. Kravčinskij und Barannikov rannten zu der offenen Kutsche und entkamen innerhalb weniger Minuten. Dieses Attentat galt den Zeitgenoss*innen als das perfekte politische Verbrechen. Konspiration und Planung der Flucht waren erstmalig minutiös organisiert.148 Die Polizei hatte noch nicht einmal einen Verdacht, wer der Mörder Mezencovs gewesen sein könnte.149 Die Straße als Ort des Anschlags spielte eine wichtige Rolle bei der Planung der Tat. Die Öffentlichkeit des Michajlovskij-Platzes eröffnete erstens die Möglichkeit, nah genug an das Opfer heranzukommen, um aus nächster Nähe einen Anschlag mit einem Messer auszuführen. Außerdem offenbarte der öffentliche Raum die tägliche Routine des Chefs der Gendarmerie. Die Kenntnis seiner Gewohnheiten war nötig, um den genauen Zeitplan des Attentats und die darauffolgende Flucht vorzubereiten. Diese Recherche der Routinen und Wege der Opfer sollte die zukünftige Praxis der russländischen Terrorist*innen bestimmen. Zudem eröffnete der unbegrenzte und schwer zu überwachende Raum der Straße die Möglichkeit, ein Fluchtfahrzeug zu platzieren und relativ ungehindert damit zu fliehen. Das Attentat von Stepnjak-Kravčinskij auf Mezencov zeigt, dass die Inszenierung, die Konspiration und die Ziele der Attentäter Einfluss auf die Wahl des Ortes, an dem der terroristische Anschlag stattfindet, haben. Hätte der Anschlag, wie zunächst geplant, in den Empfangsräumen Mezencovs stattgefunden, wäre der Mörder wohl kaum so leicht entkommen. Er hätte seine Sache vor Gericht verteidigen und damit die Deutungshoheit über die Botschaft des Anschlages für sich reklamieren können. Zudem hätte er, in der damals lebendigen Tradition der russischen Revolutionär*innen des 19. Jahrhunderts, seinen Opferwillen unter Beweis stellen und das Martyrium durch die Hinrichtung, aber auch durch Gefängnis oder Verbannung suchen können. Kravčinskij war dementsprechend auch zunächst unzufrieden damit, dass seine Flucht und sein Überleben von den Parteistrategen geplant wurde, und er gab sich gegenüber den konspirativen Vorkehrungen, die seine eigene

148 Footman, Red prelude, 21968, S. 82; Berdnikov, Kazn′ šefa žandarmov Mezencova, in: Ginev (Hg.), Iz istorii „Zemli i Voli“ i „narodnoj voli“, 2012, S. 218–227. 149 Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 610; Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S. 169.

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Sicherheit garantieren sollten, betont lässig.150 Im Verhalten der frühen Attentäter*innen zeigt sich solcherart eine „soldatische Tugend“, die Mut und Opferwillen über die eigene Sicherheit stellt und die eigentlich jene aristokratischen Vorbilder hat, welche die Terrorist*innen zu bekämpfen suchten.151 Es ist zudem eine Ironie der Geschichte des Terrorismus, dass Kravčinskij, der der Partei als wichtiger Revolutionär galt, das Russische Reich trotzdem bald, und zwar eben aufgrund seiner mangelnden Bereitschaft zur Vorsicht, verlassen musste. Allerdings sollte er sich möglicherweise einige Jahre später als Feuilletonist der Revolution für die Außendarstellung der Terrorist*innen als wertvoller erweisen, als er es im aktiven politischen Kampf gewesen wäre. Eine weitere Fußnote in dieser Episode des Terrorismus ist die Beobachtung, dass ausgerechnet die Tat des großen Kommunikators und Schriftstellers Kravčinskij nur wenig Eingang in die Kommunikationsgeschichte des Terrorismus gefunden hat. Am Abend der Tat verfasste er das Flugblatt „Ein Tod für einen Tod“, mit dem er die Tat im Rahmen der aktuellen Ereignisse im Sinne der Partei legitimierte.152 In seinen späteren Schriften bleibt der Mörder Mezencovs stets ungenannt. In „Untergrund Russland“ ist es z. B. „der Terrorismus“ selbst, der General Mezencov umbringt.153 In seinem Porträt Osinskijs kokettiert er jedoch mit der Tat: General Mezencov wurde am helllichten Tag auf einer der belebtesten Straßen der Stadt umgebracht, und jene, die ihn töteten, verschwanden spurlos. Dies war der erste Anschlag dieser Art und er erregte die größte Aufmerksamkeit.154

Auch zahlreiche Zeitgenossen, wie z. B. Beispiel Kropotkin, erwähnen Kravčinskij nicht.155 Der bedeutende Philosoph des Narodničestvo im Exil Petr Lavrov plädierte noch im Januar 1896 dafür, die Teilnahme Kravčinskijs an dem Attentat auf Mezencov aus taktischen Gründen nicht offenzulegen.156 In kommunikationshistorischer Perspektive führte diese relative Anonymisierung der Tat dazu, dass der Anschlag auf Mezencov häufig eine Randnotiz blieb. Diese Marginalität des Ereignisses in der Terrorismusrezeption gibt Aufschluss darüber, wie wichtig die Personalisierung des

Siljak, Angel of vengeance, 2008, S. 268. Vgl. zur soldatischen Tugend der Herrschenden, z. B. Dietze/Schenk, Traditionelle Herrscher in moderner Gefahr, 2009, S. 368–401. 152 Kravčinskij, Grozovaja tuča Rossii, 2001, S. 13–22. 153 Ebd., S. 49. 154 Ebd., S. 72. 155 Pëtr A. Kropotkin, Memoiren eines Revolutionärs. In zwei Bänden, Stuttgart 1900, II, 279. Und die Erinnerungen von Berdnikov, die den Täter klar benennen, datieren erst aus dem Jahr 1932: Berdnikov, Kazn′ šefa žandarmov Mezencova, in: Ginev (Hg.), Iz istorii „Zemli i Voli“ i „narodnoj voli“, 2012, S. 218–227. 156 Petr L. Lavrov, Pis′mo P. L. Lavrova Ë.A. Serebrjakovu o svoem otnošenii k popytke umolčat′ ob učastii S. M. Stepnjaka-Kravčinskogo v pokušenii na Mezencova. 3 janvarja 1896 g., in: Ginev (Hg.), Iz istorii „Zemli i Voli“ i „narodnoj voli“, 2012, S. 227–231. 150 151

Sergej Kravčinskij: Die Straße als idealer Ort des Terrorismus

Terrorismus – und damit die Person des Täters oder der Täterin – für die narrative Sinngebung der Tat ist. Die Legitimation des Mordes an Mezencov in dem Traktat „Ein Tod für einen Tod“ lässt wichtige Rückschlüsse auf die Stilisierung dieser Quellengattung zu. Dieser perfekt geplante Anschlag war das Ergebnis einer länger andauernden konspirativen Vorbereitung. Am 2. August, also zwei Tage vor Kravčinskijs Tat, war in Odessa unter anderem auf Geheiß des Polizeichefs Mezencov der oben erwähnte Ivan Koval′skij hingerichtet worden. Kravčinskij widmete den Text „Ein Tod für einen Tod“ Koval′skij und suggerierte damit, dass die Ermordung Mezencovs ein Racheakt für Koval′skij gewesen sei.157 Dieses Pamphlet sandten anonyme Aktivist*innen der Zemlja i volja etwa an den Staatsanwalt von Archangel′sk, um den Anschlag auf Mezencov zu rechtfertigen.158 Während der Planungen des Mordes an Mezencov wurde Koval′skij zum Tode verurteilt. Diese Verurteilung erregte sowohl die revolutionäre Öffentlichkeit als auch weite Teile der Gesellschaft. Deshalb bot die Hinrichtung Koval′skijs den Radikalen einen willkommenen Anlass, die Gewalt, die an Koval′skij verübt wurde, zu rächen. Damit wollten sie abermals das Bedürfnis der Öffentlichkeit nach Vergeltung stillen und sich wiederum in die Tradition Vera Zasuličs stellen. Auch wenn die Nachwelt des Attentats kaum gedachte, ist der Mord an Mezencov doch eine wichtige Etappe bei der Entstehung des Terrorismus. Tim Wurr nennt den Anschlag den „Beginn des Terrorismus“.159 Was bei Vera Zasulič noch als emotionale Form der Rache gegolten hatte, wurde nun in die Form einer politischen Tat überführt, auch wenn es im Nachhinein scheint, als sei das Ereignis vom 4. August 1878 nicht der Intention des Autors gemäß gelesen worden. In dem Traktat „Ein Tod für einen Tod“ kündigt Kravčinskij die Eskalation des Terrorismus in quantitativer und qualitativer Hinsicht an: Und wisset: Wir haben Mittel und Wege, die noch viel schrecklicher sind als die, die Ihr bereits kennengelernt habt. Wir haben sie nur bisher nicht benutzt, weil sie uns zu extrem schienen. Hütet Euch davor, uns zum Äußersten zu treiben, und denkt daran, wir sprechen niemals leere Drohungen aus […]160

Der Titel des Traktats „Ein Tod für einen Tod“ verweist auf den diskursiven Entstehungskontext der terroristischen Gewalt, die hier als Antwort auf die obrigkeitliche Gewalt legitimiert wird. Wie sehr diese Legitimationsstrategie verfing, kann ein Bericht des deutschen Botschafters in Paris, Fürst von Hohenlohe-Schillingsfürst, an Otto von Bismarck aus dem November 1878 zeigen. Dieser berichtete von einem Zu157 158 159 160

Kravčinskij, Grozovaja tuča Rossii, 2001, S. 13. Akten des Justizministeriums, RGIA f.1405, op. 76, d. 7384. Wurr, Terrorismus und Autokratie, 2015, S. 75. Kravčinskij, Grozovaja tuča Rossii, 2001, S. 13–14.

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sammentreffen mit dem Schriftsteller Ivan Turgenev, der bereits mit seinem Gedicht für Vera Zasulič eine gewisse Sympathie für die Terrorist*innen erkennen lassen hatte. Turgenev bezog sich auf das Traktat Kravčinskijs, das ihm per Post zugesandt worden war, und identifizierte sich mit dessen Argumentation: „Der Prozess gegen die Nihilisten in Odessa“, so Turgenev, „habe deshalb so große Erbitterung erregt, weil die Polizei in der schamlosesten Weise in die Rechtsprechung eingegriffen habe.“161 Deshalb begegne die Gesellschaft der Gewalt der Terrorist*innen mit Nachsicht: „Die Entrüstung über die herrschende Misswirtschaft sei so groß, dass auch rechtlich denkende Männer jene Mörder nachsichtig beurteilen.“162 Diese positive Rezeption in weiten Teilen der Öffentlichkeit wurde offensichtlich durch die weite Verbreitung des Pamphlets „Ein Tod für einen Tod“ per Post ermöglicht.163 Dieser Erfolg zeigt, wie wichtig Kommunikation für die Terrorist*innen war. Die Akzeptanz politischer Gewalt, die solcherart legitimiert wurde, führte dazu, dass das Attentat von Kravčinskij auf Mezencov nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Höhepunkt der ersten Phase in der Geschichte des russländischen Terrorismus war. Zentrum

Während also in St. Petersburg der Uebergang zur centralisierenden Organisation vorbereitet wurde, bildete Südrussland (Kiew, Charkow, Odessa) die Praxis des Terrorismus aus.164

Koval′skij und Osinskij waren, wie wir gesehen haben, die treibenden Kräfte, welche die „Praxis des Terrorismus“ als politische Taktik etablierten. Aleksandr Michajlov sollte demgegenüber die treibende Kraft bei der Zentralisierung der revolutionären Kräfte im Namen des Terrorismus werden, bis er im Jahre 1880 verhaftet wurde. Ana Siljak beschreibt ihn als Idealtypus des nečaevschen Revolutionärs. 165 Auch Vera Figner teilte diese Ansicht: Streng in den Anforderungen an sich, stellte er das Interesse der Sache über alles und verlangte, dass der Revolutionär alle menschlichen Schwächen vergessen, alle persönlichen Neigungen aufgeben müsse.166

161 Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Bericht an Bismarck. Paris, den 24. November 1978, in: Historische Zeitschrift Bd. 130 (1924), S. 274–276. 162 Ebd. 163 Baberowski vertritt die Ansicht, dass das Attentat auf Mezencov keine Akzeptanz in der liberalen Gesellschaft gefunden habe. Zudem bezeichnete er, im Gegensatz zu dem Eindruck Turgenevs und dem der protestierenden Zeitgenossen, die Strafen im Odessaer Prozess gegen Koval′skij als relativ mild, allein Koval′skij sei zum Tode verurteilt worden. Seine Komplizen kamen mit geringeren Strafen davon: Baberowski, Autokratie und Justiz, 1996, S. 693–694; S. 717–718. 164 Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S. 166. 165 Siljak, Angel of vengeance, 2008, S. 269. 166 Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 131.

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Michajlov galt als vorsichtig, in der Konspiration versiert und entschlossen, die Bewegung auf der Grundlage der Partei Zemlja i volja in einer hierarchischen Zellenstruktur zu organisieren.167 Figner mutmaßte, dass Michajlov nur durch die ungünstigen historischen Umstände eine zentrale Rolle in der russländischen Geschichte verwehrt geblieben wäre: „Im revolutionären Frankreich des 18. Jahrhunderts wäre er ein Robespierre geworden.“168 Zunächst legitimierte er seine terroristischen Pläne gegenüber der Öffentlichkeit auch weiterhin mit dem Motiv der Rache, mit dem Vera Zasulič und ihre Tat viele Untertan*innen des Zaren erreicht hatten. Er nutzte in vielfacher Hinsicht den Umstand, dass die Tat der Vera Zasulič terroristische Attentate erst denkbar gemacht hatte. Ein erster Schritt in diese Richtung war der Anschlag auf Mezencov. Michajlov hatte vor, diesem noch viele weitere folgen zu lassen. Zudem radikalisierte sich die revolutionäre Jugend im Laufe des Jahres 1878, und im November kam es zu erneuten Studierendenunruhen.169 Darüber hinaus ließ die politische Polizei zahlreiche Aktivist*innen verhaften,170 Nachrichten über unhaltbare Zustände in den Gefängnissen und Hungerstreiks der Gefangenen kursierten in revolutionären Kreisen.171 Diese Ereignisse gaben dem Rachebedürfnis der Radikalen neue Nahrung. Und sogar die „rechtlich denkenden Männer“ billigten die revolutionären Taten.172 Die Aktivist*innen in der Zemlja i volja waren also bereit für eine neue Tat nach dem Vorbild der Zasulič. Der Anschlag auf Dimitrij Kropotkin

Das nächste spektakuläre Opfer der Planungen Michajlovs war der Generalgouverneur von Char′kov, Dimitrij Kropotkin, der am 9. Februar 1879 ermordet wurde.173 Er galt den Revolutionär*innen als verantwortlich für die Behandlung der Gefangenen

167 Vgl. ausführlich zu Michajlov: A. P. Pribyleva-Korba / V. N. Figner, Narodovolec Aleksandr Dmitrievič Michajlov, Leningrad 1925. 168 Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 131. 169 Vgl. dazu den Bericht über die Demonstration am 29. November 1978: Sergej A. Ivanov, Demonstracija 29 nojabrja 1878 g. Podača peticii na imja naslednika, in: Ginev (Hg.), Iz istorii „Zemli i Voli“ i „narodnoj voli“, 2012, S. 236–245. 170 Über die Verhaftungswellen zu Beginn des Jahres 1879 vgl. auch: S.G Širjaev, Pis′mo Širjaeva P. L. Lavrovu o massovych obyskach i arestach v Peterburge v svjazi s pokušeniem na šefa žandarmov A. R. Drentel′na, o provale zakonservirovannoj vol′noj russkoj tipografii „Zemli i Voli“. 18 marta 1879 g., in: Ginev (Hg.), Iz istorii „Zemli i Voli“ i „narodnoj voli“, 2012, S. 246. 171 Vgl. z. B. Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S. 169.; Kropotkin, Memoiren eines Revolutionärs, 1900, II, S. 279. 172 Hohenlohe-Schillingsfürst, Bericht an Bismarck, in: Historische Zeitschrift (1924), S. 274–276. 173 Vgl. dazu auch: Širjaev, Pis′mo Širjaeva P. L. Lavrovu, 2012, S. 246; Wurr, Terrorismus und Autokratie, 2015, S. 89–90.

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im Gefängnis von Char′kov, die mit einem Hungerstreik auf ihre Situation aufmerksam gemacht hatten und daraufhin zwangsernährt wurden. Dimitrj Kropotkin war der Cousin des berühmten Anarchisten Petr Kropotkin und galt eigentlich als liberal. Die Behandlung der Gefangenen in Char′kov aber traf den Nerv der durch Zasuličs Tat für die Situation der politischen Häftlinge sensibilisierten Gesellschaft, so dachte zumindest Michajlov. Petr Kropotkin berichtet entsprechend lakonisch über die Ermordung seines Verwandten: [M]ein Vetter, der Generalgouverneur von Charkow, Dmitri Krapotkin, wurde auf der Rückfahrt vom Theater erschossen. Das Zentralgefängnis, in dem es zuerst zur Verweigerung der Nahrungsaufnahme und zur zwangsweisen Einflößung von Speisen kam, war ihm unterstellt. In Wirklichkeit war er kein schlechter Mann; ich weiß, dass er in seinen persönlichen Empfindungen den politischen Gefangenen eher wohl wollte, aber er war ein Schwächling und Höfling und scheute sich, sofort einzuschreiten.174

Petr Kropotkin berichtet weiter, dass sein Vetter den „Kerkermeistern“ nachgegeben habe, „und die jungen Leute in Charkow waren über die Behandlung ihrer Freunde so erbittert, dass ihn einer erschoss.“ 175 In Petr Kropotkins Wiedergabe der Ereignisse findet sich eine falsche Angabe. So war das Attentat keine spontane Tat der lokalen revolutionären Jugend, sondern es wurde vom zentralen Akteur des Terrorismus, von Aleksandr Michajlov, geplant. Am Beispiel Kropotkins wird deutlich, dass es sich beim vermeintlichen Motiv der Rache eher um eine Kommunikationsstrategie handelt: Denn ob Petr Kropotkin es nun besser wusste oder nicht, das Motiv der Vergeltung, das abermals an Zasuličs Tat gemahnt, ist in diesem Falle weit weniger überzeugend. Dimitrij Kropotkin wurde nicht wegen einer bösen Tat, wie Trepovs Befehl zur Prügelstrafe, hingerichtet, sondern schlicht wegen seiner administrativen Verantwortlichkeit. Wie bei Zasulič versucht Kropotkin als Apologet der Tat auch hier, lokale und individuell betroffene Einzeltäter zu präsentieren, um das Motiv der Rache (für „ihre Freunde“) schlüssig erscheinen zu lassen. Tatsächlich wurde das Attentat von Michajlov geplant und von Grigorij Gol′denberg ausgeführt. Wieder nutzten die Verschwörer die Straße als Tatort. Kropotkin war in einer offenen Kutsche unterwegs. Sein Ausflug ins Theater ließ seine Rückkehr und damit den Moment der Annäherung und des Schusses planbar werden. Gol′denberg wartete in der Einfahrt zu seinem Haus auf Kropotkin. Die Planung des Anschlages ermöglichte die Flucht des Attentäters, wie schon beim Anschlag auf Mezencov. Doch so gut die Tat auch geplant war, die kommunikative Ausstrahlung ließ zu wünschen übrig. Die offizielle Presse in den Zentren des Reiches reagierte mit einiger Verzögerung auf den Anschlag im fernen Char′kov. Zunächst spekulierte Michail Katkov in

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Kropotkin, Memoiren eines Revolutionärs, 1900, II, S. 279. Ebd.

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den Moskovskija Vedemosti noch darüber, ob es sich bei dem Anschlag um eine private Angelegenheit oder um einen politischen Mord gehandelt habe.176 Um die Wirkung zu verstärken, kursierte ab dem 11. Februar ein Flugblatt der „Freien St. Petersburger Druckerei“ in Char′kov und in anderen Städten. Dort bezeichneten die Revolutionär*innen Kropotkin, im Gegensatz zur Einlassung seines Vetters, als „einen der gefährlichsten Feinde“. Sie gipfelten in einer Aussage, die Anleihen an Stepnjaks Bekennerschreiben nahm: „Tod für Tod, Strafe für Strafe und Terror für Terror! Das ist unsere Antwort auf alle Bedrohungen, Repressionen und Verfolgungen der Regierung.“177 Damit wiesen die Terrorist*innen, die den Begriff des „Terrors“ selbst auf sich bezogen, abermals dem Opfer die Verantwortung für die Eskalation der Gewalt zu und gaben Zeugnis von dem diskursiven Entstehungskontext der Gewalt.178 Doch nicht nur das Opfer, auch der Täter eignete sich nicht für eine sinnvolle Heldenerzählung, die für die Kommunikation des Terrorismus so wichtig ist. Gol′denberg wurde bereits im November 1879 verhaftet, verriet im Verhör zahlreiche Mitverschwörer*innen und fügte der terroristischen Bewegung damit großen Schaden zu.179 Der Anschlag auf Aleksandr Drentel′n

Der nächste Anschlag galt dem Nachfolger Mezencovs als Chef der Dritten Abteilung, Aleksandr Drentel′n. Drentel′n war der letzte Leiter der Dritten Abteilung, deren Kompetenzen 1880 vom Innenministerium übernommen wurden.180 Dieses Mal hatte Aleksandr Michajlov einen jungen polnischen Adligen namens Lev Mirskij für die Tat vorgesehen. Schauplatz war abermals die Straße. Am 13. März 1879 um die Mittagszeit ritt Mirskij mitten im Zentrum St. Petersburgs nahe an die geschlossene Kutsche Drentel′ns heran. Der Chef der Dritten Abteilung befand sich auf dem Weg zum Ministerkomitee und passierte gerade den Sommergarten. Mirskij gab einen Schuss durch die Scheiben der Kutsche ab, der sein Ziel allerdings verfehlte. In einer Seitenstraße stieg Mirskij vom Pferd und übergab die Zügel einem ahnungslosen Polizeibeamten mit der Bitte, kurz auf das Pferd achtzugeben.

176 Vgl. z. B. die Beiträge Katkovs in den Moskovskija vedomosti: Michail N. Katkov, Moskva, 12-go fevralja, in: Moskovskie vedomosti, 12. Februar 1879; Michail N. Katkov, Moskva, 22-go fevralja, in: Moskovskie vedomosti, 22. Februar 1879. 177 Das Flugblatt wurde abgedruckt in der Quellensammlung: Da zdravstvuet narodnaja volja! Istoričeskij sbornik, Paris 1907, S. 12–14. 178 Vgl. zu dieser Umdeutung: Hilbrenner, Of heroes and villains, 2018, S. 19–38. 179 Vgl. zu Gol′denberg: Ginev (Hg.), Iz istorii „Zemli i Voli“ i „narodnoj voli“. Spory o taktike: sbornik dokumentov, Moskva 2012, S. 708. 180 Širjaev, Pis′mo Širjaeva P. L. Lavrovu, 2012, S. 246; Ginev (Hg.), Iz istorii „Zemli i Voli“ i „narodnoj voli“, 2012, S. 710–726.

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„Der Attentäter war so dreist, dass er nach der Tat Zigaretten kaufte und seinen Weg zu Fuß fortsetzte,“ notierte der Kriegsminister Dmitrij Miljutin empört in seinem Tagebuch.181 Er blieb mit dieser Empörung nicht allein. Obwohl Drentel′n überlebt hatte, war die städtische Öffentlichkeit „stark erregt. Die Straffreiheit des Verbrechers und die Unfähigkeit der Polizei löste allgemein Empörung aus.“182 Für den Augenblick konnte der Attentäter entkommen, später wurde er aber doch gefasst.183 Der Prozess gegen Mirskij erregte große Aufmerksamkeit im In- und Ausland.184 Der Pravitel′stvennyj vestnik berichtete ausführlich. Das von Osinskij in den Diskurs eingeführte „Exekutivkomitee“ wurde ebenso diskutiert wie die „terroristischen Mittel“, welche die Revolutionär*innen einsetzten.185 Alesksandr Solov′ev: Attentat auf Alexander II.

Um weitere Aufmerksamkeit zu erzeugen, wollte Michajlov die Gewalt eskalieren lassen. Da traf es sich, dass mit Aleksandr Solov′ev jemand auf Michajlov zutrat, der als Wiedergänger von Karakozov gelten konnte. Er war in jeder Hinsicht labil. Zielgerichtet war einzig sein Wunsch, den Zaren Alexander II. umzubringen. Solov′ev kannte Michajlov, war aber kein Mitglied der Zemlja i volja und wollte auf eigene Faust einen Anschlag unternehmen.186 Michajlov informierte die Zemlja i volja über Solov′evs Absichten. In der Gruppe brachen erbitterte Diskussionen aus. Obwohl viele gegen das Attentat waren, entschieden die Zemlevolcy, Solov′ev bei seinem Vorhaben nicht zu behindern. Solov′ev hatte keinen Plan im eigentlichen Sinne. Er übernahm aber das Konzept Michajlovs, den Zaren auf der Straße anzutreffen. Anders jedoch als bei den Attentaten auf der Straße zuvor hatte Solov′ev keine Intention, den Tatort lebend wieder zu verlassen. Um seinen Märtyrertod sicherzustellen, führte er Zyankali bei sich.187 Der Zeitgenosse Alphons Thun charakterisierte das Attentat im Sinne der raumbewussten Geschichtsschreibung avant la lettre: „Der Ort und die Zeit des Attentats machten weitere direkte Gehülfen unnöthig“.188 Abermals waren es der öffentliche TaDmitrij A. Miljutin / Petr A. Zajončkovskij (Hg.), Dnevnik D. A. Miljutina, Moskva 1950, S. 42–43. Ebd., S. 43. Ulam, Prophets and conspirators in prerevolutionary Russia, 1998, S. 313–314. Vgl. zur Berichterstattung zum Prozess gegen Mirskij z. B.: Michail N. Katkov, Moskva, 28-go nojabrja, in: Moskovskie vedomosti, 28. November 1879. 184 Abbildung Attentat auf Drentel′n, in: Illustrirte Zeitung: Leipzig, Berlin, Wien, Budapest, New York, 19. April 1879. 185 Pravitel′stvennyj vestnik, 23.11.1879; Širjaev, Pis′mo Širjaeva P. L. Lavrovu , 2012, S. 246. 186 Zu Solov′ev vgl. auch: Ginev (Hg.), Iz istorii „Zemli i Voli“ i „narodnoj voli“, 2012, S. 737. 187 Kopie des Verhörprotokolls (Solov′ev), RGIA f. 1282, op.1, d. 492, l. 3–4 vgl. auch Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 630–631. 188 Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S. 181. 181 182 183

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gesablauf des Zaren und seine Vorliebe für Spaziergänge, die ihn zum leichten Ziel für einen terroristischen Anschlag werden ließen. Allmorgendlich verließ Alexander II. den Winterpalast im Herzen der Stadt St. Petersburg und unternahm einen Rundgang auf dem frei zugänglichen Gelände des Palastes. Am 2. April 1879 wartete Aleksandr Solov′ev auf ihn, trat an ihn heran und begann, aus seiner Smith & Wesson auf den Kaiser zu schießen. Alexander II. reagierte geistesgegenwärtig, rannte hakenschlagend davon und entging auf diese Weise den fünf Kugeln, die Solov′ev auf ihn abfeuerte. Solov′ev wurde von den Wachen, die erst aus einiger Entfernung herbeieilen mussten, überwältigt und verhaftet. Der Schauplatz ermöglichte es Michajlov, das Attentat aus der Entfernung zu beobachten, ohne Verdacht zu erregen.189 Dieser Umstand zeigt, dass die Sichtbarkeit des Attentats – und damit seine Öffentlichkeit – Teil des Kalküls der terroristischen Inszenierung war. Auch die Obrigkeit reagierte mit einer Inszenierung.190 Alexander II. empfing zunächst die „höheren Würdenträger“191, dann trat er auf den Balkon und präsentierte sich unversehrt der jubelnden Menschenmenge, die sich vor dem Palast versammelt hatte.192 Michail Katkov beschwor in den Moskovskie vedemosti mit pathetischen Worten die emotionale Gemeinschaft, die sich nach Karakozovs misslungenem Attentat nun ein weiteres Mal um den geretteten Herrscher scharrte und die so stark sei, wie nie zuvor. Zudem lobte er Gott angesichts der „wundersamen Rettung“ des Zaren.193 Auf das Leben des Zaren und seiner Familie hatte das Attentat direkte Auswirkungen. Gehörte es vor dem 2. April 1879 zum Nimbus des autokratischen Herrschers, in seiner Residenzstadt auch ohne besonderen Polizeischutz präsent zu sein, so wurde seine Bewegungsfreiheit nun radikal eingeschränkt. Alexander II. musste seine Morgenspaziergänge in den Fluren des Winterpalastes statt auf den Straßen oder in den Parks St. Petersburgs unternehmen. Bei Ausfahrten mit der Kutsche wurde er von Kosaken bewacht. In einem Brief an seine Tochter klagte er: „Ich sitze fast die ganze Zeit zu Hause und fahre nur in einer Kutsche mit Begleitschutz aus, was mir schrecklich unangenehm ist; aber was soll man machen?“194 Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit des Herrschers durch die terroristische Gefahr wird auch daran deutlich, dass die

Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 631. Wurr, Terrorismus und Autokratie, 2015, S. 95. Petersburg, 15. April, in: Die Presse, 16. April 1879. Miljutin/Zajončkovskij (Hg.), Dnevnik D. A. Miljutina, 1950, S. 50. Michail N. Katkov, Moskva, 2-go aprelja, in: Moskovskie vedomosti, 3. April 1879 Zur Reaktion im Ausland auch: Die Nihilistischen Attentate, in: Illustrirte Zeitung: Leipzig, Berlin, Wien, Budapest, New York, 19. April 1879. 194 Zitiert nach: Richard Wortman, Scenarios of power. Myth and ceremony in Russian monarchy. Vol. 2, From Alexander II to the abdication of Nicholas II, Princeton, Chichester 2000, S. 149. Vgl. zu dieser Verdrängung der kaiserlichen Familie von der Straße auch ausführlich: Hilbrenner, Gewalt als Sprache der Straße, 2008, S. 409–432. 189 190 191 192 193

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morganatische (zweite) Ehefrau Alexanders II. Ekaterina Dolgorukaja mit ihren vier Kindern nun in den Palast einzog, damit der Kaiser nicht täglich zu ihr fahren musste.195 In symbolischer Hinsicht hatten die Terrorist*innen einen Sieg errungen. Die Straßen der Hauptstadt waren nun nicht mehr das Territorium der Zarenfamilie. Doch nicht nur die kaiserliche Familie war gezwungen, ihre Verhaltensweisen zu ändern, auch die Revolutionär*innen und ihre konspirativen Aktionen gerieten zunehmend unter Druck. Der Krisenstab Alexanders II., der noch am Tag des Attentats einberufen wurde, lokalisierte das Problem des Terrorismus in den Städten und zielte mit einer Notstandsverordnung darauf, „für beide Hauptstädte und für andere große Städte einen Entwurf für die Einführung von temporären militärischen Generalgouverneuren unter Anwendung der Verhängung des Kriegsrechts“ vorzubereiten.196 In St. Petersburg, Char′kov, Odessa, Kiew, Moskau und Warschau wurden Generalgouverneure ernannt, bzw. bereits ernannte wurden mit Sondervollmachten ausgestattet. Diese Städte, die Metropolen und die Zentren der südwestlichen Peripherie des Reiches, galten der Obrigkeit also als terroristische Hotspots. In Odessa etwa war schon Tage vor dem Anschlag der Notstand ausgerufen worden. Weil sich in der ganzen Stadt Plakate mit der Losung „Terror za terror!“ (Terror für Terror!) fanden, hatte die Polizei alle Versammlungen untersagt und das Militär in Alarmbereitschaft versetzt.197 Nach dem 2. April wurde diese Situation zur neuen Normalität: Fast die Hälfte der europäischen Territorien des Reiches wurde von diesem Zeitpunkt an mit Hilfe der Notstandsverordnungen regiert. Weil es sich um besonders dicht besiedelte Gebiete handelte, galten die Regelungen für eine Mehrheit der Bevölkerung.198 Die Härte des Gesetzes traf auch den Attentäter selber. Der Versuch Solov′evs, sich mit Zyankali umzubringen, war misslungen. Er wurde gefasst, vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. An dem Prozess nahm die Öffentlichkeit regen Anteil. Am 28.  Mai 1879 wurde das Urteil vollstreckt. 70.000 Zuschauer*innen kamen, um die Hinrichtung mit eigenen Augen zu verfolgen.199 Trotz des gewaltsamen Endes von Solov′ev wertete Michajlov das Attentat als Erfolg: Die revolutionäre Bewegung hatte den öffentlichen Raum der Hauptstadt und den politischen Diskurs erobert. Michajlov drängte darauf, diesen Weg weiter zu beschreiten. Die Diskussionen im Vorfeld des Anschlags von Aleksandr Solov′ev hatten allerdings bereits die Gräben aufgezeigt, welche die zunehmende Gewaltausübung zwischen den einzelnen Mitgliedern der Gruppe Zemlja i volja aufgeworfen hatte. Innerhalb der Gruppe entstand im Mai 1879 eine Fraktion mit dem Namen Svoboda ili

Auf diesen Zusammenhang weist hin: Wurr, Terrorismus und Autokratie, 2015, S. 97. Miljutin/Zajončkovskij (Hg.), Dnevnik D. A. Miljutina, 1950, S. 51. Odessa, 12. April (Belagerungszustand), in: Die Presse, 16. April 1879. Wurr, Terrorismus und Autokratie, 2015, S. 100–101. Siljak, Angel of vengeance, 2008, S. 271; Hardy, Land and freedom, 1987, S. 88–89; Wurr, Terrorismus und Autokratie, 2015, S. 105–107. 195 196 197 198 199

Narodnaja volja

smert′ (Freiheit oder Tod), in der neben Aleksandr Michajlov vor allem der Theoretiker des Terrorismus Nikolaj Morozov aktiv war. Michajlov und Morozov versuchten, den politischen Terrorismus als Taktik zu etablieren.200 Spätestens seit dem Anschlag der Zasulič hatten die Ereignisse selbst eine Dynamik ausgelöst, die immer mehr Revolutionär*innen zu den Waffen rief.201 Der verstärkte Druck, den die Obrigkeit nach dem Anschlag von Solov′ev ausübte, radikalisierte die Bewegung zusätzlich und verweist abermals auf den diskursiven Entstehungskontext terroristischer Gewalt. Narodnaja volja

Die Gruppierung, welche die nachhaltigste Wirkung auf die Geschichte des russländischen Terrorismus hatte, gründete sich im Sommer 1879 und nahm sich vor, nach dem Vorbild Solov′evs mit einem Terroranschlag auf das innerste Zentrum der Macht zu zielen: auf das Leben des Zaren Alexander II.202 Aleksandr Michajlov wurde zum Ideologen und Drahtzieher der Zentralisierung. Der Terrorismus sollte nicht mehr an den unterschiedlichsten Orten des Reiches von einzelnen Aktivist*innen ohne genaue Absprache und auf eigene Initiative hin verübt werden, sondern die Aktionen sollten dem Willen und der Planung eines Exekutivkomitees folgen. Diese Disziplinierung folgte dem Geist des „Revolutionären Katechismus“, den Nečaev in die Welt gebracht hatte.203 Alle Attentate, die im Zusammenhang mit der Ermordung Alexanders II. stehen, die das Exekutivkomitee beschlossen hatte, sind deshalb dem Zentrum zuzuordnen, auch wenn sie sich räumlich an der Peripherie abgespielt haben mögen. Dennoch gilt es auch hier, die Interaktion zwischen Zentrum und Peripherie in den Blick zu nehmen. Terroristische Gewalt entsteht in diesem Zeitraum zwischen Peripherie und Zentrum in einem dialektischen Wechselspiel. Das Zentrum terroristischer Aktion wurde in dem entlegenen Ort Lipeck gegründet und berief sich auf Vorläufer, die an der Peripherie des Reiches zu verorten waren. Die Narodnaja volja als erste Institution des politischen Terrorismus entstand abermals aus der Spannung zwischen Zentrum und Peripherie. In der Zemlja i volja brach durch die Dynamik der Terroranschläge, die immer mehr Anhänger*innen in die Reihen der Terrorist*innen brachte, ein Konflikt aus zwischen den „Städter*innen“, die eine politische Lösung für die russischen Probleme suchten und dafür den Terrorismus als Mittel wählten, und den „Dörfler*innen“, die dem Sozialismus unter den russischen Bäuer*innen zum Sieg verhelfen und die Volksmassen zum Aufstand bringen wollten. 200 201 202 203

Vgl. zu Morozov z. B. Ginev (Hg.), Iz istorii „Zemli i Voli“ i „narodnoj voli“, 2012, S. 650. Siljak, Angel of vengeance, 2008, S. 273. Vgl. zur Narodnaja volja grundlegend: Volk, Narodnaja Volja. 1879–1882. [Pod red. Š.M. Levina], 1966. Nečaev, The revolutionary catechism.

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Vera Figner beschrieb die Entstehung des Konfliktes: In Petersburg ging ein Kampf vor sich, der ständige Anspannung aller Kräfte forderte, aber auch eine nicht dagewesene agitatorische Wirkung hatte. Berauscht von Erfolgen, erbittert durch Mißerfolge, sah man verwundert und geringschätzig auf die Saratower und Tambower Dörfer herab, wo keine Zeichen aktiven Kampfes, keinerlei Resultate den Aufenthalt Dutzender von Genossen verrieten; das empörte die Petersburger aufs tiefste. Jedes Mitglied, das unter den Bauern blieb, schien ihnen dem hitzigen Kampfe entzogen, dem sie mit Leib und Seele ergeben waren. Die ‚Volkstümler‘ auf dem Lande dagegen glaubten, daß die städtischen ‚Landfreiheitler‘ Feuerwerk machten, dessen Glanz die Jugend ablenke von wirklicher Arbeit und vom Volke, das ihrer Kräfte so bedürfe. Die Tötung von Generälen und Gendarmeriechefs war in ihren Augen eine weniger produktive und notwendige Arbeit als der Agrarterror auf dem Lande.204

Der Antagonismus zwischen der alltäglichen Propagandatätigkeit unter den Bäuer*innen einerseits und der sensationellen, dem Alltag enthobenen „Propaganda der Tat“, die im Gegensatz zur Mühsal der „Dörfler*innen“ von einem Hauch von Abenteuer, Heldentum und der damit einhergehenden Gefahr des Märtyrertodes versehen war, wird von der Autobiographin Figner so treffend beschrieben, weil sie selber eine Zeit lang auf beiden Seiten gestanden hatte. Vor der Spaltung der revolutionären Bewegung war sie in Saratov tätig und gehörte zu den „Dörfler*innen“, nach dem Kongress von Voronež unterstützte sie den Terrorismus. Doch trotz dieser scheinbar offensichtlichen Spaltung der Interessen zeigen sich auch die Ambivalenzen dieser von den Zeitgenoss*innen deutlich wahrgenommenen Polarität von Zentrum und Peripherie. Die „Dörfler*innen“ wurden angeführt von dem St. Petersburger Ideologen Plechanov, dem Vordenker der russischen Sozialdemokratie, während die sogenannten „Städter*innen“ sich vor allem aus den Mittelzentren der Peripherie, vor allem aus Kiew, Char′kov und Odessa, rekrutierten. In St. Petersburg hatte sich allerdings auch bereits eine Gruppe innerhalb der Zemlja i volja formiert, die auf den bezeichnenden Namen Svoboda ili smert′ (Freiheit oder Tod) hörte. 205 Diese pathetische Selbstbezeichnung stellte die Aktivist*innen in die Tradition der Märtyrer*innen der revolutionären Bewegung, vor allem bezog sie sich auf jene Opfer, die in der allgemeinen Erregung der späten 1870er Jahre noch frisch im kollektiven Gedächtnis der Radikalen waren. An der Spitze dieses Martyrologiums standen die beiden Vorbilder aus dem Süden: Koval′skij und Osinskij.206

Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 93. Ebd., S. 96–98. V. I. Iochelson, Dalekoe prošloe, in: Ginev (Hg.), Iz istorii „Zemli i Voli“ i „narodnoj voli“, 2012, S. 247– 259, hier S. 251–253; Miller, 14 agusta 1878 g., in: Ginev (Hg.), Iz istorii „Zemli i Voli“ i „narodnoj voli“, 2012, S. 212–218. 204 205 206

Narodnaja volja

Die Gruppe Svoboda ili smert′ war der harte Kern derjenigen Radikalen, die später die Narodnaja volja gründen sollten. Sie erinnerte die Aktivist*innen der Zemlja i volja an die Geschichte Nečaevs und an Karakozov. Die Atmosphäre innerhalb der revolutionären Bewegung wurde durch den Konflikt zunehmend vergiftet. Ein Kongress der Partei sollte die Spannungen klären. Die „Städter*innen“ versammelten sich bereits im Juni 1879 in Lipeck, um sich vor dem Kongress der Partei Zemlja i volja auf eine gemeinsame Vorgehensweise zu einigen. Sie wollten den terroristischen Kampf zum Parteiprogramm erheben. Zu diesem Zweck wurden auch Revolutionär*innen nach Lipeck eingeladen, die zuvor nicht zur Zemlja i volja gehört hatten, sondern aus den Reihen der Južnie buntari (Südliche Rebellen) oder dem „Exekutivkomitee“ stammten. In Lipeck wurden bereits Programm und Statut einer zentralen terroristischen Partei diskutiert. Osinskijs politisches Testament, das er in der Nacht vor seiner Hinrichtung diktiert hatte, wurde verlesen. Dieser Bezug zu dem Märtyrer der Bewegung gab der Gruppe, die den Terrorismus zum Zweck der Partei erheben wollte, moralische Legitimation. Folgerichtig verständigten sich die Aktivist*innen auf die erneute Gründung eines „Exekutivkomitees“ und verwiesen damit nochmals deutlich auf die Traditionslinie des hingerichteten Osinskij.207 Dieser Bezug auf die Opfer in den Reihen der revolutionären Bewegung belegt das Selbstverständnis der Terrorist*innen, die ihre Taten als Reaktion auf obrigkeitliche Gewalt begriffen und daraus Legitimation schöpften. Auf dieses Treffen in Lipeck geht die Narodnaja volja eigentlich zurück.208 Bei dem Parteikongress der Zemlja i volja in Voronež erweiterten sowohl die „Städter*innen“ als auch die „Dörfler*innen“ ihre Reihen mit dem einfachen Ziel, dadurch die Mehrheit innerhalb der Partei zu bilden. Es kam jedoch weder zu einer Einigung der beiden Fraktionen noch zu einem offenen Bruch.209 Dennoch arbeiteten die beiden Gruppierungen in der Folge de facto getrennt voneinander weiter. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Vermögen der Partei Zemlja i volja und ihre Infrastruktur aufgeteilt wurden. Die terroristische Fraktion wurde zu der berüchtigten Partei Narodnaja volja, und die „Dörfler*innen“ nannten sich nunmehr „Schwarze Umverteilung“ (Černyj peredel′).210 Die Phase der Spaltung der Zemlja i volja wurde bestimmt von ideologischen Debatten, die in den Veröffentlichungen der Partei und in den Einlassungen der Akteur*innen ihren Niederschlag fanden.211 Es ist aber auffällig, dass sich vor allem diejenigen ideoFigner, Nacht über Russland, 1928, S. 97. Vgl. dazu auch: Iochelson, Dalekoe prošloe, in: Ginev (Hg.), Iz istorii „Zemli i Voli“ i „narodnoj voli“, 2012, S. 247–259. 209 Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 654–655. 210 Ebd., S. 633–649. 211 Vgl. dazu vor allem die Analyse: Ebd., S. 633–708; aber auch die des Zeitgenossen: Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S. 193–207. 207 208

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logisch munitionierten, die sich gegen den Terrorismus entschieden. Der Trend zum Terrorismus, den die Ereignisse ausgelöst hatten, schien in jener Zeit so groß, dass sich jene legitimierten, die NICHT „im Terror arbeiten“ wollten. Für die übrigen war die Hinwendung zum Terrorismus, zumindest nachdem die Trennung vollzogen worden war, gleichbedeutend mit einer relativen Abstinenz von ideologischen Debatten: Die Narodnaja volja war eine streng hierarchisch aufgebaute und in voneinander unabhängigen Zellen strukturierte terroristische Partei. An der Spitze der innerparteilichen Hierarchie stand das „Exekutivkomitee“. Diese Institution hatte mit seinem Vorläufer, dem Mythos, den Valerian Osinskij sich ausgedacht hatte, nur noch den Namen gemein. Die Terrorist*innen nutzten die symbolische Kraft des Begriffs, die Osinskij ihm im Süden des Reiches verliehen hatte. Aber die Institution als solche war viel stärker und sollte modellhaft für zukünftige terroristische Aktivitäten stehen. Das Programm des Exekutivkomitees erinnerte stark an den „Katechismus“ von Nečaev:212 Das Individuum, seine Bindungen an Familie oder Freund*innen waren dem revolutionären Kampf unterzuordnen. Der Revolutionär (bei Nečaev männlich gedacht) hatte keinen Besitz, musste seinen Willen dem der Gruppe unterwerfen und war zu strengster Geheimhaltung verpflichtet. Das Exekutivkomitee war keine ideologische Debattierstube, sondern konzentrierte sich auf die Planung und Durchführung terroristischer Aktionen. Inhalte spielten keine Rolle. Zugleich aber fällte das Exekutivkomitee, anders als der Name suggerierte, auch die zentralen Entscheidungen. Weder die Partei selbst noch das Komitee waren demokratisch strukturiert. Entscheidungen wurden auf keiner Ebene hinterfragt. Da vorausgesetzt wurde, dass die Mitglieder grundsätzlich mit den Zielen des Exekutivkomitees übereinstimmten, wurde Inhaltliches nicht mehr besprochen. Auch aus Gründen der Konspiration wurde eine restriktive Informationspolitik gepflegt. Innerhalb der Gruppierung herrschte der Geist der Freundschaft und gegenseitigen Verlässlichkeit, aber allen, die außerhalb des Komitees standen, Obrigkeit, liberale Gesellschaft oder auch Revolutionär*innen, die nicht dem Exekutivkomitee angehörten, war mit Misstrauen zu begegnen. Harsch waren die Racheakte gegenüber Renegat*innen und Verräter*innen. Nach dem Statut gab es Agent*innen der ersten und der zweiten Klasse.213 Es war deshalb vielleicht kein Zufall, dass das Exekutivkomitee Nečaev, der bis dahin in der revolutionären Bewegung diskreditiert war, intern rehabilitierte. Nachdem der Autor des Katechismus aus dem Gefängnis mit dem Exekutivkomitee Kontakt aufgenommen hatte, entschlossen sich die Terrorist*innen sogar, ihn zu befreien.214 Zu dieser Aktion sollte es jedoch nicht mehr kommen. Am 26. August 1879 einigte sich das neue Exekutivkomitee, das nun die zentrale Institution innerhalb der Narodnaja volja war, auf ein symbolisches Ziel der terroris212 Programma Ispolnitel′nogo komiteta. Sentjabr′-dekabr′ 1879 g., in: Ginev (Hg.), Iz istorii „Zemli i Voli“ i „narodnoj voli“, 2012, S. 264–269. 213 Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 116; Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 652–653. 214 Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 142–146.

Attentate auf den Zaren

tischen Aktivitäten. Sie wollten vollenden, was Solov′ev angefangen hatte. Sie wollten den Zaren töten. Mit dem Zitat: „Delenda est Carthago!“, erklärten sie der Autokratie den Krieg.215 Nachdem der Zar am 1. März 1881 schließlich ermordet worden war, gab das Exekutivkomitee das Datum des Beschlusses und die damals erfolgte Verhängung der Todesstrafe gegen Alexander II. bekannt.216 Attentate auf den Zaren

Im August 1879 also hatte sich das Exekutivkomitee darauf geeinigt, Alexander II. zu töten. Ohne weitere Verzögerungen begannen die Terrorist*innen mit der Planung und Organisation einer Reihe spektakulärer Anschläge unter Einbeziehung der modernsten zeitgenössischen Technologie.217 Erstmalig machten sich die Terrorist*innen die 1866 erfolgte Erfindung des Dynamits zunutze, die von Nikolaj Kibalčič für die Zwecke der Revolution weiterentwickelt worden war.218 Der angehende Ingenieur Kibalčič, der gemeinsam mit Osinskij studiert hatte, erforschte diese neue Technologie seit 1878 anhand der Literatur in der Bibliothek der Peter-und-Pauls-Festung.219 Nach seiner Haft wegen einer Petitesse war er bereit, sein Leben dem Kampf gegen die Autokratie zu weihen und kam in St. Petersburg bei Nadežda Golovina, Mitglied der Zemlja i volja, unter. In seiner Aussage in der Verhandlung des Attentats vom 1. März 1881 gab er an: Ich antizipierte, dass die Partei in ihrem terroristischen Kampf früher oder später die neue Erfindung Dynamit einsetzen würde, und entschied mich, Herstellung und Gebrauch von Sprengstoff zu studieren. Mit diesem Ziel vor Augen beschäftigte ich mich intensiv mit praktischer Chemie und las die gesamte Literatur über Sprengstoff, derer ich habhaft werden konnte. Danach sammelte ich in meinem Zimmer eine große Zahl verschiedenster Chemikalien, mit denen ich bewies, dass ich aus Inhaltsstoffen, die ich ohne Probleme beschaffen konnte, selbstständig Nitroclycerin und Dynamit herstellen konnte.220

Kibalčič investierte sein großes ingenieurwissenschaftliches Talent in den terroristischen Kampf. Sein technischer Beitrag sollte wesentlich zum Erfolg und zur kommu-

215 Ispolnitel′nyj komitet, Delenda est Carthago!, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Literatura social′no-revoljucionnoj partii „Narodnoj Voli“,Narodnaja volja, god pervyj, No. 1, S.l 1905, S. 3–11. 216 Ispolnitel′nyj komitet, Ot ispolnitel′nago komiteta. 1 marta 1881 g., in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Literatura social′no-revoljucionnoj partii „Narodnoj Voli“, S.l 1905, S. 897–898. 217 Vgl. zum Thema Terrorismus und Moderne auch das Themenheft: Hilbrenner/Schenk, Introduction: Modern times?, 2010, S. 161–171. 218 Vgl. zur Rolle des Dynamit für die Entwicklung des Terrorismus auch: Merriman, The dynamite club, 2016. 219 Zu Kibalčič vgl. vor allem: Delo 1-go marta 1881 g. Process Rysakova, Michajlova, Gel′fman, Kibal′čiča, Perovskoj i Željabova; (pravitel′stvennyj otčet), Odessa 1906, S. 70–84. 220 Zitiert nach: Ebd., S. 88.

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nikativen Ausstrahlung des Terrorismus beitragen. Durch seinen Einsatz wurde die Bombe zum wesentlichen Bestandteil des Terrorismus und zum Merkmal und Symbol terroristischer Taten.221 Frolenko erinnerte sich an die Diskussionen des Exekutiv-Komitees um die Nutzung von Dynamit. Eine präzise Schusswaffe wäre, so die allgemeine Überzeugung, ein sicherer und preiswerter Weg, den Zaren zu töten. Dennoch wurde diese Option abgelehnt: Ein solches Attentat würde nicht denselben Eindruck vermitteln. Es würde als gemeiner Mord verstanden und es würde keine neue Entwicklungsstufe in der Geschichte der revolutionären Bewegung symbolisieren.222

In den Augen der Narodnaja volja war es also auch die Waffe, die den Terroranschlag vom gemeinen Mord trennte. Die Inszenierung, so wird abermals deutlich, wurde von den Akteur*innen selbst als ein integraler Bestandteil der Botschaft der Gewalttat verstanden.223 Der Anschlag auf den Zarenzug vom 18. und 19. November 1879

Im Sommer 1879 weilte der Kaiser in seiner Sommerresidenz in Livadija ( Jalta) auf der Krim. Es war der Plan der Terrorist*innen, den Zug Alexanders II. bei seiner Rückkehr nach St. Petersburg in die Luft zu sprengen. Die Eisenbahn hatte beträchtliche symbolische Bedeutung im Zarenreich. Das Russische Reich war mit einiger Verspätung in das Eisenbahnzeitalter gestartet, der Bau einer modernen Infrastruktur war nun umso wichtiger, um das Land zu modernisieren und in seiner territorialen Integrität zu bewahren.224 Deshalb zeugte dieser Plan von dem Bewusstsein der Terrorist*innen für eine symbolische Inszenierung und war zugleich sehr ehrgeizig. Jeder Misserfolg eines terroristischen Anschlags hatte in der Vergangenheit dazu geführt, dass eine neue Welle der Reaktion die Reihen der revolutionären Bewegung schwächte. Um das Risiko eines missglückten Attentats also zu minimieren, planten die Terrorist*innen drei getrennte Explosionen entlang der Zugstrecke, die der Kaiser auf seiner Heimreise zu nutzen pflegte. So wollten sie die Chance vergrößern, dass einer der Anschläge sein Ziel erreichte und den Zaren tötete. Wenn das Risiko auch groß war, so sollte wenigstens der maximale Effekt erreicht und „das Zentrum“ zerstört werden. Danach würde

Zu Kibalčič vgl. auch: Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S. 260–263. Michail F. Frolenko, Načalo Narodničestva, in: Katorga i ssylka 24 (1936), S. 22, hier S. 11. Vgl. dazu auch: Ze′ev Iviansky, Individual terror. Concept and typology, in: Journal of Contemporary History 12 (1977), H. 1, S. 43–63, hier S. 47–55. 224 Vgl. dazu vor allem: Schenk, Attacking the empire’s Achilles heels, 2010 S. 234. 221 222 223

Attentate auf den Zaren

alles anders sein, so hofften die Verschwörer*innen, ohne sich allzu sehr mit Plänen für die Zeit nach dem Anschlag zu belasten.225 Bomben sollten in der Nähe von Odessa, in dem kleinen Ort Aleksandrovsk im Gouvernement Ekaterinoslav und vor Moskau unter den Schienensträngen explodieren und auf diese Weise den Zug des Zaren zerstören.226 Das Exekutivkomitee wählte die Orte aufgrund ihrer strategischen Bedeutung, davon zeugt vor allem das eigentlich unbedeutende Aleksandrovsk, in dem anders als in Moskau und in Odessa zuvor kein aktiver Zirkel der Narodnaja volja existiert hatte.227 Bei Aleksandrovsk passierte der Zug einen Abhang. Die örtlichen Gegebenheiten sollten also die zerstörerische Kraft des Dynamits noch verstärken.228 An allen drei Orten mieteten die Terrorist*innen unter konspirativen Umständen Häuser in unmittelbarer Nähe der Bahnlinie und begannen, von den Häusern aus Tunnel unter die Schienen zu graben. In diesen Tunneln deponierten sie Dynamit, das sie, sobald der zarische Zug die Stelle passierte, zur Explosion bringen wollten. Die Vorbereitungen dieser Anschläge waren sehr aufwendig und mit zahlreichen Risiken behaftet. Einerseits mussten die Verschwörer*innen geeignete Häuser beschaffen. In Odessa z. B. suchte Vera Figner, die sich unter falschem Namen als Adlige einführte, für ihren „Pförtner“ Michail Frolenko eine Anstellung als Bahnwächter, die dieser auch bekam.229 Dann mussten die Terrorist*innen die Ausrüstung an Ort und Stelle bringen. Neben den Werkzeugen zur Grabung der Tunnel brauchten sie vor allem Dynamit. Beim Schmuggel von Dynamit von Odessa nach Moskau wurde die Polizei auf Gol′denberg aufmerksam und nahm ihn fest. Gol′denberg hatte sich aufgrund seines Anschlags auf Kropotkin stets als Mann der Tat und Schlüsselfigur des Terrorismus gerühmt. Dennoch hielt er den Bedingungen der Haft und den Verhören nicht stand und verriet Details der Bewegung,230 die schließlich, vor allem nach dem 1. März 1881, zur Verhaftung einer Reihe von Mitgliedern der Narodnaja volja führen sollten.231 Zudem fiel die Arbeit unter den Bedingungen der Konspiration äußerst schwer. So beschrieb auch Sergej Kravčinskij die Umstände des Minenbaus in Moskau. Vor allem in den ersten Tagen fehlte es an geeigneten Werkzeugen, die Verschwörer*innen standen im Wasser, mit dem die Erde vollgesogen war, und gruben mit den Händen einen Tunnel. Die Grabungen durften nicht entdeckt werden, ebenso wenig wie die dazu benötigten Menschen, die unter strengster Geheimhaltung in den Häusern unFigner, Nacht über Russland, 1928, S. 110–114. Vgl. zur Planung auch: Delo 1-go marta 1881 g., 1906, S. 57–69. Volk, Narodnaja Volja. 1879–1882. [Pod red. Š.M. Levina], 1966, Karte unpaginiert. Schenk, Attacking the empire’s Achilles heels, 2010 S. 237. Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 120. Aussage Gol′denberg, GARF, f. 569, op. 1, d. 85, l. 1–11. Delo 1-go marta 1881 g., 1906, S. 59.; Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S. 208.; Baberowski, Autokratie und Justiz, 1996, S. 666–704. 225 226 227 228 229 230 231

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tergebracht waren und während der Zeit der Vorbereitung nie ans Tageslicht kamen. Um eine Entdeckung zu verhindern, stand eine Flasche Nitroglycerin bereit, das die Terrorist*innen im Falle einer Polizeirazzia zur Explosion bringen wollten, um ihre Spuren zu verwischen.232 An allen drei Orten war der harte Kern des Exekutivkomitees gemeinsam mit lokalen Kräften tätig. In Odessa arbeiteten unter anderen Frolenko und Kibalčič gemeinsam mit Vera Figner, in Moskau Aleksander Michajlov, Gol′denberg und Sofija Perovskaja, und in Aleksandrovsk wurde die Gruppe von Andrej Željabov angeführt, der erst nach dem Treffen in Lipeck zum Exekutivkomitee gestoßen und vorher in Odessa aktiv gewesen war. Željabov wurde eine der prägenden Personen der Narodnaja volja bis zu seiner Verhaftung im Frühjahr 1881. Obwohl das Exekutivkomitee diesen Aufwand betrieb und dabei die Mitglieder einer immensen Gefahr aussetzte, verfehlten letztlich alle drei Minen das Ziel, den Zaren zu töten. Die Odessaer Gruppe brach die Vorbereitungen ab, als deutlich wurde, dass der Zarenzug die Stadt nicht passieren, sondern auf einer anderen Route fahren würde.233 Als der Zeitpunkt des Anschlags am 18. November 1879 gekommen war, explodierte die Mine in Aleksandrovsk nicht, weil Željabov im entscheidenden Moment die Elektroden des Zünders falsch zusammenführte. In Moskau am 19. November 1879 schließlich konnten die Verschwörer*innen die Bombe in dem Augenblick zur Explosion bringen, in dem einer der beiden illuminierten Züge die verminte Stelle passierte. Jedoch handelte es sich bei dem Zug, der durch die Sprengung entgleiste, nicht um jenen, in dem der Kaiser selbst reiste. Stattdessen beherbergte der gesprengte Zug seine Entourage. Doch auch von diesen Insass*innen verletzte sich niemand ernsthaft.234 So wurde in zahlreichen Zeitungen des Reiches eine knappe Bekanntmachung aus dem Regierungsanzeiger (Pravitel′stvennyj vestnik) abgedruckt, in der mit dürren Worten geschildert wurde, dass am 19. November um elf Uhr abends auf der Eisenbahnlinie Moskau – Kursk der Gepäckwagen aus dem kaiserlichen Konvoi durch eine Explosion entgleist sei. Niemand sei zu Schaden gekommen. 235 Dieser Misserfolg führte die gesamte aufwendige und riskante Vorbereitung ad absurdum. Frithjof Benjamin Schenk hat ausgeführt, dass es sich bei der Eisenbahn um ein ideales Ziel für einen terroristischen Anschlag gehandelt habe:

Kravčinskij, Grozovaja tuča Rossii, 2001, S. 132–136. Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 120. Moskovskij „prjanik“. 19 nojabrja 1879 g. 7-ja versta Moskovsko-Kurskoj ž.d. http://www.narovol. narod.ru/moscowrailway.htm (3. Januar 2013). 235 Vgl. z. B. Pravitel′stvennoe soobščenie, in: Niva, 26.11.1879. 232 233 234

Attentate auf den Zaren

1. 2. 3.

4.

Die Bahnstrecke war aufgrund ihrer Ausdehnung für die Obrigkeit nicht effektiv zu überwachen und deshalb ein verletzliches – und damit für die Terrorist*innen ein einfaches – Ziel. Die Funktionsweise des Eisenbahnverkehrs mit seinen geregelten Zeitabläufen und Fahrpläne machten einen Terroranschlag gut planbar, da diese Zeit und Ort eines beweglichen Ziels synchronisierten. Die moderne Technik versprach bei gezielter Manipulation einen noch größeren (und spektakuläreren) Effekt des Dynamits. Deshalb war die Kombination der beiden modernen Errungenschaften Eisenbahn und Dynamit eine Mixtur, die dem Terroranschlag nach dem Willen der Revolutionär*innen eine neue zerstörerische Dimension verleihen sollte.236 Trug die symbolische Bedeutung der Eisenbahn dazu bei, dass ein gelungener Anschlag die zerstörerische Kraft und damit die Macht der Terrorist*innen unterstreichen und die Autorität der Obrigkeit unterminieren sollte.

Der Misserfolg der Terrorist*innen aber öffnet den Blick auf die Probleme der Eisenbahn als Ziel eines Terroranschlags: Der Zarenzug war ein bewegliches und schnelles Ziel. Zwar war diese Bewegung über die Fahrpläne und die faktische Vernetzung der Schienenwege, die relativ feste Routen vorschreibt, weitgehend kalkulierbar, angesichts der noch in den Kinderschuhen steckenden Dynamittechnik aber war die Bewegung immer noch „zu schnell“.237 Das Missverhältnis zwischen der zeitlich lang andauernden und äußerst riskanten Vorbereitung der Minen und dem kurzen Moment, in dem alles zugleich funktionieren musste, war zu groß. Die Terrorist*innen hatten durch die Wahl von drei Orten entlang der Schienenwege versucht, den kurzen Moment des Anschlags auf ein bewegliches Ziel künstlich zu verlängern, dennoch waren sie gescheitert. Das Problem des Dynamits zu diesem historischen Zeitpunkt war, dass es von den Terrorist*innen nur stationär gebraucht werden konnte und ihnen noch keine beweglichen Bomben für ein so dynamisches Ziel zur Verfügung standen. Dieser Umstand führte dazu, dass der Ort der Explosion für die Planung sehr bedeutsam wurde und als solcher von langer Hand vorbereitet werden musste, während der Zarenzug als bewegliches Ziel sich eine gewisse Flexibilität bei der Wahl seiner Routen und der Einhaltung der Fahrpläne erlauben konnte. Deshalb passierte er die präparierten Orte gar nicht (Odessa), zu rasch, um kleinere Fehler zu beheben (Aleksandrovsk), oder zum falschen Zeitpunkt (Moskau). Das Missverhältnis zwischen statischer Waffe und beweglichem Ziel änderte sich erst in der Vorbereitung auf den 1. März 1881, als Nikolaj Kibalčič für die Narodnaja volja die tragbare Bombe erfand. Vgl. zu diesen ersten drei Punkten: Schenk, Attacking the empire’s Achilles heels, S. 232–253; 236. Vgl. zum Thema Zeit und Geschwindigkeit in der Geschichte des Terrorismus vor allem: Claudia Verhoeven, Time of terror, terror of time. On the impatience of Russian revolutionary terrorism, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 58 (2010), S. 254–273. 236 237

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Die Explosion im Winterpalast am 5. Februar 1880

Der nächste Versuch, die Beweglichkeit von Ziel und Waffe zu synchronisieren, führte die Terrorist*innen indes an einen Ort, an dem der Zar ein relativ unbewegliches Ziel war: in seine Gemächer im Winterpalast, in denen die kaiserliche Familie sich nach ihrem Rückzug aus den Straßen der Stadt noch sicher fühlte. Mit den Planungen für den Anschlag im Winterpalast begann das Exekutivkomitee bereits vor dem Misserfolg des Eisenbahnattentats. Zu diesem Zweck arbeitete das Komitee mit Stepan Chalturin zusammen. Chalturin war ein Arbeiter, der 1878 den Nordrussischen Arbeiterbund gegründet hatte.238 Zur Narodnaja volja stieß er im Herbst 1879, angeworben durch Aleksandr Kvjatkovskij, der sich auch an den Vorbereitungen auf das Solov′ev-Attentat beteiligt hatte. Chalturin ersuchte im Winterpalast um Arbeit als Schreiner. Im Palast kundschaftete er die Räumlichkeiten aus und nahm Quartier im Keller. Dann begann er, regelmäßig kleinere Mengen Dynamit in den Palast zu schmuggeln, um dort eine Explosion des Speisesaals auszulösen.239 Aufgrund einer Unachtsamkeit von Vera Figners Schwester Evgenija flog die konspirative Wohnung Kvjatkovskijs auf, und die Polizei stellte einen Lageplan des Winterpalastes sicher, auf dem ein Kreuz den Speisesaal als den Ort, an dem die Bombe explodieren sollte, markierte.240 Der Polizei gelang es nicht, die Zeichnung völlig zu entschlüsseln, dennoch wurden die Kontrollen im Winterpalast verschärft. Zwar entging Chalturin der Entdeckung, doch die verstärkte Polizeipräsenz erhöhte bei den Terrorist*innen den Handlungsdruck. Zudem erkrankte der Attentäter und befürchtete, seine Aufgabe nicht mehr verrichten zu können. Als 50 Kilogramm241 Dynamit zusammen waren, entschied das Exekutivkomitee, dass der Zeitpunkt gekommen sei. Chalturin erschien die hineingeschmuggelte Menge Dynamit zu gering, aber Željabov, der nach der Verhaftung Kvjatkovskijs dessen Stelle eingenommen hatte, drängte darauf, das Attentat so schnell wie möglich durchzuführen. Den Terrorist*innen war klar, dass bei einer großen Explosion im Winterpalast eine große Anzahl Unbeteiligter sterben würde, doch dieser Umstand wurde zum Zwecke des Zarenmordes billigend in Kauf genommen.242 Am 5. Februar bot sich eine günstige Gelegenheit dar. Chalturin stellte den Kasten mit Dynamit in die Ecke der Kapitalmauern, brachte die Röhre mit einem besonders bereiteten Zündfaden gehörig an und hatte noch Zeit genug, sich selbst auf den freien Platz vor

Ginev (Hg.), Iz istorii „Zemli i Voli“ i „narodnoj voli“, 2012, S. 741–742. Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S. 210–212. Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 118. So auf jeden Fall Thun: „Endlich waren drei Pud (50 kg) Dynamit im Kasten zusammengebracht, und die Techniker erklärten ein solches Quantum für genügend.“ Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S. 212. 242 Ebd.; vgl. auch: Volk, Narodnaja Volja. 1879–1882. [Pod red. Š.M. Levina], 1966, S. 43. 238 239 240 241

Attentate auf den Zaren

dem Palais in Sicherheit zu bringen. Bald darauf erfolgte die beispiellose Explosion; die Lichter im Palais löschten aus, der Admiralitätsplatz wurde dunkel. Zehn Mann der Wache wurden getödtet [sic] und 53 verwundet; der Kaiser aber ging in Folge eines glücklichen Zufalls (Verzögerung in der Ankunft eines fürstlichen Besuchs) später als gewöhnlich zur Tafel und entrann dadurch dem Tode.243

Wieder war also das Timing des Anschlags ungünstig. So stellte es auch das Exekutivkomitee in seinem Bekennerschreiben dar: Die Explosion war korrekt berechnet, aber der Zar war über eine halbe Stunde zu spät zum Abendessen, sodass er sich zum Zeitpunkt der Explosion auf seinem Weg in den Speisesaal befand. Deshalb blieb der Zar, zum Unglück des Landes, unversehrt.244

Andere Quellen lassen vermuten, dass die Menge an Dynamit nicht ausreichend war, um den Speisesaal tatsächlich zu zerstören. So beschreibt Vera Figner die Situation: Die Dynamitmenge erwies sich aber als zu gering, um die höhere Etage mit dem Speisesaal zum Einsturz zu bringen. Von der Erschütterung bebte und bog sich der Fußboden, das Tafelgeschirr fiel klirrend zu Boden – die Zarenfamilie blieb unverletzt.245

Während die Schäden im Speisesaal überschaubar blieben, waren die Zerstörungen für die in der Nähe der Bombe stationierten Soldaten tödlich: „Im Stockwerk über dem Keller, wo sich die Wache des Finnischen Regiments befand, wurden 50 Soldaten getötet und verstümmelt.“246 Es war also wieder der Ort der Explosion, der über Leben und Tod entschied. Das Exekutivkomitee wies den Opfern eine Mitschuld an ihrem Unglück zu: Wir bedauern zutiefst den Tod der unglücklichen Soldaten der zarischen Leibwache, der unfreiwilligen Beschützer des ewig Bösen. Aber solange sich das Militär zur Hauptstütze der tyrannischen Herrschaft des Zaren macht, solange es nicht versteht, dass es seine heilige Pflicht ist, im Interesse des Landes für das Volk gegen den Zar aufzustehen, solange sind solche tragischen Vorkommnisse leider unvermeidlich.247

Die kommunikative Ausstrahlung der Attentate

Die Explosion im Winterpalast wurde auch außerhalb des Palastes in der Stadt wahrgenommen. Der Pravitel′stvennij vestnik berichtete am nächsten Tag über die Schäden

243 244 245 246 247

Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S. 212–213. Zitiert nach: L. B. Croft, Nikolai Ivanovich Kibalchich: terrorist rocket pioneer, 2006, S. 72. Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 123. Ebd. Zitiert nach: Croft, Nikolai Ivanovich Kibalchich: terrorist rocket pioneer, 2006, S. 73.

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und die getöteten Wachen.248 Ausländische Zeitungen brachten zum Teil spektakuläre Bilder der Zerstörungen.249 Trotz des erneuten Fehlschlags entfaltete die Bombe im Winterpalast, ebenso wie der Anschlag auf den Zarenzug,250 also eine beträchtliche kommunikative Ausstrahlung. Vera Figner erinnerte sich: „Während wir selbst unter unseren Misserfolgen litten, wuchs der Ruhm des Komitees, der Effekt seiner Taten blendete alle, berauschte besonders die Jugend.“251 Diese Wirkung war einerseits der relativen Ruhe geschuldet, die durch die Repressionen in der Öffentlichkeit entstanden war. Aus Sicht der Revolutionär*innen kam die Unterdrückung oppositioneller Worte und Taten, die eine Reaktion auf die vorangegangenen Attentate war, einer „Friedhofsruhe“ gleich. Vor dem Hintergrund der Untätigkeit weiter Teile der revolutionären Bewegung zogen die einzelnen Taten der Terrorist*innen besondere Aufmerksamkeit auf sich. Diese Beobachtung entspricht den Ergebnissen jener Gewaltforscher, welche die Rezeption von Gewalttaten abhängig von ihrem Gewaltkontext sehen. In einer Umgebung der kulturellen Normalisierung von Gewalt ist die kommunikative Wirkung einer Gewalttat relativ gering, während eine einzelne Gewalttat in einem weitgehend gewaltlosen Umfeld große kommunikative Ausstrahlung gewinnt.252 Diese Wirksamkeit einer Gewalttat erhöhte die Bereitschaft der Gegenseite, ebenfalls Gewalt einzusetzen. Im gegenseitigen Wechselspiel von Aktion und Reaktion nach dem Motto „Terror za terror“ (Terror für Terror), das die Revolutionär*innen in Odessa plakatierten,253 eskalierte die Gewalt immer stärker, bis sie schließlich zu einer gangbaren Option des politischen Handelns wurde. Auch die Obrigkeit setzte im Kampf gegen die revolutionäre Bewegung auf Gewalt als Mittel der Kommunikation. Nach der Reform von 1864 war die Justiz im Russischen Reich weitgehend von rechtsstaatlichen Prinzipien durchdrungen. Diese Werte prägte vor allem eine Generation von liberalen Juristen, die im Staatsdienst oder in der Advokatur wirkten. Generell war das russländische Strafgesetz entgegen seinem Ruf vergleichsweise mild. So wurde etwa die Todesstrafe in viel geringerem Umfang verhängt als in Westeuropa oder in den USA. In den Jahren von 1876 bis 1905 wurden im Russischen Reich pro einer Million Einwohner*innen vier Menschen hingerichtet. In Preußen waren es im Gegensatz dazu 13, in England und Wales 135 und in Frankreich 163. In absoluten Zahlen wurde in diesem Zeitraum im Russischen Reich an etwa 500 Menschen die Todesstrafe vollstreckt, in England starben in demselben Zeitraum 405

248 249 250 251 252 253

5-go fevralja, in: Pravitel′stvennyj vestnik, 6. Februar 1880. The Explosion in the Winter Palace, St. Petersburg, in: Harper’s Weekly, 3. April 1880. Moskva, 19-go nojabrja 1879, in: Vsemirnaja illustracija 3 (1880). Figner, Nacht über Russland 1928, S. 124. Waldmann, Terrorismus und Bürgerkrieg, 2003, S. 12. Odessa, 12. April (Belagerungszustand), in: Die Presse, 16. April 1879.

Attentate auf den Zaren

durch das Todesurteil.254 Zum Teil gegen den Willen der Gerichte drängte die russländische Politik aber auf eine harsche Bestrafung der Revolutionär*innen, unabhängig davon, ob sie durch Agitation oder durch revolutionäre Gewalt aufgefallen waren.255 Schon Joel Feinberg hat auf den kommunikativen Gehalt von Rechtsprechung und Bestrafung aufmerksam gemacht.256 In diesem Fall war es das Ziel der „unmäßigen“ und gewaltsamen Bestrafungen, abzuschrecken und ein Signal an die Öffentlichkeit auszusenden: Dem Versuch, die autokratische Macht zu brechen, werde nicht mit Milde begegnet. Dass die Obrigkeit zu diesem Zweck ihre eigenen Regeln brechen, auf die Gerichte Einfluss nehmen oder in die Rechtsprechung eingreifen musste, stärkte allerdings wiederum die Legitimationsbemühungen der Terrorist*innen, welche die Schuld für die Eskalation der Regierung zuweisen konnten. Im Umfeld der terroristischen Anschläge der späten 1870er Jahre kam es zu gewaltsamen Strafen mit kommunikativer Absicht durch die Obrigkeit.257 Vor allem an der Peripherie des Reiches, in Odessa, wo der als reaktionär verhasste Generalgouverneur Graf von Todleben die revolutionäre Bewegung disziplinieren sollte,258 fanden öffentliche Hinrichtungen statt.259 Zudem wurden zahlreiche Studierende administrativ verbannt.260 Ähnlich wie bei der Prügelstrafe gegen Bogoljubov durch Trepov war auch bei dem gewaltsamen Regierungsstil von Todlebens für die kommunikative Ausstrahlung ausschlaggebend, dass es sich bei diesen Exzessen um Ausnahmen und nicht um die Regel handelte. Ebenso punktuell setzten bis zu diesem Zeitpunkt auch die Revolutionär*innen Gewalt ein. Deshalb konnten die Attentate auf den Zaren ihre kommunikative Wirkung voll entfalten. So analysiert auch die Zeitzeugin Vera Figner die Wirkung der Anschläge: Bestürzt über die Verbannungen, die viele aus ihren Kreisen traf, betäubt von den Hinrichtungen, hatte die Gesellschaft angenommen, die ganze Energie der revolutionären Bewegung sei erschöpft; und da, plötzlich, mitten in dieser allgemeinen Bedrücktheit und Hoffnungslosigkeit, folgten nacheinander die unerhörtesten Ereignisse!261

254 Vgl. zum Vergleich der Strafverfolgungssysteme des Russischen Reiches mit Westeuropa und den USA und zu den genauen Zahlen: Jonathan W. Daly, Criminal punishment and Europeanization in late imperial Russia, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 48 (2000), S. 341–362, hier S. 343–351. 255 Baberowski, Autokratie und Justiz, 1996, S. 666–691; Wurr, Terrorismus und Autokratie, 2015, S. 100–105. 256 Joel Feinberg, Doing & deserving. Essays on the theory of responsibility, Princeton, N.J 1970, S. 95–118. 257 Wurr, Terrorismus und Autokratie, 2015, S. 101. 258 Todleben, Franz Eduard Graf, in: Historische Commission bei der königl. Akademie der Wissenschaften (Hg.), Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 38, Leipzig 1875–1912, S. 403–408. 259 I. Miller, 14 avgusta 1878 g. Pis′mo I. Millera P. L. Lavrovu ob odesskom revoljucionnom podpole, o sude nad členami kružka I. M. Koval′skogo i demonstracii po povodu vynesennnogo prigovora, in: Ginev (Hg.), Iz istorii „Zemli i Voli“ i „narodnoj voli“, 2012, S. 212–218. 260 Vgl. zur administrativen Verbannung auch: Jonathan W. Daly, The watchful state. Security police and opposition in Russia, 1906–1917, DeKalb 2004, S. 3–4. 261 Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 124.

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Außerdem trugen die spektakulären Umstände der terroristischen Taten erheblich zur kommunikativen Ausstrahlung bei. Zunächst war es das Ziel der Anschläge, das Aufsehen erregte. Der Zar war eine Person von großer symbolischer Bedeutung. Als autokratischer Herrscher repräsentierte er das Zentrum der Herrschaft. Das Prinzip Samoderžavie (Selbstherrschaft) war zentraler Bestandteil des patriotisch-ideologischen Fundaments konservativen Denkens im Russischen Reich im 19. Jahrhundert.262 Demnach ging alle Macht vom Zaren aus. Zudem war die zarische Herrschaft von Gott gewollt und Alexander II. durch Gott legitimiert. Das Gottesgnadentum war ein fester Bestandteil der Inszenierung kaiserlicher Macht. Die göttliche Vorsehung wurde folgerichtig auch bemüht, wenn es galt, die fehlgeschlagenen Anschläge auf den Zaren vor 1881 im Sinne der Obrigkeit zu deuten. Das missglückte Attentat auf Alexander II. durch Karakozov führte zum Bau einer Kapelle für den kaiserlichen Schutzpatron an der Stelle, an der der Anschlag stattgefunden hatte.263 Auch nach der „wundersamen Rettung des Zaren“ vor dem Attentäter Solov′ev wurde zunächst ein Dankgottesdienst abgehalten und Gott gepriesen.264 Die Attentate auf den Zug des Zaren 1879 und auf den Winterpalast im Februar 1880 wurden ebenfalls begleitet von Narrativen, in denen den Ereignissen im Zusammenhang mit göttlicher Vorsehung Sinn verliehen wurde. 265 So wurde z. B. die Nachricht verbreitet, der Zar habe in dem Augenblick, als sein Zug die Mine passierte, vor einer wundertätigen Ikone gekniet und gebetet. Alexander II. fasste diese Interpretationslinie zusammen, als er sich am Tag nach dem Anschlag mit den Worten an die Öffentlichkeit richtete: „Gott hat mich und alle, die mich begleiteten, beschützt.“266 Der direkte Zusammenhang von kaiserlichem Gottesgnadentum und den fehlgeschlagenen Attentaten, den die Obrigkeit herstellte, erhöhte allerdings nur den Preis, den die Terrorist*innen erringen wollten. Einen unbeliebten Generalgouverneur oder Polizeichef zu töten, war das eine. Den Herrscher, der von Gott selbst geschützt wurde, anzugreifen, war ungeheuerlich. Damit trug die Informationspolitik der zarischen Obrigkeit im Kontext der Attentate erheblich dazu bei, dass die Anschläge auf Alexander II. als spektakuläre und unerhörte Ereignisse wahrgenommen wurden und solcherart eine große Resonanz je nach Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen emotionalen Gemeinschaften sowohl Ablehnung als auch Zuspruch, erfuhren. Die Bombenexplosion im Winterpalast am 5. Februar 1880 ereignete sich zudem nur 14 Tage vor dem 25. Thronjubiläum Alexanders II. Anlässlich dieses Jubiläums sollten sowohl das Gottesgnadentum als auch die besondere Verbundenheit von Monarch und Volk gefeiert werden. In diesem zeitlichen Kontext entfaltete der Anschlag

262 263 264 265 266

Vgl. z. B. Heiko Haumann, Geschichte Russlands, München 1996, S. 330. Morjachina, Die Gärten St. Petersburgs, 2007, S. 385–397, hier S. 392. Miljutin/Zajončkovskij (Hg.), Dnevnik D. A. Miljutina, 1950, S. 50. Vgl. z. B. Schenk, Attacking the empire’s Achilles heels, 2010, S. 239. Zitiert nach: Moskovskie vedomosti, 21.11.1879, hier S. 2.

Attentate auf den Zaren

auf den Zaren in seinen Gemächern besondere Wirkung.267 Davon zeugt auch, dass die Sicherheitsvorkehrungen für das Thronjubiläum kurzfristig neu diskutiert werden mussten. Der Zar, so kolportierte die Untergrundpresse der Narodnaja volja genüsslich, traue sich nicht aus seinem beschädigten Palast heraus, „noch nicht einmal, um in die Kazaner Kathedrale zu fahren.“268 Gerade weil die Kazaner Kathedrale im Herzen der Stadt St. Petersburg für die revolutionäre Bewegung eine besondere Bedeutung hatte, war die Verdrängung des Herrschers aus dem städtischen Raum durch die terroristische Bedrohung ein besonderer Erfolg. Zudem wurde der Verhaltenskodex der Monarchen im 19. und 20. Jahrhundert von soldatischen Tugenden bestimmt. Für Alexander II. war es, ebenso wie für andere hochrangige Repräsentanten des zarischen Regimes, Ehrensache, im Angesicht der neuartigen terroristischen Gefahren Mut und Entschlossenheit zu demonstrieren.269 In dem Maße, wie Mut zum positiven Selbstbild des Herrschers gehörte, war es für die terroristische Öffentlichkeitsarbeit ein Triumph, ihm Angst oder gar Feigheit nachzuweisen. Die Zuweisung von Angst, mit der die Obrigkeit auf die terroristische Gefahr reagierte, gehörte zu den Konstanten im terroristischen Diskurs bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Diese Angst verbuchten die Terrorist*innen als Erfolg auch dort, wo die Terroranschläge im eigentlichen Sinne erfolglos blieben. Ebenfalls wichtig für die Wahrnehmung der Taten war die Tatsache, dass sie mit Hilfe modernster Methoden ausgeführt wurden. Das Dynamit, das zur Durchführung der Attentate benutzt wurde, war 1866 erst erfunden worden und immer noch umweht vom Geist der Innovation. Die Narodnaja volja verwies mit gewissem Stolz auf ihre ingenieurtechnische Leistung bei der Weiterentwicklung der für den terroristischen Kampf geeigneten Waffen: Bei allen vorangegangenen Attentaten trat ein einzelner Mann mit einer Pistole in der Hand auf den Beherrscher von Millionen zu, von Angesicht zu Angesicht, ohne jede Chance zu entkommen und mit äußerst geringen Chancen auf Erfolg. Davon sehen wir nichts am 19. November. Offensichtlich wurde die Tat sorgfältig geplant und vorbereitet; mit der Investition einer beträchtlichen Summe Geldes, mit Arbeitseinsatz und unter Anwendung technischer Kenntnisse.270

Nach der Lesart des Untergrundblattes Narodnaja volja, das vom Exekutivkomitee herausgegeben wurde, war die Zeit, in der der revolutionäre David gegen den obrigkeitlichen Goliath kämpfte, vorbei. Durch die Nutzbarmachung moderner Techno267 Wortman, Scenarios of power, 2000, S. 151–152. Vgl. auch Dvadcatipjatiletie carstvovanija Imperatora Alexksandra II., in: Niva, 16.2.1880. 268 15 maja, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Literatura social′no-revoljucionnoj partii „Narodnoj Voli“, Listok narodnoj voli, god pervyj, No. 1, 1 Junija 1880 g, S.l 1905, S. 225–240. 269 Vgl. dazu grundlegend: Dietze/Schenk, Traditionelle Herrscher in moderner Gefahr, 2009, S. 368–401. 270 Narodnaja volja. Social′no-revoljucionnoe obozrenie, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Literatura social′no-revoljucionnoj partii „Narodnoj Voli“, god vtoroj, No. 3, S.l 1905, S. 151–224, hier S. 159–160.

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logie traten die Terrorist*innen dem Staat auf Augenhöhe gegenüber. Dynamit wurde dadurch zur revolutionären Waffe par excellence, zum großen Gleichmacher. Es war leicht zu transportieren und ebenso leicht zu beschaffen. Weil es so preiswert war, galt es schnell als die natürliche Waffe des sprichwörtlichen „kleinen Mannes“, eine Waffe, welche die Wissenschaft gegen Tyrannei und staatliche Verfolgung zur Verfügung stellte.271 Außerdem gab der Sprengstoff den Terrorist*innen die Möglichkeit, aus dem Verborgenen zu agieren und nach der Tat zu entkommen. Gleichzeitig war Dynamit aber mehr als jede andere Waffe geeignet, einen sensationellen Effekt auszulösen und die revolutionäre Tat als Spektakel zu inszenieren. Anders als der Revolver oder gar das Messer zog eine Explosion alle Aufmerksamkeit auf sich. Dynamit konnte nicht nur töten und verletzen, sondern es veränderte die gesamte Umgebung, zerstörte Gebäude, löschte Lichter, legte Brände, kehrte das Unterste zuoberst und verursachte großen Lärm.272 Dabei repräsentierte es stets die Faszination der Moderne, die laut Figner wesentlich zur Wahrnehmung der terroristischen Tat als Spektakel beitrug: Mit Chemie und Elektrizität als Gehilfen hatte der Revolutionär den Zarenzug gesprengt und war in die Kaisergemächer eingedrungen. Je träger, gedrückter die Öffentlichkeit war, desto bewundernswerter schien die Energie, Erfindungskraft und Entschlossenheit der Revolutionäre.273

Ein weiterer Aspekt der sensationellen Ausstrahlung der beiden Attentate vom November 1879 und vom Februar 1880 waren die Orte, an denen die Anschläge stattfanden. Der Zarenzug repräsentierte die obrigkeitliche Anstrengung, das Russische Reich zu stärken und zu modernisieren. Er stand für die Allmacht der zarischen Obrigkeit, die durch die infrastrukturelle Innovation noch gestärkt werden sollte.274 Zugleich war der Waggon des Zaren eine Hülle, die den gottgewollten Herrscher von der Außenwelt trennen und schützen sollte. Der Zug bewegte sich durch die riesigen Landmassen des Imperiums, von innen aber glich er einem Palast, in dem der Kaiser herrschen und repräsentieren konnte. In diesen Bereich suchten die Revolutionär*innen mit der Bombe vorzudringen. Noch stärker wird dieses Element bei der Explosion im Winterpalast. Den Zeitgenoss*innen erschien es ungeheuerlich, dass der Zar in seinen privaten Gemächern von den Terrorist*innen bedroht wurde. Er wurde eben nicht auf der Straße, auf der die gesellschaftlichen Sphären sich durchmischen und das Volk ganz nah an den Herrscher herantreten kann, angegriffen, sondern dort, wo er sich sicher wähnte: zu Hause. Die Ereignisse bewiesen, dass es den Terrorist*innen möglich war, in die innersten Räume des Herrschers vorzudringen. Sie zeigten die Verletzlichkeit der nur scheinbar 271 272 273 274

Paul Avrich, The haymarket tragedy, Princeton, N.J 1984, S. 162. Cole, Dynamite violence and literary culture, 2009, S. 301. Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 124. Schenk, Attacking the empire′s Achilles heels, 2010, S. 232–253.

Attentate auf den Zaren

grenzenlosen zarischen Macht und versprachen denen, die es sehen wollten, dass die Terrorist*innen früher oder später ihre Ziele erreichen würden: „Es hieß allgemein: dem Komitee ist nichts unmöglich.“275 Dass diese Einschätzung stimmte und die Obrigkeit diesen Anschlag deswegen am liebsten ungeschehen gemacht hätte, zeigt eine Fotoserie in der Niva (Kornfeld) anlässlich des 25-jährigen Thronjubiläums mit zahlreichen Bildern des intakten Winterpalastes und seiner privaten Gemächer.276 Diese Reaktion der Obrigkeit kann als Beleg dafür verstanden werden, dass die Einschätzung Vera Figners zutreffend war. Die Explosionen des Zarenzuges und des kaiserlichen Speisesaals hatten eine gewaltige kommunikative Ausstrahlung auf Teile der Öffentlichkeit. Diese Ausstrahlung wurde von der Regierung selbst als Zeichen der eigenen Schwäche gewertet und deshalb zu unterdrücken versucht. Durch die Repräsentation des prächtigen und unbeschädigten Winterpalastes im Bild, die nur zwei Wochen nach der Explosion die Berichterstattung über das Thronjubiläum Alexanders  II. begleitete, wurde versucht, das Attentat auf einer symbolischen Ebene ungeschehen zu machen und den Herrscher und sein Haus intakt darzustellen. Die Anschläge sandten also tatsächlich eine Botschaft aus, welche die Terrorist*innen mit begleitenden Texten unterstützten oder in eine bestimmte Richtung lenken wollten. Viel erfolgreicher aber als jedes Flugblatt oder jede programmatische Schrift wirkten die Taten selbst: Während die Organisation ‚Schwarze Aufteilung‘ so gut wie verschwunden war, wandten sich die allgemeinen Sympathien dem ‚Volkswillen‘ zu, dank der intensiven Verbreitung unseres Organs, der mündlichen Agitation des Komitees, vor allem aber dank den aufsehenerregenden Kampfakten gegen das Zarentum, die für sich selber sprachen.277

So brachten die missglückten Attentate nicht nur eine Welle von Verhaftungen und Repressionen mit sich, sondern füllten auch die Reihen der Terrorist*innen mit neuen Aktivist*innen auf, die dem Beispiel ihrer Vorgänger*innen folgen wollten: Die Attentate vom 2. April und 19. November 1879 und vom 5. Februar 1880 schufen eine derartige Stimmung, dass – hätten wir damals plötzlich unsere terroristische Tätigkeit aufgegeben – sofort Freiwillige oder sogar eine neue Organisation aufgetreten wären, die sich die Beseitigung des Zaren zur Aufgabe gestellt hätten. Neue Attentate waren völlig unvermeidlich, und das Vollzugskomitee unternahm sie.278

275 276 277 278

Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 124. Dvadcatipjatiletie carstvovanija Imperatora Alexksandra II., in: Niva, 16.2.1880, hier S. 141–142. Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 132. Ebd., S. 125.

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So entstand durch die Ereignisse selbst ein Momentum, das ein Überleben des Herrschers immer unwahrscheinlicher machte. Der Tabubruch, den es bedeutete, dem gesalbten Kaiser nach dem Leben zu trachten, machte das Undenkbare denkbar und schuf den Revolutionär*innen neue Handlungsoptionen. Die terroristischen Taten erzeugten als Ereignisse selbst Nachahmer*innen. Zwar bedarf eine Tat immer eines Täters oder einer Täterin, aber die Nachrichten über die Terroranschläge erzeugten eine Atmosphäre, die bei zahlreichen jungen Leuten die Bereitschaft weckte, Gewalt im Namen der Sache auszuüben.279 Über diese Nachahmungseffekte konnte das Exekutivkomitee keine Kontrolle mehr behalten. Nur zwei Wochen nach dem Anschlag auf den Winterpalast und einen Tag nach dem Thronjubiläum, am 20. Februar 1880, schoss ein junger Mann auf den General Michail Loris-Melikov, den Leiter der „Obersten Exekutiv-Kommission zum Schutz der staatlichen Ordnung und der gesellschaftlichen Ruhe“.280 Diese Kommission wurde nach dem Anschlag auf den Winterpalast gegründet und war allen Polizeiorganen und Institutionen, die den Terrorismus bekämpfen sollten, übergeordnet. In diese Kommission wurde auch die berüchtigte „Dritte Abteilung“ überführt. Zudem spiegelte die Kommission die Zentralisierung des Terrorismus unter der Leitung des „Exekutivkomitees“ (wie später die „Allerheiligste Bruderschaft“). Diese institutionelle Maßnahme sollte Willkürakte verhindern und den Kampf gegen die Gewalttäter*innen in der Gesellschaft effektiver machen. Loris-Melikov versuchte, die gemäßigten Oppositionellen einzubinden, und lockerte die Repressionen. Seine Amtszeit als Innenminister ging als „Diktatur des Herzens“ in die russische Geschichte ein.281 Sein Attentäter hieß Ippolit Mlodeckij. Als Loris-Melikov am 20. Februar vor seinem Haus aus seiner Kutsche ausstieg, näherte sich Mlodeckij mit einem Revolver, gab einige Schüsse ab und wurde rasch überwältigt. Laut Pravitel′stvennyj vestnik kamen Menschen aus den umliegenden Häusern und feierten die Rettung Loris-Melikovs mit lautem „Hurra!“282 Im Gegensatz zu dieser demonstrativen Freude ätzte die revolutionäre Zeitung Listok narodnoj voli (Blatt der Narodnaja volja), dass Loris-Melikov nur überlebt habe, weil er eine schusssichere Weste getragen habe. Im Kontext der „soldatisch-aristokratischen Tugenden“283, die den Mächtigen jener Zeit abverlangt wurden, demonstrierte eine solche Weste Feigheit. Die Narodnaja volja ließ es sich nicht nehmen, auf diese Feigheit, die einen Verstoß gegen die soldatischen Tugenden darstellte, hinzuweisen. Wie nach der Explosion im Winterpalast verbuchten die Ter-

Vgl. zu der gemeinsamen „Sache“ auch: Rindlisbacher, Leben für die Sache, 2014. Vgl. zur Kommission ausführlicher: Wurr, Terrorismus und Autokratie, 2015, S. 134–135. Heinz-Dietrich Löwe, Alexander II., in: Hans-Joachim Torke (Hg.), Die russischen Zaren, 1547–1917, München 1995, S. 315–338, hier S. 337. Zu Loris-Melikov vgl. ausführlich: Jurij L. Kostanjan, Graf Michail Tarielovič Loris-Melikov (1824–1888), Sankt-Peterburg 2006. 282 Pravitel′stvennie obščenie, in: Pravitel′stvennyj vestnik, 21. Februar 1880. 283 Dietze/Schenk, Traditionelle Herrscher in moderner Gefahr, 2009, S. 368–401. 279 280 281

Zurück auf die Straße

rorist*innen auch jetzt die Angst, die sie unter den Repräsentanten des Regimes verbreitet hatten, als Sieg, auch wenn der eigentliche Terroranschlag nicht gelungen war. Das Exekutivkomitee betonte im Listok, dass Mlodeckij in der Planung und Ausführung der Tat völlig selbstständig war.284 Zwar klingt bei der Beschreibung der Tat durch, dass die Terrorist*innen mit ihr sympathisierten, dennoch entsprach sie nicht der zentralistisch festgelegten Strategie, alle Kräfte auf die Ermordung des Zaren zu konzentrieren. Außerdem passte die Handschrift der Tat nicht mehr zu dem ausgeklügelten Vorgehen, welches das Exekutivkomitee mittlerweile auszeichnete. Die Ausführung des Anschlags erinnert eher an die frühen Attentate aus dem Jahr 1878, die noch vor der Gründung der Narodnaja volja ausgeführt wurden. Wie damals so fehlten auch hier der Einsatz der modernen Dynamittechnologie und eine spektakuläre Inszenierung. Dennoch widmete das Exekutivkomitee dem Attentäter, der bereits am 22. Februar 1880, also zwei Tage nach seiner Tat, auf dem Semenovskij Platz hingerichtet worden war,285 eine Todesanzeige in ihrer Untergrundzeitung und ordnete ihn damit in die Reihe ihrer Märtyrer ein.286 Zurück auf die Straße

Aufgrund der technischen Möglichkeiten und ihrer Grenzen war die Handschrift der Gewalt des „Exekutivkomitees“ bis auf Weiteres eine mit Sprengstoff geladene Mine, die in dem Moment, in dem der Zar diese passierte, zu zünden wäre. Dem Kaiser konnte jederzeit der Boden unter den Füßen weggerissen werden, so befürchteten es seine Anhänger*innen und frohlockten seine Gegner*innen. Der Zarenzug bzw. die Schienenstränge oder die kaiserlichen Gemächer waren als Anschlagsziele für die Narodnaja volja vorerst gescheitert. In den Winterpalast würden die Revolutionär*innen so schnell niemanden mehr hineinschmuggeln können. Die strengen Kontrollen bezogen sich vor allem auf das Dynamit. Aber auch der Zug hatte sich, besonders aufgrund seiner Geschwindigkeit, als schwieriges Ziel erwiesen. Die nächsten Attentate ereigneten sich (wieder) auf der Straße. Die Straße war der öffentliche Raum, auf dem sich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte begegneten. Sie ließ sich nicht effektiv schützen, bzw. der Zutritt zu ihr konnte nicht dauerhaft eingeschränkt werden. Auf der Straße konnte das Dynamit in unmittelbarer Nähe des Zaren zur Explosion gebracht werden. Eine räumliche Trennung der unterschiedlichen sozialen Gruppen, die im Winterpalast bedingte,

284 Listok narodnoj voli. 1. 6. 1880, in:  Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Literatura social′norevoljucionnoj partii „Narodnoj Voli“, Listok narodnoj voli, god pervij, No. 1, S.l 1905, S. 225–239. 285 Diese Hinrichtung wurde abermals auch international wahrgenommen. Vgl. z. B. A Nihilist at the Gallows, in: New York Times, 6. März 1880. 286 Listok narodnoj voli, 1905, S. 225–239.

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dass zwischen dem „Handwerker“ Chalturin und der Zarenfamilie mehrere Stockwerke lagen, in denen sich unter anderem die Palastwache befand, fand auf der Straße nicht statt. Zugleich ermöglichte ein Attentat auf der Straße die unmittelbare Teilhabe einer breiten Öffentlichkeit an dem terroristischen Akt. Zwar wurde die Öffentlichkeit durch diese Nähe auch stark gefährdet, aber diese „Kollateralschäden“ der Gewalt nahmen die Terrorist*innen im Sinne ihrer Ziele in Kauf. Im Gegensatz zum Zarenzug waren die Bewegungen des Kaisers auf den Straßen des Reiches viel weniger planbar, als regelmäßige Fahrpläne dies zuließen. Zudem hatte der Herrscher sich, bedingt durch die Attentate und das dementsprechend angepasste Sicherheitskonzept des Palastes, weitgehend von der Straße zurückgezogen. Dennoch ließ Alexander II. sich nicht einsperren, und deshalb gelang es dem Exekutivkomitee, bestimmte gleichförmige Routen zu antizipieren und die Straßen dementsprechend zu präparieren. Im Jahr 1880 gab es zwei Versuche, den Zaren auf der Straße durch Minen zu töten. Die erste Mine wurde an der Peripherie, in Odessa, gelegt. Odessa wurde von den Revolutionär*innen im Russischen Reich nach wie vor als Hochburg der Reaktion unter General Todleben wahrgenommen. Todleben versuchte, durch verstärkte Repression, administrative Verbannungen und öffentliche Hinrichtungen die revolutionäre Bewegung einzuschüchtern.287 Besonders arg trieb es dabei Todlebens Adjutant Panjutin. Selbst zeitgenössische Zeitungen im Ausland berichteten über die Willkür, mit der er über die Stadt herrschte. So habe er innerhalb weniger Monate 93 Personen administrativ nach Sibirien verbannt, darunter Jugendliche von 14 bis 17 Jahren. Einige wurde allein deshalb repressiert, weil sie zufällig denselben Namen trugen wie andere, den Behörden verdächtige Personen. In einem Fall, über den die ausländische Presse berichtete, verbannte Panjutin dem Vernehmen nach einen Postboten, seine Frau und ihr anderthalb Jahre altes Kind. Das Kind wurde wegen Hochverrats angeklagt.288 Die besondere Härte, mit der Panjutin gegen tatsächliche und vermeintliche Feinde des Regimes vorging, machte ihn bei der gesamten Bevölkerung von Odessa verhasst. Sogar Todleben selber versuchte, Panjutin zur Mäßigung zu bewegen. Es ist daher kaum überraschend, dass Panjuntin zur Zielscheibe der Odessaer Gruppe der Narodnaja volja avancierte.289 Panjutin symbolisierte die zarische Reaktion und ihre Willkür vortrefflich. Ein Anschlag auf ihn hätte der Bewegung viele Sympathien eingebracht und den terroristischen Kampf erneut in den Augen eines Segments der Bevölkerung legitimiert. Doch die Anschlagspläne gegen Panjutin wurden auf Weisung des Exekutivkomitees zurückgestellt. Sof ′ja Perovskaja reiste im Frühjahr 1880 nach Odessa,

Vgl. z. B. Odessa, 12. April (Belagerungszustand), in: Die Presse, 16. April 1879; Todleben, 1875–1912, S. 403–408. 288 How Justice is Administered in Russia, in: The Iola Register, 6. Mai 1881. 289 Figner, Polnoe sobranie sočinenij, 21932, S. 125–126. 287

Zurück auf die Straße

um gemeinsam mit lokalen Kräften ein erneutes Attentat auf den Zaren zu planen.290 Es ging das Gerücht, dass der Kaiser im Mai erneut nach Livadia reisen würde. Die Terrorist*innen versuchten, die Route, welche die zarische Entourage vom Bahnhof zum Hafen nehmen würde, zu antizipieren. Daraufhin mieteten Sablin und Sof ′ja Perovskaja einen Laden an der Ital′janskaja Straße. Von diesem Geschäft aus wurde die Straße mühsam mit einer Mine unterhöhlt, in die schließlich Dynamit eingelagert und zur Explosion gebracht werden sollte. Diese konspirative Arbeit an der Mine erinnert einerseits an die Anschläge auf den Zarenzug, auf der anderen Seite erlaubt sie schon einen Blick auf den Anschlag vom 1. März 1881. Für die technische Seite des Anschlags war Grigorij Isaev zuständig. Die Vorbereitungen waren abermals kostspielig und riskant. Vera Figner beschaffte 900 Rubel, Isaev verletzte sich mit dem Sprengsatz und verlor drei Finger, die Erde aus der Mine wurde, um keinen Verdacht zu erregen, in die Wohnung Vera Figners gebracht. Doch wieder erwiesen sich die Mühen und das Risiko als vergeblich. Die Reise des Kaisers nach Livadia fand nicht statt, und das Exekutivkomitee stoppte die Vorbereitungen des Attentats. Nach diesem Misserfolg offenbarte sich ein Konflikt zwischen dem Exekutivkomitee im Zentrum und den lokalen Kräften der Narodnaja volja an der Peripherie. Diese wollten nun die Mine und die terroristische Infrastruktur nutzen, um wenigstens den verhassten Generalgouverneur Todleben in die Luft zu sprengen, doch das Exekutivkomitee untersagte dieses Vorhaben, weil die „Handschrift“ des Terrorismus, die Sprengung einer Mine, nur dem zentralen Anschlag auf den Zaren vorbehalten bleiben sollte. Zwar erlaubte die Zentrale, von Todleben umzubringen, allerdings sollten die Odessaer Verschwörer*innen dazu eine andere Vorgehensweise entwickeln. Diese Vorbehalte waren einerseits der Konspiration geschuldet, so sollten die Pläne des Exekutivkomitees für den Zaren nicht vor der Zeit offenbar werden. Die Technik der Mine, die mit Hilfe der konspirativen Legende eines Geschäftes am Straßenrand gelegt werden sollte, musste noch geheim bleiben, damit sie gegen den Zaren erneut in Stellung gebracht werden konnte. In seinem Pamphlet über den „terroristischen Kampf “, das ebenfalls 1880 entstand, führte Nikolaj Morozov die Notwendigkeit aus, „auf unerwartete Weise zu handeln und sich dabei Mittel zu bedienen, die niemand antizipieren kann.“291 Diese Maxime des Überraschungseffekts führte zu einer starken Betonung technischer Innovation, zeigt aber auch abermals, welche Bedeutung die Art und Ausführung des Anschlags für die Terrorist*innen hatte.292

Odesskaja mina. Mart-ijun′ 1880 g. http://www.narovol.narod.ru/odessmine.htm (24. November 2011). Nikolaj Morozov, The Terrorist Struggle, in: Walter Laqueur (Hg.), Voices of terror: manifestos, writings, and manuals of Al Qaeda, Hamas, and other terrorists from around the world and throughout the ages, New York 2004, S. 76–83, hier S. 76. 292 Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 129; Verhoeven, Time of terror, terror of time, 2010, S. 266. 290 291

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Die nächsten Versuche, den Zaren zu töten, machte das Exekutivkomitee in St. Petersburg. Die Hauptstadt des Reiches war zugleich die Residenz des Zaren, deshalb erschienen die Straßen der Stadt, vor allem nach dem Misserfolg in Odessa, wo der Kaiser letztlich gar nicht auftauchte, als guter Ort, um das Opfer des Anschlages überhaupt anzutreffen. Im Sommer 1880 präparierte das Exekutivkomitee eine Brücke mit Sprengstoff. Ort des Anschlags war die Kamenij most, die Steinerne Brücke, welche die Gorochovaja Straße über den Katharinenkanal führte. Diese Brücke nutzte der Zar, wenn er sich auf dem Weg in seinen stadtnahen Sommerpalast in Carskoe Selo befand. Er pflegte mit der Eisenbahn zu reisen, sein Weg zum Bahnhof führte ihn in der Regel über diese Brücke. Die Verschwörer*innen versenkten zwei Pud (ca. 30 kg) Dynamit unter der Brücke im Wasser des Katharinenkanals und brachten sich in Stellung.293 Doch am Tag des geplanten Anschlags Anfang August, als der Zar die Stelle tatsächlich passierte, verspätete sich der Arbeiter Teterka, der die Zündung auslösen sollte. Übereinstimmend wird berichtet, er habe „keine Uhr gehabt“. Aufgrund der Abreise des Kaisers auf die Krim ließ sich der Versuch nicht wiederholen.294 Wieder einmal scheiterte also ein wohlgeplanter Anschlag auf den Zaren daran, dass der richtige Zeitpunkt verpasst wurde. Die beiden missglückten Sprengstoffattentate des Jahres 1880 hatten keine direkte Entdeckung der Verschwörer*innen zur Folge. Dennoch verstärkte sich der Fahndungsdruck auf die Terrorist*innen, und die Zahl der Verhaftungen nahm zu. Im Oktober des Jahres 1880 begann der „Prozess der 16“ in St. Petersburg, in dem fünf Todesurteile gefällt und zwei davon vollstreckt wurden. Am 28. November 1880 wurde Aleksandr Michajlov, der Vordenker der Narodnaja volja, der die Zentralisierung des terroristischen Kampfes organisiert hatte, verhaftet. Die Botschaft, die er aus dem Gefängnis an die Mitverschwörer*innen sandte, war: „Zielt auf das Zentrum.“295

Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 707. Mostovoe predprijatie. S.- Peterburg Ijul-Avgust 1880 g. http://www.narovol.narod.ru/kamennmost. htm (19. Dezember 2013). 295 Zitiert nach: Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 708. Vgl. auch: Aleksandr D. Michajlov, Zaveščanie Aleksandra Dmitrieviča Michajlova, in: A. V. Jakimova-Dikovska (Hg.), „Narodnaja volja“, v dokumentach i vospominanijach, Moskva 1930, S. 257–258; Aleksandr D. Michajlov, Dva pis′ma A. D. Michajlova, in: A. V. Jakimova-Dikovska (Hg.), „Narodnaja volja“, v dokumentach i vospominanijach, Moskva 1930, S. 252–256. 293 294

Der 1. März 1881

Der 1. März 1881296

Die Vorbereitungen auf das Attentat, das schließlich am 1. März 1881 stattfand und dem Alexander II. zum Opfer fallen sollte, begannen bereits Ende des Jahres 1880 und folgten weitestgehend dem Vorbild der Planungen in Odessa im Frühjahr desselben Jahres. Die Terrorist*innen kundschafteten die regelmäßigen Routinen des Kaisers aus und entschieden sich dafür, ihn an einem Sonntag umzubringen. Sonntags pflegte der Zar gewöhnlich sich zu den Ställen in der Michajlovskij-Manege zu begeben, um dort die Parade abzunehmen. Auf seiner sonntäglichen Strecke passierte der Kaiser regelmäßig die Malaja Sadovaja Straße, die gegenüber dem Denkmal Katharinas II. vom Nevskij Prospekt abging. Diesen Ort wählte das Exekutivkomitee zunächst für die Ausführung des Attentats. Zwei der Verschwörer*innen aus den Reihen der Narodnaja volja, Jurij Bogdanovič und Anna Jakimova, mieteten als Ehepaar unter dem Namen Kobozev einen Laden in der Malaja Sadovaja Nr. 56, um dort ein Käsegeschäft zu eröffnen.297 Wie im Frühjahr 1880 in Odessa sollte die Fassade eines harmlosen Geschäfts genutzt werden, um von dort aus die anliegende Straße zu unterhöhlen. An den geheimen Grabungen war neben Michail Frolenko, Michail Trigoni und Aleksandr Barannikov auch der preußische Untertan Martin Langhans beteiligt.298 Am Sonntag, den 15. Februar 1881 passierte der Kaiser die Malaja Sadovaja. Die Mine war jedoch noch nicht mit Sprengstoff gefüllt, die Gelegenheit ging abermals vorüber. Alle Anstrengungen konzentrierten sich nun auf den Sonntag zwei Wochen später, auf den 1. März. Zusätzlich zu der Mine in der Malaja Sadovaja war eine entscheidende Neuerung in den Plan aufgenommen worden. Der Dynamittechniker Nikolaj Kibal′čič hatte neuartige Bomben entwickelt, mit denen die Terrorist*innen flexibel auf das bewegliche Ziel, das der Zar darstellte, reagieren konnten.299 Kibal′čič hatte die bisherigen vergeblichen Versuche, den Zaren zu töten, genau studiert und seine eigenen Schlüsse gezogen. Er hatte erkannt, dass dem Zaren, der seine Routen von einem auf den anderen Augenblick ändern konnte, mit einer statischen Mine nicht beizukommen war. Also erfand er Bomben, die in der Hand zu transportieren waren und durch einen gezielten Wurf an Ort und Stelle detonieren konnten. Diese „Wurfgranate“ wurde von 296 Über den genauen Gang der Ereignisse kursieren unterschiedliche Versionen. Das liegt zum einen an der Vielstimmigkeit der Überlieferung. Andererseits nehmen aber auch fast alle Berichte entweder die Perspektive der Täter*innen oder die des Opfers ein. Auf der Grundlage der zeitgenössischen Berichte und der kritischen Lektüre der vielen historiographischen Narrative soll hier versucht werden, eine möglichst genaue Rekonstruktion der Ereignisse unter besonderer Berücksichtigung des Ortes, an dem das Attentat stattfand, zu liefern. Dabei sollen sowohl Täter*innen als auch Opfer in den Blick geraten. Hauptquelle ist: Delo 1-go marta 1881 g. Process Rysakova, Michajlova, Gel′fman, Kibal′čiča, Perovskoj i Željabova; (pravitel′stvennyj otčet), Odessa 1906. Zu den zeitgenössischen Quellen vgl.: Kel′ner (Hg.), 1 marta 1881 goda, kazn′ Imperatora Aleksandra II, 1991. 297 Obvinitel′nij akt, 1882, IISG, Archiv PSR f. 79. 298 Ebd. 299 Verhoeven, Time of terror, terror of time, 2010, S. 266.

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einigen Terroristen im Winter 1880 im Wald im Norden St. Petersburgs ausprobiert. Nach einigen Pannen schienen die Granaten, wie sie von nun an genannt wurden, zu funktionieren. Als Vorteil der Granaten galt neben ihrer Flexibilität und der Leichtigkeit des Transports besonders, dass bei einem gezielten Wurf die Zahl der zufälligen Opfer, anders als bei den Minen, relativ gering blieb. So erfand Nikolaj Kibal′čic in der Vorbereitung des Attentats vom 1. März 1881 mit der Wurfgranate die Bombe, die zum Symbol des linken und später vor allem des anarchistischen Terrorismus werden sollte.300 Vor allem Andrej Željabov, der Partner Sof ′ja Perovskajas, der nach der Verhaftung Aleksandr Michajlovs an die Spitze des Exekutivkomitees gerückt war und die Planungen für den 1. März 1881 leitete, war überzeugt von Kibal′čičs Neuerung. Doch da die neue Technik noch nicht genügend erprobt war, entschied sich das Exekutivkomitee für eine Doppelstrategie mit zusätzlicher Absicherung.301 Zunächst wurde der Plan, die Malaja Sadovaja mitsamt der kaiserlichen Entourage und allen Passant*innen in die Luft zu sprengen, beibehalten. Für den Fall, dass dieses Vorhaben scheitern sollte, wurden vier „Werfer“ instruiert, die mit den neuen Granaten auf den Zaren zielen sollten: Nikolaj Rysakov, Ignatij Grinevickij, Timofej Michajlov und Ivan Ėmeljanov. Zunächst war geplant, dass die vier Werfer sich ebenfalls in der Malaja Sadovaja positionieren sollten. Falls auch diese vier mit ihren Granaten den Kaiser verfehlten, sollte Željabov den Zaren mit einem Dolch töten.302 Am Abend des 27. Februar 1881 wurde ebendieser Željabov, der als die zentrale Figur des Attentates vorgesehen war, festgenommen. Dieser Verlust war ein herber Schlag für die Terrorist*innen. Zudem schien die Polizei die konspirative Wohnung, in der die Granaten gelagert werden sollten, ausgespäht zu haben. Gerüchte kursierten, dass die Polizei einem Anschlagsversuch auf der Spur war, und die Attentäter*innen vermuteten, dass sie aufgeflogen waren.303 Auch der Käseladen hatte Verdacht erregt. Aber die „Sanitätskommission“, die das Geschäft untersuchte, konnte nichts Verdächtiges ausmachen. Wie schon in früheren Zeiten verstärkte der Druck durch die Obrigkeit in den Augen der Terrorist*innen die Notwendigkeit einer raschen Durchführung der Tat. Der Verlust Željabovs machte ein Gelingen des Attentats umso wichtiger, damit, so die Logik der Terrorist*innen, dieses Opfer nicht umsonst war. „Handeln, handeln!“, entschied also das eilig zusammengerufene Exekutivkomitee am 28. Februar 1881.304 An die Stelle Željabovs, der die Operation bisher geleitet hatte, trat nun seine Partnerin

Delo 1-go marta 1881 g., 1906, S. 70–75. Croft, Nikolai Ivanovich Kibalchich: terrorist rocket pioneer, 2006, S. 80–81. Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 151. Delo 1-go marta 1881 g., 1906, S. 22–23. Figner, Nacht über Russland, 1928, S.  153; Sof ′ja Perovskaja, Pokazanija S. L. Perovskoj, in: Kel′ner (Hg.), 1 marta 1881 goda, kazn′ Imperatora Aleksandra II., 1991, S. 256–262. 300 301 302 303 304

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Sof ′ja Perovskaja, die durch ihre Tat zur Legende und zur ersten weiblichen Märtyrerin der revolutionären Bewegung werden sollte.305 Sie hatte gemeinsam mit Željabov die Bombenwerfer rekrutiert und war sowohl über die Planungen als auch über die Akteur*innen genau im Bilde. Jetzt übernahm sie selber die Initiative. Ihre führende Rolle beim Anschlag auf Alexander II. entwickelte sich also aus ihrer Rolle als Partnerin des Anführers heraus. Auch wenn die Frauen in der Narodnaja volja und im Exekutivkomitee relativ zahlreich vertreten waren, übernahmen sie innerhalb der Gruppen doch häufig rollenkonforme Aufgaben. Das Beispiel Sof ′ja Perovskaja widerspricht diesem Befund nur auf den ersten Blick, bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass sie ursprünglich „nur“ die Freundin des Kopfes der Operation war. Für die Wahrnehmung und die Rezeption des schließlich gelungenen Attentats war es allerdings von großer Bedeutung, dass eine Frau bei der Ermordung Alexanders II. alle Fäden in der Hand hielt. Zudem war sie für die Flexibilisierung der Planung von größter Bedeutung. Sie war es, die dem Exekutivkomitee vorschlug, zu handeln, selbst wenn der Zar nicht die Malaja Sadovaja passieren sollte. Dafür wollte sie die Werfer instruieren.306 Auch der zunehmende Zeitdruck verkomplizierte die Vorbereitung auf das Attentat. Während der konspirativen Sitzung des Exekutivkomitees am Samstag, den 28. Februar 1881, stellte sich heraus, dass die einzelnen Teams weder den Zündmechanismus in der Mine unter der Malaja Sadovaja angebracht noch die vier Granaten fertiggestellt hatten. In fünfzehn Stunden während der Nacht vom 28. Februar auf den 1. März stellten Nikolaj Kibal′čič und Vera Figner gemeinsam mit zwei weiteren Mitgliedern des Exekutivkomitees die mobilen Bomben fertig. Sowohl das konspirative Treffen als auch die Vorbereitung der Granaten fanden in der Wohnung von Vera Figner und Grigorij Isaev am Voznesenskij Prospekt 78/25 statt.307 Dort standen die Bomben am 1. März 1881 um acht Uhr morgens endlich bereit. Um zehn Uhr traf Perovskaja die vier Werfer in einer konspirativen Wohnung in der Teležnaja Straße. Perovskaja wies die vier Attentäter an, sich mit den Bomben an der Kreuzung Nevskij Prospekt und Malaja Sadovaja zu positionieren. In dieser Wohnung und zu diesem Zeitpunkt erhielten die Werfer die wenige Stunden zuvor hergestellten Bomben.308 Noch gingen jedoch alle Beteiligten davon aus, dass der Zar durch die Mine in der Malaja Sadovaja umkommen würde. Jakimova und Bogdanovič, die sich als das Käsehändlerpaar Kobozev ausgaben, sollten den Laden nacheinander verlassen, nachdem der Zar auf dem Nevskij Prospekt gesichtet worden war. Frolenko war die Aufgabe zugedacht, die Zündung zu aktivieren. Alle rechneten damit, dass er unter den Trümmern des Hauses begraben werden würde.309

305 306 307 308 309

Kravčinskij, Grozovaja tuča Rossii, 2001, S. 102–128. Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 153. Obvinitel′nij akt (1882), IISG, Archiv PSR f. 79. Ebd. Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 155.

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Nach dem Willen des Innenministers Loris-Melikov hätte der Zar an diesem 1. März 1881 den Winterpalast eigentlich gar nicht verlassen sollen. Die Verhaftung Željabovs ließ die Sicherheitskräfte vermuten, dass ein weiteres Attentat unmittelbar bevorstand. Der Zar wollte allerdings trotz aller Warnungen auf die Parade nicht verzichten. Als besondere Sicherheitsmaßnahme fuhr er in einer gepanzerten Kutsche, einer Spezialanfertigung aus Frankreich, die für Napoleon III. kurz vor seinem Sturz angefertigt worden war.310 Der Kaiser passierte den Käseladen an diesem Sonntag nicht. Sof ′ja Perovskaja reagierte so, wie sie es am Vortag angekündigt hatte. Ihre flexible Reaktion auf die plötzliche Änderung der kaiserlichen Routine wurde ihr in der Historiographie der terroristischen Bewegung stets als besondere Geistesgegenwart und Kaltblütigkeit ausgelegt. Sie beobachtete die kaiserliche Entourage, als der Kaiser aus der Manege trat. Weil sie in den vergangenen Monaten die Routinen des kaiserlichen Tross genau verfolgt hatte, erfasste sie sofort, dass Alexander II. vom Michajlovskij-Palast, wo er seine Cousine, die Großfürstin Katharina Michajlovna Romanova, zum Frühstück traf,311 auf direktem Wege zum Katharinenkanal fahren lassen würde: Als ich sah, dass der Kaiser sich in den Michajlovskij-Palast begab, eilte ich zur Michajlovskij Straße, wo ich das Zeichen gab, das besagte, dass die Personen mit den Granaten sich am Katharinenkanal positionieren sollten, wie wir es zuvor abgesprochen hatte. Das Zeichen bestand darin, dass ich mit einem weißen Taschentuch wie zur Begrüßung winkte aber kein Wort sagte.312

Die Erinnerungen Perovskajas und Figners machen deutlich, dass es eine flexible Planung war, die das Gelingen des Attentats bedingte und die eine wichtige Weiterentwicklung des terroristischen Handelns im Vergleich zu den gescheiterten Attentaten der Jahre 1879 und 1880 bedeutete. Die Beweglichkeit des Zaren hatte ihm häufig das Leben gerettet. Die Unkalkulierbarkeit seiner Wege war von seinen Beschützern in den Rang der Sicherheitsmaßnahme erhoben worden. Die Routen des Kaisers wurden aufgrund der terroristischen Ereignisse der Vergangenheit ständig geändert und geheim gehalten.313 Diese Unberechenbarkeit wurde von der Narodnaja volja durch stärkere

Dietze/Schenk, Traditionelle Herrscher in moderner Gefahr, 2009, S. 368–369. In der Literatur wird häufig angenommen, dass Alexander II. mit seiner morganatischen Ehefrau Katharina Michajlovna Dolgorukaja zum Frühstück verabredet war. Diese residierte aber zu diesem Zeitpunkt bereits im Winterpalast. Da eine Rekonstruktion der Ereignisse ergibt, dass Alexander II. im Michajlovski-Palast frühstückte, muss er die Großfürstin Katharina Michajlovna Romanova, seine Cousine, die zum Reformflügel in der Aristokratie zählte, besucht haben. So berichtet es auch Kropotkin, der neben seiner Karriere als Revolutionär auch der russischen Hocharistokratie angehörte und die Verhältnisse am Hof kannte: Kropotkin, Memoiren eines Revolutionärs, 1900, II, 285. 312 Voskresen′e na Ekaterininskom. 1 marta 1881 g. http://www.narovol.narod.ru/1march.htm (23. November 2011). 313 Dietze/Schenk, Traditionelle Herrscher in moderner Gefahr, 2009, S. 368–369. 310 311

Der 1. März 1881

Flexibilität des Waffeneinsatzes wettgemacht. Diese Weiterentwicklung war einerseits durch die technische Verbesserung der Dynamittechnik, die Nikolaj Kibal′čič vorangetrieben hatte, möglich geworden. Andererseits konnte sie nur durch die kognitive Beherrschung des städtischen Raumes und die mühevolle Dechiffrierung der Routen und Routinen der kaiserlichen Kutsche erreicht werden. So wurden auch beim Prozess, in dem das Attentat verhandelt wurde, zahlreiche Stadtpläne und Bleistiftskizzen aus dem Besitz der Terrorist*innen als Beweismittel vorgelegt.314 Die Planung war also das Ergebnis einer genauen Analyse der Probleme der bisher gescheiterten Anschläge, bei denen Zeit und Ort des Anschlages nicht synchronisiert worden waren. Im Zuge der Anschlagserie der Narodnaja volja auf den Zaren Alexander II. rüsteten beide Seiten immer mehr auf. Nicht nur die Terrorist*innen entwickelten ihre Technik weiter, auch die Obrigkeit feilte zunehmend am Sicherheitskonzept. Deshalb hatte dieser Kampf, der sich weitgehend im Verborgenen abspielte, weniger den Charakter einer Jagd, obwohl er häufig als „Menschenjagd“ bezeichnet worden ist, sondern er glich eher einem Wettrennen. Rysakov eilte, wie von Sof ′ja Perovskaja angewiesen, zum Katharinenkanal. Dort ging er noch etwa eine halbe Stunde langsamen Schrittes am Ufer auf und ab. Dabei, so gab er später zu Protokoll, bemerkte er keinen seiner Mitverschwörer, obwohl nur wenige Passanten am Kanal unterwegs waren. Eigentlich war Timofej Michajlov als der erste Werfer vorgesehen, aber er war nicht vor Ort. Durch die neuen Pläne bedingt war es Rysakov, der als erster in die Nähe der Kutsche Alexanders II. kam. Der Kaiser verließ den Michajlovskij-Palast um 13.45 Uhr und begab sich in seiner Kutsche über die Inženernaja Straße in Richtung Katharinenkanal. Rysakov wiederum ging von der Teatral′nyj Most in Richtung Nevskij Prospekt den Kanal hinunter, als der Zar ihm entgegen kam. 315 Dabei wurde die zarische Kutsche von berittenen Kosaken begleitet. Der Zug befand sich auf der Höhe des Zauns zum Michajlovskij-Park, der auf zahlreichen Abbildungen des Attentats zu sehen ist. Als die Kutsche Rysakov passierte, warf er nach kurzem Zögern die Bombe: Ich war schätzungsweise 4 Arschin [etwa 3 Meter; die Verf.] von der kaiserlichen Kutsche entfernt, als ich die Bombe warf. Ich warf sie zu Füßen der Pferde, in der Annahme, dass sie die gesamte Kutsche zerstören würde und dass die Pferde die Bombe schon zertreten würden.316

Die Explosion der Bombe, die Rysakov auf die Kutsche des Zaren geschleudert hatte, war gewaltig. Nachdem der weiße Rauch sich verzogen hatte, bot sich den Augenzeu-

314 Delo 1-go marta 1881 g., 1906, S. 26–29; Assassins of the Czar. Scenes at the trials of the accused nihilists, in: New York Times, 10. April 1881. 315 Delo 1-go marta 1881 g., 1906, S. 14. 316 Voskresen′e na Ekaterininskom. Vgl. zu den Aussagen Rysakovs auch: Delo Rysakova, 1881, GARF f. 112, op. 1, d. 514, l. 235–260.

