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German Pages [824] Year 2009
Faschistische Kampfbünde
Industrielle Welt Schriftenreihe des Arbeitskreises fiir moderne Sozialgeschichte Herausgegeben von Andreas Eckert und Joachim Rückert Band 63
Sven Reichardt Faschistische Kampfbünde
Sven Reichardt
Faschistische Kampfbünde Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA
2., durchgesehene und um ein Nachwort ergänzte Auflage
@ 2009 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Sven Reichardt ist Juniorprofessor fur Deutsche Zeitgeschichte an der Universität Konstanz.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Max Ernst, Der Hausengel, 1937, Privatbesitz. © VG Bild-Kunst Bonn 2002
2. Auflage 2009 1. Auflage 2002
© 2002 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Druck Partner Rübelmann GmbH, Hemsbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20380-1
Inhalt
1
EINLEITUNG
11
1.1
Fragestellung und Aufbau
11
1.2
Vergleichskonzept und zentrale Begriffe
19
1.2.1 Faschismus als propagandistische Praxis und soziale Bewegung... 1.2.2 Politische Gewalt 1.2.3 Politische Kultur
19 37 44
1.3
Quellenlage
47
2
LATENTER BÜRGERKRIEG?
53
2.1
Eine Gewaltbilanz: Ausmaß und Charakter der politischen Auseinandersetzungen 2.1.1 Probleme der amtlichen Gewaltstatistiken 2.1.2 Gewalttaten im Spiegel der Historiographie 2.1.3 Die seriösen amtlichen Statistiken 2.1.4 Entwicklung der Gewalttaten 2.1.5 Kommunisten und Faschisten im Ländervergleich 2.1.6 Andere Gegner und Opfer 2.1.7 Die Brutalität der Gewaltvorfälle 2.1.8 Polizisten als Angriffsziel im Straßenkampf 2.1.9 Regionale Gewalthochburgen 2.1.10 Die Bewaffnung 2.1.11 Effizienz und Zielgerichtetheit faschistischer Gewalt 2.1.12 Wahlen, Propaganda und Gewalt 2.1.13 Gewaltkulturen 2.1.14 Unterschiede und Ähnlichkeiten der faschistischen Gewalt 2.2
53 55 57 58 60 64 71 74 75 76 81 84 88 93 98
Propaganda und Gewalt: Eine Typologie der Gewaltformen faschistischer Kampfbünde .... 100 2.2.1 Propaganda als Angriffsmethode 133 2.2.2 Funktionen faschistischer Gewalt 135 2.2.3 Machtpropaganda 139
6
2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5 2.4.6 2.4.7 2.4.8
3
Inhalt
Polykratische Verhältnisse: Die Kampfbünde zwischen Konflikt und Kooperation mit den faschistischen Parteien Parteioffizielle Aufgaben des Squadrismus und der SA Das taktische Verhältnis der Parteiführer zu ihren Kampfbünden.. Spannungslagen in der Praxis Mittel und Wege zu Beschwichtigung und Kooperation
141 141 145 158 182
Wehrhafte Demokratien? Reaktionen und Maßnahmen der staatlichen Organe Die Polizei in Italien und Deutschland Die italienische Regierung Die italienische Armee Deutsche Reichs-und Länderregierungen Die deutsche Reichswehr Ein letzter Versuch Ein Ländervergleich Die Spruchpraxis der Gerichte in Italien und Deutschland
200 201 223 229 231 237 240 242 243
D A S REKRUTIERUNGSPOTENTIAL: SOZIALE G R U P P E N , L E B E N S L Ä U F E U N D GENERATIONEN
Rasantes Wachstum und ländliche Stationen: Quantitative Entwicklung und regionale Schwerpunkte 3.1.1 Rasantes Wachstum 3.1.2 Hochburgen: Ländlicher Squadrismus versus städtische SA?
254
3.1
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.2.7 3.2.8 3.2.9 3.2.10
Furcht und Frustration: Soziale Gruppen und soziale Erfahrungen Probleme bei der Erforschung des squadristischen Sozialprofils... Der Squadrismus in Bologna - im regionalen Kontext und interregionalen Vergleich Eine Wandlung des Squadrismus Squadrismus und PNF im Vergleich Das Sozialprofil der SA Ein Vergleich von SA und NSDAP Ein erster Vergleich von SA und Squadrismus Erweiterung des Blickwinkels: Krisenhafte Lebensläufe Relative Deprivation und Gewalt Der soziale Typus des faschistischen Kampfbündlers
254 255 263
273 275 276 303 305 310 323 324 326 336 342
Inhalt 3.3
7
3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6 3.3.7 3.3.8
Tod und Jugend: Altersgruppen, Jugendpathos und Generationskonflikte Altersgruppen in den faschistischen Kampfbünden Vergleiche: Altersgruppen bei den faschistischen Parteien und anderen politischen Kräften Das faschistische Jugendpathos Zum Begriff der Generation Der junge Frontsoldat und der Weltkriegsoffizier Kinder und Jugendliche des Krieges Die überflüssige Generation Der ausgebliebene Generationswechsel
4
PRINZIPIEN U N D PRAXIS DER ORGANISATIONEN
390
4.1
Das Prinzip: Die Squadra und der Sturm als Skelett der Organisationen Zum bündischen Organisationsprinzip Die squadra Der SA-Sturm Zellulärer Organisationsaufbau und das Problem der Disziplin
390 390 393 401 403
Die Praxis der Kameradschaft: Soziale Beziehungen in den Kampfbünden Kenntlichmachung durch den Namen Straßenecken, Familien und Freundschaften Probleme der vergleichenden Betrachtung Auf kleinem Raum zuhause „Vor allem sehne ich mich nach euch Kameraden" Totale Organisationen Konformitätsdruck: soziale Sanktionen von unten Faschistische Kampfbünde und Straßenbanden im Vergleich
406 407 409 415 416 418 426 429 432
Informelle institutionelle Zentren: Zur Bedeutung der Bars, Lokale und Heime Die Squadrenbar Das SA-Sturmlokal Funktion und Spezifik der faschistischen Kampfbundlokale SA-Heime
435 436 449 462 468
3.3.1 3.3.2
4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.2.7 4.2.8 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4
Hierarchie und Charisma: Der capo squadra und der Sturmfuhrer als integrierte Führer 4.4.1 Der capo squadra (Squadrenkommandant)
346 346 351 355 364 366 374 384 386
4.4
476 476
8
Inhalt
4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5 4.4.6 4.4.7 4.4.8
Das Beispiel Emilio Marchesini Weitere Squadrenfuhrer Der SA-Sturmführer Das Beispiel Friedrich Eugen Hahn Das Beispiel Hans Eberhard Maikowski Integrierte Führer Charisma: Führer und Gemeinde
479 481 486 490 494 497 504
4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5 4.5.6
Nahe Gegner: Kommunisten und Faschisten Die „Arditi del popolo" Interdependenz von Kommunismus und Faschismus? Die SA im sozialistischen Wohnquartier Die Sozialstruktur des Berliner Rotfrontkämpferbundes Überläufer Ähnlichkeiten und Unterschiede
506 506 512 513 520 522 528
5
D I E P R A X I S DES POLITISCHEN: POLITISCHE RHETORIK U N D POLITISCHE K U L T U R
Der nationale Kämpfer: Praxis und Bilder einer sakralisierten und soldatischen Nation 5.1.1 Die italienische Nation und der „unbekannte Soldat" 5.1.2 „Märtyrer" im Squadrismus 5.1.3 „Märtyrer" in der SA 5.1.4 Der faschistische Totenkult 5.1.5 Fahnen, Vereidigung und militärische Symbole 5.1.6 Die Armee aus der Sicht der SA 5.1.7 Die Uniformierung 5.1.8 Kameradschaftsgeist 5.1.9 Der Glaube an die Nation 5.1.10 Zur Spezifik des faschistischen Nationsverständnisses
535
5.1
5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.2.6 5.2.7
Das Feindbild des Rebellen: Antisozialistische, rassistische und antibürgerliche Haltungen Einige Formen faschistischer Identitätsbildung Der Feind der Nation: Sozialisten und Kommunisten Ein Vergleich mit den Feind- und Selbstbildern des kommunistischen Gegners Funktionen des faschistischen Antikommunismus Faschismus und Rassismus Der Antisemitismus in der SA Antibürgerlichkeit als Charakterfrage
535 537 541 548 560 563 570 574 589 593 598
611 612 617 624 626 628 631 643
Inhalt
9
5.2.8 Der verhasste Bürger als Systemträger und Vertreter des Parlamentarismus 5.2.9 Das Gegenprinzip: Kriegerische Kameradschaftlichkeit 5.2.10 Dagegensein als rebellisches Lebensprinzip 5.3
647 654 657
5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.3.6 5.3.7
Das Geschlecht der Gewalt: Bilder und Rhetorik der Männlichkeit Der kompromisslose Schläger Der nationale Soldat Die Kameradschaft Die faschistische Frau Anmerkungen zur Homosexualität „Flintenweiber" und „verweichlichte" Männer Die faschistischen Geschlechtervorstellungen im Vergleich
661 663 666 671 673 679 685 690
6
ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSBETRACHTUNG
697
6.1
Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Gewaltorganisationen des Squadrismus und der SA
698
Gewalt und Gemeinschaft: Faschistische Kampfbünde und faschistische Bewegungen
717
7
ANHANG
726
7.1
Nachwort zur zweiten Auflage
726
7.2
Abkürzungsverzeichnis
736
7.3
Nachweis der statistischen Erhebungen
739
6.2
7.4
Ausgewähltes Quellen- und Literaturverzeichnis
744
7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.4.4
Archive Periodika Zeitgenössische Schriften und Dokumentationen Ausgewählte Literatur
744 747 749 760
7.5
Personenregister
819
1 EINLEITUNG
1.1 Fragestellung und Aufbau Die Frage, was der Faschismus ist, ist fast so alt wie das Aufkommen des italienischen fascismo. Seit den zwanziger Jahren versuchten zuerst linke Politiker, dann auch katholische und konservative Kräfte und schließlich Wissenschaftler aller geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen die Frage zu klären, ob mit dem Wort Faschismus ein tauglicher Gattungsbegriff der Politik bezeichnet werden kann. Einigkeit konnte bei dieser eng mit politischen Einstellungen verbundenen wissenschaftlichen Frage freilich nicht erzielt werden. Wenn diese Arbeit trotz der immensen Forschungen zum Thema einen neuerlichen Beitrag zur Klärung dieser Frage darstellt, so legitimieren dazu drei neue Perspektiven auf das Thema, die zugleich die Fragestellung einschränken und präzisieren. Erstens widmet sich die Arbeit einer inhaltlich und zeitlich abgrenzbaren Einheit: den paramilitärischen Kampfbünden der aufsteigenden faschistischen Bewegungen in Italien und Deutschland bis zur jeweiligen Machtübernahme. Diese Organisationen wurden bislang in keinem Aufsatz, geschweige denn einer Monographie miteinander verglichen. Zweitens ist diese explizit vergleichende Arbeit schwerpunktmäßig empirisch. Die empirische Sättigung war bislang oft ein Manko der allzu abstrakten Faschismustheorie. Drittens betrachtet die Arbeit den Faschismus von einem neuen Blickwinkel aus, in dem die Analyse der Praxis und Handlungen der faschistischen Akteure im Zentrum steht. Mit der Untersuchung der Handlungen und dem hieraus resultierenden praktischen Sinn für die sozialen Akteure soll die Trennung der Analyse nach (bewusster) Ideologie und (materieller) Basis umgangen werden. Statt dessen rückt die Frage nach der strukturierenden Kraft des Handelns selbst in den Vordergrund. Von einer Interpretation des Faschismus als Ideologie unterscheidet sich dieser Ansatz, insofern er davon ausgeht, dass das Handeln seine eigenen Gründe hat und nicht einfach vollzieht, was zuvor gedacht und entschieden wurde. Handeln bedeutet bei den untersuchten paramilitärischen Kampfbünden zuerst gewaltsame Aktion. Damit rückt ein zentrales Merkmal des Faschismus in den Vordergrund. Sowohl am Anfang wie am Ende des europäischen Faschismus stand Gewalt. Schon kurz nachdem die faschistischen Bewegungen in Italien und Deutschland entstanden waren, wurden mit den squadre d'azione und der SA gewalttätige Organisationen geschaffen. Dass diese paramilitärischen Gewaltorganisationen eng mit der politischen Agitation der fa-
12
Einleitung
schistischen Bewegungen verbunden und systematisch zum Gewalteinsatz herangezogen wurden, stellte ein neues Phänomen des 20. Jahrhunderts dar. Es war ein neuer Stil, der sich nach dem Ersten Weltkrieg artikulierte und militärische Organisationsformen mit politischem Aktivismus zusammenbrachte. Die faschistischen Bewegungen standen an der Speerspitze dieser politischen Neuerung, denn sie begriffen und praktizierten ihre Politik fast vollständig als propagandistische Straßenpolitik und paramilitärischen Kampf. Die Vergleichseinheiten der vorliegenden Studie sind zwei - in rein formaler Hinsicht - unterschiedliche Organisationstypen, die jedoch innerhalb der faschistischen Bewegungen in Italien wie Deutschland ähnliche Rollen übernahmen und daher prinzipiell miteinander vergleichbar sind.1 Während der Kampfbund des italienischen Squadrismus (squadrismo) formal gesehen keine eigenständige und klar abgrenzbare Unterorganisation der faschistischen Bewegung Italiens bildete, war die SA eine durch offizielle Beschlusslage gegründete und formal eigenständige Unterorganisation der NSDAP. Analysiert man den Squadrismus aber in seiner politischen Praxis, so zeigt sich, dass auch dieser eine eigenständige Organisationskultur ausbildete, die sich von der der Gesamtbewegung des italienischen Faschismus unterschied. Ähnlich wie die SA, die sich „als die Faust, als das handelnde Organ der nationalsozialistischen Bewegung" begriff, 2 grenzte sich auch der Squadrismus von der Gesamtbewegung ab. Diese Betonung des Aktivismus und der Gewalt drückte sich in der Organisationspraxis, also in den Handlungs- und Repräsentationsmustern seiner Akteure aus. Ziel dieser Arbeit ist es also, das Verhalten und Handeln der Kampfbundmitglieder zu erklären. Squadrismus und SA werden hierbei in dreifachem Sinne als Organisationen verstanden. Organisation meint erstens eine Tätigkeit, zweitens die Eigenschaft eines sozialen Gebildes und drittens bezeichnet der Begriff das Ergebnis von Handlungen. Organisationen sind soziale Gebilde, die das Zusammenwirken von Menschen im Hinblick auf gesetzte Ziele regeln, wobei die Mitglieder dieser sozialen Zusammenschlüsse durch ihre Tätigkeit die Organisiertheit, also die Eigenschaft der Organisationen, bestimmen.3
1
2 3
Suzzi Vallis Hinweis auf die formalen Organisationsunterschiede zwischen der SA als einer „party militia" und dem Squadrismus als einer „militia party", die angeblich eine „essential difference" seien, reduziert den Begriff von Organisation auf eine alltagssprachliche Dimension. Suzzi Vallis Begriff von Organisation bleibt auf der oberflächlichen Ebene der offiziellen Beschlusslage und verstellt so die grundsätzliche Vergleichbarkeit der politischen Praxis von SA und Squadrismus. Zudem verwechselt sie das Verfahren des Vergleichs mit dem des Gleichsetzens (Suzzi Valli, Myth, S.133). Rudhard, Leonhard: Student und SA, in: Der SA-Mann Nr. 8 vom Oktober 1928 (Beilage des Völkischen Beobachters vom 28./29.19.1928). Türk, S.474-481; Giddens, Konstitution, S.l 11-116. Zum Problem der Handlungserklärung siehe Reckwitz, S.9I-I47.
Fragestellung
13
Vergleicht man die politische Praxis der Kampfbünde, so zeigt sich, dass sie auf das Engste mit der politischen Propaganda beider Bewegungen zusammenhingen und mit deren Organisationsgefuge verzahnt waren. Emilio Gentile spricht davon, dass die Verbindung zwischen squadrismo und faschistischer Partei „unauflöslich" gewesen sei, die PNF sei als eine besondere Ausformung einer „bewaffneten Partei" zu begreifen: als „milizionäre Partei". An anderer Stelle schreibt er, dass das „Wesen des Faschismus der Squadrismus" gewesen sei. Auch die klassische Studie von Adrian Lyttelton konstatiert für die Aufstiegsphase des italienischen Faschismus: Das militärische Element sei „perhaps the most important of all components of Fascism". Angelo Tasca pflichtet dem bei, indem er bemerkt, dass der Squadrismus die „wahre, einzig reale Kraft des Faschismus" gewesen sei, um später noch entschiedener zu urteilen: „Jeder Faschismus impliziert eine bewaffnete Organisation: ohne bewaffnete Organisation kein Faschismus". 4 In einer Denkschrift der Preußischen Polizei von 1932 wurde die SA, analog zum Urteil über den Squadrismus, als „Gerippe der NSDAP" und als „Kitt aller Teile der Partei" bezeichnet. Die SA war ohne Zweifel ein wichtiger Bestandteil der nationalsozialistischen Bewegung, die von Peter Longerich als eine gegenüber der NSDAP „weitgehend unabhängige" Formation bezeichnet wurde. Sie sei, so urteilt Longerich durchaus widersprüchlich, dennoch nur ein „Terror- und Propaganda/mirwwe«/" der Partei gewesen. 5 Tatsächlich war die Trennung von SA und NSDAP, wie Wolfgang Sauer zurecht betont hat, „mehr von personalpolitisch-taktischen Rücksichten als von prinzipiellen und funktionellen Gesichtspunkten bestimmt". 6 Sicherlich hat sich der politische, organisatorische und personelle Charakter der SA von ihrer Gründung im Jahre 1921 bis zum Jahr 1933 gewandelt. War die frühe SA bis zum Hitler-Putsch im Jahre 1923 sowie in den beiden Folgejahren unter der Bezeichnung „Frontbann" noch stark als Wehrverband gekennzeichnet, so rückte seit der Neugründung im Februar 1925 ihr Charakter als Parteitruppe in den Vordergrund. Die Beziehung der SA zur Partei wurde, trotz organisatorischer Eigenständigkeit, dennoch unauflöslich. In beiden Fällen ist unverkennbar, dass die Kampfbünde des Squadrismus und der SA den Gesamtbewegungen das Gepräge einer ebenso gewalttätigen wie dynamischen Bewegung verliehen. Durch sie wurde die Bewegung 4 5
6
Gentile, Problem, S.254; Gentile, Storia, S. 464, 534; Lyttelton, Seizure, S.48; Tasca, S.196, 382. Preußisches Polizeiinstitut (Hrsg.): Denkschrift über Kampfvorbereitungen und Kampfgrundsätze radikaler Organisationen (bearb. von Polizeimajor Ratcliffe), 82 Seiten [1932], in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Ministerium des Innern, Tit. 4043, Nr.311, fol. 318/319 (M); Longerich, Bataillone, S.7. Hervorhebung von S.R. Mathilde Jamin charakterisiert die SA als ,,militante[n] und terroristische[n] Arm der Partei" (Jamin, Zwischen den Klassen, S. 1). Vgl. Hom, Führerideologie, S.287. Sauer, Mobilmachung, S.850.
14
Einleitung
permanent in Schwung gehalten; sie sorgten für die ständige Präsenz der Bewegungen im öffentlichen Raum, also auf den Straßen und Plätzen. Beide Faschismen benutzten Aggression und Gewalt, um ihre politische Botschaft zu stützen, und gerade hierbei waren die Kampfbünde unentbehrlich. Die Sichtbarkeit der Kampfbündler, ihre Uniformierung mit Schwarz- und Braunhemd und ihre schiere Größe als Massenorganisation (im deutschen Fall stellte die SA die Hälfte der nationalsozialistischen Gesamtbewegung, im italienischen Fall waren zwischen der Hälfte und einem Drittel der Faschisten Squadristen) sorgten in der öffentlichen Meinung sogar für die Identifizierung der Kampfbünde mit der gesamten Bewegung. Der durch die Uniform und das geordnete Marschieren ausgelöste Eindruck einer militärähnlichen Disziplin bestimmte ebenso das Image des Faschismus wie die revolutionäre Pose, der antibürgerliche Affekt und der hasserfüllte Antikommunismus, die charakteristische Elemente der Bewegungen insgesamt waren, sich aber in den Kampfbünden besonders ausprägten. Die Kampfbünde bestimmten mithin Stil und Charakter von Nationalsozialismus und fascismo nach außen. Sie vermittelten das sensuelle Bild eines uniformierten Nationalismus, von dynamischer Jugendlichkeit, Männerdominanz und kompromissloser Gewaltsamkeit. Mihaly Vajda hat den engen Zusammenhang von faschistischer Bewegung und paramilitärischem Kampfbund wahrscheinlich am entschiedensten formuliert: „The character of the movement itself was determined not by the party but by the armed forms of organisation".7 Vier Elemente waren hierbei maßgebend: erstens die Größe als Massenorganisation, zweitens die auf Permanenz gestellten gewaltsamen Propaganda-Aktionen, drittens das Image, das von den Straßenkämpfern ausging, und viertens die Tatsache, dass die faschistischen Kampfbünde paramilitärische Organisationen waren, das heißt, dass die Armee für sie die Verkörperung und das Vorbild eigener Wünsche darstellte. Sie waren zur Erreichung eines vagen und zerstörerisch definierten politischen Zieles uniformiert, agitierten vor allem in der Politikarena der Straße und marschierten in der Öffentlichkeit auf, waren mit (wenn auch noch so primitiven) Waffen ausgestattet, bedienten sich einer militärähnlichen Disziplin und Organisationsstruktur mit einer hierfür typischen Gruppenmentalität und Hierarchieform, basierten auf einer freiwilligen Mitgliederrekrutierung, besaßen eine Massenmitgliedschaft, waren auf Aktivismus und Androhung von Gewalt ausgerichtet und auf Kampf und Tod eingestellt.8 Der Vergleich soll klären, warum zwei offenbar so ähnliche Organisationen in zwei so unterschiedlichen Ländern wie der agrarisch geprägten Siegermacht Italien und dem industriell entwickelten Kriegsverlierer Deutschland 7 8
Vajda, Mihaly: Fascism as a mass movement. New York 1976, S.42. Williams, S.139-151; Mauch, S.19. Vgl. Roghmann, Klaus/Ziegler, Rolf: Militärsoziologie, in: König, Rene (Hrsg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 9. 2., völlig neubearbeitete Aufl. Stuttgart 1977, S.156-185.
Fragestellung
15
entstehen konnten. Angesichts der unterschiedlichen gesellschaftlichen Ausgangslagen sollen die Ähnlichkeiten und Unterschiede beider Organisationen genauer bestimmt werden. Inwiefern glichen sie sich in ihren Aktionsformen, ihrer sozialen Zusammensetzung, ihrem Organisationsaufbau und ihrer politischen Rhetorik? Die Arbeit verfolgt auch das Ziel, den Begriff der faschistischen Bewegung anhand einer Analyse ihrer Kampfbünde zu bestimmen. 9 Dieser Untersuchung liegt eine diachrone Vergleichsperspektive zugrunde, da die beiden Endphasen des Aufstiegs der faschistischen Massenbewegungen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Der Squadrismus der Jahre 1921 und 1922 wird also mit der SA in den Jahren 1929 bis 1932 verglichen. Die faschistischen Bewegungen werden dadurch, wie Peter Merkl formuliert hat, auf „roughly equivalent stages of organizational growth" verglichen. 10 Die Wahl einer synchronen Vergleichsperspektive hätte die verstaatlichte „Milizia Volontaria per la Sicurezza Nazionale" (MVSN) des Jahres 1932 mit der nationalsozialistischen SA, die in diesem Jahr Teil einer nichtstaatlichen politischen Bewegung war, vergleichen müssen. Diese hatten sicher weniger miteinander gemein, als die squadristische Massenorganisation des Jahres 1921 mit der SA-Massenorganisation des Jahres 1932. Aufgrund der diachronen Vergleichsperspektive können die Kampfbünde in der Phase des Kampfes um die politische Macht betrachtet werden, in der sie sich in der ein oder anderen Weise mit dem legitimen Gewaltmonopol des Staates und seinen potentiellen Sanktionsmöglichkeiten auseinanderzusetzen hatten. Beide Kampfbünde suchten Gewalt und politische Werbung zu verbinden, strukturierten das politische Lager der Nationalisten immer stärker und dominierten in zunehmendem Maße die brutalisierten politischen Auseinandersetzungen. In beiden Fällen waren die Mitglieder der sozialistischen Arbeiterbewegung die Hauptgegner der faschistischen Straßenkämpfer. Schließlich waren beide Kampfbünde während der Aufstiegsphase des Faschismus außerstaatliche paramilitärische Organisationen, die sich in der letzten Phase vor der Machtübertragung erfolgreich um einen massenhaften Mitgliederzuwachs bemühten. Italien und Deutschland wurden als Vergleichsländer gewählt, weil hier die originären, massenwirksamen und ohne ausländische Unterstützung erfolgreichen faschistischen Bewegungen agierten, die die meisten anderen faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit beeinflußten. Italien und Deutschland waren die Kernländer des Faschismus. Der Vergleich der Gewalt 9
10
Nicht selten behaupten Historiker, dass die Chancen des Vergleichens vor allem in der Analyse von Unterschieden und historischen Eigenheiten, weniger jedoch in der von Gemeinsamkeiten läge. Dazu Christiane Eisenberg: Die Arbeiterbewegungen der Welt im Vergleich. Methodenkritische Bemerkungen zu einem Projekt des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam, in: AfS 34, 1994, S.397-410. Überzeugende Kritik bei Welskopp, S. 339-367. Siehe auch: Haupt/Kocka, S.l-45. Merkl, Comparing, S.753.
16
Einleitung
faschistischer Bewegungen dient daher auch zur Beantwortung der Frage, inwiefern und bis zu welchem Grad das Aufkommen faschistischer Gewalt an soziale, ökonomische, kulturelle und nationale Kontexte gebunden war. Italia docet? Zuvor muss aus methodischen Gründen die Frage geklärt werden, ob überhaupt distinkte Einheiten miteinander verglichen werden. Wenn die SA nämlich entscheidend durch den Squadrismus geprägt worden wäre, wäre ein systematischer Vergleich hinfallig. Die Untersuchung der beiden Organisationen hätte in einem solchen Falle vielmehr als Transfergeschichte zu erfolgen. Daher steht vor jedem systematischen Vergleich - dies ist seit 1889 in der ethnologischen Theoriediskussion als „Galtons Problem" bekannt - die Überprüfung der gegenseitigen Beeinflussung der Vergleichseinheiten. 11 Inwieweit wurde also die SA aufgrund ihres zeitlichen Nachzugs durch den italienischen Faschismus geprägt? Dass ein Transfer in ideologischer, logistisch-organisatorischer, taktischer oder militärischer Hinsicht nur in einer Richtung möglich war, ist aufgrund des zeitlichen Vorsprunges des italienischen Faschismus evident. In den bürgerlichen Kreisen herrschte zur Zeit der Weimarer Republik ein „philofaschistisches Meinungsklima" (Wolfgang Schieder) vor. Auch die Nationalsozialisten betrachteten das „italienische Experiment" zweifellos als Vorbild. Hitler bezeichnete Mussolini in seinen Reden und Schriften mit Bewunderung als „überragendes Genie", „tatkräftigen Diktator", als Idol, „dessen glühender Freund ich bleibe", „großen Italiener" oder „überragenden Staatsmann". Die charismatische Ausstrahlung Mussolinis faszinierte die Nationalsozialisten ebenso wie der politische Stil und die Staatsidee des Faschismus. Daher war es nur folgerichtig, dass sich nach dem durchschlagenden Wahlerfolg vom September 1930 die Beziehungen der NSDAP-Führungsclique zu den faschistischen Machthabern in Italien verdichteten. 12 Schon Hitler erkannte einige Gemeinsamkeiten zwischen SA und Squadrismus, wenngleich er betonte, dass die SA „keine Nachahmung der Schwarzhemden-Truppen" sei. 13 In der SA selbst unterstrich man vor allem, wie vorbildlich doch sei, was die italienischen Kameraden mit purer Gewalt 11
Kleinschmidt, S.5-22. Dort die Literaturangaben zur ethnologischen Theoriedebatte.
12
Schieder, Italienisches Experiment, S.78-108; RSA, Bd. I, S.270, 327; RSA, Bd. II, Teil 1, S.267/268; RSA, Bd. II, Teil 2, S.845/846; RSA, Bd. II A, S.142; RSA, Bd. IV, Teil I, S.66, 75; RSA, Bd. IV, Teil 2, S.145; RSA, Bd. IV, Teil 3, S . U 4 ; Woller, Kalkül, S.42-63; Woller, Rom, S . 1 4 M 4 7 .
13
RSA, Bd. IV, Teil 2, S.116-I18; Wagener, S.243. Der Autor plant einen eigenständigen Aufsatz zum Komplex der Rezeptions- und Beziehungsgeschichte zwischen SA und Squadrismus, in dem ausfuhrlicher auf die Thematik des Transfers eingegangen wird.
Fragestellung
17
erreicht hatten: „Die brutale Gewalt der Faust brach das Widerspruchsgeschrei der internationalen Dunkelmänner und verschaffte den Argumenten des Geistes Gehör. Gewalt? Ja! Hundertmal ja, es geht um das Leben einer Nation". 14 Zwar bewunderte man den werbenden Erfolg der Gewaltanwendung, zu wirklich fruchtbaren Kooperationen kam es jedoch nicht. Der SA-Stabschef Emst Röhm stand in nur losem Kontakt mit Giuseppe Renzetti, dem Präsidenten der italienischen Handelskammer und wichtigsten Verbindungsmann Mussolinis in Deutschland. Erst seit Mitte 1931 veranstaltete die SA-Reichsfuhrerschule „Studienfahrten" nach Italien. Die SA-Führer sollten sich dort einen Überblick über die Ausbildung und Ausrüstung der italienischen Formationen verschaffen. Mit militärtechnischen Einrichtungen der italienischen Miliz durften sich die SA-Gäste jedoch nicht befassen. 15 Daneben unternahmen viele einfache SA-Leute urlaubsähnliche Fahrten zu den siegreichen italienischen Kameraden - meist ohne Genehmigung der NSDAP- und SA-Leitung. Die finanziell oft schlecht gestellten SA-Männer streiften dann vor den italienischen Milizkasernen ihr Braunhemd über und bettelten regelrecht um kostenlose Unterkunft und Verpflegung - sehr zum Ärger des Reichsorganisationsleiters Gregor Strasser und des SA-Stabschefs Ernst Röhm. 1 6 Insgesamt unterhielt die SA erst seit 1930 intensivere Kontakte zur faschistischen MVSN. Zu diesem Zeitpunkt waren jedoch die Grundzüge des organisatorischen Aufbaus der SA bereits abgeschlossen. Der direkte beziehungshistorische Einfluss Italiens auf Aufbau und Charakter der SA-Organisation war eher geringfügig, so dass beide Organisationen durchaus als distinkte Vergleichseinheiten behandelt werden können. Rezeptionshistorisch wurde der italienische Faschismus hingegen, wie vor allem die Fahrten der SA-Männer nach Italien, aber auch Hitlers Äußerungen deutlich machen, als leuchtendes Vorbild betrachtet. Dabei spielten machtpolitische Fragen eine entscheidende Rolle, denn der NS-Bewegung wurde durch den faschistischen Erfolg in Italien, dadurch, dass man „das machen kann", wie Hitler formulierte, eine enorme Schubkraft gegeben.
P.S. Schwert: Mussolini, in: Der SA-Mann Nr. 40, Beilage des Völkischen Beobachter Nr. 273 vom 24./25.11.1929. 15
Bericht des OP Koblenz vom 29.8.1931, in: GStA PK, I. HA., Rep. 77, Ministerium des Innern, Tit. 4034, Nr. 295a, fol.5 (M); Carl von Schubert, deutscher Botschafter in Rom, an das Auswärtige Amt in Berlin vom 21.10.1931, in: ebd., fol.7-10. Siehe auch Hoepke, S.320/321 und den als Dokument (ebd., S.328/329) abgedruckten Brief Reupkes an Emst Röhm.
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Anordnung des Reichsorganisationsleiters Gregor Strasser im Verordnungsblatt der Reichsleitung der N.S.D.A.P. Nr. 17 vom 15.2.1932, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr. 6810, fol. 25; Anordnung des SA-Stabschefs Ernst Röhm an die SA-Leitung vom 20.10.1932, betrifft: Reisen ins Ausland, in: BAB (ehem. BÄK), Sammlung Schumacher, Ordner 415, ohne fol.
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Einleitung
Aufbau der Arbeit Im Folgenden werden Konzeption, Praxis und Bedeutung der faschistischen Kampfbünde in vier aufeinander aufbauenden Kapiteln dargestellt. Im zweiten Kapitel werden zunächst Ausmaß und Form der Gewalthandlungen der faschistischen Kampfbundmitglieder sowie die durch Staat und Partei gesetzten Handlungsspielräume ihrer Gewaltpraxis analysiert. Denn bevor nach Erklärungen für die politische Gewalt der faschistischen Straßenkämpfer gesucht werden kann, soll das Ausmaß und die Form, in der sich diese Gewalt ausdrückte, dargestellt und analysiert werden. In den darauffolgenden drei Kapiteln - in denen die faschistischen Akteure im Mittelpunkt der Untersuchung stehen - sollen soziale, organisatorische, politische und kulturelle Ursachen für die Mitgliedschaft in den gewalttätigen Kampfbünden analysiert werden. Im dritten Kapitel geht es darum, soziale Motive für den Beitritt zu den Kampfbünden zu ermitteln, indem nach den Wachstumsphasen und Hochburgen der Kampfbünde, nach den sozialen Schichten, aus denen sich beide Kampfbünde rekrutierten, den maßgeblichen Lebenserfahrungen sowie den generationsspezifischen Hintergründen der Mitglieder gefragt wird. Das vierte Kapitel befasst sich dann mit der internen Organisationskultur der faschistischen Kampfbünde. Dabei wird vor allem der Frage nachgegangen, ob durch die organisatorische Einbindung gewaltsames Handeln erzeugt und verstärkt werden konnte. Es geht um den Charakter des organisationsinternen Alltagslebens und den hier maßgeblichen Beziehungsmustern, um die informellen Treffpunkte der Kampfbünde und um die Frage, wie in den faschistischen Freiwilligenverbänden Gefolgschaft erzielt werden konnte. Die Untersuchung der Organisationsstruktur und der Vergemeinschaftungspraxen der faschistischen Kampfbünde fragt somit nach der gemeinsam geteilten symbolischen Bedeutungsebene der Handlungen, durch die sich ihre Akteure als soziale Typen untereinander erkannten und aufeinander bezogen. Es gilt hierbei das Organisationsschema freizulegen, das die verdichtete soziale Kommunikation und Nähe der Mitglieder zueinander regelte und ihren Akteuren Verhaltenssicherheit bot. Es geht also nicht nur um die Kennzeichnung der Art und Weise des Denkens und Deutens der Mitglieder, sondern es wird umfassender nach ihrer Lebenswelt gefragt: von der Tagesstrukturierung bis zu den Verhaltensmustern und Lebensrhythmen. Am Ende dieses Kapitels wird danach gefragt, inwieweit die Organisationspraxis der SA durch den kommunistischen Gegner beeinflusst wurde und welches Ausmaß beziehungsweise welche Bedeutung der personelle Austausch mit den Kommunisten hatte. Daran anknüpfend werden systematisch die wichtigsten Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den faschistischen und kommunistischen Kampfbünden skizziert. Das fünfte Kapitel schließlich widmet sich einer doppelten Frage: einerseits der Verbindung der drei wichtigsten politischen Haltungen der Kampfbundmitglieder - ihrem Nationalismus, ihren
Fragestellung
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Feindbildern und ihrem Männlichkeitsbild - zu ihren gewaltsamen Aktionsformen und Ritualen. Andererseits wird nach der Vergleichbarkeit dieser politischen Haltungen mit denen anderer politischer Kräfte gefragt. Im Schlusskapitel werden die wichtigsten Merkmale der beiden faschistischen Kampfbünde zusammengefasst und anschließend mit dem Begriff der faschistischen Bewegung verbunden.
1.2 Vergleichskonzept und zentrale Begriffe 1.2.1 Faschismus als propagandistische Praxis und soziale Bewegung Bei der folgenden Bestimmung des Faschismusbegriffes geht es nicht um den Entwurf zu einer Gesellschaftstheorie des Faschismus, sondern vielmehr um begriffliche Vorüberlegungen für eine möglichst exakte empirische, aber gleichwohl theoriegeleitete Analyse der italienischen squadre d'azione und der deutschen SA. Es wird also nicht darum gehen, nochmals den gesamten Stand der Faschismusdebatte seit den zwanziger Jahren zu rekapitulieren,17 sondern die in unserem Zusammenhang wichtigsten Lücken und Schwächen der theoretischen Literatur knapp zu benennen und ein neues heuristisches Modell des Faschismus zu entwerfen. In den siebziger Jahren erlebte die Faschismusforschung, nach ihrer ersten Hochphase während der zwanziger bis vierziger Jahre, eine spürbare Renaissance. Angestoßen durch außerwissenschaftliche Entwicklungen insbesondere in der Studentenbewegung - standen damals vor allem die ökonomischen und sozialen Funktionen des Faschismus und in einigen Fällen auch seine Definition als Resultat und Endstufe einer Spezialform des krisengeschüttelten Kapitalismus im Zentrum der Debatte. 18 Diese Einengung der 17
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Einen guten Literaturüberblick bieten: Wippermann, Faschismustheorien; Saage, Faschismustheorien; Collotti, Fascismo, S. 171-210; Griffin, Nature; Gentile, Fascismo, S.196-199. Ältere, aber immer noch nützliche Einfuhrungen: De Feiice, lnterpretazioni; Casucci, Costanzo (Hrsg.): lnterpretazioni del fascismo. Bologna 1982; Schieder, Faschismus [1968], Sp. 438-477; Saccomani, Edda: Le interpretazioni sociologiche del fascismo. Turin 1977. Die schwächste Deutungsversion dieser neomarxistisch dominierten Diskussion war die Dimitroff-Formel aus dem Jahre 1935, wonach der Faschismus die „offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen und am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" gewesen sei. Die Formel wurde im Kern schon 1924 entwickelt und auf dem VII. Weltkongress der Komintern von Georgi Dimitroff ausdrücklich sanktioniert. Dimitroff, Georgi: Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampf fiir die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus, in: Pieck, Wilhelm/Dimitroff, Georgi/Togliatti, Palmiro: Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunisten im Kampf für die
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Einleitung
Fragestellung und die Empiriearmut der Beiträge führten allmählich zu einer Krise der Faschismustheorie, die spätestens in den achtziger Jahren spürbar wurde. 19 Insbesondere in Deutschland verhinderten diese häufig ökonomistisch verengten und vergleichsarmen Interpretationen die Durchsetzung eines modernen, auf dem Stand der empirischen Einzelforschung fußenden, innovativen Faschismusbegriffes. Hier wurde die Faschismustheorie fast ausschließlich am Beispiel des Nationalsozialismus exemplifiziert, so dass die unterschiedliche Stärke des Faschismus in entwickelten kapitalistischen Ländern (etwa Deutschland versus Großbritannien) und seine Ausprägungen in stärker agrarisch strukturierten Ländern wie in Italien oder in Ostmitteleuropa keine Berücksichtigung fand. Die Diskussion, die sich zunehmend dogmatisch verhärtete, konzentrierte sich auf die Frage, ob der Faschismus im „Klassengleichgewicht" einen eigenständigen Machtfaktor darstellte oder ob die Faschisten nur „Marionetten des Kapitals" waren (Bonapartismustheorie versus Agententheorie). Man diskutierte darüber, welche Unternehmergruppen am stärksten von der NS-Herrschaft profitierten und welche Bedeutung die finanziellen Zuwendungen aus bürgerlichen Kreisen fur den Aufstieg des Faschismus hatten. Gleichgewichtig vergleichende, typologisch differenzierte, handlungsoder kulturtheoretisch orientierte Ansätze spielten in der Faschismustheorie kaum eine Rolle. 20 Dies änderte sich auch in den achtziger Jahren nicht, die eher durch einen Rückzug in empirische Einzelforschungen (insbesondere über die soziale Basis des Nationalsozialismus) als durch neue theoretische Debatten zum Faschismusbegriff gekennzeichnet waren. Hans-Gerd Jaschke sprach für diese Zeit sogar von einem „theorielosen Empirismus" und einem Abrutschen in „marginale Fragestellungen" der Faschismusforschung. Die Schwächen des nach wie vor ökonomistisch wie funktionalistisch verengten Faschismusbegriffes trugen dazu bei, dass nach 1989 - vor allem durch den Vergleich mit der DDR als „zweiter deutscher Diktatur" - eine Revitalisierung des Totalita-
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Volksfront gegen Krieg und Faschismus. Referate auf dem VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale (1935). Berlin 1960, S.87. Vgl. dazu Wippermann, Faschismustheorien, S.l 1-28, 58-65. Mason, S.323-331; Priester, S.655-658. Zur Politisierung der Faschismustheorie: Saage, Richard: Vorwort zur Neuauflage. Zwanzig Jahre danach: „Faschismustheorien" und ihre Kritiker, in: Ders.: Faschismustheorien, S.7-18. Siehe dazu die Kritik von Winkler, Heinrich August: Die „Neue Linke" und der Faschismus, in: Ders.: Revolution, S. 65-117. Vgl. als von den kommunistischen Deutungen beeinflußte Darstellungen: Kühnl, Faschismustheorien. Als Überblick zur ostdeutschen Faschismusforschung: Thamer, Hans-Ulrich: Nationalsozialismus und Faschismus in der DDR-Historiographie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 13, 1987, S.27-37; Roth, KarlHeinz: Historiographie der DDR und Probleme der Faschismusforschung, in: Röhr, Werner (Hrsg.): Faschismus und Rassismus. Kontroversen um Ideologie und Opfer. Berlin 1992, S.228-238.
Vergleichskonzept
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rismusmodells einsetzte. Dadurch drohen jedoch die spezifisch faschistischen Ursprünge des Nationalsozialismus in den Hintergrund zu treten. Dagegen soll hier an die faschistische Aufstiegsphase des Nationalsozialismus erinnert werden, die keine Entsprechung in der Vorgeschichte der DDR und der kommunistischen Regime findet. 21 Im anglo-amerikanischen Raum stellen die Arbeiten zum Faschismus ein nach wie vor wichtiges Forschungsfeld dar. Gerade in den neunziger Jahren erschienen viele innovative Monographien und Aufsätze, die sich mit dem europäischen Faschismus in theoretischer Absicht auseinandersetzen. Diese Beiträge wurden jedoch von der deutschen Geschichtswissenschaft fast völlig ignoriert, was Roger Griffin, einen der innovativsten Faschismustheoretiker, zurecht dazu veranlaßte, sich selbst als „outsider" gegenüber „the seeminly hermetic, partisan, and highly politicized world of German humanities" zu bezeichnen. Dabei wurden in der neueren angloamerikanischen Debatte vielversprechende kulturhistorisch inspirierte Analysen des Faschismus vorgelegt. Der Faschismus wird weniger von seiner sozialen Zusammensetzung her begriffen oder als Endstufe des Kapitalismus eingeschätzt, sondern als eine durch Mentalität, organisatorische Praxis und politische Verhaltensmodi bestimmte Bewegung gekennzeichnet. Die symbolischen Elemente des Faschismus, sein durch Charismagläubigkeit bestimmter politischer Stil, seine Rituale und Ästhetiken rücken damit in das Zentrum der Analyse. 22 In Teilen schließt die anglo-amerikanische Forschung damit wieder an die frühe Faschismusdeutung von Ernst Nolte an, 2 3 der in den sechziger Jahren unter dem Faschismus einen Epochenbegriff verstand, der es erlaube, ein gesamteuropäisches Phänomen der Zwischenkriegszeit zu analysieren. Faschismus ist für Nolte eine radikale „revolutionäre Reaktion" gegen den vorgängigen Marxismus und Kommunismus. Die Nähe zum Gegner zeigt sich in der paradoxen Ausbildung einer „radikal entgegengesetzten" und zugleich „benachbarten" Ideologie sowie der „Anwendung von nahezu identischen und
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Jaschke, Soziale Basis [1991], S.21. Zur Totalitarismusforschung: Möller, Horst: Sind nationalsozialistische und kommunistische Diktaturen vergleichbar?, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien Nr.2, 1994, S.9-19. Wesentlich überzeugender: Lepsius, Rainer M.: Plädoyer für eine Soziologisierung der beiden deutschen Diktaturen, in: Jansen, Christian/Niethammer, Lutz/Weisbrod, Bernd (Hrsg.): Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin 1995, S.609-615. Interessante neue Ansätze zum Totalitarismusbegriff in: Maier (Hrsg.), 'Totalitarismus'; Söllner/Walkenhaus/Wieland (Hrsg.), Totalitarismus und diverse Aufsätze in der Zeitschrift „Mittelweg 36" des Hamburger Instituts für Sozialforschung.
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Griffin, 'Racism', S.300-303. Für die Forschung der neunziger Jahre Reichardt, Sven: Was mit dem Faschismus passiert ist. Ein Literaturbericht zur internationalen Faschismusforschung, in: Neue Politische Literatur 49, 2004, S. 385-406; Griffin, Nature, S.26-52; Payne, History, S.3-19; Mosse, Fascist Revolution, S.XI, 4; Gentile. Fascismo, S.196-199; Berezin; Falasca-Zamponi.. Etwa Payne, History, S.5, der sich in defmitorischer Absicht auf Nolte bezieht.
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Einleitung
doch charakteristisch umgeprägten Methoden". Im Unterschied zu den Kommunisten und Sozialisten stritten die Faschisten auf dem Boden des krisengeschüttelten „liberalen Systems" fur „nationale Selbstverwaltung". Wie die antikapitalistischen Elemente faschistischer Politik sei auch das nationale Prinzip durch Proklamationen supranationaler kontinentaler Rasseordnungen konterkariert gewesen. Auch die Haltung gegenüber seinem Bundesgenossen, dem Bürgertum, das er vor dem Kommunismus mit Mitteln beschütze, die dem bürgerlichen Denk- und Lebensstil fremd seien, werde dadurch durchkreuzt, dass der Faschismus gleichzeitig versuche, das Bürgertum zu unterjochen. Solch ambivalente Verhältnisse durchzögen alle Faschismen. In Noltes Feindifferenzierung wird vor allem zwischen dem italienischen „Normalfaschismus" und dem deutschen „Radikalfaschismus" unterschieden. Im italienischen Faschismus, so lautet eine interessante Differenzierung, sei die „Praxis die Prämisse des Gedankens", während im Nationalsozialismus die „Praxis die Vollendung des Gedankens" sei. 24 Ein praxeologischer
Faschismusbegriff
Der in dieser Arbeit zugrundegelegte Faschismusbegriff stellt eine eigene praxeologische Analyse der faschistischen Bewegung vor, die nicht an die marxistische Deutung und nur selektiv an die neusten angloamerikanischen Arbeiten und Noltes Definition anknüpft. 25 Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass es keine fest umrissene faschistische Ideologie gab, sofern man unter 'Ideologie' einen umfassenden Gesellschaftsentwurf versteht, der die Gesamtheit des Wirklichen in systematischer Weise in einem geschlossen-kognitiven Lehrgebäude zu erfassen sucht. Mit Ideologie sollen hier die letztbegründeten Interpretationen der Welt bezeichnet werden, die mit dem Ziel entworfen wurden, die Welt nach spezifischen
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Nolte, Faschismus, S.49-58 (dort auch die Zitate); Nolte, Krise, S.86-89. Selbstverständlich sind Noltes Unterscheidungen verschiedener Formen des Faschismus wesentlich reichhaltiger. Das Selbstverständnis der faschistischen Akteure und die Haltung und zu Tradition, Geschichte, Praxis und das System bildet für Nolte das Fundament seiner Typologiebildung. Grundvoraussetzungen sind die Vorliebe für Uniformen, die Neigung zum Führerprinzip und die Sympathie für Mussolini oder Hitler. Wenn nur einzelne dieser Elemente vorhanden sind, so Nolte, solle von Philo- oder Halbfaschismus gesprochen werden. Wo bei einer Partei mit andersartigen Wurzeln ein einzelnes dieser Elemente hervortritt (etwa eine bewaffnete Parteiarmee) sei die Bezeichnung Pseudofaschismus angebracht. Wo alle wesentlichen Momente nur in Ansätzen vorhanden sind spricht Nolte von Protofaschismus. Zur Kritik vgl. Schieder, Wolfgang: Zeitgeschichtliche Kontroversen. Über Emst Nolte und Renzo De Feiice, in: Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento XVII, 1991, S.359-376.
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Für eine praxeologische Definition des Faschismus plädiert auch Schieder, Faschismus [1994], S.183.
Vergleichskonzept
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Ordnungsprinzipien zu deuten und zu gestalten. 26 Es gab keine faschistische Ideologie, die den Kriterien von Systematik, Widerspruchsfreiheit und Präzision Genüge getan hätte. Die gravierenden Defizite an logischer Stringenz und die Gleichgültigkeit der faschistischen Weltinterpretationen gegenüber der faktischen sozialen Entwicklung sind nicht zu übersehen. Eine ideologische Verortung der faschistischen Bewegungen scheint angesichts unterschiedlichster Traditionen, innerer Widersprüche, mangelnder Kohärenz und der Wandelbarkeit der Bewegungen eher zur Verwirrung beizutragen. Solche Versuche der Bestimmung ideologischer Traditionen und Gemeinsamkeiten enden letztlich darin, zuzugestehen, dass dem Faschismus kein konsistenter ideologischer Kern zugesprochen werden kann. Die einzelnen Elemente standen in gedanklicher Hinsicht nicht in einem zwingenden ideologischen Zusammenhang und waren jeweils für sich genommen auch Bestandteile in den Ideologien der autoritären Rechten oder der Kommunisten. Die einzelnen Ideen der Faschisten waren flexibel genug, um je nach Opportunität innerhalb eines weiter gefassten Möglichkeitsspektrums aktualisiert und verändert werden zu können. „Jede Äußerung", schrieb schon Franz Leopold Neumann in bezug auf den Nationalsozialismus, „entspringt einer unmittelbaren Situation und wird verworfen, sobald die Situation sich ändert". Der Nationalsozialismus besitze zwar „gewisse magische Überzeugungen" wie den „Führerkult [und die] Oberherrschaft der Herrenrasse", sei aber „nicht in einer Reihe von begrifflich bestimmen Lehrsätzen festgelegt". 27 Der wichtigste Vertreter einer ideengeschichtlichen Bestimmung des Faschismus ist der israelische Politologe Zeev Sternhell. So groß seine Verdienste sind, die kulturelle Struktur, den Satz von Negationen, der um die Jahrhundertwende sukzessive entwickelt wurde und der auf den Faschismus einwirkte, freigelegt zu haben: Zur Definition des Faschismus taugen Verweise allein auf Paretos und Moscas Elitismus, Vacher de Lapouges rassistischer Anthropologie, Gustave Le Bons Sozialpsychologie oder Sorels Mythentheorie jedoch nicht. Sein Faschismusbegriff umfasst fast alles, was einerseits dem Liberalismus, Individualismus und der Demokratie absagte und andererseits aus einer antimaterialistischen Revision des Marxismus hervorging. Die durch die Industrialisierung und Urbanisierung in das Blickfeld der Politik gebrachte Massengesellschaft, die Krise des Liberalismus um die Jahrhundertwende - kurz: Der Wandel der politischen Kultur in dieser Zeit hat sicher einige Grundlagen für den Faschismus gelegt. Die Gleichsetzung der inkohärenten kulturellen
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Zu diesem Ideologiebegriff siehe: Lenk, Kurt: IdeologiebegrifFe, in: Mickel, Wolfgang W. (Hrsg.): Handlexikon zur Politikwissenschaft. Bonn 1986, S.207-211; Mai, Gunter: Europa 1918-1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen. Stuttgart/Berlin/Köln 2001, S.245. Roger Griffin fasst seinen Ideologiebegriff hingegen deutlich weiter (Griffin, Nature, S.17). Neumann, Behemoth, S.65, 67.
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Einleitung
Ursprünge des Faschismus mit einem angeblich ideologischen Programm fuhrt jedoch zu einer monokausalen ideengeschichtlichen Vereinfachung. Dadurch wird vor allem der gesamte Bereich der Praxis und der Handlungsebene ignoriert. Die faschistischen Akteure werden letztlich zu Marionetten einer kulturellen Struktur gemacht. Allein der Vergleich mit England und der mitgliederschwachen British Union of Fascists Oswald Mosleys zeigt die Grenzen eines rein ideengeschichtlichen Ansatzes, denn schließlich huldigten auch in England Wyndham Lewis, Ezra Pound und Thomas Ernest Hulme mit ihren Frontalangriffen gegen Dekadenz, Humanismus, Akademismus und allgemeiner Schlappheit einem Kult der Energie. Obwohl diese Denker nach Sternhell einen „entscheidenden Einfluß [...] auf die Kultur des 20. Jahrhunderts ausübten", blieb der englische Faschismus als politische Bewegung schwach. Es reicht mithin nicht aus, auf die durch den Kult um die Gewalt und die direkte Aktion bewirkte kulturelle und moralische Revolte vor dem Ersten Weltkrieg hinzuweisen, um den Faschismus zu verstehen. 28 Anstatt von einer faschistischen Ideologie sollte man besser von faschistischen Sinnsystemen oder einem faschistischen „Weltanschauungsfeld" (Hockerts) sprechen. Hierbei geht es darum, die Praxis der Faschisten in unmittelbarem Zusammenhang mit ihren Sinnmustern und politischen Interpretationen zu begreifen. Es geht nicht um eine eindimensionale Kausalbeziehung zwischen Wissen und Handeln, sondern um die im Lebensstil zum Ausdruck kommenden rebellischen Antihaltungen oder den durch politische Mythen und Repräsentationsästhetiken verstärkten utopistischen Glauben. Es ging hier um den Aufbau einer im Alltag handhabbaren Denkweise, der es nicht um theoretische Erkenntnis-, sondern um praktische Handlungsinteressen zu tun war. Den Faschisten ging es nicht um Erklärung, sondern um Rechtfertigung. Es ging nicht um Diagnose, sondern um Denunziation. Es reichte schon der Schein von Kohärenz, Klarheit und Konsistenz, der etwa in der emotionalen Entschiedenheit und dem Glauben an einen Führer zum Ausdruck kam. Es war typisch für den Faschismus, dass Programme durch Personen ersetzt wurden. 29 Auch der Versuch, ein gemeinsames soziales Substrat des Faschismus vergleichend zu bestimmen, ist seit den siebziger Jahren nicht entscheidend vorangekommen. 30 Es erklärt immer noch einiges den Nationalsozialismus als stärker mittelständisch geprägte Bewegung mit - aus Befürchtungen vor so28
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Sternhell, Entstehung, passim (Zitat: S.304). Das Buch erschien zuerst auf französisch im Jahre 1989. Zur Kritik siehe: Costa Pinto, S.476-480; Wohl, S.91-98; Roberts, How not to Think, S. 185-211; Sven Reichardt (Rezension), in: ZfG 48, 2000, S. 1050-1052. Vgl. methodisch Reckwitz, S.564-581. Inhaltlich: Diskussionsbeitrag Linz, in: Maier (Hrsg.), 'Totalitarismus', S.169; Griffin, Nature, S.26/27; Hockerts, S. 57. Dazu nur Linz, Some Notes, S.36-100 (mit der wichtigsten sozialhistorischen Literatur); Borejsza, S. 149-152; Jaschke, Soziale Basis, S. 18-49. Klassische Vorlage (ohne Vergleichsaspekte) ist immer noch: Geiger, Panik, S.637-653.
Vergleichskonzept
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zialem Abstieg begründeten - antiproletarischen Reflexen zu begreifen. Aber im Vergleich mit anderen Ländern, auch und gerade mit dem italienischen Ursprungsland, wird die These von einem gemeinsamen sozialen Substrat des Faschismus äußerst problematisch, da sich etwa in Italien auch der aufsteigende Mittelstand in der faschistischen Bewegung engagierte. Alle Mittelstandsbewegungen, die sich in krisengeschüttelten Demokratien entwickelten und antiproletarische Reflexe aufbauten, als faschistisch zu bezeichnen, wirkt wie ein blutleeres Begriffsspiel. Eine so strikte Trennung der Faschismustheorie von seinem Erscheinungsbild in der politischen Praxis wie auch von seinem historischen Namensgeber in Italien wäre kaum zu vermitteln. Die hier vorgenommene praxeologische Definition faschistischer Bewegungen orientiert sich an einer Selbstaussage Mussolinis. Auf dem faschistischen Kongress in Florenz vom Oktober 1919 verkündete er: „Wir Faschisten haben keine vorgefaßte Doktrin, unsere Doktrin ist die Tat". 31 Faschist zu sein war in erster Linie ein aus der Aktion geborener Erfahrungswert. Mit einer praxeologischen Bestimmung ist gemeint, dass die faschistischen Bewegungen anhand ihrer politischen Aktionen, ihres politischen Stils und ihrer Organisationspraxis definiert werden können. Personen rangierten im Faschismus vor Programmen und Habitus vor ideologischer Stringenz. Noch im Februar 1933 betonte dies auch Reichsinnenminister Wilhelm Frick: „Wenn man sagt, wir hätten kein Programm, so ist doch der Name Hitler Programm genug. Das Entscheidende ist der Wille und die Kraft zur Tat". 3 2 Dabei ist die Hypothese erkenntnisleitend, dass der Faschismus nicht essentialistisch von seinem 'Wesen' (Walter Laqueur) oder seiner 'Natur' (Roger Griffin) her, sondern nur genetisch-historisch und kontextbezogen begriffen werden kann. Faschismus wird vornehmlich als politische Handlung und als politisch-kultureller Ausdruck analysiert, in physischer, ästhetischer, semiotischer und sozialer Hinsicht. Dabei war für den Faschismus kennzeichnend, dass er die Zweck-Mittel-Relation des politischen Handelns umkehrte. 33 Damit unterscheidet sich die praxeologische Definition von einer Definition des Faschismus als programmatischer Ideologie. Während zum Beispiel Ernst Nolte antikommunistische Einstellungen in das Zentrum faschistischer Politik stellt, so ist es nach unserem Verständnis die gewalttätige Praxis gegen die Kommunisten, die spezifisch faschistisch ist. Auch die antiliberale und
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Mussolinis Rede am 9.10.1919 ist auszugsweise abgedruckt in: Chiurco. Storia, B d . l , S. 198-200, Zitat S.199. Die vollständige Rede in: Mussolini, Discorsi politici, S.81/82. In der deutschen Übersetzung fehlt dieser Satz: Mussolini, Schriften, Bd.2, S.28-34. Frankfurter Zeitung vom 21.2.1933, zitiert nach Broszat, Staat Hitlers, S.97. Zur Kritik am Essentialismus siehe Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt am Main 1992, bes. S.305.
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Einleitung
antiindividualistische Grundhaltung wurde erst durch die organisationsvermittelte Umsetzung, Verinnerlichung und handlungsrelevante Einverleibung dieser Einstellung zu einer bestimmten Form von politischer Praxis und somit zu einem faschistischen Spezifikum. Die praxeologische Definition mündet in dem Versuch, der dialektischen Verschränkung von Praxis und Struktur des Faschismus nachzugehen, wobei mit Anthony Giddens von einem dualistischen Konzept von Handlung und Struktur oder von der handlungsbezogenen „Strukturiertheit von Strukturen" ausgegangen wird. Konkret ist hiermit die strukturbildende Kraft routinisierter (und damit oft symbolisch-ritualisierter) Handlungen gemeint: „Die Stabilität institutioneller Formen existiert nicht trotz oder außerhalb der Begegnungen des Alltagslebens, sondern sie ist gerade in diese Begegnungen einbegriffen''''. Mit dem Verständnis von der dynamischen Dualität von Strukturen wird bei Giddens der doppelte Aspekt von Handlungsrestriktion und Handlungsermöglichung analysiert.34 Auf diese Art und Weise soll ein spezifisch faschistischer Habitus im Sinne Bourdieus bestimmt werden. Dieser Habitus legt als Operator zwischen Struktur und Praxis die Denk- und Beurteilungsschemata der faschistischen Akteure frei. Er leitet zu Praxisstrategien an und gewährleistet die praktische Reproduktion der Struktur. 35 Wenn in neuster Zeit zurecht an der älteren Totalitarismustheorie kritisiert wird, sie sei zu statisch, um die Dynamik und Wandelbarkeit der totalitären Regime zu erfassen, so muss gleiches an der älteren Faschismustheorie kritisiert werden, die ebenfalls einen statischen Merkmalskatalog zur Bestimmung des Faschismus entworfen hat. 36 Auch eine Analyse des Faschismus nach den für ihn typischen Verhaltens- und Handlungsmustern wird vor allzu groben Verallgemeinerungen Abstand nehmen müssen. Es gilt einen differenzierten Idealtypus des Faschismus zu entwerfen, der erstens verschiedene Entwicklungsstufen des Faschismus voneinander zu unterscheiden vermag und zweitens den Faschismus als Epochenbegriff kenntlich macht. Im Folgenden sollen die wichtigsten Wandlungsstufen des Faschismus skizziert werden (1), um danach auf die historische Zeit und den historischen Ort des Faschismus zu sprechen zu kommen (2). Abschließend wird ein Idealtypus faschistischer Bewegungen entworfen, der das erkenntnisleitende Konzept dieser Arbeit darstellt (3).
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Giddens, Konstitution, S.51-90, 121 (Zitat, Kursivierung im Original). Siehe dazu: Welskopp, Thomas: Der Mensch und die Verhältnisse. „Handeln" und „Struktur" bei Max Weber und Anthony Giddens, in: Mergel, Thomas/Welskopp, Thomas (Hrsg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte. München 1997, S.39-70. Zum Habituskonzept: Bourdieu, Sozialer Sinn, S.97-121. Vgl. Reichardt, Bourdieu, S.7375. So der Merkmalskatalog in: Payne, Fascism, S.7; Payne, History, S.7; Gentile, Fascismo, S.198; Wirsching, Weltkrieg, S.511.