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gen ein Bild der Zerstörung. Die hinteren Teile der Kutsche waren durch die Wucht der Sprengung herausgebrochen worden. Auf der Straße markierte ein Krater die Stelle der Explosion. Einige der Kosaken, die die Kutsche begleiteten, waren schwer verletzt. Dennoch hatte die gepanzerte Kutsche ihre Aufgabe erfüllt und den Kaiser geschützt. Trotz des Ausmaßes der Sprengung blieb er unverletzt. Er verließ die Kutsche, um nach den verletzten Kosaken zu sehen. Leutnant Rudikovskij erkannte ihn nicht sofort und fragte: „Was ist mit dem Zaren?“ Der Kaiser antwortete: „Gott sei Dank, ich habe es überstanden, aber dort!“ Er wies auf die verletzten Kosaken und einen weinenden, schwer verletzten Jungen, den 14-jährigen Nikolaj Maksimov. Rysakov hatte die Worte des Zaren gehört und sagte in ironischer Absicht: „Dankt Gott nicht zu früh!“ Daraufhin befragte Alexander II. Rysakov und ließ sich den Ort der Explosion zeigen.317 Dieses Verhalten, das ihm als soldatisch-mannhaft ausgelegt wurde, verschärfte die Gefahr für die Person des Zaren. Frithjof Benjamin Schenk und Carola Dietze haben ausgeführt, dass sein Vorgehen dem aristokratischen Kodex seiner Zeit entsprach. Dieser Kodex aber wurde den Herausforderungen des modernen Terrorismus mit seinen flexibel einsetzbaren Wurfbomben nicht mehr gerecht.318 So kam in dem Moment, als sich der Zar als tugendhafter Soldat und gütiger, aber gestrenger Herrscher präsentierte und die Verwundungen seiner Soldaten ebenso in Augenschein nahm wie die Person des Attentäters, der zweite Werfer Grinevickij seitlich auf den Kaiser zu und zielte, aus einer Entfernung von etwa 1,5 Meter mit einer Bombe auf seine Beine. Diese Bombe beschrieben die Augenzeugen als „rund“, wie ein „Teller“ und eingehüllt in ein weißes Tuch, „wie Schnee“.319 Wieder war eine Explosion zu hören. Sie sei, so erinnerten sich zumindest die Zeug*innen, lauter gewesen als die erste. Die Fensterscheiben auf der anderen Seite des Kanals splitterten, und die Druckwelle warf alle Umstehenden zu Boden. Diese Steigerung des Geräusches in der Erinnerung der Zeug*innen kann viele Ursachen haben. Einerseits mag die erste Explosion die Sinne der Zuhörer*innen für die weiteren Ereignisse geschärft haben. Andererseits war es auch die zweite Explosion, die den Zaren tötete und damit die schrecklicheren Auswirkungen hatte. Solcherart mögen die Zeug*innen im Nachhinein ihrer Erinnerung Sinn verliehen haben. Es spricht jedenfalls nichts dafür, dass die Bomben unterschiedliche Sprengkraft besaßen. Der konservative Publizist Vladimir Meščerskij berichtet in seinen Erinnerungen, dass die beiden Explosionen in weiten Teilen St. Petersburgs zu hören gewesen seien.320

317 Delo 1-go marta 1881 g., 1906, S. 15. Diese Version der Ereignisse wird auch in den Zeitungen des Russischen Reiches abgedruckt: Chronika, in: Golos, 4. März 1881. 318 Dietze/Schenk, Traditionelle Herrscher in moderner Gefahr, 2009, S. 368–401, besonders 369. 319 Delo 1-go marta 1881 g., 1906, S. 18. 320 V.I Meščerskij, Moi vospominanija, in: Kel′ner (Hg.), 1 marta 1881 goda, kazn′ Imperatora Aleksandra II., 1991, S. 191–194, hier S. 192.

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Abermals war zunächst aufgrund der Rauchentwicklung nichts zu sehen: „Als der Dampf sich verzogen, erblickte man den Kaiser in seinem Blute am Boden liegend, um ihn herum eine Menge Verwundeter.“321 Das Attentat hatte darüber hinaus Schrecken und Zerstörung ausgelöst, nicht nur der Zar, sondern insgesamt 20 Personen wurden zum Teil schwer verletzt. Nachdem die Geräusche der Explosion verklungen waren, waren Schreie des Entsetzens und das Stöhnen der Verwundeten zu hören. Den Augenzeug*innen bot sich ein grauenvolles Schauspiel: Es ist unmöglich zu beschreiben, welch schreckliches Bild sich nach den Explosionen darbot. Zwanzig Menschen, mehr oder weniger schwer verletzt, lagen auf dem Trottoir oder auf der Brücke. Einige versuchten, aufzustehen, andere krochen und wieder andere wurden gestützt. Im Schnee lagen blutverschmierte Fetzen von Kleidung, Uniformen, Epauletten und blutige Stücke menschlichen Fleisches.322

Unter den Toten befand sich auch der Attentäter Grinevickij. Der Zar lebte noch. Er wurde auf einen Schlitten gehoben. Ėmeljanov, der vierte Attentäter, der aber seine Bombe nicht geworfen hatte, eilte herbei, um dabei behilflich zu sein.323 Im Winterpalast stellten die Ärzte fest, dass das Leben des Kaisers nicht mehr zu retten war: Die Wunden erwiesen sich als schreckliche [sic]. Das eine Bein bis zur Höhe des Oberschenkels war zerschmettert, das andere bis zur Hälfte des Schienbeins. Der Unterleib war vollständig aufgerissen, das Gesicht verletzt. Die Ärzte erklärten einstimmig, eine Amputation der Beine sei nicht ausführbar und Hoffnung überhaupt nicht mehr vorhanden.324

Vor dem Winterpalast hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Um 15.40 Uhr wurde die kaiserliche Fahne auf dem Palast auf Halbmast gesenkt zum Zeichen des Ablebens Alexanders II. Ein General verkündete den Tod den trauernden Untertan*innen auf dem Palastplatz. Von dort aus verbreitete sich die Nachricht der Ermordung auf den Straßen der Stadt. So erreichte die Nachricht auch die Mitglieder des Exekutivkomitees, die noch nicht wussten, ob der Anschlag dieses Mal sein Ziel erreicht hatte: „In den Straßen sprach die erregte Menge vom Zaren, von seinen Wunden, von Blut und Tod.“325 Der Tod des Kaisers teilte die Menschen im Russischen Reich in unterschiedliche emotionale Gemeinschaften.326 Während die Familie der Romanovs und der größte Teil seiner Untertan*innen trauerten, war die Ermordung Alexanders II. für die TerDie Tatsachen aus St. Petersburg, in: Provinzial-Correspondenz, 16. März 1881. Dnevnik sobytij s 1 marta po 1 sentjabrja 1881 goda, in: Kel′ner (Hg.), 1 marta 1881 goda, kazn′ Imperatora Aleksandra II., 1991, S. 28–58, hier S. 40–41. 323 Voskresen′e na Ekaterininskom; Kropotkin, Memoiren eines Revolutionärs, 1900, II, 284–285. 324 Die Tatsachen aus St. Petersburg, in: Provinzial-Correspondenz, 16. März 1881. 325 Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 156. 326 Rosenwein, Worrying about emotions in history, 2002, S. 842. 321 322

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rorist*innen ein Anlass zur Freude. Die Anspannung der vergangenen zwei Jahre war der Erlösung gewichen, alle Opfer und Gefahren, welche die Verschwörer*innen auf sich genommen hatten, schienen nun einen Sinn bekommen zu haben. Vera Figner erinnerte sich an diesen Moment der Erlösung: Dieser Moment, das Blut des Zaren, rächte die Greul der Gefängnisse und der Verbannung, die Grausamkeiten und Gewalttaten, die an Hunderten und Tausenden unserer Gesinnungsgenossen verübt worden waren; eine schwere Last fiel von unseren Schultern, die Reaktion (so schien es uns) musste nun endlich der Arbeit zur Erneuerung Russlands weichen. In diesem feierlichen Moment waren alle unsere Gedanken dem künftigen Wohl unseres Vaterlandes gewidmet.327

Das Blut des Zaren

Am 4. März 1881 berichtete die Zeitung Molva über die Wunden des Kaisers, dass statt seiner Beine nur noch eine „blutige Masse zu sehen gewesen sei, die aus Fleisch, Haut und Knochen bestand. Sein Blut vergoss sich auf furchtbare Weise.“328 In den zeitgenössischen Berichten, die den Tod des Kaisers betrauerten, aber auch in den Erinnerungen Vera Figners spielte das Blut des Zaren eine auffällig große Rolle. Blut als Symbol deutet auf zahlreiche wirkungsmächtige Verweiszusammenhänge hin, die in den Texten tangiert werden. Das Bedeutungsfeld des Blutes ist vielschichtig, dennoch schließen sich die unterschiedlichen Bedeutungsebenen nicht aus, sondern verstärken einander.329 Die suggestive Kraft des Zeichens macht es denkbar, dass die unterschiedlichen Adressat*innen die Botschaft des Symbols auf jeweils andere Weise gelesen haben. Innerhalb der konkurrierenden emotionalen Gemeinschaften entfaltete also das Symbol des Blutes eine jeweils eigene spezifische Wirkung, die sich allerdings wechselseitig verstärkte. Die trauernden Untertan*innen oder Berichterstatter bezogen sich mit dem Symbol des Blutes auf das kaiserliche Gottesgnadentum. Diese Besonderheit bedingte aber mittelbar auch die Wahrnehmung der Terroristin Vera Figner und der emotionalen Gemeinschaft, die sie repräsentierte. Das Blut verweist auf den Zaren als Opfer in doppelter Bedeutung des Wortes. Der scheinbar allmächtige Zar lag in seinem Blut, er wurde zum Opfer der Terrorist*innen, die aufgrund der Umkehrung der Gewaltverhältnisse die Macht in den Händen hielten. Blut symbolisierte also die Verletzlichkeit des Menschen, in diesem Falle des von Gott auserwählten Herrschers. In der Metapher des Blutes wurde die Vorstellung der Transzendenz, Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 156. Chronika, in: Molva, 4. März 1881. Christina von Braun, Blut als Metapher in Religion und Kunst,15.6.2001 (2001). http://www.culture. hu-berlin.de/cvb/voll.html (7. Dezember 2011). 327 328 329

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die dem Gottesgnadentum innewohnt, mit der banalen Realität des gewaltsamen Todes konfrontiert. Darüber hinaus wurde der Zar aber auch im zweiten Sinne des Wortes geopfert. Er wurde für die Terrorist*innen nicht nur zum „victim“, sondern zum „sacrifice“. Blut symbolisierte die Herkunft des Opfers (im Sinne von sacrifice) über die Tradition des biblischen Tieropfers, des Selbstopfers des Erlösers und schließlich des Opferblutes des Märtyrers. Das Opfer dieser Traditionslinie hat verschiedene Funktionen: In diesem Kontext dürften die Sühne der Sünden und die Herstellung von Gemeinschaft die Botschaft der Terrorist*innen am besten repräsentieren. Die Erinnerungen von Vera Figner legen nahe, dass für die emotionale Gemeinschaft, die sich um die Narodnaja volja formierte, der Zar sein Blut als Sühne für die vielen Opfer der zarischen Willkür in den Gefängnissen, in der Verbannung und für diejenigen, die von der Obrigkeit hingerichtet wurden, vergoss. Dem Verlangen nach Rache, das die Geschichte des russländischen Terrorismus seit Vera Zasulič begleitete, wird der blutige Körper des Zaren als Sühneopfer dargebracht. In der christlichen Tradition des Abendmahls stellt das Blut die Gemeinschaft der Gläubigen und zugleich die Vereinigung mit dem Göttlichen her. Blut kann also in dieser Traditionslinie auch als ein Symbol der Ermächtigung verstanden werden, mit dem die Gemeinschaft der Untertan*innen der Macht des Herrschers teilhaftig wird.330 Das Blut des Zaren, das in den Erinnerungen an den 1. März 1881 so präsent ist, erscheint wie das Vorspiel zu einer Geschichte der russischen Revolutionen im 20. Jahrhundert, die durch eine äußerst blutige Bild- und Metaphernsprache geprägt wurde und die auch die Geschichte des russländischen Terrorismus von 1905 bis 1907 begleitete. Die kommunikative Ausstrahlung des 1. März 1881

Mit einem offenen Brief an den Thronfolger Alexander III. vom 10. März 1881 versuchte das Exekutivkomitee, die Rezeption des tödlichen Anschlages auf Alexander II. zu steuern.331 Nachdem das Exekutivkomitee sich in einer relativ schlichten Proklamation am Tag des Attentats zu der Tat bekannt und sie als Abschluss einer zweijährigen Jagd auf den Zaren bezeichnet hatte, die am 26. August 1879 ihren Anfang genommen hatte,332 legitimierten die Terrorist*innen ihr Tun mit dem Brief vom 10. März 1881 vor einer breiteren Öffentlichkeit. Deshalb war dieser offene Brief entgegen seiner offi-

Ebd., S. 8. Ispolnitel′nyj komitet, Pis′mo ispolnitel′nago komiteta k Aleksandru III. 10 marta 1881 g., in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Literatura social′no-revoljucionnoj partii „Narodnoj Voli“, o. O. 1905, S. 903–908. 332 Ispolnitel′nyj komitet, Ot ispolnitel′nago komiteta. 1 marta 1881 g., in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Literatura social′no-revoljucionnoj partii „Narodnoj Voli“, o. O. 1905, S. 897–898. 330 331

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ziellen Adressierung auch nicht in erster Linie an Alexander III., sondern über diesen Umweg an eine größere Öffentlichkeit gerichtet. Damit spiegelte dieser offene Brief die Form der indirekten Kommunikation der Terroranschläge selbst, die auch nicht in erster Linie auf das Opfer des Attentats zielten, sondern vielmehr darauf, eine Botschaft an ein breiteres Publikum auszusenden. Die Mitglieder des Exekutivkomitees waren wegen der Inszenierung der Terroranschläge, „die für sich selbst sprachen“,333 offensichtlich so vertraut mit dieser Form der indirekten Kommunikation, dass sie diese bei dieser schriftlichen Botschaft beibehielten. Der innere Kreis der Narodnaja volja hatte längst entschieden, dass mit den Liberalen, der „Gesellschaft“, keine Zusammenarbeit möglich sei. Zu tief schien der Graben, der die Terrorist*innen von den gemäßigten Demokrat*innen trennte. Dennoch waren es gerade diese Demokrat*innen und Liberalen, welche die Terrorist*innen mit ihrem Schreiben eigentlich ansprachen. Das Exekutivkomitee forderte eine Amnestie für die politischen Gefangenen, Wahlen zu einer Nationalversammlung, wobei die Frage der nationalen Minderheiten noch nicht angesprochen wurde, und die Gewährung bürgerlicher Rechte wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und Meinungsfreiheit.334 Dieser Katalog hätte von den Liberalen selbst aufgestellt werden können und widerspricht den Vorstellungen für eine Revolution in der Tradition Nečaevs, die das Exekutivkomitee für sich reklamierte.335 Deshalb liegt es nahe, diesen Brief ebenso als Teil der revolutionären Taktik zu betrachten wie die Terroranschläge selbst und seinen Inhalt nicht mit den Zielen der Terrorist*innen gleichzusetzen. Die Mitglieder des Exekutivkomitees und ihre Mitstreiter*innen beobachteten aufmerksam, wie die Botschaft beim Publikum im Russischen Reich, aber auch im Ausland ankam. Vera Figner erinnerte sich an die positive Resonanz auf das Schreiben: Das Schreiben war maßvoll und voll Takt und hat Anerkennung und Mitgefühl in ganz Russland hervorgerufen. In Westeuropa veröffentlicht rief der Brief Aufsehen in der ganzen westeuropäischen Presse hervor; selbst die gemäßigtesten und konservativsten Blätter billigten die Forderungen der russischen ‚Nihilisten‘ und äußerten die Meinung, sie seien gerecht und vernünftig und gehörten zum größten Teil schon längst zu den selbstverständlichen Bestandteilen des europäischen Lebens.336

Interessant ist, dass sowohl Vera Figner als auch Sergej Kravčinskij betonten, dass das Schreiben absolut aufrichtig gemeint war.337 Diese Einlassungen legen den Schluss nahe, dass diese Aufrichtigkeit in den schriftlichen Botschaften bemerkenswert – also

Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 132. Ispolnitel′nyj komitet, Pis′mo ispolnitel′nago komiteta k Aleksandru III, 1905, S. 903–908. Nečaev, The revolutionary catechism. Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 156–157. Ebd., S. 157; Sergej Stepniak, Underground Russia; revolutionary profiles and sketches from life. Reprint der Ausgabe von 1883, Westport, Conn 1973, S. 265. 333 334 335 336 337

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nicht die Regel – war. Außerdem lässt die Beteuerung der Ehrlichkeit vermuten, dass diese von den Zeitgenoss*innen in Frage gestellt wurde. Beide Interpretationen decken sich mit der Beobachtung, dass die Texte, mit denen das Exekutivkomitee an die Öffentlichkeit ging, in erster Linie dazu gedacht waren, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, und es weniger darum ging, die Intentionen und Überzeugungen der Terrorist*innen widerzuspiegeln. Die Reaktionen auf Terroranschläge im Russischen Reich vor 1917 sind aufgrund der Quellenlage schwer zu ermitteln. Das gilt insbesondere für die Zeit vor dem Oktobermanifest von 1905, das eine relative Pressefreiheit im Russischen Reich zur Folge hatte.338 In den 1880er Jahren hatte die Presse im Russischen Reich noch den Charakter einer gelenkten Öffentlichkeit. Die offiziell verbreiteten Zeitungen vertraten also im weitesten Sinne eine Linie, die von der Obrigkeit gebilligt wurde. Auf der anderen Seite des Spektrums standen die Untergrundzeitschriften, die das revolutionäre Segment der Gesellschaft vertraten. Das breite Spektrum dazwischen wurde nicht durch Zeitungen oder Zeitschriften repräsentiert. Anders sah die Situation im Ausland aus. Dort konnte die Presse relativ ungehindert zu den Ereignissen im Russischen Reich Stellung nehmen. Diese Öffentlichkeit war der Narodnaja volja keineswegs gleichgültig. Ab 1880 beschloss das Exekutivkomitee, die öffentliche Meinung im Ausland zu beeinflussen. Vera Figner erhielt die Aufgabe, die Revolutionär*innen im Exil mit Informationen zu versorgen, damit diese wiederum damit an die Öffentlichkeit traten. So lenkten also die Terrorist*innen wenigstens zum Teil die öffentliche Meinung im Ausland. Im Falle von Sergej Kravčinskij etwa zeitigten diese Bemühungen beachtliche Erfolge.339 Doch Kravčinskij war nicht der einzige ehemalige Terrorist, der die Rezeption des russischen Terrorismus im Ausland steuerte. Der Russlanddeutsche Lev Gartman (Leo Hartmann) war an der Konspiration zur Sprengung des Zarenzugs im November 1879 beteiligt gewesen. Er floh nach Frankreich, wo die Polizei einen Tipp bekam und ihn festnahm. Da Frankreich und das Russische Reich kein Auslieferungsabkommen hatten, musste die französische Regierung eine politische Entscheidung treffen, die in der Öffentlichkeit heftig diskutiert wurde. Während einige Hartmann als Mörder ausliefern wollten, verstanden andere ihn als politisch Verfolgten. Zur großen Freude der Revolutionär*innen in vielen europäischen Ländern und in den USA widersetzte die französische Regierung sich dem Wunsch der zarischen Regierung, Hartmann auszuliefern.340 Stattdessen wurde er nach Großbritannien abgeschoben, von wo aus er den Kampf der russländischen Terrorist*innen ähnlich wie Sergej Kravčinskij publizistisch unterstützte. Die Hartmann-Affäre machte der Narodnaja volja erst deutlich, was für eine wichtige Ressource die öffentliche Meinung im Ausland war. Damals, so notier338 339 340

Manfred Hagen, Die Entfaltung politischer Öffentlichkeit in Russland. 1906–1914, Wiesbaden 1982. Vgl. dazu vor allem: Patyk, Remembering „The Terrorism“, 2009, S. 758–781. Wurr, Terrorismus und Autokratie, 2015, S. 116–117.

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te Vera Figner in ihren Memoiren, beschlossen die Terrorist*innen die „europäischen Gesellschaften“ zum Ziel ihrer Botschaften zu machen: Wir gedachten den Thron des Zaren, den wir im Inneren des Landes durch Dynamit erschütterten, außerhalb der Grenzen zu diskreditieren; und womöglich einen Druck, ja vielleicht sogar eine diplomatische Intervention gegen die inneren Angelegenheiten unseres finsteren Reiches fördern zu können.341

Das Exekutivkomitee betraute Hartmann mit der Aufgabe, die Großstädte Amerikas zu bereisen und dort für die Sache der Russischen Revolution, besonders im Sinne der Narodnaja volja, zu werben.342 Vera Figner versorgte ihn zu diesem Zweck mit Artikeln, Lebensdarstellungen und Fotografien der revolutionären Märtyrer. Darüber hinaus sandte sie ihm die illegalen Veröffentlichungen der Narodnaja volja, die Hartmann wiederum als Grundlage seiner Agitation verwenden sollte. Vera Figner lieferte ihm auch Informationen über die Ermordung Alexanders II.: Meine letzte Korrespondenz, die ich schickte, betraf die Vorgänge des 1. März, sie enthielt den offenen Brief des Komitees an Alexander III. und eine Zeichnung von der Hand Kobosews, die das Innere des ‚Käsegeschäftes‘ zeigte.343

Die Rezeption des 1. Märzes 1881 im Ausland war, wahrscheinlich unabhängig von Hartmanns Tätigkeit, gemischt. In der New York Times (NYT) fanden sich immer wieder Nachrichten über sozialistische Gruppierungen im Lande, die das Attentat ausdrücklich begrüßen. So berichtet die NYT bereits am 16. März 1881 (also am 3. März 1881 alten Stils) über eine Gruppierung in St. Louis, die unter dem Namen „Friends of progress and children of the goddess of liberty“ zu Kundgebungen aufrief, auf denen die Zarenmörder*innen politische Unterstützung erfahren sollten.344 In New York selbst erläuterten Exilruss*innen auf gut besuchten Vortragsveranstaltungen die möglichen Motive der Terrorist*innen und bekundeten dabei große Sympathie für die revolutionäre Bewegung.345 Darüber hinaus berichtete die NYT von einer sozialistischen Parteiversammlung in Chicago, auf der eine Resolution angenommen wurde, die ebenfalls das Attentat auf Alexander II. ausdrücklich begrüßte.346 Im direkten Bezug auf das Attentat selbst war die Berichterstattung in der NYT eher sachlich und konzentrierte sich auf die Ergebnisse der Polizeiarbeit. Dabei bezog sie

Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 140. Ispolnitel′nyj komitet, K L′vu Gartmanu, in:  Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Literatura social′no-revoljucionnoj partii „Narodnoj Voli“, S.l 1905, S. 968–969. 343 Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 141. 344 Approving the assassination, in: New York Times, 16. März 1881. 345 The Late Russian Emperor – Causes which led to his assassination – What a Russian editor says, in: New York Times, 18. März 1881. 346 Chicago Socialists; they adopt resolutions applauding the assassination of the Czar, in: New York Times, 21. März 1881. 341 342

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sich auf Korrespondentenberichte anderer Medien, wie z. B. auf die „Agence Russe“.347 Dennoch entsteht bei der Lektüre der NYT durch die zahlreichen Bezüge auf Sympathisant*innen der Eindruck, weite Teile der amerikanischen Öffentlichkeit hätten Verständnis für die Positionen der Terrorist*innen gehabt. Aber auch im Ausland gab es Stimmen, die den Tod des Zaren betrauerten und die Taten der Terrorist*innen verurteilten. Im Deutschen Reich erfuhr das Ereignis Aufmerksamkeit in den unterschiedlichsten Publikationen. Dabei überwogen das Entsetzen über die Gewalttat und die Trauer um den Herrscher, welcher der deutschen Öffentlichkeit als Reformer galt.348 Stellvertretend für die offizielle Reaktion auf das Ereignis kann die regierungsnahe preußische Provinzial-Correspondenz vom 16. März 1881 gelesen werden: Einer der edelsten und besten Monarchen, dessen ganzes Leben nur dem Glück seines Volkes gewidmet war, hat einen schrecklichen Tod gefunden, wie kaum zuvor ein anderer Monarch. Wenn die Kunde von dem Ableben eines mächtigen Herrschers überall in der Welt einen tiefen und ernsten Eindruck macht: so rufen die fürchterlichen Umstände, unter denen Kaiser Alexander dahinsank, überall, wo man menschlich fühlt, eine niederschmetternde, erschütternde Wirkung hervor.349

Darüber hinaus beschrieb die Provinzial-Correspondenz die Trauer der Untertan*innen und Angehörigen. All diese Details waren dazu angetan, Empathie bei den deutschen Leser*innen zu wecken. Zudem erschien die Darstellung nicht als entferntes Ereignis, sondern es wurde eine direkte Verbindung zur deutschen Politik hergestellt: Zumal in Deutschland, welches in dem hingeschiedenen Monarchen einen nahen Verwandten und den ‚besten Freund‘ seines Kaisers verehrte! Mit Kaiser Wilhelm und seinem Hause steht Deutschland in aufrichtiger Trauer an dem Sarge eines Herrschers, welcher in seinem eigenen Volk nicht den Schutz und die Sicherheit finden konnte, deren jeder Unterthan unter seinem milden und gerechten Scepter sich erfreute!350

Zudem druckte die Provinzial-Correspondenz das „Manifest der Thronbesteigung Alexanders III.“351 im Wortlaut ab und versäumte es nicht, den neuen Kaiser auf dem russländischen Thron zu begrüßen und ihn an die Freundschaft zwischen Russland und Deutschland zu erinnern.352 Auch die satirische Zeitschrift Kladderadatsch betrauerte mit einem langen Gedicht die Ermordung des russländischen Kaisers. Kladderadatsch war im späten 19. Jahrhun-

347 348 349 350 351 352

Murder of the Czar, in: New York Times, 23. März 1881. Zum Petersburger Attentat, in: Die Presse, 14. März 1881. Das Hinscheiden des Kaisers Alexander, in: Provinzial-Correspondenz, 16. März 1881. Ebd. Manifest der Thronbesteigung Alexanders III., in: Provinzial-Correspondenz, 16. März 1881. Das Hinscheiden des Kaisers Alexander, in: Provinzial-Correspondenz, 16. März 1881.

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dert national-liberal geprägt, deshalb verwundert es kaum, dass die Reime nicht als Satire zu verstehen sind, sondern das Entsetzen großer Teile der deutschen Öffentlichkeit widerspiegeln: Grau’nvolle Kunde kommt von Osten her und schreckt Empor die Völker, meldend unerhörte That, Bleich färbend vor Entsetzen jedes Angesicht. So durch die Lande geht sie mit Wehgeschrei: Von Mörderhänden niedersank des Russen Zar!353

Der Beginn des Gedichts mit dem Titel „Aus dem Osten“ reflektiert die kulturgeographischen Vorstellungen seiner deutschen Leser*innen, dass das Grauen aus dem Osten kommt. Damit wird klargestellt, wer im europäischen Maßstab Zentrum und wer Peripherie ist. Die grauenvolle Nachricht der Ermordung erreicht das Zentrum von der östlichen Peripherie her. Wieder ist es Gewalt, die hier den Topos der östlichen Peripherie verstärkt. Die Verse füllen die ersten beiden Seiten der Ausgabe und preisen Alexander II. ebenfalls als Reformer, der seinem Volk nur Gutes getan habe, aber für die Sünden seiner Väter, „den grausen Fluch der Tyrannei“, büßen muss. Doch auch wenn diese Argumentation ein gewisses Verständnis für die politischen Motive der Täter*innen suggeriert, bleiben Terrorist*innen doch „der Freiheit ärgste Feinde“.354 Damit widersprechen diese Quellen der Einschätzung Figners, die Forderungen der Terrorist*innen würden auf Verständnis im Auslande stoßen und „selbst [in den] gemäßigtesten und konservativsten Blätter[n ge]billigt“ werden.355 Dementsprechend überrascht es auch nicht, dass die gelenkte Presse im Russischen Reich ein anderes Bild zeichnet. In den russischen Zeitungen werden Reaktionen aus dem Ausland wiedergegeben, die Trauer und Empörung transportieren.356 So berichtete z. B. die bürgerlich liberale Golos (Die Stimme) darüber, dass Parlament und Senat in Frankreich ihre Solidarität mit dem ermordeten Alexander II. demonstrierten.357 Im Russischen Reich selbst waren die Reaktionen auf die Ermordung des Zaren noch vielfältiger als in den anderen Teilen der Welt. Julia Safronova hat sich in ihrer Untersuchung der emotionalen Reaktionen auf den Tod Alexanders II. der schwierigen Quellenlage, die über Stimmungen in der Bevölkerung im Russischen Reich Aufschluss geben soll, angenommen und ist zu bemerkens-

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Aus dem Osten, in: Kladderadatsch, 20. März 1881. Ebd. Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 157. Vgl. z. B. Golos, 8. März 1881. Chronika, in: Golos, 4. März 1881 Vgl. in diesem Kontext auch den Bericht in: Golos, 9. März 1881.

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werten Ergebnissen gekommen.358 Sie macht drei Hauptströmungen innerhalb der vielfältigen Gefühlswelten aus, mit denen die Untertan*innen sich zu der Ermordung des Herrschers verhielten. Dabei lassen sich aufgrund der unterschiedlichen Reaktionen drei emotionale Gemeinschaften identifizieren:359 1. Die von der Obrigkeit gelenkte emotionale Gemeinschaft, die vor allem durch Trauer konstruiert wurde. 2. Die emotionale Gemeinschaft der Revolutionär*innen, die mit Freude oder zumindest Erleichterung auf die Ermordung Alexanders II. reagierte. 3. Die Bevölkerung, die weder von der einen noch von der anderen emotionalen Gemeinschaft erreicht wurde und deshalb der „Apathie“ oder „Gleichgültigkeit“ geziehen wurde. Da diese Reaktionen häufig jenseits der beiden entgegensetzten und konkurrierenden emotionalen Regime lagen, ist es schwer, ihnen auf die Spur zu kommen.360 Die erste große Gruppe der Quellen, die Safronova untersucht hat, gibt Aufschluss über die Reaktion der ersten Gruppe auf die „Katastrophe vom 1. März“, denn diese Bezeichnung bürgerte sich in der Presse rasch in Bezug auf den Zarenmord ein.361 Die offiziellen Zeitungen des Reiches diktierten demnach das obrigkeitliche emotionale Regime: „Das Russische Reich ist in Trauer!“, so vermeldete die Golos am 2. März.362 Immer wieder kehrte das Wort „užas“ (deutsch: Grauen, Entsetzen) mit dem die meisten Journalisten auf die Katastrophe antworteten. Trauer und Entsetzen standen als direkte Reaktion in den ersten Tagen im Vordergrund der Berichterstattung. Es war viel von den Tränen der Untertan*innen die Rede. Die Zeitungen meldeten, dass die Menschen in die Kirchen strömten, um dort zu beten, zu trauern und zu weinen.363 Berichte über das immer gleiche Trauern der Menschen, über Tränen und Gebet wurden aus allen Teilen des Reiches wiedergegeben: aus Moskau ebenso wie aus Odessa (der Hauptstadt des revolutionären Terrors an der südlichen Peripherie), aus Tiflis, aus Riga und aus dem fernen Irkutsk. So stellte sich den St. Petersburger Leser*innen, ähnlich wie in der Reaktion auf die Rettung Alexanders II. durch Osip

358 Vgl. dazu vor allem: Julija Safronova, Smert′ gosudarja. 1 marta 1881 goda: Emocional′nyj srez, in: Jan Plamper / Mark Ėli (Hg.), Rossijskaja Imperija chuvstv. Podchody k kul′turnoj istorii emocij, Moskva 2010, S. 166–184; Reddy, The navigation of feeling, 2001. 359 Rosenwein, Worrying about emotions in history, 2002, S. 821–845. Vgl. dazu auch: Plamper, Geschichte und Gefühl, 2012, S. 297–312. 360 Für diese dritte Gruppe folgt Safronova aus meiner Perspektive allzu sehr der denunziatorischen Absicht der Quellen: Safronova, Smert′ gosudarja, 2010, S. 166–184. 361 Vgl. z. B. Golos, 4.3.1881 Oder: Chronika, in: Molva, 4. März 1881. 362 Golos, 2. März 1881. 363 Safronova, Smert′ gosudarja, 2010, S. 166–184. Diese Beschreibung findet sich z. B. auch in: Chronika, in: Golos, 4. März 1881.

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Komisarov beim ersten Attentat durch Dimitrij Karakozov, das ganze Russische Reich als patriotisches Imperium dar.364 Die Gefühle Trauer und Entsetzen betonen auch die Erinnerungstexte der höchsten St. Petersburger Kreise, die dem Zaren näherstanden als der Rest der Bevölkerung.365 Sie bildeten das Zentrum der emotionalen Gemeinschaft, die durch die Trauer um den Herrscher verbunden wurde. Das Symbol dieser Trauergemeinschaft in den Narrativen der Zeit waren Tränen: „alle weinten“.366 Der hochrangige Politiker Petr Valuev erinnerte sich, dass fast alle Offiziere bei der Vereidigung auf den neuen Zaren am 2. März 1881 Tränen in den Augen hatten.367 Weinen galt vor allem unter Soldaten als Zeichen der Schwäche, deshalb hatten die von Offizieren vergossenen Tränen eine besondere Bedeutung. Sie signalisierten das große Ausmaß der Trauer und die Außergewöhnlichkeit der Situation. Weinen ist in diesem Zusammenhang mehr als eine spontane Gefühlsäußerung, es kann auch als performativer Akt begriffen werden, um der Trauer demonstrativ Ausdruck zu verleihen. Wegen der gelenkten Öffentlichkeit des Zarenreichs im 19. Jahrhundert sind Zeitungen eine problematische Quelle, um der Stimmung in der Bevölkerung auf die Spur zu kommen. Eine weitere Quellengattung, die Reaktionen auf die Ermordung Alexanders II. widerspiegelt, hat Julia Safronova ebenfalls untersucht: die untertänigen Adressen, die als Reaktion auf die Attentate auf den Zaren beim Hof eingingen. Diese Zuschriften haben bereits bei der Analyse des Attentats von Dimitrij Karakozov durch Claudia Verhoeven eine Rolle gespielt.368 Nach der „Katastrophe des 1. März 1881“ liegen sie allerdings in weit größerer Menge vor. Die aus Sicht der Obrigkeit angemessene Reaktion auf das Attentat vom 1. März 1881 konnte durch die Veröffentlichung einiger der untertänigen Adressen im Pravitel′stvennyj vestnik orchestriert werden. Trotz des ritualisierten Rahmens der untertänigen Adressen, die eher von der Funktionsweise und Wirksamkeit des emotionalen Regimes künden als von echter Trauer, erstaunt doch die große Anzahl der Loyalitätsschreiben. 369 Diese Menge suggeriert zumindest, dass eine große Zahl von Untertan*innen aus allen Teilen des Reiches bereit war, sich in die emotionale Gemeinschaft der Trauernden, die einem obrigkeitlichen

364 Vgl. z. B. die Berichte aus Moskau und Krasnojarsk: Ebd. Aus Tiflis, Riga, Char′kov, Odessa und Irkutsk: Chronika, in: Golos, 5. März 1881 Zu Komisarov vgl. nochmal: Verhoeven, The odd man Karakozov, 2009, S. 72. 365 Vgl. z. B. Miljutin/Zajončkovskij (Hg.), Dnevnik D. A. Miljutina, 1950, S. 270–272. Ein Beispiel dafür sind auch die Erinnerungen von Meščerskij, Moi vospominanija, in: Kel′ner (Hg.), 1 marta 1881 goda, kazn′ Imperatora Aleksandra II, 1991, S. 191–194. 366 Safronova, Smert′ gosudarja, 2010, S. 166–184. 367 Petr A. Valuev, Dnevnik 1877–1884, Petrograd 1919, S. 147–148. 368 Verhoeven, The odd man Karakozov, 2009, S. 72. 369 Safronova, Vernopoddanničeskie adresa kak istočnik dlja izučenija obščestvennogo mnenija, in: Evropejskij Universitet v Sankt-Peterburge (Hg.), Sovremennye metody issledovanij v gumanitarnych naukach, 2008, S. 24–26.

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emotionalen Regime folgte, zu integrieren. Im Angesicht der Katastrophe erschien der Wunsch nach emotionaler Vergemeinschaftung besonders groß. Bei der Analyse der Ereignisse, die in einem zweiten Schritt folgte, kamen die Kommentatoren zu dem Ergebnis, dass das Volk Scham und Schande auf sich geladen habe. Dieser Befund war sowohl bei konservativen als auch bei liberalen Journalisten anzutreffen. Denn, so der Tenor, die Katastrophe habe sich angekündigt und dennoch habe der Staat dabei versagt, den Zaren zu schützen. Dieses Versagen mochten einige Kommentatoren nicht nur auf den Staat beziehen. So geißelte ein Journalist in der Zeitung Golos die „Apathie“ der Bevölkerung im Angesicht der Bedrohung. Mit dem Begriff der „Apathie“ grenzten die Autoren sich von jenen ab, die außerhalb der obrigkeitlichen emotionalen Gemeinschaft standen, und wiesen jenen eine Mitschuld an den Ereignissen zu. Die obrigkeitliche emotionale Gemeinschaft sollte durch gemeinsame Aktion gestärkt werden: Mit der „Apathie“ müsse Schluss sein, und die Gesellschaft müsse sich vereinigen im Kampf gegen die „kramola“ 370 (mit diesem russischen Begriff für Aufruhr oder Verschwörung bezogen sich vor allem die konservativen Kreise auf die Terrorist*innen). Diese Apathie, so Golos, habe es den Terrorist*innen erst ermöglicht, den Zaren zu töten, und deshalb hätten alle Gleichgültigen versagt: „sie haben den Zaren ermordet, aber nicht nur den Zaren. Sie haben die Seele des russischen Volkes getötet.“371 Dem emotionalen Regime zufolge war also Gleichgültigkeit ein Vergehen und konstruierte als Fremdzuweisung eine emotionale Gemeinschaft von Außenseiter*innen im Angesicht der Katastrophe des 1. März 1881.372 Diese Gleichgültigkeit (Ravnodušie) wird in zahlreichen Erinnerungen aus diesen Tagen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zugewiesen, und es wird auf solche Art eine Gruppe von Schuldigen konstruiert. So bemerkte etwa der General Aleksandr Vitmer mit einer gewissen Verwunderung in seinen Erinnerungen, dass nicht nur die Intelligencija, sondern auch „das einfache Volk“ gleichgültig auf den Zarenmord reagiert habe.373 Damit entlarvte sich der Mythos der besonderen Verbundenheit des Herrschers mit dem „einfachen Volk“. Vor allem an der Peripherie, so auch der Historiker Avrahm Yarmolinsky, hätten die Menschen die Nachricht vom Tod des Zaren mit „einer an Gleichgültigkeit grenzenden Ruhe“ aufgenommen.374 Durch diese Fremdzuweisung von Gleichgültig wird abermals ein Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie als zwei konkurrierenden emotionalen Gemeinschaften aufgebaut.

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Golos, 3. März 1881. Interesy dnja, in: Golos, 8. März 1881. Safronova, Smert′ gosudarja, 2010, S. 166–184. Aleksandr N. Vitmer, Čto videl, slyšal, kogo znal … Vospominanija, Sankt-Peterburg 2005, S. 529. Avrahm Yarmolinsky, Zaren und Terroristen. Der Weg zur Revolution, o. O. 1968, S. 336.

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Mitten aus dem Zentrum und doch aus einer marginalisierten Perspektive stammen Erinnerungen, die belegen, dass es außerhalb der emotionalen Gemeinschaften von Trauer und Freude durchaus nicht apathische Reaktionen auf die Ermordung Alexanders II. gab. So berichtet etwa der jüdische Historiker Simon Dubnow, der 1881 illegal in der Hauptstadt des Reiches lebte, in seinen Erinnerungen von seinem eigenen Erlebnis des 1. März: Die Abenddämmerung hatte schon von meiner ärmlichen Kammer im Haus am Semnaja Rynok Besitz ergriffen, als die Wirtin eintrat und sagte, dass der Zar in der Nähe des Newski ermordet worden sei. Ich ging ins Nebenzimmer und hörte von meinem Vermieter, einem Arbeiter, der gerade nach Hause gekommen war, dass das Volk die Sadowaja überschwemme, Aushänge mit offiziellen Mitteilungen studiere und dass die Händler des Semnaja Rynok drohten, mit den ‚Studenten‘, den Schuldigen des Terrors, abzurechnen.375

Diese Reaktion zeugt zwar nicht von Trauer bei Simon Dubnow selbst, deutet aber schon auf eine gewisse Unruhe in der Hauptstadt hin. Die Händler des Heumarktes (Semnaja rynok), der in St. Petersburg als verrufener Ort galt,376 schienen auf Rache zu sinnen. Am nächsten Tag traute Dubnow sich wieder aus dem Haus, kaufte eine Zeitung (Golos) und traf sich mit anderen jüdischen Studenten und Literaten: „Erregt diskutierten wir die Ereignisse und stellten Mutmaßungen über die Zukunft an.“377 In dieser Erregung der jüdischen Studenten mochte Angst sich mit der Erwartung einer revolutionären Zukunft mischen. So diskutierten die jungen Leute auch die möglichen politischen Folgen des Attentats. Dennoch übte auch das Ereignis selbst eine gewisse Faszination aus, so beschreibt Dubnow, wie er „fieberhaft“ die Zeitungen studierte: „In den folgenden Tagen berichteten die Zeitungen über die massenhafte Verhaftung von Terroristen, über entdeckte Bomben und Sprengstoff.“ Für Dubnow war der 1. März also vor allem ein Medienereignis. Dennoch versuchte er, dem Attentat auch physisch und unmittelbar näher zu kommen. Deshalb suchte er immer wieder den Tatort auf: Ich streifte in der Gegend des Newski-Prospekt und des Jekaterinen-Kanals umher, wo der Zar ermordet worden war, ging über die Malaja Sadowaja Straße, die gänzlich in die Luft gesprengt worden wäre, hätte der Zar diesen Weg genommen.378

375 Simon Dubnow, Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken: Materialien zur Geschichte meiner Zeit, Göttingen 2004–2006, Bd. I, S. 156. 376 Vgl. zum Heumarkt und seiner Entwicklung im 19. Jahrhundert: Hubertus Jahn, Der St. Petersburger Heumarkt im 19. Jahrhundert. Metamorphosen eines Stadtviertels, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996), S.  162–177; Hans-Christian Petersen, „… not intended for the Rich“. Public places as points of identification for the urban poor – St. Petersburg (1850–1914), in: Hans-Christian Petersen (Hg.), Spaces of the poor. Perspectives of cultural sciences on urban slum areas and their inhabitants, Bielefeld 2013, S. 71–96. 377 Dubnow, Buch des Lebens, 2004–2006, Bd. I, S. 156. 378 Ebd.

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In diesen Zeilen ist die Aufregung spürbar, die das spektakuläre Ereignis ausgelöst hat. Die Nachrichten über die terroristische Tat und ihre martialischen Bedingungen, die Bomben, die Mine und die tödliche Gefahr, lösten bei Dubnow eine Erregung aus, die ihn auch räumlich anzog, sodass er körperlich an den Ort des Geschehens gedrängt wurde. Von Gleichgültigkeit gegenüber dem Ereignis kann in diesen Erinnerungen nicht die Rede sein. Allerdings hatte er als verarmter und unterprivilegierter, illegal in St. Petersburg lebender jüdischer Untertan keinen Anlass, mit besonderer Zuneigung am russländischen Kaiser zu hängen, sodass vom emotionalen Regime der Trauer nichts zu spüren war. Doch obwohl Dubnow und seine Freunde sich für Politik interessierten, schienen sie auch dem Anliegen der Terrorist*innen eher abwartend gegenübergestanden zu haben. Die Terrorist*innen versuchten zwar, jene mit der terroristischen Tat anzusprechen, die der revolutionären Bewegung nahe- oder der Obrigkeit fernstanden. Dennoch gelang es ihnen nicht, diese große Gruppe, zu der z. B. Dubnow gehört hätte, mit dem Terroranschlag auf Alexander II. zu erreichen. Aus der Perspektive der emotionalen Gemeinschaft der Terrorist*innen mag dieses Verhalten als gleichgültig erscheinen. Ebenso erscheint die Bewertung „apathisch“ aus dem Blickwinkel der emotionalen Gemeinschaft der Obrigkeit folgerichtig. Die Erinnerungen Dubnows aber zeigen, dass eine breite Masse von Einwohner*innen der Hauptstadt durchaus erregt reagierte, wenn ihre Reaktion auch von den Erwartungen von Terrorist*innen und Obrigkeit abwich. Durchaus für eine emotionale Reaktion auf den Terroranschlag spricht dagegen die Tatsache, dass die Zahl der Denunziationen massiv anstieg und Terrorist*innen und andere Revolutionär*innen deshalb in großer Zahl verhaftet wurden. Dieser Umstand geht nicht nur aus den Zahlen der Verhaftungen hervor, sondern auch etwa aus den Erinnerungen von Vera Figner. Der Fahndungsdruck war gestiegen, die Polizei musste die Mörder*innen des Zaren und die Helfershelfer*innen überführen, um dem Thronfolger und der Öffentlichkeit die Täter*innen zu präsentieren. Zudem spricht die größere Zahl der Denunziationen dafür, dass der Rückhalt der Terrorist*innen bei anderen Revolutionär*innen und Sympathisant*innen schwand und dass die Bevölkerung rasch meldete, was ihr verdächtig vorkam, um den Tod des Zaren gesühnt zu sehen.379 Dabei ist bemerkenswert, dass vor allem die imperiale Metropole St.  Petersburg selbst als gefährlicher Ort für die Verschwörer*innen begriffen wurde. Hier war scheinbar die Gefahr der Denunziation besonders groß. Im Zentrum wurde jederzeit mit einer Verhaftung gerechnet, deshalb sollten z. B. Vera Figner oder Sof′ja Perovskaja an die Peripherie fliehen. Sof′ja Perovskaja wurde etwa von ihrer Milchfrau denunziert. Dennoch wurde gerade St. Petersburg als der Ort revolutionärer Tätigkeit angesehen – also auch als der Ort, an dem die Propaganda der Tat am wirkungsvollsten

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Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 157–160.

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war. Nicht nur Vera Figner, auch andere Mitglieder des Exekutivkomitees versuchten alles, um im Zentrum zu bleiben, und nahmen dafür auch die Gefahr der Verhaftung in Kauf.380 Die Terrorist*innen formten eine emotionale Gemeinschaft, die mit Freude und Erleichterung auf den Tod Alexanders II. reagierte. Der Freude wurde sehr emotional Ausdruck verliehen, dafür finden sich zahlreiche Beispiele. Vera Figner weinte beispielsweise aus Erleichterung: „[D]er Alp, der jahrzehntelang auf dem jungen Russland gelastet hatte, war beseitigt.“381 Erleichterung und Freude findet Safronova in den Erinnerungstexten von Revolutionär*innen, auch von solchen, die nicht an dem terroristischen Komplott beteiligt waren und durch das Ereignis überrascht wurden. In den Texten dominiert radost′, die Freude der Seele oder auch die Freude, die in den Gesichtern zu lesen ist.382 Doch auch angesichts des emotionalen Regimes der revolutionären „Freude“ finden sich Quellen, die diese idealtypische Reaktion konterkarieren. In der Proklamation des Exekutivkomitees vom 1. März 1881, in der die Terrorist*innen sich zu der Tat bekannten, dominiert Genugtuung über Freude. Das Exekutivkomitee schilderte die vergangenen zwei Jahre als eine Zeit, die von der schweren und opferreichen Aufgabe erfüllt gewesen sei, den Zaren zu töten, und vermeldete Vollzug. Doch trotz der Erfüllung der selbst gestellten Aufgabe suggeriert der Text zwar Erleichterung über den Tod des Herrschers, jedoch hat der 1. März in diesem Schreiben eher den Charakter eines Etappensieges. Das Exekutivkomitee erweckte nicht den Anschein, der Kampf sei vorbei.383 Tatsächlich zielte der Anschlag ja auch darauf, eine Reaktion – einen Aufruhr – in der Bevölkerung auszulösen. Zudem entsprach es der Konvention eines solchen Textes, dass Emotionen wie Freude weitgehend verborgen wurden. Nicht ausschließlich freudvoll erinnerte sich auch der Narodnik und spätere Sozialrevolutionär Vasilij Pankratov an sein Erleben des 1. März 1881.384 Zur Zeit des Anschlags war der siebzehnjährige Arbeiter nicht über die Planungen des Exekutivkomitees informiert, sodass er wie alle anderen zunächst aufgrund der Gerüchte auf der Straße von dem Attentat erfuhr. Der junge Mann machte sich auf den Weg ins Stadtzentrum, um dort Näheres zu erfahren. Auf dem Nevskij Prospekt machte er eine angespannte Stimmung aus. Zahlreiche Geschäfte waren geschlossen. „Man konnte erkennen, dass etwas Ernstes passiert war, aber niemand traute sich, darüber zu sprechen“.385 In seinen Vgl. z. B. Footman, Red prelude, 21968, S. 194–195. Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 156. Safronova, Smert′ gosudarja, 2010, S. 166–184. Ispolnitel′nyj komitet, Ot ispolnitel′nago komiteta, 1905, S. 897–898. Zu Pankratov vgl. z. B.: Gorodnickij, Boevaja organizacija partii socialistov-revoljucionerov v 1901–1911 gg., 1998. 385 Vasilij Pankratov, 1 Marta 1881. Doklad, čitannyj v Muzee Revoljucii 1 marta 1922, in: Byloe 37 (1926), Nr. 3, S. 4–12, hier S. 5. 380 381 382 383 384

Sof′ja Perovskaja: Die Hinrichtung der „Zarenmörder“

Erinnerungen dominiert das Gefühl von Unsicherheit und Furcht, das zunächst aus der unklaren Faktenlage resultierte, das aber auch die Angst vor Repressionen, vor der Polizei und vor der näheren Zukunft transportierte. Zudem trauerten Pankratovs Erinnerungen nach zahlreiche Arbeiter, die dem Zaren trotz aller politischen Propaganda und ihrer elenden Lage emotional verbunden waren. Doch selbst wenn in den Führungszirkeln der Narodnaja volja Freude über das Attentat vom 1. März 1881 geherrscht hatte, sollte dieses Gefühl schnell in Trauer umschlagen, denn die Obrigkeit vergalt die Ermordung des Herrschers mit der Hinrichtung seiner Attentäter*innen. Sof′ja Perovskaja: Die Hinrichtung der „Zarenmörder“

Der Historienmaler Vasilij Surikov begann im Jahr 1881 mit Skizzen für sein berühmtes Bild „Die Bojarin Morozova“, das 1887 fertiggestellt wurde. Feodosija Morozova starb 1675 an den Folgen von Folter und Hunger in der Haft. Sie war auf Befehl des Zaren Aleksej Michajlovič für ihr Bekenntnis zum Alten Glauben 1671 verhaftet worden und galt den Raskolniki (Altgläubigen) seither als Märtyrerin. Das Bild zeigt den Abtransport der Bojarin, die mit Ketten an einen Schlitten gefesselt ist. Stolz erhebt sie das Haupt und die Hand mit dem Zwei-Finger-Zeichen des Kreuzschlages, wie es unter den Altgläubigen üblich war. Im Moment der Verhaftung hielt sie also an ihren Überzeugungen fest. Die Bevölkerung wird in Surikovs Gemälde durch verschiedene soziale Schichten repräsentiert. In der rechten Bildhälfte sind die Symphatisant*innen der Morozova zu finden, die Mitgefühl und Trauer zeigen. Am rechten Bildrand stehen Geistliche, Adlige und Beamte, die Feodosija Morozova zu verhöhnen scheinen. In der Bildmitte befinden sich Schaulustige, die ihre Neugier befriedigen und den Schlitten verfolgen. Ein Junge rennt dem Schlitten hinterher. Das Bildnis der Bojarin Morozova repräsentiert eine adlige Märtyrerin, die mit ihrer Gegnerschaft zum Zaren das Volk in verschiedene emotionale Gemeinschaften spaltet. Als Surikov mit dem Gemälde im Jahre 1887 an die Öffentlichkeit ging, erregte es großes Aufsehen. Die Zeitgenoss*innen verstanden das Bild als Anspielung auf die Hinrichtung der Terroristin Sof ′ja Perovskaja am 3. April 1881 und die Reaktionen der Bevölkerung darauf.386 Obwohl am 3. April 1881 fünf Terrorist*innen hingerichtet wurden, konzentrierte sich die Nachwelt vor allem auf Sof ′ja Perovskaja. In den Quellen, die direkt oder mittelbar von der Hinrichtung der Zarenmörder*innen berichten, spielt die erste Frau, die im Russischen Reich aufgrund eines politischen Verbrechens hingerichtet wurde, eine

386 Marie Schäfer, Historienmalerei und Nationalbewusstsein in Russland 1860–1890, Köln 1985, 134–135, 152–154. Vgl. auch: Heiko Haumann, „Held“ und „Volk“ in Osteuropa. Eine Annäherung, in: Osteuropa 57 (2007), H. 12, S. 5–16.

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zentrale Rolle.387 Die Vollstreckung des Todesurteils an Sof ′ja Perovskaja überlagerte alle weiteren möglichen Deutungen oder Sinngebungen in der Rezeptionsgeschichte des Ereignisses, obwohl während des Geschehens selbst vor allem die Erhängung von Timofej Michajlov für Gesprächsstoff sorgte.388 Die Hinrichtung machte aus Sof ′ja Perovskaja eine Märtyrerin nicht nur der radikalen revolutionären Bewegung, sondern eine Integrationsfigur für alle Kritiker*innen der zarischen Herrschaft. Ihre Tötung erwies sich also für die zarische Obrigkeit als kontraproduktiv. Der Staat lernte aus seinen Fehlern, zumindest zunächst, denn daraufhin wurde für die nächsten 25 Jahre an keiner weiteren Frau aus politischen Gründen ein Todesurteil vollstreckt.389 Deshalb soll an dieser Stelle die Wahrnehmung der Person Perovskajas und ihrer Hinrichtung untersucht werden. Das Leben und Sterben Sof ′ja Perovskajas ist auf zahlreichen Wegen überliefert.390 Besonders augenfällig wird ihre Bedeutung als Erinnerungsikone der terroristischen Bewegung im Russischen Reich am Beispiel des Films „Sof ′ja Perovskaja“, der 1967, zum fünfzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution, von Lev Arnštam gedreht wurde. Dmitrij Šostakovič komponierte die Musik zu dem Film. Besonders bekannt wurde sein Walzer, der ebenfalls den Namen „Sof ′ja Perovskaja“ (op. 132) trug. Die wichtigsten zeitgenössischen Quellen, die für die Überlieferung ihrer Biographie von Bedeutung waren, sind die Erinnerungen von Sergej Kravčinskij, von Vera Figner und von Sof ′jas Bruder Vasilij Perovskij.391 Ihrer Nähe zum Gegenstand gemäß sind diese Quellen sehr emotional gehalten. Wenn Kravčinskij die Terrorist*innen der Narodnaja volja mit Hilfe seiner „Revolutionären Profile“ zu Celebrity icons stilisierte,392 dann gilt dies besonders für die biographische Skizze von Sof ′ja Perovskaja, die an Länge und Empathie alle anderen Essays weit übertrifft.393 Auch die Erinnerungen Vera Figners an Perovskaja stammen aus der Feder einer Freundin.394 Diese emotionalen Aufzeichnungen der beiden literarisch besonders begabten Terrorist*innen, die 387 Vgl. z. B. Iz oficial′nogo otčeta o soveršenii smertnoj kazni, in: Kel′ner (Hg.), 1 marta 1881 goda, kazn′ Imperatora Aleksandra II., 1991, S. 343–351. 388 Vgl. z. B. Lev Planson, Vospominanija. Kazn′ careubijc, in: Kel′ner (Hg.), 1 marta 1881 goda, kazn′ Imperatora Aleksandra II., 1991, S. 357–367. 389 Vgl. dazu auch: Boniece, The Spiridonova case, 1906, 2003, hier S. 584. Erst am 29. August 1906, nach der Einführung der Standgerichte durch Stolypin, wurde Zinaida Konopljanikova wegen der Ermordung von General Min am 12. August desselben Jahres hingerichtet. Vgl. Anna Hillyar / Jane McDermid, Revolutionary women in Russia. 1870–1917: A study in collective biography, Manchester 12000, S. 135. 390 Aleksandra I. Kornilova-Moroz, Sof, Moskva 1930; Nik Ašešov, Sof ′ja Perovskaja. Materialy dlja biografii i charakteristiki, Peterburg 1920; Z. Achtyrskaja, Careubijca, Moskva [u. a.] 1930; Sofija Perovskaja, Berlin 1903. 391 Vasilij L. Perovskij, Vospominanija o sestre Sof ′e Perovskoj, Moskva, Leningrad 1927. 392 Vgl. zu den Celebrity icons vor allem: Patyk, Remembering „The Terrorism“, 2009, S. 758–781. 393 Kravčinskij, Grozovaja tuča Rossii, 2001, S. 102–128; Sandra Dahlke, Old Russia in the dock. The trial against mother superior Mitrofaniia before the Moscow district court (1874), in: Cahiers du Monde Russe 53 (2012), H. 1, S. 95–120. 394 Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 160–165.

Sof′ja Perovskaja: Die Hinrichtung der „Zarenmörder“

in der Trauer über den Tod der Kameradin gipfelten, haben die Leser*innen in allen Zeiten der Rezeptionsgeschichte bewegt. Sie inspirierten einen großen Teil der Darstellungen über die Verschwörer*innen des 1. März 1881 und über ihre Hinrichtung. Sof ′ja Perovskaja ist die erste Märtyrerin der russischen revolutionären Bewegung und damit wie Vera Zasulič oder Marija Spiridonova eine der zentralen Frauenfiguren in der Geschichte des Terrorismus.395 In den Quellen über ihr Leben und Sterben finden sich alle Attribute, die ein Narrativ über Frauen und Gewalt so faszinierend für das Publikum machen und deshalb das Interesse der Zeitgenoss*innen und der Nachwelt für die Terroristinnen befeuern. Während aber die Biographien von Zasulič und Spiridonova in den verschiedenen Phasen der Rezeption immer auch die historische Forschung inspiriert haben, fehlt eine moderne Biographie aus der Perspektive der Gender Studies zur Person Perovskajas.396 Eine eingehende Untersuchung ist ein Desiderat, zeigt ihre Geschichte doch beispielhaft, welche Besonderheiten die Wahrnehmung von Frauen in der Geschichte und in der Gegenwart des Terrorismus bedingen. Dieser weiße Fleck in der Forschung sticht umso mehr ins Auge, weil es eine solche Fülle von Narrativen über Perovskaja gibt397 und ihre Person die Menschen in allen Phasen der Geschichte faszinierte. Im Rahmen dieser Arbeit kann diese Lücke nicht geschlossen werden.398 Weil aber die Wahrnehmung von Frauen im Terrorismus für die Kommunikationsgeschichte politischer Gewalt eine so wichtige Rolle spielt, soll das Leben und Sterben der Perovskaja hier exemplarisch eingehender untersucht werden. Vielleicht kann dieser Problemaufriss eine größere Untersuchung über Perovskaja in erinnerungs-, geschlechter- und gewaltgeschichtlicher Perspektive anregen. Dem im 19. Jahrhundert im Russischen Reich verbreiteten weiblichen Rollenklischee entsprechend, galt es zunächst als ungewöhnlich, dass Frauen sich an der Ausübung politischer Gewalt beteiligten. Frauen traten zwar nicht ausschließlich als Opfer von Gewalt in Erscheinung. Es gab auch Gewaltverbrechen, die von Frauen ausgeübt wurden. Das an sich war schockierend, wurde aber als Sensation mit einer Art wohligem Schaudern in der Presse diskutiert. 399 Louise McReynolds konnte zeigen, dass

395 Vgl. zu Zasulič und Spiridonova die Darstellungen von: Siljak, Angel of vengeance, 2008; Boniece, The Spiridonova case, 1906, 2003, S. 571–606. Außerdem: Patyk, Dressed to kill and die, 2010, S. 192–209. Vgl. zu der geschlechterstereotypischen Historiographie über die Terroristinnen im Russischen Reich im frühen 20. Jahrhundert: Nadezda Petrusenko, Women in the world of gender stereotypes. The case of Russian female terrorists in the beginning of the 20th century, in: International Journal of Humanities and Social Sciences 1 (2011), H. 4, S. 135–146. 396 Als geschlechtergeschichtliche Analyse nicht überzeugend ist: Walther Schmieding, Aufstand der Töchter. Russische Revolutionärinnen im 19. Jahrhundert, München 1979. 397 Neben dem Film über die Perovskaja vgl. auch: Trifonov, Ungeduld, 1975; Vol′f G. Dolgij, Porog. Povest′ o Sof ′e Perovskoj, Moskva 1974. 398 Mehr dazu hier: Hilbrenner, The Perovskaia paradox or the scandal of female terrorism in nineteenth century Russia (2016). 399 Alexandra Oberländer, Weibliche Kriminalität im Sankt Petersburg des späten 19. Jahrhunderts. Der Fall Ol′ga Palem und das Bild der Frau in Kriminologie und Öffentlichkeit, 2001; Alexandra Oberländer,

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z. B. Frauen, die ihre Liebhaber ermordeten, weil sie von ihnen verlassen worden waren, unter bestimmten Umständen mit dem Verständnis der Geschworenen rechnen konnten.400 Ein Zeitgenosse des Prozesses gegen Vera Zasulič berichtete voller Empörung, dass es scheinbar die Regel sei, „dass Frauen, die ihre Hände mit dem Blut ihrer Liebhaber tränkten, den Gerichtssaal begnadigt verlassen.“401 Vera Zasulič wurde ihrerseits begnadigt, weil die Geschworenen ihr unterstellten, sie habe aus Mitgefühl oder aus Rache gehandelt. Ein politisches Motiv wurde ihr von ihrem Verteidiger nicht unterstellt, um die Meinung der Jury nicht gegen sie aufzubringen.402 Viel größer aber war der Normverstoß, wenn Frauen Gewalt nicht aus Gründen des Herzens  – aus Mitgefühl, Rache, Liebe oder Verzweiflung  – ausübten, sondern aufgrund vermeintlich rationaler politischer Überzeugungen, wie sie der Terrorismus impliziert. Weder eine terroristische Tat selbst noch die Planung oder Organisation einer solchen wurde Frauen zugetraut. Der öffentliche Ankläger im Prozess der Zarenmörder*innen am Sondergericht des Regierenden Senats Nikolaj Murav′ev entsprach diesen Vorstellungen, als er ausführlich seiner Fassungslosigkeit darüber Ausdruck verlieh, dass die „blutige Tat“ des Zarenmordes von einer Frau organisiert worden sei.403 Zunächst stellte Murav′ev Željabov als führenden Kopf des Anschlages auf den Zaren dar und beschrieb seine Omnipräsenz in den Zeugenaussagen und Unterlagen der politischen Polizei. Nachdem er die zentrale Rolle des Angeklagten Željabov ausführlich dargestellt hatte, versuchte er, die Bedeutung des mittlerweile in der Öffentlichkeit berüchtigten Exekutivkomitees mit Blick auf die Angeklagte Sof ′ja Perovskaja zu dekonstruieren: Ich frage mich, warum das Exekutivkomitee […] als Željabov verhaftet wurde, keine stärkere Hand, keinen stärkeren Intellekt, keinen erfahreneren Revolutionär fand als Sof ′ja Perovskaja? Wie kann es sein, dass man eine solche Aufgabe in die zarten Hände einer Frau legt, auch wenn sie die Zimmergenossin von Željabov war?404

Die rhetorischen Fragen des Staatsanwaltes gipfelten im Ausdruck der Fassungslosigkeit darüber, dass eine Frau ein solches Grauen verursachen kann, ein Grauen, „größer,

Unerhörte Subjekte. Die Wahrnehmung sexueller Gewalt in Russland 1880–1910, Frankfurt am Main 2013; Louise McReynolds, Witnessing for the defense. The adversarial court and narratives of criminal behaviour in nineteenth-century Russia, in: Slavic Review 69 (2010), H. 3, S. 620–644, hier S. 638. 400 McReynolds, Witnessing for the defense, 2010, S. 620–644. 401 Zitiert nach: Samuel Kucherov, Courts, lawyers, and trials under the last three tsars, Westport, Conn 1974, S. 221. 402 Aleksandrov, Iz reči prisjažnogo poverennogo P. A. Aleksadrova v zaščitu V. I. Zasulič 31 marta 1878 g., in: Budnickij (Hg.), Istorija terrorizma v Rossii v dokumentach, 21996, S. 68–73. 403 Sudebnaja Chronika. Delo o soveršonnam′ 1-go marta – zasedanie 28-go marta, in: Golos, 4. April 1881, hier S. 6. 404 Ebd.

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als es die Seele verkraften kann“. Die Angeklagte Perovskaja war aber nicht zufällig in diese unnatürliche Situation geraten, sondern hatte „den ganzen Winter über geplant, den Zaren zu töten“. Das Plädoyer Murav′evs, mit dem er ein Spannungsfeld zwischen den Polen zeitgemäßer idealer Weiblichkeit und terroristischer Gewalt aufbaute, blieb nicht den Zuhörenden im Gerichtssaal vorbehalten, sondern erreichte über die Zeitungen, in denen das Plädoyer in voller Länge abgedruckt wurde, eine breite Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit von Gerichtsprotokollen, die seit der Justizreform von 1864 gewährleistet war, machten Gerichtsprozesse zum Politikum. Das galt insbesondere für einen Prozess, in dem ein politisches Verbrechen verhandelt wurde. 405 Deshalb prägten die Gerichtsprozesse die zeitgenössischen Debatten, in denen neben den großen politischen Fragen auch andere, wie z. B. Geschlechterthemen, verhandelt wurden.406 Murav′evs Bemerkungen öffneten den Kommunikationsraum über weibliche Gewalt und gaben die Richtung vor, in welche die Diskussion über das Thema zielte. Vor allem, so insistierte der Staatsanwalt, blieb die gewalttätige Frau ein Paradoxon. Murav′ev implizierte mit seinen rhetorischen Fragen, dass Frauen Männern an starker Hand, Intellekt und an Erfahrung per se unterlegen seien. Eine Frau, so lassen Murav′evs Einlassungen schließen, zeichne sich eher durch Zartheit aus. Dass Sof ′ja Perovskajas Handlungen diesem Rollenbild widersprachen, wollte der Ankläger als etwas Unnatürliches darstellen. Dass die zarte Perovskaja einen Winter lang kühl die Ermordung des Zaren geplant hatte und damit ein Verbrechen, das die Seele des russischen Menschen verletzte, erschien eben aufgrund des inneren Widerspruchs von Zartheit und Grausamkeit monströs. Es ist allerdings fraglich, ob die Leser*innen das Paradoxon weiblicher Gewalt in der Gestalt Sof ′ja Perovskaja ebenso wie Murav′ev mit Unnatürlichkeit erklärt haben oder ob dieses Paradoxon nicht vielmehr eine gewisse Faszination ausgeübt hat, welche sowohl Weiblichkeit als auch Gewalt in eine höhere Sphäre gehoben hat, wie es z. B. ein zeitgenössischer Bericht in der New York Times suggerierte. Sof ′ja Perovskaja wurde dort, ebenso wie Vera Zasulič, als „zerstörerischer Engel“ bezeichnet und mit einer Mischung aus Verständnis und Faszination, aber auch Erschrecken charakterisiert.407 Der Terrorist und Autor Sergej Kravčinskij verstärkte diese Lesart und verlieh der Perovskaja in seiner Beschreibung eine sakrale Facette. Er bezog sich in seinem Porträt der Perovskaja ausdrücklich auf Murav′ev und arbeitet sich anschließend an ebendem Spannungsfeld ab, das sich aus dem Ideal der Weiblichkeit, welches Sof ′ja Perovskaja scheinbar verkörperte, und ihren Taten, die als

Baberowski, Autokratie und Justiz, 1996, S. 88. McReynolds, Witnessing for the defense, 2010, S. 620–622. Vgl. auch: Sandra Dahlke, Old Russia in the dock, in: Cahiers du Monde Russe (2012), S. 95–120. 407 Russian Destroying Angels. Heroines of the Revolution – Sassulitch, Bardin and Peroffsky, in: New York Times, 27. Juni 1881. 405 406

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kaltblütig und „männlich“ galten, ergab. 408 Sein erstes Augenmerk galt dem äußeren Erscheinungsbild seiner Heldin: Sof ′ja Perovskaja war seinen Worten zufolge schön. Ihre Schönheit war unschuldig und zart. „Sie war die personifizierte Mädchenhaftigkeit. Trotz ihrer 26 Jahre sah sie aus, als wäre sie gerade achtzehn.“409 Sie war klein, schlank und anmutig. Ihr Kleidungsstil war schlicht und bescheiden, wie es zum Habitus der Terroristinnen spätestens seit dem Auftreten der Vera Zasulič vor Gericht gehörte.410 Dennoch, so betonte Kravčinskij, war die Perovskaja auf leidenschaftliche Weise ordentlich und glich darin „einem Schweizer Mädchen“.411 Diese Ordnungsliebe wird in allen Bildern der Perovskaja repräsentiert durch einen auffälligen hochgeschlossenen weißen Kragen. Dieser Kragen, der vor allem in der Rezeption ihrer Person zu ihrem Merkmal wurde, spielt auch in dem letzten Brief der Perovskaja an ihre Mutter, der durch Kravčinskij überliefert wurde, eine wichtige Rolle: Und nun habe ich noch eine Bitte an Dich, liebes Mamachen: Kauf mir doch einen Kragen und Manschetten mit Knöpfen, denn Schnallen darf ich hier nicht tragen, den Kragen möglichst schmal; ich muss nämlich mein Kostüm für die Gerichtsverhandlung wenigstens ein bisschen wieder herrichten; es hat hier sehr gelitten. 412

Angesichts der Gerichtsverhandlung und der drohenden Bestrafung dachte Sof ′ja Perovskaja sehr ernsthaft über ihr Äußeres nach, das sie in aller Bescheidenheit in Ordnung bringen will. Deshalb symbolisierte ihr weißer Kragen für die Nachwelt ihre leidenschaftliche Ordentlichkeit, die Reinheit und Unschuld des „Schweizer Mädchens“. Doch zu der Unschuld des „Schweizer Mädchens“ tritt in Kravčinskijs Beschreibung die Kaltblütigkeit und Ruhe einer Priesterin der Sache, unter deren glänzender Rüstung jedoch immer ein weibliches Herz pochte.413 Dieser Dualismus von „weiblichem Herz“ und terroristischer Kaltblütigkeit hob Sof ′ja Perovskaja – und mit ihr alle Frauen, die im Terrorismus im Russischen Reich aktiv waren – aus der Sphäre des allgemein Menschlichen heraus: Zugegebenermaßen haben Frauen einen viel größeren Anteil an der göttlichen Flamme als Männer. Deshalb muss der fast religiöse Eifer der russischen revolutionären Bewegung zum größten Teil ihnen zugeschrieben werden. Und solange sie an der Bewegung beteiligt sind, wird sie unverwundbar bleiben.414 Kravčinskij, Grozovaja tuča Rossii, 2001, S. 125. Ebd., S. 102. Patyk, Dressed to kill and die, 2010, S. 207–208. Kravčinskij, Grozovaja tuča Rossii, 2001, S. 102. Deutsch zitiert nach: Stepnjak-Krawtschinski, Das illegale Russland. Revolutionäre Profile, in: Gudrun Goes (Hg.), Nicht Narren, nicht Heilige. Erinnerungen russischer Volkstümler, Leipzig 1984, S. 5–159, hier S. 41. 413 Kravčinskij, Grozovaja tuča Rossii, 2001, S. 123. Vgl. dazu auch: Patyk, Dressed to kill and die, 2010, S. 200. 414 Kravčinskij, Grozovaja tuča Rossii, 2001, S. 123. 408 409 410 411 412

Sof′ja Perovskaja: Die Hinrichtung der „Zarenmörder“

Diese spirituelle Deutung der Perovskaja legt ihr Martyrium bereits in der Beschreibung ihres Lebens an. Vera Figner erklärt die Ambivalenz im Leben und Sterben der Sof ′ja Perovskaja weniger spirituell, dafür viel stärker anhand einer normativen Zuordnung von Eigenschaften anhand der traditionellen Geschlechterrollen: Ihr allgemeiner Gesichtsausdruck mit den weichen kindlichen Linien verriet nichts von der Festigkeit des Charakters und dem eisernen Willen, den sie anscheinend vom Vater ererbt hatte. Überhaupt war in ihrer Natur weibliche Zartheit mit männlicher Strenge gepaart.415

Mit der Betonung „männlicher Strenge“ spielte auch Figner auf Perovskajas Selbstkontrolle an. Diesem Bild, das die Erinnerung an Perovskaja prägte, widersprachen die Erinnerungen von Arkadij Tyrkov, der die Tage nach dem 1. März 1881 mit Perovskaja verbrachte. Tyrkov beschrieb sie als „kopflos“ und „unverantwortlich“. Die Sorge um ihren Geliebten Željabov verleitete sie zu irrationalen Handlungen.416 Diese Charakterisierung widersprach dem idealisierenden Bild, das Figner und Kravčinskij von der Kaltblütigkeit der Terroristin Perovskaja zeichneten. Doch auch die weibliche Geschlechterrolle, die Figner Perovskaja zuschrieb, war vielschichtig. Zu dem Motiv der Mädchenhaftigkeit trat bei Figner zwar nicht die Priesterin, wie bei Kravčinskij, sondern das Motiv der Mütterlichkeit. Diese Mütterlichkeit trieb sie vor allem an in ihrer Zeit „im Volk“, als sie unter den russischen Bäuer*innen lebte und dort Kranke pflegte: „Augenzeugen erzählten, dass in ihrer Beziehung zu den Kranken unendliche Güte und mütterliche Zärtlichkeit zum Ausdruck kam.“417 Diese mütterliche Verantwortlichkeit für „das Volk“ entspricht möglicherweise auch der Herkunft Perovskajas aus dem Stand der Gutsbesitzer*innen alten Adels. Ihre „mütterliche Zärtlichkeit für das Volk“418 spiegelte das patriarchalische Ideal des „guten Grundbesitzers“, das im Russischen Reich auch verbreitet war, auf einer weiblichen Ebene wider. Ihre Herkunft aus der Hocharistokratie wird in allen Beschreibungen hervorgehoben, sie steht damit stellvertretend für die Terrorist*innen der ersten Phase, die in großer Zahl aus der adligen Oberschicht stammten. Ihr Vater, ein zarischer Würdenträger, nimmt in den Erzählungen die Rolle des Gewalttäters ein, der vor allem seine Frau, die von Sof′ja geliebte Mutter, misshandelt habe.

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Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 164. Zitiert nach: Footman, Red prelude, 21968, S. 194–195. Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 162. Ebd., S. 164.

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Lev Perovskij symbolisiert damit die führenden Persönlichkeiten des zarischen Staates, die sich am russischen Volk schuldig machen. Dabei wurde das Volk häufig allegorisch durch eine junge Frau repräsentiert.419 Er steht in den Narrativen zudem für die männliche Schuld gegenüber den Frauen, die Opfer männlicher Gewalt werden. Diese Schuld bekommt bei Figner den Charakter einer männlichen Erbsünde, denn Perovskij bringt seinen Sohn dazu, ebenfalls gewalttätig zu werden: „Er misshandelte nicht nur seine Leibeigenen, sondern auch die Mutter seiner Kinder, ja, er zwang dazu auch seinen kleinen Sohn.“420 Sof′ja Perovskajas ganze Zuneigung galt der Mutter, dem Opfer dieser Gewalt, die als Symbol für das unterdrückte russische Volk verstanden werden kann: In der schweren, drückenden Familienatmosphäre lernte Sofja Lwowna den Menschen, den Leidenden, lieben, so wie sie ihre misshandelte Mutter liebte, mit der sie bis zu den letzten tragischen Tagen ihres Lebens durch Zärtlichkeit und Liebe verbunden blieb.421

Die Texte von Vera Figner und von Sergej Kravčinskij legen nahe, dass es dieses Unrecht und diese gewaltsamen Übergriffe des Vaters gegenüber der Mutter waren, die aus dem zarten Mädchen die Terroristin machten. Der sympathisierende Zeitgenosse Alphons Thun leitete aus diesen Erlebnissen die Entwicklung der zarten Pervoskaja zu etwas Ungeheuerlichem ab – zu einer Emanze, die nicht nur die Mächtigen, sondern auch die Männer als solche ablehnte: „Überhaupt war sie eine ‚weibliche Patriotin‘ und erklärte die Männer für niedriger stehend als die Frauen; ernsthafte Achtung hatte sie vor Wenigen.“422 Doch durch die Verbindung mit dem männlichen Helden der terroristischen Bewegung wurde für Alphons Thun diese ihm widernatürlich erscheinende Einstellung aufs Romantischste zurechtgerückt: „Ihr letztes Lebensjahr soll (der Biograph ist dessen nicht ganz sicher) das erste Jahr der Liebe gewesen sein. […] Scheljäbow aber war ihr geistig gewachsen; auch waren beide schöne Menschen.“423 Željabov und Perovskaja galten, nicht zuletzt durch ihren Auftritt vor Gericht, in den Augen der Öffentlichkeit als die beiden führenden Persönlichkeiten der Narodnaja volja und deshalb gleichsam zwangsläufig als ein Liebespaar. Diese Verbindung überschritt die im Russischen Reich noch mächtigen Standesgrenzen: Perovskaja stammte aus einer aristokratischen Familie, Željabov war der Sohn von Leibeigenen. In der revolutionären Bewegung spielte die soziale Herkunft keine Rolle, und Verbin-

419 Vgl. dazu auch dieselbe narrative Figur, die für die Rezeption des Falls Spiridonova ausschlaggebend war: Boniece, The Spiridonova case, 1906, 2003, S. 571–606. 420 Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 161. 421 Ebd. (Hervorhebung wie im Original). 422 Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S. 260. 423 Ebd.

Sof′ja Perovskaja: Die Hinrichtung der „Zarenmörder“

dungen über soziale Trennlinien hinweg waren an der Tagesordnung. In der breiteren Öffentlichkeit jedoch erschien diese Verbindung durchaus bemerkenswert: Das partielle Ausbrechen aus den sozial vorgegebenen Geschlechterrollen, für das Sof ′ja Perovskaja stand, provozierte auch Narrative, die sexuelle Grenzüberschreitungen imaginierten. Diese scheinen im Spannungsfeld von weiblicher Geschlechterrolle und Gewalt angelegt. Gewaltverbrechen von Frauen im Zarenreich wurden häufig aufgrund ihres skandalträchtigen Hintergrundes von einer breiten Öffentlichkeit angeregt diskutiert. Louise McReynolds hat sich in ihren Forschungen mit den Narrativen über Täterinnen vor Gericht nach der Justizreform Alexanders II. beschäftigt.424 Bei den von ihr diskutierten Fällen aus den Jahren 1866, 1880 und 1895 handelte es sich jeweils um Frauen von zweifelhaftem Ruf, die ohne Trauschein mit ihren Liebhabern zusammenlebten und von ihnen die Eheschließung forderten. Weil ihre Liebhaber nicht in die Eheschließung einwilligten, wurden sie von den „entehrten“ Frauen mit der Schusswaffe lebensgefährlich verletzt. In diesen Kontexten wurde vor Gericht und daraufhin in der Öffentlichkeit die geistige Gesundheit der Angeklagten diskutiert. Dabei wurden ihre unehelichen Kinder, andere Liebhaber sowie Fragen der Religiosität und Konversion mitverhandelt. In mindestens zwei Fällen rückten die Angeklagten in der öffentlichen Debatte in die Nähe der Prostitution. Der Verstoß gegen die gesellschaftliche Norm des Tötungsverbotes wurde im öffentlichen Diskurs von den Verstößen der Frauen gegen moralische Normen im Sinne einer sexuellen Freizügigkeit begleitet. Dennoch wurde den Frauen zumindest von Teilen der Gesellschaft zugutegehalten, dass ihnen gegen die guten Sitten die Ehe von ihren Liebhabern vorenthalten wurde. Deshalb wurde ihr Normverstoß vergleichsweise milde bestraft. Sof ′ja Perovskaja hatte mit ihrem ungeheuerlichen Verbrechen – dem Zarenmord – gegen zahlreiche gesellschaftliche Normen verstoßen. Als Drahtzieherin des Anschlages konterkarierte sie zudem das gesellschaftliche Rollenverständnis, nach dem Frauen unter den Umständen illegaler politischer Konspiration allenfalls als Abhängige handeln konnten. Diese doppelte Übertretung der Regeln als Mensch und als Frau evozierte auch in ihrem Fall Phantasien über ein Frauenleben jenseits gesellschaftlich akzeptierter Moralvorstellungen. So lieferte der Prozessberichterstatter der London World, der das Verfahren gegen die Zarenmörder*innen begleitete, unter dem bezeichnenden Titel „French Nihilists“ eine eingehende und faszinierte Beschreibung der Perovskaja, der diese Wahrnehmung deutlich transportierte. Sof ′ja Perovskaja sei ebenso schön wie kaltblütig, ausgezeichnet ausgebildet und von hervorragender Herkunft. Ausführlich und suggestiv berichtete der Reporter zudem über die unterstellten Lebensumstände der Konspiration: The disciples of Nihilism professedly despise both the marriage tie and all those delicate sentiments which costumarily characterize the relations between the sexes. Sophie Pi424

Vgl. z. B. McReynolds, Witnessing for the defense, 2010, S. 620–644.

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offsky [sic], though delicately nurtured and brought up in refined society, was living as Hartmann’s wife when she gave the signal for the attempt to blow up the Imperial train at Moscow. She returned but recently from abroad to take an active part in the late plot, and on arrival immediately joined Jeliaboff [sic], the chief conspirator, and lived with him as his wife till the moment of his arrest.425

Die Tatsache, dass Hartmann, der ehemalige Gefährte der Perovskaja, durch die Hartmann-Affäre426 wohlbekannt war, verstärkte die Wirkung dieses süffigen Gerüchts. Dieses Leben außerhalb der gesellschaftlichen Moralvorstellungen, das die junge und schöne Adlige Sof ′ja Perovskaja dazu brachte, in rascher Folge sowohl mit Hartmann als auch mit Željabov „wie eine Ehefrau zusammenzuleben“, schien sogar für andere junge Frauen aus den besseren Kreisen ansteckend zu sein, wie der Londoner Reporter vielsagend andeutete: „Many young ladies of position appear to have beguiled into more or less complicity with the Nihilist party.“427 Was in der ausländischen Presse relativ unverblümt diskutiert wurde, scheint auch zwischen den Zeilen in den russländischen Zeitungen auf. So echauffierte Murav′ev sich darüber, dass Perovskaja Željabovs Rolle eingenommen habe, weil sie seine „Zimmergenossin“ (sožitel′nica) war. In diesem Begriff scheint ein fest verwurzeltes moralisches Urteil über die Lebensumstände von weiblichen Radikalen auf, das im Russischen Reich bereits seit den Zeiten Karakozovs Tradition hatte. So wurde in einem Bericht der Dritten Abteilung aus dem Jahre 1869 eine „typische“ Nihilistin beschrieben: Sie trägt kurzes Haar, blaue Brillengläser, ist nachlässig gekleidet, lehnt den Gebrauch von Kamm und Seife ab und lebt in Zivilehe mit einem oder mehreren ebenso abstoßenden Individuen des männlichen Geschlechts.428

Zum revolutionären Lebensstil gehörte, so schien es der Geist der Zeit zu wissen, eine gewisse sexuelle Zügellosigkeit, die vor allem weibliche Promiskuität bedingte und sich damit über zeitgenössische Moralvorstellungen hinwegsetzte. Wo also auf der einen Seite der revolutionäre Chronist Sergej Kravčinskij Perovskaja in ihrer Reinheit und Mädchenhaftigkeit als „Priesterin“ in die Sphäre des Sakralen rückte, da suggerierten die Strafverfolgungsinstitutionen moralische Verworfenheit und sexuelle Zügellosigkeit abseits der Normen der guten Gesellschaft. Doch auch dieses Spannungsfeld zwischen den Polen Heilige und Hure mag die Faszination, die von ihr auf die öffentliche Wahrnehmung ausstrahlte, noch befördert haben.

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French Nihilists. From the London World, in: New York Times, 27.4.1881. Vgl. dazu Wurr, Terrorismus und Autokratie, 2015, S. 116–117. French Nihilists, in: New York Times, 27.4.1881. Zitiert nach: Yarmolinsky, Zaren und Terroristen, 1968, S. 152.

Sof′ja Perovskaja: Die Hinrichtung der „Zarenmörder“

Der Zeitungsbericht deutet bereits an, dass sich das Interesse der Öffentlichkeit während des Prozesses gegen die Zarenmörder*innen, der am 26. März 1881 begann, auf Sof ′ja Perovskaja konzentrierte.429 Die anderen Angeklagten wurden von der Presse als weniger interessant beschrieben. Nikolaj Rysakov war der Verräter, der mit den Behörden zusammengearbeitet hatte und nun versuchte, seine Rolle bei der Verschwörung herunterzuspielen, Timofej Michajlov und Gesja Gel′fman galten als Helfershelfer, die nicht direkt an der Tat beteiligt waren.430 Nikolaj Kibal′čič machte ebenfalls großen Eindruck auf einen Teil der Öffentlichkeit, auch wenn er vorrangig damit beschäftigt war, sein ingenieurtechnisches Erbe, die Raketentechnik und die gerade von ihm erfundene Flugtechnik, weiterzugeben. Für ihn interessierten sich neben den Revolutionär*innen vor allem diejenigen, die seine Faszination für die Bombe und das technisch Machbare teilten.431 Für eine breite Öffentlichkeit war neben Perovskaja vor allem Željabov interessant, der als „der intelligenteste“432 Terrorist galt, weil er die Rolle des Wortführers der Verschwörer*innen übernahm und die Tat in einem politischen Kontext zu erläutern suchte.433 Sof ′ja Perovskaja bekannte sich, ebenso wie Željabov, zu ihren Taten und ihren Beweggründen. Sie gab Einblick in die Planungen und in das Vorgehen, weigerte sich aber, die Namen von Mittätern und Hintermännern zu nennen. Eine Ausnahme war der Name Rysakovs, der selbst geständig war, die konspirative Wohnung in der Teležnaja Strasse preisgegeben und damit Gesja Gel′fman und Timofej Michajlov ausgeliefert hatte.434 In den Prozessunterlagen ist dementsprechend auch der Name Ignatij Grinevickijs, der die zweite tödliche Bombe auf den Zaren warf und dabei selber starb, nicht bekannt.435 Der Prozess, der die russländische und internationale Öffentlichkeit erregte, endete mit dem Todesurteil für alle sechs Angeklagten. Das Urteil wurde für die schwangere Gesja Gel′fman bis zur Geburt ihres Kindes ausgesetzt. Sie brachte ihr Baby zur Welt, das am 25. Januar 1882 in einem Waisenhaus starb. Wenige Tage später starb auch Gesja Gel′fman.436 Die übrigen fünf Verurteilten wurden am 3. April 1881 zwischen neun und zehn Uhr morgens auf dem Semenovskij Platz hingerichtet.437 Der Ort der Hinrichtung steht in der Tradition der öffentlichen Todesurteile gegen politische Straftäter, die in St. Pe-

429 Russia and the Nihilists. Sophie Pieoffsky as a Chief Mover in the Czar’s Murder, in: New York Times, 31.3.1881. 430 Vgl. zu Gesja Gel′fman auch: Kravčinskij, Grozovaja tuča Rossii, 2001, S. 92–95. 431 Barbara A. Engel / Clifford N. Rosenthal / Alix K. Shulman / Mollie Steimer / Ahrne Thorne (Hg.), Five sisters. Women against the tsar, New York 1975, S. 129. 432 Assassins of the Czar, in: New York Times, 10. April 1881. 433 Reč Željabova, in: Kel′ner (Hg.), 1 marta 1881 goda, kazn′ Imperatora Aleksandra II., 1991, S. 310–318. 434 Perovskaja, Pokazanija S. L. Perovskoj, 1991, S. 256–262; Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 165. 435 Vgl. dazu: Delo 1-go marta 1881 g., 1906. 436 Vgl. Kravčinskij, Grozovaja tuča Rossii, 2001, S. 94–95; Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 720. 437 Iz oficial′nogo otčeta o soveršenii smertnoj kazni, 1991, S. 343–351.

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tersburg auf dem Semenovskij Platz vollstreckt wurden, wie etwa gegen den Attentäter Ippolit Mlodeckij, der versucht hatte, Loris-Melikov zu töten. Zugleich verweist der Platz auf die Inszenierung der Hinrichtung als öffentliches Spektakel.438 Der Semenovskij Platz war nämlich außerdem der Schauplatz der ersten Zuschauersportereignisse in St. Petersburg. Bereits 1880, also noch vor der Hinrichtung der Pervomartovcy (der „Erstmärzer“, wie sie mit Blick auf das Attentat am 1. März 1881 genannt wurden), wurde auf dem Platz von der Obščestvo ochotnikov konskogo zimnego bega (Gesellschaft der Liebhaber winterlicher Pferderennen) ein Hippodrom eröffnet, das bereits 1891 modernisiert und für 4500 Zuschauer*innen erweitert wurde.439 Auch die Hinrichtungen der Verschwörer*innen des 1. März 1881 waren ein Ereignis, mit dem die Obrigkeit dem großen öffentlichen Interesse gerecht werden wollte. Mit der öffentlichen Vollstreckung der Todesstrafe sandte sie ihrerseits eine Botschaft mit Hilfe von Gewalt aus: Die gewaltsame Tat der Zarenmörder*innen wurde mit gleicher Münze heimgezahlt. Diese Form der Vergeltung war nicht unumstritten. Sowohl der Schriftsteller Lev Tolstoj als auch der Religionsphilosoph Vladimir Solov′ev – beide waren in der russländischen Öffentlichkeit berühmte Intellektuelle – baten Alexander III. um die Begnadigung der Attentäter*innen. Tolstoj schickte dem Thronfolger einen Brief, in dem er um das Leben und sogar um die Freiheit der Pervomartovcy bat. Er appellierte an den Zaren als christlichen Herrscher, der dem göttlichen Gesetz der Vergebung folgen solle. Er forderte ihn auf, die Terrorist*innen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Die Zarenmörder*innen, so unterstellte er, seien zwar einerseits von Idealen durchdrungen, auf der anderen Seite aber seien sie Gottlose, die Ruhe und Frieden von Millionen dem Zaren anvertrauten Untertan*innen störten. Diesen Irregeleiteten gelte es, als christlicher Herrscher eigene Ideale entgegenzusetzen, größer, erhabener und vom Geist der Liebe und Vergebung getragen – unabhängig davon, ob die Rechtsprechung ein anderes Vorgehen fordere.440 Vladimir Solov′ev appellierte an den Zaren in Form eines öffentlichen Vortrags, der vor etwa 1000 Zuhörenden am Abend des 28. März 1881 – also am Abend der Urteilsverkündung stattfand.441 Vor diesem gemischten Publikum äußerte Solov′ev, dass der 438 Boris M. Kirikov, Semenovskij plac, in:  P. E. Bucharkin (Hg.), Tri veka Sankt-Peterburga. Ėnciklopedija,II, 6, Sankt-Peterburg, Moskva 2003, S. 178–182. 439 Ekaterina Emeliantseva, Sports visions and sports places. The social topography of sport in late imperial St. Petersburg and its representations in contemporary photography (1890–1914), in: Nikolaus Katzer (Hg.), Euphoria and exhaustion. Modern sport in Soviet culture and society, Frankfurt/Main 2010, S. 19–40, hier S. 31–32. 440 Lev N. Tolstoj, L. N. Tolstoj – Aleksandru III. 1881 g. Marta 8–15, in: Viktor E. Kel′ner (Hg.), 1 marta 1881 goda, kazn′ Imperatora Aleksandra II. Dokumenty i vospominanija, Leningrad 1991, S. 328–335. Vgl. dazu auch: Inessa Medzhibovskaya, Tolstoy’s response to terror and revolutionary violence, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 9 (2008), S. 505–531. 441 Sobytie 1 marta i Vladimir Solov′ev. Iz donosa polkovnika Andreeva s.-peterburgskomu gradonačal′niku general-majoru N. M. Baranovu, in: Kel′ner (Hg.), 1 marta 1881 goda, kazn′ Imperatora Aleksandra II., 1991, S. 322–323.

Sof′ja Perovskaja: Die Hinrichtung der „Zarenmörder“

christliche Herrscher des christlichen Russischen Reiches die Verpflichtung habe, die Todesstrafe für die Zarenmörder*innen auszusetzen. Er verwies auf das Tötungsverbot der Bibel und ordnete dem von Gott eingesetzten Autokraten die Pflicht zu, das christliche Prinzip dem Volk im Herrschen vorzuleben.442 Das Aufsehen, das Solov′ev mit seinen öffentlichen Einlassungen hervorrief, war groß. Die Obrigkeit forderte Erläuterung, und Solov′ev musste sich rechtfertigen. Diese Rechtfertigung formulierte er in einem Brief an Alexander III. aus.443 Doch die Bitten der beiden so verschiedenen christlichen Denker, die auf ganz unterschiedliche Weise das Geistesleben im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert im Russischen Reich prägten, blieben unerhört. Der Oberprokuror des Heiligen Synod Konstantin Pobedonoscev, der Alexander III. in einem konservativen und religiösen Sinne erzogen hatte und ihn in Zukunft bei seiner reaktionären Umgestaltung des Reiches beraten sollte, reagierte in einem Brief an den Zaren auf diese Appelle und warnte: „Nein, nein und tausend Mal: Nein!“ Das Volk, so Pobedonoscev, fordere das Leben der Zarenmörder*innen für das Blut des Herrschers: „Ich bin ein Russe, lebe unter Russen und ich weiß, was das Volk fühlt und was es fordert!“444 Pobedonoscev nahm an, dass „das Volk“ eine emotionale Gemeinschaft formte, die Vergeltung für die Ermordung ihres Zaren forderte. Dieses Denken setzte sich schließlich durch, wobei unklar ist, ob Alexander III. den Zuspruch des konservativen Oberhauptes der orthodoxen Kirche für seine Entscheidung überhaupt benötigte. Die Inszenierung der Hinrichtung durch die Obrigkeit am 3. April 1881 weist wesentliche Elemente der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ehrenstrafe auf, die ursprünglich durch die öffentliche Zurschaustellung der Delinquent*innen durch Pranger, Schandtafeln oder Eselsritte ihre soziale Stigmatisierung als Strafe und Abschreckung bezweckte.445 Eine zeitgemäße Adaption des Eselsritts erfolgte durch den Transport der Verurteilten vom Untersuchungsgefängnis an der Špalernaja Straße zum Semenovskij Platz. Die Route, die durch ein gewaltiges Aufgebot an Polizei und Militär gesichert war, führte ein kleines Stück den Litejnij Prospekt hinunter bis in die Kiročnaja Straße, von dort in die Nadeždinskaja Straße bis zum Nevskij Prospekt und dann die Nikolaevskaja Straße entlang bis hin zum Ort der Hinrichtung. Die Hinzurichtenden wurden auf

442 Vladimir Solov′ev, Iz reči Vladimira Solov′eva 28 marta 1881 g., in: Kel′ner (Hg.), 1 marta 1881 goda, kazn′ Imperatora Aleksandra II., 1991, S. 323–324. 443 Vladimir Solov′ev, Pis′mo V. S. Solov′eva Aleksandry III, in: Kel′ner (Hg.), 1 marta 1881 goda, kazn′ Imperatora Aleksandra II., 1991, S. 327. 444 Konstantin P. Pobedonoscev, K. P. Pobedonoscev  – Aleksandru III, in: Kel′ner (Hg.), 1 marta 1881 goda, kazn′ Imperatora Aleksandra II., 1991, S. 337–338. 445 Vgl. z. B. Gerhard Köbler, Bilder aus der deutschen Rechtgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1988, S. 188–191. Vgl. auch als Hintergrund der Ausführungen: Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976.

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dieser Strecke in offenen Kutschen zur Schau gestellt und von zwei Scharen Infanterie und zwei Schwadronen Reiterei begleitet. Auf der ersten Kutsche saßen Rysakov und Željabov, der seinen Sitznachbarn, den Verräter, keines Blickes würdigte. 446 Auf der zweiten Kutsche saßen Michajlov und Kibal′čič außen, in der Mitte hatte man die Perovskaja positioniert. Den Verurteilten waren die Hände auf dem Rücken gefesselt, sie waren in schwarze Mäntel und Kapuzen gehüllt. Vor der Brust trugen sie alle ein Schild, das die Funktion einer Schandtafel erfüllte und auf dem in weißer Schrift Zareubijcy (Zarenmörder) geschrieben stand. Die Straßen, die der Zug passierte, waren voller Menschen. Die meisten Menschen waren offensichtlich gekommen, um an der Rache des Volkes an diesen Zarenmörder*innen teilzuhaben, wie Pobedonoscev es prophezeit hatte. Einer der diensthabenden Soldaten erinnerte sich an die feindselige Stimmung gegenüber den Verurteilten und beschrieb, dass diejenigen Vertreter*innen der Intelligencija, die den Attentäter*innen mit weißen Tüchern zuwinkten oder anderweitig Sympathien zeigten, von der Polizei vor der kollektiven Gewalt der Zuschauer*innen beschützt werden mussten.447 Diese Sympathisierenden bildeten eine eigene, konkurrierende emotionale Gemeinschaft, welche in Trauer über die Hinrichtung der Terrorist*innen verbunden war. Rachedurstig waren – zumindest zunächst – die Schaulustigen auf dem mit 80.000 Menschen überfüllten Semenovskij Platz.448 Die große Zahl der Zuschauer*innen war der Tatsache zu verdanken, dass die Hinrichtung relativ spät stattfand, und „dem warmen Frühlingswetter“449. Für das Wetter konnte die Obrigkeit nichts, aber die relativ späte Stunde entsprach der Intention, ein großes Publikum anzuziehen. Das Schafott war aus Holz errichtet, schwarz, etwa sieben mal zehn Meter groß und um 1,5 Meter erhöht. Zu beiden Seiten des Schafotts waren ebenfalls leicht erhöhte Plattformen (Logen) erbaut, auf denen ausgewählte Militärs und Mitarbeiter der Gerichtsbarkeit, sowie Angehörige der auswärtigen Botschaften und die russische sowie die internationale Presse das Geschehen aus nächster Nähe verfolgen konnten. Die schaulustigen Massen, die nicht auf den Plattformen zugelassen waren, wurden durch Kosaken auf Abstand zum Schafott gehalten. Während der gesamten Hinrichtung dröhnten Trommelwirbel über den Platz. Die fünf Zarenmörder*innen wurden von dem betrunkenen Henker Frolov und seinen zwei Gehilfen auf das Schafott geführt. Sof ′ja Perovskaja war bleich, aber gefasst. Die Verschwörer*innen des 1. März 1881 verabschiedeten und umarmten sich, dabei mieden sie den Verräter Rysakov.450 Auf dem Schafott wurde das Urteil verlesen.

446 Iz oficial′nogo otčeta o soveršenii smertnoj kazni, 1991, S.  343–351 Auch Vera Figner beschreibt das Wetter als strahlend schön und sonnig: Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 160. 447 Planson, Vospominanija, 1991, S. 357–367. 448 Vgl. zu der großen Zahl der Zuschauer: Footman, Red prelude, 21968, S. 226. 449 Iz oficial′nogo otčeta o soveršenii smertnoj kazni, 1991, S. 343–351. 450 Iz oficial′nogo otčeta o soveršenii smertnoj kazni, 1991, S. 343–351; Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 165.

Sof′ja Perovskaja: Die Hinrichtung der „Zarenmörder“

Dann wurde als Erster Nikolaj Kibal′čič gehenkt. Timofej Michajlov kam als Nächster an die Reihe. Bei dem Versuch, diesen großen und schweren Mann zu erhängen, riss der Galgenstrick zweimal. Michajlov starb erst beim dritten Versuch. Angesichts des Unvermögens des Henkers und des allgemeinen Grauens, das die Zuschauer*innen wegen ihres Mitgefühls für Michajlov erfasste, drehte sich die Stimmung. Als der schwere Körper Michajlovs das erste Mal auf das Schafott stürzte, schrien die Massen, „wankelmütig wie ein Weib“451 auf und forderten anschließend seine Begnadigung. Auch der zweite und dritte Versuch des Henkers, Michajlov zu erhängen, wurde von wütenden Protesten der Menge begleitet, die allerdings im Lärm der Trommelwirbel untergingen. Einer der anwesenden Ärzte musste eingreifen. Doch schließlich erfüllte Frolov, mühevoll und dilettantisch, aber am Ende effektiv, seine Pflicht.452 Sof ′ja Perovskaja musste das Schauspiel mit ansehen, behielt aber die Kontrolle über ihre Gefühle und beeindruckte die Öffentlichkeit bis zuletzt durch ihren Mut und ihre Entschlossenheit. Bei Željabov machte der Henker einen doppelten Knoten, um ein Unglück wie bei Michajlov zu verhindern. Diese Vorsichtsmaßnahme verlängerte das Leiden Željabovs und wurde ebenfalls von der Öffentlichkeit mit Protesten quittiert. Rysakov, der Verräter, musste alle Hinrichtungen mit ansehen und ließ die Fassung, welche Perovskaja an den Tag gelegt hatte, vermissen.453 Diese Pannen, die bei der Hinrichtung der Zarenmörder*innen geschahen, konterkarierten die Intentionen der Obrigkeit, das Bedürfnis der Bevölkerung nach Rache zu stillen, da das Verlangen nach Vergeltung in Mitleid umschlug. Deshalb wurden die Probleme bei der Hinrichtung Michajlovs und Željabovs in den offiziellen Berichten mit keinem Wort erwähnt. Sie sind deshalb auch nur in einigen Augenzeugenberichten zu finden, wie etwa in den Erinnerungen des Offiziers der Leibgarde Lev Planson oder in den Darstellungen ausländischer Journalisten.454 Trotz dieser Ereignisse stand Sof′ja Perovskaja, die erste Frau, die im Zarenreich für ein politisches Verbrechen hingerichtet wurde, im Zentrum der Berichterstattung über die Hinrichtung. Die Stärke und Gelassenheit, mit der sie ihre Strafe auf sich nahm, war Thema in den Erinnerungen der Zeitzeug*innen und in den Zeitungen weltweit. In den russischen Zeitungen wurde das offizielle Protokoll der Hinrichtung, das im Pravitel′stvennyj vestnik veröffentlicht wurde, nachgedruckt.455 In dieser Version des Geschehens fanden sich keine positiven Einlassungen über die Attentäter*innen, ebenso wurde alles ausgespart, was Mitleid mit den Verurteilten erwecken könnte. Für die Re451 Planson, Vospominanija, 1991, S.  357–367; Die Hinrichtung der Nihilisten, in: Kölnische Zeitung, 18. April 1881. 452 Vgl. dazu auch: Footman, Red prelude, 21968, S. 227; Die Hinrichtung der Nihilisten, in: Kölnische Zeitung, 18. April 1881. 453 Planson, Vospominanija, 1991, S. 357–367. 454 Wie z. B. ebd., S. 357–367; Die Hinrichtung der Nihilisten, in: Kölnische Zeitung, 18. April 1881 Vgl. dazu auch: Footman, Red prelude, 21968, S. 227. 455 Vgl. z. B. Chronika, in: Golos, 4. April 1881.

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konstruktion der Stimmungen unter den Zuschauer*innen und ihrer Sympathien und Antipathien sind also die Berichte der ausländischen Zeitungen aufschlussreicher.456 So berichtete z. B. der Korrespondent der Kölnischen Zeitung, der die Hinrichtung von der Plattform aus verfolgte, am 16. April 1881: Sophie Perowskija zeigte eine wunderbare Festigkeit, sie hatte sogar leicht gerötete Wangen, ihr Gesicht war wie immer ernst, ohne jeden Ausdruck der Prahlerei, aber echten Mutes und beispielloser Ergebenheit.457

Die Brutalität der Hinrichtung wurde durch die schlichte Schönheit und stille Entschlossenheit der Perovskaja kontrastiert, und in diesem Gegensatz wurde die Verurteilte zur moralischen Siegerin.458 Die Hinrichtung dieses Mädchens wurde so in den Augen zahlreicher Zuschauer*innen und Leser*innen selbst zum Verbrechen. Der Korrespondent der Kölnischen Zeitung offenbarte seine moralische Erschütterung mit den Worten: „Ich bin im Orient Augenzeuge von Dutzenden Hinrichtungen gewesen, allein eine solche Schinderei habe ich nie erlebt.“ 459 Mit dem Begriff „Schinderei“ beschrieb der rheinische Journalist vor allem die dilettantische Durchführung der Hinrichtung, die dafür sorgte, dass Michajlov und Željabov unnötig lange leiden mussten. Hinzu kam die oben skizzierte Empörung über die gewaltsame Tötung eines zarten und ordentlichen „Schweizer Mädchens“ aus gutem Hause, die, unabhängig von der zu sühnenden Tat, zur Ablehnung bei dem deutschen Augenzeugen führte. Darüber hinaus charakterisiert der Begriff „Schinderei“ möglicherweise auch die Art und Weise der Hinrichtung. Die Tötung von Straftäter*innen durch Erhängen galt als besonders entehrend, selbst wenn sie – anders als durch den betrunkenen Frolov – ohne Probleme durchgeführt werden konnte. In Preußen war seit Mitte des 19. Jahrhunderts für Hinrichtungen die Enthauptung vorgesehen, für militärische Straftaten die als ehrenvoll empfundene Erschießung. Zudem hatten alle deutschen Staaten seit 1851 die öffentliche Hinrichtung als Form der Exekution aufgehoben.460 Der öffentliche Charakter der Todesstrafe, die Zurschaustellung der Angeklagten und ihre Markierung durch Schandtafeln mit der Beschriftung „Zarenmörder“, die an die frühneuzeitlichen Ehrenstrafen gemahnt, mögen bei dem rheinischen Zuschauer Ablehnung ausgelöst haben. Der Verweis auf den Tatort der „Schinderei“, die „im Osten“ stattgefunden hatte, wie „Dutzende“ zuvor, legen nahe, dass der westliche Reporter in kulturgeographischer Perspektive den Osten als Ort der „Barbarei“ und

Vgl. z. B. Petersburg, 15. April, in: Die Presse, 16. April 1881. Die Hinrichtung der Nihilisten, in: Kölnische Zeitung, 18. April 1881. Vgl. zum Kampf um moralische Überlegenheit auch: Engelstein, Weapon of the weak (Apologies to James Scott), in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 4 (2003), H. 3, S. 680–683. 459 Petersburg, 15. April (Telegram), in: Kölnische Zeitung, 16. April 1881. 460 Matthias Blazek, Scharfrichter in Preussen und im Deutschen Reich. 1866–1945, Stuttgart 2010, S. 67. 456 457 458

Sof′ja Perovskaja: Die Hinrichtung der „Zarenmörder“

als rückständig begriff, war doch in seiner Heimat diese Art des Strafvollzugs nicht mehr üblich. Dennoch ist die Geschichte der Ehrenstrafe keinesfalls auf das Mittelalter oder die frühe Neuzeit begrenzt, sondern setzt sich im 20. und im 21. Jahrhundert in verschiedenen historischen Kontexten fort. Statt also Bezüge zum Pranger oder zur Schandtonne herzustellen, lohnt sich ein Blick auf die Schandtafeln der Moderne, um die Intention und Funktionsweise der Ehrenstrafe zu verstehen. Die Deutschen nutzen Schandtafeln während des Nationalsozialismus, um vermeintliche „Ehrverbrechen“ wie „Rassenschande“ zu bestrafen.461 Auch im Kontext der Kriegsverbrechen der Wehrmacht, wie bei der sogenannten Partisanenbekämpfung, kamen Schilder zum Einsatz, welche die dem Tode geweihten vermeintlichen und echten Partisan*innen durch die Straßen tragen mussten und auf denen z. B. stand: „Wir sind Partisanen und haben auf deutsche Soldaten geschossen“.462 Doch nicht nur in einem Unrechtsstaat wie dem nationalsozialistischen Deutschland waren Ehrenstrafen gebräuchlich. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden beispielsweise in Frankreich Frauen, die ein Verhältnis mit einem deutschen Besatzer gehabt hatten, mit Schandtafeln durch die Straßen geführt. Wie im Zusammenhang der „Rassenschande“ wurde mit der Ehrenstrafe in Frankreich an scheinbar unveränderliche Werte und Normen appelliert. Die geahndete Übertretung war in diesen Fällen aus der Perspektive der Strafenden eher moralisch-sittlicher Natur. Auch in der jüngeren Geschichte des Terrorismus spielen Schandtafeln eine Rolle: Die linken Terrorist*innen der RAF oder der Brigate Rosse benutzten eine adaptierte Form dieser Schilder, um mit solcherart „beschrifteten“ Fotografien ihrer Entführungsopfer Botschaften an Staat und Öffentlichkeit auszusenden.463 In den USA sind so bezeichnete shame sanctions seit Ende des 20. Jahrhunderts, vor allem im Bereich der Bagatellstrafen, verstärkt in Gebrauch. So müssen z. B. Ersttäter*innen, die wegen einer Trunkenheitsfahrt belangt werden, mit einem Schild mit der Aufschrift „I am a drunken driver“ vor dem Gerichtsgebäude stehen. Ähnliche Strafen drohen bei Ladendiebstahl. Andernorts wurden Kundennamen von Prostituierten in Zeitungen veröffentlicht.464 Der Vollzug von Strafe wird z. B. von Joel Feinberg mit gutem Grund als Kommunikationsprozess gedeutet.465 Die Ehrenstrafe sendet die Botschaft der moralischen Verurteilung und sozialen Stigmatisierung aus. Vor allem in Verbindung mit der To-

461 Vgl. z. B. Klaus Hesse, Sichtbarer Terror. Öffentliche Gewalt gegen deutsche Juden 1933–1936 im Spiegel fotographischer Quellen, in: WerkstattGeschichte 12 (2003), H. 35, S. 44–56. 462 Vgl. z. B. Bundesarchiv, Fotografie „Partisanen“, Bundesarchiv, Bild 146-1972-026-43. 463 Vgl. z. B. Petra Terhoeven, Opferbilder – Täterbilder. Die Fotografie als Medium linksterroristischer Selbstermächtigung in Deutschland und Italien während der 70er Jahre, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (2007), 7/8, S. 380–399. 464 Michael Kubiciel, Shame Sanctions  – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 118 (2006), H. 1, S. 44–75, hier S. 45–49. 465 Zur kommunikativen Funktion von Strafe vgl. Feinberg, Doing & deserving, 1970, S. 95–118.

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desstrafe können aber die Adressat*innen der Schandtafel nicht die Verurteilten sein, die, anders als bei der Praxis des „shaming“ in den USA, keine Möglichkeit der Besserung mehr besitzen. Die Markierung der Straftäter*innen erfolgt, um eine Botschaft an die Öffentlichkeit auszusenden. Zum Ziele der Abschreckung werden die Verurteilten und ihre Bestrafung zum Objekt reduziert, d. h., „die Stigmatisierung wird zum Zweck der Bildung einer rechtstreuen Gesinnung der Bevölkerung“ vorgenommen.466 Die informellen Reaktionen der Betrachter*innen, ihre Schaulust, die Schadenfreude oder ihre Rachegelüste werden zum Teil der Strafe, die solcherart nicht von den ausführenden Organen des Staates, sondern von der Öffentlichkeit ausgeübt wird. Das Volk wird damit zum „Vollstrecker“ der Strafe.467 Auf diese Weise zahlt die Obrigkeit den Terrorist*innen ihre Tat mit gleicher Münze heim. Auch die terroristische Tat will vor allem eine Botschaft aussenden. Zu diesem Zweck wird die Ermordung eines Menschen, in diesem Falle des Zaren, instrumental eingesetzt. Ebenso reduzierte die russländische Obrigkeit durch die Inszenierung der Todesstrafe als belehrendes Volksschauspiel die Vollstreckung des Urteils – und damit den Tod der Verurteilten – zum Medium einer Botschaft und ordnet diese „dem Zweck der Bildung einer rechtstreuen Gesinnung der Bevölkerung“ unter. Das Volk bzw. die „Massen“ und die emotionalen Gemeinschaften, die sich so formieren, werden ebenso wie beim terroristischen Anschlag zum integralen Bestandteil der Vollstreckung der Todesstrafe. Eine große Menschenmenge besuchte die Hinrichtung, und die öffentliche Zurschaustellung der Gewalt übertrug sich als Aggression und Erregung auf die Zuschauer*innen. Allerdings drehte sich im Laufe des Geschehens die Stimmung auf dem Platz und konterkarierte somit das Bemühen der Obrigkeit um Zustimmung und um Befriedigung eines allgemeinen Bedürfnisses nach Vergeltung. Kosaken und berittene Polizisten mussten die „schwarzen Massen“ in Schach halten, und sogar die „privilegierteren Zuschauer“ drängten sich in Richtung Schafott, um ein Stückchen des Seils zu ergattern, das der Henker verwendet hatte.468 Die Bevölkerung nahm also regen Anteil an dem gewaltsamen Geschehen. Vera Figner erinnerte sich an die Passanten, die sie an diesem Morgen in der Stadt traf: Alle waren erregt, doch niemand sah man Trauer an. Mir gegenüber saß ein schöner Mann – ein Bürger mit kohlschwarzem Haar, krausem Bart und flammenden Augen. Das schöne Gesicht war von Leidenschaft verzerrt: ein echter Henker, bereit, die Leute zu köpfen! 469

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Kubiciel, Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, 2006, S. 70. Ebd., S. 71–73. Iz oficial′nogo otčeta o soveršenii smertnoj kazni, 1991, S. 343–351. Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 160.

Die Pogrome von 1881–1882 im terroristischen Kontext

Die Gewalt, mit der die Terrorist*innen sich gegen den Staat gewandt hatten, entfesselte neue Gewalt. Die Hinrichtung der Zarenmörder*innen am 3. April 1881 und der Rachedurst der Zuschauer*innen waren nur ein Bruchteil der Aggression, die dem Zarenreich noch bevorstand. Die Pogrome von 1881–1882 im terroristischen Kontext

Die Pogromgewalt, die den Südwesten des Reiches von 1881 bis 1882 erschütterte, wird in der Regel als eine Reaktion auf die Ermordung Alexanders II. begriffen.470 In der Historiographie wird dieser Zusammenhang häufig etwas verkürzt wiedergegeben und suggeriert, die zarentreuen Untertan*innen hätten sich für den Tod des Zaren an den Jüd*innen gerächt, vor allem weil eine der Verschwörerinnen, Gesja Gel′fman, einen jüdischen Namen trug und nach den Maßstäben des Vielvölkerreiches als Jüdin galt.471 Tatsächlich gab es einen antijüdischen Reflex in Teilen der patriotischen Presse, aber kaum jemand überhöhte die Rolle Gel′fmans, sie wurde eher als Mitläuferin charakterisiert. Stattdessen waren die ethnischen Russen Sof ′ja Perovskaja und Andrej Željabov die Protagonist*innen der Berichte über den Zarenmord am 1. März 1881 und über den folgenden Prozess. Bei dem nachträglichen Versuch, ihre Taten zu legitimieren, verwiesen Pogromist*innen in Kiew auf die Rolle der Jüdin Gel′fman beim Zarenmord, und so wurde dieser Zusammenhang erst in der Rückschau zum sinnstiftenden Motiv der antijüdischen Unruhen von 1881 bis 1882 erklärt.472 Zusätzlich aber gab es unter den Zeitgenoss*innen weitere Versuche, einen Zusammenhang zwischen dem Attentat vom 1. März 1881 und den Pogromen, die am 15. März in Elisavetgrad begannen, herzustellen, diese kamen aber eher aus dem Lager der Narodnaja volja selbst. Die Ermordung des Zaren hatte eine zunächst latente Unruhe in allen Schichten der Bevölkerung ausgelöst. Alexander III., der Mann an der Spitze des Staates, ängstigte sich. Er war Zeuge der zwei Jahre andauernden Jagd auf seinen Vater geworden, die schließlich mit der Ermordung des Kaisers geendet hatte. Dieser Eindruck überzeugte ihn, dass die Terrorist*innen zu allem fähig waren. Auch die staatliche Verwaltung reagierte verunsichert und wusste die Größe der terroristischen Bedrohung nicht einzu-

470 In den Darstellungen über die Pogrome von 1881–1882 dominieren Mythen, falsche Angaben und historiographische Irrtümer. Eine ausführliche und quellennahe Untersuchung der Ereignisse und ihrer Rezeption war deshalb ein dringendes Desiderat bis zu der neuesten Untersuchung des 2009 verstorbenen John D. Klier, die im Jahr 2011 postum erschienen ist: John D. Klier, Russians, Jews, and the pogroms of 1881–1882, Cambridge 2011. Aus der Perspektive der Gewaltforschung vgl. auch: Stefan Wiese, Pogrome im Zarenreich. Dynamiken kollektiver Gewalt, Hamburg 2016. 471 Kravčinskij, Grozovaja tuča Rossii, 2001, S. 92–95. 472 John D. Klier/Shlomo Lambroza, The pogroms of 1881–1884, in: John D. Klier / Shlomo Lambroza (Hg.), Pogroms: anti-Jewish violence in modern Russian history, Cambridge 1992, S. 39–44, hier S. 39.

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schätzen, geschweige denn vorauszuahnen, welche Taten in Zukunft zu erwarten waren. Die Angst Alexanders III. konnte als ein Verstoß gegen die soldatischen Tugenden bewertet werden, welche die Konvention vom Herrscher des Russischen Reiches erwartete. Deshalb wies die Opposition umso genüsslicher auf die Furcht des Zaren hin: Petr Kropotkin beschrieb die Stimmung aus seiner revolutionären Perspektive parteiisch und pointiert: „Wilde Furcht ergriff die Petersburger Hofkreise.“473 Alexander III., „der trotz seiner mächtigen Gestalt und Körperkraft keinen Überfluß an Mut hatte,“474 reagierte mit dem Rückzug aus der Öffentlichkeit der Residenzstadt St. Petersburg. Er bezog das Sommerschloss von Gatčina als ständigen Wohnsitz. Gatčina repräsentierte durch seine Baulichkeit den Schutz, den der neue Kaiser von seiner Residenz erwartete. 475 Es ging das Gerücht, dass Alexander vor dem Schlafengehen unter den Betten nachschaute, um sicherzugehen, dass sich dort keine Attentäter*innen befanden.476 Er erwartete jederzeit einen weiteren Anschlag. Auch die städtische Bevölkerung in St. Petersburg und Moskau lebte in Erwartung neuerlicher Gewalt. Alexander III. plante aus Sicherheitsgründen zunächst keine Krönungsfeierlichkeiten, was die Befürchtungen eher noch anheizte: Phantastische Gerüchte schwirrten im Publikum über die Absichten und Pläne des Vollzugskomitees. Man erzählte unter anderem, dass in Moskau schon Räume gemietet wären, von wo aus der Krönungszug in die Luft gesprengt werden sollte, und dass man Dachboden gemietet hätte, von wo aus Bomben geworfen werden sollten. Die Kunde ging von Mund zu Mund, dass der Käsehändler Kobosew (d. h. Bogdanowitsch in eigener Person) mit terroristischen Absichten die Organisierung der Illumination der Stadt während der Festtage übernommen habe. Es hieß, er beschäftige sich nach wie vor mit dem Käsehandel, kaufe Käse in der Provinz ein, fülle ihn mit Dynamit und bringe ihn nach Moskau, usw.477

Auch an der Peripherie des Reiches herrschte Anspannung. So berichtete z. B. der Gouverneur von Kiew am 15. März 1881 nach St. Petersburg über Gerüchte, dass am Tage der Verurteilung der Zarenmörder*innen eine „kleine Revolution“ zeitgleich in Kiew und St. Petersburg ausbrechen werde. Die Polizei hatte Warnungen vor Plünderungen von Geschäften erhalten.478 Unruhen lagen demnach in der Luft. Teile der bäuerlichen Bevölkerung erwarteten, dass der Regierungswechsel große Veränderungen mit sich bringen würde. Die Gerüchte, welche in Polizeiberichten auftauchten, reichten von der Befürchtung, dass die Leibeigenschaft wieder eingeführt werden würde, Kropotkin, Memoiren eines Revolutionärs, 1900, Bd. II, S. 286. Ebd. Alexej Leporc, Der private Herrscher: Der Alexander-Palast und der Winterpalast im Leben Nikolaus’ II., in: Schlögel/Schenk/Ackeret (Hg.), Sankt Petersburg, 2007, S. 289–302, hier S. 290. 476 Klier/Lambroza, The pogroms of 1881–1884, 1992, S. 39–44. 477 Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 184. 478 15. März 1881, CDIAK, f. 274, op. 1, d. 238. 473 474 475

Die Pogrome von 1881–1882 im terroristischen Kontext

bis hin zu der Erwartung, dass das Land der Gutsbesitzenden unter den Bäuer*innen verteilt werden würde. Revolutionär*innen verteilten angebliche „geheime Ukase“ des Zaren Alexanders III. oder des Heiligen Synods, um die Bäuer*innen zu Protesten anzustacheln. Darin stand zu lesen, dass das bäuerliche Land „den Großgrundbesitzern auf ewig zurückzugeben“ sei: „Dort, wo es keine Grundbesitzer gibt, soll es an die Juden verkauft werden. Der Erlös fließt der Staatskasse zu.“479 Ebenso wie dieses hatten zahlreiche Gerüchte einen antijüdischen Zungenschlag. So auch die Mär, die Jüd*innen, möglicherweise im Auftrag der Gutsbesitzer*innen, hätten Alexander II. umgebracht, weil dieser eine gerechte Landverteilung angeordnet hatte. Auch fand sich die Behauptung, der Zar habe angeordnet, „die Juden zu schlagen“.480 Obwohl viele befürchteten, dass es an einzelnen Orten im Ansiedlungsrayon zu Unruhen kommen würde, rechneten wohl wenige mit einem überregionalen Ausbruch antijüdischer Gewalt der Art, wie er schließlich stattfand. Das geht selbst aus den antisemitischen Zeitungen hervor, die überrascht bis bestürzt reagierten, als die Pogrome schließlich ausgebrochen waren.481 Die Revolutionär*innen und auch Teile der Obrigkeit rechneten eher mit einer Erhebung der Landbevölkerung, einige Narodniki glaubten sogar angesichts der Pogrome, dass der ersehnte Umsturz unmittelbar bevorstünde.482 Die Zeit vor dem 15. April 1881 war angespannt, aber ruhig. Aufgrund der zahlreichen Gerüchte – Stefan Wiese nennt sie „Ankündigungsgerüchte“483, da sie Pogromverläufe im Russischen Reich in der Regel einleiteten – ergriffen die örtlichen Behörden an der Peripherie vor den Ostertagen des Jahres 1881 Maßnahmen, um möglichen Gewaltausbrüchen zu begegnen. Die Feiertage anlässlich des Osterfestes waren üblicherweise eine willkommene Abwechslung im Leben der städtischen Unter- und Mittelschichten sowie der Bäuer*innen. Ostermärkte boten Zerstreuung, die Fastenzeit ging zu Ende, und vor allem die männliche Bevölkerung sprach dem Alkohol zu. Im Ansiedlungsrayon kam es in den Ostertagen fast in jedem Jahr zu Auseinandersetzungen zwischen Christ*innen und Jüd*innen. Die Prozessionen der orthodoxen Gläubigen lockten schaulustige Jüd*innen an, und der Eindruck der Kreuzigungsnarrative, in denen nach zeitgenössischer Lesart die Jüd*innen für den Tod Christi verantwortlich

479 Z.R[alli]’s memoirs of, letters and leaflets from, and other documents relating to Sergej G. Nečaev. 1871, 1882, 1883 and n. d. 1 folder., IISG, Archiv PSR f. 83. 480 Vgl. I. Michael Aronson, The anti-Jewish pogroms in Russia in 1881, in: Klier/Lambroza (Hg.), Pogroms: anti-Jewish violence in modern Russian history, 1992, S. 44–60, hier S. 45; Klier, Russians, Jews, and the pogroms of 1881–1882, 2011, S. 32; Klier/Lambroza, The pogroms of 1881–1884, 1992, S. 39–44. 481 John D. Klier, The Russian press and the anti-Jewish pogroms of 1881, in: Canadian-American Slavic Studies 1983, H. 17, S. 199–221. 482 Moshe Mishkinsky, „Black Repartition“ and the pogroms of 1881–1882, in: Klier/Lambroza (Hg.), Pogroms: anti-Jewish violence in modern Russian history, 1992, S. 61–90, hier S. 65. 483 Wiese, Pogrome im Zarenreich, 2016, S. 45.

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waren, stachelten die Christ*innen auf.484 In Odessa hatten die jährlich wiederkehrenden Auseinandersetzungen zwischen Jüd*innen und Christ*innen während der Ostertage bereits im Jahr 1871 für einen Pogrom gesorgt, bei dem militärische Truppen einschreiten mussten, um die Gewalt zu stoppen. In Elisavetgrad, dem Ort, an dem die Pogrome 1881 ausbrachen, war der Polizeichef Il′ja Bogdanovič für die öffentliche Ordnung zuständig. 485 Er galt als ein besonnener Mann. Vor Ostern ließ er, wie an vielen anderen Orten, die Tavernen schließen und die lokalen Sicherheitskräfte durch ein in der Nähe stationiertes Militärregiment verstärken. Mit diesen Maßnahmen verfolgte er zwei Ziele: Erstens sollten die Osterfeierlichkeiten aus Respekt vor dem gerade verstorbenen Zaren nicht allzu ausgelassen begangen werden, und zweitens hofften die Ordnungskräfte, durch die Einschränkung des Alkoholkonsums möglichen Unruhen, welcher Art auch immer, zu begegnen. Alkohol galt als Hauptursache für den Ausbruch kollektiver Gewalt.486 Nachdem die Ostertage verstrichen und alles ruhig geblieben war, hob Bogdanovič die Maßnahmen wieder auf. Am Freitag, den 15. April 1881 kam es daraufhin zu einer Prügelei in einer Taverne, und die Pogrome, die den Südwesten des Reiches von 1881 bis 1882 erschütterten, nahmen ihren Anfang.487 Die Taverne war ein typischer Ort für einen Gewaltausbruch zwischen Christen und Juden. Weil die Schänken häufig in jüdischer Hand waren, trafen dort alkoholisierte Christen in der Person des Wirtes auf ihre vermeintlichen „Ausbeuter“. Es dauerte drei Tage, bis die lokalen Autoritäten und der Generalgouverneur mit Hilfe des Militärs die Lage in Elisavetgrad wieder unter Kontrolle hatten. In diesen drei Tagen wurden Jüd*innen von verschiedenen Tätergruppen geschlagen und gedemütigt. Die Täter*innen, darunter Frauen und Kinder, plünderten und zerstörten die Waren und den Besitz ihrer jüdischen Mitbürger*innen. Auf dem Markt warfen sie Obst und Gemüse auf den Boden, stießen Klaviere aus den Fenstern, zerrissen die Bettwäsche und schüttelten die Federn auf die Straße. Einige zerstörten, andere versuchten, die wertvollsten Gegenstände in ihren Besitz zu bringen. Laut Stefan Wiese ging es in Elisavetgrad zunächst darum, die Jüd*innen zu demütigen, „und um den Spaß, den die johlende und pfeifende Menge dabei empfand.“488 Der Pogrom war nicht so blutig, wie die, die noch folgen sollten, obwohl auch in Elisavetgrad ein Mensch starb.489 Die Ordnungskräfte hatten Probleme, sich gegen die Pogromščiki durchzusetzen. Das lag vor allem an der notorischen Unterbesetzung der Polizei im Zarenreich. 484 John Klier verweist diesen Zusammenhang ins Reich der Spekulationen, obwohl er einräumt, dass gewisse religiöse Ressentiments eine Rolle gespielt haben müssen: Klier, Russians, Jews, and the pogroms of 1881–1882, 2011, S. 68. 485 Vgl. zu Elisavetgrad ausführlich: Wiese, Pogrome im Zarenreich, 2016, S. 36–88. 486 Vgl. dazu auch: Klier, Russians, Jews, and the pogroms of 1881–1882, 2011, 18 und 69. 487 Aronson, The anti-Jewish pogroms in Russia in 1881, 1992, S. 44–60. 488 Wiese, Pogrome im Zarenreich, 2016, S. 54. 489 Ebd.

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Zur Unterdrückung der Pogrome wurde deshalb vielerorts, wie in Elisavetgrad, das Militär angefordert.490 Nach dem Pogrom verbreitete sich die Gewalt wie eine „Welle“. Dabei war das urbane Elisavetgrad das Epizentrum, von dem aus sich die Gewalt entlang der Kommunikationswege (Straßen, Eisenbahnen und Flüsse) weiter ausbreitete. Im Jahr 1881 gab es drei solcher Wellen: vom 15. bis 21. April (in den Gouvernements Ekaterinoslav und Cherson), vom 26. April bis 10. Mai (in den Gouvernements Kiew, Taurien und Ekaterinoslav) und vom 30. Juni bis 16. August (in den Gouvernements Černigov und Poltava). Darüber hinaus kam es zu drei großen städtischen Pogromen, die aber nicht von einer solchen Welle der Gewalt begleitet wurden: in Warschau im Dezember 1881, in Balta im März 1882 und erneut in Ekaterinoslav im Juli 1883.491 Die Gewalt richtete sich vor allem 1881 in erster Linie gegen Sachen, nur vereinzelt finden sich Berichte über körperliche Gewalt. Vor allem die Zerstörung und Plünderung fremden Eigentums und die Demütigung der jüdischen Bevölkerung schienen eine wichtige Rolle bei der Motivation der Pogromščiki gespielt zu haben. Die Gewalt gegen Menschen nahm im Laufe der beiden Pogromjahre zu. Für den Pogrom von Balta wird erstmalig auch über Vergewaltigungen berichtet, ein Narrativ, das in späteren Pogromzeiten zum Topos und Symbol antijüdischer Gewalt gegenüber seinen wehrlosen Opfern wird. 492 Für eine Kommunikationsgeschichte der Gewalt ist ihre Ausbreitung entlang der modernen Infrastruktur des Zarenreiches besonders bemerkenswert. Mit den Nachrichten und Warnungen über den Pogrom verbreitete sich offensichtlich auch die Gewalt selbst, vor allem anhand der Schienenwege. Dabei spielten die Eisenbahnarbeiter eine hervorgehobene Rolle als Akteure der Gewalt.493 Die Pogromwellen haben sich dennoch in einem relativ überschaubaren Bereich ausgebreitet und blieben häufig auf die Gouvernementsgrenzen beschränkt. Zum Teil waren dieselben Pogromtäter*innen für den Ausbruch der Gewalt an mehreren Orten verantwortlich, wie das Beispiel der Eisenbahner zeigen kann. Die strukturellen Ähnlichkeiten der Pogrome an unterschiedlichen Orten haben in der Vergangenheit zu dem Vorwurf geführt, die Obrigkeit habe die antijüdischen Ausschreitungen geduldet, sie begrüßt bzw. sie sogar initiiert.494 Dieser Annahme hatte bereits Hans Rogger energisch widersprochen und damit die sogenannte revisionistische Schule in der Pogrom-Forschung eingeführt:495 In seiner letzten Untersuchung konnte John D. Klier zeigen, dass die Obrigkeit zwar in ihrer Bemühung um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung erfolglos blieb, dass dieses Versagen aber nicht in der Absicht der Klier, Russians, Jews, and the pogroms of 1881–1882, 2011, S. 13–25. Ebd., S. 25 und zum Verlauf generell: S. 17–57. Ebd., S. 47. Klier, Russians, Jews, and the pogroms of 1881–1882, 2011, S. 37–38; Aronson, The anti-Jewish pogroms in Russia in 1881, 1992, S. 44–60. 494 Simon Dubnow, Weltgeschichte des Jüdischen Volkes. Von seinen Uranfängen bis in die Gegenwart, Berlin 1925–1929, Bd. X, S. 119–225. 495 Hans Rogger, The Jewish policy of late tsarism, in: The Wiener Library Bulletin 25 (1971), S. 45–51. 490 491 492 493

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lokalen Verantwortlichen lag. Selbst eingefleischte Antisemiten unter den regionalen Eliten wussten, dass sie sich vor den zentralen Institutionen für den Kontrollverlust verantworten mussten und dass ihre Unfähigkeit, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, ihrer Karriere abträglich war. Sowohl 1881 als auch 1882 ergriff die Obrigkeit umfangreiche Maßnahmen, um antijüdische Ausschreitungen zu verhindern. Waren die Pogrome erst ausgebrochen, versuchten die Verantwortlichen, sie einzudämmen, so schnell es ihnen möglich war. Einige Pogromtäter wurden verhaftet und bestraft.496 Im Vorfeld der Pogrome sammelte die Obrigkeit, die sich vor Aufständen und Unruhen fürchtete, Informationen über die sogenannte „Stimmung im Volk“. Dabei wurde eine Vielzahl teils widersprüchlicher Gerüchte dokumentiert, die schließlich in Reaktion auf den überraschenden Gewaltausbruch gegenüber den Jüd*innen im Zarenreich von den unterschiedlichen Gruppen je nach Interessenlage als vermeintliche Intention der Gewalttäter*innen gedeutet und solcherart instrumentalisiert werden konnte.497 Diese Deutungsversuche haben ihren Niederschlag in der Forschung gefunden. Erst in jüngster Zeit wurden die Narrative gemäß ihren Intentionen dekonstruiert.498 Auch die Terrorist*innen interpretierten die Pogrome auf ihre Weise: Unabhängig von den verbreiteten Nachrichten, die Bäuer*innen würden die Jüd*innen ausplündern, um den Zarenmord zu rächen, versuchten Aktivist*innen der Narodnaja volja, die Pogrome als die ersehnte Erhebung des Volkes gegen die bestehende Ordnung zu vereinnahmen. Federführend dabei war der Narodovolec Gerasim Romanenko, der die Pogrome in einem Dekret an das ukrainische Volk im Namen des Exekutivkomitees am 30. August 1881 begrüßte: Der Jude beleidigt den Menschen, betrügt ihn, trinkt sein Blut! […] Ihr, das gerechte Volk, könnt ihm nicht anders begegnen als mit Gewalt. Nur Blut kann das Leid des Volkes hinweg waschen. Ihr habt bereits begonnen, gegen die Juden aufzustehen. Das habt Ihr gut gemacht! Bald werden die russischen Lande sich in einer Rebellion gegen den Zaren, gegen die Gutsbesitzer und gegen die Juden erheben. Es ist gut, dass Ihr mit uns seid!499

Auch wenn führende Mitglieder des Exekutivkomitees wie Vera Figner oder Lev Tichomirov sich von der Proklamation distanzierten,500 gab es doch Anhänger*innen der Partei, die diese Lesart der Pogrome begrüßten. Die Narodovol′cy in Elisavetgrad vervielfältigten den Text und beteiligten sich so an seiner Verbreitung. Im Sommer und Herbst 1881 beherrschte eine Debatte über Pogrome die Veröffentlichungen der Partei, Klier, Russians, Jews, and the pogroms of 1881–1882, 2011, S. 384. Ebd., S. 415–459. Ebd., S. 128–178. Zitiert nach: Sigizmund N. Valk, G. G. Romanenko (iz istorii ‚Narodnoj Voli), in: Katorga i ssylka 11 (1928), S. 50–52. 500 Klier, Russians, Jews, and the pogroms of 1881–1882, 2011, S.  167; Valk, G. G. Romanenko (iz istorii „Narodnoj Voli“), 1928, S. 52. 496 497 498 499

Die Pogrome von 1881–1882 im terroristischen Kontext

welche die antijüdischen Ausschreitungen als Erhebung des Volkes gegen seine Unterdrücker*innen feierte.501 Die Jüd*innen, so die Logik der sozialrevolutionären Terrorist*innen, waren Protagonist*innen des ökonomischen Unrechtsregimes auf dem Land, des „ökonomischen Terrors“.502 Als Pächter*innen der Schankrechte und als ökonomische Vermittler*innen zwischen Gutsbesitzer*innen und Bäuer*innen wurden sie häufig als Ausbeuter*innen wahrgenommen. Der Topos der „jüdischen Ausbeutung“ wurde dementsprechend nicht nur in der terroristischen Presse als vermeintlich „wahres Motiv“ für die antijüdischen Pogrome angegeben.503 Die Narodovol′cy beobachteten, dass der Volkszorn sich nicht nur gegen die Jüd*innen, sondern auch gegen jene wandte, welche die Jüd*innen zu beschützen suchten. Diese Wut gegen die Polizei und die Obrigkeit wollten die Terrorist*innen in ihrem Sinne als Vorboten eines Umsturzes verstehen und die Stimmung für sich ausnutzen. Dabei waren sie sich nicht zu schade, die Judenhetzen der rechtskonservativen, judophoben Zeitung Kievljanin (Der Kiewer) unter ihren Leser*innen weiter zu verbreiten.504 Solcherart wurden die gewaltsamen Übergriffe und Plünderungen gegenüber der wehrlosen jüdischen Bevölkerung, die in vielerlei Hinsicht selber eine der schwächsten gesellschaftlichen Gruppen innerhalb des sozialen Gefüges im Ansiedlungsrayon ausmachte, als Beginn eines Volksaufstandes und als Erhebung der bäuerlichen Massen gegen das zarische Unrechtsregime gedeutet. Dadurch legitimierte die Narodnaja volja die Aggression der Pogromščiki als gerechtes Anliegen des Volkes. Unter den Autoren dieser Beiträge befand sich abermals Romanenko. Dennoch war seine Position keine Einzelmeinung. Auch wenn Vera Figner sich von Romanenkos antisemitischer Hetzkampagne distanzierte, war der Autor selbst ihr enger Vertrauter: Gerasim Romanenko kannte ich noch aus Odessa. Er war ein kluger, gebildeter Mensch, von Beruf Jurist. Er hatte eine elegante Gestalt und ein feines, durchgeistigtes Gesicht, das schon das Gepräge eines Lungenleidens trug. Sein bezauberndes Wesen nahmen [sic] mich und Kolodkewitsch sehr für ihn ein. Ich sah ihn oft, und wir entschieden über alle Angelegenheiten gemeinsam.505

Romanenkos Thesen erschienen zudem in den Publikationen der Narodnaja volja, wo auch andere Autoren sich ihnen anschlossen. Dadurch wurde ihnen zumindest der Anschein einer offiziellen Parteilinie und der Zustimmung durch das Vollzugskomi501 Vgl. z. B. Vnutrennee obozrenie. Narodnaja Volja, god vtoroj, Nr. 6, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Literatura social′no-revoljucionnoj partii „Narodnoj Voli“, S.l 1905, S. 419–439; Listok narodnoj voli. 22.7.1881, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Literatura social′no-revoljucionnoj partii „Narodnoj Voli“, S.l 1905, S. 378–400. 502 Vnutrennee obozrenie, 1905, S. 419–439. 503 Klier, Russians, Jews, and the pogroms of 1881–1882, 2011, S. 121–127. 504 Vnutrennee obozrenie, 1905, S. 419–439. 505 Figner, Nacht über Russland, 1928, S. 186.

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tee verliehen. Selbst als Romanenko im November 1881 verhaftet wurde, gingen die Pogromhetzen weiter. Auch anlässlich des erneuten Pogroms in Ekaterinoslav im Juli 1883 erschien ein Flugblatt der Rabočaja gruppa „Narodnoj Voli“ (Arbeitergruppe der Narodnaja volja), in dem festgestellt wurde, dass die Arbeiterschaft sich abermals gegen die Jüd*innen, „ihre Blutsauger“, wende. Die Arbeitergruppe wies darauf hin, dass es nicht nur die Jüd*innen, sondern auch viele Russ*innen seien, die das „Blut der Arbeiter trinken“ würden. Die Grundbesitzenden, die Minister und der Zar seien den Jüd*innen nicht umsonst zur Hilfe geeilt. Der Gouverneur habe auf das Volk schießen lassen: Zehn Menschen starben, und vierzehn wurden verletzt, obwohl „das Volk keinen einzigen Juden ermordet“ habe. Solcherart wurde der Rachedurst gegen die Ordnungskräfte geweckt. Diese wurden nun zum Urheber der Gewalt und zur Gefahr für das arbeitende Volk. Zur Rettung vor Jüd*innen, Grundbesitzenden und Obrigkeit gab es, so die Arbeitergruppe der Narodnaja volja, nur einen Weg: den Kampf gegen alle Blutsauger, vereint mit der revolutionären Partei! 506 Die Narodniki in Ekaterinoslav, das 1883 bereits den dritten Pogrom erlebte, versuchten mit dem Flugblatt, die gewaltsame Reaktion der Obrigkeit auf die Pogrome auszunutzen und die antijüdische Stimmung sowohl gegen Polizei und Militär, aber auch gegen die Grundbesitzenden, die lokalen Verantwortlichen und letztlich gegen den Zaren zu richten. Dieses Ansinnen wurde von der Parteizeitung Listok narodnoj voli unterstützt. Mit Bezug auf den Pogrom von Ekaterinoslav im Juli 1883 signalisierten die Autoren ihre Zustimmung, indem sie abermals argumentierten, die Jüd*innen würden nicht weil sie jüdisch seien, sondern als „Ausbeuter“ angegriffen. 507 Erst im September 1884 distanzierte sich das Parteiorgan Narodnaja Volja von der Unterstützung der Pogrome durch die Partei: Revolutionäre müssen erkennen, wenn das Volk, in dem Versuch seinen Protest zu generalisieren, eine falsche Formel wählt, so wie es z. B. im Zuge der anti-jüdischen Ausschreitungen geschehen ist. In dieser Situation kam es bei einigen von uns zu einer fundamentalen Fehleinschätzung.508

Doch die Deutung der antijüdischen Ausschreitung als Kampf sozialrevolutionär agitierter Volksmassen gegen die jüdischen Ausbeuter*innen erwies sich als langlebig, sie prägte die Wahrnehmung der Pogrome durch die unterschiedlichsten Akteur*innen. So suchte auch der Bericht des Gouverneurs von Kiew, Aleksandr Drentel′n, den dieser verfasste, noch bevor die offiziellen Untersuchungen beendet waren, vor allem sozialrevolutionäre Arbeiter als Urheber der Unruhen darzustellen. Er verwies auf Elemente, die erst vor kurzer Zeit nach Kiew gekommen waren und keine Verbindung Flugblatt der Rabočaja gruppa „Narodnoj Voli“, 27. Juli 1883, IISG, Archiv PSR, f. 90. Ebd. Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Literatura social′no-revoljucionnoj partii „Narodnoj Voli“, S.l 1905, S. 673–674. 506 507 508

Die Pogrome von 1881–1882 im terroristischen Kontext

zu der lokalen Bevölkerung hatten. Darüber hinaus seien es vor allem Eisenbahner gewesen, die andere mit sozialrevolutionären Ideen angestachelt hätten.509 Auch ein polnischer Landbesitzer nahm in einem Schreiben vom Mai 1881 die Pogrome als Vorboten einer Erhebung der Unterschichten gegen Adel und Staat wahr: „Heute plündern sie die Juden, morgen werden sie die Kaufleute und die Adligen ausplündern und am Ende werden sie sich gegen die Obrigkeit erheben.“510 Die Forschung über die Pogrome hat zudem immer wieder unterstrichen, dass sich zumindest ein Teil der Ausschreitungen gegen jüdische Kapitalist*innen, wie z. B. die Brodskijs in Kiew, gewandt habe und Jüd*innen generell im Zarenreich als Protagonist*innen der wirtschaftlichen Modernisierung galten.511 Selbst die jüdische Öffentlichkeit beeilte sich zumindest zunächst, die sozialrevolutionäre Bewegung als Urheber der Pogrome anzuprangern. Die Jüd*innen hofften auf ein strenges Eingreifen der Obrigkeit gegen die Staatsfeinde der Narodnaja volja, die nach dem Zaren nun auch die jüdischen Gemeinden im Südwesten des Reiches auf dem Gewissen hatten.512 Vieles spricht also gegen den Reflex, alle antijüdischen Pogrome in der retrospektiven Betrachtung als konterrevolutionäre Bewegung der zarischen Untertan*innen zu werten, die sich auf diese Weise der Verbundenheit mit der Autokratie versichern wollten. Die Pogrome als Protest der Bäuer*innen und städtischen Unterschichten gegen die Ermordung Alexanders II. darzustellen, ist sicher verkürzt, dennoch stehen die Unruhen in einem Zusammenhang zu der Ermordung des Zaren am 1. März 1881. Heinz-Dietrich Löwe hat überzeugend dargelegt, dass Pogrome im Russischen Reich immer dann aufkamen, wenn die autokratische Regierung als schwach erschien.513 Der Terrorismus hat in verschiedenen Zeiten den zarischen Staat geschwächt oder ihn auf symbolische Weise als verletzlich präsentiert. Sowohl die erste Phase des Terrorismus im Russischen Reich, die im Zarenmord vom 1. März 1881 gipfelte, als auch die zweite Phase, die ihren Höhepunkt in der Revolution von 1905 bis 1907 fand, waren Hochzeiten der Pogrome im Russischen Reich. So zeigte sich die Schwächung der Autokratie durch den revolutionären Terrorismus abermals in Gewalt – in der Pogromgewalt gegen die Jüd*innen.

Zitiert nach: Klier, Russians, Jews, and the pogroms of 1881–1882, 2011, S. 49. Zitiert nach: Ebd., S. 39. Heinz-Dietrich Löwe, Pogroms in Russia. Explanations, comparisons, suggestions, in: Jewish Social Studies 11 (2004), H. 1, S. 16–24. 512 Klier, Russians, Jews, and the pogroms of 1881–1882, 2011. 513 Löwe, Pogroms in Russia, 2004, S. 20. 509 510 511

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Von der Peripherie ins Zentrum

Epilog: Der 1. März 1887

Nach der Ermordung von Alexander II. zerschlugen Sicherheitsbehörden die Narodnaja volja:514 Die Kampagne gegen die Narodnaja volja gewann an Fahrt, wie ein Stein, der einen Berg hinunterrollt. Türen wurden zugeschlagen, Bomben explodierten, Menschen rannten in ihr Verderben – alles um uns herum stürzte in sich zusammen. Im April gingen die erschreckenden, ständigen Verhaftungen weiter, die bereits die Führung der Partei dezimiert hatten.515

Die Polizei verhaftete Revolutionäre in großer Zahl, vor allem in St. Petersburg. Das Zentrum war für das Exekutivkomitee der Ort ihrer spektakulärsten Tat – der Ermordung von Alexander II. Hier wollten die Terrorist*innen an ihren Erfolg anknüpfen. Zugleich konzentrierten sich hier aber auch die Kräfte der Polizei, weil hier die Verschwörer*innen und Drahtzieher*innen der „Katastrophe des 1. März“ vermutet wurden. Während also die einzelnen Revolutionär*innen versuchten, in St. Petersburg zu bleiben, befahl das Exekutivkomitee denjenigen, die von einer Verhaftung bedroht waren, St. Petersburg zu verlassen.516 Am 22. Juli 1881 veröffentlichte die illegale Zeitung Listok narodnoj voli eine Chronik der Verhaftungen. Danach wurden bis Ende April in St. Petersburg mehr als 100 Revolutionär*innen aus den verschiedensten Schichten festgenommen, neben den organisierten Terrorist*innen, die als Illegale in der Hauptstadt lebten, waren das vor allem Studierende oder Arbeiter*innen.517 Demgegenüber wurden im selben Zeitraum in Moskau etwas mehr als zehn Revolutionär*innen und 45 Studenten festgenommen. In Odessa wurden über 40 Menschen verhaftet und in anderen Städten wie Warschau, Kovno, Kursk oder Poltava nur jeweils einzelne Personen.518 Diese Verluste konnte die terroristische Bewegung nicht kompensieren. Einzelne Mitglieder des Exekutivkomitees, die sich noch immer in Freiheit befanden, versuchten, die Partei auf der Grundlage der lokalen Gruppierungen außerhalb von St. Petersburg neu zu organisieren, doch sie scheiterten aufgrund des verstärkten Fahndungsdrucks durch die Obrigkeit. Vera Figner stand 1884 als eines der letzten Mitglieder des Exekutivkomitees vor Gericht. Damit neigte sich auch die Geschichte der Narodnaja volja allmählich ihrem Ende entgegen. Zahlreiche Mitglieder der Narodnaja volja blieben der revolutionären Bewegung verbunden und sollten sich auch im 20. Jahrhundert noch einmal in einer terroristischen Partei organisieren. Das Exekutivkomitee der Na-

Vgl. ausführlich: Wurr, Terrorismus und Autokratie, 2015, S. 263–312. Zitiert nach: Engel u. a. (Hg.), Five sisters, 1975, S. 130. Vgl. z. B. Footman, Red prelude, 21968, S. 194–195. Chronika Arestov. Listok narodnoj voli, 22. Juli 1881, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Literatura social′no-revoljucionnoj partii „Narodnoj Voli“, S.l 1905, S. 396–399, hier S. 397–398. 518 Ebd., S. 399. 514 515 516 517

Epilog: Der 1. März 1887

rodnaja volja war spätestens von nun an ein Mythos, der die weitere Entwicklung des Terrorismus im Russischen Reich befeuerte. Für die diskursive Entstehung terroristischer Gewalt in der Interaktion zwischen Revolutionär*innen und Obrigkeit ist die Entstehung der Allerheiligsten Bruderschaft bezeichnend. Diese Bruderschaft war der Versuch von Teilen der Obrigkeit, die Macht des Exekutivkomitees zu spiegeln und nun zum Schutze von Zar und Autokratie mit den Repräsentanten dieser Herrschaft abzubilden.519 So sollte die Allerheiligste Bruderschaft ebenso zentralistisch organisiert sein wie das Exekutivkomitee und dieses mit den eigenen Waffen schlagen. Die Bruderschaft wurde bald selbst zum Mythos, die ihrerseits nun verdächtigt wurde, mit den antijüdischen Pogromen Gewalt von zentraler Stelle aus zu organisieren.520 Die symbolische Bedeutung, die der 1. März 1881 für die revolutionäre Bewegung hatte, wird vielleicht am deutlichsten in der Betrachtung der Verschwörung, die am 1. März 1887 enthüllt wurde. Eine Gruppe junger Revolutionäre, die keine persönlichen Verbindungen mehr zum Exekutivkomitee besaß, agierte unter dem Namen „Terroristische Fraktion der Narodnaja volja“. Die jungen Männer planten für den 1. März 1887 ein Attentat auf Alexander III. Dieser sollte am Todestag seines Vaters ebenfalls am Katharinenkanal auf der Höhe des Kazaner Platzes mit Hilfe von Wurfgranaten getötet werden. Die Verschwörer stammten von der Peripherie des Reiches, einige waren Kosaken. Der bekannteste von ihnen war Aleksandr Ul′janov, der ältere Bruder Lenins. Der Tod von Aleksandr Ul′janov durch den Strang wird oft als persönliches Motiv für die Radikalisierung Lenins angenommen.521 Wenn die zarische Obrigkeit gehofft hatte, dass sie mit der Hinrichtung der Verschwörer vom „zweiten 1. März“ das Nachleben und den Mythos der Narodnaja volja unterdrückt hätten, dann sollte sich das als fataler Irrtum erweisen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts formierten sich politische Kräfte, die bereit waren, die Tradition der ersten Phase der terroristischen Bewegung weiterzuführen.

519 Vgl. dazu z. B. Shmuel Galai, Early Russian constitutionalism. „Vol′noe Slovo“ and the“ Zemstvo Union“, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 22 (1974), H. 1, S. 35; John D. Klier, German antisemitism and Russian judeophobia in the 1880’s: Brothers and strangers, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 37 (1989), H. 4, S. 524. 520 Vgl. z. B. Dubnow, Weltgeschichte des Jüdischen Volkes, 1925–1929, Bd. X, S. 129. 521 Vgl. zum Kontext und zu dieser Argumentation die Monographie: Philip Pomper, Lenin’s brother. The origins of the October Revolution, New York 12010.

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2.

Vom Zentrum an die Peripherie

Nach der Ermordung Alexanders II. erfasste eine Welle der Reaktion das Land. Der Thronfolger Alexander III. erwies sich als konservativer als sein Vater, unerfahren in politischen Fragen, ließ er sich von seinem Lehrer, dem erzreaktionären Juristen und Oberprokuror des Heiligen Synod Konstantin Pobedonoscev, beraten. Dieser riet ihm, sich so schnell wie möglich von Loris-Melikov und seinen politischen Reformprojekten zu trennen. Darüber hinaus überredete er ihn, sich aus St. Petersburg, seiner Residenzstadt, zurückzuziehen: „Dieses ist ein verfluchter Ort, Eure Majestät sollte ihn verlassen!“1 Der Einfluss Pobedonoscevs markiert die Charakteristika der Herrschaft Alexanders III., der von seinen Zeitgenoss*innen und der Nachwelt als verbohrter Reaktionär, als politisch naiv, als religiöser Familienmensch und als russischer Chauvinist wahrgenommen wurde. Außerdem galt er aufgrund seiner Flucht nach Gatčina als ängstlich und dem Volk entrückt. Neben Pobedonoscev hatte der konservativ-nationalistische Publizist Katkov, der die Narodnaja volja in den Moskovskie vedomosti mit den schärfsten Artikeln verurteilt hatte, großen Einfluss auf den Zaren.2 Das große Problem der verschiedenen Schichten und Milieus des Russischen Reiches war die Fragmentierung der Gesellschaft auf allen Ebenen. Die staatstragenden Teile der Bevölkerung, der Hochadel und die administrative Elite, waren sich uneins, über den Weg, auf dem das Russische Reich in die Moderne zu führen sei. Die berüchtigte Rivalität zwischen Finanz- und Innenministerium kann als Symbol für diese innere Zerrissenheit der herrschenden Kreise verstanden werden. Während die Finanzminister die Modernisierung des Reiches vorantrieben, wuchsen im Innenministerium die Kräfte der Beharrung, die mit weitreichenden exekutiven Möglichkeiten

Konstantin P. Pobedonoscev, Pi′sma Pobedonosceva k Aleksandru III. S predisloviem M. N. Pokrovskogo, Moskva 1925–1926, Bd. I, S. 317. 2 Zu Katkov vgl. Andreas Renner, Russischer Nationalismus und Öffentlichkeit im Zarenreich 1855–1875, Köln 2000. 1

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ausgestattet waren.3 Die Janusköpfigkeit der Eliten verdankte sich der Geschichte des Russischen Reiches im späten 19. Jahrhundert. Zahlreiche der Institutionen, die aus den Reformen Alexanders II. entstanden waren, hatten eine an seinen Werten orientierte Elite geformt, die auch nach seinem Tod weiterexistierte.4 Auf der anderen Seite scharrten sich um Alexander III. die Unzufriedenen, welche die Reformen wenigstens teilweise rückgängig machen wollten. Teile des Adels gehörten zu den Verlierern der Modernisierung, weil sie es nicht verstanden hatten, ihre Lebensumstände den neuen Bedingungen anzupassen. Zudem begegnete die Obrigkeit allen politischen und ökonomischen Verunsicherungen durch eine Verschärfung ihrer konservativ-reaktionären Politik.5 Die Zerrissenheit der Eliten zeigte erneut das Spannungsfeld zwischen Zentrum und Peripherie des Russischen Reiches. Die Öffentlichkeit diskutierte anhand aller politischen Fragen meist zwei Themen – die zentralistischen Ansprüche der autokratischen Obrigkeit einerseits und das Streben nach Selbstverwaltung andererseits, das vor allem in den entlegenen ländlichen Regionen in den Zemstva seine Verwirklichung fand. Das liberale Finanzministerium befürwortete keineswegs generell die Dezentralisierung, da für die angestrebte Modernisierung ein straffer Zentralismus vonnöten war. Auf der anderen Seite verstärkten ausgerechnet konservative Kräfte im Innenministerium, auf der Suche nach Allianzen mit den traditionellen Verbündeten im Adel, die Mitbestimmungsrechte der Instanzen an der Peripherie, obwohl ihnen die Dezentralisierung politisch nicht opportun erschien.6 So liefen die politischen Sachentscheidungen den ideologischen Lagern teilweise zuwider, und es ergab sich eine Gemengelage aus Reaktion und zaghafter Modernisierung. Die Modernisierer forcierten vor allem die Industrialisierung. Mit Krediten aus Westeuropa, welche die Abhängigkeiten von der ausländischen Politik und öffentlichen Meinung stärkten, Senkung von direkten Steuern, Erhebung von Verbrauchssteuern und dem Ausbau der Infrastruktur, vor allem der Eisenbahn, kurbelten sie die Wirtschaft an. Damit verursachten sie zugleich gesellschaftliche Veränderungen, die einen gewaltigen sozialen Sprengstoff in sich bargen.7 Diesem durchaus von oben initiierten Wandel lief eine ebenfalls obrigkeitlich inszenierte Gegenreform zuwider, die in anachronistischer Weise vor allem die Position des Adels bzw. der vormodernen Überbleibsel des Ständestaates stärkte. Mit der Einführung des Landhauptmannes 1889 wurde „eine Art Surrogatmonarch“8 zur Kontrolle der bäuerlichen Selbstverwaltung eingesetzt, in dem, entgegen der reformerischen BeVgl. zu dieser Rivalität: Heinz-Dietrich Löwe, Antisemitismus und reaktionäre Utopie. Russischer Konservatismus in Kampf gegen den Wandel von Staat und Gesellschaft: 1890–1917, Hamburg 1978. 4 Vgl zu diesen Eliten in der Justiz: Baberowski, Autokratie und Justiz, 1996. 5 Abraham Ascher, The revolution of 1905. A short history, Stanford, Calif. 2004, S. 1–8. 6 Vgl. z. B. Theodore Taranovski, Alexander III and his bureaucracy. The limitations on autocratic power, in: Canadian Slavonic Papers / Revue Canadienne des Slavistes 26 (1984), 2/3, S. 207–219. 7 Theodore H. von Laue, Sergei Witte and the industrialization of Russia, New York [u. a.] 1963. 8 Löwe, Alexander III., 1995, S. 348. 3

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strebungen der 1860er Jahre, administrative, juristische und polizeiliche Funktionen in der Person eines adligen Großgrundbesitzers zusammenliefen. Ähnliche Tendenzen manifestierten sich in den Veränderungen des Zemstvo-Statuts von 1890. Doch auch in diesen Maßnahmen zeigten sich die Ambivalenzen der russländischen Politik unter Alexander III., denn trotz der offensichtlichen Minderung der Rechte der Selbstverwaltungsinstitutionen sicherten die autokratischen Gegenreformen letztlich ihren Bestand und hegten deshalb mittelbar auch die Kräfte in den Zemstva, die um Mitbestimmung rangen und den Zentralismus auf die Probe stellten.9 Als Nikolaus II. im Jahre 1894 auf den Thron gelangte, änderte sich an der ambivalenten Politik zunächst nichts. Nikolaus war fest entschlossen, die Autokratie als Staatsform zu verteidigen. Er stützte, wie sein Vater, die ständestaatlichen Strukturen und forcierte auf der anderen Seite die rasche Industrialisierungspolitik, die eine gewaltige soziale Dynamisierung lostrat. Er suchte Verbündete im Adel, der sich als ohnehin heterogene Klasse durch die widersprüchliche Politik der Obrigkeit immer stärker in einen rechtskonservativen und stark antisemitischen Flügel auf der einen Seite und ein liberales Lager der Zemstvo-Aktivisten auf der anderen Seite aufspaltete.10 Auch die Konkurrenz zwischen konservativem Innenministerium und einem Finanzminister, der zunehmend eine Politik des gouvernementalen Liberalismus vertrat, verschärfte sich unter Nikolaus II. Ebenso zersplittert waren allerdings auch die oppositionellen Kräfte. Nach der ernüchternden Erfahrung des Scheiterns der revolutionären Ambitionen nach der Katastrophe vom 1. März 1881 ging die Opposition zunächst in Deckung. Vor allem die Liberalen verlegten sich auf eine Politik der „kleinen Taten“, sie konzentrierten sich auf ihre Tätigkeit in den Zemstva. Die Unzufriedenheit der Gegner*innen der Autokratie wuchs angesichts der erstarkenden Reaktion, der ambivalenten Politik der Obrigkeit und der sozialen Verwerfungen, aber bis zum Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sie kaum nennenswerte Aktivitäten. Die Trennlinie zwischen den Oppositionellen lief, vereinfacht gesagt, zwischen Liberalen und Radikalen. Diese beiden Lager hatte es bereits in den 1860er bis 1880er Jahren gegeben. Für die Geschichte des Terrorismus spielt diese Differenzierung eine wichtige Rolle. Bereits anhand der Motive der Narodniki wird deutlich, dass die Radikalen mit Hilfe der terroristischen Taten, die sich nur auf den ersten Blick gegen die Obrigkeit (namentlich gegen den Zaren) richteten, die Liberalen – also „die Gesellschaft“ – im Sinne einer emotionalen Gemeinschaft, die sich für die Ungerechtigkeiten des autokratischen Regimes rächen wollte, zu erreichen suchten. Die Unterschiede zwischen Liberalen und Radikalen spielten zudem eine wichtige Rolle für Verlauf und Scheitern der Revolution von 1905 bis 1907. Deshalb Steven Nafziger, Did Ivan’s vote matter? The political economy of local democracy in tsarist Russia, in: European Review of Economic History 15 (2011), H. 3, S. 393–441. 10 Thomas S. Fallows, The Russian fronde and the Zemstvo movement. Economic agitation and gentry politics in the mid-1890’s, in: The Russian Review 44 (1985), H. 2, S. 119–138. 9

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werfen sie ein entscheidendes Licht auf die Kommunikationsgeschichte des Terrorismus in der zweiten Phase (1901 bis 1907). Die Trennung der Opposition in zwei Lager wurde Ende des 19. Jahrhunderts durch die Gründung von Parteien und Bünden institutionalisiert. Die Radikalen teilten sich wiederum in zwei Lager. Sie gründeten zunächst Gruppierungen im Untergrund, wie die marxistische „Gruppe zur Befreiung der Arbeit“ im Jahr 1883 um Vera Zasulič, die weitgehend aus der Černij peredel (Schwarzen Umteilung) hervorgegangen war. Daraus entstand 1898 die Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei, also die marxistischen Sozialdemokrat*innen (SD). In der Tradition der Narodnaja volja standen die Sozialrevolutionär*innen (SR), die sich 1902 aus einer Vielzahl zersplitterter Gruppen als Partei formierten. Sie übernahmen von der Narodnaja volja das populistische Erbe, das sie vor allem in der erfolgreichen Agitation unter den Bäuer*innen einsetzen konnten, und die Taktik des Terrorismus. An die Stelle des berüchtigten Exekutivkomitees trat die Kampforganisation (Boevaja organizacija, BO).11 Aufgrund der Konkurrenz von SD und SR um die Vorherrschaft bei den Radikalen unter den Arbeiter*innen und Bäuer*innen, waren beide Gruppierungen aufeinander fixiert. Zahlreiche politische Aktionen und programmatische Schriften von SD und SR lassen sich nur verstehen, wenn sie als Abgrenzung vom jeweils anderen innerhalb der radikalen politischen Linken als Entstehungskontext ernst genommen werden. Diese Konkurrenz wurde eher noch dadurch verstärkt, dass die einzelnen revolutionären Akteur*innen meist nicht festgelegt auf ihre Partei waren, sondern situativ zwischen den SD und den SR hinund herwechselten. Gerade deshalb schauten die Anführer*innen der beiden Parteien eifersüchtig auf die Taten und Erfolge der je anderen. Die Liberalen waren zunächst vor allem in den Zemstva aktiv und gründeten später die Bünde, die zunächst anhand berufsgenossenschaftlicher Strukturen entstanden, sich später aber auch entlang politischer, nationaler oder sozialer Grenzen etablierten. Mit dem Bund der Befreiung, der im Jahre 1903 ins Leben gerufen wurde, verfügten die Liberalen über ihr zentrales Sprachrohr, das später als Konstitutionell-Demokratische Partei (KD) die Politik im Zarenreich bis zu seinem Untergang prägen sollte.12 Doch bei aller inneren Zerrissenheit einten vier Fragen die Opposition: Erstens stellten sowohl Liberale als auch Radikale die Verfassungsfrage und forderten die Abschaffung der Autokratie. Zweitens rangen beide Lager um eine Verbesserung der Lage der Bäuer*innen und eine Neuaufteilung des Landbesitzes. Drittens empfanden alle Gegner*innen der Zarenherrschaft die Arbeiterfrage, die sich durch die Modernisierung des Reiches im Vergleich zu den 1880er Jahren massiv verschärft hatte, als dringlich. Das vierte Problem war das der nationalen Minderheiten, die im russländischen Vielvölkerreich ihr Recht auf Selbstverwaltung forderten. Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 58–68. Vgl. zur Partei der Konstitutionellen Demokraten grundlegend: Dittmar Dahlmann, Die Provinz wählt. Russlands Konstitutionell-Demokratische Partei und die Dumawahlen 1906–1912, Köln u. a. 1996.

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Auch wenn die unterschiedlichen Gruppierungen und Parteien auf diese Fragen verschiedene Antworten gaben, gab es in der Erkenntnis dieser Probleme eine gemeinsame Basis, von der aus Liberale und Radikale agieren konnten. Falls unter den Gegner*innen der Autokratie einige ihre Hoffnungen zur Überwindung dieser Probleme in Nikolaus II. gesetzt haben sollten, wurden diese schnell enttäuscht. Der Thronfolger machte rasch klar, dass er das Prinzip der Selbstherrschaft als Vermächtnis seines Vaters ansah und es um jeden Preis zu bewahren gedachte. Obwohl der Zar überzeugt war, in einer Art mystischen Verbindung zum russischen Volk zu stehen, machte er kaum Anstalten, das Los der Bäuer*innen, der überwältigenden Mehrheit dieses Volkes, zu verbessern. Stattdessen hatte der Modernisierer und zeitweilige Finanzminister Vitte die Bauernfrage zum Schlüsselproblem der russländischen Politik erhoben. Unter dem Einfluss des konservativen und bei den Revolutionär*innen verhassten Innenministers Pleve entschied Nikolaus sich indes für die weitgehende Bewahrung der bäuerlichen Sozialstruktur. Auch in der Arbeiterfrage machte er nur einige unbedeutende Zugeständnisse. Die Regierung verweigerte das Recht zu streiken und setzte zur Unterdrückung der Arbeiterunruhen auf Repressionen. Den zentrifugalen Kräften, denen das Vielvölkerreich durch die zahlreichen Nationalbewegungen ausgesetzt war, setzten Nikolaus II. und seine Eliten eine repressive und chauvinistische Russifizierungspolitik entgegen, die selbst die gemäßigten nicht russischen Untertan*innen zu seinen Gegner*innen machte. Das galt vor allem für Finn*innen, Pol*innen, Ukrainer*innen und die Völker des Kaukasus. Nikolaus richtete sich zudem mit besonderer Abneigung gegen seine jüdischen Untertan *innen. Der Antisemitismus prägte die politische Kultur der Eliten des Reiches so stark, dass Heinz-Dietrich Löwe ihn mit Recht als Teil der „reaktionären Utopie“ der russländischen Obrigkeit im späten Zarenreich bezeichnet hat.13 Universitätsstreik: Die Anfänge der Revolution

Wie in den 1860er Jahren begannen auch die politischen Unruhen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert an den Hochschulen. Die konservative Gegenreform hatte an den Universitäten ihre Spuren hinterlassen, namentlich durch das ungeliebte Universitätsstatut von 1884. Mit dieser Bestimmung schränkte Alexander III. die Autonomie der Universitäten ein, die stattdessen dem Erziehungsministerium unterstellt wurden und ihre Rektoren nicht mehr selber wählen durften. Zudem wurden alle Arten von Studierendenorganisationen verboten. Die Kontrolle über die Studierenden wurde einem Inspektor mit polizeilichen Befugnissen übertragen, der außerhalb der Universi-

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Löwe, Antisemitismus und reaktionäre Utopie, 1978.

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tät angesiedelt war.14 Doch obwohl diese Maßnahmen vor allem von den Studierenden als Eingriff in die Universitätsangelegenheiten empfunden und als solche abgelehnt wurden, herrschte an den höheren Lehranstalten des Reiches bis ins Jahr 1899 relative Ruhe.15 Lediglich durch das ausgelassene Feiern des St. Petersburger Universitätsjubiläums fielen die Studierenden in den 1890er Jahren auf. So war es üblich geworden, nach dem Festakt aus der Universität zu strömen und auf den Brücken sowie auf dem Nevskij Prospekt durch Singen und Hurrarufe auf sich aufmerksam zu machen. Ebenfalls wurde das „lärmende Eindringen in Restaurants, in Vergnügungsstätten, in den Zirkus und in das Kleine Theater“ von der Obrigkeit kritisiert. Einige Tage vor dem Universitätsjubiläum am 8. Februar 1899 verwarnte der Inspektor die Studierenden in Aushängen und durch Bekanntmachungen in der Presse, dass ein derartiges Verhalten nicht noch einmal geduldet werden würde.16 Die Studierenden empfanden diese Drohung als Affront. Am 8. Februar 1899 eskalierte die Situation. Nach dem Festakt marschierte die Polizei vor der Universität auf und versuchte, die Studierenden davon abzuhalten, über die Brücken in die Innenstadt zu gelangen. In der Zeit der ersten Russischen Revolution gehörte es zur gängigen Choreographie von Demonstrationszügen in St. Petersburg, zu versuchen, aus den Randbezirken ins Zentrum zu gelangen.17 Das Zentrum galt dabei als „Territorium des Staates“, in das die Demonstrierenden ihren Protest tragen wollten.18 Die Arbeiter*innen versuchten z. B. 1901, mit ihren Protestmärschen vom nördlichen Vyborger Viertel aus in die Stadt vorzudringen, während die Polizei genau dieses zu verhindern suchte. Auch an jenem 8. Februar 1899 versuchte die Polizei, die Studierenden davon abzuhalten, von der Universität, die auf der Vasil′evskij Insel direkt gegenüber der Admiralität und in Sichtweite des Winterpalastes gelegen war, über die Brücken ins Zentrum, auf den Nevskij Prospekt, zu gelangen, um dort die öffentliche Ordnung zu stören. Zentraler Anziehungspunkt auf dem Nevskij Prospekt war die Kazaner Kathedrale, vor der bereits die erste politische Demonstration im Russischen Reich am 6. Dezember 1876 stattgefunden hatte. Die Kazanka hatte in der ersten Phase der russländischen Terrorismusgeschichte eine besondere Rolle gespielt.19 Alle politischen Demonstrationen in der Hauptstadt des Russischen Reiches bis 1917 steuerten den Kazaner Platz an. So wurde dieser zu einem besonderen Ort für die revolutionäre Bewegung, wie auch Boris Kolonickij und Orlando

Vgl. zu einer Analyse der Studentenunruhen und ihrer Ursachen aus zeitgenössischer Sicht: Max Weber, Zur Russischen Revolution von 1905. Schriften und Reden 1918–1920, Tübingen 1989, S. 362–366. 15 Richard Pipes, Die Russische Revolution, Berlin 1992–1993, Bd. I, S. 22. 16 Novoe Vremja, 4.2.1899. 17 Hilbrenner, Gewalt als Sprache der Straße, 2008, S. 418–421. 18 Gerald D. Surh, 1905 in St. Petersburg. Labor, society, and revolution, Stanford, Calif. 1989, S. 39. 19 Vgl. das Kapitel „Gewalt als Sprache der Straße: Der Kazaner Platz“ im ersten Teil. 14

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Figes festgestellt haben: „The square became a quasi sacred site. Protesters gathered there, as if calling on the Cathedral’s protection.“20 Aber am 8. Februar 1899 schafften es die Studierenden nicht, bis auf den Nevskij Prospekt zu gelangen. Die berittene Polizei drängte sie mit Gewalt zurück. Dabei wurden zahlreiche junge Leute verprügelt. Die Studierenden beschlossen, diese Demütigung nicht hinzunehmen. Nach langen Diskussionen einigten sie sich auf die Durchführung eines Streiks. Mit diesem Streik versuchten die gemäßigten unter den Studierenden, nicht gegen die Universitätsstatuten zu verstoßen und der Polizei keine Rechtfertigung zur Intervention zu geben. Zudem wiesen sie zunächst jede politische Ambition zurück und bezeichneten ihre Bewegung als „gesellschaftlich.“21 Die Studierenden forderten im Wesentlichen die rechtliche Aufarbeitung der Vorfälle und damit Genugtuung für das ungerechtfertigte Vorgehen der Polizei im juristischen Sinne. Mit dem Streik übernahmen sie zugleich das Kommando in der Universität. Während in einem der zentralen Hörsäle eine permanente Debatte über die Inhalte und Hintergründe des Streiks stattfand, wurden alle anderen Lehrveranstaltungen boykottiert. Die Professorenschaft zog sich aus der Universität und von ihren Lehrverpflichtungen zurück, ohne allerdings den Streik damit inhaltlich zu unterstützen. Die meisten Lehrenden empfanden die Interventionen der Polizei ebenfalls als unangemessen, verstanden aber nicht, warum der Streik der Studierenden sich gegen die Institution der Universität richtete. Ein wichtiges Kommunikationsorgan, um die Themen der Streikenden auf den Punkt zu bringen, die Aktionen zu koordinieren und nach außen zu tragen, war das tägliche Streikbulletin. Es wurde vom Organisationskomitee herausgegeben und gewährleistete den überwältigenden kommunikativen Erfolg des Streikes: Die Studierenden der Universität provozierten durch den Streik um ihr Anliegen – die juristische Aufarbeitung der Vorfälle am 8. Februar 1899 – die Solidarität der Angehörigen aller höheren Lehranstalten in St. Petersburg. Darüber hinaus verbreitete sich der Streik auch an den anderen Hochschulen im ganzen Reich. Am 15. Februar erklärten sich die Studierenden der Universität Moskau solidarisch. Am 17. Februar folgten die Studierenden der Universität Kiew. Weitere Hochschulen schlossen sich an, sodass in der zweiten Februarhälfte reichsweit bereits 250.000 Studierende streikten. An allen Streikorten kam es zudem zu Konfrontationen mit der Polizei, am 12. Februar belagerten die Ordnungskräfte die St. Petersburger Universität regelrecht. Innerhalb der nächsten zehn Tage wurden im ganzen Russischen Reich Tausende Studierende vorgeladen und Hunderte verhaftet. Das gesamte akademische Leben im russländischen Imperium war zum Erliegen gekommen.22 Orlando Figes / Boris Kolonitskii, Interpreting the Russian revolution. The language and symbols of 1917, New Haven, Conn 1999, S. 37–38. 21 Morrissey, Heralds of revolution, 1998, S. 48–49. 22 Ebd., S. 49. 20

Universitätsstreik: Die Anfänge der Revolution

Aufgrund der Ausmaße des Streiks sah sich die Obrigkeit zum Entgegenkommen gezwungen. Sie berief eine Kommission unter dem ehemaligen Kriegsminister General Pёtr Vannovskij, um die Ursachen der Studierendenunruhen aufzuklären. Obwohl der ehemalige Kriegsminister vielen Studierenden als konservativ galt und die Radikalen ein Einlenken ablehnten, sah ein großer Teil von ihnen ihre Forderungen erfüllt. Vor allem an den Technischen Hochschulen nahmen die Studierenden den Lehrbetrieb bereits am 24. Februar wieder auf, und auch an der Universität stimmte eine knappe Mehrheit Anfang März für die Rückkehr zu einem geregelten akademischen Betrieb. Die Obrigkeit reagierte umgehend und erlaubte den 78 Studierenden, die während des Streiks aus St. Petersburg ausgewiesen worden waren, die Rückkehr in die Stadt sowie die Wiederaufnahme der Studien. An den anderen Universitäten kamen die Studierenden nicht so leicht davon. Vor allem die Radikalen, so z. B. das Streikkomitee der Universität Kiew, ließen sich nicht zum Abbruch des Streiks bewegen. Auch waren die Repressionen der Polizei an der Peripherie bei Weitem noch nicht an ihr Ende gekommen. Hier eskalierte der Zusammenstoß zwischen Studierendenschaft und Obrigkeit in weitaus stärkerem Maße als im Zentrum. Genauso wie die streikenden St. Petersburger Studierenden im Februar die Kommilitonen an der Peripherie zur Solidarität aufgerufen hatten, sandten nun die Streikenden aus Kiew oder Odessa ihre Abgesandten nach St. Petersburg und baten ihrerseits um Solidarität. Zudem wollten die Radikalen unter den St. Petersburger Studierenden sich nicht mit dem erreichten Status quo zufriedengeben. Die radikale Fraktion, die in der „Kasse für gegenseitige Hilfe“ organisiert war, bezeichnete in einer Streitschrift jene ihrer Mitstreitenden, die ihre Studien wieder aufgenommen hatten, als politisch naiv, opportunistisch und „bourgeois“. Dieses Pamphlet stieß zwar in weiten Kreisen auf Ablehnung, dennoch entschloss sich Mitte März eine knappe Mehrheit der Studierenden der St. Petersburger Universität für eine Wiederaufnahme des Streiks. Diese Entscheidung blieb innerhalb der höheren Lehranstalten St. Petersburgs zunächst ein Einzelfall. Die Studierenden des Technologischen Instituts etwa entschieden sich gegen einen erneuten Streik. Schließlich war es abermals die Repression durch die Obrigkeit, die dafür sorgte, dass Mitglieder aller Hochschulen wieder zusammenrückten. Nachdem die Obrigkeit alle Studierenden der St. Petersburger Universität suspendiert hatte, erklärten sich die Angehörigen der anderen höheren Lehranstalten solidarisch. Der Streik war damit wieder in vollem Gange. Bis zum Ende des Semesters lag das akademische Leben im gesamten Russischen Reich abermals lahm. Junge Leute wurden suspendiert und aus der Hauptstadt ausgewiesen, Anführer verhaftet, Vorlesungen fanden nicht statt, und die meisten Prüfungen wurden nicht abgenommen. Stattdessen verfassten die Studierenden zahlreiche Pamphlete, Gedichte und Lieder politischen Inhalts, welche den Studienjahrgang von 1899 zu einer Legende

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für zukünftige Revolutionäre machte.23 Die Obrigkeit reagierte mit weiteren Repressionen: Im Juli 1899 wurden „Vorläufige Maßnahmen“ ergriffen, die alle Studierenden, denen Beteiligung an den Unruhen nachgewiesen werden konnte, mit dem Widerruf der Freistellung vom Militärdienst bedrohten. Der Staat zog sie als Gefreite für drei Jahre ein.24 Der Streik von 1899 und die harschen Gegenmaßnahmen der Obrigkeit politisierten eine ganze Generation von Studierenden im oppositionellen Sinne. Denn politisch war die Bewegung im Laufe der Zeit geworden, die doch zunächst nur ein einzelnes Ereignis, den unmäßigen Einsatz der Polizei bei den Feiern des St. Petersburger Universitätsjubiläums am 8. Februar 1899, zum Anlass gehabt hatte. Hier wird deutlich, wie die autokratische Obrigkeit es verstand, mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln des repressiven Polizeistaates eine Lappalie, wie es die möglicherweise ausufernde Feier des St. Petersburger Universitätsjubiläums war, in einen politischen Flächenbrand zu verwandeln. Durch die unnötige Repression ihrer zukünftigen Führungselite brachte sie Menschen im ganzen Reich gegen sich auf. Deshalb, so folgert Richard Pipes, waren die Studierendenunruhen von 1899 der eigentliche Beginn der Revolution von 1905 bis 1907.25 Diese Einschätzung lässt sich durch einige Beobachtungen stützen: So war aus einer hochschulpolitischen Angelegenheit eine Frage von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit geworden. Diese Übertragung von sachlichen Problemen oder einzelnen Missständen auf die allgemeine politische Situation wurde zum Merkmal der oppositionellen Debatten im Zarenreich. Jedes Problem wurde auf die autokratische Herrschaft und ihre Funktionsweisen zurückgeführt. An dieser Übertragung beteiligten sich sowohl die Oppositionellen als auch die Obrigkeit, die jede Form der Kritik als unzulässig einstufte, egal, ob sie sich gegen ein sachliches Problem oder gegen die Selbstherrschaft im Ganzen richtete. Zudem verlieh die schnelle Ausbreitung des Universitätsstreiks durch die hohe Beteiligung den Ereignissen eine historische Dimension. Vor allem diejenigen, die sich aktiv am Streik beteiligten, sahen sich in der Tradition der Studenten der 1870er Jahre, die mit dem Gang ins Volk die Bewegung des Narodničestvo zu einer Massenbewegung gemacht hatten. So wurde der Wunsch nach Revolution abermals zu einer Erscheinung des Zeitgeistes. Diese quantitative Bedeutung erlangte der Universitätsstreik, weil die Unruhen sich vom Zentrum aus in der Peripherie ausbreiteten und deshalb den Charakter einer reichsweiten politischen Strömung bekamen, die kaum noch zu kontrollieren war. Während der Impuls vom Zentrum ausging, radikalisierte sich die Bewegung an der Peripherie und wirkte in dieser Radikalität zurück ins Zentrum. Der Universitätsstreik zeigt deutlich, dass sich die Unruhen ohne die Aktivisten an der Peripherie schnell Ebd., S. 49–56. Ebd., S.  57. Vgl. ausführlich: Samuel D. Kassow, Students, professors, and the state in tsarist Russia, Berkeley 1989. 25 Pipes, Die Russische Revolution, 1992–1993, Bd, I, S. 22. 23 24

Das Attentat von Pёtr Karpovič auf Nikolaj Bogolepov

wieder gelegt hätten, dass aber die Radikalität und Gewalt, mit der Obrigkeit und Opposition in den Regionen aufeinandertrafen, eine Beruhigung der Lage auf einige Zeit hinweg unmöglich machten.26 Vergleichbar mit dem Spannungsfeld von Zentrum und Peripherie ist auch die wechselseitige Beziehung von Liberalen und Radikalen, die während der gesamten revolutionären Unruhen von Bedeutung blieb. Bereits während des St. Petersburger Universitätsstreiks traten unter den Radikalen Personen auf, die für die weitere Geschichte des russländischen Terrorismus von besonderer Bedeutung waren. So wurde die berüchtigte „Kasse für gegenseitige Hilfe“ unter anderen von zwei Personen geleitet, die sich in diesen Jahren radikalisierten: Boris Savinkov wurde später der operative Kopf der zentralen Kampforganisation der Partei der Sozialrevolutionäre, während Ivan Kaljaev (der Poet) den Großfürsten Sergej Aleksandrovič ermordete.27 Die Radikalen provozierten die Gemäßigten zu weitergehenden Aktionen während des Streiks. Diese Provokation sollte einige Jahre später mit den Mitteln des Terrorismus erfolgen. Das Attentat von Pёtr Karpovič auf Nikolaj Bogolepov

Zudem bildete der Universitätsstreik von 1899 den Hintergrund für das erste Attentat in der zweiten Phase der russländischen Terrorismusgeschichte. Bereits seit 1897 war der als Reaktionär bekannte Professor für Römisches Recht und ehemalige Rektor der Universität Moskau Nikolaj Bogolepov Erziehungsminister. Zwar war er der erste Akademiker auf dieser Position, doch das änderte nichts daran, dass er bei den Studierenden als „unheilvoller Geist der Reaktion“ verrufen war.28 Auch Sergej Vitte, damals Finanzminister, charakterisierte ihn in seinen Memoiren retrospektiv als unversöhnlichen Konservativen: „Bogolepov war ein anständiger und ehrbarer Mann, aber seine Ansichten waren sehr reaktionär, und das trug ohne Zweifel zu den Unruhen an den Universitäten bei.“29 Am 11. Januar 1901 ließ Bogolepov 183 Studierende der Universität Kiew unter Berufung auf die „Vorläufigen Maßnahmen“ vom Juli 1899 zum Militärdienst einziehen. Daraufhin streikten die St. Petersburger Studierenden aus Solidarität. Von diesen ließ Bogolepov nun 27 zur Armee einberufen.30 Die Studierenden empörten sich, und am 14. Februar 1901 schoss der Student Pёtr Karpovič auf den

Vgl. dazu auch: Richard Pipes, Liberal on the left, 1870–1905, Cambridge, Mass 21980, S. 261. Pipes, Die Russische Revolution, 1992–1993, Bd. I, S. 27. Jedenfalls nach der Aussage von Karpovič beim Prozess: Karpovich’s Trial Secret, in: New York Times, 2.4.1901. 29 Sergej Vitte, The memoirs of count Witte, 1990, S. 300. 30 Pipes, Die Russische Revolution, 1992–1993, Bd. I, S. 29. 26 27 28

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Erziehungsminister und verwundete ihn am Hals.31 Zwei Wochen später, am 2. März, erlag Bogolepov seinen Verletzungen.32 Die Forschung über das Attentat und seine Hintergründe ist nicht besonders umfangreich, und auch die offiziellen Zeitungen berichteten eher knapp über das Geschehen. Der Prozess gegen Karpovič fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, und die Richter sprachen ein relativ mildes Urteil, wohl weil die Obrigkeit in der aufgeheizten Stimmung keine neuen Märtyrer schaffen wollte.33 Doch trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen entwickelte die Tat eine beachtliche kommunikative Ausstrahlung und regte zur Nachahmung an. Der Attentäter Pёtr Karpovič war der Sohn eines Kleinbürgers aus Gomel′. Er studierte an der Universität Moskau unter dem Rektor Bogolepov, wurde aber im Jahr 1896 der Universität verwiesen. 1898 gelang es ihm, seine Studien an der medizinischen Fakultät der Universität Dorpat wieder aufzunehmen. Doch dort wurde er 1899 im Zuge der großen Streikwelle abermals suspendiert.34 Zuletzt studierte er in Berlin, von wo aus er erst am Tag vor dem Attentat nach St. Petersburg reiste.35 Karpovič betrat das Ministerium in der Kleidung eines Bürgers um etwa 14 Uhr, als die Staatsräte das Gebäude verließen. Nach den Beratungen pflegte der Minister Bittschriften entgegenzunehmen. Karpovič nahm also, wie 23 Jahre zuvor Vera Zasulič, mit einer Audienz die Gelegenheit wahr, in der die Untertan*innen der Obrigkeit begegnen konnten. Auch im Falle der regelmäßigen Sprechzeiten des Ministers Bogolepov schuf die auf Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Milieus angelegte Situation erst die Möglichkeit, dass der Student den Minister aus nächster Nähe erschießen konnte. Karpovič trug im Sinne der Konspiration eine Petition bei sich, in der er um Wiederaufnahme in die Universität Dorpat bat. Bereits vor dem Schuss hatte Karpovič sich auffällig verhalten. Während er darauf wartete, dass Bogolepov das Gespräch mit einem der anderen Anwesenden beendete, blickte er theatralisch Richtung Decke. Doch scheinbar rechnete etwa 20 Jahre, nachdem die erste intensive Phase des Terrorismus abgeebbt war, niemand mit einem Akt individueller Gewalt. Trotz seines merkwürdigen Verhaltens kam der Attentäter ungehindert in die Nähe seines Opfers. Als der Minister schließlich auf ihn zueilte, zog Karpovič den Revolver aus seiner Brusttasche und zielte auf das Herz Bogolepovs. Doch weil seine Hand zitterte, traf er S.-Peterburg – 14.2., in: Russkija Vedomosti, 15.2.1901. Vitte, The memoirs of count Witte, 1990, S. 300. Russian Police Brutality. St. Petersburg Students Trampled Upon by Horses for No Apparent Reason, in: New York Times, 7.3.1901. Außerdem: Karpovich’s Trial Secret, in: New York Times, 2.4.1901. In der einschlägigen Forschungsliteratur findet das Attentat jeweils nur knapp Erwähnung. Vgl. zum Prozessbericht auch: Bericht über den Prozess von P. Karpovič, IISG, Archiv PSR f. 574. 34 Russkija Vedomosti, 17.2.1901. 35 The Attack on Bogoliepoff. Man Who Shot Him an ex-Student and May Have Been Selected by Lot, in: New York Times, 2.3.1901. 31 32 33

Das Attentat von Pёtr Karpovič auf Nikolaj Bogolepov

stattdessen den Hals des Ministers, der bewusstlos zusammenbrach. Karpovič nahm an, er habe sein Opfer getötet, ließ die Waffe sinken und wartete auf seine Verhaftung. Auch dieses Verhalten erinnert an das Attentat der Vera Zasulič. Während der Befragung machte Karpovič keine weiteren Angaben zu den Motiven seiner Tat.36 Bogolepov wurde behandelt, noch galt die Verletzung jedoch nicht als tödlich. Die russländische Öffentlichkeit erfuhr zunächst recht ausführlich von den Geschehnissen rund um das Attentat. Über die Vorgänge wurde berichtet, und am 17. Februar 1901 brachte die Novoe vremja (Neue Zeit) einen ausführlichen Bericht über den Tag des Attentats aus der Perspektive des Opfers, in dem aber auch der Täter und der Tathergang anschaulich beschrieben wurden. Dieser Bericht wurde von zahlreichen russischen Zeitungen nachgedruckt.37 Zunächst wurde Bogolepovs Verwundung in der Öffentlichkeit nicht als tödlich eingestuft. So brachten z. B. die Russkie vedomosti fast täglich medizinische Bulletins über den Zustand des Ministers, in denen die Körpertemperatur, die Qualität der Nachtruhe sowie die Aussagen der Ärzte kolportiert wurden.38 Schließlich jedoch verschwand der Fall Bogolepov aufgrund der erneuten und gewaltsamen Studierendenunruhen nach dem 19. Februar 1901 aus den Zeitungen.39 Aus ausländischen Zeitungen gingen Gerüchte hervor, nach denen die russländische Polizei vermutete, dass Karpovič Teil einer größeren Verschwörung gewesen war. Wie damals beim Fall Vera Zasulič sei ein weiterer Anschlag, in diesem Falle auf den Innenminister Dmitrij Sipjagin, geplant gewesen. Zudem wurde ein Anschlag auf den Zaren vermutet.40 In russländischen Veröffentlichungen und in der einschlägigen Forschungsliteratur lassen sich keine Hinweise finden, die diese Vermutung erhärten. Dennoch suggerierten Zeitgenossen retrospektiv, die Ermordung Bogolepovs sei der Auftakt zu einer längeren Phase von Anarchie und Terror gewesen. So erinnerte sich z. B. Sergej Vitte an das „anarchistische Attentat“ als ein „Vorspiel zu den Ereignissen, die wir zwischen 1901 und 1905 erleben mussten“.41 Und auch die Befürworter*innen der Taktik des Terrorismus innerhalb der PSR gaben an, dass die Attentate auf Bogolepov 1901 und auf Sipjagin 1902 innerhalb der Partei eine Entscheidung zugunsten des terroristischen Kampfes forciert hatten.42

Vgl. die ausführliche Schilderung des Attentats in: Po telefonu. S.-Peterburg 17.2., in: Russkija Vedomosti, 18.2.1901. 37 Vgl. z. B. Ebd. 38 Vgl. z. B. Russkija Vedomosti, 20.2.1901. 39 Vgl. z. B. Po telefonu. S.-Peterburg 6.3., in: Russkija Vedomosti, 7.3.1901. 40 Plot To Kill The Czar? Report that the Russian Police Were Warned that Nihilists Were Going to St. Petersburg, in: New York Times, 9.3.1901. 41 Vitte, The memoirs of count Witte, 1990, S. 300. 42 Terrorističeskij ėlement v našej programme, in: Nikolaj D. Erofeev (Hg.), Partija socialistov-revoljucionerov. Dokumenty i materialy. V 3 tomach. Tom 1: 1900–1907, Moskva 1996, S. 78–89. 36

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Vom Zentrum an die Peripherie

Diese Wirkung des Attentats auf Bogolepov hing mit der positiven Rezeption dieser Tat durch weite Teile der Öffentlichkeit zusammen: Die Studierenden bejubelten Karpovičs Tat. Im Geiste des Streiks von 1899 erschienen zahlreiche Proklamationen und Gedichte, welche die Ermordung Bogolepovs rühmten. In einem Flugblatt wurde Bogolepov als „Opfer der jüngsten Ausbrüche der Reaktion“ bezeichnet.43 Damit wurde die Schuld an dem Attentat und dem Ausbruch der Gewalt der Obrigkeit zugewiesen, eine klassische Argumentationsweise im Umfeld des revolutionären Terrorismus. Tatsächlich erlag Bogolepov entgegen den ursprünglichen Hoffnungen auf sein Überleben am 2. März 1901 seinen Verletzungen. Karpovič musste nun wegen der Ermordung des Ministers verurteilt werden. Bei dem Prozess am 19. März 1901, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, plädierte sein Verteidiger für ein mildes Strafmaß, weil Strenge in einem Ringen mit Idealisten, die bereitwillig das Martyrium suchten, keinen Nutzen bringe.44 Doch trotz der restriktiven Kommunikationspolitik und des vergleichsweise milden Urteils von 20 Jahren Zwangsarbeit war Karpovičs Propaganda der Tat bereits erfolgreich gewesen, und sein Attentat bildete den Auftakt zu einer Serie von Terroranschlägen, die das Ausmaß der Erfahrungen mit dem Terrorismus im Russischen Reich in den 1870er und 1880er Jahren weit übertrafen. Gewalt auf der Straße

Die Resonanz in der Studierendenschaft und in der Gesellschaft auf das Attentat von Karpovič auf Bogolepov wurde durch den Gewaltkontext der Tat verstärkt. Seit 1899 waren die Studierenden in Unruhe, doch zumindest oberflächlich war zunächst wieder Ruhe an den Hochschulen eingekehrt. Vor allem die Radikalen aber suchten nach einem Anlass, um mit neuen Aktionen an den Geist von 1899 anzuknüpfen. So entstand zum Beispiel im Januar 1901 das Lied „Damals und heute (1899–1901)“, in dem der Autor an seine Kamerad*innen appelliert, den „ungleichen Kampf “ gegen die „dunklen Wolken, die uns umgeben“, also die obrigkeitliche Repression, wieder aufzunehmen.45 Die revolutionäre Stimmung an den Hochschulen steigerte sich also wieder, wurde durch das Attentat von Karpovič angeheizt und erreichte am 40. Jahrestag der Bauernbefreiung, am 19. Februar 1901, einen ersten Höhepunkt. Der 19. Februar 1901 wurde nicht nur von radikalen Studierenden begangen, sondern war ein Jubiläum, das von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen mit unterschiedlichen Inhalten aufgeladen wurde. In den Russkie vedomosti ließ ein Leitartikel die sozialen Veränderungen, welche die Reform von 1861 mit sich gebracht hatte, im Namen des 43 44 45

Vgl. dazu: The Attack on Bogoliepoff, in: New York Times, 2.3.1901. Karpovich’s Trial Secret, in: New York Times, 2.4.1901. „Togda i teper′“, zitiert nach: Morrissey, Heralds of revolution, 1998, S. 60–61.

Gewalt auf der Straße

Fortschritts Revue passieren.46 Die Regierung ließ eine Messe für den „Befreierzar“ in der Kazaner Kathedrale lesen.47 Die radikalen Studierenden debattierten bereits Tage zuvor, auf welche Weise sie diesem Tag im Sinne der revolutionären Bewegung Bedeutung verleihen sollten. Am 16. Februar 1901, also nur zwei Tage nach dem Attentat von Karpovič auf Bogolepov und drei Tage vor dem Jahrestag, sprengte die Polizei die Sitzung des Komitees, das eine Demonstration der Studierenden zu diesem Anlass plante, und nahm 21 Aktivisten fest. 48 Trotzdem versammelten sich am 19. Februar 1901 um die 1000 Studierende an dem Ort, der sich für eine solche Demonstration mittlerweile schon fast traditionell anbot: an der Kazaner Kathedrale.49 Wie anlässlich der ersten Demonstration im Russischen Reich im Dezember 1876 setzte sich der Demonstrationszug im Anschluss an die Messe, die dieses Mal für Alexander II. gelesen worden war, singend in Bewegung „zum Nevskij“50, wie die Menge skandierte.51 Die Demonstration wurde von der Polizei gestoppt, und die Studierenden wurden vor der städtischen Duma in unmittelbarer Nähe der Kazaner Kathedrale zusammengetrieben. Dort kam es zu gewaltsamen Übergriffen gegenüber den Demonstrierenden, die weite Teile der Bevölkerung nachhaltig gegen die Polizei aufbrachten. Der St. Petersburger Korrespondent der New York Times berichtete einige Tage später: For no special reason the police began beating the students and trampling them under the feet of their horses. The Newsky Prospect was filled with spectators. […] The spectators and the women students screamed with horror, but the police kept up their attack on the students, until 400 of the latter were driven into the courtyard of the City Hall, the others escaping into the crowd.52

In dem Bericht wird die Brutalität der St. Petersburger Polizei besonders unterstrichen, die sich zunächst auf offener Straße und damit vor den Augen der Straßenöffentlichkeit abspielte. Während bei der Demonstration von 1876 Ladenbesitzer und Passant*innen noch die Partei der Ordnungskräfte ergriffen hatten, lagen die Sympathien der Zuschauer*innen am 19. Februar 1901 eher auf Seiten der Studierenden. Das ist wenig überraschend, wenn man den Blick darauf lenkt, dass die Polizei auch gegen die Passant*innen vorging. Unter den 244 Festgenommenen waren nach Berichten des Pravitel′stvennyj vestnik immerhin 25 „Außenstehende“.53 Besonders pointiert wurde die

Russkija Vedomosti, 19.2.1901. Russian Police Brutality, in: New York Times, 7.3.1901. Morrissey, Heralds of revolution, 1998, S. 62. Die Zahlenangaben in den unterschiedlichen Quellen widersprechen sich. Während Morrisey unter Berufung auf die Polizeiakten von einigen Hundert spricht, berichteten ausländische Zeitungen von 1000 bis 1500 Demonstranten: Russian Police Brutality, in: New York Times, 7.3.1901. 50 Zitiert nach: Morrissey, Heralds of revolution, 1998, S. 62. 51 Vgl. zum Ablauf: Po telefonu, in: Russkija Vedomosti, 7.3.1901. 52 Russian Police Brutality, in: New York Times, 7.3.1901. 53 Abgedruckt z. B. in: Po telefonu, in: Russkija Vedomosti, 7.3.1901. 46 47 48 49

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Vom Zentrum an die Peripherie

Brutalität der Polizei in dem Bericht der New York Times auch dadurch, dass die emotionale Reaktion der betroffenen Frauen geschildert wurde, die, wie auch die Zuschauer*innen, vor Angst schrien. Die Zahlen der Verhafteten, die der Pravitel′stvennyj vestnik mitteilte, zeichnen ein bemerkenswertes Bild; unter den Verhafteten waren nämlich viel mehr Frauen als Männer: Die 244 Verhafteten setzen sich aus 71 Studenten, 128 Hörerinnen der Höheren Frauenkurse und 20 weiteren Frauen zusammen. Hinzu kamen die oben erwähnten 25 Passant*innen (die ohne Angabe des Geschlechtes genannt wurden).54 Also waren selbst bei vorsichtigen Schätzungen mindestens 148 von 244 Festgesetzten Frauen. Ob dieser Befund zeigt, dass mehr Frauen als Männer überhaupt an der Demonstration teilgenommen hatten, ob die Männer sich leichter aus der Enge, in welche die Polizei die Gruppe getrieben hatte, befreien konnten oder ob die Polizei besonders hart gegen die Frauen vorgegangen war, lässt sich im Nachhinein nicht mehr klären. Dennoch spricht vieles dafür, dass das polizeiliche Vorgehen gegen Frauen bei der Bevölkerung der besonderen Wahrnehmung von Frauen und Gewalt entsprechend als außerordentlich brutal und unangemessen bewertet wurde. Diese Polizeigewalt gegenüber Frauen mag einen zusätzlichen Ausschlag dafür gegeben haben, dass den Studierenden nun, nach den Unruhen, eine Welle der Solidarität aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten entgegenschlug. So berichtete der Korrespondent der New York Times: „The entire city is horrified by the conduct of the police.”55 In der revolutionären Aufarbeitung des Ereignisses in studentischen Flugblättern und Pamphleten fielen die Ereignisse bei der Demonstration am 19. Februar 1901 auf dem St. Petersburger Nevskij Prospekt zusammen mit den Ausschreitungen bei vergleichbaren Demonstrationen in Char′kov und am 23. Februar 1901 in Moskau, wo 358 Studierende verhaftet wurden, sowie mit der Rezeption des Attentats auf Bogolepov.56 Spätestens jetzt war die Tat des Studenten Karpovič in der öffentlichen Wahrnehmung ein Teil der Studierendenunruhen geworden, die wiederum auf andere gesellschaftliche Gruppen ausgriffen. In den studentischen Flugschriften wurde vor allem hervorgehoben, dass die Bewegung sich durch die jüngsten Ereignisse aus den Hochschulen hinaus „auf die Straße“ ausgeweitet habe. Damit spielten die Autoren auf die Solidaritätsbekundungen durch die Intelligencija an, die vor allem während der Demonstration vom 4. März 1901 deutlich wurde. Mit dieser Demonstration hatten die Unruhen endgültig das rein studentische Milieu verlassen und waren zu einer gesamtgesellschaftlichen Angelegenheit geworden. Am Sonntag, den 4. März 1901 versammelten sich zahlreiche Studierende vor der Kazaner Kathedrale, aber auch Vertreter der Intelligencija, wie z. B. der Publizist Petr Struve. Struve berichtete, dass sich die Union der Schriftsteller entschlossen hatte, die Demonstration zu unterstützen.57 Auch einige Arbeiter 54 55 56 57

Ebd. Russian Police Brutality, in: New York Times, 7.3.1901. Morrissey, Heralds of revolution, 1998, S. 62–63. Zu Struve vgl. die Biographie: Pipes, Liberal on the left, 1870–1905, 21980, S. 271–273.

Gewalt auf der Straße

nahmen an der Demonstration teil. Anlass der Demonstration am 4. März 1901 war das gemeinsame Gedenken an die Studentin Marija Vetrova, die sich im Februar 1897 aus Protest gegen die Haftbedingungen in der Peter-Pauls-Festung selbst verbrannt hatte.58 Laut Susan Morrissey zog dieses Ereignis eine große Zahl weiterer Selbstmorde in studentischen Kreisen nach sich.59 Bereits am 4. März 1897 versuchten die Studierenden, die sich in großer Zahl vor der Kazaner Kathedrale versammelt hatten, eine Gedenkveranstaltung für die Verstorbene abzuhalten, die aber von der Polizei verhindert wurde. Am 4. März 1898 erschien eine Broschüre, in der das Leben und Sterben Vetrovas als Martyrium verherrlicht wurde.60 Von daher erscheint es folgerichtig, dass auch der 4. März 1901, vor allem vor dem Hintergrund des erneuerten Martyriums durch die Studierenden, mit einer Demonstration vor der Kazaner Kathedrale begangen wurde.61 Etwa 3000 Menschen versammelten sich vor der Kathedrale. Doch bereits nach kurzer Zeit erschienen Kosaken, welche diejenigen, die nicht schnell genug fliehen konnten, mitleidlos niederknüppelten.62 Durch die Teilnahme von Arbeitern, die sich angesichts der vorangegangenen Ereignisse mit den Studierenden solidarisch zeigten, war die Gewaltbereitschaft unter den Demonstrierenden höher als zuvor bei vergleichbaren Aktionen.63 So kam es auf dem Platz vor der Kathedrale zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Kosaken und Demonstrierenden. Die Protestierenden warfen mit Überschuhen, Gehstöcken, Schneebällen und anderen Wurfgeschossen auf die Kosaken. Einige der Teilnehmer*innen flohen in die Kirche, wo sie, laut Pravitel′stvennyj vestnik, lärmten, rauchten und sakrale Gegenstände beschädigten.64 Die Studierenden entwendeten in der Kathedrale eine Fahne, die sie im Kampf gegen die Kosaken einsetzten. Zudem trugen sie eigene rote Fahnen bei sich.65 Sie forderten in ihren Proklamationen, dass die „Vorläufigen Maßnahmen“, welche studentische Unruhestifter mit der Einberufung zum Militär bedrohten, aufgehoben werden. Außerdem forderten sie, dass der Prozess des Attentäters Karpovič öffentlich vor einem Geschworenengericht verhandelt werden solle, wie 1878 der Fall Zasulič.66 Diese Beobachtung zeigt, wie stark Karpovičs Tat als Teil der Studierendenunruhen rezipiert und im Kontext der Geschichte des russländischen Terrorismus interpretiert wurde. Vgl. zu Vetrova auch: Susan K. Morrissey, Suicide and the body politic in Imperial Russia, Cambridge, New York 2006, S. 286. 59 Morrissey, Heralds of revolution, 1998, S. 178–179. 60 Ebd., S. 179. 61 Riots in St. Petersburg. Fierce Fighting Between Students and Cossacks – Eight Hundred Persons Arrested – A Child Killed, in: New York Times, 19.3.1901. 62 Pipes, Liberal on the left, 1870–1905, 21980, S. 271–274. 63 More Riots in St. Petersburg. Five Students Said to Have Been Killed and Many Injured – Cossacks Guard the Czar, in: New York Times, 20.3.1901. 64 Zitiert nach: Ebd. 65 Vgl. dazu auch: Riots in St. Petersburg, in: New York Times, 19.3.1901. 66 More Riots in St. Petersburg, in: New York Times, 20.3.1901. 58

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Vom Zentrum an die Peripherie

In der ausländischen Presse wurde abermals der Umstand gewürdigt, dass unter den Demonstrierenden zahlreiche Frauen waren. Vor diesem Hintergrund erschien die Gewalt der Kosaken umso erschütternder. 672 Teilnehmer*innen, darunter 323 Frauen, wurden verhaftet.67 Unter den Verhafteten war Petr Struve, dem in der Folge für ein Jahr das Wohnrecht in St. Petersburg entzogen wurde.68 Drei Studierende und ein Kosak wurden während der Unruhen getötet. Ein Kommissar und 20 einfache Polizisten wurden verwundet. Zudem wurden vier Kosaken und 32 Demonstrant*innen (sowohl Männer als auch Frauen) verletzt.69 Die Brutalität der Kosaken machte aus dieser Demonstration ein blutiges Gewalterlebnis, das in den Augen der revolutionären Bewegung Märtyrer*innen schaffte und einen allgemeinen Aufschrei verursachte. Mit dieser Eskalation der Gewalt durch die Obrigkeit, für die vor allem der Innenminister Sipjagin als verantwortlich galt, rechtfertigten die Ideolog*innen des Terrorismus, allen voran der Sozialrevolutionär Grigorij Geršuni, die nächste Eskalation terroristischer Gewalt. Mit dem Attentat auf den Innenminister Dimitrij Sipjagin wollte Geršuni Fakten schaffen und den Terrorismus als Mittel sozialrevolutionärer Politik etablieren. Das Attentat von Stepan Balmašev auf Dmitrij Sipjagin

Am 2. April 1902 erschoss der Sozialrevolutionär Stepan Balmašev den Innenminister des Russischen Reiches Dmitrij Sipjagin. Stepan Balmašev war adliger Abstammung, allerdings war bereits sein Vater aus politischen Gründen in das Gouvernement Archangel′sk verbannt worden, wo Stepan 1881 zur Welt kam. Im Jahr 1900 studierte er an der Universität Kiew, an der Peripherie des Reiches, aber an einem der zentralen Orte der revolutionären Studierendenbewegung um die Jahrhundertwende. Aufgrund seiner Beteiligung an den Unruhen wurde er unter Berufung auf die „Vorläufigen Maßnahmen“ aus dem Jahr 1899 der Universität verwiesen und als Gefreiter für drei Jahre zum Militärdienst eingezogen. Im Januar 1901 wurde er verhaftet, kurz danach freigelassen und in sein Regiment zurückgeschickt. Im Sommer 1901 stellte das Militär ihn wegen Krankheit frei, und er konnte sich auf der Krim erholen. Dort arbeitete Balmašev mit lokalen sozialdemokratischen Zirkeln zusammen, nahm aber auch Kontakt zu lokalen Sozialrevolutionär*innen auf. Im Herbst 1901 ließ er sich erneut an der Universität Kiew einschreiben. Er gründete die „Union der Sozialisten Kiews“, die sich den Morrissey, Heralds of revolution, 1998, S. 62. Die Zahlen sind nach Susan Morrissey angegeben. In den unterschiedlichen Zeitungen finden sich z. T. widersprüchliche Angaben. Dennoch bleibt die Größenordnung immer ähnlich (zwischen 670 und 700 Verhaftete werden angegeben), ebenso wird überall berichtet, dass etwa die Hälfte der Verhafteten Frauen waren. Vgl. z. B. Riots in St. Petersburg, in: New York Times, 19.3.1901; More Riots in St. Petersburg, in: New York Times, 20.3.1901. 68 Pipes, Liberal on the left, 1870–1905, 21980, S. 271. 69 More Riots in St. Petersburg, in: New York Times, 20.3.1901. 67

Das Attentat von Stepan Balmašev auf Dmitrij Sipjagin

örtlichen Sozialrevolutionär*innen anschloss. Weil er sich für die Anwendung gewaltsamer Methoden ausgesprochen hatte, wurde Grigorij Geršuni, der spätere Kopf der ersten sozialrevolutionären Kampforganisation, auf ihn aufmerksam.70 Die Tat, die Balmašev unter Anleitung Geršunis ausführte, war in vielerlei Hinsicht inspiriert von dem Attentat, das Pëtr Karpovič etwas mehr als ein Jahr zuvor auf den Erziehungsminister Bogolepov verübt hatte. Zunächst waren das Attentat auf Bogolepov selbst und seine positive Rezeption inspirierend für die Befürworter*innen des Terrorismus gewesen. Aber auch die Ausführung der Tat erinnert in einigen Aspekten an ihre Vorläufer. Andere Besonderheiten waren neu. Karpovič war unmittelbar vor dem Attentat aus Berlin angereist, deshalb konnte die Polizei noch nicht durch Kontakte zu den St. Petersburger revolutionären Kreisen auf ihn aufmerksam geworden sein. Stepan Balmašev traf alle Vorbereitungen in Finnland und reiste von dort mit dem Zug nach St. Petersburg, wo er das Attentat noch am selben Tag ausführte.71 Balmašev wählte, noch dezidierter als Karpovič vor ihm, eine konspirative Verkleidung: Er trug die Uniform eines Aide-de-camp (Adjutanten).72 Allerdings bemerkte er auf der Zugfahrt nach St. Petersburg, dass er ein wichtiges Detail seiner Uniform vergessen hatte: den Degen. Diesen musste er auf dem Weg zum Tatort noch besorgen.73 Schließlich begab er sich zum Isaaksplatz in den Mariinskij Palast, wo der Ministerrat um 13 Uhr tagen sollte. Die regelmäßigen Sitzungen des Ministerrates machten den Zeitpunkt des Attentats planbar und begünstigten die konspirative Vorgehensweise Balmaševs. Einige Minuten vor 13 Uhr betrat Balmašev in der konspirativen Rolle eines Adjutanten des Großfürsten Sergej Aleksandrovič den Mariinskij Palast und bat darum, dem Innenminister eine Nachricht seines Herrn übermitteln zu dürfen. Als dieser Bitte stattgegeben wurde und Balmašev dem Minister gegenübertrat, übergab er ihm einen versiegelten Umschlag, in dem sich das Todesurteil, das die PSR über Sipjagin verhängt hatte, befand. Im gleichen Augenblick gab er zwei Schüsse auf den Innenminister ab und verwundete ihn schwer. Eine Stunde später erlag Sipjagin seinen Verletzungen.74 Die New York Times berichtete, dass auch einer der Diener im Gebäude verletzt wurde.75 Alexandre Spiridovitch, Histoire du Terrorisme Russe 1886–1917, Paris 1930, S. 150; Aleksandr Spiridovič, Partija socialistov-revoljucionerov i ee predšestvenniki (1886–1916), Petrograd 1918, S. 124–126. Vgl. dazu auch: Russian Minister Slain. M. Sipiaguine Assasinated in the Ministerial Offices  – The Murderer Was Formerly a Student, in: New York Times, 16. April 1902. 71 Boris Nikolajewsky, Aseff, the spy. Russian terrorist and police stool, New York 1970, S. 49. 72 Diese Verkleidung wurde als Schlüssel zum Gelingen der Konspiration in jedem noch so knappen Zeitungsartikel erwähnt. Vgl. z. B.: Po Telefonu, in: Russkija Vedomosti, 3. April 1902; † Ministr vnutrennich del′ D. S. Sipjagin, in: Novosti i birževaja gazeta, 3. April 1902. 73 Nikolajewsky, Aseff, the spy, 1970, S. 49. 74 Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 50; Russian Minister Slain, in: New York Times, 16. April 1902; Nikolajewsky, Aseff, the spy, 1970, S. 49–50. 75 Russian Minister Slain, in: New York Times, 16. April 1902. 70

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Vom Zentrum an die Peripherie

Unmittelbar nach dem Attentat veröffentlichte die offiziöse Novoe vremja einen Artikel über die letzten Worte Sipjagins, über den letzten Kuss von seiner Frau und den Abschied von seinen Ministerkollegen. Dieser emphatische Bericht zeigte den Minister als religiösen Menschen, liebenden Ehemann, treuen Diener des Zaren und guten Kollegen.76 Dieselbe Lesart wurde mit Hilfe der ausführlichen Berichterstattung über die Trauerfeier und ihre Gäste transportiert. Russische Zeitungen berichteten, dass der Zar und die Zarin persönlich ihr Beileid aussprachen, ebenso wie fast alle Mitglieder der Regierung, höfischer Kreise, der orthodoxen Kirche und des diplomatischen Korps.77 Mit dieser Berichterstattung wurde eine große emotionale Gemeinschaft konstruiert, die in Trauer über den Innenminister verbunden war. Nur zwei Tage später jedoch löste diese Gemeinschaft sich vor den Augen der Öffentlichkeit auf. Ein weiterer Beitrag der Novoe vremja erstaunte ihr Publikum: In einem Artikel, der das Phänomen des Terrorismus allgemeiner beleuchtete, distanzierte sich die Novoe vremja zwar in einer Einleitung von Blutvergießen und Schrecken terroristischer Attentate, beleuchtete das Thema aber im Rahmen einer abstrakten und theoretischen Diskussion so distanziert, dass die Leser*innen sich erstaunt fragten, ob die Zeitung, die für ihre Nähe zur zarischen Obrigkeit bekannt war, tatsächlich um den Innenminister trauerte.78 Noch deutlicher wurde die Distanz zu Sipjagin in der Zeitung Novosti i birževaja gazeta (Neuigkeiten und Börsenzeitung), die sich an die bürgerlich-konstitutionell gesonnene Kaufmannschaft richtete und damit ebenfalls nicht gerade die radikale Studierendenschaft repräsentierte. In den Novosti erschien neben den üblichen Berichten zum Tathergang und einem Nekrolog nur drei Tage nach dem Anschlag ein Kommentar in der Kolumne Otkliki (Reaktionen), der sich mit der Ermordung Sipjagins befasste. Der Kommentator bemerkte, dass in Amerika und Europa in der Regel gefährliche Psychopathen Terroranschläge verübten, während dieses in Russland von der studentischen Jugend erledigt werde. Dafür, so endete der Beitrag lakonisch, würde schon der Erziehungsminister sorgen.79 Auch die zarische Geheimpolizei notierte besorgt, dass nicht nur die Radikalen, sondern sogar die liberale Öffentlichkeit die Ermordung Sipjagins begrüßte.80 Auf ähnliche Weise lässt sich auch ein Artikel in der sozialdemokratischen Exilzeitschrift Iskra (Funke) verstehen, der im Jahre 1903 zum Jahrestag der Ermordung Sipjagins erschien und in dem ein Sozialdemokrat sich daran erinnerte, wie diese Nachricht an der Peripherie des Reiches aufgenommen worden war.81 Der Sozialdemokrat schilderte, dass M. Sipiaguines’s last moments, in: New York Times, 21. April 1902. † Ministr vnutrennich del’ D. S. Sipjagin, in: Novosti i birževaja gazeta, 3. April 1902. Little Grief for Sipiaguine. Article in the Novoe Vremya Indicates the Manner in Which Russians Regard the Minister’s Murder, in: New York Times, 22. April 1902. 79 Otkliki, in: Novosti i birževaja gazeta, 5. April 1902. 80 Norman M. Naimark, Terrorism and the fall of imperial Russia, in: Terrorism and Political Violence 2 (1990), S. 171–192, hier S. 185. 81 A. Svetlov, Ubijstvo Sipjagina – v provincii. (K rodovščine vtorogo aprelja), in: Iskra, 1.4.1903. 76 77 78

Das Attentat von Stepan Balmašev auf Dmitrij Sipjagin

die Honoratioren der „großen Stadt in der Provinz“, in der er sich befand, die Nachrichten aus der Hauptstadt über den Tod Sipjagins ohne jedes Bedauern weitergaben: „Der Prokuror des örtlichen Gerichts berichtete beim Apotheker: ‚Sipjagin ist tot,‘ sagte er mit einer Stimme, als würde er einen lustigen Witz erzählen.“82 Auch der örtliche Friedensrichter habe seiner Zustimmung für die Sozialrevolutionär*innen Ausdruck gegeben: Diese Art von politischem Kampf würde er verstehen, im Gegensatz zu dem, was die Marxist*innen-Sozialdemokrat*innen betrieben. Der sozialdemokratische Autor unterstrich, dass die lokale Oberschicht mit dem Attentäter sympathisierte, im Sinne der sozialdemokratischen Generallinie beeilte er sich aber zu versichern, dass die eigentlichen Massen, in diesem Falle die Mužiki aus den umliegenden Dörfern, die er selber erst einige Tage später über die Vorgänge um Sipjagin informierte, nichts mit dieser Tat hätten anfangen können und eine Art „höfische Intrige“ vermuteten. Die Bäuer*innen hätten die Sozialrevolutionär*innen also mit ihrer Tat gar nicht erreicht.83 Auch wenn die Intention des Autors, die Rezeption des Anschlags im Sinne der sozialdemokratischen Ideologie zu deuten, in dieser Quelle sehr deutlich wird, wirft sie doch ein bezeichnendes Licht auf die kommunikative Ausstrahlung und Nachrichtenübermittlung vom Zentrum an die Peripherie, wo die Nachrichten zeitverzögert eintreffen und mit der Entfernung auch ihren sensationellen Charakter und ihre emotionale Kraft zumindest zum Teil eingebüßt haben. Dieser Text aus der Exilzeitung Iskra vermittelt den Eindruck, dass die Ereignisse, die die Hauptstadt bewegten, in der „Provinz“ allenfalls zynisch, zumindest aber sehr verhalten und mit einer gewissen Ungerührtheit aufgenommen wurden.84 Ob diese Einschätzung des Sozialdemokraten in der Provinz stimmte, sei dahingestellt, alles in allem war die Rezeption des Anschlags im Sinne der Terrorist*innen aber weitgehend positiv. Doch Geršuni vertraute nicht allein der kommunikativen Botschaft des Anschlages selbst, sondern versorgte die Öffentlichkeit mit weiteren Botschaften. Die Übergabe des Todesurteils durch den Attentäter verstärkte den kommunikativen Aspekt des Anschlags, der dem Terrorismus per se innewohnt. Das Todesurteil ordnet die Tat zweifelsfrei der Partei der Sozialrevolutionär*innen zu, die sich gerade erst als überregionale Partei formiert hatte und damit als neuer Akteur auf der politischen Landkarte aufgetaucht war. Die Botschaft der PSR war, dass Sipjagin mit dem Attentat seiner gerechten Strafe zugeführt worden war. Der Sozialrevolutionär Balmašev war ihr Vollstrecker. Diese Interpretation wurde durch die Proklamation verstärkt, mit der sich die Kampforganisation der PSR am 3. April 1902 zu der Tat bekannte und mit der die Be-

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Ebd., S. 2. Ebd., S. 3–4. Dieser gesamte Artikel ist jedenfalls ein sprechendes Beispiel dafür.

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fürworter*innen des Terrorismus nicht nur diesen Anschlag, sondern auch die Taktik des Terrorismus an sich zu legitimieren suchten.85 Im Sinne der wechselseitigen Verweisstrategie innerhalb der diskursiven Entstehung terroristischer Gewalt wiesen die Urheber*innen der Proklamation der Obrigkeit „unseren Ministern, unseren Generalgouverneuren und den anderen zarischen Lakaien“ die Schuld für die Eskalation der Gewalt zu: „Sie haben es gewollt, und sie haben darauf gewartet […]“ Zunächst beschuldigten die Autor*innen die Obrigkeit der Sünden, derer die gesamte liberale Öffentlichkeit sie für schuldig hielt: die Pressezensur, die Liquidierung der unabhängigen Justiz, die Unterdrückung der nationalen Minderheiten und anderes mehr. Mit der Erwähnung der Repression der Universitäten mit Hilfe von Polizei und Militär schrieben sie sich in die Tradition der Studierendenunruhen seit 1899 ein und evozierten den Bezug zu dem Attentat von Karpovič auf Bogolepov. Damit lieferte die PSR dem Autor der Otkliki in den Novosti eine Vorlage für seinen Kommentar, den dieser, mit oder ohne Anregung durch diese Form der Begleitkommunikation der PSR, in genau diesem Sinne verfasste.86 Da die Autor*innen keine andere Kraft erkannten, welche die Unrechtsherrschaft über 130 Millionen Menschen zu brechen in der Lage war, sahen sie es nicht nur als ihr „Recht“, sondern auch als ihre „heilige Pflicht“ an, „Gewalt mit Gewalt“ und das „Blut des Volkes“ abermals mit „Blut“ zu vergelten. Als Grund für die Tat gab die Kampforganisation also Rache an. Mit dem Motiv der Rache hatten Terrorist*innen seit dem Anschlag von Vera Zasulič auf Trepov immer wieder versucht, ihr Handeln einer größeren Öffentlichkeit begreiflich zu machen. Politische Argumentationen traten von jeher demgegenüber in den Hintergrund. Die Schuld für alles Grauen, das im revolutionären Kampf passierte, lag demnach bei der Obrigkeit. Um das zu verdeutlichen, bezogen sich die Autor*innen ausdrücklich auf die Demonstration vom 4. März 1901, die zu diesem Zeitpunkt schon fast ein Jahr zurücklag. Nach dieser Demonstration, die Sipjagin blutig niederschlagen ließ, habe er gedroht, bei jeder neuen Demonstration „St. Petersburg in Blut zu ertränken“. Die zahlreichen Proteste von Bürger*innen gegen die Geschehnisse auf dem Kazaner Platz habe Sipjagin brüsk abgewiesen. Mit der gesonderten Erwähnung des Kazaner Platzes beriefen sich die Sozialrevolutionär*innen auf den „geheiligten Ort“ der Opposition im Zarenreich, der bei jeder Demonstration in der Hauptstadt angesteuert wurde. Damit stellten sie die Verbindung zwischen den Massenprotesten auf der Straße, den Demonstrationen, die aus einer reinen Studierendenbewegung eine größere gesellschaftliche Opposition gemacht hatten, und ihrem Terroranschlag her. In einem Land, so fuhren die Autor*innen fort, in dem ein Minister angesichts von Protesten droht, die Hauptstadt in Blut zu ertränken, in einem solchen Land müssten sie diesem Minister mit seiner Vgl. zur folgenden Analyse im Ganzen das Flugblatt: Boevaja Organizacija PSR, Proklamation am Tag nach der Hinrichtung Sipjagins in St. Petersburg, 3. April 1902, IISG, Archiv PSR f. 738. 86 Vgl. noch einmal: Otkliki, in: Novosti i birževaja gazeta, 5. April 1902. 85

Das Attentat von Stepan Balmašev auf Dmitrij Sipjagin

eigenen Sprache antworten, mit der Sprache der Gewalt. Die Tat des Revolutionärs Stepan Balmašev zeige, dass es Menschen gebe, die bereit seien, ihr Leben zum Wohle des Volkes zu opfern und die Feinde des Volkes ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Zum Abschluss forderten die Autor*innen politische Mitbestimmung, Abschaffung aller diskriminierenden Gesetze und einen Zemskij sobor.87 Mit dieser Abschlussformel sollten noch weitere Proklamationen der Kampforganisation der PSR in den nächsten Jahren enden.88 Damit kehrten die Autor*innen programmatisch an den Beginn der Proklamation zurück, wo sie ebenfalls liberale Positionen artikulierten. Die Legitimation der Ermordung des Innenministers Sipjagin wurde eingerahmt von politischen Forderungen der liberalen Opposition im Zarenreich, an die sich damit die Proklamation vor allem richtete. Bei der so bezeichneten Gesellschaft also wollten die Befürworter*innen des Terrorismus scheinbar um Verständnis für den Anschlag ringen. Es galt jedoch nicht nur, die Liberalen zu überzeugen, auch innerhalb der PSR wurde im Frühjahr 1902 noch um die Billigung des Terrorismus als legitime sozialrevolutionäre Taktik gerungen. Die PSR entstand im Laufe des Jahres 1901 in mühsamen Verständigungsprozessen der unterschiedlichen sozialrevolutionären Gruppierungen im Russischen Reich und im Exil. Vor allem im Ausland lebten zahlreiche ehemalige Narodovol′cy, die in der PSR respektvoll Stariki (Russisch für „Alte“) genannt wurden. Aber auch im Russischen Reich selbst bildeten sich unterschiedliche sozialrevolutionäre Gruppierungen. Programmatisch unterschied diese Gruppen die Frage, welche Rolle die russischen Bäuer*innen bei der Revolution und der sozialistischen Umgestaltung Russlands spielen würden. In diesen Streit hinein brachen im Frühjahr 1902 bäuerliche Unruhen in den Gouvernements Char′kov und Poltava aus. In 174 Dörfern nahmen mehrere Tausend Bäuer*innen teil an Angriffen auf 105 adlige Gutshöfe. Das Ausmaß der Unruhen und die rasche Verbreitung erwischten die Obrigkeit völlig unvorbereitet und zeigten vor allem die Unfähigkeit der lokalen Behörden, mit den Unruhen umzugehen.89 Es waren diese Aufstände, die auch den Zweifler*innen innerhalb der sozialrevolutionären Zirkel deutlich machten, dass die Bäuer*innen zu revolutionärer Aktion in der Lage waren und, mehr noch, dass „die Revolution auf dem Dorf in greifbare Nähe rückte.“90 Jedoch schieden sich die Geister an der Frage, ob der Terrorismus eine sinnvolle und der revolutionären Situation angemessene Taktik sei.91

Unter Zemskij sobor verstanden die russländischen Politiker eine historische Form der Ratsversammlung, wie sie im 16. und 17. Jahrhundert existiert hatte. Den Begriff hatte der slavophile Denker Konstantin Aksakov um 1850 in die Debatte eingeführt. Die Berufung auf vermeintlich historische Wurzeln von Mitbestimmung, wie im Zemskij sobor, oder Sozialismus, wie in der Bauerngemeinde, gehörte zum populistischen Erbe der PSR. Vgl. zum Zemskij sobor auch: Weber, Zur Russischen Revolution von 1905, 1989, S. 768. 88 Vgl. z. B. auch: Boevaja Organizacija PSR, Ko vsem graždanam Rossii, 7. Mai 1903, IISG, Archiv PSR f. 738. 89 Richard G. Robbins, The tsar’s viceroys. Russian provincial governors in the last years of the empire, Ithaca 1987, S. 214. 90 Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 57. 91 Ebd., S. 43. 87

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Beide Fragen, sowohl die nach der Rolle der Bäuer*innen als auch die nach der Taktik des Terrorismus, waren auch für die Abgrenzung gegenüber den russischen Sozialdemokrat*innen, die um die Jahrhundertwende bereits eine wichtige Kraft darstellten, von Bedeutung. Aus diesen Gründen kam der Frage nach der Haltung der noch jungen Partei, die bis 1904/5 noch nicht über ein festes Programm verfügte, zum Terrorismus eine Bedeutung zu, die nicht überschätzt werden kann.92 Der entschiedenste Befürworter des Terrorismus in der PSR war Grigorij Geršuni. Geršuni war eine der vier Persönlichkeiten, welche die Gründung der PSR vorangetrieben hatten und die auch in der Folgezeit von zentraler Bedeutung für die Partei sein sollten.93 Grigorij Geršuni und die zentrale Kampforganisation der PSR

Quellen und Forschung hinterlassen ein ambivalentes Bild von einem der wichtigsten Revolutionäre der PSR, den Manfred Hildermeier „ihren Lenin“94 genannt hat.95 Grigorij Geršuni wurde 1870 als Sohn einer bäuerlichen Familie in Kovno geboren und studierte Pharmazie an der Universität Kiew (1895–1897), wo er politisch aktiv war und das erste Mal verhaftet wurde. In Minsk führte er ab 1898 ein pharmazeutisches Laboratorium. Dort setzte er mit Ekaterina Breško-Breškovskaja96, der „Großmutter der Revolution“, die ihn aufgrund ihrer Lebenserfahrung beeindruckte und inspirierte, seine politische Arbeit fort. Bereits im Jahr 1900 wurde er ein weiteres Mal verhaftet, wieder freigelassen und tauchte daraufhin in die Illegalität ab. Bereits diese Freilassung gab einigen Zeitgenoss*innen Anlass, ihn der Kollaboration mit der Obrigkeit zu verdächtigen. Beweise dafür allerdings lassen sich außer den Erinnerungen des Kiewer Polizeichefs Spiridovič kaum erbringen.97 Während Geršuni von der Sozialrevolutionär*innen als revolutionärer, tugendhafter Held und Idealbild des Sozialrevolutionärs verehrt wurde,98 charakterisierten ihn seine Gegner als diabolischen Menschenfänger,

Ebd., S. 50–68. Die anderen waren Breško-Breškovskaja, Goc und Černov. Vgl. dazu auch: Černov, Pered burej, 1953; Viktor M. Černov, V partii socialistov-revoljucionerov. Vospominanija o vos′mi liderach, Sankt-Peterburg 2007, S. 213–348; Ekaterina K. Breško-Breškovskaja, The little grandmother of the Russian revolution. Reminiscences and letters of Catherine Breshkovsky, Westport 1973. 94 Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 52. 95 Vgl. zur Biografie Geršunis vor allen Grigorij Z. Geršuni, Iz nedavnjago prošlago, Paris 1908, Vgl. auch die offensichtlichen Widersprüche zwischen der Charakterisierung bei Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 51–52. Und Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 52–53. 96 Breško-Breškovskaja, The little grandmother of the Russian revolution. Reminiscences and letters of Catherine Breshkovsky, 1973. 97 Vgl. dazu Geifman, Thou shalt kill, 1993, S.  278; Spiridovič, Partija socialistov-revoljucionerov i ee predšestvenniki (1886–1916), 1918, S. 123–124. 98 Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 52. 92 93

Grigorij Geršuni und die zentrale Kampforganisation der PSR

der sein Charisma und seinen Einfluss auf die Jugend ausspielte, um sie in seinem Sinne zu beeinflussen.99 Seine hypnotische Ausstrahlung auf die revolutionäre Jugend nutzte er dazu, Terrorist*innen zu rekrutieren, sie auf ihre Aufgabe vorzubereiten und sie dann in Gefangenschaft und Tod zu schicken. Er selbst war allerdings nicht bereit, diesen Weg zu gehen. Als er 1903 ein zweites Mal verhaftet wurde, leugnete er seine terroristischen Aktivitäten und erflehte Gnade bei Nikolaus II., die ihm gewährt wurde. Seine Todesstrafe wurde daraufhin in lebenslange Zwangsarbeit umgewandelt. Diese Haltung wurde von einigen Zeitgenoss*innen als würdelos bezeichnet, hatte es doch unter den Revolutionär*innen des 19. Jahrhunderts als Ehrensache gegolten, sich vor Gericht ausdrücklich zu den revolutionären Taten zu bekennen und die Verhandlung solcherart als Propaganda-Plattform zu nutzen.100 Aus Sibirien aber konnte Geršuni weiterhin für die PSR agieren. Mit Briefen nahm er Einfluss auf die Auseinandersetzungen unter den Sozialrevolutionär*innen. Im Jahr 1906 gelang ihm die Flucht über China und die USA. Er tauchte überraschend auf dem Parteitag 1907 auf, wo die Partei ihn begeistert feierte. Allerdings war er in Sibirien an Tuberkulose erkrankt, an der er bereits Anfang 1908 im Alter von 38 Jahren starb.101 Auch deshalb nahm die Partei ihn als Opfer und Märtyrer des revolutionären Kampfes wahr. Diese Wahrnehmung verstärkte die emphatische Rezeption seiner Person. Seine offensichtlichen Schwächen wurden dabei ausgeblendet. So waren die jungen Leute, die der „Menschenfänger“ für die terroristische Arbeit auswählte, häufig von den Erwartungen der Partei und der revolutionären Öffentlichkeit überfordert. Ein Beispiel dafür waren auch die Attentate die Geršuni auf den Stadthauptmann von St. Petersburg Nikolaj Klejgel′s und den Oberprokurator des Heiligen Synod Konstantin Pobedonoscev plante.102 Beide sollten während der Beerdigungsfeierlichkeiten für Sipjagin ermordet werden, aber die jungen Leute, die Geršuni auswählte, ein Leutnant der Artillerie namens Grigor′ev und seine Verlobte, verloren im letzten Moment den Mut und zogen sich zurück.103 Grigor′ev sei, so berichtete Michail Mandel′štam, in eine Kneipe gegangen und habe Bier getrunken, statt den Anschlag durchzuführen.104 Andere boten, statt Opfermut zu zeigen, der Polizei Informationen über die terroristische Bewegung an.105 Geršuni war es auch, der den Provokateur Evno Azef zu seinem Vertrauten machte, ihn zu seinem Nachfolger an der Spitze der terroristischen Kampforganisation bestimmte und damit die PSR mittelfristig in eine der größten Krisen ihrer Geschichte stürzte.106

99 Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 51. 100 Ebd., S. 52. 101 Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 51. 102 Vgl. dazu auch: Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 51. 103 So berichtet es zumindest der Kiewer Polizeichef: Spiridovitch, Histoire

du Terrorisme Russe 1886– 1917, 1930, S. 152–153. 104 Michail L. Mandel′štam, 1905 god v političeskich processach. Zapiski zaščitnika, Moskva 1931, S. 232–233. 105 Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 52. 106 Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 359.

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Grigorij Geršuni war innerhalb der PSR einer der entschiedensten Befürworter des Terrorismus als Taktik. Bei der Festlegung der jungen Partei auf die Strategie des Terrorismus, der durch eine weitgehend autonome und zentrale Kampforganisation durchgeführt werden sollte, bediente sich Geršuni eines Tricks, der von der positiven Rezeption des Attentats von Pёtr Karpovič auf Bogolepov inspiriert war. Ebenso wie die Frage nach der Rolle der Bäuer*innen in der Revolution durch revolutionäre Ereignisse, nämlich die Unruhen in Char′kov und Poltava, und nicht durch ideologische Kämpfe entschieden wurde, so wollte Geršuni auch die Frage nach dem Terrorismus als Taktik durch ein revolutionäres Ereignis in seinem Sinne entscheiden. Er plante ein öffentlichkeitswirksames Attentat, das durch ein zentrales Organ, ähnlich dem Exekutivkomitee der Narodnaja volja, durchgeführt werden sollte. Das zentrale Organ war die Kampforganisation. Das Attentat war der Anschlag von Balmašev auf Sipjagin. Der Beifall, den diese Tat hervorrief, machte die PSR, die sich gerade erst gegründet hatte, zur „Avantgarde der russischen revolutionären Kräfte“.107 Zahlreiche junge Revolutionär*innen verließen die sozialdemokratischen Parteien und wollten in die PSR eintreten, um „am Terror teilzunehmen“.108 Durch die positive Resonanz innerhalb der revolutionären Öffentlichkeit waren die zentrale Kampforganisation und die Taktik des Terrorismus ein „fait accompli“, ein erfolgreicher Bestandteil sozialrevolutionärer Identität geworden. Niemand in der Partei traute sich, diesen abzuschaffen.109 Deutlich gaben Geršuni und auch andere Sozialrevolutionäre wie Viktor Černov ihrer Überzeugung Ausdruck, dass es solche Taten waren und nicht etwa ideologische Debatten, welche die Revolution vorantrieben. Diese anti-intellektuelle, aktionistische Denkweise wurde deutlich, als die beiden sich gegen die „Bücherwürmer“ wandten, die gegen den Terrorismus einen „Tintenkrieg“ führten. Das Leben, nämlich die Attentate von Karpovič und Balmašev, hätte diese Frage längst entschieden.110 Diese Argumentationsstrategie, mit der die Tat gegen das Wort bzw. die politische Theorie ausgespielt wird, ist typisch für die Geschichte des Terrorismus. Der Aktionismus, der dieser Argumentation zugrunde liegt, wurde später gerade von Sozialrevolutionär*innen an Anarchist*innen und Maximalist*innen kritisiert. Die Privilegierung der Tat gegenüber dem Wort ist umso bemerkenswerter, wenn man sich vor Augen führt, dass die terroristische Tat selbst eigentlich in erster Linie ein Mittel der Kommunikation ist. Durch die Überhöhung des aktionistischen Moments wird der Terroranschlag eher zum Symbol des Handelns als zu einer politischen Handlung selbst. 107 Zitiert nach: Ebd., S. 67. Vgl. zur Rezeption im Ausland auch: New Nihilism in Russia. Recent Outrages Due to Social Revolutionary Party, in: New York Times, 3. September 1903. 108 Vgl. z. B. den Fall: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 3, 4 u. a. Vgl. auch generell: Ezra Mendelsohn, Class struggle in the Pale. The formative years of the Jewish worker’s movement in tsarist Russia, Cambridge 1970, S. 131; Nikolajewsky, Aseff, the spy, 1970, S. 51. 109 Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 359; Nikolajewsky, Aseff, the spy, 1970, S. 50–51. 110 Terrorističeskij ėlement v našej programme, 1996, S. 78–89.

Grigorij Geršuni und die zentrale Kampforganisation der PSR

Auch im Hinblick auf die Kritiker*innen des Terrorismus in den eigenen Reihen funktionierte also dieser terroristische Anschlag als Mittel der Kommunikation. Die normative Kraft des Faktischen, die von ihm ausging, beantwortete zugleich auch die Frage nach seiner kommunikativen Ausstrahlung. Das Attentat auf Sipjagin schaffte es, so viel Zustimmung zu generieren, dass es den Terrorismus zur zentralen Taktik einer der wichtigsten illegalen Parteien im Russischen Reich erhob. Es wurde zum Vorbild einer Reihe weiterer Terroranschläge, die noch folgen sollten. Auch die Person des Attentäters Stepan Balmašev eignete sich als Vorbild für weitere Generationen revolutionärer Terrorist*innen und wurde auch immer wieder als solches genutzt. Anders als Pёtr Karpovič, der 1901 noch ein vergleichsweise mildes Urteil bekommen hatte, wurde Balmašev zum Tode verurteilt und damit in der Tradition der Narodnaja volja zum Märtyrer der revolutionären Bewegung. Das Urteil wurde bereits einen Monat nach der Tat vollstreckt, am 2. Mai 1902 wurde Balmašev in Schlüsselburg gehängt. Über den ersten Märtyrer der Kampforganisation der PSR kursierte ein Gedicht, das unter den Bedingungen der Konspiration eilig vervielfältigt wurde. Dieses Gedicht endete abermals mit dem Ruf nach Rache.111 Die zentrale Kampforganisation der PSR knüpfte an die terroristischen Vorläufer dort an, wo die Narodnaja volja fast 20 Jahre zuvor aufgeben musste. Sie formte sich nach dem impliziten Vorbild des Exekutivkomitees der Narodnaja volja.112 Der Terrorismus begann unter den Bedingungen der zentralistischen Organisation und zielte auf symbolische Personen im Zentrum der Macht. Geršuni und seine Mitstreiter*innen knüpften auch an die Argumentation und Legitimationsstrategie ihrer Vorgänger*innen an. Wie bei den Anschlägen der Narodnaja volja wurden die Attentate der PSR mit Hilfe einer drastischen Blutmetaphorik und als Taten der Rache und Vergeltung gegenüber der Öffentlichkeit legitimiert. Diese Elemente sind bereits in der Proklamation anlässlich des Attentats auf Sipjagin deutlich zu erkennen.113 Politischideologische Motive zur Rechtfertigung der Gewalt, die im Hintergrund die Theoretiker*innen der Partei bewegten, waren weder im Prozess der innerparteilichen Meinungsbildung noch als Bestandteil der politischen Öffentlichkeitsarbeit entscheidend. In der Abgrenzung von den sozialdemokratischen Konkurrent*innen spielten sie allerdings durchaus eine Rolle. Die Frage, welche Bedeutung politisch-ideologische Fragen überhaupt in der Geschichte des Terrorismus als politische Gewalt haben, erscheint also durchaus berechtigt.

Nikolajewsky, Aseff, the spy, 1970, S. 51; Recollections, 1896, 1898, 1902–191, IISG, Archiv PSR f. 566. Azef nannte das Exekutivkomitee als Vorbild der gerade im Entstehen begriffenen Kampforganisation gegenüber der Polizei in einem seiner Berichte im Februar 1902 beim Namen: Evno Azef, Soobščenie sekretnogo sotrudnika Vinogradova (E. F. Azefa) is Berna v departament policii. No. 37: 26 fevralja (11 marta) 1902 g, in: Ekaterina I. Ščerbakova (Hg.), Političeskaja policija i političeskij terrorizm v Rossii. Vtoraja polovina XIX – načalo XX vv., Moskva 2001, S. 162. 113 Boevaja Organizacija PSR 3. April 1902 , IISG, Archiv PSR f. 738. 111 112

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Die Terrorist*innen selbst, so viel lässt sich zumindest für die Kampforganisation sagen, waren jedenfalls politisch nicht sonderlich interessiert. Marija Benevskaja, Egor Sazonov und Ivan Kaljaev waren Eiferer, ohne tiefgehende politische Interessen. Evno Azef wandte sich sogar ganz dezidiert gegen ein sozialistisches Dogma und wurde innerhalb der Partei als „terroristischer Kadet“ (die Konstitutionellen Demokraten wurden nach ihren Anfangsbuchstaben KD Kadetten genannt) verhöhnt.114 Besonders gut gibt vielleicht die Einstellung von Dora Brilliant, so wie Savinkov sie zeichnet, die Motivation der Terrorist*innen selbst wieder: „Programmfragen interessierten sie nicht. […] Der Terror verkörperte für sie die Revolution, und die ganze Welt bestand für sie aus der Kampforganisation.“115 Die Terrorist*innen interessierten sich für den Terrorismus. Sie waren Aktionist*innen, welche die Tat vor dem Wort schätzten. In diesem Sinne unterschieden sich die Mitglieder der Kampforganisation nicht allzu sehr von denen im Exekutivkomitee der Narodnaja volja. Auch in den 1870ern waren die Terrorist*innen von der Praxis des terroristischen Kampfes so eingenommen, dass sie sich für politische Programmatik nicht interessierten. Der große Unterschied zum Exekutivkomitee der Narodnaja volja war, dass es 1902 neben der Kampforganisation eine Partei in der Entstehung gab, in der nicht alle von der Taktik des Terrorismus überzeugt waren. Während in den 1870ern das Exekutivkomitee das Herz der Partei war, gab es nun, neben der terroristischen Kampforganisation, auch andere Teile der Partei, von der die Kampforganisation in einer Art künstlicher Trennung existierte. Ein schlagkräftiges Exekutivkomitee hatte sich allerdings in der Anfangszeit der Partei, auch aufgrund der obrigkeitlichen Repression, noch nicht organisieren können. Deshalb rückten auch immer wieder lokale Gliederungen in den Rang des Exekutivkomitees auf.116 Ein weiterer wichtiger Unterschied war, dass es mit der sozialdemokratischen Arbeiterpartei eine mächtige Konkurrentin im Spektrum der revolutionären Parteien gab, das zu Zeiten der Narodnaja volja erst langsam im Entstehen begriffen war. Die Sozialdemokrat*innen lehnten den Terrorismus ab, deshalb wurde er zum wichtigen Distinktionsmerkmal. Aber sogar die Polemik der Sozialdemokrat*innen gegenüber dem Terrorismus der Sozialrevolutionär*innen ist ein weiterer Beleg für seine kommunikative Ausstrahlung. Die Attentate von Karpovič und Sipjagin lösten eine solche Euphorie innerhalb der revolutionären Bewegung aus, dass die Sozialrevolutionär*innen, die sich eben erst zu einer allrussischen Partei formiert hatten, zu einer ernsten Konkurrenz für die Sozialdemokrat*innen wurden. Vor allem die terroristischen Anschläge selber, die von der Aura des revolutionären Heldentums bestrahlt waren, übten eine starke Anziehungskraft auch auf Sozialdemokrat*innen aus. Die Attraktivität des Terrorismus für die Sozialdemokrat*innen wird anhand der scharfen Angriffe auf die Sozialrevolutionär*innen und den SR-Terrorismus durch Vladimir Le114 115 116

Zitiert nach: Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 49. Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 47. Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 109–121.

Grigorij Geršuni und die zentrale Kampforganisation der PSR

nin besonders deutlich. Im Jahre 1902 arbeitete sich Lenin regelrecht am sozialrevolutionären Terrorismus ab. In zahlreichen Schriften geißelte er diese Taktik immer wieder als „marktschreierisch“ und „prinzipienlos“.117 Auf die Proklamation vom 3. April 1902, mit der die PSR sich zu dem Attentat auf Sipjagin bekannte, reagierte Lenin mit einer wütenden und umfangreichen Gegenrede, die im August in der Parteizeitschrift Iskra (Funke) erschien. Darin bemängelte er die kurzlebige „Sensation“118 der Terroranschläge im Vergleich zu ernsthafter Arbeit und kritisierte die Theoriefeindlichkeit und theoretische Unbestimmtheit der Sozialrevolutionär*innen scharf.119 Die Terrorist*innen waren demgegenüber überzeugt, die wahren Revolutionär*innen zu sein, und teilten die von Geršuni und Černov schon angedeutete anti-intellektuelle Verachtung gegenüber theoretischen Debatten und „normaler“ politischer Tätigkeit.120 Geršuni war das einzige Bindeglied zwischen den anderen Parteigliederungen und der neu gegründeten Kampforganisation, an deren Spitze er stand. Er traf die Entscheidungen „diktatorisch“121 und bemühte sich dabei, die terroristischen Taten entlang der Linien sozialrevolutionärer Programmatik symbolisch aufzuladen. Deshalb bestimmte er beispielsweise einen Arbeiter zum nächsten Attentäter, um die Verbindung zwischen dem Terrorismus und den revolutionären Massen zu demonstrieren.122 Diese Entscheidung war ganz deutlich eine Reaktion auf die sozialdemokratische Polemik, die den Sozialrevolutionär*innen im Frühjahr 1902 entgegenschlug. Die Sozialdemokrat*innen versuchten, den sozialrevolutionären Terrorismus vor allem dadurch zu diskreditieren, dass sie ebendiese Verbindung zwischen den Terrorist*innen und den Massen in Zweifel zogen. Terrorismus, so urteilte Lenin in einer seiner zahlreichen anti-terroristischen Schriften aus dem Jahr 1902, stehe „in gar keiner Verbindung mit der Arbeit in den Massen, für die Massen und zusammen mit den Massen“.123 Dennoch wandten sich „die Massen“ zunehmend selbst dem Terrorismus zu und forderten die sozialdemokratischen Parteiorganisationen dazu heraus, sich dieser Form politischer Gewalt zumindest anzunähern.

117 Wladimir I. Lenin, Bruchstück eines Artikels gegen die Sozialrevolutionäre, in: Werke ,Bd. 6, Berlin 1955–1964, S. 280–281; Wladimir I. Lenin, Die Hauptthese gegen die Sozialrevolutionäre, in: Werke, Bd. 6, Berlin 1955–1964, S. 265–269; Wladimir I. Lenin, Revolutionäres Abenteuerertum, in: Werke, Bd. 6, Berlin 1955–1964, S. 178–199; Wladimir I. Lenin, Vulgärsozialismus und Volkstümelei, wiederbelebt durch die Sozialrevolutionäre, in: Werke, Bd. 6, Berlin 1955–1964, S. 255–262. 118 Lenin, Revolutionäres Abenteurertum, 1955–1964, S. 178–199. 119 Vgl. dazu den ganzen Text: Ebd. 120 Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 49. 121 Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 359. 122 Vgl. dazu auch die Aussage Pokotilovs nach: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 19. 123 Vgl. z. B. Wladimir I. Lenin, Warum muss die Sozialdemokratie den Sozialrevolutionären einen entschiedenen und rücksichtslosen Kampf ansagen. (1902), in: Werke, Bd.  6, Berlin 1955–1964, S.  164–167. Hervorhebung im Original.