Vergleichskonzept
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Wandlungsfähigkeit des Faschismus Der Faschismus war keine statische Erscheinung. Im Gegenteil: Im Faschismus zeigt sich ein enormes Wandlungs- und Entwicklungspotential, dass nicht schon in den Anfangen der faschistischen Bewegungen zu erkennen war. Um die unterschiedlichen Phasen des Faschismus deutlich zu machen, wird im Folgenden ein Stufenmodell des Faschismus vorgeschlagen, in dem drei Phasen unterschieden werden: die Bewegungsphase, die Konsolidierungs- und die Regimephase. 37 Insbesondere in seiner Bewegungsphase wies der Faschismus in Italien und Deutschland vielerlei Ähnlichkeiten in Teilen der Ideologie, den Propagandaformen, der Organisationsstruktur, im Militarismus und in der Gewaltpraxis auf. In dieser Phase waren die Faschismen durch ihre Gegenstellung zu den klassischen Parteien gekennzeichnet. Sie selbst traten als ein bestimmter Typus von sozialer Bewegung auf, die durch ihre Gewaltpropaganda in Opposition zum Parlamentarismus wie zur Arbeiterbewegung stand. Der faschistische Stil verband Gewalt mit Legalität, Repression mit Akklamation - in dieser Hinsicht war der Faschismus ein politisches Oxymoron. 38 Die paramilitärisch organisierten Parteiarmeen standen in einem polykratischen Spannungsverhältnis zu den faschistischen Parteiorganisationen. Entsprechend der situationsbedingten taktischen Chancen dominierte teils der parteiliche, teils der militante Flügel, ohne dass institutionell geregelte Konfliktaustragungsmechanismen eingerichtet wurden. Die internen Konflikte machten die Faschismen zu labilen Bewegungen, die nur durch charismatische Vergemeinschaftung vor ihrem Zerfall bewahrt wurden. Im Faschismus verbanden sich in paradoxer Weise egoistisches Kompetenzgerangel und Glaubensgemeinschaft. Der faschistische Politikstil verbürgte nicht überall einen 'durchschlagenden' Erfolg. Erst in der Situation einer schwerwiegenden Krise der Demokratie, in der die regierende politische Elite den Kontakt zur breiten Bevölkerungsmasse zunehmend verlor, konnte die populistisch-faschistische Straßenpolitik das freiwerdende politische Beziehungsfeld erfolgreich besetzen und die Kontakte zu den traditionellen Machteliten zu einem Bündnis vertiefen. Bei den hier betrachteten Fällen Italien und Deutschland verschärften sich die Spannungen innerhalb der faschistischen Bewegungen während der Konsolidierungsphase der Regime. Die sich um den militärischen Flügel der Bewegung versammelnden Faschisten provozierten in den auch sozioökono37
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So auch Schieder, Faschismus [1968], Sp. 439-477; Schieder, Faschismus [1994], S.193/194. Ähnlich auch Paxton, S.l-23; Payne, Stanley G.: The Concept of Fascism, in: Larsen/Hagtvet/Myklebust (Hrsg.), S.22. Kershaw, Ian: Totalitarism Revisited: Nazism and Stalinism in Comparative Perspective, in: Tel Aviver Jahrbuch fiir deutsche Geschichte 23, 1994, S. 26; Thamer, Marsch, S.246; Berezin, S.13/14; Arendt, Elemente, S.415/416.
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Einleitung
misch krisenhaften Anfangsphasen der Regime letztlich unüberbrückbare Spannungen zwischen den jungen faschistischen Regierungen und ihrer Parteimiliz. Je mehr sich die jungen Regierungen festigten, umso dysfunktionaler wurde der militante politische Aktionismus der faschistischen Milizionäre, der die politische Stabilität und das Arrangement mit den alten Eliten erschwerte. Mussolini konnte sich der Squadren - die seit dem Januar 1923 in der „freiwilligen Miliz für die nationale Sicherheit" (MVSN) unter seinem Oberbefehl verstaatlicht und diszipliniert worden waren - nur durch einen von König und Heer gedeckten Staatsstreich am 3. Januar 1925 entledigen.39 Auch Hitler beendete Mitte 1934 die von der SA geforderte „zweite Revolution" durch eine gezielte Mordaktion, die ebenfalls von der Gewehr bei Fuß stehenden Armee gedeckt wurde. Auch schalteten beide, durch die Manipulation des Wahlrechts (legge Acerbo) einerseits und das Ermächtigungsgesetz andererseits, sehr schnell die parlamentarische Opposition aus. Gleichwohl traten schon in dieser Phase die Unterschiede zwischen Italien und Deutschland hervor. Während die Nationalsozialisten die politische Opposition binnen weniger Monate wirksam unterdrücken konnten, manövrierte Mussolini sie zunächst aus und beseitigte sie erst nach und nach, ohne jemals das nationalsozialistische Ausmaß einer Formierung der Gesellschaft zu erreichen. 40 In der Regimephase schließlich traten die Unterschiede zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien hervor. Der exzeptionelle Charakter des nationalsozialistischen Rassismus, der in einem Prozess „kumulativer Radikalisierung" (Hans Mommsen) im Völkermord gipfelte, das Ausmaß der Durchherrschung der Gesellschaft im Nationalsozialismus, der partielle Abbau des Stellenwertes der traditionellen Eliten und die Stellung der Partei waren im NS-Staat viel durchdringender als in der italienischen Diktatur, in der Kirche, Krone und Industrie - die sogenannten fiancheggiatori - mächtiger blieben. Die Zerstörung der pluralistischen Zivilgesellschaft war im italienischen Regime (trotzdem die PNF auch hier die einzige Partei war) weniger weitreichend als in der potentiell totalitären NS39
Teruzzi, Attilio: Die freiwillige fascistische Miliz, in: Europäische Revue 8, 1923, S.733; De Feiice, Mussolini il fascista, S.396, 413. Die Miliz war seitdem die verstaatlichte „Rechtsnachfolgerin" des Squadrismus. Die Squadristen wurden auf den unbedingten Gehorsam auf den Duce verpflichtet und ihnen wurden neue sogenannte „Sonderaufgaben" zugewiesen. Sie stellten fortan die Eisenbahn-, Hafen-, Post- und Telegraphenmiliz sowie die Forst- und Straßenmiliz. Daneben stellten sie Abteilungen zur vormilitärischen Jugendausbildung und Kader fur die Luftabwehr, die das Heer entlasten sollten. Schließlich wurden hier die „Bataillone CC.NN" ausgebildet, eine Elitetruppe von „Legionären Mussolinis". Auch der Grenzschutz wurde von der MVSN übernommen. Kurzauszüge der Anordnungen vom 14.1.1923, 8. 3. 1923 in: Palla, Marco: Mussolini and Fascism. New York 2000, S.34.
40
Zu den Ereignissen 1924/25 bzw. 1934 siehe nur: Canali, Delitto Matteotti; Aquarone, Milizia volontaria, S.85-111; Schieder, Strukturwandel, S.83-87; Bloch, SA; Höhne; Fallois; Gritschneder.
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Vergleichskonzept
Diktatur. Zwar hatte auch die faschistische Diktatur Italiens eigene Massenorganisationen zur Formierung der Gesellschaft eingerichtet und ein weitverzweigtes Propagandanetz installiert, aber das Ausmaß der Durchherrschung der Gesellschaft erreichte keine totalitären Maßstäbe. So blieb auch der Wirkungsgrad der Terrorapparate des italienischen Faschismus vergleichsweise gering. Auch dessen imperialistische Absichten beanspruchten in ihren projektiven Zielen nicht die Weltherrschaft, die Hitler ins Auge gefasst hatte. 41 Wie der Totalitarismusbegriff vor allem dort seine Erklärungskraft hat, wo es darum geht, Herrschaftstechniken in Diktaturen zu beschreiben (also die politische Ordnung von Regimen), so hat der Faschismusbegriff seine besonderen Stärken im Hinblick auf den Erklärungsgegenstand der Bewegungs- und Konsolidierungsphase, welche die Totalitarismustheorie wiederum kaum in den Blick nimmt. Faschismus und Totalitarismus erscheinen von daher eher als Komplementär-, denn als sich gegenseitig ausschließende Konkurrenzbegriffe. Zudem bezeichnen beide Begriffe Idealtypen, die in der Realität nur als Tendenz und Entwicklung auftauchen und insofern genauer von Faschisierung oder Totalisierung gesprochen werden müßte. Epoche der faschistischen
Herausforderimg
Faschismus meint ein Epochenphänomen der europäischen Zwischenkriegszeit. Der innere Zusammenhang dieser Epoche ergibt dies daraus, dass sich die faschistischen Bewegungen direkt oder indirekt auf das italienische Vorbild berufen haben (im indirekten Falle wurde meist der Umweg über den Bezug auf den Nationalsozialismus gewählt). Dem Aufstieg der faschistischen Bewegungen ging andererseits das epochebildende Ereignis einer tiefgreifenden soziokulturellen Gesellschaftskrise voraus, die durch den Ersten Weltkrieg und die anschließenden revolutionären Erhebungen entscheidend geprägt wurde. Faschistische Bewegungen entstanden in einer Zeit der dreifachen politischen, ökonomischen und sozio-moralischen Krise, die weite Bereiche der Nachkriegsgesellschaften erfasste und sich in einer tiefgreifenden Skepsis gegenüber Demokratie und Kapitalismus äußerte. Ohne den Ersten Weltkrieg und seine Folgen, aber auch ohne die Oktoberrevolution und die Symbolkraft des Leninismus wäre der Faschismus eine Sektenbewegung geblieben. Es war eine Vielzahl gesellschaftlicher Umstände, die es ermöglichte, dass sich eine nennenswerte faschistische Bewegung entwickeln konnte. Bedeutende politische Einflussfaktoren waren die permanenten Regierungskrisen, die einen Vertrauens- und Autoritätsverlust des liberalen Systems
41
Vgl. zur Regimephase: Schieder, Das Deutschland Hitlers, S.53-60; Thamer, Nationalsozialismus, S.67-78; De Grand, Fascist Italy, S.23-39; Breuer, Faschismus, S.347363; Laqueur, Faschismus, S.59/60; Griffin, Nature, S.45; Franzinelli, Mimmo: Delatori. Spie e confident! anonimi. L'arma segreta del regime fascista. Mailand 2001
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Einleitung
nach sich zogen. Gerade die jungen Staaten mit noch wenig gefestigten demokratischen Strukturen und zersplitterten Parteisystemen hatten einen folgenreichen Verfall ihrer Staatsgewalt zu beklagen. Hinsichtlich der politischen Kultur spielten die durch Massenmobilisierungen gewachsenen politischen Ansprüche eine ebenso wichtige Rolle wie der allgemeine Aufstieg nationaler Leidenschaften, der zu einer Brutalisierung und „sozialen Militarisierung" des öffentlichen Lebens beitrug. Auf sozioökonomischer Ebene waren die Ängste vor wirtschaftlichem Zusammenbruch und gesellschaftlicher Anomie sowie die Verringerung der Kaufkraft vor allem der Mittelschichten durch Inflation oder Arbeitslosigkeit bedeutsam. Modernisierungsprozesse mit Wandelungen in der sozialen Schichtung und Verschiebungen in der gesellschaftlichen Statushierarchie traten hinzu. Ausgeprägte soziale Spannungen und die bürgerliche Furcht vor sozialistischen Aufständen kamen hinzu. All diese Entwicklungen begünstigten den Aufstieg faschistischer Bewegungen und sind ohne den Ersten Weltkrieg nicht zu verstehen. Der Faschismusbegriff wird von daher historisiert und auf die faschistischen Bewegungen der zwanziger und dreißiger Jahre begrenzt. 42 Faschismus als soziale Bewegung Unter dem Begriff der faschistischen Bewegung, der das erkenntnisleitende Konzept für den Vergleich des italienischen mit dem deutschen Faschismus darstellt, soll hier erstens ein bestimmter Typus sozialer Bewegung und zweitens eine Massenbewegung des Protests verstanden werden. Schon Hitler selbst bezeichnete die NSDAP als „Kampfbewegung". Mussolini charakterisierte den Faschismus als „Antipartei ohne Statuten, ohne Regeln". Noch im März 1921 stellte er fest: „Der Faschismus ist keine Kirche. Er gleicht mehr einem Trainingsplatz. Er ist keine Partei. Er ist eine Bewegung." 43 Trotz der vielfachen Hinweise auf die bewegungs- und parteispezifischen Elemente in der Struktur und im politischen Handeln der beiden Faschismen fehlt bislang eine typologische Einordnung der beiden Bewegungen im engeren systematischen Sinn. 44 42
43
44
Vgl. Griffin, Nature, S.212-219; Laqueur, S.25-30; Payne, History, S.4; De Felice, Faschismus, S.83, 87; Tasca, S.375-381; Peukert, Volksgenossen, S.44/45; Wippermann, Faschismustheorien, S.87-91; Eksteins; Mosse, Gefallen. Hitler, Adolf: Mein Kampf. 42. Aufl. München 1936/37, S.418; Mussolini im Popolo d'Italia vom 19.4.1919; Mussolini, Benito: Nach zwei Jahren (Rede am 21.3.1921), in: Mussolini, Schriften, Bd. 2, S.146. Weiterhin auch Mussolinis Reden im Jahre 1919 zur „Antipartei". Siehe Popolo d'Italia vom 7.3.1919, 9.3.1919, 7.4.1919, 19.4.1919 und 3.7.1919. Sowie Mussolini, Benito: Discorso di Verona [13.5.1921], in: Ders.: Opera Omnia, Bd. XVI, S.335. So urteilt auch Hein, S.87. Tatsächlich sind die Interpretationen des Faschismus nicht systematisch auf den Begriff der „sozialen Bewegung" zugeschnitten. Interessante Hinweise bei: Broszat, Struktur, S.52-76; Horn, Führerideologie, S.278-328, 379-420; Tyrell,
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Jede soziale Bewegung ist zugleich eine politische Bewegung, 45 doch bezeichnet der Begriff „soziale Bewegung", über die Ziel Vorstellungen der Bewegungen hinaus, deren inneren Aufbau und Funktionsprinzipien. Der hier auf die Aufstiegsphase bezogene Begriff des Bewegungsfaschismus meint einen spezifischen Typ von sozialer Bewegung. Den allgemeinen Begriff der sozialen Bewegung definierte Joachim Raschke folgendermaßen: „Soziale Bewegung ist ein mobilisierender kollektiver Akteur, der mit einer gewissen Kontinuität auf der Grundlage hoher symbolischer Integration und geringer Rollenspezifikation mittels variabler Organisations- und Aktionsformen das Ziel verfolgt, grundlegenderen sozialen Wandel herbeizufuhren, zu verhindern oder rückgängig zu machen". 4 6 Damit verbindet Raschke zwei Aussagen: Es geht ihm zum einen um die besonderen Strukturen der sozialen Gruppen, die die Bewegung bilden. Hierbei sticht besonders die hohe symbolische Integration hervor, die durch Umgangsformen, Sprache, Habitus und politische Symbole ein ausgeprägtes Wir-Gefuhl erzeugt. Zum anderen hebt Raschke die geringe Ausdifferenzierung von Rollen hervor, durch die vielfaltige und wechselnde Partizipationsformen möglich werden. 47 Die Bewegung ist ein integrierender kollektiver Handlungszusammenhang, wobei ein besonderer Akzent auf die Akteursperspektive, auf das aktive Handeln ihrer Mitglieder zur Herstellung und Festigung der sozialen Netzwerke gelegt wird. Zum einen entsteht die kollektive Gruppenloyalität aus den personalen face-to-face Interaktionen im Mikrokosmos der kontaktdichten Netzwerke sozialer Bewegungen. 48 Zum anderen sind die sozialen Bewegungen über ihre Ziele bestimmt, die immer auf einen Eingriff in den sozialen und/oder politischen Wandel hinauslaufen. Wichtig für ihre Außenabgrenzung sind die kollektiven Aktionen der sozialen Bewegungen. Der Aktionismus verstärkt durch die mit ihm verbundenen kulturellen Bedeutungen und Symbolsysteme die Binnenintegration innerhalb der Bewegung. 49 Den sozialen Bewegungen ist durch die eminente Bedeutung der kollektiven Aktionen ein mobilisierender Zug zu eigen - die Mitglieder werden durch den Aktionismus in Schwung gehalten und eben
45 46 47 48 49
NSDAP, S.98-122; Neumann, Parteien, S.96, 107; Hans von Eckardt: Der Auftrieb der Massen, in: Vossische Zeitung vom 20.11.1930. Für Italien: Gentile, Storia, S.3-37, 314386; Gentile, Partei, S. 195-216; Lyttelton, Seizure, S.42-46; Pombeni, Demagogie, S. 19-44; Pombeni, Besondere Form, S.162-166, 169-183; Tasca, S.63; Schieder, Wolfgang: Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Faschismus als soziale Bewegung, S.l 1-24. Vgl. Rucht, S.78. Raschke, Soziale Bewegungen, S.77. Gleichlautend in: Raschke, Begriff, S.332/33. Ähnlich: Rucht, S.76/77. Vgl. weiterhin Rammstedt, S.l30; Tarrow, Power, S. 10-25. Auch Dieter Hein hebt diesen Formenreichtum hervor, den er auch an den liberalen Bewegungen des Vormärz aufzeigen kann (Hein, S.74). Mc Clurg Mueller, S.5-17; Rucht, S.79-81. Tarrow, Mentalities, S.l74-202; Rucht, S.79.
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Einleitung
hierdurch in die Bewegung integriert. Die kollektiven Aktionen bewirken zudem eine gesellschaftlichen Dynamisierung, die wiederum eine Existenzbedingung der sozialen Bewegungen ist. Wie die Wortbedeutung schon verdeutlicht, fußen soziale Bewegungen auf einem allgemeinen Bewusstsein beschleunigten Wandels, wobei sie sich selbst an der Speerspitze dieser neuen Dynamik und Geschwindigkeit sehen. Soziale Bewegungen stellen einen dauerhafteren Handlungs- und Kommunikationszusammenhang als spontanes Massenverhalten und sozialer Protest dar. Im Unterschied zu Subkulturen, die ein Nischenphänomen sind, sind soziale Bewegungen durch politische Zielvorstellungen gekennzeichnet. Im Unterschied zu formalen Organisationen wiederum sind soziale Bewegungen durch die Wechselwirkung zwischen den Bewegungs-Organisationen und den fluiden Teilen der Bewegung gekennzeichnet. Soziale Bewegungen stellen eine hybride Mischform zwischen schwach strukturierten Gruppen und stark strukturierten Organisationen dar. Sie kennen keine klaren Kriterien der Mitgliedschaft und keine verbindlichen Regelungen für Kompetenzen und Konflikte. Sie können sich die Loyalität ihrer Anhänger nicht allein durch materielle Gratifikationen oder Zwang sichern, sondern müssen sich ständig durch symbolische Akte ihrer sozialen Basis versichern. 50 Vor allem folgende Kriterien des Bewegungsbegriffs überschneiden sich mit zentralen Gesichtspunkten faschistischer Bewegungen: erstens eine kaum formalisierte und aufgrund ihrer Flexibilität besonders effektive Organisationsstruktur; zweitens eine der Bewegung und ihren Aktionen innewohnende Dynamik; drittens eine Geschlossenheit der Bewegung als Gesinnungsgemeinschaft; viertens eine radikale systemoppositionelle Haltung. Wie bei allen sozialen Bewegungen bestand bei den faschistischen Bewegungen eine starke Affinität zu unkonventionellen Aktionsformen. 51 Diese Überschneidungen der Merkmale sozialer Bewegungen mit denen des aufsteigenden Faschismus bilden die Grundlage dafür, den Faschismus als eine spezifische Ausformung der sozialen Bewegungen zu begreifen. Mögen soziale Bewegungen auf keine spezifische Organisationsform festgelegt sein, so waren die faschistischen Bewegungen gleichwohl organisationsdominiert, womit sie eher zum Typus der Arbeiterbewegung und weniger zu dem der Neuen Sozialen Bewegungen gehören. Gleichwohl kannten die faschistischen Bewegungen keinen eindeutig dominanten und die Bewegung durchdringenden Organisationskern. 52 Ähnlich verhält es sich mit der enormen Bedeutung des Führergedankens, der keineswegs allen sozialen Bewegungen innewohnt. Es finden sich nicht nur fuhrungsschwache soziale Bewegungen, sondern auch solche, die eine 50 51 52
Hein, S.80-83; Raschke, Soziale Bewegungen, S. 244-254; Rucht, S.80/81, 87. Siehe Raschke, Begriff, S.34. Raschke, Begriff, S.34; Rucht, S.81, 87.
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ausgesprochene Gegnerschaft zum Führergedanken entwickelten. Gleichwohl waren die faschistischen Bewegungen wie auch Teile der Arbeiterbewegung (man denke etwa an den Lassalle-Kult) vom mythisch überhöhten Führerprinzip geprägt. Soziale Exklusivität und Geheimbündlerei spielten im Faschismus, im Unterschied zur autoritären Rechten, eine untergeordnete Rolle. Faschistische Bewegungen waren Massenbewegungen. In ihrer Fähigkeit zur Massenmobilisierung - bei der die Inhalte von Politik oft in der Inszenierung und Symbolik ausgedrückt wurden - lag die Stärke der Faschisten. Faschistische Bewegungen hatten vergleichsweise wenig Zugangsbeschränkungen und schlossen keine soziale Gruppe von vornherein aus. 53 Vom sozialen Substrat ihrer Mitglieder her gesehen waren die populistischen Sammlungsbewegungen des Faschismus Mischbewegungen, die sich aus vielen Schichten der Gesellschaft rekrutierten, wobei die sozialen Gruppen der Mittelschichten leicht überrepräsentiert waren. 54 Auch in den jeweiligen Nebenorganisationen der faschistischen Bewegungen fanden sich unterschiedlichste soziale Gruppen zusammen, die der sozialen Lage nach stark differierten. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass sowohl die bürgerlichen Ärzteorganisationen als auch die Arbeitergewerkschaften der Faschisten Teil ein und derselben politischen Bewegung waren. Zugleich rücken durch das Kriterium des Massenzuzugs gesellschaftliche Konstellationen in den Blick, so dass der Faschismus auch durch allgemeine gesellschaftliche Prozesse mitbestimmt wird. Eine einfache Imitation des italienischen Faschismus oder Nationalsozialismus reicht somit nicht aus, um eine faschistische Bewegung zu begründen. Ohne Erfolg bei Massen, ohne zugkräftige Hinwendung auf gesellschaftliche Problemlagen entstand kein Faschismus. Sowohl krisenhafter sozialer Wandel, das Vorliegen relativer Deprivation als auch das Wirken der faschistischen Agitatoren warn für das Entstehen der Bewegung von Bedeutung. Hinsichtlich der gesellschaftlichen Konstellation ist zu bedenken, dass die soziale Bewegung des Faschismus ein ausgesprochener late-comer auf der politischen Bühne war. Daher hat sich der Faschismus stärker in den Gesellschaftsgruppen etablieren können, die nicht schon fest in bestehenden sozialmoralischen Milieus eingebunden waren. Dass es solche politisch frei schwebenden Schichten in größerem Umfang zwischen dem Bürgertum und der Arbeiterschaft gab, hatte mit dem raschen sozialen Wandel seit Ende des 19. Jahrhunderts zu tun, der durch die ökonomische 53
54
Mit ihren über 300.000 Mitgliedern stand die PNF 1922 ebenso in der Spitzenriege der italienischen Nachkriegsparteien wie die N S D A P mit über 800.000 Mitgliedern in der deutschen Parteienlandschaft von 1932/33. Vgl. hierzu Petersen, Wählerverhalten, S.l 19-156; Brustein, „Red Menace", S.652-664; Kater, Nazi Party; Brustein, Logic; Brustein/Falter, Who Joined, S.83-108; Falter/Kater. S.155-177; Mühlberger, Hitler's Followers; Falter, Hitlers Wähler, S.198-290. 364-375; Laqueur, S . l 7 , 30-32.
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Einleitung
Krise nach dem Ersten Weltkrieg zusätzlich an Dynamik gewann. Dazu traten politische Schwächen und Instabilitäten der jeweiligen Regierung, die ihre Probleme mit der wirksamen Behauptung des staatlichen Gewaltmonopols gegen die Gewaltpolitik der Faschisten hatten. 55 Eine rein ökonomistisch oder sozial argumentierende Faschismustheorie ist jedoch durch ihre weitgehende Ausblendung der Erfahrungsebene deutlich verengend und fuhrt in ihrer allgemeinen Form nicht über bekannte Formulierungen von der kulturellen Brutalisierung der Gesellschaften durch den Ersten Weltkrieg, der Bedeutung ökonomischer Krisen und sozialer Deklassierungsprozesse und daraus abgeleiteter Deprivationserfahrungen hinaus. Wichtig scheint vielmehr eine akteursbezogene Erweiterung des Faschismusbegriffes, die der Frage nachgeht, was die Massen innerhalb der faschistischen Bewegungen einte. Die Fragestellung setzt dabei zunächst bei den Akteuren selbst an und nimmt das weite Spektrum ihrer Äußerungen, von ihren Aktionsweisen, Organisationspraxen bis hin zu ihren politischen Einstellungen, ernst, ohne dass vorschnell geglaubt wird, ein passendes Urteil über die Ursachen für ihren Massenerfolg in der gesellschaftlichen Konstellation gefunden zu haben. Faschistische Bewegungen stellten, in solch akteurs- und handlungszentrierter Perspektive, als Protestbewegungen den Versuch dar, gesellschaftlich erzeugte Frustrationen und Aggressionen in die Zerstörung der alten Ordnung einzubringen. Dabei standen emotionale Bindungen und ideelle Interessen gegenüber materiellen Interessen im Vordergrund. Programmatisch waren die Ziele der faschistischen Bewegungen vage. Ähnlich wie bei der autoritären Rechten sticht vor allem ihre Antihaltung gegenüber dem bestehenden System und den modern-partizipatorischen Ideologien des Sozialismus und des humanistischen Liberalismus hervor. Dabei wurde der Freund-FeindGegensatz in einem manichäischen Denkschema verabsolutiert. Dieser dichotomisierende Rigorismus, der nur Schuldige oder Opfer kannte, bot viel Raum zur Artikulation von Aggressivität. Die gewaltbestimmte Anti-Haltung wurde im Faschismus stark affektiv aufgeladen, von philosophischem Anspruch befreit, der Aktion und Tat sowie dem Willen zur Macht untergeordnet. 56 Der extreme Nationalismus bettete den Mythos vom neuen faschistischen Mann und einer zukünftig einheitlichen Gemeinschaft ein. Die Anti-Haltung wurde als revolutionärer Idealismus und Utopismus, als „Krieg gegen die
55
56
Linz, Political Space, bes. S.154-156, 167-169, 170-173, 176-178. Zu den sozialmoralischen Milieus siehe nur den „Klassiker": Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur, S.56-80. Dazu Payne, History, S.8/9, 16; Linz, Some Notes, S.15-25; Griffin, Nature, S.7; Mommsen, Nationalsozialismus, S.174/175; Borejsza, S.151/152; Peukert, Volksgenossen, S.46; Wirsching, Weltkrieg, S.8/9.
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moderne Gesellschaft" verstanden, der den Mythos der nationalen Erneuerung oder Wiedergeburt beinhaltete. Revolution bezeichnete hierbei eine moralischethische Neudefinition, nicht jedoch einen sozialen Wandel oder eine radikale Veränderung in den Klassenbeziehungen einer Gesellschaft. Das Versprechen einer Vereinnahmung der Zukunft, eines neuen Menschen, verschaffte dem gegenwärtigen Handeln eine katalysatorische Wirkkraft. Allerdings wurde der revolutionäre Prozess nicht über seine destruktive Phase hinaus entwickelt. Der Faschismus war eine auf Destruktion ausgerichtete Utopie, die keine klare Vorstellung von der zukünftigen 'organischen' Volksgemeinschaft hatte. Durch die Revolutionsrhetorik wurde die Zerstörung auf Permanenz gestellt. Die aufregende neue Welt der Jugend, des Heroismus, der nationalen Größe und Gesundung war untrennbar mit Destruktion verbunden. 57 Die symbolische Verbindung von Tod und Erneuerung im Faschismus war aber keineswegs nur atavistisch, sondern ebenso sehr Kennzeichen der modernen Welt, da die Schaffung der neuen Gesellschaft in der faschistischen Zukunftsvorstellung vom menschlichen Handeln abhing. Nicht von metaphysischen Zusammenhängen, sondern vom tätigen Beschreiten eines gewaltsam gestützten Weges der Machterringung hing es in der Betrachtungsweise der Faschisten ab, ob sich die Transformation zur faschistischen Gesellschaft vollziehen konnte. Zudem bezog sich der Populismus der Faschisten auf die Legitimationsdefizite demokratischer Repräsentation. Die populistische Rhetorik imaginierte einerseits eine (weitgehend nicht-definierte) Form „direkte·· Demokratie" - die sich explizit von Modellen des Absolutismus oder der repräsentativen Demokratie abgrenzte - , andererseits eine charismatische Führerschaft, die der ständigen Bestätigung durch die Anhänger bedurfte. In der Rhetorik stellte sich der Faschismus als natürliche oder organische Gemeinschaft dar, der sich durch hohe fraternalistische Integration auszeichne. Die politischen Grundsatzentscheidungen hingegen wurden oft in elitärem Kreis gefällt. Die mit der gewalttätigen Aktion verbundenen Vorstellungen von Spontaneität, Erneuerung und charismatischer Führung führten zu neuen Vorstellungen von unmittelbarer Repräsentation. Das Verhältnis zur Demokratie blieb dabei durchaus ambivalent. So wurde im demokratischen Staat einerseits der politische Gegner gesehen. Andererseits aber waren demokratische Partizipationsrechte geradezu eine Bedingung für den Aufstieg faschistischer Massenbewegungen. Ihr Anspruch auf Massenrepräsentation knüpfte an Legitimationsmuster an, die auch der Demokratie zugrunde lagen. Auch innerhalb dieser Bewegungen standen Führerprinzip und der 'Wille der Massen' in einer spannungsreichen Beziehung. Die faschistischen Bewegungen traten somit nicht nur als Gegner demokratisch
57
Griffin, Nature, S.27, 30-32, 39-42; Berezin, S.4/5; Bauman, S.76-81.
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verfasster Gesellschaften auf, sondern operierten gleichzeitig innerhalb des erweiterten Spektrums an Partizipationschancen. Die hier angelegten Spannungen führten immer wieder zu Krisen und schwächten die faschistischen Bewegungen, die einerseits keinen geregelten Ausgleich zwischen Utopie und Realität sowie zwischen Elite und Masse fanden und andererseits ständig mit dem Problem der Dauerhaftigkeit einer in sich labilen charismatischen Herrschaft konfrontiert waren. 58 Das Handlungsziel, die „erlöste" Nation, wurde hingegen als eine mythische und organische Einheit vorgestellt, die das individuelle Leben transzendierte. In dieser Hinsicht war der Faschismus, wie Roger Griffin definierte, eine „Gattung der politischen Ideologie, deren mythischer Kern in seinen verschiedenen Permutationen eine palingenetische Form des populären Ultranationalismus darstellte]". 59 Nach Griffin ging der nationalen „Wiedergeburt" eine destruktive Phase voraus. Dieses Motiv war mit anderen Formen religiösen, mythischen und magischen Denkens verwandt. Die Denkfigur entfaltete durch die Vision einer revolutionären neuen Ordnung der Nation mobilisierende Wirkung. Der vitalistische und radikal antifeministische Jugendkult sowie das charismatische Führertum sind die am stärksten hervortretenden Züge, die den politischen Stil des Faschismus mitbestimmten. Gerade in der Bewegungsphase des Faschismus stechen diese Elemente hervor. Sie waren für die Mobilisierung rebellischer Gefühle und Leidenschaften von Bedeutung, während sie in den darauffolgenden Regimejahren weniger zählten, da nunmehr zunehmend das staatliche Projekt des social engineering neben die Formen der populistischen Inszenierung trat. 60 Der Vorteil des hier vorgestellten Faschismusbegriffes für die Analyse des faschistischen Squadrismus und der nationalsozialistischen SA besteht zunächst darin, dass er die typologische Verortung der Kampfbünde als Teil bestimmter sozialer Bewegungen erlaubt und der vergleichenden Erforschung den Weg ebnet. Ohne solch ein tertium comparationis wären Ähnlichkeiten und Unterschiede, wäre auch die Spezifik des Nationalsozialismus und des fascismo nicht zu erfassen. Der Vergleich des italienischen und deutschen Kernlandes ist für die Faschismusforschung konstitutiv - ohne ihn dürfte der Gattungsbegriff nur schwer aufrecht zu erhalten sein.61 Wenn in der Folge das Wort Faschismus benutzt wird, so ist damit immer und ausschließlich der Bewegungsfaschismus gemeint, sofern nicht ausdrücklich auf die Regimephase verwiesen wird.
58 59 60 61
Griffin, Nature, S.29/30, 37-44; Brooker, S.57-87, 289-333. Griffin, Nature, S.3/4, 8, 26, 38-43, 44 (Zitat). Vgl. De Feiice, Interview, S.57. Vgl. dazu Paxton, S.7, 9-11; Bauman, S.98-131, 166-214. Schieder, Wolfgang: Einleitung, in: Ders. (Hrsg.): Faschismus als soziale Bewegung, S.14/15; De Feiice, Faschismus, S.84, 89/90; Petersen, Jens: Nachwort: Zum Stand der Faschismusdiskussion in Italien, in: De Feiice, Faschismus, S.l 15.
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1.2.2 Politische Gewalt Wenngleich sich die Soziologie und Sozialpsychologie schon seit etlichen Jahren mit der Erforschung von (politischer) Gewalt beschäftigen, so hat doch das Problem der Gewalt momentan zweifellos Konjunktur. Zwischen 1985 und 1992 wurden allein im deutschen Sprachraum knapp 700 Veröffentlichungen zum Thema Gewalt vorgelegt. Das Verzeichnis lieferbarer Bücher weist für die neunziger Jahre 400 Titel aus. 62 Es kann hier nicht die Aufgabe sein, die wichtigsten Strömungen dieser sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung darzustellen. 63 Statt dessen soll hier auf einen Trend der neunziger Jahre hingewiesen werden, der sich schärfer abzuzeichnen beginnt und für diese Arbeit wichtig ist. Dabei handelt es sich um die Ansätze der sogenannten Innovateure der Gewaltforschung (Wolfgang Sofsky, Trutz von Trotha, Birgitta Nedelmann), die die bisherige klassische Gewaltforschung als Soziologie der Ursachen der Gewalt charakterisiert haben. Deren Erklärungsansätze, so die „Innovateure", hätten keine neuen Einsichten mehr hervorbringen können. Die eng mit Pädagogen, Juristen und Psychologen verwobene „Ursachen-Soziologie" drehe sich seit einiger Zeit im Kreise und verweise immer wieder auf dieselben Ursachen der Gewalt - von politischen und Wirtschaftskrisen, über soziale Deprivation bis hin zu Zerfallsprozessen des staatlichen Gewaltmonopols. Dieser Interpretation halten die „Innovateure" ihren eigenen Ansatz entgegen, der stärker auf eine „Phänomenologie der Gewalt" (Heinrich Popitz) und die Analyse von Formen und Handlungsabläufen abhebt. Es geht hier um ein ethnologisch „dichtes Beschreiben" (Clifford Geertz) der Gewalt, da die Anlasslosigkeit als auch die dynamische Prozesshaftigkeit der Gewalt als bestimmend angenommen wird. Nicht mehr die Motive für Gewalt, sondern deren Körperlichkeit, Entgrenzung, sozial produktive und gemeinschaftsbildende Potenz stehen im Zentrum der Analyse. So problematisch die bei einigen „Innovateuren" zu erkennende Tendenz auch ist, Gewalt zu einer anthropologischen Konstante zu erheben: Die „Innovateure" haben doch zurecht darauf hingewiesen, dass die Gewalthandlungen selbst bislang kaum Gegenstand der Forschung waren, sondern vielmehr das, was als ihre Ursache „vor" oder „über" ihnen lag. Zum zweiten haben sie dar62
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Schönfeld, Gerhard (Bearb.): Gewalt in der Gesellschaft. Eine Dokumentation zum Stand der sozialwissenschaftlichen Forschung seit 1985. Bonn 1993; Imbusch, S.24/25. Zu den Klassikern der Gewaltforschung siehe die Literaturdiskussion in: Waldmann; Rule; Fromm, Anatomie; Hacker. Interessant auch die Diskussionen zur Gewalt in der Zeitschrift „Mittelweg 36" des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Überblicke bieten: Schumann, Gewalt als Grenzüberschreitung, S.366-386; Imbusch, S.2440; Trotha, Trutz von (Hrsg.): Soziologie der Gewalt. Opladen 1997; Eckert, Roland: Gesellschaft und Gewalt - ein Aufriß, in: Soziale Welt 44, 1993, S.358-374. Zu terminologischen Problemen: Popitz; Neidhardt, Gewalt, S. 109-147; Faber, S.817-935.
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Einleitung
auf insistiert, dass direkte, absichtsvolle körperliche Verletzung eines anderen den Kernbestand aller Gewalt bildet. Gerade dieser Bezug der Gewalt zur Körperlichkeit schlägt eine Brücke zu dem sozialtheoretischen Ansatz dieser Arbeit, der auf Handlungen und Praktiken fokussiert ist. Denn auch Praktiken sind körperlich verankert und können als kontinuierliche und routinisierte körperliche Hervorbringungen verstanden werden. Drittens ist der Zusammenhang von Gewalthandlungen und Vergemeinschaftung fur diese Arbeit von Interesse. Viertens soll der Frage, inwiefern sich sinnstiftenden Elemente durch die einfache Wiederholung der Gewalttat einstellten, nachgegangen werden. Inwiefern wurden die faschistischen Gewaltbünde also zu „Rackets" (Horkheimer), die zunehmend dem Gesetz ihrer Selbsterhaltung folgten? 64 Grundsätzlich bezeichnet Gewalt eine absichtliche körperliche Verletzung anderer und die Anwendung von äußerem Zwang. Wo sich Gewalt verstetigt, wo die Gewalthandlungen zur strukturierenden Kraft wurden, entsteht Macht, die bei Johan Galtung mit dem (irritierenden) Ausdruck „strukturelle Gewalt" bezeichnet wird. Gewalt ist und war oft ein Mittel sozialer Kontrolle, nicht nur, aber wesentlich auch eines staatlicher Politik. Physische Gewaltsamkeit war, wie Max Weber betonte, das spezifische (nicht das normale oder einzige) Mittel des Staates, der durch sein „Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit" Herrschaft und Macht ausübt. Faschistische Gewalt stellte diesen Anspruch in Frage und höhlte damit die Durchsetzungskraft des staatlichen Gewaltmonopols aus. Faschistische Politik betrachtete Gewalt als ein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung. Gewalt war bei den faschistischen Kampfbünden zuallererst eine politische Handlung und soll in dieser Untersuchung als solche verstanden werden. 65 Es besteht - im Unterschied zur Ansicht der „Innovateure" - kein wirklicher Grund, die klassische Gewaltursachensoziologie nicht als komplementäre und ergänzende Forschung zu einem eher handlungstheoretisch verankerten Vorgehen zu betrachten. Die folgenden Überlegungen greifen daher beide Richtungen auf. In einem ersten Schritt soll eine grobe Verortung der faschistischen Gewalt innerhalb einer klassifikatorischen Typologie möglicher Gewaltformen entworfen werden und anschließend sollen diejenigen Theorien über Gewaltursachen vorgestellt werden, die in dieser Arbeit zur Anwendung kommen. 64
65
Popitz, S.48-50; Nedelmann, Gewaltsoziologie, S.59-85; Nedelmann, Schwierigkeiten, S. 817; Trotha, S.9-56; Imbusch, S.24-40; Reckwitz, S.556-564; Riekenberg, Michael: Fuzzy systems. Max Horkheimer und Gewaltkulturen in Lateinamerika, in: lbero-Amerikanisches Archiv 25, 1999, S.309-324. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S.822. Macht bedeutete nach Weber „die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen" (ebd., S.28). Hannah Arendt bezeichnet mit „Macht" hingegen etwas, was besser als legitime Ermächtigung und legitime Herrschaft bezeichnet werden könnte (Arendt, Macht).
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Formen der Gewalt Differenziert man verschiedene Typen von Gewalt, so ergeben sich mannigfaltige Unterscheidungskriterien. 66 Eine erste Unterscheidung trennt zwischen rationaler und irrationaler Gewalt. Die entsprechenden Einordnungen hängen von der Wahl des Bezugssystems ab. Erstere ist zielgerichtet, die zweite dagegen mit keinem offenkundigen Zweck ausgestattet. In dieser Hinsicht lässt sich faschistische Gewalt empirisch bestimmen und in verschiedene Variationen ausdifferenzieren. Die Unterscheidung zwischen instrumenteller und kommunikativer Gewalt unterstreicht den politisch-kulturellen Bedeutungscharakter von Gewalt. Beide Formen sind rational, also zielgerichtet. Kommunikative Gewalt jedoch erhebt einen Sinnanspruch. Diese Gewalt macht im öffentlichen Raum auf sich aufmerksam. Faschisten verstanden Gewalt als einen kommunikativen Appell, allerdings, wie aufzuzeigen ist, mit unterschiedlichen Graden an Intentionalität und systemgefährdender Ausrichtung. 67 Einfacher ist die Entscheidung, ob die Gewaltsamkeit der Faschisten Aktionsgewalt (als Ereignis und Handlung) oder strukturelle Gewalt gewesen ist. Es ging hier eindeutig um körperliche Gewalttätigkeiten der faschistischen Akteure. In deren Folge bildeten sich zuweilen lokale Vorherrschaften, die zu strukturellen Machtgebilden im Kampfbundinnenleben und gegenüber der Außenwelt werden konnten. In diesen Zusammenhang gehört auch die Unterscheidung zwischen physischer und psychischer Gewalt, denn letztere entfaltete sich vor allem dort, wo die Machtverhältnisse schon so bedrückend waren, dass die Anwendung (nicht jedoch die potentielle Drohung) physischer Gewalt überflüssig wurde. Bei der Untersuchung des Verhältnisses von Gewalt und Politik kann freilich nicht der gewaltsame Individualakt im Mittelpunkt des Interesses stehen, sondern die in Gruppen praktizierte kollektive Gewalt. Letztlich gilt: je kollektiver das Vorgehen, desto geplanter und je individueller, desto spontaner die Gewalthandlung. Im Ganzen gesehen verübten die Kampfbünde geplante und intentionale Gewalthandlungen, die mit entsprechenden symbolischen Wirkungen ausgetragen wurden. Die Unterscheidungen zwischen aktiver oder reaktiver sowie erfolgreicher oder erfolgloser Gewalt liegen im Zentrum des Streits über den Charakter faschistischer Gewalt. Zur theoretischen Verortung taugen sie nicht, denn erst die empirische Analyse kann eine Feindifferenzierung zwischen den dichotomischen Gegensatzpaaren erlauben. Vorab ist beispielsweise nicht zu ent-
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Waldmann, S. 14-27; Galtung, Besonderer Beitrag, S.9-32; Nolting, S.9-23; Popitz, S.43-78. Vom Grad ihrer systemsprengenden Kraft hängt es entscheidend ab, ob es legitim ist, davon zu sprechen, dass beide Gesellschaften in einen „Bürgerkrieg" mündeten. Zum Begriff des Bürgerkriegs siehe Abschnitt 2.1.
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scheiden, ob die Gewalt der faschistischen Kampfbünde primär eine Gegenreaktion auf die vorgängige Gewalt der Kommunisten gewesen ist oder nicht. Die Gewaltsamkeit der Kampfbünde wird als eine politisch motivierte, in einer hierarchisch aufgebauten Organisation ausgeübte, meist in Gruppen gezielt praktizierte, personale und physische Form der Gewalt verstanden. Die gewalttätige Gruppe grenzte sich dabei symbolisch von ihrer Umwelt ab, indem sie Gewaltmetaphern wie Uniformierung, Kampflieder, Fahnen oder formiertes Marschieren benutzte. Die Gewalthandlungen drückten sich innerhalb eines nationalistischen, autoritären und männlichkeitszentrierten Sinnsystems aus.
Ursachen von Gewalt Wesentlich komplexer wird die theoretische Bestimmung, wenn man nach den Ursachen politischer Gewalt fragt. Drei Konzepte zur Analyse der sozialen, psychologischen und politischen Motivation werden in dieser Arbeit herangezogen. Die anthropologisierenden Theoreme, die einen natürlichen Aggressionstrieb des Menschen als Ursache der Gewalt betrachten, bleiben hierbei unberücksichtigt. Die nicht entscheidbare Grundfrage nach dem Anteil der menschlichen Natur einerseits und der Sozialisation andererseits soll an dieser Stelle nicht erörtert werden. 68 Zunächst einmal kann man versuchen, Gewalt auf Deprivationserfahrungen von Individuen zu beziehen. Danach erzeugen Abstiegserfahrungen, soziale Isolation, gesellschaftliche Stigmatisierungen oder deprimierende Zukunftsperspektiven Frustrationen, die, sofern sie von den Individuen nicht beeinflussbar oder gestaltbar sind, gewaltsam verarbeitet werden. An Freud angelehnt geht dieser Ansatz von der Annahme aus, dass menschliche Lebenstriebe innerhalb eines „Energiemodells" nach Entäußerung streben und ihr Ventil in dem Bereich finden, in dem den Individuen der geringste Widerstand entgegentritt. Die Standardanalyse für diese Theorie wurde 1939 von John Dollard vorgelegt. Dollard definierte Frustration als die Zeitspanne, die zwischen einer erwünschten Zielreaktion und dem verzögerten Umsetzen dieses Wunsches liege. Dabei fungiere die Aggression als Ersatzreaktion, die die Belastung durch die blockierte Zielerreichung reduziere (Blitzableiterfunktion). Dieses Umsetzen von Frustrationen in Aggression sei kein (biologischer) Automatismus, sondern werde erlernt, wobei Dollard nicht theoretisch klärt, welche Bedingungen zum Erlernen von Gewalt nötig sind. Die Aggression sei aber, so Dollard, um so größer, je stärker der Grad der absoluten Fru68
Die Theoreme der Verhaltensforscher sind für den Historiker, der die Wandelbarkeit des Menschen analysiert, von nur geringem Interesse. Vielmehr geht es der historischen Forschung um Annahmen vom gesellschaftlich und sozial bedingten Erlernen der Gewalt. Zur Kritik an der These vom angeborenen Aggressionstrieb vgl. Plack; Fromm, Anatomie, S.29-50, 109-206; Nolting, S.13; Milgram, S.192-195.
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stration sei, je länger die Frustration anhalte und je geringer die für aggressives Verhalten erwartbare Strafe sei. Dollards empirische Betrachtungen können hier unberücksichtigt bleiben. Wesentlich für unsere Untersuchung ist, dass seine Deprivationstheorie sozial fundiert ist und Gewalt als eine reaktive Handlung begriffen wird. 69 Eine zu enge Verknüpfung zwischen Frustration und Aggression lässt jedoch außer Acht, dass Frustrationen auch ganz andere Verhaltensweisen, von Depression und Selbstbetäubung über Resignation und Ausweichen bis hin zu konstruktivem Bemühen hervorrufen können. Gewalthandlungen können zudem auch auf Befehlen oder Konformitätsdruck beruhen. Oftmals steht bei der Deprivationstheorie die problematische Vorstellung eines mechanistischen Automatismus zwischen Frustration und Aggression im Hintergrund. In einer zweiten Argumentationsfigur wird die Auffassung vertreten, dass Gewalt durch bestimmte Situationen sozial erzeugt wird. 70 Individuen würden, in relativer Unabhängigkeit von ihrer Charakterstruktur, in bestimmten Situationen gewaltsam reagieren. Die moderne Organisation erzeuge mit Mechanismen der Arbeitsteilung, Routinisierung, hierarchischem Aufbau - und damit einer Verantwortungsverschiebung und Rollendistanz - eine moralische Indifferenz der handelnden Individuen. Primär sei die reibungslose und gehorsame Befolgung und Umsetzung der Anweisungen. Soziale Sicherungen gegen grausame Anordnungen fehlen. 71 In der historischen Forschung hat man diesen Mechanismus vor allem fur den bürokratischen Apparat des Holocaust untersucht. Im Zentrum dieser Denkrichtung stehen diejenigen Organisationsformen, die Menschen zu gewalttätigen Handlungen animieren. Das berühmte Milgram-Experiment aus den Jahren 1960-63 - ein Klassiker der Sozialpsychologie - kann als die bekannteste Untersuchung dieser Argumentationsrichtung gelten. 72 Das wichtigste Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass in
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Dollard, S.13-18, 37-47. Vgl. Müller/Weede, S.41-55; Fromm, Anatomie, S.88-90; Rule, S.200-223. Empirisch behandelt Dollard die verschiedenen Möglichkeiten des FrustrationAggressions-Schemas in recht willkürlicher Reihenfolge. Es geht ebenso um Restriktionen der Handlungsfreiheit für Jugendliche wie um Frustrationserfahrungen von unehelich geborenen Kindern. Die Ergebnisse werden jeweils durch statistische Befunde absichert (Dollard, S.l 17-161). Milgram; Meeus/Raaijmakers, S.70-85; Haney/Banks/Zimbardo, S.69-97; Zimbardo, S.237306; Sandkilhler/Schmuhl, S.3-26; Bauman, S. 166-183. Als empirische Studie: Browning, S.208-247. Zu den Mechanismen im einzelnen: Milgram, S.60-133, 143-178; Bauman, S.l76-178; Giddens, Konstitution, S.l 11-125; Moscovici/Ricateau, S.155-213; Goffman, Verhalten. Bei diesem Experiment geht es darum, dass der Versuchsleiter (Autoritätsperson) der Versuchsperson (Vp) den Auftrag gibt, dem Opfer eine Prüfung abzunehmen und ihm Elektroschocks zu verabreichen. Der Vp wird mitgeteilt, der Auftrag sei wissenschaftlich legitimiert. Nach jedem Fehler des Opfers soll ihm die Vp einen Schock verabreichen und bei jedem weiteren Fehler die Intensität des Schocks erhöhen. Das Opfer, ein Konföderierter, ist angewiesen, 30 Fehler zu machen. Wenn die Vp bereit ist, 30 Schocks,
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allen Experimenten keine systematischen Beziehungen zwischen den Persönlichkeitsmerkmalen der Probanden und der Bereitschaft zu gehorsamen und gewalttätigen Handlungen gefunden werden konnten: „Es ist oft nicht so sehr die Wesensart eines Menschen, die seine Handlungsweise bestimmt, wie die Eigenart der Situation, in der er sich befindet". 73 Stanley Milgrams Experiment stellte für die Gehorsamkeitsbereitschaft folgende Faktoren sozialer Interaktion in den Vordergrund. Erstens: Nicht durch ein soziales Vakuum, sondern durch die explizite Beziehung der Versuchspersonen zur körperlich ständig anwesenden, kontrollierenden und konsistenten Autoritätsperson und durch die Komplizenschaft mit ihr verselbständigten und potenzierten sich die Handlungen zu einer Gewaltspirale. Zweitens: Nach der Tat übertrugen die Versuchspersonen die volle Verantwortung für ihr eigenes Handeln dem Wissenschaftler, der die Anweisungen erteilte, jedoch keine Sanktionen gegen die Versuchspersonen androhte. Die Verantwortungsverschiebung war eine psychologisch notwendige Maßnahme der Versuchsperson, um die Konfliktsituation im Experiment zu bewältigen. Drittens: Je größer die räumliche Distanz zum Opfer beziehungsweise je unsichtbarer seine Schmerzäußerungen waren, desto mehr stieg die Gewaltbereitschaft der Versuchspersonen. Viertens: Verabreichten andere - eingeweihte - „Versuchspersonen" ebenfalls Elektroschocks im Beisein der eigentlichen Versuchsperson, so stieg das Maß der Gehorsamkeit durch den Gruppen· beziehungsweise Konformitätsdruck beträchtlich.74 Faktoren wie die körperliche Präsenz der Autoritätspersonen oder der Gruppendruck sind für die vorliegende Untersuchung von besonderer Relevanz. Das Problem der Argumentation von organisatorisch erzeugter Gewalt ist jedoch, dass einige Besonderheiten der Experimentalsituation sich nicht auf historische Gesellschaften übertragen lassen 75 und dass die Analyse insofern
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ansteigend von 15 bis 450 Volt, auszuteilen, wird sie von Milgram als gehorsam qualifiziert. Zitat in Milgram, S.76/77, 235 (Zitat). Auch Zimbardos Stanforder Gefängnis-Experimente bestätigen des Einfluss von Macht und Autorität auf das ausgeübte Maß an Grausamkeit (Zimbardo, S. 237-306). Zur konsistent hohen Gehorsamkeitsquote in den verschiedensten Nationen siehe Meeus/Raaijmakers, S.70-72. Milgram, S.48-72, 92-108, 138-144, 170/171. Erstens: Die Versuchspersonen (Vp'en) im Experiment waren sich sicher, nach einer Stunde das Experiment beendet zu haben. Bei einer Zusammenarbeit auf unbestimmte Zeit hätten habitualisierte Verhaltenssequenzen oder Routinisierungsfaktoren die Gehorsamkeit verstärken können. Andererseits kann aber auch die Gehorsamkeit im zeitlich begrenzten Experiment dadurch stärker sein, dass die Chance auf ein schnelles Entweichen aus der Konfliktsituation durch Gehorsamkeit besteht. Zweitens: Die Vp hat es im Experiment mit einer kompromisslosen, in sich geschlossenen Autorität zu tun. In demokratischen Gesellschaften jedoch haben Individuen die Chance zur Auswahl und zum Abwägen zwischen verschiedenen (teilweise einander widersprechenden) Autoritäten. Drittens: Die Vp'en haben absolute Macht über ihr wehrloses Opfer, welches sich lediglich durch Schmerzäußerungen bemerkbar machen kann. Das war bei den kommunistischen und
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deterministisch ist, weil die Handelnden quasi als willenlose Marionetten der in sie gesetzten Anforderungen betrachtet werden. Wenngleich hier die starke Wirkung des sozialen Umfeldes auf Handlungen von Individuen aufgezeigt wird, schließt dies nicht die potenzierende Wirkung anderer Faktoren aus. Eine dritte Argumentationsrichtung schließlich geht auf die Theoretiker der Frankfurter Schule zurück. 76 Sie konzentrierten ihre Arbeiten auf die Sozialisation von Individuen in der Familie. Innerhalb der Familiensozialisation - so die Argumentation von Adorno, Horkheimer oder Fromm - bildeten sich diejenigen internalisierten Charakterstrukturen aus, die die Individuen auch nach der Adoleszenzphase prägten. Autorität ist hiernach nicht nur ein „bloß erzwungenes Verhältnis" und bewirkt nicht nur ein Sich-Fügen, sondern eine innerliche Veränderung bei den Betroffenen. 77 Die Familie ist nach dieser Auffassung die „psychologische Agentur der Gesellschaft", ein Abbild gesellschaftlicher Autorität. Die sozialen Beziehungen, die Menschen im Berufsleben oder in den Freundschaftsbeziehungen eingehen, basieren auf Familienverhältnissen, da die gesellschaftlichen Institutionen des Kapitalismus analog zur Familienkonstellation aufgebaut seien. Die Familie, so Erich Fromm, sei der „Kitt" der Gesellschaft. Der autoritäre Charakter binde seine libidinösen Energien deswegen an die Autorität, da diese „die eigenen Ideale, den Inhalt alles dessen, was man selbst werden möchte, verkörpert". 78 Binden sich Menschen mit „autoritärem Charakter" gehorsam an eine solche Autorität, so können sie sich einerseits deren Fürsorge sicher sein und müssen andererseits keine ihrer Sanktionen fürchten. Dies sind wichtige Motive, da die „relative Undurchschaubarkeit des gesellschaftlichen und damit des individuellen Lebens eine schier hoffnungslose Abhängigkeit [schaffe], an die sich das Individuum anpaßt, indem es eine sado-masochistische Charakterstruktur entwickelt". Unterwerfung werde somit subjektiv als Genuss empfunden. Diese an Sigmund Freud orientierte Deutung kann jedoch nicht die Charakterwandlungen oder -modifikationen von Individuen erklären, die sich nach der Familiensozialisation der ersten Lebensphase ergeben. 79
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sozialistischen „Opfern" der faschistischen Kampfbiindler freilich anders. Des weiteren spielen in unserem Zusammenhang weltanschauliche Motive eine wesentlich wichtigere Rolle. Auch ist keine räumliche Distanz zu den Opfern gegeben. Vgl. dazu Bauman, S.178180; Sandkühler/Schmuhl, S.13-19. Adorno, Studien; Fromm, Sozialpsychologischer Teil, S.77-135; Fromm, Politik, S. 150157. Von Autorität könne man nur dann sprechen, „wenn dieser Zwang innerlich nicht rein als solcher empfunden wird, sondern wenn er durch gefühlsmäßige Beziehungen ergänzt oder verstärkt wird" (Fromm, Sozialpsychologischer Teil, S.79). Fromm, Furcht, S.207; Fromm, Sozialpsychologischer Teil, S. 96/97, 109. Fromm, Sozialpsychologischer Teil., S.117/118 (Zitat), 120. Vgl. Freud, Massenpsychologie, S.61-134; Ders., Unbehagen, S.191-270.
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Sowohl John Dollard als auch Stanley Milgram und Erich Fromm haben immer wieder die Relevanz ihrer Gewaltanalysen für die Untersuchung des Nationalsozialismus betont. 80 Bei dieser Studie zur Gewaltsamkeit der faschistischen Kampfbünde bietet es sich an, alle drei Argumentationsebenen gegeneinander abzuwägen und zu verknüpfen. So ist zu fragen, ob sich frustrierende Erlebnisse in Gewalt transformieren lassen, wenn die Kampfbundmitglieder durch Gewaltbereitschaft zusätzlich Anerkennung und Bestätigung im faschistischen Gemeinschaftsverband erfuhren. Und weiter: Inwiefern wurden die gewalttätigen Handlungen durch die Familiensozialisation und die politische Kultur als angemessene Verhaltensweisen erlernt? 1.2.3 Politische Kultur Dass Gewalt die politische Kultur der italienischen Nachkriegsgesellschaft und der Weimarer Republik bestimmte, ist ein häufig verwendeter, aber selten näher analysierter Topos der historischen Forschung. Erst im letzten Jahrzehnt ist die Erforschung der politischen Kultur beider Gesellschaften in konzeptioneller Hinsicht „in Schwung" gekommen, wobei vergleichende Arbeiten allerdings immer noch die Ausnahme bilden. 81 Zuvor beschränkten sich die empirischen Untersuchungen zur politischen Kultur der beiden Nachkriegsgesellschaften oft auf eine politikgeschichtliche Analyse parlamentarischer Prozesse und der parteipolitischen Schwierigkeiten bei der Mehrheitsfindung. Die Behauptung, vor allem der deutschen, aber auch der italienischen Nachkriegsgesellschaft habe es an demokratischem Einverständnis gefehlt, wurde zumeist mit einigen Zitaten von hochgestellten Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft oder Literatur „belegt". Zudem wurden unter demokratischem Einverständnis vor allem die Sinndeutung, die Haltung und die Gegenentwürfe der historischen Akteure im Hinblick auf staatliches Handeln begriffen. Schon in den sechziger Jahren haben die amerikanischen Politologen Gabriel Almond und Sidney Verba eine vergleichende Bestimmung des Konzeptes der politischen Kultur vorgelegt, dem verschiedene theoretische Auseinandersetzungen mit dem Konzept folgten. 82 In Deutschland wurde das 80 81
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Dollard, S. 162ff.; Milgram, S.203-206; Fromm, Furcht, S.152-173; Fromm, Anatomie, S.415-486. Siehe etwa: Mosse, Gefallen, S. 195-244; Gentile, Storia, S.495-505; Eksteins; Lethen; Weisbrod, Gewalt in der Politik, S.391-404; Longerich, Bataillone, S.89-91; Elias, S.274281; Bessel, Krise der Weimarer Republik, S.98-114; Childers, Social Language, S.331358; Lehmann, S.407-429; Kittel/Neri/Raithel/Wirsching, S.897-831. Almond, Gabriel A./Verba, Sidney: An Approach to Political Culture, in: Almond/Verba (Hrsg.), S.3-42; Verba, S.512-560; Lipp, S.78-100; Immerfall, S.26-42; Rohe, Politische Kultur, S.321-346. Zur Kritik: Kaase, Max: Sinn oder Unsinn des Konzepts „Politische Kultur" für die Vergleichende Politikforschung, oder auch: Der Versuch, einen Pudding an
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konzeptionelle Angebot von Almond/Verba seit den siebziger Jahren vor allem in systemfunktional istische Ansätze umgemünzt, die insbesondere in der historischen Wahlforschung mündeten. 83 Das Konzept der politischen Kultur stellt den Grad des politischen Interesses und der affektiven Bindung von Individuen und Gruppen an ein politisches System in den Mittelpunkt. Ausgehend von dem Interesse an den Gründen für den Aufstieg des Nationalsozialismus interessierte Almond und Verba, inwiefern sich die deutsche Gesellschaft vom idealtypischen Modell einer demokratisch-partizipativen Zivilgesellschaft entfernt hatte. Dabei bezogen sie sowohl die psychologisch-subjektive Dimension von Politik als auch die Makroebene des politischen Systems ein. Die politischen Einstellungen waren ihres Erachtens von dem Umgang mit Autorität und den Medien, den Erfahrungen in der Familie, Schule und am Arbeitsplatz abhängig. Sie verstanden unter politischer Kultur einen festen Satz von erlernten Einstellungen und Verhaltensmustern. Die Engftihrung der politischen Kulturforschung auf staatlich angeleitete Politik und die Inhaltsseite der politischen Kultur vernachlässigt jedoch die Analyse seiner Formen und seiner Ästhetik. Auf diese thematische Leerstelle hat Karl Rohe aufmerksam gemacht. Er verweist auf die Bedeutung von Forschungen außerhalb des Dreiecks Person-Kultur-Staat. Es geht ihm um die Erforschung semantischer Strukturen und politischer Aktionsformen, die als Ausdruck einer kollektiven Identität untersucht werden. Auch die Forschungen der symbolischen Interaktionisten - die die politische Sprache und Metaphorik, die Ritualisierung und die inszenatorisehen Formen der politischen Konfliktaustragung untersuchten - bezogen sich, wie Carola Lipp schreibt, oftmals auf die Systemfunktionalität der politischen Kultur. 84 Auf sozialtheoretischer Ebene argumentiert Rohe wie Almond und Verba, da auch er unter politischer Kultur einen festen Code und Rahmen, gar eine „politische Programmsprache" versteht. 85 Dass dieser „Rahmen" jedoch der Ausdruck sozialen Handelns der Akteure einer Gesellschaft ist, kommt kaum in den Blick. Durch die Überbetonung der Strukturebene der politischen Kultur wird aber die Flexibilität und Wandelbarkeit dieses Bedeutungssystems nicht mehr erklärbar. Die „Weltbilder" der politischen Kultur beider Länder sollen in dieser Untersuchung im Sinne der Art und Weise, in denen sie sich (oft unbewusst)
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die Wand zu nageln, in: Kaase, Max/Klingemann, Hans-Dieter (Hrsg.): Wahlen und politisches System. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1980. Opladen 1983, S.144171. Lipp, S.84-87. Lipp, S.87-89; Tarrow, Mentalities, S. 182ff. Rohe, Politische Kultur, S.333.