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Terrorismus an der Peripherie: Das Attentat von Hirš Lekert auf Viktor von Wahl

Am 2. Mai 1902, an demselben Tag, an dem Stepan Balmašev, der sozialrevolutionäre Märtyrer der revolutionären Jugend, in Schlüsselburg hingerichtet wurde, befahl der Generalgouverneur von Vil′na, Viktor von Wahl, Jugendliche, die sich an einer verbotenen 1.-Mai-Demonstration beteiligt hatten, mit Prügeln zu bestrafen. Drei Tage später schoss der Aktivist der jüdischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei Bund Hirš Lekert auf von Wahl, um diese Demütigung zu vergelten.124 Dieser Anschlag zeigt, dass bereits nach der ersten zentral organisierten Aktion der Kampforganisation der PSR der Terrorismus vor allem an der Peripherie eine eigene Dynamik entwickelte. Nach den Erinnerungen von Viktor Černov plante Geršuni selbst einen Anschlag der Kampforganisation der PSR auf von Wahl, um solcherart eine Verbindung zwischen dem sozialrevolutionären Terrorismus und den arbeitenden Massen zu suggerieren. Laut Černov hatte Geršuni für diesen Anschlag den alten Kämpfer Vladimir Lapidus (Striga) ausersehen, der später vom Massenterrorismus angezogen wurde und ins anarchistische Lager wechselte.125 Doch ein terroristischer Anschlag, der Öffentlichkeit vertraut als ein Akt spontaner Vergeltung, der von einzelnen oder kleinen Gruppen ohne große Ressourcen ausgeführt werden kann, ließ sich als Taktik nicht von der Kampforganisation der Sozialrevolutionär*innen monopolisieren. In dem Moment, in dem der Terrorismus als revolutionäre Kampfform und Mittel des revolutionären Handelns im Russischen Reich wiedereingeführt war, fand er im Zuge der politischen Unruhen zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit über die Partei der Sozialrevolutionär*innen hinaus Nachahmer*innen. Die Phase der inflationären Ausbreitung des Terrorismus hatte spätestens in diesem Moment begonnen. Der Anschlag Hirš Lekerts auf Viktor von Wahl repräsentiert den Terrorismus an der Peripherie auf augenfällige Weise. In Vil′na (im heutigen Vilnius, jiddisch Vilne und polnisch Wilno), an der nordwestlichen Peripherie des Reiches gelegen, entfalteten die revolutionären Ereignisse im frühen 20. Jahrhundert sich innerhalb einer komplexen sozialen, kulturellen und ethnisch-nationalen Gemengelage. Deshalb ist die Tat ein Beispiel für Terrorismus als anti-imperiale Gewalt:126

124 Vgl. dazu z. B. N. Ben-Yĕhûdā, Political assassinations by Jews: A rhetorical device for justice, 1993, S. 106–107; Jacob Pat, Hirš Leker′. tzum 25-′n jortzai′ fun zain mar′irer-′oi′, Warše 1927; Henry J. Tobias, The Jewish Bund in Russia. From its origins to 1905, Stanford 1972, S. 150–151; Mendelsohn, Class struggle in the Pale, 1970, S. 131–133; Budnickij, Terrorizm v rossijskom osvoboditel′nom dviženii, 2000, S. 286–300. 125 Černov, V partii socialistov-revoljucionerov, 2007, S. 315; Avrich, The Russian anarchists, 1967, S. 48, 65, 101. 126 Vgl. zu den Ereignissen im Kontext anti-imperialer Gewalt auch ausführlich: Anke Hilbrenner, Hirš Lekerts Rache. Gewalteskalation an der Peripherie des Zarenreichs um 1900, in: Osteuropa 66 (2016), H. 4, S. 7–18.

Terrorismus an der Peripherie: Das Attentat von Hirš Lekert auf Viktor von Wahl

Vil′na war für die Jüd*innen des Russischen Reiches und des Königreichs Polen eine Stadt von besonderer Bedeutung. Sie galt als „Jerusalem Litauens“ und verfügte nicht nur über eine zahlenmäßig große jüdische Bevölkerung, sondern war auch der Hort jüdischer Gelehrsamkeit.127 Zugleich beherbergte sie aber auch Institutionen der weltlichen höheren Bildung, und mit dem Rabbinerseminar von Vil′na hatte es bereits Versuche obrigkeitsnaher Modernisierung der jüdischen Gemeinden des Russischen Reiches gegeben.128 Wie überall in diesem Reich waren aber die Institutionen der höheren Bildung auch in Vil′na Orte der Verbreitung von revolutionärem Gedankengut. Darüber hinaus gab es viele jüdische Arbeiter*innen, die unter den schwierigsten Bedingungen arbeiteten und lebten. Unter dem Einfluss der marxistisch orientierten jüdischen Intelligencija, etwa des späteren Men′ševik Julij Martov,129 begannen diese Arbeiter*innen, sich zu organisieren. Bereits 1896 gab es in Vilna 36 Kases (jiddisch für Kassen), also Kassen für gegenseitige Hilfe, mit denen die jüdischen Arbeiter*innen Streiks finanzieren konnten. Diese gewerkschaftlichen Gruppierungen formierten sich 1897 zum Jidisher algemejner arbejter bund (jiddisch für Jüdischer allgemeiner Arbeiterbund), kurz Bund, der eine wichtige Rolle für die Entstehung der Sozialdemokratie im Russischen Reich spielte. Als sich 1898 die Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei in Minsk gründete, waren von neun Delegierten drei Mitglieder des Bundes. Vil′na spielte also auch als Geburtsort der organisierten sozialdemokratischen Arbeiterbewegung eine wichtige Rolle für die revolutionäre Bewegung im Russischen Reich.130 Darüber hinaus war Vil′na auch typisch für die Peripherien des zarischen Vielvölkerreiches eine ethnisch, kulturell und national heterogene Stadt. Neben der starken jüdischen Bevölkerungsgruppe dominierten vor allem Pol*innen das Stadtbild. Auch für die Pol*innen war Vil′na (Wilno) eine wichtige Stadt: Zentrum der polnischen Romantik im 19. Jahrhundert, Wirkungsstätte des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz und mithin eine der zentralen Stätten der polnischen Nationalbewegung. Zudem verfügte Vil′na auch über eine organisierte polnische Arbeiterklasse; die polnische Sozialdemokratische Arbeiterpartei PPS hatte sich bereits 1892 unter Beteiligung des aus der Gegend um Vil′na stammenden Józef Piłsudski gegründet.131 Neben zahlreichen Pol*innen und Jüd*innen lebten in Vil′na noch Angehörige der russischen Administration, eine kleine Gruppe von Litauer*innen sowie einige Deutsche und Belarus*innen. Die Entsendung Viktor von Wahls als Gouverneur nach Vil′na im Jahr 1901 war typisch für die Politik Nikolaus II. gegenüber den nicht russischen Minderheiten an der Peripherie des Reiches. Von Wahl war ein deutsch-baltischer Adliger, der in seinen

Henri Minczeles / Léon Poliakov, Vilna, wilno, vilnius. La Jérusalem de Lituanie, Paris 2000. Verena Dohrn, Das Rabbinerseminar in Wilna (1847–1873). Die Geschichte der ersten staatlichen Schule für Juden im Russischen Reich, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 45 (1997), S. 379–400. 129 Julij O. Martov, Zapiski social-demokrata, Berlin, Peterburg 1922. 130 Tobias, The Jewish Bund in Russia, 1972, S. 60–70. 131 Manfred Alexander, Kleine Geschichte Polens, Bonn 2005, S. 255–257. 127 128

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Jahren als Militär und hoher Staatsbeamter zahlreiche Gouverneursposten bekleidet hatte. Von 1892 bis 1895 war er Stadthauptmann von St. Petersburg gewesen. In dieser Zeit hatte er sich unter den Studierenden und in der Öffentlichkeit einen Ruf als Reaktionär erworben. Als solcher galt er schließlich als verantwortlich für die immer schärfer werdenden Konflikte zwischen Obrigkeit und Studierenden. Deshalb wurde er von Nikolaus II. abberufen und mit der Leitung des „Ksenia-Instituts für höhere Töchter“ betraut. Diese Position kann durchaus als Karriereknick oder Strafversetzung aufgrund seines reaktionären Politikstils verstanden werden.132 Der Vilner Lehrer Hirš Abramovič, der dem Bund nahestand und die Ereignisse um das Attentat von Hirš Lekert in seinem Memoiren beschrieb, bezeichnet von Wahl als „notorischen Alkoholiker“ und „politischen Zyniker“133. Die Bürger*innen der Stadt Vil′na konnten also durchaus davon ausgehen, nicht die erste Garde der zarischen Spitzenbeamten geschickt zu bekommen, dafür aber jemanden, der für eine eskalierende und repressive Politik gegenüber der revolutionären Jugend sowie für seine antisemitische Haltung bekannt war. Abramovič lässt in seinen Memoiren, die er nach dem Zweiten Weltkrieg in der Erinnerung an eine „verlorene Welt“ verfasste, erkennen, dass er von Wahl von seiner Berufung nach Vil′na an für einen Antisemiten hielt. Die Ursache für diesen Antisemitismus sah der Autobiograph nicht zuletzt in der deutsch-baltischen Herkunft des Gouverneurs verwurzelt.134 Diese wechselseitigen Wahrnehmungen und Zuweisungen der ethnisch verschiedenen Untertan*innen des russländischen Kaisers sind typisch für die imperiale Erfahrung um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Es passte zudem zur Herrschaftspraxis im späten Zarenreich, die Gouvernements an der Peripherie mit ihrer brisanten ethnisch-sozialen Gemengelage in die Hände von besonders repressiven Statthaltern zu legen und einen bekannten Antisemiten ausgerechnet zum Gouverneur von Vil′na, der spirituellen Hauptstadt des russländischen Judentums, zu ernennen.135 Selbst unter den zarischen Militärs und Beamten galt von Wahl als hartherzig.136 Er betrachtete politische Gefangene als Kriminelle und bediente sich der Gesetze stets in ihrer härtesten Auslegung. 132 Die ausländische Presse lässt keinen Zweifel daran, dass Nikolaus II. 1895 unzufrieden mit von Wahl war, allerdings stimmen viele Angaben der New York Times nicht mit der Biographie von Wahls in: Baltisches biographisches Lexikon digital. BBLD, Berlin 2012, überein: New York Times, 19. Juni 1904. Nach 1901 jedoch und auch nach dem Attentat durfte von Wahl aus der Peripherie nach St. Petersburg zurückkehren, wo er in gehobener Stellung dem Innenminister zuarbeitete und Leiter der Gendarmerie wurde. 133 Vgl. hierzu und im Folgenden: Hirsz Abramowicz, Profiles of a lost world. Memoirs of east european Jewish life before World War II, Detroit 1999, S. 131–141. Die sachlichen Informationen z. B. über von Wahls Karriere sind z. T. fehlerhaft. Aber seine Eindrücke werfen ein wichtiges Licht auf die Erwartungen, welche die jüdische Jugend Vil′nas mit von Wahls Berufung verband. 134 Abramowič beruft sich dabei auf die Baltendeutsche Adligen: von Minn, von Riman und Rennenkampf: Ebd., S. 132. 135 Jacob Hertz, Hirsch Lekert, New York 1952, S. 17–20. 136 Vgl. dazu: Tobias, The Jewish Bund in Russia, 1972, S. 150.

Terrorismus an der Peripherie: Das Attentat von Hirš Lekert auf Viktor von Wahl

Bei seiner Ankunft in Vil′na im Herbst 1901 begrüßte der Bund den neuen Gouverneur mit einer Protestkundgebung. Diese Begrüßung erboste von Wahl, der sogleich die Oberhäupter der jüdischen Gemeinden zu sich rief und sie warnte, jede revolutionäre Aktivität der jüdischen Jugend werde mit äußerster Härte bestraft. In diesem Zusammenhang war bereits von der Androhung von Prügelstrafen die Rede.137 Möglicherweise aufgrund dieser Vorgeschichte kursierte bereits vor dem 1. Mai 1902 das Gerücht, dass diejenigen unter den Arbeiter*innen, die sich trauen würden, am 1. Mai zu demonstrieren, mit einer Prügelstrafe zu rechnen hätten.138 Der Bund aber konnte sich von diesen Drohungen nicht einschüchtern lassen. Zwar befürchteten die Aktivist*innen weitere Verhaftungen und einen harten Schlag gegen die Organisation, aber die Spirale der wechselseitigen Eskalation war bereits durch von Wahls Androhung körperlicher Gewalt (durch Prügelstrafen) in Gang gesetzt. Wenn die organisierte Arbeiterschaft als Antwort auf die Ankündigung von Gewalt auf eine Demonstration verzichtete, so kalkulierte der Bund, wären der obrigkeitlichen Repression in Zukunft Tür und Tor geöffnet. Also könne die Reaktion auf von Wahls Drohung nur eine Demonstration der Stärke der Arbeiterklasse sein.139 In den Vorbereitungen zur 1.-Mai-Demonstration suchte der Bund die Solidarität der anderen nationalen Gruppen. Proklamationen erschienen nicht nur im innerhalb des Bundes gebräuchlichen Jiddisch, sondern auch in russischer und polnischer Sprache.140 Vor allem die an die polnischen Arbeiter*innen gerichteten Schreiben im Umfeld der Mai-Proteste geben beredtes Zeugnis von der Situation der multi-nationalen Arbeiterklasse an der Peripherie des Reiches. So konstruierten die jüdischen Bundist*innen sich gemeinsam mit den polnischen Arbeiter*innen zu einer Art Avantgarde der Diskriminierten: Wir jüdischen und polnischen Arbeiter werden mit einer Form der Diskriminierung konfrontiert, von der unsere russischen Kameraden keine Vorstellung haben. Wir gehören, genau wie ihr, zu einem Volk, dass von der russischen Regierung besonders gehasst wird. Diese Regierung beutet uns aus, verfolgt uns, demütigt uns, beschämt uns.141

Die polnische organisierte Arbeiterschaft sicherte dem Bund zu, sich an der Demonstration unter den Bedingungen der Konspiration zu beteiligen. Die Demonstration wurde für sieben Uhr am Abend geplant, damit diejenigen, die am Mittwoch, den 1. Mai 1902 arbeiten gingen, sich beteiligen konnten. Der Ort der Demonstration war die Deut-

Abramowicz, Profiles of a lost world, 1999, S. 133; Tobias, The Jewish Bund in Russia, 1972, S. 150. Zitiert nach: Susanne Marten-Finnis, Vilna as a centre of the modern Jewish press, 1840–1928. Aspirations, challenges, and progress, 2004, S. 99. 139 Abramowicz, Profiles of a lost world, 1999, S. 133–134. 140 Marten-Finnis, Vilna as a centre of the modern Jewish press, 2004, S. 95–97. 141 Polnische Proklamation des Bund im Mai 1902, zitiert nach: Ebd., S. 97. 137 138

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sche Straße im Zentrum Vil′nas. Die Polizei und die Kosaken waren aufmarschiert, um eine Machtdemonstration der Arbeiter*innen bereits im Vorfeld zu verhindern. Zu diesem Zweck versuchten sie, die Zugänge zur Deutschen Straße zu blockieren. Zunächst waren die Straßen ruhig, denn die meisten Menschen blieben aus Angst vor den Ausschreitungen zu Hause. Doch um kurz vor sieben Uhr füllten sich die Straßen mit jungen Leuten in festlicher Kleidung. Einigen gelang es, sich an den Kosaken und Polizisten vorbei auf die Deutsche Straße zu stehlen. Dort warteten die Bundist*innen auf die polnischen Arbeiter*innen, die scheinbar Probleme hatten, durchzukommen. Die jüdischen Arbeiter*innen verbargen die Banner mit den revolutionären Botschaften unter ihrer Kleidung und hatten trainiert, diese in Sekundenschnelle an Stöcken zu befestigen, um mit ihnen eine große Öffentlichkeit zu erreichen. Die Performanz dieser Demonstration ähnelt also der eines Terroranschlages: Zunächst agierten die Demonstrant*innen im Verborgenen, in konspirativer Feiertagsverkleidung, bis sie in einem bestimmten Moment ihre Botschaft plakativ an die Öffentlichkeit brachten. Bis etwa um 19.45 Uhr blieb es still, und es kursierten Gerüchte, die Demonstration sei abgesagt. Doch dann sahen die jüdischen Demonstrant*innen eine Gruppe nicht jüdischer Arbeiter*innen und holten ihre Banner heraus. Die Menge reagierte begeistert und skandierte Parolen wie: „Hoch lebe der 1. Mai! Nieder mit der Autokratie!“142 In diesem Moment griffen Polizei und Kosaken ein und gingen mit äußerster Brutalität mit Knüppeln gegen die Demonstrant*innen vor – gegen Männer wie Frauen und vor allem gegen die Bannerträger, die blutig zu Boden gingen. Die Menge lief schnell auseinander, nur die Verwundeten blieben zurück und wurden von der Polizei verhaftet. Gegen diese Verhafteten, 20 jüdische und sechs polnische Protestierende,143 verhängte von Wahl die berüchtigte Prügelstrafe: Die Bannerträger wurden zu 100, die übrigen zu 50 Stockschlägen verurteilt. Dieses Vorgehen war nicht untypisch. Die Bannerträger waren aufgrund ihrer Sichtbarkeit der obrigkeitlichen Repression am stärksten ausgesetzt. Sie waren das primäre Ziel der Gewalt von Polizei, Truppen und Kosaken. Für sie war auch das Risiko, verhaftet zu werden, am größten.144 Hirš Abramovič, der sich am Tage der Vollstreckung der Prügelstrafe wegen einer anderen politischen Aktion zum 1. Mai ebenfalls im Gefängnis befand, berichtete, dass

142 Vgl. zum Ablauf der Demonstration den detaillierten Bericht: Abramowicz, Profiles of a lost world, 1999, S. 134. Auch die Zitate stammen hierher. 143 Die Zahlen variieren in den verschiedenen Untersuchungen. Viele Veröffentlichungen zu Hirš Lekert geben nur 20 Opfer der Prügelstrafe an und gehen damit davon aus, dass Lekert nur die jüdischen Arbeiter gerächt habe. Der Entstehungskontext der Demonstration und die Ziele der jüdischen Arbeiterbewegung in Vil′na zielten aber auf eine Einheitsfront von Pol*innen und Jüd*innen. Vgl. dazu und zu den korrespondierenden Zahlenangaben: Tobias, The Jewish Bund in Russia, 1972, S. 150; Marten-Finnis, Vilna as a centre of the modern Jewish press, 2004, S. 94. 144 Vgl. dazu z. B. den Artikel aus der jiddischen Arbejter štime (Arbeiter-Stimme): Kak dolžny byt′ organizovany naši demonstracii? (Iz No. 27, 29 „Arbeiter Stimme“), in: Kirill M. Anderson / Valentin V. Šelochaev / Jurij N. Amjantov (Hg.), Bund. Dokumenty i materialy, 1894–1921, Moskva 2010, S. 201–207.

Terrorismus an der Peripherie: Das Attentat von Hirš Lekert auf Viktor von Wahl

von Wahl auch die Bestrafung als kommunikativen Akt inszenierte. So ließ er vor der Vollstreckung ein Militärfahrzeug mit schwerer Bewaffnung zum Zwecke der Einschüchterung in der Stadt umherfahren und schließlich ins Gefängnis kommen. Es war nach Angaben von Abramovič die Besatzung des Fahrzeugs, welche die Strafe ausführte. Von Wahl war zumindest zu Beginn des Strafvollzugs anwesend und zwang einen Häftling, sich die Bestrafung anzusehen, um darüber zu berichten. Einer anderen Aussage zufolge ließ von Wahl den Verprügelten nach dem letzten Hieb ein Flugblatt mit den Worten „Grüße zum 1. Mai“ verteilen.145 Auch Abramovič erinnerte sich an von Wahls spezielle „Grüße zum 1. Mai“, allerdings auf andere Weise: Abramovič war in eine Flugblattaktion anlässlich des 1. Mais verwickelt, die in einem Theater stattgefunden hatte. Deshalb saß er zu dem Zeitpunkt, als die Prügelstrafe gegen die Demonstranten vollzogen wurde, gemeinsam mit einer Gruppe von Aktivisten im Gefängnis und konnte aus nächster Nähe von der Strafe berichten. Bei einem der Verhöre vor der Bestrafung sei von Wahl „kurz, fett und mit roten Gesicht“ hereingeplatzt und habe gesagt: „Danke für die Grüße zum 1. Mai. Meine Grüße kommen noch!“ Die zynische Weise der Gleichsetzung der Prügelstrafe mit „Grüßen zum 1. Mai“ riefen sich beide Berichterstatter in Erinnerung, wenn auch auf je unterschiedliche Weise. Auf jeden Fall unterstreicht der Zynismus von Wahls, an den sich beide Zeugen erinnern, die kommunikative Intention der Prügelstrafe.146 Die Nachricht von der Brutalität der Bestrafung verbreitete sich in Windeseile in der ganzen Stadt, so kamen die Angehörigen der Bestraften zum Gefängnis, wurden aber von der Polizei wieder vertrieben.147 Die gewaltsame Bestrafung von Teilnehmern der 1.-Mai-Demonstration sorgte für Proteste quer durch alle sozialen Schichten Vil′nas. Die jüdische organisierte Arbeiterschaft kämpfte häufig für bessere Arbeitsbedingungen gegen die jüdischen Geschäftsleute, die in ihren Werkstätten und Manufakturen jüdische Arbeiter*innen beschäftigten, aber diese ebenso ausbeuteten wie die russischen oder polnischen Arbeitgebenden. Auf der anderen Seite führte der Bund die Revolte gegen die russische Obrigkeit an. Normalerweise waren sich die jüdische Oberschicht und die russische Verwaltungselite also aus nachvollziehbaren Gründen weitgehend einig in ihrer Ablehnung der jüdischen Arbeiterbewegung. Aber in diesem Fall wurde die Bestrafung der Demonstrierenden auch von den wohlhabenden und konservativen Jüd*innen als ein antisemitischer Affront gewertet, und dieser Umstand brachte die gesamte Judenheit Vil′nas gegen von Wahl auf. Nach der Erinnerung von Abramovič weigerten sich die jüdischen Ärzte z. B., ihren Kollegen, den städtischen Arzt Michajlov, zu grüßen,

145 Leizer Janklewicz, Bundism and terrorism. On the 75th anniversary of the Hirsh Lekert affair, in: Shmate: A Journal of Progressive Jewish Thought 1 (1982), H. 1, S. 4–13, hier S. 12. 146 Janklewicz, Bundism and terrorism, 1982, S. 12; Abramowicz, Profiles of a lost world, 1999, S. 137. 147 Abramowicz, Profiles of a lost world, 1999, S. 137–138.

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der beim Vollzug der Prügelstrafe zugegen war.148 Die Anwesenheit Michajlovs wurde in der Proklamation des Bundes eigens erwähnt: Am nächsten Morgen wurden unsere Kameraden in Anwesenheit des Gouverneurs von Wahl, des Polizeichefs Nazimov, des Arztes Michajlov, der Polizei, der Kosaken und der Wachen aufs schrecklichste misshandelt!149

In dieser Stimmung und unter dem Eindruck des terroristischen Anschlages von Stepan Balmašev auf Sipjagin, der, so schien es in der Öffentlichkeit, aus Gründen der Vergeltung motiviert worden war, forderte die sozialdemokratische Arbeiterpartei Bund einen Racheakt gegen von Wahl.150 Auch wenn sich die Partei nicht offiziell an einem Attentat beteiligen wollte, gab sie in einer Resolution doch der Hoffnung Ausdruck, dass ein „Rächer“ aus der Mitte der jüdischen Arbeiterbewegung hervortreten und „die Demütigung seiner Brüder vergelten möge“.151 Die Demütigung der Prügelstrafe ist das wichtigste Element in dem Diskurs über die Geschehnisse am 1. Mai 1902 in Vil′na. Rache war seit den Zeiten der Narodnaja volja zwar das durchgängige Motiv für Terroranschläge gewesen, aber bei den sozialrevolutionären Terroranschlägen und ihren Vorläufern wurde stets „Blut mit Blut“ vergolten. Innerhalb der bundistischen Propaganda erscheint es aber folgerichtig, dass hier „Blut für Ehre“ vergossen wurde, denn der Bund appellierte seit seiner Gründung an das Ehrgefühl der jüdischen Arbeiter*innen und sah seine wichtigste Aufgabe darin, den Stolz der jüdischen Arbeiterschaft zu wecken, damit diese zum politischen Kampf bereit war. Der Stolz und die Ehre der Jüd*innen in der osteuropäischen Diaspora waren, so scheint es, ein besonders prekäres Gut, das es zu verteidigen galt. In dieser Frage nach der Ehre bzw. der Ehrverletzung rückten die Jüd*innen unterschiedlicher sozialer Schichten zusammen, und so konnte der Bund in dieser Sache Solidarität bis weit über die Milieus der jüdischen Arbeiterschaft hinweg mobilisieren.152 So hieß es in dem Flugblatt des Bundes, mit dem dieser unverhohlen nach einem Racheakt rief: Immer und überall, in den schlimmsten Momenten unseres Lebens, haben wir Revolutionäre unser Leben und unsere Würde beschützt und verteidigt. Beleidigungen haben wir mit Beleidigungen vergolten, Gewalt mit Gewalt! Wir können nicht verschweigen, was in Vilna passiert ist. Aus Tausenden unschuldiger Herzen dringt der Schrei nach Rache. Rache! Rache!153 Ebd., S. 140. Proklamation: Algemayner yidisher arbayterbund in Lite, Poyln un Rusland; Tsentraler komitet fun Bund: Tsu ale yidishe arbayter und arbayterinnen! Vilna (Mai 1902). Zitiert nach: Marten-Finnis, Vilna as a centre of the modern Jewish press, 2004, S. 99. 150 Abramowicz, Profiles of a lost world, 1999, S. 140. 151 Janklewicz, Bundism and terrorism, 1982, S. 4–13, S. 12. 152 Tobias, The Jewish Bund in Russia, 1972, S. 150. 153 Proklamation: Algemayner yidisher arbayterbund in Lite, Poyln un Rusland; Tsentraler komitet fun Bund: Tsu ale yidishe arbayter und arbayterinnen! Vilna (Mai 1902). Zitiert nach: Marten-Finnis, Vilna as a centre of the modern Jewish press, 2004, S. 99. 148 149

Terrorismus an der Peripherie: Das Attentat von Hirš Lekert auf Viktor von Wahl

Der Schuhmacher Hirš Lekert war schließlich dieser „Rächer“, der den Vergeltungsschlag ausführte. Hirš Lekert wurde 1879 in eine arme jüdische Familie im Gouvernement Kovno geboren. Er machte eine Ausbildung zum Schuhmacher und zog im Jahre 1895 nach Vilna, wo er in einer Schuhmacherwerkstatt arbeitete. Er engagierte sich in der jüdischen Arbeiterbewegung und wurde rasch für seine politisch kompromisslose Haltung und sein stürmisches Temperament bekannt. Bereits im Jahr 1900 fiel er durch die Anwendung von Gewalt auf. Er gehörte einer Gruppe von Kämpfern an, die gewaltsam gegen Streikbrecher vorging.154 Mit einer solchen Gruppe stürmte er auch eine Polizeistation, um dort politische Gefangene zu befreien. Bei einem weiteren Versuch, einen Gefangenen zu befreien, wurde Hirš Lekert schließlich selbst verhaftet und zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt. Im Anschluss daran schickte die Polizei ihn in die Verbannung nach Ekaterinoslav. Im April 1902 kehrte Lekert illegal nach Vil′na zurück, wo er seine Mutter und seine Ehefrau zurückgelassen hatte, und nahm an der Demonstration des Bundes am 1. Mai 1902 teil.155 In der allgemeinen Entrüstung, die nach der Verhängung der Prügelstrafe gegen die Demonstranten herrschte, lag das Attentat auf von Wahl förmlich in der Luft, nicht zuletzt, weil das Zentralkomitee des Bundes pathetisch dazu aufgefordert hatte, die Demütigung zu vergelten. In seiner Lekert-Biographie erzählt Hertz, die Führung des Bundes habe das Attentat konspirativ in Auftrag gegeben mit den Worten: „ […] die Organisation weiß von nichts, aber hier sind 60 Rubel.“156 In den Erinnerungen von Abramovič ist von den unterschiedlichsten Planungen die Rede, so kursierte das Gerücht, dass von Wahl am Sonntag, den 5. Mai 1902 während der Messe ermordet werden sollte. Zu diesem Zweck, so Abramovič, sei eine Schuluniform als konspirative Verkleidung beschafft worden. Außerdem hieß es, in den Wäldern um Vil′na herum hätten die jungen Bundisten, die den Anschlag ausführen wollten, Schießübungen gemacht.157 Auch die SR-Kampforganisation um Geršuni plante, gemäß den Erinnerungen Černovs, ein Attentat auf von Wahl, um sich der Solidarität der jüdischen Arbeiterschaft zu versichern und zu beweisen, dass die SR die Bedürfnisse der arbeitenden Massen erkannte.158 Schließlich war es aber Hirš Lekert, der die Initiative in die Hand nahm. Ob das Vorgehen so geplant war oder nicht, lässt sich nicht mehr ermitteln. Aber am Abend des Sonntags, am 5. Mai, besuchte der Gouverneur eine Vorstellung im Zirkus von Vilna. Als er nach der Vorstellung gegen Mitternacht aus dem Zirkus heraustrat, näherte Lekert sich ihm und gab zwei Schüsse auf von Wahl ab. Er traf die linke Hand und das rechte Bein des Gouverneurs. Im nächsten Augenblick brachten Polizisten und Menschen aus der Menge den Attentäter zu

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Mendelsohn, Class struggle in the Pale, 1970, S. 102. Hertz, Hirsch Lekert, 1952. Ebd., S. 50. Abramowicz, Profiles of a lost world, 1999, S. 140–141. Černov, V partii socialistov-revoljucionerov, 2007, S. 315.

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Boden. Ein weiterer Schuss löste sich, traf aber niemanden mehr. Der Schütze wurde sogleich verhaftet und befragt. Er gab Namen und Herkunft an, die am übernächsten Tag in der Zeitung standen.159 Die Durchführung des Attentats unterschied sich in einigen wichtigen Punkten von den konkreten Vorbildern, d. h. von den Anschlägen von Karpovič und Balmašev. Es fehlte die Handschrift der SR-Kampforganisation, so wie Geršuni sie bisher geprägt hatte. Hirš Lekert trug keine konspirative Verkleidung (obwohl diese Idee möglichweise, so zumindest Abramovič in seinen Memoiren, in den Kreisen des Bund diskutiert worden war). Er wählte stattdessen eine Methode, die nur einer geringen Vorbereitung bedurfte. Nachdem er herausgefunden hatte, dass von Wahl am Sonntagabend den Zirkus besuchen würde, konnte er den Zeitpunkt, an dem er diesen Ort wieder verlassen würde, relativ genau voraussagen. Er näherte sich von Wahl beim Verlassen des Zirkus auf der Straße, wo er ohne Vorbereitung und ohne zuvor Verdacht zu erregen sehr nah an ihn herantreten konnte. Daraufhin schoss er ohne Vorankündigung. Ein weiterer Unterschied zu dem Anschlag von Balmašev auf Sipjagin war, dass Hirš Lekert kein „Todesurteil“ oder eine andere Form von Bekennerschreiben mit sich führte. Die Botschaft des Attentats – Rache – musste ohne weitere Begleitkommunikation zu verstehen sein. Er versuchte auch nicht, seinen Namen oder seine Herkunft geheim zu halten. Die kommunikative Ausstrahlung des Anschlags auf von Wahl war sehr unterschiedlich, je nachdem, welche Medien betrachtet werden. In den offiziellen Medien in den Hauptstädten des Reiches war der Eindruck, den das Attentat hinterließ, im Vergleich zu dem Anschlag auf Sipjagin relativ verhalten. Das lag einerseits daran, dass von Wahl als Gouverneur von Vil′na politisch und hierarchisch gesehen von geringerer Bedeutung war als der Innenminister Sipjagin. Außerdem spielte hier auch die periphere Lage Vil′nas eine Rolle. Über die Demonstration am 1. Mai, ihre blutige Niederschlagung und die daraufhin verhängte Prügelstrafe fanden sich in den einschlägigen hauptstädtischen Zeitungen keine Berichte. Das Attentat auf von Wahl selbst stand erst am 7. Mai, zwei Tage nach dem Anschlag, in der Zeitung.160 Einen Tag später kolportierte die Russkija vedomosti das medizinische Bulletin von Wahls aus dem Vilenskij vestnik (Vilner Boten), in dem der Gesamtzustand, Nachtruhe, Temperatur sowie der genaue Verlaufskanal der Kugeln durch den Körper wiedergegeben wurden. Während nach dem Tode Sipjagins die Trauer der Zarenfamilie und anderer Eliten des Reiches zum Thema geworden war, fiel die Antwort auf die Verletzung von Wahls relativ nüchtern aus. Der Innenminister Pleve schickte ein Telegramm.161 Während die Reaktionen im Zentrum auf einen Anschlag an der Peripherie also auf den ersten Blick verhalten

Vilna, 6-go Maja, in: Russkija Vedomosti, 7. Mai 1902; Russian Governor Fired at. Gen. von Wahl Wounded at Vilna – He Was Formerly Chief of Police at St. Petersburg, in: New York Times, 20. Mai 1902. 160 Vgl. Hier z. B. die beiden Moskauer Zeitungen: Vilna, 6-go Maja, in: Russkija Vedomosti, 7. Mai 1902 Oder Telegrammy. Vil′na, in: Novosti dnja, 7. Mai 1902. 161 Vilna, 6-go Maja, in: Russkija Vedomosti, 8. Mai 1902. 159

Terrorismus an der Peripherie: Das Attentat von Hirš Lekert auf Viktor von Wahl

erscheinen, wird anhand der Erinnerungen von Abramovič deutlich, dass Peripherie und Zentrum über die Telegraphenagentur in enger Verbindung miteinander standen. Abramovič schilderte die Kommunikation zwischen Peripherie und Zentrum folgendermaßen: Vize-Gouverneur Baljasnyj telegraphierte nach St. Petersburg, um zu melden, dass sich die Stadt Vil′na in Aufruhr befinde. Vom Innenminister Pleve aus St. Petersburg kam wiederum die Anweisung, dass Hirš Lekert von einem Militärgericht zu verurteilen sei. Diese Meldung sei über die Telegraphenagentur verbreitet worden, sodass allen in Vil′na klar geworden sei, dass Hirš Lekert mit dem Todesurteil zu rechnen habe. Die Verantwortung für die Hinrichtung Hirš Lekerts lag also, so zumindest die Einschätzung von Abramovič, beim Innenminister Pleve und damit bei den Autoritäten im Zentrum des Reiches.162 Das Todesurteil gegen Hirš Lekert erregte die Vilner jüdische Öffentlichkeit und wurde, weit über die Arbeiterschaft hinweg, als antisemitisch motivierte Bestrafung aufgenommen. Im Vergleich zu Balmašev, der Sipjagin getötet habe, habe Lekert von Wahl lediglich leicht verwundet. Deshalb sei die Todesstrafe nicht gerechtfertigt. Der Bund fasste diese Stimmung zusammen: Lekert ist ein Jude, Lekert ist ein Arbeiter, Lekert hat seine Tat in Litauen vollbracht, das unter einer Sondergesetzgebung steht. Deshalb musste seine Bestrafung außerordentlich streng sein […] Für eine leichte Verwundung musste er mit dem Leben bezahlen.163

Diese Einschätzung verweist auf die besondere Gewalteskalation an der Peripherie.164 Vil′na stand bereits seit 1881 unter Verwaltung mit Hilfe von Notstandgesetzen, so wie die meisten Territorien im sogenannten Ansiedlungsrayon in den westlichen Gouvernements. Die meisten Sondergesetze blieben bis 1917 in Kraft. Aufgrund dieser Notstandsmaßnahmen konnten z. B. sogenannte Staatsverbrechen vor ein Militärgericht gebracht werden.165 Die New York Times berichtete aber auch unter Berufung auf eine Zeitung in Lemberg, dass der Anschlag auf von Wahl auch die Bevölkerung in St. Petersburg alarmiert habe. So führte die Tatsache, dass die Polizei anscheinend gegen solche Gewalttaten machtlos sei, zu Verunsicherung. Die Zeitung mutmaßte nicht ganz zutreffend, dass von Wahl „ohne Zweifel“ vom „Revolutionären Zentralkomitee“ zum Tode verurteilt worden sei und derartige Briefe erhalten hätte. Auch der Innenminister Pleve, so fügte die Zeitung zutreffend hinzu, habe solche Drohbriefe erhalten. Zudem stellte die New York Times unter Berufung auf die Wiener Neue Freie Presse einen Zusammenhang zwischen Hirš Lekert und Stepan Balmašev her. Die Hinrichtung Bal-

162 Abramowicz, Profiles of a lost world, 1999, S. 141–142. Vgl. zum Prozess: Leon I. Gol′dman, Političeskie processy v Rossii, 1901–1917, Moskva 1932, S. 24. 163 Zitiert nach: Tobias, The Jewish Bund in Russia, 1972, S. 151. 164 Vgl. dazu auch: Girš Lekert i ego process, o. O. 1902. 165 Vgl. dazu vor allem: Daly, On the significance of emergency legislation in late imperial Russia, 1995, S. 611–613.

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maševs wecke Befürchtungen vor ähnlich gelagerten Racheakten.166 Es ist im Hinblick auf die Rezeption des Terrorismus bemerkenswert, dass die Öffentlichkeit, in diesem Falle eine Lemberger Zeitung und die New York Times unter Berufung auf ihre europäischen Korrespondenten, bereits zu diesem frühen Zeitpunkt die Handschrift der Kampforganisation der SR antizipierte, auch wenn diese in diesem Falle nicht beteiligt war und ihre Symbole deshalb ausblieben. Auf jeden Fall lässt sich diese Quelle als Beleg dafür werten, dass die Anschläge der SR und die ihrer Nachahmer*innen bereits zu einem frühen Zeitpunkt eine gewisse Nervosität in den Kreisen der höheren russischen Beamten im Russischen Reich ausgelöst zu haben scheinen. Obwohl Hirš Lekert mit seinem Vorhaben, von Wahl zu töten, gescheitert war, empfanden die Revolutionär*innen in Vil′na und wohl auch einige jüdische Angehörige der oberen Schichten Genugtuung. Das lag vor allem daran, dass von Wahls Strafexzess als antisemitische Aktion gewertet wurde.167 In revolutionären Kreisen war die kommunikative Ausstrahlung des Attentats gewaltig. Die Ideolog*innen des Vilner Bundes, die Terroranschläge eigentlich ablehnten, wurden aufgrund der Ereignisse vor eine harte Probe gestellt. Auf der fünften Konferenz des Bundes in Berdičev wurde als Reaktion auf Lekerts Tat eine Resolution angenommen, die besagte, dass Terrorismus als revolutionäre Taktik zwar abzulehnen sei, Aktionen, welche die jüdische Arbeiterbewegung oder ihre Mitglieder demütigten, jedoch nicht toleriert werden könnten. Protest allein sei nicht ausreichend, um die obrigkeitliche Gewalt zu bekämpfen. Der Bund billigte deshalb einzelne gewaltsame Racheakte, da wo sie nötig seien, um „beschämende Demütigungen zu vergelten“.168 Zur Legitimation des Anschlags von Hirš Lekert gegenüber den eigenen Reihen bemühten die Bundist*innen also einen Ehrdiskurs. Auch die jiddischsprachige Zeitschrift des Bundes Arbejter štime versuchte sich an einer Trennung zwischen dem Racheakt Hirš Lekerts als „Gewalt, mit der die Gewalt der Regierung beantwortet wird“, und terroristischen Anschlägen als „Mittel des Kampfes gegen die Obrigkeit“.169 In diesem Artikel beriefen die Bundist*innen sich ausdrücklich auf das Vorbild der Vera Zasulič, die aus Rache für Bogoljubov die Waffe gegen Trepov gezogen habe.170 Vera Zasulič war zudem Redakteurin der sozialdemokratischen Exilzeitung Iskra (Funke) und enge Mitarbeiterin von Lenin, der den Terrorismus ablehnte. Während aber die Aktivist*innen des Bund innerhalb des Ansiedlungsrayons diese Argumentation offensichtlich nachvollzogen, stieß die Resolution bei einigen Ideo166 Russian Nihilists Active. Outrages Increasing in Alarming Proportions  – Minister von Plewes Life Threatened, in: New York Times, 21. Mai 1902. 167 Abramowicz, Profiles of a lost world, 1999, S. 141. 168 Zitiert nach: Janklewicz, Bundism and terrorism, 1982, S. 12. 169 13. Redakcionnaja stat′ja v No. 34 gazety „Arbejter štime“. „Kak nužno otvečat′ na rozgi“ 1902 g., in: Kirill M. Anderson / Valentin V. Šelochaev / Jurij N. Amjantov (Hg.), Bund. Dokumenty i materialy, 1894– 1921, Moskva 2010, S. 213–215, hier S. 213. 170 Ebd.

Terrorismus an der Peripherie: Das Attentat von Hirš Lekert auf Viktor von Wahl

logen des Bundes im Exil auf Protest. Vladimir Kossovskij erinnerte die Genossen vor Ort an die sozialdemokratischen Grundüberzeugungen gegenüber dem Terrorismus und kritisierte die Trennung zwischen „organisiertem Terrorismus“ und „Rache“, die die Bundist*innen in Berdičev offensichtlich implizit akzeptiert hatten. Kossovskij argumentierte hellsichtig, dass es eine solche Trennung nicht gebe.171 Und tatsächlich hatten alle Terrorist*innen im Russischen Reich bisher als Motiv für ihre Anschläge gegenüber der Öffentlichkeit stets Rache angegeben. Das Vorbild aller russländischen Attentäter*innen, Vera Zasulič, hatte ihre Tat gegen Trepov im Jahre 1878 mit der Verhängung der Prügelstrafe gegen den politischen Gefangenen Bogoljubov begründet. Auch in diesem Fall, der fast 25 Jahre zurücklag, war es eine Prügelstrafe gewesen, die weite Teile der Öffentlichkeit gegen die Obrigkeit aufgebracht hatte. Diese Parallele hatte ja bereits die Arbejter štime erkannt. Bis hin zu dem vorerst letzten Attentat auf Sipjagin hatten sowohl Narodniki als auch Sozialrevolutionär*innen immer wieder mit dem Wunsch nach Vergeltung argumentiert. Im Fall Sipjagin verwies die Kampforganisation der PSR auf die brutale Niederschlagung einer Demonstration in St. Petersburg. Von daher lag Kossovskij richtig mit seiner Einschätzung, dass der Verweis auf das Motiv der Rache die sozialdemokratischen Anschläge, zumindest in den Augen der Öffentlichkeit, an die sich diese Kommunikationsakte richteten, nicht vom sozialrevolutionären Terrorismus, den die Marxist*innen ablehnten, unterscheiden würde. Die Lekert-Affäre und die folgenden Diskussionen verschärften die Konflikte zwischen Sozialrevolutionär*innen und Sozialdemokrat*innen, ob sie nun dem Bund anhingen oder der RSDAP. Die Sozialrevolutionär*innen begrüßten den Versuch des Bundes, terroristische Attentate als individuelle politische Racheakte durch die Hintertür einzuführen.172 Darauf reagierte nicht nur Kossovskij empfindlich. Vor allem die Iskra unter Lenin schlug harsche Töne gegenüber den bundistischen Abweichler*innen an. Dabei stand Lenin als Verfechter der reinen Lehre der ehemaligen Terroristin Vera Zasulič gegenüber, die Akte politischer Rache als unvermeidlich betrachtete.173 Diese Diskussionen zeigen, wie sehr die Attraktivität der terroristischen Gewalttaten zum Problem für die Sozialdemokrat*innen wurde. Vor allem die jüdischen Arbeiter*innen, die zuvor dem Bund nahestanden, wurden durch das Vorbild Lekerts dazu motiviert, terroristische Gruppen zu bilden. In Riga entstand im Jahr 1903 eine terroristische Gruppe, die sich aus ehemaligen Bundist*innen zusammensetzte. In Łodz gründeten 60 Mitglieder des Bundes eine Gruppe namens „SR Bundisten“, die ausdrücklich das terroristische Programm der SR übernahm.174 Auch darüber hinaus 171 Zagraničnyj komitet Bunda, 11. Resoljucija v konferencii Bunda s kommentarijami zagraničnogo komiteta Bunda o taktike terrorora sentjabr′ (avgust) 1902 g., in: Kirill M. Anderson / Valentin V. Šelochaev / Jurij N. Amjantov (Hg.), Bund. Dokumenty i materialy, 1894–1921, Moskva 2010, S. 186–195; Janklewicz, Bundism and terrorism, 1982, S. 12–13. 172 Pjataja konferencija ‚Bunda‘, in: Revoljucionnaja Rossija, November 1902. 173 Vgl. dazu ausführlich: Tobias, The Jewish Bund in Russia, 1972, S. 156. 174 Mendelsohn, Class struggle in the Pale, 1970, S. 133.

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fühlten sich viele der sozialdemokratischen Aktivist*innen vom Terrorismus unwiderstehlich angezogen, und weite Kreise der Bevölkerung applaudierten den Sozialrevolutionär*innen bei jedem neuen Anschlag. Die Reihen der Sozialrevolutionär*innen füllten sich mit jungen Leuten, die „am Terror teilnehmen“175 wollten, während die Sozialdemokrat*innen zusehen mussten, wie ihnen die Aktivist*innen abhandenkamen. Dieser Zustand war für die sozialdemokratische Führung unerträglich, und der Ton gegenüber den Sozialrevolutionär*innen in der Ablehnung des Terrorismus wurde immer schärfer. Wiederum wird deutlich, dass die Ideologie der revolutionären Bewegung häufig den Taten der Aktivist*innen oder den Notwendigkeiten der Stunde folgen musste und diese nicht etwa anleitete. Die Sozialrevolutionär*innen selbst überwanden angesichts der überwältigenden positiven Reaktion auf Hirš Lekerts Attentat in revolutionären Kreisen rasch ihre Enttäuschung darüber, dass sie den Anschlag nicht selber ausgeführt hatten. Sie versuchten, Hirš Lekert für ihre Sache zu vereinnahmen, und befeuerten die Rezeption, indem sie ihn in die Reihe der sozialrevolutionären Märtyrer*innen aufnahmen. Das Zentralorgan der PSR Revoljucionnaja Rossija (Revolutionäres Russland) brachte im Juni 1902 als Heft Nr. 7 eine Ausgabe heraus, die als Streitschrift für die Taktik des Terrorismus gelesen werden kann. Diese Ausgabe begann mit einem ausführlichen Nachruf auf Hirš Lekert, in dem der Tathergang geschildert und ein Vergleich zu Stepan Balmašev gezogen wurde.176 Im Anschluss wurde ein Brief von Stepan Balmašev an seine Eltern abgedruckt.177 Und schließlich folgte der programmatische Artikel „Das terroristische Element in unserem Programm“, in dem die Notwendigkeit des Terrorismus aus den Taten von Balmašev und Karpovič abgeleitet wurde.178 In der zehnten Nummer der Revoljucionnaja Rossija im Juli 1902 erschienen in der Rubrik „Aus den Kampfliedern“ mehrere Gedichte. Die ersten waren dem Märtyrer Stepan Balmašev gewidmet.179 Das letzte Gedicht richtete sich an den hingerichteten Hirš Lekert. Es beginnt mit einem Zitat aus Nikolaus Lenaus Polenliedern: „Und der schwarze Dunst der Schmach sprüht der Rache Flamme nach!“ und verstärkt damit noch einmal die Bedeutung, die das Moment der Rache für den revolutionären Terrorismus hat. Das Zitat, das sich ursprünglich auf den gescheiterten Novemberaufstand der Polen gegen die zarische Herrschaft im Jahre 1830 bezog, verweist nochmals auf die besondere imperiale Erfahrung an der Peripherie des Reiches. Das gesamte Gedicht „An Hirš Lekert“ ist signiert mit der Unterschrift „Evrej“ (ein Jude) und repräsentiert eine jüdische Erinnerung an Lekert, so wie sie in der sozialrevolutionären Revoljucionnaja Rossija zumindest nicht selbstverständlich war. Der anonyme jüdische

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Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 4. Girš Lekert. Nekrolog, in: Revoljucionnaja Rossija, Juni 1902. Pis′mo Stepana Balmaševa k roditeljam, in: Revoljucionnaja Rossija, Juni 1902. Terrorističeskij ėlement v našeij programme, in: Revoljucionnaja Rossija, Juni 1902. Pamjati Balmaševa, in: Revoljucionnaja Rossija, August 1902.

Terrorismus an der Peripherie: Das Attentat von Hirš Lekert auf Viktor von Wahl

Autor beruft sich auf das „heldenhafte jüdische Volk“ und vertraut Hirš Lekert „dem Gott seiner Väter an“.180 Mit diesem Gedicht, das zumindest zum Teil eine religiös verstandene Zugehörigkeit zum jüdischen Volk anspricht und damit sogar über das säkulare Bekenntnis des Bundes zum Judentum hinausgeht,181 versuchten die Sozialrevolutionär*innen abermals, mit Hilfe der kommunikativen Ausstrahlung des Terrorismus über ihre eigentliche Anhängerschaft hinauszugreifen. Ob das den Sozialrevolutionär*innen allein mit diesem Gedicht gelungen ist, lässt sich nicht abschließend überprüfen. In Vil′na aber hatte Hirš Lekert auch die Solidarität der bürgerlichen und sogar die der religiösen Jüd*innen. So weigerte sich der angefragte Rabbiner, der Hinrichtung Lekerts als geistliche Begleitung beizuwohnen.182 Hirš Abramovič erinnerte sich an die Ausstrahlung, welche die Hinrichtung hatte: Der Eindruck, den Lekerts Tod hinterließ, war tief. Die Menschen konnten nächtelang nicht schlafen. Man muss bedenken, dass Todesurteile in jener Zeit noch relativ selten waren. Die Meldung der Telegraphenagentur, dass das Todesurteil vollstreckt worden ist, wurde in ganz Russland verbreitet. Fast gleichzeitig wurde bekannt gegeben, dass der Zar von Wahl für einen Orden und eine Beförderung vorschlug. Ohne Zweifel heizte die Affäre den Flächenbrand, der das Reich 1905 entflammte, kräftig an.183

Tatsächlich wurde Viktor von Wahl nach St. Petersburg zurückberufen und zum Assistenten des Innenministers von Pleve bestellt.184 In dieser Eigenschaft leitete er die Abteilung der politischen Polizei im Innenministerium. Ab 1903 war er Mitglied des Staatsrats. Nachdem von Wahls politische Karriere also im Jahr 1895 so gut wie zu Ende gewesen war, erfuhr seine Laufbahn durch das Attentat, das er leicht verletzt überlebt hatte, wiederum einen Aufschwung. Auch auf der Seite der Obrigkeit erlebten damit die Opfer des gewaltsamen politischen Kampfes mit der revolutionären Bewegung eine besondere Wertschätzung, und auch dieser interaktive Martyrolog ließ die Gewalt eskalieren, wie Abramovič zu Recht andeutet. Obwohl das Attentat von Hirš Lekert im Jahr 1902 in der Öffentlichkeit als Bestandteil der terroristischen Kampagne angesehen wurde, die allgemein der PSR zugeschrieben wurde, und obwohl die Sozialrevolutionär*innen diese Lesart sogar unterstützten, wurde Hirš Lekert vor allem in der jüdischen Geschichtsschreibung rezipiert.185 Er gilt als nationaler Held, dem zahlreiche Gedichte, so unter anderem eines von Abraham

Giršu Lekertu, in: Revoljucionnaja Rossija, August 1902. Vgl. dazu z. B. Gertrud Pickhan, Gegen den Strom. Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund „Bund“ in Polen 1918–1939, Stuttgart 2001, S. 34–69. 182 Abramowicz, Profiles of a lost world, 1999, S. 142. 183 Ebd. 184 Vgl. zu von Wahl auch: Edward H. Judge, Plehve. Repression and reform in imperial Russia, 1902 to 1904, Syracuse 1983. 185 Pat, Hirš Leker′, 1927. 180 181

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Suzkever186, Dramen, ein Film und Denkmäler gewidmet sind. In der Geschichte des russländischen Terrorismus hat Lekert bislang eher eine untergeordnete Rolle gespielt, obwohl er für die Weiterentwicklung des sozialrevolutionären Terrorismus und für die Inflation politischer Gewalt von entscheidender Bedeutung war. Hirš Lekert steht für das Spannungsfeld zwischen Sozialrevolutionär*innen und Sozialdemokrat*innen in der Frage des Terrorismus als revolutionäre Taktik. Der ständige Vorwurf der Sozialdemokrat*innen, der sozialrevolutionäre Terrorismus habe keine Verbindung zu den Massen, wog so schwer, dass Geršuni sich eine Strategie überlegte, um diesem Vorwurf zu begegnen.187 Der Streit mit den Sozialdemokrat*innen prägte also die beiden nächsten Anschläge der Kampforganisation der Sozialrevolutionär*innen. Das Attentat von Foma Kočura auf Fürst Ivan Michajlovič Obolenskij

Am 29. Juli 1902 verübte der Arbeiter Foma Kočura188 im Namen der zentralen Kampforganisation der PSR einen Anschlag auf den Gouverneur von Char′kov, Fürst Obolenskij. Ivan Michajlovič Obolenskij war ein Spross der Familie der Rjurikiden, der ersten russischen Herrscherdynastie, und gehörte damit zur Hocharistokratie im Russischen Reich. Seiner Herkunft gemäß hatte er eine militärische und politische Karriere in den Diensten der Autokratie absolviert, war Adelsmarschall im Gouvernement Simbirsk und Gouverneur des Gouvernements Cherson gewesen, bis der Kaiser ihn im Januar 1902 zum Gouverneur von Char′kov machte.189 Bereits im ersten halben Jahr seiner Amtszeit war Obolenskij mit dem Ausbruch der berüchtigten Bauernunruhen von 1902 konfrontiert, mit denen sein Gouvernement ebenso wie das Gouvernement von Poltava im ganzen Reich von sich reden machte.190 Es waren ebenjene Bauernunruhen, welche die sozialrevolutionären Gruppen davon überzeugten, dass eine Revolution im Russischen Reich von den Bäuer*innen ausgehen könne, und so die Gründung einer allrussischen sozialrevolutionären Partei beflügelten.191 Die Bauernunruhen in den Gouvernements von Char′kov und Poltava im Frühjahr 1902 verdienen in diesem Zusammenhang eine genauere Einführung, weil sie für die Gründung der sozialrevolutionären Partei eine so existenzielle Bedeutung hatten.

Gabriella Safran, Wandering soul. The Dybbuk’s creator, S. An-Sky, Cambridge, Mass 2010, S. 98–99. Černov, V partii socialistov-revoljucionerov, 2007, S. 315. In verschiedenen Texten wird der Attentäter auch als Foma Kačura bezeichnet. Vgl. zur Biographie Obolenskijs auch: Vsevolod Vladimirov / Victor E. Marsden, The revolution in Finland under Prince John Obolensky, London 1911. 190 Vgl. zur juristischen Aufarbeitung der Bauernunruhen: Gol′dman, Političeskie processy v Rossii, 1901–1917, 1932, S.  24–26. Vgl. auch zu bäuerlicher Gewalt in Char′kov um die Jahrhundertwende: Felix Schnell, Räume des Schreckens. Gewalträume und Gruppenmilitanz in der Ukraine, 1905–1933, Hamburg 2012, S. 33–43. 191 Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 50–58. 186 187 188 189

Das Attentat von Foma Kočura auf Fürst Ivan Michajlovič Obolenskij

Darüber hinaus sind sie für das Verständnis der Symbolik des Attentats auf Obolenskij wichtig, ebenso wie für die Gewalteskalation zwischen Obrigkeit und Untertan*innen, die am Vorabend der Revolution von 1905 überall im Reich zu beobachten war. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen der Bäuer*innen mit den Landbesitzern und der Obrigkeit nahmen ihren Anfang durch die Hungersnot in der Region, die im April 1902 die Menschen zur Verzweiflung trieb. Seit der wirtschaftlichen Krise im Jahre 1898 waren Missernten und Lebensmittelteuerung wieder häufiger geworden. Die Löhne in der Landwirtschaft waren gesunken, und die Einführung neuer agrarischer Techniken veränderte die Landwirtschaften der Gutsbesitzenden teilweise zum Nachteil der Bäuer*innen.192 In dieser Krise machten Gerüchte die Runde, ein zarischer Ukaz gebiete die Aufteilung des adligen Besitzes unter den Bäuer*innen. Dadurch ermutigt, begaben sich die Bäuer*innen in größeren Gruppen zu den Gutshöfen, um dort die Speicherschlüssel zu fordern und Lebens- wie Produktionsmittel an sich zu nehmen.193 Etwa 38.000 Menschen, darunter Bäuer*innen aus 174 Dörfern, plünderten 105 adlige Gutshöfe.194 In den Fällen, in denen die Großgrundbesitzer*innen Widerstand leisteten, kam es zu gewaltsamen Übergriffen von beiden Seiten. Die Unruhen wurden sowohl im Gouvernement Poltava als auch im Gouvernement Char′kov mit Hilfe des Militärs und der Kosaken mit äußerster Brutalität niedergeschlagen. In seiner Arbeit über die „zarischen Vizekönige“, also die Gouverneure und ihre Politik, führt Richard Robbins aus, dass diese Bauernunruhen ein neues Zeitalter in der Konfrontation zwischen Bevölkerung und lokaler Obrigkeit markierten. Bis um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert konnten die Gouverneure zur Befriedung regionaler Unruhen auf Verhandlungen und Kompromisse setzen. Unterpfand dieser konsensualen Konfliktlösungsstrategie war ein tief verwurzelter Respekt der bäuerlichen Bevölkerung vor Autoritäten. Nur aufgrund der gegenseitigen Akzeptanz der Rollen von Herrschenden und Beherrschten konnten Kompromisse gefunden werden. Diese Akzeptanz der traditionellen Hierarchie ging um die Wende zum 20. Jahrhundert augenscheinlich verloren. Auslöser dafür mögen sowohl die Hungersnöte auf dem Land als auch die Studierendenunruhen in den Städten, die verstärkte Binnenmigration vom Land in die Stadt und wieder zurück, aber auch die Aktivitäten der revolutionären Parteien, Zeitungsberichte über die Unruhen an der Peripherie und auch die symbolische Kraft der Terroranschläge gewesen sein.195 Ein Vergleich der Befriedungskampagnen der beiden Gouverneure von Char′kov und Poltava zeigt diese Zeitenwende augenfällig. In Poltava versuchte der langjährige Gouverneur Bel′gard zunächst, mit dem alten Mittel der Verhandlung auf die Bauern-

Robbins, The tsar’s viceroys, 1987, S. 213–214. The South Russian Riots. Three Estates Devastated in Kharkoff and Forty-three in Poltava. Wholesale Flogging by Cossacks, in: New York Times, 9. Mai 1902. 194 Robbins, The tsar’s viceroys, 1987, S. 213–214. 195 Ebd., S. 212–213. 192 193

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unruhen zu reagieren. Von der Wut und Entschlossenheit der Bäuer*innen überrascht, musste er schließlich auch Gewalt anwenden, um die Unruhen zu stoppen. Es gelang ihm aber nie, die Ereignisse zu kontrollieren, und so wüteten die Unruhen trotz massiver Intervention von Soldaten und Kosaken so lange, bis sie sich selbst erschöpften. Sie „brannten aus“, allerdings erst nachdem sie zahlreiche Opfer gefordert und einen hohen Sachschaden verursacht hatten. Der Zar und der Innenminister sahen Bel′gards Krisenmanagement als gescheitert an und entließen ihn wenig später aus seinem Amt.196 Im Gegensatz dazu griff der Gouverneur von Char′kov sofort zu drastischen Gewaltmaßnahmen, um die Bauernunruhen zu befrieden. Fürst Obolenskij war erst am Vorabend der Unruhen in Char′kov angekommen und hatte, anders als Bel′gard in Poltava, noch keinerlei Erfahrung mit den Personen vor Ort. Eingedenk seiner militärischen Ausbildung schickte er eine Division von Kosaken sofort in jene Region, in der die Rebellion ausgebrochen war, und verhinderte solcherart, dass sie sich ausbreiten konnte. Dabei agierte er mit den Mitteln extremer Gewalt. Während der Historiker Richard Robbins von ausgiebigem Gebrauch von Körperstrafen schreibt, veröffentlichte die sozialdemokratische Exilzeitschrift Iskra drastische Augenzeugenberichte aus der Region: Der Gouverneur Fürst Obolenskij brannte die Dörfer, die er durchquerte, ohne Ausnahme nieder: sowohl die Bauern als auch die Alten, die Kinder und die jungen Frauen. Es kam allerorten zu Selbstmorden. Offiziere fühlten sich durch den Geruch von verschmortem Menschenfleisch an ihre Kriegserlebnisse erinnert.197

Die Gewalt, die der Gouverneur entfesselte, richtete sich gegen die Dorfbewohner*innen im Kollektiv, ohne dass individuelle Schuld ermittelt wurde. Dabei kam es den Berichten zufolge immer wieder zu Ausschreitungen seiner Soldaten gegenüber Frauen. Sowohl in der ausländischen Presse als auch in den Untergrundzeitschriften der politischen Parteien wurde die Brutalität der Strafexpeditionen des Fürsten Obolenskij immer wieder erwähnt.198 Die New York Times schrieb noch Jahre später mit Blick auf die Niederschlagung der Bauernunruhen: „Prince Ivan Obolensky […] enjoys the unenviable reputation of being one of the most cruel and ruthless administrators in Russia.“199 Vom Zaren wurde Obolenskij dagegen für sein kompromissloses Vorgehen, mit dem er Schlimmeres verhindert habe, belobigt.200 Auch deshalb war Obolenskij, der aufgrund seiner AbEbd., S. 215. Iz našej obščestvennoj žizni. Ob usmerenii krest′jan v Valkovskom uezde, Char′kov G., in: Iskra, 1.6.1902. 198 Vgl. z. B. The South Russian Riots, in: New York Times, 9. Mai 1902; Iz našej obščestvennoj žizni, in: Iskra, 1.6.1902; Krest′janskoe dviženie, in: Revoljucionnaja Rossija, Juni 1902. 199 Finland’s New Gouverneur General. From The London Standard, in: New York Times, 19. Juli 1904. 200 Robbins, The tsar’s viceroys, 1987, S. 215. 196 197

Das Attentat von Foma Kočura auf Fürst Ivan Michajlovič Obolenskij

stammung als Vertreter des alten Russland und des adligen Großgrundbesitzes gelten konnte, zum Symbol obrigkeitlicher Willkür geworden.201 Mit dem Attentat auf Obolenskij versuchte Grigorij Geršuni, der Kritik aus der sozialdemokratischen Partei, der Terrorismus habe keinerlei Verbindung zu den Massen, entgegenzutreten. Geršuni mühte sich in zweierlei Hinsicht, einen Zusammenhang zwischen dem terroristischen Attentat und den Massen herzustellen. Erstens stellte er die terroristische Tat als Racheakt für die Niederschlagung der Bauernunruhen im Gouvernement Char′kov dar. Dass das Attentat auf Obolenskij sich gegen die Person richtete, die im In- und Ausland für die besonders brutale Niederschlagung der Bauernaufstände bekannt geworden war, folgt der Logik der Vergeltung, die sowohl für die Terroranschläge der Narodnaja volja als auch für das erfolgreiche Attentat auf Sipjagin zur Legitimation genutzt worden war und die zudem die enthusiastische Rezeption des sozialdemokratischen Fehlschützen Hirš Lekert ermöglichte hatte. Bereits im Mai 1902 hatten ausländische Zeitungen das Gerücht kolportiert, dass Radikale Obolenskijs Leben wegen seiner blutigen Repression der Bäuer*innen bedrohten.202 Der tatsächliche Anschlag auf Obolenskij Ende Juli 1902 sollte also die Drohung der Vergeltung für die Strafexpeditionen gegen die bäuerlichen Massen endgültig einlösen. Zweitens rekrutierte Geršuni für den Anschlag einen Arbeiter, um die Verbundenheit des Terrorismus mit der Arbeiterklasse auf einer symbolischen Ebene herzustellen. Obwohl mit Aleksej Pokotilov, der nach eigenen Angaben bereits für die Attentate auf Bogolepov und Sipjagin zur Verfügung gestanden hatte,203 bereits ein erfahrenes Mitglied der Kampforganisation auf den Anschlag vorbereitet war, wählte Geršuni aus symbolischen Gründen den eher unerfahrenen Arbeiter Foma Kočura aus, um dem Anschlag „ideologischen Charakter zu verleihen“, wie der Kiewer Polizeichef Spiridovič es ausdrückte, und den Anspruch der PSR, die Arbeiter*innen zu vertreten, zu unterstreichen.204 Fürst Obolenskij war nicht der erste Gouverneur von Char′kov, der Opfer eines terroristischen Anschlags wurde. Im Februar 1879 war der Gouverneur Dimitrij Kropotkin, Cousin des berühmten Anarchisten Petr Kropotkin, aus Rache für die Misshandlung der politischen Häftlinge im Gefängnis von Char′kov, die sich im Hungerstreik befanden und zwangsernährt wurden, ermordet worden. Das Attentat auf Obolenskij ähnelt dem auf Kropotkin in zwei wichtigen Aspekten. Erstens war das Motiv abermals Rache für die Misshandlung einer oppositionellen Gruppierung, in diesem Falle sollte der Anschlag die aufständischen Bäuer*innen rächen. Zweitens glich sich auch konspirative Planung und damit die Performanz der Attentate selbst: Grigorij Gol′denberg erschoss Kropotkin, als dieser sich in einer offe-

The South Russian Riots, in: New York Times, 9. Mai 1902. Attempt to Assasinate Prince Obolensky. He Had been Commended by the Czar for Repressing Rioting Peasants, in: New York Times, 26. Mai 1902. 203 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 19. 204 Spiridovitch, Histoire du Terrorisme Russe 1886–1917, 1930, S. 158. 201 202

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nen Kutsche auf dem Weg vom Theater nach Hause befand. Der Arbeiter Foma Kočura schoss auf den Fürsten Obolenskij, als dieser zur Pause aus einem Theater heraustrat. Der Besuch einer Theatervorstellung bot sich für die konspirative Planung eines Attentats geradezu an. Ort und Zeitpunkt eines Anschlags ließen sich durch die relativ festen Zeiten der Aufführungen gut planen. Hatte das Opfer das Theater erst einmal betreten, war klar, dass er oder sie auch wieder herauskommen musste und dass bis zu diesem Zeitpunkt eine relativ konkrete Zeitspanne zur Verfügung stand. Deshalb spielten Theaterbesuche (oder ähnliche öffentliche Kulturveranstaltungen) in der Geschichte des Terrorismus im Russischen Reich auch eine bedeutende Rolle.205 Es liegt nahe, als direktes Vorbild für diese Vorgehensweise, welche die Vorbereitung auf einen Anschlag erheblich vereinfacht, den Anschlag Hirš Lekerts auf Viktor von Wahl zu begreifen, der im Sommer 1902 in aller Munde und gerade detailliert in der sozialrevolutionären Revoljucionnaja Rossija beschrieben worden war.206 Hirš Lekert hatte vorgemacht, dass es für einen Anschlag keiner konspirativen Rolle und Verkleidung bedurfte, wenn der Attentäter sich seinem Opfer nicht in seinen Amtszimmern, sondern auf der Straße näherte. Mit Lekerts Tat geriet die Straße als Ort, an dem Terrorismus stattfand, also wieder, wie bereits in der Inkubationsphase des Terrorismus in den 1870ern, in den Fokus der Revolutionär*innen. Der Zeitpunkt des Anschlages wurde durch das Ende (oder die Pause) der öffentlichen Kulturveranstaltung (bei von Wahl der Besuch des Zirkus, bei Obolenskij der Theaterbesuch) vorgegeben. Am Abend des 29. Juli 1902 um etwa 22 Uhr warteten Geršuni und Kočura im Tivoli Park von Char′kov, wo Obolenskij ein Stück des Sommertheaters besuchte. In der zweiten Pause stand Obolenskij gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Gouvernements-Zemstvo Gordeenko und seiner Frau Ol′ga vor dem Eingang. Kočura näherte sich der Gruppe, zielte über die Schulter von Ol′ga Gordeenko auf Obolenskij und gab zwei Schüsse ab. Kaltblütig ergriff Ol′ga Gordeenko den Arm des Schützen und hielt diesen fest. Zufällig anwesende Polizisten stürmten auf den Attentäter zu und brachten ihn in einem Handgemenge zu Boden, als sich ein weiterer Schuss löste, der den Polizeimeister Bezsonov am Bein verletzte. Daraufhin wurde der Schütze endgültig überwältigt und in einen geschlossenen Raum zum Verhör gebracht. Bis hierher ähnelte das Ereignis dem Anschlag von Hirš Lekert auf Viktor von Wahl auf verblüffende Weise. Im Folgenden erwies sich, wie Geršuni versuchte, dem Attentat, auch in Abgrenzung von der Tat des Sozialdemokraten Hirš Lekert, seinen Stempel aufzudrücken. Zunächst verschwieg Foma Kočura seinen Namen, anders als Hirš Lekert, der seinen sofort angegeben hatte. Die Geheimhaltung des Namens wurde typisch für die sozial-

205 K delu Fomy Kočury. Pokušenie na ubijstvo Char′kovskago gubernatora, 1902 g., in: Byloe 1 (1906), H. 6, S. 102–107. 206 Girš Lekert, in: Revoljucionnaja Rossija, Juni 1902.

Das Attentat von Foma Kočura auf Fürst Ivan Michajlovič Obolenskij

revolutionären Terrorist*innen.207 Mit dieser Taktik wurde, vor allem nach der gewaltigen Resonanz des Anschlags von Hirš Lekert, gewährleistet, dass die Kampforganisation und damit die PSR und nicht der Attentäter im Mittelpunkt der Kommunikation über den Anschlag stand. Außerdem sollte diese Verschleierungstaktik dazu dienen, der Polizei die Ermittlungen zu erschweren. Häufig dauerte es tatsächlich erst einmal einige Zeit, bis die Polizei herausbekam, wen sie vor sich hatte. Erst dann konnte sie beginnen, gezielt nach Verbündeten, konspirativen Treffpunkten, wie Wohnungen, oder den persönlichen Netzwerken zu fahnden. Bis dahin war es den Drahtziehern der Anschläge, in diesem Falle Geršuni, häufig möglich, die Spuren zu verwischen und zu verschwinden.208 Der wichtigste Unterschied aber war das Bekennerschreiben, auf das Lekert völlig verzichtet hatte. Bei dem Attentäter fand sich ein versiegelter Umschlag mit der Aufschrift „Urteil gegen den Generalgouverneur von Char′kov, Fürst Obolenskij“.209 In diesem Umschlag befand sich ein längeres Schreiben der „Kampforganisation der Partei der Sozialrevolutionäre“ datiert in St. Petersburg auf den „22. Juli 1902“. In diesem Schreiben wurde das Todesurteil der PSR über Obolenskij mit der Repression des Zemstvo und der brutalen Niederschlagung der Bauernunruhen begründet.210 Nachdem Hirš Lekert den Sozialrevolutionär*innen die Taktik des Terrorismus aus den Händen genommen hatte, wollte Geršuni im Fall Obolenskij keinen Zweifel daran lassen, dass es die SR-Kampforganisation war, die für den Akt der Vergeltung für das brutale Vorgehen gegen die Bäuer*innen verantwortlich war. Neben dem schriftlichen Todesurteil gab es noch weitere Zeichen, die die sozialrevolutionäre Herkunft und die symbolische Aussage der Tat Kočuras verstärken sollten. Der Revolver, den der Attentäter benutzt hatte, war mit der Inschrift markiert: „Für das Vergießen von Bauernblut. Kampforganisation. Tod den zaristischen Schergen.“211 Wie der Revolver, so wurde das ganze Attentat mit der Urheberschaft der SR-Kampforganisation gleichsam „beschriftet“. Zudem wurde so der Revolver, eine Waffe, die nun schon bei dem zweiten Anschlag der Kampforganisation (und beim vierten Anschlag seit 1901) zum Einsatz kam, noch einmal verstärkt mit symbolischer Bedeutung aufgeladen. In der Zeit, in der Geršuni die Kampforganisation leitete, prägte der Revolver als Waffe die Handschrift der sozialrevolutionären Terroranschläge wie zu Beginn der ersten Phase

207 Vgl. z. B. Sally Boniece, The Shesterka of 1905–06. Terrorist heroines of revolutionary Russia, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 58 (2010), H. 2, S. 172–191, hier S. 181–182. 208 Wie Geršuni es nach den Anschlägen auf Sipjagin, Obolenskij und Bogdanovič gelang: Nikolajewsky, Aseff, the spy, 1970, 50, 62. 209 K delu Fomy Kočury, in: Byloe (1906), S. 102–107, S. 102. Vgl. zum Ablauf der Tat auch: Spiridovitch, Histoire du Terrorisme Russe 1886–1917, 1930, S. 158–162; Spiridovič, Partija socialistov-revoljucionerov i ee predšestvenniki (1886–1916), 1918, S. 130. 210 Boevaja Organizacija PSR, Prigovor′ Char′kovskomu Gubernatoru Knjaz I. M. Obolenskomu, 22. Juli 1902, Archiv PSR, IISG, f. 738. 211 K delu Fomy Kočury, in: Byloe (1906), S. 102–107, S. 104.

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des russländischen Terrorismus. Der Revolver war etwas leichter zu handhaben und zu verbergen als eine Bombe. Deshalb bedurfte ein Anschlag mit dem Revolver auch einer geringeren konspirativen Vorbereitung. Die symbolische Bedeutung der Bombe wurde aber von Schusswaffen nicht erreicht, auch wenn es einige Abbildungen gibt, welche die Browning als Waffe der Revolution in den Rang der Bombe erheben wollten. Auch Geršuni, so erinnerte sich zumindest Černov, plante bereits wieder, dem Vorbild der Narodnaja volja zu folgen und Dynamittechnik einzusetzen. Bis zu seiner Verhaftung sollte es allerdings nicht dazu kommen, dennoch blieb kein Zweifel, dass Geršuni die Bombe als höhere Form der terroristischen Waffentechnik betrachtete.212 Bei den Anschlägen mit einem Revolver bestand immer die Möglichkeit, dass die Attentäter*innen ihre Opfer nicht richtig trafen. Fehlversuche bei Attentaten stellten ohnehin eher die Regel als eine Ausnahme dar. Das lag daran, dass sowohl bei der Nutzung einer Schusswaffe als auch umso mehr beim Einsatz von Bomben, der Anschlag selbst aus Gründen der Konspiration nur sehr eingeschränkt eingeübt werden konnte. Und auch wenn Aktivist*innen möglicherweise in einsamen Wäldern zielen lernen konnten, ließ sich die Situation, auf einen lebenden Menschen zu schießen, doch kaum simulieren. Deshalb versuchte Geršuni auch, die noch jungen Terrorist*innen, die schließlich den Abzug betätigen sollten, bis zuletzt zu begleiten.213 Doch während die jungen Leute, die Geršuni für die Attentate auf Pobedonoscev und Klejgel′s ausgewählt hatte, Nerven zeigten, schaffte Kočura es zumindest, auch tatsächlich auf Obolenskij zu schießen. Für den Fall, dass die Kugeln den Generalgouverneur zwar trafen, aber keine tödliche Verwundung erzeugten, wie es in der Vergangenheit ja bereits passiert war, hatte Geršuni sich eine besondere Absicherung ausgedacht: Die Kugeln, mit denen der Revolver geladen war, waren in Strychnin getränkt worden. Kočura hatte seiner eigenen Aussage gemäß den beschrifteten Revolver und die so präparierten Kugeln durch die Kampforganisation erhalten. 214 Allerdings zeitigte auch diese Maßnahme keine Konsequenzen, und Obolenskij konnte seine Karriere als politischer Beamter noch einige Jahre lang fortsetzen.

Černov, V partii socialistov-revoljucionerov, 2007, S. 314. Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 52. K delu Fomy Kočury, in: Byloe (1906), S. 102–107, S. 103; Spiridovitch, Histoire du Terrorisme Russe 1886–1917, 1930, S. 159. 212 213 214

Das Attentat von Foma Kočura auf Fürst Ivan Michajlovič Obolenskij

Abb. 1 Keine Parasiten mehr!!! Das sicherste Mittel zur Vernichtung des „schädlichen Ungeziefers. Fordert es überall!!!“: Karikatur aus der Sammlung des Sozialrevolutionärs V. S. Minarchorjan aus der Zeit vor 1907. 215

Diese Inszenierung des Attentats mit einer Schusswaffe sorgte auch in der Presse des Reiches für weitere Spekulationen. So wurde z. B. in polnischen Zeitungen gemutmaßt, Obolenskij habe eine kugelsichere Weste getragen und deshalb den Anschlag überlebt.216 Dieses Gerücht belegt, dass die Themen Sicherheit und Schutz vor Terroranschlägen in der Öffentlichkeit präsent waren. Eine Schutzweste hatte, ebenfalls nur durch Gerüchte kolportiert, auch Loris-Melikov im Jahr 1880 getragen, als er selber

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Minachorjan – Album with prints of photographs, IISG, Archiv PSR, f. 596. Amor saved Prince Obolensky, in: New York Times, 14. August 1902.

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einem Anschlag entging.217 Alexander II. war am 1. März 1881 in einer Kutsche gefahren, deren Boden gegen Bombenanschläge verstärkt war.218 Aus diesem unterstellten Sicherheitsbedürfnis zarischer Funktionsträger, das Teil des Diskurses war, lässt sich belegen, dass Angst vor den Terroranschlägen in der Öffentlichkeit durchaus ein Thema war. Die Gerüchte wurden dadurch verstärkt, dass es dem Selbstverständnis der politischen Elite des Reiches entgegenstand, Angst offen zu zeigen. In dem speziellen Fall Obolenskij spekulierte die oben erwähnte polnische Presse darüber, dass dieser durch Drohbriefe auf eine mögliche terroristische Gefahr vorbereitet gewesen war.219 Demnach hatte Obolenskij durchaus Anlass, eine gewaltsame Tat gegenüber seiner Person zu befürchten. 220 Obolenskijs Karriere profitierte ebenso wie die Laufbahn von Wahls davon, dass er einen Terroranschlag überlebt hatte. Der Gouverneur von Char′kov war bereits für die kompromisslose Niederschlagung der Bauernaufstände vom Zaren belobigt worden, das überlebte Attentat verstärkte seinen Wert in den Augen der Regierung. Der Zar reagierte mit einem weiteren Glückwunschtelegramm, in dem er seine Wertschätzung über die Arbeit Obolenskijs ebenso ausdrückte wie die Freude darüber, dass dieser am Leben geblieben sei. Im Frühjahr 1903 wurde auch Obolenskij, der aufgrund seiner harschen Methoden von der Char′kover Gesellschaft mehr oder weniger boykottiert wurde, ins Innenministerium berufen.221 Auch seine weitere Karriere blieb eng mit der Geschichte des Terrorismus und mit der der Revolution verbunden. Als am 17. Juni 1904 (N. S.) der Generalgouverneur von Finnland Ivan Bobrikov von E. Šauman, dem Sohn eines finnischen Senators, aus Rache für die strenge Russifizierungspolitik erschossen wurde,222 setzte der Zar den Fürsten Obolenskij als Nachfolger ein.223 Bei vielen Finn*innen, welche die Ermordung ihres Unterdrückers Bobrikov mit Genugtuung registriert hatten, dürfte diese Ankündigung auf Ablehnung gestoßen sein.224 Sie konnte jedenfalls gegenüber den um Unabhängigkeit ringenden Men217 Listok narodnoj voli. 1. 6. 1880, in:  Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Literatura social′norevoljucionnoj partii „Narodnoj Voli“, Listok narodnoj voli; God pervij; No. 1, S.l 1905, S. 225–239. Vgl. das Kapitel „Die kommunikative Ausstrahlung der Attentate“ im ersten Teil der Arbeit. 218 Dietze/Schenk, Traditionelle Herrscher in moderner Gefahr, 2009, S. 368–369. 219 Amor saved Prince Obolensky, in: New York Times, 14. August 1902. 220 Attempt to Assasinate Prince Obolensky, in: New York Times, 26. Mai 1902. 221 Finland’s New Gouverneur General, in: New York Times, 19. Juli 1904. 222 Lutz Häfner, Russland als Geburtsland des modernen „Terrorismus“? Oder: „Das classische Land des politischen Attentats“, in: Jörg Requate / Klaus Weinhauer (Hg.), Gewalt ohne Ausweg? Terrorismus als Kommunikationsprozess in Europa seit dem 19. Jahrhundert, 2012, S. 65–98, hier S. 88–89. Vgl. dazu auch: Sergej R. Minclov, Iz „Dnevnika. 1903–1906“, in: Budnickij (Hg.), Istorija terrorizma v Rossii v dokumentach, 21996, S. 496–501, hier S. 496. 223 Vladimirov/Marsden, The revolution in Finland under prince John Obolensky, 1911. 224 Another Tyrant to Rule over Finland. Report That von Wahl Will Be Appointed Governor General – Noted For Severe Methods, in: New York Times, 19. Juni 1904. Die New York Times zeigte sich abermals nur halbwegs informiert, in dem sie kolportierte, dass von Wahl den Posten des Gouverneurs von Finnland übernehmen sollte, die beschriebenen Reaktionen, die die Berufung auslöste, dürften aber stimmig sein.

Das Attentat von Foma Kočura auf Fürst Ivan Michajlovič Obolenskij

schen in Finnland als disziplinierende Maßnahme verstanden werden. Abermals wird deutlich, dass nicht nur die Revolutionär*innen einen politischen Kult um die Märtyrer*innen des Terrorismus betrieben, sondern dass auch die Obrigkeit den Veteranen im Kampf gegen die revolutionäre Bewegung eine besondere symbolische Bedeutung beimaß und sie dort einsetzte, wo eine harte Hand gefordert schien. Dieser wechselseitige Veteranenkult trug nicht unwesentlich zur Eskalation der Gewalt bei. Wie die Sozialrevolutionär*innen den Heldenkult um die Terrorist*innen befeuerten,225 wird am Beispiel des Arbeiters Foma Kočura besonders deutlich. Geršuni hatte aus symbolischen Gründen einen Arbeiter als Attentäter rekrutiert, um seinen sozialdemokratischen Kritikern zu zeigen, dass die arbeitenden Massen hinter der Politik der PSR standen.226 Dass Foma Kočura in den Verhören nicht standhielt und begann, gegen seine Kamerad*innen auszusagen, wurde von Geršuni verschwiegen.227 Stattdessen veröffentlichte er eine Broschüre mit dem Titel „Brief des Arbeiter-Helden an die Genossen und Bauern“228, versehen mit dem Foto Kočuras.229 Dass diese auch auf die Bundist*innen zielte, die mit dem Terrorismus haderten, aber dennoch ihren Märtyrer Hirš Lekert verehrten, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Text auch ins Jiddische übersetzt wurde.230 In dieser Broschüre druckte er einen angeblichen Brief von Kočura ab, in dem dieser auf die typischen Kritikpunkte von sozialdemokratischer Seite einging und diese zu entkräften suchte. Dieser Brief erschien auch noch einmal in der Revoljucionnaja Rossija, in ebenjenem Heft, in dem auch die Gedichte zur Erinnerung an Balmašev und Hirš Lekert erschienen waren. Auch diese Reihung stellte den „Arbeiter-Helden“ Foma Kočura in eine Reihe mit heldenhaften Märtyrer*innen der terroristischen Bewegung.231 Der Brief verstärkt am deutlichsten die kommunikative Absicht des Attentats und wird deshalb hier ausführlich vorgestellt.232 In dem Brief räsonierte Kočura am Tag vor dem Attentat auf Obolenskij, wie er dazu gekommen sei, sein Leben für diese „große und heilige Sache“ aufs Spiel zu setzen. Zunächst beschrieb er sich als langjähriges Mitglied der Arbeiterbewegung, das bereits an einigen Streiks teilgenommen hatte. Allerdings hatten die Streiks keine Verbesserung

Vgl. dazu auch: Häfner, Russland als Geburtsland des modernen „Terrorismus“?, 2012, S. 65–98. Vgl. dazu auch die Aussage Pokotilovs nach: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 19. Spiridovitch, Histoire du Terrorisme Russe 1886–1917, 1930, S.  160. Vgl. dazu auch den Bericht von: Mandel′štam, 1905 god v političeskich processach, 1931, S. 230–231. Vgl. auch: Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 52. 228 Pis′ma geroja rabočavo k tovariščam i krestjanam, 28. Juli 1902, IISG, Archiv PSR f. 738. 229 Von diesem Foto berichtet Spiridovitch, Histoire du Terrorisme Russe 1886–1917, 1930, S. 160. Im Archiv der PSR befand sich nur eine Broschüre ohne Foto. Letztlich lässt sich nicht belegen, dass die Fotos Kočuras tatsächlich kursierten, es wird aber auch so deutlich, dass Geršuni sich sehr bemühte, Kočura zum positiven Helden der PSR aufzubauen. 230 „Foma Kačura“ in Jiddisch, undatiert, IISG, Archiv PSR f. 784. 231 Dva pis′ma rabočago-revoljucionera, in: Revoljucionnaja Rossija, August 1902. 232 28. Juli 1902 – Pis′ma geroja rabočavo k tovariščam, IISG, Archiv PSR f. 738. Geifman weist auf die gängige Praxis hin, dass die Ideologen terroristischer Gruppierungen sogenannte „Abschiedsbriefe“ für Attentäter schrieben: Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 278. 225 226 227

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der Lage gebracht, sondern das individuelle Leid durch die Repressionen von Arbeitgebenden und Obrigkeit und durch die drohende Arbeitslosigkeit der Aktivist*innen nur verschlimmert. Eine weitere Kampfform waren Demonstrationen, doch auch auf den Demonstrationen wurden die Arbeiter*innen den Repressionen der Obrigkeit, den Knüppeln der Polizei und der Kosaken ausgeliefert, welche die Demonstrationen blutig niederschlugen. In dieser Situation zeigte die PSR mit der Tat Balmaševs einen Ausweg. Dieser Teil des Briefes verweist auf die intendierte Vorbildfunktion der sozialrevolutionären Märtyrer, wie Balmašev einer war. Zudem belegt diese Passage, dass die PSR das Verdienst des Terrorismus in den Augen der Öffentlichkeit wieder für sich reklamieren wollte. Diese ständige Betonung der PSR als Urheberin des Terrorismus in dieser Phase belegt noch einmal die Bedeutung des Falls Hirš Lekert und die Konkurrenz zwischen Sozialrevolutionär*innen und Sozialdemokrat*innen. Kočura erinnerte die Arbeiter*innen an die Bauernunruhen, die vom Gouverneur Obolenskij grausam niedergeschlagen wurden. Er betonte in dem Brief, wie glücklich er sei, dass die PSR die richtige Einstellung zur Bauernfrage habe. Denn wie so viele Arbeiter*innen stamme er selber aus der Bauernschaft und lehne die Haltung jener Arbeiter*innen ab, welche der Intelligencija nach dem Mund redeten, dass von den Bäuer*innen keine Revolution zu erwarten sei. Auch diese Spitze richtete sich direkt gegen die Argumentation der marxistisch orientierten Sozialdemokrat*innen. Mit seiner Forderung, dass die Arbeiter*innen auf die Bäuer*innen zugehen müssten, ebenso wie das Mitglied der Intelligencija Balmašev auf das gesamte arbeitende Volk zugegangen sei, wiederholte Kočura die zentrale Forderung der SR nach einer Einheitsfront von Arbeiter*innen und Bäuer*innen, von Propaganda und Terrorismus.233 Zudem unterstrich er wieder das Motiv der Vergeltung, das sich wie ein roter Faden durch die Legitimierung des russländischen Terrorismus zog: Sein Ziel sei es, die Regierung wissen zu lassen, dass die Revolutionär*innen es nicht zuließen, dass das Blut des Volkes vergossen wird. Die revolutionäre Bewegung sei nicht wehrlos. Ohne die SR-Kampforganisation gebe es keine Arbeiterbewegung. Im zweiten Teil des Briefes wandte Kočura sich speziell an die Bäuer*innen, die während der Aufstände in Char′kov und Poltava Zeuge davon geworden waren, dass die zarischen Schergen Bauernblut vergossen hatten. Als die Char′kover Bäuer*innen sich gegen die Grundbesitzer erhoben hätten, habe der „zaristische Opričnik Obolenskij“ die Bäuer*innen mit Hilfe von Soldaten und Kosaken bekämpft. Der Zar habe ihm dafür gedankt und ihn belobigt. In diesem Brief wurden also nicht nur die Grundbesitzer und die örtliche Verwaltung, sondern ganz deutlich auch der Zar selbst für die brutale Niederschlagung der Aufstände verantwortlich gemacht. Auch hier berief sich Kočura auf das Motiv der Rache und das Beispiel Balmaševs, das zeigen könne, dass diejenigen, die das Blut des Volkes vergossen haben, mit ihrem Blut dafür bezahlen

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Vgl. z. B. Krest′janskoe dviženie, in: Revoljucionnaja Rossija, Juni 1902.

Das Attentat von Foma Kočura auf Fürst Ivan Michajlovič Obolenskij

müssten. Obwohl das Attentat offensichtlich von seiner Ausführung her dem Vorbild Hirš Lekerts folgte, ist doch in diesem Schreiben auffällig, dass Kočura sich immer wieder auf Balmašev als sein Idol bezieht. Auch auf diese Weise unterstrich er die sozialrevolutionäre Herkunft seiner Tat.234 In dieser kurzen Zusammenfassung wird deutlich, dass der Brief kein authentisches Zeugnis eines Terroristen ist, der am Tage vor dem Attentat mit seinen Überzeugungen und mit den möglichen Konsequenzen seines Handelns hadert, sondern dass es sich um eine programmatische Schrift handelt, die Kočura zugeschrieben wurde, um solcherart moralische Autorität zu gewinnen. In der programmatischen Schrift wurden die wichtigsten Vorwürfe der Sozialdemokrat*innen aufgegriffen. Die Trennung des Terrorismus von der Arbeiterbewegung sprach der Autor auf zwei Ebenen an. Erstens beschrieb er die von der Sozialdemokratie bevorzugten Kampfmittel Streik und Demonstration als unwirksam. Zweitens feierte er den Terrorismus als Möglichkeit, alle revolutionären Gruppen zusammenzubringen. Wie Balmašev, der demnach die Intelligencija repräsentiert, sich für die Arbeiterschaft geopfert habe, werde der Arbeiter Kočura sich für die Bäuer*innen opfern. Dem sozialdemokratischen Vorwurf, dass der Terrorismus von der Arbeiterbewegung abgetrennt sei, hielt der Verfasser des Briefes entgegen, dass es ohne die Kampforganisation keine Arbeiterbewegung gebe. Außerdem kritisierte der Autor in dem Brief die generelle Skepsis der marxistischen Sozialdemokrat*innen am revolutionären Potenzial der Bäuer*innen und hielt ihm eine Binnenperspektive von Arbeiter- und Bauernbewegung entgegen, indem er darauf hinwies, dass die meisten russischen Arbeiter*innen aus dem Bauernstand kamen. Darüber hinaus verwies er auf die Erfahrung der Bauernaufstände in Char′kov und leitete daraus das Mandat zum Terroranschlag ab. In beiden Teilen des Briefes wurde zudem die bekannte Blut-Metaphorik bemüht und Rache für das vergossene Blut des Volkes geschworen. Nachdem der jüdische Sozialdemokrat Hirš Lekert so öffentlichkeitswirksam die Taktik des Terrorismus gegen von Wahl angewandt hatte, wurde sowohl in dem Schreiben als auch in der gesamten Inszenierung des Attentats das Anliegen Geršunis überdeutlich, die SR-Kampforganisation als eigentliche Urheberin des in der Öffentlichkeit populären Terrorismus zu etablieren. Geršuni bemühte sich, der inflationären Ausbreitung des Terrorismus entgegenzusteuern, um sich diese Trumpfkarte nicht aus den Händen winden zu lassen. Auch dieses Bemühen spricht für die kommunikative Ausstrahlung, welche die terroristischen Attentate in dieser Phase (1901 bis Anfang 1905) hatten. Nachdem nun der Anschlag Kočuras auf Obolenskij in symbolischer Weise auf den Kampf auf dem Land gegen die Obrigkeit reagiert und um die Sympathien der Bäu-

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Vgl. bis hierher: Boevaja Organizacija PSR 3. April 1902 – Proklamation, IISG, Archiv PSR f. 738.

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er*innen geworben hatte, richtete sich die nächste Aktion der SR-Kampforganisation direkt gegen die Repression der Arbeiterbewegung. Das Attentat von Egor Dulebov auf Nikolaj Bogdanovič

Am 6. Mai 1903 erschoss der Sozialrevolutionär Egor Dulebov im Auftrag der zentralen Kampforganisation der PSR den Gouverneur von Ufa Nikolaj Bogdanovič. Das Attentat war ein Vergeltungsschlag, mit dem Geršuni sich auf das Massaker von Zlatoust bezog, bei dem am 13. März 1903 während einer Protestversammlung von Arbeiter*innen Soldaten auf Befehl von Bogdanovič auf eine unbewaffnete Menschenmenge geschossen und zahlreiche Demonstrierende getötet bzw. verwundet hatten.235 Unter den Opfern (45 Tote und 83 Verwundete) waren Frauen und Kinder.236 Das Massaker von Zlatoust war im Zarenreich in aller Munde.237 Wie in den meisten Fällen der Gewalteskalation versuchte die Obrigkeit, Nachrichten über das Geschehen zu verhindern, wie z. B. auch nach dem Pogrom von Kišinev, der im April desselben Jahres stattfand. Doch nicht zuletzt die Art der Berichterstattung in den revolutionären Untergrundzeitungen belegt, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung Bescheid wusste.238 Darüber hinaus wurde auch in ausländischen Zeitungen berichtet, die ihre Korrespondenten nicht vor Ort, in Zlatoust, hatten, sondern in den großen Städten, meist in St. Petersburg.239 Aus der Retrospektive wirken die Arbeiterunruhen von Zlatoust wie ein Vorspiel zum Blutsonntag in St. Petersburg im Januar 1905, der den endgültigen Ausbruch der Revolution markieren sollte. Richard Robbins wertete auch die Arbeiterunruhen von Zlatoust im Jahr 1903, ebenso wie die Bauernunruhen von Poltava und Char′kov im Frühjahr 1902, als eine neue Eskalationsstufe in den Konfrontationen zwischen Bevölkerung und Obrigkeit.240 Zunächst begannen die Auseinandersetzungen auf relativ konventionelle Art: Die Unruhen entzündeten sich in einem staatlichen Rüstungsbetrieb an der Einführung neuer personalisierter Arbeitsbücher, genannt Rasčetnye knižki, in denen die Bezahlungen und Bedingungen der Arbeitsverträge für den einzelnen Arbeiter festgelegt waren. Diese Maßnahme

235 Zlatoustovskie sobytija, in: Narodnoe delo (1903), H. 4, S. 135–146; Rasstrel Zlatoustovskych rabočich 26 marta 1903 goda, in: Byloe Urala (1924), H. 3, S. 60–120. Ich danke Marsil Farkhshatov für den Hinweis auf diese Quelle. 236 Vgl. zu den Zahlen Tabelle in: Mandel′štam, 1905 god v političeskich processach, 1931, S. 108. 237 Vgl. Dokumente zu den Streiks und Unruhen in Zlatoust und Kiew im Jahr 1903, IISG, Archiv PSR f. 739. Auch Steinwedel verweist darauf, dass Ufa durch die Ereignisse ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen im Jahr 1903 gerückt sei: Charles Steinwedel, The 1905 revolution in Ufa. Mass politics, elections, and nationality, in: Russian Review 59 (2000), H. 4, S. 555–576, hier S. 558. 238 Vgl. z. B. Snova krov′, in: Iskra, 1.4.1903. 239 Vgl. z. B. In Foreign Lands. Recent Russian Military Outrages, in: New York Times, 7. Juni 1903. 240 Robbins, The tsar’s viceroys, 1987, S. 216.

Das Attentat von Egor Dulebov auf Nikolaj Bogdanovič

führte aus der Sicht der Arbeiter*innen zu einer Verschlechterung von Arbeitsbedingungen und Löhnen. Deshalb lehnten sie diese neuen Bücher ab und organsierten sich unter der Führung einer Einheitsfront „Union der Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten im Ural“.241 Ab dem 10. März 1903 wurde der Betrieb bestreikt. Der Gouverneur von Ufa Nikolaj Bogdanovič begab sich rasch an den Ort des Geschehens. Doch noch bevor er eintraf, war die Situation bereits aus dem Ruder gelaufen. Die Arbeiter*innen hatten aus ihren Reihen die Verhandlungsführer Fedor Simonov und Ivan Filimoškin gewählt. Beide wurden in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1903 verhaftet. Die Verhaftung der Verhandlungsführer wurde von den Arbeiter*innen als unrechtmäßig empfunden und löste eine empörte Massendemonstration aus, die am 12. März stattfand. Die Arbeiter*innen verlangten die Freilassung ihrer gewählten Vertreter. Die örtlichen Behörden gaben vor, dass Simonov und Filimoškin längst nach Ufa unterwegs wären. Deshalb seien ihnen angeblich die Hände gebunden. Diese Behauptung erwies sich rasch als Lüge, was die Empörung unter den Arbeiter*innen nur noch mehr anheizte. Diese angespannte Stimmung fand der Gouverneur Nikolaj Bogdanovič vor, als er am 12. März 1903 Zlatoust erreichte.242 Die Gewalteskalation am nächsten Tag führt der Historiker Richard Robbins darauf zurück, dass der Gouverneur Bogdanovič, ähnlich wie sein Kollege Bel′gard im Gouvernement Poltava 1902, mit den Mitteln der konsensualen Konfliktlösung nicht mehr zu den Arbeiter*innen durchdrang, weil die grundsätzliche Akzeptanz der Autorität des Gouverneurs bei den Arbeiter*innen nicht mehr vorhanden war. Bogdanovič hatte aber offensichtlich keine anderen Strategien zur Verfügung, auf die er zurückgreifen konnte. Anders als der kompromisslose Rjurikidenfürst Obolenskij, der die Bäuer*innen in Char′kov mit der Knute zur Räson brachte, galt Nikolaj Bogdanovič eher als Mann des Ausgleichs. Sogar der Rechtsanwalt Michail Mandel′štam, der die Demonstrierenden in dem späteren Prozess verteidigte,243 charakterisierte den Gouverneur in seiner Dokumentation der Ereignisse zumindest nicht als Arbeiterschreck: Er war nicht der Schlimmste der Pompadoure dieser Provinz, die so lange gelitten hatte. Er schwelgte nicht in administrativen Exzessen und war von Natur aus kein schlechter Mensch, er war nur ein Feigling.244

Ob Bogdanovič wirklich feige war, muss offenbleiben, zumindest versuchte er zunächst, mit den Arbeiter*innen auf traditionelle Weise zu verhandeln. Noch am Tag

241 Spiridovitch, Histoire du Terrorisme Russe 1886–1917, 1930, S. 127. Vgl. zu dieser Union auch: Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 244. 242 Mandel′štam, 1905 god v političeskich processach, 1931, S. 106; Zlatoustovskie sobytija, in: Narodnoe delo (1903), S. 135–146. 243 Zum Prozess vgl. Gol′dman, Političeskie processy v Rossii, 1901–1917, 1932, S. 62. 244 Mandel′štam, 1905 god v političeskich processach, 1931, S. 106.

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seiner Ankunft empfing er eine Delegation und nahm eine Petition entgegen, in der die Freilassung der verhafteten Verhandlungsführer gefordert wurde. Der Gouverneur versprach, sich der Sache anzunehmen und das Anliegen zu erwägen, daraufhin ging die Menge friedlich auseinander. Am nächsten Tag, am 13. März 1903, jedoch versammelte sich erneut eine große Menge vor dem Rathaus, um die Freilassung der Gefangenen zu fordern. In dem späteren Prozess war von 2000 Personen die Rede.245 Bogdanovič forderte die Menschen auf, auseinanderzugehen, doch dieses Mal kamen die aufgebrachten Arbeiter*innen seinen Forderungen nicht nach. Mit einer solchen Feindseligkeit und Militanz von Arbeiter*innen war Bogdanovič bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht konfrontiert gewesen. Er versuchte, die Inhaftierten freizulassen, aber seine Leute konnten nicht durch die Menschenmenge zum belagerten Haftgebäude vordringen. Bogdanovič begab sich, um die Situation aufzulösen, sogar allein in die Menschenmenge hinein, weil er darauf vertraute, dass allein seine Person und seine Autorität die aufgebrachten Arbeiter*innen befrieden könnten. Weil es dem Gouverneur aber nicht gelang, durch seine Autorität die Ordnung wiederherzustellen, wusste er sich schließlich nicht anders zu helfen, als damit zu drohen, dass die Soldaten das Feuer eröffnen würden. Weil die Arbeiter*innen entgegen seiner Erwartung auch dieser Drohung keine Beachtung schenkten, gab Bogdanovič am Ende tatsächlich den Befehl, zu schießen. Die Soldaten töteten mit ihren Salven 28 Menschen sofort, 17 weitere erlagen ihren Verletzungen in den nächsten Tagen. 83 Menschen erlitten z. T. schwere Verwundungen, die sie aber überlebten.246 In den verschiedenen ausländischen und revolutionären Zeitungen finden sich zahlreiche Gerüchte darüber, welche Kette von Ereignissen schließlich zum Schießbefehl auf die unbewaffnete Menge von Männern, Frauen und Kindern führte.247 Dabei fokussierten sie stark auf die Rolle, die Frauen und Kinder während der Proteste spielten. So berichtete z. B. die Iskra, dass die Ehefrau eines der verhafteten Deputierten mit ihren Kindern vor den Gouverneur getreten sei mit den Worten: „Ihr habt mir meinen Mann genommen. Jetzt kann ich meine Kinder nicht mehr versorgen. Nehmt auch sie!“248 Der Gouverneur weigerte sich dieser Beschreibung nach, die Kinder bei sich zu behalten. Das folgende Handgemenge sei genug gewesen, so die Iskra, um die Soldaten zum Schießen zu bewegen.249 In dem Artikel findet sich auch die Behauptung, im Körper von einem der getöteten Knaben habe man eine Kugel aus dem privaten Revolver des Gouverneurs gefunden. Bogdanovič habe also Gol′dman, Političeskie processy v Rossii, 1901–1917, 1932, S. 62. Mandel′štam, 1905 god v političeskich processach, 1931, S. 108; Rasstrel Zlatoustovskych rabočich 26 marta 1903 goda, S. 70 247 In Foreign Lands, in: New York Times, 7. Juni 1903. 248 Tragedija v Zlatouste. Vot što pišit nam o voine 13 marta, in: Iskra, 1.4.1903; Zlatoustovskie sobytija, in: Narodnoe delo (1903), S. 135–146. 249 Tragedija v Zlatouste, in: Iskra, 1.4.1903 Eine ähnliche Darstellung findet sich auch hier: In Foreign Lands, in: New York Times, 7. Juni 1903. 245 246

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selbst auf Kinder geschossen.250 Die New York Times berichtete demgegenüber, die Soldaten hätten knapp über die Köpfe der Demonstrierenden gezielt und dabei die Fenster des nahe gelegenen Schulgebäudes getroffen. Dabei seien zwei Schulkinder erschossen worden. Auch über die Zahl der Opfer und die Anzahl der verhafteten Arbeiterführer kursierten unterschiedliche Angaben, wobei die revolutionären Zeitungen weit mehr Todesopfer und vier Verhaftungen von Deputierten zählten.251 Die Beschreibung der Gewalt gegenüber Kindern zeichnet ein äußerst negatives Bild des verantwortlichen Gouverneurs Bogdanovič in der revolutionären und ausländischen Presse. Seine Charakterisierung als „Kindermörder“ lässt sich nicht in Übereinstimmung bringen mit der ambivalenten Darstellung von Bogdanovič durch den Arbeiteranwalt Mandel′štam, der der positiven Voreingenommenheit gegenüber dem Gouverneur unverdächtig ist. Aufgrund von Unterlagen aus dem Archiv des Innenministeriums kommt der Historiker Richard Robbins zu dem Schluss, dass das Ministerium Bogdanovičs Handlungen am 13. März 1903 zwar gut geheißen hatte, dass er aber erschüttert von den Folgen seines Schießbefehles war und mit seiner Tat kaum weiterleben konnte.252 Diese Beobachtung passt wiederum zu der ambivalenten Charakterisierung des Gouverneurs als Mann des Ausgleichs. Die pointierte Beschreibung der Gewalt gegenüber Kindern zusammen mit der quantitativen Übertreibung der Zahlen der Toten, Verwundeten und Verhafteten erlaubt den Schluss, dass die revolutionäre Presse den Gouverneur im Gegensatz dazu als Unmenschen und als Alleinverantwortlichen für das Massaker darstellen wollte. In der Trauer über die getöteten Zivilist*innen, vor allem über die Frauen und Kinder, die hier unschuldige Opfer repräsentierten, formierte sich eine emotionale Gemeinschaft, die abermals weit über die Grenzen der Radikalen hinauswies. An diese Gemeinschaft appellierte Geršuni, als er das Attentat gegen Bogdanovič plante. Analog zur revolutionären Berichterstattung plante Geršuni also den nächsten Terroranschlag der SR-Kampforganisation, um Rache zu üben an dem Schuldigen des Massakers. Abermals ist der Bezug der Planungen Geršunis zur Kritik der konkurrierenden Sozialdemokrat*innen augenfällig. Mit der Vergeltung für die in Zlatoust getöteten Arbeiter*innen wollte Geršuni beweisen, dass der Terrorismus sehr wohl in enger Verbindung zu den arbeitenden Massen stand, so nannte er auch den Artikel in der Revoljucionnaja Rossija, mit dem er den Anschlag legitimierte, „Der Terror und die Massenbewegung“.253 Dass die Arbeiter*innen in Zlatoust unter der Führung einer Einheitsfront von Sozialrevolutionär*innen und Sozialdemokrat*innen in den Arbeits-

Vgl. dazu Tragedija v Zlatouste, in: Iskra, 1.4.1903. In Foreign Lands, in: New York Times, 7. Juni 1903; Tragedija v Zlatouste, in: Iskra, 1.4.1903; Zlatoustovskie sobytija, in: Narodnoe delo (1903), S. 135–146; Snova krov′, in: Iskra, 1.4.1903; Robbins, The tsar’s viceroys, 1987, S. 213. 252 Robbins, The tsar’s viceroys, 1987, S. 218. 253 Terror i massovoe dviženie, in: Revoljucionnaja Rossija, 15.5.1903 250 251

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kampf gingen, und nun die Sozialrevolutionär*innen ihren Kampf mit den Mitteln des Terrorismus fortführten, stärkte die Position der SR im Ringen mit den SD um Zustimmung in der Arbeiterschaft.254 Unmittelbar im Anschluss an ein Gespräch mit dem Verräter Evno Azef, den Geršuni bei dieser Gelegenheit als seinen Nachfolger einsetzte, noch im März 1903 in Moskau, begab sich der Kopf der SR-Kampforganisation nach Ufa, um dort den Vergeltungsschlag zu planen und auszuführen. Vor Ort traf er auf das lokale SR-Komitee unter der Leitung von V. V. Leonovič, der bereits selbst mit der Vorbereitung eines Attentates begonnen hatte. Leonovič hatte den Tagesablauf von Bogdanovič auskundschaften lassen und einen Freiwilligen für die Durchführung des Attentates gefunden: Egor Dulebov.255 Egor Dulebov (geboren um 1884 in den Bauernstand) hatte in Ufa als Schlosser in einer Eisenbahnwerkstatt gearbeitet. Im Herbst 1901 schloss er sich dem Zirkel um den Sozialrevolutionär Egor Sazonov, den späteren Attentäter des Innenministers von Pleve, an.256 Mit Dulebov stand also ein erfahrener Sozialrevolutionär zur Verfügung, der zugleich mit den Verhältnissen in Ufa wohlvertraut war. Geršuni organisierte die Operation vor Ort. Am 6. Mai 1903 um die Mittagszeit machte der Gouverneur von Ufa, Nikolaj Bogdanovič, seinen üblichen Spaziergang im städtischen Park. Dort befanden sich zahlreiche weitere Fußgänger*innen. Als der Gouverneur die Kathedrale passierte, trat Egor Dulebov auf ihn zu. Dulebov übergab Bogdanovič das Todesurteil der PSR in einem versiegelten Umschlag und erschoss ihn mit neun Kugeln aus seinem Revolver der Marke Browning. Acht dieser Treffer waren tödlich.257 Im Anschluss daran sprang Dulebov über den niedrigen Zaun, der den Kathedralengarten vom Stadtgraben trennte, und konnte auf diesem Wege entkommen.258 Das Attentat trägt die Handschrift der SR-Kampforganisation unter dem Kommando Geršunis. Der Attentäter näherte sich dem Opfer und überreichte ihm das Todesurteil der PSR. Direkt im Anschluss folgten die tödlichen Schüsse. Es unterschied sich von den übrigen Attentaten vor allem dadurch, dass der Attentäter Egor Dulebov entkommen konnte. Die Ursache dafür liegt möglicherweise darin, dass das Opfer nicht 254 Černov erinnerte sich, dass der Kampf um die Zustimmung der Massen auf drei Säulen ruhte: Die erste war das Attentat auf von Wahl, das schließlich von Hirš Lekert ausgeführt wurde, die zweite war der Anschlag auf Obolenskij und die dritte die Ermordung von Bogdanovič: Černov, V partii socialistov-revoljucionerov, 2007, S. 315. 255 Nikolajewsky, Aseff, the spy, 1970, S. 61–62. 256 Ekaterina I. Ščerbakova (Hg.), Političeskaja policija i političeskij terrorizm v Rossii. Vtoraja polovina XIX – načalo XX vv., Moskva 2001, S. 205; Spiridovitch, Histoire du Terrorisme Russe 1886–1917, 1930, S. 161. 257 Vgl. zum Obduktionsbericht: Nočnye telegrammy. Ufa, 8-go Maja, in: Russkija Vedomosti, 9.5.1903. 258 Vgl. zum Tathergang die leicht voneinander abweichenden Beschreibungen in: Telegrafičeskija isvestija. Ufa, 6-go Maja, in: Russkija Vedomosti, 8.5.1903; Spiridovitch, Histoire du Terrorisme Russe 1886–1917, 1930, S.  161–162; Nikolajewsky, Aseff, the spy, 1970, S.  64–65; Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 166–167.

Das Attentat von Egor Dulebov auf Nikolaj Bogdanovič

wie nach einem Theaterbesuch von einer großen Menschenmenge umgeben war oder sich sogar in einem geschlossenen Raum befand, sondern als ein Spaziergänger in einem einigermaßen belebten Park überrascht werden konnte. Zahlreiche Personen befanden sich in Sichtweite, aber wohl nur wenige waren so nah, dass sie unmittelbar eingreifen konnten. Als Erster bemerkte der Kathedralendiener die Vorgänge.259 Diese Strategie ermöglichte die Flucht des Attentäters und trug auch zur tödlichen Verletzung des Opfers bei, weil unter diesen Umständen mehr Zeit war und deshalb auch mehrere Schüsse abgegeben werden konnten. Die Zielsicherheit, mit der der Revolver abgefeuert wurde, spricht aber auch für die Kaltblütigkeit des Attentäters Dulebov, der für seine Aufgabe möglicherweise geeigneter war als einige seiner Vorgänger, die Geršuni als Attentäter ausgesucht hatte. Aufgrund der Flucht Dulebovs wurde die Beschaffenheit der Waffe, die möglicherweise ebenfalls „beschriftet“ war, nicht aktenkundig. Auch das Verhalten des Attentäters nach der Festnahme kann deshalb nicht verglichen werden. Allerdings wurde Dulebov im März 1905 wegen seiner Teilnahme an dem Attentat auf Pleve unter dem Namen Agapov verhaftet. Bis zu seinem Tod im Jahre 1908 wurden sein wirklicher Name und seine Verantwortung für den Tod von Bogdanovič den Behörden nicht offenbar.260 Daraus lässt sich möglicherweise schließen, dass Dulebov das konspirative Verhalten der SR-Kampforganisation, zu der das Verschweigen des Namens im Falle der Verhaftung gehörte, völlig verinnerlicht hatte. Dulebov hatte zudem, genau wie Kočura, einen Brief für die Veröffentlichung vorbereitet, den die PSR im Falle seiner Verhaftung, mit der er offensichtlich gerechnet hatte, veröffentlichen wollte. Dieser Brief wurde später in Boris Savinkovs „Erinnerungen eines Terroristen“ abgedruckt, in jener Passage, die an den 1908 verstorbenen Dulebov erinnert.261 Ob er authentisch ist oder, wie im Falle Foma Kočuras, von Geršuni selbst verfasst, lässt sich nicht endgültig klären, jedenfalls ähnelt sich die Argumentation in beiden Briefen, Kočuras und Dulebovs, frappierend. Auch Dulebov schien kurz vor dem Attentat vor allem darüber nachzudenken, ob seine Tat in die Ideologie der Arbeiterbewegung passte: Vielleicht wird man sagen, ich hätte der Arbeiterbewegung durch meine Tat geschadet. Ich kann sagen, Genossen, ich wollte ihr nicht schaden, ich habe viel darüber nachgedacht, ich fühle und glaube, dass man das tun muss, weil wir für jeden friedlichen Protest frechen Hohn erwarten müssen.

Auch über das Mittel der friedlichen Demonstrationen als Alternative zum Terrorismus dachte er nach:

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Telegrafičeskija isvestija, in: Russkija Vedomosti, 8.5.1903. Ščerbakova (Hg.), Političeskaja policija i političeskij terrorizm v Rossii, 2001, S. 205. Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 166–167.

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Wenn wir zu Demonstrationen gehen, so haben wir kaum Zeit, das Banner zu erheben, und schon überfallen uns vertierte Kosaken, Gendarmen und Spitzel, und es beginnt eine wüste Prügelei: man prügelt uns mit den Nagajkas, man prügelt uns mit den Pallaschen, man lässt uns von Pferden niedertrampeln, man schleppt uns ins Polizeirevier und verhöhnt schamlos die Persönlichkeit der Demonstranten.262

Ebenso wie Kočura sprach also auch Dulebov von der Vergeblichkeit des Demonstrierens. Auch in der Ausgabe der Revoljucionnaja Rossija, die das Attentat auf Bogdanovič im Kontext der SR-Ideologie erläuterte, beschrieben Sozialrevolutionär*innen die Risiken von Demonstrationen.263 Zugleich fühlten die Lesenden sich an die Beschreibung der 1.-Mai-Demonstration in Vil′na erinnert. Das spricht einerseits dafür, dass die Repression von Arbeiterdemonstrationen gängige Praxis im gesamten Reich, in Vil′na, in Char′kov, in St. Petersburg, aber auch in Ufa war. Auf der anderen Seite mochte der Autor des Briefes auch das Vorbild Hirš Lekerts vor Augen gehabt haben.264 Dulebov bekannte sich klar zu seinem Motiv, Rache für die Arbeiter*innen in Zlatoust zu nehmen. Wie Kočura wollte auch er für das Blutvergießen der Obrigkeit abermals Blut sehen: Und daher halte ich es für ein Glück, dass es mir beschieden ist, an diesem Wüterich, dem Gouverneur von Ufa, Rache zu nehmen. Nach seinem Willen ist viel Blut der Arbeiter von Zlatoust vergossen worden. Und für das vergossene Blut muss das Blut der Unterdrücker fließen. […] Ich glaube, dass der raubgierige Geier, das heißt die zaristische Selbstherrschaft, die das russische Volk zerfetzt, nicht mehr lange unser Blut saufen wird.265

Auch die Blutmetaphorik erinnert an den Brief Kočuras. Die Redewendung, nach der vergossenes Blut mit Blut gesühnt werden muss, wurde, vor allem in der zweiten Phase des russländischen Terrorismus, zum Topos, der in fast jedem terroristischen Text auftauchte. Ebenso präsent war die Metapher von den Blutsaugern, den zaristischen Schergen oder später den Kapitalisten, die sich von dem Blut der Arbeiter*innen, des einfachen Volkes oder der Bäuer*innen ernähren. Diese Metaphernsprache radikalisierte sich im Laufe der Geschichte des Terrorismus immer weiter. Der Vergleich der beiden Briefe legt den Verdacht nahe, dass Geršuni zumindest zum Teil die Autorenschaft für sich beanspruchen kann. Vor allem die Passagen, in denen die Briefschreiber sich zum impliziten Vorwurf der Sozialdemokrat*innen äu-

262 Zitiert mit einigen Anpassungen nach: Ebd., S. 166. Vgl. zur Parallelität der Texte auch: 28. Juli 1902 – Pis′ma geroja rabočavo k tovariščam, IISG, Archiv PSR f. 738. 263 Terror i massovoe dviženie, in: Revoljucionnaja Rossija, 15.5.1903. 264 Vgl. zur blutigen Niederschlagung der 1. Mai-Demonstration 1902 in Vil′na die Erinnerungen von: Abramowicz, Profiles of a lost world, 1999, S. 132–135. 265 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 166–167.

Das Attentat von Egor Dulebov auf Nikolaj Bogdanovič

ßern, der Terrorismus habe keinerlei Verbindung zu den Massen, lässt auf die Intention Geršunis schließen, der diese Anschläge so inszenierte, damit sie die Vorwürfe der marxistischen Konkurrenz entkräften konnten.266 Es wirkt nach allem, was uns über diejenigen Akteur*innen, die „am Terror“ teilnahmen,267 bekannt ist, als nicht sehr wahrscheinlich, dass sich die Attentäter selbst mit diesen Feinheiten der Parteiideologie beschäftigten. Weil Dulebov sich dem Martyrium vorerst durch Flucht entzogen hatte, veröffentlichte Geršuni nun statt des Briefes einen Tag nach dem Attentat eine Proklamation, mit der die SR-Kampforganisation sich zu dem Anschlag auf den Gouverneur Nikolaj Bogdanovič bekannte. Dieses Bekennerschreiben stand ganz im Zeichen der Rache für die Arbeiter*innen von Zlatoust, für „das Meer von Blut“, für „die Hunderte von Verletzten und Ermordeten“. Die Kampforganisation, so hieß es in dem Flugblatt, trete für das Recht der Opfer von Zlatoust ein, während die Obrigkeit alle möglichen Repressionen, Gewalt, Verbannung, Blutvergießen, Grauen und Tod ungestraft über die Massen bringen könne. Diese Demütigungen der Massen gingen nicht nur ungestraft dahin, sondern im Gegenteil sei Bogdanovič für sein Verhalten in Zlatoust noch vom Innenminister Pleve im Namen des Zaren beglückwünscht worden. Ebenso wie in den Texten, in denen das Attentat von Kočura auf Obolenskij legitimiert wurde, wurde auch in diesem Bekennerschreiben deutlich, dass hinter der Grausamkeit der „zaristischen Schergen“ der Zar selbst steckte. Doch keine Tränen und auch kein Drucken von Flugblättern würden gegen diese Untaten helfen. Mit Blut müsse bezahlt werden, was dem Volk angetan wurde. Die Proklamation endete mit den üblichen Forderungen nach politischer Mitbestimmung, Aufhebung aller gesetzlichen Diskriminierung und einem Zemskij sobor.268 Demselben Tenor der Rache folgte auch die Erklärung „Der Terror und die Massenbewegung“269, die schließlich in der Revoljucionnaja Rossija abgedruckt wurde: Am 13. März 1903 schossen Truppen auf Befehl des Gouverneurs von Ufa, N. M. Bogdanovič, in die Menge der streikenden Arbeiter von Zlatoust und verfolgten selbst noch die Fliehenden mit Gewehrsalven. 28 Menschen wurden getötet, inzwischen sind zudem mehr als ein Dutzend ihren Verletzungen erlegen. […] Unter den Erschossenen und Verwundeten waren auch viele zufällige Beobachter der Tragödie, Frauen und kleine Kinder. […] Am 6. Mai wurde auf Veranlassung der Kampforganisation der Partei der

Vgl. dazu auch noch einmal: Černov, V partii socialistov-revoljucionerov, 2007, S. 315. Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 4. Boevaja Organizacija PSR 7. Mai 1903 – Ko vsem graždanam Rossii, IISG, Archiv PSR f. 738. Vgl. zum Begriff nochmals: Weber, Zur Russischen Revolution von 1905, 1989, S. 768. 269 Terror i massovoe dviženie, in: Revoljucionnaja Rossija, 15.5.1903. 266 267 268

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Sozialrevolutionäre der Gouverneur von Ufa, N. M. Bogdanovič, von zweien ihrer Mitglieder erschossen.270

Die kommunikative Ausstrahlung des Attentats gestaltete sich allerdings nicht ganz so wie von Geršuni erhofft. Überraschenderweise sprang die legale russische Presse dem Gouverneur von Ufa deutlicher bei, als das bei anderen Opfern des Terrorismus bisher der Fall gewesen war. So berichteten die Russkija vedomosti, dass die ganze Stadt Ufa weinend um ihren Gouverneur trauerte. Bogdanovič sei sechs Jahre lang dort tätig und bei der Bevölkerung sehr beliebt gewesen.271 In den folgenden Tagen überschlug sich die örtliche Adelsgesellschaft mit Ideen, wie sie ihre Verbundenheit mit dem ermordeten Gouverneur ausdrücken konnte. Sie plante, ein Stipendium zu Ehren von Bogdanovič einzurichten.272 Außerdem sammelte sie Geld, um einen Gedenkstein für den Gouverneur an der Stelle, an der er erschossen wurde, zu errichten.273 Vertreter des Adels und die Kinder der örtlichen Elementarschulen legten an diesem Ort Blumenkränze nieder.274 So formierte sich die lokale Gesellschaft mit ihrer Trauer deutlich als emotionale Gemeinschaft. Zudem zeigte sich hier ein weiteres Mal nach den Attentaten auf Alexander II., dass der Ort des Attentats zu einem wichtigen Erinnerungsort der Trauernden wurde. Dieser Ort wurde nach dem Willen der trauernden Bevölkerung mit einem Gedenkstein markiert. Damit wurde der gewaltsame Tod des Gouverneurs in die städtische Topographie auf Dauer eingeschrieben. All dieses wurde in St. Petersburger und Moskauer Zeitungen berichtet. Diese Meldungen entsprechen den ambivalenten Schilderungen der Person Bogdanovič′ im Umfeld des Massakers von Zlatoust. Der Arbeiteranwalt Mandel′štam berichtete zudem in seinem späteren Bericht über die Ereignisse, dass Pleve, „um das Prestige der Macht zu wahren“, anstelle des gemäßigten Bogdanovič einen gewissen Sokolovskij einsetzte, der viel unnachgiebiger und „despotischer“ war als der Verstorbene. Laut Mandel′štam wollte „der Minister zeigen, dass individueller Terrorismus nichts im Sinne der Revolutionäre verändere.“275 Auch wenn also die revolutionäre Presse den Gouverneur als mitleidlosen und blutrünstigen Unterdrücker der Arbeiter*innen zeichnen wollte, drangen nach seinem Tod alternative Lesarten an die Oberfläche, welche die Rezeption des Attentats bei einer größeren Öffentlichkeit empfindlich störten. Bislang war es den Terroranschlägen immer gelungen, weit über Kreise der Radikalen hinweg Zustimmung zu erzeugen. Weil die Person des Opfers sich in diesem Falle trotz seiner Verantwortung für das Massaker von Zlatoust nicht als Symbol des verhassten und mitleidlosen Re270 Ebd. Die deutsche Übersetzung mit leichten Anpassungen zitiert nach: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 167. 271 Telegrafičeskija isvestija, in: Russkija Vedomosti, 8.5.1903. 272 Telegrammy. Ufa, 4-go [sic] Maja, in: Novosti i birževaja gazeta, 10.5.1903. 273 Telegrammy. Ufa, 11-go Maja, in: Novosti i birževaja gazeta, 13.5.1903. 274 Nočnye telegrammy, in: Russkija Vedomosti, 9.5.1903. 275 Mandel′štam, 1905 god v političeskich processach, 1931, S. 111.

Die „heroische Phase“ der SR-Kampforganisation und der Verräter Evno Azef

gimes eignete, blieb diese Zustimmung im Falle von Bogdanovič weitgehend aus. Die Novoe vremja erläuterte, dass das Attentat mit Bogdanovič einen der aufgeklärtesten und menschenfreundlichsten Gouverneure des ganzen Russischen Reiches getroffen habe. Die Verbindung des Attentats zur Unterdrückung der Arbeiterunruhen von Zlatoust stellte das Blatt zwar her, berief sich aber in der Verteidigung von Bogdanovič auf Befehlsnotstand. Bogdanovič habe angesichts der Ausschreitungen gar nicht anders als nach den strengen Maßnahmen, die bei Straßenkämpfen zu ergreifen seien, handeln können.276 Damit wies die Novoe vremja zumindest implizit den protestierenden Menschen selbst die Schuld an dem Massaker von Zlatoust zu und befand sich damit auf der Linie der repressiven staatlichen Organe. Im Januar 1905, nach dem Blutsonntag in St. Petersburg, sollte das Urteil der konservativen Presse in einem ähnlich gelagerten Fall ganz anders ausfallen. Doch bis es so weit war, kam es noch zu einer Vielzahl weiterer blutiger Auseinandersetzungen zwischen den Massen, den revolutionären Parteien und der Obrigkeit. Grigorij Geršuni wurde nur wenige Tage nach seinem Aufbruch aus Ufa, am 13. Mai 1903 in Kiew kurz nach seiner Ankunft am Bahnhof verhaftet.277 Damit endete die erste Phase der SR-Kampforganisation, die Geršuni ins Leben gerufen und nach seinem Willen als die Institution des zentralen Terrorismus geformt und gegen ihre Kritiker*innen verteidigt hatte. Nach Geršunis Verhaftung trat der Verräter Evno Azef, den Geršuni selbst zu seinem Nachfolger bestimmt hatte, an die Spitze der Kampforganisation und mit ihm begann die Phase ihrer größten Erfolge und ihrer schwersten Niederlagen. Die „heroische Phase“ der SR-Kampforganisation und der Verräter Evno Azef

Unter der Führung des berüchtigten Polizeispitzels Evno Azef erlebte die zentrale Kampforganisation den Höhepunkt ihrer Ausstrahlung. Diese Hochphase umfasste die Attentate auf den in weiten Teilen der Bevölkerung ungeliebten Innenminister Vjačeslav von Pleve am 15. Juli 1904 und auf den als Reaktionär verrufenen Generalgouverneur von Moskau und Onkel des Zaren, den Großfürsten Sergej Aleksandrovič Romanov, am 4. Februar 1905. Neben dem Attentat auf Alexander II. am 1. März 1881 können diese Ereignisse als zentrale Terroranschläge par excellence gelten. Die besondere kommunikative Ausstrahlung dieser Terroranschläge wird vor allem daran deutlich, dass die beiden Anschläge keinesfalls die einzigen Attentate waren, die in

276 The Assasination of a Russian Governor. M. Bogdanovitch Was a Humane and Enlightened Man, in: New York Times, 21. Mai 1903. 277 Aleksandr Spiridovič, Šifretelegramma načal′nika Kievskogo ochrannogo Otdelenija A. I. Spiridoviča direktoru departamenta policii A. A. Lopuchinu o zaderžanii G. A. Geršuni. No.  48:  14 maja 1903 g., in: Ščerbakova (Hg.), Političeskaja policija i političeskij terrorizm v Rossii, 2001, S. 190.

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diesem Zeitraum stattfanden. Noch bevor die Kampforganisation Pleve tötete, hatten Einzeltäter, inspiriert durch das Vorbild der ersten sozialrevolutionären Kampforganisation und durch die Tat Hirš Lekerts, weitere Anschläge im Namen der Rache begangen. Dazu zählten die erfolglosen Attentate auf den Kiewer Polizeichef Novickij, den antisemitischen Publizisten Kruševan und den Generalgouverneur des Kaukasus Golicyn.278 Am meisten Aufsehen erregte noch der tödliche Anschlag, den der Sohn eines finnischen Senators am 17. Juni 1904 (N. S.) auf den unpopulären Generalgouverneur von Finnland Ivan Bobrikov verübt hatte.279 In der Folge wurden Finn*innen reflexartig für Terroranschläge, wie z. B. den auf Pleve als Schuldige genannt.280 Ebenfalls für Unruhe sorgte auch der Anschlag auf den Vize-Gouverneur von Elizavetpol′ im Kaukasus am 3. Juli 1904. Für diese Tat wurden Armenier*innen verantwortlich gemacht, weil die zarische Politik, die armenische Kirche zu enteignen, bereits seit über einem Jahr zu massiven Unruhen innerhalb der armenischen Bevölkerung geführt hatte.281 Wie schon in der ersten Phase, als Pol*innen unwillkürlich als Urheber*innen der ersten Attentate auf den Zaren angenommen wurden, wird deutlich, dass die terroristische Gewalt in der Öffentlichkeit zunächst als kämpferische Strategie der an der Peripherie des Imperiums beherrschten Nationen wahrgenommen wurden. Doch all diese Taten wirkten im Nachhinein wie ein leises Vorspiel im Vergleich zur Ermordung Pleves am 15. Juli 1904. Das lag nicht nur an der zentralen politischen Position des Opfers, sondern auch an der neuen Handschrift, die für die terroristische Praxis der zentralen Kampforganisation der Sozialrevolutionäre seit der Ermordung Pleves typisch war. Im Rang nur noch übertroffen von der Ermordung Alexanders II. hatte auch die Tötung Pleves eine Ausstrahlung, die weit ins Ausland hineinreichte und als ein weiterer global moment in der Geschichte des russländischen Terrorismus gelten kann. Die Bedeutung der „heroischen Phase“ wurde vor allem für die Nachwelt in besonderer Weise durch eine aufschlussreiche Quelle zur Geschichte dieser Attentate geprägt. Der operative Kopf der zentralen Kampforganisation Boris Savinkov veröffentlichte im Jahre 1918 seine Memoiren mit dem Titel „Erinnerungen eines Terroristen“, die in aller Welt breit rezipiert wurden, zahlreiche Übersetzungen und Auflagen erlebten und auch heute noch eine viel genutzte Quelle darstellen.282 Zudem legte Savinkov

Judge, Plehve, 1983, S. 232. Häfner, Russland als Geburtsland des modernen „Terrorismus“?, 2012, S. 65–98; Minclov, Iz „Dnevnika. 1903–1906“, 1996, S. 496–501. 280 Minister Plehve Slain By A Bomb. Russian Statesman’s Assasin Believed to Be a Finn, in: New York Times, 29. Juli 1904. 281 Russian Governeur Slain. Killed in Village in Governement of Elizabethpol Probably by Armenians, in: New York Times, 18. Juli 1904. 282 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985. Vgl. zu Savinkov auch: Dmitrij A. Žukov, Terrorist i pisatel′ B. Savinkov i V. Ropšin. Dokumental′naja povest′, in: Knigi Dmitrija Žukova: [dokumental′naja povest′, roman], Moskva 2013; Hiroshi Kabashima, Attentat, Terror, Gerechtigkeit. Eine vergleichende Stu278 279

Die „heroische Phase“ der SR-Kampforganisation und der Verräter Evno Azef

bereits 1909 den autobiographischen Roman „Das fahle Pferd“ vor, der vor allem das Attentat auf Sergej Aleksandrovič verhandelte und in dem die Erinnerungen an beide Attentate ebenso wie die Motive, Hoffnungen und Zweifel der Terrorist*innen in poetischer Weise ineinanderfließen. Savinkovs Texte wurden sowohl durch Zeitgenossen, wie Andrej Belyj in seinem Roman „St. Petersburg“ (Das fahle Pferd), als auch von nachfolgenden Generationen, wie von Camus in „Die Gerechten“ (Erinnerungen eines Terroristen), literarisch weiterverarbeitet.283 Aufgrund des künstlerischen Arrangements der Ereignisse durch Savinkov selbst und ihrer intensiven Rezeption in weiteren fiktionalen Texten haften den historischen Personen und Ereignissen zahlreiche mythisierende Attribute an. So wirken die aktiven Mitglieder der Kampforganisation, die einander in liebevoller Freundschaft zugetan gewesen sein sollen, als seien sie von einem revolutionären Heiligenschein des Martyriums umstrahlt. Wie weit diese Einschätzung der Traditionslinie geschuldet ist, die Savinkovs Memoiren begründeten, oder inwiefern diese Schlüsse auch unabhängig von seinen Memoiren gezogen werden würden, lässt sich für Historiker*innen kaum noch feststellen. Zusätzlich wird die Rezeption Savinkovs dadurch verkompliziert, dass eben seine literarische Tätigkeit ihn, den Helden der zentralen Kampforganisation, den die Partei für die Ermordung des Innenministers von Pleve und des Großfürsten Sergej Aleksandrovič rühmte, in eine Persona non grata der Sozialrevolutionär*innen verwandelte. Weil er in seinen Büchern die Terrorist*innen nicht als Ideolog*innen der sozialrevolutionären Sache beschrieb, sondern den Terrorismus als Selbstzweck schilderte, galt er vielen Sozialrevolutionär*innen als Abenteurer, und seine Texte galten als „konterrevolutionär“.284 Bereits zu diesem Zeitpunkt votierten einige der führenden Sozialrevolutionär*innen für seinen Ausschluss aus der Partei, aber dank seiner Taten hatte er immer noch genügend Anhänger*innen, die drohten, in diesem Falle selbst die Partei zu verlassen.285 Nach einer wechselvollen Karriere während des Ersten Weltkriegs und in der Revolution von 1917 wurde er zum stellvertretenden Kriegsminister unter Aleksandr Kerenskij ernannt. Aus der Partei ausgeschlossen wurde er schließlich aufgrund seiner zwielichtigen Rolle während des Kornilov-Putsches.286 Im Bürgerkrieg und auch in den Jahren danach

die zu B. Savinkov, J. Osaragi, K. Takahashi und A. Camus, Würzburg 2002; Jörg Baberowski, Das Handwerk des Tötens. Boris Sawinkow und der russische Terrorismus, in: Comparative Politics 23 (2013), H. 2, S. 75–90; Alexander Nitzberg, Boris Sawinkow. Die fleischgewordene Vision Dostojewskis, in: Das fahle Pferd: Roman eines Terroristen, Berlin 2015, S. 235–270. 283 Andrej Belyj, Petersburg. Roman in acht Kapiteln mit Prolog und Epilog, Frankfurt am Main 22015; Camus, Die Gerechten, 1976. Vgl. zur Ausstrahlung auch: Mark Gamsa, The Chinese translation of Russian literature. Three studies, Leiden, Boston 2010. 284 Zitiert nach: Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 54; Baberowski, Das Handwerk des Tötens, 2013, S. 75–90. 285 Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 54. 286 Černov, V partii socialistov-revoljucionerov, 2007, S. 493.

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Vom Zentrum an die Peripherie

kämpfte er gegen die Bol′ševiki, wurde schließlich inhaftiert und starb 1925 unter ungeklärten Umständen im Hauptquartier des sowjetischen Geheimdienstes in Moskau.287 Mit Hilfe des charismatischen Savinkov rekrutierte Azef eine Reihe von Personen, deren Namen „in der PSR bald nur mit ehrfurchtsvollem Respekt ausgesprochen wurden“.288 Darunter waren Maksimilian Švejcer, Dora Brilliant, Ivan Kaljaev und Egor Sazonov, ebenso der bereits durch das Attentat auf den Gouverneur von Ufa bekannte Egor Dulebov. Dies waren die Helden der „heroischen Periode“, ihr Bösewicht war Evno Azef. Die Interpretation der Terroranschläge der zweiten zentralen Kampforganisation nach 1903 wird durch die Rolle ihres Leiters Evno Azef erheblich erschwert. Seit Azef im Jahre 1909 durch eine Kommission der Partei der Sozialrevolutionär*innen als Polizeispitzel enttarnt worden war, hat seine Rolle sowohl in der politischen Bewertung als auch in der historischen Betrachtung des russländischen Terrorismus zahlreiche Fragen aufgeworfen. Welchen Anteil hatte die politische Polizei bzw. das Innenministerium bei der Planung dieser zentralen Terroranschläge? War der russländische Terrorismus eine Inszenierung der Obrigkeit? Um der besonderen Bedeutung Azefs, der nicht nur die PSR, sondern auch die Polizei betrogen hatte, auf die Spur zu kommen, wurden einige aufschlussreiche Monographien und zahlreiche Aufsätze geschrieben, die den Schluss zulassen, dass es Azef gelungen war, sowohl die Polizei als auch die Partei seinen Interessen gemäß zu instrumentalisieren, dass er aber niemals das Innenministerium die Kontrolle über die Kampforganisation übernehmen ließ. Zwar verriet er zahlreiche seiner Kameraden und agierte zum Teil durchaus als ein von seinen beiden Herren Getriebener, der Terrorismus selbst aber war nicht das Ergebnis einer obrigkeitlichen Provokation.289 Für die Kommunikationsgeschichte des Terrorismus unter Azef ist seine Tätigkeit als Doppelagent unwichtig, solange er unerkannt blieb. Als er aufflog, war die kommunikative Ausstrahlung gewaltig, und sein Verrat sorgte für einen ungeheuren Vertrauensverlust in die Partei der Sozialrevolutionär*innen und ihre Kampforganisation. Dieser Vertrauensverlust war der Todesstoß für den Terrorismus, der allerdings auch zuvor aufgrund der inflationären Ausbreitung terroristischer Gewalt seine kommunikative Kraft eingebüßt hatte und deshalb dahinsiechte. Die Affäre Azef ist ein wichtiges Indiz für die Bedeutung von Kommunikation für den Terrorismus. Dem Erfolg der Kampforganisation hatte Azefs Verrat in der Phase, in der er geschah, nicht geschadet. Erst als Azef enttarnt war und von ihm keine Gefahr als Spitzel mehr ausgehen konnte, brachte die Veröffentlichung dieses Verrats der Kampforganisation der PSR den Untergang und bescherte der Partei selbst eine tiefe Krise. Es war also nicht der Verrat selbst, der dem Terrorismus schadete, sondern 287 288 289

Vgl. dazu: Alter L. Litvin (Hg.), Boris Savinkov na Lubjanke. Dokumenty, Moskva 2001. Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 364. Vgl. z. B. Geifman, Entangled in terror, 2000; Nikolajewsky, Aseff, the spy, 1970.

Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve

der allgemeine Vertrauensverlust, als dieser erkannt wurde. Für die Interpretation der Intentionen Azefs müssen jedoch immer seine Tätigkeit als Doppelagent und seine Angst vor der Enttarnung mitgedacht werden. Aufgrund der besonderen Profilierung der involvierten Personen und der hervorragenden Quellenlage sind die Ereignisse der „heroischen Phase“ des SR-Terrorismus relativ gut bekannt. Wegen ihrer Bedeutung für die Kommunikationsgeschichte des Terrorismus und als Akte des „zentralen Terrorismus“ par excellence, die eine Reihe von Nachahmern anregten, bilden sie in dieser Untersuchung das Scharnier zwischen dem zentralen Terrorismus in der zweiten Phase und seiner inflationären Ausbreitung an der Peripherie, die ab dem Herbst 1905 mit der allgemeinen Gewalteskalation nach der Veröffentlichung des Oktobermanifestes erfolgte.290 Die Ereignisse sollen hier vor allem auf ihren kommunikationsgeschichtlichen Gehalt hin untersucht werden. Dabei ist es frappierend, wie stark die Anschläge von der Straße als Medium beeinflusst sind und ihre Inszenierung den topographischen Voraussetzungen der beiden Hauptstädte des Reiches, St. Petersburg und Moskau, folgt:291 Die terroristische Gewalt ist auch hier wieder eine „Sprache der Straße“. Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve

Die Polizei bejubelte die Verhaftung Grigorij Geršunis im Mai 1903 als wichtigen Sieg gegen den Terrorismus.292 Auch die Sozialrevolutionär*innen und darüber hinaus weite Teile der revolutionären Bewegung betrachteten diesen Verlust als einschneidendes Ereignis. Savinkov erinnert sich, dass er „nach der Verhaftung von G. A. Geršuni (Mai 1903) beschloß […], am Terror teilzunehmen“.293 Geršuni hatte bei Michail Goc die gesamten Geheimunterlagen der Kampforganisation hinterlegt, mit dem Auftrag, sie an Azef weiterzureichen, sollte ihm etwas zustoßen. Als Azef im Juni 1903 nach Genf kam, begrüßte Goc ihn als neuen Kopf der Kampforganisation, übergab ihm alle Informationen und stattete ihn mit sämtlichen Vollmachten aus.294 Azef stellte die Kampforganisation völlig neu auf. Erstens

Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 20. Vgl. dazu auch: Alexis Peri / Christine Evans, How terrorists learned to map. Plotting in Petersburg and Boris Savinkov’s recollections of a terrorist and the Pale horse, in: Olga Matich (Hg.), Petersburg, Petersburg. Novel and city, 1900–1921, Madison, Wisconsin 2010, S. 149–173. 292 Spiridovič, Šifretelegramma načal′nika Kievskogo ochrannogo Otdelenija A. I. Spiridoviča direktoru departamenta policii A. A. Lopuchinu o zaderžanii G. A. Geršuni, in: Ščerbakova (Hg.), Političeskaja policija i političeskij terrorizm v Rossii, 2001, S. 190. 293 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 7. 294 Nikolajewsky, Aseff, the spy, 1970, S. 67–68. 290 291

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rekrutierte er einen ganzen Schwung neuer Mitglieder, darunter Savinkov.295 Zweitens organisierte er die Hierarchien in der Gruppe neu. Während Geršuni die Geschicke der Kampforganisation weitgehend selbst lenkte und bei Bedarf z. T. mit Kräften aus den lokalen Parteigliederungen zusammenarbeitete, wie in Ufa geschehen, etablierte Azef eine feste Gruppe von mehreren Personen, die allein für die Planung und Durchführung von Attentaten verantwortlich war. Durch seine Rekrutierungspolitik änderte sich zudem der Charakter der Gruppe. Während Geršuni so gut wie jeden aufnahm, der sich freiwillig für die Kampforganisation meldete und im Ergebnis damit leben musste, dass seine Kämpfer im letzten Moment die Nerven verloren oder während der Verhöre ihre Geheimnisse preisgaben, versuchte Azef scheinbar systematisch, die Kandidat*innen für die Kampforganisation zu entmutigen. Er lehnte viele aus teilweise fadenscheinigen Motiven oder völlig grundlos ab. Ein Beispiel dafür ist auch die zunächst gescheiterte Rekrutierung Ivan Kaljaevs, von der Savinkov berichtet. Savinkov hatte seinen alten Bekannten und Mitstreiter Kaljaev vorgeschlagen und ein Treffen in Berlin arrangiert. Dabei trat Kaljaev in seiner emotionalen Art auf und redete sich in Rage: „Kaljaev sprach hitzig über den Terror, über seinen unbedingten Wunsch, am Fall Plehwe teilzunehmen, über seine psychische Unfähigkeit zur friedlichen Arbeit.“296 Unbeeindruckt lehnte Azef den späteren Helden der Terrorkampagne zunächst ab: „Wir brauchen jetzt keine Leute. Fahren Sie nach Genf. Vielleicht werden wir später auch Sie rufen.“297 Möglicherweise versuchte Azef aufgrund seiner Tätigkeit für die Polizei, die Zahl der Terrorist*innen so klein wie möglich zu halten. Oder er versuchte, diejenigen, die besonders emotional für die revolutionäre Sache brannten, herauszuhalten, weil er dachte, diese seien schwierig zu kontrollieren. Eine solche Kontrolle war ihm möglicherweise aufgrund seiner Doppelrolle besonders wichtig. Das Ergebnis seiner ambivalenten Rekrutierungspolitik war jedenfalls im Sinne seiner staatlichen Auftraggeber eher kontraproduktiv: Er berief eine besonders schlagkräftige Kampforganisation, mit einer festen Gruppe von erfahrenen und abgeklärten Kämpfer*innen, die sich viel besser für den terroristischen Kampf eigneten als jene jungen Leute, die Geršuni rekrutiert hatte.298 Zudem zog er sich, möglicherweise aufgrund seiner Doppelagententätigkeit und um seine Verbindungsleute im Innenministerium nicht zu sehr zu provozieren, weit aus dem operativen Geschäft zurück. Vielleicht brauchte er für die Anschläge, die tatsächlich durchgeführt wurden, überzeugende Alibis im Ausland. Von dort aus trat er 295 Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 364. Anna Geifman urteilt, dass Azef sich mit der Rekrutierung so gut wie gar nicht mehr beschäftigte, sondern sie weitgehend Boris Savinkov überlies: Geifman, Entangled in terror, 2000, S. 60–61. 296 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 8. 297 Ebd. 298 Etwa in diese Richtung geht auch der Schluss, den Geifman aus der Rekrutierungspraxis zieht: Geifman, Entangled in terror, 2000, S. 61.

Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve

jedenfalls eifrig mit seinen Verbindungsleuten bei der Polizei in Kontakt.299 Die operative Leitung übergab er an den relativ neu rekrutierten Boris Savinkov, der damit eine Führungsrolle innerhalb der Kampforganisation übernahm, aber zugleich ein Teil der Gruppe blieb. Anna Geifman kommt in ihrem Buch über Azef sogar zu dem Urteil, dass dieser sich praktisch gar nicht am operativen Geschäft der Kampforganisation und an der Durchführung der Attentate beteiligte. Er stellte eher das Bindeglied zwischen Partei und Kampforganisation dar. Weil aber die Kampforganisation völlig getrennt von der Partei existierte und keiner Kontrolle unterworfen war, strich Azef trotzdem den Ruhm für die erfolgreichen Attentate ein. Welches Geschäft er auch tatsächlich betrieb, gegenüber der Partei und auch gegenüber den aktiven Terrorist*innen selbst galt er als eigentlicher Kopf der Kampforganisation. Die Mitglieder der Kampforganisation selbst erkannten seine Autorität wiederum an, weil sie ihn für einen Vertrauten von Geršuni hielten und seine Aufgabe irgendwo außerhalb der Gruppe vermuteten. Stattdessen gab Azef selbst nach seiner Entlarvung zu, dass „es Savinkov war, der als Kopf der Kampforganisation fungierte, der sie niemals verließ und der ihre Freuden und Sorgen teilte.“300 So entstand an Stelle Geršunis eine Doppelspitze, bestehend aus Azef, der virtuell die Führung übernahm, und Savinkov, der ein Teil der Gruppe blieb und tatsächlich den Ton angab. Zusätzlich dazu war Michail Goc immer noch für die Terrorist*innen im Ausland zuständig.301 Als erstes Ziel für einen Terroranschlag gab Azef der Kampforganisation den Innenminister Vjačeslav Pleve vor. Auf die Frage, wieso Azef Pleve als Opfer aussuchte, geben Historiker*innen unterschiedliche Antworten. Anna Geifman verwies darauf, dass es für die PSR schon seit einiger Zeit „eine Frage der Ehre“ gewesen sei, den Innenminister Pleve zu ermorden. 302 Auch wenn sie diese Feststellung nicht weiter belegte, wies sie an anderer Stelle auf ein bereits zu Geršunis Zeiten versuchtes Attentat auf Pleve hin.303 Boris Nikolaevskij und Manfred Hildermeier erklärten, dass Azef trotz seines doppelten Spiels und seiner Unaufrichtigkeit revolutionären Anliegen gegenüber den Innenminister Pleve aufrichtig gehasst habe. Dieser Hass sei vor allem dadurch motiviert gewesen, dass Azef Pleve persönlich für den Pogrom von Kišinev verantwortlich machte, der im Frühjahr 1903 das Zarenreich bewegte.304 Die Vorstellung, die Regierung und namentlich der Innenminister habe den Pogrom inszeniert, war unter den Zeitgenoss*innen weit verbreitet.

299 Vgl. die zahlreichen Korrespondenzen in: Ščerbakova (Hg.), Političeskaja policija i političeskij terrorizm v Rossii, 2001. 300 Zitiert nach: Geifman, Entangled in terror, 2000, S. 66. 301 Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 361–362. 302 Geifman, Entangled in terror, 2000, S. 62. 303 Ebd., S. 54. Darüber berichtet auch: Judge, Plehve, 1983, S. 223. 304 Vgl. z. B. Vnutrennaja počta. K Kišinevskomu pogromu, in: Novosti i birževaja gazeta, 14.5.1903.

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Der Pogrom von Kišinev

Der Pogrom von Kišinev, der sich um die Ostertage des Jahres 1903 im Gouvernement Bessarabien ereignete, markierte den Beginn der antijüdischen Gewalt im Zarenreich im 20. Jahrhundert.305 Die Provinzmetropole Kišinev hatte etwa 110.000 Einwohner*innen, davon waren ca. 50.000 Jüd*innen, weitere 50.000 Rumän*innen und ungefähr 8.000 Russ*innen. Insofern war auch Kišinev ein typischer Ort für die Gewalteskalation an der Peripherie des Reiches. Am Nachmittag des Ostersonntags begann die Gewalt gegenüber den Jüd*innen, die zunächst von kleineren Gruppen junger Männer ausging. Sie dauerte bis zum Abend an, ohne dass die Polizei oder die örtlichen Truppen eingegriffen hätten. Am Morgen des Ostermontags brach der Pogrom erneut aus. Bäuer*innen aus den umliegenden Dörfern verstärkten die Reihen der Pogromščiki und überzogen die Jüd*innen der Stadt mit Plünderungen, Mord, Folter und Verstümmelung. Am Abend des Ostermontages waren 47 Jüd*innen ermordet, 424 verwundet, 700 Häuser abgebrannt und 600 jüdische Geschäfte verwüstet. Der Gouverneur, der Polizeichef und der örtliche Militärkommandant reagierten erst am zweiten Tag auf die Ausschreitungen und verzögerten ihren Einsatz durch Kommunikationsprobleme und Kompetenzstreitigkeiten.306 Die Motive für das Versagen der örtlichen Obrigkeit ebenso wie die Verantwortung der Zentralregierung gehören zu den zentralen Fragestellungen der Pogromgeschichtsschreibung.307 Als Ursache für die Gewalteskalation gilt die antisemitische Hetze der lokalen Zeitung Bessarabec (Der Bessaraber). Der Herausgeber dieser einzigen Tageszeitung in Bessarabien war Pavel Kruševan, auf den bereits ein terroristischer Anschlag verübt worden war. Er veröffentlichte provozierende Artikel, in denen er zu einem „Kreuzzug“ gegen die Jüd*innen aufrief. Nach dem Mord an einem christlichen Jungen aus einem kleinen rumänischen Dorf, das etwa 40 km von Kišinev entfernt lag, kursierten im Bessarabec Anschuldigungen gegenüber den Jüd*innen, die sich aus der Ritualmordlegende speisten.308 Der Pogrom von Kišinev schockierte die Jüd*innen im Russischen Reich und eine breite Öffentlichkeit in der ganzen Welt. Auch diese Gewalteskalation kann als global

305 Vgl. zu Kišinev als dem prototypischen Pogrom und seiner Rolle für Geschichte und Erinnerung: Steven J. Zipperstein, Pogrom. Kishinev and the tilt of history, New York, London 2018. 306 Vgl. dazu ausführlich: Edward H. Judge, Easter in Kishinev. Anatomy of a pogrom, New York 1992, S. 49–75. 307 Zipperstein, Pogrom, 2018; Judge, Easter in Kishinev, 1992, S. 140–146; Anke Hilbrenner, Pogrome im Russischen Reich (1903–1906), in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, 4: Ereignisse, Dekrete, Kontroversen, München 2008, S. 298–299. 308 Als Ritualmordlegende wird der Aberglaube bezeichnet, dass Juden das Blut christlicher Kinder zur Zubereitung der Mazen, die während des Pessach-Festes gegessen werden, benötigen. Vgl. dazu Rainer Erb, Ritualmordbeschuldigung, in: Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, 2008, S. 293–294.

Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve

moment gelten.309 Obwohl auf diesen Auftakt noch zahlreiche weitere und weit brutalere Ausschreitungen folgen sollten, nimmt er eine zentrale Rolle in der jüdischen Erinnerung an die Pogrome der Zarenzeit ein. Für die zarische Zentralregierung kam der Pogrom von Kišinev einem kommunikationspolitischen Desaster gleich. Die zeitgenössischen Berichte, vor allem in der ausländischen Presse, gingen davon aus, dass die Ausschreitungen von der zarischen Regierung, namentlich vom Innenminister Pleve, selbst inszeniert wurden. Ausschlaggebend dafür war eine angebliche Depeche von Pleve an den Gouverneur von Bessarabien, die auf den 25. März 1903 datiert und als „streng geheim“ klassifiziert war. Diesem Schreiben nach rief der Innenminister den Gouverneur dazu auf, im Falle etwaiger Ausschreitungen gegenüber Jüd*innen auf allzu strenge Maßnahmen bei der Wiederherstellung der Ordnung zu verzichten.310 Dieser Befehl, der parallel in der New York und in der London Times erschien, wurde sogleich als Beweis dafür interpretiert, dass Pleve, der unterzeichnet hatte, die Gewalt gegenüber den Jüd*innen Kišinevs guthieß, bzw. diese sogar initiiert habe.311 Die Authentizität dieser Depeche die nur als englischsprachige Zeitungsmitteilung vorliegt, wurde mehr als eine Woche später vom Innenministerium dementiert. Es ist bisher nicht gelungen, ein Original aufzufinden. Deshalb gilt sie heute in der Forschung als Fälschung.312 Generell erschien es aber kurz nach dem Massaker von Zlatoust möglicherweise geraten, die Gouverneure in jenen Provinzen, in denen Spannungen in der Luft lagen, zur Mäßigung anzuhalten. Bereits die Toten von Zlatoust hatten die Öffentlichkeit stark erregt. Die gewalttätigen Massen von Kišinev ähnelten in vielerlei Hinsicht den Bäuer*innen aus den Gouvernements Char′kov und Poltava sowie den Arbeiter*innen aus Zlatoust. Angesichts ihrer eigenen prekären Situation missachteten sie die Autoritäten und verletzten die Normen, von denen sie sich eingeschränkt fühlten. In Char′kov, Poltava und Zlatoust richtete sich ihre Gewalt und ihr Zorn dabei gegen den Staat selbst (Zlatoust) oder gegen die adligen Gutsbesitzer (Char′kov und Poltava), die der Staat in jedem Falle schützen wollte (wenn er konnte). In Kišinev zielten die Massen stattdessen auf die von der Obrigkeit ungeliebten Jüd*innen. Die Repräsentanten der Obrigkeit waren dementsprechend verunsichert, wie weit sie gehen sollten, um diese ungeliebten Jüd*innen zu schützen, und versagten deshalb dabei, die öffentliche Ordnung zu wahren, so wie auch der Gouverneur von Poltava im Jahre 1902 versagt hatte. Ebenso wie in Char′kov, Poltava und Zlatoust hatte die Regierung jedoch wenig Anlass, den Mob zu unterstützen.313 Judge, Easter in Kishinev, 1992, S. 76–106. Responsible for Kishineff Horror. Russian Interior Minister’s Alleged Order, in: New York Times, 18.5.1903 Vgl. dazu auch: Judge, Easter in Kishinev, 1992, S. 86. 311 Responsible for Kishineff Horror, in: New York Times, 18.5.1903. Vgl. stellvertretend für viele Dubnow, Buch des Lebens, 2004–2006, Bd. I, S. 411. Und schließlich einflussreich: Dubnow, Weltgeschichte des Jüdischen Volkes, 1925–1929, Bd. X, S. 368–378. 312 Judge, Easter in Kishinev, 1992, S. 125–133. 313 Vgl. dazu auch: Ebd. 309 310

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Dennoch war die Deutung, Pleve habe den Pogrom inszeniert, sowohl in der ausländischen Presse als auch unter den jüdischen Untertan*innen des Russischen Reiches und in den revolutionären Untergrundzeitschriften verbreitet. Dass der Justizminister versuchte, Veröffentlichungen dieser Art in der offiziellen russländischen Presse zu unterbinden, verstärkte eher noch die Ansicht, die Obrigkeit habe etwas zu verbergen.314 Die Vorstellung der Pogrome als obrigkeitliche Inszenierung hielt sich als Erklärung für die antijüdische Gewalt im Zarenreich, bis der Historiker Hans Rogger in den 1970ern eine Revision dieser Lesart einleitete.315 Ob die einzelnen Sozialrevolutionär*innen und insbesondere Azef ebenfalls glaubten, Pleve sei persönlich für den Pogrom von Kišinev verantwortlich, lässt sich kaum überprüfen. Die Tatsache, dass der Pogrom, ähnlich wie die Bauernunruhen des Jahres 1902 oder die Arbeiterunruhen von Zlatoust im Jahre 1903 im weitesten Sinne Protestbewegungen der Unterschichten waren, in denen nicht wenige Sozialrevolutionär*innen Keime einer sozialen Revolution wähnten, mag es zudem anfangs erschwert haben, sich öffentlich dagegen zu positionieren. Nachdem die revolutionäre Öffentlichkeit sich im Falle der Unruhen in Char′kov, Poltava und Zlatoust deutlich auf Seiten der protestierenden Massen positioniert hatte, mochte es den Revolutionär*innen zunächst als wenig stringent erscheinen, wenn dieselben Menschen, die zuvor den Einsatz der Truppen verurteilt hatten, nun auf einmal die harte Hand des Staates forderten. Vielleicht war es deshalb umso wichtiger, die Zentralregierung, den Innenminister, die Polizei und die Kosaken als Schuldige zu kennzeichnen, weil vor allem die jüdischen Radikalen sich von der antijüdischen Gewalt der sogenannten „Massen“ abgestoßen fühlten. Auf jeden Fall war, nachdem sich die öffentliche Meinung auf Pleve als Schuldigen eingeschossen hatte, seine Auswahl aus sozialrevolutionärer Perspektive folgerichtig. Wie im Falle Sipjagins konnte ein Attentat gegen Pleve wieder weite Teile der Gesellschaft, die jetzt im Angesicht von Kišinev erschüttert waren, für die emotionale Gemeinschaft im Sinne der PSR gewinnen. Das galt vor allem, weil die Kišinev-Anschuldigungen nicht die einzigen Sünden waren, die Pleve in den Augen der liberalen Öffentlichkeit auf dem Kerbholz hatte. Bereits Anna Geifman hat darauf hingewiesen, dass es in Azefs Interesse lag, beide, die Polizei und die Sozialrevolutionär*innen, zufriedenzustellen.316 Da er sich als Nachfolger von Geršuni begriff, dessen Ruhm sich vor allem aus der Ermordung des verhassEbd., S. 91. Hans Rogger, The Jewish policy of late tsarism, in: The Wiener Library Bulletin 25 (1971), S.  45–51. Auch in aktuellen Darstellungen finden sich immer wieder Hinweise auf diese Annahmen, so ist z. B. in Wolfgang Benz, Pogrom von Kischinew (1903), in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, 4:  Ereignisse, Dekrete, Kontroversen, München 2008, S. 282–284, vom „inszenierten Pogromgeschehen“ die Rede, ohne dass auf die Frage nach obrigkeitlicher Inszenierung und die entsprechende Forschungsdiskussion Bezug genommen wurde. 316 Ebd., S. 62. 314 315

Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve

ten Innenministers Dmitrij Sipjagin speiste, erscheint es als folgerichtig, dass Azef mit der Kampagne gegen den mindestens ebenso verhassten Nachfolger im Innenministerium Pleve, der zudem als der Verantwortliche für Kišinev galt, den Grundstein für seine Anerkennung als Kopf der Kampforganisation der PSR legen wollte. Ob er diese Kampagne tatsächlich zu Ende führen wollte, ist umstritten. Während Nikolaevskij und Hildermeier dies aufgrund seines vermeintlich ehrlichen Motivs, also des Hasses auf Pleve, unterstellen, weist Geifman auf Azefs Reaktion auf die Nachricht von Pleves Tod hin. Er habe, so erinnerte sich Praskovija Ivanovskaja, die gemeinsam mit Azef die Kunde von Pleves Ermordung erhielt, die Nachricht kaum glauben wollen und immer wieder nachgefragt, was das polnische „zamordowano Plewego“ bedeuten solle. Als er schließlich verstand, reagierte er mit allen Anzeichen eines körperlichen Schocks, Ohnmacht und Lähmungserscheinungen.317 Geifman interpretiert diesen Befund als Angst davor, vom Innenministerium für dieses Attentat verantwortlich gemacht zu werden.318 Diese Reaktion, so Geifman, passe nicht zu einem, der die Ermordung Pleves um jeden Preis gewollt habe, eher deute sie darauf hin, dass Azef sich begründete Hoffnungen darauf gemacht hatte, dass das Attentat scheitere, und dass seine Hoffnungen ihn getrogen hätten. Doch unabhängig von seinen wahren Intentionen initiierte Azef die Kampagne gegen Pleve und legte sie in die Hände der zentralen Kampforganisation, die ihr Ziel mit aller Energie verfolgte und schließlich ihr Opfer zur Strecke brachte. Angesichts ihres ehrgeizigen Vorhabens erarbeite die Kampforganisation sich eine neue terroristische Praxis, die nur noch einige Elemente der „Methode Geršuni“ übernahm, für die aber die ideologische Konkurrenz zur sozialdemokratischen Partei, die für Geršuni so bestimmend gewesen war, keine Rolle mehr spielte. Vorbild und Inspiration für das Vorgehen gegen Pleve war vor allem das Attentat der Narodnaja volja auf Alexander II. am 1. März 1881. Die Kampforganisation unter Geršuni hatte nach einigen Anläufen herausgefunden, was bereits den Terrorist*innen der ersten Phase bekannt war: Die Straße war der ideale Ort, um einen hochrangigen Politiker umzubringen. Boris Savinkov brachte diese einfache Wahrheit auch für den neuen Plan der noch jungen Kampforganisation auf den Punkt: Da es offenbar viel schwieriger war, Plehwe in seinem Hause zu ermorden, als auf der Straße, wurde beschlossen, ihn fortwährend zu beobachten. Dieses Observieren hatte zum Ziel, genau Tag und Stunde, Route und äußeres Aussehen der Ausfahrten Plehwes festzustellen. Nach Feststellung dieser Daten sollte sein Wagen durch eine Bombe auf der Straße gesprengt werden.319

317 Praskov′ja S. Ivanovskaja, V boevoj organizacii, in:  Oleg V. Budnickij (Hg.), Ženščiny-terroristki v Rossii, Rostov-na-Donu 1996, S. 29–174, hier S. 93. 318 Geifman, Entangled in terror, 2000, S. 64. 319 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 7.

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Aus diesem kurzen Absatz der Memoiren Savinkovs lässt sich die erfolgreiche terroristische Praxis der zentralen Kampforganisation während der „heroischen Phase“ ableiten, die im Wesentlichen aus zwei Elementen bestand: Observation und Bombe. 1. „Eine Bombe“

Als Kampfmittel setzte die neue Kampforganisation jetzt auf Bomben. Bereits Geršuni hatte Dynamit als überlegene und höhere Waffentechnik angesehen.320 Allerdings hatte er es noch nicht gewagt, diese tatsächlich auch einzusetzen, weil ein Attentat mit dem Revolver einer geringeren Vorbereitung bedurfte und zumindest auf den ersten Blick leichter zu handhaben war. Zwar wurde im allgemeinen Azef als geistiger Vater der „Innovation“ der Bombe angesehen,321 jedoch handelte es sich bei der Zuhilfenahme von Dynamittechnik um einen Rückgriff auf die bewährten Techniken, die bereits die Narodnaja volja bei ihrer Jagd auf das Leben Alexanders II. in den 1870er und 1880er Jahren entwickelt hatte.322 Für das Attentat auf Pleve, den man auf der Straße in seiner Kutsche stellen wollte, schien die Bombe eben deshalb die Waffe der Wahl zu sein, weil Pleve, ebenso wie einst der Zar, aus Sicherheitsgründen wohl fast ausschließlich mit der Kutsche in der Stadt unterwegs war. Ebenso wie Alexander II. an jenem 1. März 1881 fuhr auch Pleve aus Sicherheitsgründen eine gepanzerte Kutsche, und ebenso wie dem Zaren sollte es Pleve nichts nutzen.323 Die gepanzerte Kutsche ist nur ein Indiz dafür, dass der Innenminister mit einem Attentat auf seine Person rechnete. So ist das Gerücht überliefert, dass Pleve seine Leute daran hinderte, Sipjagins Trauerflor im Treppenaufgang seiner Residenz im Polizeipräsidium zu entfernen. Er tat das mit Worten, die zwischen Selbstironie und Galgenhumor changierten: „Den könnt ihr noch für mich gebrauchen!“324 Durch Azef hatte Pleve bereits von zwei geplanten Anschlägen auf seine Person erfahren. Noch unter dem Kommando Geršunis wollte der Sozialrevolutionär Grigorev ein Attentat auf Pleve durchführen, das Azef an die Polizei verriet.325 Im Januar 1904 erfuhr Azef darüber hinaus, dass die Sozialrevolutionärin Serafima Kličoglu abseits der zentralen Kampforganisation eine Gruppe von Terrorist*innen um sich versammelt hatte mit dem Ziel, Pleve zu töten. Auch diesen Plot verriet Azef und schlug damit zwei Fliegen mit einer Klappe. Erstens konnte er bei der Polizei abermals seinen Wert als Informant unter Beweis stellen. Zweitens aber Černov, V partii socialistov-revoljucionerov, 2007, S. 314. Vgl. z. B. Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 362. So sieht es auch: Geifman, Entangled in terror, 2000, S. 62. Peri/Evans, How terrorists learned to map, 2010, S. 149–173. Judge, Plehve, 1983, S. 244. Zu Grigorev, der bereits ein Attentat auf Pobedonoscev verüben sollte, sich stattdessen aber in eine Gaststätte zurückzog, um Bier zu trinken, vgl. ausführlich auch: Mandel′štam, 1905 god v političeskich processach, 1931, S. 232–233. 320 321 322 323 324 325

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räumte er eine wichtige Konkurrenz zur zentralen Kampforganisation aus dem Weg.326 Dieser Verrat war ein hilfloser Versuch, den Terrorismus als Propagandamittel zentral durch die PSR zu lenken zu einer Zeit, in der die Inflation dieser Taktik immer weiter fortschritt. Außerdem hatte der Innenminister zahllose Drohbriefe erhalten, in denen sein Leben bedroht wurde.327 Pleve hatte also allen Grund, um seine Sicherheit besorgt zu sein. Deshalb wurden zahlreiche Vorsichtsmaßnahmen von seinem Sicherheitsbeauftragten Sergej Spiridonovič Skandrakov getroffen. Skandrakov war zuvor bei der Polizei in Kiew und Moskau tätig gewesen und versuchte, Pleve mit allen Mitteln zu beschützen. Augenzeug*innen berichten, der Innenminister habe zum Teil bei offiziellen Treffen unter vier Augen eine Schutzweste getragen. Auch seine Ziele und Routen in seiner gepanzerten Kutsche unterlagen äußerster Geheimhaltung. Zudem wurde die Kutsche stets von Sicherheitsleuten auf Fahrrädern begleitet.328 Alexis Peri und Christine Evans haben beobachtet, dass in Savinkovs „Erinnerungen eines Terroristen“ die Kutsche auch eine symbolische Bedeutung hat. Im Verkehr der modernen Stadt, in dem Fußgänger*innen, Fahrradfahrer*innen, Autos, Trambahnen und Droschken das pulsierende Leben auf der Straße ausmachen und je nach Verkehrsmittel sozial segmentieren, stehen die Kutschen für das alte autokratische Russische Reich, dessen Niedergang die Sozialrevolutionär*innen herbeiführen wollen. Die Kutsche umhüllt nicht nur die Person, die sich die Kampforganisation als Opfer erwählt hat, sondern wird auf einer symbolischen Ebene selbst zum Ziel. 329 Weil Pleve nicht ohne den Schutz seiner gepanzerten Kutsche auf der Straße anzutreffen war, schied der Revolver als Waffe weitgehend aus, sodass der technische Mehraufwand sich auch aus den Erfordernissen des ehrgeizigen Zieles rechtfertigte. Zusätzlich versprach aber die Bombe auch eine größere kommunikative Ausstrahlung. Anders als ein Revolver zog eine Bombe alle Aufmerksamkeit auf sich. Das Dynamit tötete oder verletzte nicht nur eine einzelne Person, sondern es zerstörte ihren Körper, veränderte die Umgebung, kehrte das Unterste zuoberst, bedrohte die Umstehenden, erzeugte Angst und Sensation. Die Explosion sprach alle Sinne an, verursachte Schmerzen oder wurde zumindest auch von der Umgebung auf einer taktilen Ebene wahrgenommen. Sie verdunkelte die Sicht, sodass sich ein Vorhang über die Szene legte, bis diese völlig verändert wieder vor dem Auge der Betrachter*in erstand. Sie verursachte großen Lärm, der sogar zu einer temporären Taubheit führen konn-

Judge, Plehve, 1983, S. 223, 230. Vgl. dazu auch: Nikolajewsky, Aseff, the spy, 1970, S. 75. Vgl. dazu z. B. L. Ahrenthal to his excellency count Goluchowski, etc. etc. etc., from St. Petersburg, 24 July / 6 Agust 1904, in: Abraham Ascher, The coming storm. The Austro-Hungarian embassy on Russia’s internal crisis, 1902–1906, in: Survey. A Journal of Soviet and East European Studies 53 (1964), October, S. 148–164, hier S. 154. 328 Judge, Plehve, 1983, S. 233. 329 Peri/Evans, How terrorists learned to map, 2010, S. 149–173. 326 327

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te.330 Außerdem repräsentierte die Dynamittechnik den Fortschritt. Vor allem in den Beschreibungen der ingenieurstechnischen Innovationen der Bombenproduktion wird das Selbstverständnis Savinkovs deutlich, „Techniker des Terrorismus“ zu sein.331 Weil Dynamit zudem relativ leicht herstellbar und für jedermann verfügbar war, hatte es den Nimbus einer „Waffe des kleinen Mannes“ und damit eines revolutionären Kampfmittels.332 Die Erfahrung der gewaltigen kommunikativen Ausstrahlung des Dynamit, hatten bereits die Terrorist*innen der Narodnaja volja gemacht, für die der Ingenieur Nikolaj Kibal′čič das Dynamit erstmals so weiterentwickelt hatte, dass es als Wurfgranate zu gebrauchen war. Doch während Kibal′čič ein Pionier der Sprengstoffentwicklung war, machten die SR die Bomben so populär, dass während der Revolution von 1905 bis 1907 das Bombenbauen zum Kinderspiel wurde: Die Herstellung von Bomben nahm große Ausmaße an. Die Technologie machte solche Fortschritte, dass bald jedes Kind aus einer leeren Sardinenbüchse und einigen Zutaten aus der Drogerie eine Bombe herstellen konnte.333

Bis dahin war es für die SR jedoch noch ein weiter Weg. Die Kampforganisation richtete 1904 zunächst eine Dynamitschule in Paris ein, in der die Terrorist*innen das gefährliche Handwerk des Bombenbauens erlernen konnten.334 Auch im Russischen Reich bekamen sie Hilfe von „Partei-Ingenieuren“.335 Während der Vorbereitung auf das Attentat auf Pleve starb der Veteran der ersten Kampforganisation Aleksej Pokotilov beim Laden der Bombenzylinder im Nordhotel in St. Petersburg am 31. März 1904.336 Pokotilov hatte bereits als Attentäter auf Bogolepov und Obolenskij bereitgestanden und konnte deshalb innerhalb der neuen Kampforganisation bereits als alter Kämpfer gelten. Allerdings war er, laut Geifman, Alkoholiker, der die todbringende Explosion möglicherweise mit seinen zitternden Händen ausgelöst hatte.337 Aber auch der hochgeschätzte Maksimilian Švejcer verletzte sich bei der Herstellung von Dynamit bei der Vorbereitung auf das Pleve-Attentat338 und starb bei der Vorbereitung von Bomben am 21. Februar 1905 in St. Petersburg.339 Die Verwüstung, die diese Explosion

Cole, Dynamite violence and literary culture, 2009, S. 301. Peri/Evans, How terrorists learned to map, 2010, S. 149–173. Cole, Dynamite violence and literary culture, 2009, S. 301. Zitiert nach: Aleksandr Spiridovič, Istorija Bol′ševizma v Rossii, Paris 1922, S. 120. Spiridovič, Partija socialistov-revoljucionerov i ee predšestvenniki (1886–1916), 1918, S. 147. Vgl. z. B. Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 39. Vgl. z. B. auch die Erinnerungen von: Valentina Popova, Dinamitnye masterskie 1906–1907 gg. i provokator Azef, in: Budnickij (Hg.), Ženščinyterroristki v Rossii, 1996, S. 174–236. 336 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 35. 337 Vgl. z. B. Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 164; Geifman, Entangled in terror, 2000, S. 60. 338 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 39. 339 Alexander Gerassimoff, Der Kampf gegen die erste russische Revolution. Erinnerungen, Frauenfeld/ Leipzig 1934, S. 18–22. Vgl. auch: Ivanovskaja, V boevoj organizacii, 1996, S. 29–174. 330 331 332 333 334 335

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hinterließ, beschrieb der Polizeichef von St. Petersburg Aleksander Gerasimov. Diese Erinnerung kann stellvertretend für die schockierende Wirkung des Dynamits stehen: Zimmereinrichtungs- und Bruchstücke der Wände lagen durcheinander wie ein Schutthaufen, und alle diese Trümmer und Fetzen waren hie und da übersät mit den feinsten kleinen Stücken eines menschlichen Körpers. In der Nähe des zerstörten Fensterrahmens lag eine abgerissene Hand, die sich um einen metallischen Gegenstand zusammengeballt hatte, – ein Anblick, den ich nicht mehr vergessen kann.340

Švejcer schien eine Art Wiedergänger des begabten Naturwissenschaftlers Kibal′čič gewesen zu sein. So erinnerte sich zumindest Savinkov: Er arbeitete ständig an sich und versprach, in Zukunft einen hervorragenden Platz in den Reihen der Terroristen einzunehmen. Seine Liebe zu technischen Kenntnissen, zur Chemie, zur Mechanik, zur Elektrotechnik, war besonders auffallend. Er verfolgte nicht nur die Literatur zu gesellschaftlichen Fragen, in seinen freien Stunden studierte er auch seine geliebten Wissenschaften.341

Die Wiederaufnahme der Dynamittechnik durch die Sozialrevolutionär*innen machte die Bombe zum terroristischen Kampfmittel par excellence. Unter dem Spitznamen „Apfelsinchen“ (apel′sinčik) wurde die Bombe Teil der russländischen Revolutionskultur. In dieser Karikatur, die aus der Zeit der Revolution von 1905 bis 1907 aus dem Umfeld der Sozialrevolutionäre stammt, werden „Apfelsinchen“ als Mittel des russländischen Terrorismus beschrieben. Die allegorische Verkörperung Frankreichs bezeichnet eine Guillotine, die mit der Jahreszahl 1793 beschriftet ist, als „unsere Maschine für Tyrannen“. Darauf antwortet die allegorische Verkörperung Russlands, die einen Korb voller Bomben bei sich trägt: „Dafür haben wir ein besseres Mittel … Apfelsinchen.“ Die französische Revolutionssymbolik verweist auf die Herkunft des Terrorismus aus der „terreur“ in der Französischen Revolution. Doch der Hintergrund des Bildes scheint nicht in das Jahr 1793 zu passen. Hohe Häuser ragen grau in den Himmel, Schornsteine rauchen. Der Bildhintergrund symbolisiert das Russische Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In dieser modernen Welt, so lässt sich die Karikatur interpretieren, sind die Bomben das zeitgemäße Mittel für eine legitime Fortführung der Tradition der französischen „terreur“.342

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Gerassimoff, Der Kampf gegen die erste russische Revolution, 1934, S. 19. Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 149. Minachorjan, Album with prints of photographs, IISG, Archiv PSR f. 596.

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Abb. 2 Karikatur aus der Sammlung des Sozialrevolutionärs V. S. Minarchorjan aus der Zeit vor 1907. 343

Zahlreiche Witze, Karikaturen und Gedichte über die „Apfelsinchen“ sind Teil der Revolutionskultur um 1905 geworden. Eines der satirischen Gedichte betrifft ein wichtiges Merkmal dieses Kampfmittels. Es ist aus der Perspektive des Kutschers eines einflussreichen Politikers verfasst, der zunächst die Terrorist*innen als Verbündete begrüßt und ihnen einen schnellen Sieg wünscht. Gleichzeitig bittet er darum, dass Maßnahmen zu seiner Sicherheit ergriffen werden, und fragt am Schluss: „Können Sie nicht eine Bombe erfinden, die das Leben des Kutschers verschont?“344 Dieses Gedicht macht nur zu deutlich, dass die sensationelle Wirkung der Bombe und ihre

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Minachorjan – Album with prints of photographs, IISG, Archiv PSR, f. 596, N. 348. Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 280.

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Effektivität gegenüber dem geplanten Opfer der Terrorist*innen teuer erkauft waren. Denn die Bomben der Sozialrevolutionär*innen hatten eine ungeheure Sprengkraft, die nicht nur ihr jeweiliges Opfer, in diesem Falle Pleve, tötete, sondern auch zufällige Opfer wie Kutscher, Diener oder Passant*innen forderte. Doch trotz der Probleme, die der Einsatz von Bomben unzweifelhaft mit sich brachte, verbreiteten sie sich als Kampfmittel weit über die Partei der Sozialrevolutionär*innen hinaus, sie wurden zum Markenzeichen anarchistischer Attentate, und selbst die Sozialdemokrat*innen sahen ihn ihnen das geeignete Instrument des revolutionären Kampfes. So schrieb Lenin im September 1905: Die Herstellung von Bomben ist überall und allerorts möglich. Sie erfolgt jetzt in Russland in weit größerem Umfang, als jeder von uns weiß (und jedes Mitglied einer sozialdemokratischen Organisation kennt bestimmt mehr als ein Beispiel der Einrichtung von Werkstätten). Sie erfolgt in unvergleichlich größerem Umfang als die Polizei weiß (diese aber weiß sicher mehr als die Revolutionäre in den einzelnen Organisationen).345

Auch wenn Lenin die Durchschlagskraft der revolutionären Organisationen auf gewohnt suggestive Weise beschreibt, speisten sich seine Eindrücke aus der Lektüre jener Zeitungen im Russischen Reich, die auch allen anderen zur Verfügung standen: Man lese sich hinein in die Meldungen der legalen Zeitungen über Bomben, die in Reisekörben friedlicher Schiffspassagiere gefunden wurden. Man lese sich hinein in die Nachrichten über die Hunderte von Überfällen auf Polizisten und Militärs, über die Dutzende auf der Stelle Getöteter, die Dutzende Schwerverwundeter während der letzten zwei Monate.346

Tatsächlich waren spätestens im Herbst 1905 die russländischen Zeitungen voller Berichte von Bombenfunden, -anschlägen und -explosionen. Die Waffe der SR-Kampforganisation unter Azef hatte sich im Lager der Revolutionär*innen durchgesetzt. 2. „Fortwährend beobachten“

Die zweite wesentliche Neuerung in der Handschrift der zentralen Kampforganisation unter Azef bestand in einer aufwendigen Observationstechnik. Die Vorbereitung des Attentats auf Pleve dauerte – zwei Fehlversuche miteingerechnet – von November 1903 bis zum 15. Juni 1904. Dabei wurde eine Methode der konspirativen Beobachtung eingeführt und immer weiter verbessert, die zum Markenzeichen der PSR wurde und beim Attentat auf Sergej Aleksandrovič nochmals zum Einsatz kommen sollte. Diese Observationstechnik wurde ausführlich von Boris Savinkov beschrieben. Aufgrund 345 Wladimir I. Lenin, Von der Verteidigung zum Angriff, in: Werke, Bd. 9, Berlin 1955–1964, S. 278–280, hier S. 280. 346 Ebd.

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seiner literarischen Begabung schilderte er die angewandte Konspiration mit sehr viel Liebe zum Detail, die Menschen als tragische Charaktere und die Momente des Scheiterns mit dem entsprechenden Pathos. Das macht den Text als historisches Zeugnis nicht unproblematisch. Zusätzlich aber band er seine Erzählung ganz konkret an die Straßen der Stadt St. Petersburg, die eine wichtige Rolle für die einstweiligen Niederlagen der Terrorist*innen und ihren Erfolg gegenüber Pleve spielten. Die „Erinnerungen eines Terroristen“ sind deshalb eine einzigartige Quelle dafür, wie die städtische Topographie, ihre Straßen, Plätze und Blickachsen, die Planungen und das Handeln der Pleve-Attentäter*innen beeinflussten.347 Die Technik des Beobachtens ging von einigen topographischen Fixpunkten aus. Zunächst fand die Kampforganisation heraus, dass der Innenminister im Winter 1903/1904 im Polizeipräsidium an der Fontanka Nr.  16 residierte. Die Wohnräume innerhalb des Polizeipräsidiums hatte bereits Sipjagin bauen lassen. Hier wurde der Innenminister inmitten von Polizisten außerdem bestens durch bauliche Sicherheitsvorkehrungen und zusätzliche Sicherheitsleute bewacht.348 Von dort aus begab er sich regelmäßig zum Bericht zum Zaren, der sich entweder im zentral gelegenen Winterpalast oder später in seinen Sommerpalästen in den Vororten Carskoe Selo oder Peterhof aufhielt. Diese Kenntnisse wollten die Terrorist*innen mit Hilfe genauer Beobachtungen nun so konkretisieren, dass sich Bewegungsmuster herauskristallisierten, die die Planung eines Attentates auf der Straße ermöglichten. Für die Beobachtung benötigten die Mitglieder der Kampforganisation die konspirative Verkleidung von Menschen, „die sich ihrer Beschäftigung nach den ganzen Tag auf der Straße befanden, z. B. Zeitungsverkäufer, Droschkenkutscher, Hausierer usw.“349 Dieser Plan begeisterte Savinkov, der bereits zu Beginn der Observierungsphase von dem Erfolg dieser neuen Methode überzeugt war: „Dabei aber mußte die systematische Beobachtung sicher zur Ermordung Plehwes auf der Straße führen.“350 Zusätzlich unterstrich er, dass Azef sich diese Technik der Beobachtung ausgedacht habe, die unter Geršuni noch keine Rolle gespielt hatte. Er räumte aber ein, dass die Narodnaja volja in der Vorbereitung des 1. März 1881 einen ähnlichen Weg gegangen sei. Wie wichtig die Beobachtung und ihre Ergebnisse tatsächlich waren, macht vor allem das Scheitern des ersten Attentatsversuchs auf Pleve am 18. März 1904 deutlich. Die Kräfte, die zur Beobachtung Pleves bereitstanden, waren zu Beginn des Jahres 1904 noch gering. Den drei Personen, die in St. Petersburg auf dem Posten waren, gelang es lediglich, herauszufinden, dass Pleve jeden Tag um zwölf Uhr vom Polizeipräsidium zum Rapport zum Zaren in den Winterpalast fuhr. Allein auf diesem Wissen beruhte der erste Attentatsplan vom 18. März 1904, der gegen den Willen Azefs durchgesetzt wurde. Die Opposition Azefs zu diesem Plan lässt sich in zweierlei 347 348 349 350

Vgl. dazu auch: Peri/Evans, How terrorists learned to map, 2010, S. 149–173. Judge, Plehve, 1983, S. 233. Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 7. Ebd.

Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve

Hinsicht interpretieren. Einerseits mag er generell ein Gegner des Attentats gewesen sein, weil er als Diener zweier Herren den Innenminister schützen wollte, andererseits ist es aber ebenso gut möglich, dass er den Plan für unausgegoren und nicht erfolgversprechend hielt. Interessant ist, dass die Gruppe Azef überstimmen konnte, dass die Hierarchien innerhalb der Kampforganisation also flach waren. Der Anschlag sollte sich vor den Toren des Polizeidepartements anlässlich der Rückkehr Pleves vom Zaren ereignen. Der Ort erschien im Nachhinein selbst den Terrorist*innen als ungeschickt gewählt, weil Pleve dort am besten bewacht wurde. Durch die starke Präsenz von Polizeikräften verloren die Verschwörer*innen einen der Attentäter. Weil nicht alle der ursprünglich drei Attentäter vertraut mit dem Ziel (mit Pleve und seiner Kutsche waren), mussten zwei weitere Mitglieder der Kampfgruppe als Zeichengeber mithelfen, die sich dadurch unnötig in Gefahr brachten. Aufgrund der Unkenntnis der genauen Wege des Innenministers überraschte die Kutsche schließlich die verbliebenen beiden Attentäter, sodass es niemandem gelang, seine Bombe zu werfen. Besonders deutlich wurde die dilettantische Vorbereitung am Beispiel Egor Sazonovs, der als Droschkenkutscher getarnt vor dem Polizeipräsidium stand und die letzte Bombe werfen sollte. Sazonov hatte den Auftrag, mit dem Gesicht zur Neva hin zu warten, um sowohl die Zeichen seiner Mitverschwörer als auch die Kutsche Pleves selbst zu erblicken. Durch die Zeichen der anderen vorgewarnt, sollte er genügend Zeit haben, die Bombe hervorzuholen und zu werfen. Als er vor dem Polizeipräsidium Aufstellung nahm, stellte sich heraus, dass alle Droschken in entgegengesetzter Richtung standen, mit dem Gesicht dem Zirkus zugewandt. Der „verkehrt herum“ aufgestellte Droschkenkutscher zog den Spott der übrigen Chauffeure auf sich, sodass er sich, um keinen Verdacht zu erregen, wohl oder übel herumdrehen musste und so die Ankunft der Kutsche mit dem Innenminister verpasste.351 Der Misserfolg vom 18. März 1904 zeigte deutlich, dass die genaue Beobachtung des Opfers und die Vorhersage seiner Wege innerhalb der Stadt wichtige Voraussetzungen für das Gelingen des geplanten Attentats waren. Für die Durchführung eines erfolgreichen Anschlags musste ein anderer Ort gefunden werden, da die Residenz des Innenministers sich durch die starke Polizeipräsenz als ungünstig erwiesen hatte. Für die Beobachtung des Innenministers in anderen Teilen der Stadt waren mehr als nur drei Personen notwendig. Die Erfahrung des 18. März gab den Terrorist*innen aber die Chance, ihre Vorgehensweise zu optimieren. Nach einer Phase der Enttäuschung sammelte die Gruppe sich wieder in St. Petersburg, sie war um eine Reihe weiterer Personen verstärkt worden. Für die Beobachtung Pleves wurden nun acht Personen eingesetzt. Boris Savinkov, Dora Brilliant, Praskovija Ivanovskaja und Egor Sazonov hatten sich mit Hilfe einer konspirativen Legende eine Wohnung gemietet. Savinkov gab vor, der englische Vertreter einer Fahrradfirma zu sein, Dora Brilliant war seine

351

Ebd., S. 24–27.

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Geliebte, und Praskovija Ivanovskaja war demnach in ihrem Haushalt als Köchin angestellt. Sazonov trat als Lakai auf. Azef schlug diesen Lebensstil vor, damit Savinkov, ohne Aufsehen zu erregen, ein Automobil kaufen konnte, aber Savinkov weigerte sich, denn er räumte der Ausführung des Attentats mehr Chancen ein, wenn es von Fußgänger*innen ausgeführt werden würde statt mit einem auffälligen Automobil. Savinkov war vorzugsweise als Flaneur auf den Straßen St. Petersburgs unterwegs,352 ebenso wie Dora Brilliant, die vorgab, gemeinsam mit dem Lakaien Sazonov Einkäufe zu machen. David Borišanskij hatte die Aufgabe bekommen, sich als Chauffeur ausbilden zu lassen, sich aber keine Fähigkeiten angeeignet, also fiel das Automobil als Transportmittel schließlich aus. Egor Dulebov und Iosif Maceevskij beobachteten Pleve als Droschkenkutscher. Sie hatten allerdings den Nachteil, dass sie, wollten sie ihren konspirativen Auftritt nicht gefährden, häufig Fahrgäste aufnehmen mussten und deshalb nicht allzu viel über Pleve in Erfahrung bringen konnten. Der beste Kundschafter war Kaljaev, der als fliegender Händler jeden Tag beginnend morgens „von 8 Uhr bis in die späte Nacht“ durch die Straßen streifte und gegenüber seiner Umgebung stets seine Legende aufrechterhielt.353 Er machte schließlich die Beobachtungen, die zur erfolgreichen Durchführung des Attentats auf Pleve führten: Im ganzen hatte uns die systematische Beobachtung zu der Überzeugung gebracht, daß Plehwe am leichtesten am Donnerstag, auf dem Wege von der Apothekerinsel zum Bahnhof von Carskoe Selo, umgebracht werden konnte.354

Im Juni siedelte der Zar nach Peterhof um, sodass Pleve nun, wiederum von seinem Sommerhaus auf der Apothekerinsel,355 jeden Donnerstag zum Baltischen Bahnhof fuhr. An einem dieser Donnerstage konnte das Attentat auf dem Weg zum Baltischen Bahnhof durchgeführt werden. Frithjof Benjamin Schenk hat darauf hingewiesen, dass die Fahrpläne der Züge, die Pleve nach Peterhof brachten und die den Minister zur Pünktlichkeit zwangen, den Terrorist*innen die Planung erheblich erleichterten.356 Der zweite Versuch, Pleve zu töten, sollte am 8. Juli 1904 stattfinden, doch die Übergabe der Bomben an die Werfer fand nicht wie verabredet statt. Savinkov erklärte diesen Misserfolg damit, dass „ein Durcheinander verursacht worden war, das bei der Mobilisierung einer solchen Anzahl von Bombenwerfern innerhalb so kurzer Zeit fast unvermeidlich war.“357 Auch dieses Durcheinander wurde durch die topographischen Besonderheiten des Treffpunktes ausgelöst. Savinkov und Sazonov verpassten sich:

352 353 354 355 356 357

Vgl. zu Savinkov als Flaneur auch: Peri/Evans, How terrorists learned to map, 2010, S. 149–173. Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 51. Ebd., S. 53. Judge, Plehve, 1983, S. 233. Schenk, Attacking the empire’s Achilles heels, 2010, S. 244. Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 65.

Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve

Wie sich später herausstellte, war er genau zur angegebenen Zeit an der verabredeten Stelle, und wenn er mich nicht traf, so nur deshalb, weil wir beide zwischen der Zehnten und der Zwölften Kompagnie warteten, die auf den Neuen Peterhof-Prospekt mündete, und nicht bis zu ihren Endecken gingen, uns also nicht treffen konnten.358

Doch diese Panne schien den Verschwörer*innen kaum etwas auszumachen. Sie wandten einen ähnlichen Plan in der Folgewoche ein weiteres Mal an. Nur der Treffpunkt und die Übergabe der Bomben an die Werfer wurden an einen anderen Ort, der sich erstaunlich weit vom Baltischen Bahnhof entfernt befand, verlegt. Die Übergabe fand, nach Savinkovs Bericht am 15. Juli 1904 um 9:10 Uhr am Turgenev-Platz an der Kirche Prokovskaja v Kolomne, an der Kreuzung von Sadovaja Straße und Angliskij Prospekt statt, in dem zur Kirche gehörenden kleinen Park. Dieser Treffpunkt war etwa 2,5 km von dem geplanten Ort des Attentats entfernt, und die Bombenwerfer benötigten zu Fuß ungefähr eine halbe Stunde, wobei sie jeweils unhandliche und schwere Bomben mit sich herumtragen mussten, wie Savinkov eindrücklich beschrieb: „Er trug seine Bombe in der rechten Hand, unter dem Oberarm. Man konnte sehen, daß sie schwer zu tragen war.“359 Die Route der Bombenwerfer, so wie Savinkov sie angibt, ist widersprüchlich. Geplant war der folgende Weg: „Von hier [der Prokovskaja Kirche am Turgenev-Platz; die Verf.] sollten die Bombenwerfer einer nach dem anderen in der festgesetzten Ordnung […] längs des Englischen Prospekts und der Holzstraße zum Obvodnyj-Kanal gehen und sich am Obvodnyj-Kanal entlang, am Baltischen und Warschauer Bahnhof vorbei, auf den Izmajlov-Prospekt, Plehwe entgegen, begeben.“360 Diesen Weg geben auch Alexis Peri und Christine Evans in ihrem Projekt „Visions of terror“ an.361 Den tatsächlichen Aufbruch aber schilderte Savinkov mit den Worten „Träge erhob sich Borišanskij von der entfernten Bank. Er ging ohne Eile dem Peterhof-Prospekt zu.“362 Diese Bemerkung lässt auf eine andere Route schließen, die zumindest den Vorteil hatte, dass sie etwas weniger umständlich und deshalb (wenn auch nur unwesentlich) kürzer war. Auf diesem Weg gingen die Bombenwerfer ein kurzes Stück die Sadovaja in nordöstlicher Richtung, dann bogen sie rechts ab in die Mogilëv Straße, folgten dieser über die Ägyptische Brücke, die im Jahre 1905 traurige Bekanntheit erlangte, weil sie unter der Last eines Kavallerieschwadrons zusammenbrach. Von dort aus nahmen sie den Neuen Peterhof Prospekt bis hinunter an den Obvodnyj Kanal, überquerten

Ebd., S. 67. Ebd., S. 71. Ebd., S. 69. Alexis Peris / Christine Evans, Visions of terror. http://stpetersburg.berkeley.edu/alexis/alexis_map. html (10. November 2020) 362 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 71. 358 359 360 361

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diesen und liefen die südliche Uferstraße des Obvodnyj Kanal entlang. Sie passierten den Baltischen Bahnhof. An dem benachbarten Warschauer Bahnhof überquerten sie die Brücke (und damit den Obvodnyj Kanal zum zweiten Mal), um dem Innenminister auf dem Izmailovskij Prospekt entgegenzukommen. Weil Savinkov keine Angaben dazu macht, lässt sich lediglich spekulieren, warum dieser weit entfernte Treffpunkt am Turgenev-Platz gewählt wurde. Möglicherweise war der neue Treffpunkt der gescheiterten Bombenübergabe am 8. Juli 1904 geschuldet, als Švejcer versuchte, alle Bomben an unterschiedlichen Orten, die dem Tatort jeweils näher waren, an die einzelnen Werfer zu übergeben. Dadurch, dass sich am 15. Juni alle Werfer an einem Ort zur Übergabe trafen, hätten die Verschwörer*innen zudem auf die Verspätung eines einzelnen Terroristen schnell reagieren und umdisponieren können. Das Zusammentreffen aller an einem Ort verstärkte einerseits das Risiko, von der Polizei bei der Bombenübergabe entdeckt zu werden. Dennoch erhöhte dieses Treffen auf der anderen Seite die Erfolgschancen, und möglicherweise dachten die Terrorist*innen, dass der Park am Turgenev-Platz für eine konspirative Übergabe gut geeignet sei. Allerdings gab es auch in geringerer Entfernung zum Baltischen Bahnhof Parks, die für eine Bombenübergabe in Frage gekommen wären. Die Ungenauigkeit in der Beschreibung der Routen ebenso wie die erstaunlich weite Entfernung des Treffpunkts von dem geplanten Ort des Attentats lassen an den Erinnerungen Savinkovs bezüglich der Beschreibung des Attentats zweifeln. Der Attentäter Egor Sazonov selbst berichtete in einem langen Brief an seine Genoss*innen ausführlich von der Ausführung des Attentats, allerdings erwähnt er die Bombenübergabe, den Turgenev-Park und den Fußweg zum Ort des Anschlages nicht.363 Deshalb müssen wir von den Ereignissen ausgehen, die Savinkov beschrieben hat. Trotz der beachtlichen Entfernung, die zurückgelegt werden musste, der Ungenauigkeit, die sich dadurch für den Zeitpunkt des Zusammentreffens mit Pleve ergab, der langen Dauer, die die Werfer mit den auffälligen und schweren Bomben unterwegs und damit dem Risiko der Entdeckung ausgesetzt waren, ging also an diesem Morgen des 15. Juli 1904 der Plan der Attentäter*innen auf. Boris Savinkov, der Augenzeuge, begab sich auf einem anderen Wege in Richtung des Warschauer Bahnhofs, wo der Anschlag stattfinden sollte. Er machte sich vom Turgenev-Platz, wo er die Bomben übergeben hatte, auf seinen ebenfalls etwa 30-minütigen Weg über die Sadovaja Straße nach Nordosten bis hin zum Voznesenskij Prospekt, der auf der anderen Seite der Fontanka in den Izmailovskij Prospekt mündete. Diesem folgte er in Richtung Obvodnyj Kanal. Auf der anderen Seite des Kanals befand sich der Warschauer Bahnhof in direkter Nachbarschaft zum Baltischen Bahnhof, der das Ziel Pleves war. Pleve musste pünktlich um zehn Uhr am Baltischen Bahnhof den Zug nach Peterhof nehmen. Den

363 Vgl. diesen Brief in: Egor S. Sazonov, Materialy dlja biografii. Vospominanija. Pis′ma. Dokumenty. Portrety. S predisl. S.P. Mel′gunova., Moskva 1919, S. 8–19.

Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve

Izmailovskij Prospekt entlanglaufend auf der Höhe der Straße der Siebten Kompanie sah Savinkov Egor Sazonov, der gerade die Brücke über den Obvodnyj-Kanal überquerte. Sobald dieser am Nordufer des Kanals angekommen war, verschwand er in der Menge. In demselben Moment fuhr Pleve mit seiner Kutsche an Savinkov vorbei. Savinkov konnte also Sazonov die wenigen Augenblicke vor der Explosion nicht beobachten.364 Sazonov selbst berichtete in einem Brief an die Genossen von dem genauen Ablauf des Attentats. In der Uniform eines Eisenbahnschaffners konnte er unerkannt seinen Weg machen, seinem Opfer Pleve entgegen. Die schwere Bombe, so schrieb er, war in Zeitungspapier gehüllt und habe deshalb ausgesehen, wie eine in Papier eingeschlagene Wurst.365 Die Russkija vedomosti berichteten, der Attentäter mit der Bombe habe ausgesehen, als habe ein Eisenbahnschaffner Kohl gekauft.366 Aufgrund dieser Tarnung wurde keiner der so zahlreich auf der Brücke versammelten Polizeiagenten auf den Attentäter aufmerksam. Sazonov berichtete seinen Genoss*innen, das gesamte Trottoir sei voller Spitzel gewesen. Alle Agenten hätten in der üblichen Verkleidung, angezogen wie elegante Herren, versonnen hinter ihm her gestarrt, aber keiner habe ihn enttarnt. Sazonov sei gleichsam „durch eine Mauer aus Ochrana“ gegangen. Zudem habe er kaum „neutrales Publikum“ auf dem Bürgersteig gesehen.367 Diese Bemerkung diente auch der Legitimierung der zerstörerischen Gewalt der Bombe. Sazonov wusste, dass die Detonation großen Schaden angerichtet hatte. Indem er behauptete, dass alle Personen in unmittelbarer Nähe Polizeispitzel waren, rechtfertigte er zugleich das Risiko möglicher Opfer unter den Passant*innen, das er und seine Mitverschwörer*innen eingegangen waren. Auf der Höhe des Hotels Warschau, an der Ecke Izmailovskij Prospekt und Obvodnyj Kanal, passierte der Wagen des Innenministers den Werfer Sazonov. Gerade in diesem Moment musste die Kutsche, die sich normalerweise aus Sicherheitsgründen in erhöhtem Tempo durch die Stadt bewegte, ihre Fahrt aufgrund des Verkehrsaufkommens verlangsamen.368 Ob dieser Ort wegen des erhöhten Verkehrsaufkommens und des Nadelöhrs, den die Brücke darstellte, von den Terrorist*innen ausgewählt wurde, kann nur vermutet werden. Savinkov und Sazonov machen darüber keine Angaben. Die russischen Zeitungen erklärten sich den Tatort zunächst, indem sie vermuteten, der Attentäter sei aus dem Hotel Warschau herausgetreten.369 Sazonov rannte auf die Kutsche zu und hob die Hand mit der Bombe. Pleve sah ihn kommen, schaute ihm direkt in die Augen und rückte schnell auf die andere Seite der Kutsche. Sazonov wurde Bis hierher vgl. Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 71. Sazonov, Materialy dlja biografii, 1919, S. 9. Ubijstvo V. K. Pleve, in: Russkija Vedomosti, 16. Juli 1904. Sazonov, Materialy dlja biografii, 1919, S. 9. Es ist bemerkenswert, dass Sazonov dieselbe konspirative Verkleidung an den Polizei-Spitzeln schildert, die auch Savinkov benutzte. 368 Minister Plehve Slain By A Bomb, in: New York Times, 29. Juli 1904. 369 Vgl. z. B. Končina V. K. Pleve, in: Novosti i birževaja gazeta, 16. Juli 1904; Ubijstvo V. K. Pleve, in: Russkija Vedomosti, 16. Juli 1904. 364 365 366 367

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nervös, weil er nicht wusste, ob Pleve auf der anderen Seite aus der Kutsche hinauskonnte.370 Er stolperte, einigen Berichten zufolge kollidierte er mit einem der radelnden Sicherheitsleute.371 Im Fallen gelang es ihm, die Bombe zu werfen. Sie explodierte und tötete den verhassten Innenminister Vjačeslav Pleve. Der lange gehegte Plan der Kampforganisation der PSR war damit endlich aufgegangen. Neben der fortwährenden Beobachtung waren dazu zwei Dinge von entscheidender Bedeutung. Erstens verfolgte die Kampforganisation in der Nachfolge der Narodnaja volja die Strategie, das Gelingen des Attentats in die Hände mehrerer Bombenwerfer zu legen, so wie die von der revolutionären Jugend verehrten Zarenmörder*innen von 1881 es vorgemacht hatten. Auf diese Weise konnten die Terrorist*innen, so der Plan, flexibel auf mögliche Zwischenfälle oder partielle Misserfolge reagieren: Wir beschlossen, alle Maßnahmen zu treffen, damit er nicht mehr aus unserem Ringe herauskonnte, wenn er erst hineingeraten war. Es gab vier Bombenwerfer. Der erste sollte bei der Begegnung den Minister an sich vorüberlassen, um ihm den Weg zur Villa zurück zu versperren. Der zweite sollte die Hauptrolle spielen: ihm kam die Ehre des ersten Überfalls zu. Der dritte sollte seine Bombe nur im Falle eines Mißerfolgs des zweiten werfen, wenn Plehwe nur verwundet wäre, oder wenn die Bombe des zweiten nicht platzen würde. Der vierte, ein Reservewerfer, sollte im äußersten Falle in Aktion treten: wenn Plehwe durch die Bomben des zweiten und dritten durchbrechen und trotzdem vorwärts, in Richtung Bahnhof fahren würde.372

Am Morgen des 15. Juli kam nur der zweite Werfer, der plangemäß die erste Bombe werfen sollte, also Egor Sazonov, zum Einsatz. Die Strategie, viele Bombenwerfer einzubeziehen, hatte ihre Vorteile, weil sie theoretisch eine flexible Anpassung des Plans an unvorhergesehene Ereignisse oder Abweichungen ermöglichte. Sie hatte jedoch auch Nachteile. Das Durcheinander bei der Bombenübergabe am 8. Juli wurde durch die Vielzahl der Bombenwerfer, die sich alle an unterschiedlichen Stellen mit Švejcer treffen sollten, verursacht. Eine Gruppe von Menschen war immer leichter der Entdeckung ausgesetzt als ein Einzelner. Zudem erhöhte die hohe Zahl der Bomben die Gefahr eines Unfalls, ein Risiko, dessen sich die Verschwörer*innen durchaus bewusst waren: „Sie [die Bombenwerfer; die Verf.] gingen je vierzig Schritt voneinander entfernt. Dadurch wurde die Gefahr einer Kettenexplosion beseitigt.“373

370 Sazonov, Materialy dlja biografii, 1919, S. 9. Vgl. auch: Judge, Plehve, 1983, S. 235. Die Zeitung Novosti i birževaja gazeta berichtete, der Attentäter sei mit einer Frau zusammen gestoßen: Končina V. K. Pleve, in: Novosti i birževaja gazeta, 16. Juli 1904. 371 Judge, Plehve, 1983, S. 235; Minister Plehve Slain By A Bomb, in: New York Times, 29. Juli 1904. 372 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 55. 373 Ebd., S. 70.

Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve

Auch bedeutete die Zahl von vier potenziellen Bombenwerfern, dass vier Terroristen dem Risiko der Entdeckung ausgesetzt wurden. Die Teilnahme des unerfahrenen Terroristen Lejba Sikorskij als viertem Werfer an dem Attentat bleibt dabei besonders unplausibel. Savinkov schreibt in seinen Erinnerungen häufig, dass sich die Mitglieder der Kampforganisation geradezu darum rissen, die Bombe werfen zu können. So war Kaljaev eifersüchtig auf Sazonov, dem die Rolle des Hauptwerfers zukam. Dora Brilliant wollte unbedingt eine Bombe werfen. Der zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbene Pokotilov hatte bei zahlreichen Attentaten zuvor auf sein Recht gepocht, endlich ein Attentat durchführen zu dürfen. An Freiwilligen mangelte es der Kampforganisation also nicht. Im Juli 1904 bestand die Gruppe zudem aus erfahrenen Kämpfern, die alle bereits seit Monaten zum Gelingen des Attentats beitrugen. Statt einen der vielen Freiwilligen aus dem innersten Kern der Kampforganisation zu wählen, fiel die Wahl aber auf Lejba Sikorskij, „einen jungen Lederarbeiter aus Bialystok“,374 der aus der Perspektive der Memoiren Savinkovs als die ungeeignetste Person erschien, der ein solches Attentat anzuvertrauen war: Sikorskij war erst zwanzig Jahre alt, er sprach schlecht russisch und fand sich scheinbar nur schwer in Petersburg zurecht. Borišanskij ging wie eine Kinderfrau hinter ihm her, kaufte ihm eine Lotsenpelerine, unter der man die Bombe bequem verstecken konnte, gab ihm Ratschläge und Fingerzeige. Aber Sikorskij war trotzdem schüchtern und wurde, als er mich zum erstenmal sah, rot wie Purpur.375

Sikorskij erinnert deshalb an einen der jugendlichen Enthusiasten, die Geršuni einst für die Kampforganisation rekrutiert hatte. Den erfahrenen Mitgliedern der Kampforganisation schien, zumindest den Erinnerungen Savinkovs gemäß, die Gefahr, die von dem unbeholfenen Attentäter ausging, durchaus bewusst gewesen zu sein. Am Vorabend des Pleve-Attentates äußerte Švejcer nachdrückliche Zweifel daran, ob Sikorskij in der Lage sein würde, seine Bombe nach einem erfolgreichen Attentat plangemäß zu entsorgen. Seine Verhaftung wurde demnach billigend in Kauf genommen. Allerdings ging von dieser Verhaftung, zu der es schließlich auch kam, durchaus eine Gefahr für die Kampforganisation aus, sobald Sikorskij geständig wurde. Deshalb sind die Memoiren Savinkovs in diesem Punkt nicht plausibel. Auch Praskovija Ivanovskaja erinnerte sich, dass Azef am Vorabend des Attentates seine Zweifel an Sikorskij geäußert hatte.376 Das vermeidbare Risiko der Verpflichtung Sikorskijs erscheint umso erstaunlicher mit Blick auf den zweiten Aspekt der Vorbereitung des Attentats auf Pleve, der zu dem Gelingen des Attentats beigetragen hatte: die sorgfältige Befolgung der Regeln der Konspiration. 374 375 376

Ebd., S. 60. Ebd., S. 61. Ivanovskaja, V boevoj organizacii, 1996, S. 29–174.

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Verkleidungen und Rollenspiel hatten bereits bei den Anschlägen von Petr Karpovič auf Bogolepov und von Stepan Balmašev auf Sipjagin eine gewisse Rolle gespielt. Das Spiel mit falschen Identitäten erreichte aber in der Kampforganisation unter Azef seinen Höhepunkt. Laut Savinkov war es Azef, der darauf drang, die Kunst der Konspiration zu perfektionieren: Azef bestimmte mir ein Rendezvous gerade auf einem Maskenball, aus konspirativen Gründen, wie er sagte. Er forderte stets die genaueste Durchführung aller Regeln der Konspiration. Er forderte, dass die Zusammenkünfte möglichst selten und nicht in Privatwohnungen stattfanden, sondern auf der Straße oder an öffentlichen Orten: in Kneipen, in Badeanstalten, in Theatern; dass bei diesen Zusammenkünften alle Vorsichtsmaßregeln beobachtet würden, dass die Mitglieder der Organisation keine Korrespondenz und keine Beziehungen zu ihren Familien und Freunden pflegten; dass ihre Lebensweise und ihre Kleidung bei niemandem Verdacht erregte. Sehr kühn in seinen Plänen, war er sehr vorsichtig bei ihrer Ausführung.377

Azef hatte in seiner Eigenschaft als Polizeispitzel guten Grund, auf eine sorgfältige Geheimhaltung der terroristischen Aktivitäten zu dringen, auch kannte er die Gefahren, die von der polizeilichen Ermittlungsarbeit ausgingen. Darüber hinaus profitierte jedoch vor allem Savinkovs Narrativ von der detailverliebten Beschreibung der täuschenden Verkleidungskünste der Terrorist*innen, der Intensität, mit der die konspirativen Legenden gelebt und der Sorgfalt, mit der kleinste Details arrangiert wurden. Ob Savinkov tatsächlich das Vorgehen der Terrorist*innen beschreibt oder in seinem Text Vorbildern des klassischen Kriminalromans folgte, wie etwa den seinerzeit bereits bekannten und beliebten Sherlock Holmes-Geschichten von Arthur Canon Doyle, in denen Verkleidung und konspiratives Mimikry zum Strukturmerkmal gehören, lässt sich mangels alternativer Quellen kaum klären. Die Analyse der Konspiration in den Memoiren macht jedoch einen großen Teil der Faszination, die von diesem Text ausging, deutlich.378 So verwandte Savinkov viele Zeilen, um die Sorgfalt und das Geschick der Terrorist*innen zu beschreiben, mit denen sie sich in ihre konspirativen Legenden hineinbegaben. Verkleidung und Schauspiel waren dabei, laut Savinkov, so überzeugend, dass selbst die Verschwörer*innen, namentlich der Autor selbst, sich täuschen ließen. Über seine erste Begegnung mit Egor Sazonov berichtete er etwa: Seine Art, auf dem Bock zu sitzen, sein etwas dreckiger blauer Kutschermantel und seine zerfetzte Mütze waren so gewöhnlich, dass ich schwankte, ob da nicht irgendein Fehler

Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 20–21. Zur Faszination der Maskerade in dieser Zeit vgl. auch Mark D. Steinberg, Petersburg fin de siècle, New Haven 2011, S. 84–118. 377 378

Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve

vorgekommen war, und ob dieser Bauer wirklich jener ‚Abel‘ sei, von dem ich durch Azef gehört hatte.379

Für die konspirativen Legenden war nicht nur die Verkleidung, sondern auch die Kunst der Verstellung von besonderer Bedeutung. Seine Suche nach Praskovija Ivanovskaja beschreibt Savinkov folgendermaßen: Als ich die Treppe hinaufstieg, traf ich eine alte Frau mit Kopftuch. Die Alte sah so sehr wie eine Winkelbewohnerin aus, alles vom Kopftuch bis zu den Schaftstiefeln war so typisch, daß mir gar nicht in den Sinn kam, das könnte die Ivanovskaja selber sein. Ich hielt die Alte an und fragte: ‚Na, Tante, wohnt hier eine Dar′ja Kirillova?‘ ‚Das bin ich ja selber, Väterchen,‘ antwortete sie. Ich glaubte immer noch nicht daran. Die Aussprache und die Worte waren ganz volkstümlich.380

Als „Winkel“ wurden in den Städten des Russischen Reiches Quartiere für Saisonarbeiter*innen und andere mittellose Bevölkerungsgruppen bezeichnet. Diese bewohnten häufig nur eine Ecke bzw. einen Winkel eines Zimmers, das dadurch an mehrere Parteien zugleich vermietet werden konnte.381 Die konspirative Legende der „Winkelbewohnerin“ verweist auf die prekären Lebensumstände der städtischen Unterschichten, die solcherart auch in den Memoiren Savinkovs auftauchen. Die Aufrechterhaltung dieser Legenden erforderte nicht nur ein gewisses schauspielerisches Geschick, sondern konnte auch harte Arbeit bedeuten, wie sie Ivan Kaljaev verrichtete, der sich ebenfalls als Winkelbewohner auf das Pleve-Attentat vorbereitete: Er wohnte in einem Winkel am Rande der Stadt in einem Zimmer, wo außer ihm noch fünf Mann hausten, und führte ein Leben, das auf das Genaueste mit der Lebensweise solcher fliegender Händler übereinstimmte. Er erlaubte sich nicht die geringsten Abweichungen: er stand um 6 Uhr auf und war von 8 Uhr bis in die späte Nacht auf der Straße. Bei den Wirtsleuten erwarb er sich bald den Ruf eines frommen, nüchternen und geschäftstüchtigen Menschen. Es fiel ihnen natürlich nicht im Traume ein, in ihm einen Revolutionär zu vermuten.382

Die konspirative Legende Savinkovs selbst war freilich viel weniger entbehrungsreich. Als englischer Geschäftsmann, namentlich Vertreter einer Fahrradfirma, lebte er mit seiner angeblichen Geliebten, mit Diener und Köchin auf Parteikosten in einer repräsentativen Wohnung. Doch auch diese Legende wurde mit äußerster Sorgfalt aufrecht-

Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 22. Ebd., S. 45. Vgl. zu den städtischen Unterschichten im Allgemeinen und den Winkelbewohnern im Besonderen: Hans-Christian Petersen, An den Rändern der Stadt? Soziale Räume der Armen in St. Petersburg (1850–1914), Göttingen 2019, S. 117–118. 382 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 51. 379 380 381

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erhalten. Savinkov bestellte Kataloge aus England, Deutschland und Frankreich, damit seine Post seiner Position als Handelsvertreter entsprach.383 Außerdem verließ auch er seine Wohnung jeden Tag pünktlich, um zum Dienst zu gehen. In seinem Falle bestand der tatsächliche Dienst ebenfalls daraus, durch die Stadt zu flanieren, um Pleve zu beobachten. Sazonov spielte seine Rolle als Lakai perfekt und freundete sich mit allen Bediensteten des Hauses an. „So lebten wir, ohne irgendwelchen Verdacht zu erregen, obgleich wir uns häufig mit Maciejewski, Kaljaev und Dulebov trafen.“384 Die Legende Savinkovs entsprach der des Gentleman-Terroristen, und als solcher inszenierte er sich in all seinen Texten, egal, ob sie nun von Anfang an fiktionale Texte waren, wie seine Romane, oder ob sie versuchten, wie seine Memoiren, zumindest den Anschein von Authentizität zu vermitteln. Die Bedeutung, die die Kunst der Verkleidung und Verstellung dabei spielte, die Notwendigkeit des permanenten Theaterspiels der Terrorist*innen verweist zudem auch auf einer narrativen Ebene auf den performativen Gehalt des Terrorismus.385 Diese Performativität wird zusätzlich durch die Treffpunkte, die Savinkov nennt, Theater, Maskenball oder Varieté, ebenso wie die Orte der Attentate, die ebenfalls häufig im Umfeld von Theater oder Zirkus stattfanden, symbolisch verstärkt. In der Beschreibung Savinkovs wird der Terroranschlag zum Kunststück oder zum Kunstwerk. Die akribischen Vorbereitungen, die im Geheimen stattfinden und die er mit seinen Narrativen an das Licht der Öffentlichkeit rückt, sind Teile dieses Gesamtkunstwerkes, ebenso wie die Niederschrift und die Publikation seiner Texte. Das savinkovsche Gesamtkunstwerk, die konspirative Vorbereitung, die Durchführung des Attentats und die literarische Verarbeitung mit den Mitteln des Kriminalromans, hatte wichtigen Anteil an der Faszination, die vom zentralen Terrorismus im Russischen Reich um 1905 herum ausging. Sie sind aber nur ein Teil der komplexen Geschichte der kommunikativen Ausstrahlung des Attentats auf Pleve. Die kommunikative Ausstrahlung des Attentats auf Pleve

Der Inszenierung der zentralen Kampforganisation gemäß begann die Kommunikationsgeschichte des Pleve-Attentats mit der Explosion und ihrer Rezeption. Die am meisten rezipierte Quelle für den ersten Eindruck, den die Bombenexplosion hinterließ, ist abermals der notorische Savinkov, der seiner eigenen Beschreibung nach zum Zeitpunkt der Detonation etwa 250 Meter vom Tatort entfernt war: 383 Ebd., S. 48. Vgl. zu dem Zusammenleben unter den Umständen der konspirativen Legende auch: Ivanovskaja, V boevoj organizacii, 1996, S. 29–174. 384 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 49. 385 Vgl. dazu auch z. B.: Giesen, Terrorismus als Performanz, 2009, S. 615–621.

Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve

Plötzlich drang in den eintönigen Lärm der Straße ein schwerer und gewichtiger, seltsamer Laut. Als hätte jemand mit einem gusseisernen Hammer auf eine gusseiserne Platte geschlagen. Im gleichen Augenblick klirrten kläglich die zersprungenen Fensterscheiben. Ich sah, wie in schmalem Wirbel eine Säule graugelben, an den Rändern fast schwarzen Rauchs vom Boden aufstieg. Diese Säule erweiterte sich immer mehr und überschwemmte in der Höhe der fünften Etage die ganze Straße. Sie zerstreute sich ebenso schnell, wie sie aufgestiegen war. Mir schien, daß ich im Rauch irgendwelche schwarzen Trümmer sah.386

Savinkovs Beschreibung ist, seiner Intention entsprechend, Teil der Inszenierung seines Gesamtkunstwerkes. Er beschreibt die Explosion wahrscheinlich weniger so, wie sie von den Passant*innen wahrgenommen wurde, sondern so, wie er sie wahrgenommen haben wollte. Dabei betont er den Lärm der Explosion, der den Lärm der Straße übertraf und dadurch alle Umstehenden erreichte. Savinkov beschreibt auch das Klirren der Fensterscheiben, welche die Explosion im weiten Umkreis aus den Rahmen sprengte.387 Die destruktive Kraft der Bombe, die Teile der Kutsche durch die Fenster im zweiten Stock des Hotels Warschau schleuderte und die Glasscheiben des fünfstöckigen Hotels und aller Nebengebäude zerstörte, wurde darüber hinaus in allen Berichten und Zeitungen wortreich beschrieben.388 Vor allem der Schaden an den großen Fenstern auf der Frontseite des Warschauer Bahnhofs, der auf der anderen Seite des Kanals gelegen war, und die riesigen Scherben, die auf dem Trottoir lagen, schienen zum Symbol der Zerstörung durch die Bombe geworden zu sein.389 Die Berichte über das Attentat unterstreichen die Sensation, die allein die Detonation der Bombe ausgelöst hatte. Der Blickwinkel Savinkovs changiert dabei zwischen dem allwissenden Erzähler und dem Augenzeugen, der von den Geschehnissen überrascht wird. Diese doppelte Perspektive benennt er im Zuge der Beschreibung des Pleve-Attentats. „Im ersten Augenblick mußte ich den Atem anhalten. Aber ich hatte die Explosion erwartet, und daher kam ich schneller zu mir als die anderen.“390 Die Detonation hatte den Verkehr zum Erliegen gebracht, deshalb konnte Savinkov sich quer über die Straße bewegen. Trotzdem brauchte er von seinem Standort bis zum Tatort aufgrund der Entfernung etwa ein bis zwei Minuten: „Als ich an die Stelle der Explosion kam, hatte der Rauch sich schon zerstreut. Es roch nach Angebranntem.“391 Die gesamte Darstellung der Detonation bei Savinkov verweist auf die Performativität des Anschlages. Die Inszenierung des Attentats bedingt, dass die Verschwörer*innen im Verborgenen Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 72. Vgl. dazu auch: Minclov, Iz „Dnevnika. 1903–1906“, 1996, S. 496–501. Vgl. z. B. K končine V. K. Pleve, in: Novosti i birževaja gazeta, 17. Juli 1904. Končina V. K. Pleve, in: Novosti i birževaja gazeta, 16. Juli 1904; Ubijstvo V. K. Pleve, in: Russkija Vedomosti, 16. Juli 1904. 390 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 72. 391 Ebd. 386 387 388 389

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agieren, um mit dem Bombenwurf sensationell, laut und deutlich an die Öffentlichkeit zu treten. Diese Vorgehensweise wird durch den Rauch, den die Bombe erzeugt, auf einer symbolischen Ebene nachgezeichnet. Der Rauch gleicht einem Vorhang, der kurze Zeit alles einhüllt und dann den Blick auf das zerstörerische Werk der Bombe freigibt. Andere Quellen berichten demgegenüber, dass die Bombe nur wenig Rauch verursacht habe.392 Doch das Szenario, das der sich verziehende Rauch freigibt, weiß der Augenzeuge Savinkov in seinem Narrativ nicht zu deuten. Er sieht den schwerverletzten Sazonov auf der Straße in seinem eigenen Blut liegen und missdeutet die Wortfetzen der schockierten Polizisten und Sicherheitsleute um sich herum, sodass er zu einem falschen Schluss kommt, den er auch so an seine Mitverschwörer*innen weitergibt: „‚Plehwe lebt …‘ – ‚Und Egor?‘ – ‚Tot.‘“393 Die Realität, die sich genau umgekehrt verhielt, dringt zu Savinkov erst durch die Sonderausgaben der Zeitungen vor: Als ich auf den Newskij-Prospekt kam, kaufte ich automatisch die neuesten Meldungen der Zeitungshändler, da ich annahm, es wären Neuigkeiten vom Kriegsschauplatz darin. An hervorragender Stelle war das Bild Plehwes in einem Trauerrahmen und sein Nekrolog abgedruckt.394

Diese Erinnerung in Savinkovs Memoiren ist eine interessante Metapher für die Bedeutung massenmedialer Verbreitung für die Rezeption von Terroranschlägen. Selbst für den Mitverschwörer und Augenzeugen Savinkov wurde die Ermordung Pleves erst Realität, als sie in der Zeitung stand. Dass diese Passage sehr stilisiert ist und kaum den tatsächlichen Ereignissen entsprechen kann, wird daran deutlich, dass sich Savinkov nach eigener Aussage erstens kaum für Politik interessierte, sodass es unwahrscheinlich ist, dass er sich in seiner Situation, niedergeschlagen von dem vermeintlich gescheiterten Anschlag auf Pleve, ausgerechnet über die Kriegsereignisse in Japan unterrichten wollte. Zweitens geben andere Erinnerungen Zeugnis davon, dass es kaum möglich war, Nummern der Extrablätter zu erwerben, weil die Passant*innen „die Zeitungsjungen fast ausraubten“395, so sehr interessierten sich die Menschen für Details des Anschlages. Vor diesem Hintergrund erscheint es eher unwahrscheinlich, dass Savinkov glaubte, er kaufe die Zeitung wegen der Nachrichten vom Kriegsschauplatz. Spätestens im Gedränge um den Zeitungsverkäufer hätte ihm der Grund für die Aufregung klar werden müssen. Doch nicht nur Savinkov, auch die Öffentlichkeit, vor deren Augen die Kampforganisation den Anschlag inszeniert hatte, konnte ihn nicht sofort vollständig verstehen. Eine Bombe hatte den Tod Pleves zur Folge gehabt, aber zunächst waren die Beob392 393 394 395

Minister Plehve Slain By A Bomb, in: New York Times, 29. Juli 1904. Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 73. Ebd., S. 76. Minister Plehve Slain By A Bomb, in: New York Times, 29. Juli 1904.

Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve

achter*innen unsicher, wer der Täter war.396 Zwar wurde der Attentäter am Ort des Anschlags gefasst, aber über die Hintermänner und Motive herrschte weiterhin Unsicherheit. Auch die Verhaftung selbst zeugte von der chaotischen Situation am Tatort: Der Agent Gartman, der Pleves Kutsche auf dem Fahrrad begleitet hatte, warf sich mit seinem ganzen Körper auf den verletzten Sazonov und rief: „Hier ist der Täter!“ Die umstehenden Polizisten hatten Angst vor einer weiteren Bombe, doch Sazonov konnte sie beruhigen. Er hatte versucht, sich noch an Ort und Stelle mit einer mitgebrachten Pistole umzubringen, aber seine Hände gehorchten ihm nicht. Sazonov sagte zu den Agenten: „Es gibt keine zweite Bombe, aber eine Pistole in meiner Tasche!“397 Daraufhin wurde der Attentäter entwaffnet und in das Aleksandrovskij-Krankenhaus gebracht, wo er in Anwesenheit des Justizministers medizinisch versorgt und anschließend verhört wurde.398 Fast erwartungsgemäß war auch der unerfahrene Sikorskij gefangen genommen worden, als er seine Bombe nicht der Absprache gemäß entsorgte, sondern sie vor den Augen eines Kahnführers in die Neva warf.399 Die Polizei versuchte, die beiden Gefangenen gegeneinander auszuspielen, aber Sazonov hielt seine Identität zunächst geheim, wie es der Praxis der Mitglieder der Kampforganisation seit Geršunis Tagen entsprach.400 Erst am 31. Juli 1904 ließ er sich seinen Namen in den Verhören entlocken.401 Die Handschrift der zweiten Kampforganisation unter Azef, die sich in der Öffentlichkeit vor allem durch die Bombenexplosion äußerte, war den Beobachter*innen noch unbekannt. Kaum jemand stellte die Verbindung zum 1. März 1881, dem Präzedenzfall des Bombenattentats, her; viele aber dachten an die vor kurzer Zeit verübten Anschläge, die mit Schusswaffen auf den Generalgouverneur von Finnland Bobrikov und auf den Vize-Gouverneur von Elizavetpol′ verübt worden waren. Sazonov hatte, anders als die Attentäter unter Geršuni, kein Todesurteil für Pleve und kein Bekennerschreiben bei sich. Die Bombe war noch nicht zum Markenzeichen sozialrevolutionärer Anschläge geworden, und die Kampforganisation war seit der Ermordung von Bogdanovič in Ufa im Frühjahr 1903 untätig gewesen, deshalb bezogen sich die Beobachtenden zunächst auf ihre jüngsten Erfahrungen mit Terroranschlägen. Als Erstes machte das Gerücht die Runde, der Attentäter sei ein Finne namens Legio,402 eine Annahme, die offensichtlich durch die zeitliche Nähe zum Bobrikov-Attentat bedingt war. Weil Azef die Geheimpolizei bisher zuverlässig über die Pläne von sozialrevolutionären Terroranschlägen gegen Pleve informiert hat-

396 Ubijstvo V. K. Pleve, in: Russkija Vedomosti, 16. Juli 1904; Končina V. K. Pleve, in: Novosti i birževaja gazeta, 16. Juli 1904. 397 Sazonov, Materialy dlja biografii, 1919, S. 9. 398 Vgl. dazu auch: Viktor Černov, Pamjati Egora Sazonova. Ottisk iz No 33 „Znameni Truda“, in: Znamja truda (1910), H. 33, S. 1–7, hier S. 5–6. 399 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 75. 400 Sazonov, Materialy dlja biografii, 1919, S. 9; Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 76. 401 Sazonov, Materialy dlja biografii, 1919, S. 7. 402 Minister Plehve Slain By A Bomb, in: New York Times, 29. Juli 1904.

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te, schlossen die Mitarbeiter des Innenministeriums zunächst die Kampforganisation der PSR als Täter aus. Nach der Bombenexplosion im Nordhotel am 1. April 1904, die Pokotilov beim Laden von Bomben verursacht hatte und die ihn das Leben kostete, hatte Azef seinem Verbindungsoffizier Rataev versichert, die Kampforganisation würde über einen längeren Zeitraum nicht über genügend Dynamit verfügen, um einen Terroranschlag durchzuführen. Von daher erwartete die Polizei keinen Anschlag aus den Reihen der PSR.403 Kurzzeitig verdächtigte sie deshalb polnische Sozialist*innen, die, ebenso wie Finn*innen oder Armenier*innen, durchaus Motive gehabt hätten, gegen Pleve vorzugehen.404 Doch gerade die Verbindung der Bombe des Pleve-Attentats mit der Explosion im Nordhotel brachte die Polizei schließlich doch auf die Spur der Sozialrevolutionär*innen.405 Möglicherweise war es die Unsicherheit, wer für den Anschlag auf den Innenminister verantwortlich zeichnete, welche die große Aufregung und Neugierde als Reaktion auf die Ermordung zumindest mit verursachte. Die Zeitungen überschlugen sich mit der Mitteilung von teilweise abenteuerlichen Gerüchten. So berichteten die Russkija vedomosti unter Berufung auf einen Kellner des Hotels Warschau, der Attentäter habe vor der Tat im Hotel-Restaurant Tee und Wodka bestellt.406 Die Novosti i birževaja gazeta wussten von einer geheimnisvollen Frau, die sich dem Attentäter in den Weg gestellt habe.407 Auch über die Zahl der Verletzten kursierten die unterschiedlichsten Gerüchte, die von acht bis achtzehn Personen reichten.408 Die Gerüchteküche zeugte von der Aufregung, welche die Journalisten der Hauptstadt nach der Tat befiel. Von Aufregung und Neugierde berichtet auch der Augenzeuge, der nur wenige Minuten nach dem Anschlag an den Tatort kam: Der Korrespondent der Associated Press gab an, bereits fünf Minuten nach der Explosion am Ort des Geschehens gewesen zu sein. Er schrieb, dass der übel zugerichtete Körper Pleves mitten auf der Straße lag, notdürftig mit einem Polizistenmantel zugedeckt. Die Szene, die sich dem Reporter bot, war schockierend: The roadway was strewn for a hundred yards with the wreckage of the carriage and pieces of the red lining of the Minister’s official overcoat. A few yards from M. de Plehve’s body lay the coachman’s remains.409

403 Evno Azef, Pis′mo E. F. Azefa zavedujuščemu zagraničnoj agenturoj departamenta policii v Pariže L. A. Rataevu. Nr. 52: Vladikavkaz, 19/IV-2/V 1904 g., in: Ščerbakova (Hg.), Političeskaja policija i političeskij terrorizm v Rossii. 2001, S. 195–196. 404 Nikolajewsky, Aseff, the spy, 1970, S. 93. 405 Sazonov, Materialy dlja biografii, 1919, S. 7. 406 Ubijstvo V. K. Pleve, in: Russkija Vedomosti, 16. Juli 1904. 407 Končina V. K. Pleve, in: Novosti i birževaja gazeta, 16. Juli 1904. 408 K končine V. K. Pleve, in: Novosti i birževaja gazeta, 17. Juli 1904; Minister Plehve Slain By A Bomb, in: New York Times, 29. Juli 1904; V Aleksandrovskoj bol′nice, in: Novosti i birževaja gazeta, 17. Juli 1904. 409 Minister Plehve Slain By A Bomb, in: New York Times, 29. Juli 1904.

Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve

Anders als Savinkov, der nur wenige Minuten zuvor am selben Ort war, erfasste der Reporter die Situation sofort. Der Innenminister war tot. Sein Kutscher war tödlich verwundet, der Attentäter und einer von Pleves Sicherheitsleuten waren schwer verletzt. Der ausländische Beobachter beschrieb auch die Aufregung, die das Attentat verursachte. Die Nachricht von der Ermordung des Innenministers hatte sich innerhalb kürzester Zeit „wie ein Lauffeuer“ verbreitet.410 Als der Leichnam des Innenministers abtransportiert werden sollte, gab es für die Kutsche kaum ein Durchkommen, weil alle Straßen von Menschen überfüllt waren. The carriage, surrounded by mounted gendarmes, passed through the crowded streets, the sidewalk being a solid mass of people. Even the cross streets were black with spectators for blocks. As if by magic everybody in the city seemed to have suddenly become aware that a frightful catastrophe had occurred, and to have hurried to the scene.411

Dem Grundtenor des Berichtes der Associated Press nach waren die vielen Menschen zunächst schockiert und trauerten. Alle zogen ihren Hut, als die Kutsche mit dem Toten vorbeifuhr. Der Leichnam Pleves wurde zunächst in die Kapelle am Warschauer Bahnhof gebracht, wo eine spontane Trauerfeier stattfand.412 Wie durch ein Wunder, so ging ein weiteres Gerücht, waren die Fenster in der Kapelle nicht zerstört worden.413 Einer derjenigen, die, wie so viele, an den Ort des Geschehens geeilt waren, war der Schriftsteller Sergej Minclov, der die Stimmung auf der Straße ganz anders einschätzte. Minclov hatte sich, nachdem er um halb elf von dem Anschlag auf Pleve gehört hatte, mit einer Droschke auf den Weg in Richtung Warschauer Bahnhof gemacht. Doch auf dem Izmajlovskij Prospekt blieb die Droschke stecken. Viele Menschen bewegten sich in Richtung Bahnhof, außerdem ein Sanitätsfahrzeug und zahlreiche berittene Polizisten. Minclov stieg aus der Droschke aus und bahnte sich zu Fuß den Weg durch die Menschenmenge zum Tatort. Dabei bemerkte er, dass die Passant*innen nicht besonders erregt waren, vielmehr waren sie neugierig, wie er selbst. „Nebenbei bemerkt war die Polizei am Ort der Katastrophe außergewöhnlich liebenswürdig!“414 Der Anschlag auf Pleve hatte eine Sensation ausgelöst, aber diese Sensation war nicht automatisch verbunden mit Emotionen. Alle Anwesenden waren nach Minclov interessiert an dem Ereignis, an der Sensation, aber kaum jemand schien emotional betroffen. Auch der Korrespondent der Associated Press beschrieb den sensationellen Effekt des Attentats:

410 411 412 413 414

Ebd. Ebd. Vgl. dazu auch: Končina V. K. Pleve, in: Novosti i birževaja gazeta, 16. Juli 1904. Minister Plehve Slain By a Bomb, in: New York Times, 29. Juli 1904. Minclov, Iz „Dnevnika. 1903–1906“,1996, S. 496–501.

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Intense excitement reigned everywhere. Only the assassination of the Emperor could have created more of a sensation, as next to his Majesty himself de Plehve was regarded as the most powerful personality in the Russian Government.415

Der ausländische Reporter erfuhr inmitten der Hauptstadt unter der erregten Bevölkerung, dass die kommunikative Ausstrahlung des Attentats auf Pleve einem Zarenmord nahezu gleichkam. Und so waren es auch vor allem der Zar selbst sowie die engsten Anhänger*innen der Selbstherrschaft, die Pleve betrauerten, eben weil sie den Anschlag als Schlag gegen den Zaren selbst und die Autokratie begriffen. Durch ihre Trauer und Angst wurden sie zu einer emotionalen Gemeinschaft.416 So notierte beispielsweise Petr Stolypin, Innenminister des Reiches ab 1906, in seinem Tagebuch, nachdem ihn die Nachricht vom Tod Pleves erreicht hatte, fassungslos: „Zunächst konnte ich es nicht glauben … aber um 6 Uhr abends wurde die Nachricht nochmals bestätigt. Der arme Herrscher!“417 So wie Stolypin den Anschlag auf Pleve als einen Anschlag auf die Selbstherrschaft begriff, reagierte auch der Reporter der Associated Press und berichtete dementsprechend über den verheerenden Eindruck, den die Neuigkeit auf Nikolaus II. machte: „The Emperor almost broke down when he was informed of the Minister’s murder.“418 Die hochschwangere Zarin wurde dieser Quelle nach nicht über das Vorgefallene informiert, um sie wegen ihres Zustandes zu schonen. Dies kann als weiterer Beleg dafür gelten, wie tief betroffen die Zarenfamilie auf die Ermordung des Innenministers reagierte.419 Die Zeitungen berichteten zudem über die Trauergottesdienste, die für Pleve abgehalten wurden. Nach der spontanen Gedenkfeier in der Kapelle des Warschauer Bahnhofs um elf Uhr folgte ein Gottesdienst für die Mitarbeiter des Innenministeriums am frühen Nachmittag im Ministerium. Am Abend fand eine weitere Trauerstunde im Haus Pleves statt, an der der ehemalige Gouverneur von Vil′na Viktor von Wahl, Mitglieder der Zarenfamilie und Mitglieder des diplomatischen Corps, darunter die Botschafter von Frankreich, Großbritannien und aus den Vereinigten Staaten, teilnahmen. Pleves Familie war auf dem Weg zu ihrem Landsitz und konnte deshalb nicht Minister Plehve Slain By a Bomb, in: New York Times, 29. Juli 1904. Rosenwein, Worrying about emotions in history, 2002, S. 842. Zitiert nach: Abraham Ascher, P. A. Stolypin. The search for stability in late imperial Russia, Stanford, Calif. 2001, S. 47. 418 Minister Plehve Slain By a Bomb, in: New York Times, 29. Juli 1904. Im Gegensatz dazu schrieb der österreichische Botschafter, ihm sei berichtet worden, der Zar habe relativ gelassen auf die Nachricht von Pleves Ermordung reagiert: L. Ahrenthal to his excellency count Goluchowski, etc. etc. etc., from St. Petersburg, 24 July / 6 Agust 1904, in: Ascher, The coming storm, in: Survey. A Journal of Soviet and East European Studies (1964), S. 148–164, S. 154. 419 Wenn wir dieser Quelle glauben wollen: Minister Plehve Slain By a Bomb, in: New York Times, 29. Juli 1904. Von Aehrenthal berichtet anderes: L. Ahrenthal to his excellency count Goluchowski, etc. etc. etc., from St. Petersburg, 24 July / 6 Agust 1904, in: Ascher, The coming storm, in: Survey. A Journal of Soviet and East European Studies (1964), S. 148–164, S. 154. 415 416 417

Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve

zu dem Trauergottesdienst kommen.420 Man musste kein persönlicher Freund Pleves sein, um die Bedeutung seiner Ermordung für den Zustand des autokratischen Regimes zu erfassen und damit Teil der emotionalen Gemeinschaft zu werden, die sich in Trauer und Sorge um den toten Innenminister scharrte. So äußerte sich auch der spätere Polizeichef Aleksandr Gerasimov in seinen Memoiren: Der Terrorakt vom 15. Juli 1904 beraubte das Reich eines großen Führers, eines zu sehr auf sich selbst vertrauenden, aber starken und mächtigen Mannes, der alle Fäden der inneren Politik in seinen Händen hielt. Mit dem schrecklichen Ende Plehwes begann ein schneller und immer stärkerer Zerfall der Zentralmacht im Reiche.421

Teile der offiziellen Presse würdigten dementsprechend den Machtpolitiker Pleve als zentrale Figur der autokratischen Obrigkeit. So priesen etwa die Novosti i birževaja gazeta Pleve als „großen Staatsmann, mit einer Leidenschaft für Recht und Ordnung. […] Sein Tod ist ein Verlust für unser Land.“422 Beobachter der politischen Landschaft im Russischen Reich notierten aber erstaunt und besorgt, dass selbst die Funktionseliten die Bedeutung des Anschlags nicht voll erfassten und indifferent reagierten. So schrieb der österreichische Botschafter Aloys Lexa von Aehrenthal, der von 1899 bis 1906 im Russischen Reich diente,423 in seine Berichte, dass der russische Außenminister Graf Lamsdorff, der, wie Sergej Vitte, zu den Gegnern Pleves zählte, nicht nur kühl, sondern geradezu erleichtert auf die Ermordung des Innenministers reagierte: Gerade einmal zwei Stunden nach dem Terroranschlag analysierte Graf Lamsdorff mit erstaunlicher Ruhe die Aktivitäten Pleves kritisch, in einem Ton, der von tiefer Erleichterung über das Verschwinden eines unangenehmen und unkollegialen Kollegen zeugte.424

Dabei kritisierte der Außenminister vor allem die repressive Politik Pleves gegenüber Armenier*innen und Finn*innen. Ohne dass von Aehrenthal die kurz zuvor verübten terroristischen Anschläge auf den Generalgouverneur von Finnland Bobrikov und den Vize-Gouverneur des Kaukasus Andreev direkt ansprach, implizierte die Abrechnung des Außenministers mit Pleve ein gewisses Verständnis für diese Akte politischer Ge-

420 Končina V. K. Pleve, in: Novosti i birževaja gazeta, 16. Juli 1904; Minister Plehve Slain By a Bomb, in: New York Times, 29. Juli 1904. 421 Gerassimoff, Der Kampf gegen die erste russische Revolution, 1934, S. 27. 422 Russian Editor Urges Reform. Says Government System Is Obsolete – Demands Freedom of Press, in: New York Times, 30. Juli 1904; in: Novosti i birževaja gazeta, 16. Juli 1904. 423 Vgl. dazu auch: S. Wank, In the twilight of empire: Count Alois Lexa Von Aehrenthal (1854–1912); Imperial Habsburg patriot and statesman, 2009. 424 L. Aehrenthal to his excellency count Goluchowski, etc. etc. etc., from St. Petersburg, 24 July  / 6 Agust1904, in: Ascher, The coming storm, in: Survey. A Journal of Soviet and East European Studies (1964), S. 148–164, S. 154.

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walt gegenüber der repressiven Politik der russländischen Regierung, deren Teil er doch war. Die Einlassungen Lamsdorffs ließen den Schluss zu, dass die Angehörigen der verschiedensten nationalen Minderheiten Grund zur Freude über den Tod Pleves hatten. Die meisten der Kollegen und Mitarbeiter Pleves äußerten sich von Aehrenthals Einschätzung nach auf ähnliche Weise. Und auch weite Teile der gebildeten Gesellschaft blieben angesichts dieses schweren Schlages gegen die Regierung indifferent. Zwar räumte Aehrenthal ein, dass man kaum allzu warme Sympathien für einen derartig autoritären Minister hegen konnte, der sich im Laufe seiner Karriere viele Feinde gemacht haben musste, dennoch erstaunte den Botschafter die totale Abwesenheit von Besorgnis, menschlichem Mitgefühl oder Betroffenheit angesichts dieses brutalen Terroranschlages. Im Gegenteil herrsche bis hinein in die höchsten Kreise der höfischen Gesellschaft eine gewisse Gleichgültigkeit bis hin zu der zynischen Einstellung, dass so etwas ja habe passieren müssen. So als sei niemandem klar, dass es der Zar gewesen war, der Pleve als Wächter über Recht und Ordnung berufen hatte. Wer nicht mit Apathie auf den Anschlag reagiere, der zeige sogar „Schadenfreude“.425 Viele erwarteten geradezu ähnliche Ereignisse wie den Anschlag auf Pleve, weil nur diese Akte der Gewalt Veränderungen herbeibrächten.426 Sechs Monate später, angesichts des Zivilprozesses gegen die Terroristen, die den Anschlag auf Pleve verübt hatten, korrigierte der österreichische Botschafter seine Einschätzung noch einmal.427 Die Urteile fielen relativ mild aus: Egor Sazonov wurde für den Mord an Pleve mit lebenslanger Zwangsarbeit bestraft, während Sikorskij 20 Jahre Arbeitslager bekam.428 Von Aehrenthal beschrieb die Demonstrationen vor dem Gerichtsgebäude ebenso wie die verbreitete Ansicht, diese Urteile seien zu hart, und kam zu dem Schluss: Wenn ich hinzufügen würde, dass die Öffentlichkeit, mit wenigen Ausnahmen, das schreckliche Verbrechen, das nicht nur einen der wertvollsten Berater des Zaren sondern auch weitere Menschen das Leben kostete, als einen „Akt der Befreiung“ begreift, dann hätte ich die hierzulande vorherrschende Meinung nicht übertrieben.429

425 L. Aehrenthal to his excellency count Goluchowski, etc. etc. etc., from St. Petersburg, 24 July / 6 Agust, 1904, in: Ebd., S. 155. 426 Vgl. zum gesamten Wortlaut des Briefes in englischer Übersetzung: L. Aehrenthal to his excellency count Goluchowski, etc. etc. etc., from St. Petersburg, 24 July / 6 Agust, 1904, in: Ebd., S. 153–156. 427 Zu den Gerichtsverfahren im Angesicht von Terrorismus und Revolution vgl. auch: Baberowski, Autokratie und Justiz, 1996, S. 733. 428 Vgl. zum Prozess auch: Egor Sergeevič Sazonov, Novyj process boevoj organizacii. Zapiski E. Sazonova, in: Revoljucionnaja Rossija, 25. Dezember 1904. 429 L. Aehrenthal to his excellency count Goluchowski, etc. etc. etc., from St. Petersburg, 17/4 December, 1904, in: Ascher, The coming storm, in: Survey. A Journal of Soviet and East European Studies (1964), S. 148–164, S. 159.

Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve

Der Eindruck Aehrenthals wird durch einen Blick in die russländische Presse verstärkt, so nahm selbst der Herausgeber der konservativen Novoe vremja die Ermordung Pleves zum Anlass, systemverändernde Vorschläge zu machen. Er forderte ein verantwortliches Kabinett, um Kompetenzstreitigkeiten unter den Ministern zu beenden, ebenso wie Pressefreiheit.430 Neben vereinzelter Trauer und weit verbreiteter Gleichgültigkeit in weiten Kreisen der Gesellschaft herrschte innerhalb der Opposition Freude über den Tod Pleves. Der jüdische Historiker Simon Dubnow, der sich im Juli 1904 in Vil′na aufhielt, schrieb in seinen Memoiren: Am 15. Juli um drei Uhr mittags, als ich beim Mittagessen saß, brachte man mir von der Straße die Nachricht, dass in Petersburg am Morgen Plewe umgebracht worden sei. Die Menschen gaben es einander wie eine Freudenbotschaft weiter: Haman, der böse Geist Rußlands, war gefallen. Man spürte, dass dieser Terroranschlag in Verbindung mit der Niederlage im Fernen Osten einen Umbruch in der Innenpolitik hervorrufen mußte.431

Der Diaspora-Nationalist Simon Dubnow, der 1906 eine jüdische Folkspartej gründete, die den Konstitutionellen Demokraten nahestand, gab seiner Freude über die Ermordung Pleves relativ unverhohlen Ausdruck. Der Name „Haman“, mit dem er den Innenminister belegte, setzte ihn mit dem biblischen Prototyp des Judenfeindes gleich, dessen Überwindung Jüd*innen alljährlich mit dem Purimfest begehen. Dennoch verweist Dubnows Einlassung mit der Bezugnahme auf den Russisch-Japanischen Krieg auch auf einen russländischen politischen Kontext. Die Quelle erlaubt es auch, Informationen über die Verbreitung der Nachricht an der Peripherie des Reiches zu gewinnen. Als Dubnow am 15. Juli um 15 Uhr zu Mittag aß, war die Kunde von Pleves Tod bereits Straßengespräch in Vil′na. Die Erinnerungen von Praskovija Ivanovskaja zeigen, wie sich die Nachricht in Warschau verbreitete. Um die Mittagszeit erreichten erste Nachrichten über den Telegrafen Warschau. Azef und die Ivanovskaja befanden sich in der Nähe des Wiener Bahnhofs, als bekannt wurde, dass „eine Bombe auf Pleves Kutsche geworfen wurde“.432 Die nächsten Informationen trafen in polnischer Sprache ein: „Zamordowano Plewego“ lautete die Nachricht, mit der Azef nichts anfangen konnte. Innerhalb von fünf Minuten tauchten nun in allen Schaufenstern Todesanzeigen, Blätter mit schwarzem Trauerrand, auf denen „Zamordowano Plewego“ geschrieben stand, auf.433 So verbreitete sich die Nachricht in Windeseile im ganzen Reich. Die Radikalen reagierten euphorisch. Sogar diejenigen unter den Revolutionär*innen, die Terroranschläge ablehnten, begriffen die Ermordung Pleves als gelungenen Schlag

430 Russian Editor Urges Reform, in: New York Times, 30. Juli 1904 Vgl. dazu auch: L. Ahrenthal to his excellency count Goluchowski, etc. etc. etc., from St. Petersburg, 24 July / 6 Agust, 1904, in: Ascher, The coming storm, in: Survey. A Journal of Soviet and East European Studies (1964), S. 148–164, S. 154. 431 Dubnow, Buch des Lebens, 2004–2006, Bd. II, S. 29. 432 Ivanovskaja, V boevoj organizacii, 1996, S. 29–174. 433 Ebd.