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äußern, untersucht werden. 86 „Weltbilder" werden nach Max Weber als (sinnvermittelnde) „Weichensteller" begriffen, die die Bahnen bestimmen, „in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte". 87 Die Möglichkeiten der Art und Weise des Denkens, Handelns und Fühlens der politischen Akteure werden mithin durch diese „Weltbilder" gesteuert, aber nicht determiniert. Dabei sollen ideelle ebenso wie materielle Interessen Gegenstand der Untersuchung sein. Will man die Skala politischer Beurteilungsmaßstäbe und Ausdrucksweisen gegenüber einem konkreten politischen System untersuchen, sollte nicht nur das „Was" der politischen Kultur, sondern auch das „Wie" Gegenstand der Untersuchung sein. Politische Kultur umspannt nicht nur eine „Inhaltsseite" in ihrer kognitiven und normativen Dimension, sondern auch eine ,Ausdrucksseite" politischer Gefühlswelten und Ästhetiken. Kurz gesagt: Politische Kultur umfasst sowohl Sinn als auch Sinnfälligkeit. 88 Wenn man sie auf diese Art und Weise analysiert, kann man die politische Kultur einer Gesellschaft oft besser an ihrer Problemsicht als an ihren Problemlösungsvorschlägen erkennen, also daran, was überhaupt zu einem politischen Problem wird. Zwar legen Problemdefinitionen auch gewisse Problemlösungen nahe, aber der Normalzustand politischer Kultur ist vor allem Streit und Konflikt innerhalb einer gemeinsamen Definition. Die Beobachtung, dass in der italienischen wie der deutschen Nachkriegsgesellschaft Gewalt zu einem legitimen Mittel der Politik wurde, steht bei dieser Analyse der politischen Kultur im Mittelpunkt. George Mosse sprach von einer „Brutalisierung" der politischen Kultur, die er als „Kontinuität des Krieges" begriff. 89 Die sprachliche Ausdrucksweise war ein wichtiges Mittel zur Bewahrung dieser Kontinuität des 'Krieges in den Köpfen'. Inwiefern kreierten die faschistischen Kampfbünde einen politischen Stil, der in extremer Weise Diskussion durch Aktion, Verhandlungen durch Gewalthandlungen ersetzte? Inwiefern verband sich ihre Weltsicht mit der politischen Kultur beider Nachkriegsgesellschaften? Schlossen emotionale Vergemeinschaftung, Heroismus, „Umwertung aller Werte" und radikale Umwälzung der faschistischen Kampfbünde in Form wie Inhalt an Problemsichten der jeweiligen Nachkriegsgesellschaften an?
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Sidney Verba bezeichnet dies als „primitive political beliefs" (Verba, S.518/519). Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, S.252. Rohe, Politische Kultur, S.333-338. Mosse, Gefallen, S.195-244; Gentile, Storia, S.495-505; Lyttelton, Faschismus, S.311.
Quellenlage
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1.3 Quellenlage Um die skizzierten Fragen zu beantworten, wurde ein breites Spektrum von unterschiedlichen Quellentypen ausgewertet. Sowohl subjektive Zeugnisse über die Erwartungen, Wünsche und Einstellungen der einfachen Mitglieder der Kampfbünde als auch Datensätze über ihre soziale Lage, Berichte über den organisatorischen Aufbau oder Analysen über Umfang und Form ihrer Straßenpolitik, wurden eingesehen. Dies beinhaltete zwei verschiedene Quellentypen: Zum einen die Selbstaussagen und zum anderen staatliche Berichte und Presseartikel über die Kampfbünde. Zum ersten Typus zählen diejenigen Zeitungen, in denen die Squadristen beziehungsweise die SA-Männer selbst veröffentlichten. Im italienischen Fall wurden hierbei das überregionale Parteiblatt „II Fascio" und der „Popolo d'Italia" von 1919 bis 1922 systematisch ausgewertet. Hinzu kommen acht Zeitungen aus den Squadristenhochburgen fur die Jahre 1919 bis 1922, die punktuell eingesehen wurden - wie etwa die 1920 vom Squadrenfuhrer Dino Grandi gegründete Wochenzeitung „L'Assalto" aus Bologna oder die Tageszeitung „Cremona Nuova", Sprachrohr des Cremoneser Squadrenfuhrers Roberto Farinacci. Diese Regionalblätter, unter denen es mindestens 85 verschiedene gab, wurden sehr schnell zu „one of the most militant spokesmen for squadristi violence". 90 Daneben konnte durch die Auswertung der Presseausschnittsammlung, die anlässlich der Propagandaausstellung „Mostra della Rivoluzione Fascista" angelegt wurde, ein weites Spektrum der faschistischen Presse aus allen Teilen Italiens eingesehen werden. In dieser Pressesammlung wurden zur Vorbereitung dieser 1932 eröffneten Ausstellung Tausende von Zeitungsausschnitten aus der faschistischen Presse der Jahre 1919 bis 1922 gesammelt. 91 Für Deutschland wurde die Zeitungsbeilage der „SA-Mann" von 1928 bis 1932 ausgewertet, der, wie es im internen Verordnungsblatt der Obersten SAFührung vom November 1931 hieß, „das Sprachrohr der gesamten SA Großdeutschlands" sei. 92 Immer wieder richtete sich dieses von 1928 bis 1931 zunächst als monatliche und dann als wöchentliche Beilage des „Völkischen Beobachters" erscheinende Blatt, das ab 1932 selbständig erschien, wie folgt 90 91
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Tannenbaum, Goals, S.l 187, Anm.9. Zu den regionalen Periodika der Faschisten siehe die Liste bei Gentile, Storia, S.628, Anm.167. Zur „Mostra della Rivoluzione Fascista" siehe: Stone, Maria: Staging Fascism: the Exhibition of the Fascist Revolution, in: JCH 28, 1993, S.215-243; Gentile, Culto, S.213235; Thamer, Hans-Ulrich: Die Repräsentation der Diktatur. Geschichts- und Propagandaausstellungen im nationalsozialistischen Deutschland und im faschistischen Italien, in: Dipper, Christof/Hudemann, Rainer/Petersen, Jens (Hrsg.): Faschismus und Faschismen im Vergleich. Vierow 1998, S.240-242. Verordnungsblatt der Obersten SA-Führung, I. Jg., Nr.5 vom 30.11.1931, in: StAM Pol. Dir. München, Nr.6824, fol.51-51/3.
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an seine Leser: „Die SA-Beilage gehört uns Kameraden im Braunhemd! Helft mit, jeder, schreibt sachlich, schlicht und einfach von dem, was ihr erlebt." 93 Tatsächlich publizierten im „Der SA-Mann" vor allem die SA-Führer, zuweilen unter Pseudonymen. Auch einfache SA-Männer veröffentlichten hier. Die hohen Auflagenziffern deuten auf eine große Akzeptanz des Blattes, dessen Auflage noch schneller stieg als die Anzahl der Mitglieder. Im März 1935 hatte das Blatt mit 505.145 Exemplaren seine größte Verbreitung gefunden. 94 Daneben wurden der „Völkische Beobachter", „Der Angriff und die vom SAFührer Walter Stennes herausgegebene Zeitung „Arbeiter, Bauern, Soldaten" punktuell eingesehen. Verschiedene amtliche Presseausschnittsammlungen erweiterten diesen Bestand propagandistischer Quellen um Einzelausgaben der weitgespannten NS-Lokalpresse. Neben der Tages- und Wochenpublizistik wurde auch die veröffentlichte faschistische Literatur, die aus der Feder von Kampfbundmitgliedern stammt, ausgewertet. Hierbei sind knapp 200 Erinnerungsberichte und sogenannte Tatsachenromane fur die Analyse der SA eingesehen worden und fast 80 entsprechende Veröffentlichungen der Squadristen. Es würde zu weit fuhren, diesen Quellenbestand ausfuhrlich vorzustellen. Grundsätzlich befand sich unter diesen Berichten eine größere Anzahl von propagandistischem Schriftgut, das nach den jeweiligen „Machtergreifungen" meist von Führern der Kampfbünde verfasst worden ist. Mit authentischen Zeugnissen hat man es bei dieser Quellengattung daher nur ausnahmsweise zu tun. Zusätzlich wurden die Ausgaben der gesammelten Werke und Reden von den beiden Parteiführern Benito Mussolini und Adolf Hitler durchgesehen. Diese lieferten einen Eindruck von der Versammlungssprache vor allem ein Bild von den Haltungen, die die Parteien gegenüber ihren Kampfbünden einnahmen. Von geringerer propagandistischer Ausrichtung waren die Tagebücher von Squadrenfuhrern, wie die Erinnerungen von Umberto Banchelli, der selbst aktiver Squadrist des Florentiner Fascio war, oder auch von Raffaele Vicentini, einem Squadristen aus Venetien. Den Authentizitätsgrad der Tagebücher des berühmten Squadrenfuhrers Italo Balbo kann man mittlerweile recht genau bestimmen. 95 Dank des Engagements von Historikern sind auch rein private Tagebücher von Squadristen in kommentierter Fassung veröffentlicht worden. Dazu zählen die Tagebücher des toskanischen Squadristen Mario Piazzesi oder von Pino Bellinetti, einem Squadristen aus der Podelta. Diese Werke können einen hohen Authentizitätswert beanspruchen, da sie zur Veröffentlichung weder geschönt noch verfälscht wurden. Daneben konnte
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SA-Kameraden!, in: Der SA-Mann Nr.42, Beilage des Völkischen Beobachter vom 14.12.1929. BAB (ehem. BÄK) NS 26 /1111. Zu Balbos Tagebüchern: Segre, „Diario 1922", S.333-341. Zur Biographie Banchellis: Chiurco, Storia, Bd.3, S.233.
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etwa ein Dutzend meist handschriftlich verfaßter Lebensbeschreibungen von Squadristen eingesehen werden, die 1927 anläßlich eines Aufrufes von Giorgio Pini, des damaligen Leiters der Zeitung „L'Assalto", verfasst wurden. Auf deutscher Seite wurden Privatbriefe und Lebensbeschreibungen von SA-Männern ausgewertet. Für die SA liegt ein umfangreicher Briefbestand über einen besonders gewaltsamen Berliner SA-Sturm vor. Dabei handelt es sich um Briefe, die die SA-Männer vornehmlich an ihre „Sturmkameraden", aber auch an Verwandte geschrieben haben. Insgesamt 123 Briefe unterschiedlicher archivalischer Provenienz sind von den Mitgliedern dieses Sturmes überliefert. 96 Man besitzt daher einen Fundus an Quellen, die einen guten Einblick in die subjektiven Wahrnehmungen, Erwartungen und Hoffnungen der einfachen SA-Leute geben. Korrespondierend zu diesem Bestand verfügt man durch die Sammlung des amerikanischen Soziologen Theodor Abel über einen ähnlichen Quellenfundus, der jedoch deutschlandweit und nicht nur auf einen Berliner Stadtteil begrenzt ist. Diese von Peter Merkl ausgewerteten Lebensbeschreibungen von 581 „Alten Kämpfern" der NSDAP (etwa zwei Drittel von ihnen waren SA-Männer) bildeten eine Art Testgruppe, um lokale Besonderheiten des Briefbestandes des Charlottenburger SA-Sturmes zu überprüfen. 97 Neben diesen subjektiven Selbstdeutungen wurden Quellen herangezogen, durch die die Kampfbünde von außen betrachtet werden können. Zunächst sind die zeitgenössischen Zeitungsberichte zu nennen, die nicht aus faschistischer Feder stammen. Zu bestimmten Vorfallen und Anlässen wurde ein möglichst weites politisches Zeitungsspektrum durchgesehen. Für Italien reicht dieses Spektrum vom rechtsstehenden „Giornale d'Italia", über den „Corriere della Sera" und katholischen „L'Avvenire" bis zum sozialistischen „Avanti" und kommunistischen „L'Ordine Nuovo". Für die deutsche Seite reicht die Durchsicht von der konservativen „Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung" über
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88 dieser Briefe sind im BAB (ehem. BÄK) NS 26/323 verwahrt. Dieser Briefbestand wird durch Briefe ergänzt, welche das NSDAP-Mitglied Frau von Trotha aus Pommern sammelte, die dort eine Lehrwirtschaft der Landwirtschaftskammer betrieb. Sie hatte in den Jahren vor 1933 verletzten SA-Männern offenbar kostenlos Unterschlupf und Verpflegung geboten. Die ebenfalls im BAB verwahrte Briefsammlung umfasst Dankesschreiben und Hilfe- bzw. Unterstützungsgesuche der dort gesundgepflegten SA-Männer (BAB (ehem. BÄK) NS 26/326). In dieser Sammlung befinden sich 18 Briefe eines SA-Mannes aus dem Sturm 33. Fünf Briefe des untersuchten Briefmaterials befinden sich in einer Gerichtsakte (LAB, Rep.58, Nr.2553, Bd.III). Die letzten zwölf Briefe schließlich entstammen der SAPersonalakte des Sturmfuhrers (BDC, SA-P (Akte Hahn), ohne fol.).
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Abel; Merkl, Political Violence. Methodisch zur Abel-Collection: Krassnitzer, Patrick: Autobiographische Erinnerung und kollektive Gedächtnisse. Die nationalsozialistische Erinnerung an das „Fronterlebnis" im Ersten Weltkrieg in den Autobiographien von „alten Kämpfern", in: Borsö, Vittoria/Krumeich, Gerd/Witte, Bernd (Hrsg.): Medialität und Gedächtnis. Interdisziplinäre Beiträge zur kulturellen Verarbeitung euroäischer Krisen. Stuttgart/Weimar 2001, S.215-258.
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die „Deutsche Allgemeine Zeitung" bis hin zu den demokratisch-liberalen Gazetten „Berliner Tageblatt" und „Vossische Zeitung". Auch die sozialdemokratischen „Münchner Neuste Nachrichten" und der „Vorwärts" sowie die kommunistischen Tageszeitungen „Welt am Abend" und die „Rote Fahne" wurden einbezogen. Wesentlich intensiver wurden Einschätzung und Berichterstattung der Polizeibehörden, Präfekturen und der Innenministerien ausgewertet. Für Italien wurde im „Archivio Centrale dello Stato" die Korrespondenz zwischen den Präfekturen der 71 verschiedenen italienischen Provinzen und dem Innenministerium in bezug auf den Squadrismus ausgewertet. Dabei wurden vor allem die Akten der „Hauptabteilung Öffentliche Sicherheit" des italienischen Innenministeriums für die Jahre 1919 bis 1922 eingesehen. Ergänzend wurden die ,Akten zur Öffentlichen Ordnung" in den Kabinetten Bonomi und Finzi herangezogen, um die staatliche Politik hinsichtlich der politischen Gewalttaten zu analysieren. Für Deutschland sind die Akten der Regierungen Brüning bis Schleicher publiziert, so dass hier nur die Sicht der größten Länder, nämlich Preußen und Bayern, durch Archivarbeiten aufbereitet wurde. Die Situationsberichte der Regierungspräsidenten, Oberpräsidenten, Oberregierungsräte und Polizeipräsidenten waren dabei besonders gehaltvoll. Neben der Einschätzung der SA und NSDAP wurde viel SA-internes Schriftgut im Originalwortlaut wiedergegeben. Die entsprechenden Bestände finden sich fur Preußen in den im „Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz" eingegliederten Beständen aus der ehemaligen DDR (Merseburger Bestand). Für Bayern finden sich im Staatsarchiv München diverse Polizeiberichte, die die interne Organisation der SA wie auch deren Aktionsformen beleuchten. Die polizeiliche Überlieferung ergänzt zudem die subjektiven Zeugnisse über die Mentalität der Kampfbündler. Da Memoralistik, Publizistik und Briefbestand nur einen begrenzten Einblick bieten, konnten durch die Berichterstattung der Polizei auch die stumme Körperpolitik und die kurzen Ausrufe bei den Gewaltaktionen in die Analyse aufgenommen werden. Neben den Informationen aus dem Bereich der Innenministerien wurden punktuell auch Überlieferungen aus dem Bereich der Justiz eingesehen. So existiert im Berliner Landesarchiv ein etwa 1.500 Fälle zählender Bestand an justiziellen Handakten über die in Berlin begangenen politischen Verbrechen. Leider wurde dieser Bestand erst nach 1933, in der propagandistischen Absicht, den kommunistischen Terror in der Weimarer Republik zu dokumentieren, angelegt. Insofern sind die hier ausgewählten Fälle nicht repräsentativ, in Einzelfällen aber dennoch aufschlussreich. Ergänzend wurden die im Geheimen Staatsarchiv und im Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam aufbewahrten Akten aus dem preußischen Justizministerium eingesehen. Diese Bestände wurden von der Weimarer Justiz in der Absicht angelegt,
Quellenlage
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besonders wichtige und aufschlussreiche Fälle zu dokumentieren. Für Italien konnten entsprechende Bestände im „Archivio di Stato di Bologna" aus den Akten des Berufungsgerichtes (Corte d'appello) mit Hunderten von Fällen eingesehen werden. Für die Untersuchung der sozialen Zusammensetzung der faschistischen Kampfbünde konnten ebenfalls staatliche Quellen herangezogen werden. Durch die Tatsache, dass die Provinz Bologna eine der Hochburgen des gewaltsamen Squadrismus war, lag die Auswahl Bologneser Squadren als Untersuchungseinheit auf der Hand. Außerdem war die Auswahl dadurch bedingt, dass hier „ziemlich viele Faschisten ins Gefängnis" kamen, wie der Bologneser Faschistenflihrer Baroncini auf dem nationalen Kongress der faschistischen Partei in Rom beklagte. 98 Tatsächlich sind mehrere tausend Polizeiberichte im „Archivio di Stato di Bologna" überliefert. Dank des außergewöhnlich konsequenten Durchgreifens des Präfekten Cesare Mori, der die Provinz von Mitte Februar 1921 bis zum August 1922 leitete, aber auch seines im April 1921 neu eingesetzten Quästors Alfonso De Silva wie des Vize-Quästors Raffaele D'Arpe bestand die exzeptionelle Chance, genug Material über die oft straffällig gewordenen Squadristen aufzufinden." Tatsächlich konnten aus den Polizeiberichten für die Jahre 1921 und 1922 die Sozialangaben von 1.190 Squadristen erhoben werden. Das entsprach etwa zehn Prozent der Squadristen der Provinz. 100 Zudem wurden noch die Sozialdaten aller sogenannten Märtyrer aus den Jahren 1919 bis 1922 aus der offiziellen Geschichte über alle Toten der faschistischen „Revolution" zusammengetragen. Diese wurden dann mit Alberto Chiurcos funfbändiger Darstellung der faschistischen Revolution abgeglichen. Die so erhobenen Sozialdaten von 424 Personen wurden anschließend mit der archivalischen Überlieferung im „Archivio Centrale dello Stato" gegengeprüft. 101 Chiurcos gehaltvolle Darstellung diente darüber hinaus als besonders wertvolle subjektive Quelle, da Chiurco während des Aufstiegs des Faschismus durch seine Funktion als Squadristenfuhrer in Siena in gewalttätige Aktionen verwickelt war. 102
98 99 100 101 102
„II programme politico dei fasci discusso al Congresso Nazionale di Roma", in: II Progresso Nr.268 vom 9.11.1921. Vgl. zu Mori: Petacco, Prefetto. Zur Quellengrundlage des Samples siehe die Ausführungen im Anhang (Sample ReichardtBologna). Zur Quellengrundlage des Samples siehe die Ausführungen im Anhang (Sample ReichardtSQ-Märtyrer). ACS, Mdl, Gabinetto di S.E. Bonomi, Ordine pubblico (1921-1922), busta 3, Affari per provincie: fasc. 37: Grosseto, sottofasc. 2: Roccastrada (Ufficio Cifra des Präfekten Rocco an Direzione Generale P.S. vom 16.10.1921). Vgl. Chiurco, Fascismo senese, S.193; Chiurco, Storia, Bd.3, S.193.
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Einleitung
Auch fur die deutsche SA sind fur die Zeit bis 1933 keine zentralen Mitgliederlisten überliefert, so dass auch hier die sozialstrukturelle Zusammensetzung der SA durch Polizeiberichte oder splitterhaft überlieferte regionale Mitgliederlisten erhoben werden mußte. Im Unterschied zur spärlichen Forschung über die soziale Komposition des Squadrismus wurden für die SA jedoch schon von Conan Fischer, Richard Bessel, Eric Reiche, Mathilde Jamin, Detlev Mühlberger und Bruce Campbell Untersuchungen durchgeführt. Diese Ergebnisse konnten somit zusammengefasst und in ihrer Aussagekraft problematisiert werden. Zusätzlich wurden punktuelle Analysen über die Berliner SA und die „Märtyrer" der NS-Bewegung sowie regionale Untersuchungen zur pommerschen, schlesischen und westfälischen SA vorgenommen. Bis auf zwei Fälle basieren diese Samples auf von der Polizei zusammengestellten Listen. Lediglich fur einen Berliner SA-Sturm aus dem Stadtteil Charlottenburg und für die NS-„Märtyrer" wurden andere Quellen herangezogen. 103
103 Zur Quellengrundlage fur die Charlottenburger SA und die NS-Märtyrer siehe die Ausführungen über das Sample Reichardt-Charlottenburg und das Sample Reichardt-NSMärtyrer im Anhang dieser Arbeit.
2 LATENTER BÜRGERKRIEG?
2.1 Eine Gewaltbilanz: Ausmaß und Charakter der politischen Auseinandersetzungen „Die Parallele zwischen dem Jahr 1922 in Italien und dem Jahr 1931 in Deutschland erschüttert mich", schrieb Hans-Erich Kaminski, der noch ganz unter dem Eindruck der größten SA-Versammlung der Weimarer Republik stand. Das Braunschweiger SA-Treffen beweise, dass „nun auch der Bürgerkrieg begonnen hat. Und zwar [...] de[r] offene Bürgerkrieg, der jeden einzelnen, auch den Friedliebendsten, in seinen Strudel reißt". Er kommentierte die Ereignisse mit den Worten: „Was sich jetzt in Braunschweig abgespielt hat, das ging damals in den italienischen Städten der Machtergreifung des Faschismus voraus". Auch spätere Historiker haben die Verhältnisse am Vorabend der „Machtergreifung" Mussolinis oft als „schrecklichen Bürgerkrieg", als „unilateral civil war" oder als „Vernichtungskrieg" der Faschisten gegen die Sozialisten bezeichnet. 1 Die deutsche Situation wurde dagegen von den Historikern, im Unterschied zum Urteil der Zeitgenossen, zumeist mit größter Vorsicht als 'Bürgerkrieg' bezeichnet. Da dieser Kampf nicht offen gegen die Regierungsgewalt gefuhrt worden sei, solle man besser von einem „latenten Bürgerkrieg" sprechen. Auch haben die gewaltsamen Auseinandersetzungen die Regierung nicht stürzen können, die Situation sei nur „bürgerkriegsähnlich" gewesen, die Gesellschaft habe sich „am Rande des Bürgerkriegs" befunden. Am deutlichsten hat dies Dirk Schumann betont, der meint, dass die Jahre 1930-1933 „nicht wirklich als 'Bürgerkrieg' zu bezeichnen" seien, denn zwar sei die Gewalt ubiquitär, aber keineswegs unkontrollierbar oder ernsthaft staatsgefährdend gewesen. 2
1
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Hans-Erich Kaminski: Gerechtigkeit für Braunschweig, in: Die Welt am Montag Nr.43 vom 26.10.1931, S.l; Salvemini, S.49 (Zitat); Cardoza, Agrarian Elites, S.340 (Zitat); Engelmann, Provinzfaschismus, S.9 (Zitat); Schneider, S.68; Snowden, Fascist revolution, S.205; Nenni; Sabbatucci, Crisi, S.l33. Für weitere Nachweise vgl. Petersen, Problem, S.329-331. Zitate zum Charakter des Bürgerkrieges: Wirsching, Weltkrieg, S.22; Bracher, Auflösung, S.542; Jasper, Gotthard: Zur innenpolitischen Lage in Deutschland im Herbst 1929, in: V E 8, 1960, S.281; Striefler, S.9, 385; Kershaw, Hitler, S.462, 476; Nolte. Bürgerkrieg, S.6, 175-212, bes. S.179; Schmiechen-Ackermann, Nationalsozialismus, S.141, 160. 252; Elias, S.294; Schumann, Politische Gewalt, S.328 (Zitat).
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Latenter Bürgerkrieg?
Generell gilt es, zwei Ebenen des Bürgerkriegsbegriffes auseinanderzuhalten, der qua Definition ein gewaltsamer Kampf von militärähnlichen Organisationen gegen die amtierenden Regierungsgewalten ist: die enge Definition im direkten machtpolitisch-militärischen Sinne einerseits, und andererseits die weite Definition im Hinblick auf die indirekten Auswirkungen der bewaffneten Auseinandersetzungen für die politische Kultur. Lediglich im zweiten Sinne wird der Begriff im Folgenden verstanden. Es war vor allem die Angst vor dem Bürgerkrieg, die insbesondere in den bürgerlichen Kreisen beider Länder verbreitet war. 3 Der Einfluss der bewaffneten Auseinandersetzungen auf die politische Kultur beider Länder kann nicht ohne eine genaue Analyse des Ausmaßes der Straßenkämpfe erfolgen. Daher soll im Folgenden geklärt werden, inwiefern sich die politischen Lager unversöhnlich gegenüberstanden und ob ihre Aktionen eine ernsthafte Bedrohung des staatlichen Gewaltmonopols darstellten. In welchem Maße waren die militärähnlichen Organisationen überhaupt bewaffnet? Anhand der Gewalthandlungen sollen erste Einblicke in Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den beiden faschistischen Kampfbünden gewonnen werden. Die Analyse soll zudem die Entwicklungsphasen der Gewalttätigkeiten beleuchten und untersuchen, ob es einen ähnlichen Gewaltverlauf auf dem Wege zur jeweiligen Machtübertragung an die Diktatoren Mussolini und Hitler gegeben hat. Dabei werden die Gewaltvorfalle in Italien und Preußen miteinander verglichen, da diese in ihrer Einwohnerzahl annähernd übereinstimmten. Zudem sind detaillierte preußischen Gewaltstatistiken überliefert, die hinsichtlich der ihnen zugrundeliegenden Erhebungsmethoden überprüfbar sind. Punkteil wurden aber auch Befunde aus Bayern in die Analyse einbezogen. 4 In diesem Abschnitt wird auf das Verhältnis der kommunistischen zu den faschistischen Angriffen im jeweiligen Land eingegangen, um zu prüfen, in welchem Bedingungsverhältnis linke und rechte Gewalt zueinander standen. Hierbei wird besonders auf die Thesen von Ernst Nolte, Christian Striefler und Andreas Wirsching einzugehen sein, die von einer reaktiven Gewalt der Faschisten gegenüber der vorgängigen kommunistischen Gewalt ausgehen oder doch wenigstens die Radikalität der Faschisten als eine von den Kommunisten abhängige Variable bewerten. Die hier vorgenommene Auseinan3 4
Zum Begriff des Bürgerkriegs: Thackrah, S.34-36; Schnur, S.341-366; Nolte, Bürgerkrieg, S.3-27. Zur Bürgerkriegsangst: Schumann, Politische Gewalt, S.262-264, 334-258. Einwohner Preußens nach der Volkszählung vom 16.6.1925: 38.175.989 (=61,2 Prozent der deutschen Reichsbevölkerung). In Italien betrug die Einwohnerzahl am 1.12.1921 39.943.528 Personen. Preußisches Staatsministerium (Hrsg.): Handbuch über den Preußischen Staat, 137. Jg., 1931. Berlin 1931, S.19; Direzione Generale della Statistica: Annuario Statistico Italiano. Seconda Serie, Bd. VIII. Anni 1919-1921. Indici Economici fino al 1924. Rom 1925, S.30. Bessel (Political Violence, S.77) zeigt, dass mindestens zwei Drittel der nationalsozialistischen Gewaltdelikte auf die SA-Männer zurückgingen.
Eine Gewaltbilanz
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dersetzung mit dem quantitativen Ausmaß und qualitativen Charakter der Straßengewalt fallt deswegen so ausfuhrlich aus, weil diese Autoren - trotz ihrer entschiedenen Thesen - auf eine gründliche statistische Analyse der gewaltsamen Auseinandersetzungen verzichtet haben. Die Analyse des linksrechts-Gewaltverhältnisses wird in dieser Darstellung nicht ohne einen Seitenblick auf die durch andere politische Kräfte verübten Gewaltakte erfolgen. Ein Blick auf die Hochburgen der Gewalt soll schließlich die für Gewaltvorfalle typischen Regionen kennzeichnen. Abschließend wird nach dem Charakter der Gewalttätigkeiten gefragt. Erstens wird die Intensität der Gewaltvorfalle anhand des jeweiligen Anteils von Toten und Verletzten in Italien und Deutschland miteinander verglichen. Zum zweiten wird nach dem Verhältnis von Personenschäden und Eigentumsdelikten gefragt, die von den faschistischen Kampfbünden verübt wurden. Dabei werden drittens bei den Gewaltaktionen benutzten Waffen untersucht. Viertens soll die Verwicklung der Polizei in die Gewaltvorfalle beleuchtet werden. Fünftens soll vergleichend nach dem Zusammenhang von Wahlen und Gewaltfrequenz sowie sechstens nach dem Zusammenhang von allgemeinem Gewaltniveau und den hier untersuchten politischen Gewaltdelikten gefragt werden. 2.1.1 Probleme der amtlichen Gewaltstatistiken Die quantitative Bestimmung des Ausmaßes der Gewalttätigkeiten stößt in beiden Ländern auf eminente Schwierigkeiten. Nicht alle amtlichen Statistiken liefern verlässliche Zahlenangaben, da ihnen die Registrierung von Straftaten - zuweilen sogar willentlich - entging. Noch problematischer sind die Statistisken sozialistischer oder faschistischer Herkunft. 5 Der „Vorwärts"
5
Vgl. Graf, S.44-47. Sowohl die sozialistischen wie auch die faschistischen Zahlenangaben schwankten sehr stark und widersprachen sich gegenseitig. So starben allein nach Eigenangaben der italienischen Faschisten zwischen 1919 und 1922 entweder 463 oder nur 351 Faschisten. Gleiche Variationen gelten für die Nationalsozialisten, die teils 300, teils aber nur 185 „Märtyrer" aus der „Kampfzeit" für sich reklamierten. Gleiches gilt für die kommunistischen Angaben. Obwohl diese Zahlen ausschließlich Prodagandazwecken dienten, wurden sie des öfteren von Historikern benutzt. Siehe nur der Bezug auf NSAngaben bei: Brustein, Logic, S.170/171; Bessel, Political Violence, S.76/77; Rosenhaft, Beating, S.6; Werner, S.412; Longerich, Bataillone, S.96; Striefler, S.307. Auch die von der sogenannten SA-Versicherung ausgewiesenen Zahlen waren schon nach NSDAPeigenen Angaben zu 15-20 Prozent auf Sportverletzungen zurückzuführen, was in der Historiographie nicht erwähnt wird (dazu RSA, Bd.IV, Teil 3, S.248, Anm.13; RSA, Bd.IV, Teil 2, S.198, Anm.4). Die NS-Bewegung hatte Unfallstatistiken geführt, wobei Unfälle anfänglich mit verschiedenen Privatversichungen und dann durch die Hilfskasse der NSDAP abgedeckt wurden. Dabei ist ein immer wieder unterschiedliches Spektrum abgedeckt worden. Anfänglich waren etwa Schlägereien ausgenommen worden, und später
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Latenter Bürgerkrieg?
wies schon 1932 auf die Fehler in einer Statistik des preußischen Innenministeriums hin, wonach in der Zeit von 1. Januar 1932 bis zum 23. September diesen Jahres 155 Menschen bei politischen Ausschreitungen ums Leben gekommen seien. Dabei wies die Statistik 70 getötete Nationalsozialisten und 64 Todesopfer von SPD und KPD aus. Der „Vorwärts" prüfte die der Statistik zugrundeliegenden Einzelnachweisungen, fand eklatante Fehler und stellte in zutreffender Weise fest, dass ebensoviel Kommunisten wie Nationalsozialisten gefallen waren. So lautete das Urteil: Die „Fehler nehmen der Einzelnachweisung jedlichen Wert. [...] Es bedarf der Ergänzung". 6 Tatsächlich war die politische Zuordnung der Gewaltvorfälle nicht immer korrekt. So hatte der damalige Reichsinnenminister Wilhelm Groener noch im November 1931 in einem Schreiben an Staatssekretär Zweigert eine „zuverlässige Statistik über alle Gewalttaten aus politischen Motiven" gefordert. 7 Dabei waren die statistischen Fehler nicht immer der politischen Einäugigkeit der preußischen Zentralbehörden zuzuschreiben, denn die Beamten des preußischen Innenministeriums stützten sich auf die Berichte aus den Regierungsbezirken. Noch im Oktober 1932 hieß es in einem Schreiben aus dem Preußischen Innenministerium, die Regierungspräsidenten nähmen zu unterschiedliche Fälle in die Statistik auf. Während in einem Bezirk auch noch der kleinste Zusammenprall als politische Ausschreitung registriert würde, hätten in anderen Bezirken „nur besonders wichtige und ernste Fälle Aufnahme gefunden". Die Definition des zuständigen Oberregierungsrates dürfte nur unwesentlich zur Klärung beigetragen haben: „Unter Ausschreitungen verstehe ich im allgemeinen solche Zusammenstöße, die sich irgendwie in der weiteren Öffentlichkeit auswirken, die also durch die Zahl der Beteiligten, die Art des Angriffs, die benutzten Mittel und den herbeigeführten Schaden an Leib und Leben aus der weitaus größeren Menge der gewöhnlichen Ordnungsstörungen und Übergriffe hervorragen. Als 'Ausschreitungen' werden daher z.B. geringfügige Zusammenstöße, wie Anrempeleien, Androhung von körperlicher Züchtigung (Ohrfeigenanbieten), Abreißen und Entwendung von Abzeichen, unbedeutende Schlägereien usw., im allgemeinen nicht angesehen werden können". Diese nicht gerade eindeutig zu handhabende
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wurden im Wesentlichen nur Verwundete entschädigt. Dazu jetzt Laube, S.200/201, 207214. Der Vorwärts Nr.461 vom 30.9.1932 („100 Tote in sechs Wochen"). Die preußische Statistik, auf die sich der Vorwärts bezog, in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr. 122, fol.259 (M). Weitere einander widersprechende preußische Statistiken: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr. 122, fol.260-264, 325-328 (M). Vgl. den amtlichen Listen auch: Schirmann, Blutmai Berlin, S.31/32; Schirmann, Altonaer Blutsonntag, S.152/153; Kopitzsch, ,Altonaer Blutsonntag", S.509-516; McElligott, „... und so kam es...", S.70. Groener an Zweigert vom 18.11.1931, in: Staat und NSDAP, S.228.
Eine Gewaltbilanz
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Bestimmung des späteren Gestapo-Chefs Rudolf Diels (der seit März 1932 „Förderndes Mitglied" der SA war) erfolgte zudem erst wenige Monate vor dem Ende der Weimarer Republik. 8 Für den italienischen Fall kann ähnliches angenommen werden. Die Praxis der italienischen Provinzbehörden und Präfekturen war, verglichen mit der der preußischen Regierungsbezirke, noch ungenauer und lückenhafter. Man wird annehmen können, dass hier nur die wichtigsten Ausschreitungen Aufnahme gefunden haben. 9 Aufgrund dieser Schwierigkeiten wird man für beide Länder nur ein ungefähres Bild des Ausmaßes der politischen Gewalttätigkeiten geben können. Auch hinsichtlich der Vergleichbarkeit der jeweiligen Ziffernangaben wird man vorsichtig sein müssen. Um gravierende Verzerrungen zu vermeiden, wird im Folgenden ausschließlich das Zahlenmaterial herangezogen, das durch verschiedene amtliche Statistiken übereinstimmend belegt ist und insofern als zuverlässig gelten kann. 2.1.2 Gewalttaten im Spiegel der Historiographie Noch immer gilt Martin Broszats 1969 getroffenes Urteil, dass eine „verläßliche Bilanz" der gewaltsamen politischen Übergriffe fur die Weimarer Republik fehlt. Karl Dietrich Bracher bezeichnete es in seiner klassischen Studie zur Auflösung der Weimarer Republik aus dem Jahre 1955 - ohne Angabe von Gründen - noch als „müßig", „einen Vergleich über den Anteil der beiden totalitären Parteien an dem Terror und den Bluttaten anzustellen". 10 Bisher wurden nur Schätzungen über das Ausmaß der Gewalttätigkeiten vorgelegt - meist mit Bezug auf problematische Quellen. Ein typisches Beispiel hierfür liefert Richard Bessel, der die Anzahl der politischen Zusammenstöße schlicht als „countless acts of political violence during 1932" qualifizierte. Problematischer ist Bessels Bezug auf nationalsozialistische Quellen zur Klärung des Ausmaßes der politischen Zusammenstöße. Damit steht er jedoch keineswegs allein." Am ausfuhrlichsten haben sich bislang
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Schreiben des Oberregierungsrates Diels für den Minister des Inneren an sämtliche Regierungspräsidenten und den Polizeipräsidenten in Berlin, Oktober 1932. in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr. 122, fol.96 (M). Vgl. Schreiben aus dem Preußischen Mdl an den Oberpräsidenten in Königsberg vom Januar 1933, in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr. 122, fol.293/294 (M). Siehe auch Schmiechen-Ackermann, Nationalsozialismus, S.359, Anm.10. Zu Diels: Graf, S.317-329. Lyttelton, Faschismus, S.310; Gentile, Storia, S.491. Broszat, Staat Hitlers, S.44; Bracher, Auflösung, S.509. Zitat: Bessel, Potempa Murder, S.241. Bezug auf NS-Quellen in: Bessel, Political Violence, S.76/77. Weitere Beispiele: Fischer, Stormtroopers, S.157, 177 (Anm.43); Schulz, Aufstieg, S.491/492, 723; Longerich, Bataillone, S.96; Leßmann, S.266, 288, 290; Rüffler, S.192; Rosenhaft, Beating, S.6/7; Winkler, Weg in die Katastrophe, S.393/394,
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Richard Dee Wernette sowie Christian Striefler mit dem Ausmaß der politischen Gewalt beschäftigt. 12 Während Wernettes Untersuchung nur Bruchteile der Wahlkampfaktivitäten der Nationalsozialisten erfasst, die zudem vor allem Düsseldorf und den Raum Köln-Aachen umfassen, leidet Strieflers Sicht an unkritischer Übernahme zeitgenössischer antikommunistischer Angaben. 1 3 Vergleichen wir diese deutsche Situation mit den italienischen Verhältnissen, so ergibt sich ein ähnliches Bild, denn auch hier liegen nur Schätzungen von Angelo Tasca und Gaetano Salvemini vor. 14 2.1.3 Die seriösen amtlichen Statistiken Ein Blick auf die zuverlässigen Statistiken des italienischen Innenministeriums belegt die hohe Anzahl von sozialistischen Opfern bei den gewaltsamen Zusammenstößen. Für das gesamte Jahr 1920 ergeben sich aus einer Statistik des Innenministeriums eindeutige Zahlen. Unter den 288 Toten der politischen Zusammenstöße befanden sich 172 Sozialisten und nur 10 Faschisten. Auch die Zahl der Verletzten dieses Jahres, die insgesamt 1.476 betrug, weist 578 verletzte Sozialisten, aber nur 57 Faschisten aus. Angesichts der Tatsache, dass es im März 1921 erst cirka 80.500 Faschisten gab, die Sozialisten dagegen aber im Jahre 1920 209.000 Mitglieder hatten, erscheint die Diskrepanz umso deutlicher. Es ist zu vermuten, dass bei gleicher Mitgliederanzahl die Differenz noch deutlicher ausgefallen wäre. 15 Auch für das Folgejahr 1921 zeigt sich dieselbe Tendenz, wenngleich in abgemilderter Form. Für die Zeit vom 1. Januar bis zum Tag der Auflösung des Parlamentes vom 7. April 1921 sowie für die Zeit vom 15. bis zum 31. Mai 1921 wurden insgesamt drei staatliche Statistiken erstellt. Diese geben zusammen 211 Tote und 708 Verletzte an, darunter nur 51 getötete und 205 verletzte Faschisten. Die Anzahl der getöteten Sozialisten betrug im genannten Zeitraum dagegen 79, verletzt wurden 227. 1 6
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654, 684/685; Winkler, Weimar, S.490, 492/493, 507/508; Bessel, Militarismus, S.213, Anm.71. William Brustein meint zur Klärung der Anzahl der nationalsozialistischen Opfer im Straßenkampf, dass „one of the best sources for details on Nazi casualities was the party itself (Brustein, Logic, S.1701/171). Wernette, S . 1 0 M 7 5 ; Striefler, S.206, 253, 292/293, 307, 311-316, 347, 369. Zu Wernette siehe: Ohr, S.28-31. Wernette räumt selbst die Grenzen seiner Arbeit ein (Wemette, S.122, 195). Zu Striefler: 1999. Zeitschrift fur Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts 11, Heft 4, 1996, S. 113-118; Die Zeit Nr.49 vom 3.12.1993; ZfG 44, 1996, S.87-89. Tasca, S.260, 438; Salvemini, Scritti, S.62-65, 554; Payne, History, S.106; Gentile, Storia, S.493; Petersen, Problem, S.341-343. Überzogene Angaben ohne Nennung der Quellen bei: Casanova, S. 10/11. Feiice, Mussolini il fascista, Bd.l, S.10; Vivarelli, Storia, Bd.2, S.299. ACS, DGPS, AGR, CA 1921, busta 90, fasc.148,1: „Statistical Siehe auch Gentile, Storia, S.494; Petersen, Problem, S.343.
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Diese Zahlen machen deutlich, dass bei den Auseinandersetzungen zwischen den faschistischen und sozialistischen Gruppen Italiens spätestens ab 1920 ein offenkundiges Mißverhältnis hinsichtlich der Intensität der Gewaltsamkeit und der Opferanzahl bestand. Auch eine Durchsicht der liberalen Tageszeitung „Corriere della Sera", die seit Anfang 1921 unter der ständigen Rubrik „Zwischen Faschisten und Sozialisten" täglich zwischen 5 und 20 gewaltsame Zwischenfalle aufführte, verstärkt diesen Eindruck. Gaetano Salveminis systematische Durchsicht aller Ausgaben des „Corriere della Sera" vom 1.10.1920 bis zum 30.10.1922 ergibt, dass in dieser Zeitspanne 406 Personen erwähnt wurden, die von den Faschisten getötet wurden, während 216 Faschisten genannt werden, die bei gewaltsamen Auseinandersetzungen getötet wurden. 17 Dazu kamen dann - oft nur von Faschisten praktizierte - Aktionen wie Nötigungen, das gewaltsame Eindringen in die Wohnungen der betroffenen Sozialisten sowie Entfuhrungen und Vertreibungen. 18 Vergleicht man diesen Befund mit den preußischen Verhältnissen, so fällt zunächst ins Auge, wie vergleichsweise unblutig die deutschen Straßenschlachten verliefen. So fanden bei den politischen Auseinandersetzungen des Jahres 1931 insgesamt 56 Menschen auf preußischem Gebiet den gewaltsamen Tod, den Tatbestand der Notwehr einmal ausgenommen. Als Täter wurden insgesamt 109 Personen festgestellt, darunter 79 aus den Reihen der KPD und 27 Nationalsozialisten. Andere Täter gab es fast nicht, nur ein Reichsbannermann und zwei „Sonstige" konnten festgestellt werden. Die Kommunisten griffen vor allem die Nationalsozialisten (52 Täter) oder den Stahlhelm an (25 Täter). Die nationalsozialistischen Täter wiederum griffen entweder die Kommunisten (16 Personen) oder die Reichsbannermitglieder an (9 Personen). Andere Kombinationen gab es kaum. Nur die Vergehen gegen die eigenen Parteimitglieder sind noch erwähnenswert, denn einer der Kommunisten wurde von den eigenen Genossen getötet und auch zwei Nationalsozialisten starben aufgrund von Totschlagsvergehen aus den eigenen Reihen. 19 Während am Beginn des Jahres 1932 die Anzahl der durch politische Ausschreitungen Getöteten weiterhin relativ gering blieb - in den ersten drei Monaten waren es 31 Menschen - erhöhte sich mit der Aufhebung des SAVerbotes Mitte Juni 1932 die Bilanz dramatisch. 20 Vom Anfang des Jahres 1932 bis Ende August 1932 wurden allein in Preußen 155 Menschen getötet.
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Salvemini, S.63. Nach der Einschätzung Tascas (S.292) berichtete der „Corriere della Sera" allerdings eindeutig profaschistisch über die einzelnen Vorfälle. Siehe auch „Le violenze dei socialisti e le violenze ... degli altri", in: Avanti vom 9.7.1921. GStA PK, 1. HA. Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.121, fol.215/216 (M). Vgl. Staat und NSDAP. S.220-226; Rosenhaft, Beating, S.7. GStA PK, I. HA. Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.121, fol.447/448 (M).
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Vor den Reichstagswahlen am 31. Juli waren die meisten Opfer zu beklagen. In den letzten zehn Tagen vor der Juliwahl wurden allein in Preußen 23 Menschen getötet und weitere 284 schwer verletzt. Im gesamten Monat Juli forderten die Auseinandersetzungen 86 Menschenleben, weitere 1.125 Menschen wurden von Mitte Juni bis Mitte Juli 1932 verletzt.21 Die wahlintensiven Monate des Jahres 1932 zählen damit zweifellos zu den blutigsten Zeitabschnitten der Weimarer Republik. Aufschlüsse über die Ähnlichkeiten und Unterschiede des Bürgerkriegsszenarios gibt vor allem der Vergleich der Entwicklung der politischen Gewalttätigkeiten im jeweiligen Land und des Verhältnisses zwischen den Opfern und Tätern auf der linken und rechten Seite. Die schiere Nennung absoluter Zahlen ist ohne Vergleichsmaßstäbe und Relationen letztlich ohne große Aussagekraft. 2.1.4 Entwicklung der Gewalttaten Die statistische Entwicklung der Gewalttätigkeiten ist in beiden Ländern nicht gleichwertig zu erfassen, da die italienischen Behörden lediglich statistische Angaben fur das Jahr 1921 verfasst haben. 22 Die faschistischen Übergriffe in den Jahren 1919 und 1920 waren aber, verglichen mit den beiden folgenden Jahren, mit Sicherheit selten. Die faschistischen Strafexpeditionen der frühen Jahre sind als spedizioni di sßda, als herausfordernde Expeditionen, zu kennzeichnen, wie Emilio Gentile treffend bemerkte. Die Übergriffe wurden in der Frühzeit in einem feindlichen Umfeld verübt. Dies erforderte von den Faschisten einen gewissen Mut und eine Waghalsigkeit, die sich nicht vor der Stärke des Gegners fürchtete. Die Faschisten mussten dazu bereit sein, der sozialistischen Vorherrschaft mit Gewalt zu begegnen und sie trotz eigener Unterlegenheit herauszufordern. Diese Gewaltaktionen wurden als Männlichkeitsspiel begriffen, und zugleich wurde die gewalttätigste
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GStA PK, I. HA. Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.122, fol.259-261 (M); Höhne, S.l 15; Winkler, Weg in die Katastrophe, S.654. Vgl. Leßmann, S.290; Kershaw, Hitler, S.462. Falsche Angaben bei Rosenhaft, Beating, S.7. Auch die Erinnerungen Grzesinskis weichen von den offiziellen Angaben ab: Grzesinski, S.l32. Über einen Umweg können ungefähre Angaben über die Entwicklung der Gewalttätigkeiten gegeben werden. Unter den 352 getöteten Faschisten, die in den vier Jahren zwischen 1919 und dem Oktober 1922 in einer faschistischen Publikation namentlich mit Kurzbiographien aufgeführt wurden, entfallen auf das Jahr 1919 lediglich 3 Personen. Auch für 1920 werden lediglich 19 Faschisten genannt. Im Jahre 1921 dagegen finden sich 191 getötete Faschisten (achtzehn sollen bei den Vorfällen in Sarzana gefallen sein) und 1922 schließlich werden 139 weitere Faschisten aufgelistet - davon sollen 29 allein in den Tagen des Marsches auf Rom gefallen sein. Sind diese Angaben auch nur in etwa verlässlich, so muss der Höhepunkt der Gewalttätigkeiten im Jahr 1921 gelegen haben. Siehe Partito nazionale fascista (Hrsg.), Pagine eroiche, S.l 1-343.
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Squadrengruppe, in einer Art Wettstreit der Squadren, als erbarmungsloseste Kampfgruppe heroisiert.23 Aufgrund der zahlenmäßigen Schwäche der Faschisten blieben die wechselseitigen Übergriffe zu dieser Zeit noch recht selten, entwickelten aber ein gewaltbestimmtes Prestigesystem, das auch die beiden Folgejahre bestimmte. Die ritualisierte Gewalt - die Zerstörung der gegnerischen Organisationen, die Verbreitung von Terror und das Zusammenschlagen der sozialistischen und gewerkschaftlichen Wortführer - war zu einer mentalen Gewohnheit geworden. Der Höhepunkt der Gewalttätigkeiten lag zweifellos in den Jahren 1921 und 1922. In diesen beiden Jahren stieg das allgemeine Niveau politisch motivierter Straßengewalt deutlich an, während sich die squadristischen Angriffe in drei Gewaltwellen vollzogen. Der erste Höhepunkt lässt sich im ersten Halbjahr 1921 feststellen. Die Angriffe galten vor allem den sozialistischen Hochburgen in der Emilia und konnten durch die finanzielle und logistische Unterstützung der Agrarier einerseits und der mangelnden Eindämmung durch die Polizeikräfte andererseits effizient durchgeführt werden. So wurde um die Jahresmitte das gesamte Julisch-Venetien, der größte Teil Venetiens, die ganze Poebene (mit Ausnahme von Cremona, Parma und der Romagna), ein Großteil der Toskana, Umbrien und Apulien zum faschistisch geprägten Gebiet. Der Höhepunkt der squadristischen Gewalt fiel auf einen Zeitpunkt, als sich die sozialistische Offensive des biermio rosso deutlich erschöpft hatte und es eigentlich umso weniger Grund für das Dasein des Faschismus gab - zumindest, wenn man ihn vor allem als Reaktion auf den Aufstieg des Sozialismus und der Arbeiterbewegung versteht. Der Niedergang der Arbeiterbewegung, der nach den Fabrikbesetzungen im August/September 1920 einsetzte, ging somit dem siegreichen Aufbruch des Faschismus voraus. Gleichwohl konzentrierten sich die squadristischen Angriffe auf die Emilia, in der in insgesamt 280 Gemeinden 223 von Sozialisten verwaltet wurden. 24 Die zweite Gewaltwelle wurde durch die Reaktion auf den Befriedungspakt vom August 1921 ausgelöst und erreichte im letzten Viertel des Jahres ihren Höhepunkt. Neben der Zerschlagung der sozialistischen Organisationen spielten hierbei die internen Machtkämpfe innerhalb der faschistischen Bewegung eine bedeutende Rolle. Der Faschismus festigte durch diese Gewaltwelle vor allem seine Vorherrschaft in den schon eingenommenen Hochburgen. Die dritte Gewaltwelle vom Juli bis September 1922 war eine deutliche Reaktion auf den nur drei Tage währenden und schlecht organisierten Gene23 24
Gentile, Storia, S.483. Vgl. das Schreiben von Umberto Pasella an Roberto Farinacci vom 14.12.1919, in: ACS, MRF, busta 27, fasc.l 13, sottofasc. 165, cartellaNr.l, fol.22. Tasca, S.122; Carsten, Aufstieg, S.62; Petersen, Wählerverhalten, S.135.
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raistreik der sozialistischen „Alleanza del lavoro". Mit einer neuen Gewaltform - den Stadtbesetzungen, die im nächsten Abschnitt vorgestellt werden wurden, von den Hochburgen des Faschismus in der Poebene ausgehend, diejenigen Städte und Gebiete erobert, die bis dahin noch Widerstand geleistet hatten. Von Bologna aus richteten sich die Offensiven gegen die Lombardei, Ligurien sowie das Industriedreieck Mailand-Turin-Genua. Von der Toskana aus wurde gegen Mittelitalien und das Lazium vorgegangen. Frühzeitig wurden Novara, Cremona und Rimini von den Squadristen okkupiert, im Industriedreieck gelang es, Mailand und Genua einzunehmen. Der Arbeiterbewegung gelang es nur selten, wie in Parma, den Stadtbesetzungen Widerstand zu leisten.25 Während der Jahre 1921/22 trugen die Gewaltaktionen der Squadristen, vor allem in den ländlichen Regionen, zunehmend systematische Züge und richteten sich zielbewusst gegen zentrale Institutionen der italienischen Arbeiterbewegung. 26 Die Jahre 1921 und 1922 waren zugleich die Jahre, in denen die Faschisten massenhaften Zulauf hatten. Das Wachstum der faschistischen Bewegung korrespondierte deutlich mit dem Anstieg der Gewalttaten. 27 Die Angaben für Preußen geben ein genaueres Bild über die Entwicklung der Gewalttätigkeiten. Während die politischen Auseinandersetzungen 1929 noch wenig dramatisch waren, schnellte die Anzahl der Auseinandersetzungen im Jahre 1930 sprunghaft nach oben. Im Folgejahr stieg das Gewaltniveau nur leicht an, während sich die Gewalttätigkeiten im Jahre 1932 nochmals um gut 82 Prozent erhöhten. So stieg die Zahl der politischen Versammlungen, bei denen die Polizei einschreiten musste, von 1929 bis 1932 um fast das Zehnfache.
25
26 27
Die Identifizierung der Gewalthöhepunkte erfolgt nach Tasca, S.122, 127-155, 184/185, 198-201, 230, 237/238, 245, 248-271, 280-283, 366/367. Siehe zur zweiten Gewaltwelle auch Corner, Fascism, S. 192-202. Siehe dazu den folgenden Abschnitt 2.2 und Gentile, Storia, S. 150/151, 158. Hierzu Gentile, Storia, S.149-159.
Eine Gewaltbilanz
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Tabelle 1: Anzahl und Entwicklung der Gewalttätigkeiten in Italien und Preußen 28 Jahr
1919 1920 1921 1922
Registrierte Zusammenstöße in Italien (1919-1922) bzw. bzw. bzw. bzw.
1929 1930 1931 1932
-
4353* -
Registrierte Zusammenstöße bei politischen Versammlungen in Preußen (1929-1932) 579 2494 2904 5296
Steigerungsraten im Vergleich zum Vorjahr (für Preußen) 330,7 % 16,4% 82,4 %
Weit weniger als im italienischen Fall lässt sich bei diesem explosionsartigen Anstieg eine Koinzendenz zwischen den Entwicklungsschüben in der Anzahl der Gewaltvorfalle und dem Wachstum der SA herstellen. Die exorbitante Zunahme der Gewaltvorfalle im Jahre 1930 korrespondierte nicht mit dem Wachstum der SA, die im Jahre 1930 bei der Zunahme ihrer Mitglieder nicht vorankam. Erst im April 1931 überschritt die Mitgliederzahl die Stärke von 100.000 Mann. Es war dieses Jahr 1931, in dem die SA ihren Mitgliederbestand verdoppeln konnte und in dem zugleich das Ausmaß der Gewaltvorfalle nur geringfügig anstieg. Für das Jahr 1932 lässt sich dagegen ein deutlicher Zusammenhang zwischen SA-Wachstum und Gewaltzunahme feststellen, denn vom Dezember 1931 bis zum September 1932 stieg die Mitgliederzahl der SA von rund 260.000 auf annähernd 450.000 an. In den verbleibenden drei Monaten allerdings kam das Wachstum der SA wiederum nicht voran. 29 Der Vergleich beider Länder steht vor der Schwierigkeit, dass die Zahlen für Preußen nur die Versammlungsstörungen, nicht jedoch die Straßenschlachten und -überfalle ausweisen. Insofern ist die Beobachtung, dass die Anzahl der Überfalle in Italien höher als in Deutschland war, mit Vorsicht zu behandeln. In Preußen kam es 1931 zu 2.904 von der Polizei registrierten politischen Versammlungsstörungen, in Italien dagegen während der Monate vom Januar bis zum Mai 1921 zu 1.789 Zusammenstößen. 30 Umgerechnet kam es somit in Preußen zu 7,9 Versammlungsstörungen pro Tag, in Italien dagegen zu 11,8 täglichen Auseinandersetzungen. Akzeptiert man die Ver-
28
29 30
ACS, DGPS, AGR, CA 1921, busta 90, fasc. 148,1 Statistica: Statistica a tutto il 31 Maggio 1921; GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr. 119, fol. 336-338; ebd., Nr. 120, fol.31, 83/84, 98/99; ebd., Nr.121 (M), fol.121; ebd., Nr. 122, fol.454 (M). Die Angabe mit einem * basiert auf statistischen Angaben, die nur für einige Monate verfasst wurden. Sie ist auf ein volles Jahr hochgerechnet worden. Zum Wachstum der SA siehe die Darstelllung im Abschnitt 3.1. GStA PK, 1. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4034, Nr.121 (M), fol.121; ACS, DGPS, AGR, CA 1921, busta 90, fasc. 148,1 Statistica: Statistica a tutto il 31 Maggio 1921.
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gleichbarkeit der Statistiken, dann war die Anzahl der politischen Zusammenstöße in Italien um etwa um dreißig Prozent höher als in Preußen. Die Anzahl der Zusammenstöße auf preußischem Gebiet stieg 1932 jedoch merklich an. In diesem Jahr kam es zu durchschnittlich 14,8 Auseinandersetzungen am Tag. Da verlässliche Zahlenangaben für Italien im Jahr 1922 fehlen, kann über das Jahr vor der Machtübertragung an Mussolini und Hitler kein genauer Vergleich erfolgen. Generell läßt sich jedoch festhalten, dass sich der politische Straßenkampf am Vorabend der Machtübertragungen auf seinem Siedepunkt befand. In den letzten zwei Jahren vor dem Beginn der Diktaturen bestimmten die gewaltsamen Zusammenstöße in einem zunehmenden Ausmaß die politische Kultur beider Länder. 2.1.5 Kommunisten und Faschisten im Ländervergleich Neben der Ähnlichkeit in der Entwicklung der Gewalttätigkeiten lässt sich ein signifikanter Unterschied konstatieren, wenn man das Verhältnis zwischen rechter und linker Gewalt in beiden Ländern vergleicht. Zunächst muss betont werden, dass die offiziellen Zahlenangaben des preußischen Innenministeriums nur mit Vorsicht zu behandeln sind, da kommunistische Straftaten besonders intensiv registriert wurden. 31 Zudem verzeichneten die preußischen Statistiken in den Berichtsjahren 1928 bis 1930 die Kommunisten zusammen mit „Sonstigen" in einer Rubrik. Auch die Tatsache, dass sowohl die italienischen wie die deutschen Statistiken keine Zahlenangaben über die nicht einzuordnenden Fälle ausweisen, weckt Bedenken gegen die amtlichen Meldungen. Andererseits sind aber die Angaben so eindeutig und durch unterschiedliche Statistiken belegt, dass dennoch Tendenzaussagen getroffen werden können. Diesen amtlichen Erhebungen zufolge wurden im Preußen des Jahres 1928 318 Veranstaltungen gezählt, bei denen polizeiliches Einschreiten nötig wurde. Davon waren in 234 Fällen die Kommunisten und nur in 60 Fällen die Nationalsozialisten diejenigen, die die Auseinandersetzungen provozierten. 1929 lag das Verhältnis bei 422 zu 113 in insgesamt 579 Fällen. Nach einem Bericht des preußischen Innenministeriums ergibt sich fur 1930 ein ähnliches Bild, aber die Größenordnung veränderte sich merklich (siehe Tabelle 2). 32 Die Kommunisten griffen also deutlich häufiger an. Dieses Verhältnis verschob sich nur allmählich, gleichwohl aber stetig. So erhöhte sich der Anteil der Nationalsozialisten kontinuierlich, während derje-
31 32
Siehe Graf, S.44-47. GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.120 (M), fol.31, 83/84, 98/99. Striefler, S.315, gibt zum Teil falsche Zahlen an. Vgl. Vorwärts Nr.40 vom 27.1.1931
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nige der Kommunisten tendenziell abnahm. 33 Dennoch gingen fast bis zum Ende der Republik die meisten Angriffe auf das Konto der Kommunisten. Das Verhältnis in den Jahren 1928 bis 1932 entwickelte sich wie folgt: Tabelle 2: Versammlungsstörungen von Kommunisten und Nationalsozialisten für die Jahre 1928-1932 in Preußen 34 Jahr
Anzahl der registrierten Versammlungsstörungen
Prozentualer Anteil der Kommunisten an den Versammlungsstörungen
Prozentualer Anteil der Nationalsozialisten an den Versamml ungsstörungen
Gemeinsamer prozentualer Anteil der Kommunisten und Nationalsozialisten an den Versammlungsstörungen
1928 1929 1930 1931 1932
318 579 2494 2904 5296
73,59 75,82 75,10 64,50 57,59
18,87 19,51 20,89 22,59 28,15
92,46 95,33 95,99 87,09 85,74
Erst Ende 1932 verschob sich der Anteil deutlicher auf die Seite der Nationalsozialisten. Dies hing offenbar damit zusammen, dass die Statistiken nunmehr das weite Spektrum politischer Zusammenstöße erfassten und nicht nur die Versammlungsstörungen. Vom 1. Juni bis zum 20. Juli 1932 gingen die Angriffe vornehmlich noch von den Kommunisten aus, die in 65 Prozent der Fälle die Auseinandersetzung provozierten, wohingegen die Nationalsozialisten in nur 23 Prozent der Fälle für den Angriff verantwortlich zeichneten. 3 5 Nach internen Angaben des preußischen Innenministeriums wurden im Oktober und November 1932 erstmals mehr Zusammenstöße von der SA provoziert als von den Kampfverbänden der KPD (siehe Tabelle 3). Auch eine andere Statistik über die von der Polizei festgestellten Gewalttäter bei den politischen Auseinandersetzungen bestätigt den Befund, dass die Natio-
33
34 35
Vgl. die Dokumentation der SPD zu den „Gewalttaten der Nationalsozialisten" zwischen Dezember 1929 und November 1931, in der auf 238 Seiten, anhand von einschlägigen Zeitungsmeldungen, nationalsozialistische Gewalttaten aufgeführt sind: IfZ, Fa. 30. Siehe auch die Rede des SPD-Reichstagsabgeordneten Erich Roßmann (am 25.2.1932), der von cirka 1.500 SA-Überfällen bis zum Dezember 1931 sprach (Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte. V. Wahlperiode 1930, Bd.446, S.2370). GStA PK, I. HA, Rep. 77, Mdl, Tit.4043, Nr. 119, fol.227, 336-338 (M); ebd., Nr. 120. fol.31 (M); ebd., Nr.121, fol.121 (M); Nr.122, fol.454 (M). Münchener Neuste Nachrichten Nr.212 vom 6.8.1932. Die Prozentangaben wurden vom Autor errechnet. Nach dieser Quelle starben in Preußen 72 Personen und weitere 497 wurden schwer verletzt. Vgl. weiterin Wemette, S.195.