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gegen das System, das dieser repräsentierte. So unterschiedliche Menschen wie der liberale jüdische Historiker Simon Dubnow und die Anhänger der PSR fanden sich in einer emotionalen Gemeinschaft wieder, die voller Freude und Erleichterung auf den Tod Pleves reagierte. Die Anzahl der Freiwilligen, die sich für die Kampforganisation der Sozialrevolutionär*innen meldeten, wurde im Anschluss an die Ermordung Pleves geradezu unübersichtlich. Zudem gingen „viele Zehntausende von Rubeln“ als Geldspenden bei der Kampforganisation ein.434 Nicht nur deswegen war die Begeisterung besonders groß innerhalb der Partei der Sozialrevolutionär*innen, deren Mitglieder im Exil sich im Juli 1904 zu einem Parteikongress in Genf befanden. Der dem Terrorismus gegenüber skeptisch eingestellte Sozialrevolutionär Sletov erinnerte sich an den Abend des 15. Juli (28. Juli N. S.) 1904, als die Teilnehmer*innen die Nachricht der Ermordung Pleves mitten in einer theoretischen Diskussion erhielten: Für einige Minuten herrschte wildes Durcheinander. Viele Männer und Frauen wurden geradezu hysterisch. Die meisten der Anwesenden umarmten einander. Überall hörte man Freudenschreie.435

Als Azef nach Genf kam, wurde er von der Partei als Held empfangen. Da er das einzige Verbindungsglied zwischen Partei und Kampforganisation war, konnte niemand außer ihm wissen, dass sein Anteil an dem Attentat relativ gering war. Er galt als Organisator und Mastermind des gelungenen Anschlags und wurde dafür von allen Sozialrevolutionär*innen, auch von seinen innerparteilichen Gegnern, verehrt. Dieser Einstellung gab die Breškovskaja, die „Großmutter der russischen Revolution“ und eine der wichtigsten Symbolfiguren der PSR, die ursprünglich zu den Kritiker*innen Azefs gezählt hatte, mit einer tiefen Verbeugung im altrussischen Stil Ausdruck.436 Mit der Euphorie des geglückten Attentats im Rücken galt es nun, die Rezeption des Terroranschlags in die von der Partei gewollte Richtung zu lenken und jeden Zweifel darüber auszuräumen, dass es die zentrale Kampforganisation der PSR war, die diesen Erfolg der gesamten revolutionären Bewegung für sich verbuchen konnte. Um die Verantwortung für diesen Anschlag so schnell wie möglich zu übernehmen, erschien am 16. Juli 1904 ein erstes Flugblatt, das von der Kampforganisation unterzeichnet war. Es war handgeschrieben, richtete sich „an alle Bürger des Russischen Reiches“ und bekannte knapp, dass die Organisation am 15. Juli den zarischen Minister von Pleve ermordet habe. Pleve habe damit für alles Unrecht bezahlt, dessen er sich gegenüber dem Volk schuldig gemacht habe. Es fallen die Begriffe „Strafe“ und „Urteil“, welche die Tradition der alten Kampforganisation fortführen, aber angesichts des Flugblattes ist es offensichtlich, dass die „Beschriftung“ und Erläuterung des Terroranschlags, die Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 93. Zitiert nach: Nikolajewsky, Aseff, the spy, 1970, S. 88. Vgl. dazu u. a.: Nikolajewsky, Aseff, the spy, 1970, S. 90; Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 364. 434 435 436

Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve

Geršuni perfektioniert hatte, innerhalb der zweiten Kampforganisation eine weniger wichtige Rolle spielten. Vielleicht lag es an der „unpolitischen Einstellung“ der Terrorist*innen in der Kampforganisation, allen voran Azefs und Savinkovs. Möglicherweise nahmen die Mitglieder der Kampforganisation auch an, dass ihre Taten für sich selbst sprachen. Auf jeden Fall war das erste Flugblatt, mit dem die Kampforganisation sich zu der lange geplanten Tat bekannte, kein wohlformulierter und gut vorbereiteter Paukenschlag, sondern eher ein hastig hingeworfener Text, der wenig mehr tat, als die Urheberschaft des Anschlags für die Kampforganisation der PSR zu beanspruchen.437 Für die Kommunikationsgeschichte des Terrorismus ist der Befund interessant, dass diese Abwesenheit von „Beschriftung“ und Texten, die dazu dienen sollten, die Tat zu erläutern und politisch zu legitimieren, der Rezeption des Attentats auf Pleve keinen Abbruch tat. Daraus lässt sich schließen, dass terroristische Taten, zumindest dieser eine Anschlag auf Pleve, „für sich selbst sprachen“ und keiner Erläuterung bedurften. Die Erläuterungen, die schließlich folgten, sorgten eher für Irritationen, als dass sie offene Fragen klärten. Erst am 19. Juli 1904 erschien ein Flugblatt, mit dem die Kampforganisation der PSR ihre Tat in gewohnter Eloquenz im Rahmen der bewährten politischen Rhetorik und mit Hilfe der bereits eingeführten und erprobten Metaphernsprache in der Tradition sowohl der ersten Kampforganisation, als auch in der Tradition der Narodnaja volja legitimierte.438 Das Flugblatt trug die Überschrift „15. Juli 1904“ und unterstrich damit den Anspruch, dass dieses Datum eine ähnliche Bedeutung erlangen würde, wie der 1. März 1881, der ebenfalls als reines Datum mit der Tat der Zarenmörder*innen, der „Erstmärzer“, verbunden war. Entgegen dieser Intention hat dieses Datum aber niemals eine ähnliche symbolische Bedeutung gewonnen. In diesem Flugblatt verwies die Kampforganisation in gewohnter Weise auf die Obrigkeit, namentlich auf Pleve als eigentlichen Urheber des Terrors, „den Terror des Thrones gegen das Volk“. Die Verantwortung für die Gewalt lag damit, wie schon in den Legitimationsschreiben früherer Attentate, bei der Obrigkeit, die Gewalt ausübte, gegen die die Revolutionär*innen sich nur mit Gewalt wehren konnten. In dem Flugblatt machten sie Pleve verantwortlich für die russische antijüdische Politik, den Pogrom von Kišinev, die Gewalttaten der Schwarzhunderter, die Unterdrückung von Finn*innen, Armenier*innen und Pol*innen.439 Auf diese Art nutzten die Autor*innen sowohl die allgemeinen Proteste gegen den Pogrom von Kišinev und die Unabhängigkeitsbestrebungen der Pol*innen als auch die Attentate gegen Bobrikov und Andreev, um sich sowohl als Sozialrevolutionär*innen als auch als Boevaja Organizacija PSR, Ko vsem graždanam Rossii, 16. Juli 1904, IISG, Archiv PSR f. 738. Vgl. für die gesamte folgende Quellenanalyse: Boevaja Organizacija PSR, 15 – e ijulja 1904 g., 19. Juli 1904, IISG, Archiv PSR f. 738; Zajavlenie, in: Revoljucionnaja Rossija, 1. August 1904. 439 Boevaja Organizacija PSR 19. Juli 1904–15, IISG, Archiv PSR f. 738. 437 438

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Anführer*innen einer breiten gesellschaftlichen Bewegung zu präsentieren. Außerdem wiesen sie ihm die Verantwortung für den Krieg mit Japan und die Verluste der russländischen Armeen auf den Schlachtfeldern des Fernen Ostens zu und schrieben sich damit in den Kontext der Proteste weiter Teile der Bevölkerung gegen den Krieg ein. Pleve wird dabei als „alter Mann mit goldbestickter Uniform“ bezeichnet, als „ungesetzlicher Hausherr des Reiches“. Der „alte Mann“ steht dabei im Gegensatz zum jungen und unerfahrenen Zaren, aber auch zu den jungen Männern, die im Krieg gegen Japan starben, ebenso wie zu den jungen Leuten innerhalb der Opposition und erst recht zu den jungen Terrorist*innen. So lud der Text dazu ein, den politischen Kampf auch als Generationenkonflikt zu deuten. Zudem verstand er sich als Abgesang auf alte Machtverhältnisse, die der alte Mann in diesem Kontext symbolisierte. Die Kampforganisation rief zudem dazu auf, der Bauernunruhen von Poltava und Char′kov zu gedenken, ebenso wie der Politik der Obrigkeit in Kiew, Tiflis, Helsinki und Warschau. Damit machten sie die imperiale Dimension der revolutionären Ereignisse von 1904 bis 1907 überdeutlich und suchten nach Zustimmung bei den nationalen Minderheiten im Russischen Reich, die unter dem zunehmenden großrussischen Chauvinismus von Nikolaus II. zu leiden hatten. Die Autor*innen riefen dazu auf, des Idols der sozialrevolutionären Jugend Stepan Balmaševs, des Attentäters von Dimitrij Sipjagin, der Vorgänger von Pleve im Innenministerium gewesen war, zu gedenken. In einem Atemzug mit Balmašev nannten sie aber auch Hirš Lekert, den jüdischen Bundisten aus Vilna, der trotz der Zweifel der Sozialdemokratie am Terrorismus die Waffe gegen Viktor von Wahl erhoben hatte. Dieses Flugblatt ist nur ein weiteres Beispiel dafür, wie die PSR versuchte, Lekert für sich zu vereinnahmen. Die beiden Attentäter waren zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Die Autor*innen forderten im Anschluss daran, sich „des Blutes und der Tränen“ zu erinnern, die in den letzten Jahren geflossen waren. Die Ermordung Pleves sei nur ein Schritt auf dem Weg zur Befreiung des Volkes. Der Weg sei weit und schwer, aber den Anfang hätten die Märtyrer der PSR gemacht: Karpovič und Balmašev, Geršuni und Pokotilov, „der Unbekannte aus Ufa“ (Dulebov) und „der Unbekannte vom Warschauer Bahnhof “ (Sazonov). Das Ende der Selbstherrschaft sei nahe. Zum Schluss stellte sich die Kampforganisation noch einmal deutlich in die Tradition der Narodnaja volja, der Gruppe jener Pionier*innen, die sich im Kampf gegen die Selbstherrschaft aufgerieben hatten.440 Zudem wandte sich nicht nur die Kampforganisation, sondern auch das Zentralkomitee der PSR mit drei Texten an die Öffentlichkeit – an die Arbeiter*innen, an die Bäuer*innen und an die „Bürger der zivilisierten Welt“. Diese drei Legitimationsversuche sollen im Folgenden im Zusammenhang analysiert werden:

440

Ebd.

Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve

Das erste Schreiben richtete sich „An alle Arbeiter“.441 Im Jargon der politischen Texte der Arbeiterbewegung suchten die Sozialrevolutionär*innen vor allem, den Terroranschlag gegenüber den, wie sie befürchteten, überwiegend sozialdemokratisch orientierten Arbeiter*innen zu rechtfertigen. Dabei wurde das Attentat auf Pleve als politisches Ziel vom Kampf gegen den Kapitalismus abgegrenzt. Wie schon zu Geršunis Zeiten wurde allerdings auf die Gefahren des Arbeitskampfes verwiesen. Dazu beriefen die Autor*innen sich z. B. auf das Massaker von Zlatoust, aber auch auf die niedergeschlagene Demonstration von Vil′na. Außerdem agitierten sie gegen die Folgen des Russisch-Japanischen Krieges.442 In dem zweiten Text, der „an alle russischen Bauern“ gerichtet war, bediente sich das Zentralkomitee einer anderen Sprache.443 Die Bäuer*innen wurden nicht als „Genossen“ bezeichnet, das Attentat auf Pleve wurde eher innerhalb der Tradition der PSR erklärt. Pleves Vorgänger im Innenministerium sei Sipjagin gewesen, und dieser wiederum sei am 2. April 1902 von Stepan Balmašev im Namen der Kampforganisation der PSR ermordet worden. Dieser revolutions- und parteihistorische Diskurs fehlte in dem Schreiben an die Arbeiter*innen völlig. Zudem verwiesen die Autor*innen auf die Verantwortung des Zaren für die Politik Pleves. Daraufhin beschrieben sie die Verbrechen Pleves gegenüber dem Volk, Unterdrückung durch den Einsatz von Polizei und Kosaken, mit Hilfe von Gefängnissen und Zwangsarbeitslagern in Sibirien. Pleve wurde auch für die Niederschlagung der Bauernunruhen 1902 in Char′kov und Poltava verantwortlich gemacht. Der Innenminister sei eines der Fundamente der Selbstherrschaft gewesen, aber nicht der einzige Feind des Volkes, deshalb gelte es, weiter zu kämpfen. Beide Texte enden mit den Losungen: Nieder mit der Selbstherrschaft! Nieder mit der Gewaltherrschaft! Nieder mit den Kapitalisten! Nieder mit dem Krieg!444

Die Schreiben des Zentralkomitees ähnelten den Texten Geršunis weit deutlicher als die beiden Flugblätter der Kampforganisation. Daran wird deutlich, dass sich die Kampforganisation von den politischen Überlegungen der PSR, die Geršuni umge-

441 Vgl. für die folgende Quellenanalyse: Central′nyj komitet partii socialistov-revoljucionerov, Ko vsemu russkomu krest′janstvu, in: Revoljucionnaja Rossija, 28. Juli 1904. 442 Ebd. 443 Vgl. für die folgende Quellenanalyse: Central′niy komitet partii socialistov-revoljucionerov, Ko vsem graždanam civilizovannogo mira, in: Revoljucionnaja Rossija, 28. Juli 1904. 444 Ebd. Aber auch: Central′nyj komitet partii socialistov-revoljucionerov, Ko vsemu russkomu krest′janstvu, in: Revoljucionnaja Rossija, 28. Juli 1904.

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trieben hatten, wie z. B. die Konkurrenz mit den Sozialdemokrat*innen um die Zustimmung der revolutionären Arbeiter*innen, bereits distanziert hatte. Auf noch einmal andere Weise versuchten die Sozialrevolutionär*innen in einem dritten Text, um Zustimmung bei „allen Bürgern der zivilisierten Welt“ zu ringen.445 Zunächst stellten sie fest, dass es sich bei dem Terroranschlag auf Pleve nicht um die isolierte Tat eines Einzelkämpfers handelte, sondern um einen Parteibeschluss, zu dem die PSR sich nach reiflicher und strategischer Überlegung durchgerungen hatte. Terrorismus sei das letzte Mittel der Partei, nachdem diese auch auf andere Weise versucht habe, die blutige und gewaltsame Politik des Innenministers von Pleve, seines Vorgängers Sipjagin, des Bauernmörders Obolenskij, des Arbeitermörders Bogdanovič und anderer Tyrannen zu brechen. Dabei berief sich die PSR auf das Erbe der im Ausland wohlbekannten Narodnaja volja, in der ein Vierteljahrhundert zuvor bereits Marx und Engels die Avantgarde der Weltrevolution gesehen hätten. Pleve sei die Inkarnation aller Schrecken der Selbstherrschaft gewesen, deshalb habe seine Ermordung auch bei denen, die Gewalt normalerweise verabscheuen, Erleichterung ausgelöst. Als konkrete Gründe für die Exekution Pleves führte das Zentralkomitee der PSR an, dass Pleve verantwortlich sei für die grausame und selbst nach den Gesetzen des Russischen Reiches unrechtmäßige Verfolgung der Narodnaja volja vor 25 Jahren. Außerdem machten sie ihn verantwortlich für die Repression der Aktivist*innen Stepan Balmašev, Hirš Lekert, Geršuni und Frumkina. Damit bezogen die Autoren sich auf diejenigen Revolutionäre, die ohnehin weit über die Grenzen des Russischen Reiches bekannt waren, und beschuldigten Pleve, sie an den Galgen oder in die „Bastille“ gebracht zu haben. Sowohl mit Marx und Engels als auch mit der Gleichsetzung der russischen Gefängnisse mit der Bastille suchten sie Anschluss an einen internationalen revolutionären Kontext. Zudem nannten sie Pleve als Verantwortlichen für die Niederschlagung der Arbeiterunruhen in Ufa, das bekannter war als die kleine Stadt Zlatoust, und für die Repression der Bäuer*innen in Char′kov und Poltava. Dabei betonten sie mehrfach, dass Polizei und Kosaken die Frauen und Töchter der Arbeiter und Bauern vergewaltigt hätten.446 Zudem habe Pleve bei der Niederschlagung der Bauernunruhen ganze Dörfer für die Verfehlungen Einzelner verantwortlich gemacht: „Ein Vorgehen, das seit den Zeiten orientalischen Despotismus und barbarischer Stämme unerhört ist.“447 Auch vor ausländischem Publikum klagten sie 445 Central′nyj komitet partii socialistov-revoljucionerov, Ko vsem rabočim, in: Revoljucionnaja Rossija, 28. Juli 1904 Vgl. dazu auch die Veröffentlichung: Take Responsibility Of De Plehve Killing. Russian Revolutionary Socialists Issue Adress to „Civilized World“, in: New York Times, 14.8.1904. 446 Übergriffe der Obrigkeit gegenüber Frauen wurden zu diesem Zeitpunkt immer stärker zum Topos im revolutionären Diskurs, wie auch Sally Boniece am Beispiel der Marija Spiridonova zeigen konnte: Boniece, The Spiridonova case, 1906, 2003, S. 571–606. 447 Central′niy komitet partii socialistov-revoljucionerov, Ko vsem graždanam civilizovannogo mira, in: Revoljucionnaja Rossija, 28. Juli 1904.

Das Attentat der Kampforganisation auf Vjačeslav Pleve

Pleve wegen seiner Politik gegenüber den russländischen Minderheiten, namentlich Finn*innen, Pol*innen, Armenier*innen und Jüd*innen, an. Besonders hoben sie „die Bartholomäus-Nacht“ von Kišinev hervor, die ebenfalls im Ausland berüchtigt geworden war. Das Netzwerk russischer Geheimpolizisten im Ausland zur Ergreifung russischer Revolutionär*innen in Italien, Frankreich und Deutschland wurde ausschließlich in dem Schreiben an die sogenannten „Bürger der zivilisierten Welt“ angeführt. In den Texten, mit denen die PSR sich an die russländischen Arbeiter*innen und Bäuer*innen wandte, spielte dieses Thema keine Rolle. Am Ende warben die Sozialrevolutionär*innen noch einmal um Verständnis bei den „Bürgern der zivilisierten Welt“. Wie schon die Narodnaja volja anlässlich des Attentats auf den amerikanischen Präsidenten Garfield 1881, unterstrichen auch die Sozialrevolutionär*innen im Jahr 1904: Die erzwungene Entschlossenheit unserer Kampfesmethoden sollte niemand über die Wahrheit hinwegtäuschen: Entschiedener noch als irgendjemand sonst lehnen wir in aller Öffentlichkeit den Terrorimus als taktisches Mittel in den freien Ländern ab, wie das bereits unsere heldenhaften Vorkämpfer von der Narodnaja volja getan haben. Aber in Russland, wo der Despotismus jeden offenen politischen Kampf ausschließt und nichts als Willkür kennt, wo es keinen Schutz vor der unverantwortlichen Gewalt gibt, die auf allen Stufen der bürokratischen Leiter die Macht usurpiert hat – dort zwingt man uns dazu, der Gewalt der Tyrannei mit der Kraft des revolutionären Rechts entgegen zu treten.448

Wie zu Zeiten der Narodnaja volja so ging es auch hier offensichtlich darum, die Zustimmung der öffentlichen Meinung in den westlichen Ländern zu erreichen. Mit diesem Werben um die Gunst der öffentlichen Meinung im Ausland stieß das Zentralkomitee aber in den eigenen Reihen nicht nur auf Zustimmung. Savinkov berichtete, dass Kaljaev sich über diesen Text echauffierte: Aber warum sollten gerade wir, die Partei der Sozialrevolutionäre, d. h. eine Partei des Terrors, einen Stein werfen? Warum sagen gerade wir uns los von Lunken und Ravachol? Wozu diese Eile? Weshalb diese Angst vor der öffentlichen Meinung in Europa?

Und schließlich verteidigte er sich gegen den Vorwurf, er sei ein Anarchist: Nein, aber ich glaube eher an den Terror als an alle Parlamente der Welt. Ich werfe keine Bomben in Cafés, aber es ist nicht an mir, Ravachol zu verurteilen. Er steht mir näher als die, für die die Proklamation geschrieben ist. 449

Mit der doppelten Nennung des Namens Ravachol bezog Kaljaev sich auf den 1892 hingerichteten französischen Anarchisten François Claudius Koenigstein, der zum Helden

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Ebd., S. 22. Deutsche Übersetzung nach: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 89. Zitiert nach: Ebd.

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der anarchistischen Bewegung wurde.450 Kaljaev selbst warf keine Bomben in Cafés, doch seine Nachahmer*innen im Russischen Reich sollten das nur wenig später tun. Die Zusammenschau der Texte, mit denen sich unterschiedliche Gruppierungen innerhalb der PSR jeweils für eine unterschiedliche Leserschaft zu dem Attentat auf Pleve bekennen, macht deutlich, wie wenig sich diese Texte dazu eignen, die Intentionen von Terrorist*innen zu ermitteln. Diese Texte wurden mit dem Ziel verfasst, die Taten zu legitimieren, und differieren abhängig davon, für welches Publikum sie gedacht waren. Über die Texte hinaus aber sprach das Attentat für sich selbst, und ein großer Teil seiner Rezeption und kommunikativen Ausstrahlung ergab sich direkt aus dem Ereignis. Sowohl die Zeitgenoss*innen451 als auch die Historiographie452 nahmen die Ermordung Pleves als einen Wendepunkt in der Geschichte der russländischen revolutionären Bewegung wahr, unabhängig davon, zu welcher emotionalen Gemeinschaft sie sich zugehörig fühlten. Mit dem Tod Pleves kam zumindest zunächst die repressive Politik der Obrigkeit zu einem Ende. Nach einigem Zögern folgte Nikolaus II. den Vorschlägen einiger seiner Berater, die Öffentlichkeit mit einer Geste des Ausgleichs zu versöhnen. Am 26. August 1904 berief er den 74-jährigen Fürsten Pёtr D. Svjatopolk-Mirskij, der als Vertreter von Reformen und aufklärerischer politischer Ideen galt, zum Innenminister. Dieser schob eine Reihe von Reformen an, die dazu gedacht waren, den Zemstva, der Presse und den nationalen Minderheiten Entgegenkommen zu signalisieren. Auf diese Art wollte er die loyalen Untertan*innen, die durch die reaktionäre Politik Pleves in die Opposition zur Obrigkeit geraten waren, zurückgewinnen und „die Scheidewand zwischen dem Zaren und seinem Volke“ niederreißen.453 Doch seine neue Offenheit verursachte vor allem, dass Kritik und Widerstand, die sich seit langer Zeit aufgestaut hatten, endlich öffentlich geäußert werden konnten. So traten die moderaten Reformen, die ab Sommer 1904 gewährt wurden, eine Vielzahl oppositioneller Aktivität gegen die zarische Obrigkeit los. Sie schafften es nicht, die Öffentlichkeit zu beruhigen, sondern erzeugten erst das Momentum, das schließlich in die Revolution von 1905 mündete. Eines der wichtigsten Foren für die reformerischen Bestrebungen der Liberalen war der Zemstvo-Kongress im November 1904, den Svjatopolk-Mirskij wenn nicht erlaubte, so doch duldete. Ebenfalls im November begann die Bankett-Kampagne, die sich die revolutionären Bankette in Paris 1847/48 zum Vorbild nahm und die konstitutionellen Forderungen der Liberalen zum Ausdruck brachte. 450 Ravachol wurde zum Prototypen des bombenlegenden Anarchisten, es entstand ein Lied über ihn, und in der französischen Sprache wurde das Verb „ravacholiser“ für Bombenlegen verwendet. Vgl. zu Ravachol: Jean Maitron, Ravachol et les anarchistes, Paris 1992. 451 Vgl. z. B. Gerassimoff, Der Kampf gegen die erste russische Revolution, 1934, S. 27; Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 83. u. a. 452 Vgl. z. B. Ascher, The revolution of 1905, 2004, S. 16. 453 Diesen Ausdruck als Schlagwort der Zeit kolportiert der Zeitgenosse Gerasimov nicht unkritisch: Gerassimoff, Der Kampf gegen die erste russische Revolution, 1934, S. 27.

Das Attentat der Kampforganisation auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič

Auf 38 Banketten in 26 Städten des Russischen Reiches versammelten sich ZemstvoAktivisten und reformwillige Adelige, Beamte und Journalisten. Sie verabschiedeten Resolutionen, und ihre Forderungen wurden quasi unzensiert von den Zeitungen gedruckt. Diese Ära der politischen Freiheiten ging im Dezember 1904 mit einem Ukaz zu Ende, zu dem Vitte dem Zaren geraten hatte. Die im Ukaz dekretierten Veränderungen reichten nicht aus, um die Liberalen zufriedenzustellen, und der Dissens zwischen Obrigkeit und Gesellschaft wurde wieder offensichtlich.454 Das Attentat der Kampforganisation auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič

Am 4. Februar 1905 ermordete Ivan Kaljaev im Auftrag der Kampforganisation der PSR den Großfürsten Sergej Aleksandrovič. Sergej Aleksandrovič Romanov galt, wie Pleve vor ihm, vielen Zeitgenoss*innen als „böser Geist“ der reaktionären russländischen Regierung.455 Er war der vierte Sohn des am 1. März 1881 ermordeten Zaren Alexander II. Seine Ehefrau, eine deutsche Adlige, die nach der Heirat den Namen Elisaveta Fedorovna angenommen hatte, war die Schwester der Zarin Alexandra. Deshalb war Sergej Aleksandrovič zugleich Onkel und Schwager des Zaren Nikolaus II. Seine Frau Elisaveta Fedorovna und er hatten keine leiblichen Kinder, aber sie hatten die beiden Kinder des Großfürsten Paul, Sergejs älterem Bruder, bei sich aufgenommen, nachdem dessen erste Frau verstorben und Paul selbst wegen einer nicht standesgemäßen zweiten Ehe exiliert worden war.456 Sergej Aleksandrovič war als Reaktionär bekannt und Teil der berüchtigten Hofcamarilla, die von der Öffentlichkeit als Drahtzieher der zarischen Politik wahrgenommen wurde. Diese Camarilla war keine feste Gruppe, und die Wege ihrer Einflussnahme waren nicht formalisiert, aber der Rat einiger ihrer Mitglieder spielte eine wichtige Rolle für das politische Handeln des Zaren. Vielen Zeitgenoss*innen galt der noch relativ junge Zar als ängstlich und wenig durchsetzungsfähig. Vielfach wurde er als Marionette der unterschiedlichen Interessen seiner wichtigsten Ratgeber, Verwandten, oder Spitzenbeamten des Reiches, betrachtet, wie die Karikatur mit dem Titel „Autokratische Marionette“ aus dem Umfeld der PSR suggeriert. Die Marionette mit dem Antlitz Nikolaus II. ist eben nicht „selbstherrschend“, was das russische Wort für autokratisch wörtlich bedeutet, sondern wird durch die unterschiedlichsten Hände gelenkt.

454 So äußert Ascher die These, dass die Revolution von 1905 nicht erst mit dem Blutsonntag im Januar 1905, sondern bereits im Herbst 1904 ihren Anfang nahm: Ascher, The revolution of 1905, 2004, S. 16–21. 455 Slain Grand Duke Was The Czar’s Evil Genius. Urged On the War and Headed Off Reforms, in: New York Times, 18. Februar 1905. 456 Matthias Stadelmann, Die Romanovs, Stuttgart 2008, S. 217–218.

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Abb. 3 Karikatur „Autokratische Marionette“ aus der Sammlung des Sozialrevolutionärs V. S. Minarchorjan aus der Zeit vor 1907. 457

Die wichtigsten Mitglieder der so genannten Camarilla neben Sergej Aleksandrovič waren eine Reihe weiterer Großfürsten, also enge Verwandte des Zaren, der berüchtigte ehemalige Oberprokuror des Heiligen Synods Konstantin Pobedonoscev, der schon Alexander III. beraten hatte, der ultrakonservative Journalist Fürst Vladimir P. Meščerskij, der ebenso wie der Großfürst Sergej Aleksandrovič als homosexuell galt, und einige andere Mitglieder der Hocharistokratie. Voraussetzung für eine Position in diesem informellen Gremium war vor allem eine gewisse Nähe zum Zaren und zum Hof, sodass das politische Profil der Gruppe vergleichsweise homogen war. Moralische Integrität war demgegenüber nicht vonnöten Andrew Verner hat sogar angedeu-

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Minachorjan – Album with prints of photographs, IISG, Archiv PSR f. 596.

Das Attentat der Kampforganisation auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič

tet, dass es gerade der problematische Ruf einiger der Berater des Zaren in der Öffentlichkeit war, die ihren Einfluss auf Nikolaus II. verstärkten. Möglicherweise hatte der Zar das Gefühl, dass ihre Rolle als gesellschaftliche Außenseiter ihre Loyalität gegenüber seiner Person verstärkte.458 Der Großfürst Sergej Aleksandrovič war also nicht nur ein enger Verwandter des Zaren, sondern auch als Mitglied der Camarilla politisch einflussreich. Zudem war er seit 1891 Generalgouverneur von Moskau. In der Moskauer Verwaltung, die von seinem liberalen Vorgänger, dem Fürsten Vladimir Dolgorukov, geprägt war, war der Großfürst ebenso unpopulär wie in weiten Teilen der Bevölkerung.459 Allenfalls in extrem konservativen Kreisen wurden seine Durchsetzungsfähigkeit und sein Geist geschätzt. Doch nicht nur die Liberalen und das einflussreiche Moskauer Wirtschaftsbürgertum, sondern auch Teile der höfischen Gesellschaft lehnten Sergej Aleksandrovič ab.460 Seine Homosexualität war allgemein bekannt. Es kursierten Gerüchte, die ihm eine Vorliebe für Knaben unterstellten. In Moskau war er zudem wegen seines Regierungsstils verhasst. Er regierte die Stadt, so die Zeitgenoss*innen, wie ein orientalischer Despot, besetzte wichtige Posten mit seinen Günstlingen, vertrieb die Jüd*innen ab 1891 aus Moskau und brachte die anderen Bürger um ihr Geld.461 Nicht nur den Revolutionär*innen, den nicht russischen Minderheiten und den städtischen Unterschichten begegnete er mit Verachtung und Repressionen, auch die städtischen Eliten behandelte er mit Geringschätzung. Angesehene reiche Kaufleute, „wie Tret′jakov und Morozov“, die als Mäzene für die städtische Kultur und Wohlfahrt von hoher Bedeutung waren,462 wurden von ihm mit einer Herablassung „wie Plebs“ behandelt, wie es ihm als Mitglied der Hocharistokratie angemessen erschien.463 Seine schlimmste Untat aber war die Tragödie auf dem Chodynka-Feld, die ihm den gehässigen Beinamen „Fürst Chodynskij“464 eingetragen hatte: Während der Krönungsfeierlichkeiten für Nikolaus II. im Jahre 1894 wurde der Tradition folgend ein Volksfest auf dem Chodynka-Feld ausgerichtet. Die Massenveranstaltung war schlecht organisiert, das Feld unzureichend vorbereitet, der Boden matschig und voller Löcher und Gräben. Als etwa 500.000 Besucher*innen auf dem Feld versuchten, zu den Ständen zu kommen, an denen Essen ausgegeben wurde, brach eine Panik aus, die nach offiziellen Angaben über 1.350 Menschen das Leben kostete. Diese Toten lagen wie ein Schatten über dem Regierungsantritt des Zaren. Ein

458 Vgl. zu dieser Camarilla, die Ascher etwas wertfreier „Entourage“ nennt: Ascher, P. A. Stolypin, 2001, S. 175. Und: Andrew M. Verner, The crisis of Russian autocracy. Nicholas II and the 1905 revolution, Princeton, N.J 1990, S. 68. 459 Kathleen Klotchkov, Der lange Weg zum Fest. Die Geschichte der Moskauer Stadtgründungsfeiern von 1847 bis 1947, Berlin 2006, S. 129. 460 Stadelmann, Die Romanovs, 2008, S. 217–218. 461 Klotchkov, Der lange Weg zum Fest, 2006, S. 131. 462 Vgl. dazu Waltraud Bayer, Die Moskauer Medici. Der russische Bürger als Mäzen, 1850–1917, Wien 1996. 463 Mandel′štam, 1905 god v političeskich processach, 1931, S. 249. 464 Vgl. dazu z. B. in der Parteizeitung der PSR: Sud idet, in: Revoljucionnaja Rossija, 10. Februar 1905.

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Grund für die Katastrophe war die Beratungsresistenz und Arroganz, mit der der Großfürst seinen Mitmenschen und den Beamten aus den unterschiedlichsten Abteilungen der Stadtverwaltung begegnete.465 Obwohl eine Untersuchungskommission zu dem Ergebnis kam, dass Sergej Aleksandrovič für das Unglück verantwortlich war, weigerte sich der Zar, seinen Onkel öffentlich als Schuldigen zu benennen oder ihn auch nur auf informeller Ebene zum Rücktritt zu bewegen.466 Alle Elemente, die weiten Teilen der fortschrittlich gesinnten Bevölkerung an der zarischen Politik zuwider waren, fielen also in der Person des Großfürsten Sergej Aleksandrovič zusammen. Zudem symbolisierte ein Schlag gegen ihn aufgrund seiner Zugehörigkeit zu den engsten Kreisen der zarischen Familie einen Angriff auf die Autokratie selbst. Deshalb erschien die Auswahl des Opfers im Sinne der PSR schlüssig und berechtigte zu der Hoffnung, dass von der Ermordung des Großfürsten eine Botschaft ausgehen würde, die abermals für Zustimmung weit über die Partei der Sozialrevolutionär*innen hinaus sorgen würde. Im Herbst 1904 legte die Kampforganisation der PSR die Planungen für die nächsten terroristischen Aktionen fest. Mit der Methode, die bereits zu dem erfolgreichen Anschlag auf Pleve geführt hatte, sollten mehrere Ziele gleichzeitig ins Visier genommen werden: 1. Der Generalgouverneur von Moskau, Sergej Aleksandrovič, und 2. der Generalgouverneur von Kiew, General Klejgel′s, der bereits vor dem Attentat auf Pleve hatte sterben sollen. Damals allerdings wurde der Anschlag zurückgestellt.467 Wer als weiteres Ziel vorgesehen war, lässt sich nicht zweifelsfrei klären. Savinkov erinnert sich, dass zunächst der Generalgouverneur von St. Petersburg, Trepov, als Opfer auserkoren war.468 Andere Quellen lassen den Schluss zu, dass Sergejs Bruder, der Großfürst Vladimir Aleksandrovič, das Ziel des dritten Anschlags darstellte.469 Zumindest schien die Zielperson der St. Petersburger Einsatzgruppe im Laufe der Vorbereitungen häufiger ausgetauscht worden zu sein. Im Januar 1905 wurde in St. Petersburg zusätzlich auch ein Anschlag auf den Justizminister Murav′ev durchgeführt, der aber scheiterte.470 Auf jeden Fall sah die Planung der Kampforganisation drei Anschläge vor, die in zeitlicher Nähe an drei unterschiedlichen Orten des Reiches stattfinden sollten.

Dominic Lieven, Nicholas II. Emperor of all the Russias, London 1993, S. 65–66. Klotchkov, Der lange Weg zum Fest, 2006, S. 131–134. Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 35–37. Ebd., S. 90. Vgl. z. B. Nikolajewsky, Aseff, the spy, 1970, S. 101; Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S.  366; Spiridovič, Partija socialistov-revoljucionerov i ee predšestvenniki (1886–1916), 1918, 148, 183–185. In den Erinnerungen der Ivanovskaja werden der Großfürst Vladimir, Trepov, Durnovo und Bulygin genannt: Ivanovskaja, V boevoj organizacii, 1996, S. 29–174. 470 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 90. 465 466 467 468 469

Das Attentat der Kampforganisation auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič

Diese Idee zeugt sowohl von einem gewissen Selbstbewusstsein der Kampforganisation nach dem Anschlag auf Pleve als auch von einem Bewusstsein für die Macht der Inszenierung terroristischer Anschläge. Die Orchestrierung von drei Gewaltaktionen, die in den beiden Hauptstädten des Reiches und in der südlichen Metropole Kiew, einem der Zentren von Aufruhr und Revolution, unabhängig voneinander und doch miteinander inhaltlich verbunden stattfinden sollten, hätten, so der Plan der Terrorist*innen, die Omnipräsenz der SR-Kampforganisation suggeriert und die Botschaft der Tat, Angst bei den Parteigänger*innen der Regierung und Zustimmung in der oppositionellen Öffentlichkeit auszulösen, deutlich verstärkt. Auch bei den konkurrierenden Sozialdemokrat*innen und im Ausland wäre das Ansehen der Sozialrevolutionär*innen gestiegen bzw. ihr Potential höher geschätzt worden als bisher. Der Plan der Kampforganisation sah vor, die Anschläge von drei unabhängigen Abteilungen selbstständig organisieren zu lassen. Mit der Erfahrung des Erfolges gegen Pleve im Rücken sahen die Mitglieder der Kampforganisation keine größeren Schwierigkeiten auf sich zukommen. Anführer der jeweiligen Abteilungen waren Teilnehmer des Pleve-Attentats: Švejcer führte die Gruppe in St. Petersburg an,471 Borišanskij versuchte sein Glück in Kiew, und Savinkov arbeitete mit seinen Leuten in Moskau am Attentatsplan auf Sergej Aleksandrovič. Doch der komplexe dreiteilige Plan erwies sich als zu ehrgeizig. Die Aufteilung der schlagkräftigen Kampforganisation bedeutete eine Zersplitterung der Kräfte, die deshalb mit neuen Leuten verstärkt werden mussten. Nicht alle Neuzugänge konnten die hohen Erwartungen erfüllen. Allein das Moskauer Kommando mit den bewährten Terrorist*innen Dora Brilliant und Ivan Kaljaev unter der Leitung von Boris Savinkov war im Sinne des Plans erfolgreich. Doch auch diese Abteilung hatte mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Ende November 1904 waren die meisten der Verschwörer*innen in Moskau versammelt. Weil keiner der Terrorist*innen aus Moskau stammte oder sich dort auskannte, erwies sich die Beobachtung von Sergej Aleksandrovič als schwierig: „Vor allem stand uns bevor, festzustellen, wo der Generalgouverneur lebte. Das wußte jeder Moskauer, aber keiner von uns war aus Moskau.“472 Mit dem lokalen Komitee der PSR zusammenzuarbeiten, kam für Savinkov und seine Leute nicht in Frage. Sie misstrauten den lokalen Kräften und begriffen die Kampforganisation als völlig von der Partei abgetrennte Elite. Die Begründung Savinkovs für die Ignoranz gegenüber dem Moskauer Komitee spricht Bände über die Selbstwahrnehmung der Kampforganisation: Das Moskauer Komitee mußte einige wertvolle Kenntnisse über den Generalgouverneur besitzen. Wir beschlossen, auf diese zu verzichten: wir wollten in keinerlei Verbindung mit den Mitarbeitern des Komitees treten. Der Grad der Konspiration und der revolutionären

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Ivanovskaja, V boevoj organizacii, 1996, S. 29–174. Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 94.

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Erfahrung der letzteren war uns unbekannt, und wir befürchteten, durch Bekanntschaft mit ihnen die Polizei auf die Spur unseres Attentats zu bringen. Daher ahnte das Moskauer Komitee lange Zeit hindurch nicht, daß Mitglieder der Kampforganisation nach Moskau gekommen waren und dort arbeiteten.473

Savinkovs Leute nahmen ihre Kampforganisation als völlig getrennt von der Partei wahr. Der Stolz auf die eigenen Fähigkeiten zu konspirativer Arbeit, die sie durch das Pleve-Attentat unter Beweis gestellt hatten, führte zu einer Geringschätzung aller anderen Kräfte in der Partei. Das Misstrauen in die konspirativen Fähigkeiten spricht von der arroganten Haltung der terroristischen Elite gegenüber den lokalen vermeintlichen Polit-Amateur*innen. Dabei war es vor allem die Kampforganisation selbst, die mit dem Doppelagenten Azef beständig die Polizei auf die Spur der unterschiedlichsten Sozialrevolutionär*innen brachte. Das konnte Savinkov 1905 zwar noch nicht wissen, es zeigt aber, dass die Haltung der Kampforganisation gegenüber dem Moskauer Komitee nicht von tatsächlichen Erfahrungen mit dem Versagen lokaler Kräfte in Angelegenheiten der Konspiration, sondern von Vorurteilen geprägt war. Die Weigerung, mit den Lokalorganisationen zusammenzuarbeiten, bedeutete eine radikale Abweichung Savinkovs von der Praxis der Kampforganisation unter dem bewunderten Geršuni, der sich jeweils vor Ort Informationen und auch personelle Unterstützung besorgt hatte.474 Auch war Geršunis Verhaftung nicht auf das Versagen lokaler Komitees zurückzuführen. Zwar bekamen Savinkovs Leute den Wohnort des Generalgouverneurs in Moskau ohne größere Probleme heraus,475 das Ignorieren des Moskauer Komitees sollte aber noch zu weiteren Schwierigkeiten bei der Vorbereitung des Attentats auf den Großfürsten führen. Die Moskauer Lokalorganisation der PSR war Ende 1904 das zahlenmäßig größte und am besten aufgestellte von allen Lokalkomitees im Russischen Reich.476 Noch im Jahr 1903 war die PSR in Moskau praktisch nicht existent gewesen, deshalb beorderte die Auslandsorganisation einen besonders fähigen Sozialrevolutionär in die zweite Hauptstadt des Reiches, um dort eine lokale Organisation aufzubauen. Die Wahl fiel auf Vladimir Zenzinov, der bereits in den 1890ern Kontakte zu sozialrevolutionären Kreisen hatte, seit 1900 aber in Deutschland (in Heidelberg und Halle) studierte und dort zusammen mit einigen Freunden den Kreis der so genannten „Deutsch-Sozialrevolutionäre“ bildete.477 Unter Zenzinov nahm die Moskauer Organisation einen rasanten Aufschwung. Die Gruppe intensivierte die Agitation in den Fabriken und richtete Ebd., S. 93–94. Vgl. z. B. das Attentat auf Bogdanovič: Terror i massovoe dviženie, in: Revoljucionnaja Rossija, 15.5.1903. Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 94. Ihre Geschichte ist zudem am besten dokumentiert. Vgl. dazu auch: Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 252. 477 Černov, V partii socialistov-revoljucionerov, 2007, S. 449. Vgl. vor allem auch: Hartmut Rüdiger Peter, „Hallenser“ Sozialrevolutionäre. Eine gruppenbiographische Studie über russländische Studenten in 473 474 475 476

Das Attentat der Kampforganisation auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič

Druckereien ein. Flugblätter mit Auflagen von über 1.000 Exemplaren konnten in die Öffentlichkeit gebracht werden.478 Ausgerechnet im Dezember 1904, kurz nachdem Savinkovs Leute sich an die Vorbereitung des Attentats auf Sergej Aleksandrovič gemacht hatten, organisierte das Moskauer Komitee eine große Kundgebung und kündigte diese den Behörden mit einer unverhohlenen Drohung an: Das Moskauer Komitee der Partei der Sozialrevolutionäre hält es für notwendig, die folgende Warnung auszusprechen: Wenn die zum 5. und 6. Dezember einberufene politische Demonstration von ebenso viehischen Schlägereien seitens der Behörden und der Polizei begleitet sein wird, wie erst vor einigen Tagen in St. Petersburg, dann wird die ganze Verantwortung auf den Generalgouverneur Sergej Aleksandrovič und den Polizeipräfekten Trepov fallen. Das Komitee wird nicht davor zurückschrecken, sie hinzurichten.479

Mit dieser Warnung bezog sich das Lokalkomitee der Sozialrevolutionär*innen auf eine Demonstration in St. Petersburg am 28. November 1904, die von der Polizei grausam niedergeknüppelt worden war.480 Die Folge der selbst gewählten Isolation der Kampforganisation war also, dass, während diese versuchte, Routinen und Wege des Großfürsten ausfindig zu machen, das Moskauer Komitee der PSR mit einem Anschlag drohte und deshalb dazu beitrug, die Vorsichtsmaßnahmen des Großfürsten zu erhöhen und damit das Attentat zu hintertreiben. Auch die Moskauer Demonstration wurde, dem Selbstverständnis des Generalgouverneurs und Großfürsten gemäß, der sich nicht von revolutionären Drohungen einschüchtern ließ, mit großer Brutalität niedergeschlagen.481 Doch Sergej Aleksandrovič war vorsichtig genug, angesichts der Drohungen des Lokalkomitees der Sozialrevolutionär*innen seinen Wohnsitz zu wechseln. Der neue Wohnort des Großfürsten erschwerte die Arbeit von Savinkovs Leuten, die nun die neuen Wege ihres Opfers ausfindig machen mussten. Noch während sie versuchten, sich mit den neuen Bedingungen zu arrangieren, trat mit dem tragischen „Blutsonntag“ in St. Petersburg das nächste Ereignis ein, das nicht nur die Vorbereitungen des Attentats, sondern auch den Fortgang der Revolution grundlegend verändern sollte. Am 9. Januar 1905 zogen Arbeiter*innen aus den Randgebieten St. Petersburgs in Richtung Innenstadt mit dem Ziel, dem Zaren eine Petition zu überreichen.482 Sie

Deutschland 1901–1905, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 3 (2004), S. 17–30 Ich danke Hartmut Rüdiger Peter für die Hinweise zu den Hallenser Sozialrevolutionären. 478 Vgl. zur Entwicklung des Moskauer Komitees: Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 251–257. 479 Mit einigen Anpassungen zitiert nach: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 100. 480 Vgl. dazu vor allem: Protest pisatelej, in: Revoljucionnaja Rossija, 25. Dezember 1904 Und: Poslednija izvestija. Peterburg: Official′noe soobščenie, in: Russkija Vedomosti, 30. November 1905 Vgl. auch: Ascher, The revolution of 1905, 2004, S. 20. 481 Iz obščestvennoj žizn, in: Revoljucionnaja Rossija, 25. Dezember 1904. 482 Vgl. zum Blutsonntag z. B. Ascher, The revolution of 1905, 2004, S. 21–30; Walter Sablinsky, The road to Bloody Sunday. Father Gapon and the St. Petersburg massacre of 1905, Princeton, N.J 1976.

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wurden angeführt von dem Priester Georgij Gapon, der im Auftrag des Polizeidepartements unter dem Direktor der Sonderabteilung der Polizei im Innenministerium, Sergej Zubatov, einen Arbeiterverband gegründet hatte. Dieser von der Obrigkeit organisierte Verband verfolgte das Ziel, die Forderungen der Arbeiter*innen in einer legalen Gewerkschaft zu kanalisieren und damit der politischen Opposition das Wasser abzugraben.483 Gapons Arbeiterverband wuchs rasch auf 6.000 bis 8.000 Personen an und entzog sich zunehmend dem Zugriff des Polizeidepartements, das sich nach der Entlassung Zubatovs nicht mehr mit dem Projekt der Gewerkschaft identifizierte. Im Dezember 1904 bestreikten die Arbeiter*innen des Verbandes die Putilov-Werke, andere Arbeiter*innen schlossen sich rasch an. Am 5. Januar 1905 fasste Gapon den Plan, dem Zaren eine Petition im Rahmen einer großen, religiösen Prozession zu überreichen. Er informierte die städtische Verwaltung über dieses Vorhaben. Niemand teilte ihm mit, dass dieses Vorgehen für die Obrigkeit inakzeptabel war, obwohl bereits am 7. Januar feststand, dass Gapon nicht gestattet werden würde, eine Petition zu überreichen. Der Zar hielt sich gar nicht in St. Petersburg auf. Die Hofcamarilla, allen voran sein Onkel Vladimir Aleksandrovič, der Kommandierende des Petersburger Militärbezirks, hatte auf ihn eingewirkt, die Arbeiter*innen nicht zu empfangen. Nikolaus II. ließ den Oberbefehl in den Händen des Großfürsten Vladimir Aleksandrovič und verließ die Stadt in Richtung Carskoe Selo. Ebenfalls war es bereits beschlossene Sache, dass die marschierenden Arbeiter*innen nicht in die Innenstadt vorgelassen werden dürften. Es war gerade diese Form der Straßenpolitik, welche die Regierung fürchtete. Wenn der Zar, so die Befürchtung, den Forderungen demonstrierender Arbeiter*innen nachgäbe, werde die Protestbewegung auf der Straße ermutigt und damit dem revolutionären Furor Tür und Tor geöffnet.484 Wieder eskalierte also ein Kampf um das symbolische Terrain des zentralen Rayons St. Petersburgs. Nach bewährtem Muster versuchten die Arbeiter*innen, sich Gehör zu verschaffen, indem sie ihre Forderungen in die städtischen Räume hineintrugen, die nach allgemeiner Überzeugung die Sphäre des Zaren und der gehobenen Gesellschaft waren. Ihr Normverstoß bestand bereits darin, dass sie als Gruppe, die sich deutlich als Arbeiterschaft identifizierte, dieses Territorium betreten wollten. Doch obwohl der Obrigkeit klar war, dass sie diesen Übergang ins Stadtzentrum, der offiziell durch Gapon angekündigt worden war, um jeden Preis verhindern wollte, gab sie kein klares Signal an den Priester oder andere Mitglieder der von der Polizei protegierten Gewerkschaft. Am 9. Januar 1905 zogen aus den unterschiedlichen Arbeiterbezirken große Menschenmengen in Richtung Winterpalais. Während die Arbeiter*innen in Gruppen, die 483 Vgl. zur Vorgeschichte auch: Jeremiah Schneiderman, Sergej Zubatov and revolutionary marxism. The struggle for the working class in tsarist Russia, Ithaca 1976, S. 173–192. Und aktueller Sergej A. Nefedov, Istoki 1905 goda. „Revoljucija izvne“?, in: Voprosy istorii (2008), H. 1, S. 47–69. 484 Vgl. z. B. Ascher, The revolution of 1905, 2004, S. 26; Surh, 1905 in St. Petersburg, 1989, S. 155–166.

Das Attentat der Kampforganisation auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič

sich als religiöse Prozessionen formierten, beteten und Zaren- bzw. Heiligenbilder trugen, marschierten an den Grenzen der Innenstadtbezirke, wie z. B. am Narva-Tor, militärische Kommandos auf, die auf die Demonstrierenden schossen. Offizielle Berichte meldeten 130 Tote und etwa 300 Verwundete. Die tatsächlichen Zahlen dürften bei 1.000 Toten und mehreren Tausend Verwundeten gelegen haben. Unter ihnen waren zahlreiche Frauen und Kinder. Gapon konnte mit Hilfe des Sozialrevolutionärs Pёtr (Pinchas) Rutenberg entkommen und trat im Anschluss selbst mit Hilfe der sozialrevolutionären Medien an die Öffentlichkeit.485 Der 9. Januar 1905 ging als „Blutsonntag“ in die Geschichte der Russischen Revolution ein. Dieser Name markierte ein kommunikationspolitisches Desaster für die zarische Obrigkeit. Weil die Arbeiter*innen an die mythische Verbindung zwischen Volk und Zar appellierten, hätte für Nikolaus II. die Chance bestanden, sich mit Hilfe der allergeringsten Zugeständnisse der Loyalität der Arbeiter*innen zu versichern. Stattdessen erregte das Massaker, mit dem wie in Zlatoust russisches Militär Zivilisten, Frauen und Kinder niedermetzelte, die öffentliche Meinung im gesamten Russischen Reich und weit darüber hinaus.486 Mit dem „Blutsonntag“ wurde das Vertrauen der Arbeiter*innen und Bäuer*innen in die Verbindung von Zar und Volk erschüttert. Die Brutalität des Militärs löste Empörung und Entsetzen in weiten Teilen der Bevölkerung aus. Eine emotionale Gemeinschaft der Empörten bildete sich, die weit über die Arbeiterschaft hinausging. Die Revolution trat in eine neue Phase ein. Innerhalb kürzester Zeit verbreitete sich die Nachricht vom Massaker im ganzen Reich und weit darüber hinaus.487 Überall wurden revolutionäre Versammlungen abgehalten, auf denen die Regierung verurteilt und Geld für die Hinterbliebenen gesammelt wurde. Die Forderungen der Zemstva radikalisierten sich ebenso wie die der Studierenden und der liberalen Bankettbewegung. Die Arbeiter*innen stießen eine allgemeine Streikbewegung an: Bereits am 10. Januar erschienen 160.000 Arbeiter*innen in St. Petersburg nicht zur Arbeit. Die Streikwelle breitete sich rasch nach Moskau, Warschau, Vil′na, in die baltischen Provinzen und in den Kaukasus aus. Allein im Januar beteiligten sich 414.000 Arbeiter*innen an den Protesten durch Niederlegung der Arbeit. Damit hatte die Petersburger Obrigkeit es geschafft, der Arbeiterschaft ein revolutionäres Klassenbewusstsein zu verleihen und sie zu einer Arbeiterbewegung zu formen. Vor diesem Hintergrund ist es besonders bemerkenswert, dass die Sozialdemokrat*innen sich nicht an den Vorbereitungen zu den Prozessionen am 9. Januar

485 Vgl. z. B. Gerassimoff, Der Kampf gegen die erste russische Revolution, 1934, S. 37–44. Vgl. auch den offenen Brief Gapons in der Revoljucionnaja Rossija: Georgij Gapon, Otkrytoe pis′mo k socialističeskim partijam Rossii, in: Revoljucionnaja Rossija, 10. Februar 1905. Zu Gapon auch: Weber, Zur Russischen Revolution von 1905, 1989, S. 185. 486 Ascher, The revolution of 1905, 2004, S. 26. Vgl. auch den Zeitgenossen: Weber, Zur Russischen Revolution von 1905, 1989, 173, 185. 487 Vgl. auch: Ebd., S. 40–41.

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beteiligt hatten, anders als einige Sozialrevolutionär*innen, wie etwa der Retter Gapons, Pinchas Rutenberg.488 Der 9. Januar 1905 beeinflusste auch die Vorbereitungen auf die Attentate der Kampforganisation. Während die PSR in der Revoljucionnaja Rossija vom 20. Januar 1905 versuchte, die Märtyrer*innen des Blutsonntags in die eigene Traditionslinie der gefassten und verurteilten Terroristen Karpovič, Balmašev und Sazonov zu integrieren,489 wurde für die aktiven Terrorist*innen die Situation durch die Eskalation der revolutionären Ereignisse zunächst schwieriger. Sergej Aleksandrovič wechselte aus Angst vor der Gewalt der Straße abermals seinen Wohnsitz. Er „verkroch sich“ im Nikolaus-Palais im Kreml, der ehemaligen Moskauer Residenz von Nikolaus I.490 Savinkovs Leute mussten nun im Kreml observieren. Zwar beobachteten sie die Ausfahrten des Großfürsten in Richtung seiner Kanzlei an der Tverskaja, konnten aber keine regelmäßigen Wege feststellen, wie sie für einen Anschlag notwendig gewesen wären.491 In Kiew hatte Borišanskij bereits aufgegeben, weil er nicht über genügend Kräfte verfügte, um den Generalgouverneur Klejgels ausreichend zu beobachten. In St. Petersburg überstürzten sich die Ereignisse. Švejcers Kommando war, so die Erinnerungen Savinkovs, mit der Observation weit genug vorangeschritten, um einen Anschlag auf Trepov auszuführen, versuchte aber, spontan ein Attentat auf den Justizminister Murav′ev zu inszenieren, das allerdings scheiterte.492 Ende Januar änderte Švejcer seine Pläne abermals und hoffte nun, Vladimir Aleksandrovič, den Hauptschuldigen des „Blutsonntags“ umzubringen.493 „Die Gerechten“ (Albert Camus)

In Moskau versuchte Savinkov, über die Zeitungen Hinweise auf die Aktivitäten des Großfürsten zu erhalten. Am 2. Februar, so erfuhr Savinkov aus der Zeitung, sollte im Bol′šoj Theater eine Benefiz-Veranstaltung unter der Schirmherrschaft der Großfürstin Elizaveta Fedorovna stattfinden. Die Kampforganisation vermutete, dass Sergej Aleksandrovič sich an diesem Abend ebenfalls in Richtung Theater aufmachen würde, und plante den Anschlag für den 2. Februar 1905. An diesem Abend ging zunächst alles nach Plan. Savinkov verteilte die Bomben an die beiden Werfer Petr Kulikovskij Ascher, The revolution of 1905, 2004, S. 27. K oružiju! aus: Revoljucionnaja Rossija, Nr. 58, 20.1.1905, in: Erofeev (Hg.), Partija socialistov-revoljucionerov, 1996, S. 171–172. 490 Dieser Wechsel des Wohnortes wurde ihm als Feigheit ausgelegt: Slain Grand Duke Was The Czar’s Evil Genius, in: New York Times, 18. Februar 1905. 491 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 104–105. 492 Ebd., S. 108–110. 493 Ebd., S. 112. 488 489

Das Attentat der Kampforganisation auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič

und Ivan Kaljaev, die sich an den beiden Strecken aufstellten, welche die Kutsche des Großfürsten auf dem Weg zum Bol′šoj Theater nehmen konnte: Kaljaev stand auf dem Voskressenskij Platz am Stadthaus und Kulikovskij auf der Straße, die durch den Alexandergarten führte. Um kurz nach acht Uhr sah Kaljaev den Wagen des Großfürsten durch das Nikol′skijtor kommen. Er ging dem Wagen entgegen, hob die Hand mit der Bombe und wollte diese gerade werfen, als er nicht nur den Großfürsten, sondern auch seine Frau und die Kinder des Großfürsten Paul, Marija und Dmitrij, in der Kutsche erblickte. Daraufhin brach er das Attentat ab, drehte sich um und ging unerkannt seiner Wege.494 Die Verschonung der unschuldigen Kinder und der Frau des Großfürsten hat wesentlich zur Rezeption und zum Mythos nicht nur des sozialrevolutionären Terrorismus im Allgemeinen, sondern vor allem der Person Ivan Kaljaevs beigetragen.495 Savinkov schmückte diese Tat weiter aus, indem er betonte, welches Risiko Kaljaev eingegangen war: Er wusste, wieviel er aus eigener Initiative riskiert hatte, als er eine so einzigartige Gelegenheit zur Ermordung verstreichen ließ: er hatte nicht nur sich selber, er hatte die ganze Organisation aufs Spiel gesetzt. Man hätte ihn mit der Bombe in der Hand am Wagen verhaften können, und dann hätte das Attentat auf lange Zeit verschoben werden müssen. Ich sagte ihm allerdings, dass ich seine Handlungsweise nicht nur nicht verurteile, sondern sogar hochschätze.496

Sowohl Kaljaevs Tat als auch Savinkovs Reaktion haben zu der Bewertung der Terrorist*innen als moralisch hochstehende Persönlichkeiten geführt. Für Isaak Steinberg begründete vor allem Kaljaev den Heldenmut und die „Fernstenliebe“, die für den „heroischen Terrorismus“ kennzeichnend waren.497 Das Opfer Kaljaevs, Sergej Aleksandrovič, bezeichnete er demgegenüber als „Schande der Menschheit“.498 Albert Camus stellte Savinkovs Moskauer Kommando in den Mittelpunkt seines Dramas „Die Gerechten“.499 Er rühmte das Gewissen der Terrorist*innen als „Präzisionsinstrument“ und nannte sie „zartfühlende Mörder“.500 Hans Magnus Enzensberger zog

494 Vgl. dazu vor allem: Mandel′štam, 1905 god v političeskich processach, 1931, S. 247. Oder abermals: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S.  115–117; Spiridovitch, Histoire du Terrorisme Russe 1886–1917, 1930, S. 240. 495 Vgl. dazu z. B. die biographischen Angaben in: Černov, V partii socialistov-revoljucionerov, 2007, S. 453. 496 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 116–117. 497 Steinberg, Gewalt und Terror in der Revolution, 1931, S. 182–187. 498 Ebd., S. 185. 499 Camus, Die Gerechten, 1976. 500 Camus, Der Mensch in der Revolte, 282011, S. 183.

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das Beispiel Kaljaevs heran, wenn er den Terrorist*innen einen hohen „moralischen Rang“ zusprach und sie „schöne Seelen des Terrors“ nannte.501 Alle Quellen über dieses Ereignis repräsentieren die Perspektive der Terrorist*innen, deshalb ist es schwer, zwischen tatsächlicher Einstellung und Selbstinszenierung zu unterscheiden. Den Terrorist*innen war wohl bewusst, dass sie mit ihrer gewaltsamen Kommunikationsstrategie um die öffentliche Meinung ringen und den „Kampf um moralische Überlegenheit“, wie Laura Engelstein es treffend formuliert hat,502 gewinnen mussten. Ihnen war auch klar, dass ihre Taten auch unschuldige Opfer forderten. Über diese Bedenken setzten sie sich oft genug hinweg, indem sie die zufälligen Opfer der Bedeutung des eigentlichen Zieles unterordneten. So echauffierte sich etwa Kaljaev der Erinnerung seines Anwaltes Mandel′štam nach darüber, dass bei seiner Verhandlung nicht nur der Tod des Großfürsten, sondern auch der des Kutschers verhandelt wurde. Auch Mandel′štam fand es heuchlerisch, dass bei Gericht darüber verhandelt wurde, „dass Kaljaev beim Werfen der Bombe des Kutschers Leben in Gefahr gebracht hatte“, und beschuldigte die Richter, „Krokodilstränen“ über dessen Schicksal zu vergießen.503 Wichtig für den Kampf um die öffentliche Meinung war aber die ritterliche Rücksichtnahme auf Frauen und Kinder, gerade weil der Vorwurf der Revolutionär*innen an die Obrigkeit immer wieder lautete, rücksichtslose Gewalt gegen Frauen und Kinder auszuüben. Ob bei den Niederschlagungen der Studentendemonstrationen in St. Petersburg, der Bekämpfung der Bauernunruhen in Char′kov und Poltava, den Massakern an den Arbeiter*innen in Zlatoust, in Kišinev und während des Blutsonntags in St.  Petersburg  – stets warfen die Revolutionär*innen der Obrigkeit vor, diese sei mit besonderer Brutalität und Rücksichtslosigkeit auch und vor allem gegen Frauen und Kinder vorgegangen. Der Vorwurf der Brutalität, der Vergewaltigung und Schändung von Frauen wurde so häufig in den Flugblättern der Sozialrevolutionär*innen erhoben, dass er schließlich zur revolutionären Metapher wurde.504 Der Topos von der Obrigkeit als Vergewaltiger, der das tugendhafte Volk, personifiziert von einer unschuldigen, schwachen Jungfrau, schändet, taucht in der veröffentlichten Meinung der Revolutionszeit immer wieder auf.

501 Hans M. Enzensberger, Die schönen Seelen des Terrors, in: Politik und Verbrechen. Neun Beiträge, Frankfurt am Main 31990, S. 327–360, hier S. 343. 502 Engelstein, Weapon of the weak (Apologies to James Scott), 2003, S. 685. 503 Mandel′štam, 1905 god v političeskich processach, 1931, S. 251. 504 Vgl. z. B. Central′nyj komitet partii socialistov-revoljucionerov, Ko vsem rabočim, in: Revoljucionnaja Rossija, 28. Juli 1904; Central′niy komitet partii socialistov-revoljucionerov, Ko vsem graždanam civilizovannogo mira, in: Revoljucionnaja Rossija, 28. Juli 1904; Central′nyj komitet partii socialistov-revoljucionerov, Ko vsemu russkomu krest′janstvu, in: Revoljucionnaja Rossija, 28. Juli 1904.

Das Attentat der Kampforganisation auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič

Abb. 4 Karikatur „Nach dem „historischen Tag“ – 17. Oktober“ aus der Sammlung des Sozialrevolutionärs V. S. Minarchorjan aus der Zeit vor 1907. 505

Auf dieser Karikatur, die sich auf die Straßenkämpfe und Pogrome im Anschluss an das Oktobermanifest vom 17. Oktober 1905 bezieht, wird dieser Topos bildlich realisiert. Die Staatsgewalt in Gestalt des Generalgouverneurs Dmitrij Trepovs, der mit seiner üblichen Uniform ausgestattet, stark und bewaffnet ist, greift eine zarte und kleine Frau an, die bereits Spuren von gewaltsamen Übergriffen am Körper trägt. Diese Frau ist die allegorische Verkörperung Russlands, sie repräsentiert die allgemeine Befreiungsbewe-

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Minachorjan – Album with prints of photographs, IISG, Archiv PSR f. 596.

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gung. Sie ist unbewaffnet und trägt nur ein Banner mit einer Aufschrift, mit der eine allgemeine Volksvertretung (aller Völker und aller Klassen) gefordert wird. Trepov würgt sie und hat zugleich sein Schwert gezückt, er ist im Begriff, sie damit zu erschlagen. Von diesem einflussreichen Narrativ profitierte auch die sozialrevolutionäre Terroristin Marija Spiridonova.506 Die 21-jährige Marija Spiridonova verübte am Borisoglebsker Bahnhof am 16. Januar 1906 ein Attentat auf den örtlichen Sicherheitschef Gavriil Luženovskij. Der Anwalt und Landbesitzer führte die lokale Gruppe der rechtsnationalistischen „Union des Russischen Volkes“ an und wurde für die grausamen Strafexpeditionen gegen die Bäuer*innen im Tambovsker Gouvernement verantwortlich gemacht. Am 12. Februar 1906 erschien in einer liberalen St. Petersburger Zeitung ein Brief der Spiridonova, in dem sie von ihrer Gefangennahme, dem Gefängnisaufenthalt und von Folter durch die Kosaken berichtet. Zwischen den Zeilen deutet sie an, sexuell missbraucht worden zu sein. Spiridonova ist in diesem Narrativ eine tugendhafte junge Frau, sexuell unschuldig, attraktiv und ethnisch russisch, die von den Vertretern des Staates vergewaltigt und missbraucht wird. Ihre terroristische Aktion wird dadurch zur vorweggenommenen Selbstverteidigung. Der Fall Spiridonova symbolisiert eine Lesart des Terrorismus, nach der dieser die moralische Antwort auf die Übergriffe des Staates gegenüber dem tugendhaften Volk ist. Der Staat wird in dieser Erzählung zum Vergewaltiger und der Terrorist bzw. die Terroristin, die das Volk repräsentiert, zur geschändeten Jungfrau.507 Dieser Geschlechterdiskurs bezieht sich zunächst auf Frauen, die als schwach und schutzbedürftig definiert werden. Diese Vorstellung des weiblichen Geschlechts erklärt auch die Rolle, die Kinder in diesem Narrativ spielen. Da Kinder ebenfalls als unschuldig, wehrlos, schwach und schutzbedürftig wahrgenommen werden, können sie in diesem Diskurs der Vorstellung von Weiblichkeit zugeordnet werden. So ist in den Texten, in denen die Übergriffe der Obrigkeit gegenüber den Schwachen thematisiert werden, auch häufig von „Frauen und Kindern“ die Rede.508 Kinder steigern die angenommene Unschuld und Schwäche der Geschlechterrolle nochmals. Vor dem Hintergrund dieses einflussreichen Narrativs ist es wichtig, dass die Terrorist*innen sich als Antithese zu dieser obrigkeitlichen Gewalt gegenüber Frauen und Kindern begreifen. Ihre „Ritterlichkeit“, die zunächst angesichts der wichtigen Rolle, die Frauen in der revolutionären Bewegung spielen, erstaunt, weil sie den Frauen oftmals eine bourgeoise Rolle zuweist, erklärt sich so als wichtiger Teil des revolutionären Selbstverständnisses. So weigerte sich Boris Vnorovskij, eine Bombe auf den Moskauer Stadthauptman Dubasov zu werfen, wenn dieser von seiner Frau begleitet

506 Vgl. zu Spiridonova vor allem: Isaac Nachman Steinberg, Maria Spiridonova. (ir lebn un kamf), Varshe 1936; Boniece, The Spiridonova case, 1906, 2003, S. 571–606. 507 Vgl. dazu ausführlich: Boniece, The Spiridonova case, 1906, 2003, S. 571–606; Hilbrenner, Gewalt als Sprache der Straße, 2008, S. 409–432. 508 Vgl. z. B. über das Massaker in Zlatoust: Snova krov′, in: Iskra, 1.4.1903.

Das Attentat der Kampforganisation auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič

werden würde.509 Savinkov verhinderte, dass Dora Brilliant persönlich an einem Bombenattentat teilnahm: „Ich begründete meine Ablehnung damit, daß man meiner Meinung nach eine Frau bei einem terroristischen Akt nur dann einsetzen dürfe, wenn die Organisation ohne sie nicht auskommen könne.“510 Später argumentierte er gegen den Einsatz einer schwangeren Frau bei der Vorbereitung von Bomben: „Ich sagte, dass auch ich keineswegs am Wissen, der Hingabe und Aufopferungsbereitschaft der Popova zweifele, dass ich aber nicht zustimmen könne, dass in einer Organisation mit mir zusammen, mit meinem Wissen und Billigung eine schwangere Frau einem so großen Risiko ausgesetzt würde.“511 Mit dieser Auffassung setzte sich Savinkov ausdrücklich von Azef ab, der diese „ritterliche“ Einstellung nicht teilen, sondern die Terroristinnen genauso wie ihre männlichen Genossen behandeln wollte. Dass damit in Savinkovs Narrativ Azef als jemand gezeichnet wird, der als Provokateur innerlich auf der Seite der Obrigkeit steht, ist eine mögliche Interpretation dieser Auseinandersetzung. Beispiele für diese „ritterliche“ Haltung gibt es, vor allem in den „Erinnerungen eines Terroristen“, viele. Es entsprach also offensichtlich dem revolutionären und terroristischen Selbstverständnis Ivan Kaljaevs, Frau und Adoptivkinder von Sergej Aleksandrovič zu verschonen. Gleichzeitig wirft diese „ritterliche“ Haltung ein bezeichnendes Licht auf die ambivalente Rolle, die Frauen als Opfer und als Täterinnen in der Wahrnehmung der Terrorist*innen spielten. Nachdem Kaljaev die Bombe am Mittwoch, den 2. Februar 1905 nicht geworfen hatte, irrte er mit Savinkov und dem zweiten Werfer, Petr Kulikovskij, sowie den Bomben durch die Nacht. Erst am nächsten Morgen konnten die beiden Werfer aus Moskau wegfahren. Aufgrund ihrer Beobachtungen der Wege des Großfürsten schätzten die Verschwörer*innen, dass Sergej Aleksandrovič sich am Freitag, den 4. Februar am frühen Nachmittag wieder in seine Kanzlei begeben würde. Deshalb verabredeten sie sich für diesen 4. Februar zwecks Übergabe der Bomben, die durch die Verzögerung von Dora Brilliant wieder entschärft und erneut mit Sprengstoff gefüllt werden mussten. Diese Aufgabe bedeutete eine besondere Gefahr für die Bombenbauer*innen, in diesem Falle Dora Brilliant, wie der tödliche Unfall Pokotilovs nur allzu deutlich gezeigt hatte. Am 4. Februar erschien Petr Kulikovskij nicht zur verabredeten Zeit. Die Strapazen der Nacht des erfolglosen Versuches am 2. Februar hatten ihn zu sehr erschöpft, und er traute sich die Teilnahme an einem Anschlag nun nicht mehr zu. Aufgrund des Rückzugs von Kulikovskij stand nur ein Bombenwerfer zur Verfügung. Entgegen den Wünschen Savinkovs entschied Ivan Kaljaev, dass er das Attentat alleine durchführen wolle.

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Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 259. Ebd., S. 59. Ebd., S. 256.

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Diese spontane Reaktion auf die neuen Gegebenheiten bedeutete eine Abweichung von der Methode, die sich beim Anschlag auf Pleve bewährt hatte. Kaljaev war abermals gekleidet wie ein Bauer,512 er nahm die Bombe und verabschiedete sich am Gostinyj Dvor, am Roten Platz, von Savinkov. Von dort aus begab er sich zur Iberischen Pforte (auch Auferstehungstor), um die Ausfahrt des Großfürsten durch das Nikol′skijtor zu beobachten. Dort sah er die Kutsche, die zur Ausfahrt bereitstand. Kaljaev hatte noch genügend Zeit, um das Historische Museum zu umrunden, das Nikol′skijtor und schließlich das Gerichtsgebäude zu erreichen.513 Dort traf er um 14:45 Uhr auf den Großfürsten, der gerade seinen Wagen bestiegen hatte, um durch das Nikol′skijtor auf die Tverskaja Straße zu fahren.514 Kaljaev warf die Bombe aus so geringer Entfernung, dass er seinen eigenen Tod billigend in Kauf nahm: Gegen alle meine Bestrebungen blieb ich am 4. Februar am Leben. Ich warf die Bombe auf vier Schritt Distanz, nicht mehr, im Anlauf, direkt, ich wurde vom Wirbel der Explosion erfaßt, sah, wie der Wagen explodierte.515

Es war dieser Wille zum Selbstopfer, der neben der Verschonung der Großfürstin und der Adoptivkinder des Großfürsten zu seiner mythischen Überhöhung als Märtyrer beitrug.516 Kaljaev wurde trotz seines Einsatzes nur leicht verletzt. Splitter hatten seine Kleidung zerfetzt, sein Gesicht war voller Blut. Er bückte sich nach seiner Mütze, und als er den Tatort verlassen wollte, wurde er von den Polizisten, die mit einem Schlitten in geringer Entfernung hinter dem Großfürsten herfuhren, festgenommen.517 Er gab sich nicht zu erkennen, und so erhob die Polizei Anklage gegen einen unbekannten Mann, gekleidet wie ein Bauer, um die 30 Jahre alt, mit einem Pass, der auf den Namen Aleksej Šil′nik aus Vitebsk ausgestellt war.518 Vom Tatort wurde der Attentäter zunächst auf das Stadtrevier gebracht und schließlich auf das Revier an der Jakimanka in eine Zelle.519 512 Vgl. dazu z. B. auch einen der besten und ausführlichsten Berichte über das Geschehen von dem britischen Diplomaten H. Montgomery Grove. Es ist für den topographischen Ansatz dieser Arbeit interessant, dass Grove seinem Bericht einen genauen Plan beigab: H. Montgomery Grove, Letter to Sir C. Hardinge. Moscow 21. February 1905 [N. S.], in: Dominic Lieven (Hg.), British documents on foreign affairs / Part 1 / Series A. Reports and papers from the Foreign Office confidential print, Frederick 1983, S. 41. 513 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 124–125. 514 Obvinitel′nyj akt. O neizvestnago zvanija čelovek, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Ivan Platonovič Kaljaev. (Otdel′nyj ottisk iz „Rev. Ross.“), o. O. 1905, S. 16–18. 515 Ivan Platonovič Kaljaev, Poslednija pis′ma I. Kaljaeva. Pis′ma k tovariščam, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Ivan Platonovič Kaljaev, 1905, S. 41–45, hier S. 43–45. Deutsche Übersetzung mit Anpassungen zitiert nach: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 125. 516 Vgl. dazu vor allem: Steinberg, Gewalt und Terror in der Revolution, 1931, S. 181–186. 517 Grove, Letter to Sir C. Hardinge, 1983, S. 41. 518 Obvinitel′nyj akt, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Ivan Platonovič Kaljaev, 1905, S. 16–18. 519 Kaljaev, Poslednija pis′ma I. Kaljaeva, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Ivan Platonovič Kaljaev, 1905, S. 41–45. Deutsche Übersetzung mit Anpassungen zitiert nach: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 126.

Das Attentat der Kampforganisation auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič

Ähnlich wie bei dem Attentat auf Pleve verursachte die Explosion der Bombe eine Sensation, die nun schon deutlich als Handschrift der Kampforganisation der PSR zu erkennen war. In der Parteizeitung der PSR, der Revoljucionnaja Rossija, wurde der Bericht eines Augenzeugen abgedruckt: Die Bombe explodierte gegen 2.45 Uhr. Die Explosion war bis in die entferntesten Stadtteile Moskaus zu hören. Besonders im Gerichtsgebäude gab es einen großen Tumult. Denn vielerorts liefen Verhandlungen, überall in den Kanzleien wurde gearbeitet, als sich die Explosion ereignete.520

Die Erinnerungen Savinkovs sprechen dagegen, dass die Explosion weithin zu hören war. Bereits in der nahe gelegenen Straße Kuzneckij most hatte er die Detonation nicht mehr als solche wahrgenommen.521 Für die vielen Menschen aber, die sich in unmittelbarer Nähe der Explosion aufhielten, war der Eindruck erschreckend und überwältigend. Abermals also fand das Attentat vor großem Publikum statt, was wiederum für den performativen Gehalt des Anschlags spricht. Nach einer langen Phase konspirativer Geheimhaltung trat der Terrorist Ivan Kaljaev, der seine Tat kaum erwarten konnte, mit dem großen Knall der Explosion an die Öffentlichkeit. Von diesem Zeitpunkt an war er, selbst als anonymer Täter, eine wichtige politische Person. Der Polizei gegenüber hielt er seine Identität geheim, aber er gab sich sofort als Mitglied der Kampforganisation der PSR zu erkennen.522 Um diese Zuordnung auch in der Öffentlichkeit zu erreichen, erschienen in den nächsten Tagen kleine Flugblätter der PSR mit der knappen Mitteilung: Am Freitag, den 4. Februar 1905, um drei Uhr nachmittags hat ein Mitglied der Kampforganisation der Partei der Sozialrevolutionäre den Großfürsten Sergej Aleksandrovič Romanov wegen Verbrechen gegen das Volk hingerichtet. Kampforganisation Partei der Sozialrevolutionäre523

Die Explosion selbst war ein sensationelles Ereignis für die vielen Menschen, die sich in unmittelbarer Nähe des Tatorts befanden. Ähnlich wie bei dem Attentat auf Pleve verstärkte der Rauch der Bombe, der die Szenerie zunächst verbarg, schließlich aber enthüllte, den performativen Charakter des Anschlags. Dies geht nicht nur aus dem Bericht des britischen Diplomaten Grove hervor.524 Als Erster war der Polizist

4-e fevralja 1905 g., in: Revoljucionnaja Rossija, 5. März 1905 Deutsche Übersetzung zitiert nach: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 126–127. 521 Ebd., S. 124. 522 Obvinitel′nyj akt, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Ivan Platonovič Kaljaev, 1905, S. 16–18. 523 Boevaja Organizacija PSR, Proklamation nach der „Hinrichtung von Sergej Aleksandrovič, [nach dem 4.2.1905], IISG, Archiv PSR f. 738. 524 Grove, Letter to Sir C. Hardinge, 1983, S. 41. 520

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Leont′ev am Tatort und nahm Kaljaev fest.525 Er gab seine Eindrücke gegenüber der New York Times zu Protokoll: Ein blendender Blitz und eine schreckliche Detonation folgten, die Wucht der Explosion zerlegte den Wagen in Splitter. Die Luft war erfüllt von einem roten Nebel, Blut spritzte bis in eine Entfernung von etwa 90 Meter. Das zu Tode erschrockene Pferd preschte voran und schleifte den Kutscher hinter sich her.526

Der Kutscher Andrej Rudinkin wurde durch die Explosion lebensgefährlich verletzt. Auch wenn er sich zunächst zu erholen schien,527 erlag er wenig später doch seinen Verletzungen.528 Der Augenzeuge aus der Revoljucionnaja Rossija schilderte weitere Eindrücke derjenigen, die sich in der Nähe befanden: Manche hielten es für ein Erdbeben, andere wiederum meinten, das alte Gerichtsgebäude stürze ein. Die Fenster an der Fassade waren alle zerbrochen, die Richter, die Kanzlisten hatte es von den Stühlen gerissen.529

Wiederum wurden die zersplitterten Scheiben der Fenster zum Symbol für die zerstörerische Kraft der Bombe. Auch der knappe Polizeibericht und der Bericht von Montgomery Grove erwähnten die zerstörten Fenster am Gerichtsgebäude und am gegenübergelegenen Arsenal.530 Die Zerstörung, welche die Bombe angerichtet hatte, war gewaltig. Sie zerschmetterte die Kutsche und vor allem den Körper des Großfürsten: Am Hinrichtungsplatz lag ein formloser, etwa einen halben Meter hoher Haufen aus winzigen Splittern der Kutsche, Kleidungsfetzen und einem verunstalteten Körper. […] Der Kopf war weg; von den übrigen Körperteilen waren nur ein Arm und Teile eines Beines zu erkennen.531

Auch der Polizeibericht gab zu erkennen, dass der Körper des Großfürsten durch die Bombe zerfetzt worden war.532 Der Korrespondent der New York Times berichtete, dass auch am folgenden Tag noch Teile des Körpers auf der Brüstung des Arsenals zwiObvinitel′nyj akt, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Ivan Platonovič Kaljaev, 1905, S. 16–18. Remains Lie in State. Foreign Royalties to Attend Funeral – Assasin Not a Mujik, in: New York Times, 19. Februar 1905 Vgl. dazu auch nochmals: Grove, Letter to Sir C. Hardinge, 1983, S. 41. 527 Zdorov′e kučera Andreja Rudinkina, in: Russkoe Slovo, 6. Februar 1905. 528 Končina Andreja Rudinkina, in: Russkoe Slovo, 9. Februar 1905; Obvinitel′nyj akt, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Ivan Platonovič Kaljaev, 1905, S. 16–18. 529 4-e fevralja 1905 g., in: Revoljucionnaja Rossija, 5. März 1905 Deutsche Übersetzung zitiert nach: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 127. 530 Obvinitel′nyj akt, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Ivan Platonovič Kaljaev, 1905, S. 16–18. 531 4-e fevralja 1905 g., in: Revoljucionnaja Rossija, 5. März 1905 Deutsche Übersetzung zitiert nach: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 127. 532 Obvinitel′nyj akt, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Ivan Platonovič Kaljaev, 1905, S. 16–18 Vgl. dazu auch: Grove, Letter to Sir C. Hardinge, 1983, S. 41. 525 526

Das Attentat der Kampforganisation auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič

schen den Waffen aus napoleonischer Zeit gefunden worden wären.533 Diese schreckliche Zerstückelung des Leichnams des Großfürsten gab nicht nur Zeugnis von der zerstörerischen Kraft der Bombe, sie beraubte das Ende von Sergej Aleksandrovič auch jeder Würde. Vor dem Hintergrund der Tradition von aufgebahrten und einbalsamierten Körpern innerhalb der Dynastie der Romanovs und der Bedeutung der Unversehrtheit der körperlichen Hülle auch nach dem Tod wog die groteske Situation, dass kein vollständiger Körper betrauert und beigesetzt werden konnte und dass noch Tage später sterbliche Überreste an den entlegensten Orten aufgefunden wurden, für die trauernde Familie von Sergej Aleksandrovič schwer. Auch für die unmittelbaren Augenzeug*innen war die Zerstückelung der Leiche des Großfürsten schockierend.534 Das Grauen lähmte diejenigen, die zugegen waren. Einer der wachhabenden Offiziere bedeckte die Überreste des Großfürsten mit seinem Mantel,535 doch die Polizei sah weitgehend tatenlos zu. „Ein Lakai wandte sich mit der Bitte an die Leute, die Mützen abzunehmen, aber niemand in der Menge rührte sich, niemand nahm die Mütze ab oder ging weg.“536 Die Lähmung oder Gleichgültigkeit der Menge mochte von dem schockierenden Erlebnis herrühren, vielleicht war sie aber auch bereits ein Zeichen dafür, dass der ungeliebte Generalgouverneur nur von den wenigsten wirklich betrauert wurde. So berichtete auch Montgomery Grove in seinem Bericht nach England: „My informant added that the thing which also struck him was the stolidity, one might almost say apathy, of the crowd.“537 Noch stärker wird diese merkwürdige Stimmung im Augenzeugenbericht in der Revoljucionnaja Rossija betont. Angesichts der trauernden Witwe fiel die Apathie der Umstehenden umso deutlicher auf: Da stürzte Elizaveta Fedorovna im Umhang, aber ohne Hut zu dem formlosen Haufen. Alle standen herum mit den Mützen auf dem Kopf. Die Fürstin bemerkte es. Sie lief von einem zum anderen und schrie: ‚Schämt ihr euch nicht, hier zu stehen und zuzuschauen! Geht weg!‘538

Elizaveta Fedorovna rieb sich in ihrer Trauer und Entrüstung unwillkürlich an der Performativität des Ereignisses. Anders als der Lakai rügte sie die Menge nicht dafür, dass

533 Funeral to be on Thursday. More Fragments of Grand Duke’s Body Found, in: New York Times, 20. Februar 1905. 534 4-e fevralja 1905 g., in: Revoljucionnaja Rossija, 5. März 1905 Deutsche Übersetzung zitiert nach: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 127. 535 Grove, Letter to Sir C. Hardinge, 1983, S. 41 Vgl. dazu auch: Remains Lie in State, in: New York Times, 19. Februar 1905. 536 4-e fevralja 1905 g., in: Revoljucionnaja Rossija, 5. März 1905 Deutsche Übersetzung zitiert nach: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 127. 537 Grove, Letter to Sir C. Hardinge, 1983, S. 41. 538 4-e fevralja 1905 g., in: Revoljucionnaja Rossija, 5. März 1905. Deutsche Übersetzung zitiert nach: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 127.

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sie keine Zeichen der Trauer offenbarte oder die Mützen auf den Köpfen ließ, sondern sie kritisierte das Zuschauen selbst. Sie empfand es offenbar als besonders empörend, dass der Tod und die Zerstückelung des großfürstlichen Körpers zum Schauspiel geworden waren. Dieser Aspekt war ein zentrales Element innerhalb der kommunikativen terroristischen Praxis, und die trauernde Witwe spürte intuitiv, dass dieses Zurschaustellen ein Teil des Sieges der Terrorist*innen über ihren Mann war. Deshalb wurde anders als bei Pleves Ermordung der Tatort auch rasch, nachdem die Polizei die Kontrolle über die Situation wieder gewonnen hatte, für die Öffentlichkeit gesperrt.539 Wieder bildeten sich unterschiedliche emotionale Gemeinschaften, die sich in aller Öffentlichkeit mit Hilfe der Gefühle Trauer, Freude und Gleichgültigkeit formierten.540 Diese verschiedenen Reaktionen fanden auch in den Zeugnissen über die öffentliche Wahrnehmung des Terroranschlags ihren Niederschlag. Die kommunikative Ausstrahlung des Attentats auf Sergej Aleksandrovič

Die offizielle Reaktion auf die Ermordung des Großfürsten bestand in einer staatlich verordneten Trauer. Am 5. Februar läuteten in Moskau die Glocken aller Kirchen und riefen zu scheinbar unzähligen Trauergottesdiensten.541 Die Zeitungen druckten Nachrufe und berichteten über den Verlauf des Anschlages am 4. Februar 1905, wobei sie ihren Leser*innen die grausamen Details der Folgen der Explosion nicht ersparten.542 In den Zeitungen spielte das Schicksal des Kutschers eine wesentliche Rolle. Andrej Rudinkin hatte den Anschlag zunächst überlebt, dabei aber schwerwiegende Verletzungen erlitten. Am 6. Februar meldete z. B. die liberale Zeitung Russkoe slovo (Russisches Wort), dass Rudinkin sich auf dem Wege der Besserung befinde. Er werde im Krankenhaus von zahlreichen Menschen, Angehörigen, aber auch Repräsentant*innen aller möglichen Institutionen, die ihm als Opfer des Attentats zur Seite stehen wollten, besucht.543 Auch die Großfürstin Elizaveta Fedorovna war bereits am Abend des Attentats an das Krankenbett des Kutschers geeilt.544 Solcherart wurde der verletzte Kutscher zum Helden der Gegner der Terrorist*innen. An seinem Krankenbett versammelte sich in symbolischer Weise jene emotionale Gemeinschaft, die um die Opfer des Anschlages trauerte. Auch im Sinne der Revolutionär*innen war der KutGrove, Letter to Sir C. Hardinge, 1983, S. 41. Zu den emotionalen Gemeinschaften, die sich nach dem Tod des Großfürsten formierten, vgl. ausführlich: Hilbrenner, Of heroes and villains, 2018, S. 19–38. 541 Remains Lie in State, in: New York Times, 19. Februar 1905. 542 Vgl. z. B. Moskva, 5 fevralja, in: Russkija Vedomosti, 5. Februar 1905; Ubijstvo Ego Imperatorskogo Vysočestva Velikogo Knjazja Sergeja Aleksandroviča, in: Russkoe Slovo, 5. Februar 1905. 543 Zdorov′e kučera Andreja Rudinkina, in: Russkoe Slovo, 6. Februar 1905. 544 Grove, Letter to Sir C. Hardinge, 1983, S. 41. 539 540

Das Attentat der Kampforganisation auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič

scher ein unschuldiges Opfer, deshalb unterstrich die Obrigkeit ihre Sympathien diesem einfachen Manne gegenüber, um ihrerseits die Liberalen und breite Schichten der Gesellschaft dazu zu bringen, den terroristischen Anschlag zu verurteilen. Als der solcherart instrumentalisierte Kutscher Andrej Rudinkin am 8. Februar 1905 schließlich doch noch starb, erhöhte sich die Anklage gegen Ivan Kaljaev auf zweifachen Mord.545 Die revolutionäre Bewegung denunzierte die Sorge und Trauer um den Kutscher als Heuchelei und unterstellte der Obrigkeit, über Rudinkin „Krokodilstränen“ zu vergießen.546 Die gesellschaftlichen Institutionen in Moskau, wo Sergej Aleksandrovič als Generalgouverneur tätig gewesen war, überschwemmten die Zeitungen mit Todesanzeigen. Die Russkie vedomosti druckten am 5. Februar auf der Titelseite Traueranzeigen vom Moskauer Stadthauptmann, von der Moskauer Adelsgesellschaft und von der Moskauer Philharmonischen Gesellschaft ab. Am 6. Februar fanden sich auf der Titelseite derselben Zeitung neun Anzeigen, die den Tod des Großfürsten betrauerten. Unter den Inserenten waren die Moskauer Architektengesellschaft, die Kaiserliche Musikgesellschaft und die Gesellschaft für die Akklimatisierung von Tieren und Pflanzen. Die Anzahl der Traueranzeigen, die in den verschiedenen offiziellen Zeitungen über die hier genannten hinausgeht, lässt vermuten, dass die Konvention jenen städtischen Gesellschaften, für die der Generalgouverneur eine Rolle gespielt hatte, gebot, diese Form der Trauerbekundung zu wählen. Nikolaus II. ließ am 6. Februar einen Text in den Zeitungen des Reiches veröffentlichen, in dem er seinen „geliebten Onkel und Freund“ betrauerte.547 Im Gegensatz dazu fiel die Eintragung in seinem Tagebuch recht knapp aus: Ein schreckliches Verbrechen fand heute in Moskau statt. Onkel Sergej wurde von einer Bombe getötet, als er in seiner Kutsche das Nikol′skijtor passierte. Der Fahrer wurde tödlich verletzt. Arme Ella, Gott segne und schütze sie!548

Mit den bedauernden Worten „arme Ella“ bezog sich der Kaiser auf seine Schwägerin, die Witwe des Verstorbenen: Elizaveta Fedorovna. Sie ist innerhalb der Rezeptionsgeschichte des Anschlags eine ebenso interessante wie schillernde Figur, weil sie dem offiziellen Andenken an Sergej Aleksandrovič ein menschliches Antlitz verlieh und der formellen Staatstrauer eine persönliche sowie emotionale Note gab. Sie besuchte den Kutscher am Krankenbett und den Attentäter im Gefängnis. Damit überschritt sie die gesellschaftlichen Grenzen der emotionalen Gemeinschaften, die durch die Art des Ge-

545 Končina Andreja Rudinkina, in: Russkoe Slovo, 9. Februar 1905; Obvinitel′nyj akt, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Ivan Platonovič Kaljaev, 1905, S. 16–18. 546 Mandel′štam, 1905 god v političeskich processach, 1931, S. 251. 547 Nikolaj, Moskva, 6 fevralja, in: Russkija Vedomosti, 6. Februar 1905. 548 Zitiert nach: Verner, The crisis of Russian autocracy, 1990, S. 175.

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denkens an den Großfürsten in Trauer und Freude geschieden waren. Sie war die Ehefrau, die vor den Augen von Polizei und Passanten ohne Hut zum Tatort stürmte, um die apathische Menge anzuherrschen. Als religiöse Frau und Schirmherrin karitativer und kultureller Institutionen konterkarierte sie zudem das Bild von Sergej Aleksandrovič als machtgierigem Menschenfeind. Der Tod ihres Mannes in einem politisch motivierten Terroranschlag verstärkte ihre religiösen und philantrophischen Neigungen. Sie verkaufte ihren persönlichen Besitz und gründete mit dem Erlös ein Frauenkloster, das Martha-Marien-Stift, dem sie als Äbtissin vorstand. In dem Stift verwirklichte sie ihre Ideen zu wohltätiger Arbeit; die Schwestern pflegten Kranke, verwundete Soldaten und kümmerten sich um Waisen und Bedürftige. Mit der Gründung des Stiftes bewies Elizaveta Feodorovna zugleich als Bauherrin ihr Interesse für zeitgenössische Kunst und Architektur. Mit dem Bau des Klosters beauftragte sie den berühmten Architekten Aleksej Ščusev, einen Schüler von Ilja Repin und Aleksandr Benois, der auch den Kazaner Bahnhof in Moskau baute. Er galt als Vertreter des russischen Jugendstils und errichtete die Klosteranlage in Anlehnung an die traditionelle russische Sakralbauweise in Novgorod. Später wurde Ščusev einer der wichtigsten sowjetischen Architekten, der unter anderem das Lenin-Mausoleum plante.549 Im April 1908, in demselben Jahr, in dem Elizaveta Fedorovna das Kloster eröffnete, ließ sie an der Stelle im Kreml, an der Sergej Aleksandrovič ermordet worden war, ein Kreuz erichten. Die Errichtung des Denkmals zeigt, ähnlich wie nach den Attentaten auf Alexander II., wie wichtig der Ort des Verbrechens für das Gedenken der ermordeten Romanovs war. Eine solche Initiative, den Ort des Terroranschlags zu markieren, hatte es auch bei dem beliebten Gouverneur von Ufa Bogdanovič gegeben. Mit diesem Kreuz beauftragte Elizaveta Fedorova abermals einen berühmten Künstler, den Maler Viktor Vasnecov, der neben Ilja Repin und Valentin Serov einer der Vertreter der Peredvižniki (Wanderer) gewesen und als ein Lehrmeister Michail Vrubels für die Ausstattung und Dekoration wichtiger Sakralbauten verantwortlich war.550 Die beiden Aufträge an berühmte Künstler sind Belege für die Rolle der Großfürstin als Kunstmäzenin. Das Kreuz zur Erinnerung an den Tod des Großfürsten wurde 1918 von den Bol′ševiki zerstört. In den 1990er Jahren wurde es im Novospasskij Kloster, in unmittelbarer Nähe zur Familiengruft der Romanovs,551 wiedererrichtet. Elizaveta Fedorovna wurde im Sommer 1918 in der Nähe von Sverdlovsk von den Bol′ševiki gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Zarenfamilie ermordet. In der russisch-orthodoxen Kirche gilt

549 Vgl. z. B. Sebastian Kempgen, Die Kirchen und Klöster Moskaus. Ein landeskundliches Handbuch, München 1994, S. 361. 550 Vgl. zu Vasnecov z. B. Svetlana Stepanova, Viktor Vasnecov, 1848–1926, Moskva 2008; Elena Nikolaevna Evstratova, Viktor Vasnecov, Moskva 2004. 551 Vgl. zur Romanov-Gruft: Kempgen, Die Kirchen und Klöster Moskaus, 1994, S. 653–654.

Das Attentat der Kampforganisation auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič

sie wegen ihrer Tätigkeit als Äbtissin des Martha-Marien-Stiftes und ihrer Ermordung durch die Bol′ševiki heute als Neumärtyrerin.552 Für Donnerstag, den 10. Februar 1905 wurde die Beerdigung des Großfürsten angesetzt, zu der zahlreiche in- und ausländische Würdenträger erschienen.553 Der Kaiser selbst konnte aus Sicherheitsgründen nicht an der Beerdigung teilnehmen.554 Tatsächlich waren Beerdigungen ein Risiko für potenzielle Opfer terroristischer Anschläge. Bereits die Kampforganisation unter Geršuni hatte versucht, während der Trauerfeier für Sipjagin weitere Personen zu ermorden, allerdings ohne Erfolg.555 Doch jenseits der offiziell verordneten Trauer zeigten einige Untertan*innen recht deutlich, dass sie kein Mitgefühl für den ungeliebten Großfürsten aufbringen konnten. Anna Geifman kolportiert eine in Moskau verbreitete Anekdote, nach der ein Witzbold in der Menge der Schaulustigen auf die Überreste des Großfürsten zutrat, den zerschmetterten Kopf vorsichtig mit seinem Stiefel berührte und sagte: „Und dabei sagen alle, diese Leute hätten kein Gehirn …“556 Etwas weniger makaber notierte der St. Petersburger Schriftsteller Sergej Minclov,557 der bereits die Hinrichtung Pleves scharfsinnig kommentiert hatte, in seinem Tagebuch: 4. Februar: In Moskau wurde der Hauptberater des Herrschers, der Großfürst Sergej Aleksandrovič, von einer Bombenexplosion getötet. Die Telegramme mit der Nachricht lösten große Freude aus.558

Damit beschrieb er die emotionale Gemeinschaft derer, die der Obrigkeit reserviert oder gar feindlich gegenüberstanden. Wie groß diese emotionale Gemeinschaft war, wird an einer weiteren Eintragung deutlich. Am 13. Februar notierte er einen Bericht aus einem Gymnasium, in dem der Lehrer die Teilnahme an einer Trauerfeier für Sergej Aleksandrovič anordnete. Dies sei, so der Lehrer, „untertänige Pflicht“. Die Gymnasiastinnen, 14- bis 15-jährige Mädchen, protestierten lauthals gegen diese Pflicht und gingen geschlossen nicht zu der Trauerfeier.559 Vor allem in Moskau schien unter der Fassade offizieller Trauer die Erleichterung über den Tod des Großfürsten verbreitet gewesen zu sein. Michail Mandel′štam, der

552 Vgl. z. B. Alla Citrinjak / Margarita M. Chemlin, Velikaja knjaginja Elizaveta Fedorovna, Moskva 2009; Ljubov Miller, Grand Duchess Elizabeth of Russia. New martyr of the communist yoke, Redding, Calif. 1990. 553 Moskva, in: Russkija Vedomosti, 11. Februar 1905. 554 Verner, The crisis of Russian autocracy, 1990, S. 175. 555 Vgl. z. B. Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 51; Mandel′štam, 1905 god v političeskich processach, 1931, S. 232–233. 556 Geifman, Entangled in terror, 2000, S. 73. 557 Vgl. zu Minclov z. B. Peter Faderl, Sergej Rudol′fovič Minclov, Wien 2011. 558 Minclov, Iz „Dnevnika. 1903–1906“,1996, S. 496–501. 559 Ebd., S. 499.

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Anwalt des Attentäters Ivan Kaljaev, berichtete in seinen Erinnerungen an das Jahr 1905, dass die Kaufmannswitwe und Mäzenin Varvara Morozova560 ihm ein Päckchen mit einer größeren Summe für Ivan Kaljaevs Mutter überreicht habe. Mandel′štam selbst wertete diese Geste als Zeichen dafür, dass die zarische Herrschaft auch den Privilegierten zuwider war und dass die Ermordung des verhassten Großfürsten allgemein begrüßt wurde.561 Die positive Rezeption des Attentats durch weite Teile der Gesellschaft wurde unabsichtlich mit dem zarischen Ukas vom 18. Februar gestützt, in dem der Zar die Bevölkerung zu Reformvorschlägen aufrief. Dieser Ukas hatte die Petitionskampagne zur Folge, in der vor allem die Liberalen, aber auch die Mitglieder unterschiedlicher nationaler Minderheiten der Obrigkeit ihre Forderungen präsentierten. Den Liberalen musste sich geradezu der Eindruck aufdrängen, die neuesten Konzessionen seien dazu gedacht, die Revolutionär*innen zu beschwichtigen, und stünden deshalb in direktem Zusammenhang mit dem Attentat auf Sergej Aleksandrovič.562 Das Bekennerschreiben der Kampforganisation erinnerte in vielfacher Hinsicht an jenes, das anlässlich des Attentats auf Pleve veröffentlicht wurde. Abermals diente als Überschrift nur das Datum: „Der 4. Februar.“563 Ebenso wie der 15. Juli 1904 (Attentat auf Pleve) und der 1. März 1881 (Attentat auf Alexander II.), sollte nach dem Willen der PSR auch der 4. Februar 1905 als Schlüsseldatum in die Geschichte der russischen revolutionären Bewegung eingehen. Dieser symbolischen Bedeutung, die dem 1. März 1881 noch zukam, wurde bereits der 15. Juli 1904 als Datum nicht mehr gerecht. Der Anspruch an das Datum des 4. Februar 1905 erwies sich in der Retrospektive als völlig vergeblich. In dem Schreiben notierte die Kampforganisation mit Genugtuung, dass sie der Regierung durch die Ermordung von Sergej Aleksandrovič einen weiteren harten Schlag zugefügt habe. Damit habe die PSR gerächt, dass der Großfürst Moskau in „eine Arena autokratischer Orgien“ verwandelt habe. Mit dem Begriff „Orgien“ spielten die Autor*innen auf die Homosexualität des ermordeten Generalgouverneurs an, dem gerade in diesem Zusammenhang eine Art sexueller Günstlingswirtschaft und ein generell unmoralischer Lebenswandel unterstellt worden waren. Diese Vorbehalte hatten sich gegen den Großfürsten vor allem in bürgerlichen und konservativen Kreisen geregt. Darüber hinaus nannte die Kampforganisation „die Katastrophe von Chodynka“, die Kriegstreiberei gegenüber Japan, die das Land in einen verheerenden Waffengang geführt hatte, die repressive Politik gegenüber den Studierenden und „das System der

Vgl. zu Varvara Morozova: Natal′ja A. Krugljanskaja, Varvara Alekseevna Morozova, Moskva 2008. Mandel′štam, 1905 god v političeskich processach, 1931, S. 249–250. Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 56. Zu den politischen Schritten der Regierung im Februar 1905 vgl. auch: Ascher, The revolution of 1905, 2004, S. 34–35. 563 Zitiert nach: Spiridovitch, Histoire du Terrorisme Russe 1886–1917, 1930, S. 242. 560 561 562

Das Attentat der Kampforganisation auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič

Provokation“, das sich vor allem in der Unterstützung der Zubatovschen Polizeigewerkschaften geäußert habe, als Gründe für die Ermordung des Großfürsten. Mit der Erwähnung der Zubatovschen Polizeigewerkschaften implizierte die PSR einen Zusammenhang zu den Ereignissen am Blutsonntag, dem 9. Januar 1905, der noch nicht einmal einen Monat zurücklag. Damit versuchten die Autor*innen, alle revolutionären Ereignisse dieser unruhigen Phase zu bündeln, um dem Anschlag auf den Großfürsten den maximalen revolutionären Effekt zu verleihen. Sie gaben der Hoffnung Ausdruck, dass der 4. Februar ein weiterer Funke sein werde, um die Massen zu entflammen und das Volk von seinen Feinden zu befreien. Der 4. Februar sei ein Schlag der Massen gegen die „Hofcamarilla“, die mit Hilfe von Intrigen die gesamte Politik des Landes bestimme.564 Vor allem mit der Erwähnung der Hofcamarilla und der impliziten Kritik an der Homosexualität des Großfürsten suchten die Autor*innen des Bekennerschreibens, Zustimmung in weiten Kreisen der Gesellschaft zu erlangen. Diese Kritik an Sergej Aleksandrovič teilten sogar höfische Kreise, vor allem aber die Mitglieder der Moskauer Bourgeoisie, die unter dem Regierungsstil des Großfürsten gelitten hatten. Die Liberalen und die Radikalen versammelten sich in einer emotionalen Gemeinschaft, die in dem Attentäter Ivan Kaljaev ihren Helden feierte. Vor allem in der Verehrung des Märtyrers zeigt sich die Begeisterung für seine Tat. Die PSR veröffentlichte später im Jahr 1905 eine Erinnerungsbroschüre mit dem Titel „Ivan Platonovič Kaljaev“. Zunächst allerdings blieb der Name des Attentäters, wie es Tradition der Kampforganisation war, ungenannt. Die Recherchen der Polizei brachten zunächst kein Ergebnis. Schließlich wurden erkennungsdienstliche Aufnahmen des Attentäters an alle Polizeidienststellen im Reich versandt, und in Warschau konnte die Person auf diesem Foto schließlich identifiziert werden.565 Die Arbeit mit Fotokarteien der Radikalen war während der Revolution von 1905 üblich und half der Obrigkeit dabei, die Netzwerke und Migrationen von Terrorist*innen, die unter falschen Namen in wechselnden Parteien und Kampfgruppen an den unterschiedlichsten Orten des Reiches im revolutionären Untergrund arbeiteten, zu ermitteln.566 Als Kaljaev mit Hilfe des Fotos von der Polizei identifiziert worden war, stand der sozialrevolutionären Hagiographie des „Poeten“ nichts mehr im Wege. Die Begeisterung über den revolutionären Helden Kaljaev und seine Tat war in radikalen Kreisen so groß, dass sich die Sozialdemokrat*innen erneut veranlasst sahen,

Zitiert nach: Ebd., S. 242–243. Cirkuljar departamenta policii načal′nikam gubernskich žandarmskich upravlenij i ochrannych otdelenii o vyjasnenii svjazej I. P. Kaljaeva. No.  59:  4 aprelja 1905 g., in: Ščerbakova (Hg.), Političeskaja policija i političeskij terrorizm v Rossii, 2001, S. 206–207; Mandel′štam, 1905 god v političeskich processach, 1931, S. 249. 566 Vgl. z. B. Spravka departamenta pol. za 1910 o dejatelnosti anarchistki Olga Taratuta, 1910, CDIAK, f. 275, op. 1, d. 1972. 564 565

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die Taktik des Terrorismus offen zu kritisieren. Lenin erwähnte das Attentat auf den Großfürsten im September 1905 im „Proletarier“ mit der ihm eigenen ätzenden Kritik: Der individuelle Terror, dieses Produkt der intelligenzlerischen Schwäche, versinkt ins Reich der Vergangenheit. Anstatt daß man Zehntausende Rubel und eine Menge revolutionärer Kräfte für die Ermordung irgendeines Sergej (der Moskau kaum schlechter revolutionierte als viele Revolutionäre), für einen Mord „im Namen des Volkes“ aufwendet, beginnen jetzt Kampfhandlungen zusammen mit dem Volk.567

Auf diese sozialdemokratische Kritik bezog sich u. a. auch „ein ehemaliger Sozialdemokrat“, der in der Erinnerungsbroschüre den Nachruf auf Kaljaev verfasst hatte. Er betonte die Inspiration für ihn als Revolutionär, die von dem Attentat ausgegangen sei. So nutzte die PSR die Popularität Kaljaevs für eine Polemik gegen die Sozialdemokrat*innen.568 Eine besondere Rolle für die Erinnerung an Kaljaev spielte offensichtlich der Prozess, der am 6. April 1905 vor dem Sondergericht des Regierenden Senats unter Ausschluss der Öffentlichkeit, also „hinter verschlossenen Türen“, stattfand.569 Kaljaev wurde von den Anwälten Mandel′štam und Ždanov vertreten. Michail Mandel′štam erinnerte sich, wie er den Gerichtssaal betrat, der voller Höflinge und Militärs war „niemand unterhalb des Generalsrangs“.570 Die Atmosphäre im Saal war entgegen der allgemeinen Stimmung in der Gesellschaft dem Attentäter gegenüber von einer feindlichen Haltung geprägt. Obwohl sein Auftritt also nur einem sehr begrenzten und zudem voreingenommenen Publikum zuteilwurde, schaffte Kaljaev es, die Verhandlung in ein flammendes Plädoyer für seine Sache umzuwandeln. Er wandte sich dabei „nicht an den Saal, sondern an seine Mitstreiter.“571 Mit seiner Rede vor Gericht,572 so erläuterte er später in einem Brief an seine Genossen, habe er sich bemüht, „streng den Parteistandpunkt zu vertreten.“573 In seiner Rede bestritt er das Recht der Richter, über ihn zu richten. Die Richter, so Kaljaev, seien „Vertreter der kaiserlichen Regierung, Lohnknechte des Kapitals und der Gewalt.“574 Demgegenüber sei er ein „Volksrächer“. Er beschwor die unversöhn-

Vgl. dazu zum Beispiel: Lenin, Von der Verteidigung zum Angriff, in: Werke, 1955–1964, S. 278–280. [Byvšij Socialdemokrat], Ivan Platonovič Kaljaev, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Ivan Platonovič Kaljaev, 1905, S. 1–7. 569 Die Wendung „hinter verschlossenen Türen“ fand sich sowohl in der Zeitung als auch in dem Nachruf auf Kaljaev. Vgl. Delo ob ubijstve Velikogo Knjazja, in: Russkoe Slovo, 6. April 1905; [Byvšij Socialdemokrat], Ivan Platonovič Kaljaev, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Ivan Platonovič Kaljaev, 1905, S. 1–7. 570 Mandel′štam, 1905 god v političeskich processach, 1931, S. 250. 571 Ebd., S. 255. 572 Ivan P. Kaljaev, Reč Kaljaeva, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Ivan Platonovič Kaljaev, 1905, S. 29–33. 573 Kaljaev, Poslednija pis′ma I. Kaljaeva, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Ivan Platonovič Kaljaev, 1905, S. 41–45. 574 Vgl. hierzu und im Folgenden: Kaljaev, Reč Kaljaeva, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Ivan Platonovič Kaljaev, 1905, S. 29–33. Deutsche Übersetzung zitiert nach: Savinkov, Erinnerungen eines 567 568

Das Attentat der Kampforganisation auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič

liche Feindschaft zwischen Obrigkeit und Revolutionär*innen als „kriegführende Mächte“. Dabei stehe die revolutionäre Bewegung für „das sprühende Leben“, „Zivilisation“ und „Freiheit“, die Selbstherrschaft dagegen für „Stillstand“, „Barbarei“ und „Vergewaltigung“. In diesem Sinne fragte er: „Wo ist jener Pilatus, der euch hierhergeschickt hat, einen Galgen zu errichten, bevor er noch das Blut des Volkes von seinen Händen abgewaschen hat?“ Gegen dieses „Gerichtsschauspiel“, das die Obrigkeit für ihn inszeniert habe, sei der terroristische Akt ebenfalls ein Gericht gewesen, „das Gericht der Geschichte über euch.“ Die Obrigkeit habe „Berge von Leichen“ angehäuft und „Hunderttausende von menschlichen Existenzen“ zerstört. Mit dem Vorwurf der unrechtmäßigen Gewalt durch die Regierung verwies Kaljaev, wie bereits seine Vorgänger*innen aus den Zeiten der Narodnaja volja, auf den diskursiven Entstehungskontext terroristischer Gewalt. Die revolutionäre Gewalt, so lautete die Legitimationsstrategie der Terrorist*innen seit den 1860er Jahren, war nur die rechtmäßige Antwort auf die unmäßige Gewalt der Obrigkeit gegenüber dem Volk. Der Revolutionär, so Kaljaev, „antwortet auf die Herausforderung zum Kampfe mit seinem Haß und kann der Gewalt mutig entgegenschreien: Ich klage an!“ Nachdem Kaljaev die berühmten Worte Émile Zolas zitiert hatte, mit der dieser 1898 den Freispruch des Schuldigen in der Dreyfus-Affäre kritisiert hatte,575 führte er seine Anklage gegen die Regierung aus: Der Großfürst sei Mitglied der den fortschrittlichen Kreisen verhassten Hofcamarilla gewesen, er habe in Moskau die Juden verfolgt, Experimente zur politischen Zersetzung der Arbeiterschaft – die Zubatov-Bewegung – durchgeführt, alle kulturellen Unternehmungen verfolgt und stattdessen Reaktionäre, wie Sipjagin, Bogolepov und Pleve, die bereits von der Kampforganisation ermordet worden waren, protegiert. Dazu habe er seinen schändlichen Einfluss auf den Zaren ausgenutzt. Zudem sei er verantwortlich für die Katastrophe von Chodynka. Interessanterweise berief Kaljaev sich auf das Ergebnis der offiziellen Untersuchungskomission des Grafen von der Pahlen und zitierte diesen mit den Worten, dass „man nicht unverantwortliche Menschen auf verantwortliche Posten stellen darf “. Das Urteil der Untersuchungskomission musste, so Kaljaev, ausgerechnet die PSR vollstrecken, weil die Obrigkeit selbst sich nicht traute, gegen den Großfürsten vorzugehen: „Und nun mußte die Kampforganisation der Partei der Sozialrevolutionäre den vor dem Gesetz unverantwortlichen Großfürsten vor dem Volk verantwortlich machen.“ Besonders an der Berufung auf den Grafen von der Pahlen wird eines überdeutlich: Auch wenn Kaljaev sich als Sozialisten und Revolutionär bezeichnete, in dem Versuch, seine Taten zu legitimieren, kritisierte er den Großfürsten für all jene Verfehlungen, die auch den Liberalen und weiten Teilen der Gesellschaft, zum Teil sogar höfischen Kreisen, ein Dorn im Auge gewesen waren. So warb er mit seiner Rede, wie so viele

Terroristen, 1985, S. 134–139. 575 Vgl. dazu z. B. Alain Pagès, 13 janvier 1898. J’accuse …!, Paris 1998.

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Vom Zentrum an die Peripherie

seiner Vorgänger vor ihm, für Zustimmung weit über die Kreise der radikalen Revolutionär*innen hinaus. Diese Zustimmung war ihm, vor allem in Zeiten der revolutionären Unruhen von 1905, sicher. Im Sinne der Kommunikationsgeschichte des Terrorismus ist es zudem bemerkenswert, dass Kaljaev die Obrigkeit auch dafür anklagte, dass er selbst „der Freiheit und des öffentlichen Appells an das Volk beraubt“ sei.576 Daran lässt sich auch erkennen, wie wichtig es für ihn war, nicht nur mit seiner Tat, sondern auch mit seinem Pläydoyer vor Gericht an die Öffentlichkeit zu gelangen. Obwohl Kaljaev die zarische Selbstherrschaft als Unrechtsregime anprangerte, nutzte er die rechtsstaatlichen Mechanismen, die seit den Reformen Alexanders II. im russländischen Justizsystem Geltung hatten, und reichte gegen seine Verurteilung eine Revisionsklage ein. Damit versuchte er nicht, so zumindest sein durch seine Parteigänger*innen initiierter Nachruhm, dem Tod zu entgehen. Vielmehr nutzte er die Chance, abermals seinen Standpunkt und vor allem den der Partei öffentlich zu vertreten. Diese Revisionsklage ist eine wichtige Quelle für die Bedeutung von Peripherie und Zentrum für die revolutionäre Bewegung. Kaljaev verwies darin auf seine polnische Herkunft, aber auch darauf, dass er seit seiner Jugend von der Liebe zum russischen Volk ergriffen sei. Seine revolutionären Überzeugungen wurzelten also nicht im nationalen Aufbegehren der Pol*innen gegen die russische Obrigkeit. Eine weitere Spiegelung erhielt die Situation im Russischen Reich durch Kaljaevs Erfahrungen im Ausland: Im Ausland erfuhr ich, mit welcher Verachtung die Europäer sich dem Russen gegenüber verhalten, als ob der bloße Name eines Russen schon eine Schande sei. Und ich konnte nur zu dem Schluß kommen, dass die Schande meiner Heimat – der ungeheuerliche Krieg im Inneren und nach außen, dieses offene Bündnis der zarischen Regierung mit dem Feind des Volkes, dem Kapitalismus, Folge der böswilligen Politik ist, die aus den jahrhundertelangen Traditionen der Autokratie erwachsen ist.577

In dieser Revisionsklage unterstrich er, dass seine Tat nicht gegen den Großfürsten als Mitglied der Zarenfamilie gerichtet war, sondern gegen ihn und seine Rolle in der zarischen Politik. Zudem grenzte er die Politik der Sozialrevolutionär*innen gegen die der Anarchist*innen ab. In der Öffentlichkeit wurden terroristische Anschläge häufig pauschal als anarchistische Akte begriffen, auch dagegen wandte sich Kaljaev in seiner Revisionsschrift.

576 Bis hierher vgl.: Kaljaev, Reč Kaljaeva, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Ivan Platonovič Kaljaev, 1905, S. 29–33. Deutsche Übersetzung zitiert nach: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 134–139. 577 Vgl. Revisionsgesuch Kaljaevs in Byloe 1908, Nr. 7. Deutsch zitiert nach: Ebd., S. 142.

Das Attentat der Kampforganisation auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič

Mit den Veröffentlichungen der PSR in der Revoljucionnaja Rossija vom Mai 1905,578 in der Erinnerungsbroschüre und in den Publikationen des Anwaltes Mandel′štam wurde zumindest der Auftritt Kaljaevs vor Gericht schließlich doch noch einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Verklärung Kaljaevs als Märtyrer ermöglichte es der PSR, über das Gedenken an die Person hinaus sozialrevolutionäre Ideen populär zu machen. Deshalb verstärkte das Kaljaev-Büchlein auch Teile der Mythologie, die sich bereits um den Märtyrer rankten. So wurden zahlreiche Gedichte des „Poeten“, wie er von seinen Genoss*innen genannt wurde,579 sowohl in der Revolutionnaja Rossija als auch in der Broschüre abgedruckt. Das Bild des Märtyrers, das von der Kaljaev-Hagiographie geprägt wurde, lässt sich am besten in den Worten Sazonovs zusammenfassen, die er aus der Haft im sibirischen Akatui im Jahre 1910 an seine sozialrevolutionären Mitstreiter*innen richtete: „Was mir an ihm [Kaljaev; die Verf.] von Anfang an auffiel, war der allgemeine Eindruck eines inneren Leuchtens […] Es war eine märchenhafte Vermählung von Kraft, Zärtlichkeit, Schönheit und Heiligkeit.“580 Die Bezeichnung „Poet“ für Kaljaev konterkarierte bereits die Idee der Gewalt, die dem Begriff des Terrorismus innewohnt. Diese Facette der Persönlichkeit stärkte die PSR, indem sie ihn als Schöngeist und als Heiligen zeichnete, der durch die Umstände zum Gewalttäter geworden war. Dabei verstärkte es die schillernde Ambivalenz des Helden, dass er den gewaltsamen politischen Kampf deutlich bejahte. Von Kaljaev stammte der berühmte Satz: „Ein Sozialrevolutionär ohne Bombe ist doch kein Sozialrevolutionär mehr.“581 Für ihn war der Terrorismus an sich „eine Kraft.“582 Durch diese Ambivalenz von Zartheit und roher Gewalt, von Zärtlichkeit und Bombe gewinnt auch die terroristische Tat selbst eine eigene ästhetische Kraft, der die Faszination des Martyriums innewohnt.583 Das Bemühen, den Terroristen Kaljaev als fühlenden und zärtlichen Menschen darzustellen und ihn solcherart aus der Sphäre des gewalttätigen Mörders zumindest zum Teil herauszulösen, wird auch an den Briefen deutlich, mit denen er sich an sei-

578 Ivan P. Kaljaev, Reč Kaljaeva, in: Revoljucionnaja Rossija, 5. Mai 1905; Otčet o zasedanii suda, in: Revoljucionnaja Rossija, 5. Mai 1905. 579 Vgl. z. B. Ivanovskaja, V boevoj organizacii, 1996, S. 29–174. 580 Pamjati Kaljaeva, Moskva 1918, S.  28. Die Broschüre Pamjati Kaljaeva wurde im Jahr 1918 von den linken Sozialrevolutionären herausgegeben, die die Tradition Kaljaevs für sich reklamierten und ihre Genossen von den rechten Sozialrevolutionären beschuldigten, das Erbe der heroisch kämpfenden Sozialrevolutionäre zu verraten. Herausgeber dieser Broschüre, in der mit Ausnahme der Erinnerungen Sazonovs weitestgehend dieselben Inhalte veröffentlicht wurden wie in dem Bändchen von 1905, war unter anderem Isaak Steinberg. 581 Zitiert nach: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 43. 582 Ebd. 583 Vgl. zu den „zartfühlenden Mördern“ auch: Enzensberger, Die schönen Seelen des Terrors, in: Politik und Verbrechen 31990, S. 327–360.

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ne Freunde und vor allem an seine Mutter wendete.584 Einen berühmten „Brief an die Mutter“ hatte bereits Sof ′ja Perovskaja geschrieben, die sich der Öffentlichkeit auf diesem Wege als liebende Tochter präsentierte. Auch von Sazonov sind zahlreiche Briefe an die Mutter aus der Haft überliefert, die ebenfalls veröffentlicht wurden.585 Der „Brief an die Mutter“ wurde solcherart zur zentralen Textsorte des sozialrevolutionären Gedenkens an die heroischen Terrorist*innen. Neben der Stilisierung zum Märtyrer, Heiligen und „zartfühlenden Mörder“ ermöglichte die Broschüre der PSR es, etwaige Abweichungen des Bildes von Kaljaev von der offiziellen Parteilinie in der Öffentlichkeit zu korrigieren. Besonders verstörend für viele Anhänger*innen der revolutionären Bewegung muss die öffentliche Beziehung des „Poeten“ zu der Ehefrau des Ermordeten, der Großfürstin Elizaveta Fedorovna, gewesen sein. Dem Zusammentreffen der Großfürstin mit Kaljaev am 7. Februar und seinen Folgen ist demzufolge ein längeres Kapitel in der Erinnerungsbroschüre gewidmet.586 Kaljaev und Elizaveta Fedorovna waren sich vor dem Attentat vom 4. Februar 1905 bereits einmal begegnet – an jenem 2. Februar, als Kaljaev sich entschloss, die Bombe nicht zu werfen, um das Leben der Großfürstin und der Kinder zu verschonen. Dennoch erkannte Kaljaev Elizaveta Fedorovna, die ihn im Gefängnis besuchte, zunächst nicht, bis sie sagte: „Ich bin seine Frau.“ Nach der Beschreibung in der Broschüre war Kaljaev es, der Elizaveta Fedorovna tröstete und sagte: „Weinen Sie nicht!“ Anschließend legte Kaljaev der Großfürstin die Gründe für seine Tat dar. Er beschrieb es so, als sei der Großfürstin der schlechte Ruf ihres Mannes nicht klar gewesen, deshalb führte er seine Untaten auf, die schließlich in der Beschreibung des so bezeichneten „Blutsonntags“ gipfelten. Doch schließlich wollte er, so seine Erinnerung, die Großfürstin nicht länger mit den Verfehlungen ihres Mannes konfrontieren: Wir sahen einander mit einem gewissen mystischen Gefühl an, ich will das nicht verbergen, wie zwei Sterbliche, die am Leben geblieben sind. Ich zufällig, sie – nach dem Willen der Organisation, nach meinem Willen, da die Organisation und ich bewusst bestrebt waren, überflüssiges Blutvergießen zu verhindern.587

Vgl. z. B. Ivan P. Kaljaev, Pis′mo k materi, in: Revoljucionnaja Rossija, 1. Juni 1905 oder Pamjati Kaljaeva, 1918, S. 65–66. 585 Zitiert nach: Egor S. Sazonov, Pis′ma k rodnym, in: Materialy dlja biografii. Vospominanija. Pis′ma. Dokumenty. Portrety. S predisl. S.P. Mel′gunova., Moskva 1919, S. 30–98, hier S. 89. 586 I. Kaljaev i Velikaja Knjaginja, in:  Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Ivan P. Kaljaev, 1905, S. 7–16. Dieselben Texte finden sich auch in der Revolutionnaja Rossija Nr. 68 vom 1. Juni 1905. 587 Ebd., S.  7. Deutsche Übersetzung mit leichten Anpassungen zitiert nach: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 128. 584

Das Attentat der Kampforganisation auf den Großfürsten Sergej Aleksandrovič

Das Gespräch der beiden schilderte Kaljaev demzufolge als „intim“.588 Ein Heiligenbildchen von ihr habe er zwar angenommen, verstand es aber eher „als Symbol ihrer Dankbarkeit dem Schicksal gegenüber, weil ihr Leben geschont worden war, und der Reue ihres Gewissens über die Verbrechen des Großfürsten.“589 In den offiziellen Zeitungen wurde demgegenüber das Zusammentreffen zwischen Großfürstin und Attentäter vor einer breiten Öffentlichkeit auf ganz andere Weise wiedergegeben: Nach zuverlässigen Informationen aus Moskau hat die Großfürstin Elizaveta Fedorovna den Mörder besucht und ihn gefragt, warum er ihren Mann umgebracht hat. Der Mörder antwortete: ‚Ich habe den Auftrag des revolutionären Komitees erfüllt.‘ Die Großfürstin fragte: ‚Sind Sie gläubig?‘ Nachdem sie eine bejahende Antwort erhalten hatte, gab ihre Hoheit dem Mörder ein Heiligenbildchen und sagte: ‚Ich verzeihe Ihnen. Gott wird richten zwischen dem Fürsten und Ihnen, aber ich werde darum bitten, Ihr Leben zu verschonen.‘ Der Mörder brach in Tränen aus.590

Dieser Darstellung folgend war es der Attentäter und nicht etwa die Großfürstin, die weinte. Die Vorstellung vom weinenden und um Verzeihung bittenden Attentäter, konterkarierte das Bild vom überzeugten Vollstrecker des sozialrevolutionären Urteils, vom Helden, der sein Leben willig für das Wohl des Volkes hingibt. Das Narrativ suggerierte, dass Kaljaev in diesem Moment gemeinsamer Tränen Teil der emotionalen Gemeinschaft sei, in deren Zentrum die Witwe Elizaveta Fedorovna um ihren Mann trauerte. Die beiden emotionalen Gemeinschaften, von denen eine Trauer, die andere Genugtuung über den Tod des Großfürsten empfand, aber standen einander unversöhnlich gegenüber. Kaljaev konnte nicht Teil der einen wie auch der anderen sein. Zudem galten auch unter Terroristen die soldatischen Tugenden, die es (männlichen) Helden verboten, Schwäche zu zeigen. Die Tränen Kaljaevs waren als Schwäche interpretierbar. Daher wurde die Broschüre nicht zuletzt deshalb benötigt, um dieses Bild zu korrigieren. Ein flammender Brief Kaljaevs an die Großfürstin, in dem dieser wütend gegen diese Berichterstattung protestierte, sowie ein letzter Brief der Klarstellung an seine Genoss*innen wurden abgedruckt mit dem Ziel, das Andenken des revolutionären Märtyrers zu bewahren. Zudem wurden sowohl in der Broschüre als auch in der Revolucionnaja Rossija die letzten Momente im Leben Kaljaevs und seine Hinrichtung beschrieben. In den Berichten wurde deutlich, dass Kaljaev geistigen Beistand ablehn-

588 I. Kaljaev i Velikaja Knjaginja, in: Partija Socialistov-Revoljucionerov (Hg.), Ivan Platonovič Kaljaev, 1905, S. 7–16. 589 Ebd., S. 7. Deutsche Übersetzung zitiert nach: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 128. 590 Peterburg, 14.II., in: Russkoe Slovo, 15. Februar 1905.