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nalsozialisten die Kommunisten in den Schlussmonaten der Weimarer Republik überrundet hatten. 36 Tabelle 3: Verteilung der Gewalttätigkeiten zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten in Preußen für das Jahresende 1932 37 Monat
September Oktober November Dezember
Anzahl der registrierten Konflikte 304 340 -
104
Prozentualer Anteil der Kommunisten an den Konflikten 45,7 38,5 35,5 41,8
Prozentualer Anteil der Nationalsozialisten an den Konflikten 32,9 42,1 41,0 32,0
Gemeinsamer prozentualer Anteil der Kommunisten und Nationalsozialisten an den Konflikten 78,6 80,6 76,5 73,8
Diese Änderung des Verhältnisses der Gewalttätigkeiten zwischen beiden Lagern hing mit drei Faktoren zusammen. Erstens war die SA mittlerweile zu einer Massenorganisation geworden, und daher stieg auch das Ausmaß der von ihnen verursachten Gewalttaten. Allerdings ist dies nur eine schwache Erklärung, denn die SA war auch schon vor dem Oktober 1932 eine Massenorganisation, die in den Schlussmonaten der Republik nicht mehr anwuchs. Zweitens radikalisierten sich die Methoden der SA nach den gescheiterten Verhandlungen Hitlers mit Reichspräsident Paul von Hindenburg am 13. August 1932. 38 Drittens, und dies ist wichtig, lässt der Vergleich mit den Statistiken, die lediglich die Versammlungsstörungen ausweisen, vermuten, dass die Kommunisten vor allem das Mittel der Versammlungsstörung zu ihrem Arsenal des politischen Kampfes zählten, während für die Nationalsozialisten der Straßenkampf wesentlich größere Bedeutung hatte. Während bei den Statistiken, die die Versammlungsstörungen quantifizieren, die Kommunisten weit vor den Nationalsozialisten lagen, zeigen die Statistiken über alle Arten politischer Zusammenstöße, dass die beiden Gruppen eher gleichauf lagen. Dass die Kommunisten sich stärker auf Versammlungsstörungen verlegten, ist deswegen plausibel, weil die KPD bei ihren eigenen Versammlungen eine Atmosphäre des revolutionären Enthusiasmus schuf, die ihr die größten 36
37 38
GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr. 121, fol.536/537 (M). Dass die Zahlen fiir den Dezember mehr angreifende Kommunisten als Nationalsozialisten ausweisen, mag damit zusammenhängen, dass die entsprechende Statistik schon unter NS-Herrschaft, nämlich im Februar 1933 fertiggestellt wurde. GStA PK, 1. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.126, fol.171-175, 260 (M); Vossische Zeitung vom 23.11.1932; Vgl. hierzu Kershaw, Hitler, S.461-478.
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Anwerbungserfolge bescherte. Daraus ergab sich auch die hohe Fluktuationsrate in der KPD, die 1931 bei 38 Prozent und 1932 sogar bei 54 Prozent des Mitgliederbestandes lag. Die KPD legte offenbar größten Wert auf Versammlungsstörungen, weil sie von der Annahme ausging, dass auch bei der NSDAP die augenblickliche Begeisterungsstimmung ausschlaggebend für die Anwerbung neuer Mitglieder sei. So hoffe man, durch die Versammlungsstörungen den Gegner an einer empfindlichen Stelle stören zu können. 39 Ein weiteres Indiz für die Vermutung, dass die Kommunisten ihre Gewaltaktionen vor allem auf Versammlungsstörungen konzentrierten, liefert eine Umfrage, die 1931 in den deutschen Ländern durchgeführt wurde. Während im Zusammenhang mit dem Verbot der Versammlungen dreimal so viele KPD- wie NSDAP-Angehörige verurteilt wurden, lagen die Nationalsozialisten bei den rollenden Demonstrationen auf Lastkraftwagen klar vor der KPD - nämlich mit 163 zu 114 Fällen. 40 Somit läßt sich folgern, dass die Divergenz zwischen den Gewalttaten der Kommunisten und Nationalsozialisten auch schon nach 1928 weniger gravierend gewesen sein muss, als die in Tabelle 2 wiedergegeben Zahlen vermuten lassen. Es ist fraglich, ob die Kommunisten wirklich häufiger zu gewaltsamen Mitteln griffen, wenn man das weite Spektrum der politischen Auseinandersetzungen in Betracht zieht. Offenbar lag der Unterschied eher darin, dass die Komministen häufiger zu gewaltsamen Versammlungsstörungen griffen, während die Nationalsozialisten vor allem im Zusammenhang mit rollenden Straßendemonstration gewalttätig wurden. Auch eine von den bayrischen Polizeibehörden für das Jahr 1931 erarbeitete Übersicht über die politischen Gewalttaten zeigt, dass die preußischen Angaben mit ihrer Anzahl der Vorfalle - entsprechend der Bevölkerungsgröße - repräsentativ waren. Im punktuellen Vergleich mit Bayern wird zudem deutlich, dass hinsichtlich der Links-Rechts-Verteilung der Gewalttaten ein eklatanter Unterschied zu Preußen bestand. Im Jahre 1931 kam es in Bayern zu 509 Zusammenstößen, wobei allein 297 Fälle auf die Nationalsozialisten entfielen. Dieser Anteil von 58 Prozent lag über das zweieinhalbfache höher als die entsprechenden 22,6 Prozent in Preußen. Dieser massive Unterschied liefert ein weiteres Indiz dafür, dass die preußischen Statistiken über die Versammlungsstörungen offenbar negativer für die Kommunisten ausfallen, als dies bei einer umfassenden Statistik über alle Formen gewalttätiger politischer Zwischenfalle der Fall gewesen wäre. 41
39 40 41
Neumann, Parteien, S.88; Winkler, Weg in die Katastrophe, S.595. Vgl. Mallmann, Kommunisten, S.87-93; Schumann, Politische Gewalt, S.217, 244, 296, 312, 314/315. Winkler, Weg in die Katastrophe, S.394. Die Zahl ist entnommen aus Fischer, Stormtroopers, S.157. Fischers Angabe stammt aus dem Geheimen Staatsarchiv im Bayerischen Hauptstaatsarchiv: MA 100426. Zu Nr.
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Alle Statistiken zeigen, dass die politischen Auseinandersetzungen sich vor allem zwischen den beiden politischen Extremen abspielten. Dies galt auch für die Schlussmonate der Weimarer Republik. In den letzten Julitagen und dem Monat August 1932 waren die Kommunisten in 42 Prozent der Fälle die Angreifer, die Nationalsozialisten in 33 Prozent. Entfielen auf beide zusammen somit 75 Prozent der Ausschreitungen, so waren die Provokationen von anderer Seite vergleichsweise minimal. Am stärksten trat noch der sozialdemokratische Reichsbanner/Eiserne Front in 9,8 Prozent der Fälle in Erscheinung. 42 Auch in den Folgemonaten veränderte sich dieses Bild nicht. 43 Kam es zu Auseinandersetzungen, die vom Reichsbanner oder Stahlhelm ausgingen - andere paramilitärische Verbände wie der Jungdeutsche Orden oder der Werwolf wurden noch nicht einmal erfasst - handelte es sich zumeist um kleine und spontan entstandene Prügeleien. Die ernsthaften politischen Zusammenstöße wurden von den Kommunisten und Nationalsozialisten provoziert. Es waren diese beiden Gruppen, die das Bürgerkriegsszenario in den letzten Jahren der Weimarer Republik weitgehend bestimmten. Im Hinblick auf die Gegnerwahl ist auf einen wichtigen Unterschied zwischen NSDAP und KPD zu verweisen. Die KPD konzentrierte ihre Gewalttaten weitgehend auf die Nationalsozialisten. So konnten von Beginn 1931 bis Ende Juni 1932 insgesamt 5.600 kommunistische Täter festgestellt werden, die Verletzungs- oder Tötungsdelikte begangen hatten. 4.883 von ihnen hatten sich eines Deliktes gegen die Nationalsozialisten schuldig gemacht. Das entspricht einem Anteil von 87,2 Prozent. Die 281 Täter, die gegen Reichsbannerleute vorgingen und auch die 422 Straftäter gegen Mitglieder des Stahlhelms -zusammen ein Anteil von 12,6 Prozent - nahmen sich dagegen unbedeutend aus. Die kommunistische Gewalt richtete sich somit vorwiegend, sieht man einmal von der Polizei ab, gegen die Nationalsozialisten. Dies bestätigt auch Dirk Schumann, der für die preußische Provinz Sachsen behaupten kann, dass die „Kommunisten nur selten gegen Sozialdemokraten vorgingen]". Im selben Zeitraum stellte sich das Bild für die Nationalsozialisten ganz anders dar. Insgesamt konnten 4.754 Personen als nationalsozialistische Täter festgestellt werden. 50,7 Prozent hatten Tötungs- oder Verletzungsdelikte gegen KPD-Angehörige und 46,5 Prozent Delikte gegen Sozialdemokraten verübt. Die Nationalsozialisten gingen damit nicht nur gegen den gewaltsa-
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2013g. 11 (Übersicht über die in Bayern in der Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 1931 verübten politischen Gewalttaten). GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4034, Nr. 126 (M), fol.l (Schreiben des Ministers des Innern vom 23.11.1932). Auch Schumann (Politische Gewalt, S.307) hebt hervor, dass das Reichsbanner ,glicht zu den Hauptbeteiligten an gewaltsamen Auseinandersetzungen gehörten". Auch ebd., S.212. GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4034, Nr. 126 (M), foll02, 171, 260 (Schreiben des Ministers des Innern vom 22.11.1932, 7.12.1932 und 13.2.1933).
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men Teil der Arbeiterbewegung, sondern auch gegen das vergleichsweise friedliche, sozialdemokratisch dominierte Reichsbanner vor. Im Jahre 1931 stellte das Reichsbanner sogar das Hauptangriffsziel der NS-Täter dar. Dagegen konnten bei den Aktionen dieses Jahres gerade einmal 18 nationalsozialistische Täter festgestellt werden, die Mitglieder des Stahlhelms verletzten, aber nicht töteten. Dies allein vermag nicht zu überraschen. Dass aber 961 Nationalsozialisten festgestellt wurden, die gegen das Reichsbanner vorgingen und nur 839 gewalttätige Nationalsozialisten gegen die KPD, ist umso bemerkenswerter. Erst ab April 1932 änderte sich dieses Bild, und die Kommunisten wurden zu den Hauptgegnem der Nationalsozialisten. 44 Im Jahre 1931 standen die Reichsbannerleute nicht nur in Preußen im Zentrum der NS-Gewalt. Auch im gesamten Reich waren in 55,2 Prozent der Fälle nationalsozialistische Gewalttäter gegen die Reichsbannerleute und nur in 43,8 Prozent gegen die Kommunisten festgestellt worden. Obwohl die Kommunisten in mehr als doppelt so vielen Fällen als Angreifer auf die Nationalsozialisten festgestellt wurden, richteten sich die nationalsozialistischen Angriffe in ihrer Mehrheit dennoch gegen das Reichsbanner. In SchleswigHolstein war dieses Verhältnis noch ausgeprägter. Wolfgang Kopitzschs Studie zeigt, dass in der ersten Jahreshälfte 1932 die Nationalsozialisten in 205 Fällen Reichsbannerleuten Körperverletzungen zufugten, aber nur in 60 Fällen KPD-Leute verletzten. 45 Die SA-Gewalt war damit keinesfalls allein eine Reaktion oder sogar „legitime Reaktion" auf die vorgängige kommunistische Gewalt, wie Christian Striefler formuliert hat. Allein aus der Tatsache, dass das Reichsbanner ein so zentrales Angriffsziel der SA-Leute war, zeigt sich deutlich das provokatorisch-aggressive Profil der SA, keinesfalls jedoch eine primär reaktive Abwehrhaltung der Nationalsozialisten gegenüber einer vorgängigen kommunistischen Gewalt. 46 Leider liegen aus dem italienischen Innenministerium keine vergleichbaren Statistiken vor. Nimmt man jedoch den Anteil der Toten und Verletzten aus den politischen Lagern der Sozialisten und Faschisten als Bemessungsgrundlage, so entfielen auf diese beiden Gruppen im ersten Halbjahr 1921 über 62 Prozent (insgesamt 485 von 777 Personen). Zum Vergleich: In Preu44
Die Prozentangaben wurden vom Autor berechnet. GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr. 121, fol.215/216, 447/448, 536/537 (M). Vgl. weiterhin ebd., Nr. 120, fol.83/84, 98/99 (M). Für das Jahr 1931 nennt Helga Gotschlich, leider ohne Angabe von Quellen, 1.696 Naziüberfälle auf Reichsbannermitglieder (Zwischen Kampf und Kapitulation. Zur Geschichte des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold. Berlin (DDR) 1987, S.90). Zur KPD siehe: Wernette, S.115, 135, 160; Schuman, Politische Gewalt, S.243, 308/309 (Zitat).
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BAB (ehem. BAP), St.10/41, Bd.lOa, fol.78 (Aufstellung des Reichsministenums des Innern); Kopitzsch, Politische Gewalttaten, S.25. Striefler, S.291-385. Ähnlich Nolte, Bürgerkrieg, S.190-194, 196.
46
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ßen entfielen auf die Nationalsozialisten, die KPD und das Reichsbanner im zweiten Halbjahr 1932 70 Prozent der Toten und Verletzten (insgesamt 586 von 836 Personen). 47 Dass sich die Zusammenstöße auch in Italien vor allem zwischen den Faschisten und den Kommunisten zutrugen, enthüllt eine eigens erhobene Fallstudie über die politischen Zusammenstöße, die sich in 15 Kommunen der Provinz Bologna während der Jahre 1921 und 1922 zutrugen. Tabelle 4: Verteilung der Gewalttaten zwischen Kommunisten und Squadristen fur die Jahre 1921 und 1922 in 15 Kommunen der Provinz Bologna 4 8 Jahr
Anzahl der registrierten Zusammenstöße
1921 1922
165 179
Prozentualer Anteil Prozentualer der von den KomAnteil der von munisten provoden Squadristen zierten Zusammen- provozierten stöße Zusammenstöße 11,5 73,9 11,7 73,7
Gemeinsamer prozentualer Anteil von Kommunisten und Squadristen 85,4 85,4
Von den durch einzelne Polizeiberichte nachgewiesenen 344 Zusammenstößen gingen nach polizeilichen Angaben in 254 Fällen die Provokationen von den Faschisten, aber nur in 40 Fällen von den Kommunisten aus. Sowohl im Jahre 1921 als auch im Jahre 1922 waren die Squadristen die maßgeblichen Angreifer. Auch die italienischen Faschisten griffen die eher friedlichen Teile der Arbeiterbewegung an. Einzelstudien zeigen, dass auch dort, wo die Funktionäre der italienischen Arbeiterbewegung die Arbeiterorganisationen von vornherein und freiwillig aufgaben, wie in Rovigo, die squadristische Gewalt unerhört gewaltsame Formen annahm. 4 9 Hier zeigt sich die attentistische Haltung der italienischen Sozialisten, die es vorzogen abzuwarten, bis der faschistische Sturm vorübergezogen war. Die Radikalität der Faschisten war somit keine zwingend von der Gewalt der Kommunisten „abhängige Variable". 50 Während der beiden „roten Jahre" 1919 und 1920, dem biennio rosso, als die Streikaktivitäten der Sozialisten sehr intensiv waren (allein 1920 war es 47 48
49 50
ACS, DGPS, AGR, CA 1921, busta 90, fasc.148,1 Statistica; GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4034, Nr.126 (M), fol.2-3, 103-106, 172-175, 261-263. Die Angaben basieren auf einer vom Autor erstellten Statistik nach den Einzelnachweisen der Polizeiberichte, die an den Präfekten von Bologna geschickt wurden: ASB, GdP, Nr. 1344, 1346, 1372. Tasca, S.139, 257. So die These von Wirsching für Deutschland und Frankreich (Weltkrieg, S.516). Zur Haltung der Sozialisten: Squeri, S.131.
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zu 1.800 bis 2.000 Streiks gekommen), legten diese einen einschüchternden Charakter, ein höchst militantes Auftreten und eine aggressive Sprache an den Tag. Die offen gewaltsame Durchsetzung der Ziele, vor allem der Arbeiterbewegung auf dem Land, die vom Verbrennen der Scheunen über die Verstümmelung von Tieren bis hin zur physischer Gewalt reichte, blieb insgesamt eine relativ begrenzte Erscheinung. So wiesen die amtlichen Statistiken für die Streiks in der Metallbranche 16 Tote und 91 Verletzte für das Jahr 1920 aus, bei den Bahnarbeitern waren es im gleichen Jahr nur 2 Tote und 22 Verletzte, während wiederum unter der Rubrik Landunruhen immerhin 161 Tote und 289 Verletzte ausgewiesen wurden. Die Sozialisten stellten paramilitärische Einheiten auf, die sowohl zu revolutionären Zwecken als auch zur Abwehr der Angriffe nationalistischer Organisationen gedacht waren. Aber ihre Stärke war gering und ihre Ausstattung schlecht. Wichtige Hochburgen der sozialistischen Militanz lagen zudem in den städtischen Zentren Norditaliens wie etwa in Turin, also in Gegenden, die nicht zu Hochburgen des Squadrismus wurden. 51 Der milizionäre Arm des deutschen wie des italienischen Faschismus war insofern keine primär defensive, sondern eine eher offensiv ausgerichtete politische Bewegung, die auf das breite Spektrum der sozialistischen Arbeiterorganisationen abzielte und diese mit physischen Mitteln zu schwächen suchte. Die Gewaltspirale zwischen Rechts und Links spielte, angesichts der entschiedeneren Gewaltbereitschaft der deutschen Kommunisten, in der Weimarer Republik eine ungleich größere Rolle als in Italien. 2.1.6 Andere Gegner und Opfer Es gab aber auch andere Opfer des Faschismus, die wesentlich weniger Gegenwehr leisteten als die Sozialisten und Kommunisten. So richtete sich die squadristische Gewalt zuweilen gegen katholische Organisationen, von deren Studentengruppen über die der PPI nahestehende „Unione nazionale reduci di guerra" bis zu den „weißen Gewerkschaften" der katholischen Confederazione Italiana dei Lavoratori. Letztere wurden vor allem in der Toskana zum Angriffsziel, da die katholischen Gewerkschaften in dem dort vorherrschenden Halbpächtersystem einigen Einfluss gewonnen hatten. 52 51
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ACS, DGPS, AGR, CA 1921, busta 90, fasc.148,1: „Statistica'· - „Agitazioni Agraria·', „Agitazione metallurgici", „Agitazione ferrovieri". Zuden Streiks siehe Corner, Fascism, S.95-99; Dunnage, Italian Police, S.98/99; Candeloro, S.304/305; Vivarelli, Storia, Bd.2, S.638-641; Mantelli, S.24, 26 (Bild); Gentile, Storia, S.101; Abse, Italy, S.143, 152, 154, 157, 159. Mit der These von stark gewalthaften Streiks: Preti, S.422-424; Biondi, S.54. Vgl. hierzu etwa: ACS, Mdl, Gabinetto di S.E. Bonomi, Ordine pubblico (1921-1922), busta 2, Affari per provincie: fasc.32: Firenze, sottofasc.2: Violenze dei fascisti contro i popolari; ACS, Mdl, Gabinetto di S.E. il Sottosegretario On. Finzi, Ordine pubblico (1922-1924), busta 8, fasc.77: Potenza, sottofasc.7: Violenze contro aderenti al P.P.; ASB,
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Vor allem im der Provinz Cremona hatten die sogenannten weißen Ligen unter dem linken PPI-Politiker Guido Miglioli die Mehrheit der landwirtschaftlichen Beschäftigten organisieren können. 53 Die antikatholischen Gewalttätigkeiten, die 1922 verstärkt auftraten, standen aber in keinem quantitativen Verhältnis zur antisozialistischen Gewalt der Squadristen. Auch die SA-Aktionen gegen nicht-linke Organisationen, wie etwa die nationalistischen Wehrverbände, waren vergleichsweise unbedeutend. Vor allem in den Grenzregionen, in Julisch-Venezien auf italienischer sowie in Schlesien und Ostpreußen auf deutscher Seite, kam es auch zu rassistischer Gewalt. In Julisch-Venezien bildeten sich die frühesten nationalistisch-xenophoben squadre d'azione, die nicht selten von den regionalen Behörden als Bürgermiliz und Hilfspolizei anerkannt wurden. Die Feldzüge des Squadrismus gegen die Dörfer der ethnischen Minderheiten auf dem Karst, in I Strien oder dem Gebiet von Görz waren gegen die slawischen Bevölkerungsteile und die als antinational begriffene sozialistische Bewegung gerichtet. Auch gegen die „slawischen" Priester kam es zu Gewalttaten. Der Fascio von Triest zählte in dieser Zeit zum mitgliederstärksten auf nationaler Ebene, und dem julischen Faschismus hatten sich im Herbst 1920 schon etwa 10.000 Mitglieder angeschlossen. Durch eine gemeinsame Aktion der von Francesco Giunta angeleiteten Faschisten und der Polizei wurde das Hotel Balkan (,harodni dorn) in Triest, der Sitz der slowenischen Organisationen, zerstört. Diese Aktion stellte den bekanntesten Fall einer rassistisch-irredentistisch und antisozialistisch motivierten Gewaltform im Italien vor 1922 dar. 54 Auch in Deutschland war die rassistische Gewalt insbesondere in den Grenzregionen zu finden. Im ostpreußischen Regierungsbezirk Allenstein kam es im Juli und August 1932 zu starken antisemitischen Ausschreitungen, die vor allem Gebäuden in jüdischem Besitz galten. An fünf aufeinander GdP, Nr. 1341, fasc. Bentivaglio (Schreiben des Bürgermeisters von Bentivaglio an den Präfekten von Bologna am 1.11.1921); ACS, Mdl, Gabinetto di S.E. il Sottosegretario On. Finzi, Ordine pubblico (1922-1924), busta 8, fasc. 78: Ravenna, sottofasc. 9: Faenza, fol.l39; ASB, GdP, Nr.1373, ohne fol. (Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 14.3.1922); ASB, GdP, Nr.1371, fasc. Mordano, ohne fol. (Schreiben des Capitano Pietro Ortolani an die Präfektur in Bologna vom 11.7.1922); ASB, GdP, Nr. 1346, fasc. Savigno, ohne fol. (Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 27.7.1921 und 30.7.1921); Demers, S.194; Corner, Fascism, S.203/204; Tasca, S.135, 142; Gentile, Storia, S.513/514, 580/581; Schieder, Strukturwandel, S.77; Tasca, S.142; Biondi, S.59. 53 Dazu ausfuhrlich Demers, passim. 54 Gentile, Storia, S.132-135, 476; Apih, S.114-143; Tasca, S.133-135; Lyttelton, Seizure, S.53/54; Engelmann, Regionalismus, S.308; Nolte, Faschismus, S.256, 321; Segre, Balbo, S.49. Zum „Hotel Balkan": Gentile, Storia, S.476; Tasca, S.96, 130, 133; Chiurco, Storia, Bd.2, S.91-93.
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folgenden Tagen wurden insgesamt sieben Gebäude beschädigt. Es begann am 4. August 1932 mit Sprengstoffanschlägen auf die jüdischen Kaufhäuser Motulski in Orteisburg und das Kaufhaus Scheinmann in Johannisburg. Zwei Tage darauf wurde das jüdische Geschäft Littwack in Orteisburg angegriffen, weitere zwei Tage später zwei jüdische Geschäftshäuser in Neidenburg und das jüdische Kaufhaus Abraham in Allenstein. Fünf Tage darauf wurde das Kaufhaus Lonky in Osterode beschädigt und nur vier Tage später das jüdische Geschäftshaus Lampel in Bialla (Kreis Johannisburg). Von 26 antisemitischen Anschlägen und Attentaten in den ersten beiden Augustwochen des Jahres 1932 entfielen allein auf die Provinz Ostpreußen zwölf Zwischenfalle, weitere sieben auf die Grenzprovinz Oberschlesien. 55 Bei solch einer Verkettung der Ereignisse liegt die Vermutung nahe, dass diese Anschläge nicht spontan entstanden, sondern zentral organisiert wurden. Tatsächlich hatte der schlesische SA-Führer Edmund Heines (nach dem berüchtigten Mord der SA an einem beschäftigungslosen Landarbeiter der KPD im oberschlesischen Dorf Potempa) mit einem Aufstand gedroht und zu den Übergriffen angestiftet. 56 Ähnliche Ausschreitungen gegen jüdische Personen, Läden oder Friedhöfe kamen auch in anderen Teilen des Reiches vor, wie in Berlin, Schleswig-Holstein oder München. 57 Hierbei handelte es sich fast immer um organisierte Ausschreitungen und weniger um spontane Überfalle. Dies war in Ostpreußen ebenso der Fall wie beim Berliner Kurfurstendammkrawall. Auch die Handgreiflichkeiten gegen Juden während der NS-Versammlungen waren meist durch die Parteiredner provoziert worden. Die NS-Propaganda lieferte hierfür mit dem Bild des Juden als Prototyp des „raffenden Kapitalisten" einen Anlass. Die rassistische Einstellung konstruierte im Juden einen polymorphen Sündenbock, dem die Schuld am nationalen Schicksal zugesprochen wurde. Hauptziel der Gewalt der SA wie des Squadrismus waren jedoch nicht die ethnisch-kulturellen Minderheiten, sondern die Sozialisten und Kommunisten. Bei der rassistisch motivierten Gewalt mischten sich oft nationalistischirredentistische und antisozialistische oder antibürgerliche Motive. Es war der Zusammenhang mit territorialen Revisionsansprüchen, der dazu führte, dass man in den Grenzregionen ethnische Minderheiten als Zielgruppe suchte.
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GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr. 122, fol.22-39, 40-44, 58/59 (M); GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.126, fol.l, 11/12 (M); Münchner Neuste Nachrichten Nr. 212 vom 6.8.1932; Bessel, Political Violence, S.80, 89. Kluke, Paul: Der Fall Potempa. Eine Dokumentation, in: VfZ 5, 1957, S.279-297; Bessel, Potempa Murder, S.250/251; Kershaw, Hitler, S.476. Dazu ausführlich in Abschnitt 5.2.6. Daneben: Jasper, Zur innenpolitischen Lage, S.286289 (Denkschrift des Reichsinnenministers Severing vom Dezember 1929).
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2.1.7 Die Brutalität der Gewaltvorfalle Die Intensität der Gewalt unterschied sich in beiden Ländern nicht unerheblich. Im Folgenden wird vergleichend danach gefragt, in welchem Land es pro Zusammenstoß mehr Tote und Verletzte gab. Im Vergleich der absoluten Zahlen forderte das italienische Bürgerkriegsszenario mehr Tote (siehe Tabelle 5). Salveminis oft zitierter Behauptung, dass die „blutigen Verbrechen [in Italien] verbreiteter waren als in anderen zivilisierten Ländern", ist im Hinblick auf diese absoluten Zahlen zuzustimmen. 5 8 Tabelle 5: Tote und Verletzte bei den politischen Zusammenstößen in Italien und Preußen 59 Jahre (Italien - Preußen) Tote in Italien 1920 bzw. 1931 288 bzw. 105 1. Halbjahr 1921 bzw. 1. 211 bzw. 86 Halbjahr 1932
Preußen
Verletzte in Italien 1476 bzw. 5223 708 bzw. 4433
Preußen
Aufgrund der höheren Frequenz an politischen Ausschreitungen in Italien gingen die deutschen Straßenkämpfe jedoch blutiger aus und waren mit einem höheren Risiko für eine potentielle Tötung oder Verletzung behaftet. Ein punktueller Vergleich mag dies verdeutlichen. In der Phase höchster Gewaltfrequenz in den 50 Tagen vor den Juliwahlen von 1932 starben in Preußen 72 Menschen bei den 322 Zusammenstößen. Somit starb im Durchschnitt bei etwa jedem 4,5ten Zusammenstoß eine Person. In Italien starben in den vierzehn Tagen um die Wahl vom Mai 1921 insgesamt 109 Menschen. Zwischen dem 8. und dem 31. Mai 1921 kam es aber zu 719 Zusammenstößen zwischen den Faschisten und den Sozialisten. Aus der Kombination dieser Angaben ergibt sich für Italien, dass durchschnittlich nur bei jedem 6,6ten Zusammenstoß eine Person getötet wurde. Es kam also in Italien zwar häufiger zu Zusammenstößen, diese gingen aber relational gesehen weniger blutig aus. Bei den politischen Zusammenstößen zwischen SA-Männern und Kommunisten gäbe es im Vergleich zu Italien pro Zusammenstoß cirka dreißig Prozent mehr Tote. Die Anzahl der 58 59
Salvemini, S.64/65. ACS, DGPS, AGR, CA 1921, busta 90, fasc.148,1 Statistical „Statistica generale dei morti e feriti nelle agitazioni avvenute durante l'anno 1920", „Scontri fra fascisti e sovversivi verificatisi dal 1. Gennaio al 7 Aprile 1921", „Statistica dei morti e dei feriti nelle vertenze fra socialisti e fascisti per il periodo dal giorno 16 al 31 maggio 1921", „Elezioni Politiche 1921 - Statistiche dei morti e feriti nella giornata del 15 maggio"; GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.121, fol.215/216, 447/448, 536/537 (M); GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4034, Nr. 126, fol.2-3, 103-106, 172-175, 261-263 (M).
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Verletzten ergibt ein ähnliches Bild. Bei jedem Zusammenstoß wurden in Preußen durchschnittlich anderthalb Personen verletzt, in Italien dagegen wurde noch nicht einmal bei jedem zweiten Zusammenstoß eine Person verletzt. 60 In Italien stand somit vergleichsweise eher die symbolische Drohgebärde, die ostentative Provokation und weniger die blutige Konfrontation im Vordergrund der Auseinandersetzungen. Dies wurde vor allem dadurch ermöglicht, dass der politische Gegner der Faschisten keine vergleichbar offensive Gegenwehr bot wie die deutschen Kommunisten. Dadurch konnte das Entstehen einer Gewaltspirale verhindert werden, die durch die Dynamik des Gewaltgebrauchs erzeugt wird. Gewalt erzeugt nicht nur Gegengewalt, auch die Austragungsformen der Gewalt steigern sich und werden zunehmend brutaler. Besonders in den Monaten nach dem Wahlerfolg der Nationalsozialisten vom Juli 1932 entstand solch eine selbstreproduktive Gewaltspirale. 61 2.1.8 Polizisten als Angriffsziel im Straßenkampf Während die Zusammenstöße in Italien weniger blutig waren, so trugen sie im Hinblick auf die Verwicklung der Polizeieinheiten aggressivere Züge. Der Anteil der Polizeibeamten unter den Verletzten und Toten der politischen Zusammenstöße betrug in Italien 12 Prozent, in Deutschland dagegen nur 3,6 Prozent. 62 Dies lag zum einen daran, dass die SA einen offenen Angriff auf die Staatsgewalt fast immer vermied, während die Squadristen bei fehlender Kooperation der Polizeieinheiten auch zu physischen Angriffen übergingen. Die Gewalt der SA-Männer diente somit stärker als die ihrer italienischen Kameraden den Propagandazwecken der NS-Bewegung und weniger dazu, die Funktionsfahigkeit der Organe der öffentlichen Ordnung außer Kraft zu setzen. 63
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Die Angaben beziehen sich auf folgende Statistiken: „Die Terror-Welle in Preußen", in: Münchner Neuste Nachrichten Nr. 212 vom 6.8.1932; ACS, DGPS, AGR, CA 1921, busta 90, fasc.148,1: „Statistical Zur Gewaltspirale siehe Elias, S. 265, 284; Jasper, Zähmung, S.l 10-112. Als Beispiel für diese These etwa der Potempa-Mord vom August 1932: Bessel, Potempa Murder, S.241254; Longerich, Bataillone, S.l56-159. ACS, DGPS, AGR, CA 1921, busta 90, fasc.148,1: „Statistical GStA PK, 1. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4034, Nr.126 (M), fol.103-106, 172-175, 261-263. Vgl. Chiurco, Storia, Bd.l. S.247-252, S.260-287. Schreiben des Polizeipräsidenten von Köln, Bauknecht,an den Regierungspräsidenten in Köln vom 19.4.1928, in: GStA PK, I.HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Bd.309. fol. 153-155 (M); Bessel, Violence as Propaganda, S.135; Bessel, Political Violence, S.80/81, 96, 152/153; Schumann, Politische Gewalt, S.324, 311; Liang, S.124. Für die Squadristen: Dunnage, Ordinamenti, S.85/86.
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Zum anderen rücken durch diese Vergleichszahl die oft hervorgehobenen Angriffe der deutschen Kommunisten auf Polizeibeamte in ein anderes Licht. 64 Denn zum einen sind die Angriffe auf deutsche Polizeibeamte nach den amtlichen Angaben zwischen 1928 und 1932 zu 75 Prozent auf die Kommunisten zurückzufuhren. 65 Zum anderen blieb der Anteil der verletzten und getöteten Polizeibeamten im Vergleich zu den italienischen Verhältnissen gering. Glaubt man einem Schreiben des preußischen Innenministeriums vom Dezember 1932, so fanden lediglich elf preußische Polizeibeamte bei den politischen Auseinandersetzungen innerhalb der fünf Jahre zwischen 1928 und 1932 den Tod. Diese auf Preußen bezogene Zahl scheint sehr gering, da reichsweit schon 15 Polizisten allein während des Jahres 1931 getötet worden waren. Doch im Vergleich zu Italien ist auch die reichsweite Ziffer noch relativ gering, da in Italien allein im Jahre 1920 51 Polizisten getötet wurden und im ersten Halbjahr 1921 nochmals weitere 20 Polizisten ihr Leben lassen mussten. 66 Somit war der offene Angriff auf die staatlichen Organe in Deutschland auch von Seiten der deutschen Kommunisten - vergleichsweise harmlos, während die schlecht ausgerüsteten italienischen Polizeikräfte weniger Schutz und Autorität fur sich beanspruchen konnten und häufiger zur Zielscheibe der Gewalt wurden. 2.1.9 Regionale Gewalthochburgen Im Oktober 1931 urteilte die linksliberale „Welt am Montag" über die regionale Verteilung der blutigen Auseinandersetzungen: „In der Tabelle der Opfer, besonders in der der nationalistischen Gewaltpolitik, steht das RheinRuhrgebiet an erster Stelle. Ihm folgt Berlin, die Wasserkante, Mitteldeutschland, Süddeutschland und Oberschlesien. Die agrarischen Gebiete Deutschlands weisen die geringsten Zahlen über Opfer politischen Terrors auf." 6 7 Träfe diese Skalierung der regionalen Gewalthochburgen der SA in 64
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Striefler, S.253-260, 266-272, 289, 297; Wirsching, Weltkrieg, S.551; Winkler, Weg in die Katastrophe, S.391-396; Leßmann, S.293-301; Schumann, Politische Gewalt, S.309. Dagegen: Ehls, S.434. Schreiben des Preuß. Ministers des Innern vom 31.12.1932, in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr. 122, fol.251-252 (M). Schreiben des Preuß. Ministers des Innern vom 31.12.1932, in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit. 4043, Nr. 122, fol.251-252, 256 (M); Winkler, Weg in die Katastrophe, S.394; ACS, DGPS, AGR, CA 1921, busta 90, fasc. 148,1: „Statistica - Statistica generale dei morti e feriti nelle agitazioni avvenute durane Panno 1920" und „Scontri tra fascisti e sovversivi verificatisi del 1 Gennaio al 7 April 1921". Nach einer Statistik sollen an nur einem einzigen Tag, dem Wahltag vom 15. Mai 1921 schon 11 Polizisten getötet worden sein (ACS, DGPS, AGR, CA 1921, busta 90, fasc. 148,1: „Statistica - Elezioni Politiche 1921"). „Fieberkurven der Politik", in: Die Welt am Montag Nr.41 vom 12.10.1931.
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etwa zu, so läge die These nahe, dass die Gewaltsamkeit der SA besonders dann anwuchs, wenn sie sich mit einem starken kommunistischen Gegner auseinanderzusetzten hatte. Fächert man das Bürgerkriegsszenario mit Hilfe der seriösen Statistiken regional auf, so erkennt man in beiden Ländern starke regionale Unterschiede. 68 Zunächst zu Italien: Während des Frühjahrs 1921 entfielen auf jede der 71 italienischen Provinzen durchschnittlich 25 Zusammenstöße. An der Spitze dieser Ausschreitungsstatistik lagen die Provinzen Perugia, Modena und Bologna, in denen es jeweils zu 100 oder mehr Zwischenfallen kam. Auch die Provinz Ferrara lag mit 76 Zwischenfallen deutlich über dem Durchschnitt. Stellt man die Ausschreitungen in den Provinzen in ein Verhältnis zur jeweiligen Wohnbevölkerung ergibt sich eine besondere Häufigkeit der Gewaltvorfälle in der Emilia. In fast allen Provinzen dieser Region mit der Ausnahme von Parma, Ravenna und Forli - kam es zu überdurchschnittlich vielen Gewaltvorfallen. Modena, Bologna und Ferrara lagen an der Spitze. Zweifellos gehörte die vergleichweise weit industrialisierte, mit einer modernen Landwirtschaft ausgestattete Poebene zu den Hochburgen der squadristischen Gewalt, während es im rückständigen Süden, mit der Ausnahme Apuliens, also in Sizilien, Sardinien oder Kalabrien kaum zu Zusammenstößen kam. 6 9 Die faschistische Gewalt trat damit in jenen Regionen auf, in denen auch die Sozialkonflikte an stärksten ausgeprägt waren. Die faschistische Gewalt war eine Antwort die organisierte Arbeiterschaft, die im primären Wirtschaftssektor beschäftigt war und Einfluss auf die Verwaltung in Stadt und Land erlangte. Die rote Gewalt bei den Arbeitskonflikten hat jedoch - wie schon gezeigt - nicht die faschistische Gewalt erzeugt, sondern ihr eine Legitimationsgrundlage verschafft. 70
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Eine regionale Verortung der Schwerpunkte gewaltsamer Zusammenstöße ist nur für solche Zeitpunkte möglich, für die regional aufgegliederte Statistiken vorliegen. Für Italien finden sich diese nur für das Frühjahr 1921 und für Deutschland lediglich für das zweite Halbjahr 1932. Die folgenden Ausführungen basieren auf eigenen Berechnungen anhand der regional ausgewiesenen Gewaltvorfälle vom 1. Januar bis zum 31. Mai 1921. Berechnet nach: ACS, DGPS, AGR, CA 1921, busta 90, fasc.148,1: Statistical „Statistica a tutto il 31 Maggio 1921"; Direzione Generale della Statistica: Annuario Statistic» ltaliano. Seconda Serie, Bd. VIII. Anni 1919-1921. Indici Economici fino al 1924. Rom 1925, S.31-33. Auch bis zum 8. Mai diesen Jahres lagen die besagten Provinzen in der Spitzengruppe: In Modena zählte man 93 Zwischenfälle, in Rovigo 79, in Perugia 74 und in Bologna 73, deutlich über der durchschnittlichen Anzahl von 15,5 Zusammenstößen lag. Siehe auch: ACS, Mdl, DGPS, AGR, CA 1925, busta 96, zitiert nach: De Feiice, Mussolini il fascista, S.36-39. Vgl. Petersen, Problem, S.332/333, 335-337, 344-; Lyttelton, Faschismus, S.304/305; Tasca, S.131. Die Zentralität Bolognas hinsichtlich der Gewaltvorfälle zeigt auch eine Statistik der „Camera confederale del lavoro" in Bologna, die für das Jahr 1921 allein in
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Ähnlich wie in der Poebene sah es in der Toskana aus. Die dortigen Hochburgen der gewaltsamen Zusammenstöße lagen in den Provinzen Pisa, Siena und Arezzo, wobei die Fasci von Pisa und Siena eng zusammenarbeiteten. In der toskanischen Region war das agrarische Proletariat zwar weniger zahlreich vertreten als in der Emilia, da die Wirtschaftsstruktur durch die mezzadria, ein Halbpächtersystem, gekennzeichnet war. Aber die mezzadri, die sozial zwischen Landarbeitern und selbständigen Bauern standen, wurden von den sozialistischen wie von den katholischen Gewerkschaften umworben. Gegen dieses Organisationsnetz der Arbeiterbewegung richtete sich die squadristische Gewalt, die wiederum eine rein destruktive Ausrichtung hatte. 71 Nur eine Region des Südens, Apulien, rangierte auf einer Ebene mit den norditalienischen Regionen, da es hier eine außerordentlich starke Arbeiterbewegung gab, die Landwirtschaft für süditalienische Verhältnisse mit einigen industrialisierten Agrarbetrieben weit fortgeschritten war und beträchtliche Spannungen zwischen Unternehmern und Arbeiterschaft herrschten. 72 Im mittleren Feld lagen die nördlichen Regionen der Lombardei und Venetiens. In den anderen Regionen Süditaliens hingegen kam es kaum zu nennenswerten Gewaltvorfallen. Ähnliches gilt auch für die noch nicht genannten mittelitalienischen Regionen, allerdings in nicht so deutlichem Ausmaß wie für Süditalien. Auch die Großstädte wie Turin, Genua oder Mailand waren überraschenderweise relativ ruhige Gebiete. Es gelang den Squadristen nicht, in den großen Industriestädten Fuß zu fassen, da sie kaum Anhänger unter der industriellen Arbeiterschaft hatten und die Finanziers aus der großstädtischen Wirtschaft, sieht man einmal von Mailand ab, fehlten. 73 Diese regionale Verteilung war kennzeichnend für die Hochphase des gewaltsamen Faschismus seit Mitte 1921 bis zum sogenannten Marsch auf Rom. Davor jedoch stellte sich die geographische Situation anders dar. Denn den Anfang der squadristischen Gewalttätigkeiten bildeten die Nationalitätenkämpfe gegen das rassistisch definierte „Slawentum" in Triest und Friaul. 74 Der hiesige Squadrismus demonstrierte den Grundsatz, dass ein gewaltsamer Weg für den Faschismus erfolgversprechend war. Zwar stand Julisch-Venetien im Jahre 1921 nicht mehr an der Spitze der squadristischen
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ihrer Provinz 19 getötete und 1.936 verletzte Arbeiter ausweist (Cardoza, Agrarian Elites, S.377; Alberghi, S.421). Snowden, Fascist revolution, S.121-179; Tasca, S.142,144, 153. Vgl. dazu Colarizi, bes. S.5-35; Tasca, S.144-147. Vgl. Tasca, S.147. Zur Finanzierung der PNF siehe: Gentile, Storia, S.40-42, 436-440; Melograni, Gli industriali e Mussolini; De Feiice, Primi elementi, S.223-244. Apih, S. 113, 130; Granata, Storia nazionale, S.504-506; Tasca, S.130; Nolte, Faschismus, S.256. Siehe dazu auch ACS, MRF, busta 29, fasc.l 13, sottofasc.189: „Fiume".
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Gewalt, aber Triest lag hinsichtlich der relativen Gewaltsamkeit seiner Faschisten immer noch, im Vergleich mit den anderen italienischen Provinzen, auf einem vorderen Rang. Seit den Jahren 1920/21 war besonders der toskanische Faschismus, dem die Bluttat von Empoli zum Durchbruch verhalf, durch die Radikalität seiner Squadristen bekannt geworden. 75 Stellt man die Anzahl der Ausschreitungen in eine Korrelation zu den Mitgliederzahlen der Faschisten, so waren in den Provinzen Pisa, Massa-Carrara, Siena und Arezzo die gewalttätigsten Faschisten anzutreffen. Tatsächlich zeigen die entsprechenden Lokalstudien, dass sich die dortigen Faschisten durch ein besonders hohes Maß an Brutalität auszeichneten. 76 Das entscheidende Kampfgebiet stellte aber seit dem Ende des Jahres 1920 immer mehr die Emilia-Romagna dar. Im Mittelpunkt der Region stand die Provinz Bologna mit der gleichnamigen Hauptstadt, einer Industriestadt mit einem weitverzweigten Netz sozialistischer Arbeiterorganisationen und der kommunalen Vorherrschaft der Sozialisten. Die Initialzündung der squadristischen Aktionen stellte Ende November 1920 der Sturm auf den Palazzo d'Accursio dar, das Rathaus der Stadt Bologna, in dem die neugewählten Sozialisten sich gerade präsentiert hatten. In der Folge dieser faschistischen Attacke, die offenbar im Einvernehmen mit dem Polizeipräsidenten (Quästor) von Bologna erfolgt war, setzte eine Welle faschistischer Gewalt ein, die sich, zunehmend besser organisiert, gegen herausragende Personen der sozialistischen Bewegung aus der Provinz richtete. 77 Die Faschisten sahen keinen Anlass, ihre Attacken zu vertuschen, und erklärten stolz, dass sie gar nicht daran dächten, ihre Squadren zu entwaffnen, statt dessen „werden [diese] gewalttätig gegen die verantwortlichen Sprecher der Pus" vorgehen. 78 Mit der Verballhornung „Pus" und „pussisti" waren die Sozialisten gemeint, das Wort bezog sich gleichermaßen auf die Abkürzung von „Partito Unitaria Socialista" als auch auf „Eiter", der eigentlichen Wortbedeutung von pus. Dem Faschismus in der Region flössen schlagartig Mitglieder zu, von weniger als einhundert auf über 5.000 Mitgliedern im März 1921. 79 Wie kein anderes Einzelereignis setzte der Sturm auf das rote Rathaus Bolognas eine Welle squadristischer Gewalt in Gang, die bis in die 75 76
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Snowden, Fascist revolution, S.70-120; Cantagalli, S.147-160; Chiurco, Bd.3, S.107-109; Tasca, S. 142-144. Für Pisa: Nello, Vocazione, S.393-446, 601-664; für Cararra: Engelmann, Provinzfaschismus, S.66-88, 176-212; für Siena: Pasquinucci, Classe, S.443-454; Pasquinucci (Hrsg.); für Arezzo: Sacchetti, S.41-76. Dazu: ASB, GdP, Nr. 1368, fasc.: Fatti del 21 Novembre 1920; Onofri, S.252-289, 300314; Cardoza, Agrarian Elites, S. 306-315; Tasca, S. 127-129; Dunnage, Italian Police. S. 103-107. Eine faschistische Darstellung bei Chiurco, Storia, Bd. 2, S.167-200. Resto del Carlino vom 19. Dezember 1920, zitiert nach Cardoza, Agrarian Elites, S.308. Cardoza, Agrarian Elites, S.310; De Felice, Mussolini il fascista, S.8.
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gesamte Po-Region ausstrahlte und das Bild faschistischer Unbesiegbarkeit ungemein stärkte. Im Frühjahr 1921 erreichten die Aktionen der Squadristen in den Regionen der unteren Po-Ebene, in Julisch-Venetien und der Toskana ihre höchste Gewaltsamkeit. Von den 726 im ersten Halbjahr 1921 durch die Squadristen zerstörten sozialistischen Gebäude konzentrierten sich 550, also über 75 Prozent, auf die genannten Regionen. Zu den Zentren squadristischer Gewalt in der Emilia gehörte auch die Provinz Ferrara, in der zwischen Januar und März 1921 viele Gewerkschaftshäuser, Arbeiterkooperativen, Arbeitsvermittlungsstellen oder sozialistische Parteibüros entweder in Brand gesetzt oder schwer beschädigt wurden. Während des Frühlings 1921 sollen die Faschisten dieser Provinz etwa ein Dutzend Gegner getötet haben. 80 Die räumliche Korrelation zwischen der faschistischen Gewalt und der Stärke der sozialistischen Arbeiterbewegung ist somit eines der auffalligsten Merkmale des Squadrismus und bestätigt die soziopolitische Funktionalität der squadristischen Gewalt, die sich gegen die Macht der organisierten Arbeiterbewegung richtete. Wie sah dagegen die geographische Verteilung in Deutschland aus? Nur für den Zeitraum des zweiten Halbjahrs 1932 erlauben die Statistiken einen Einblick in die regionalen Hochburgen der politischen Auseinandersetzungen. 81 Ein Blick auf die absoluten Zahlen der Konfrontationen zeigt, dass die preußischen Regierungsbezirke Düsseldorf, Schleswig, Berlin, Arnsberg, Merseburg und Breslau im zweiten Halbjahr 1932 Spitzenwerte ausweisen, während es in den dünnbesiedelten und ländlichen Gegenden im nordöstlichen Teil Preußens wie in Stade, Aurich, Allenstein oder Gumbinnen kaum zu gewalttätigen Konfrontationen kam. Für die ostpreußischen Regierungsbezirke ist der geringe Anteil an politischen Zusammenstößen vor allem deshalb bemerkenswert, da in diesen Regionen die allgemeine Gewaltkriminalität traditionell am höchsten war. Hier verdichteten sich die Ausschreitungen auf das Ballungszentrum um Königsberg, in dem die SA den Ton angab. 8 2 Stellt man die unterschiedliche Bevölkerungsdichte der verschiedenen Regierungsbezirke in Rechnung und gelangt so zu relativen Zahlen, bleiben die Hochburgen der Gewalttätigkeit, mit Ausnahme von Arnsberg und 80 81
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Petersen, Problem, S.344; Sitti, Renato/Prevati, Lucilla: Ferrara, il regime fascista. Mailand 1976, S.61; Roveri, S.211. Die folgenden Aussagen basieren auf eigenen Berechungen aus: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr. 126, fol.2-3, 103-106, 172-175, 261-263 (M); Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 51. Jg. 1932. Berlin 1932, S.6. Johnson, S.219-230; Jessen, Ralph: Gewaltkriminalität im Ruhrgebiet zwischen bürgerlicher Panik und proletarischer Subkultur, in: Kift, Dagmar (Hrsg.): Kirmes Kneipe - Kino. Arbeiterkultur im Ruhrgebiet zwischen Kommerz und Kontrolle (18501914). Paderborn 1992, S.233.
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Breslau, weiterhin die genannten Bezirke. In diesen städtischen Gebieten prägten die politischen Ausschreitungen somit stärker das alltägliche Leben als in anderen Regionen. Die Chance, Teilnehmer oder Zuschauer eines politischen Zusammenstoßes zu werden, war hier wesentlich höher, als in Schneidemühl, Aurich oder Stade. Nur in einem der ländlichen Regierungsbezirke, in Schleswig, sticht auch die relative Anzahl der Ausschreitungen hervor, wodurch die Straßenkämpfe auch hier zum Alltagsleben gehörten. 83 Diese gewaltgeladene Situation entstand schon Jahre vor dem Blutjahr 1932, denn die 1928 gegründete Landvolkbewegung ebnete durch ihre militanten Protestformen und Bombenanschläge den Nationalsozialisten den Weg. Die Nationalsozialisten verstanden es, die traditionellen Führer des rechtsnationalen Milieus dort für sich zu gewinnen. Schleswig-Holstein gehörte seit den späten zwanziger Jahren auch zu den Hochburgen der NSDAP. Bei der Juliwahl 1932 war es die einzige Region im gesamten Reich, in der die NSDAP über 50 Prozent der Stimmen erzielen konnte. 84 In Italien stellten die relativ industrialisierten Regionen der EmiliaRomagna den Brennpunkt der gewalttätigen politischen Auseinandersetzungen dar. Die Region zählte insgesamt zu den Hochburgen der italienischen Arbeiterbewegung. In der Weimarer Republik hingegen konzentrierten sich die Zusammenstöße einerseits auf städtische Regionen (Berlin, Düsseldorf) und andererseits auf relativ dicht besiedelte ländliche Gegenden (Schlesien, Schleswig). Hier kam es, analog zu Italien, vor allem dort, wo die sozialistische Bewegung stark war, zu überdurchschnittlich vielen Zusammenstößen. Schlesien und Schleswig waren eine Gewalthochburg der SA, obwohl dort die sozialistische und kommunistische Bewegung vergleichsweise schwach blieb. 2.1.10 Die Bewaffnung Einen Hinweis auf die Qualität der Auseinandersetzungen können die von den staatlichen Behörden beschlagnahmten Waffen geben. Hierbei zeigt sich, dass es zu voreiligen Schlüssen fuhren würde, wenn man aus den brutaleren Auseinandersetzungen in Deutschland auf eine „effizientere" Gewalt der SAMänner schlösse.
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In Schleswig entfielen nur 7.597 Einwohner auf einen Zusammenstoß, und selbst flächenmäßig weist der große Regierungsbezirk mit durchschnittlichen 75 Quadratkilometer einen fur eine ländliche Gegend hohen Grad an räumlicher Dichte bei den Ausschreitungen auf. Vgl. Heberle; Stoltenberg; Kopitzsch, Politische Gewalttaten, S. 19-29; Büttner, S.89. Zur Reichstagswahl im Juli 1932: Falter/Lindenberger/Schumann (Hrsg.), S.73.
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Für Italien liegt eine Statistik über die Zeit vom Sommer 1920 bis zum Sommer 1921 vor. Für Preußen sind die beschlagnahmten Waffen für das Berichtsjahr 1931 ausgewiesen worden. Danach sind in Italien bei mindestens 50.400 Razzien 126.928 Waffen jedweder Art, in Preußen dagegen bei 2.904 Razzien nur 1.492 Waffenstücke eingezogen worden. Setzt man die Anzahl der Razzien zueinander ins Verhältnis, so ergibt sich, dass bei den italienischen Razzien knapp fünf mal so viele Waffen aufgefunden wurden. 85 Dieser Unterschied erklärt sich nicht aus der strengeren Praxis der Razzien in Italien, sondern muss auf eine stärkere Bewaffnung der italienischen Straßenkämpfer zurückgeführt werden. Es ist in der Forschung unbestritten, dass gerade die italienischen Faschisten im Vergleich zu ihren sozialistischen Gegnern besser ausgerüstet waren. Der Vergleich zu Deutschland ergibt darüber hinaus einerseits, dass die deutschen Kommunisten weitaus besser bewaffnet waren als ihre italienischen Genossen, und andererseits, dass die italienischen Faschisten weitaus besser ausgerüstet waren als die deutschen SA-Männer. 86 Auch die Art der Bewaffnung deutet in diese Richtung, denn die italienischen Behörden fanden vergleichsweise häufig schweres Geschütz vor. So konnten bei den genannten Razzien immerhin 6 Kanonen und 171 Kanonenkugeln, 44 Maschinengewehre und 18 passende Patronengurte, 3 Flammenwerfer, 2 Schrapnell, 110 Kilogramm Nitrozellulose, 2.250 Dynamitkapseln und 2.373 Handgranaten aufgefunden werden. Dass die politischen Kampftruppen sich in den Besitz von solchen Kampfmaterialien bringen konnten, geht auf die unmittelbare Nähe zum Ersten Weltkrieg zurück. In den ersten Nachkriegsjahren hatte der Staat noch keine umfassende Kontrolle über den Verbleib seiner Kriegsgeräte erlangt, so dass die Squadristen schon deshalb besser bewaffnet waren als die SA der Jahre 1930 bis 1932. Die mangelhafte Kontrolle über den Verbleib der Kriegsgeräte stellte aber keine italienische Besonderheit dar. Auch für Deutschland ist die schwere Bewaffnung der Freikorps sowie der Einwohner- und Bürgerwehren in den Jahren bis 1921 belegt, denen teilweise durch die Reichswehr Waffen ausgeliefert worden waren. Die Reichswehr hatte damit versucht, die Abrüstung zu umgehen und
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ACS, DGPS, AGR, CA 1921, busta 90, fasc.148,1: „Statistical „Perquisizioni eseguite dal 20 Giugno 1920 al 31 Maggio 1921 per il sequestro di armi e materie esplodenti e risultati ottenuti"; GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4034, Nr. 126, fol.121 (M). Zur Bewaffnung der Squadristen: Mola, Aldo Α.: Com'era armato lo squadrismo, in: II Parlamente Italiano, S.188; Corner, Fascism, S.142, 185/186; Carsten, Aufstieg, S.68; Cangogni, Storia, S.84. Zur Bewaffnung der deutschen Kommunisten: Striefler, S.234237, 245-250, 316. Zur Bewaffnung der SA in der Frühzeit bis 1923: Werner, S.46/47; Rüffler, S.93/94, 103, 107.
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die Verbände beim Kampf gegen kommunistische Umsturzversuche zu unterstützen. 87 Allerdings scheint in Italien auch der durch die Industriellen und Agrarier finanzierte Waffenkauf ab dem Jahre 1921 erheblich gewesen zu sein. Bevor der Squadrismus diese Hilfe erhielt, war der Knüppel die vorherrschende Waffe gewesen. So hatten die Faschisten in Catania im Jahre 1920 nach Auskunft der örtlichen Fasc/o-Leitung 28 Squadren, die, in Ermangelung anderer Waffen, sämtlich mit Knüppeln ausgerüstet waren. Die vor Ort erworbenen Gummiknüppel kosteten zwischen 30 und 40 Lire pro Stück, wobei in einem Brief an die Zentrale bemerkt wurde: „Es ist nötig Ihnen zur Kenntnis zu bringen, daß nicht alle unsere Faschisten viel ausgeben können." Auch der zentralen Fosdo-Leitung mangelte es offenbar an finanziellen Ressourcen, denn sie gab im gesamten Jahr 1920 nur gut 26.000 Lire für die Beschaffung von Waffen aus, hierunter insbesondere Revolver, Munition und Knüppel. 88 Bei KPD-Anhängern und Nationalsozialisten wurden nur in sehr seltenen Fällen schwere Waffen ausfindig gemacht. Selbst in Berlin waren Anzahl und Kaliber der aufgefundenen Waffen und Munition vergleichsweise harmlos. In staatlichen Denkschriften wurde immer wieder festgestellt, dass die Bewaffnung der SA nicht nennenswert gewesen sei. 89 Da die italienischen Zusammenstöße trotz ihres Bewaffnungsvorsprungs unblutiger verliefen als in Deutschland, muss vermutet werden, dass die schweren Waffen in Italien vor allem symbolisch benutzt wurden. Schon das ostentative Vorzeigen der Waffen und die Ankündigung ihres Einsatzes genügte offenbar, um den Gegner einzuschüchtern. Dessen ungeachtet stellten die verharmlosend als „Radiergummi" bezeichneten Gummiknüppel, Spazierstöcke und sonstige Hiebwaffen oder auch Messer, Schlagringe sowie die als „Feuerzeug" bezeichneten Revolver und Pistolen die gängige Art der Bewaffnung mit „guten Argumenten", wie die Faschisten expressis verbis meinten, dar. Dies galt sowohl für die italienischen Squadristen als auch für die deutsche SA. Auch diese Waffen wurden oft symbolisch eingesetzt und verliehen der Drohgebärde gegenüber dem Gegner ernsthaften Nachdruck. Der symbolische Gebrauch der Waffen erhöhte die Chance, den Gegner in die Flucht zu schlagen und - gemäß der eigenen Wahrnehmung - zu „siegen". Gleichzeitig fungierte eine Waffe 87
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Piazzesi, S.153, 171-182; Engelmann, Provinzfaschismus, S.145, Anm.58. Für Deutschland etwa: Winkler, Der lange Weg, S.419; Schumann, Politische Gewalt, S. 102; Reiche, Development, S.21/22; Röhm, Geschichte [1928], S.104. Zitat: Guglielmo an Pasella vom 23.9.1920 und Franco Scuderi an Rossi vom 5.2.1921, in: ACS, MRF, busta 26, fasc. Catania, ohne fol. Zur zentralen Fasao-Leitung: Gentile, Storia, S.481. Vgl. für Massa-Carrara: Engelmann, Provinzfaschismus, S.43 Denkschrift „Zur Frage der Legalität oder Illegalität der NSDAP', in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6818, fol.33. Striefler, S.316 (der die Befunde verzerrend bewertet). Weitere Beispiele bei Rüffler, S.294.
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gegenüber den eigenen Kameraden als Statussymbol, das die Reputation des Straßenkämpfers erhöhte. Der Besitz von Waffen war ein Mittel der persönlichen Macht- und Selbstwertsteigerung. Zum zentralen Symbol des italienischen Squadrismus wurde der „heilige Knüppel" (santo manganello). In den Jahren 1921/22 wurde an dessen Stelle zuweilen ein mit Blei ausgegossener Stock oder eine in Leder gehüllte Kette benutzt. Der etwa armlange manganello wurde in der faschistischen Ikonographie zum zentralen Symbol für den Squadrismus. 90 Durch die Bewaffnung drückte man den Ernst seines Anliegens aus, die Waffe diente als Ergänzung der eigenen Entschlossenheit. Solcherlei Imponiergehabe unterstrich die hier maßgeblichen männlichen Werte des Mutes und der Gewaltbereitschaft. Die Bedeutung von Gummiknüppel und manganello zeigt zudem den Anspruch, sich als „wahre" Staatsmacht zu präsentieren: waren doch die Knüppel in beiden Ländern traditionsgemäß typische Waffen der Polizeieinheiten. Schließlich waren die meisten Waffen, sieht man einmal von den Pistolen ab, Nahkampfwaffen. Solche Kampfmittel machten den Kampf zu einem intensiven körperlichen Erlebnis und steigerten dadurch die Gewalterfahrung. Dadurch nahm die Erfahrung und Wahrnehmung körperlicher Gewalt einen hohen Stellenwert ein. 2.1.11 Effizienz und Zielgerichtetheit faschistischer Gewalt Einen wichtigen Unterschied zwischen der Gewaltanwendung der Squadristen und der SA markierten die Sachbeschädigungen. Die squadristische Gewalt richtete sich nämlich keineswegs nur gegen Personen. Zusätzlich wurden die wichtigsten Institutionen des sozialistischen wie kommunistischen Gegners gezielt angegriffen, geplündert, ausgeraubt und niedergebrannt. So erreichte man die Lahmlegung des politischen Gegners. Die italienische Arbeiterbewegung wurde dadurch bei der Wahrnehmung ihrer sozialen Aufgaben empfindlich gestört. Dieses Vorgehen fand in der SA kaum eine Entsprechung. Eine von Angelo Tasca erstellte Bilanz vom ersten Halbjahr 1921, die die faschistischen Zerstörungen an den Gebäuden ihrer Gegner ausweist, zeigt das Ausmaß der squadristischen Destruktionen.
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Calamandrei, S.1439-1446; Eberlein, Gustav: Der Weg zum Kapital. Der Faschismus als Bewegung. Berlin 1929, S. 133/134; Gentile, Culto, S.48/49; Gentile, Storia, S.502; Werner, S.47; Sauer, Mobilmachung, S.842. Als Quellen: Schreiben von Remo Ranieri, Segretario del Fascio di Borgo S. Donnino an Umberto Pasella, Segretario Generale dei Fasci, und die Rappresentanti dei Fasci della Provincia di Parma vom 3.7.1921, in: ACS, MRF, busta 24, fasc.l 13, sottofasc.64: Borgo S. Donnino (Parma), fol.3; Giunta, S.6/7.
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Tabelle 6: Squadristische Anschläge auf Institutionen der italienischen Arbeiterbewegung (erstes Halbjahr 1921) 9 ' Kommunistische und sozialistische Sektionen und Lokale (Sezioni e circoli socialisti e communisti) Gewerkschaftszentralen (Camere del lavoro) Genossenschaften (Cooperative) Kulturheime (Circoli di cultura) Bauernligen (Leghe contadine) Volksheime (Case del Popolo) Arbeiter- und Erholungsheime (Circoli operai e ricreativi) Arbeitergewerkschaften (Sindacato operaio) Zeitungsredaktionen und Druckereien (Giornali e tipografie) Volksbibliotheken und -theater (Biblioteche popolari e teari) Wechselseitige Versicherungen (Societa mutute) Volkshochschulen (Universitä popolari) Zusammen
141 119 107 100 83 59 53 28 17 10 8 1 726
Die materiellen Schäden, die der sozialistischen Arbeiterbewegung durch diese Zerstörungen entstanden, sind nur schwer abzuschätzen. Die sozialistische Presse scheint nur wenig zuverlässig zu sein. So schätzte die sozialistische Zeitung „L'idea", um nur ein Beispiel zu wählen, dass sich der Schaden der neun von den Squadristen im September 1922 in der unteren Parmaregion verwüsteten oder niedergebrannten Genossenschaften auf insgesamt über 1,5 Millionen Lire belaufen haben soll. 92 Ein Vergleich mit anderen Fällen zeigt, dass dies überzogen war. Nach einer Untersuchung der faschistischen Angriffe, die den sozialistischen Parlamentariern vorgelegt wurde, war in der Provinz Parma im April und Mai 1921 bei sechs Angriffen auf Genossenschaften ein Schaden von insgesamt 130.500 Lire entstanden. In der Provinz Florenz belief sich der Schaden in den ersten vier Monaten des Jahres 1921 auf insgesamt 187.264 Lire. 93 Diese Einschätzung legt ein Vergleich mit den Zerstörungen der Jahre 1921 und 1922 in der Provinz Bologna nahe. Aus den Polizeiberichten, die in der dortigen Präfektur eingingen, ist zu ersehen, dass die von den Squadristen angerichteten Schäden in den sozialistischen Lokalen, Kultur- oder Volksheimen oftmals in einem Rahmen von einigen hundert Lire verblieben. 91
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Tasca (S.148, 439) bezieht sich auf eine Auszählung der Angaben aus dem parteioffiziellen Werk des Faschisten Chiurco. Die einfachen Strafexpeditionen werden hier nicht berücksichtigt, ebensowenig die Übergriffe auf einzelne Antifaschisten. Dasselbe gilt für die erzwungenen Schließungen von Partei- und Gewerkschaftslokalen und die Vertreibung roter Gemeindeverwaltungen. L'idea Nr. 39 vom 7.10.1922, in: ACS, MRF, busta 142, fasc.169, sottofasc.3. Fascismo. Inchiesta socialista, S.285, 320.
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Gläser und Mobiliar gingen zu Bruch, Wein und Lebensmittel wurden je nach Belieben zerstört oder konsumiert.94 Daneben waren auch Schadensfälle von 5.000 Lire und mehr keine Seltenheit: Insgesamt zwölf Fälle solch gravierender Schäden, von der Polizei zumeist mit einer Höhe von 10.000 bis 30.000 Lire beziffert, sind zwischen dem Mai 1921 und dem August 1922 überliefert. Dabei konzentrierten sich die Brandstiftungen und Demolierungen vor allem auf das letzte Drittel des Jahres 1921. Insgesamt betrug das Schadensvolumen 239.000 Lire. 95 Wenngleich in den überlieferten Polizeiberichten vermutlich nicht alle Schäden verzeichnet sind und zudem lediglich auf staatlichen Schätzungen beruhen, so zeugen schon diese wenigen Angaben von einem erheblichen Schaden. Allein die zwölf aufgeführten Schäden in Bologna entsprachen dem Lohn für rund 375.000 Arbeitsstunden eines ländlichen Tagelöhners dieser Region (bracciante), dessen durchschnittlicher Stundenverdienst im Jahr 1918 zwischen 0,64 und 0,36 Lire betrug.96 Dazu kamen schließlich auch noch die kleineren Schäden von einigen hundert Lire, die für die beiden Jahre an die hundert Fälle gezählt haben dürften. Vor allem bei den Genossenschaften (cooperative) war der Schaden höher, wobei die Brandstiftungen die größten Schäden hinterließen. 94
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Siehe als ein Beispiel die Schadenmeldung fiir einen sozialistischen Club im Stadtteil Alberino von Molinella (Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 14.6.1921, in: ASB, GdP, Nr.1345, fasc. Molinella, ohne fol.). Vgl. weiterhin die Kostenschätzung des Quästors von Bologna vom 20.8.1922 über die Schäden an der Cooperative „Vita Nuova" bei Bertalia, in: ASB, GdP, Nr. 1373, ohne fol. Sowie: ASB, GdP, Nr. 1369, ohne fol. (Angriff auf die sozialistische Konsumgenossenschaft in Borgo Panigale am 4.8.1922) Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 14.5.1921, in: ASB, GdP, Nr. 1346, fasc. Persiceto, ohne fol; Schreiben des Maggiore Raul Masi an den Präfekten von Bologna vom 16.6.1921, in: ASB, GdP, Nr.1342, fasc. Crespellano, ohne fol.; ASB, GdP Nr.1342, fasc. Castiglione dei Pepoli, ohne fol. (Schreiben des Unterpräfekten von Vergato an den Präfekten von Bologna vom 10.9.1921); Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 20.9.1921, in: ASB, GdP, Nr. 1346, fasc. Zola Predosa, ohne fol.; Bericht des Maggiore Comandante Vittorio Sforni an die Präfektur in Bologna vom 18.10.1921, in: ASB, GdP, Nr.1344, fasc.: Minerbio, ohne fol.; Schreiben des Capitano Pietro Ortolani an den Präfekten von Bologna vom 26.11.1921, in: ASB, GdP, Nr.1344, fasc. Medicina, ohne fol.; Schreiben des VizeKommissars an den Präfekten von Bologna vom 29.11.1921, in: ASB, GdP, Nr.1341, fasc. Baricella, ohne fol.; Schreiben des Unterpräfekten von Imola an den Präfekten von Bologna vom 26.12.1921, in: ASB, GdP, Nr.1345, fasc. Mordano, ohne fol.; Quästor an Präfekten vom 25.7.1922, in: ASB, GdP, Nr.1372, fasc.: S. Agata Bolognese, ohne fol.; Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 3.6.1922, in: ASB, GdP, Nr. 1373, ohne fol.; Schreiben des Capitano Pietro Ortolani an die Präfektur in Bologna vom 24.7.1922, in: ASB, GdP, Nr.1371, fasc. Sesto Imolese, ohne fol.; Schreiben des Tenente Colonello Cesare Gallo an die Präfektur in Bologna vom 12.8.1922, in: ASB, GdP, Nr.1372, fasc. Pianoro, ohne fol.; Schreiben des Tenente Colonello Cesare Gallo an den Präfekten von Bologna vom 11.8.1922, in: ASB, GdP, Nr.1373, fasc.: Bologna. Devastazione Circolo Socialista di S. Ruffillo, ohne fol. Tirelli, S.666.
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Auch in der Provinz Ferrara, in der von Februar bis April 1921 insgesamt 130 Strafexpeditionen durchgeführt wurden, konnten etwa 40 sozialistische Besitztümer zerstört werden, hierunter von allem die camere del lavoro und cooperative. Die Intensität der Gewaltaktionen gegen die sozialistischen Institutionen dürfte mit deren wichtiger Arbeitsmarktfunktion zu tun gehabt haben, die die Faschisten stets einzuschränken bestrebt waren. In jedem Falle erwiesen sich diese Gewaltaktionen als äußerst wirksames Mittel zur Einschüchterung und Demoralisierung, da nicht selten die Früchte jahrzehntelanger Organisations- und Spartätigkeit im Handumdrehen vernichtet wurden. 97 Eine entsprechende Auflistung der durch die SA begangenen Schäden fehlt. Deren Aktionen richteten sich in geringerem Ausmaß gegen die wirtschaftlich wichtigen Institutionen der Arbeiterbewegung. Vereinzelt wird, insbesondere für den Sommer 1932, von Überfallen auf Gewerkschaftshäuser berichtet, seltener von Angriffen auf Konsumvereine oder Zeitungsredaktionen. 9 8 Die eigentumsbezogenen Angriffe der SA richteten sich vor allem gegen die Kneipen der SPD und die Verkehrslokale der KPD. Hier wurden Mobiliar und Fensterscheiben zuhauf zerstört. Gewerkschaften, Genossenschaften und Kooperativen verloren durch die SA-Gewalt aber zu keinem Zeitpunkt ihre Funktionsfähigkeit - weder auf regionaler noch auf nationaler Ebene. In diesem Sinne effektiv und entfesselt wurde die SA-Gewalt erst nach der Machtübertragung an Hitler. Erst im Laufe des Jahres 1933, als SA und Polizei offen miteinander kooperierten, wurden die Gewerkschaften und Arbeiterparteien in ihrer Funktionsfahigkeit empfindlich beeinträchtigt und schließlich lahmgelegt. 99 Vor 1933 aber stellte die SA-Gewalt keine ernsthafte Bedrohung der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung der Arbeiterbewegung dar. Dies hing wahrscheinlich auch damit zusammen, dass die Eigentumsdelikte besonders häufig von der Polizei aufgeklärt wurden und zu Verhaftungen führten. 1 0 0 Stattdessen konzentrierten sich die SA-Aktionen auf körperliche Übergriffe gegen die Mitglieder der kommunistischen und sozialdemokratischen Kampf- und Wehrorganisationen. Die SA-Männer waren somit im Unterschied zu den Squadristen nicht so „heilig entschlossen, Gewerkschaftshäuser anzuzünden", wie der Jounalist Rudolf Olden mit einem Seitenblick auf die
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Corner, Fascism, S.139; Engelmann, Provinzfaschismus, S.55, 83. Vgl. Erb (Hrsg.), S.61-67, 79-83; Wernette, S.108; Bessel, Political Violence, S.87-92; Schumann, Politische Gewalt, S.234. 99 Erb (Hrsg.), S. 84-266; Longerich, Bataillone, S. 165-179; Sauer, Mobilmachung, S.862878; Schumann, Politische Gewalt, S.331-334; Gliech, S.144-193; Bessel, Political Violence, S.98-105, 109-116; GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr. 177, fol.246253 (M). 100 Wernette, S.108, 110-112, 141.
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italienischen Verhältnisse konstatierte.101 Wenn materielle Schäden in der Zeit vor 1933 entstanden, dann vor allem in den ostpreußischen Grenzregionen an jüdischen Läden, Geschäfts- und Kaufhäusern. Hier erreichte man im August 1932 eine gewisse Einschränkung der Wirtschaftsfahigkeit jüdischer Unternehmer und Einzelhändler. Daneben wurden hier auch sozialdemokratische und kommunistische Institutionen angegriffen, die in den Arbeitsmarkt integriert waren. Solche Aktionen waren aber im Vergleich zum effektiven squadristischen Terror unbedeutend.102 Im Hinblick auf diese Eigentumsdelikte erklärt sich der Unterschied zwischen der squadristischen und der SA-Gewalt aus dem insgesamt zielgerichteteren Vorgehen der Squadristen, das wiederum vor allem durch die Unterstützung seitens der agrari zu erklären ist. Wie schon Adrian Lyttelton konstatierte, war dieser Teil der squadristischen Gewalt „from the standpoint of the agrarians [...] a rational response to the threatened collapse of social norms und property relationships".103 2.1.12 Wahlen, Propaganda und Gewalt Während sich die beiden faschistischen Kampfbünde hinsichtlich ihrer Angriffsziele unterschieden, glichen sie sich insofern, als sie ihre Gewalttaten während der Wahlkampfperioden verstärkten. Zunächst ist festzustellen, dass während der Wahlkampfzeit von 1921 die Gewalttätigkeit der Squadristen anstieg. So wurden während der Zeit vom 8. April bis zum 14. Mai, also im unmittelbaren Kontext der Wahlen vom 15. Mai, 49 Menschen getötet und 208 weitere Personen verletzt.104 Nach Angaben des „Osservatore Romano", dem offiziellen Organ des Vatikans, war es der Wahltag selbst, an dem sich die meisten Todesfalle ereigneten. So sollen am 15. Mai 1921 vierzig Menschen getötet und weitere siebzig verletzt worden sein.105 Nach einer internen Aufstellung des italienischen Innenministeriums war dies leicht übertrieben - sie selbst wies 38 Tote, aber 104 Verletzte aus, die der Wahlsonntag forderte. 106 An diesem Wahltag war die Gewaltrate exorbitant. Während im 101 Rudolf Olden: Die Revolte, in: Berliner Tageblatt (AA) vom 2.4.1931, S.l/2. Vgl. Elias, S. 290/291. 102 GStA PK, I. HA, Rep. 77, Mdl, Tit.4043, Nr. 122, fol.22-39, 40-44, 58/59 (M); GStA PK, I. HA, Rep. 77, Mdl, Tit. 4043, Nr. 126, fol. 1,11/12 (M); Münchner Neuste Nachrichten Nr. 212 vom 6.8.1932 („Die Terror=Welle in Preußen"); Erb (Hrsg), S.79-81; Bessel, Political Violence, S.80, 89. 103 Lyttelton, Crises, S. 16. 104 De Feiice, Mussolini il rivoluzionario, S.608; Payne, Histoiy, S.99, gibt falsche Zahlen an. 105 Zitiert nach Salvemini, S.65. Farinacci (Revolution, Bd. 2, S.294) gibt 44 Tote an. 106 ACS, DGPS, AGR, CA 1921, busta 90, fasc.148,1: „Statistical „Elezioni Politiche 1921 Statistiche dei morti e feriti nella giomata dei 15 maggio". In einer faschistischen Publikation von 1925 werden 13 tote Faschisten namentlich aufgeführt, die am
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Jahre 1920 noch durchschnittlich sieben Personen an zehn Tagen starben, und während in den ersten drei Monaten des Jahres 1921 11 Personen an 10 Tagen ihr Leben lassen mussten, so explodierte die Anzahl der Todesfalle am Wahltag des 15. Mai um das 32fache. 1 0 7 Eine weitere Momentaufnahme, die das Ausmaß der Gewalt während der Wahlzeit beleuchtet, liefert eine staatliche Aufstellung der Gewalttaten. Hiernach war es vom Januar bis zum 8. Mai 1921 zu 1.070 Zusammenstößen gekommen. Am Ende des Monats zählte die Behörde aber schon 1.789 Zusammenstöße zwischen den Faschisten und Sozialisten. Aus der Differenz ergeben sich für die verbleibenden 23 Maitage 719 Zusammenstöße. Somit war die Anzahl der Zusammenstöße während der Wahlzeit um das 2,6fache erhöht. 108 Am Beispiel der Provinz Bologna, einer der Hochburgen des Squadrismus, lässt sich die Steigerung der Gewalt noch genauer veranschaulichen. Der zuständige Präfekt Cesare Mori forderte zur Verstärkung der örtlichen Polizeieinheiten seit dem Februar 1921 zusätzliche Infanterieeinheiten des Heeres an, um die politischen Zusammenstöße besser kontrollieren zu können und die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Die Stärke der angeforderten Infanterietruppen vermittelt ein Bild von der Zunahme der Straßengewalt vor den Wahlen.
Wahlsonntag verstorben sein sollen, die amtliche Statistik führte dagegen nur 10 getötete Faschisten auf (Partito nazionale fascista (Hrsg.), Pagine eroiche). 107 ACS, DGPS, AGR, CA 1921, busta 90, fasc.148,1: „Statistica": „Statistica generale dei morti e feriti nelle agitazioni avvenute durante l'anno 1920" und .,Scontri tra fascisti e sovversivi verificatisi del 1 Gennaio al 7 Aprile 1921". 108 ACS, DGPS, AGR, CA 1921, busta 90, fasc.148,1: „Statistica". De Feiice (Mussolini il fascista, B d . l , S.35-39) gibt leicht abweichende Angaben, die allerdings aus einer Statistik des Jahres 1925 stammen.
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Schaubild 1: Für die öffentliche Sicherheit eingesetzte Infanterie 1 0 9
in der Provinz
Bologna
4000 Wahlsonntag 3500
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Monate d e s J a h r e s 1921
Etwa zwei Monate vor der Wahl setzten - vor allem an den jeweiligen Sonntagen - spürbare Truppenverstärkungen ein. Zwei Tage vor dem Wahltag überstieg das Kontingent der eingesetzten Infanterie die durchschnittliche sonntägliche Truppenstärke nochmals um das Doppelte. Es wird deutlich, dass die Wahlkämpfe besonders an den Wochenenden durch eine klare Gewaltsteigerung gekennzeichnet waren. Dies spricht dafür, dass weniger gezielte Angriffe die squadristischen Wahlaktivitäten bestimmten, sondern symbolische Aufmärsche im Vordergrund standen. Die starke Zunahme der Gewalttätigkeit bestätigt, dass Pietro Nennis frühe Charakterisierung der Vorgänge als „höllische Wahlen" seine Berechtigung hatte. Dass ausgerechnet die Sonntage so herausstachen, zeigt, dass sich für die 109 ASB, GdP, Nr. 1347, ohne fol. (Schreiben des Colonello Nigra und Colonello Gordesco, Comando dell'8a Divisione di Fanteria, an den Präfekten Mori vom 8.3., 1.4., 8.4., 3.5., 18.5. und 10.6.1921).
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Squadristen Kirchgang und Kampfeinsatz offenbar nicht ausschlossen. Der Sonntag als ein Tag, an dem man unterwegs war und Spaziergänge unternahm, gab den Squadrenaufmärschen die Aufmerksamkeit, die zu Wahlzeiten besonders wichtig war. 1 1 0 Auf den ersten Blick ähnelt diese Situation den deutschen Verhältnissen. In Preußen wurden vom Beginn des Jahres bis zum 19. Juli 1932 101 Tote gezählt, darunter 40 Nationalsozialisten und 46 Kommunisten. 111 Dabei entfiel auf die Zeit des Wahlkampfes vor der Reichstagswahl am 31. Juli 1932 das Gros der Gewalttaten, denn allein in der Zeit vom 1. Juni bis zum 20. Juli starben in Preußen 72 Menschen. 112 . Besonders blutig verliefen die Sonntage, wie am 10. Juli, als 27 Menschen getötet und weitere 181 verletzt wurden. Auch am 30. Juli 1932 verloren in Deutschland zehn Menschen bei politischen Gewalttaten ihr Leben und am darauffolgenden Wahlsonntag des 31. Juli waren es nochmals zwölf. 1 1 3 Vergleicht man die 72 Toten der Wahlkampfmonate mit den Todesfallen aus den Folgemonaten, so lag die Todesrate während der Wahlkampfzeit fast um das Vierfache höher. 114 Der Anstieg der politischen Auseinandersetzungen im Jahre 1932 ist also nicht zuletzt darauf zurückzufuhren, dass dieses Jahr ein ausgesprochenes Wahljahr war. In diesem Jahr bestritt die NSDAP insgesamt 15 Wahlkämpfe. Neben zwei Reichstagswahlen und den zwei Wahlgängen zur Reichspräsidentenwahl, waren neun Landtagswahlen, darunter auch in Preußen, sowie zwei Bürgerschaftswahlen in Hamburg und Lübeck zu bestreiten. 115 Auch fur die Septemberwahlen 1930 weist Wernette nicht nur den selbstverständlichen Anstieg der Parteiaktivitäten vor dem Wahltermin nach, der bei der KPD und NSDAP besonders ausgeprägt war, sondern auch einen Anstieg der Gewalttätigkeit bei beiden Parteien. Dabei stellt er für die NSDAP fest: „The Nazis use a mixed strategy combining election activities with participation in and initiation of various types of violence". Auch bei
110 Nenni, Pietro: Storia di quattro anni [1926], Mailand 1974, S.145. Vgl. Colarizi, S.105; Tasca, S.158; Franzosi, S.134. 111 GStA PK, I. HA., Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr. 121 (M), fol.691. Strieflers Angabe (S.369), dass allein im Juni und Juli 1932 über 100 Tote in Preußen gezählt wurden, beruht auf: Preußen contra Reich vordem Staatsgerichtshof. Berlin 1933, S.16. 112 Münchener Neuste Nachrichten Nr.212 vom 6.8.1932. Der Anteil der Toten, der auf das preußische Gebiet entfiel, muss offenbar übermäßig hoch gewesen sein, denn im Juli 1932 verloren „nur" 86 Menschen im gesamten Reichsgebiet ihr Leben, darunter 38 Nationalsozialisten und 30 Kommunisten (Winkler, Weimar, S.490: Schulz, Aufstieg, S.723). 113 Winkler, Weimar, S.490, 505. 114 Eigene Berechnung nach: Münchener Neuste Nachrichten Nr.212 vom 6.8.1932; GStA PK, I. HA., Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.126 (M), fol.2-3, 103-106, 172-175, 261-263. 115 RSA, Bd.V, Teil 2, S.255, Anm.8; Schulz, Aufstieg, S.723.
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den Juliwahlen 1932 zeigte sich ein ähnliches Bild wie 1930: die Wahlaktivität hatte sich verdoppelt und das Gewaltniveau zugenommen. 116 Tatsächlich war die SA Teil einer politischen Bewegung, die durch Wahlerfolge groß wurde. Die NSDAP ihrerseits war zentral auf die Propaganda der SA angewiesen, auch wenn im Rückblick unwahrscheinlich ist, dass ihr die Gewalt der SA wirklich immer genützt hat. So ist wohl ein Teil der Stimmverluste in den Novemberwahlen 1932 auf die Eskalation der Gewalt durch die SA zurückzuführen. 117 Dagegen hat die erst im November 1921 gegründete PNF niemals so breite Wählerschichten für sich mobilisieren können. Bei den Wahlen 1919 erhielten die Faschisten in Mailand mit dem Spitzenkandidaten Benito Mussolini nur 4.795 von insgesamt etwa 270.000 Wahlstimmen, während über 170.000 Stimmen auf die sozialistische Partei entfielen. Auch im Jahre 1921, als die Faschisten im Wahlbündnis des sogenannten blocco nazionale zusammen mit den Liberalen unter der Führung Giovanni Giolittis auf 23 verschiedenen Listen kandidierten, entfielen anteilsmäßig nur 0,5 Prozent auf die faschistischen Kandidaten. 118 Dennoch hing der Anstieg der Gewalt fundamental mit dem Selbstverständnis beider Kampfbünde zusammen. Sowohl die SA als auch die Squadren verstanden ihre Gewalttaten als Machtpropaganda. Durch ihre Gewalt beabsichtigten sie, dem sozialistischen Gegner zu schaden. Da zudem während der Wahlzeiten auch das parlamentarische System und das Ansehen des Staates auf der Tagesordnung stand, wollten die Squadristen durch ihre Straßengewalt demonstrieren, wer die politische Macht tatsächlich inne hatte. Die Steigerung der Gewalttätigkeit war von den lokalen Squadrenführern durchaus beabsichtigt. Roberto Farinacci begründete die damalige Haltung im nachhinein damit, „daß die Wahlen nichts anderes waren als ein Teil des Bürgerkriegs selbst und daß es beim Kampf ausschließlich darauf ankommt, den Gegner niederzuzwingen". Auch Dino Grandi betrachtete auf dem Römer Nationalkongress der Faschisten, der im November 1921 stattfand, die „Wahlen nicht anders als eine Strafexpedition" gegen die
116 Wernette, S.129-136, 142-144, 147, 159/160, Zitat S. 135. 117 Wernette, S.168-173, 181-188; Childers, Thomas: The Limits of National Socialist Mobilisation. The Elections of 6 November 1932 and the Fragmentation of the Nazi Constituency, in: Ders (Hrsg.): The Formation of the Nazi Constituency 1919-1933. London/Sydney 1986, S.232-259. Unzureichend die Bemerkungen von Striefler, S.101, 170/171, der einen positiven Zusammenhang zwischen Gewaltaktivität und Wahlerfolg nur behauptet, aber nicht belegt. Zur starken Veranstaltungsintensität und Propaganda der Nationalsozialisten vor den Wahlen siehe Ohr, S. 142-236; Anheier/Neidhardt/Vortkamp, S.619-643, bes. S.626-642 (mit Inhaltsanalyse). 118 Petersen, Wählerverhalten, S.130/131; Gentile, Storia, S.57; De Feiice, Mussolini il rivoluzionario, S.572; Nohlen, S.742; Mantelli, S.34.
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parlamentarischen Gepflogenheiten. 119 Von vielen Seiten in der faschistischen Bewegung wurde der Wahlkampf mit dem Ersten Weltkrieg verglichen. Mussolini selbst verkündete in einem Aufruf: „Italiener! Der Faschismus, der keinen Kampf scheut, zieht mit stolz wehenden Fahnen in die Wahlschlacht", um dann sowohl an die „Heldentaten" im Ersten Weltkrieg, als auch an den Faschismus mit „seinen Kämpfern und seinen Toten" zu erinnern. 120 Politische Propaganda und Gewalt wurden von den italienischen wie von den deutschen Faschisten als identisch betrachtet. Eben deshalb erhöhte sich das Ausmaß der faschistischen Angriffe während der Wahlzeiten - sowohl in Italien wie in Deutschland. 2.1.13 Gewaltkulturen Ein Vergleich der Angaben über politische Auseinandersetzungen mit der allgemeinen Gewalttätigkeit und Kriminalität macht deutlich, zu welchem Zeitpunkt und auf welchem Niveau der allgemeinen Gewalttätigkeit die Aktionen der faschistischen Straßenkämpfer einsetzten. Zudem kann gezeigt werden, inwieweit die Gewalttaten der Kampfbündler die allgemeine Brutalisierung der Gesellschaft beeinflussten. Zunächst wird deutlich, dass eine Gewöhnung an Gewalt beide Nachkriegsgesellschaften prägte. Schon die Delikte mit Personenschäden verdoppelten sich in Italien von 1918 auf 1922, nämlich von 58.148 auf 108.208. 121 Auch die „Verbrechen gegen die öffentliche Ordnung" stiegen nach dem Krieg stark an und erreichten in der Bürgerkriegssituation des Jahres 1921 einen vorläufigen Höhepunkt, der nur durch die entfesselte Gewalt nach der Machtübertragung an Mussolini im Jahre 1923 übertroffen wurde. Es waren diese beiden Jahre 1921 und 1922, in denen die Spitzenwerte erreicht wurden. 1 2 2 Hierbei ist jedoch einschränkend anzumerken, dass solche Zahlen von der sich wandelnden Praxis der Strafverfolgungsbehörden beeinträchtigt wurden. Ein genaueres Bild über das allgemeine Gewaltniveau in beiden Gesellschaften vermitteln die Statistiken über die Tötungsdelikte. Da diese insgesamt geringen Schwankungen in der Strafverfolgung unterlagen und die Aufklärungsquote extrem hoch lag (um 90 Prozent), handelt es sich hierbei um einen guten Indikator zur Messung des gesellschaftlichen Gewaltniveaus. Daher sind die Schwankungen in der Kriminalitätszififer nicht auf größere 119 Farinacci, Revolution, Bd.2, S.275. Grandis Rede zitiert nach Gentile, Storia, S.378. 120 Popolo d'ltalia vom 15.4.1921. 121 Istituto Centrale di Statistica: Sommario di Statistiche Italiane 1861-1955. Rom 1958, S.92; Gentile, Storia, S.471. 122 Istituto Centrale di Statistica: Sommario di Statistiche Italiane 1861-1955. Rom 1958. S.93.
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Probleme in der Strafverfolgung und Veränderung in der Strafpraxis zurückzufuhren. 123 Bei der folgenden Analyse der Tötungsdelikte wurden nur solche Straftatbestände erfasst, die in beiden Strafsystemen ähnlich definiert wurden. Für die in dem Schaubild 2 abgetragenen Daten zur Kriminalitätsziffer wurden folgende Tötungsdelikte erhoben: Mord bzw. omicidio con circostanze aggravanti, Totschlag bzw. omicidio, vorsätzliche Körperverletzung mit Todesfolge bzw. omicidio preterintenzionale und Kindsmord bzw. infanticidio.124 Die Aussagekraft der erhobenen Zahlen ist lediglich dadurch eingeschränkt, dass die Zahlen sich auf den Zeitpunkt der Anklage, nicht jedoch den der VerÜbung der Straftat beziehen.
123 Vgl. Lyttelton, Faschismus, S.309; Johnson, S.233-235. Die Kriminalitätsziffer weist die Anzahl der wegen des jeweiligen Straftatbestandes angeklagten Personen auf 100.000 Einwohner aus. 124 Die Daten wurden aufgrund von Strafdelikten aus der folgenden Definition erhoben: „Zu den Fällen von Mord und Totschlag werden methodisch von der Todesursachenstatistik alle Fälle gerechnet, in denen Personen rechtswidrig und vorsätzlich körperlich derart geschädigt werden, daß diese Schädigung den Verlust des Lebens nach sich zieht, gleichviel, ob die Tötung beabsichtigt war oder nicht. Gezählt werden demnach alle Fälle von rechtswidriger vorsätzlicher Tötung (Mord und Totschlag im engeren Sinne), aber auch von vorsätzlicher Körperverletzung mit tödlichem Ausgang, femer alle Fälle von aufgefundenen, zumeist unbekannten Kindesleichen, selbst wenn die Tötung, wie das vielfach der Fall ist, nicht mehr einwandfrei nachgewiesen worden ist, da es sich hier in der großen Mehrzahl der Fälle zweifellos um einen gewaltsamen Tod Lebendgeborener handelt. [...] Nicht mitgezählt werden dagegen fahrlässige Tötungen sowie Tötungen in Notwehr, da bei ersten der Vorsatz, bei letzteren die Rechtswidrigkeit fehlt. Ebenso werden auch Tötungen mit freiwilliger Zustimmung des Getöteten nicht hierher, sondern als Selbstmorde gezählt, wenn die Verabredung gemeinsamer Lebensbeendigung erwiesen ist" (Statistik des Deutschen Reiches, Neue Folge, Bd.448. Berlin 1935 (Neudruck Osnabrück 1978), S.20). Diese Berechnung der Kriminalitätsziffer für vorsätzliche Tötung entspricht der statistischen Erfassung für Italien. Im deutschen Strafrecht bezogen diese Straftatbestände auf die Paragraphen 211 (Mord, erst im Jahre 1941 wurde im Zuge der Tätertypenlehre die Definition von Mord als „aus niedrigen Motiven ausgeführte Tötung" definiert), 212-215 (Totschlag), 217 (Kindesmord) und 226 (vorsätzliche Körperverletzung mit Todesfolge) des Strafgesetzbuches. Im italienischen Strafgesetzbuch vom 19.10.1930 (Codice Penale Italiano 1930) die Artikel 575 (omicidio), 576/577 (omicidio con circostanze aggravanti), 578 (infanticidio), 584 (omicidio preterintenzionale), bis 1930 die entsprechenden Paragraphen 364-369 des Strafgesetzbuches vom 30.6.1889 (Codice Penale abrogato 1889). Die Zahlen fur Deutschland wurden nicht, wie in den amtlichen Statistiken selbst ausgewiesen, auf die strafmündige Bevölkerung, sondern, wie auch im italienischen Fall, auf die gesamte Einwohnerzahl bezogen.
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Schaubild
2:
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Kriminalitätsziffern
für
Mord,
Totschlag,
vorsätzliche
Jahre
Die allgemeinen Zahlen an Tötungsdelikten - also inklusive Morden oder Tötungen aus Leidenschaft, Blutrache, bewaffnetem Raub - stiegen in der Nachkriegsperiode in Italien rasant an. Von 983 Fällen im Jahre 1918, über 1.633 im Jahr 1919, auf 2.661 Fälle im Jahre 1920 bis auf 2.750 im Jahre ] 921 126 D i e Kriminalitätsziffern waren in Italien traditionsgemäß ohnehin schon auf einem sehr hohen Niveau. Brigantentum, Anarchismus, Bauernunruhen sowie die Mafia und Camorra trugen zu diesem hohen Gewaltniveau bei. 1 2 7 Gewalttätigkeit gehörte in Italien in einem wesentlich stärken Maß zum gesellschaftlichen Leben als in Deutschland. Dabei entfiel ein Großteil
125 Eigene Berechnungen nach: Istituto Centrale di Statistica: Sommario di Statistiche Italiane 1861-1955. Rom 1958, S.39 und 92; Statistik des Deutschen Reiches, Bände 115, 162, 169, 176, 185, 193, 228, 237, 247, 257, 267, 272, 284, 297, 302, 304, 342, (NF) 346, (NF) 311, (NF) 354, (NF) 320, (NF) 328, 335, 347, 370, (NF) 384, (NF) 398, (NF) 433, (NF) 448. (NF) 478, (NF) 577. Berlin 1905-1942. Für die Bevölkerungszahlen: Statistik des Deutschen Reiches, Bände 240, 401, (NF) 451. Berlin 1915, 1930 und 1935-1938. 126 Direzione Generale della Statistica: Annuario Statistico Italiano. Anni 1919-1921. Rom 1925, S.61; Gentile, Storia, S.471. 127 Vgl. Davis, S.66-90, 290-313; Dickie, S.l-24; Jensen, S. 17-20, Tilly, Charles/Tilly, Louise/Tilly, Richard: The Rebellious Century 1830-1930. Cambridge 1975, S.122-129; Chesnais, S.30-35, 37; Magherini, S.79-88; De Tassis, Vittorio: La violenza nella storia d'ltalia, in: Italia contemporanea, Nr.198, 1995, S.115-119; Nieburg. Harold L.: La violenza politica. Neapel 1974.
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der Gewalttaten (71 Prozent) auch nach dem Ersten Weltkrieg auf den Süden Italiens und die Inseln. Nach dem Ersten Weltkrieg gingen Kriminalität und Squadrismus in diesem Teil Italiens zum Teil ineinander über, wie bei den Schlägerbanden der mazzieri in Apulien, die in die Squadren eingebaut und von den Agrariern gegen die Sozialisten eingesetzt wurden. 128 Trotz dieses hohen Niveaus stieg die Kriminalitätsziffer in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg nochmals an. Lag die Ziffer 1919 noch bei 8,62 - und damit noch unter der Vorkriegsrate - so stieg sie 1920 auf 13,95 und erreichte ihr Maximum im Jahr der Machtübertragung an Mussolini mit 16,88. 129 Der Anteil an Tötungen, die 1921/22 durch politische Auseinandersetzungen verursacht wurden, lag bei etwa 5-10 Prozent. Die meisten Taten gingen, wie generell bei Tötungsdelikten, auf Morde aus Leidenschaft und Eifersucht zurück, die sich im Nahbereich von Familie und Freundeskreis abspielten. Die politischen Tötungsdelikte konzentrierten sich aber vor allem auf das vergleichsweise zivilisierte Norditalien. So lag ihr dortiger Anteil an den allgemeinen Tötungsdelikten um etwa das dreifache höher, also bei 1530 Prozent. Dies ist ein erstaunlich hoher Prozentsatz, an dem sich zeigt, dass die Politik nach dem Ersten Weltkrieg zu einer leidenschaftlichen Angelegenheit geworden war. Die Brutalisierung der Gesellschaft durch den Krieg, die Vertrautheit im Waffengebrauch und die Vermehrung der sozialen Auseinandersetzungen nach 1919 trugen vor allem zum Anstieg der Gewalt bei. 130 Die Tötungsroutine im Krieg hatte offenbar neue Bedingungen der Legitimität von Gewalt geschaffen. Die squadristischen Gewaltaktionen konnten einerseits einen Teil dieser gewaltsamen Tendenzen für sich kanalisieren und sich andererseits durch die traditionell in der italienischen Gesellschaft verankerte Gewalttätigkeit Akzeptanz verschaffen.
128 Lyttelton, Faschismus, S.309, 312; Tasca, S.144/145. Süditalien muss durch das exorbitante Ausmaß der dortigen Tötungskriminalität schon einer anderen Gewaltkultur zugerechnet werden. Typisch für solche Regionen ist das Hervortreten von organisierten Verbänden als wichtigste Gewaltakteure, die die Strukturen des staatlichen Gewaltmonopols systematisch aushöhlen. Zur fehlenden politischen und rechtlichen Sanktionierung tritt oft die fehlende moralische Ächtung von Mord und Totschlag. Ähnliche Entwicklungen lassen sich etwa auch in der kolumbianischen Geschichte seit 1830 beobachten, wobei derzeit die Tötungskriminalität mit einer Ziffer von 85 (1992) rekordverdächtig sein dürfte. Dazu: Waldmann, Peter: Veralltäglichung von Gewalt: Das Beispiel Kolumbien, in: Trotha, Trutz von (Hrsg.): Soziologie der Gewalt. Opladen 1997, S.141-161; Krasmann, S.200-219. 129 Istituto Centrale di Statistica: Sommario di Statistiche Italiane 1861-1955. Rom 1958, S.92. Lyttelton (Faschismus, S.310) bezieht diese Ziffer irrtümlicherweise allein auf den Straftatbestand des „Mordes", der im italienischen Strafgesetzbuch aber als „omicidio con circostanze aggravanti" definiert war. 130 Vgl. Ministero dell'Economia Nazionale: Statistica delle cause di morte 1919-1923. Rom 1925.
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Die Kriminalitätsziffer in Deutschland lag nicht nur um das drei- bis zehnfache unter derjenigen Italiens, sie verlief auch vergleichsweise ruhig. Die Tötungskriminalität lag in Deutschland unter der der meisten europäischen Länder, am stärksten war sie noch in den ländlich strukturierten preußischen Ostprovinzen. 131 Auch in Deutschland stieg die Kriminalitätsziffer nach dem Ersten Weltkrieg von 0,57 im Jahre 1918 auf 1,38 im Jahre 1920 an. Dies hing vor allem damit zusammen, dass die jungen Männer aus dem Krieg heimkehrten, die j a bei Tötungsdelikten generell die Haupttätergruppe darstellen. Nur in vier Jahren während der Weimarer Republik - zwischen 1924 und 1926 sowie im Jahre 1932 - überstieg die Kriminalität die Ziffer von 1,5. 132 Fast durchgehend lag das Niveau in der Weimarer Republik über dem der Vorkriegsperiode. In Deutschland betrug der Anteil der durch die politischen Auseinandersetzungen im Jahre 1931/32 getöteten Menschen in etwa 10-20 Prozent der allgemeinen Tötungsdelikte also auch hier ein ähnlich hoher Anteil politisch motivierter Tötungen wie in Italien, der die allgemeine Gewaltkultur stark beeinflusste. Der Anteil der politischen Auseinandersetzungen unter der Gesamtzahl der Tötungen war in beiden Ländern ähnlich und betrug in den letzten Jahren vor der jeweiligen Machtübertragung an die Diktatoren zwischen 10 und 30 Prozent. Damit trugen die politischen Auseinandersetzungen in beiden Ländern nicht unerheblich zur allgemeinen Brutalisierung in beiden Nachkriegsgesellschaften bei. Gewalt und Politik wurden zunehmend zu kompatiblen Begriffen. Aushandlung und Kompromiss bestimmten immer weniger das Wesen der Politik. Die Squadristen wie die SA-Männer trugen erheblich zu diesem Prozess der Brutalisierung des Politischen bei. Eine irrige Annahme wäre, dass die Ausübung politischer Gewalt umso leichter war, je höher das kriminelle Gewaltniveau lag. Denn der Schwerpunkt der italienischen Tötungskriminalität lag in Süditalien, also in einer Region in der der Squadrismus schwach war. Auch fehlte in der Weimarer Republik eine Korrelation zwischen den Bezirken mit hoher Tötungskriminalität und hoher politischer Gewalttätigkeit.
131 Vgl. Chesnais, S.37, 54; Johnson, S.218-230; Tilly, Charles/Tilly, Louisemily, Richard: The Rebellious Century 1830-1930. Cambridge 1975, S.191-238. 132 Eigene Berechnungen aufgrund von: Statistik des Deutschen Reiches, NF Bd. 328. Berlin 1926 (Neudruck Osnabrück 1978), S.26 und 28; Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 335. Berlin 1927, S.64 und 66; Statistik des Deutschen Reiches, Bd.347. Berlin 1928, S.92; Statistik des Deutschen Reiches, NF Bd.448. Berlin 1935 (Neudruck Osnabrück 1978), S.76. Für die Bevölkerungszahlen: Statistik des Deutschen Reiches, Bd.401. Berlin 1930, S.46; Statistik des Deutschen Reiches, NF Bd.451. Berlin 1935-1938 (Neudruck Osnabrück 1978), S.98.
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2.1.14 Unterschiede und Ähnlichkeiten der faschistischen Gewalt Zusammenfassend wird man sagen können, dass man die Gewaltentwicklungen in Italien und Deutschland keineswegs ohne weiteres gleichsetzen kann. Denn erstens standen dem städtischen Brennpunkt der Auseinandersetzungen in Deutschland Gewalthochburgen in den ländlichen Gegenden Italiens gegenüber. Trotz dieses Unterschiedes ereignete sich in beiden Fällen die Straßengewalt vor allem in den Regionen, in denen die sozialen Spannungen besonders hoch waren und sich Unternehmer und politische Arbeiterschaft unversöhnlich gegenüber standen. Und das geschah im stärker agrarisch geprägten Italien in der entwickelten Landwirtschaft Norditaliens (hier: Emilia Romagna), während im eher industriell geprägten Deutschland die Städte mit ihrer hochorganisierten Arbeiterbewegung im Zentrum der Konflikte standen. Zweitens war die squadristische Gewalt deutlich effektiver als die der SA. Den Squadren gelang durch ihre stärker auf zentrale Institutionen zielende Gewalt eine Einschränkung der Funktionsfahigkeit der sozialistischen Arbeiterbewegung. Sie richteten dort erhebliche materielle Schäden an. Die SAAktionen waren dagegen weniger zielgerichtet und effizient. Das mochte auch mit ihrer wesentlich schlechteren Bewaffnung zu tun haben. Drittens war der Anteil der deutschen Kommunisten an den politischen Zusammenstößen im Vergleich zu Italien wesentlich höher. Die Gewaltspirale spielte in Deutschland eine deutlich größere Rolle als in Italien. Die deutschen Kommunisten waren wesentlich gewalttätiger als ihre italienischen Genossen. Dabei griffen sie fast ausschließlich Nationalsozialisten an. Zudem richteten sie sich auch gegen die Repräsentanten des Staates. Aber die gewaltsame Staatsverachtung der deutschen Kommunisten war im Vergleich zu den massiven Angriffen, denen die italienische Polizei ausgesetzt war, eher unbedeutend. Ganz allgemein konnte die Staatsgewalt in Deutschland eine höhere Reputation für sich beanspruchen, so dass offene Angriffe auf staatliche Organe eher selten waren. In vielerlei Hinsicht aber ähnelten sich die Situationen in Italien und Deutschland. So hatten sich, erstens, in beiden Fällen am Vorabend der Machtübertragungen die blutigen Konfrontationen auf den Straßen in einem erheblichen Ausmaß zugespitzt. Zweitens wurden die Wahlkämpfe in Italien wie Deutschland immer mehr in einen blutigen Straßenkampf hineingezogen. Drittens dominierten in beiden Ländern die politischen Extreme das Geschehen. Dass Gewalt in diesen Ausmaßen als erfolgversprechendes Mittel der politischen Propaganda eingesetzt werden konnte, lag auch daran, dass der Anstieg des allgemeinen Gewaltniveaus nach dem Ersten Weltkrieg zu einer gewissen Gewöhnung an die Gewaltanwendung gefuhrt hatte. Viertens konzentrierten sich die faschistischen Angriffe in Italien wie Deutschland auf
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den sozialistischen wie kommunistischen Gegner. Fünftens war die faschistische Gewalt in beiden Fällen primär offensiv und bestenfalls in einigen wenigen Regionen, wie in den kommunistischen Hochburgen in Berlin oder dem Ruhrgebiet, reaktiv. Sie richtete sich sechstens beide Male gegen die gewaltbereiten wie gegen den eher pazifistischen Teil der sozialistischen Arbeiterbewegung. Dass auch die Sozialdemokraten in erheblichem Umfang Zielschreibe der SA-Gewalt wurden, spricht gegen die Thesen Strieflers und Noltes. Beide haben die SA-Gewalt als quasi berechtigte Notwehr dargestellt. Dagegen ist festzuhalten, dass die SA, rechnet man Straßengewalt und Versammlungsstörungen zusammen, in der Endphase der Republik einen insgesamt ähnlich großen Anteil an den gewaltsamen Auseinandersetzungen hatte wie die Kommunisten. Auch war die SA keine von den Kommunisten „abhängige Variable" (Wirsching), denn die Mitgliederzahl der SA war dort hoch, wo die Kommunisten nicht auftrumpfen konnten: auf dem platten Land in Schleswig-Holstein, Schlesien und Ostpreußen. 133 Der Squadrismus wie die SA befanden sich in einem Stadium der Dauermobilisierung. „Gleich sind die Entwicklungstendenzen dort wie hier", hieß es im 1932 im „Berliner Tageblatt". Es ginge den faschistischen Straßenkämpfern um die „Eroberung der Macht, sei es durch einen aktiven Vorstoss, sei es durch dauernden Terror. [...] Das Ziel ist das gleiche: die Staatsautorität zu untergraben und sturmreif zu machen". 1 3 4 Dass die faschistische Gewalt zu einem Großteil von propagandistischem Wert war, soll Gegenstand des folgenden Abschnitts sein. Dass sie für eine ernsthafte Eroberung der Staatsmacht bei entschiedener Gegenwehr der Regierungen nicht genügt hätte, können wir aus der vorangegangen Analyse schließen. Wären die faschistischen Kampfbünde wehrhaften Demokratien begegnet - ihre ostentative Gewaltpropaganda hätte wahrscheinlich einiges ihrer Wirkungsmacht verloren.
133 Zur Auseinandersetzung mit dem Bedingungsverhältnis von Kommunisten und Nationalsozialisten vgl. die Abschnitte 4.5 und 5.2 dieser Arbeit. 134 Bretholz, Wolfgang: Das Verbot, in: Berliner Tageblatt Nr.177 vom 14.4.1932, S.l/2.
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2.2 Propaganda und Gewalt: Eine Typologie der Gewaltformen faschistischer Kampfbünde Dem Romanistikprofessor Victor Klemperer wurde durch den jungen Nationalsozialisten Thieme von einer 'Strafexpedition' berichtet, die sich im März 1933 in einem Industriebetrieb Sachsens zutrug: „'In Okrilla saßen ein paar freche Kommunisten, da haben wir eine Strafexpedition veranstaltet'. 'Was habt ihr?'. 'Na, Spießruten laufen lassen durch Gummiknüppel, und ein bißchen Rhizinus, nichts Blutiges, aber immerhin ganz wirksam, eine Strafexpedition eben'". Die Schilderung Thiemes erinnerte an die zehn Jahre früher durchgeführten „Strafexpeditionen" (spedizione punitive) der italienischen Squadristen. Nicht nur die Übernahme des damals weithin bekannten italienischen Ausdrucks, auch die auf symbolisches Strafen ausgerichtete Aktionsform und nicht zuletzt die Übernahme der in Italien geläufigen Verabreichung von Rhizinusöl waren deutliche Bezüge auf das italienische Vorbild. Es war, so meinte schon Klemperer, „ganz deutlich, daß diese Unternehmung faschistische Gepflogenheiten der Italiener nachahmte; der ganze Nazismus schien mir nichts als italienische Infektion". Tatsächlich deutet die Übernahme des Wortes „Strafexpedition" auf die Neigung in der SA hin, abenteuerliche 'Expeditionen' zu suchen. In sprachlicher Hinsicht war dies mit einem Gefühl kolonialer Überlegenheit und einer auf strafender Gewalt ausgerichteten Haltung gegenüber dem sozialistischen Gegner verbunden. Ähnlich wie beim damals konservativ gesonnenen Klemperer hieß es in der „Kommunistischen Internationale" von 1931, die NS-Veranstaltungen und Straßendemonstrationen seien in der „äußeren Aufmachung" vor allem eine Nachahmung ihres „großen Vorbildes", des italienischen Faschismus. Die beiden Autoren standen mit ihren Vergleichen von Nationalsozialismus und italienischem Faschismus keineswegs allein. Viele andere Zeitgenossen hatten auf die Ähnlichkeiten in der Aufmachung und der Ästhetik der Straßenumzüge verwiesen. 135 Wurde nun durch die Übernahme des Wortes „Strafexpedition" tatsächlich mehr offenkundig als nur der prahlerische Bezug auf die als vorbildlich erachteten Italiener? Bezogen sich hier strukturell ähnliche Akteure aufein135 Klemperer, LTI, S.60; L. Alfred: Die organisatorische Struktur der nationalsozialistischen Bewegung, in: Kommunistische Internationale 12, 1931, S.539. Siehe auch: Rudolf Olden: Die Revolte, in: Berliner Tageblatt (AA) vom 2.4.1931, S. 1/2; Hans-Erich Kaminski: Gerechtigkeit für Braunschweig, in: Die Welt am Montag Nr. 43 vom 26.10.1931, S.l. Zur Rezeptionsgeschichte siehe nur Schieder, Experiment, S.73-125 (dort weiterfuhrende Hinweise auf die Literatur). Klemperer vermerkte in seinem Tagebuch (Zeugnis, S.12) zu Thiemes Geschichte: „Wenn Italiener so etwas tun - na ja, Analphabeten, südliche Kinder und Tiere... Aber Deutsche." Auch der fränkische SA-Gruppenführer Wilhelm Stegmann benutzte das Wort „Rhizinuskur" für SA-Aktionen gegen Verwaltungsbeamte (Kittel, S.641)
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Propaganda und Gewalt
ander? Worin lagen, systematisch betrachtet, die grundlegenden Ähnlichkeiten und Unterschiede in den Aktionsformen beider Kampfbünde? Bei der folgenden Analyse der Form und Art faschistischer Gewalt geht es um eine typologische Vergegenwärtigung der Gewaltereignisse und der ihnen zugeordneten Strategien und Kontexte. Es geht darum, was faschistische Gewalt als Aktionsmacht war und in welchen Formen sie auftrat. Dabei wird die Typenbildung aus einer dichten Beschreibung der Gewalthandlungen der Faschisten heraus entwickelt, da zum Verständnis ihrer Gewalt die Analyse des gewalttätigen Handelns selbst und seiner Ereignisketten, Symbole und Rituale notwendig ist. 136 Die folgende Unterscheidung verschiedener Gewaltformen entwirft acht Typen physischer Gewaltanwendung, die nach den Kriterien des Anlasses oder auslösenden Momentes, seinen Charakterzügen, das heißt den hierbei eingesetzten ästhetischen Mitteln und der Art der organisatorischen Vorbereitung und Durchführung, nach der Häufigkeit ihres Vorkommens, der Anzahl der am Gewalteinsatz beteiligten Faschisten, den Zielgruppen ihrer Gewalt sowie nach ihrer symbolischen Fernwirkung voneinander unterschieden werden. Spedizioni punitive und
Landpropaganda
Die spedizioni punitive, die Strafexpeditionen, stellten zweifellos die „Grundfigur der faschistischen Praxis" in ihrer Bewegungsphase dar. 137 Diese Aktionen konzentrierten sich auf die Hochburgen der sozialistischen Bewegung. Wenn in einer Kleinstadt oder auf einem Dorfe ein Faschist von Unbekannten ermordet oder verletzt wurde, rollten wenige Stunden später oder am darauffolgenden Tag aus den benachbarten Regionen hunderte von bewaffneten Squadristen auf Lastwagen zur Strafexpedition heran und griffen den sozialistischen Gegner an. Die besondere Effizienz der Gewalttaten der Squadristen war vor allem ihrer hohen Mobilität und ihrer ausgeprägten Koordination und Kooperation zu verdanken. Die Ausrüstung vieler Squadren mit Lastautos ermöglichte es, die Gruppen für ihre Strafexpeditionen in den kleineren Städten oder Dörfern weiträumig zusammenzuziehen und somit den Aktionsradius enorm auszuweiten. Der Fascio von Pisa etwa organisierte Strafexpeditionen gegen mehr als hundert Ortschaften in der Toskana, von denen viele weit entfernt lagen. Diese Expeditionen nahmen fast immer von einem städtischen Zentrum der
136 Popitz, S.48-52, 185-231; Trotha, S.20-25. 137 Nolte, Faschismus, S.318.
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Provinz ihren Ausgangspunkt und nicht selten entstanden dadurch Dauerpartnerschaften von zwei bis drei Fasci.138 Die Opfer der Hundertschaften der Squadristen waren häufig von den am Ort ansässigen Gutsbesitzern und großen Pächtern (agrari) denunziert worden. Die agrari und ihre örtlichen Interessenverbände bezahlten oft die Squadristen, wenn sie nicht sogar den örtlichen Squadrenverbänden selbst vorstanden, diese gegründet oder befehligt hatten. Die agrari oder die Militärs stellten zudem die Lastwagen für solche Unternehmungen zur Verfugung und bezahlten oftmals sogar das Benzin. Die Squadren waren dadurch oftmals besser ausgerüstet als die Polizeieinheiten.139 Die Absicht der „Strafexpeditionen" lag in Anschlägen auf Institutionen der italienischen Arbeiterbewegung, ganz gleich, ob diese der revolutionären oder reformistischen Fraktion nahestanden. Meist wurden die für die camere del lavoro - die Arbeitskammern - niedergebrannt, die ein weitgefächertes Aufgabenspektrum hatten. Sie waren ein Arbeitsvermittlungs- und Informationsbüro, ein Zentrum der Streikorganisation wie auch ein Ort der Geselligkeit. Von daher stellten sie in vielerlei Hinsicht wichtige Zentren der Arbeiterbewegung dar. 140 Genossenschaftliche Volksheime, sozialistische Kommunalverwaltungen und Kooperativen wie ihre lokalen Parteibüros und andere kulturelle Unterorganisationen wurden verwüstet, Redaktionsräume und Druckereien sozialistischer Zeitungen zerstört. 141 Die „Strafexpeditionen" wurden systematisch und zielbewusst durchgeführt. Sozialistischer Widerstand wurde nur in wenigen Fällen geleistet, er war, wie Ernst Nolte konzedierte, „zusammenhanglos, sporadisch und ermüdete rasch". 142 Nicht selten entwaffneten die örtlichen Polizisten sogar die 138 Tasca, S.131, 148, 152-154; Schneider, S.46; Cardoza, Agrarian Elites, S.317; Corner, Fascism, S.139. Siehe auch: Telegramm des Fascio von Rom an den Fascio von Magliana vom 28.4.1922, in: ACS, MRF, busta 134, fasc.169, sottofasc.l, Nr.27. Und: Ebd., Nr.41 (Schreiben von Morelli an Gai vom 3.8.1922) sowie Nr.82 (Schreiben von Giuseppe Bastianini an Dino Perrone Compagni vom 8.9.1922). 139 Comer, Fascism, S.124-126; Cardoza, Agrarian Elites, S.304, 310, 323-326; Colarizi, S. 135/136; Cavandoli, S. 130/131; Snowden, Fascist revolution, S.171; Segrö, Balbo, S.49, 87; Squeri, S.91/92; Schneider, S.46; Nolte, Faschismus, S.255; Tasca, S.139; Vaini, S.137; Apih, S.138-140; Granata, Storia, S.521; Bernabei, Base, S.123ff.; Lyttelton, Cause, S.44. 140 Siehe hierzu: Michael Hembree: Camera del lavoro, in: Cannistraro (Hrsg.): Historical dictionary, S.97-99 (mit weiterfuhrenden Literaturhinweisen). 141 Vgl. hierzu Abschnitt 2.1. Daneben: Tasca, S.439; Gentile, Storia, S.608. 142 Nolte, Faschismus, S.254 (Zitat). Ähnlich auch Corner, Fascism, S.143, 222/223; Cardoza, Agrarian Elites, S.311/312; Petersen, Problem, S.335-338 (mit weiterführender Literaur); Salvemini, S.65; Suzzi Valli, Mito, S.103; Engelmann, Provinzfaschismus, S.56. Als Beispiele kommunistischer Gewalt: ACS, Mdl, Gabinetto di S.E. Bonomi, Ordine pubblico (1921-1922), busta 2, Affari per provincie: fasc.18: Bologna, sottofasc. 6: Imola, Telegramm des Präfekten Mori an DGPS vom 18.7.1921; ebd, busta 3, Affari per provincie fasc.37: Grosseto, sottofasc. 1: Orbetello (Telegramm des Präfekten Boragno an
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Sozialisten direkt vor den Strafexpeditionen der Squadristen, so dass Widerstand unmöglich wurde. Die Feindschaft gegenüber den roten „Umstürzlern" {sovversivi) wurde vom gewöhnlichen carabiniere oder maresciallo (Polizeimeister) geteilt, oft war er auch Saufkumpan der Squadristen. Begleitet wurde die „Eroberung" der sozialistischen Organisationen und Gemeindeverwaltungen durch einen vornehmlich gegen einzelne Personen gerichteten Terror. Prügel stellte die gängige Form dar, die bis zum Mord ausarteten konnte. 143 Äußerlich den „Strafexpeditionen" am ähnlichsten war die sogenannte Landpropaganda der SA. Auch hier ging die Gewalt von einer großen Gruppe regional zusammengezogener SA-Männer aus und war gezielt, geplant und kalkuliert. Das Ziel war die Überwältigung der Region durch ständig wiederkehrende SA-Demonstrationen. Erst in der Zeit nach 1928 ging die NSDAP - aufgrund der Wahlerfolge auf dem Land und der katastrophalen Ergebnisse in den Städten - verstärkt zu dieser „ländlichen Taktik" über. 144 Zunächst diente die Landpropaganda der symbolischen Zurschaustellung der eigenen Stärke; die Aufmärsche waren ein militärisches Spektakel. Sie wurden von der örtlichen Bevölkerung jedoch nicht nur als „eine willkommene Abwechslung, in gewisser Weise vergleichbar mit dem Jahrmarkt, einem Zirkusbesuch oder einer Filmvorführung" erfahren, wie Peter Longerich meint. 145 Denn das disziplinierte Auftreten der SA-Kolonnen, die ein Dorf oder eine Region gleich mehrmals innerhalb kürzester Zeit aufsuchten und somit den Lebensalltag der Bevölkerung mitprägten, eskalierte immer wieder in Gewaltausbrüchen. Ausgelöst durch eine konzentrierte paramilitärische Präsenz in einem kleinen, geographisch überschaubaren Raum entwickelten sich aus dem Omnipotenzgefuhl immer wieder spontane Gewaltausbrü-
DGPS vom 18.7.1921); ASB, GdP, Nr. 1341, fasc. Budrio (Schreiben von Pietro Ortolani an den Präfekten von Bologna vom 17.11.1921 und Schreiben des Maggior Comandante der Carabinieri Reali aus Budrio an den Präfekten von Bologna vom 14.9.1921). 143 Lyttelton, Faschismus, S. 317; Lyttelton, Cause, S.45; Tasca, S.142, 148/149; Cardoza, Agrarian Elites, S.361; Kelikian, S.143; Nolte, Faschismus, S. 255; Banchelli, S.14; Labriola, Arturo: Le due politiche - Fascismo e comunismo. Neapel 1924, S. 181-184; Schneider, S.46; Knox, Common Destiny, S.38; ASB, GdP, Nr. 1345, fasc. Molinella, ohne fol. (Schreiben von Paolo Fabbri der Camera Confederale del Lavoro in Bologna an den Präfekten in Bologna vom 30.7.1921 und Schreiben des Vize-Quästors an den Quästor von Bologna vom 2.8.1921); ACS, Mdl, Gabinetto di S.E. Bonomi, Ordine pubblico (19211922), busta 3, Affari per provincie: fasc. 35: Genua, sottofasc.3: Conflitto di Sarzana (Telegramm des Präfekten Poggi an das Innenministerium, 23.7.1921); ASB, GdP, Nr. 1344, fasc. Medicina, ohne fol. (Schreiben an Mdl, DGPS, vom 29.7.1921). 144 Vgl. Stachura, Wendepunkt, S.78-99; Grill, S.149-185; Longerich, Bataillone, S.72-77 (mit Beispielen aus dem norddeutschen Raum, Dithmarschen, Oldenburg etc.); Kershaw, Hitler, S.385-387; Orlow, S. 90ff.; Jaschke/Loiperdinger, S.128, 130-133; Bessel, Militarismus, S.214/215; Thamer, Verfuhrung, S.156/157. 145 Longerich, Bataillone, S.74.
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che. 146 Diese Radikalisierung von symbolischer zu physischer Gewalt war nicht zufallig. Der Raum, das heißt das Dorf, wurde einige Stunden von den braunen Bataillonen besetzt. Der stereotype Ablauf dieser SA-Veranstaltungen schuf eine zeitliche Neustrukturierung. Wecken, Appell, Gefallenenehrung am Kriegerdenkmal, Propagandamarsch durch die Kleinstadt, Vorbeimarsch an den örtlichen SA-Führern, Aufmarsch mit öffentlicher Kundgebung, eventuell begleitende Sportfeste, Standkonzert der SA-Kapelle, abendliche Saalveranstaltung, nächtlicher Fackelmarsch und Zapfenstreich - das war ungefähr das standardisierte Tagesprogramm der SA bei ihrer Landpropaganda. 147 Die Kehrseite der so demonstrierten eisernen Disziplin war der Gewaltausbruch. Motiviert durch die aktuelle Dominanz über den öffentlichen Raum, kam es zu gewalttätigen Übergriffen, die von der Parteileitung durchaus geduldet und einkalkuliert waren, verkörperten sie doch den proklamierten Willen zur Gewalt durch direkten physischen Terror. Wenn der Regierungspräsident in Stettin über die Situation in Naugard im Dezember 1931 feststellte, dass dort „Kampfesstimmung" vorherrsche und „Mitglieder der NSDAP friedliche Bürger an[pöbeln]", so war dies durchaus typisch. 148 Auch bei den Landpropagandafahrten der Berliner SA in die umliegenden Dörfer kam es zu dieser Verbindung von ästhetisierter Okkupation, symbolischer Verkörperung von Gewaltbereitschaft durch militärische Aufmärsche und konkreten Gewaltausschreitungen.149 Die Reiseroute der meist etwa 100 Mann starken Propagandastürme wurde Tage im voraus festgelegt und erfolgte nach militärisch-taktischen Gesichtspunkten, unter Bildung einer Vorund Nachhut mit Flankendeckung. So fuhren etwa einhundert SA-Männer der Standarte 1 der Berliner SA im März/April 1930 mindestens dreimal in das kleine Städtchen Nauen unweit von Berlin, um dort gemeinsame Versammlungen mit den örtlichen Nationalsozialisten abzuhalten. Nach einer Saalschlacht Anfang April marschierte die Standarte zum Bahnhof und bedrohte umstehende Passanten. Vierzehn Tage später besetzte die 250-köpfige Berliner Standarte I den Nauener Marktplatz, um einen nationalsozialistischen Redner zu „schützen". „Seitdem", so ist in einer Propagandabroschüre der SA zu lesen, „ist der rote Terror in Nauen gebrochen und der Weg für den Nationalsozialismus frei". 150
146 Jaschke/Loiperdinger, S.133, 137. 147 Balistier, Freiheit, S.96/97. Vgl. Jaschke/Loiperdinger, S.141. 148 Schreiben des Regierungspräsidenten in Stettin an den Preuß. Minister des Innern vom 11.12.1931, in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.121, fol.24 (M). Ähnliche Beispiele Rüffler, S.207-212. 149 Siehe auch Bessel, Militarismus, S.214. 150 Sturm 33, S.30-32 (Zitat: S.32). Vgl. zur Landpropaganda in Nauen: BAB (ehem. BAP), RMdl 15.01, Nr. 26176, fol.204 und 206; Deutsche Zeitung vom 5.4.1930; Vorwärts vom 5.4.1931; Engelbrechten, S.125/126, 196.