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Vom Zentrum an die Peripherie

te, eine Lesart, die abermals die Darstellung, er habe sich zum Glauben bekannt und die Großfürstin um Verzeihung gebeten, konterkarierte.591 Die Berichterstattung über das Martyrium Kaljaevs in der Revoljucionnaja Rossija unterstrich zudem seine herausragende Bedeutung. Die Titelseite der Ausgabe vom 1. Juni 1905 erschien mit Trauerflor, und zusätzlich druckte die Zeitung neben der ausführlichen Berichterstattung ein Foto Kaljaevs ab – eine in der Revoljucionnaja Rossija bis zu diesem Zeitpunkt einzigartige Würdigung.592 Das Nachleben des sozialrevolutionären Helden Kaljaev in der Revoljucionnaja Rossija, in den Schriften Savinkovs und in weiteren Texten aus sozialrevolutionären Kreisen sorgte dafür, dass das Bild des moralischen und tugendhaften Märtyrers, des sensiblen Poeten und des mutigen Kämpfers bis in die nachrevolutionäre Zeit erhalten wurde.593 Mit Kaljaev erreichte das Ideal des heroischen Terroristen seinen Höhepunkt.

591 Smert′ I. Kaljaeva, in: Revoljucionnaja Rossija, 1. Juni 1905; Poslednie minuty Kaljaeva, in: Revoljucionnaja Rossija, 1. Juni 1905. 592 Smert′ I. Kaljaeva, in: Revoljucionnaja Rossija, 1. Juni 1905. 593 Vgl. z. B. Steinberg, Gewalt und Terror in der Revolution, 1931, S.  181–192; Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985; Savinkov, Das fahle Pferd, 1909; Ivanovskaja, V boevoj organizacii, 1996, S. 29–174; Pamjati Kaljaeva, 1918.

3.

Die Inflation des Terrorismus an der Peripherie

Mit der Ermordung des Großfürsten Sergej Aleksandrovič war der Zenit des „heroischen Terrorismus“ erreicht. Die Bedeutung des Anschlages lag unter anderem darin, dass die SR-Kampforganisation nach dem spektakulären Attentat auf Pleve zeigte, dass sie eine solche Aktion wiederholen konnte. Der Schriftsteller Minclov erinnerte sich, dass die Menschen in St. Petersburg sich gegenseitig in freudiger Erregung fragten: „Wer wird die Nr. 2?“1 Auch die folgende Karikatur zeigt: Vom 4. Februar 1905 ging die Botschaft aus, dass ein solcher Schlag gegen das Zentrum zarischer Macht jederzeit wieder gelingen könne.

Abb. 5 Karikatur aus der Sammlung des Sozialrevolutionärs V. S. Minarchorjan aus der Zeit vor 1907.2

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Minclov, Iz „Dnevnika. 1903–1906“, 21996, S. 498. Minachorjan – Album with prints of photographs, IISG, Archiv PSR f. 596, N. 351.

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Die Infation des Terrorismus an der Peripherie

Auf der Karikatur ist eine junge Frau auf einer Kegelbahn zu sehen. Die Jakobinermütze stellt sie in die Tradition der französischen „terreur“ und markiert sie als Terroristin, ebenso wie die Bomben, die sie als Kegelkugeln verwendet. So spielt die Karikatur abermals auf die Bedeutung der Bomben für den russländischen Terrorismus als Weiterentwicklung der französischen „terreur“ an.3 Die Kegel selbst sind hochrangige Mitglieder der zarischen Regierung. In der Mitte ist Zar Nikolaus II. als Kegel an seiner Krone und seinen Gesichtszügen zu erkennen. Sein Mund ist voller Furcht aufgerissen. Weil die von der politischen Führungsschicht geforderten soldatischen Tugenden Furchtlosigkeit und Unerschrockenheit forderten, war die Darstellung von obrigkeitlicher Angst und unterstellter Feigheit ein Topos im terroristischen Diskurs. Die Zurschaustellung zarischer Angst bedeutet, dass der Terrorismus sein Ziel erreicht hat. Auch wenn der Herrscher nicht sein Leben verlor, so verlor er, zumindest in der Karikatur, sein Gesicht. Zu seiner Rechten liegt einer der Kegel am Boden. Er ist ebenfalls anhand seiner Kleidung, seiner Orden und seines Gesichtes als der Großfürst Sergej Aleksandrovič zu erkennen. Dieser, so die Botschaft des Bildes, wurde durch eine terroristische Bombe bereits niedergestreckt. Der angstvolle Gesichtsausdruck des Kaisers suggeriert, dass dieser sich fürchtet, von der nächsten Bombe getroffen zu werden. Die übrigen Kegel tragen die Gesichtszüge und die Kleidung weiterer Protagonisten des zarischen Regimes, wie z. B. die Dmitrij Trepovs oder die des Großfürsten Vladimir Aleksandrovič. Die allegorische Verkörperung der „terreur“, die dem Bild nach bereits Sergej Aleksandrovič mit ihrer Kegelkugel traf, ist eben im Begriff, die nächste Bombe zu schleudern. Eine weitere explosive Kugel ist über den Rücklauf unterwegs zu der kegelnden jungen Frau mit der Jakobinermütze. Sie suggeriert sowohl, dass eine Bombe, vermutlich die auf Sergej Aleksandrovič, bereits geworfen wurde, als auch, dass weitere Munition für erneute Würfe der Terrorist*innen bereitsteht. Doch dieses Versprechen auf die prinzipielle Wiederholbarkeit der spektakulären Anschläge auf das Zentrum zarischer Macht konnte die Kampforganisation der PSR nach der Ermordung des Großfürsten Sergej Aleksandrovič nie mehr einlösen. Zunächst verlor sie mit dem begabten und allseits beliebten Dynamitexperten Maksimilian Švejcer eine ihrer wichtigsten Persönlichkeiten und den Kopf der Petersburger Abteilung, die Anfang 1905 einen weiteren zentralen Anschlag auf Vladimir Aleksandrovič, den Bruder Sergejs, plante. Švejcer verstarb in einer furchtbaren Explosion im St. Petersburger Hotel Bristol in der Nacht zum 26. Februar 1905, als er die Bomben dafür präparierte.4 Im März 1905 kam es, nicht durch den Verrat Azefs, sondern durch einen weiteren Informanten, zur Verhaftung eines großen Teils der in St. Petersburg befindlichen Vgl. dazu auch die Karikatur „Apelsinčiki“. Vgl. die Traueranzeige in: Revoljucionnaja Rossija, 15.März 1905. Vgl. auch: Gerassimoff, Der Kampf gegen die erste russische Revolution, 1934, S. 18–20; Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 158.

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Die Infation des Terrorismus an der Peripherie

Kampforganisation. Insgesamt wurden am 16. und 17. März 1905 mindestens 17 Sozialrevolutionär*innen verhaftet, darunter erfahrene Mitglieder der Kampforganisation wie Praskovija Ivanovskaja oder Egor Dulebov.5 Dieser Schlag der Polizei gegen die PSR-Kampforganisation wurde von der russischen offiziellen Presse als „Mukden der russischen Revolution“ bezeichnet.6 Die gesamte europäische Öffentlichkeit stand unter dem Eindruck der verheerenden Niederlage der russländischen Armee bei Mukden in der Mandschurei gegen die japanische Streitmacht. Vom 20. Februar bis zum 10. März 1905 dauerte eine der größten Schlachten, die vor dem Ersten Weltkrieg ausgetragen wurden. Die militärische Schmach und die hohen Verluste bei Mukden erwiesen sich im Nachhinein als eines der entscheidenden Ereignisse des Russisch-Japanischen Krieges.7 Insofern war der Ärger der Sozialrevolutionär*innen über diese Metapher berechtigt. Für die Kampforganisation war der Vergleich der Verhaftungen mit der Niederlage von Mukden zutreffend, diese sollte sich von dem Aderlass tatsächlich nicht mehr erholen. Es spricht dennoch für die Ausstrahlung der Kampforganisation der PSR, dass sie in jenen Tagen kurz nach dem Attentat auf Sergej Aleksandrovič von der bürgerlichen Presse mit der Revolution selbst gleichgesetzt wurde. Diese Revolution jedoch war mit den Verhaftungen vom März 1905 bei Weitem noch nicht erledigt, auch nicht der Terrorismus, der allerdings nun nicht mehr in den Händen der Kampforganisation lag. Die Inflation des Terrorismus an der Peripherie, die bereits mit dem Attentat von Hirš Lekert 1902 ihren Anfang genommen hatte, gewann nun, da die Kraft der zentralen Kampforganisation geschwächt war, eine neue Dynamik. Noch zu Zeiten der zentralen Kampforganisation hatten die Sozialrevolutionär*innen zwischen zentralem und peripherem oder besser „lokalem“ Terrorismus, wie sie es nannten, unterschieden. Bereits vor dem Attentat auf Pleve verwies Savinkov in einem Konflikt mit Azef auf die Bedeutung, die „lokaler Terror“ im Vergleich zum zentralen noch zur Zeit der Kampforganisation unter Geršuni gehabt habe, und bestand darauf, „dass es, wenn die Partei keine Kraft für den zentralen Terror habe, notwendig sei, wenigstens lokalen Terror zu machen, wie seinerzeit Geršuni in Char′kov und Ufa.“8 Auch der Anwalt Kaljaevs, Michail Mandel′štam, unterschied in der Rückschau zwischen „zentralem Terror“, also den Anschlägen auf Bogolepov, Sipjagin, Pleve und Sergej Aleksandrovič, und dem „lokalen Terror“, womit er die Attentate auf Bogdanovič (Ufa), Obolenskij (Char′kov) und Luženovskij (durch Marja Spiridonova in Borisoglebsk) meinte.9 Ivanovskaja, V boevoj organizacii, 1996, S. 136. Zum Prozess vgl. Leon Isaakovič Gol′dman, Političeskie processy v Rossii, 1901–1917, Moskva 1932, S. 164. 6 Die Revoljucionnaja Rossija verweist auf ein Zitat aus den Moskovskie Vedomosti: Memento!, in: Revoljucionnaja Rossija, 1. August 1905 Vgl. auch: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 164–165. 7 Vgl. z. B. Jan Kusber, Siegeserwartungen und Schuldzuweisungen, in: Josef Kreiner (Hg.), Der russischjapanische Krieg (1904/05), Göttingen 2005, S. 99–116, hier 99, 109. 8 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 38. 9 Mandel′štam, 1905 god v političeskich processach, 1931, S. 227. 5

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Doch sind die Quellenbegriffe „zentraler“ und „lokaler (russ. mestnyj) Terror“ gleichzusetzen mit den analytischen Kategorien, die zwischen zentralem und peripherem Terrorismus zu trennen versuchen? Als „lokal“ wurden von Savinkov und Mandel′štam die Anschläge auf Bogdanovič und Obolenskij bezeichnet, weil sie nicht im Zentrum des Reiches – also in Moskau oder St. Petersburg – stattfanden. Vor allem in Ufa arbeitete Geršuni zudem mit lokalen Revolutionär*innen zusammen, anders als die Kampforganisation unter Azef dieses bei den zentralen Anschlägen in St. Petersburg und Moskau machte. Allerdings wurden diese beiden „lokalen“ Anschläge von der zentralen Kampforganisation geplant, unter ihrer Ägide durchgeführt und ebenfalls von der zentralen Kampforganisation medial aufgearbeitet. Zudem bezogen sich die beiden Anschläge auf Ereignisse, die, wie die Bauernunruhen von Char′kov oder das Massaker von Zlatoust, für Aufmerksamkeit im gesamten Russischen Reich gesorgt hatten. Deshalb waren diese Anschläge selbst von überregionaler Bedeutung, auch wenn sie nicht an die Ausstrahlung der Attentate im Zentrum heranreichten. Nach Einschätzung Mandel′štams hatte der „zentrale Terror“ mit den Anschlägen auf Pleve und Sergej Aleksandrovič seinen „Kulminationspunkt“ erreicht.10 Durch die große Ausstrahlung unterschieden diese sich von den Attentaten auf Bogdanovič und Obolenskij, aber auch von den Ermordungen Bogolepovs und Sipjagins. Deshalb entscheidet nicht allein die Intensität der Ausstrahlung über zentrale oder periphere Bedeutung der einzelnen Anschläge. Um zwischen peripherem und zentralem Terrorismus analytisch zu unterscheiden, sei angenommen: Terroristische Taten, die mit einer Ausstrahlung auf das gesamte Russische Reich geplant waren, sind Akte des zentralen Terrorismus. Das gilt für die Täter*innen, die im Falle der zentralen Kampforganisation für sich das Recht beanspruchten, wenn auch autonom, so doch im Namen der allrussischen Partei der Sozialrevolutionär*innen zu handeln. Das Vorgehen Azefs gegen konkurrierende terroristische Unternehmungen ist nur ein Beleg für diesen Alleinvertretungsanspruch. Diese zentrale Bedeutung müssen aber auch die Opfer der Anschläge haben. Auch wenn sie nicht unbedingt auf einer allrussischen Ebene politisch wirksam waren, war es dennoch wichtig, dass sie symbolisch für das ganze Reich Bedeutung hatten. So war z. B. der Großfürst Sergej Aleksandrovič als Generalgouverneur von Moskau streng genommen in erster Linie ein Lokalpolitiker. Aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Zarenfamilie, seiner Funktion in der berüchtigten Hofcamarilla und seiner Haltung gegenüber Revolutionär*innen und Minderheiten generell stand er symbolisch für das im ganzen Reich verhasste politische System und war also ein zentrales Ziel. Bereits nach dem ersten Anschlag der zentralen Kampforganisation verbreiterte sich die Basis des Terrorismus dezentral. Einzelne Akteur*innen an der Peripherie, wie Hirš Lekert, wandten sich mit Anschlägen gegen Protagonisten des zarischen Regimes

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Ebd.

Sozialrevolutionärer Terrorismus an der Peripherie im Jahr 1905

vor Ort. Im Zuge der revolutionären Ereignisse von 1905 und der Eskalation der Gewalt nahmen diese Anschläge an der Peripherie zu. Auch die Sozialrevolutionär*innen verließen sich nicht mehr auf die Aktivitäten ihrer zentralen Kampforganisation. Sozialrevolutionärer Terrorismus an der Peripherie im Jahr 1905

Im Zuge der revolutionären Ereignisse des Jahres 1905 radikalisierten sich die Sozialrevolutionär*innen an der Basis. Neben dem Blutsonntag und der Streikbewegung trug auch die Hinrichtung des Märtyrers Ivan Kaljaev am 10. Mai erheblich zur Steigerung der Gewaltbereitschaft bei.11 Im Juni 1905 rief das Zentralkomitee der PSR in der Revoljucionnaja Rossija zur Revolte auf.12 Zum Jahrestag der Ermordung Pleves am 15. Juli 1905 erinnerten die Sozialrevolutionär*innen ihre Leser*innen nochmals an die Erfolge der terroristischen Kampagne der zentralen Kampforganisation der PSR und beschworen den Tag, an dem das Volk endlich siegen werde.13 Am 1. August schließlich appellierte die Redaktion an ihre Leser*innen: „Memento!“ Aus dem Gedenken an die Märtyrer der sozialrevolutionären Kampforganisation, aber auch an die Opfer aus den Reihen der revolutionären Bewegung insgesamt sollte sich die revolutionäre Kraft stärken. Die Sozialrevolutionär*innen beschuldigten das Regime eines „Systems des gesetzlichen Terrors“14 und legitimierten in mittlerweile bewährter Weise ihre eigenen Gewalttaten mit dem Verweis auf dieses Unrecht. Parallel zu dieser Agitationskampagne gründeten sich dort, wo es nicht bereits geschehen war, lokale Kampforganisationen.15 Schließlich gab es solche Abteilungen in Odessa, Białystok, Gomel′, Krasnojarsk, Kišinev, Moskau, Ufa, Tiflis, Baku, Nižnij Novgorod, Samara oder Ekaterinoslav, um nur einige zu nennen. Diese terroristischen Gruppen, die zunächst lokale „Kampfbruderschaften“16 waren und dann als „fliegende Kommandos“17 weiträumiger agierten, wurden im Laufe des Jahres 1905 zunehmend aktiv. In den Jahren 1902 bis 1904

Vgl. dazu auch noch einmal die Berichterstattung: Smert′ I. Kaljaeva, in: Revoljucionnaja Rossija, 1. Juni 1905; Poslednie minuty Kaljaeva, in: Revoljucionnaja Rossija, 1. Juni 1905. 12 Narodnaja revoljucija, in: Revoljucionnaja Rossija, 15. Juni 1905. 13 15 julja 1904–1905, in: Revoljucionnaja Rossija, 15. Juli 1905. 14 Memento!, in: Revoljucionnaja Rossija, 1. August 1905. 15 Den Zusammenhang zwischen der Agitation des Zentralkomitees und den lokalen Gründungen stellt der Zeitgenosse Spiridovič her: Spiridovitch, Histoire du Terrorisme Russe 1886–1917, 1930, S. 231–233. 16 Bis Ende 1905 wurden die meisten Anschläge von Kampfbruderschaften verübt. Dieser Begriff war auch in der Öffentlichkeit geläufig. Vgl. z. B. Novyj terrorističeskij fakt, in: Revoljucionnaja Rossija, 1. Juli 1905; in: Revoljucionnaja Rossija, 15. August 1905 Vgl. auch: M. Ivič, Statistika terrorističeskich aktov, soveršennych partiej socialistov-revoljucionerov, in: Partija socialistov-revoljucionerov. Dokumenty i materialy. V 3 tomach. Tom 2: ijun′ 1907 g. – fevral′ 1917 g., Bd. 2, Moskva 2001, S. 377–389. 17 Ab 1906 stehen hinter einer Vielzahl der Anschläge die sogenannten „fliegenden Kommandos“: Ebd., S. 380–390. Vgl. auch Anna Geifman, The Kadets and terrorism. 1905–1907, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 36 (1988), S. 248–267, hier S. 252. 11

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fanden insgesamt sieben sozialrevolutionäre Terroranschläge statt. Davon wurden nur zwei Aktionen im Oktober 1903 von lokalen Kampfbruderschaften in Białystok und in Berdičev auf eigene Faust ausgeführt. Für das Jahr 1905 notierte der Parteigenosse Ivič 51 Attentate durch sozialrevolutionäre Terrorist*innen. Davon wurde nur eines, nämlich der Anschlag auf Sergej Aleksandrovič, von der zentralen Kampforganisation durchgeführt. Die übrigen waren Gewalttaten lokaler SR-Komitees, Kampfbruderschaften oder fliegender Kommandos. Diese Zahlen belegen, dass an der inflationären Ausbreitung des Terrorismus und der damit einhergehenden Eskalation der Gewalt vor allem die peripheren terroristischen Gruppen beteiligt waren. Anna Geifman hat beschrieben, dass die massenhafte Gewalt vor allem nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen um das Oktobermanifest eskalierte.18 Doch bevor in den Oktoberunruhen alle Dämme brachen, verübten bereits zahlreiche lokale SR-Kampfbruderschaften an den unterschiedlichsten Orten des Reiches, in den Zentren, den Mittelzentren der Peripherie, aber auch in kleinen Städten, eine Vielzahl von Anschlägen. Der Kiewer Chef der Ochrana Aleksandr Spiridovič lieferte eine umfangreiche Liste sozialrevolutionärer Anschläge im Verlaufe des Jahres 1905, die möglicherweise auch Fälle umfasst, die nicht zweifelsfrei der PSR zuzuordnen waren.19 Eine aufschlussreiche Quelle für die Inflation der peripheren Terroranschläge im Laufe des Jahres 1905 auch in den Reihen der Sozialrevolutionär*innen ist die Aufstellung sozialrevolutionärer Terroranschläge, die der Sozialrevolutionär Ivič im Jahr 1909 vorlegte. Ivič wollte durch die Vielzahl der dezentralen Terrorakte beweisen, dass Azef, der 1909 als Verräter entlarvt wurde, nur für einen Bruchteil der Anschläge verantwortlich gewesen war.20 Doch unabhängig davon, ob Ivič deshalb die Zahlen nach oben korrigierte, wird anhand der Liste deutlich: Die lokalen Kampfbruderschaften der PSR in den Zentren und an der Peripherie traten im Jahr 1905 eine terroristische Kampagne los, der in einigen Phasen fast täglich Repräsentanten des Regimes an den unterschiedlichsten Orten des Reiches zum Opfer fielen. Diese Repräsentanten des Regimes waren bereits zu diesem Zeitpunkt keine hochrangigen Politiker mehr, sondern meist Mitarbeiter der örtlichen Polizei. Bereits im Februar und März verübten sozialrevolutionäre Kampfbruderschaften Anschläge in Białystok, Vetki und Odessa. Die SR-Kampfbruderschaft in Nižnij Novgorod verübte am 28. April 1905 ein Attentat auf den örtlichen Polizeihauptmann

Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 20. Vgl. auch: Rolf, A continuum of crisis?, 2013, S. 159–174; Rolf, Metropolen im Ausnahmezustand?, 2013, S. 25–49. 19 Für eine Auflistung der Anschläge von dezentralen SR-Kampfbruderschaften und für die Informationen im Folgenden vgl. vor allem: Spiridovitch, Histoire du Terrorisme Russe 1886–1917, 1930, S. 233–238. Und Ivič, Statistika terrorističeskich aktov, soveršennych partiej socialistov-revoljucionerov, 2001, S. 377– 389. Beide Quellen bestätigen sich in den allermeisten Fällen gegenseitig. 20 Ebd., S. 377–378. 18

Sozialrevolutionärer Terrorismus an der Peripherie im Jahr 1905

Grešner21 und versuchte ein zweites im Verlaufe des Sommers auf den Gouverneur Unterberger, das aber scheiterte. Am 29. April wurde in Dvinsk ein Polizeikomissar verletzt und am 7. September ein Kommissaranwärter getötet. In Ufa ermordete die Kampfbruderschaft am 3. Mai 1905 den Gouverneur Lev Sokolovskij.22 Am 16. Juni wurde in Vitebsk ein Polizeikommissar bei einem Anschlag verletzt und am 13. Juli der Postmeister der Gendarmerie getötet. In Tiflis wurde der stellvertretende Polizeichef Kovalev bei einer Bombenexplosion am 12. Juli verletzt. Ein weiteres Attentat konnte die Polizei in Tiflis Ende des Monats Juli nur knapp verhindern. In Kišinev wurde am 15. Juli der Polizeikommissar Solovkin verletzt. In der ukrainischen Kleinstadt Lubny wurde am 16. Juli der Polizeichef Semenov getötet. In Samara wurde am 30. Juli ein Kommissar der Polizei verletzt. In Borisov im Gouvernement Minsk warfen am 3. August Sozialrevolutionär*innen vom Dach eines Hauses eine Bombe auf eine Patrouille von Dragonern. Dabei wurden drei der Soldaten getötet und elf weitere verletzt. In Rostov am Don wurde am 7. August ein Offizier der Gendarmerie ermordet. Am 22. August wurde in Vil′na ein Polizeispitzel bei einem Anschlag verletzt. Am 27. August wurde in Białystok der Komissar Samsonov bei einer Bombenexplosion verletzt. In Baku ermordeten Sozialrevolutionär*innen am 29. August einen Polizeispitzel. Am 27. September töteten unbekannte Sozialrevolutionär*innen den Polizeichef von Kišinev, Ossovskij. In Krasnojarsk wurde am 30. September der Polizeichef Tidmar getötet. In Ekaterinoslav nutzte die örtliche Kampfbruderschaft die Oktoberunruhen, um ihre Bomben auf Soldaten zu werfen. Dabei wurden zwei Soldaten getötet und drei verletzt.23 An einigen Orten entfaltete die lokale SR-Kampfbruderschaft besonders intensive Aktivitäten, die über die Kreise der Sozialrevolutionär*innen hinausreichten. So richtete etwa die SR-Kampfbruderschaft in Gomel′ eine eigene Bombenwerkstatt ein und plante eine Reihe von Anschlägen. Nachdem ein Attentat am 18. Juli auf einen führenden Beamten der Polizei gescheitert war, schafften es zwei Sozialrevolutionäre am 27. September, den Kreispolizeichef Elenskij zu ermorden. Einige der örtlichen Sozialrevolutionär*innen schlossen sich mit den Aktivist*innen des jüdischen Bund zusammen und verübten gemeinsam Anschläge auf Repräsentanten der Regierung. Ein solches Attentat fand am 11. Oktober 1905 statt, als der sozialrevolutionäre Arbeiter Maleev eine Bombe auf eine Kosakenpatrouille warf und einen Kosaken dabei tötete.24

Vgl. den betreffenden Artikel in: Revoljucionnaja Rossija, 15. August 1905. Vgl. dazu auch: Steinwedel, The 1905 revolution in Ufa, 2000, S. 559. Vgl. zusätzlich zu Spiridovitch, Histoire du Terrorisme Russe 1886–1917, 1930, S. 233–238. Auch: Gerald Surh, Ekaterinoslav city in 1905. Worker, Jews, and violence, in: International Labour and Working-Class History 64 (2003), S. 139–166, hier S. 148. 24 Ivič, Statistika terrorističeskich aktov, soveršennych partiej socialistov-revoljucionerov, 2001, S. 377–389. Vgl. zusätzlich nicht nur: Spiridovitch, Histoire du Terrorisme Russe 1886–1917, 1930, S. 235–236. Sondern auch: Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 104. 21 22 23

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Die Anschläge des Jahres 1905 in Moskau waren ein besonders interessanter Fall. Ein halbes Jahr nach der viel beachteten Ermordung des Großfürsten Sergej Aleksandrovič verübten die Sozialrevolutionär*innen erneut einen Anschlag in der zweiten Hauptstadt des Reiches. Dieses Mal bekannte sich allerdings nicht die zentrale Kampforganisation zu dem Anschlag, sondern die örtliche Kampfbruderschaft.25 In deren Auftrag tötete jener Petr Kulikovskij, der die zentrale Kampforganisation am Tag des Anschlags auf Sergej Aleksandrovič aus Erschöpfung verließ, am 28. Juni den Moskauer Stadthauptmann Šuvalov mit einem Revolver.26 Dieser Anschlag kann zeigen, dass Attentate, die in Moskau oder St. Petersburg stattgefunden haben, nicht automatisch zentrale Anschläge waren. Zwar zog die Ermordung Šuvalovs im Zentrum des Reiches durchaus größeres Interesse auf sich als die Ereignisse, die in zeitlicher Nähe etwa Vitebsk oder Białystok erschütterten,27 aber die Resonanz war keinesfalls mit der nach den Anschlägen der zentralen Kampforganisation zu vergleichen. Das Attentat auf Šuvalov blieb also eine Erscheinung des lokalen – peripheren – Terrorismus, obwohl der Anschlag in Moskau stattgefunden hatte. Statt lückenlos alle 51 Anschläge sozialrevolutionärer Gruppen im Jahr 1905 aufzuführen, konzentrieren sich die Ausführungen im Folgenden auf einen Ort an der Peripherie, der für die Geschichte des Terrorismus eine hervorgehobene Rolle spielte: die Stadt Odessa. An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass zu den Sozialrevolutionär*innen weitere Akteur*innen hinzukamen, die Terroranschläge planten und durchführten. Außerdem lässt sich am Beispiel Odessas zeigen, dass der Terrorismus im einem Umfeld eskalierender Gewalt zum Massenterror wurde. Odessa

Odessa, an der südwestlichen Peripherie des Reiches gelegen, war eine Stadt, die für die Geschichte der revolutionären Gewalt, vor allem aber auch für die Geschichte des Terrorismus von zentraler Bedeutung war. Bereits in der ersten Phase dieser Geschichte galt Odessa als Wiege des russländischen Terrorismus. Am 30. Januar 1878 leistete Ivan Koval′skij dort bewaffneten Widerstand, als seine illegale Druckerei von der Polizei entdeckt wurde.28 Die Hinrichtung Koval′skijs wurde in dem Traktat „Ein Tod für einen Tod“ als Legitimation für das Attentat von Stepnjak-Kravčinskij auf Mesencev Partija Socialistov-Revoljucionerov, Kazn′ gradonačal′nika Šuvalova, undatiert, RGIA, f. 1405, op. 530, d. 195. 26 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S.  121–122; Ivič, Statistika terrorističeskich aktov, soveršennych partiej socialistov-revoljucionerov, 2001, S. 377–389. 27 Ivič, Statistika terrorističeskich aktov, soveršennych partiej socialistov-revoljucionerov, 2001, S. 377–389. Vgl. zur Berichterstattung in der Revoljucionnaja Rossija etwa: Novyj terrorističeskij fakt, in: Revoljucionnaja Rossija, 1. Juli 1905. Oder Za čto?, in: Revoljucionnaja Rossija, 1. August 1905. 28 Venturi, Roots of revolution, 2001, S. 599–600. 25

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herangezogen.29 In Odessa war in jenen Jahren auch Valerian Osinskij aktiv, den Alphons Thun als „empirischen Gründer des Terrorismus“ bezeichnete.30 Nicht zuletzt deshalb kam der zeitgenössische Beobachter Thun zu dem Schluss, dass der Terrorismus im Süden Russlands – nicht zuletzt in Odessa – erfunden worden war.31 Odessa war in vielerlei Hinsicht Avantgarde. Erst 1794 von Katharina II. gegründet, wuchs die Stadt rasant auf eine Einwohnerzahl von 145.000 im Jahr 1872 an. Damit wurde sie in nicht einmal 80 Jahren aus dem Nichts zur viertgrößten Stadt im gesamten Russischen Reich.32 Und das Wachstum hörte nicht auf. Im Jahr 1905 lebten dort bereits 511.000 Menschen.33 Der Hafen beförderte das wirtschaftliche Wachstum, Odessa galt als „Stadt des Weizens“.34 Es war vor allem die ökonomische Prosperität, die Odessa zum Anziehungspunkt für zahlreiche Migrant*innen an der südwestlichen Peripherie machte. Da die Stadt im Ansiedlungsrayon lag, gab es keine Zuwanderungsbeschränkungen für Jüd*innen. Deshalb wurde sie zu einer weltlichen jüdischen Metropole, im Gegensatz zu Vilne, das als geistiges jüdisches Zentrum im Ansiedlungsrayon galt. Im Jahr 1904 waren fast ein Drittel der Einwohner*innen Odessas jüdisch (160.000 Menschen).35 Die Mehrheit der Bewohner*innen Odessas war russisch oder ukrainisch, aber es gab auch viele Pol*innen, Griech*innen und Deutsche sowie andere Westeuropäer*innen in der Stadt. Es war zunächst vor allem das wirtschaftliche Wachstum und der Handelsplatz, der Kaufleute und Arbeiter*innen sowie zahlreiche Menschen, die ihr Glück suchten, anzog. Durch die Voraussetzungslosigkeit der jungen Boomtown und dem Fehlen alter Eliten war oder erschien sozialer Aufstieg hier leichter möglich als anderswo. Nach Odessa ziehen bedeutete, reich zu werden. Ein jüdisches Sprichwort sprach vom „Leben wie Gott in Odessa.“36 Die Stadt wurde für die Einwohner*innen des Reiches und für manche Ausländer*innen zum russländischen „El Dorado“.37 Die Gründung der Neurussischen Universität und zahlreicher weiterer Institutionen höherer Bildung zog außerdem Studierende, Intellektuelle und Gelehrte an.38 Odessa galt zudem als Oase in der kulturellen Wüstenei, die das Russische Reich in den Augen vieler Zeitgenoss*innen darstellte. Vor allem die Präsenz westeuropäischer Ausländer*innen, die in den ersten Jahrzehnten, als die Stadt noch klein war,

Kravčinskij, Grozovaja tuča Rossii, 2001, S. 13. Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S. 167. Ebd., S. 166. Vgl. dazu auch das Kapitel „Peripherie“ im ersten Teil dieser Arbeit. Robert Weinberg, Visualizing pogroms in Russian history, in: Jewish History 12 (1998), H. 2, S. 71–92, hier S. 72. 33 Patricia Herlihy, Odessa: A history. 1794–1914, Cambridge, Mass 1986, S. 234. 34 Zitiert nach: Weinberg, Visualizing pogroms in Russian history, 1998, S. 73. 35 Herlihy, Odessa: A history, 1986, S. 251. 36 Zitiert nach: ebd., S. 300. 37 Weinberg, Visualizing pogroms in Russian history, 1998, S. 73. 38 Hausmann, Universität und städtische Gesellschaft in Odessa, 1865–1917 1998, S. 64–104. 29 30 31 32

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einen großen Anteil an der Bevölkerung ausmachten, sorgte für ein gewisses kosmopolitisches Flair. Die ersten Straßenschilder in den 1820ern waren in russischer und italienischer Sprache beschriftet, die erste Zeitung erschien auf Französisch. Es etablierte sich eine Theater- und Opernszene, die auch im Ausland renommiert war.39 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts galt das liberale Odessa auch als Ort, an dem Zeitungen und ihre Journalisten die Grenzen obrigkeitlicher Zensur ausreizen konnten.40 Nicht zuletzt aufgrund dieser Atmosphäre und der infrastrukturellen Bedingungen des Schwarzmeerhafens galt die Stadt als Geburtsstätte von vier nationalen Bewegungen: Die jüdische Nationalbewegung entwickelte sich, angetrieben von Persönlichkeiten wie Leon Pinsker, Achad Ha-am, Simon Dubnow oder Meir Dizengoff, in Gruppen wie den Hovevei Zion (Zionsliebenden) oder im so bezeichneten Nationalisierungskomitee. Nach dem Pogrom von Kišinev rief dieses Nationalisierungskomitee zur Selbstverteidigung auf, und jüdische Selbstverteidigungsgruppen gründeten sich in zahlreichen Städten, unter anderem auch in Odessa.41 Die griechische nationale Geheimgesellschaft Hetairia wurde bereits 1821 in Odessa ins Leben gerufen und plante von dort aus den Aufstand gegen die osmanischen Machthaber.42 Ebenfalls in Odessa entstand nach dem Vorbild der Kiewer Gruppe in den 1860er Jahren die Hromada als Agentur der ukrainischen Nationalbewegung.43 1861 gründete sich in Odessa ein gemeinsames Revolutionskomitee von Ukrainer*innen und Pol*innen. Es war der Knotenpunkt in einem Netzwerk, das Kiew, Warschau, London, Paris und Genf verband. Während des polnischen Aufstands von 1863 nutzten polnische Widerstandskämpfer*innen Odessa als Ort, um aus dem Ausland ins Russische Reich einzureisen bzw. den Einflussbereich des zarischen Repressionsapparates wieder zu verlassen.44 Die Moskovskie vedomosti bezeichneten Odessa als „Hauptstützpunkt der polnischen revolutionären Aktivitäten und internationales Zentrum für die Kommunikation mit allen anderen revolutionären Zentren in Europa“.45 Neben internationaler Kaufmannschaft, liberalem und Wirtschaftsbürgertum, Vertreter*innen der nationalen Intelligencija unterschiedlicher Nationalitäten, Arbeiterschaft und großen Gruppen unterprivilegierter Migrant*innen, die z. T. als ungelernte Arbeitskräfte im Hafen und in den verschiedenen Wirtschaftsunternehmen tätig wa-

Weinberg, Visualizing pogroms in Russian history, 1998, S. 73. Louise McReynolds, V. M. Doroshevich. The newspaper journalist and the development of public opinion in civil society, in: Edith W. Clowes / Samuel D. Kassow / James L. West (Hg.), Between tsar and people. Educated society and the quest for public identity in late imperial Russia, Princeton 1991, S. 233–247. 41 Vgl. dazu z. B. Anke Hilbrenner, Diaspora-Nationalismus. Zur Geschichtskonstruktion Simon Dubnows, Göttingen 2007, S. 188–192. 42 Herlihy, Odessa: A history, 1986, S. 283. 43 Ebd., S. 286. 44 Ebd. 45 Zitiert nach: Ebd., S. 283. 39 40

Odessa

ren, wurde das Bild Odessas auch von seiner Halbwelt, von seinem Nachtleben und von seiner Kriminalität geprägt.46 Das berüchtigte Vergnügungsviertel Odessas war im zentralen und prestigeträchtigen Bul′evarnyj distrikt gelegen. Dort begegneten sich alle sozialen Schichten, die normalerweise in unterschiedlichen Stadtvierteln voneinander getrennt lebten. Wegen einiger berühmter Kneipen, wie z. B. dem „Gambrinus“ an der Deribassovskaja Straße, genoss Odessa bei Seeleuten in den Häfen der Welt, von New York über Sidney bis Ceylon, einen Ruf wie Donnerhall.47 In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg berichteten die Odessaer Zeitungen so ausdauernd von Verbrechen in diesem Vergnügungsviertel, dass die oberen und mittleren Schichten, die für harmlose Vergnügungen wie Kaffee und Kuchen in das Viertel kamen, und vor allem sogenannte „ehrbare Frauen“ sich zurückzogen.48 Möglicherweise war der Damensalon, den das elegante italienische Café Fankoni ab 1910 einrichtete, eine Antwort auf diese Veränderungen.49 Die Liste der Vorkommnisse im Zentrum reichte von Prügeleien über Raub bis hin zu Vergewaltigungen.50 Neben Prostitution und Kriminalität im Vergnügungsviertel bot die Hafenstadt zusätzliche Möglichkeiten, auf illegale Weise an Geld zu kommen. Vor allem der Schmuggel begünstigte kriminelle Karrieren ebenso wie die Lebensumstände großer sozialer Gruppen, die in vielerlei Hinsicht benachteiligt waren. Ein Beispiel für ein als kriminell verrufenes Stadtviertel war die berüchtigte Moldavanka. Dieser Distrikt lag zwischen Stadtzentrum und der städtischen Peripherie. Obwohl auch in der Moldavanka eine Menge ehrlicher Menschen wohnten, die einer geregelten Arbeit nachgingen, galt sie in der Presse und in der Literatur als gefährlicher und krimineller Slum. Laut Berichterstattung waren gewaltsame Übergriffe in der Moldavanka an der Tagesordnung. Sowohl Überfälle als auch Diebstähle fanden demnach regelmäßig statt. Vor allem Isaak Babel′ mit seinen Erzählungen darüber, „Wie es in Odessa gemacht wurde“, trug zur Tradierung dieses Bildes von der Moldavanka als jüdisch geprägtem Ganovenviertel bei.51 Doch nicht nur kriminelle Gewalt, sondern auch interethnische Konflikte verstärkten den zweifelhaften Ruf Odessas. Bereits in den Jahren 1821, 1849 und 1859 hatte es ernsthafte Ausschreitungen gegenüber Jüd*innen gegeben. Im Jahr 1871, zehn Jahre vor der großen Welle antijüdischer Gewalt im Ansiedlungsrayon, ereignete sich abermals ein Pogrom. Am Vorabend des orthodoxen Osterfestes reagierten Mitglieder der grie-

Vgl. z. B. Jarrod Tanny, City of rogues and schnorrers. Russia’s Jews and the myth of old Odessa, Bloomington 2011. 47 Alexander Kuprin, Sasha, London 1920, S. 14. Vgl. auch: Roshanna P. Sylvester, Cultural transgressions, bourgeois fears. Violent crime in Odessa’s central entertainment district, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996), S. 503–522, hier S. 510. 48 Ebd., S. 510–520. 49 Herlihy, Odessa: A history, 1986, S. 264. 50 Sylvester, Cultural transgressions, bourgeois fears, 1996, S. 511–520. 51 Isaak Ė. Babel′, Wie es in Odessa gemacht wurde, in Budjonnys Reiterarmee und anderes. Das erzählende Werk, Olten, Freiburg 1960, S. 167–180. 46

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chischen Gemeinde gewaltsam auf Gerüchte, Jüd*innen hätten die griechisch-orthodoxe Kirche geschändet. Im Zuge des Pogroms wurden sechs Menschen getötet und einundzwanzig verletzt. Zudem wurden über 1.000 jüdische Häuser und Geschäfte, vor allem in der Moldavanka, beschädigt oder zerstört.52 Auch die Pogromwelle von 1881 suchte Odessa heim.53 Die antijüdischen Ausschreitungen dauerten drei Tage und drei Nächte.54 Im frühen 20. Jahrhundert blieb es, auch nach den furchtbaren Pogromen, die ab 1903 auf Kišinev folgten, zunächst ruhig in Odessa. Doch trotz der relativen Ruhe vor dem Sturm gehörten in Odessa noch vor Ausbruch der Revolution im Jahre 1905 Plünderungen und Gewalt gegen unschuldige Männer, Frauen und Kinder durch die ereignisreiche Pogromgeschichte zum kollektiven Erfahrungsschatz. Revolutionär*innen in Odessa

Anfang des 20. Jahrhunderts waren verschiedene radikale Parteien in Odessa aktiv und warben um die Gunst der Arbeiterschaft. Die Sozialdemokrat*innen hatten ein Odessaer Komitee gegründet, das unter der Führung von M. Zborovskij die ökonomistische Fraktion innerhalb der Partei vertrat. Die Ökonomist*innen kämpften weniger für die Revolution als für konkrete ökonomische Ziele, wie höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen etc. 55 Die Konflikte innerhalb der Sozialdemokrat*innen um diesen Kurs führten zur Abspaltung von radikalen sozialdemokratischen Splittergruppen. Um die jüdischen Arbeiter*innen warb der Bund in Odessa. Zudem war die Polnische Sozialdemokratische Partei (PPS) vertreten. Auch die Sozialrevolutionär*innen gründeten ein Odessaer Komitee im Jahr 1902.56 Nach der Verhaftung von Geršuni 1903 und der darauf folgenden Krise der PSR befanden sich im Frühjahr 1904 zahlreiche sozialrevolutionäre Führungspersönlichkeiten in der Stadt, und es entfaltete sich ein reges Parteileben.57 Anarchist*innen – Machaevcy

Außerdem war Odessa ein wichtiger Standort für anarchistische Gruppierungen, die nach der Jahrhundertwende entstanden. In der Geschichte des russländischen Anarchismus spielt Odessa eine hervorgehobene Rolle. Im Süden des Reiches war die Weinberg, Visualizing pogroms in Russian history, 1986, S. 302. Vgl. dazu das Kapitel „Die Pogrome von 1881-1882 im terroristischen Kontext“ im ersten Teil. Herlihy, Odessa: A history, 1986, S. 303. Schneiderman, Sergej Zubatov and revolutionary marxism,, 1976, S. 292–293. Herlihy, Odessa:  A history, 1986, S.  292; Schneiderman, Sergej Zubatov and revolutionary marxism, 1976, S. 293–297. 57 Vgl. Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 115. 52 53 54 55 56

Revolutionär*innen in Odessa

Stadt, gemeinsam mit Ekaterinoslav, der erste Ausgangspunkt des Anarchismus. Die Entwicklung war überall ähnlich: Eine kleine Gruppe unzufriedener Sozialdemokrat*innen oder Sozialrevolutionär*innen gründete einen anarchistischen Zirkel und kümmerte sich zunächst um Propaganda. Daraufhin formierten sich mehrere Gruppen, die sich in Föderationen zusammentaten und mit ihrer Propaganda der Tat begannen.58 Die politische Biographie der berüchtigten Anarchistin Olga Taratuta ist charakteristisch für die Entstehung und die Revolutionsgeschichte der anarchistischen Gruppierungen in Südrussland.59 Olga Taratuta wurde am 21. Januar 1876 im Novomirgorod im Gouvernement Cherson als Elka Ruzinskaja in eine jüdische Familie geboren. Ihr Vater führte ein kleines Geschäft. Ihr erster Ehemann hieß Fel′dmann, doch später heiratete sie den Revolutionär Ovsej (Aron Refulov) Taratuta alias „Djadja“ (Onkel), der seit seiner Verhaftung bei einer Demonstration in Kiew am 11. März 1901 administrativ verbannt war. 1897 trat sie in Ekaterinoslav einem sozialdemokratischen Zirkel bei. Im Jahr 1898 fiel sie den Behörden in Odessa das erste Mal wegen der Zugehörigkeit zum „Ekaterinoslaver Zirkel der Südrussischen Arbeiter Union“ auf. Von 1901 bis 1904 hielt sie sich im Ausland auf. Während dieser Zeit bereiste sie Deutschland und die Schweiz. Sie traf Lenin und Plechanov und arbeitete für die sozialdemokratische Zeitung Iskra. In der Schweiz wandte sie sich im Jahr 1903 den Anarchist*innen-Kommunist*innen zu. Die Behörden wurden erneut auf sie aufmerksam, als sie 1904 in Odessa für die Gruppe der Neprimirimye (Unversöhnliche) unter dem Namen Dvojra Basist aktiv wurde. Die Neprimirimye galten als Abspaltung der Sozialrevolutionär*innen und waren Anhänger*innen der anti-intellektuellen Ideologie der Machaevcy.60 Die Machaevcy, die besonders in Odessa eine starke Gruppe darstellten, waren Anhänger*innen von Jan Wacław Machajski, der 1866 in der polnischen Stadt Busk geboren wurde. Aufgrund seiner revolutionären Aktivitäten als Marxist wurde er 1892 verhaftet und nach Sibirien verbannt. Dort schrieb er sein Traktat Umstvennyj rabočij (Geistesarbeiter), in dem er den Marxismus kritisierte.61 In einer sozialistischen Gesellschaft, wie sie der marxistischen Utopie entspräche, würden, so seine Kritik, nicht die Arbeiter*innen herrschen, sondern die Intellektuellen. Die herrschende Klasse werde im Sozialismus marxistischer Prägung von einer neuen herrschenden Klasse ersetzt. Als neue Klasse würden die Intellektuellen herrschen. Ihr Kapital wäre Bil-

Avrich, The Russian anarchists, 1967, S. 42–43. Vgl. zur Biographie Taratutas: Spravka departamenta pol. za 1910 o dejatelnosti anarchistki Olga Taratuta, 1910, CDIAK f. 275, op. 1, d. 1972. Vgl. auch: Hilbrenner, Der Bombenanschlag auf das Café Libman in Odessa am 17. Dezember 1905: Terrorismus als Gewaltgeschichte, 2010, S. 210–231. 60 CDIAK, Kievskoe ochranoe otdelenie 1910 – Spravka departamenta pol, f. 275, op. 1, d. 1972. 61 Vgl. zu den Diskussionen um Machajski innerhalb der revolutionären Bewegung auch: Lev Davidovič Trockij / Alexandra Pfemfert, Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Berlin 1990, S. 123. 58 59

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dung.62 Aus dieser Kritik folgte nicht nur eine anti-intellektuelle Haltung, sondern auch die Privilegierung der Tat gegenüber der Ideologie. Diese Taten (z. B. Streiks), die gegen Kapitalist*innen zu richten wären, sollten eingesetzt werden, um konkrete Ziele, wie ökonomische Vorteile oder Arbeitsplätze für Arbeitslose, zu erreichen. Die konkreten Taten würden, so Machajski, in einem Generalstreik gipfeln, der letztlich die bestehenden Verhältnisse umstürzen sollte. Diese Schrift kursierte um 1901 in Odessa, wo sich daraufhin eine Gruppe von Machaevcy bildete.63 In Odessa ging die Gewaltbereitschaft der Anarchist*innen mit der aktionistischen Ideologie nach Machajski eine Verbindung ein, die maßgeblich zur Gewalteskalation während der Revolution von 1905 beitrug. Olga Taratutas Hinwendung zum Anarchismus ist insofern charakteristisch, weil auch sie zunächst in sozialdemokratischen Zirkeln aktiv war. Ihre Wirkungsstätten Ekaterinoslav, Odessa und das Exil in der Schweiz sind zugleich zentrale Schauplätze der Geschichte des Anarchismus. Die Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Zentren sind ebenso typisch wie die verwandtschaftlichen Beziehungen, die Taratutas interpersonelles Netzwerk in den anarchistischen Gruppierungen stärkten. Die Odessaer Gruppe der Arbeiter-Anarchist*innen, in der Olga Taratuta im Jahr 1905 tätig war, wurde geleitet von ihrem Schwager, dem ebenfalls berüchtigten Anarchisten Kopel′ Ėrdelevskij, Deckname „Gustav“, der mit ihrer Schwester Katja, auch „Chasja“ genannt, verheiratet war.64 Es waren Olga Taratuta, in Parteikreisen auch bekannt als „Babuška“ (russ. Großmutter), und Kopel′ „Gustav“ Ėrdelevskij, zwei zu ihrer Zeit berühmte Anarchist*innen, die maßgeblich an der Eskalation des Massenterrorismus in Odessa beteiligt waren.65 Zubatovščina

Die zunächst wichtigste Bewegung, die sich um die Odessaer Arbeiter*innen bemühte, bestand aus den sogenannten Unabhängigen, die eine legale, von der Polizei geduldete Gewerkschaft Zubatovscher Prägung gründeten. Die Aktivist*innen der Zubatovschen Unabhängigen Arbeitergruppe genossen die Protektion der lokalen Behörden. Sie organisierten einige Streiks, ohne dass die Streikenden irgendwelche

Paul Avrich, What is ‚Makhaevism‘?, in: Soviet Studies 17 (1965), H.  1, S.  66–75, hier S.  66–67. Vgl. auch: Boris I. Gol′dman, Anarchisty, maksimalisty i machaevcy. Anarchičeskīja tečenīja v pervoj russkoj revoljucīi, Petrograd 1918. 63 Avrich, What is ‚Makhaevism‘?, 1965, S. 71–72. 64 Zu Chasja Ėrdelevskaja vgl. auch: Delo po obvineniju Ėrdelevskoj Ch., Iarlo L., Taratury O. i drugich v prinadležnosti k Odesskoj gruppe anarchistov-kommunistov, 1905–1906, CDIAK f. 419, op. 1, d. 5046, 5047, 5049, 5051. 65 Kievskoe ochranoe otdelenie 1910 – Spravka departamenta pol, CDIAK f. 275, op. 1, d. 1972. Zu Kopel Ėrdelevskij vgl. auch: Pamjati Gustava, Soni i Pavla, in: Buntar′. Listok russkich anarchistov-kommunistov, Janvar′ 1909. 62

Revolutionär*innen in Odessa

Schwierigkeiten mit der Obrigkeit bekamen. So erschien es den Arbeiter*innen, als seien die Führer der Unabhängigen Abgesandte des Zaren selbst, der den Arbeiter*innen beim Kampf gegen die lokalen Fabrikbesitzer helfen wolle. Eine weitere Besonderheit der Unabhängigen in Odessa war, dass sie Jüd*innen, Ukrainer*innen und russische Arbeiter*innen gleichzeitig vertraten. Obwohl Šaevič, der charismatische Anführer der Odessaer Unabhängigen, jüdischer Nationalist zionistischer Prägung war, sprach er die russischen und ukrainischen Fabrik- und Hafenarbeiter*innen sogar mehr an als die Lohnarbeiter*innen in den jüdischen Handwerksbetrieben. Im April 1903 gehörten 2.000 Arbeiter*innen den Odessaer Unabhängigen an. An der Spitze stand das Unabhängige Arbeiterkomitee, dem unabhängige Gewerkschaften nach Branchen organisiert anhingen. Die Forderungen der Gewerkschaften konzentrierten sich auf die Verbesserung der materiellen und intellektuellen Lebensumstände der Arbeiter*innen. Streiks waren zur Durchsetzung ausdrücklich vorgesehen, und die Mitglieder zahlten in eine Streikkasse ein. Diese Forderungen und die Existenz der Streikkasse gingen zahlreichen Unternehmern und auch einigen Mitgliedern der Bürokratie zu weit. Sie kritisierten die Odessaer Polizei für die Tolerierung der Unabhängigen Arbeiterbewegung. Im März 1903 begannen vereinzelte Streiks in Odessa. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurden Streikbrecher mit Gewalt bedroht, ein Mann wurde totgeschlagen. Ab April stellten die Unabhängigen sich an die Spitze der Streikbewegung. Da die Unabhängigen die Unterstützung der lokalen Behörden genossen, griff die Polizei auch nicht ein, als 200 Streikende im Mai 80 neu angestellte Streikbrecher krankenhausreif schlugen.66 Im Juli wuchs sich die Bewegung zu einem Generalstreik aus. Die Eisenbahner legten am 1. Juli die Arbeit nieder, kurz darauf folgten die Beschäftigten der Dampfschiffgesellschaften und die Trambahnfahrer. Soldaten, Polizei und Kosaken hielten die Ordnung in der Stadt aufrecht, aber es kam nicht zu Auseinandersetzungen mit den Streikenden. Im Laufe des Monats Juli standen zudem zahlreiche Fabriken still, weil die Fabrikarbeiter*innen ebenfalls in den Streik eingetreten waren. Der Streik in Odessa war Teil einer großen Streikwelle im Sommer 1903, die den Kaukasus und den ganzen Südwesten des Russischen Reiches erfasste. Diese Streikwelle, die neben Odessa auch Kiew, Ekaterinoslav, Tiflis, Baku, Elizavetgrad und Nikolaev lahmlegte, war die größte öffentliche Demonstration der Unzufriedenheit der russländischen Arbeiter*innen mit ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen, die bis zu diesem Zeitpunkt im Russischen Reich stattgefunden hatte.67 Statt bei der Arbeit waren Arbeiter*innen nun in großen Gruppen überall in der Stadt anzutreffen. Sie versammelten sich an öffentlichen Plätzen und in Parks, wo Mitglieder revolutionärer Parteien Reden hielten, um die Arbeiter*innen zu politischen Forderungen zu animieren, und Diskussionen leiteten. Revolutionäre Lieder wurden

66 67

Schneiderman, Sergej Zubatov and revolutionary marxism, 1976, S. 300–302. Ebd., S. 312.

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gesungen und rote Fahnen entrollt. Aufgrund der Politik der Duldung der ZubatovGewerkschaft der Unabhängigen stand die Polizei all diesem Treiben zunächst zur Seite, ohne einzugreifen. Diese Passivität behielt die Polizei auch dann bei, wenn Arbeiter*innen gewaltsam gegen Streikbrecher vorgingen. Trotz dieser punktuellen Gewalt blieb der Generalstreik weitgehend friedlich.68 Doch das war in den Augen der Obrigkeit auch schon der einzige Vorteil. Dass die Arbeiter*innen, die nun den ganzen Tag an politischen Meetings teilnahmen, unpolitisch blieben, war nicht überzeugend zu vermitteln. Zudem war kein Ende des Generalstreiks und seiner wirtschaftlichen Konsequenzen abzusehen. In Odessa gab es mittlerweile keine gesicherte Versorgung mit Nahrungsmitteln mehr. Am 19. Juli beendeten Kosaken gewaltsam das Treiben auf den Straßen und zwangen die Arbeiter*innen zurück zur Arbeit. Die Zubatovsche Politik der Unabhängigen Gewerkschaften hatte damit bereits in Odessa gezeigt, dass die Arbeiter*innen sich nicht im Sinne der Obrigkeit lenken ließen. Der Gewerkschaftsführer und Held der Massen Šaevič wurde nach Sibirien verbannt und Zubatov in Ungnade entlassen.69 Die Anhänger*innen der Unabhängigen aber wurden durch dieses Erlebnis radikalisiert und verteilten sich nun auf die anderen revolutionären Parteien in Odessa. Das Ergebnis des Generalstreiks war vor allem eine wirtschaftliche Depression, die durch die Missernte 1904 und den katastrophalen Verlauf des Russisch-Japanischen Krieges weiter verschärft wurde. Zahlreiche Firmen gingen in Konkurs oder mussten ihre Arbeiter*innen entlassen, die Zahl der Arbeitslosen stieg drastisch an. Damit wuchsen die Not und Unzufriedenheit in großen Gruppen der Gesellschaft. Am 9. September 1904 schossen die beiden 19-jährigen Männer Vasilij Poljakov und Evtlich Ilin auf den Stadthauptmann Dmitrij Nejdgart, der den Nikolaev Boulevard entlangflanierte. Nejdgart überlebte.70 Die Täter wurden zu langjähriger Zwangsarbeit verurteilt.71 Eine Amnestie des Zaren für alle Kriminellen, die sich keiner Gewaltverbrechen schuldig gemacht hatten, sorgte für die Entlassung von 200 Straftäter*innen aus den Gefängnissen. 180 Gefangene, die in Cherson freigelassen worden waren, erhielten bezeichnenderweise von den Chersoner Behörden ein Zugticket nach Odessa.72 Die Saat für eine Gewalteskalation im Jahr 1905 war ausgebracht.

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Herlihy, Odessa: A history, 1986, S. 293. Ebd., S. 294. Vgl. zu Nejdgart auch: Weber, Zur Russischen Revolution von 1905, 1989, S. 262, 306, 725. Gol′dman, Političeskie processy v Rossii, 1901–1917, 1932, S. 103. Herlihy, Odessa: A history, 1986, S. 296.

1905 in Odessa

1905 in Odessa

Neben den politischen Parteien war vor allem die politisch interessierte Öffentlichkeit ein wichtiger Faktor in den revolutionären Ereignissen des Jahres 1905. Das galt vor allem für diejenigen, die die revolutionäre Taktik des Terrorismus nutzten und damit gezielt auf Kommunikation setzten. Auch für das „Ringen um moralische Überlegenheit“, das Laura Engelstein für das entscheidende Motiv russländischer Revolutionär*innen hält, war die Presse von großer Bedeutung.73 Die in Odessa einflussreichen Zeitungen standen der revolutionären Bewegung generell wohlwollend gegenüber. Die am meisten verbreiteten Odesskij listok, (Odessaer Blättchen) und Odesskija novosti (Odessaer Neuigkeiten), galten beide als „liberal“, wobei Odesskij listok sich gemäßigter gab als Odesskie novosti. Herausgeber des Odesskij listok war Vasilij V. Navrockij (1851–1911), der als Drucker und Self-Made-Man in den 1870er Jahren mit dem Verkauf eines Anzeigenblättchens begonnen hatte. Um die Jahrhundertwende verkaufte er 8.000 Exemplare. Mitarbeiter der Zeitschrift waren berühmte Journalisten wie der „König des Feuilletons“ Vlas Doroševič74, der jüdische Intellektuelle M. G. Morgulis oder der in jiddischer Sprache schreibende Autor Simon Frug. Demgegenüber waren die Odesskie novosti noch weiter verbreitet und zählten zahlreiche liberale Professoren der Neurussischen Universität zu ihren Mitarbeitern. Ein jüdischer Herausgeber in den 1880er Jahren sowie eine Reihe von Auseinandersetzungen streitbarer Journalisten mit der Zensur (unter ihnen der bekannte Feuilletonist „Baron Iks“) brachten die Zeitung immer wieder in Schwierigkeiten und trugen ihr den Ruf ein, die „liberalste“ aller Odessaer Zeitungen zu sein. Eigentümer und Herausgeber war seit der Jahrhundertwende der Journalist A. S. Ermans.75 Die kleinere Južnoe Obozrenie (Südliche Umschau) entwickelte sich neben den Odesskija novosti zum wichtigsten Medium der liberalen städtischen Öffentlichkeit. Durch ständig wechselnde Herausgeber versuchten die Liberalen, die strengen Zensurtaktiken zu umgehen.76 Wichtigster politischer Journalist des Južnoe Obozrenie war der später für das gesamte Reich bedeutende Intellektuelle Aleksandr Izgoev, der im Bund für Befreiung aktiv war und 1909 einer der Herausgeber des berühmten Sammelbandes Vechi (Wegmarken) wurde.77 Im Revolutionsjahr 1905 konnten die hier analysierten Zeitungen nur eingeschränkt erscheinen. Zum Teil verhinderte die städtische Obrigkeit das Erscheinen solcher Periodika, außerdem wurde die Produktion durch Streiks immer wieder behindert. Engelstein, Weapon of the weak (Apologies to James Scott), 2003, S. 683. Vgl. z. B. McReynolds, V. M. Doroshevich, 1991, S. 233–247. Vgl. zu den Zeitungen ausführlich: Hausmann, Universität und städtische Gesellschaft in Odessa, 1865– 1917, 1998, S. 391–399. 76 Vgl. ebd., S. 408–409. 77 Vgl. zu Izgoev auch das Kapitel „Izgoev und Lenin“ in: Karl Schlögel, Petersburg. Das Laboratorium der Moderne 1909–1921, München 2002, S. 505–556; Weber, Zur Russischen Revolution von 1905, 1989, S. 577, 716, 741. Vgl. zu den Vechi: Valentin I. Tolstych (Hg.), „Vechi“–2009. K 100-letiju sbornika; [tekst], Moskva 2011. 73 74 75

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Nach dem Blutsonntag im Januar 1905 in St. Petersburg riefen Gewerkschaften fast überall im Russischen Reich zum Generalstreik auf. Angesichts der desolaten wirtschaftlichen Situation riet der Stadthauptmann Nejdgart den Arbeiter*innen, von Arbeitsniederlegungen abzusehen. Aufgrund der wirtschaftlichen Lage suchten die Unternehmer nur nach einer Entschuldigung, die Fabriken zu schließen. Ein Streik würde ihnen, so Nejdgart, in die Hände spielen, und höchstens der Feind in Japan würde profitieren. Die Arbeiter*innen in Odessa reagierten nicht mit Streiks, aber mit massiven Protesten auf die Januarereignisse in St. Petersburg. Die Empörung ergriff alle Schichten der Gesellschaften. Jede Art der öffentlichen Versammlung wurde zu einer Proklamation gegen die Regierung umgewandelt, sogar ein Treffen der lokalen Adelsgesellschaft, an dem 5.000 Menschen teilnahmen, gipfelte in der Parole: „Nieder mit der Selbstherrschaft!“78 Auch die Odessaer Sozialrevolutionär*innen blieben nicht untätig. Der Sozialrevolutionär Štil′man verübte bereits am 19. Januar einen Anschlag auf den städtischen Polizeichef Golovin.79 Am 31. März verletzte der Sozialrevolutionär Dubinskij den Polizeioffizier Ol′ševskij.80 Zum 1. Mai 1905 verbreitete das lokale Komitee der PSR ein Flugblatt, in dem es an die heldenhaften Terroristen der jüngeren Vergangenheit wie Balmašev, Sazonov und Kaljaev erinnerte und sie den Odessaer Revolutionär*innen als Vorbild empfahl.81 Auch die Militärische Organisation für den politischen Umsturz, die ebenfalls zur PSR gehörte, bekannte sich in einem Flugblatt vom Mai zum Terrorismus. Die Akte des Terrorismus hätten die Revolution herbeigeführt, so hieß es da. Der letzte Akt des großen historischen Dramas stehe unmittelbar bevor.82 In diesem Sinne versuchten zwei Sozialrevolutionäre am 4. Juni in einer spektakulären Aktion mit Dynamit die Mauern des Odessaer Gefängnis aufzusprengen und die Gefangenen zu befreien.83 Zudem plante die Odessaer Kampfbruderschaft der PSR im Juni drei parallele Attentate auf drei Zielpersonen: den Chef der militärischen Rekrutierung, den Interimsgeneralgouverneur und den Stadthauptmann. Damit bemühte sich das lokale Komitee, ähnlich wie die zentrale Kampforganisation im Herbst 1904, mit drei unabhängigen, aber weitgehend gleichzeitigen Anschlägen auf unterschiedliche Ziele eine besonders spektakuläre Botschaft auszusenden, die eigene Macht zu demonstrieren und unter

Herlihy, Odessa: A history, 1986, S. 297. Ivič, Statistika terrorističeskich aktov, soveršennych partiej socialistov-revoljucionerov, 2001, S.  377– 389. Vgl. auch: Partija Socialistov-Revoljucionerov, Prigovor nad Štil′manom!, 1905, RGIA, f. 1405, op. 530, d. 195; Gol′dman, Političeskie processy v Rossii, 1901–1917, 1932, S. 116. 80 Vgl. zu den SR Aktivitäten in Odessa: Spiridovitch, Histoire du Terrorisme Russe 1886–1917, 1930, S. 234–235. 81 Partija Socialistov-Revoljucionerov, 1. Mai 1905, RGIA, f. 1405, op. 530, d. 195. 82 Voennaja organizacia političeskago perevorota, Mai 1905, RGIA, f. 1405, op. 530, d. 195. 83 Gol′dman, Političeskie processy v Rossii, 1901–1917, 1932, S. 158. 78 79

1905 in Odessa

den Anhänger*innen der Staatsgewalt Angst und Schrecken zu verbreiten. Mit einer solchen Aktion sollte „der letzte Akt“ möglicherweise eingeleitet werden. Doch dieser Plan überstieg die Kräfte der Organisation.84 Die Geheimpolizei vereitelte die Durchführung, indem es ihr gelang, einige wichtige Akteur*innen zu verhaften sowie Dynamit und Bomben zu beschlagnahmen.85 Die revolutionäre Aufbruchsstimmung, die in den Flugblättern der PSR in Odessa zu spüren war, erfasste die gesamte Stadt im Frühjahr 1905. Von April bis Juni kam es in den verschiedenen Wirtschaftszweigen immer wieder zu Streiks. Im Mai kam die Regierung den Arbeiter*innen in ihren Forderungen nach einer 6-Tage-Woche und einem 9-Stundentag entgegen, da zu befürchten war, dass ein neuer Generalstreik die Stadt wiederum komplett lahmlegen würde, doch selbst diese Maßnahmen erreichten keine Beruhigung der Lage. Die Juni-Katastrophe: Der Panzerkreuzer Potemkin

Diese Unruhen waren die Ausgangslage für die Katastrophe, die sich im Juni des Jahres 1905 ereignete. Sie war der erste grausame Höhepunkt in einem Jahr, das für Odessa ohnehin reich an Schrecken und Gewalt war. In diesen Tagen starben in den Straßenschlachten mit der Obrigkeit, aber auch in den Kämpfen der verschiedenen Gruppen untereinander sowie in den brennenden Docks weit über 1.000 Zivilist*innen. Als am Vorabend des 15. Juni 1905 der durch den Film von Sergej Eisenstein aus dem Jahr 1925 gewissermaßen nachträglich berühmt gewordene Panzerkreuzer Potemkin in den Hafen von Odessa einlief, war die Situation in der Stadt bereits außer Kontrolle der Obrigkeit geraten. Seit einer Woche hatte es zahlreiche Demonstrationen und Plünderungen gegeben, Scheiben wurden eingeworfen, Straßenbahnen aus den Schienen gerissen und Barrikaden erbaut. Vor allem im Arbeiterviertel Peresyp war es zu ernsthaften Zusammenstößen und Straßenschlachten zwischen Arbeiter*innen und Kosaken gekommen, bei denen am 13. Juni mehrere Arbeiter*innen erschossen worden waren.86 Als Antwort darauf attackierten die Arbeiter*innen am nächsten Tag Polizei und

Vgl. zu den SR Aktivitäten in Odessa: Spiridovitch, Histoire du Terrorisme Russe 1886–1917, 1930, S. 234–235. 85 Vgl. zu einer der SR-Terroristinnen, die im Zuge dieser Festnahmen verhaftet wurde, die autobiographische Skizze: Revekka Fialka, Avtobiografija. Černovik, načalo 1950-ch (o. J. [1950er]). http://memo. ru/nerczinsk/autobio.htm. Sowie: Boniece, The Shesterka of 1905–06. Terrorist heroines of revolutionary Russia, 2010, S. 177–178. 86 Vgl. Richard Hough, Die Meuterei auf Panzerkreuzer Potemkin, Frankfurt am Main 1961, S. 38–51; Herlihy, Odessa: A history, 1986, S. 298. Die Ereignisse des 15. und 16. Juni 1905 in Odessa sind durch den berühmten Film von Sergej Eisenstein ins kollektive Gedächtnis überführt worden. Vgl. vor allem zur berühmten Treppenszene: Christiane Engel, Die Treppe von Odessa. Die Schlüsselszene in Eisensteins Panzerkreuzer 84

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Soldaten mit Steinen und Stöcken. An diesen Auseinandersetzungen hatten sich auch Sozialrevolutionär*innen beteiligt und Bomben auf Soldaten geworfen. Dabei wurde einer der Soldaten getötet und ein weiterer verletzt.87 Durch die Ankunft des Panzerkreuzers, auf dem revolutionäre Meuterer das Kommando übernommen und die rote Fahne gehisst hatten, eskalierte die ohnehin brisante Situation. Einerseits erhofften sich die Revolutionär*innen in Odessa von der meuternden Besatzung militärische Unterstützung bei ihrem Kampf gegen die Obrigkeit. Deshalb traten sie furchtloser gegen die Polizei und Kosaken auf als zuvor. Trotz der materiellen Unterlegenheit, d. h. ihrer mangelnden Bewaffnung, boten sie der Obrigkeit die Stirn, weil sie das Kriegsschiff hinter sich wähnten. Die regulären Truppen unter Führung von General Kochanov wiederum standen nach der Ankunft der Potemkin unter noch größerem Druck als zuvor. Erstens bestand durchaus die Möglichkeit, dass die Meuterer ihre Kanonen gegen die Stadt einsetzten. Zweitens waren die Unruhen in Odessa angesichts der drohenden Meuterei der gesamten Schwarzmeerflotte zu einer Angelegenheit von allrussischem Interesse geworden. Die Lage hatte sich schlagartig von revolutionären Ereignissen an der Peripherie in ein zentrales Problem für die Staatsgewalt verwandelt. Die Augen des Reiches waren auf Odessa gerichtet und erwarteten gespannt, wie die Obrigkeit die Ordnung wiederherstellen würde. Als Drittes trug eine symbolische Geste zur Eskalation der Gewalt bei. Die Meuterer der Potemkin transportierten den Leichnam des Matrosen Gregorij Vakulinčuk, der während der Meuterei getötet worden war, an Land, wo er im Hafen als Märtyrer der Revolution aufgebahrt wurde. An seinem Leichnam befestigten die Meuterer ein Schild mit der Aufschrift: Vor euch liegt der Leichnam von Gregorij Vakulinčuk, eines Matrosen, der durch den Ersten Offizier des Schlachtschiffes ‚Knjaz′ Potemkin‘ grausam getötet wurde, weil er sich über verdorbenen Boršč beschwert hatte. Lasst uns das Zeichen des Kreuzes machen und sagen: Friede sei seiner Asche. Wir werden ihn an unseren Unterdrückern rächen. Ihnen gebührt der Tod! Auf die Freiheit!88

Diese Gemengelage führte dazu, dass nicht nur Arbeiter*innen und Revolutionär*innen zum Hafen strömten, sondern alle, die diesen Märtyrer sehen und ihm seine Reverenz erweisen wollten. Die Revolutionär*innen waren durch diese politisierte Trau-

Potemkin, in: Gerhard Paul (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder, Göttingen 2009, S. 316–323. Die Darstellung bei Eisenstein ist entsprechend dem Genre des Films und seiner Entstehungszeit künstlerisch und ideologisch überformt. Eine zuverlässige historische Darstellung fehlt. In den Büchern über Odessa im Jahre 1905 finden die Ereignisse eher knappe Erwähnung. Vgl. z. B.: Robert Weinberg, The revolution of 1905 in Odessa. Blood on the steps, Bloomington 1993. Eine Monographie zu dem Thema ist die oben angegebene Darstellung des britischen Militärhistorikers Hough aus dem Jahr 1961, ebenfalls aus der Feder eines Militär- und Marinehistorikers stammt: Robert Rosentreter, Panzerkreuzer Potjomkin. Das Schiff  – der Aufstand – der Film, Rostock 2011. 87 Ivič, Statistika terrorističeskich aktov, soveršennych partiej socialistov-revoljucionerov, 2001, S. 377–389. 88 Zitiert nach: Hough, Die Meuterei auf Panzerkreuzer Potemkin, 1961, S. 64.

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erzeremonie – ein erprobtes Mittel im Ringen um „moralische Überlegenheit“89 seit dem Beerdigungszug von Pavel Černyšev am 30. März 1876 – emotional aufgerüttelt und ließen sich allzu bereitwillig auf eine Konfrontation mit Truppen und Kosaken ein. Bereits im Laufe des Tages wurden Hunderte bei den Scharmützeln getötet und verletzt. Auch Sozialrevolutionär*innen beteiligten sich an diesen Kämpfen und töteten dabei den Schutzmann Pavlovskij. Der Leiter des Polizeireviers Dolgačev wurde durch sozialrevolutionäre Aktivist*innen verletzt.90 Doch insgesamt behielt die Obrigkeit die Oberhand. Die Unterstützung der aufständischen Matrosen vom Panzerkreuzer blieb aus. Die Unruhen wurden immer chaotischer. Gegen Abend begannen Plündernde, Lagerhäuser im Hafen aufzubrechen und anzuzünden. Kosaken und Polizei drängten die Aufständischen im Hafengelände zusammen. Die Menge saß nun in der Falle zwischen den Flammen auf der einen und den Kosaken auf der anderen Seite. Nach offiziellen Berichten starben 1.260 Menschen an diesem 15. Juni 1905.91 Der Militärhistoriker Richard Hough beruft sich auf Schätzungen, nach denen die „blutigste Nacht der Revolution im Jahre 1905“ etwa 6.000 Todesopfer gefordert hatte92 und Robert Weinberg spricht von 2.000 Toten.93 Die Ereignisse um den Panzerkreuzer Potemkin in Odessa sind nicht nur durch den Film von Sergej Eisenstein, sondern generell durch die Bol′ševiki zu einem Aufstand der Arbeiterklasse in der Revolution stilisiert worden. Unter den Menschen, die tatsächlich im Hafen waren und dort umgekommen sind, waren wahrscheinlich in geringerem Maße organisierte Arbeiter*innen. Vielmehr marodierten dort jene ungelernten Hafenarbeiter*innen und Tagelöhner*innen, welche die Unruhen weniger als politischen Kampf begriffen, als als Möglichkeit zu plündern. Robert Weinberg beschreibt diese Tagelöhner*innen als Obdachlose, die auf Nachtasyle angewiesen waren, Hunger litten und ihre Lebensbedingungen nur mit Hilfe von Alkohol ertragen konnten. Sie waren, vor allem in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, täglich von Arbeitslosigkeit bedroht bzw. waren im eigentlichen Sinne arbeitslos. Sie waren aufgrund ihrer Lebensbedingungen allen möglichen Krankheiten und Diskriminierungen ausgesetzt. In den Unruhen entluden sich also nicht nur Nöte, sondern möglicherweise auch Aggressionen, die durch ihre Lebenssituation bedingt waren.94 Diese sogenannten „Revolutionäre“ sollten nur vier Monate später ihre Rolle – nun als „Konterrevolutionäre“ – weiterspielen.

Engelstein, Weapon of the weak (Apologies to James Scott), 2003, S. 683. Vgl. dazu: Ivič, Statistika terrorističeskich aktov, soveršennych partiej socialistov-revoljucionerov, 2001, S. 377–389. 91 Vgl. z. B. John Bushnell, Mutiny amid repression. Russian soldiers in the revolution of 1905–1906, Bloomington 1985, S. 62. 92 Hough, Die Meuterei auf Panzerkreuzer Potemkin, 1961, S. 94. 93 Robert Weinberg, Workers, pogroms, and the 1905 revolution in Odessa, in: Russian Review 46 (1987), H. 1, S. 53–75, hier S. 58. 94 Ebd., S. 68–72. 89 90

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Pogrom: Die „schwarzen Tage“ im Oktober 1905

In Odessa war das gesamte Jahr 1905 ein Jahr der Revolution. Auch im Herbst kam die Stadt nicht zur Ruhe. Am 15. Oktober riefen Revolutionär*innen die Arbeiter*innen wieder einmal zum Generalstreik auf. Am nächsten Tag bauten Studierende, radikale Jugendliche und Arbeiter*innen Barrikaden in den Straßen und lieferten sich Scharmützel mit Polizei und Soldaten. Die Truppen, die hinzugerufen worden waren, um die Unruhen zu unterdrücken, wurden mit Schusswaffen, aber auch mit Steinen zurückgedrängt. Auf den Dächern lagen Scharfschützen, die Soldaten unter Feuer nahmen. Polizei und Soldaten schlugen die Unruhen brutal nieder. Am nächsten Tag blieb die Lage weitgehend ruhig. Soldaten patrouillierten in der Stadt, Schulen und Universität blieben geschlossen, ebenso wie zahlreiche Geschäfte. Etwa 4.000 Arbeiter*innen hatten die Arbeit niedergelegt und versammelten sich in der Stadt. An der Universität formierten Studierende und Professoren Wehrgruppen.95 Am Abend des 17. Oktober erreichte die Nachricht Odessa, dass Nikolaus II. ein „Manifest über die Verbesserung der staatlichen Ordnung“ erlassen habe.96 In dieser Erklärung, die als Oktobermanifest bekannt werden sollte, stellte der Kaiser bürgerliche Grundrechte ebenso in Aussicht wie das allgemeine Wahlrecht und die Einführung eines Parlaments. Alle, die in den vergangenen Monaten gegen die Zarenherrschaft und ihre willkürlichen Auswüchse protestiert hatten, wähnten sich am Ziel. Die Revolution, so schien es, hatte gesiegt. Bereits in den frühen Morgenstunden des 18. Oktober fanden sich große Menschenmengen in den Straßen, die das Manifest feierten. Die Revolutionär*innen rissen Porträts des Zaren von den Wänden öffentlicher Gebäude und hissten rote Flaggen. Einige zwangen Passanten, den Hut vor den roten Flaggen zu ziehen. Gerüchten zufolge banden jüdische Jugendliche Zarenporträts an Hundeschwänze und jagten die Tiere damit durch die Stadt. Die revolutionären Gruppierungen gingen geschlossen mit ihren roten und rot-schwarzen Fahnen auf die Straße.97 Auch über Olga Taratuta heißt es in ihrer Polizeiakte, dass sie mit der Gruppe der Anarchist*innen-Kommunist*innen an den Unruhen in der Folge des Oktobermanifestes beteiligt war.98 Bereits vor den Oktoberunruhen hatten sich als Gegenbewegung zu den Revolutionären auch in Odessa militante rechte Gruppierungen, sogenannte Černosotency (Schwarzhunderter), gebildet. Diese bestanden aus patriotischen rechten Studentengruppen und zahlreichen Russen oder Ukrainern, die glaubten, sich gegen die revolu-

Ebd., S. 61. Das Oktobermanifest des Zaren Nikolaus II. (30. Oktober 1903), in: Peter Scheibert (Hg.), Die russischen politischen Parteien von 1905 bis 1917. Ein Dokumentationsband, Darmstadt 1972, 29–30. 97 Weinberg, The revolution of 1905 in Odessa, 1993, S. 166. 98 Kievskoe ochranoe otdelenie 1910 – Spravka departamenta pol, CDIAK f. 275, op. 1, d. 1972. 95 96

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tionäre Bewegung zur Wehr setzen zu müssen.99 Diese Menschen waren unzufrieden mit dem Oktobermanifest und fühlten sich von dem offensiven und teils aggressiven Triumphieren der Progressiven und Revolutionär*innen gereizt. Sie wandten sich jedoch nicht nur und in erster Linie gegen die Demonstrant*innen, die das Oktobermanifest begrüßten, sondern vor allem gegen die jüdischen Bewohner*innen der Stadt, wobei die Übergänge fließend waren. Die Auseinandersetzungen begannen in der Nähe des Moldavanka-Viertels, wo eine Gruppe jüdischer Jugendlicher mit roten Fahnen versuchte, russische Arbeiter dazu zu bringen, vor den roten Fahnen die Hüte zu ziehen. Das anschließende Handgemenge artete schnell in Gewalt gegenüber den jüdischen Bewohner*innen des Viertels und Plünderungen ihres Besitzes aus. Der Ausbruch wurde aber relativ schnell von den Kosaken niedergeschlagen. Der tatsächliche Pogrom brach erst am 19. Oktober aus. An unterschiedlichen Punkten der Stadt versammelten sich russische Männer, Frauen und Kinder, um sich unter der Führung der Schwarzhunderter in sogenannten patriotischen Manifestationen zum Zaren zu bekennen. Teilnehmer dieser Manifestationen waren zum großen Teil abermals die Tagelöhner*innen und ungelernten Hilfsarbeiter*innen aus dem Hafen, die bereits bei den Gewalteskalationen im Juni eine zentrale Rolle gespielt hatten.100 Ein Foto, das in den Illustrated London News im Oktober 1905 erschienen ist, ermöglicht einen Eindruck von den Teilnehmern dieses Protestmarsches. Anders als für die ausgelassenen Feiern des Oktobermanifestes überliefert, sind auf dieser Fotografie ausschließlich Männer zu sehen. Ein Junge im Vordergrund läuft barfuß, andere Kinder und Jugendliche tragen viel zu große und abgenutzte Kleidung. Die Stiefel, die wattierten Jacken und die kurz geschorenen Haare der übrigen Teilnehmer lassen auf ihre Herkunft aus den unteren sozialen Schichten, der Arbeiterklasse bzw. der Gruppe der Hilfsarbeiter oder sogar der Arbeitslosen schließen. Es sind diese Männer in prekären ökonomischen Verhältnissen, welche die Schlägertruppe der Konterrevolution bildeten, als die die Schwarzhunderter bekannt und gefürchtet waren. Sie tragen Fahnen des Zarenreiches und der Romanovs, einer hält ein Porträt Nikolaus II. in die Höhe, ein anderer ein Buch (mutmaßlich die Bibel). Zahlreiche Revolutionär*innen, darunter viele Mitglieder der jüdischen Selbstwehrorganisationen, waren bereit, es auf eine Konfrontation mit den Teilnehmern

Weinberg, Workers, pogroms, and the 1905 revolution in Odessa, 1987, S.  53–75, S.  60. Vgl. zu den Černosotency und ihrem Aufstieg allgemein: Igor′ Vladimirovič Narskij, Revoljucionery „sprava“. Černosotency na Urale v 1905–1916 gg.; (materialy k issledovaniju „russkosti“), Ekaterinburg 1994; George Gilbert, The radical right in late imperial Russia. Dreams of a true fatherland?, London, New York 2016; Vadim Kožinov, Černosotency i revoljucija, Moskva 2016. 100 Weinberg, Workers, pogroms, and the 1905 revolution in Odessa, 1987, S. 62, 68–72. 99

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der patriotischen Manifestationen ankommen zu lassen.101 Bei einer Schießerei wurde einer der Jungen, der eine Ikone trug, getötet.102 Die Angreifenden nutzen Gewehre und selbst gebaute Bomben. Einer der Bombenwerfer hieß Breitman. Er wurde in den Unruhen getötet und in den Odesskie novosti vom 5. November 1905 betrauert.103 Auf diese Ereignisse folgte ein Pogrom, der bis zum 22. Oktober andauerte und während dem wehrlose jüdische Männer, Frauen und Kinder mit z. T. unvorstellbarer Grausamkeit gequält und getötet wurden: „They hurled Jews out of windows, raped and cut open the stomachs of pregnant women, and slaughtered infants in front of their parents.“104 Der Pogrom kostete über 1.000 Menschen das Leben. Die antijüdischen Ausschreitungen bestimmten noch viele Tage und Wochen lang das öffentliche Leben in Odessa. Die Zeitungen waren voller Berichte über die Kämpfe.105 Sie brachten zahlreiche Fotos der Zerstörungen und der Opfer.106 Auf den Bildern waren getötete Kinder und ermordete Frauen zu sehen. Die Odessaer Zeitungen ehrten die getöteten Mitglieder der jüdischen Selbstwehr als Märtyrer und betrauerten ausgewählte Kämpfer, z. B. besonders junge Menschen, wie den 16-jährigen Filip Šmalc, mit ausführlichen Nachrufen.107 Geschäftsleute instrumentalisierten die Erinnerung an den Pogrom auch ganz pragmatisch. So inserierten mehrere Inhaber zerstörter Kaufhäuser ihre Ausverkäufe „nach dem Pogrom“.108 Doch auch wenn diese Haltung von Rückkehr zur Normalität spricht, bekam die Stadt nicht viel Zeit, um sich von dem Schock wieder zu erholen. Anarchistischer Terrorismus in Odessa

In Odessa gab es während der Hochzeit der anarchistischen Bewegung in der Revolution von 1905 bis 1907 zahlreiche Gruppierungen, die auch aufgrund personeller Verflechtungen z. T. in loser Verbindung miteinander standen, die allerdings ihre Aktionen nicht unbedingt koordinierten: Es gab Anarchist*innen-Kommunist*innen, Anarchist*innen-Obščinniki, Anarchist*innen-Maximalist*innen, Anarchist*innenTerrorist*innen, Anarchist*innen-Individualist*innen oder Anarchist*innen-Expro-

101 Zur Rolle der Selbstwehren vgl. auch: Wiese, Pogrome im Zarenreich. Dynamiken kollektiver Gewalt, 2016, S. 176. 102 Weinberg, The revolution of 1905 in Odessa, 1993, S. 167. 103 Žertvy pogroma v Odesse, in: Odesskie novosti, 5. November 1905, hier S. 3. 104 Weinberg, Workers, pogroms, and the 1905 revolution in Odessa, 1987, S. 53–75. 105 Vgl. z. B. Chuligany, in: Odesskie novosti, 4. November 1905; Novyj akt velikoj dramy, in: Odesskie novosti, 5. November 1905. 106 Odesskie novosti, 5. November 1905. 107 Nekrolog Filip Šmalc, in: Odesskie novosti, 18. November 1905. 108 U. Landesman. Likvidiruja posle pogroma, in: Odesskie novosti, 5. November 1905.

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priator*innen. All diese Gruppen führten terroristische Anschläge durch. Dabei traten vor allem die Anarchist*innen-Kommunist*innen in terroristischen Fraktionen mit unterschiedlichen Bezeichnungen auf. Die wichtigste war das Černoe znamja (Schwarzes Banner).109 Die Černoznamency galten als fanatisch und gewaltbereit. Sie waren an der südlichen und westlichen Peripherie des Reiches am zahlreichsten anzutreffen. Die meisten Aktivist*innen waren sehr jung, 19 oder 20 Jahre schien das typische Alter gewesen zu sein. Einige polizeibekannte Černoznamency zählten sogar erst 15 oder 16 Jahre.110 Anders als die Sozialrevolutionär*innen, die zumindest vor 1905 versucht hatten, ihre Taten im Sinne der Rache für politische Repression zu legitimieren, verübten Terrorist*innen unter dem „Schwarzen Banner“ sogenannten unmotivierten (bezmotivnyj) Terrorismus. Jede Gewalttat, auch wenn sie Außenstehenden noch so sinnlos erschien, stimulierte in ihren Augen die Revolutionsbereitschaft der unterdrückten Massen.111 Dabei richtete sich die Gewalt keinesfalls nur gegen Repräsentanten des Staates, sondern vor allem gegen die Angehörigen der „Bourgeoisie“, die in den meisten anarchistischen Schriften als „Blutsauger“ bezeichnet wurden.112 Insofern verübten sie terroristische Taten abermals als Racheakte, aber in diesem Falle galt die Rache der Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die so bezeichneten Kapitalist*innen. Die Schuld ihrer Opfer bestand in ihrer Klassenzugehörigkeit, deshalb konnte ein terroristischer Anschlag jeden treffen. Denn wer ein „Bourgeois“ war, das bestimmten die Terrorist*innen. Einige Černoznamency, wie die bereits erwähnte Olga Taratuta, kooperierten mit den in Odessa besonders populären Machaevcy.113 Dieses Bündnis nannte sich die „Unversöhnlichen“ (Neprimirimye) und war vor allem durch den aktionistischen Grundgedanken verbunden.114 Während an der Peripherie die Anarchist*innen des „Schwarzen Banners“ Angst und Schrecken verbreiteten, formierte sich in St. Petersburg (und später in Moskau) die Gruppe der Beznačalie (die Anti-Autoritären), die kaum weniger gewaltbereit waren und nach dem Motto handelten, dass jeder Mord an einem „Bourgeois“ einen Sieg für die unterprivilegierten Massen darstellte.115 Sie verübten „Massenterror“ und 109 Vgl. zum Schwarzen Banner z. B. Izdanie gruppy „Černoe znamija“, Černoe znamija, in:  V. V. Kriven′kij / O. V. Volobuev (Hg.), Anarchisty. Dokumenty i materialy 1883–1935 gg. v 2 tomach, Bd. 1, Moskva 1998–1999, S. 170–172; A. S., Černoznamency i beznačal′cy, in: Aleksej A. Borovoj (Hg.), Michailu Bakuninu 1876–1926. Očerki istorii anarchičeskogo dviženija v Rossii, Moskva 1926, S. 279–297. 110 Avrich, The Russian anarchists, 1967, S. 44. 111 Ebd., S. 48. 112 Vgl. z. B. Obraščenie anarchistov-maksimalistov k členam „SRN“ v g. Odesse, 1906, CDIAK f. 335, op. 1, d. 46 Oder Federacija grupp oddeskich anarchistov-kommunistov, Tovarišči rabočie, [nach dem 8. Dezember 1905], RGIA f. 1405, op. 530, d. 195. 113 Daniel Novomirskij, Anarchičeskoe dviženie v Odesse, in: Borovoj (Hg.), Michailu Bakuninu 1876– 1926, 1926, S. 246–248. 114 Vgl. dazu auch: Kievskoe ochranoe otdelenie 1910 – Spravka departamenta pol, CDIAK f. 275, op. 1, d. 1972; Avrich, The Russian anarchists, 1967, S. 105–106. 115 Anarchsty-Obščinniki, K  rabočim g. Peterburga, in:  Kriven′kij/Volobuev (Hg.), Anarchisty, Bd.  1, 1998–1999, S. 101–102. Vgl. auch: Avrich, The Russian anarchists, 1967, S. 50–54; A. S., Černoznamency i beznačal′cyin: Borovoj (Hg.), Michailu Bakuninu 1876–1926, 1926, S. 279–297.

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nannten ihn auch so.116 Der größte Unterschied zwischen diesen beiden Gruppierungen war vielleicht, dass die Beznačalie nur wenige jüdische Aktivist*innen in ihren Reihen hatten, weil im Zentrum Siedlungsbeschränkungen für Jüd*innen herrschten, während jüdische Anarchist*innen den größten Teil der Černoznamency stellten. Vor allem in Odessa lässt der Blick in die Polizeiakten vermuten, dass fast jeder, den die Polizei als „Anarchisten“ bezeichnete, jüdisch war. Die nicht jüdischen waren meist Pol*innen. So wurde der Begriff „Anarchist“ zumindest in Odessa, mit hoher Wahrscheinlichkeit aber auch andernorts im Ansiedlungsrayon zum Synonym für jüdische gewaltbereite Jugendliche, während Chuligany (Hooligans) mindestens genauso gewalttätig, aber wohl nicht jüdisch waren. Die Akten legen nahe, dass die Behörden in Odessa mit Blick auf die Revolution ein bipolares Muster ausbildeten und damit die komplexe Gemengelage der unterschiedlichen Motivationen und Entstehungszusammenhänge von Gewalt z. T. grob vereinfachten. Diese Vereinfachung spiegelt sich in den Quellen, die folgendes Bild zeichnen:117 Die Polizei hatte es auf dem Höhepunkt revolutionärer Gewalteskalation in Odessa im Wesentlichen mit zwei Gruppen von Straftäter*innen zu tun, die für einen Großteil der Gewalt auf den Straßen verantwortlich waren: Chuligany waren verantwortlich für rechte Gewalt, vor allem für Gewalt gegenüber Jüd*innen.118 Sie traten eher in Massen auf und bewaffneten sich mit Knüppeln. Anarchist*innen dagegen verübten Gewalt unabhängig von der ethnischen Herkunft ihrer Opfer. Sie traten sowohl in Gruppen als auch alleine auf und waren mit Pistolen oder selbst gefertigten Bomben bewaffnet. Bei den Chuligany fanden sich alle Altersgruppen repräsentiert, häufig handelte es sich um Männer, während Frauen aber durchaus in ihrem Umfeld anzutreffen waren. Anarchist*innen waren meist sehr jung, sie konnten sowohl männlich als auch weiblich sein. Während ein Chuligan eher situativ zum Gewalttäter wurde und ansonsten auch kaum als Chuligan zu erkennen war, blieben Anarchist*innen über eine längere Dauer Anarchist*innen und waren auch anhand ihrer Kleidung häufig klar als solche zu identifizieren: Sie trugen meistens schwarze Kleider, vor allem einen schwarzen Mantel, und kleine Brillen. Die Haare waren kurz, auch bei den Frauen.119 Anna Geifman hat die Beobachtung gemacht, dass die Grenzen zwischen anarchistischen Terrorist*innen und 116 Tipografija anarchistov v Moskve, Anarchisty-Obščinniki. Massovyj terror, in: V.V Kriven′kij / O. V. Volobuev (Hg.), Anarchisty. Dokumenty i materialy 1883–1935 gg. v 2 tomach, Bd. 1, Moskva 1998–1999, S. 154–155. 117 Charakteristisch dafür ist z. B. diese Quelle: Ukrainisches Staatsarchiv Kiew 1906 – Obraščenie anarchistov-maksimalistov k členam SRN, CDIAK f. 335, op. 1, d. 46. 118 Diese Wahrnehmung der Chuligany scheint eher für Odessa bzw. für den Ansiedlungsrayon und für die Orte der Pogromgewalt typisch zu sein. In St. Petersburg, so beschreibt es Joan Neuberger, wurden die Chuligany nicht als Personen wahrgenommen, die ihre Aggressionen gegen eine ethnische Gruppe gerichtet hatten. Chuliganstvo galt dort als unpolitische Gewalt, mit der die unteren Schichten der Gesellschaft im Moment politischer Instabilität ihre Macht demonstrieren wollten: Neuberger, Hooliganism. Crime, culture, and power in St. Petersburg, 1900–1914, 1993, S. 44, 91–92. 119 Vgl. z. B. Dela po obvineniju žitielij g. Odessy Chotinskogo, A., Spiridonovoj A. V organizacii v gorode terrorističeskoj gruppy „eksatorov“, 1907, CDIAK f. 385, op. 1, d. 2094; Dnevniki nabljudenij po g. Odesse

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Kriminellen leicht verschwimmen.120 Das mag auch an der Dokumentation der „Anarchisten“ in der behördlichen Überlieferung und in der öffentlichen Wahrnehmung liegen. Neben den erwähnten existierten auch anarchistische Gruppen, die Terroranschlägen – oder zumindest solchen, die die anderen Anarchist*innen durchführten – eher skeptisch gegenüberstanden, wie z. B. die Anarchist*innen-Syndikalist*innen.121 Die unterschiedlichen anarchistischen Zirkel formierten sich immer wieder in ephemeren Gruppierungen, die häufig nur so lange überdauerten, bis ein Anschlag durchgeführt und die Mitglieder verhaftet waren. Solche Aktionsgruppierungen waren etwa das „Südliche Büro der Terroristen“122, die „Odessaer Arbeitergruppe der Anarchisten“123 oder die „Zweite Odessaer Arbeitergruppe Anarchisten-Kommunisten Černoe Znamja“124. Diese zahlreichen verschiedenen Vereinigungen und Fraktionen allein in Odessa erstaunen umso mehr, weil davon auszugehen ist, dass im gesamten Russischen Reich auf dem Höhepunkt der anarchistischen Bewegung etwa 5.000 Männer und Frauen aktiv waren.125 Über die genauen Zahlen der Bewegung in Odessa gibt es kaum gesicherte Informationen. Das liegt vor allem daran, dass anarchistische Gruppen oder Fraktionen im Sinne der Ideologie einen sehr niedrigen Grad institutioneller Organisation aufwiesen. Deshalb ist die Forschung auf andere Zahlen angewiesen. So saßen etwa in Odessa in den Jahren 1906 und 1907 nach Aktenlage 167 Menschen als „Anarchisten“ im Gefängnis. Davon waren zwölf Anarchist*innen-Syndikalist*innen, 94 Černoznamency, 51 sogenannte Sympathisierende, fünf Mitglieder der SR-Kampfbruderschaft (die hier augenscheinlich auch als anarchistische Gruppierung geführt wurde) und fünf Mitglieder des Anarchistischen Roten Kreuzes.126 An den Zahlen lassen sich sowohl die Aktivitäten der Anarchist*innen in Odessa als auch die Verteilung der Anhänger*innen auf die unterschiedlichen Fraktionen ablesen. Die gewaltbereiten Černoznamency waren in Odessa, zumindest im Gefängnis, viel häufiger anzutreffen als die Anarchist*innen-Syndikalist*innen, die den Terrorismus als Taktik ablehnten.

za licami prinadležaščimi k gruppe anarchistov-terroristov, 1908, CDIAK f. 268, op. 2, d. 48. Auch in dieser Quelle werden die Anarchist*innen anhand der Kleidung als solche identifiziert. 120 Vgl. dazu den Aufsatz: Anna Geifman, The anarchists and the ‚obscure extremists‘, in: Anna Geifman (Hg.), Russia under the last tsar. Opposition and subversion, 1894 - 1917, Oxford 1999, S. 93–110. 121 Vgl. dazu auch: Avrich, The Russian anarchists, 1967, S. 60–61. 122 Kiew 1908 – Dnevniki nabljudenij po g, CDIAK f. 268, op. 2, d. 48. 123 Kievskoe ochranoe otdelenie 1910 – Spravka departamenta pol, CDIAK f. 275, op. 1, d. 1972. 124 Delo po obvineniju mečan. Gol′denberga I., Lazbnika V. i drugich v prinadležnosti k Odesskoj Gruppe anarchistov-kommunistov „Černoe znamja“ i chranenii tipografii, 1907, CDIAK f. 347, op.1, d. 822. 125 Avrich, The Russian anarchists, 1967, S. 69. Geifman spricht von 5.500: Geifman, The anarchists and the ‚Obscure Extremists‘, 1999, S. 93–110. 126 Zitiert nach: Avrich, The Russian anarchists, 1967, S. 68–69, Fn. 120.

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Auch nach dem Ende des Oktoberpogroms waren Ruhe und Ordnung in der Stadt noch nicht vollständig wiederhergestellt. Die Zeitungen berichteten nach wie vor von rechten Chuligany, die friedliche Bürger*innen, vor allem Jüd*innen, bedrohten und ausraubten, während die Polizei dabei meist untätig zusah.127 Abends trauten sich die Menschen demzufolge kaum auf die Straße. Anfang Dezember verdichteten sich die Gerüchte, ein neuer Pogrom stehe bevor. Neue patriotische Manifestationen waren, so hieß es, für den 6. Dezember geplant, und die jüdischen Selbstwehrorganisationen ebenso wie der revolutionäre Rat (Sovet) der Stadt Odessa erwarteten in der Folge anti-jüdische Ausschreitungen. Doch weder Manifestation noch Pogrom fanden statt.128 Aber die revolutionären Ereignisse steuerten im Dezember 1905 auf einen neuen Höhepunkt zu.129 Dafür waren vor allem anarchistische Gruppierungen verantwortlich. Am 6. Dezember 1905 explodierte eine Bombe im Haus „Gal′pern“ Nr. 84 an der Katharinenstraße. Die Explosion ereignete sich im unteren Aleksandrovskij-Bezirk, der zwar noch im innerstädtischen Bereich lag, aber aufgrund der Nähe zu Bahnhof und Bazar nicht mehr besonders prestigeträchtig war. Er war mehrheitlich von Jüd*innen bewohnt, und laut Zeitungsberichten handelte es sich nicht um eine besonders sichere Gegend. Die Zeitungen unterrichteten die Stadtöffentlichkeit regelmäßig über kriminelle Übergriffe in dieser Gegend.130 Das Haus „Gal′pern“ war also keinesfalls herrschaftlich, es lag in einer nicht besonders wohlbeleumundeten Gegend und verfügte offensichtlich über einige Wohneinheiten, die von einer unübersichtlichen Anzahl von Mieter*innen bewohnt wurden. Laut Zeitungsberichten war das Gebäude zudem in einem schlechten allgemeinen Zustand.131 Dieses Haus wurde von der Polizei umstellt und durchsucht, nachdem einer der Mieter, namentlich der in Odessa berüchtigte Anarchist Leib (Lazar) Gerškovič, unter Verdacht geraten war, dort eine Bombenwerkstatt zu betreiben. Gerškovič war ein Anhänger der Anarchist*innen-Syndikalist*innen, der aber dennoch Terrorismus als Strategie verfolgte und aufgrund seiner Tätigkeit als Bombeningenieur, als „der Kibal′čič“ der Odessaer anarchistischen Bewegung galt.132 Um zehn Uhr morgens wur-

127 Vgl. z. B. Chuligany, in: Odesskie novosti, 4. November 1905; Novyj akt velikoj dramy, in: Odesskie novosti, 5. November 1905; Weinberg, The revolution of 1905 in Odessa, 1993, S. 204. 128 Vgl. dazu vor allem: Weinberg, The revolution of 1905 in Odessa, 1993, S. 213. Zu dem Absatz auch: Hilbrenner, Der Bombenanschlag auf das Café Libman in Odessa am 17. Dezember 1905: Terrorismus als Gewaltgeschichte, 2010, S. 228. 129 Avrich, The Russian anarchists, 1967, S. 42. 130 Zu den Bezirken vgl.: Sylvester, Cultural transgressions, bourgeois fears, 1996, S. 504–505. 131 Dom Gel′perna [sic] po Ekaterainskoj ul., gde proizašel′ vzryv bomby, in: Južnoe obozrenie, 11. Dezember 1905. 132 Vgl. hier den Bezug auf den berühmten Ingenieur der Narodnaja Volja: Avrich, The Russian anarchists, 1967, S. 62, 70.

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de die Razzia schließlich durch eine Explosion beendet. Einer der Polizisten hatte im Bombenlabor ein Streichholz entzündet. Dabei wurden acht Polizisten getötet oder schwer verletzt. Nachdem der Rauch sich verzogen hatte, verhaftete die Polizei eine Reihe verdächtiger „Anarchisten“.133 Zunächst wurden der Mieter Jakob Lejkin und der Bombenbauer Leib Gerškovič festgenommen. Lejkin hatte die Wohnung seit etwa drei Monaten gemietet. Über Gerškovič wurde in den Zeitungen berichtet, dass sein Bruder in St. Petersburg wegen Teilnahme an einem Attentat zum Tode verurteilt worden war. Zudem befanden sich in der Bombenwerkstatt zehn weitere Personen: Drei Frauen, teilweise Familienangehörige, wie z. B. die Mutter von Gerškovič, und sieben Männer. Die aufgegriffenen Personen repräsentierten alle Altersgruppen – von einem jungen Mädchen bis hin zu einem 70-jährigen Mann.134 Das Attentat auf das Porzellangeschäft von Israel Zusman

Mit der Verhaftung von Gerškovič war der Polizei zwar bereits ein Schlag gegen eine anarchistische Gruppierung gelungen, doch die Explosion im Haus „Gal′pern“ und deren Todesopfer waren nur der Auftakt zu einer Bombenserie, welche die Öffentlichkeit in Odessa im Dezember 1905 nicht zur Ruhe kommen ließ. Bereits am nächsten Tag, am 8. Dezember, explodierte eine weitere Bombe im Porzellangeschäft des jüdischen Kaufmanns Israel Zusman nur zweieinhalb Blocks nördlich des Hauses „Gal′pern“ an der Uspenskaja Straße (Ecke Katharinenstraße). Gegen sieben Uhr abends betrat ein junger Mann das Geschäft und fragte nach Zusman. Dieser Mann war, wie sich später herausstellen sollte, der Bezmotivnik Iosif Bronštejn, auch „Ioš′ka Belen′kij“ genannt. Bronštejn nahm eine Bombe aus der Tasche, warf sie auf den Boden und floh aus dem Geschäft. Er hatte es gerade verlassen, als der Sprengkörper explodierte. Dabei wurde der Gehilfe Gurevič, der sich in unmittelbarer Nähe befand, durch das gesamte Ladengeschäft geschleudert. Während der Detonation befanden sich vier Personen im Geschäft: der Besitzer Israel Zusman, sein Schwiegervater Keršenbojm, der Verkäufer Gurevič und eine weitere Person. Zusman und Keršenbojm wurden schwer verletzt. Die schlimmsten Verletzungen aber erlitt der Gehilfe Gurevič. In den Zeitungen wurde über die Notwendigkeit von Amputationen an Armen und Beinen spekuliert.135 Im Porzellangeschäft ging alles in Scherben, die Lampen zersplitterten und fielen von der Decke, zudem hatte die Bombe ein riesiges Loch in den Holzfußboden in der Nähe der Eingangstür gerissen.136 Die Bombe

Obnaruženie masterskoj bomb, in: Južnoe obozrenie, 8. Dezember 1905. Vzryv, in: Odesskij listok, 8. Dezember 1905; Obnaruženie masterskoj bomb, in: Južnoe obozrenie, 8. Dezember 1905. 135 K vzryvu bomby v magazine I. D. Zusmana, in: Odesskie novosti, 10. Dezember 1905. 136 Vzryv bomby, in: Odesskij listok, 9. Dezember 1905. 133 134

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war, wie sich später herausstellte, eigens mit Dachdeckernägeln präpariert gewesen, um schwere Verletzungen und Zerstörungen anzurichten.137 Auf der Straße in unmittelbarer Nähe des Tatorts befanden sich zu diesem Zeitpunkt etwa 30 Personen.138 Bereits in den ersten Berichten über den Bombenanschlag manifestierte sich ein Gerücht, das im Laufe der nächsten Tage unter anderem durch Aussagen von Israel Zusman erhärtet wurde. Vor dem Anschlag waren wiederholt Forderungen nach Geld bei Zusman eingegangen.139 Am 10. Dezember 1905 hieß es in der Zeitung Odesskie Novosti, Zusman sei von dem schrecklichen Ereignis keinesfalls überrascht gewesen. Bereits dreimal seien junge Leute bei ihm mit Geldforderungen vorstellig geworden. Beim ersten Mal seien drei junge Männer gekommen und hätten 300 Rubel gefordert. Das zweite Mal hätten sie ihre Forderungen bereits auf 500 Rubel erhöht. Das dritte Mal sei ein junges Mädchen vorstellig geworden und hätte die Forderung nach 500 Rubeln abermals erneuert. Zusman habe kategorisch abgelehnt. Dieselben Erpresser*innen waren auch in einem anderen Geschäft, im Warenhaus der Brüder Petruškini, vorstellig geworden. Die Brüder hatten Zusman um Rat gefragt, und dieser habe dazu geraten, keine Kopeke zu geben. Aus Angst hätten die Petruškinis nach der Zerstörung des Ladens von Zusman ihr Geschäft geschlossen.140 Die Bombenexplosion wurde also in den Odesskie Novosti als Reaktion von Erpresser*innen auf Zusmans strikte Ablehnung der Geldforderungen dargestellt.141 Die liberalen Zeitungen beteiligten sich an der Konstruktion einer emotionalen Gemeinschaft, die in Entsetzen und Abscheu über den Anschlag auf das Porzellangeschäft von Israel Zusman verbunden war. Möglicherweise aufgeschreckt von dieser Berichterstattung, sah sich die „Föderation Odessitischer Anarchistisch-Kommunistischer Gruppen“ veranlasst, in einem Flugblatt den Bombenanschlag auf das Geschäft von Israel Zusman ausdrücklich zu begrüßen. Darin beklagten die Anarchist*innenKommunist*innen, dass die „bürgerliche Presse“ ein so einseitiges Bild von dem Anschlag zeichne. In einem knappen Satz bedauerten sie, dass auch der Gehilfe durch die Explosion verletzt worden war.142 Diese kurze Erwähnung des unglücklichen Gurevič wirft ein kleines Schlaglicht darauf, dass der Terroranschlag mit dem Gehilfen selbst in den Augen der Anarchist*innen zumindest ein unschuldiges Opfer hatte. Verkaufsgehilf*innen in den Einzelhandelsgeschäften Odessas und anderswo waren diejenigen Proletarier*innen, die am meisten unter Ausbeutung zu leiden hatten. Die meisten der 26.000 kaufmännischen Gehilf*innen in Odessa waren jung, männlich und jüdisch. Meist dienten sie in den Geschäften ihrer Herren bereits, seitdem sie neun oder zehn K vzryvu bomby v magazine I. D. Zusmana, in: Odesskie novosti, 10. Dezember 1905. Vzryv bomby, in: Odesskij listok, 9. Dezember 1905. Ebd. K vzryvu bomby v magazine I. D. Zusmana, in: Odesskie novosti, 10. Dezember 1905. Ebd. Federacija grupp oddeskich anarchistov-kommunistov [nach dem 8. Dezember 1905]  – Tovarišči rabočie, RGIA f. 1405, op. 530, d. 195 Ich danke Alice Lichtva für Ihre Hinweise zu dieser Quelle. 137 138 139 140 141 142

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Jahre alt waren, arbeiteten 15 bis 16 Stunden am Tag an 355 bis 360 Tagen im Jahr.143 Der Einzelhandelsgehilfe Gurevič, der unter dem Anschlag am meisten zu leiden hatte, war scheinbar ein Prototyp des rechtlosen kaufmännischen Gehilfen, eines der Opfer der „kapitalistischen Ausbeutung“ und sicher kein Bourgeois. Grundsätzlich aber, so fuhren die Anarchist*innen-Kommunist*innen in ihrem Flugblatt fort, seien solche Akte, wie dieser gegen den bekannten „Blutsauger-Bourgeois“ Zusman, sehr zu begrüßen. Zusman sei ein Ausbeuter und Kapitalist gewesen. Die Anarchist*innen seien Feinde der Bourgeoisie und des privaten Kapitals. Sie würden nicht von den goldenen Tellern der Bourgeoisie essen (anders als die „Sozialisten“), und deshalb riefen die Anarchist*innen-Kommunist*innen zu Expropriationen und zu Attentaten gegen die Bourgeoisie auf. Mit diesem Seitenhieb gegen die „Sozialisten“ wandten die Autor*innen sich gegen ihre Kritiker*innen unter den Linken, wie die Sozialdemokrat*innen, die sich immer noch bemühten, Terroranschläge abzulehnen, obwohl die Aktivist*innen vor Ort längst zu gewaltsamen Mitteln griffen, oder die Sozialrevolutionär*innen, die sich bislang bemüht hatten, ihre Opfer sorgfältiger auszuwählen. Den Anarchist*innen-Kommunist*innen ging es aber laut Flugblatt um die gewaltsame Aktion als solche und nicht um ihr Ziel. Ein Attentat wie das auf Zusman, so das Flugblatt, würde eine revolutionäre Kraft entfalten, die sich wie eine Welle verbreiten und letztlich die alte Ordnung hinwegfegen würde.144 Mit diesem Flugblatt versuchten die Anarchist*innen-Kommunist*innen, die Tat wieder in einen politischen Kontext hineinzuholen. Die Kritik an den Darstellungen der „bürgerlichen Presse“, die in dem Flugblatt an mehreren Stellen geübt wird, zeigt deutlich, dass die Autor*innen von den Berichten über die Schutzgelderpressung Kenntnis hatten. Mit ihrem Bekenntnis zu der Tat versuchten sie, die Bombe in Zusmans Geschäft als anarchistischen Terroranschlag für sich in Anspruch zu nehmen und ihn nicht als kriminelle Vergeltungsaktion für die Öffentlichkeit stehen zu lassen. Tatsächlich wurde am 30. Mai 1906 in Odessa ein Anarchist-Kommunist namens Abraham Levin, der gebürtig aus dem Gouvernement Minsk stammte und auf den Kampfnamen „Abraška“ hörte, für seine Beteiligung an dem Bombenattentat auf das Geschäft von Israel Zusman festgenommen. Gleichzeitig verhaftete die Polizei Jankel Šumacher, dessen Kampfname „Jaša Bombista“ keinen Zweifel über seine politischen Aktivitäten aufkommen ließ.145 Der Attentäter Iosif Bronštejn sollte nur wenige Tage später im Zusammenhang mit dem spektakulärsten Anschlag der Anarchist*innenKommunist*innen abermals an die Öffentlichkeit treten.146

143 Vgl. dazu z. B. Robert Weinberg, The politicization of labour in 1905. The case of Odessas salesclerks, in: Slavic Review 49 (1990), H. 3, S. 427–445, hier S. 429–430. 144 Federacija grupp oddeskich anarchistov-kommunistov [nach dem 8. Dezember 1905]  – Tovarišči rabočie, RGIA f. 1405, op. 530, d. 195. 145 Anarchisty-Kommunisty, 30. Mai 1906, , CDIAK f. 419, op. 1, d. 5044. 146 Prokuror Odesskaja Okružnago Suda, Dezember 1905, , CDIAK f. 419, op. 1, d. 5051.

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Die Frage, die sich angesichts der widersprüchlichen Darstellung des Ereignisses, bzw. seiner Motive in den Quellen stellt, ist, ob es sich bei dem Ereignis um einen Terroranschlag oder um eine eskalierte Schutzgelderpressung gehandelt hat. Diese Tat lässt sich nicht eindeutig zuordnen und ist damit ein sprechendes Beispiel für die terroristische Gewalteskalation an der Peripherie. Bei Zusman wurde, so weit ist den Quellen zu trauen, sicherlich Geld erpresst, aber das Attentat damit als rein kriminelle Machenschaft abzutun, würde den Kern dieser Tat ebenso verfehlen, wie diese Hintergründe zu übersehen. Die Erpressung stand im Kontext der Aktivitäten der anarchistischen Gruppierungen, das Geld wurde „für die Partei“ gefordert.147 Die Anarchist*innen legitimierten auch ihre Schutzgelderpressung mit politischen Argumenten, die bei genauem Quellenstudium genauso konstruiert und den Notwendigkeiten einer „politischen Öffentlichkeitsarbeit“ entsprechend wirken wie die Legitimationsbemühungen der Sozialrevolutionär*innen nach ihren gewaltsamen Anschlägen auf politische Würdenträger. Die Grenze zwischen politisch motivierten terroristischen Taten und kriminellen Handlungen verschwamm angesichts des Milieus, in dem die Ereignisse sich abspielten, der allgegenwärtigen Gewalteskalation und der Natur der politischen Aktivitäten der Anarchist*innen in Zeiten des Massenterrors.148 Moskauer Aufstand

Während sich die Zeitungen in Odessa noch mit dem Bombenanschlag auf das Zusmansche Porzellangeschäft beschäftigten, brach am 10. Dezember 1905 in Moskau der bewaffnete Aufstand aus.149 Moskau war, wie Abraham Ascher zu Recht angemerkt hat, nicht das Zentrum der revolutionären Aktivitäten im Russischen Reich und deshalb ein etwas überraschender Ort für den Ausbruch des Aufstandes.150 Auch in Odessa berichteten die Zeitungen bis zum Oktober meist von den revolutionären Ereignissen in St. Petersburg, wenn sie sich auf die Ereignisse im Zentrum beziehen wollten.151 Aber im Dezember wurde Moskau zum zentralen Schauplatz der Revolution. Die treibende Kraft hinter dem Aufstand war das Moskauer Komitee, eine Organisation der Bol′ševiki. Die Eskalation hatte mit einem Streik begonnen, der am 6. Dezember

Kriven′kij/Volobuev (Hg.), Anarchisty, 1998–1999, S. 630. Vgl. zu dieser Problematik ausführlich: Geifman, The anarchists and the ‚obscure extremists‘, 1999, S. 93–110. 149 Vgl. zum Moskauer Aufstand grundlegend: Laura Engelstein, Moscow, 1905. Working-class organization and political conflict, Stanford, Calif. 1982; Joseph L. Sanders, The Moscow uprising of december, 1905. A background study, Milton 2017; Felix Schnell, Ordnungshüter auf Abwegen? Herrschaft und illegitime polizeiliche Gewalt in Moskau 1905–1914, Wiesbaden 2006, S. 150–160. 150 Ascher, The revolution of 1905. A short history, 2004, S. 97. 151 Vgl. z. B. Miting u Kazan′skago sobora v 18-go oktjabrja, in: Illjustrirovanye priloženie k gazete Odesskija novosti, 5. November 1905. 147 148

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ausgerufen worden war. Damit reagierte der revolutionäre Rat (Sovet) der Stadt auf die Verhaftung der Mitglieder des St. Petersburger Sovets am 3. Dezember 1905. Bereits am 7. Dezember lag die gesamte Moskauer Wirtschaft lahm, Arbeiter*innen und bewaffnete Truppen lieferten sich Kämpfe auf den Straßen der Stadt. Der Generalgouverneur von Moskau, der bei den Revolutionär*innen verhasste Fedor Dubasov, der bereits an der Niederschlagung von Bauernaufständen in Černigov, Poltava und Kursk beteiligt gewesen war, rief den Ausnahmezustand aus und bat in St. Petersburg um die Entsendung weiterer Truppen, die allerdings erst am 15. Dezember in Moskau eintreffen sollten. Am Abend des 9. Dezember rückten Moskauer Truppen unter Dubasovs Befehl gegen die sogenannte Fiedler-Akademie vor, eine Hochschule in Moskau, die sich bereits seit dem Herbst 1905 immer mehr in einen revolutionären Stützpunkt verwandelt hatte.152 Dort befanden sich am Abend des 9. Dezember etwa 500 Revolutionär*innen und etwa 100 bewaffnete Milizionäre, die eine Versammlung der Eisenbahner-Gewerkschaft besuchten. Die Truppen setzten den Milizionären zunächst ein Ultimatum, um sie zur Entwaffnung zu motivieren. Nachdem diese den gesetzten Zeitraum verstreichen ließen, setzten die Soldaten schließlich Artilleriefeuer gegen alle Revolutionär*innen in der Fiedler-Akademie ein. Während der Auseinandersetzungen wurden fünf der Belagerten getötet, 16 verwundet und 120 verhaftet. Der Einsatz von Artillerie empörte die Bevölkerung von Moskau weit über die Kreise der Aufständischen hinaus und heizte die revolutionäre Stimmung erst recht an. In zahlreichen Stadtvierteln eilten Moskauer*innen den Aufständischen nun zur Hilfe und bauten Barrikaden. Den Kampf um moralische Überlegenheit hatten zunächst die Revolutionär*innen, wenn auch unter großen Opfern, für sich entschieden.153 Am Abend des 10. Dezember warfen Sozialrevolutionär*innen Bomben in das Hauptgebäude der Moskauer Geheimpolizei und beschädigten das Gebäude.154 Der Aufstand war nun in voller Stärke ausgebrochen, und der Moskauer Sovet übernahm das Kommando, dem sich die Zivilbevölkerung in weiten Teilen unterwarf. Vor allem im Bezirk Presnja, in dem die Arbeiter*innen der Textilindustrie einen besonders militanten Kern des revolutionären Proletariats bildeten, hatte der Stadtteil-Sovet die Macht übernommen. In Presnja verfügten allein die Sozialrevolutionär*innen über Kampfbruderschaften von etwa 400 bis 500 Leuten.155 Die bewaffneten Aufständischen unterstanden dem Bezirkskampfkomitee. Dieses war ab dem 11. Dezember von den anderen Bezirken abgeschnitten und auf sich allein gestellt. Entscheidend für den weiteren Verlauf des Aufstandes war, dass sich die Moskauer Garnison, anders als vom Moskauer Sovet erhofft, nicht mit den Aufständischen solidarisierte.

Engelstein, Moscow, 1905, 1982, S. 202. Vgl. zum Kampf um moralische Überlegenheit: Engelstein, Weapon of the weak (Apologies to James Scott), 2003, S. 680–693. 154 V ochrannom otdelenii vzorvalis′ 2 bomby, in: Molva, 14. Dezember 1905. 155 Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 256. 152 153

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Dubasov setzte die Truppen und ihre Artilleriefeuer mit mitleidloser Härte ein. Jedes Gebäude, aus dem Revolutionär*innen auch nur einen Schuss abgaben, wurde komplett zerstört. Die Truppen hatten Befehl, auf jede Ansammlung von mehr als drei Personen in den Straßen zu schießen. Am 15. Dezember traf das Semenovskij-Regiment unter Oberst Min als militärische Verstärkung aus St. Petersburg ein. Zu diesem Zeitpunkt beschränkte sich der Aufstand nur noch auf den Bezirk Presnja. Min umstellte zwei Fabriken in Presnja, die den Aufständischen als Stützpunkte dienten, und ließ diese nach kurzem Ultimatum bombardieren. Schon vorher hatte der städtische Sovet unter Druck eine Resolution verabschiedet, in der er das Ende des Aufstands verkündete. Nur in Presnja gingen die Kämpfe bis zum 19. Dezember weiter, bis die letzten Aufständischen schließlich aufgeben mussten. Der Moskauer Aufstand hatte über 1.000 Menschen das Leben gekostet. Unter den Opfern waren zahlreiche Zivilist*innen, 137 Frauen und 86 Kinder. Zudem verloren 15 Polizisten und neun Soldaten ihr Leben.156 Auch nach der Niederschlagung des Aufstandes ging die brutale Repression in Moskau weiter. 157 Der Aufstand war vor den Augen der Öffentlichkeit in Blut ertränkt worden.158 Generalstreik

Als der Odessaer Sovet, der sich erst Anfang November gegründet hatte, am 11. Dezember zum Generalstreik aufrief, waren die Unruhen in Moskau bereits in vollem Gange. Es war allerdings weniger der Aufruf des Moskauer Sovets, sondern das Vorbild des Petersburger Sovets, dem die Odessaer Revolutionäre folgten. Der Odessaer Sovet hatte sich als Reaktion auf das Oktobermanifest gegründet. Er bestand aus 154 Mitgliedern, die zum großen Teil den linken bis linksradikalen Parteien angehörten. 81 davon waren Sozialdemokrat*innen, die allerdings mehrheitlich der Fraktion der Men′ševiki angehörten. Zwei Deputierte waren Mitglieder des Bundes, und einer gehörte der Ukrainischen Sozialdemokratischen Partei an. Die Sozialrevolutionär*innen entsandten zwölf Mitglieder, die Konstitutionellen Demokrat*innen (Kadetten) fünf, die Ukrainischen Demokrat*innen einen. Fünf Personen im Sovet bezeichneten sich als Anarchist*innen-Kommunist*innen. Die übrigen waren parteilos. Die Dominanz der Men′ševiki führte dazu, dass alle 15 Mitglieder des Exekutivkomitees ebenfalls Sozialdemokrat*innen waren.159 156 Zu den Zahlen vgl. Schnell, Ordnungshüter auf Abwegen?, 2006, S. 150. Vor allem die Zahl der getöteten Polizisten ist umstritten, Ascher spricht etwa von 25 Todesopfern: Abraham Ascher, The revolution of 1905. Russia in disarray, Stanford, Calif. 11994, S. 322. 157 Vgl. zum Aufstand und den Folgen ausführlicher: Ascher, The revolution of 1905, 2004, S. 97–105; Engelstein, Moscow, 1905, 1982, S. 202–227; Schnell, Ordnungshüter auf Abwegen?, 2006, S. 155–168. Vgl. auch: Weber, Zur Russischen Revolution von 1905, 1989, S. 172–173, 491. 158 So haben es zahlreiche Zeitgenossen interpretiert. Vgl. z. B. Otdavat′ on prežde dušu …, in: Burelom, 18. Dezember 1905. 159 Weinberg, The revolution of 1905 in Odessa, 1993, S. 208.