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Im italienischen wie im deutschen Fall wurde eine Aktionsform praktiziert, die gezielt kleine Regionen aufsuchte, um den politischen Gegner durch Terror einzuschüchtern. Dieser machte es den örtlichen Faschisten einfach, ihren Gegnern vor Ort immer wieder mit einer möglichen „Strafaktion" drohen zu können. Die Vorstellung, dass die Faschisten über eine mächtige Truppe von Straßenkämpfern verfugen würden, schüchterte den Gegner ebenso ein, wie sie den örtlichen Faschisten den Mut gab, auch gegenüber staatlichen Organen großspurig aufzutreten und Forderungen zu stellen. Als die oberschlesische SA-Untergruppe im April 1932 sogenannte Propagandastürme von je 80 Mann zusammenstellte, die über insgesamt 250 kleinere Ortschaften zogen, verbot der Regierungspräsident von Oppeln ihre Tätigkeit mit der Begründung, diese seien keine werbenden Marschkolonnen zum Zwecke des Wahlfeldzugs. Ihre Absicht bestehe vielemehr darin, „die Bevölkerung des Regierungsbezirkes weitgehend einzuschüchtern". Als die Mitglieder eines „Propagandasturmes" aufgrund ihrer militärisch vorbereiteten Okkupationen verhaftet wurden, erklärte der örtliche SA-Standartenführer gegenüber dem zuständigen Landrat: „Wenn die Verhafteten nicht bis morgen früh freigelassen sind, dann hetze ich Ihnen 5.000 SA-Leute in den Kreis, die Sie greifen und verdreschen werden". 151 Noch deutlicher formulierte der Führer des florentinischen Squadrismus, der Marchese Dino Perrone Compagni, im April 1921 in einem Brief an einen Gemeindebürgermeister in der Toskana, dass die Kommune von einem Individuum wie ihm nicht mehr geleitet werden dürfe. Er gab ihm den Rat, innerhalb der nächsten zwei Wochen zu demissionieren, andernfalls werde er „ogni responsibilitä di cose e di persone" zu tragen haben. Falls er sich an die staatlichen Behörden wende, werde das Ultimatum schon vier Tage vorher ablaufen. Der Marchese unterschrieb seinen Erpresserbrief wie selbstverständlich mit eigenem Namen und benutzte das offizielle Briefpapier des Florentiner Fascio.152 Derartige Aufforderungen an sozialistische Bürgermeister waren Legion und führten bei Weigerungen, wie etwa im Falle von Roccastrada bei Grosseto, tatsächlich zu Strafexpeditionen, in deren Folge Häuser niedergebrannt und die örtlichen Herrschaftsträger vertrieben wurden; es kam sogar zu Exekutionen. Daneben waren die örtlichen Führer der Arbeiterorganisationen, der Sekretär einer Liga oder der Vorsitzende der
151 Schreiben des Regierungspräsidenten in Oppeln an den Preuß. Minister des Innern vom 8.4.1932, in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.311, fol.208/209 (M). Zu Übergriffen auf Polizeiwachen kam es hingegen selten. Einer dieser Fälle findet sich bei Rüffler, S.290. 152 Tasca, S.132; Salvemini, S.55 und 545/546; Cancogni, Storia, S.120. Ähnlich die „Eroberung" Cremonas durch Farinacci. Siehe dazu: Popolo d'Italia Nr.159 vom 5.7.1922. Dort täglich ein Bericht bis zur Nr. 170 vom 18.7.1922.
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Genossenschaft, das Ziel der Squadristen. 153 So schrieb selbst das konservative „Giornale d'Italia" im Januar 1921 über die Verhältnisse in Ferrara: „Tag für Tag ziehen Strafexpeditionen aus. Das faschistische Lastauto fahrt in ein bestimmtes Dorf und dort direkt vor das Haus eines bestimmten Legaführers. [...] Bleibt der capolega hart, tritt die Gewalt an die Stelle der Argumente. In den meisten Fällen fuhren schon die Verhandlungen zum Ziel. Wenn nicht, kommen die Revolver zu Wort". 1 5 4 Es blieb auch nicht nur bei einschüchternden Drohgebärden, verhaftete Kameraden seien sofort freizulassen. Diese wurden bisweilen aus den Gefangnissen mit Feuerkraft befreit und die wachhabenden Beamten erschossen. 155 Das Arsenal an staatsfeindlichen Maßnahmen reichte von Mahnungen an die Behörden bis hin zu der Aufforderungen der Demission von Bürgermeistern und Präfekten. Es blieb somit nicht nur bei Diskreditierungen staatlicher Amtsträger, sondern steigerte sich bis zu faktischen Entmachtungen. 156 Besonders im Jahre 1922 hatten sich dadurch lokale Vorherrschaften der Squadristen ergeben. So berichtete ein Generalinspektor für öffentliche Sicherheit im März 1922 aus der Provinz Mantua, dass die sozialistischen Verwaltungsangestellten angesichts der squadristischen Gewaltaktionen in 54 der 68 Provinzialkommunen demissioniert waren. Zudem war die Publikation der sozialistischen Periodika zum Erliegen gekommen und viele Institutionen der Arbeiterbewegung waren zerstört worden. Zur gleichen Zeit berichtete Bladier, der Präfekt von Ferrara, dass 49 hochrangige sozialistische Funktionäre außerhalb der Provinz wohnten, weil sie um ihr Leben und um das Leben ihrer Familien fürchteten. 157 153 ACS, Mdl, Gabinetto di S.E. Bonomi, Ordine pubblico (1921-1922), busta 3, Affari per provincie: fasc. 37: Grosseto, sottofasc. 2: Roccastrada; Nolte, Faschismus, S.258/259. Siehe dazu ebenso: Tasca, S.131/132; Cancogni, Storia, S . l l l / 1 1 2 , 120-124; Schreiben von Roberto Farinacci an den Präfekten von Cremona am 4.7.1922, in: ACS, MRF, busta 134, fasc. 169, sottofasc. 1, Nr.43. Vgl. die faschistische Darstellung bei Balbo, Marsch auf Rom, S.55/56. 154 Giornale d'Italia vom 23.1.1921. Nachdruck des Artikels bei Chiurco, Storia, Bd.3, S.32. 155 Beispiele: Chiurco, Storia, Bd.3, S.256/257; Tasca, S.136; ASB, GdP, Nr 1347, fasc. „Ordine pubblico" (Telegramm des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 27.4.1921); ASB, GdP, Nr. 1373, ohne fol. (Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 20.8.1922). Übergriffe auf nicht kooperationsbereite carabinieri in: ASB, GdP, Nr.1373, ohne fol. (Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 25.6.1922); ACS, DGPS, CA 1921, busta 108, fasc. Nr.l: „Fascio di combattimento. Reggio Emilia" (Telegramm des Präfekten von Reggio Emilia an Mdl vom 2.3.1921, Schreiben des Präfekten von Reggio Emilia an DGPS vom 3.3.1921); ASB, GdP, Nr.1350, ohne fol. (Schreiben des Quästors aus Bologna an den Präfekten in Bologna vom 27.8.1921); ASB, GdP, Nr.1373, ohne fol. (Schreiben des Quästors aus Bologna an den Präfekten in Bologna vom 25.8.1922). 156 Vgl. Suzzi Valli, Mito, S.104; Tasca, S. 131/132. 157 Bericht von Paolella an DGPS vom 20.3.1922, in: ACS, DGPS, CA 1922, Fasc. „Fasci di combattimento. Mantova"; Corner, Fascism, S.223.
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Die Unterschiede sind offenkundig. Während es in Italien schon zum Alltag der Squadristen gehörte, mit diesen Strafexpeditionen zu drohen, vor allem aber auch diese tatsächlich immer wieder einzusetzen, blieben die Drohungen der örtlichen SA-Führer oftmals den Beweis ihrer prahlerisch verkündeten Organisationsmacht schuldig. Die Besetzung des öffentlichen Raumes war im deutschen Fall ein in stärkerem Ausmaße zu Wahlzwecken verwandtes Instrument. Es blieb in Italien nicht nur bei Drohungen: die Staatsfeindlichkeit und -Verachtung wurde blutiger Ernst und die Zerstörung der Institutionen der Arbeiterbewegung wurde systematischer als bei der deutschen SA durchgeführt. Die Squadristen gingen nicht nur wirksamer vor und zählten Erpressung zum normalen Arsenal der Kampfmethoden. Hier kam es wesentlich häufiger zu terroristischen Akten, die zudem noch von agrari bezahlt wurden und sich auf Polizei- und Militärkooperation stützen konnten. Außerdem war ihre Gewalt ritueller und blieb nicht nur gewaltpropagandistisches Instrument zu Wahlzwecken. Was die Ausrüstung mit Lastkraftwagen anbetraf, so war die SA schlechter gestellt als der durch Landbesitzer und Militärs ausgerüstete Squadrismus. So musste die SA nicht selten anstatt der Lastkraftwagen mit bloßen Fahrradstaffeln vorliebnehmen. Beispielweise standen den acht Stürmen der Münchner Standarte L noch im August 1932 nur vier Lastkraftwagen zur Verfügung, auf denen nicht mehr als 140 Mann befördert werden konnten. Aber gab es auch besser ausgerüstete Abteilungen. So konnten die etwa 12.000 Mann der SA-Untergruppen Magdeburg-Anhalt, HalleMerseburg und Erfurt im April 1932 auf 396 Motorräder, 180 Personen- und 53 Lastkraftwagen zurückgreifen. Die SA bediente sich in zunehmendem Maße motorisierter Transportmittel. Diese Lastkraftwagen - die man von Speditionsfirmen gestellt bekam, durch eigene Mitglieder besaß oder von Fuhrunternehmungen anmietete waren ihre bevorzugten Beförderungsmittel. Gerade bei der Landpropaganda seit 1928 erzielte man durch den Einsatz von Kraftfahrzeugen einen nachhaltigen Eindruck. Diese Dramatisierung der Politik durch die Kopplung von Dynamik und Terrortaktik war dem Squadrismus abgeschaut. 158 Gemeinsam war beiden Kampfbünden erstens der ländliche Aktionsraum, zweitens die regionale Zusammenziehung der Kräfte, drittens der Anspruch auf den öffentlichen Raum, viertens das Gewaltmoment der ständig möglichen Invasion und fünftens richteten sich die Angriffe gezielt gegen die Arbeiterfunktionäre und -Organisationen.
158 StAM, Pol. Dir. München, Nr.6808, Heft SA-Allgemeines, fol.26; Schumann, Politische Gewalt, S.285; Blackbourn, S.142-152; RSA, Bd.IIl. Teil 3. S.145/146; Wagener, S.64-67; Werner, S.552-555.
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Occupazioni di cittä und
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Stadtbesetzungen
Davon abzugrenzen sind die Besetzungen ganzer Städte (occupazioni di cittä) durch den massenhaften Einzug von faschistischen Truppen. Allgemeine Voraussetzung hierfür war eine gewisse Stärke und Mobilisierung der Kampfbundmitglieder. Solche Aktionen erforderten zudem militärische Planungen und genaue Organisation, taktische Einteilungen in verschiedene Kompanien sowie die präzise Regelung des zum Teil erheblichen An- und Abmarschweges. Diese Besetzungen waren immer wieder von Gewaltaktionen der Squadristen gekennzeichnet, die durchaus deren kalkulierter Teil waren. Der szenische Apparat dieser Art von Okkupationen wurde von dem der Besetzung der Stadt Fiume durch Gabriele D'Annunzio und seinen Anhang übernommen, die vom September 1919 bis zum Dezember 1920 reichte: vom Aufbau der Milizen, der Uniformierung, der Namensgebung der Gruppen, dem Kampfruf „Eia eia Alala" über die Liturgie der Veranstaltungen bis zum Dialog des Führers mit den Massen. 159 Vor allem im Jahre 1922 wurden diese Form der Stadtbesetzung immer wieder durchgeführt, wie etwa das Beispiel von Ferrara im April und Mai 1922 deutlich macht. In einem Rundschreiben des erst 24-jährigen berüchtigten Squadristenführers Italo Balbo vom 27. April 1922 an die Führer der Fasci in der Provinz hieß es: „In Ferrara soll eine Kundgebung stattfinden, die alles übertreffen wird, was der Faschismus in Ferrara bisher aufgeboten hat, und welche den Gradmesser unserer Macht bilden soll." 160 Einen Monat später fand schließlich die Mobilisierung statt und am 12. Mai standen zwischen 40.000 und 60.000 Squadristen vor den Toren Ferraras, einer 1921 107.000 Einwohner zählenden Stadt. 161 Durch Boten wurden die Squadristen aus den benachbarten Gebieten benachrichtigt und für diesen Tag zusammengerufen. Sie kamen zu Fuß, mit dem Fahrrad, auf Lastwagen oder gar per Schiff. 162 „Die Stadt ist in unserer Gewalt", konstatierte Balbo am 16. Mai in seinem Tagebuch. 163 Tatsächlich bemächtigten sich die Squadristen der städtischen Schulen als Standquartiere, der Straßenverkehr wurde vollständig lahmgelegt, die Geschäfte und Wirtshäuser geschlossen, bewaffnete Feldwachen zu jeweils einer Hundertschaft kontrollierten die strategisch wichtigen Verkehrsknotenpunkte wie die Zufahrtsstraßen zur Stadt, so dass die Polizei159 Tasca, S.78. 160 Balbo, Marsch, S.60. Das Originalschreiben findet sich in: ACS, MRF, busta 134, fasciolo, 169, sottfasc.l, Nr.24. 161 Alberghi, S.17; Balbo (Marsch, S.69) spricht von 63.000 Squadristen, Cancogni von 60.000 (Storia, S. 141). Tasca (S.225) spricht von 45.000 Squadristen. Segre nennt Zahlen von 40.000 und 50.000 (Segre, Balbo, S.81); Gentile (Storia, S.593) und Corner (Fascism, S. 217) nennen 40.000. Alberghi (S.497) wiederum 40.000 bis 63.000. 162 Segr^, Balbo, S.81. 163 Balbo, Marsch, S.74. Zum Quellenwert seines Tagebuches siehe Segre, Balbo, S.75/76.
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einheiten chancenlos waren. Die Telefondrähte, die die Stadt mit der Provinz verbanden, wurden zuvor gekappt. Der etwa dreistündige Einmarsch der Squadristen begann in den Morgenstunden, Stafetten unterhielten den Kontakt der einzelnen Bataillone zueinander. Gegen zehn Uhr versammelten sich die Squadristen zu einem Appell, den ltalo Balbo abnahm. Anschließend hielt Balbo mit dem Stadtpräfekten eine Besprechung ab, in der er unverblümt damit drohte, dass man die Präfektur angreifen werde, wenn der Präfekt nicht sofort öffentliche Arbeiten für die Arbeitslosen der Stadt organisiere. 1 6 4 Währenddessen marschierten die Squadristen mit ihren Fahnen in Dreierreihen stundenlang durch die Stadt, ihre Lieder und Gesänge begleiteten den Marschtritt der Kolonnen. Eine zweite Versammlung fand schließlich am Domplatz statt, immer wieder ertönte der Ruf „Nieder mit der Regierung. Es lebe Italien". 1 6 5 Glaubt man dem Bericht des Präfekten Bladier, so entfaltete die militante Geste tatsächlich große Wirkung, denn offenbar hatten alle Parteien die Besetzung unterstützt. Ferrara, klagte Baldier, war - ermuntert durch die „große Mehrheit" der Bevölkerung - zum „Hirn und Herz der neuen faschistischen Partei" geworden. 1 6 6 Wenn Balbo schon am 27. April in seinem Rundschreiben an die Sekretariate der betreffenden Fasci betonte, dass er Disziplinlosigkeit nicht dulden wolle und den Genuss von alkoholischen Getränken wie Bordellbesuche strengstens untersagte, 1 6 7 so deutet dies schon an, dass die symbolische Okkupation auch mit spontanen Gewaltausbrüchen durchsetzt war. In einem zweiten Rundschreiben vom 10. Mai bekräftigte er ausdrücklich: „Die strenge Disziplin muß durchgehalten werden. Jede Prügelei ist verboten". 1 6 8 Tatsächlich kam es am zweiten Tag der Besetzung zu massiven Gewalteskalationen gegen die örtlichen Sozialisten. 1 6 9 Das Jahr 1922 hindurch wurden solche Okkupationen ständig wiederholt, als Anlass diente meist die Tötung oder Verwundung eines örtlichen Faschisten. So ereignete sich im Anschluss an die Tage von Ferrara eine
164 II Resto del Carlino vom 13. Mai 1922; Corner, Fascism, S.217; Gentile, Storia, S.593. 165 Balbo, Marsch, S.72/73; Segre, Balbo, S.82. Vergleiche dazu als ähnliches Beispiel auch die genauen Stadtpläne für die Besetzung der Altstadt Parmas im August 1922, auf denen mit militärischer Überlegung die Straßen markiert sind, die systematisch durch Squadristen abgeriegelt wurden, sowie das namentliche Verzeichnis über den Wohnort aller wichtigen Gegner der Squadristen in der Stadt: ACS, MRF. busta 134, fasc.169, sottofasc.l, Nr.54 und Nr.55; den Brief Balbos an Mussolini vom 9.10.1922, ebd., Nr. 112, sowie die Schreiben von Balbo an De Vecchi wie De Bono zur Vorbereitung der letztlich mißlungenen Besetzung Parmas durch 2.230 Squadristen, ebd., Nr. 127. 166 Bericht des Präfekten Bladier vom 19.5.1922, wiedergegeben nach den Auszügen von Corner, Fascism, S.218. 167 Balbo, Marsch, S.61; Original: ACS, MRF, busta 134, fasciolo 169, sottofasciolo 1, Nr.24. 168 Balbo, Marsch, S.67. Original: ACS, MRF, busta 134, fasciolo 169, sottofasciolo 1, Nr.25. 169 Siehe Segre, Balbo, S.83.
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Okkupation Rovigos Mitte Mai und Bolognas Ende Mai, gefolgt von den Besetzungen Cremonas und Ravennas im Juli diesen Jahres.170 Immer wieder wurden dabei Zehntausende von Squadristen aus den umliegenden Provinzen zusammengezogen, die die Polizeiketten überrannten und die Städte mühelos einnahmen. Die Besetzungen, die die öffentliche Ordnung lahmlegten, dauerte nur wenige Tage an, während derer die sozialistischen Organisationen und Gebäude systematisch zerstört wurden. Gleichzeitig richtete sich der squadristische Spott gegen die überforderten staatlichen Verwaltungsorgane, die der „Feigheit" und „Schwäche" geziehen wurden.171 Auch die Massenversammlungen der Partei- und SA-Tage in Deutschland zielten auf die symbolische Okkupation des Raumes ab. So fanden sich zu dem „mitteldeutschen SA-Treffen" der NSDAP am 17. und 18. Oktober 1931 in Braunschweig 60.000 SA-Männer in der 148.000 Einwohner zählenden Stadt zusammen und verwandelten diese gleichsam in ein Heerlager.172 Hierbei bedienten sich die Nationalsozialisten ästhetischer Mittel, die einen sakralisierten mit einem kämpferisch-machtvollen Stil verbanden. So folgte auf einen nächtlichen Fackelzug am nächsten Morgen ein SA-Appell mit dem liturgischen Höhepunkt der Standartenweihe durch Adolf Hitler. Nach der Standartenweihe zogen die SA- und SS-Formationen in einem sechsstündigen Marsch an Hitler vorbei. Während der Veranstaltung kreisten vier Propagandaflugzeuge der NSDAP über der Stadt. Zur gleichen Zeit fanden gewalttätige Ausschreitungen statt. SA-Trupps zogen durch die Arbeiterviertel der Braunschweiger Altstadt. Bei diesen „Strafexpeditionen" (Berliner Tage-
170 Zu den ersten Stadtbesetzungen dieses Stils gehörte diejenige vom 10. bis zum 12. September 1921, die Italo Balbo gegen Ravenna organisierte: Siehe dazu die zahlreichen Inspektorenberichte in: ACS, Mdl, PS, CA 1921, cat. Gl, busta 108, fasc. Nr.2: „Fascio di combattimento a Ravenna"; ASB, GdP, Nr. 1350, fasc. „Passegiata Fascista a Ravenna"; Segre, Balbo, S.62-65; Balbo, Diario, S.11-13. Zu den Okkupationen von Mai bis Juli 1922: Balbo, Marsch, S.105-122; Popolo d'Italia Nr.178 vom 27.7.1922; Nr.179 vom 28.7.1922, Nr. 179 vom 29.7.1922 und Nr. 180 vom 30.7.1922; Tasca, S.248/249; II Resto del Carlino vom 2.6.1922; Cardoza, Agrarian Elites, S.383/384; Gentile, Storia, S.593598; Corriere della Sera vom 2.6.1922. Zur Besetzung Neapels im Oktober 1922 siehe: ACS, MRF, busta 142, fasc. 169, sottofasc.4.; ACS, MRF, busta 150, fasc. 170, sottofasc.4. Zum August und Oktober (Bozen und Trient): Gentile, Storia, S.608-610, 634-636; ACS, MRF, busta 134, fasc.169, sottofasc.l, Nr.105 und N r . l l l ; Popolo d'Italia Nr.239 vom 6.10.1922. Weitere Beispiele: Segre, Balbo, S.79-90; Neppi Modona, S.267. 171 Siehe nur Farinacci, Squadrismo, S. 125-138; Balbo, Diario, S.88; Armistizio, in: L'Assalto vom 3.6.1922. 172 Schreiben des Polizeipräsidenten in Hannover an den Oberpräsidenten in Hannover am 20.10.1931, in: GStA PK, I. HA., Mdl, Tit.4043, Rep.77, Nr.313, fol.23/24 (M); Statistisches Reichsamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Jahrgang 51. Berlin 1932, S.7. Unkritische Übernahme der Anzahl von angeblich 104.000 SAMännern aus der NS-Propaganda bei Kershaw, Hitler, S.448; Jaschke/Loiperdinger, S.141; Blackbouni, S.143. Winkler, Weg in die Katastrophe, S.441/442, benennt keine Teilnehmerzahlen.
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blatt) in den Arbeitervierteln warfen die mit Eisenstangen und Waffen ausgerüsteten SA-Männer Pflastersteine in Wohnungen, zerstörten Geschäfte und stürmten einzelne Wohnungen. Die Bewohner waren zur Verteidigung auf die Häuserschutzstaffeln des Reichsbanners und auf kommunistische Organisationen angewiesen, da die dünnen Postenketten der Polizei, welche die Altstadt absperren sollten, von der SA überrannt worden waren. Die Staatsgewalt war für zwei Tage praktisch außer Kraft gesetzt, wie das Berliner Tageblatt zutreffend schrieb: „Die Polizei war - trotz guten Willens - vielfach machtlos gegenüber den tobenden Haufen der Hitler-Leute." 173 An diesem Braunschweiger „Blutsonntag" (Vorwärts) starben zwei Arbeiter und weitere 62 wurden verletzt. 174 Zur symbolischen Okkupation gesellte sich der zielstrebige Terror gegen die Arbeiterschaft. Die Zeitung „Der SA-Mann" triumphierte: „Wir brachen den roten Terror und pflanzten das Banner des Hakenkreuzes auf. Die Straße ward frei für den Marschtritt brauner Bataillone, und damit frei für die Nation." 175 Das Braunschweiger SA-Treffen fand eine Woche nach dem Treffen der nationalen Verbände in Bad Harzburg statt und sollte die Unabhängigkeit der Nationalsozialisten von ihren Harzburger Partnern ebenso demonstrieren, wie man die eigene Stärke in einem Land unterstreichen wollte, das mit Dietrich Klagges einen nationalsozialistischen Innenminister hatte. Das Treffen war Ausdruck eines symbolischen Politikverständnisses, da hier demonstriert wurde, inwieweit die SA in der Lage war, die städtischen Straßenordnung zu beherrschen. Ein Vorbild für die Braunschweiger Okkupation war der Nürnberger Parteitag der NSDAP vom 1. bis zum 4. August 1929, an dem die SA erstmals massenhaft mit etwa 30.000 Mitgliedern mitwirkte. 176 Die fugte sich hier in ein weitgreifendes Gesamtkonzept ein, das vom Aufmarsch über die
173 Berliner Tageblatt Nr. 493 vom 19.10.1931, S.3; Welt am Abend vom 19.10.1931, S.l. 174 StAM, Pol. Dir. Nr.6810, Heft 3, fol.1-27; GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr. 313, fol.1-43 (M). Vgl. RSA Bd.IV, Teil 2, S.159-164; Jaschke/Loiperdinger, S.140-146; Höner, S.l81-183; Orlow, S.235/236. 175 „Nach Harzburg und Braunschweig", in: Der SA-Mann Nr.37, Beilage des Völkischer Beobachter vom 22.10.1931. Freilich war auch das Braunschweiger SA-Spektakel weit von den perfekten Inszenierungen der Regimejahre bzw. den filmischen Schönungen wie in Riefenstahls „Triumph des Willens" entfernt. Es hagelte gewissermaßen Pannen. Siehe dazu: Rundschreiben des Obersten SA-Führers, Chef des Stabes Ernst Röhm, vom 19.11.1931, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr. 6826, fol.435-441. 176 Die Anzahl der mit 35 Sonderzügen eingefahrenen SA-Männer wird bei Bennecke und Reiche auf 30.000 geschätzt, nationalsozialistische Angaben geben 60.000 SA-Männer an, eine sozialdemokratische Zeitung nennt 17.000, eine linksliberale 17.500 (Bennecke, S.l40; Reiche, Development, S.73; Der SA-Mann, Beilage des Völkischen Beobachter Nr. 184 vom 10.8.1929; Berliner Tageblatt (AA) vom 5.8.1929, S.3). Fest (Hitler, S.373) übernimmt die NS-Angaben unkritisch. Vgl. zum Parteitag auch Jaschke/Loiperdinger, S.133-140; Werner, S.448/449; Schulz, Aufstieg, S.496; Reiche, Development, S.256. Fußnote 87; Wagener, S.9-21.
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Massenversammlung, die Ansprache Hitlers, die Fahnenweihe und den Märtyrerkult bis hin zur Plakatpropaganda, Presseberichterstattung und der Einbeziehung symbolträchtiger Architektur reichte. Sinnlich-ästhetische wie liturgische Konzepte standen hierbei im Vordergrund der Bilder von Einigkeit, Stärke, Jugendlichkeit und Aufbruch. 1 7 7 Gleichwohl kam es am Rande dieses Parteitages zu unzähligen Übergriffen, an denen hunderte von SAMännern beteiligt waren, die auf Fahrgäste der Straßenbahn einschlugen, das Mobiliar eines örtlichen Wirtschaftsgebäudes der Gewerkschaft zerschlugen, kommunistische Kneipen angriffen und Übergriffe auf Passanten verübten. Viele Menschen wurden hierbei verletzt und zwei SA-Männer ließen ihr Leben. 1 7 8 Ein Bericht der Nachrichtensammelstelle des Reichsinnenministeriums vom August 1929 zog daraus den Schluss, dass ,,[d]ie in jüngster Zeit [...] begangenen Ausschreitungen [...] bewußt Unruhe in die Bevölkerung tragen [sollen], um so ihrem endlichen Ziele [dem der Nationalsozialisten, S.R.] den Weg zu bereiten". 179 Wie stolz der Oberste SA-Führer Franz von Pfeffer auf die 'gelungene' Veranstaltung war, drückte er in einem SA-internen Befehl aus. Zukünftig sollten alle SA-Männer, die teilgenommen hatten, einen Vermerk in ihren Papieren erhalten und das Nürnberger Parteiabzeichen als „Ehrenzeichen" am Dienstanzug tragen. Er vermerkte: „Nürnberg bewies, wie weit wir schon auf dem Wege zum Endziel vorangeschritten sind. Weiter voran! Unser Weg ist richtig!" 180 Gleichwohl versuchte die Parteileitung für den kommenden Parteitag derartige Übergriffe zu verhindern, da man ein Verbot der NSDAP befürchtete. „Es ist unser Wille, alles zu tun und vorzubereiten, um ähnliche Vorkommnisse für dieses Jahr von vornherein unmöglich zu machen", bemerkte Hitler in einem internen Planungspapier. 181 Die Nürnberger Stadtbehörden verweigerten der NSDAP aber dennoch, unter Hinweis auf die vorjährigen Ausschreitungen, die Überlassung von Schulen als Quartiere, wie auch der Festhalle und des Stadions. Der NSDAP-Parteitag von 1930 musste damit ausfallen. 182 So kann der auf dem Parteitag 1929 praktizierte Stil einer durch massenhaftes Auftreten evozierten Stärkedemonstration zwar als Vorbild gelten, aber die 30.000 SA-Männer konnten eine 400.000 Einwohner zählende Stadt weder physisch noch symbolisch dominieren, wie es beim Braunschweiger Treffen von 1931 gelang, bei dem auf jeden dritten Stadtbewohner 177 Paul, S. 199/200. 178 Longerich, Bataillone, S.95/96; Reiche, Development, S.74/75; Berliner Tageblatt vom 5.8.1929, S.3. 179 Zitiert nach Longerich, Bataillone, S.94. 180 SA-Befehl des Obersten SA-Führers von Pfeffer vom 15.8.1929, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6808, Heft SA-Allgemeines, fol.13/14. Zu Pfeffers Reaktion siehe auch Reiche, Development, S.76. 181 Hitler, Adolf: Reichsparteitag 1930, in: BAB (ehem. BÄK) NS 26/392. 182 Paul, S.204; Reiche, Development, S.76.
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ein SA-Mann kam. 1 8 3 Wenn nach 1931 große Kundgebungen der SA stattfanden, dann waren sie auf eine bestimmte Örtlichkeit begrenzt und beschränkten sich die Zusammenziehung der örtlichen SA, so dass sie nicht das Klima einer ganzen Stadt prägten. 184 Auch bei den Stadtbesetzungen treten einige Unterschiede zwischen Deutschland und Italien hervor. Während die italienischen Faschisten gewissermaßen ernst machten, beinhaltete das größte Spektakel der SA in Braunschweig erstens keine konkrete Bedrohung der örtlichen Regierung und konnte zweitens nicht wiederholt werden. Die Drohungen der Squadristen hingegen wurden - vor allem in der Po-Ebene - unmittelbar in konkrete Forderungen an Regierungsorgane umgemünzt, die Gebärde erschöpfte sich nicht nur in einer symbolischen Demonstration. Die terroristischen Züge traten stärker hervor. Andererseits gab es auch Ähnlichkeiten. In beiden Fällen setzten die Okkupationen die staatlichen Aufsichtsorgane temporär außer Gefecht, beide Male diente der massenhafte Aufmarsch der Gruppenbindung nach innen und vermittelte den Kampfbundmitgliedern ein eindrucksvolles Bild ihrer eigenen Stärke. Die kämpferische Stimmung wurde so in Schwung gehalten. Balbo bemerkte dazu: „Die Faschisten brauchen Spannung und Nervenkitzel. Die Kampflust entsteht nur unter Druck." 185 In beiden Fällen war auch die symbolische Wirkung solcher Stadtbesetzungen ungleich wichtiger als das Halten der Stadt selbst. Wie Italo Balbo angesichts des geschilderten Aufmarsches in Ferrara treffend niederschrieb: „Diese herrlich zum Siege geführte Schlacht bedeutet einen entscheidenden Abschnitt in meinem Leben und vielleicht auch ftir den Ablauf der faschistischen Revolution [...] Ich erhalte Beifallsbekundungen aus allen Teilen Italiens. Die Kameraden der entferntesten Provinzen sind ganz starr vor Staunen über diese gelungene Kraftprobe des Faschismus in Ferrara." 186 Während also die symbolischen Okkupationen einer Stadt genau wie die Strafexpeditionen der Einschüchterung und Schädigung des Gegners dienten, trat bei dieser Aktionsform vor allem das berauschende Moment der symbolischen Zurschaustellung eigener Macht und Größe durch die massenhafte Überwältigung des Raumes hervor.
183 Zur Einwohnerschaft Nürnbergs: Reiche, Development, S.2. 184 Völkischer Beobachter vom 11.2.1932; Völkischer Beobachter Nr.43 vom 12.2.1932; Augsburger Abendzeitung Nr.34 vom 10.2.1932; StAM, Pol. Dir. München, Nr. 6808, Heft: „SA-Allgemeines", fol.38, 38a und 38b, fol.41, 41a, 41b, 41c; RSA, Bd.IV, Teil 3, S.l 18-122; StAM, Pol. Dir. München. Nr.6832, Heft: „Verbotene SA-Demonstration vom 19.6.1932", fol.1-19. 185 Zitiert nach Tasca, S.227. 186 Balbo, Marsch, S.69 und 78.
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Marce collettive und Straßenaufinäsche Die faschistischen Straßenumzüge, die marce collettive, wurden oftmals als triumphale Heldeneinzüge inszeniert, in denen die Redner und Führer des Faschismus gefeiert wurden. Sie stellten eine Mischung aus einem vom Publikum umjubelten Blumenmarsch und einem Kampfzug dar. Die folkloristisch-karnevalistischen Elemente der Lieder und Fahnen des Zuges standen ebenso im Vordergrund wie die bedrohlich militärische Symbolik. 187 Meist im Vorfeld und im Anschluss an die Rede eines bekannten Faschistenfuhrers, der kultischen Einweihung eines neugegründeten Fascio auf dem Hauptplatz des jeweiligen Ortes oder an symbolisch bedeutenden Tagen wie dem Nationalfeiertag des 20. September oder dem für die sozialistische Arbeiterbewegung zentralen 1. Mai zog dieser Umzug, im Stile von D'Annunzios Fiumeveranstaltungen, durch die Stadt. Es waren durchorganisierte Schauspiele und Machtdemonstrationen, in denen die weiträumig zusammengezogenen und uniformierten Kolonnen mit erhobenen Armen am „Duce" vorbeimarschierten, feierliche Fahnenweihen stattfanden, eine Anrufung der „Märtyrer" und schließlich die Verherrlichung Mussolinis begangen wurde. 188 Mussolini selbst bekannte im Herbst 1922: „Die Demokratie hat dem Volksleben den 'Stil' genommen: das heißt eine Linie des Verhaltens, die Farbe, die Macht, das Malerische, das Unerwartete, das Mystische; im ganzen all jenes, was im Gemüte der Massen zählt. Wir spielen die Leier auf allen Saiten; von der Gewalt bis zur Religion, von der Kunst bis zur Politik." 189 Bei diesen Straßenumzügen waren die Fahnen und Banner ein zentrales Motiv faschistischer Symbolik. Die Fahnen waren „sichtbar gemachter Wind", wie Elias Canetti formulierte. 190 In diesem Kontext stellten die im Wind flatternden Fahnen den symbolischen Versuch dar, das Flüchtige und die Dynamik der marschierenden Kolonnen ebensosehr zu bändigen wie auch zur eigenen Sache zu erklären. Die Fahnen versinnbildlichten die Gruppenzugehörigkeit und einen an den Krieg erinnernden nationalistischen Opfer-
187 Dieses Mischungsverhältnis wird besonders deutlich an den Umzügen in Vicenza vom 20.9.1922 in: Popolo d'Italia Nr. 228 vom 23.9.1922 („La grande adunata delle Camicie nere vicentine"). Siehe auch Cardoza, Agrarian Elites, S.317, 320; Engelmann, Provinzfaschismus, S.58/59. Zu den Liedern auch Suzzi Valli, Mito, S.92. 188 Nolte, Faschismus, S.326; Vicentini, S.VI1; Engelmann, Provinzfaschismus, S.69/70; Cardoza, Agrarian Elites, S.299. Siehe auch Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten in Bologna vom 2.4.1921, in: ASB, GdP, Nr.1350, fasc. „Congresso Regionale dei Fasci di Combattimento", ohne fol.; II Gagliardetto vom 14.7.1921, in: ACS, MRF, busta 130, ohne fol. Vgl. Tasca, S.153. 189 Mussolini, Benito: Dal malinconico tramonto liberale all'aurora fascista della Nuova Italia, in: Ders.: Omnia opera, Bd.XVIII, S. 438. 190 Canetti, S.95.
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kult. 1 9 1 Im Anschluss an eine Rede Mussolinis im Februar 1921 in Triest kam es zu einem Marsch der Faschisten durch die Stadt. Bejubelt von der Menge, zogen sie durch die Straßen. Auf 34 Bannern sollte die italianüä von Julisch-Venezien symbolisiert werden: „Es ist das neue Italien, das hier vorüberzieht: es sind all die vitalen Kräfte der Nation, die sich das erste Mal den verwunderten Augen der Triestiner darbieten", hieß es im „Popolo di Trieste". Dieser „imponierende" Marsch habe „Szenen des Enthusiasmus" in der Bevölkerung hervorgebracht, Blumen seien den Squadristen zugeworfen worden. 1 9 2 Tatsächlich entfaltete die symbolisch in Szene gesetzte Willenskraft der Kolonnen einen starken propagandistischen Eindruck beim Publikum. „Die faschistischen Märsche", so erfährt man ergänzend im „Popolo d'Italia" zu ihrer Binnenwirkung auf die Squadristen selbst, „sind wie ein 'heiliger Frühling', der Aufstieg eines Willens, eines Liedes, einer geistigen Einheit." 1 9 3 Gleichwohl war auch hierin ein latentes Gewaltmoment enthalten. Ein Squadristenumzug vom Oktober 1922 sei bei den Stadtbewohnern von Faenza mit „Sympathie" aufgenommen worden, wie das faschistische Wochenblatt „A noi!" aus Cesena kommentierte, um fortzufahren, dass dieser Umzug zugleich eine „Demonstration der lebendigen und unschlagbaren Kraft der faschistischen Miliz" dargestellt habe. 1 9 4 Der Quästor von Rom berichtete Ende 1921 von einem Straßenaufmarsch der Faschisten in der Stadt, bei dem „die Faschisten verschiedene Personen niedergeknüppelt haben, die nicht den Hut vor den Vorbeimarschierenden abnahmen, was lebendige Proteste der Öffentlichkeit provozierte. [...]. Auf der Piazza Sciarra ist Panik unter der Menge festgestellt worden, nachdem eine dieser gewöhnlichen Gewalttätigkeiten sich gegen eine Person richtete, die nicht den Hut abnehmen wollte. Auch auf der Piazza S[an] Marco haben die Faschisten
191 II manifesto dei fascisti triestini, in: II Popolo d'Italia vom 17.10.1920; Fra le quinte, in: Popolo d'Italia vom 25.5.1920. 192 II Popolo di Trieste vom 7.2.1921 und 10.2.1921, in: ACS, MRF, busta 130, ohne fol. Siehe dazu auch den Popolo d'Italia Nr.33 vom 8.2.1921. Ganz ähnlich: Fonogramma des Quästors De Silva von Bologna vom 25.9.1921, in: ASB, GdP, Nr. 1341, fasc.: Bologna, ohne fol.; Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten in Bologna vom 16.3.1921, in: ASB, GdP, Nr.1347, fasc. „Ordine pubblico", ohne fol; II Littore Nr.12 vom 21.10.1922, in: ACS, MRF, busta 142, fasc. 169, sottofasc.3. Für die Einweihung neuer Fasci finden sich kennzeichnende Beispiele in: La rivolta ideale Nr.6 vom 13.10.1922, in: ACS, MRF, busta 142, fasc.169, sottofasc.3; II littore Nr.ll vom 14.10.1922, in: ACS, MRF, busta 142, fasc. 169, sottofasc. 3 sowie ACS, MRF, busta 32, fasc. 113, sottofasc. 266, fol.6 und 13 (Einweihung des Fascio von Magenta in der Nähe von Mailand) sowie Popolo d'Italia Nr.22 vom 26.1.1921; A noi! Nr.3. vom 23.9.1922. Für einen Umzug am 20. September: Popolo d'Italia Nr.226 vom 21.9.1922; Α noi! Nr.3 vom 23.9.1922. 193 Meriano, F.: Rimini in un tripudio di sole, commemora Luigi Platania, in: Popolo d'Italia vom 4.6.1922. 194 Α noi! Nr. 4 vom 14.10.1922 („La Legione Romagnola a Faenza").
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einen Zuschauer verprügelt, der seinen Hut aufbehalten hatte. Auf der Via Nazionale, Ecke Via Serpenti, ist der Präsident der Nationalen Vereinigung der Verwundeten, Herr Pellegrini (selbst zweimal an den Armen verwundet), geschlagen, geohrfeigt und angespuckt worden, weil er seinen Hut nicht abnahm, was zwischen den Anwesenden eine widerliche Szene verursachte." 195 Am Rande oder im Anschluss an solche Umzüge kam es immer wieder zu scheinbar zufalligen, in Wirklichkeit aber systematischen Gewalttätigkeiten. 196 Die deutsche Entsprechung hierzu waren die Aufmärsche der SA durch proletarische Stadtviertel. Sie waren eines der zentralen Propagandamittel der städtischen SA und dienten ebenfalls der Überwältigung des Raumes. Diese Demonstrationen waren flüchtiger als die Stadtbesetzungen oder die Landpropaganda, die Kolonne war in Bewegung, in gewissem Sinne ortlos. Der Aufmarsch war dadurch jedoch nicht offener oder ungeordneter. Die marschierende SA-Kolonne bewegte sich, nach Canetti, als geschlossene Masse. Wie die Squadristenreihen verzichtete sie auf Wachstum und regellose Zunahme. Das bestimmende Kennzeichen war ihre Grenze: „Sie schafft sich ihren Ort, indem sie sich begrenzt." Die SA-Kolonnen grenzten sich optisch durch einheitliche Uniformierung und Fahnen und akustisch durch Musik und den Gesang der SA-Lieder vom Publikum ab. Die Kolonne hatte Straße als ästhetisch geordnete Formation in Beschlag genommen, die sich in festgelegten Bahnen bewegte. 197
195 ACS, Mdl, DGPS, CA 1921, busta 90, fasc.150: „Congresso Nazionale", ohne fol. (Fonogramma in arrive des Quästors Valenti an das Innenministerium vom 10.11.1921, 17.30 Uhr). Vgl. allgemein zu den Vorgängen während des dritten faschistischen Kongresses vom 7.-10. November 1921: ACS, Mdl, DGPS, CA 1921, busta 90, fasc.149 und 150: „Congresso nazionale" und Tasca, S.199. Im Anschluss an den Kongress kam es zu Zusammenstößen am Bahnhof und im Stadtviertel San Lorenzo, bei denen sechs Tote, 14 Schwer- und 93 Leichtverletzte zurückblieben. Insgesamt 306 Personen wurden festgenommen, unter ihnen 80 Faschisten; elf Polizisten wurden verletzt. Siehe hierzu die Aufstellung durch den Quästor Valenti von Rom am 13.11.1921 (ACS, Mdl, DGPS, CA 1921, busta 90, fasc.150: „Congresso nazionale", ohne fol.). Verzerrend die Darstellung bei Chiurco, Storia, Bd. 3, S.590-592; Benedetti, S.6/7; Lazzero, S.14. 196 Siehe etwa: ASB, GdP, Nr. 1350, fasc. „Comizio in Piazza VIII Agosto tenuto da fascisti il 26.6.1921"; Luigi Barzini: Un corteo di nozze d'oro, in: Corriere della Sera Nr.99 vom 26.4.1921; Nuovi incidenti tra fascisti e socialisti a Venezia, in: Corriere della Sera Nr.101 vom 28.4.1921; La manifestazione fascista di ieri, in: Corriere della Sera Nr. 73 vom 27.3.1922; ACS, Mdl, DGPS, CA 1923, busta 77bis, fasc. Ferrara (Express Telegramm des Präfekten von Bologna an das Innenministerium vom 13.6.1921); Schneider, S.45, 64; Salvemini, S.49; Tasca, S. 131. 197 Canetti, S.10-12 (Zitat: S.ll). Wie wichtig diese Geschlossenheit genommen wurde, dokumentierten auch immer wieder SA-interne Anweisungen. Vgl. Anordnung Ernst Röhms vom 7/7.1932: „Betrifft: SA-Auftnärsche", in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6812, Heft: Aufrufe, Erlasse, Befehle, Verfugungen, fol.30a-30d.
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Dergestalt waren die SA-Männer als Invasoren im zumeist proletarischen Viertel kenntlich, und ihr Aufmarsch diente der symbolischen Eroberung der Straße im „feindlichen" Gebiet. Diese Eroberung der Straßen stand im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Parteitaktik und -propaganda, da man damit auch in der öffentlichen Meinung präsent blieb. In Berlin initiierte Gauleiter Goebbels ganz systematisch solche Invasionen in die proletarischen Viertel und nutzte die sich daraus ergebenden Schlägereien als Mittel zur Steigerung der Publizität. Er beschrieb diese Wirkung so: „Man sprach von uns. Man diskutierte über uns, und es blieb dabei nicht aus, daß in der Öffentlichkeit mehr und mehr danach gefragt wurde, wer wir denn eigentlich seien und was wir wollten." 198 Tatsächlich wurde die Berliner NSDAP in den Monaten nach Goebbels Ernennung zum Gauleiter im November 1926 „schlagartig" bekannt: Durch einen Zusammenstoß am Bahnhof Lichterfelde Ost oder Saalschlachten im Wedding und Friedrichshain. 199 So setzte man die SA-Männer gegenüber dem (Klein-)Bürgertum als Ordnungsdienst in Szene, der den „Marxismus" und Kommunismus niederringen werde. Die SA-Märsche vermittelten ein Bild der Stärke, Ubiquität und Dynamik der nationalsozialistischen Bewegung, wobei das entscheidende Werbemittel die SA-Männer selbst waren. 2 0 0 Sie präsentierten sich „als ein sensuelles Bild mit vielfältigen Bedeutungsinhalten: Ordnung und Disziplin, Männergemeinschaft und Sicherheit, Aktivismus und Opferbereitschaft, Glaube und Hingabe, Kampf und Wehrhaftigkeit, Stärke und Macht." 201 Die Bewegung erschien um so stärker, je präsenter sie war und sie war um so allgegenwärtiger, je mobiler sie war. Die Motorisierung der SA ermöglichte einen pausenlosen Dynamism us. 202 So fuhren zum Beispiel 2.000 bis 3.000 Berliner SA-Männer Anfang September 1930 auf 26 Lastkraftwagen mit Anhängern, begleitet von etlichen Personenwagen, Motorrädern, Fahrrädern und einem Lautsprecherwagen, neun Stunden durch das Berliner Stadtgebiet: von Spandau über Siemensstadt, Charlottenburg-Nord, 198 Goebbels, Kampf, S.60. Ähnlich: Goebbels im Völkischen Beobachter vom 14.7.1927; Roegels, S.25/26. Vor 1923 waren ähnliche Äußerungen auch von Hitler zu vernehmen, siehe den Polizeibericht vom 30.11.1921 (Rüttler, S.91). Vgl. Paul, S.45-50, bes. S.50. 199 Vgl. hier nur folgende Ausgaben des Berliner Tageblatts vom März und Mai 1927: 21.3.1927 (AA), 1. Seite des 1. Beiblattes; 22.3.1927 (MA), S.4; 22.3.1927 (AA), 1. Seite des 1. Beiblattes; 23.3.1927 (AA), S.I; 5.5.1931 (AA), S. 1; 6.5.1931 (MA), S. 1. 200 So schrieb schon Ernst Röhm: „Mehr aber noch als in ihrer Eigenschaft als Träger der Propaganda wirkt die SA durch sich selbst! Die SA und SS sind verkörperter Nationalsozialismus" (Röhm, Bataillone, S.7). Vgl. Balistier, Gewalt, S. 142-144. 201 Balistier, Gewalt, S.65. Vgl. dazu auch ebd., S.55-59, 63-80. Zur Bedeutung der SAMärsche Vgl. Longerich, Bataillone, S.l 16-118. 202 Zum NS-Automobil-Korps der SA (später Nationalsozialistisches Kraftfahr-Korps genannt): SA-Befehl „Motor-Stürme" vom 1.4.1930, in: BAB (ehem. BÄK) NS 26/305, ohne fol.; RSA, Bd.III, Teil 3, S.145/146; Wagener. S.64-67; Werner, S.552-555: Blackbourn, S.l42-152.
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Moabit, Tiergarten, durch das südliche Charlottenburg nach Wilmersdorf, Schöneberg und Mitte bis nach Lichtenberg. Dies war keineswegs eine Berliner Besonderheit, sondern typisch für die städtische SA. In vielen Städten kam es zu solchen Umzügen, wie den vom Juli 1932, als 6.000 Münchner SA-Männer in 600 Automobilen durch ihre Stadt fuhren. 2 0 3 Diese Mischung aus Geschwindigkeit und All-Präsenz von gewaltbereiten SA-Kolonnen, die in geordneter Formation in proletarische Wohnviertel eindrangen, unterstrich das Bild einer „revolutionären" Bewegung nach innen. Hinzu trat das werbende Bild einer militärisch-geordneten und antikommunistischen SA nach außen, insbesondere gegenüber dem bürgerlichen Mittelstand. Diese festgefugten Kolonnen stießen in den proletarischen Wohnvierteln immer wieder mit Kommunisten zusammen und erstritten ihren Anspruch auf das Monopol in der Öffentlichkeit. Neben der SA-Kolonne marschierte die sogenannte Watte. Hierfür wurden, wie es in einem SAErinnerungsbericht hieß, „ausgesuchte, kräftige SA-Leute in Zivil" ausgewählt. Tatsächlich waren für diese Aufgabe meist SS-Leute vorgesehen worden. „Sie tragen keinerlei Abzeichen. Sie sind in jeder Sekunde bereit, jedem auf die Hühneraugen zu treten", hieß es im Erinnerungsbericht weiter. „Es sind Männer aus Stahl und Eisen und sie sind einigermaßen rücksichtslos. Sie marschieren auf dem Bürgersteig neben den uniformierten Kameraden. Die Menge [...] weiß nichts von ihnen. Höchstens meldet bisweilen ein Polizeibericht, daß es bei einem Aufmarsch der SA zwischen Zuschauern, die den Zug begleiteten, zu Schlägereien gekommen sei". Mehrere polizeiliche Ermittlungen bestätigten die NS-Schilderung. Ein Kölner Polizeibericht berichtete schon im April 1928 von einer Sitzung der örtlichen NSDAP- und SA-Führer, auf der beschlossen wurde, dass „SALeute in Zivil ohne Abzeichen aber ebenfalls mit beliebigen Verteidigungswaffen" neben den uniformierten Kameraden marschieren sollten. „Bei dem geringsten Angriffsversuch auf die SA in Uniform", so hieß es in dem Polizeibericht weiter, sei „seitens der nicht uniformierten SALeute sofort mit rücksichtslosesten Terrormassnahmen vorzugehen". 204
203 Vgl. Angriff vom 11.9.1930, 2. Seite der 1. Beilage; Engelbrechten, S.139. Zur Motorisierung der Berliner SA: Engelbrechten, S.112, 169, 237, 252; Balistier, Gewalt, S.143; Neue Zeitung Nr. 152 vom 16.7.1932, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6808, Heft SA-Allgemeines, fol. 29; StAM, Pol. Dir. München, Nr.6832, Heft: „Propaganda-Marsch der SA am 3. Juli 1932", fol. 1-71. Zur Motorisierung in ländlichen Gebieten: Bessel, Political Violence, S.82/83; Bessel, Militarismus, S.214/215. 204 Bade, SA, S.87 (Zitat); Schreiben des Polizeipräsidenten von Köln, Bauknecht, an den Regierungspräsidenten in Köln vom 19.4.1928, in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.309, fol. 153-155 (M) (Zitat). Vgl. auch die nationalsozialistische Schilderung von Birn, S. 159-161. Weiterhin: Preußisches Polizeiinstitut (Hrsg.): Denkschrift über Kampfvorbereitungen und Kampfgrundsätze radikaler Organisationen (bearb. von
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Im italienischen wie im deutschen Fall handelte es sich um einen Kampf um die Kontrolle des öffentlichen Raumes. Die beiden faschistischen Kampfbünde inszenierten sich zunächst dadurch als militärische Einheiten, dass sie geschlossen und formiert aufmarschierten. Aber auch ihre Uniformierungen, die Fahnensymbolik und ihre Gesänge, deren Texte und Melodien auf den Ersten Weltkrieg oder auf Lieder aus der Besatzungszeit in Fiume zurückgriffen, trugen zu diesem Bild bei. Gleichwohl kopierten die Squadristen ebenso wie die SA auch populäre Arbeitergesänge und versahen diese mit spöttisch-aggressiven und nationalistischen Texten, die die anwesenden Arbeiter provozieren sollten. Dass die Heldeninszenierung der SA-Straßenaufmärsche häufiger gestört wurde, lag vor allem ihrer Taktik, in „rote" Stadtviertel vorzudringen, in denen die SA auf gewalttätige Reaktionen der kommunistischen Organisationen traf. 2 0 5 Die formierten Massen dienten in beiden Fällen dazu, ein Bild der Stärke, Disziplin, Unaufhaltsamkeit und Intransigenz vom Faschismus zu vermitteln. Dabei orientierten sich die Faschisten unzweifelhaft auch an klassischen Aktionsformen der Arbeiterbewegung, die schon vor dem Ersten Weltkrieg die Wirkung der Demonstrationszüge erkannt hatte. Der Unterschied zur sozialistischen Arbeiterbewegung lag weniger darin, dass die faschistischen Umzüge von militärischer Symbolik geprägt waren, da nach dem Ersten Weltkrieg von vielen politischen Lagern der Akzent verstärkt auf das militärische Gepräge der Demonstrationen gelegt wurde. Vielmehr war es die systematisch eingesetzte Gewaltsamkeit bei den Aufmärschen, der Anklang an die nationalen Symbole und der fast völlig fehlende Bezug auf die Arbeitswelt und die sozialen Verhältnisse, der die faschistischen von den sozialistischen Märschen unterschied. 206
Polizeimajor Ratcliffe), S.76, in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.311, fol.327 (M); Schreiben des Ministers des Innern an die Ober- und Regierungspräsidenten Preußens und den Polizeipräsidenten von Berlin am 15.3.1929, in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr. 309, fol.274-276 (M). 205 Rosenhaft, Working-class, S.209, 233/234. Zu den Liedern: Graveiii, Canti; Roesler (Hrsg.); Hochmuth (Hrsg.); Johst, Hanns: Der unbekannte SA-Mann. O.O. o.J.; Lindemann; Bayer, Liederbuch. Eine unkritische und emphatische Deutung bietet: Broderick, Horst-Wessel-Lied, S. 100-127. Für die Squadristen knapp bei Suzzi Valli, Mito, S.92/93. 206 Zu den sozialistischen Umzügen und Märschen: Warneken, Bernd Jürgen (Hrsg.): Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration. Frankfurt a.M./New York 1991; Korff, S.27-60; Weitz, S.160-187; Ridolfi, S.196-203. Vgl. zur Rezeption der sozialistischen Aktionsformen durch die Faschisten Roegels, S.12/13.
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Saalschlachten Veranstaltungen der NSDAP in geschlossenen Räumen, bei denen die SA als „Saalschutz" aufgeboten war, führten oftmals zu Saalschlachten. Zwar gab es auch in Italien solche Veranstaltungen in geschlossenen Räumen, aber hier fanden die Ansprachen oft auf einer piazza statt und vergleichsweise selten in einem teatro. Bei diesen eher seltenen Veranstaltungen kam es häufig erst in deren Anschluss bei den marce collettive zu Auseinandersetzungen. Gleichwohl fungierten die Squadren als Türsteher und Rausschmeißer bei den Saalveranstaltungen des PNF. 207 Die Versammlungen brachten militärische Prinzipien der Entscheidungsfindung und den permanenten Akklamationswunsch zusammen. So konnten bei den Treffen des Mailänder Fascio wichtige Fragen nur auf die Tagesordnung gesetzt werden, wenn die Führungsgremien (konkret das Direktorium des Fascio und das Präsidiumsbüro der Generalversammlungen) dies angeordnet hatten. Andernfalls, also bei einem demokratischen Verfahren der Setzung der Tagesordnung, würden, so hieß es, die Versammlungen durch die „blinde Improvisation der Themen" ohnehin nur der „haarspalterischen Hinterlist" dienen. Schon im Stil solcher Versammlung wurde klar, dass sie nicht der demokratischen Entscheidungsfindung, sondern vor allem der Akklamation dienen sollten. Eine Squadreneinheit wurde für die „interne Ordnung" und weitere Squadrengruppen für den Schutz nach außen aufgestellt. Mit einem Militärappell wurden die Versammlungen eröffnet, mit dem Militärsignal „Stillgestanden" wurde zur Ruhe gerufen und auch die Auflösung der Versammlung erfolgte durch ein Militärsignal. Umgekehrt störten die faschistischen Schlägertrupps die Veranstaltungen ihrer sozialistischen oder kommunistischen Gegner. 208 Die Gewalteskalation, die sich im Verlauf der nationalsozialistischen Saalveranstaltungen ergab, war von der NSDAP berechnet und kalkuliert. In den Städten lag der Veranstaltungsort meist in einem proletarischen Viertel, 207 So hieß es im April 1921 in einer Ankündung zu einer Versammlung des Fascio von Mailand: „An der Tür wird eine squadra d'azione Dienst leisten." (ACS, MRF, busta 33, fasc.l 13, sottofasc.286 (Milano), cartella Nr. 2, fol.93). 208 Gli ordinamenti fascisti, in: Popolo d'Italia Nr.219 vom 13.9.1921, S.3. Vgl. auch die Veranstaltung im Teatro Verdi in Bologna am 8.3.1922: ACS, Mdl, DGPS, CA 1923, cat.Gl „Fasci di combattimento", busta 77bis, fasc.: Bologna, ohne fol. (Telegramm des Präfekten Mori an das Innenministerium, DGPS vom 8.3.1922). ASB, GdP, Nr.1341, fasc.: Bologna, sottofasc. Bolognina; ASB, GdP, Nr. 1350, fasc. Congresso Regionale dei fasci di Combattimento", ohne fol (Schreiben den Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 3.4.1921; Schreiben des Präfekten Cesare Mori an DGPS vom 2.4.1921 und 3.4.1921). Dazu auch: II Resto del Carlino Nr.80 vom 4.4.1921; Tasca, S.136. Für ein Beispiel aus Ferrara siehe: Gazzetta Ferrarese Nr. 277 vom 19.11.1921. Für Mailand: Corriere della Sera Nr.98 vom 25.4.1921. Für Imola: ACS, Mdl, Gabinetto di S.E. Bonomi, Ordine pubblico (1921-1922), busta 2, Affari per provincie: fasc.18: Bologna, sottofasc.6: Imola, Präfekt Mori an DGPS vom 9.10.1921. Für Lodi: Chiurco, Storia, Bd.l, S.216/217.
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in Berlin etwa in den Pharussälen des Weddings oder im Saalbau Friedrichshain des gleichnamigen Bezirks, so dass eine Anzahl von Kommunisten im Publikum saß und von vornherein eine spannungsgeladene Atmosphäre herrschte. Dies war bewusste Taktik, um der NSDAP den Nimbus einer Arbeiterpartei zu verleihen. Jeder Zwischenrufer war Anlass genug, um die Veranstaltung zu einer Schlägerei ausarten zu lassen. Dies ereignete sich beispielsweise bei einer Versammlung im Saalbau Friedrichshain vom 22. Januar 1931, die zwar zu außergewöhnlich starken Ausschreitungen führte, in ihrer Form aber durchaus typisch war. Die NSDAP hatte sowohl die Kommunisten als auch das sozialdemokratische Reichsbanner zur Veranstaltung eingeladen. Das Reichsbanner sagte die Einladung von vornherein ab, da gewaltsame Zwischenfalle in dem mitten im proletarischen Kiez gelegenen Saal zu erwarten waren. Als die Versammlung um 20.30 Uhr eröffnet wurde, befanden sich 3.000 meist männliche Personen im Saal. Die Mehrheit stellten die Nationalsozialisten, aber auch viele Kommunisten waren erschienen. Nach zwei weniger bekannten Vorrednern der NSDAP sollte es in einer „offenen Diskussion" zu einem Streitgespräch zwischen Joseph Goebbels und Walter Ulbricht kommen. Schon nach den Vorreden war die Stimmung äußerst gespannt. Der Polizeibericht vermerkte: „Der Versammlungsleiter, welcher sich redlich bemühte Ruhe und Ordnung herzustellen, beging den Fehler, sich wegen der Unruhe nur an die 'Kommune' zu wenden, anstatt auch seine eigenen Leute aufzufordern sich zu massigen. Es ist doch geradezu absurd, wenn die 16jährigen SA-Leute ältere, schon ergraute Leute, die mit dem was die Referenten sagten, nicht einverstanden waren, 'Rotzjunge', 'Rotzneese' und 'Lausebengel' nannten, ihnen Grimassen schnitten und den Vogel zeigten. Diese Jungens waren zuletzt schon so heiser von ihrem Gebrüll, dass sie kaum noch sprechen konnten, wenn sie mit hochrotem Gesicht, erregt bis zum Platzen, ihrer Wut Ausdruck verleihen wollten." Als Ulbricht zu Wort kam, wurde er mit Rot-FrontRufen der Kommunisten und Pfiffen der Nationalsozialisten begrüßt. Die Stimmung wurde immer wilder; die Kommunisten sangen die Internationale. Beim anschließenden Vortrag von Joseph Goebbels war schon ein „Höllenkonzert" im Saal. Wiederum der Polizeibericht: „Als Göbbels [sie] damit begann, dass er nicht, wie ihm in einem Drohbriefe angeraten sei, einen 'Pflasterkasten', sondern einen Gehirnkasten mitgebracht hätte, um damit zu beweisen, wie recht die Nazis hätten, setzte ein Riesengelächter ein. Rufe, wie: 'Zeigen' und 'Soweit der kleine Vorrat reicht' usw. erschollen [...] Schon zu diesem Zeitpunkt sprang die SA-Garde hin und her, Frauen und ängstliche Gemüter fingen an den Saal zu verlassen." Es entstand ein großes Durcheinander, und die am Eingang und neben der Bühne postierten SAMänner gingen zum Angriff über. Auch die Kommunisten bewaffneten sich mit Stuhlbeinen. Insgesamt forderte die blutige Saalschlacht über 100 Ver-
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letzte und 500 Stühle wurden zertrümmert. 209 Hieraus wird deutlich, dass die SA-Leute Versammlungen als eine Mischung aus politischem Theater und abenteuerhaftem Gewaltspiel begriffen. Die SA-Männer nahmen bei den Veranstaltungen von Beginn an eine Drohgebärde ein und wurden in dieser Haltung von den Rednern bestärkt. Unzweifelhaft wurden die anwesenden SA-Männer durch die Propagandareden zur Gewalt animiert. Gewalt spielte in der NS-Propaganda eine prominente Rolle. Sie drückte sich nicht nur im Sozialdarwinismus, sondern auch in den sakralisierten Veranstaltungsformen und der gewaltförmigen Sprache der Nationalsozialisten gegen Kommunisten, Juden oder das Weimarer „System" aus. 210 Dieser Propagandastil wurde bei den Saalveranstaltungen in eine aggressive Rhetorik umgemünzt. Bei einer Versammlung im Kriegervereinshaus am 4. Mai 1927, der das Parteiverbot der Berliner NSDAP am nächsten Tag folgte, hetzte der Redner Goebbels gegen Journalisten, denen man eine „nationalsozialistische Kopfmassage" geben solle. Redakteure wurden als „gemeine Judensau" beschimpft, denen man „den Schwanz kupieren" solle. Als der anwesende Pfarrer Stuke aus der Freien Evangelischen Reformgemeinde daraufhin dazwischen rief: „Ja, ja, Sie sind der richtige germanische Jüngling", forderte Goebbels zur unmittelbaren Gewalt auf: „Sie wollen wohl hinausgeworfen werden?" Der Pfarrer wurde zusammengeschlagen, die Veranstaltung von der Polizei aufgelöst. Noch auf dem Polizeipräsidium mussten dem Pfarrer Bierglassplitter aus dem Kopf gezogen werden. 211 Systematisch wurden die SA-Männer aufgeputscht, bis die Aggressionswelle überschwappte. Die physische Gewalt war die folgerichtige Konsequenz einer durch und durch emotionalisierten NS-Propaganda. Die aggressive Rhetorik des Hasses wie die physische Gewalt riefen den Eindruck hervor, die Nationalsozialisten würden kompromisslos alles Widerständige vernichten. Die Rede hatte den gleichen Sinn wie die Umzüge, Märsche und Feste, nämlich dem Publikum ein Gefühl von der Macht und Siegesgewissheit der Bewegung zu geben. Ernst Bloch beschrieb diesen Propagandaeffekt treffend: „Nicht die 'Theorie' der Nationalsozialisten, wohl aber ihre Energie ist Ernst, der fanatisch-religiöse Einschlag, der nicht nur aus Verzweiflung und Dummheit stammt, die 209 BAB (ehemals BAP), St. 10/46, Band 3a, fol. 156-160; Vossische Zeitung Nr.88 vom 23.1.1931; Vorwärts vom 23.1.1931; Deutsche Allgemeine Zeitung vom 23.1.1931; Berliner Lokal-Anzeiger vom 23.1.1931. Vgl. die abenteuerhafte Darstellung im SARoman: Hagen, SA-Kamerad, S.83-90. 210 Vgl. Wippermann, Wolfgang: Der Kult der Gewalt im Faschismus, in: Leser, Norbert (Hrsg.): Macht und Gewalt in der Politik und Literatur des 20. Jahrhunderts. Wien/Köln 1985, S.57/58. Zum Opferkult siehe unten Abschnitt 5.1. 211 Siehe dazu Berliner Tageblatt Nr. 211 vom 5.5.1927, S.l; Bering, S.128/129. Verzerrend die NS-Darstellung durch Roegels, S.30-32. Zur Versammlungspropaganda allgemein:. Paul, S.120-132. Charakteristische Beispiele bei Schumann, Politische Gewalt, S.314-316.
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seltsam aufgewühlte Glaubenskraft". 212 Hierin ähnelten die NSVersammlungen der kommunistischen Versammlungstechnik, die ebenso auf die Herstellung einer enthusiastischen Stimmung ausgerichtet war. 213 In noch stärkerem Ausmaß als die NSDAP und SA zählte die KPD die Störung gegnerischer Versammlungen zu ihrem Propagandarepertoire. Da die aggressiv angelegten Versammlungen der NSDAP in den proletarischen Bezirken als Angriff auf das heimatliche Quartiersmilieu betrachtet wurden, verlegte sich die KPD besonders auf die gewaltsame Störung der NSVeranstaltungen. Kampf um Lokale Zur politischen Normalität gehörten die Prügeleien und Schusswechsel, wenn es darum ging, in die alltäglichen Kommunikations- und Geselligkeitszentren des politischen Gegners, sei es ein Lokal, ein caffe, eine casa del popolo oder eine osteria, einzudringen und diese zum rechtsfreien Raum zu erklären. So verlangten etwa die Squadristen Bolognas im Oktober 1921 von den Besitzern mehrerer Lokale deren sofortige Schließung, bei einer anderen Gelegenheit forderten sie von den Anwesenden eines Arbeitercafes die Vorlage ihrer Ausweise. 2 1 4 Die Faschisten provozierten dabei ganz bewusst die Anwesenden, um einen Vorwand für den Einsatz ihrer Gewalt zu haben. 215 Die in peer groups von cirka zehn Mann auftretenden Squadristen, die sich untereinander gut kannten, drangen immer wieder in die Kommunikationszentren ihrer Gegner ein. Eine Episode, die der Publizist Manlio
212 Bloch, Erbschaft, S.65/66. Vgl. Broszat, Staat, S.41; Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S.667. 213 Vgl. zum Vorbildcharakter: Roegels, S.24; Merkl, Political Violence, S.340. 214 Schreiben des Tenente Colonnello der Carabinieri Reali von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 24.10.1921 sowie das Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 20.12.1921, in: ASB, GdP, Nr.1341, fasc.: Bologna, ohne fol. 215 Beispiele für Squadrenüberfälle auf sozialistische Gaststätten: Schreiben des Vice Commissario Caporale an den Quästor von Bologna vom 18.10.1921, Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 27.11.1921, in: ASB, GdP, Nr.1341, fasc.: Bologna, ohne fol.; Schreiben des Colonello Araldi an die Präfektur von Bologna am 15.4.1921, Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 30.3.1921, in: ASB, GdP, Nr. 1350, ohne fol.; Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 5.8.1922, in: ASB, GdP, Nr.1373, ohne fol.; Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 6.10.1921, in: ASB, GdP, Nr. 1345, fasc. Molinella, ohne fol.; ACS, Mdl, Gabinetto di S.E. Bonomi, Ordine pubblico (1921-1922), busta 3, Affari per provincie: fasc.37: Grosseto, sottofasc. 1: Orbetello (Telegramm des Präfekten Boragno aus Grosseto an DGPS vom 11.7.1921); Corriere della Sera Nr.106 vom 4.5.1921; Corriere della Sera Nr.61 vom 13.3.1922; Corriere della Sera Nr.62 vom 14.3.1922; Cremona Nuova Nr.13 vom 15.3.1922; II Progresso vom 12.8.1921, in: ACS, MRF, busta 130, ohne fol. Siehe auch Lytellton, Faschismus, S.318; Alberghi, S.363; Engelmann, Provinzfaschismus, S.60.
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Cancogni berichtet, trifft diese Art ebenso zynischer wie alltäglicher Gewalt recht präzise. Der Squadrist Sandro Carosi, ein Apotheker aus Vecchiano, betrat mit einigen Kameraden die osteria von Filettole, eine Gaststätte, die gewöhnlich von sozialistischen und kommunistischen contadini und Arbeitern frequentiert wurde. Die bewaffneten Squadristen zwangen die Anwesenden, sich an einer Wand aufzustellen. Mit breitem Lächeln zwang Carosi den Anwesenden Pietro Pardi sich eine Tasse auf den Kopf zu stellen, denn er wollte demonstrieren, welche Schießkunst er mit seiner Mauser beherrsche. Doch der Schuss ging in den Kopf und war tödlich - spöttisch beklagte der Schütze seine unsicher gewordene Hand. Die regionale Zeitung berichtete kurz darauf von dem Vorfall mit der Überschrift: „Uno sfortunato Guglielmo Teil" (ein unglücklicher Wilhelm Teil). Die Justiz sah keinen Anlass zur Strafverfolgung. Bis zum Ende des Jahres 1921 waren es schon fünfzehn Morde, die auf das Konto von Carosi gingen. 216 Ganz ähnlich verlief ein Vorfall im Kaffeehaus von Bruscolo. Die Squadristen drangen mit Waffen in den Händen ein; die überraschten Arbeiter legten Karten und Zeitung beiseite und wurden auf Waffen durchsucht. Als ein Taschenmesser gefunden wurde, jagten die Squadristen die Arbeiter vor die Tür. Dort hatten andere Faschisten mit Dolchen und Knüppeln Aufstellung genommen und die Arbeiter mussten durch dieses Spalier hindurch. 38 Arbeiter wurden auf diese Weise durch Dolchstiche verletzt. Danach zerstörten die Squadristen das Mobiliar, plünderten alles Brauchbare, räumten die Kasse aus, kletterten auf ihr Lastauto und verschwanden in der Nacht. 2 1 7 Gerade die Fahnen des kommunistischen Gegners wurden bei solch brutalen Anschlägen geraubt, weil sie als das sichtbare und mächtige Symbol der Parteigebundenheit galten. Diese Signaturen der politischen Gesinnung mußten als symbolische Bestätigung der physischen Niederlage eingenommen, dem Publikum stolz als „Kriegsbeute" präsentiert und anschließend vernichtet werden. Letzteres geschah meist durch rituelle Verbrennungen. 218 Auch bei der Aktion einer Bologneser Squadra gingen
216 Cancogni, Storia, S. 106/107, 190/191. 217 Tasca, S.137. Ähnliche Fälle des „Spalierbildens" in Bologna: ASB, GdP, Nr. 1373, ohne fol. (Fonogramma a mano des Comando della Legione Territoriale Guardia di Bologna, Comandante Araldi, an den Präfekten von Bologna vom 10.8.1922); ASB, GdP, Nr. 1350, fasc. Arresto di Arpinati, ohne fol. (Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 16.2.1921). Vgl. Corriere della Sera Nr.80 vom 4.4.1922. 218 Siehe etwa das Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten in Bologna vom 1.3.1921, in: ASB, GdP, Nr.1350, ohne fol.; Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten in Bologna vom 9.3.1921, in: ASB, GdP, Nr.1347, fasc. „Ordine pubblico", ohne fol. Für die Fahnensymbolik: ASB, GdP, Nr. 1341, fasc. Bentivoglio (Schreiben des Quästors von Bologna an Präfekten von Bologna vom 26.9.1921); ASB, GdP, Nr. 1371, fasc. Imola (Schreiben des Unterpräfekten von Imola an den Präfekten von Bologna vom 14.8.1922); ASB, GdP, Nr. 1346, fasc.: Persiceto, ohne fol. (Schreiben des Quästors von
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symbolische Schmähung und physische Gewalt ineinander über, als sie einen 26jährigen Bäcker, der sich in einer sozialistischen osteria aufhielt, auf die Straße trieben und ihn zwangen, die sozialistischen Symbole und Sprüche, die an der Außenwand aufgemalt waren, zu entfernen. Nachdem der Bäcker dies getan hatte, wurde er von den Squadristen derart zusammengeschlagen, daß er anschließend 15 Tage im Krankenhaus verbringen musste. 219 Ähnlich verhielt es sich mit den Prügeleien um „Sturmlokale" der SA oder Verkehrslokale des RFB. Erstere galten der SA als Stützpunkte in der feindlichen „Front". „Sturmlokal, das ist [...] sozusagen die befestigte Stellung in der Kampfzone", urteilte ein SA-Chronist. 220 Vor allem in den kleinräumigen Nachbarschaftsbereichen der großen Städte kam es zu solchen Stellungskämpfen. 221 In Berlin wurden die Sturmlokale vor allem in den proletarischen Wohnquartieren, meist neben den Verkehrslokalen der Kommunisten errichtet. Die Strategie der SA war, die Straßenzüge und Nachbarschaften in den sozialistischen Quartiermilieus zu erobern. Nicht die Eroberung der Parlamente, sondern die Kontrolle der proletarischen Öffentlichkeit im Alltag, im Wirtshaus, auf der Straße oder in der Nachbarschaft, die Beeinträchtung der hiesigen Kommunikationsstrukturen also, war das eigentliche Ziel. Ein immer engeres Netz von Sturmlokalen überzog die Stadt Berlin. Existierten 1928 erst 20 Lokale, so lag ihre Anzahl drei Jahre später schon bei cirka 150. 222 Bei dieser allmählichen Invasion der SA in die gegnerischen Wohnbezirke kam es zwangsläufig zu Auseinandersetzungen mit Kommunisten. In kleinen Gruppen suchte man das gegnerische Lokal auf und drohte einem Angriff. Freilich blieb es nicht bei Drohungen. Überfälle oder „Eroberungen" gegnerischer Lokale, wie sie die SA nannte, waren seit den späten zwanziger Jahren an der Tagesordnung. Die Sturmlokale der SA in den Arbeiterbezirken wurden aber auch oft von kommunistischen Organisationen angegriffen, die von außen in das Lokal hineinschossen oder mit größeren Trupps das Lokal verwüsteten. Handelte es sich bei einem SA-Sturmlokal um ein ehe-
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Bologna an den Präfekten von Bologna vom 27.11.1921); Popolo d'Italia vom 28.11.1920. Vgl. Cancogni, Storia, S.94; Engelmann, Provinzfaschismus, S.56. ASB, GdP, Nr.1341, fasc.: Bologna, ohne fol. (Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 14.10.1921). Vgl. die Auseinandersetzungen um ein Leninbild: ASB, GdP, Nr. 1350, ohne fol. (Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 30.3.1921). Engelbrechten, S.85. Sauer, Mobilmachung, S.843; McElligott, „... und so kam es zu einer schweren Schlägerei", S.73-75; Schmiechen-Ackermann, Nationalsozialismus, S.376/377. Engelbrechten, S.85/86, 197, 232, 253; Merkl, Formen, S.432; Die Welt am Abend vom 7.10.1931, 1. Seite der 2. Beilage; Preußisches Polizeiinstitut (Hrsg.): Denkschrift über Kampfvorbereitungen und Kampfgrundsätze radikaler Organisationen (bearb. von Polizeimajor Ratcliffe), 82 Seiten [1932], S.76/77, in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.311, fol.327 (M).
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maliges Verkehrslokal der KPD, kam es nicht selten zu besonders brutalen Racheanschlägen. 223 Nicht nur in Berlin fand dieser „Stellungskrieg" (Gramsci) statt. So spornte beispielsweise ein Kommunist seine Genossen gegen die in ihrem Lokal schutzsuchenden SA-Männer aus der sächsischen Kleinstadt Leisnig an: „Die Lumpen lassen wir nicht heraus. Nehmt die Messer und schlachtet sie ab und stecht sie nieder." 224 Umgekehrt beschossauch die SA Verkehrslokale der KPD und schlug Kommunisten nieder. 225 Der Kampf um Sturmlokale wurde so erbittert gefuhrt, weil sie für die SA-Männer der zentrale Treffpunkt waren. Die Sturmlokale waren die institutionellen Mittelpunkte des SA-Dienstes und galten den SA-Männern „als Vorposten im Bürgerkrieg und als Ersatz-Zuhause". Von hier aus waren sie für Überfalle abrufbar, hier lagerten Waffen, hier wurden kleinere NSDAPVeranstaltungen und SA-Werbeabende abgehalten, hier brüsteten sie sich ihrer Taten, hier lernten sie sich bei Kartenspiel und Trinkgelagen kennen. 226 Das gleiche kann man von den Bars der Squadristen behaupteten, die zuweilen sogar ein Bordell zu ihrem zentralen Treffpunkt wählten. Auch hier entwickelte sich ein Kleinkrieg gegen die sozialistischen Lokale. 227 Die Squadristenlokale wurden allerdings nur selten überfallen. Die Gewalt ging im Wesentlichen in eine Richtung. Nur wenige Kommunisten wagten zuweilen einen Angriff auf die gut abgesichterten Squadrenbars. 228 Die sozialistischen Lokale stellten für ihre Besucher ein Stück Heimat dar. Sie waren das zentrale Kommunikationszentrum. Die Häuser der italienischen Arbeiterbewegung, die case del popolo und camere del lavoro, waren zudem mit Stolz betrachtete Symbole des Fortschritts. Aber nicht nur in Italien war der Sozialismus für den einfachen Parteigänger ein „Gemeindekampanilismus", also „die Summe etlicher Tausend Sozialismen lokaler
223 Vorwärts (MA) vom 4.1.1931, 1. Seite der 1. Beilage; LAB, A Rep.358, Nr. 1666; LAB, A Rep.358, Nr.593, fol.13; LAB, Α Rep.358, Nr.2606, 4 Bde.; LAB, Α Rep.358, Nr.1338; LAB, Α Rep.358, Nr. 1803; LAB, A Rep.358, Nr.2624, 13 Bände. Vgl. weiterhin Rosenhaft, Beating, S. 111-127. 224 BAB (ehemals BAP), St.10/46, Band 3a, fol.127. Zu Gramscis Terminus: Gramsci, Antonio: Zu Politik, Geschichte und Kultur. Ausgewählte Schriften. Frankfurt am Main 1980, S.272/273. 225 Zum Beispiel: LAB, A Rep. 358, Nr. 1581 und LAB, A Rep. 358, Nr.1345, fol.5. 226 Engelbrechten, S.85 (Zitat); LAB, Α Rep.358, Nr.2624, 1. Bd., fol.6, 10, 12; LAB, A Rep.358, Nr.2624, 12. Bd., fol.33-49; LAB, A Rep.358, Nr.1326, fol.6; LAB, A Rep.358, Nr.611; Sturm 33, S.26/27. Vgl. Longerich, Bataillone, S.127 227 Vgl. ASB, GdP, Nr. 1350 (Schreiben des Ispettore Generale di P.S. an den Präfekten von Bologna vom 19.1.1921). 228 Beispiele: ACS, Mdl, PS, CA 1921, cat. G l , busta 108, fasc. Nr.2: „Fascio di Combattimento. Reggio Emilia", ohne fol. (Schreiben des Präfekten von Reggio Emilia an DGPS vom 9.8.1921); ASB, GdP, Nr.1373, fasc. „Esplosione di bomba nei locali del Fascio"; Tasca, S.154.
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Art". 2 2 9 Auch die deutschen Genossen konnten empfindlich getroffen werden, wenn man ihren alltäglichen Vergesellschaftungsorten die Ruhe und Sicherheit nahm.
Mordanschläge und gezielte Angriffe Immer wieder kam es zu gezielten Mordanschlägen auf Führer der sozialistischen beziehungsweise kommunistischen Arbeiterbewegung. Kleine Squadreneinheiten ermordeten Funktionäre (oftmals sogar am heilichten Tag) in ihren Wohnungen oder auf offener Straße. Angelo Tasca gibt an, dass in der Emilia in mehr als tausend Fällen die Faschisten in Privatwohnungen eindrangen und mehr als dreihundert Privathäuser plünderten und einäscherten. 2 3 0 Im September 1921 wurde der sozialistische Abgeordnete Giuseppe Di Vagno in Apulien erschossen. Der Parlamentsabgeordnete Giuseppe Tuntar wurde im Folgemonat in Cagliari am heilichten Tag von Faschisten niedergeknüppelt. 231 In Cremona wurde der Präsident der Provinzdeputation, der Sozialist Attilio Boldori, mit Stockhieben auf offener Straße regelrecht hingerichtet. Die Squadristen widmeten ihm den folgenden Nachruf: „Es ist nicht unsere Schuld, wenn sein Schädel nicht härter war". 2 3 2 Mit den Bestrafungsaktionen wurde beabsichtigt, den Gegner zu entwürdigen und zu demütigen. Dies galt für die berüchtigten „Rhizinus-Kuren" oder das vornehmlich in Ferrara und Rovigo praktizierte Verfahren, die Opfer mitten in der Nacht zu entführen und nackt am Straßenrand oder an einen Baum gebunden ihrem Schicksal zu überlassen. 233 Die „verstärkte Einnahme [...] eines großen Glases von Rhizinusöl", wie der „Popolo d'Italia" spöttisch bemerkte, diene den Opfern dazu, „um sich von ihrer Schuld, von den alten Sünden des Bolschewismus zu reinigen". 234 Man stili229 Tasca, S.154/155. 230 Tasca, S. 140. Tatsächlich finden sich solche Fälle recht häufig in den Berichten des Quästors zur öffentlichen Sichheit in Bologna. Vgl. beispielhaft das Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 21.1.1922, in: ASB, GdP, Nr. 1373, ohne fol. Vgl. Cancogni, Storia, S.83. 231 ACS, Mdl, Gabinetto di S.E. Bonomi, Ordine pubblico (1921-1922), busta 1, Affari per provincie: fasc.14: Bari, sottofasc.3: „Uccisione dell'On. Di Vagno"; Conriere della Sera vom 27.9.1921; ACS, Mdl, Gabinetto di S.E. Bonomi, Ordine pubblico (1921-1922), busta 2, Affari per provincie: fasc.20: Cagliari, sottofasc.2: „Aggressione patita dall'On. Tuntar". Vgl. Colarizi, S. 193-199; Salvemini, S.61/62. 232 Zitiert nach Tasca, S.201. Vgl. Popolo d'Italia vom 14.12.1921; Salvemini, S.62. 233 Corriere della Sera Nr.54 vom 4.3.1922; Popolo d'Italia vom 5.3.1922; Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 15.7.1922 und 16.7.1922, in: ASB, GdP, Nr. 1373, ohne fol.; Gentile, Storia, S.503/504; Lyttelton, Cause, S.44; Lyttelton, Faschismus, S.316; Tasca, S.132; Segre, Balbo, S.52; Bucher, S.276; Eberlein, Gustav: Der Weg zum Kapital. Der Faschismus als Bewegung. Berlin 1929, S. 133/134: Carsten, Aufstieg, S.69. 234 Popolo d' Italia vom 29.9.1921.
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sierte die praktische Infantilisierung des Gegners zu einer Erziehungsmaßnahme. Gebräuchlich waren auch Rasuren, die der Effemination des Gegners dienten. So wurde einem sozialistischen Drucker aus Medicina im September 1922 der Bart rasiert. Am darauffolgenden Tag bekannten sich die Direktoriumsmitglieder des örtlichen Fascio zur Tat. In dem öffentlichen Schreiben hieß es, dass sich der Drucker „gestern Abend das Haar von den Faschisten" habe „schneiden lassen". Dies sei jedoch nur eine „Anzahlung" dafür gewesen, dass er die „Unbewussten gegen die Kämpfer" „aufgehetzt" habe. 235 Die Schmähungen durch Bartschneiden und Entblößen sollten die Machtverhältnisse zwischen den Faschisten und den ebenso effeminierten wie gedemütigten Sozialisten symbolisieren. 236 Die Rhizinuseinnahmen sollten (aufgrund der körperlichen Reaktionen) eine innere Verunreinigung symbolisieren. Daher kreierten die Faschisten auch das Wort „sozzalista" für den „socialista", das die Beimengung „sozzo", zu deutsch schmutzig, enthielt. 237 Die politischen Haltungen der Gegner wurden als abartige Krankheiten imaginiert, denen die Faschisten ihre demütigende Polit-Hygiene entgegenhielten. Auch die SA beging immer wieder gezielte Mordanschläge und nächtliche Überfalle, vor allem auf Personen, die von politischen Veranstaltungen heimkehrten. Der Täterkreis bestand dabei aus einer kleinen Gruppe gut miteinander bekannter SA-Männer, die meist im Sturmlokal ihre Übergriffe geplant hatten. Bei den gezielten Mordanschlägen legte der Sturmfuhrer Opfer und Ablauf der Tat fest. Gemeinschaftlich gingen sie gegen die Opfer vor, teilweise suchten sie diese sogar in ihren Wohnung auf. Auch bei den nächtlichen Überfallen, obwohl ungleich spontaner in ihrer Verursachung, spielten die Sturmlokale eine wichtige Rolle. Einzelne SAMänner, die unterwegs mit Kommunisten zusammenstießen, liefen oft zum Sturmlokal, um Verstärkung zu holen. So geriet beispielsweise im September 1932 ein Berliner SA-Mann gegen Mitternacht mit drei vor ihrem Männerwohnheim stehenden Arbeitern in Konflikt. Nachdem er ihnen gedroht hatte, kehrte er kurze Zeit später mit acht bis zehn SA-Männern zurück, die glaubt man dem Polizeibericht - „blindlings" auf die am Heim stehenden Männer einschlugen und -stachen. 238 Bezeichnend war, dass ihr Sturmlokal 235 Schreiben des Unterpräfekten Palumbo aus Imola an den Präfekten von Bologna vom 12.9.1922, in: ASB, GdP, Nr.1372, fasc. Medicina, ohne fol.; Schreiben des Maggiore Comandante Vittorio Sforni an die Präfektur in Bologna vom 28.10.1921, in. ASB, GdP, Nr. 1344, fasc. Medicina, ohne fol. 236 Vgl. Duerr, Hans-Peter: Obszönität und Gewalt. Frankfurt am Main 1995, bes. S. 247/248, 296-318. Zu den Männlichkeitsbildern der Faschisten siehe Abschnitt 5.3. 237 Spackman, S.131. 238 Schlußbericht eines Kriminalassistenten vom 25.9.1932, in: LAB, A Rep.358, Nr. 1322. Vgl. LAB, Α Rep.358, Nr. 1887.
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in unmittelbarer Nähe des Männerwohnheims lag. Der Bericht eines schwerverletzten KPD-Mannes aus seinem Strafantrag wegen eines Überfalles in ein Oktobernacht des Jahres 1932 vermittelt dasselbe Bild: „Etwa zwischen 24 Uhr und 1 Uhr ging ich mit zwei Freunden die Schwarzkopfstr. entlang, um das Lokal von Wald aufzusuchen. Plötzlich kam uns ein Trupp von über 20 Nazis entgegen. Sie rempelten mich an, schlugen mich nieder und bearbeiteten mich, der ich schon am Boden lag, noch mit Stiefelabsätzen [gegen den Kopf, S.R.]. Von den Strassenpassanten wurden Polizeibeamte geholt. Man brachte mich in das Nazilokal in der Schwarzkopfstr. [dieselbe Straße, S.R.], wo von den Beamten einer der Täter sofort festgestellt werden konnte, während ein anderer zu flüchten versuchte. Die Polizei hat aber auch diesen zweiten Täter vor dem Lokal noch angehalten, während er gerade dabei war, das Blut von seinen Stiefeln abzuwischen, was der Beamte noch gesehen hat." 239 Man kann die Mordanschläge und -drohungen der Squadristen als gezielter und planmäßiger bezeichnen. Zwar kam es auch bei den Squadristen immer wieder zu spontanen Überfallen, 240 aber gerade die tödlichen Angriffe richteten sich gegen kommunistische oder sozialistische Funktionäre. Zudem fürchteten die Squadristen seit Ende 1921 offenbar keinerlei staatliche Sanktionen mehr. Die Aktionen fanden in aller Öffentlichkeit und bei Tageslicht statt, während die SA bei ihren Mordanschlägen den Schutz der Nacht suchte und die Strafverfolgung fürchtete. Daneben bedienten sich die Squadristen auch öfter einer symbolischen Gewalt, die dazu diente, den Gegner zu demütigen. Kämpfe um politische
Symbole
Im Alltag ergaben sich immer wieder Zusammenstöße zwischen den in Kleingruppen auftretenden Kampfbündlern und ihren Gegnern. Diese hatten vor allem mit ihrer ostentativ in der Öffentlichkeit vertretenen politischen Haltung zu tun. Zeitungsverkäufe, das Absingen politischer Hymnen und Lieder, das Sammeln von Spenden oder einfach nur das Tragen der Uniformen genügten als Anlass für Prügelei und Schießerei. Mit wenigen Beispielen lässt sich dies illustrieren. Vier Squadristen verkauften Anfang Februar 1922 in Monteveglio bei Bologna den „L'Assalto" („Angriff'). Als sie am Nachmittag von Kommunisten entdeckt wurden, kam es zu einem Handgemenge. Die jungen Squadristen, zwischen 15 und 23 Jahren alt, 239 LAB, A Rep.358, Nr.1345, fol.l (Strafantrag vom 24.10.1932). DerEinschub auf fol.5. 240 Etwa: ACS, Mdl, DGPS, CA 1921, cat. Gl, busta 108, fasc. „Fasci di combattimento di Reggio Emilia, sottofasc. Campegine": Schreiben des Präfekten von Reggio Emilia an DGPS vom 26.9.1921); ACS, Mdl, PS, CA 1921, cat. Gl, busta 108, fasciolo Nr.l: „Reggio Emilia" (Telegramm des Präfekten Berti an DGPS vom 7.5.1921, Schreiben des Abgeordneten Storchi an Corradini vom 24.2.1921).
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verprügelten ihre Gegner mit den offenbar nicht zufallig mitgebrachten Stöcken und trieben sie so in die Flucht. 241 Solche Zusammenstöße waren kein Zufall. Werbung und Verkauf faschistischer Zeitungen trugen deutlich aggressive Züge. Im September 1922 etwa fuhren vierzig Bologneser Squadristen, die eigentlich den „L'Assalto" verkauften, mit ihren Fahrrädern aus der Stadt hinaus bis zu einer sozialistischen Kooperative in dem naheliegenden Dörfchen Malcantone, um ausgerechnet dort Abonennten zu „werben" und sich zugleich einige Alkoholika einzuverleiben. Die Polizei konnte eine gewaltsame Eskalation gerade noch verhindern. 242 Die squadristischen Übergriffe galten häufig auch den sozialistischen Zeitungsverkäufern. Im Oktober 1922 konnten einige Straßenverkäufer der sozialistischen Zeitung „La Squilla" in dem Dörfchen Molinella nur noch mit polizeilichem Begleitschutz ihrer Arbeit nachgehen. Massive Anschläge auf die Pressefreiheit fanden sich in ganz Norditalien: Ob Zeitungskioske, Redaktionen, Druckereien oder Straßenverkäufer - die Behinderung der Linkspresse war gängige Praxis der Faschisten. So wurden in den drei Monaten von März bis Mai 1921 allein in der Emilia-Romagna 57 Verkaufsstellen der sozialistischen Zeitung „Avanti" von Squadristen überfallen. 243 Wie in Italien, so kann auch die Haus-zu-Haus Propaganda der SA, also das Verteilen von Flugblättern, die Abonnementwerbung für NS-Zeitungen oder das Sammeln von Spenden, durchaus als Aggressiv-Propaganda gelten. Hierbei kam es immer wieder zu absehbaren Zusammenstößen, da die SA gezielt kommunistisch oder sozialdemokratisch dominierte Arbeiterviertel aufsuchte. 244 Auch politische Lieder - unter den Kommunisten vor allem „bandiera rossa" und die „Internationale", bei den Faschisten die „Giovinezza" und das „Horst-Wessel-Lied" - provozierten. Im besten Fall endeten die Auseinan-
241 „Quattro fascisti nel Bolognese", in: Corriere della Sera Nr.32 vom 7.2.1922. 242 Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 25.9.1922, in: ASB, GdP, Nr. 1373, ohne fol. Ähnliche Fälle: ASB, GdP, Nr. 1341, fasc. Anzola Emilia (Fonogramm des Comandante der Carabinieri Reali aus Anzola an den Präfekten von Bologna vom 25.8.1921); ASB, GdP, Nr. 1350, ohne fol. (Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten in Bologna vom 2.3.1921); ASB, GdP, Nr.1347, fasc. „Ordine pubblico", ohne fol (Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 28.3.1921); ASB, GdP, Nr.1370, fasc. Castel San Pietro, ohne fol. (ExpressTelegramm des Unterpräfekten von Imola an den Präfekten in Bologna vom 25.6.1922). 243 Fascismo, S.432-434; Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 21.10.1922, in: ASB, GdP, Nr. 1371, fasc. Molinella, ohne fol.; Engelmann, Provinzfaschismus, S.73, 198-200. 244 LAB, A Rep.358, Nr.516, 584, 1215, 1218, 1323, 1472, 1561, 1657, 1731, 1856, 2553 (3 Bde.). Ähnlich die Situation bei den sogenannten Klebekolonnen. Sehr anschaulich hierzu: LAB, Α Rep.358, Nr.I311, fol.28-31; BAB (ehem. BÄK) 26/133, ohne fol. (Testamentschrift eines Berliner SA-Mannes, S.58/59); Longerich, Bataillone, S.123/124; McElligott, „... und so kam es zu einer schweren Schlägerei", S.63/64, 67-69.
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dersetzungen mit gegenseitigen Beschimpfungen und der Aufforderung, die Gesänge unverzüglich einzustellen. Oder es kam zu einem krakeelenden Wettbewerb von „Viva PItalia" gegen „Viva Lenin". Meist jedoch steigerte sich die hitzige Atmosphäre bis zu einer wütenden Schlägerei mit Fäusten, Knüppeln, Peitschen, oder es kam sogar zu Schusswechseln mit den Revolvern. 2 4 5 Auch Uniformen und Fahnen gaben immer wieder Anlass zu Auseinandersetzungen, da sie im Alltag das visuelle Symbol der Bewegung darstellten, welches durch seinen militärischen Charakter eine besondere Provokation beinhaltete. Um Uniform und Fahne entbrannte ein alltäglicher Symbolkampf. So erhielt ein Sozialist im Dörfchen Cerignola, der auf die Fahne einer Gruppe von jungen Faschisten spuckte, unverzüglich eine Maulschelle. Der Streit eskalierte schließlich zu einer Schießerei vor dem Lokal der örtlichen Sozialisten. 246 Solch 'schlagkräftige' Markierungen des eigenen Reviers provozierten einen permanenten Kleinkrieg, der in der Öffentlichkeit einen Eindruck vom Bandencharakter der politischen Kampfbünde vermittelte. Auch in Deutschland nahmen diese kleinen Raufhändel und Schießereien auffallig oft ihren Anfang, wenn politische Symbole der Bewegung betroffen waren, seien sie akustischer oder visueller Art. Ein Artikel über die „Ursachen der Straßenkrawalle", der 1932 im liberalen „Berliner Tageblatt" erschien, beschrieb den Ablauf dieser gewalttätigen Zusammenstöße präzise: „Es beginnt mit Schimpfreden über die neue Uniform, dann folgt das Handgemenge, es fliegen Steine und zum Schluß wird das Messer oder der Dolch aus der Tasche gezogen. Der neue braune Rock, den die SA-Leute zur Schau tragen, wirkt,
245 Einige italienische Beispiele: ASB, GdP, Nr. 1345, fasc. Molinella, ohne fol. (Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 21.8.1921, Schreiben des Vize-Quästors von Bologna an den Quästor von Bologna vom 2.8.1921); ACS, Mdl, Gabinetto di S.E. Bonomi, Ordine pubblico (1921-1922), busta 1, fasc.8: Alessandria, sottofasc.4, ohne fol. (Schreiben des DGPS an Gabinetto di S.E. il Ministro Bonomi vom 29.7.1921); ebd., busta 3, fasc.35: Genova, sottofasc.7: Ortonovo (Telegramm des Präfekten Poggi aus Genua an DGPS vom 31.10.1921); ASB, GdP, Nr. 1369, fasc.: Bentivoglio, ohne fol. (Express des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 21.4.1922); ASB, GdP, Nr.1341, fasc.: Bologna (Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 18.12.1921); ebd, fasc. Budrio (Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 6.9.1921); ASB, GdP, Nr. 1350, ohne fol. (Schreiben des Quästors De Silva an den Präfekten von Bologna vom 16.8.1921, Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 23.5.1921, Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 12.9.1921); Engelmann, Provinzfaschismus, S.44, 144. 246 ACS, Mdl, Gabinetto di S.E. Bonomi, Ordine pubblico (1921-1922), busta 3, fasc.33: Foggia, sottofasc.l: Telegramm des Ispettore Generale P.S. aus Cerignola, Sechi an DGPS vom 27.1.1922, Telegramm des Präfekten Regard an DGPS vom 28.1.1922, jeweils ohne fol. Siehe auch Tasca, S.131; Engelmann, Provinzfaschismus, S.60.
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namentlich in den Arbeiterbezirken Berlins, provozierend."247 Selbst das Tragen einer roten Nelke, entsprechender Hals- oder Taschentücher oder sogar von Manschettenknöpfen, auf denen Hammer und Sichel eingeprägt waren, gaben Anlass zu tödlichen Schusswechseln. 248 Das „Zurschautragen" von Uniform und Fahne, das provokative Anstimmen der Lieder oder der „werbende" Zeitungsverkauf im gegnerischen Bezirk: Mit all diesen Aktionen war ein ostentativer Gestus der Faschisten verbunden. Die Aktionen waren Invasionen in gegnerisches Gelände. Sie stellten symbolische Provokationen dar, die mit dem Raufhändel rechneten. Diese alltägliche Straßenpolitik entfachte einen permanenten „Stellungskrieg" um die politische Dominanz im Nahbereich, sei es ein Stadtviertel oder ein Dorf. Spedizioni
terroristiche
Schließlich kamen auch Erpressungen, Schutzgeldforderungen und reine Plünderungen vor (spedizioni terroristiche), oft gegen Restaurant- oder Hotelbesitzer. Wenn etwa die Eisenbahnschaffner Fahrgeld von den Squadristen forderten, wurden sie ihres Lebens bedroht. 249 Dazu traten Zerstörungen von Telegraphenämtern und Besetzungen der entsprechenden Eisenbahnstationen. So konnte man den staatlichen Behörden die Möglichkeit nehmen, polizeiliche und militärische Verstärkung anzufordern. Zudem wurde so die Auslieferung von sozialistischen Tages- oder Wochenzeitungen unterbunden. Auch Bauern wurden gezwungen, ihre Produkte zum halben Preis zu verkaufen. Lastwagen wurden mit vorgehaltener Waffe kurzerhand gestohlen. 250
247 Berliner Tageblatt vom 23.6.1932. Vgl. Leßmann, S.294. 248 Engelmann, Provinzfaschismus, S.60, 64; Forti/Ghedini, S.l 14; Fincardi, S.32-34. 249 ACS, Mdl, DGPS, AGR, CA 1922, cat. Gl, busta 102, fasc. „Fasci di combattimento. Affari generali", sottofasc. „Zone di sbarramento per impedire incursioni di fascisti", ohne fol. (Schreiben des Direttore Capo Divisione P.G. an DGPS vom 28.1.1922); ACS, Mdl, DGPS, CA 1922, cat. Gl, busta 105, fasc. Nr.5: „Viaggi di fascisti sulle ferrovie dello Stato"; ACS, Mdl, Gabinetto di S.E. Bonomi, Ordine pubblico (1921-1922), busta 2, Affari per provincie: fasc.29: Cremona, sottofasc.2: „Minaccie ai ferrovieri da parte dei fascisti"; ACS, Mdl, PS, CA 1921, cat, Gl, busta 90, fasc. Nr.l (Schreiben des Ministers für öffentliche Arbeiten an den Innenminister vom 26.7.1921); Snowden, Fascist Revolution, S.165; II Littore Nr.10 vom 7.10.1922, in: ACS, MRF, b.142, fasc.169, sottofasc. 3. 250 Snowden, Fascist Revolution, S.165; Alberghi, S.363; Tasca, S.158, 171; R£paci, S.512; Carsten, Aufstieg, S.68; Engelmann, Provinzfaschismus, S.72-74; ASB, GdP, Nr.1350, ohne fol. (Schreiben des Präfekten Mori an den Quästor von Bologna und die Unterpräfekten von Imola und Vergato vom 11.12.1921); Schneider, S.51; ACS, Mdl, Gabinetto di S.E. il Sottosegretario On. Finzi, Ordine pubblico (1922-1924), busta 8, fasc.80: Reggio Emilia; sottofasc.5: Vendita del giomale „La Giustizia" ed altri giornali sowersivi, fol.1-3; ASB, GdP, Nr.1341, fasc. Budrio (Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 12.12.1921); L'Avvenire d'Italia vom
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Private Rachezüge mischten sich hier mit offenem Terror. Die unverhohlen erpresserische Aktivität setzte Mitte 1921 ein, und bereits ein halbes Jahr später hatte der Squadrismus in seinen Hochburgen faktisch die öffentliche Gewalt inne. Beamte und Funktionäre, die sich ihnen nicht zur Verfugung stellten oder sich ihren Weisungen widersetzen, wurden verfolgt und durch sogenannte Scherbengerichte verurteilt. So musste sich im Februar 1922 sogar die Polizeibehörde in Prato in ihrem eigenen Gebäude vor den Faschisten verbarrikadieren. Die SA-Aktionen bedienten sich nur in seltenen Fällen solch offen erpresserischer Methoden. Auch die SA-Männer lösten vor ihren „revolutionären" Gewaltakten immer erst noch eine Bahnfahrkarte. 251 2.2.1 Propaganda als Angriffsmethode Generell stellten die Gewalttätigkeiten beider Kampfbünde neben dem physischen Aspekt eine Art „ostentativer Gewaltanwendung" dar, die durch Körperhaltung und Gestik, durch Kleidung und andere visuelle Politiksymbole, Gangart und Akustik ihren offensiven Aktionsstil in der Öffentlichkeit zum Ausdruck brachten. Neben die praktischen Wirkungen traten symbolische Funktionen: das Zurschaustellen der Unbesiegbarkeit der „Miliz der Nation" nach außen, die Verstärkung der Bindungen, der Identität und des Dynamismus der Gruppen nach innen. 252 Die faschistischen Faustkämpfer stellten eine Gegenöffentlichkeit zu den Sozialisten dar und kämpften mit diesen um die Monopolstellung in der Straßenöffentlichkeit. Die physischen Aspekte spielten hierbei eine ebenso große Rolle wie der Kampf um die Symbole, da die Straße als der Ort betrachtet wurde, an dem die Riten und Feiern der als imaginierten Nation begangen wurden. Die Sozialisten hatten nach Ansicht der Faschisten mit ihren politischen Demonstrationen diesen Ort entweiht und mussten daher mit allen Mitteln bekämpft werden. Alle Formen faschistischer „Straßenpolitik" (Thomas Lindenberger) waren durch die Verschränkung symbolischer und physischer Gewalt gekennzeichnet. Es gehörte zum faschistischen Stil, dassdiese politische Propaganda sich in der ostentativen Geste einer ebenso rigorosen wie militanten Intransigenz ausdrückte. Faschistische Aktionen verbanden die Zwangselemente der direkten physischen Gewalt mit kommunikativ-appellativen Wirkungen. Bezeichnend hierfür waren die Ausführungen über die Aufgaben der SA aus
14.6.1922, in: ACS, MRF, b. 142, fasc.169, sottofasc.4, ohne fol. In der SA bildeten solche Fälle die Ausnahme, wie etwa im bayrischen Aschering 1932: StAM, Pol. Dir. München. Nr.6831a, ohne fol. 251 Tasca, S.225. 252 Zu diesen Kriterien der kulturwissenschaftlichen Forschung: Wameken, „Die Straße ist die Tribüne des Volkes", S.7-16; Wameken, „Massentritt", S.64-79; Lindenberger, S.331334; Gentile, Storia, S.505; Merkl, Formen, S.426 (Zitat).
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dem Jahre 1926: „Die SA verdankt ihre Entstehung dem Terror der marxistischen Parteien. Sie hatte demgemäß ursprünglich nur die Aufgabe, eigene Versammlungen zu schützen, für Ordnung zu sorgen, da die Polizei hierzu entweder nicht willens oder vielfach auch nicht fähig war. Wir nennen diese Tätigkeit Saalschutz. Zu dieser Abwehraufgabe gesellten sich nun bald andere, wichtigere; die SA ging aus der Verteidigung heraus und wurde zur Waffe des Angriffs. Wir wollen diese Tätigkeit Propaganda nennen. [...] Im Übrigen ist uns das Hornsignal zum Angriff sympathischer, denn der Angriff ist die beste Verteidigung. Somit findet die SA ihre Bestimmung in erster Linie im Angriff." Kurz: Propaganda war kein Ersatz fur Gewalt, sondern eine ihrer Seiten. 253 Die Aktionsformen selbst der kommunistischen Kampfbünde, also der „Arditi del popolo" und des RFB, wurden meist in ein Gesamtkonzept der Kommunisten integriert, in denen Forderungen nach Teuerungszulagen, Lohnerhöhungen oder betrieblicher Mitbestimmung aufgestellt wurden. Dadurch behielten die kommunistischen Gewaltaktionen einen stärkeren Bezug auf die sozialen Belange der Arbeitswelt. Ob als Demonstrationszug, Hungerstreik, Boykottaktion, Plünderung von Lebensmittelgeschäften, Mieterstreik, Erwerbslosendemonstration oder Fabrikbesetzung - die auch hier zu propagandistischen Zwecken eingesetzte Gewalt blieb, anders als bei den Faschisten, an den Lebensbereich der Arbeit gekoppelt und mit dem Problemkreis der sozialen Ungleichheit verbunden. Der Gewalteinsatz diente somit nicht nur der politischen Propaganda, sondern knüpfte an soziale Interessen an, die propagandistisch bis hin zur Forderung nach einer durch bewaffneten Aufstand zu erreichenden sozialen Revolution überhöht wurden. 2 5 4 Von den nationalen Verbänden wiederum unterschieden sich die faschistischen Kampfbünde dadurch, dass sie erstens eine neue und unverbrauchte politische Kraft darstellten, zweitens entschiedener, militanter und gewalttätiger waren und drittens auf den öffentlichen Straßen, vor Ort und in Permanenz agitierten. Von den Intentionen her betrachtet waren die faschistischen Gewaltaktionen in Italien wie Deutschland durch das Ziel einer Systemveränderung gekennzeichnet, was zwar nicht immer explizit gefordert wurde, aber doch ständig immanent mitschwang. Freilich war dies bei den kleinen Raufhän253 „SA. Grundsätzliche Betrachtungen über Bestimmung, Organisation und Ausbildung", in: Nationalsozialistische Briefe vom 15.9.1926 (24. Brief), in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.309 (M), fol,172c. Vgl. Neumann, Behemoth, S.505-508; Raschke, Soziale Bewegungen, S.277-292. Zum Begriff der Straßenpolitik siehe Lindenberger, S.11-19, 67, 385-403. 254 Vgl. Ehls, S.50-2U, 260-321; Winkler, Weg in die Katastrophe, S.287, 311, 687; Mallmann, Kommunisten, S.193-199, 312-326, 365-380; Schumann, Politische Gewalt, S.301-305; Ridolfi, S.181-196; Farneti, S.29-31; Corner, Fascism, S.96.
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dein weniger deutlich als bei den Angriffen großer Trupps. Gemeinsam war den Aktionsformen der faschistischen Straßenkämpfer auch ein eher informell organisiertes Vorgehen, das meist regional begrenzt blieb. Seit 1921 in Italien beziehungsweise seit 1931 in Deutschland waren die faschistischen Aktionsformen, nimmt man alle Typen zusammen, durch Massenbeteiligung gekennzeichnet. Die Aktionen waren gut organisiert und auf bestimmte Zielgruppen ausgerichtet. Je kollektiver das Vorgehen war, desto systematischer geplant waren die Gewaltaktionen. Und umgekehrt: Je individueller, desto spontaner die Gewalthandlungen. Der durch Massenbeteiligung gekennzeichnete zweite Aktionstyp der Stadtbesetzung war, hinsichtlich seiner Häufigkeit, eine Ausnahmeform. Die Angriffe der faschistischen Kleingruppen auf Lokale und Bars einerseits und die durch politische Symbole und Zeichen ausgelösten Zusammenstöße andererseits gehörten hingegen zum politischen Alltag beider Kampfbünde. Dazwischen lagen die Strafexpeditionen und die Straßenaufmärsche. Diese Formen gehörten zur Grundfigur faschistischer Gewaltpropaganda. Dabei stellten die Strafexpeditionen {spedizione punitive) die Grundform der squadristischen Gewaltpropaganda dar, die der SA die Straßenaufmärsche. Die Squadristen agierten seit 1921 im wesentlichen in ländlichen Gegenden, die SA dagegen seit 1930/31 vergleichsweise stärker in den Städten, wenngleich die Landpropaganda hier keineswegs fehlte. 255 Die acht benannten Typen faschistischer Gewalt hingen in der historischen Realität miteinander zusammen und mischten sich. Insbesondere die spedizione punitive verbanden sich sowohl mit Mordanschlägen als auch mit Überfallen auf die Kommunikationszentren der Arbeiterbewegung. 2.2.2 Funktionen faschistischer Gewalt Funktional gesehen diente die Gewalt beider faschistischen Kampfbünde drei Zwecken: erstens der Lahmlegung des politischen Gegners durch direkte Gewalt, zweitens dem inneren Zusammenhalt der Kampfbünde durch das „Kampferlebnis" selbst und drittens der öffentlichen Demonstration faschistischer Stärke und Ordnung. Neben diesen drei Hauptzwecken war der gewalttätige Aktivismus in der Anfangszeit dazu geeignet, die faschistischen Bewegungen in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Schlagartige publicity war durch spektakuläre Krawalle einfach zu erzielen, und diese Aufmerksamkeit wiederum ermöglichte das Anwerben neuer Mitglieder und Eintreiben eventueller Spendengelder. 256
255 Zur SA-Gewaltpropaganda in Stadt und Land vgl. Bessel, Political Violence, S.78-83. 256 Goebbels, Kampf, S.60.
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Zum ersten Aspekt: Im italienischen Fall ging die Lahmlegung des politischen Gegners ungleich weiter als bei der SA, denn hier schreckte man nicht vor Angriffen auf staatliche Behörden und gewählte Volksvertreter zurück. Dies hing vor allem - wie noch in Abschnitt 2.4 zu zeigen sein wird - mit der mangelnden Durchsetzungskraft des staatlichen Gewaltmonopols in Italien zusammen. Auf dem Lande handelten die Squadristen offensichtlich im Interesse der agrari und wurden teilweise auch von diesen dafür bezahlt, dass sie gegen die Funktionäre, Vereinigungen und Institutionen der Arbeiterbewegung vorgingen. Die Aktionen der Squadristen waren somit, im Unterschied zu denen der SA, stärker mit den Interessen der lokalen wirtschaftlichen Eliten verbunden, trugen Momente einer effizienten Systematik und stärkere staatsfeindliche Züge. Dies konnte bis zur konkreten lokalen Machteroberung fuhren. Die SA vermied dagegen die offene Konfrontation mit den staatlichen Organen, 257 da das Gewaltmonopol des deutschen Staates weit weniger geschwächt war und ihre Kooperation mit den deutschen Behörden und Polizeieinheiten deutlich geringer war als in Italien. Dass dieser Unterschied zusätzlich auf einer etatistischen Mentalität fußte, ist angesichts der von den SA-Männern artikulierten Staatsverachtung nicht zu vermuten. Während die SA ihre Aktionen in einen engen Zusammenhang mit der Wahlpropaganda stellte, waren die Aktionen der Squadristen nicht so weitgehend in diesen Kontext einzuordnen. Obgleich sich auch die squadristischen Aktivitäten während der Wahlperioden deutlich verstärkten - vor allem um den Erfolg der sozialistischen Organisationen einzudämmen 2 5 8 - , blieb ein deutlicher Unterschied zur SA bestehen. Die SA unterstützte ihre Partei gerade zu Wahlkampfzeiten, da die NSDAP, im Unterschied zur PNF auf den Erfolg bei politischen Wahlen angewiesen war, um ständigen Druck auf das politische System der Weimarer Republik auszuüben. Die PNF hingegen war weniger auf eine entsprechende Fraktionsstärke angewiesen, da der italienische Parlamentarismus durch den parteiübergreifenden Politikstil des trasformismo und die personalistischen wie korrupten Bindungen des clientelismo geprägt war. 2 5 9 Eine offensichtliche Ähnlichkeit bestand darin, dass die zu Wahlkampfzeiten ausgeübte faschistische Gewalt die demokratischen Wahlen verhöhnen sollte. Sie bezweckte, die politischen Konflikte im gegebenen repräsentativen 257 Einige Beispiele für Angriffe der SA auf die Polizei bei Fischer, Stormtroopers, S.191. 258 Alberghi, S.363; Cavandoli, S.143-147; Colarizi, S.153; Segre, Balbo, S.59. Vgl. das Telegramm des Ministerpräsidenten Giolitti an die norditalienischen Präfekten vom 20.4.1921, in: ACS, Mdl, DGPS, AGR, CA 1921, cat. Gl, busta 108, :fasc. Nr.l: „Fascio di combattimento. Reggio Emilia". 259 Vgl. Galli, Giorgio: I partiti politici, in: Italia 1861-1983. Turin 1983, S.148; Fritzsche, Politische Kultur, S.52-59; Priester, Karin: Der italienische Faschismus. Ökonomische und ideologische Grundlagen. Köln 1972, S.27.
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System als unlösbar hinzustellen. Somit repräsentierten die faschistischen Bewegungen, indem sie der politischen Gewalt einen hohen Stellenwert einräumten, einen Antitypus gegenüber den für Parteipolitik typischen Kompromissverhandlungen. Eine weitere Gemeinsamkeit bestand darin, dass in beiden Fällen die sozialistischen Organisationen und Funktionäre die Hauptgegner und -ziele der faschistischen Kampfbünde waren. Zumeist stellten die Kampfbündler ihren Kampf als reaktive Vorgehensweise gegen eine vorausgegangene Gewalt der Kommunisten und Sozialisten dar. Im italienischen Fall war diese Apologie noch weniger berechtigt als im deutschen Fall. Die italienischen Faschisten erreichten schon vor der Machtübertragung von 1922 die weitgehende Zerschlagung der sozialistischen Arbeiterorganisationen und waren somit spätestens seit Mitte 1921 in keiner defensiven Lage mehr, während die Nationalsozialisten dieses Ziel erst 1933/34, im Zuge der Konsolidierungsphase des Regimes, erreichten. 260 Die SA hatte sich wesentlich stärker mit kommunistischen Angriffen und Überfällen auseinanderzusetzen als ihre squadristischen Kameraden im italienischen 'Bruderland'. Von einer reaktiven Gewalt kann aber auch bei der SA nicht die Rede sein, da sich Gewaltaktionen gegen das weite Spektrum der Arbeiterbewegung richteten und keineswegs auf die gewalttätigen Kommunisten beschränkt blieben. Die Gewaltaktionen der SA lassen sich somit nicht, wie zuweilen behauptet wurde, auf eine „legitime Gegenreaktion" oder Verteidigungshaltung gegen die vorgängige kommunistische Gewalt reduzieren. 261 Beim zweiten Aspekt, dem inneren Zusammenhalt der Kampfbünde durch gewalttätige Aktionen, wird man weitgehende Übereinstimmungen konstatieren können. Wenngleich sich der italienische Squadrismus stärker volkskultureller Gewaltformen bediente und in der SA vor allem paramilitärische Riten gepflegt wurden, so war es doch vor allem die Gewalttat selbst, die die Gruppen zusammenschweißte. Joseph Goebbels drückte diesen Zusammenhang lakonisch aus: „Blut kittet aneinander." 262 Damit wird tatsächlich der interne Bindungsmechanismus benannt, der durch die Komplizenschaft bei den gemeinsamen Mordaktionen entstand. Durch die gemeinschaftlich verübte Gewalttat war jeder mitverantwortlich, zumindest hörte man in Bar und Sturmlokal von den Blutnächten und war somit zum Mitwisser in einem durch Gewalt bestimmten Organisationsleben geworden.
260 Zu den gewalttätigen SA-Aktionen nach dem Januar 1933 siehe: Fischer, Stormtroopers, S.178-205; Sauer, Mobilmachung, S.862-880; Longerich, Bataillone, S.165-179; Erb (Hrsg.), S.84-266; Bessel, Political Violence, S.98-105, 109-116; Bräutigam/Gliech, S.141-178; Gliech, S.144-193; Panitz, Eberhard: Tatort Köpenick. Blutwoche. Juni 1933. Berlin 1993. 261 Dazu ausfuhrlich: Kapitel 2.1 und Kapitel 4.5. 262 Goebbels, Das erwachende Berlin, S.126. Ähnlich Banchelli, S.22.
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Wichtig war, dass die Männer der Kampfbünde gemeinsam, quasi arbeitsteilig, ihre Gewalttaten ausübten. Die kollektive Aktion duldete keine „Unschuldigen". Jeder Kampfbündler, der in einer Kleingruppe bei einem Zusammenstoß beteiligt war, nahm auch aktiv an der Schlägerei, Messerstecherei oder Schießerei teil. Insofern stellten die gemeinsam betriebenen Gewalttaten eine eminent einigende Kraft dar. Gewaltsozialisation und kriminelle Komplizität verschmolzen in den Kampfbundgruppen. Ein Gewalt favorisierender Ehrenkodex und die Gewöhnung an die Gewalt bildeten zwei Seiten derselben Medaille. Durch die Permanenz der Gewaltausübung wurde die Gewalt routinisiert und zu einem Wert an sich. Die sinnstiftenden Elemente stellen sich durch die einfache Wiederholung der Gewalttat ein. Die faschistischen Gewaltbünde wurden so zu „Rackets" (Horkheimer), die einzig dem Gesetz der Selbsterhaltung folgen. 2 6 3 Zum dritten Aspekt: Die Darstellung des Faschismus als vermeintlichen Erretter vor der „roten Gefahr" war der Ruhmestitel, aus dem man innenpolitisch am meisten Gewinn gezogen hatte. Gleichwohl kam der Faschismus keineswegs durch den Einsatz seiner Kampfbünde an die Macht. Es waren vielmehr die Schwäche der beiden Staaten, die soziale Desintegration beider Gesellschaften, sowie die Zersplitterung und mangelnde Bündniswilligkeit des Liberalismus wie des demokratischen Sozialismus, die ihm zur Macht verhalf. Dennoch machte der Massenaufmarsch der Kampfbünde beim italienischen wie deutschen Bürgertum Eindruck. Vor allem die antikommunistische Stoßrichtung verhalf den Straßenkämpfertruppen zu einer stillen Duldung und Reputation auch bei den gemäßigten Teilen des Bürgertums. Der durchaus beabsichtigte symbolische Aspekt, mit Schlägerei, Brandschatzung und Mord einen kommunikativen Appell und eine expansionistische Rechtfertigung zu verbinden, in denen die Nachricht transportiert wurde, dass alle „Feinde der Nation" unbarmherzig ausgeschaltet werden, stieß durchaus auf Widerhall, wenngleich meist nur verhalten oder gar stillschweigend. Das entschiedene Handeln implizierte gegenüber dem Bürgertum das Versprechen einer projektiven Ordnung und trug zu einer Totalisierung des politischen Freund-Feind-Denkens bei. Auch dass der Faschismus eine populäre Sammlungsbewegung zu organisieren vermochte, beeindruckte die bürgerliche Politik, der eben dieser massenhafte Rückhalt und damit die Möglichkeit zu moderner Politikführung fehlte. 264
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Horkheimer, Rackets, S.287-291. Vgl. Tasca, S.215/216; Balbo, Marsch, S.165; Riekenberg, Michael: Fuzzy systems. Max Horkheimer und Gewaltkulturen in Lateinamerika, in: Ibero-Amerikanisches Archiv 25, 1999, S.309-324. 264 Vgl. Petersen, Problem, S.338-340; Melograni, Gli industriali e il fascismo, S.315; Zamagni, S.241; Raschke, Soziale Bewegungen, S.307; Weisbrod, Gewalt in der Politik, S.391-404; Schumann, Politische Gewalt, S.361-368.
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2.2.3 Machtpropaganda In beiden Fällen stellte die faschistische Gewalt eine „Machtpropaganda" (Hannah Arendt) dar, die der Bevölkerung klarmachen sollte, dass die Macht der Faschisten größer war als die der Regierungen. Die Politik-Arena der Straße brachte dabei die Machtkämpfe räumlich, körperlich und visuell zusammen. Die Faschisten demonstrierten die Machtverhältnisse, indem sie ihre Ordnungskompetenz auf der Straße zur Schau stellten. Die Gewalt selbst wurde dadurch zur politischen Propaganda. Der Kult der Gewalt und Aktion, die Erzeugung und Verabsolutierung von Hass und Feindschaft setzte auf Zustimmung in den brutalisierten Nachkriegsgesellschaften. 265 Immer wieder changierte der Faschismus zwischen populistischem Bemühen um Konsens und nackter Gewalt, ohne die beiden Prinzipien jemals in einen geregelten Einklang bringen zu können. Mussolini formulierte diese politische Formel im März 1923 so: „Sobald der Konsens fehlen sollte, bedarf es der Gewalt (forza)." 266 Konsens meinte hierbei den plebiszitären Regierungsstil, der sich vorrangig der Mittel einer emotional ausgelegten Massenbeeinflussung bedienen wollte. Mit „forza" war dagegen eine sematische Umschreibung der gewaltsamen Unterdrückung gemeint. Diese binäre Opposition der zwei Prinzipien von Inklusion und Exklusion kennzeichnete die faschistischen Bewegungen, die als Massenbewegungen um Mitgliederzuwachs und Wahlunterstützung bemüht waren und zugleich Gewalt anwandten, die, gerade weil sie klare Ausgrenzungen markierte, nach innen hin werbende Wirkung entfaltete. Zudem sollte der Massenterror der SA, der die gegnerischen Parteien angriff, der Bevölkerung beweisen, dass die bloße Mitgliedschaft in den Organisationen der Arbeiterbewegung bereits eine gefährliche Sache war. Der squadristischen Gewalt kam hingegen die Doppelfunktion von Machtpropaganda einerseits und effektiver Entmachtung sozialistischer Funktionäre andererseits zu. Zweifellos gehört es zu den allgemeinen Kennzeichen sozialer Bewegungen, dass sie die Straße als Arena und Medium politischer Willensbildung und -bekundung benutzen. So nutzte auch der Faschismus - und dies unterstrich seinen Bewegungscharakter - vornehmlich die Straße und den öffentlichen Raum als zentrale Arena für seine Propaganda, also fur die Bekundung seines Willens zur Macht. Die Faschisten nutzen deswegen diejenige piazza, die im Zentrum der Stadt lag oder demonstrierten in größeren Straßenzügen beziehungsweise auf den zentralen Kirchplätzen, um ihre öffentliche Bedeutung herauszustreichen.
265 Arendt, Elemente, S.549/550. 266 Zitiert nach dem Beitrag von Wolfgang Schieder, in: Der italienische Faschismus, S.64.
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Mit der physisch-symbolischen 'Argumentation' auf der Straße stellte man die verbale Argumentation der parlamentarischen Elitenpolitik in Frage. Körper- und Massenpolitik wurden als Formen unmittelbarer politischer Repräsentation vorgestellt. Propaganda wurde damit zur Grundsubstanz des aktivistischen Politikverständnisses der Faschisten. Die Straße war nach Goebbels das „Charakteristikum der modernen Politik", denn, so Goebbels weiter, „wer die Straße erobern kann, der kann auch die Massen erobern". 267 Die Attraktivität, die die Straßengewalt der faschistischen Kampfbünde ausstrahlen konnte, zeigt, dass die überkommenen Vermittlungsmechanismen von der Politik in die Gesellschaft ihre Wirksamkeit verloren hatten. Die autoritäre Apparatpolitik und die alte, elitäre Honoratiorenpolitik führten zu einer immer größeren Entfremdung der Basis und bewirkten eine massenhaften Radikalisierung und Militarisierung der immer wichtiger werdenden Straßenpolitik. Diesen Desintegrationsprozess, der schon am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte und die Politik zunehmend auf die Straße verlegte, 268 nutzten und beförderten die faschistischen Kampfbünde. Die massenhafte Beteiligung an der Straßenpolitik in Verbindung mit spezifischen - aufgrund ihrer antisozialistischen und nationalistischen Stoßrichtung weitgehend gedulteten - symbolischen Gewaltformen konnte erst durch die Faschisten in den durch den Ersten Weltkrieg brutalisierten Gesellschaften als legitime Politikform popularisiert werden. Die Krise der überkommenen Apparatpolitik, die sozioökonomischen Probleme und die innere Verweigerung des Friedens begünstigten diese sich ständig wiederholenden Formen organisierter politischer Straßengewalt, die Anschluss fanden an mystische Elemente eines Kriegskultes und diesen im Namen der Jugend proklamierten.