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Bereits seit dem November 1905 beobachteten die Odessaer Revolutionär*innen mit Argwohn, dass die Obrigkeit danach strebte, die Konzessionen des Oktobermanifestes wieder rückgängig zu machen. Als probates Mittel, um diesen Rückschritt zu verhindern, galt ein weiterer Generalstreik. Allerdings herrschte unter den Arbeiter*innen eher eine vorsichtige Stimmung. Angesichts der „schwarzen Tage“ im Juni und Oktober, der Gewalt und der zahlreichen Opfer wollten nur die wenigsten weitere gewaltsame Zusammenstöße mit der Obrigkeit provozieren. Deshalb zögerte der Odessaer Sovet, einen Generalstreik auszurufen. Doch die Verhaftung der Delegierten des Petersburger Sovets am 3. Dezember änderte die Stimmung.160 Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach revolutionärer Aktion und der Angst, die Arbeiter*innen mit einem weiteren Streikaufruf zu überfordern, schickten die Deputierten des Odessaer Sovets ein Telegramm an den Petersburger Sovet, um die weitere Vorgehensweise zu koordinieren. Zugleich rüsteten sich die Befürworter*innen des Generalstreiks ab dem 7. Dezember, dem Tag der Arbeitsniederlegung in Moskau, für weitere Aktionen. Schließlich war es aber nicht der Sovet, der die Initiative ergriff, sondern die Eisenbahner riefen den Streik am 11. Dezember aus.161 Angesichts der Gewalteskalation in Odessa im Juli und im Oktober 1905 sowie den Ereignissen, die sich parallel in Moskau abspielten, ist es bemerkenswert, dass der Generalstreik in Odessa im Dezember weitgehend ohne offene Konfrontation zwischen den Arbeiter*innen und der Obrigkeit bzw. den rechten Chuligany ablief. Das merkte auch einer der leitenden Beamten der Odessaer Ochrana an: „Der Streik verläuft eher schleppend, ohne Gewalt und Zusammenstöße mit Polizei und Militär“.162 Tatsächlich übten beide Seiten Zurückhaltung. Nachdem Generalgouverneur Nejdgart, der von vielen für den Oktoberpogrom verantwortlich gemacht wurde, endlich abberufen worden war,163 setzte sein Nachfolger Grigor′ev eher auf Deeskalation. Während die streikenden Arbeiter*innen sich zu Meetings auf öffentlichen Plätzen versammelten, patrouillierten Soldaten in den Straßen. Dennoch kam es scheinbar bewusst nicht zu Zusammenstößen. Wenn die Streikenden einzelne Laden- oder Werkstattbesitzer*innen unter Druck setzten, ihre Geschäfte zu schließen, sahen die Ordnungskräfte dem Treiben tatenlos zu. Ab dem 15. Dezember wurde Odessa unter Kriegsrecht gestellt, und dennoch hinderte niemand die Arbeiter*innen daran, sich öffentlich zu versammeln.164 Die beschriebenen Situationen erinnern in der Rückschau an den Streik, der 1903 von der Zubatovschen Unabhängigen Gewerkschaft organisiert worden war, so

160 Vgl. zu den Verhaftungen im Dezember 1905 in St. Petersburg ausführlich: Dittmar Dahlmann, Ein politischer Prozess im vorrevolutionären Russland. Sozialrevolutionäre vor Gericht, in: Heiko Haumann / Stefan Plaggenborg (Hg.), Aufbruch der Gesellschaft im verordneten Staat. Russland in der Spätphase des Zarenreiches, Frankfurt am Main, New York 1994, S. 217–241. 161 Weinberg, The revolution of 1905 in Odessa, 1993, S. 213–216. 162 Zitiert nach: Ebd., S. 218. 163 Ebd., S. 174. 164 Ebd., S. 218.

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bemerkenswert war die Zurückhaltung der Obrigkeit. Aber auch das Exekutivkomitee des städtischen Sovets wirkte auf die Arbeiter*innen ein, um „Zusammenstöße jeder Art zu vermeiden“.165 Der Sovet rief also nicht nur nicht zum bewaffneten Aufstand auf, er beschwor die Arbeiter*innen sogar, Ruhe zu bewahren. Robert Weinberg hat darauf hingewiesen, dass diese Zurückhaltung nicht in erster Linie darauf zurückzuführen war, dass die Men′ševiki einen solchen Aufstand vermeiden wollten, wie es die sowjetische Historiographie lange behauptet hatte. Vielmehr seien die Arbeiter*innen selbst nach den blutigen Auseinandersetzungen im Juli und im Oktober nicht gewillt gewesen, weiteres Blutvergießen zu riskieren.166 Der Moskauer Aufstand, über den die Presse in jenen Tagen ausführlich berichtete, mag als abschreckendes Beispiel zu dieser versöhnlichen Haltung beigetragen haben. Grigor′evs Deeskalationsstrategie erwies sich als erfolgreich. Aufgrund der Ruhe und der ausbleibenden Provokation durch die Obrigkeit lief der Streik sich tot. Die Arbeiter*innen „langweilten sich“ und kehrten nach und nach wieder an die Arbeit zurück. Am 16. Dezember erkannte der Sovet die Situation; er erklärte den Streik für beendet und forderte alle Arbeiter*innen auf, am 18. Dezember wieder bei der Arbeit zu erscheinen. Zahlreiche Arbeiter*innen waren bereits am 16. Dezember wieder an ihre Arbeitsstellen zurückgekehrt.167 Doch nicht alle Mitglieder des Sovets waren einer Meinung, die Politik der Gewaltlosigkeit betreffend. Die Bol′ševiki schlugen vor, die Eskalation des Streiks gezielt zu beschleunigen und die Arbeiter*innen mit Waffen zu versorgen, weil sie erkannten, dass ein „friedlicher Streik“ nicht lange durchzuhalten wäre. Sie hofften, dass eine Eskalation der Gewalt zu einem bewaffneten Aufstand führen werde.168 Auch wenn diese Haltung sich nicht innerhalb des Sovets durchsetzen konnte, standen die Anarchist*innen-Kommunist*innen in dieser Frage an der Seite der Bol′ševiki. Diese Auseinandersetzungen um den gewaltsamen Charakter des Streiks bzw. dessen schnelle Beendigung dürften zumindest einen der Kontexte markieren, die schließlich zu einem der skandalösesten terroristischen Anschläge in der Geschichte der Revolution von 1905 bis 1907 führten: dem Bombenattentat auf das Café Libman am 17. Dezember 1905.169 Obwohl der Generalstreik offiziell erst am 18. Dezember beendet sein sollte, war bereits am 17. wieder weitgehende Normalität in Odessa eingekehrt. Zahlreiche Arbeiter*innen waren an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt, die Geschäfte hatten wieder geöffnet, und die zuvor allgegenwärtigen politischen Meetings waren von den öffent-

Zitiert nach: Ebd., S. 219. Ebd., S. 218–219. Ebd., S. 220. Ebd., S. 219. Vgl. zum Folgenden ausführlich: Hilbrenner, Der Bombenanschlag auf das Café Libman in Odessa am 17. Dezember 1905: Terrorismus als Gewaltgeschichte, 2010, S. 210–231. 165 166 167 168 169

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lichen Plätzen verschwunden. Diese Rückkehr zu der von der großen Mehrheit der Menschen in Odessa ersehnten Normalität wurde am Abend des 17. Dezember jäh unterbrochen. Der Bombenanschlag auf das Café Libman am 17. Dezember 1905

Am 17. Dezember um kurz vor 19 Uhr schleuderten drei Anarchist*innen mehrere Bomben in das Café Libman, das im Zentrum Odessas an der Kreuzung von Deribasovskaja und Preobraženskaja Straße und damit unweit des zentralen Sobornaja Platzes lag. Die Deribasovskaja Straße galt als Flaniermeile der Stadt, und der Sobornaja Platz war das Herz des Wirtschaftsbezirks. An der Kreuzung befand sich die berühmte Odessaer Passage, ein mit Glas überdachtes, edles Einkaufszentrum, das 24 Geschäfte beherbergte und 1898 fertiggestellt worden war. Die Passage ließ Odessa zu den modernen europäischen Einkaufsmetropolen aufschließen. Das gleichnamige Hotel Pasaž verfügte über ein feines Restaurant, einen Musiksalon, Zentralheizung und einen Aufzug.170 Die Anarchist*innen hatten mit diesem Attentat den Bombenterror aus den übel beleumundeten Vierteln in Bahnhofsnähe mitten in das reiche, belebte und luxuriöse Herz der Stadt hineingetragen. Der Anschlag wurde von drei jungen Leuten ausgeführt: Der 21-jährige Moisej-Iosev Mec′ mit dem Decknamen „Boris“, der 18-jährige Iosif Bronštejn, der bereits am 8. Dezember eine Bombe in das Geschäft von Israel Zusman geworfen hatte, und die 22-jährige Bejla Šereševskaja Vejsbrom alias „Šerka“. Mec′ und Šereševskaja erhielten die Sprengsätze, die sie ins Café Libman schleudern sollten, kurz vor der Tat in der Wohnung von Iosif Ljubarskij in der Spiridonovskaja Straße Nr. 16. Bronštejn erhielt seine Bombe in der Wohnung von Šaj Grinberg in der Provianskoe pereulok Nr. 13. Aus unterschiedlichen Richtungen machten sich die drei jungen Leute also zum Café Libman auf, wo die Bomben innerhalb kürzester Zeit gegen 18.40 Uhr im Café bzw. in dem danebengelegenen Geschäft explodierten.171 Dieses Vorgehen zeugt von einem gewissen Grad an koordinierter Organisation sowie einem Willen zur Inszenierung. Das Café Libman wurde nicht zufällig ausgewählt, weil die Gelegenheit zum Bombenwurf günstig erschien, sondern war ein geplantes Ziel. Die vorbereiteten Bomben wurden an zwei unterschiedlichen Orten in der Stadt deponiert, was eine Mindestanzahl an Mitverschwörer*innen voraussetzt. Die Zeitung Južnoe Obozrenie identifizierte als Täter einen jungen Mann mittlerer Größe im schwarzen Mantel, der dabei beobachtet wurde, wie er die Straße entlanglief und Bomben an die Fassade des Libmanschen Hauses schleuderte.172 Die Attentäterin 170 171 172

Herlihy, Odessa: A history, 1986, S. 264. CDIAK, f. 419, op. 1, d. 5051. Gorodskija proisšestvija, in: Južnoe obozrenie, 20. Dezember 1905.

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Bejla Šereševskaja Vejsbrom wurde von dem Zeugen Michail Ljustgarten dabei beobachtet, wie sie eine Bombe durch ein Fenster in das Café warf. Šereševskaja trug, der Aussage gemäß, „die Haare kurzgeschnitten und war mit einer schwarzen Mütze sowie einem schwarzen Mantel bekleidet.“173 Damit beschrieb der Zeuge eine prototypische Anarchistin in Odessa im Oktober 1905, wie sie in den Polizeiakten jener Zeit immer wieder auftaucht.174 Die jungen Leute handelten im Namen der „Odessaer Gruppe der Anarchisten-Kommunisten“, die sich noch am selben Tag in einem Flugblatt zu der Tat bekannte.175 Sie waren Teil der Fraktion der Černoznamency-bezmotivniki.176 Der Anarcho-Syndikalist Daniel Novomirskij, der selbst in der anarchistischen Szene Odessas verwurzelt war, erinnerte sich, dass die Anarchist*innen, die für das Libman-Attentat verantwortlich waren, zum großen Teil aus Białystok kamen.177 Allerdings konnten doch einige der Aktivist*innen auf eine revolutionäre Karriere in Odessa zurückschauen. Die Drahtzieher*innen hinter dem Anschlag waren unter anderen die berüchtigten Anarchist*innen Kopel′ (Gustav) Ėrdelevskij und seine Schwägerin Ol′ga Taratuta, die in anarchistischen Kreisen zunächst in Südrussland bzw. der Ukraine und später auch im Exil in Westeuropa und nach 1917 in der Sowjetunion eine wichtige Rolle spielten. Sie repräsentierten in ihrer Odessaer Zeit die Strömung der Neprimirimye, die als Bündnis von Anarchist*innen-Kommunist*innen des Schwarzen Banners und den anti-intellektuellen Aktionist*innen der Machaevcy galt. Kopel′ Ėrdelevskij war im November 1905 zusammen mit Lazar Gerškovič, dem Bombeningenieur aus dem Haus „Gal′pern“, der bei der Razzia am 6. Dezember 1905 festgenommen wurde, der führende Kopf der Anarchist*innen-Kommunist*innen.178 Das Bombenattentat auf das Café Libman war einer von zwei Anschlägen, den die Anarchist*innen des Schwarzen Banners als besonders spektakuläre Akte des unmotivierten (bezmotivnij) Terrorismus in Russischen Reich rühmten. Der andere war der Anschlag auf das Café des Hotels Bristol in Warschau, der sich bereits am 13. November 1905 ereignet hatte. Auch in Warschau schleuderten Anarchist*innen Bomben in ein belebtes Café, einige Menschen wurden verletzt, doch niemand starb.179

CDIAK f. 419, op. 1, d. 5051. Vgl. z. B. Kiew 1907 – Dela po obvineniju žitielij g, CDIAK f. 385, op. 1, d. 2094. Auch die Drahtzieherin Olga Taratuta trug den für Anarchist*innen typischen schwarzen Mantel. Vgl. zur Frage der Kleidung in der Geschichte des russischen Terrorismus auch den Artikel: Patyk, Dressed to kill and die. Russian revolutionary terrorism, gender and dress, 2010, S. 192–209. 175 Odesskaja gruppa anarchistov-kommunistov, Ko vsem rabočim i rabotnicam. 17 dekabrja 1905. g., in: Kriven′kij/Volobuev (Hg.), Anarchisty, 1998–1999, S. 166–167; vgl. auch: CDIAK f. 419, op. 1, d. 5051. 176 Vgl. Kriven′kij/Volobuev (Hg.), Anarchisty, 1998–1999, S. 630. 177 Novomirskij, Anarchičeskoe dviženie v Odesse, in: Borovoj (Hg.), Michailu Bakuninu 1876–1926, 1926, S. 246–278. 178 Ebd., S. 254. 179 A. S., Černoznamency i beznačal′cy, in: Borovoj (Hg.), Michailu Bakuninu 1876–1926, 1926, S.  279– 297; Bombs in Warsaw Hotel. Thrown through Windows of Crowded Cafe – No One Killed, in: New York Times, 27. November 1905; Vzryv Bomby v Varšave, in: Odesskij listok, 21. Dezember 1905. 173 174

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Die Bomben, die die Anarchist*innen ins Café Libman warfen, lösten eine regelrechte Panik aus: Im Café befanden sich zahlreiche Gäste, darunter, so unterstrichen die Odesskie novosti mehrfach, viele Frauen. Um etwa zwanzig Minuten vor sieben war die erste Explosion zu hören. Alle erstarrten auf ihren Plätzen, ein Fenster splitterte, ein Feuer brach aus. Dann ereignete sich die zweite Explosion, die viel stärker war als die erste. Die Gäste sprangen auf, schrien und rannten ziellos im Raum umher. Schließlich detonierte die dritte Bombe. Ein großer Teil der Cafébesucher*innen warf sich zu Boden und verharrte dort für einige Minuten. Erst danach begannen die Gäste, aus dem Café zu fliehen. Die Bomben, so berichteten Expert*innen in der Zeitung, waren fehlerhaft konstruiert, sodass sie bei der Explosion nicht ihre volle Sprengkraft entfalteten. Die Besucher*innen des Cafés, die Bewohner*innen der umliegenden Häuser und jene Menschen, die auf der Flaniermeile spazieren gingen bzw. die Geschäfte in den Passagen aufsuchten – alle hätten potenziell Opfer des Bombenanschlages werden können. Aufgrund der verminderten Sprengkraft blieb die Zahl von zehn Menschen, die körperliche Verletzungen erlitten haben, von denen wiederum zwei starben, relativ gering. Die ausführlichste Berichterstattung über das Leid der Opfer lieferten die Odesskie novosti auf der Grundlage der Auskunft der behandelnden Ärzte und Rettungssanitäter.180 Innerhalb des Cafés wurden zwei Frauen leicht verletzt. Die Rettungssanitäter konstatierten Verletzungen an Armen und Beinen. Außerdem wurden die 13-jährige Lisa Fajn und die 14-jährige Ekaterina Šepelskaja infolge des Attentats medizinisch behandelt. Die beiden gingen zur Tatzeit am Café Libman vorbei und wurden durch die Explosionen leicht verwundet. Insgesamt wurden auch die Verletzungen der beiden Mädchen als eher leicht eingeschätzt. Ebenfalls von den Rettungssanitätern behandelt wurde ein Mann, Josif Dadis, der durch Explosionssplitter leicht verletzt wurde. Diese fünf Personen wurden Opfer der drei Bomben, die in und um das Café Libman herum explodierten. Als sich die erste Panik auf den an das Café Libman angrenzenden Straßen gelegt hatte, fand der Offizier Eduard Orchimovič eine weitere Bombe, die nicht detoniert war, auf der Erde. Er nahm die Bombe zur Untersuchung mit auf die Aleksandrovskij Polizeistation. Dort traf er die Aufseher Belčik und Leontij Dombrovskij, den Kosakenoffizier Petr Kavzan und den Oberleutnant Savin an sowie einige andere Offiziere. Bei der Untersuchung der Bombe ließ der Aufseher Belčik diese versehentlich fallen, worauf sie augenblicklich explodierte, zwei Menschen tödlich verwundete und drei weitere verletzte. Die Berichterstattung in der Odessaer Tagespresse über dieses Ereignis ist sehr unterschiedlich. Die Odesskie novosti schilderten ausführlich die Szene, die zum versehentlichen Explodieren der Bombe führte. Nach den Informationen der Odesskie

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Vzryvy bomb, in: Odesskija novosti, 20. Dezember 1905.

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novosti gerieten die Offiziere und Aufseher in einen Streit und ein Handgemenge darüber, wer die Bombe als Erster untersuchen durfte. Die Južnoe Obozrenie schilderte die genauen Umstände der Explosion nur kurz, von einem Streit oder gar Handgemenge ist hier dagegen nicht die Rede.181 Die Unterschiede in der Presseberichterstattung machen deutlich, dass es zwei Arten von Opfern bzw. zwei unterschiedliche emotionale Gemeinschaften gab. In den Odesskie novosti standen vor allem die Frauen und Kinder als Opfer im Vordergrund. Ihre Verletzungen werden ausführlich geschildert, immer wieder wird darauf verwiesen, dass mit dem Anschlag auf das Café und die Einkaufspassage vor allem Frauen und Kinder zur Zielscheibe des Terroraktes wurden. Durch diese Betonung wird die Ungeheuerlichkeit eines Anschlags auf unschuldige Opfer unterstrichen. Diese Deutung wird durch die Art der Beschreibung der Polizisten, Offiziere und Kosaken, die Opfer der Bombenexplosion auf der Polizeiwache wurden, weiter unterstrichen. Diesen Opfern, die den Odesskie novosti offensichtlich nicht in gleicher Weise wie Frauen und Kinder als „unschuldig“ galten, widmete die Berichterstattung weit weniger Aufmerksamkeit, obwohl sie viel stärker geschädigt wurden und zwei Polizisten sogar starben. Durch die fast burleske Schilderung des Handgemenges um die Bombe wird den Opfern aus den Reihen der Ordnungskräfte gar eine Mitschuld an der Explosion und dem Tod der beiden Offiziere zugewiesen. Es wird deutlich, dass die Odesskie novosti nicht mit Sympathien ihrer Leser*innen für die Polizei rechnete.182 Die Odesskie novosti konstruierten also für ihre Leserschaft eine emotionale Gemeinschaft, die um die unschuldigen Frauen und Kinder im Café Libman trauerte, die aber emotional gegenüber den Verletzungen der Ordnungskräfte eher indifferent blieb. Južnoe Obozrenie schildert demgegenüber die zum Teil tödlichen Verletzungen der Polizisten detailliert und gab den Opfern durch biographische Details eine menschliche Dimension, die zur Empathie anregte.183 So hieß es zum Beispiel über Dombrovskij, „dessen Brustkorb in Stücke gerissen war“, dass er noch in das Evangelisten-Krankenhaus gebracht wurde, wo er einige Stunden mit dem Tode rang und schließlich verstarb. Dombrovskij war 28 Jahre alt. Einige Jahre zuvor, so ließ die Južnoe Obozrenie wissen, hatte er die örtliche Musikschule absolviert, wo er die Posaune spielte. Im Evangelisten-Krankenhaus wurden auch Savin, Orchimovič und Kovzan behandelt, die zum Teil schwere Verwundungen erlitten hatten. Der Polizeiaufseher Belčik war noch auf dem Polizeirevier den Verletzungen, die er während der Explosion erlitten hatte, erlegen. Diese Schilderung ließ weit mehr Sympathie für die verletzten und verstorbenen Ordnungskräfte erkennen, die in diesem speziellen Fall der Verwundung durch eine anarchistische Bombe ebenfalls als unschuldige Opfer gelten konnten.184 181 182 183 184

Gorodskija proisšestvija, in: Južnoe obozrenie, 20. Dezember 1905. Vzryvy bomb, in: Odesskija novosti, 20. Dezember 1905. Gorodskija proisšestvija, in: Južnoe obozrenie, 20. Dezember 1905 Vgl. auch im Folgenden. Ebd.

1905 in Odessa

Die emotionale Gemeinschaft, die die Južnoe Obozrenie mit ihren Leser*innen konstruierte, trauerte also auch um die toten und verwundeten Polizisten. Bereits bei der ersten Untersuchung des Tatortes wurde deutlich, dass sich mindestens einer der Bombenwerfer*innen ebenfalls verletzt hatte. Die Polizei entdeckte Blutspuren auf dem Sobornaja Platz, die zudem einen Teil des Fluchtwegs des Attentäters markierten.185 Bei den Attentäter*innen selbst war keinerlei Empathie für die Opfer ihres Anschlages, weder für die Frauen und Kinder im Café noch für die Polizisten, vorhanden. Als Drahtzieher*innen ermittelte die Polizei neben den berüchtigten und polizeibekannten Anarchist*innen Kopel′ Ėrdelevskij und Ol′ga Taratuta den polnischstämmigen Stanislav Šašek. Šašek brachte die flüchtigen und verletzten Attentäter*innen gemeinsam mit seiner Schwester Lidia in der Datscha des Oberstleutnants Šeremuškin unter. Lidia Šašek gab bei ihrer Vernehmung zu Protokoll, ihr Bruder Stanislav sei um 7:30 Uhr zu ihr gekommen und hätte vor Freude strahlend angesichts der Explosionen in dem gut besuchten Kaffeehaus verkündet: „Um 6:38 Uhr sind die Bomben dort explodiert, wo die Kapitalisten sitzen und Kaffee trinken.“186 Bei den Explosionen hatten sich die Bombenwerfer*innen Bejla Šereševskaja und Moisej Mec′ selbst Verletzungen zugezogen, die auf Explosionssplitter der Bomben zurückzuführen waren.187 Angesichts dieser Wunden holte Ol′ga Taratuta, die offensichtlich die dafür nötigen Leute in Odessa kannte, den Arzt Dju-Buše, der die Verletzungen behandelte und für Schmerzmittel und Medikamente notwendige Rezepte ausstellte. Šašek sagte aus, dass Dju-Buše für die Behandlung 28 Rubel von Ol′ga Taratuta erhalten habe. Taratuta und Dju-Buše hätten miteinander Jiddisch gesprochen.188 Diese Beobachtung zeigt, wie sehr die Anarchist*innen, zumindest über die Organisator*innen Taratuta und Ėrdelevskij, im jüdischen Milieu der Stadt Odessa verwurzelt waren. In der Nacht vom 21. auf den 22. Dezember 1905 gelang es der Polizei, die Attentäter*innen in der Datscha Šeremuškins zu stellen. Bei der Verhaftung kam es abermals zu einer heftigen Bombenexplosion, bei der zwei Polizisten verletzt wurden. Im Unterschlupf der Terrorist*innen wurden eine Pistole, blutige Kleider, Verbandsmaterialien und die Medikamente gefunden, für welche der Arzt Dju-Buše Verschreibungen ausgestellt hatte. Dju-Buše floh am 22. Dezember 1905 nach Kišinev und entging so der Verhaftung. Verhaftet wurden in der Datscha die verletzten Bejla Šereševskaja und Moisej Mec′ ebenso wie Ol′ga Taratuta und Stanislav Šašek. Bejla Šereševskaja, Iosif Bronštejn und Moisej Mec′ wurden später zum Tode verurteilt.189 Die Strafe wurde

185 186 187 188 189

Vzryvy bomb, in: Odesskija novosti, 20. Dezember 1905. CDIAK, f. 419, op. 1, d. 5051. Arest Anarchistov, in: Odesskija novosti, 23. Dezember 1905. CDIAK, f. 419, op. 1, d. 5051. Ebd.

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am 15. November 1906 vollstreckt. Die Drahtzieher*innen Ol′ga Taratuta und Stanislav Šašek wurden mit 17 Jahren Lagerhaft bestraft.190 Ol′ga Taratuta konnte jedoch aus dem Gefängnis fliehen und schaffte es, sich ebenso wie Kopel Ėrdelevskij zumindest vorerst ins Ausland abzusetzen.191 Die kommunikative Ausstrahlung des Attentats auf das Café Libman

Anna Geifman hat überzeugend nachgewiesen, dass die liberale Öffentlichkeit dem Terrorismus weitgehend positiv gegenüberstand.192 Die Botschaften der Kampforganisation der Sozialrevolutionäre*innen richteten sich demensprechend auch meist vordringlich an die Liberalen und wurden von diesen wohlwollend aufgenommen. Demgegenüber muss für das Attentat auf das Café Libman festgestellt werden, dass die Zeitungen den Anschlag durchgängig verurteilten. Während des Generalstreiks erschienen zwischen dem 11. und dem 19. Dezember 1905 keine Zeitungen in Odessa. Erste Berichte über das Libman-Attentat, das bereits am 17. Dezember stattgefunden hatte, konnten deshalb erst am 20. Dezember erscheinen. Ab diesem Tag setzten die Zeitungen mit ihrer Berichterstattung ein und fokussierten dabei vor allem auf die Tatsache, dass Frauen und Kinder zu unschuldigen Opfern des terroristischen Attentats geworden waren. So formierten sie eine emotionale Gemeinschaft, die dem Attentat mit Abscheu und Widerwillen begegnete.193 Die Odesskie novosti forderten in mehreren Kommentaren die linken Parteien dazu auf, sich von den Anarchist*innen zu distanzieren.194 Der Bombenwurf in ein belebtes Café war ein Skandal, der über Odessa hinaus Kreise zog und Eingang in die Zeitungen in der Hauptstadt des Reiches fand.195 Außerdem gaben die Zeitungen Aussagen wieder, bei Libman seien Anarchist*innen mit Forderungen nach einer Geldsumme von 1.000 Rubel vorstellig geworden. Einer der Erpresser sei am Tatort gesichtet worden.196 Diese Berichte erinnern an das Attentat auf das Porzellangeschäft Israel Zusmans, und weil dieser Anschlag erst weKriven′kij/Volobuev (Hg.), Anarchisty, 1998–1999, S. 630. Avrich, The Russian anarchists, 1967, S. 69. Vgl. auch zur Biographie Taratutas: Hilbrenner, Der Bombenanschlag auf das Café Libman in Odessa am 17. Dezember 1905: Terrorismus als Gewaltgeschichte, 2010, S. 210–231. 192 Vgl. dazu vor allem: Geifman, The Kadets and terrorism, 1988, S. 248–267. 193 Vgl. z. B. Vzryvy bomb, in: Odesskija novosti, 20. Dezember 1905; Gorodskija proisšestvija, in: Južnoe obozrenie, 20. Dezember 1905. 194 Vgl. z. B. Socializm i Anarchizm, in: Odesskija novosti, 22. Dezember 1905; Zigzagi, in: Odesskija novosti, 21. Dezember 1905. 195 Vgl. z. B. Odessa, 18.12. Pri vzryve v konditerskoj Libmana raneno troe, in: Molva, 20. Dezember 1905; Odessa, 24.12., in: Molva, 28. Dezember 1905. 196 Vgl. Vzryvy bomb, in: Odesskija novosti, 20. Dezember 1905; Gorodskija proisšestvija, in: Južnoe obozrenie, 20. Dezember 1905; Chronika, in: Pravo, 24. Dezember 1905. 190 191

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nige Tage zurücklag, erschien der Verdacht einer Schutzgelderpressung naheliegend. Ob es eine solche Geldforderung gegeben hat, lässt sich anhand der Quellenlage nicht klären. Abermals muss aber festgestellt werden, dass eine solche Erpressung einen politischen Hintergrund nicht automatisch ausschließt, und so vermutete auch die Polizei nur wenige Stunden nach dem Anschlag, dass „es Sozial-Revolutionäre oder Anarchisten waren, die diesen Anschlag als terroristischen Akt, gerichtet gegen den Kapitalismus und die Bourgeoisie, verübt haben.“ Diese Vermutung wurde durch die Aussagen der Informant*innen in der anarchistischen Szene kurz darauf bestätigt.197 Ähnlich wie bei dem Anschlag auf das Zusmansche Geschäft fühlten die Anarchist*innen sich durch die schlechte Presse bemüßigt, mit ihrer Interpretation des Anschlags dagegenzuhalten. In dem Flugblatt, mit dem die Anarchist*innen-Kommunist*innen sich zu dem Anschlag bekannten, hieß es über das Café Libman, dort würden „aus dem Blut der Arbeiter köstliche Gerichte zum Wohlgefallen der Blutsauger angerichtet“. Damit bemühten die Anarchist*innen noch einmal auf besonders drastische Weise das Bild von den Kapitalisten als „Blutsaugern“, das mittlerweile zum geflügelten Wort unter den Linken, vor allem aber unter den Anarchist*innen geworden war und das seinen Teil zur Blutmetaphorik der Revolution von 1905 beitrug. Das Café Libman wurde in dem Flugblatt zum Symbol der ungerechten Wirtschaftsordnung generell umgedeutet: Die ganze Welt, so die Anarchist*innen-Kommunist*innen, sei ein gigantisches Kaffeehaus, in dem die Bourgeoisie schlemmte, während den Arbeiter*innen der Eintritt verboten sei. Die Arbeiter*innen könnten nur durch die Fenster dieses metaphorischen Kaffeehauses beobachten, wie die Bourgeoisie, die durch die Ausbeutung ebendieser Arbeiter*innen reich und fett geworden war, sich an ihrem Blut labte.198 Zugleich grenzten sich die Anarchist*innen mit dem Flugblatt von anderen revolutionären Gruppen ab: „[E]in Anschlag auf dieses Café sagt den Arbeitern mehr als die Worte aller Phrasendrescher.“199 Mit dieser Aussage machten die Anarchist*innen-Kommunist*innen nochmals ihr aktionistisches Credo deutlich, demzufolge Taten mehr zählten als Worte und Ideologien. Sie spielten damit zugleich auf jene Mehrheit im Odessaer Sovet an, die aus politisch-taktischen Erwägungen den Generalstreik für beendet erklären ließen und sich gegen eine Eskalation des Streiks in einen Aufstand ausgesprochen hatten. Für die Anarchist*innen-Kommunist*innen, so viel ging aus dem Flugblatt zweifelsfrei hervor, waren diese „politischen Spiele“ der „Phrasendrescher“ nicht akzeptabel. Sie wollten einen gewaltsamen Aufstand im ganzen Land, der das alte System, die Obrigkeit, aber auch die herrschende wirtschaftli-

CDIAK, f. 419, op. 1, d. 5051. Vgl. dazu nochmals: Sarah A. Stein, Faces of protest. Yiddish cartoons of the 1905 revolution, in: Slavic Review 61 (2002), H. 4, S. 732–761, hier S. 742. 199 Odesskaja gruppa anarchistov-kommunistov, Ko vsem rabočim i rabotnicam, in: Kriven′kij/Volobuev, O. V. (Hg.), Anarchisty, 1998–1999, S. 166–167. 197 198

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che Klasse ein für alle Mal hinwegfegen sollte.200 Mit dieser Ansicht standen sie selbst im revolutionären Lager isoliert da. Die „Phrasendrescher“, die den Anschlag auf das Café Libman für kontraproduktiv hielten, waren sogar im anarchistischen Lager sehr präsent. Der Anarcho-Syndikalist Daniel Novomirskij verurteilte den Anschlag auf ein „zweitklassiges“ Restaurant, in dem vor allem die Intelligencija zu Gast war und eben nicht die „blutsaugende“ Bourgeoisie. Er zitierte einen Arbeiter, der Zeuge des Anschlags gewesen war, mit den Worten: Haben die Revolutionäre wirklich nichts Besseres zu tun, als Bomben in Restaurants zu werfen? Man könnte glauben, das zarische Regime sei bereits niedergeworfen und die Macht der Bourgeoisie gebrochen! Wahrscheinlich haben doch die Schwarzhunderter die Bombe geworfen, um die Glaubwürdigkeit der Revolutionäre zu schädigen!201

Zudem verurteilten die Anarcho-Syndikalist*innen das Libman-Attentat mit einem Flugblatt. Sie bejahten den Terrorismus nur dann, wenn er sich gegen „echte Feinde der Arbeiterklasse“ richtete. Außerdem bezogen sie sich auf die in der Presse thematisierten Schutzgelderpressungen und lehnten diese ab. Expropriationen kämen, so die Anarcho-Syndikalist*innen, nur dann in Frage, wenn das Geld Arbeitslosen oder sonstigen Bedürftigen zugutekäme oder für die Partei aufgewendet werde. Andere Expropriationen oder ähnliche Aktionen zum materiellen Zugewinn seien durch die Ideologie des Anarchismus nicht gerechtfertigt.202 Die kommunikative Ausstrahlung des Libman-Attentats zeigte, wie zerrissen selbst die Radikalen in ihrer Haltung zu Revolution und Aufstand waren. Damit repräsentierten die Anarchist*innen-Kommunist*innen in Odessa und ihr Anschlag auf das Café Libman treffend die Spaltung der revolutionären Bewegung, die schließlich zum Scheitern der Revolution führte. Vor Gericht gab der noch jugendliche Attentäter Moisej Mec′ trotzig zu Protokoll, dass das Attentat auf das Café Libman nur ein erster Vorbote einer herannahenden Flut von Terroranschlägen sei. An seine Stelle, erklärte der junge Mann, der wenig später hingerichtet werden sollte, würden andere treten, und diese anderen würden Macht, Luxus und Privilegien, die gesamte politische Ordnung und das kapitalistische System hinwegfegen.203 Moisej Mec′ sollte nur zum Teil recht behalten. Nicht nur die Anarchist*innen oder die anderen Terrorist*innen, sondern alle Revolutionär*innen scheiterten zumindest bis 1917 daran, die alte Ordnung „hinwegzufegen“. Richtig aber war die Aussage, dass an Mec′ Stelle noch viele andere treten sollten. Der Massenterroris-

Ebd. Novomirskij, Anarchičeskoe dviženie v Odesse, in: Borovoj (Hg.), Michailu Bakuninu 1876–1926, 1926, S. 246–278. 202 O rasprostanenie v g. Odessa „Programmy“, [um 1906], CDIAK f. 335, Op. 1, d. 71, l. 142–158. 203 Zitiert nach: Avrich, The Russian anarchists, 1967, S. 68. 200 201

Epilog: Die Infation des Terrorismus ab Dezember 1905

mus, der vor allem durch die Anarchist*innen verbreitet wurde, hatte im Dezember 1905 erst seinen ersten Höhepunkt erreicht. Von dem Attentat auf das Café Libman an, das in seiner Ungeheuerlichkeit sowohl auf Ablehnung als auch auf Zustimmung unter den Radikalen stieß, ging eine Welle von terroristischen Anschlägen und repressiver Gewalt durch das Land. Das Blutvergießen war noch nicht beendet. Epilog: Die Inflation des Terrorismus ab Dezember 1905

Die Gewalt, die das Russische Reich mit der Revolution von 1905 bis 1907 heimsuchte, eskalierte vor allem nach der Verkündigung des Manifestes im Oktober 1905. Zwischen 1905 und 1907 wurden 9.000 Menschen durch terroristische Anschläge verwundet oder getötet.204 Davon waren über die Hälfte Privatpersonen. Auch die Repräsentanten des Staates waren bei weitem nicht alle Generalgouverneure oder Polizeichefs: „Von Oktober [1905] bis April 1906 wurden 288 Polizisten getötet und 383 verwundet. Darüber hinaus kam es zu 156 erfolglosen Anschlägen auf ihr Leben.“205 Der ehemalige Polizeichef von Kiew Spiridovič erinnerte sich an die revolutionären Jahre von 1905 bis 1907: Es gab Tage, an denen mehrere große Terroranschläge mit einer Reihe kleinerer Angriffe und Attentate auf niedere Repräsentanten der Verwaltung Hand in Hand gingen. Dabei sind die Drohbriefe, die fast jeder Polizist bekam, noch nicht einmal mitgezählt. […] Bomben wurden mit jeder beliebigen Begründung oder ganz ohne Begründung geworfen. Bomben wurden in Körben mit wilden Erdbeeren gefunden, in Postpaketen, in Manteltaschen, […] auf den Altären von Kirchen […] Alles, was explodieren konnte, flog in die Luft, vom Spirituosenhandel über Polizeistationen, […] Statuen russischer Generäle […] bis hin zu Kirchen.206

Je weiter die Revolution voranschritt, desto stärker radikalisierten sich die Gruppierungen vor allem an der Peripherie. Die Bewegung schwappte zwar langsam ins Zentrum über, aber die Aktionen der zentralen Gruppierungen blieben im Vergleich zur Gewalteskalation an der Peripherie meist moderat in der Wahl ihrer Mittel.207 Alle wesentlichen Merkmale, welche die Inflationierung des Terrorismus in dieser Phase bedingten, waren in den Attentaten im Dezember 1905 in Odessa bereits präsent. Deshalb verweisen diese Anschläge auf die Dimensionen des Massenterrors von 1905 bis 1907.

204 205 206 207

Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 20. Zit. nach: Abraham Ascher, Authority restored, Stanford, Calif. 1992, S. 150. Spiridovič, Istorija Bol′ševizma v Rossii, 1922, S. 120–121. Avrich, The Russian anarchists, 1967, S. 42–43.

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Die Infation des Terrorismus an der Peripherie

Kontrollverlust der zentralen Akteur*innen des Terrorismus

Die zentralen Akteur*innen des Terrorismus, die Sozialrevolutionär*innen, hatten die Kontrolle über den Terrorismus, der zunächst als ihre Handschrift galt, im Laufe der Gewalteskalation im Herbst 1905 zunehmend verloren. Bereits 1902 war mit Hirš Lekert ein sozialdemokratischer Terrorist mit einer viel beachteten Tat an die Öffentlichkeit getreten. Die Sozialrevolutionär*innen hatten zunächst noch versucht, Hirš Lekert für sich zu vereinnahmen. Doch spätestens im Laufe des Jahres 1905 waren, wie die Anschläge im Dezember 1905 in Odessa zeigen können, so viele neue terroristische Akteur*innen auf die politische Bühne getreten, dass die Sozialrevolutionär*innen ihren exklusiven Zugriff auf diese revolutionäre Taktik endgültig verloren hatten. Die wichtigsten Konkurrent*innen in der Sphäre des Terrorismus waren die Anarchist*innen. Aber auch die zahlreichen lokalen SR-Kampfbruderschaften zeigten, dass das zentrale Exekutivkomitee den sozialrevolutionären Terrorismus nicht mehr steuern konnte. Die PSR boykottierte die ersten Dumawahlen, aber als im April 1906 die Erste Duma zusammentrat, versuchte die Parteiführung ein Terrorismus-Moratorium durchzusetzen, das während der Sitzungsperiode in Kraft bleiben sollte.208 Nach den Angaben des Sozialrevolutionärs M. Ivič wurden jedoch während dieser Phase, vom 24. April bis zum 8. Juli 1906, insgesamt elf Anschläge verübt, zu denen sich sozialrevolutionäre Terrorist*innen bekannten. Verantwortlich für diese Taten waren unterschiedliche ephemere terroristische Gruppen, sogenannte „fliegende Kommandos“ an der Peripherie, in Städten wie Tambov, Kazan′, Ekaterinoslav, Saratov, Berdjansk, Tiflis oder Sevastopol′. Während der Sitzungsperiode der Zweiten Duma führt Ivič 29 Anschläge auf verschiedene Gruppen innerhalb der PSR zurück. Diese 29 terroristischen Gewalttaten wurden von Sozialrevolutionär*innen verübt, obwohl die Partei gleichzeitig von ihrem Boykott abgerückt war und ihre Kandidaten in die Zweite Duma entsandte.209 Diese Zahlen zeigen, dass die Sozialrevolutionär*innen die Kontrolle über den Terrorismus verloren hatten und dass nicht nur Anarchist*innen, sondern auch die Sozialrevolutionär*innen an der Peripherie sich dieser Taktik bemächtigt hatten und sie nach ihrem Willen veränderten. Doch nicht nur andere Revolutionär*innen nutzen den Terrorismus als Aktionsform, sondern auch die Rechten bedienten sich der terroristischen Taktik: Am 18. Juli 1906, kurz nach der Auflösung der Ersten Duma, wurde der KD-Politiker und Mitglied der Duma Michail Gercenštejn im finnischen Terioki ermordet.

208 Ob izmenenijach v taktike partii v period I gosudarstvennoj dumy (postanovlenija I Soveta partii, maj 1906 g.), in: Erofeev (Hg.), Partija socialistov-revoljucionerov, 1996, S. 194. 209 Ivič, Statistika terrorističeskich aktov, soveršennych partiej socialistov-revoljucionerov, 2001, S. 377– 389. Vgl. dazu auch ausführlich: Anke Hilbrenner, Terroristen in die russische Staatsduma? Zum Wechselspiel von Terrorismus und legaler politischer Partizipation, in: Dittmar Dahlmann / Pascal Trees (Hg.), Von Duma zu Duma. Hundert Jahre russischer Parlamentarismus, Göttingen 2009, S. 247–262.

Epilog: Die Infation des Terrorismus ab Dezember 1905

Gercenštejn, der aus Odessa stammte, verbrachte seinen Urlaub in Terioki. Er war eine Symbolfigur für die Konstitutionellen Demokrat*innen in der Duma. Die rechten Extremisten nahmen ihn aber nicht nur als politischen Gegner wahr, sondern betrachteten ihn auch als Juden, obwohl er getauft und mit einer russisch-orthodoxen Christin verheiratet war.210 Die Sojuz Russkogo Naroda (Union des Russischen Volkes), eine der Gruppen, die als Schwarzhunderter bekannt waren, wurde verdächtigt, diesen Mord begangen zu haben, und zwei ihrer Aktivisten wurden später verurteilt.211 Allerdings begnadigte Nikolaus II., selbst Ehrenmitglied der Union, die Attentäter wenig später.212 Die liberale Öffentlichkeit, die bereits über die Auflösung der Ersten Duma durch Pёtr Stolypin empört war, brachte die Regierung in Verbindung mit dem Mord an Gercenštejn. Sogar die konservativen Moskovskie vedomosti (Moskauer Nachrichten) verurteilten diesen terroristischen Anschlag. Die Beerdigung Gercenštejns geriet zu einer politischen Demonstration. Trotz der relativ peripheren Lage des finnischen Terioki nahmen über 10.000 Personen an der Beerdigung teil. Bis weit über das Lager der gemäßigten Liberalen hinaus bildete sich eine emotionale Gemeinschaft, die Gercenštejn und mit ihm die Institution der Duma betrauerte. Der Trauerzug von Terioki wurde zu einem Medienereignis, das die Botschaft der Solidarität mit dem Opfer und der Verurteilung der Täter verbreitete.213 Ökonomischer Terrorismus

Das Libman-Attentat galt als einer der ersten „anti-bourgeoisen“ Terroranschläge im Russischen Reich.214 Es richtete sich, zumindest theoretisch, gegen die kapitalistische Klasse und war damit ein Akt des ökonomischen Terrorismus. Unter ökonomischem Terrorismus verstanden z. B. die Sozialrevolutionär*innen „ein System gewaltsamer Mittel, die unmittelbar gegen die Person oder das Eigentum der Ausbeuter gerichtet sind, aber nicht gegen die Organisation ihrer Herrschaft im Staat.“215 Ausgehend von dem spektakulären Schlag der Odessaer Anarchist*innen-Kommunist*innen gegen die vermeintlichen Kapitalist*innen in einem „zweitklassigen“216 Café wurden zahlreiche Anschläge gegen jene verübt, die von den jeweiligen Attentäter*innen als „bourgeois“ bezeichnet wurden. Dabei ließ sich bereits in Odessa im Dezember 1905 beobachten, dass die Ziele der anti-kapitalistischen Anschläge schwerlich jene steinreichen Ascher, Authority restored, 1992, S. 238. Delo ob′ ubijstve M. Ja. Gercenštejna, in: Odesskij listok, 24. Januar 1907. Ascher, Authority restored, 1992, S. 240. Ebd., S. 239. Kriven′kij/Volobuev (Hg.), Anarchisty, 1998–1999, S. 630. Zitiert nach: Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 127. Novomirskij, Anarchičeskoe dviženie v Odesse, in: Borovoj (Hg.), Michailu Bakuninu 1876–1926, 1926, S. 246–278. 210 211 212 213 214 215 216

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Geschäftsleute waren, die wirklich ein Vermögen auf dem Rücken der Arbeiter*innen machten. Im Gegenteil lässt sich die Beobachtung anstellen, dass die beiden im Dezember 1905 zu Zielscheiben des anarchistischen Terrors erkorenen Geschäftsleute Zusman und Libman selbst zum kleinbürgerlichen jüdischen Milieu der Stadt Odessa gehörten. Zusmans Porzellangeschäft zählte aufgrund seiner Lage im unteren Aleksandrovskij Bezirk sicher nicht zu den luxuriösen Einkaufsadressen der gehobenen Odessaer Bürger*innen und Adligen. Und das Café Libman, das zwar in der wohlhabenden Innenstadt gelegen war, scheint doch eher Intelligencija, Studierende und Angestellte bewirtet zu haben. Es ist bemerkenswert, dass die jüdische Mittelschicht, zu der Zusman und Libman gehörten, inmitten der Gewalteskalation von 1905 einerseits zum Objekt rechter Gewalt (durch die Pogrome und bis in den Winter fortdauernde Aktionen der Chuligany) wurden. Andererseits richteten auch die meist jüdischen Anarchist*innen als Protagonist*innen der linken Gewalt ihre Bomben auf diese Geschäftsleute, die damit, von der Polizei nur unzureichend geschützt, zwischen alle Fronten gerieten. Die Anarchist*innen verbanden ihre Anschläge häufig mit dem Ziel, Geld zu erbeuten. Diese Strategie sollte einerseits die Kapitalist*innen schädigen, auf der anderen Seite konnte es entweder für Bedürftige oder für Parteizwecke eingesetzt werden. Anna Geifman hat aber auch darauf hingewiesen, dass die Gelder, die auf diesem Wege eingenommen wurden, häufig in die Taschen der Aktivist*innen selbst flossen.217 Zu diesen ökonomischen terroristischen Aktionen zählten auch die so bezeichneten Expropriationen, die bald an der Tagesordnung sein sollten. Beispiele für die Inflationierung des Kampfmittels der Expropriation, mit der wahllos fast jede Form von Eigentumsdelikt bezeichnet werden konnte, finden sich zahlreich in den Zeitungen. Eine weitere Episode aus Odessa, dem Ort der Inflation terroristischer Gewalt, kann zeigen, welche Gruppe von Menschen Opfer linker oder vermeintlich linker Gewalt wurden: Am 3. Juni 1906 wurden drei junge Männer von einem Agenten der Polizei dabei beobachtet, wie sie sich der Wohnung des Kaufmanns Kozlenko näherten, der bei der Polizei eine Erpressung gemeldet hatte. Die Polizei stellte die jungen Männer, als sie an der Türe klingelten, daraufhin flohen diese. Am Tatort hinterließen sie ein Schriftstück mit einem Erpresserbrief im Namen der Anarchist*innen-Kommunist*innen, in dem sie 30 Rubel forderten. Nachdem die Polizei zwei der jugendlichen Täter gefasst hatte, gaben diese zu Protokoll, dass sie mit Politik nichts zu tun hätten, dass sie aber Geld gebraucht hätten und sich an Kozlenko gewandt hätten, weil bekannt sei, dass dieser bereits für Bedürftige und Arbeitslose 100 Rubel gespendet hatte. Deshalb würde er, so hofften die jungen Männer, auch ihnen 30 Rubel geben, wenn sie behaup-

217

Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 158–159.

Epilog: Die Infation des Terrorismus ab Dezember 1905

teten, sie seien Anarchist*innen-Kommunist*innen.218 Wie glaubwürdig die Aussage der jungen Leute war, ist anhand der Quellen nicht zu entscheiden. Wie es scheint, hat die Odessaer Polizei ihnen geglaubt. Dennoch ist die Quelle aufschlussreich. Sie spricht dafür, dass die Taten der Anarchist*innen-Kommunist*innen Nachahmer*innen weit über die Gruppe der politischen Radikalen hinaus fanden. Zudem zeigt sie aber auch, dass zumindest in diesem Fall jemand um Geld angegangen wurde, dem man eine gewisse Sympathie für die revolutionäre Bewegung, zumindest aber Empathie mit den potenziellen Revolutionär*innen unterstellen konnte. Möglicherweise, das lässt sich im Nachhinein nicht mehr klären, sind so auch Zusman und Libman zu Opfern der Anarchist*innen-Kommunist*innen geworden. Die materielle Dimension, die dem ökonomischen Terrorismus innewohnte und die bereits die Attentate auf Zusman und Libman in Odessa im Dezember 1905 auszeichnete, bedingte zugleich die Übergänge des politischen Terrorismus zur kriminellen Gewalt. Diese Übergänge waren fließend. Aktionismus

Die terroristische Gruppe, die im Jahr 1906 für die spektakulärsten Aktionen verantwortlich waren, war eine Abspaltung der PSR: die Maximalist*innen. In der PSR betrachteten viele den Maximalismus als wenig originelle Abart des Anarchismus, während die Maximalist*innen selbst versuchten, sich von den Anarchist*innen abzugrenzen.219 Die PSR befürwortete ausschließlich politischen Terrorismus, also Gewaltaktionen, die sich gegen die bestehende politische Ordnung wandten. Die Abspaltung der Maximalist*innen ergab sich daraus, dass zahlreiche Sozialrevolutionär*innen, vor allem an der Peripherie, neben dem politischen auch den so bezeichneten ökonomischen Terrorismus befürworteten. Diese Art von Terrorismus zeigte sich zunächst vor allem auf dem Land als „Agrarterror“. Gewaltsame Aktionen der Bäuer*innen gegen die Gutsbesitzenden, Enteignung von Getreide und Produktionsmitteln ebenso wie Brandschatzung und Plünderung der Güter wurden zwar nicht generell von den Sozialrevolutionär*innen abgelehnt, dennoch wollten sie sich nicht an die Spitze der Bewegung stellen. Unter Fabrikterror verstanden die Sozialrevolutionär*innen analog alle gewaltsamen Aktionen, vor allem Sabotage, die sich gegen die Fabriken und ihre

218 Anarchisty-Kommunisty, 3. Juni 1906, CDIAK f. 419, op.1, d. 5047; auch Geifman berichtet von Fällen, in denen Kriminelle sich als SR ausgaben und die Insignien der SR für ihre Erpresserbriefe nutzten. Vgl.: Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 157. 219 Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 137. Vgl. auch: Gol′dman, Anarchisty, maksimalisty i machaevcy, 1918; Maksimalisty, Moskva 1997.

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Arbeitgeber richteten.220 Die Argumentation für den ökonomischen Terror rückte die Maximalist*innen tatsächlich in die Nähe der Anarchist*innen-Kommunist*innen, wie sie z. B. in Odessa tätig waren. Die vielleicht wichtigste Gemeinsamkeit der beiden Gruppen, die für die terroristische Bewegung eine immense Bedeutung gewann, war der Aktionismus, der die jugendlichen Aktivist*innen zahlreicher revolutionärer Bewegungen faszinierte und sie dem Terrorismus zuführte. Dieser Aktionismus bewegte auch die Attentäter*innen des Libman-Attentats. Vielen Anarchist*innen und Maximalist*innen ging es nicht um irgendwelche Ideologien, es ging ihnen um die revolutionäre Tat als solche. So erinnerte sich auch die Maximalistin Klara Klebanova an eine Mitstreiterin: For her the struggle was important in itself, quite apart from the ends it was to achieve. In revolution she saw the highest beauty, a source of vibrant experience, almost a form of art.221

Diese Betonung des revolutionären Kampfes selbst erinnert an die Charakterisierung Dora Brilliants durch Savinkov: „Der Terror verkörperte für sie die Revolution.“222 Terroristische Anschläge mussten nicht mehr mit ideologischen Motiven gerechtfertigt werden. Sie waren zum Selbstzweck geworden. Auch wenn die Ideologen der Sozialrevolutionär*innen den Aktionismus der Maximalist*innen ablehnten und als Häresie geißelten, in der zentralen Kampforganisation der Partei unter Savinkov war genau derselbe Geist treibende Kraft der Held*innen des heroischen Terrorismus gewesen.223 Durch die revolutionäre Tat selbst, so wollte es die maximalistische Überzeugung, sei die Revolution jederzeit möglich. Deshalb kam es zu einem Kult der revolutionären Tat, unter der vor allem Terroranschläge verstanden wurden. Ein politischer Sinn bzw. eine Legitimation im Rahmen einer Ideologie, wie sie von Sozialrevolutionär*innen für ihre Kampforganisation noch z. T. sehr bemüht mitgeliefert worden war, war damit für die Maximalist*innen unnötig geworden. Deshalb brauchten sowohl Maximalist*innen als auch Anarchist*innen keine Bekennerschreiben mehr, wie auch aus den Erinnerungen von Spiridovič deutlich wird: „Bomben wurden mit jeder beliebigen Begründung oder ganz ohne Begründung geworfen.“224 Aus dieser aktionistischen Grundhaltung heraus wurden die terroristischen Aktionen immer spektakulärer. Die Anschläge auf die Cafés Bristol oder Libman hatten Ende 1905 das ganze Land in Aufruhr versetzt. Im Jahr 1906 machten die Maximalist*innen

220 Vgl. zur Erläuterung: Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S.  126–127. Und Dmitrij Borisovič Pavlov / Oleg Vladimirovič Volobuev (Hg.), Sojuz ėserov-maksimalistov. Dokumenty, publicistika: 1906–1924 gg, Moskva 2002, S. 5. 221 Paul Avrich / Klara Klebanova, The last maximalist. An interview with Klara Klebanova, in: Russian Review 32 (1973), H. 4, S. 413–420, hier S. 418. 222 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 47. 223 Deshalb kam es auch zu einer inhaltlichen Übereinkunft im Namen des Terrorismus und gegenseitiger Sympathie zwischen Savinkov und dem Anführer der Maximalisten, Sokolov. Vgl. Ebd., S. 251–254. 224 Spiridovič, Istorija Bol′ševizma v Rossii, 1922, S. 120–121.

Epilog: Die Infation des Terrorismus ab Dezember 1905

mit drei aufsehenerregenden Aktionen von sich reden. Zwei dieser Aktionen waren Expropriationen. Im März 1906 raubten die Maximalist*innen die „Moskauer Gesellschaft für gegenseitigen Kredit“ aus und erbeuteten die riesige Summe von 876.000 Rubeln.225 Die Maximalistin Klara Klebanova erinnerte sich, dass die Maximalist*innen für diese Aktion mit den Moskauer Bol′ševiki zusammengearbeitet hatten.226 Die Nähe zu den Bol′ševiki in Moskau mochte auf den gemeinsamen Kampf während des Moskauer Aufstandes zurückzuführen sein. In Presnja hatte im Dezember 1905 der Anführer der Maximalist*innen Sokolov an der Spitze der Bewegung gestanden.227 Generell beteiligten sich Bol′ševiki, deren Ideolog*innen Terrorismus an sich ablehnten, an einer Vielzahl von Expropriationen.228 Die Gelder aus der Expropriation konnten für Parteizwecke aufgewendet werden, zumindest die Moskauer Maximalist*innen aber lebten von der Beute dermaßen in Saus und Braus, dass die ungeheure Summe durch einen luxuriösen Lebensstil bereits nach sechs Monaten aufgebraucht war. Diese Art der Verwendung der Beute von Expropriationen war nicht unüblich.229 Trotzdem oder möglicherweise deswegen machte diese Aktion Expropriationen endgültig salonfähig, weit über die Kreise der Maximalist*innen hinaus, und begeisterte jugendliche Revolutionär*innen vor allem an den Rändern des Reiches. Die größte Anhängerschaft hatten die Maximalist*innen an der westlichen Peripherie. In Białystok war die erste und größte lokale Organisation der Partei beheimatet.230 Interessanterweise war Białystok auch wichtig für die anarchistische Bewegung.231 Die zweite große Expropriation war genauso spektakulär, dafür verlief sie für die Maximalist*innen etwas weniger glücklich. Am 14. Oktober überfiel eine Gruppe von führenden Maximalist*innen in St. Petersburg am helllichten Tag einen bewachten Transport von Hafenzöllen in der Fonarnyj pereulok. Ein Maximalist warf eine Bombe, während die anderen das Feuer auf die Wachen eröffneten. Die Maximalist*innen erbeuteten 400.000 Rubel.232 Allerdings wurden bei der Aktion acht der an der Expropriation beteiligten Maximalist*innen entweder verhaftet oder getötet.233 Dieser Blut-

225 Pavlov/Volobuev (Hg.), Sojuz ėserov-maksimalistov, 2002, S. 6. Klara Klebanova erinnerte sich sogar an eine Millionen Rubel: Avrich/Klebanova, The last maximalist, 1973, S. 419. 226 Ebd. 227 Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 251–252. 228 Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 158–159. 229 Ebd., S. 158. 230 Avrich/Klebanova, The last maximalist, 1973, S. 415; Hildermeier, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands, 1978, S. 138. 231 Vgl. z. B. A.S., Černoznamency i beznačal′cy, in: Borovoj (Hg.), Michailu Bakuninu 1876–1926, 1926, S. 279–297. 232 So erinnerte sich auf jeden Fall Klebanova: Avrich/Klebanova, The last maximalist, 1973, S. 419. Andere Berichte sprechen von 400.000 Rubeln: Pavlov/Volobuev (Hg.), Sojuz ėserov-maksimalistov, 2002, S. 6. 233 Avrich/Klebanova, The last maximalist, 1973, S. 419. Savinkov erinnerte sich an „eine blutige Enteignung in der Fonarnyj-Gasse“: Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 253.

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zoll leitete das Ende der maximalistischen Bewegung ein, die Ende 1906 nach weiteren Verhaftungen nahezu komplett von der Bildfläche verschwand. Der spektakulärste Terroranschlag mit der größten kommunikativen Ausstrahlung, den die Maximalist*innen verübten, war ein Akt des politischen Terrors. Er richtete sich gegen den Premierminister Pёtr Stolypin, der im Juli 1906 die erste gewählte Staatsduma aufgelöst und damit den Zorn weiter Teile der Gesellschaft auf sich gezogen hatte.234 Am Samstag, den 12. August 1906 befand sich Stolypin mit seiner Familie auf seiner Datscha auf der St. Petersburger Apothekerinsel. Wie gewöhnlich empfing er an Samstagen in seinen privaten Gemächern Bittsteller*innen zur privaten Audienz. Wie schon Vera Zasulič 1878, so nahmen auch die Maximalist*innen im Jahr 1906 diese Audienz als Moment wahr, in dem die Obrigkeit Menschen von der Straße Zutritt in ihre Räumlichkeiten gewährte, um einen Terroranschlag in diese Gemächer hineinzutragen. Den drei maximalistischen Attentätern gelang allerdings, anders als Vera Zasulič, der Eintritt in das Gebäude nicht. Zwei von ihnen waren als Armeeangehörige verkleidet, alle drei trugen Aktentaschen, in denen Bomben versteckt waren. Ihre Nervosität weckte das Misstrauen der Wachen, die verlangten, den Inhalt der Taschen zu untersuchen. Die Attentäter riefen eine revolutionäre Parole, warfen die Taschen an Ort und Stelle zu Boden und verursachten damit eine gewaltige Explosion. Dabei wurden 27 Personen sofort getötet, darunter die drei Attentäter selbst, der General Samjatin und andere hohe Würdenträger. Weitere 70 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Stolypin selbst blieb, abgesehen von einem Kratzer an der Wange, unverletzt, aber zwei seiner Kinder erlitten schwere Verwundungen. Stolypin berichtete: „Als ich meine Tochter unter den Trümmern hervorholte, hingen ihre Beine hinunter wie leblose Strümpfe. Mein Sohn hat sich das Knie gebrochen, außerdem hat er eine Kopfverletzung erlitten.“235 Der dreijährige Sohn erholte sich zum Glück recht schnell. Die Verletzungen der Tochter Stolypins erwiesen sich als ernster. Zunächst glaubten die Ärzte, die Beine des Mädchens müssten amputiert werden. Schließlich erwies sich diese Maßnahme als nicht notwendig, allerdings dauerte es ein Jahr, bis sie wieder laufen konnte.236 Doch nicht alle Anwesenden kamen mit einer Verletzung davon. Die Augenzeugen zeichneten ein Bild von Schrecken und Agonie. So erinnerte sich z. B. der Chef der politischen Polizei in St. Petersburg Aleksandr Gerasimov der kurz nach dem Anschlag den Tatort erreichte:

234 Vgl. für die Liberalen z. B. Simon Dubnow, Buch des Lebens, 2004–2006, Bd. II, S. 63., zum Attentat ausführlich: Susan K. Morrissey, The „Apparel of Innocence“: Toward a moral economy of terrorism in late imperial Russia, in: The Journal of Modern History 84 (2012), H. 3, S. 607–642. 235 Zitiert nach: Ascher, P. A. Stolypin, 2001, S. 139. 236 Ascher, P. A. Stolypin, 2001; Marija Petrovna Bok, Vospominanija o moem otce P. A. Stolypine, N′juJork 1953, S. 180.

Epilog: Die Infation des Terrorismus ab Dezember 1905

Überall hörte man das Stöhnen der Verwundeten, überall sah man Fetzen von Menschenfleisch und Blut. Insgesamt wurden durch die Explosion gegen 100 Menschen betroffen, unter denen sich, laut offiziellen Angaben, 27 Tote befanden; die übrigen waren verletzt und zum größten Teile schwer. Offiziere und Soldaten holten Menschen und Pferde unter den Trümmerhaufen hervor.237

Die Memoiren der ältesten Tochter Stolypins, Marija Petrovna Bok, gehören zu den wenigen Zeugnissen, die wir aus der Perspektive der Opfer von Terroranschlägen haben. Zwar blieb Marija unverletzt, sie war aber während der Explosion ebenso am Tatort wie ihre Geschwister und hätte ebenso leicht getroffen werden können. Sie zeichnet ein Bild von unvorstellbarem Leid: „Wir versuchten, das Stöhnen nicht zu hören und keinen Blick auf die Verwundeten mit ihren unnatürlich gespreizten Leibern und auf die Toten zu werfen.“238 Für die Terrorist*innen, in diesem Falle die Maximalist*innen, erfüllte sich mit dem Terroranschlag ihr revolutionäres Streben. Sie waren bereit, für diesen Moment der Macht und Entgrenzung mit dem Leben zu bezahlen. Wenn sie nicht sterben mussten, erfüllte sie die Durchführung eines Anschlages mit Genugtuung, Erregung und Freude, wie wir es auch von dem Anarchisten Stanislav Šašek, der den Erfolg des Attentates strahlend verkündete, erfahren haben.239 Das Leid der Opfer spielte für die Terrorist*innen im Moment der Tat, die ihre Ohnmacht in Macht verwandelte, keine Rolle. So berichtete die Maximalistin Klara Klebanova über die Terrorist*innen, die für die Expropriationen und das Attentat auf Stolypins Datscha verantwortlich waren: They were the greatest idealists, revolutionists of the highest moral caliber. They sacrificed all the comforts of life to serve the cause of freedom, and many chose the path to martyrdom. Yet so much was packed into those few years in Russia – so much of life’s excitement, of high ideals and hopes. They were wonderful years, you know. Without them, without those few years, my life would have no real meaning.240

Für die Terrorist*innen waren ihre Taten an sich sinnvoll. Der Beifall der emotionalen Gemeinschaft, die sich über ein gelungenes Attentat freute, machte sie zu Held*innen und gab ihrem Opfer einen Sinn.241 Das Attentat auf Stolypins Datscha wurde in der Bevölkerung, je nach Zugehörigkeit zu verschiedenen emotionalen Gemeinschaften, unterschiedlich wahrgenommen. Während die Radikalen auch außerhalb der maximalistischen Fraktion, Initiative und Entschlossenheit der Terrorist*innen

Gerassimoff, Der Kampf gegen die erste russische Revolution, 1934, S. 132. Bok, Vospominanija o moem otce P. A. Stolypine, 1953, S. 180–182. CDIAK, f. 419, op. 1, d. 5051. Avrich/Klebanova, The last maximalist, 1973, S. 420. Morrissey, The „Apparel of Innocence“: Toward a moral economy of terrorism in late imperial Russia, 2012, S. 632. 237 238 239 240 241

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rühmten,242 gingen bei Stolypin viele Hunderte Briefe und Telegramme ein, in denen er zu seinem Überleben beglückwünscht wurde und die ihn der Unterstützung versicherten. Sie sind das Zeugnis einer emotionalen Gemeinschaft, die sich um die Opfer des Anschlags scharrte. Auch der Zar sandte Stolypin ein persönliches Schreiben, in dem er seine Verschonung als Wunder bezeichnete und ihn seiner Wertschätzung versicherte. Wie es vor ihm bei Viktor von Wahl und Ivan Obolenskij der Fall gewesen war, profitierte auch Stolypins Karriere davon, dass er einen Terroranschlag überlebt hatte. Er wurde zwar nicht befördert, was in seiner Position auch schwer möglich war, dennoch hob der Vorfall sein Prestige sowohl beim Herrscher als auch bei den politischen Kreisen in St. Petersburg. Auch rechte Kreise signalisierten Stolypin ihre Unterstützung und schickten ihm Briefe, in denen es von antisemitischen Anschuldigungen wimmelte.243 Die Moskovskie vedomosti forderten von Stolypin eine harte Hand gegen die „blutige Koalition aus Anarchisten und Banditen“: „Entweder Diktatur oder Ruin!“244 Doch viele Liberale schenkten der spektakulären Aktion schon kein besonderes Interesse mehr. Lakonisch kommentierte der jüdische Historiker Simon Dubnow: „Die August-Explosion in Stolypins Landhaus war eine Antwort auf die Juli-‚Explosion‘ der Duma, die dieser verhängnisvolle Minister veranlasst hatte.“245 Inmitten der Gewalt, die Mitte des Jahres 1906 voll entfesselt war, konnte selbst ein so zentraler Akt des Terrorismus wie der Anschlag auf den Premierminister Stolypin die Liberalen nicht mehr hinter sich in einer gemeinsamen emotionalen Gemeinschaft versammeln. Die Inflation des Terrorismus begann, ihn seiner Aussagekraft zu berauben. Repression

Die Inflationierung des Terrorismus gipfelte in einem Gewaltexzess, der im Sommer 1906 mit dem Anschlag auf Stolypins Datscha seinen Höhepunkt erreichte. Doch dieser Anschlag war gleichzeitig der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Fünf Tage nach dem Anschlag, am 17. August 1906, erließ das Kabinett ein Gesetz über die Einberufung von Standgerichten. Das Gesetz wurde nur zwei Tage später vom Zaren bestätigt und konnte in Kraft treten. Es hatte seine Gültigkeit in allen Regionen des Reiches, die unter Sondergesetzen verwaltet wurden, und bezog sich damit fast auf das gesamte Imperium.246 Das Gesetz besagte, dass immer dann, wenn die Schuld einer Zivilperson „so eindeutig“ sei, dass keine Untersuchung notwendig werde, der Fall

242 243 244 245 246

Vgl. z. B. Savinkov, Erinnerungen eines Terroristen, 1985, S. 253. Ascher, P. A. Stolypin, 2001, S. 140–141. Zitiert nach: Ebd., S. 141. Dubnow, Buch des Lebens, 2004–2006, Bd. II, S. 63. Daly, On the significance of emergency legislation in late imperial Russia, 1995, S. 602–629.

Epilog: Die Infation des Terrorismus ab Dezember 1905

einem militärischen Standgericht zu übergeben sei. Der jeweilige Generalgouverneur bestellte je fünf Offiziere und den Chef der örtlichen Verwaltung für das Standgericht. Der oder die Angeklagte sollte binnen 24 Stunden dem Gericht vorgestellt werden, die Verhandlung nicht länger als 48 Stunden dauern und das Urteil innerhalb von einem weiteren Tag vollstreckt werden. Die Verhandlungen waren nicht öffentlich.247 In den folgenden acht Monaten (bis zum 20. April 1907) wurden etwa 1.000 Verdächtige standrechtlich zum Tode verurteilt und hingerichtet – einige von ihnen unschuldig.248 Die Standgerichte wurden von der Öffentlichkeit als grobe Verletzung der Rechtsstaatlichkeit wahrgenommen. Sie blieben im Mittelpunkt öffentlicher und parlamentarischer Debatten während der ganzen Zeit ihrer Existenz und kosteten die Regierung den letzten Rest an Glaubwürdigkeit. Der „Kampf um moralische Überlegenheit“ konnte so nicht gewonnen werden.249 Die Standgerichte wurden nicht nur von den Radikalen, sondern von weiten Teilen der Gesellschaft, weit über das liberale Spektrum hinaus als „Staatsterrorismus” wahrgenommen.250 So bezeichnete der Vorsitzende des Zentralkomitees der Oktobristen Dmitrij Šipov die Standgerichte als „Terrorinstrument in den Händen der Obrigkeit“.251 Die Frage, ob diese Repression den Terrorismus schließlich beendet hat, bleibt in der Forschung umstritten.252 Die Einführung der Standgerichte sorgte zumindest zunächst für eine weitere Eskalation der Gewalt, die der Logik des diskursiven Entstehungskontextes des Terrorismus, nach der Gewalt und Gegengewalt einander bedingen und verstärken, folgte. Auch als die Standgerichte im Herbst 1907 ausgesetzt wurden, war die Welle terroristischer Anschläge noch nicht abgeebbt. Während der Zeit der Standgerichte (von August 1906 bis April 1907) waren z. B. die Sozialrevolutionär*innen für über 60 Anschläge im gesamten Russischen Reich verantwortlich. Für den Rest des Jahres 1907 zählt Ivič weitere 42 Anschläge. Erst ab 1908 ebbte die Welle mit drei Anschlägen ab.253 Auch wenn die harte Repression, mit der die Obrigkeit ab dem Sommer 1906 auf die terroristische Gewalteskalation reagierte, einen hohen Blutzoll unter den Radikalen forderte, ist ein Zusammenhang zwischen den Standgerichten und dem Abebben des Massenterrorismus nicht zweifelsfrei zu erkennen. Es scheint vielmehr so, als ob es Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj Imperii, Sanktpeterburg 1885, 3. Serie, Bd. 26, Teil 1, S. 814. Vgl. zu den unterschiedlichen Schätzungen von etwa 600 bis weit über 1.000 die Diskussion bei: Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 346. 249 Engelstein, Weapon of the weak (Apologies to James Scott), 2003, S. 685. 250 Vgl. zu den Debatten über die Standgerichte: Ascher, Authority restored, 1992, S. 245–249; Pipes, Die Russische Revolution, 1992–1993, Bd. 1, S. 298–300. 251 D.N Šipov, Vospominanija i dumy o perežitom, Moskva 2007, S. 493. 252 So hält z. B. Geifman die Standgerichte zumindest z. T. für wirkungsvoll, während Ascher ihre Wirkung bezweifelt: Ascher, The revolution of 1905, 2004, S. 145–146; Geifman, Thou shalt kill, 1993, S. 231. 253 Ivič, Statistika terrorističeskich aktov, soveršennych partiej socialistov-revoljucionerov, 2001, S. 377– 389. Für die Anarchisten liegen keine so detaillierten Zahlen vor, aber die Zeitungen und die Berichterstattung über Terroranschläge in den Chroniken lassen eine ähnliche Tendenz erkennen. 247 248

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Die Infation des Terrorismus an der Peripherie

die Inflation des Terrorismus gewesen ist, die schließlich dazu führte, dass der einzelne Terroranschlag in einer Gemengelage von Gewalt unterging. Wenn der Terrorismus ein kommunikativer Akt ist, der zuallererst eine Botschaft aussenden will, dann ist es von nicht geringer Bedeutung, wenn die einzelne Gewaltaktion aufgrund des Gewaltkontextes keine oder nur noch eine geringe Rezeption erfährt. Je mehr Gewalt, desto geringer die kommunikative Ausstrahlung – diese Logik sorgte schließlich dafür, dass der Enthusiasmus für den Terrorismus bei der Mehrzahl der Akteur*innen nachließ.

Zum Schluss

Der Terrorismus, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Welt immer wieder erschüttert hat, war keine „russische Methode“, und das Russische Reich war auch nicht die „Wiege des modernen Terrorismus“. Bereits die Akteur*innen der Französischen Revolution hatten Politik in einen Kampf zwischen Gut und Böse verwandelt. Seit diesen blutigen Tagen galt in der revolutionären Politik: Wenn die politischen Gegner*innen schlecht und moralisch verkommen waren, dann konnten, nein, dann mussten sie bestraft und notfalls getötet werden. Diese Leidenschaften hat bereits William Reddy als Motivation der Schreckensherrschaft von 1793/94 während der Französischen Revolution beschrieben.1 Die russländischen Terrorist*innen beriefen sich auf die Tradition der französischen „terreur“ und stilisierten ihren Kampf zu einem moralisierenden Narrativ, in dem tapfere revolutionäre Held*innen selbstlos gegen die bösen und moralisch verkommenen Repräsentanten des zarischen Regimes kämpften. Die Terrorist*innen waren dabei moralisch integer, voller Opfermut, Liebe und Poesie, wie allen voran der „Poet“ Ivan Kaljaev. Die Schergen der Obrigkeit waren demgegenüber verantwortlich für geprügelte Bauern, erschossene Arbeiter*innen, vergewaltigte Frauen und getötete Kinder. Sie hatten in jedem Falle Blut an ihren Händen. Die Historiographie ist diesem Narrativ nur allzu bereitwillig gefolgt und hat dabei alle terroristischen Ereignisse, die nicht in dieses Narrativ passten, ausgeblendet. Bei einer großen Zahl der Ereignisse, die den Massenterror von 1905 bis 1907 ausmachten, wurde angezweifelt, ob es sich dabei überhaupt um Terrorismus handelte, nämlich all jene, bei denen kein vermeintlich hehres Ziel hinter den Taten zu vermuten war. Viele Ereignisse der zweiten Phase des russländischen Terrorismus wurden dementsprechend bis in die 1990er Jahre gar nicht erst untersucht. Die Existenz einer revolutionären Bewegung ist ein Beleg für eine moderne Gesellschaft. Dabei ist der Begriff modern weder normativ noch allzu optimistisch aufge-

1

Reddy, The navigation of feeling, 2001.

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Zum Schluss

laden. Die Moderne zeichnet sich vor allem durch das Bewusstsein der historischen Subjekte aus, zu einer imaginierten Gemeinschaft zu gehören und trotz ihrer physischen Verteilung auf einen größeren Raum in einer wechselseitigen Beziehung zueinander zu stehen, eine gemeinsame Vergangenheit zu haben und auf eine gemeinsame Zukunft zu hoffen bzw. an dieser zu arbeiten. Moderne Medien verbinden die Mitglieder dieser Gemeinschaft und unterrichten einander über die Dinge, die für diese Gemeinschaft von allgemeinem Interesse sind, also darüber, was für alle relevant war, ist und sein wird. Dadurch erst, so hat schon Reinhart Koselleck argumentiert, entsteht Geschichte und ein Verhältnis des Individuums zur Geschichte. Die Tat des Einzelnen, wie zum Beispiel ein terroristischer Anschlag, wird wirkungsmächtig für Geschichte.2 Es liegt also im Wesen der modernen Zeit, dass neue politische Akteur*innen die Regeln, nach denen ihre Gemeinschaft sich organisiert, zu beeinflussen und mithin die Geschichte zu verändern suchten. Dazu besetzten sie neue politische Räume und bedienten sich dort neuer Formen politischer Aushandlungsprozesse. Ein wichtiger neuer Ort, um politisch aktiv zu werden, war die Straße. Hier durchmischten sich alle gesellschaftlichen Sphären, und an diesem konkreten Ort konnten Akteur*innen die politische Bühne betreten, denen der Zugang zur Politik bis dahin verwehrt war. Eine Form der politischen Praxis, die den neuen Akteur*innen und dem neuen Ort entsprach, war z. B. die Demonstration. Eine weitere politische Aktionsform auf der Straße war der Terroranschlag. Die Untersuchung der Inkubationsphase des russländischen Terrorismus zeigt, wie sehr Demonstrationen und Terroranschläge in der politischen Praxis der revolutionären Bewegung miteinander verwoben waren. Terrorismus als Tat von Einzelnen, die wirkungsmächtig für die Gesellschaft im Wandel der Zeiten ist, kann also als ein Phänomen moderner Gesellschaften verstanden werden. Die terroristische Tat kann nur dann den Gang der Geschichte verändern, wenn sie auf diese Gemeinschaft ausstrahlt. Medien machen diese Ausstrahlung möglich. Die Straße ist Ort politischen Handelns und zugleich Medium, das Informationen transportiert und multipliziert. Aber auch andere Medien, wie zum Beispiel Zeitungen, sind nicht nur Quellen einer Kommunikationsgeschichte des Terrorismus, sondern auch wichtige Vorbedingung terroristischer kommunikativer Praxis. Die russländischen Zeitungen prägten das Bild, das ihre Leser*innen sich vom Russischen Reich und der Welt machten, mit Hilfe einer strengen Gliederung der Inhalte. Am Anfang des redaktionellen Teils berichteten sie zunächst aus St. Petersburg und aus Moskau. Im Anschluss daran folgten Berichte aus den Regionen des Reiches und aus dem Ausland. So war allein der Aufbau der offiziellen Zeitungen in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert vom Spannungsfeld zwischen Zentrum und Peripherie im Russischen Reich geprägt. Dieses Spannungsfeld war nicht nur ein

2

Koselleck, Vergangene Zukunft, 1979, S. 38–66.

Zum Schluss

zentrales Thema der russländischen Gesellschaft, sondern trug auch zur Entstehung und Radikalisierung terroristischer Gewalt bei. Gewalt blieb nicht auf den Terrorismus beschränkt, sondern war ein Mittel obrigkeitlicher Regulierungsversuche und spätestens zur Zeit der Revolution von 1905 allgegenwärtig. Je mehr politisches Handeln von Gewalt geprägt war, desto mehr neigten die Zeitgenoss*innen und Historiker*innen dazu, gewaltsames Handeln generell politisch zu deuten. Ein Beispiel dafür waren die Pogrome, die vor allem 1881 und 1882 den Südwesten des Reiches erschütterten. Diese Gewalt der Bäuer*innen und der städtischen Unterschichten, die sich in Misshandlungen der jüdischen Bevölkerung und der Plünderung ihres Besitzes äußerte, wurde von den Terrorist*innen der Narodnaja volja als Erhebung des Volkes gegen seine Unterdrücker wahrgenommen und damit als erhoffte Reaktion auf das Attentat auf den Zaren Alexander II. im März 1881 gedeutet. Dieselben Pogrome interpretierten Teile der Obrigkeit als Erhebung der zarentreuen Untertan*innen gegen die vermeintlichen Zarenmörder*innen.3 Bei genauer Betrachtung der Inkubationsphase des russländischen Terrorismus lässt sich die Entstehung der Gewalt als diskursiver Prozess begreifen. Terroristische Gewalt entstand durch die Interaktion von revolutionärer Bewegung und Obrigkeit. Konkrete Gewaltanwendung durch die Obrigkeit war im 19. Jahrhundert nichts völlig Neues, aber verschiedene Reformen hatten Körperstrafen zunehmend aus dem russländischen Rechtssystem verbannt. So wurde z. B. die Prügelstrafe 1863 im Zuge der Großen Reformen Alexanders II. aufgehoben. Sie konnte ab diesem Zeitpunkt nur noch gegen Gefangene und zur Zwangsarbeit Verurteilte angewendet werden, aber auch das kam selten vor. Die Todesstrafe wurde bereits ab 1845 fast ausschließlich von Militärgerichten für Staatsverbrechen verhängt. Jonathan Daly bezeichnete die Abschaffung der Körperstrafen im Russischen Reich als Teil eines gesamteuropäischen Prozesses, der darauf ausgerichtet war, Strafverfolgung angemessener, humaner und damit auch effizienter zu machen.4 Die Obrigkeit schränkte um die Mitte des 19. Jahrhunderts also die eigenen Möglichkeiten zur konkreten Anwendung von Gewalt ein. Vor diesem Hintergrund der Einhegung und Zurückdrängung von konkreter Gewalt aus der Herrschaftspraxis im russischen Vielvölkerreich hatten einzelne Gewaltaktionen durch die Obrigkeit eine viel größere – und z. T. verheerende – kommunikative Ausstrahlung. Ein Beispiel für diese Wirkung ist die Prügelstrafe, die der Generalgouverneur Fedor Trepov gegen den politischen Gefangenen Archip Bogoljubov verhängte. Diese Maßnahme gegen einen Strafgefangenen war nicht ungesetzlich, erregte aber als „unmäßige“ Bestrafung die Gemüter weiter Teile der Öffentlichkeit, die sich

3 4

Zur Vielschichtigkeit der Motive vgl. Klier, Russians, Jews, and the pogroms of 1881–1882, 2011. Daly, Criminal punishment and Europeanization in late imperial Russia, 2000, S. 341–343.

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Zum Schluss

als eine emotionale Gemeinschaft voller Mitgefühl um Bogoljubov scharte und den Gewalttäter Trepov verabscheute. Vera Zasulič konnte mit leidenschaftlicher Zustimmung rechnen, als sie gleichsam im Namen dieser Gemeinschaft an Trepov Rache übte. Die Tatsache, dass sie eine Frau war, verstärkte ihre Rezeption als fühlendes und teilnehmendes Individuum, als gerechte Rächerin. Die terroristische Gewalt, wie der Schuss der Zasulič, wiederum führte dazu, dass die Obrigkeit mit erneuter und gesteigerter Gewalt auf die terroristische Gewalt reagierte. So wurde Vera Zasulič zwar von einem Geschworenengericht sehr zum Ärger des Justizministeriums freigesprochen, aber die nächsten terroristischen Gewalttaten, die nur wenige Tage nach dem Schuss der Zasulič an der südlichen Peripherie des Reiches für Aufsehen sorgten, wurden von den lokalen Behörden mit äußerster Gewalt verfolgt. Ivan Koval′skij wurde in Odessa öffentlich hingerichtet. Auf diese Zurschaustellung obrigkeitlicher Gewalt wiederum folgte Kravčinskijs Attentat auf Mezencov: „Ein Tod für einen Tod!“5 In einem ähnlich interaktiven Zusammenspiel wie revolutionäre und obrigkeitliche Gewalt trugen auch die gedachten Größen Peripherie und Zentrum zur graduellen Eskalation der Gewalt bei. Das Attentat der Zasulič, das wie eine Initialzündung für den Terrorismus wirkte, fand zwar im Zentrum statt, Zasulič selbst aber kam von der südwestlichen Peripherie des Reiches, wo, wie der Zeitgenosse Alphons Thun es formulierte, die „Praxis des Terrorismus“ ausgebildet wurde.6 Nach ihrer Tat und der gewaltigen Zustimmung, die diese erfuhr, reagierten auch die Radikalen an der Peripherie zunächst mit einer weiteren Eskalation der Gewalt, die wiederum zentrale Akteur*innen des Terrorismus zu weiteren Taten anspornte. Letztlich ging von den Radikalen an der Peripherie die Initiative zur Zentralisierung der terroristischen Aktionen im Namen des Exekutivkomitees der Narodnaja volja aus, die alle Kräfte auf das Zentrum des Staates, den Zaren, lenkte. Für die Radikalisierung der Gewalt spielte die Peripherie auch deshalb eine wichtige Rolle, weil dort die Bereitschaft zum gewaltsamen politischen Handeln sowohl bei den Akteur*innen als auch bei der örtlichen Verwaltung höher war. Das war zumindest der Eindruck, den die Akteur*innen im Zentrum bekamen. Diese Gewalt an der Peripherie wirkte verstärkend auf das Zentrum zurück. Die terroristische kommunikative Praxis zielte auf eine emotionale Gemeinschaft, in der andere Radikale, aber auch Liberale und Bürger*innen mit Genugtuung und Freude auf die Rache an einem verhassten Politiker reagierten. Die Tat der Vera Zasulič zeigt, dass in ihrem Falle der Kampf um moralische Überlegenheit glückte und sie deshalb weite Teile der Gesellschaft in einer emotionalen Gemeinschaft hinter sich versammeln konnte. Damit wurde sie beispielgebend für die terroristische Praxis während der Inkubationsphase.

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Kravčinskij, Grozovaja tuča Rossii, 2001, S. 13. Thun, Geschichte der Revolutionären Bewegungen in Russland, 1883, S. 166.

Zum Schluss

Auch bei den nächsten Attentaten verfingen die moralischen Legitimationsdiskurse, und jeder neue Anschlag sorgte für Zustimmung. Als jedoch der Schlag ins Zentrum am 1. März 1881 tatsächlich gelang, war die emotionale Gemeinschaft derjenigen, die um den Zaren trauerten, viel größer, als die Terrorist*innen angenommen hatten. Im Angesicht des toten Herrschers zeigten sich große Teile des Imperiums erschüttert und brachten ihre Trauer mit Tränen, mit untertänigen Adressen oder im Gebet zum Ausdruck. Die Terrorist*innen, die gehofft hatten, dass die Untertan*innen sich, aufgerüttelt durch den Anschlag, gegen die Obrigkeit erheben würden, waren enttäuscht, dass die emotionale Gemeinschaft, die mit Freude, Erleichterung und Hoffnung auf den Tod des Zaren reagierte, nur den Kreis der Radikalen selbst umfasste. Die trauernden Untertan*innen und die triumphierenden Radikalen bildeten zwei konkurrierende emotionale Gemeinschaften. Beide Seiten verwiesen auf die Gleichgültigkeit der Anhänger*innen, die sie nicht jeweils für sich gewinnen konnten. Im Angesicht der emotionalen Sondersituation war „Apathie“ das schlimmste Vergehen und markierte die Grenzen der jeweiligen emotionalen Gemeinschaften. Die Unfähigkeit der Terrorist*innen, mit ihrem emotionalen Regime auf weite Kreise der Gesellschaft auszugreifen, beendete die erste Phase in der Geschichte des russländischen Terrorismus. Einerseits verursachte die starke Konkurrenz, die die emotionale Gemeinschaft der trauernden Untertan*innen den Terrorist*innen machte, ernsthafte praktische Probleme. So mehrten sich die Verhaftungen, die der Polizei aufgrund von zahlreichen Denunziationen aus den Reihen der Bevölkerung gelangen. Geldspenden, die vor dem 1. März 1881 noch reichlich geflossen waren, blieben nun aus. Die Terrorist*innen mussten erkennen, dass die Gesellschaft sich von ihnen abgewandt hatte. Also erwies sich auch ihr kommunikatives Konzept als gescheitert. Der Narodnaja volja war es nicht gelungen, die Bevölkerung als Teil ihrer emotionalen Gemeinschaft zu gewinnen. Das Pogromgeschehen und der hilflose Versuch, die Gewalt der Bäuer*innen und der Unterschichten gegen die Jüd*innen als Erhebung gegen die Obrigkeit zu deuten und damit diese große Gruppe für die revolutionäre Sache zu vereinnahmen, zeigt, wie verzweifelt die Narodnaja volja auf eine Vergrößerung ihrer emotionalen Gemeinschaft angewiesen war. Als auch dieser Versuch gescheitert und die große Mehrheit der Narodniki verhaftet war, verschwand der Terrorismus für 20 Jahre weitgehend von der politischen Bühne im Russischen Reich. Ab 1899 eskalierte erneut revolutionäre Gewalt: Ähnlich wie in den 1860er Jahren nahm auch um die Jahrhundertwende die revolutionäre Bewegung an den Universitäten und Hochschulen ihren Ausgang. Der Studierendenstreik von 1899 zeigt abermals den dialektischen Prozess, in dem die Gewalt durch die Interaktion der Akteur*innen im Zentrum und an der Peripherie zunahm. Auch bei dem Streik selbst und den Demonstrationen auf den Straßen von St. Petersburg kam es zu einer Spirale der Gewalt, die immer größere Teile der Gesellschaft in einer emotionalen Gemeinschaft versammelte, die auf der Seite der Studierenden stand. Die Demonstration vom 1. März 1901

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Zum Schluss

war Beleg dafür, dass sich sowohl Arbeiter*innen als auch Intelligencija mit den Studierenden solidarisierten. Im Zuge der eskalierenden Gewalt auf der Straße griff ein junger Mann auf die terroristischen Methoden, welche die Narodnaja volja 20 Jahre zuvor eingeführt hatte, zurück. Das Attentat von Pёtr Karpovič auf den Erziehungsminister Nikolaj Bogolepov war der Funke, der die ohnehin kurze Lunte der gewaltbereiten Radikalen entzündete. Karpovič konnte mit seiner Tat auf die gesamte Studierendenbewegung und jene, die mit ihr sympathisierten, als emotionale Gemeinschaft ausgreifen. In der Folge kam es zu einer schnellen Wiederaufnahme der kommunikativen Taktik des Terrorismus durch die Sozialrevolutionär*innen, die sich als Erben der Narodnaja volja verstanden. Grigorij Geršuni nahm das Signal von Karpovič dankbar auf und war deshalb für den Beginn der zweiten Phase des russländischen Terrorismus ebenso bedeutend wie der Attentäter selbst. Er lernte aus den Leistungen und den Fehlern der ersten Phase. So übernahm er die zentralistische Organisationsform und gründete, als Wiedergänger des Exekutivkomitees, die Zentrale Kampforganisation der PSR. Er vermied aber den Fehler, den Zaren als Ziel auszuwählen, weil die Narodnaja volja mit dieser Kommunikationsstrategie gescheitert war. Stattdessen wählte er als Ziele für seine terroristischen Aktionen sorgfältig Persönlichkeiten aus, von denen er annehmen konnte, dass sie in weiten Teilen der Bevölkerung verhasst waren. Häufig verband er seine Zielpersonen symbolisch mit ihren Untaten, die von der öffentlichen Meinung bereits verurteilt worden waren. So suchte er den Fürsten Obolenskij aus, den die öffentliche Meinung für die brutale Niederschlagung der Bauernunruhen in Char′kov 1902 verantwortlich machte, und den Governeur von Ufa, Nikolaj Bogdanovič, der den Schießbefehl auf demonstrierende Arbeiter*innen in Zlatoust gegeben hatte. Damit legitimierte er seine symbolischen Ziele und schaffte es abermals, seine emotionale Gemeinschaft weit auf die Gesellschaft auszudehnen und viele hinter der Sache der Radikalen zu vereinen. Anhand der Analyse terroristischen Handelns wird deutlich, wie der diskursive Prozess der Radikalisierung von Gewalt auch in der zweiten Phase funktionierte. Auf jede Gewalttat der Obrigkeit antwortete die revolutionäre Bewegung mit gewaltsamer Rache. Diese terroristische Gewalt forderte wiederum eine noch gewaltsamere Reaktion durch die Obrigkeit. Beide Gruppen versuchten, durch ihre kommunikative Gewaltpraxis auf die Gesellschaft als emotionale Gemeinschaft auszugreifen, die sich jeweils mit Genugtuung oder Befriedigung der eigenen Vergeltungssucht hinter den Gewalttätern vereinen sollte. Mit dieser Strategie waren die Terrorist*innen der SRKampforganisation zunächst äußerst erfolgreich. Doch kaum war die terroristische Praxis als revolutionäre politische Handlungsoption (wieder) eingeführt, kam es zu ihrer inflationären Ausbreitung. Auch der Bundist Hirš Lekert bediente sich des Terrorismus als Methode, um Rache an der „unmäßigen“ Gewalt durch den verhassten Vilner Gouverneur von Wahl gegen politische Gefangene zu nehmen. Damit lenkte Lekert den Blick der Öffentlichkeit auf die nordwestliche

Zum Schluss

Peripherie des Reiches und beflügelte die Ausbreitung des Terrorismus durch politische Gruppierungen, die in Konkurrenz zu den Sozialrevolutionär*innen standen. Zunächst existierten der zentrale Terrorismus der Sozialrevolutionär*innen und die terroristische Gewalt anderer Akteur*innen nebeneinander, und der „zentrale Terrorismus“ erreichte den Gipfel seiner Ausstrahlung. Mit den Attentaten auf den Innenminister Pleve und den Großfürsten Sergej Aleksandrovič erreichte die PSR weite Teile der Gesellschaft und formierten sie zu einer emotionalen Gemeinschaft, die in Freude über den Tod der verhassten Politiker verbunden war. Doch die Gewalt, die der Terrorismus in die Revolution gebracht hat, hatte sich verselbstständigt, und revolutionäre sowie obrigkeitliche Gewalt waren seit dem Blutsonntag im Januar 1905 omnipräsent. Generalstreiks gingen mit Straßenkämpfen einher, sowohl in St. Petersburg und Moskau, wo die Gewalt in dem blutig niedergeschlagenen Dezemberaufstand gipfelte, als auch an der Peripherie, wo sie aufgrund der mangelnden Durchdringung der Peripherien mit Ordnungskräften, aber auch aufgrund der erhöhten Gewaltbereitschaft der großen Anzahl nicht-russischer Untertan*innen noch mehr eskalierte. Nicht zufällig war die Peripherie also auch der Ort, an dem der Massenterror der Anarchist*innen und anderer radikal-aktionistischer Gruppen entstand. Der Gewaltkontext ermöglichte einerseits die Radikalisierung der revolutionären Gruppen. Auf der anderen Seite aber führte die Omnipräsenz von Gewalt zu einer Schwächung der kommunikativen Kraft der einzelnen gewaltsamen Aktion. Angesichts der Gewalterfahrungen in Odessa waren viele Revolutionär*innen im Dezember 1905 bestrebt, die Situation zu beruhigen und weiteres Blutvergießen zu vermeiden. Die wenigen Radikalen, die mit einem Terroranschlag die Situation eskalieren lassen wollten, schafften es nicht, eine größere emotionale Gemeinschaft hinter sich zu bringen. Im Gegenteil formierten sich weite Teile der Gesellschaft bis hin zu einigen anarchistischen Gruppierungen selbst zu einer emotionalen Gemeinschaft, die in Entsetzen und Abscheu über den Anschlag auf das Café Libman verbunden war. Dennoch war der Anschlag auf das Café Libman erst der Anfang des massenhaften Terrorismus, der das Russische Reich vom Ende des Jahres 1905 bis Mitte des Jahres 1907 in Atem halten sollte. Der Dezember des Jahres 1905 in Odessa als Auftakt dieser Welle der Gewalt kann in der Mikroperspektive zeigen, wie der Massenterror entstand, der so typisch für die Revolution der Jahre 1905 bis 1907 war. In diesem historischen Moment waren zudem aber bereits alle Elemente sichtbar, die schließlich zum Niedergang des Terrorismus als kommunikative Praxis im Russischen Reich führten: Erstens: Die zentralen Akteur*innen des Terrorismus verloren die Kontrolle über die kommunikative Praxis und damit die Deutungshoheit über die revolutionäre Gewalt. Damit veränderten sich die terroristischen Legitimationsdiskurse im Übergang vom politischen Terrorismus, der sich gegen politische Persönlichkeiten richtete, zum ökonomischen Terrorismus, der auf die sogenannten „Ausbeuter“ und ihr Eigentum

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Zum Schluss

zielte. Die Rechtfertigungen und Ziele des ökonomischen Terrorismus vermochten bei weiten Teilen der Gesellschaft keine emotionalen Leidenschaften auszulösen. Der ökonomische Terrorismus beraubte die Radikalen ihrer Verbündeten unter den Liberalen. Deshalb scheiterte diese Kommunikationsstrategie. Die Sozialrevolutionär*innen erkannten das, hatten aber das Monopol auf die terroristische kommunikative Praxis verloren. Zweitens: Der Aktionismus der neuen Akteur*innen, die sich der terroristischen Kommunikationsstrategie bedienten, führte zu einer weiteren Eskalation der Gewalt. Gewalterfahrung war während der Revolution von 1905 bis 1907 stets präsent. Die einzelne Tat musste daher immer spektakulärer werden, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Zugleich waren viele Menschen der Gewalt müde. Diese erneute Radikalisierung entfremdete den peripheren Akteur*innen weite Teile derjenigen, auf die die zentralen Akteur*innen als emotionale Gemeinschaft zugegriffen hatten. Drittens: Die daraus folgende Repression erhöhte noch einmal die Allgegenwart von Gewalt in der Revolution. Der blutige Revolutionsalltag führte schließlich dazu, dass inmitten der Eskalation der Gewalt ein einzelner Terroranschlag als kommunikative Praxis gar keine Ausstrahlung mehr entfaltete. Es war also weniger die Angst vor den Standgerichten, die ab dem 17. August 1906 eingeführt wurden, die dazu führte, dass die Zahl der Terroranschläge im Verlauf des Jahres 1907 immer geringer wurde. Vielmehr war es die mangelnde kommunikative Wirksamkeit terroristischer Gewalt, die schließlich zur Folge hatte, dass die Zahl der Terroranschläge rapide abnahm. Die terroristische Kommunikationsstrategie war also abermals gescheitert. Die Straße aber sollte noch für längere Zeit ein Ort der Gewalt im späten Zarenreich bleiben.7 Die russländische Geschichte ist häufig als Gewaltgeschichte interpretiert worden. Eine genaue Analyse der Entstehung und Geschichte des russländischen Terrorismus kann zeigen, wie Gewalt sich zu einer politischen Handlungsoption innerhalb der russländischen revolutionären Bewegung entwickelte. Die Gewalt war also nicht „immer schon da“, sondern wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einer politischen Handlungsressource. Die meisten Akteur*innen, die sich in der Revolution von 1905 an dieser wechselseitigen Eskalation der Gewalt beteiligten, kämpften auch während der Revolutionen von 1917 und im Bürgerkrieg aktiv mit. In diesem Blutbad, in dem das Russische Reich bis 1921 versank und das alle bisherigen konkreten Gewalterfahrungen bei Weitem übertraf, griffen alle Seiten auf Gewalt als kommunikative Praxis zurück – diese Praxis hatten sie bereits angesichts der terroristische Ereignisse der Jahre um 1905 herum eingeübt.

Vgl. z. B. Mark D. Steinberg, Blood in the air. Everyday violence in the experience of the Petersburg poor, in: Hans-Christian Petersen (Hg.), Spaces of the poor. Perspectives of cultural sciences on urban slum areas and their inhabitants, Bielefeld 2013, S. 97–120.

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Zum Schluss

Terrorismus als revolutionäre und als anti-imperiale Taktik überdauerte die Kolonialreiche und auch das sowjetische Imperium. Nach dem Untergang der Sowjetunion erstand der Terrorismus erneut an den Peripherien des Vielvölkerreiches. Die Terrorist*innen trugen die Gewalt abermals aus den Imperial Borderlands in die Metropolen – nicht nur ins Zentrum Russlands, sondern in die Zentren der globalisierten Welt. Mit dem anti-imperialen Anliegen des politischen Islamismus – und nicht nur damit – ist der Terrorismus heute wieder eine bevorzugte Waffe jener, die benachteiligt sind oder die sich benachteiligt fühlen.

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Abkürzungsverzeichnis

CDIAK (Centrál′nyj deržávnyj istorýčnyj archív Ukrajíny, m. Kýjiv, Zentrales Staatliches Historisches Archiv der Urkaine, Kiew) GARF (Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj federacii, Staatliches Archiv der Russischen Föderation) IISG (Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Internationales Institut für Sozialgeschichte) OPPS (Osoboe Prisutstvie Pravitel′stvujuščago Senata, Sondergericht des Regierenden Senats) PSR (Partija Socialistov-Revoljucionerov, Partei der Sozialrevolutionäre) RGIA (Rossijskij gosudarstvennyj istoričeskij archiv, Russisches Staatliches Historisches Archiv) SD (Sozialdemokraten, im Russischen Reich Anhänger der RSDRP, Rossijskaja Social-Demokratičeskaja Rabočaja Partija, Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei) SRN (Sojuz Russkago Naroda, Union des Russischen Volkes)

Abbildungen

Abb. 1 Keine Parasiten mehr!!! Das sicherste Mittel zur Vernichtung des „schädlichen Ungeziefers. Fordert es überall!!!“: Karikatur aus der Sammlung des Sozialrevolutionärs V. S. Minarchorjan aus der Zeit vor 1907, Archiv PSR, IISG, f. 596 Abb. 2 „Apfelsinchen“: Karikatur aus der Sammlung des Sozialrevolutionärs V. S. Minarchorjan aus der Zeit vor 1907, Archiv PSR, IISG, f. 596 Abb. 3 „Autokratische Marionette“: Karikatur aus der Sammlung des Sozialrevolutionärs V. S. Minarchorjan aus der Zeit vor 1907, Archiv PSR, IISG, f. 596 Abb. 4 „17. Oktober 1905“: Karikatur aus der Sammlung des Sozialrevolutionärs V. S. Minarchorjan aus der Zeit vor 1907, Archiv PSR, IISG, f. 596 Abb. 5 „Kegeln“: Karikatur aus der Sammlung des Sozialrevolutionärs V. S. Minarchorjan aus der Zeit vor 1907, Archiv PSR, IISG, f. 596

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Archive

Archiv PSR (Partija Socialistov-Revoljucionerov), IISG (Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Internationales Institut für Sozialgeschichte) CDIAK (Centrál′nyj deržávnyj istorýčnyj archív Ukrajíny, m. Kýjiv Zentrales Staatliches Historisches Archiv der Urkaine, Kiew) Columbia rare books and manuscripts library, Ms Coll/Shneerov GARF (Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj federacii, Staatliches Archiv der Russischen Föderation) RGIA (Rossijskij gosudarstvennyj istoričeskij archiv, Russisches Staatliches Historisches Archiv)

Zeitungen

Buntar′. Listok russkich anarchistov-kommunistov (Rebell. Blättchen der russischen AnarchistenKommunisten) Burelom (Sturmholz) Die Presse Golos (Stimme) Harper’s Weekly Iskra (Funke) Južnoe obozrenie (Südliche Rundschau) Kladderadatsch Kölnische Zeitung Listok narodnoj voli (Blättchen der Narodnaja volja) Molva (Gerücht) Moskovskija vedomosti (Moskauer Anzeiger) New York Times Niva (Kornfeld) Novoe vremja (Neue Zeit) Novosti dnja (Neuigkeiten des Tages) Novosti i birževaja gazeta (Neuigkeiten und Börsenzeitung) Odesskij listok (Odessaer Blättchen) Odesskija novosti (Odessaer Neuigkeiten) Pravitel′stvennyj vestnik (Regierungsbote) Pravo (Recht) Provinzial-Correspondenz Revoljucionnaja Rossija (Revolutionäres Russland) Russkija Vedomosti (Russischer Anzeiger) Russkoe Slovo (Russisches Wort) The Iola Register Vsemirnaja illustracija (Internationale Illustrierte)

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Personenregister

Abramovič, Hirš 194, 196–197, 199–201, 205 Aehrenthal, Aloys Lexa von 261–263 Aleksandrov, Petr 75 Aleksandrovič, Vladimir 278, 280, 304 Alexander II. 17, 44, 50, 52–53, 73, 82, 90–91, 93, 97, 106–107, 110, 115, 117–120, 123–124, 126, 128, 133, 155, 162, 177, 214, 226–227, 237– 238, 271, 292, 294, 361 Alexander III. 123–124, 126, 146–147, 153–154, 163–166, 168, 272 Alexandra Fedorovna 271 Andreev, Andrej Filimonovič 228, 261, 265 Arendt, Hannah 27 Arnštam, Lev 136 Ascher, Abraham 334 Azef, Evno 22, 187, 190, 222, 227, 230–233, 236–238, 240, 243–246, 251–253, 257–258, 263–265, 276, 285, 304–306, 308 Babel′, Isaak 313 Bakunin, Michail 55–57 Baljasnyj, Konstantin Aleksandrovič 201 Balmašev, Stepan 180–181, 183, 185, 188–189, 192, 198, 200–202, 204, 215–217, 266–268, 280, 320 Barannikov, Aleksandr 83, 115 Basist, Dvojra 315 Bel′gard, Aleksandr Karloviči 207–208, 219, 235 Belyj, Andrej 22, 229 Benevskaja, Marija 190 Benois, Aleksandr 292 Bezsonov, Klavdij Innokent′evič 210 Bismarck, Otto von 85 Bobrikov, Ivan 214, 228, 257, 261, 265 Bogdanovič, Il′ja 156

Bogdanovič, Jurij 115, 117 Bogdanovič, Nikolaj 218–227, 257, 268, 292, 305–306, 364 Bogolepov, Nikolaj 45, 173–178, 181, 184, 188, 209, 240, 252, 297, 305–306, 364 Bok, Marija Petrovna 355 Borišanskij, David 246–247, 251, 275, 280 Breitman, Jakov 326 Breško-Breškovskaja, Ekaterina 63, 186 Brilliant, Dora 190, 230, 245–246, 251, 275, 285, 352 Bronštejn, Iosif 331, 333, 339, 343 Budnickij, Oleg 28 Burcev, Vladimir 22 Camus, Albert 25, 27, 229, 280–281 Černov, Viktor 22, 188, 191–192, 199, 212 Černyšev, Pavel 64–67, 323 Černyševskij, Nikolaj 54–55, 58 Chalturin, Stepan 102, 112 Chruščev, Nikita 28 Čičerin, Boris 75 Conrad, Joseph 22 Corday, Charlotte 16 Crenshaw, Martha 25 Dadis, Josif 341 Daly, Jonathan 361 Deič, Lev 80 Dietze, Carola 120 Dizengoff, Meir 312 Dolgorukaja, Ekaterina 92 Dolgorukov, Vladimir 273 Dombrovskij, Leontij 341–342 Doroševič, Vlas 319 Dostoevskij, Fedor 22, 75 Doyle, Arthur Canon 252

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Personenregister

Drentel′n, Aleksandr 89–90, 160 Dubasov, Fedor 284, 335–336 Dubinskij, Isaak Pavlovič 320 Dubnow, Simon 132–133, 263–264, 312, 356 Dulebov, Egor (Agapov) 218, 222–225, 230, 246, 254, 266, 305 Eisenstein, Sergej 321, 323 Emel′janov, Archil Petrovič alias Archip Bogoljubov 67, 71–74, 76, 105, 202–203, 361– 362 Ėmeljanov, Ivan 116, 121 Engels, Friedrich 268 Engelstein, Laura 27, 37, 64, 282, 319 Enzensberger, Hans Magnus 25, 281 Ėrdelevskij, Kopel′ (Gustav) 316, 340, 343–344 Ermans, A. S. 319 Evans, Christine 239, 247 Fajn, Lisa 341 Fedorovna, Elisaveta 271, 280, 289–292, 300– 301 Feinberg, Joel 105, 151 Ferry, Harpers 16 Figes, Orlando 170 Figner, Evgenija Nikolaevna 102 Figner, Vera 21, 23–24, 62–63, 66–67, 86–87, 94, 99–100, 103–105, 108, 113, 117, 122–127, 133–134, 136, 141–142, 152, 158–159, 162 Filimoškin, Ivan 219 Filipson, G. I. 59 Florin, Moritz 32 Foucault, Michel 32 Frolenko, Michail 79, 98–100, 115, 117 Frolov, Ivan 148–150 Frug, Simon 319 Frumkina, Fruma 268 Fürst von Hohenlohe-Schillingsfürst 85 Gapon, Georgij 278–280 Garfield, James A. 68, 269 Gartman, Lev (Leo Hartmann) 63, 125–126, 144 Geifman, Anna 19, 28, 233, 236–237, 240, 293, 308, 328, 344, 350 Gejking, Gustav von 80–81 Gel′fman, Gesja 145, 153 Grigor′ev, Appolon Gavrilovič 337–338 Gerasimov, Aleksandr 241, 261, 354 Gercenštejn, Michail 348–349

Gerškovič, Leib (Lazar) 330–331, 340 Geršuni, Grigorij 180–181, 183, 186–189, 191– 192, 199–200, 206, 209–212, 215, 217–218, 221–227, 231–233, 236–238, 244, 251, 257, 265–268, 276, 293, 305–306, 314, 364 Goc, Michail 231, 233 Gol′denberg, Grigorij 88–89, 99–100, 209 Golicyn, Grigorij Sergeevič 228 Golovina, Nadežda 97 Gordeenko, Ol′ga 210 Graf von Todleben 105 Granovskij, Timofej Nikolaevič 59 Grešner, Aleksandr 309 Grinevickij, Ignatij 116, 120–121, 145 Romanov, Pavel Aleksandrovič 271 Grove, Montgomery 287–289 Guiteau, Charles 68 Gurr, Ted 25 Ha-am, Achad 312 Hardy, Deborah 26 Hertz, Jacob 199 Herzen, Alexander (Aleksandr Gercen) 53– 54, 60, 65, 68, 91, 107 Hildermeier, Manfred 186, 233, 237 Hirschfeld, Gerhard 26 Hough, Richard 323 Ilin, Evtlich 318 Isaev, Grigorij 113, 117 Ivanovskaja, Praskovija 237, 245–246, 251, 253, 263, 305 Ivič, M. 308, 348, 357 Izgoev, Aleksandr 319 Jakimova, Anna 115, 117 Kaljaev, Ivan 25, 38, 173, 190, 230, 232, 246, 251, 253–254, 269–271, 275, 281–282, 285–288, 291, 294–302, 307, 320, 359 Kaplan, Fanny 24 Karakozov, Dimitrij 17, 29, 50–53, 64, 70, 74, 90–91, 95, 106, 130, 144 Karpovič, Pёtr 173–179, 181, 184, 188–190, 200, 204, 252, 266, 280, 364 Katharina II. 115, 311 Katkov, Michail 45, 76, 89, 91, 164 Kavzan, Petr 341 Kel′ner, Viktor 28 Kerenskij, Aleksandr 229

Personenregister

Kibal′čič, Nikolaj 115–117, 119, 145, 148–149, 240–241, 330 Klebanova, Klara 352–353, 355 Klejgel’s, Nikolaj 187 Kličoglu, Serafima 238 Kočura, Foma 206, 209–212, 215–217, 223–225 Koenigstein, François Claudius 269 Kolenkina, Maša 68 Kolonickij, Boris 170 Komisarov, Osip 51–52, 130 Koni, Anatolij 72, 75 Koselleck, Reinhart 360 Kossovskij, Vladimir 203 Kotljarevskij, Michail 79 Koval′skij, Ivan 76–77, 85–86, 94, 310 Kravčinskij, Sergej (Stepnjak) 21, 61, 72, 81–86, 89, 99, 124–125, 136, 139–142, 144, 310, 362 Kropotkin, Dimitrij 87–89, 99, 209 Kropotkin, Petr 84, 88, 154, 209 Kruševan, Pavel Aleksandrovič 228, 234 Kulikovskij, Petr 280–281, 285, 310 Kurneev, Fedor 69 Kusmin, Roman 52 Kvjatkovskij, Aleksandr 102 Laden, Osama bin 14 Lamsdorff, Vladimir Nikolaevič 261–262 Langhans, Martin 115 Lapidus, Vladimir (Striga) 192 Laqueur, Walter 13, 25 Latour, Bruno 44 Lavrov, Pёtr 15, 60, 84 Lejkin, Jakob 331 Lekert, Hirš 192, 194, 199–206, 209–211, 215– 217, 224, 228, 266, 268, 305–306, 348, 364 Lenau, Nikolaus 204 Lenin, Vladimir 24, 163, 186, 191, 202–203, 243, 292, 296, 315 Leonovič, V. V. 222 Lešern, Sofija 81 Levin, Abraham 333 Ljubarskij, Iosif 339 Ljustgarten, Michail 340 Loris-Melikov, Michail 110, 118, 146, 164, 213 Löwe, Heinz-Dietrich 161, 168 Luženovskij, Gavriil Nikolaevič 284, 305 Maceevskij, Iosif 246 Machajski, Jan Wacław 315–316

Maksimov, Nikolaj 120 Mandel′štam, Michail 187, 219, 221, 226, 282, 293–294, 296, 299, 305–306 Marat, Jean-Paul 16 Marks, Steven 55 Martov, Julij 193 Marx, Karl 55, 268 McReynolds, Louise 137, 143 Mec′, Moisej-Iosev 339, 343, 346 Meščerskij, Meščerskij I. 120 Meščerskij, Vladimir P. 76, 272 Mezencov, Nikolaj 82–88, 362 Michajlov, Aleksandr 82, 86–93, 100, 114, 116 Michajlov, Timofej 116, 119, 136, 145, 148–150 Mickiewicz, Adam 42, 193 Miljutin, Dmitrij 90 Min, Georgij Aleksandrovič 336 Minclov, Sergej 259, 293, 303 Mirskij, Lev 89–90 Mlodeckij, Ippolit 110–111, 146 Mommsen, Wolfgang 26 Morgulis, Michail 319 Morozov, Nikolaj 93, 113, 273 Morozova, Feodosija 135 Morozova, Varvara 294 Morrissey, Susan 179 Murav′ev, Nikolaj 138–139, 144, 274, 280 Naimark, Norman 26 Napoleon III. 118 Navrockij, Vasilij V. 319 Nečaev, Sergej 55–57, 78, 93, 95–96, 124 Nejdgart, Dmitrij 318, 320, 337 Nevskij, Aleksandr 52 Nikolaevskij, Boris 233, 237 Nikolaus II. 166, 168, 187, 193–194, 260, 266, 270–271, 273, 278–279, 291, 304, 324–325, 349 Novomirskij, Daniel 340, 346 Obolenskij, Ivan Michajlovič 206–212, 214– 217, 219, 225, 240, 268, 305–306, 356, 364 Ogarev, Nikolaj 60 Orchimovič, Eduard 341–342 Osinskij, Valerian 78–82, 84, 86, 90, 94–97, 311 Osterhammel, Jürgen 42 Pahlen, Konstantin von 63, 67, 73–75, 297 Panjutin, Stepan Feodorovič 112 Pankratov, Vasilij 134–135

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Personenregister

Peri, Alexis 239, 247 Perovskaja, Sofja 17, 63, 68, 100, 112–113, 117– 119, 133, 135–145, 148–150, 153, 300 Perovskij, Lev 142 Perovskij, Vasilij 136 Petruškini (Brüder) 332 Piłsudski, Józef 193 Pinsker, Leon 312 Pipes, Richard 71, 172 Planson, Lev 149 Plechanov, Georgij 66, 94, 315 Pleve, Vjačeslav 22, 45, 168, 200–201, 205, 222– 223, 225–229, 231, 233, 235–240, 243–246, 248–251, 253–262, 264–268, 270–271, 274– 276, 286–287, 294, 297, 303, 305–306, 365 Pobedonoscev, Konstantin 147–148, 164, 187, 212, 272 Pokotilov, Aleksej 209, 240, 251, 258, 266, 285 Poljakov, Vasilij 318 Popko, Grigorij 80–81 Popov, Michail 73 Popova, Valentina 285 Rapoport, David 25 Rataev, Leonid Aleksandrovič 258 Reddy, William 37, 359 Repin, Ilja 292 Robbins, Richard 207–208, 218–219, 221 Robespierre, Maximilien de 87 Rogger, Hans 157, 236 Romanenko, Gerasim 158–160 Romanov, Dmitrij Pavlovič 281 Romanov, Sergej Aleksandrovič 22, 25, 38, 45, 173, 181, 227, 229, 243, 271–275, 277–278, 280–281, 285, 287, 289–295, 303–306, 308, 310, 365 Romanova, Katharina Michajlovna 118 Romanova, Marija Pavlovna 281 Rosenwein, Barbara 38 Rudinkin, Andrej 288, 290–291 Rutenberg, Pёtr (Pinchas) 279–280 Ruzinskaja, Elka 315 Rysakov, Nikolaj 116, 119–120, 145, 148–149 Šaevič, Henrich Isaevič 317–318 Safronova, Julia 128–130, 134 Saint-Just, Louis Antoine 49 Šašek, Lidia 343 Šašek, Stanislav 343–344, 355

Šauman, E. 214 Savinkov, Boris 14, 22, 25, 173, 190, 228–233, 237, 241, 243–249, 251–256, 259, 269, 274– 276, 280–281, 285–286, 305–306, 352 Sazonov, Egor 190, 222, 230, 245–246, 248–252, 254, 256–258, 262, 266, 280, 300, 320 Schenk, Frithjof Benjamin 100, 120, 246 Ščusev, Aleksej 292 Šepelskaja, Ekaterina 341 Serov, Valentin 292 Sikorskij, Lejba 251, 257, 262 Siljak, Ana 69, 71, 86 Simonov, Fedor 219 Sipjagin, Dmitrij 45, 175, 180–185, 187–191, 198, 200–201, 203, 209, 211, 237, 244, 252, 266, 267–268, 293, 297, 305–306 Šipov, Dmitrij 357 Skandrakov, Sergej Spiridonovič 239 Šmalc, Filip 326 Sofsky, Wolfgang 30, 35 Sokolov, Michail Ivanovič 353 Sokolovskij, Lev 226, 306 Solov′ev, Aleksandr 90–93, 97, 102, 106 Solov′ev, Vladimir 146–147 Šostakovič, Dmitrij 136 Spiridonova, Marija 24, 79, 137, 284, 305 Spiridovič, Aleksandr 186, 209, 308, 347, 352 Steinberg, Isaak 23–24, 281 Stolypin, Petr 260, 349, 354, 356 Stolypina, Olga Petrovna 39 Struve, Petr 178, 180 Šumacher, Jankel 333 Surikov, Vasilij 135, Šuvalov, Pavel Pavlovič 310 Suzkever, Abraham 205f Švecov, Sergej 65 Švejcer, Maksimilian 230, 240–241, 248, 250– 251, 275, 280, 304 Svjatopolk-Mirskij, Pёtr D. 270 Taratuta, Olga 315–316, 324, 327, 340, 343–344 Taratuta, Ovsej (Aron Refulov) alias „Djadja“ 315 Teterka, Makar Vasilevič 114 Thun, Alphons 21, 78, 90, 142, 311, 362 Tichomirov, Lev 158 Tolstoj, Lev 146 Trepov, Dmitrij, 274, 280, 283–284

Personenregister

Trepov, Fedor 21, 68–74, 76, 81, 105, 184, 202– 203, 274, 361–362 Trigoni, Michail 115 Trotha, Trutz von 34, 39 Turgenev, Ivan 58, 76, 86 Tyrkov, Arkadij 141 Ul′janov, Aleksandr 163 Unterberger, Pavel Feodorovič 309 Vakulinčuk, Gregorij 322 Valuev, Petr 130 Vannovskij, Pёtr 171 Vasnecov, Viktor 292 Vejsbrom, Bejla Šereševskaja 339–340 Venturi, Franco 25, 54 Verhoeven, Claudia 51, 53, 130 Vetrova, Marija 179 Vitmer, Aleksandr 131 Vitte, Sergej 168, 173, 175, 261, 271 Vnorovskij, Boris 284

Vrubels, Michail 292 Wahl, Viktor von 192–193, 205, 210, 260, 266, 356 Waldmann, Peter 13, 30 Weinberg, Robert 323, 338 Wiese, Stefan 155–156 Wilkinson, Paul 25 Yarmolinsky, Avrahm 131 Zaičnevskij, Petr 50, 53 Zasulič, Vera 21, 43, 67–76, 79, 81–82, 85–88, 93, 123, 137–140, 167, 174–175, 179, 184, 202– 203, 354, 362 Zborovskij, M. 314 Željabov, Andrej 68, 77, 100, 102, 116–118, 138, 141–142, 144–145, 148–150, 153 Zenzinov, Vladimir 276 Zola, Émile 297 Zubatov, Sergej 278, 318 Zusman, Israel 331–334, 339, 344–345, 350–351

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q u e l l e n u n d s t u d i e n z u r g e s c h i c h t e d e s ö s t l i c h e n e u ro pa

Begründet von Manfred Hellmann, weitergeführt von Erwin Oberländer, Helmut Altrichter, Dittmar Dahlmann, Ludwig Steindorff und Jan Kusber. In Verbindung mit dem Vorstand des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e. V. herausgegeben von Julia Obertreis.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0170–3595

79. Dennis Hormuth Livonia est omnis divisa in partes tres Studien zum mental mapping der livländischen Chronistik in der Frühen Neuzeit (1558–1721) 2012. 428 S. mit 1 Abb. und 7 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10097-7 80. Julia Franziska Landau Wir bauen den großen Kuzbass! Bergarbeiteralltag im Stalinismus 1921–1941 2012. 384 S. mit 2 Abb. und 37 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10159-2 81. Lukas Mücke Die allgemeine Altersrenten­ versorgung in der UdSSR, 1956–1972 2013. 565 S. mit zahlr. Tab., kt. ISBN 978-3-515-10607-8 82. Frithjof Benjamin Schenk Russlands Fahrt in die Moderne Mobilität und sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter 2014. 456 S. mit 16 sw-Abb., 8 farbigen Abbildungen und 1 Faltkarte, kt. ISBN 978-3-515-10736-5 83. Martin Aust / Julia Obertreis (Hg.) Osteuropäische Geschichte und Globalgeschichte 2014. 330 S. mit 25 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10809-6 84. Benjamin Conrad Umkämpfte Grenzen, umkämpfte Bevölkerung Die Entstehung der Staatsgrenzen der Zweiten Polnischen Republik 1918–1923 2014. 382 S. mit 9 Karten, kt. ISBN 978-3-515-10908-6 85. Martina Thomsen (Hg.) Religionsgeschichtliche Studien zum östlichen Europa Festschrift für Ludwig Steindorff zum 65. Geburtstag 2017. 364 S. mit 6 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11768-5

86. Marina Schmieder „Fremdkörper im Sowjet­Organis­ mus“ Deutsche Agrarkonzessionen in der Sowjetunion 1922–1934 2017. 339 S. mit 26 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11762-3 87. Michelle Klöckner Kultur­ und Freundschafts­ beziehungen zwischen der DDR und der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (1958–1980) 2017. 380 S. mit 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11876-7 88. Ulrich Hofmeister Die Bürde des Weißen Zaren Russische Vorstellungen einer imperialen Zivilisierungsmission in Zentralasien 2019. 421 S. mit 7 Abb., 3 AKarten und 15 Farbtafeln, kt. ISBN 978-3-515-12266-5 89. Saskia Geisler Finnische Bauprojekte in der Sowjetunion Politik, Wirtschaft, Arbeitsalltag (1972– 1990) 2021. 335 S. mit 5 Abb. und 1 Tab., kt. ISBN 978-3-515-13003-5 90. Peter Collmer Verwaltete Vielfalt Die königlichen Tafelgüter in Polen-Litauen, 1697–1763 2022. 378 S. mit 8 s/w-Abb. und 2 farbigen Abb., geb. ISBN 978-3-515-13123-0 91. Gleb Kazakov Die Moskauer Strelitzen­Revolte 1682 Diplomatische Spionage, Nachrichtenverkehr und Narrativentransfer zwischen Russland und Europa 2021. 278 S. mit 6 Abb. und 6 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12981-7

Terrorismus erschütterte das vorrevolutionäre Russland in zwei Wellen von den 1860er Jahren bis zur ersten Russischen Revolution in den Jahren 1905 bis 1907. 1881 fiel der Reformzar Alexander II. einem Attentat zum Opfer. In der zweiten Welle traf es die unterschiedlichsten Personen: Repräsentanten des Staates, Polizisten, und am Ende konnte fast jeder zum Opfer eines Anschlags werden. Vor allem einige berühmte Frauen, die als Terroristinnen aktiv waren, verstärkten den Eindruck, dass die Gewalttäterinnen weniger Täterinnen, sondern Opfer der herrschenden Verhältnisse und als solche Mär-

ISBN 978-3-515-13076-9

9 783515 130769

tyrerinnen des Kampfes gegen die Autokratie waren. Der Wunsch, die gewaltsame Repression der Obrigkeit zu rächen, einte die Menschen bis weit in die liberalen Kreise hinein. Anke Hilbrenner verdeutlicht mit dichten Beschreibungen einzelner terroristischer Anschläge die Entstehung terroristischer Gewalt und öffnet die Perspektive auf die Kommunikationsstrategien der Terroristinnen und Terroristen, aber auch auf die Reaktion der Obrigkeit. Auf beiden Seiten wurde gezielt auf Gewalt für die jeweilige Botschaft zurückgegriffen, um die Öffentlichkeit für die eigene emotionale Gemeinschaft zu gewinnen.

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