267 Goebbels zitiert nach Roegels, S. 12. 268 Vgl. Isnenghi, Italia, S.207-300; Farneti, S.29-31; Lindenberger, S. 173-384; Mosse, Nationalisierung.
Polykratische Verhältnisse
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2.3 Polykratische Verhältnisse: Die Kampfbünde zwischen Konflikt und Kooperation mit den faschistischen Parteien Das den Straßenkämpfern immer wieder vermittelte Gefühl, dass sie den grundsätzlichen Kurs des Faschismus bestimmten und in entscheidender Stunde den gewaltsamen Umsturz herbeifuhren könnten, dass sie allein die Elite seien, die das Rückgrat und den „Geist" der Bewegung verkörperten, charakterisierte das Propagandabild des deutschen wie des italienischen Faschismus. Die fur den Faschismus typische Militarisierung der Parteipolitik manifestierte sich in Italien im Squadrismus und in Deutschland in der SA. Tatsächlich gelang es sowohl dem Nationalsozialismus als auch dem italienischen Faschismus, durch die ubiquitäre Präsenz ihrer Kampfbünde den Eindruck zu erzeugen, dass es sich bei ihnen nicht um politische Parteien herkömmlichen Zuschnitts, sondern um politische Bewegungen handelte. Hinsichtlich des Zusammenhanges von politischer Strategie und gewalttätiger Aktion stellte dies beide Bewegungen vor verschiedene Zielkonflikte. Während einerseits der politische Arm der Bewegung darauf bedacht war, durch Verhandlungen mit den konservativen Eliten regierungsfähig zu werden, so war andererseits fiir diese Verhandlungen der Massenanhang als politische Karte einzusetzen. Dabei stützten die Gewaltaktionen des milizionären Teils des Faschismus das faschistische Propagandabild einer Erneuerung, die sich gleichermaßen auf Radikalität, Intransigenz und Aggressivität berief. Zumindest in Italien trugen die Gewaltaktionen dazu bei, lokale Vorherrschaften der Faschisten gegenüber den Arbeiterorganisationen durchzusetzen. Zudem kamen solche Aktionen der antikommunistischen Haltung weiter Teile des italienischen wie des deutschen Bürgertums entgegen. Jedoch mussten die Gewaltaktionen soweit gedämpft bleiben, dass sie die politischen Eliten nicht verschreckten und diese ihrerseits eine faschistische Revolution befurchten mussten. Inwiefern schlug sich diese Zieldivergenz in den Konflikten zwischen Partei und Kampfbund nieder und inwiefern ähnelten oder unterschieden sich die politischen Strategien des italienischen und des deutschen Faschismus? 2.3.1 Parteioffizielle Aufgaben des Squadrismus und der SA Im Frühjahr 1920 hatten die lokalen Fasci paramilitärische Einheiten aufgebaut. Diese als squadre d'azione bezeichneten Einheiten existierten vor allem in verschiedenen Teilen Norditaliens. Die stärkste squadra bestand in dieser Gründungsphase in der Grenzstadt Triest. 269 Diese zunächst informell organisierten Squadren seien, so hieß es im „Popolo d'Italia" vom Juli 1920, 269 Payne, History, S.95.
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weder „legal um jeden Preis, noch von vornherein antilegal". Sie, so hieß es weiter, „predigen nicht die Gewalt um der Gewalt willen, aber sie beantworten jedwede Gewalt durch vorübergehende Gegenangriffe". 270 Das organisatorische Verhältnis der Squadren zu den Fasci war de facto ungeklärt, da sich die Mitgliedschaft in einer squadra und einem Fascio überschnitten. Jeder Fascio der Bewegung, so wurde Ende 1920 angewiesen, sollte eine aktive squadra gründen, die eine „unteilbare Einheit mit dem fascio " bildet. Die Squadren sollten sich aus den „mutigsten und verwegensten" jedes Fascio zusammensetzen.271 Diese aktiven Squadren hingen politisch vom Direktorium der Fasci ab. Auf dessen Bitte hin wurden sie zur Verteidigung der „höchsten Interessen der Nation", konkret zum Losschlagen gegen die politischen Feinde (die sovversivi, die Kommunisten und Sozialisten) und zum Angriff auf deren Institutionen mobilisiert.272 Dabei wurde den regionalen Organisationen der squadre di combattimento, laut Organisationsanweisungen, eine „maximale Autonomie überlassen".273 Die Anweisungen basierten somit auf einem dualen Autoritätssystem. Die Squadren unterstanden zwar politisch dem Direktorium des Fascio, im Hinblick auf die Durchführung der Aktionen und Disziplinarfragen waren sie aber ihrem eigenen Kommando überlassen. Inwieweit die Squadren somit im Einzelfall den Anweisungen der politischen Bewegung Folge zu leisten hatten, war nicht nur durch die starke organisatorische Verschränkung beider Einheiten schwer zu entscheiden, sondern auch deswegen, weil Militanz und Politik in der Mentalität der faschistischen Bewegung ineinandergriffen. Die 1921 gegründete SA war nach dem Fehlschlag des Hitler-Putsches von 1923 verboten worden. Eine legale Neugründung konnte erst 1925 erfolgen. Aus den entsprechenden Anweisungen Hitlers vom 26. Februar 1925 geht hervor, dass die SA nunmehr vor allem eine Parteitruppe sein sollte. Denn sie diene „der Stählung des Körpers unserer Jugend, Erziehung zur Disziplin und Hingabe an das gemeinsame Ideal, Ausbildung im Ordner- und Aufklärungsdienst der Bewegung". 274 Auch im zweiten SA-Befehl aus dem 270 Popolo d'ltalia vom 3.7.1920. 271 Schreiben von Enrico Di Pietro vom 11.11.1920, in: ACS, MRF, CC, busta 22, fasciolo „Agnone"; zitiert nach Gentile, Storia, S.481. 272 ACS, Mdl, DGPS, CA, 1922, fasc.: Fasci di combattimento, busta 101: Der Präfekt von Padua an den Innenminister DGPS vom 18.4.1922; Chiurco, Storia, Bd.4, S.485-495. Siehe auch Gentile, Problem, S.254; Gentile, Storia, S.534/535; Tasca, S.195. 273 ACS, Mdl, DGPS, CA, 1922, fasc.: Fasci di combattimento, busta 101: Der Präfekt von Padua an den Innenminister DGPS vom 18.4.1922. 274 Völkischer Beobachter Nr.l vom 26.2.1925 („Grundsätzliche Richtlinien für die Neuaufstellung der NSDAP"), auch abgedruckt in RSA, Bd.I, S.7-9. Vgl. Werner, S.299; Longerich, Bataillone, S.48. Zu Hitlers Bestätigung dieser Gründungsabsichten im September 1930 siehe: Bucher, S.244/245, 249/250.
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Jahre 1926 wurde diese Zielrichtung bekräftigt. Auch hier hieß es, dass die SA lediglich „Mittel zum Zweck" sei. 275 Der defensive Ton dieser Beschlusslage, der die SA als waffenlose Propaganda- und Saalschutzgruppe definierte, verarbeitete die Erfahrungen des gescheiterten Aufstandes. Die in den Monaten zwischen dem Putschversuch und der Neugründung versuchte Bildung eines Wehrverbandes durch Ernst Röhm wurde bewusst zurückgestellt. Seit 1925 wurde in den offiziellen Beschlüssen und Anordnungen der Partei durchgängig verfugt, dass es den SA-Abteilungen verboten sei, sich zu bewaffnen, und - widrigenfalls - die bewaffneten Einheiten und SA-Männer aus der Partei auszuschließen seien. 276 Das Verhältnis der SA zur politischen Organisation wurde zunächst so geregelt, dass die Sturmabteilungen den örtlichen und regionalen Parteiführern unterstellt waren, die der SA ihre Aufgaben zuwiesen. Aber schon 1926 bildeten sich unabhängige und selbständige SA-Führungsstellen. Grundsätzlich sollte die jeweilige NSDAP-Leitung über den öffentlichen Einsatz der SA bestimmen. Die Ausführung des Einsatzes und die sogenannten SA-internen Angelegenheiten (Finanzverwaltung, Führerernennung, Uniformierung) sollten aber für die Partei tabu sein. Im Jahre 1927 wurde die organisatorische Aufteilung verstärkt. So wurde etwa verfugt, dass die Politischen Leiter nicht in die SA eintreten sollten. Auch der Ausschluss aus der SA war seit Mai 1930 eine interne Angelegenheit. Im November 1930 wurde die organisatorische Selbständigkeit der SA durch Hitler ausdrücklich bestätigt. 277 Letztlich schuf dies für die einfachen Mitglieder, die NSDAP und SA zugleich angehörten, eine komplizierte doppelte Loyalität, die sich de facto entweder stärker der SA oder der Partei zuneigte. Schon in der ersten Organisationsanweisung Hitlers zeigt sich eine auch für die späteren Jahre charakteristische Zwitterstellung der SA. Einerseits verzichtete Hitler ausdrücklich auf einen bewaffneten Aufstand, andererseits wurde die SA als der gewaltsame „Sturmbock" der Bewegung charakterisiert, dem die Erziehung zum „unbändigen Willen zur Tat" zufalle und der
275 Werner, S.374-376; Bennecke, Hitler, S.247; Horn, Führerideologie, S.310. Auch: G R U S A III vom 3.6.1927, in: RSA, Bd. II, Teil 1, S.335. 276 Siehe nur: RSA, Bd. II, Teil 1, S.7-9 (Grundsätzliche Richtlinien fur die Neuaufstellung der NSDAP, Anordnung vom 16.2.1925); RSA, Bd.lII, Teil 1, S.295 (Parteibefehl vom 3.12.1928); Richtlinien der Sturm-Sport-Abteilung ( S A ) der Nationalsozialistischen deutschen Arbeiter-Partei, ohne Datum [spätestens Mitte 1927], in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.309, fol.123 (M). Zu Röhms Militarisierungsbemühungen im Notbann und Frontbann siehe: Jablonsky, S.367-386; Rüffler, S.161-168. 277 G R U S A III vom 3.6.1927, in: RSA, Bd. II, Teil 1, S.335/336; G R U S A VIII vom 10.5.1930, in: RSA, Bd.IIl, Teil 3, S.188-193; SA-Anordnung Hitlers vom 13.11.1930. in: RSA. Bd.IV, Teil 1, S.88/89. Vgl. BLHA, Rep.2 Α Pol. Nr.2134, fol.484; Wagener, S.60: Horn. Führerideologie, S.288, 310, 405; Werner. S.375/376; Bennecke, Hitler, S.247/248.
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jederzeit in der Lage sein sollte, „selber offensiv vorzugehen". 278 Dazu traten körperliche Jugendertüchtigung und geistige Erziehung „zur Disziplin und Hingabe an das gemeinsame große Ideal", das nicht näher definiert wurde. Die SA sollte eine Parteitruppe sein, deren propagandistischer Wert nach außen hin darin bestand, dass sie erstens den Versammlungsschutz organisierte und zweitens durch Märsche, Umzüge und Verteilen von Flugschriften ein diszipliniertes Außenbild des Nationalsozialismus repräsentierte, um die „innere Organisation selbst [so] zu erhalten [...], daß sie niemals zerfällt". 279 Ein dritter Aufgabenkreis bestand im Straßenkampf. Schon 1926 wurde in einem wahrscheinlich von Hitler selbst verfassten Aufsatz mit dem Titel „Grundsätzliche Betrachtungen über Bestimmung, Organisation und Ausbildung" der SA der letztgenannte Aufgabenkreis deutlich präzisiert. Neben der Beobachtung einzelner Personen, Organisationen und der Presse der „feindlichen Seite" sollte auch die Flugblatt- und Plakatpropaganda durch das „Niederreißen gegnerischer Pamphlete" ergänzt werden. Wie üblich wurden die Abonenntenwerbung, die Geldeinwerbung durch Sammelbüchsen, der Versammlungsschutz und die Propagandaumzüge „durch Stadt und Dörfer" erwähnt. Zugleich wurde jedoch in scharfem Ton die Sprengung der gegnerischen Versammlungen zum Aufgabenkreis gezählt. „Das nächste Ziel muß sein", hieß es, „Erdrosselung [sie!] jedes volksfeindlichen Beginnens, Zerstörung und Beseitigung von Lüge und Gift, die Erringung der Herrschaft über die Straße." 280 Die eigentümliche Mischung aus bündischer, militärischer und ParteiStruktur, die beide Bewegungen kennzeichnete, ließ hier wie dort ungeklärt, wie weit die Kompetenzen der paramilitärischen Kampfbünde im Einzelnen 278 Völkischer Beobachter Nr.l vom 26.2.1925 („Grundsätzliche Richtlinien für die Neuaufstellung der NSDAP'). 279 Zitat: Rede Hitlers vom 2.9.1928, in: RSA, Bd.III, Teil 1, S.49/50. Zum Zweck der SA siehe: GRUSA Nr.2 vom 31.5.1927, in: RSA, Bd.I, Teil 1, S.326-329; BAB (ehem. BÄK), Sammlung Schumacher, Bd. 403, ohne fol. (OSAF, Stellvertreter Süd vom 19.9.1930, „Stellungnahme zur vorgesehenen Um-Organisation der SA-Führung"); BLHA Pr. Br. Rep. 2 A I Pol. Nr.2135, fol.231/232; „Die SA. Ihr Sinn und Zweck", in: Der SA-Mann Nr.29 vom 7.9.1929 (Beilage des Völkischen Beobachters Nr.207 vom 7.9.1929). 280 H. [Autorenkürzel]: „S.-A. Grundsätzliche Betrachtungen über Bestimmung, Organisation und Ausbildung", in: Nationalsozialistische Briefe vom 15.9.1926 (24. Brief), in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.309, fol.72c (M). Bei der Vernehmung von NSPersönlichkeiten durch Beamte im Polizeipräsidium in Gleiwitz sagte einer der Vorgeladenen aus, dass die Informationen der NS-Briefe von einfachen Parteimitgliedern fur verbindlich gehalten würden. Zur Autorenschaft sagte er: „Ich nehme bestimmt an, dass der Buchstabe Ή ' Hitler bedeutet." (Schreiben des Oberpräsidenten der Provinz Oberschlesien an den Preuß. Minister des Innern vom 5.3.1927, in: GStA PK, 1. HA, Rep. 77, Tit.4043, Bd. 309, fol. 115 (M)). Goebbels selbst, der Schriftleiter dieses Blattes, gab anläßlich einer polizeilichen Vernehmung am 11.1.1927 an, sich nicht zu erinnern, wer den Artikel schrieb: „Ich vermag im Moment nicht zu sagen, wer der Verfasser des Artikels ist." Ebd., fol. 90. Vgl. Hitlers Aussage gegenüber Wagener (Wagener, S.94).
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gingen, welche Zuständigkeiten sie im Einzelfall beanspruchen konnten und wie weit ihr Einfluss in der Bewegung reichte. Die Beschlusslage der NSDAP war der äußeren Form nach vorsichtiger, da verfugt wurde, dass die SA-Einheiten keine Waffen tragen dürften. Solch eine Anweisung fehlte für den Squadrismus, wenn auch keineswegs offiziell von der Parteileitung gefordert wurde, daß sich die Einheiten zu bewaffnen hätten. In der politischen Praxis der NSDAP erfolgte in der überwiegenden Zahl der Fälle jedoch kein Parteiausschluss, obwohl das Tragen von Waffen in der SA untersagt war und mit dem Ausschluss geahndet werden sollte. 281 Im „Angriff behauptete man dennoch im September 1931: „Bekanntlich schließt sich aus der SA jeder aus, der dem Befehle Adolf Hitlers zuwiderhandelt und eine Waffe bei sich fuhrt". 2 8 2 Solcherlei fadenscheinige Bekundungen verfehlten offenbar dennoch nicht ihre Wirkung, denn während der RFB am 1. Mai 1929 auf der Grundlage des Entwaffnungsgesetzes verboten wurde, wurde gegen die SA nicht eingeschritten, obwohl Waffenfunde dazu Anlass gegeben hätten. 283 Dennoch mag die grundsätzlich stärkere Stellung des deutschen Staates dazu gefuhrt haben, dass sich die SA organisatorisch seit 1925 sukzessive von der NSDAP trennte. 284 Diese organisatorische Abgrenzung und Entflechtung fehlte im italienischen Faschismus. Hinsichtlich der inneren Verwobenheit von Miliz und Partei glich der italienische Faschismus mehr der frühen nationalsozialistischen Bewegung aus der Zeit bis 1923. Jenseits der formalen Beschlusslage ist weiterführend danach zu fragen, wie sich die Parteileitungen beider Bewegungen zu Bedeutung und Zweck ihrer paramilitärischen Kampfbünde verhielten und wie die Parteiführer ihren Kampfverband unter den Aspekten der Gewalttätigkeit, Revolution und Legalität sahen. 2.3.2 Das taktische Verhältnis der Parteiführer zu ihren Kampfbünden Von Beginn der faschistischen Bewegung bis in das Frühjahr 1921 hinein betonte Mussolini, von zeitweiligen Ausnahmen abgesehen, die Gewalttätigkeit der faschistischen Gesamtbewegung und unterstützte die Gewaltsamkeit 281 Rüffler (S.183-187, 190/191, 194, 293-296) erwähnt insgesamt 96 Fälle, in denen das Waffentragen durch Polizei und Justiz nachgewiesen wurde, aber dennoch kein Parteiausschluß erfolgte. Vgl. dazu Nolzen, Parteigerichtsbarkeit, S.965-989; Staat und NSDAP, S.78-81, 225; Vorwärts (MA) vom 18.8.1931, 2. Seite der 1. Beilage. 282 Angriff vom 16.9.1931, 5. Seite der 1. Beilage. 283 Vgl. dazu Rüffler, S.193/194; Höner, S.158. 284 Zur Verschmelzung von SA und NSDAP vor 1923 siehe: Nachrichten-Blatt des Oberkommandos der SA vom 26.10.1923, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.68I2. Heft „Auflösung der SA", fol. 32. Zur Entflechtung nach 1925: Denkschrift „Zur Frage der Legalität oder Illegalität derNSDAP", in: StAM Pol. Dir. München Nr.6818, fol.33.
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des Squadrismus. Dass der Generalstabschef der MVSN, Attilio Teruzzi, die Haltung Mussolinis damit wiedergab, dass dieser der ,,elende[n] Kaste der herrschenden Politiker [habe] an die Kehle springen" wollen, wenn sie ihm nicht die Regierung überließen, war kein Zufall. 2 8 5 Im Frühjahr 1921 ließ sich Mussolini im „Popolo d'Italia" mit ganz ähnlichen Aussagen vernehmen. Am 28. Januar erklärte er, es läge auf der Hand, „daß die Faschisten ihre Reihen schließen müssen, dass sie ihre Organisation in jeder Hinsicht perfektionieren müssen und dass sie - sobald sich die Gelegenheit bietet - in den Haufen dreschen müssen, ohne sich der überflüssigen Mühe zu unterwerfen, zu unterscheiden, wer getroffen wird und wer nicht". Am 5. Februar dann: „Es gibt nur ein Mittel: tüchtig zuschlagen. Und wir vertrauen darauf, dass Rausch und Nebel aus den Gehirnen weichen werden, je mehr Schläge die Schädel empfangen". Am 3. Mai erklärte er in einer Rede in Mailand: „Ins Parlament wird eine Patrouille von Faschisten gehen, die von Aggressivität erfüllt ist [...] Und diese werden den Pussisten [Mitglieder der sozialistischen Partei, S.R.] des ganzen zoologischen Gartens sagen: wenn ihr versucht, unsere Arbeit und die Arbeit der Nation zu sabotieren, dann werden wir euch hier und anderswo auf faschistische Weise die Knochen zerbrechen." 286 Und schließlich schrieb er am Folgetag, wiederum im „Popolo d'Italia": „Wir werden, solange es notwendig sein wird, die Schädel unserer Gegner in mehr oder minder delikater Weise mit Prügeln traktieren, bis die Wahrheit sich in ihren Gehirnen einen Weg gebahnt haben wird." 2 8 7 Dass Mussolini gerade im Frühjahr 1921 mit solchen Äußerungen zu vernehmen war, ist nicht verwunderlich, denn in dieser Zeit erlebte der gewalttätige Squadrismus einen kräftigen Aufschwung und eroberte immer mehr Regionen Nord- und Mittelitaliens. Gleichwohl ließ Mussolini offen, ob sich die Gewalt in putschistischer Absicht gegen Staat und Regierung richten sollte. Nachdem Mussolini erkannt hatte, daß sich der faschistischen Bewegung Chancen eröffneten, auf dem Verhandlungswege zur Macht zu gelangen, veränderte sich seine Tonlage. Bei den Wahlen vom 15. Mai 1921 hatten die Faschisten zusammen mit den Liberalen erfolgreich auf den gemeinsamen Wahllisten der „blocchi nazionali" kandidiert. 35 Faschisten zogen in das Parlament ein. Mussolini warnte nunmehr davor, das „Ausmaß des [faschistischen] Sieges noch übersteigern zu wollen" und bekräftigte die republikani285 Teruzzi, Attilio: Die freiwillige fascistische Miliz, in: Europäische Revue 8, 1932, S.733. 286 Einen guten Monat später, am 13. Juni, hatten die faschistischen Abgeordneten, alle mit einem Revolver ausgestattet, tatsächlich den Kommunisten Francesco Misiano aus dem Parlamentsgebäude vertrieben, ohne dass sie fur ihre Tat strafrechtlich belangt wurden (11 Parlamento Italiano, Bd. 10, S.7; Tasca, S.17I). 287 Zur Mailänder Rede, dem „Discorso di Piazza Belgioioso": Mussolini, Opera Omnia, Bd. XVI, S.299/300. Die Zitate Mussolinis aus dem „Popolo d'Italia" sind bei Tasca, S.169 wiedergegeben.
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sehen Tendenzen des Faschismus. 288 Die sozialistischen Organisationen waren nach den Gewalteskalationen im Frühjahr 1921 in großen Teilen zerschlagen worden. Die Gewalt der Squadristen drohte zu dieser Zeit dysfunktional zu werden, da man sie gegenüber dem Bürgertum nicht mehr als reaktive, antisozialistische Maßnahme in Szene setzen konnte. Mussolini erkannte, dass die Instrumentalisierung des bürgerlichen Antisozialismus eine der wichtigsten Waffen des Faschismus war. Wenn aber die faschistische Gewalt diesen Anschein verlor, riskierte man die Isolation der Bewegung. 2 8 9 Um die Jahresmitte 1921 betonte er immer wieder, so am 21. Juni 1921 im „Popolo d'Italia", dass „die Gewalt für uns kein System, kein Ästhetizismus und noch weniger ein Sport" sei. 2 9 0 Besonders im Juli und August 1921 wurde seine Tonlage vorsichtig und er wurde nicht müde, die faschistische Gewalt als eine „Episode" zu bezeichnen. 291 „Der Bolschewismus ist am Boden", ließ er die squadristischen Rebellen am 1. Juli 1921 wissen. Der Faschismus dürfe daher keine gefahrlichen Experimente machen, sondern solle statt dessen versuchen, einen Befriedungspakt mit den Sozialisten abzuschließen. 292 Zudem solle man die Bewegung von jenen Individuen befreien, „die den Faschismus als eine Organisation der Gewalt um der Gewalt willen" interpretieren. 293 Dass damit die Squadristen gemeint waren, verdeutlichte er im August 1921: „Die squadre di azione müssen aus dem Faschismus hervorgehen, und nicht eine Überwältigung oder ein Ersatz desselben sein." 294 Schon Ende Mai begann Mussolini mit den Vorverhandlungen für einen Befriedungspakt (patto dipaeifieazione), den er Mitte Juli mit knapper Not in einer Resolution auf der Mailänder Sitzung des Nationalrats der Fasci durch-
288 Mussolini, Benito: I fascisti saranno all'opposizione, in: Ders.: Opera Omnia, Bd.XVI, S.358-362 (Interview im Giomale d'Italia vom 22.5.1921); Mussolini, Benito: II senso del limite, in: Popolo d'Italia vom 28.4.1921. 2 8 9 Die Richtigkeit dieser Überlegungen zeigt auch der relative Rückgang der finanziellen Zuwendungen an die faschistische Partei durch Banken, Industrie und Handel am Jahresbeginn 1922, der mit der Gewaltwelle der Squadristen korrespondierte (Gentile, Storia, S.437, 620-623). 290 Mussolini, Benito: II primo discorso alia camera dei deputati, in: Ders.: Opera omnia, Bd.XVI, S.431-446. 291 Mussolini, Benito: In tema di pace, in: Popolo d'Italia vom 2.7.1921. Siehe auch Popolo d'Italia vom 1 2 7 . 1 9 2 1 , 20.7.1921, 22.7.1921 und 27.7.1921. Vgl. De Feiice, Mussolini il fascista, B d . l , S.139-142; Cancogni, Storia, S.141/142; Engelmann, Provinzfaschismus, S.96/97. 292 Mussolini, Benito (Interview): La consultazione di Mussolini, in: Popolo d'Italia vom 1.7.1921. Vgl. De Feiice, Mussolini il fascista, B d . l , S.142; Gentile, Storia, S.272/273. 293 Mussolini, Benito: Disciplina, in: Popolo d'Italia vom 24.7.1921. Ähnlich: Mussolini, Ritomo al prineipio, in: Popolo d'Italia vom 27.7.1921. 2 9 4 Mussolini, Benito: I nuovi orizzonti del fascismo, in: Ders.: Opera omnia, Bd.XVII, S.8486 (Interview mit Redakteuren des „II Resto del Carlino" am 3.8.1921).
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brachte. Die Fasci wurden fortan autorisiert, „überall dort, wo die Lage es erlaubt, lokale Abmachungen mit den Vertretern der Arbeiterorganisationen abzuschließen". 295 Um den bürgerlichen Schichten zu beweisen, dass die Squadristen einen geregelten Wirtschaftsablauf nicht stören würden, um Regierungsfahigkeit zu demonstrieren und um die Kontrolle über die intransigenten faschistischen Bewegungen in der Po-Ebene nicht vollends zu verlieren, initiierte Mussolini den letztendlich am 3. August 1921 in Rom ratifizierten „Befriedungspakt". Vermittelt durch den Kammerpräsidenten Enrico De Nicola, sollte er eine Art Waffenstillstand zwischen den Vertretern des Nationalrats der Fasci, der sozialistischen Partei, den faschistischen und sozialistischen Parlamentsfraktionen und dem Dachverband der Gewerkschaften darstellen. Hierin hieß es unter anderem, dass die Delegationen „sich unverzüglich dafür [..] verwenden, dass Drohungen, Tätlichkeiten, Repressalien, Bestrafungen, Racheakte, Pressionen und persönliche Gewalttätigkeiten jeder Art sofort aufhören". Man verpflichtete sich weiterhin zur „Achtung der wirtschaftlichen Organisationen". 296 Mussolini machte sich in der Öffentlichkeit zunächst für das Abkommen stark und betonte, dass der Befriedungspakt dem politischen gegenüber dem militärisch-kriegerischen Element des Faschismus einen Vorrang verleihe. 297 Eine wirkliche Überzeugung, dass die „italienische Revolution" sich nicht durch einen Angriff auf den Staat vollziehen könne, stellte dies allerdings nicht dar. Die Gewalt erschien ihm in dieser Phase vor allem als notwendiges taktisches Mittel und weniger als ein Wesensmerkmal des Faschismus, denn bis zu den Kongressen der Sozialisten und der katholischen Popolari war nicht abzuschätzen, wie groß die Gefahr einer antifaschistischen Koalition wirklich war. Erst die jeweils im Oktober 1921 organisierten Kongresse offenbarten, dass es bei den Sozialisten eine maximalistische Mehrheit gab, die nunmehr beschloss, dass eine Zusammenarbeit mit einer bürgerlichen
295 Chiurco, Storia, Bd.3, S.441-443. Vgl. dazu auch De Feiice, Mussolini il fascista, Bd.l, S. 139-142; Gentile, Storia, S.258-266; Tasca, S.172-181, 371. Am 22.7.1921 wurden diese Forderungen nochmals auf einer Notversammlung der faschistischen Nationalrates bestätigt (Gentile, Storia, S.269/270). 296 ACS, Mdl, Gabinetto di S.E. Bonomi, Ordine pubblico (1921-1922), Affari Generali, busta 1, fasc. 3 „Fascisti e socialisti - Pacificazione", fol.37-39. Für die Faschisten unterzeichneten: Benito Mussolini, Cesare Maria De Vecchi, Giovanni Giuriati, Cesare Rossi, Umberto Pasella, Gaetano Polverelli und Nicola Sansanelli (ebd., fol.34). Vgl. De Feiice, Mussolini il fascista, Bd.l, S.148/149; Tasca, S.179, 187; Gentile, Storia, S.277279; Farinacci, Faschistische Revolution, Bd.3, S.120. 297 Interview Mussolinis im Corriere della Sera vom 3.8.1921, zitiert nach Tasca, S.180. Vgl. Gentile, Storia, S.257, 265.
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Regierung nicht in Frage käme. Auch auf dem PPI-Kongress in Venedig wurde eine Nicht-Kooperation mit den Sozialisten bestätigt. 298 Im Frühjahr 1922 blieb die politische Situation für Mussolini weiterhin kompliziert und unberechenbar. Er befürchtete, es könne sich jederzeit eine plötzliche Änderung der politischen Lage ergeben. Zur Unsicherheit Mussolinis trugen folgende Entwicklungen bei: erstens die im Februar neu installierte Regierung unter dem Giolitti-Adepten Luigi Facta; zweitens erste Anzeichen, das Bürgertum könne die Angst vor dem roten Umsturz verlieren; und drittens die im Laufe des Jahres 1922 einsetzende Erholung der Wirtschaft (die Entwertung der Lira hatte zu einer steigenden Exportbilanz geführt). 299 Daher wollte und konnte Mussolini sich weder auf den bewaffneten Aufstand noch auf den Verhandlungsweg festlegen. Gleichzeitig stilisierte er seine Unentschlossenheit zur listigen Unberechenbarkeit. Im April 1922 veröffentlichte er einen Artikel im „Popolo d'Italia", in dem er weder den Staatsstreich noch einen Marsch auf Rom ausschloss und gleichzeitig die Möglichkeit zur Koalitionsregierung betonte. 300 Etwa einen Monat später schrieb er in der faschistischen Zeitung „Gerarchia": „Der Faschismus kann das Tor [zur Staatsmacht, S.R.] mit dem Schlüssel der Legalität öffnen, aber er kann auch gezwungen sein, es mit dem Schwertschlag des Aufstandes einzurennen". Die faschistische Revolution werde sich, wie es an einer anderen Stelle dieses Artikels hieß, „sowohl durch langsame Einsaugung auf gesetzlichem Wege als auch durch bewaffnete Erhebung vollziehen können". 301 Eine Haltung Mussolinis, die sich aus der verfahrenen parlamentarischen Situation erklärt. Die Faschisten waren gegen eine Regierungsbeteiligung der „landesverräterischen" Sozialisten, die aber zur Jahresmitte 1922 mit einer solchen Option liebäugelten und sich in der Folge in der Frage zerstritten, ob man bereit sei, sich an einer möglichen Linkskoalition aus Popolari, Demokraten und Sozialisten zu beteiligen. Im Juni 1922 war es jedenfalls noch nicht absehbar, ob der maximalistische oder der reformistische Flügel der Sozialisten obsiegen würde. Mussolini wollte die angesichts
298 Sabbatucci, Giovanni: I socialisti nella crisi dello Stato liberale (1918-1926), in: Ders. (Hrsg.): Storia del socialismo italiano. Rom 1980, S.292-296; Rosa, S.97-102; Malgeri, F. (Hrsg.): GH atti dei congressi del partito popolare italiano. Brescia 1969, S.369/370. 299 De Rosa, S.103-135; De Feiice, Mussolini il fascista, S.247; Candeloro, S.382-384; Zamagni, S.209-218. 300 Popolo d'Italia vom 5.4.1922. 301 Mussolini, Benito: Stato, antistato e fascismo, in: Gerarchia vom 25.6.1922. Hier zitiert nach der deutschen Fassung: Mussolini, Benito: Staat, Anti-Staat und Fascismus, in: Mussolini, Schriften, Bd.2, S.290. 289.
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der Annäherungen der PPI-Parlamentarier möglich scheinende Linkskoalition in jedem Falle verhindern. 302 Noch in seiner letzten Parlamentsrede vor der Machtübertragung, die er am 19. Juli 1922 hielt, ließ er die Frage offen, welcher Methode sich der Faschismus zur Machterringung bedienen solle: „Der Faschismus wird sein innerstes Problem, ob er eine gesetzmäßige Partei (Partito legalitario), d.h. eine Regierungspartei (Partito di governo) oder eine Aufstandsbewegung (Partito insurrezionale) sein will, in Kürze lösen". 303 Ähnlich wie Mitte August 1922 vor dem Nationalrat der Fasci in Mailand erklärte Mussolini noch wenige Tage vor dem sogenannten Marsch auf Rom vor Zehntausenden von Squadristen, er habe durch seine Forderung nach der Reform des Wahlgesetzes und nach Neuwahlen schon einen legalen Weg gewählt. Gleichzeitig degradierte er jedoch das Parlament zum „Spielzeug" des Volkes und erklärte Anfang Oktober vor Squadristen in Mailand: „Alle können wählen, bis zur Langeweile, bis zur Verblödung." Es war kennzeichnend für Mussolini, dass er im gleichen Atemzug vermerkte, dem Faschismus stünde das „legale Mittel der Wahlen", wie auch das „außerlegale Mittel des Aufstandes" zur Verfugung, um zu erreichen, wovon alle Faschisten überzeugt seien: „Der Faschismus muss zum Staat werden." 3 0 4 Eine weitere Konkretisierung jedoch, welcher Mittel man sich bedienen wolle, vermied Mussolini, der sich alle Möglichkeiten zu dem vorrangigen Ziel der Machterringung vorbehalten wollte. Somit konnte er die verunsicherten Führungsschichten Italiens durch die squadristische Gewaltsamkeit bedrohen und zugleich sich diesen als Retter andienen. 305 Mit dieser für den italienischen Faschismus so typischen Vermeidung einer eindeutigen Prioritätensetzung zeigt sich, dass eine Charakterisierung der tatsächlichen Verhältnisse zwischen den Polen der politisch-parlamentarischen Verhandlung und dem bewaffneten Aufstand, zwischen Partei und Kampfbund nur über eine praxeologische Bestimmung vorgenommen werden kann. Obwohl Mussolini zwischen der Jahresmitte 1921 und dem August 1922 immer wieder eine Beteiligung an einer Koalitionsregierung in Erwägung zog, kann kein Zweifel daran bestehen, dass er der parlamentarischen Politik im Grundsatz skeptisch gegenüberstand. Die Äußerung aus seiner ersten Regierungserklärung vom 16. November 1922, in der er vor dem Parlament 302 Zur negativen Meinung der Faschisten gegenüber einer sozialistischen Regierungsbeteiligung siehe Popolo d'ltalia vom 17.6.1922. Zur politischen Situation in der Jahresmitte 1922 siehe Tasca, S.234-237, 241-244. 303 Mussolini, Benito: L'ultimo discorso dal banco di deputato, in: Ders.: Opera omnia, Bd. XVIII, S.291. Die Übersetzung in Mussolini, Schriften, Bd.2, S.295 ist verfälschend. 304 Mussolini, Benito: Rede in Neapel, in: Ders.: Schriften, Bd.2, S.330-339; Mussolinis Erklärung vom 4. Oktober 1922 in Mailand zitiert nach Tasca, S.297; Chiurco, Storia, Bd.4, S.260; Tasca, S.322. 305 Vgl. Schieder, Das faschistische Italien, S.315.
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erklärte, er hätte „aus diesem dumpfen und tristen Saal ein Biwak für seine Scharen machen" können, spiegelt diese grundsätzliche Verachtung symptomatisch wider, denn er fühle sich wie die jungen „Rekruten des Faschismus", über die er im August 1922 lobend befand, dass sie „kämpfen und nicht diskutieren wollen". 306 Hitlers Taktik Ein ähnlich doppelbödiges Verhältnis kennzeichnete die nationalsozialistische Parteileitung. Hitlers Idee von der SA als „politischer Hilfstruppe" im Dienste der Partei, die er bei der SA-Neugründung im Jahre 1925 vertrat, war die nach außen hin vertretene offizielle Beschlusslage, die allerdings zur Einstellung der Parteileitung gegenüber der Gewaltpraxis in der SA nur begrenzte Aussagen erlaubt. Auch die Haltung Hitlers war keineswegs eindeutig, sie schwankte je nach taktischem Ermessen und den realen Machtverhältnissen. Schon allein der paradoxe Begriff der „legalen Revolution" stellte eine künstliche Verbindung zwei einander widersprechender Axiome politischen Handelns dar. In seinen öffentlichen Reden betonte Hitler durchgängig die Legalität der NS-Bewegung. Dies war nicht nur, wie oftmals betont wurde, eine Lehre aus dem gescheiterten Putschversuch von 1923, 307 sondern war auch der Erhaltung der Agitationschancen der Partei geschuldet. Als der damals staatenlose Hitler 1925 in fast allen deutschen Ländern ein Redeverbot erhielt, machte die Partei kaum Fortschritte. Viele Landesregierungen machten die Aufhebung des Redeverbots von einer Legalitätserklärung der Partei abhängig und Hitler scheute sich nicht, diese sowohl öffentlich als auch in Besprechungen mit Regierungsvertretern abzugeben. 308 In dieser Zeit trat Hitler in die Machtpolitik ein und entwickelte einen Sinn für die Möglichkeiten des politi-
306 Mussolini, Benito: II primo discorso presidenziale alia camera dei deputati, in: Ders.: Opera omnia, Bd.XlX, S.17; Popolo d'Italia vom 16.8.1922. 307 Zu den Urteilen der Historiographie vgl. die Literaturangaben bei Rüffler, S.187; Petzold, S.7-41. 308 Beispielhaft: RSA, Bd.Il, Teil 2, 596/597 (Rede am 9.1.1928), S.717-738 (Rede am 3.3.1928 in Karlsruhe); RSA, Bd.IlI, Teil 3, S.177 (Rede vom 2.5.1930), S.338 (Rede vom 15.8.1930), S.359 (Rede vom 18.8.1930); RSA, Bd.1V, Teil 1, S.236-238 (Anordnung und Aufruf vom 30.3.1931); RSA, Bd.IV, Teil 2, S.7, Anm.19 (Erklärung Hitlers vom 20.6.1931 gegenüber dem italienischen Konsul); RSA, Bd. IV, Teil 3, S.9 (Aufruf vom 1.1.1932), S.204 (Erklärung vom 11.3.1932), S.252 (Aufruf vom 19.3.1932); RSA, Bd.V, Teil 2, S.l 1 (Interview mit „II Tevere" vom 4.10.1932); Der Bayrische Gesandte in Berlin an den Bayrischen Ministerpräsidenten. Geheime Gespräche mit Hitler vom 13.11.1931, in: Staat und NSDAP, S.212. Vgl. Rüffler, S.174-178, 182/183; Kershaw, Hitler, S.339, 388.
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sehen Spiels. Die Unbedingheit des angriffslustigen Putschisten wurde um die Kompenente des kalkulierenden Politikers erweitert. 309 In diesem Sinne listig war Hitlers Anspielung auf einer Münchner Rede im Jahre 1927, die er zu Ehren der Toten vom „Hitlerputsch" hielt. Er erklärte zwar die „gesetzliche Legalität" der NSDAP, fuhr dann aber unmittelbar fort „und zwar nicht, Herr Staatsanwalt, die Legalität der Macht, sondern die Legalität, die aus dem Segen neuer Taten sprießt, wie sie auch heute [also in der Diktatur von 1927, S.R.] Mussolini für sich in Anspruch nehmen kann". 3 1 0 Dies war rechtlich nur schwer zu belangen und enthielt zugleich durch die Anspielung auf den italienischen Weg ausreichende Vieldeutigkeit. Mehrere Indizien deuten darauf hin, dass in den Legalitätsbekundungen keine eindeutige Lehre und tiefsitzende Überzeugung zum Ausdruck kam. Sie waren nicht „ehrlich gemeint", wie Peter Bucher urteilt, da sich Hitler vor allem in parteiinternen Besprechungen zur Aufgabe der SA anders und weniger zurückhaltend als in der Öffentlichkeit äußerte. 311 So erklärte Hitler im September 1931 in einer parteiinternen Besprechung gegenüber den 32 ranghöchsten SA-Führern - im Zusammenhang mit den Berliner Kurfürstendammausschreitungen der SA - , dass „die SA-Führung in den Großstädten bei der nun politisch einmal bedingten langsamen Entwicklung der Partei oft in die Lage versetzt werde, etwas zu unternehmen, was geeignet sei, die revolutionäre Stimmung der Leute zu befriedigen. Diese Unternehmungen müßten sich aber in Formen abwickeln, die die nach außen [sie!] legale Politik der NSDAP nicht in Gefahr brächten. Die Partei dürfe durch ein solches Vorgehen nicht belastet werden. Für die SA-Führer sei es in solchen Fällen selbstverständlich, daß sie sich schützend vor die Partei stellten und eine Verbindung etwaiger Vorfälle mit der Partei grundsätzlich ableugneten sowie, wenn es keinen anderen Wege gebe, die Verantwortung für die Vorfalle selbst auf sich nähmen. Die betreffenden SA-Führer müßten weiterhin verstehen, daß die Partei nach solchen Vorfällen selbstverständlich von den betroffenen SA-Führern öffentlich abrücken und sie demonstrativ fallen lassen müsse. Sie könnten aber gewiß sein, daß die Partei ihre Verdienste nicht vergessen und sie im geeigneten Augenblick in ihre Ämter wieder einsetzen würde." 3 1 2 Diese Erläuterungen Hitlers lassen erkennen, dass
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Fest, Joachim: Hitlers Krieg, in: VfZ 38,1990, S.370. RSA, Bd. II, Teil 2, S.544. Bucher, S.141/142. Ähnlich, aber vorsichtiger urteilt Höner, S.161. GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4034, Nr.310, fol.309-311 (Der Polizeipräsident an den Preußischen Minister des Innern vom 5.10.1931). Ebenso in: Der Polizeipräsident von Berlin an den Regierungsrat Frank von der Polizeidirektion München, Abt. VI, vom 19.12.1931, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6808, Heft: „SA Allgemeines", fol.57-59. Dieser vertrauliche Polizeibericht von der Führerbesprechung am 15./16. September 1931 im Braunen Haus in München unterscheidet sich von dem am 7.10.1931 dem
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seine Haltung in der Öffentlichkeit und die intern geäußerte Meinung durchaus voneinander abwichen und die offiziellen Legalitätsbekundungen insbesondere der Verhinderung des Parteiverbotes dienten. Zudem zeigt die zitierte Passage, wie stark Hitler seine Haltung zur Legalität von der jeweiligen politischen Situation abhängig machte, da er zu dieser Zeit offenbar kommunistische Unruhen befürchtete, welche die NSDAP in seinen Augen berechtigten, „illegal oder legal einzugreifen". Schon etwa zwei Jahre zuvor, im November 1929, hatte Hitler, glaubt man den Aufzeichnungen Otto Wageners, einen kommunistischen Putsch befürchtet und der SA daher über die Sicherung der NSDAP-Versammlungen hinaus das Ziel gegeben, eine „politische Kampftruppe" zu formen. 3 1 3 Auf ein von Werner Best, dem Rechtsberater der hessischen NSDAPFührung, verfasstes Schreiben, das der NSDAP-Reichsleitung am 6. September 1931 zuging, reagierte Hitler erst Ende November, also erst nachdem Bests Ausführungen als „Boxheimer Dokumente" in der Presse bekannt geworden waren. In einem parteiinternen Rundschreiben tat Hitler Bests Papier eher kühl als die Planspielerei eines karriereorientierten Neumitglieds ab. Tatsächlich waren Bests Entwürfe für eine Notverordnung nach einem möglichen kommunistischen Aufstand nicht viel mehr als ein „Dummerjungenstreich", wie Rudolf Heß meinte. Dem Entwurf mangele es an strategischer Planung und Perspektive für einen seriösen Staatsstreich. Hitler reagierte erst anderthalb Monate nach Zugang des Briefes, als er über Göring dem Reichswehr- und Innenminister Wilhelm Groener das unbedingte Festhalten der NSDAP am Legalitätskurs zusicherte. Die Boxheimer Dokumente waren gerade durch eine Kampagne der sozialdemokratischen Presse als „Hochverratspläne" an die Öffentlichkeit geraten. Hitler musste sich von diesen Plänen distanzieren, wenn er die zu dieser Zeit wichtige Verhandlungsfahigkeit der NSDAP mit dem Zentrum retten wollte. Im Zusammenhang mit diesen Verhandlungen ist auch die Reaktion der NSPresse zu sehen, die sich von den „illegalen Absichten oder Plänen" distanzierte. Im persönlichen Gespräch mit Werner Best verhielt sich Hitler jedoch ähnlich wie in der SA-Führerbesprechung vom September. Nach Bests Erinnerungen sei Hitler konziliant und freundlich gewesen und habe seine öffentliche Distanzierung mit den schwebenden Verhandlungen über eine etwaige Regierungsbildung begründet. Best blieb weiterhin „Gaurechtsberater" und machte nach 1933 eine steile Karriere. 314
Reichsministerium des Innern geschriebenen Brief. Abdruck dieses Schreibens in RSA, Bd.V, Teil 2, S. 104-106. 313 RSA, Bd.IV, Teil 2, S.104-106, 116-118; RSA, Bd. IV, Teil 3, S.221; Wagener, S.63. 314 Zu dem Machtspiel um die Boxheimer Dokumente: Herbert, S. 109-119; Schulz, Brüning, S.604-610. Hier auch weiterführende Quellen- und Literaturangaben. Siehe auch: RSA,
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Auch der berühmte Legalitätseid Hitlers vom 25. September 1930 im Prozeß gegen drei Ulmer Reichswehroffiziere stand ganz im Zeichen taktischer Überlegungen. 315 Nach dem Wahlerfolg vom 14. September 1930 sah Hitler die Chance, mit den Eliten der Republik zu verhandeln und die NSRegierung in Thüringen stützen zu können. Die Erklärung Hitlers, er werde nur mit verfassungsmäßigen Mitteln gegen die Republik vorgehen, wurde in der Presse als Bekenntnis gegen die Methode des „revolutionären Umsturzes" gewertet. Hitlers Aussage, dass „Köpfe rollen werden", nachdem die Nationalsozialisten an der Macht wären, dass er sich also nur während seines Kampfes um die Macht an die Verfassung gebunden fühlte, irritierte dagegen nur wenige Journalisten. 316 Tatsächlich sollte die Doppeltaktik die Reichswehr wie den Reichspräsidenten Hindenburg besänftigen und eine prinzipielle Bündnisfahigkeit demonstrieren. Zugleich sollte aber den SA-Führern augenzwinkernd zu verstehen gegeben werden, dass dies lediglich Schutzbehauptungen seien und dem revolutionären Ernst damit nichts genommen werde. Goebbels, seit je Verfechter einer scharf militanten Propagandarhetorik, welche die Anhänger in einem ständigen Rausch des Kampfes hielt, bemerkte zu Hitlers Aussage beim Leipziger Reichsgericht: „Nun sind wir streng legal, egal legal." 317 Taktische Konzessionen, diesmal jedoch gegenüber der SA, prägten auch Hitlers Haltung, als am 9. August 1932 fünf SA-Männer im oberschlesischen Dorf Potempa einen polnischen Arbeiter, der Angehöriger der KPD war, des Nachts überfielen und vor den Augen seiner Mutter bestialisch zu Tode trampelten. Erstmals griff die neue Notverordnung der Regierung und das Sondergericht Beuthen verhängte am 22. August die Todesstrafe für die Täter des Potempa-Mordes. Hitler erklärte am 22. August in einem öffentlichen Telegramm „angesichts dieses ungeheuerlichen Bluturteils" seine „unbegrenzte Treue" mit den SA-Tätern. Im „Völkischen Beobachter" veröffentlichte Hitler am 24. August einen Aufruf, der dem Präsidialkabinett „Kampf und wieder K a m p f ankündigte. Die scharfen Angriffe der NSPresse führten schließlich dazu, dass die Verurteilten zu lebenslänglicher Haft begnadigt wurden, da die Regierung Papen den Nationalsozialisten keinen zusätzlichen Propagandastoff zur Verfügung stellen wollte und wohl Bd.IV, Teil 2, S.255/256; Rüffler, S.306-311. Zur Pressekampagne der SPD siehe: Loiperdinger, S.433-468. 315 Bucher, S.235-302; Jasper, Gescheiterte Zähmung, S.65-74. 316 Diese Aussage Hitlers ist in Buchers Rekonstruktion der Verhandlungen in Leipzig wiedergegeben: Bucher, S.260. Vgl. die Aussagen Hitlers ebd. auf den Seiten 252, 254, 259, 264, 270. Übernahme aus Bucher auch in RSA, Bd.III, Teil 3, S.434-451. Zur Pressereaktion siehe Bucher, S.125; Vogelsang, Reichswehr, S.91. Vgl. Fest, Hitler, S.407; Denkschrift des preußischen Ministeriums des Innern über die NSDAP, in: Staat und NSDAP, S.292. 317 Zitiert nach Schieder, Deutschland Hitlers, S.64, Anm.21.
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auch, um die Brücken nach rechts nicht abzubrechen. 318 Hitlers scharfe Worte erklären sich zudem aus seiner tiefen Enttäuschung, denn nur neun Tage vor seiner Erklärung war er in einer Unterredung mit dem Reichspräsidenten Hindenburg in seinen Bemühungen um eine Regierungsbildung unter NS-Führung gescheitert. 319 Die symbolische Unterstützung des gewaltsamen Weges im August 1932 war zu einem guten Teil also eine Reaktion auf das Scheitern der Verhandlungen. Hitler tat die Angriffe und Mordanschläge örtlicher SA-Einheiten des öfteren achselzuckend ab. In seiner vereideten Gerichtsaussage zum SAÜberfall auf einen Berliner Tanzpalast im November 1930 reagierte Hitler ebenso mit Verständnis wie bei den Mord- und Totschlagsdelikten der SA in Essen oder Altona. Solche Äußerungen verliehen den Legalitätsbekundungen Hitlers immer wieder einen rhetorischen Charakter. Bezeichnend war, dass er bei einer Gerichtsaussage im Mai 1931 seine Legalitätsbekundungen in einen direkten Zusammenhang mit dem Erfolg des Nationalsozialismus stellte. Auf die Frage des kommunistischen Nebenklägers Hans Litten, ob Hitler denn noch zu seiner Legalitätsbekundung aus dem Leipziger Hochverratsprozess vom September 1930 stehe, anwortete Hitler: „Ich stelle ja nur den Erfolg meiner Legalität dem Erfolg der Politik des Hauptmann Stennes gegenüber, der es nur bis zur Bildung einiger kleiner Organisationen gebracht hat." Tatsächlich neigte Hitler immer dann zu illegalen Methoden, wenn ihm ein Durchbruch per Wahl und Verhandlung gescheitert schien. 320 Hitler verschaffte seinen Legalitätsbekundungen auch dadurch eine beunruhigende Ambivalenz, dass Gewalt in den Bildern und Metaphern seiner zügellosen Reden immer wieder an zentraler Stelle auftauchte: „Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafsherde einbricht, so kommen wir." 321
318 Bessel, Potempa, S.241-254; Kluke, S.281/282; Broszat, Machtergreifung, S.153/154; Bracher, Auflösung, S.542-544; Winkler, Weimar, S.512-514; Kershaw, Hitler, S.476478; Hannover/Hannover-Drück, S.301-310. Zitat Hitlers in RSA, Bd.V, Teil 1, S.317. 319 Besprechung in der Reichskanzlei am 13.8.1932, in: RSA, Bd. V, Teil 1, S.300-303. 320 Die Zeugenaussage Hitlers am 8.5.1931 vor dem Schwurgericht III in Berlin-Moabit ist rekonstruiert in: RSA, Bd.IV, Teil 1, S.360-370, Zitat S.362. Zum Überfall des Berliner SA-Sturms 33 auf den Eden-Palast am 22.11.1930 vgl. B A B (ehem. BAP), RMdl 15.01, Nr. 16180, fol.370a-428; B A B (ehem. BAP), RMdl 15.01, Nr.26067. Zur Interpretation dieses Überfalls siehe Reichardt, Gewalt, S. 80/81. Zu den Vorfällen in Essen und Altona: Fest, Hitler, S.408. 321 Zitiert nach Fest, Hitler, S.407. Auch während seines berühmten Legalitätsschwures in Leipzig fehlten solche Formeln nicht. So sprach er etwa von ,,unbedingte[m] Kampfwillen" und davon, ..einen Staat von Eisenstärke wiederher[zu]stellen" (Bucher, S.243, 268). Siehe auch ebd. S.259, 265, 269.
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Mussolini und Hitler im Vergleich Beide Parteiführer, Mussolini wie Hitler, teilten diese taktisch inszenierten Gewaltbeschwörungen. Ihre Reden waren von einem drohenden Charakter durchsetzt. Zur semantischen Radikalität gesellten sich ebenso radikale symbolische Gesten und die punktuell vollzogene moralische Unterstützung der gewalttätigen Elemente des Faschismus. Die offiziellen Eide und Schwüre Hitlers auf eine verfassungskonforme Legalität fehlten bei Mussolini, der seit der Jahreswende 1921/22 auch in seinen öffentlichen Äußerungen eine Simultanpartie aus bewaffnetem Terror und parlamentarischer Aktion spielte. Hitlers vorsichtige Äußerungen waren vor allem der ungleich stärkeren Stellung des staatlichen Gewaltmonopols in Deutschland und insbesondere in Preußen geschuldet. Im Vergleich zu Mussolini hätte er bei deutlicheren Stellungnahmen zur „deutschen Revolution" mit stärkeren Sanktionen rechnen müssen als sein italienisches Vorbild. Es ginge aber zu weit, würde man annehmen, Hitler hätte auf den Gedanken, den Staat gewaltsam unter seine Kontrolle zu bringen, zugunsten des „legalen Weges" vollends verzichtet. Zwar schienen ihm Wahlerfolge als probates Mittel des politischen Machtzuwachses, aber die Variante des Staatsstreichs wurde niemals gänzlich aufgegeben. 322 Gleichwohl räumte Hitler im Vergleich zu Mussolini dem Weg der Wahl und Verhandlung einen gewissen Primat ein. Dennoch betrachtete er eine gewaltsame Machtpolitik als potentielles Druckmittel bei Regierungsverhandlungen und als notwendige Waffe für einen Gegenschlag gegenüber den befürchteten kommunistischen Aufständen. Beiden Führern gemeinsam war dabei die Erkenntnis, dass ihre Bewegungen gegen den Widerstand des Militärs niemals erfolgreich sein konnten. Ein Insurrektionsversuch, der mit dem Widerstand der Armee zu rechnen hatte, kam weder für Benito Mussolini noch für Adolf Hitler in Frage. Im Grunde genommen hatten beide Parteiführer keine konsistente Haltung zu der Frage, mit welchen Mitteln die Demokratien im einzelnen auszuhebeln seien. Ihre Stellungnahmen zur legalen oder illegalen Machterringung machten sie stattdessen von der jeweiligen taktisch-politischen Ausgangslage abhängig. Sie nahmen diejenige Haltung ein, die ihnen in der jeweiligen politischen Situation am meisten politischen Machtzuwachs zu versprechen schien und die sie ein Stück näher an die erstrebte politische Macht brachte. Dass allein der Wille zur Macht ausschlaggebend war und eine semantische Ambivalenz gegenüber der Gewalt zu Tage trat, wurde von hochrangigen Parteifunktionären wie Hermann Göring, Gregor Strasser, Wilhelm Frick oder Joesph Goebbels in aller Deutlichkeit ausgedrückt. So formulierte Göring exemplarisch, „wir bekämpfen diesen Staat und das heutige System, 322 Ähnlich: Kershaw, Hitler, S.274/275; Rüffler, S. 326-333.
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weil wir ihn ausrotten wollen mit Stumpf und Stil, aber auf legalem Weg für die langohrigen Kriminalbeamten." 323 Trotz allen taktischen Lavierens der Parteiführer Mussolini und Hitler kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen der Partei und ihren Kampfbünden. Dies lag zum einen an dem paradoxen Konzept der beiden Parteiführer, die der Gewalt huldigten, aber für ihre Praxis nicht öffentlich verantwortlich zeichnen wollten (und konnten). Das verworrene Konzept war andererseits aber auch nur der Reflex auf die zutiefst polykratischen Verhältnisse innerhalb der faschistischen Bewegungen. 324 Die durch Nebenordnungen gekennzeichneten einzelnen Parteiorganisationen waren durch permanente Konflikte untereinander geprägt, zumal es kaum institutionelle Konfliktaustragungseinrichtungen gab. Die Kompetenzabgrenzungen waren etwa in der NSDAP so unklar, dass es immer wieder zu Beschwerden der SA bei der Münchner Parteileitung kam, die zu erregten Auseinandersetzungen und ernsten Zerwürfnissen führten. Diese Konflikte zwischen Partei und SA wurden nur selten mit geregelten Parteiauschlussverfahren gelöst. Nur 0,2 Prozent der gesamten Mitgliedschaft der NSDAP waren von 1926 bis 1932 von einem Ausschluss betroffen. Meist schaffte man solche Probleme über Racheakte oder schiere Machtkämpfe - also in einem hochgradig personalistischen Stil - aus der Welt. 325 Neben den unterschiedlichen strategischen Zielrichtungen, ob nun durch eine Revolution oder auf einem parlamentarischen Weg die Macht erobert werden könnte - die naturgemäß vor allem innerhalb der Spitzenriege beider Organisationsteile diskutiert wurde - , bildete an der SA-Basis die Frage der Versorgung und Finanzzuweisungen häufig Anlass zum Zwist mit der Parteiorganisation. Daß die Probleme der NSDAP-Leitungen und der SA-Führer sich oft auf Betrug und Unterschlagung bezogen, lag keineswegs nur daran, dass in der SA kriminelle Elemente eine Heimat fanden. Die Versorgung mit Uniformen oder Bahnfreikarten war tatsächlich oftmals mangelhaft und konfrontierte die SA-Männer auch mit Fragen ihrer symbolischen Bedeutung innerhalb der NS-Bewegung. Daneben belasteten Kompetenzstreitigkeiten
323 Zitiert nach Rüffler, S.179. Siehe dazu vor allem die Äußerungen der Parteifunktionäre, die in den preußischen Denkschriften vom Mai und August 1930 und von 1932 wiedergegeben sind, in: Staat und NSDAP, S.51-59, 62, 64, 76, 104-107, 116-139, 146151, 155, 291-298; Denkschrift „Zur Frage der Legalität oder Illegalität der NSDAP", in: StAM Pol. Dir. München Nr.6818, fol.33 (Aussagen von Nieland, Franke, Esser, Goebbels, Stöhr). Daneben auch Rüffler, S. 188/189 324 Dies übersieht Joachim Fest und fuhrt Hitlers Haltung statt dessen auf die „tiefe Unschlüssigkeit seines Wesens" zurück (Fest, Hitler, S.408). 325 Mommsen, NSDAP, S.29; Nolzen, Parteigerichtsbarkeit, S.967-974; Longerich, Bataillone, S.101/102. Beispiele hierfür: Schreiben des Polizeipräsidenten von Köln, Bauknecht, an den Regierungspräsidenten in Köln vom 14.6.1928, in: GStA PK, 1. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.309, fol.175-178 (M);
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darüber, welche Aktionen die SA ohne Einverständnis oder gar Hinzuziehung der jeweiligen NSDAP-Ortsgruppenleitung durchführen dürfe, die tägliche Parteiarbeit. Noch wesentlich ungeregelter waren die Kompetenzabgrenzungen zwischen Squadrismus und dem politischen Arm des italienischen Faschismus. Hier fehlte es meist sogar an vagen Festlegungen und allein die praktische Linie bestimmte, wer in der jeweiligen Situation der überlegene Teil war. 2.3.3 Spannungslagen in der Praxis Anhand von exemplarischen Konflikten zwischen Partei und Kampfbund soll beleuchtet werden, wie die Spannungen in der politischen Praxis aussahen und wie das prekäre Verhältnis der Organisationen zueinander in Einklang gebracht wurde. Squadrismus und Politische
Organisation
Die PNF mit ihren politischen Sekretären und Propagandisten einerseits und die Squadristen andererseits standen unzweifelhaft im einem Dauerclinch, der weit in die Konsolidierungsphase des faschistischen Regimes hineinreichte. Erst mit der Abschaffung der Squadren im Jahr 1925 wurden, ähnlich wie mit der Aufgabenbeschneidung der SA nach der Röhm-Affare von 1934, die permanenten Spannungen abgestellt. Vor 1922 kämpften der politische und der militärische Arm der Bewegung jedoch um die jeweils regionale Vorherrschaft. Wo die Squadristen obsiegten, wie vor allem im Jahre 1922, erfolgte in der Konsequenz oft eine Unterordnung der politischen Organisation unter den Squadrismus. 326 Der polykratische Charakter der faschistischen Bewegung, die improvisatorischen Züge ungeregelter Machtverhältnisse, der Verzicht auf eindeutige Prioritätensetzung und die Begünstigung politischer Alleingänge zeigten sich deutlich in dem Moment, als Mussolini mit den Verhandlungen zum Befriedungspakt begann und nachdem mit der Ratifizierung des Paktes Anfang August 1921 den Popolari und Reformsozialisten deutliche Zeichen zur Verständigung gegeben worden waren. 327 Als Mussolini den Befriedungspakt unterzeichnete, hörte man von den Squadristen fast überall die Klage: „Die Legalität bringt uns um." Der Squadrist Umberto Banchelli bezeichnete die Legalität gar als „gelehrigen Zuhälter eurer teuflischen Träume". 328 Stanley Payne resümiert zurecht, dass der Befriedungspakt „became a virtual dead
326 Lyttelton, Seizure, S.73. 327 Segre, Balbo, S.61. 328 Zitate aus Tasca, S.188 und Schneider, S.298.
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letter as soon as it was signed". Er wurde, so Payne weiter, „generally ignored by the more active squadristi".329 Die Vertreter des Squadrismus in der Venezia Giulia, der Emilia und Toskana - lauter Regionen, in denen der Squadrismus die Macht in den Händen hielt - drückten schon vor der Ratifizierung des Vertrages auf dem Mailänder Kongress des Nationalrats der Fasci im Juli ihr Missfallen gegen das Angebot einer friedlichen Regelung mit den sozialistischen Arbeiterorganisationen aus. 330 An ihrer Spitze stand seit dem Juli 1921 Dino Grandi, der Squadrenftihrer aus Bologna und Chefredakteur der mächtigen faschistischen Zeitung „L'Assalto". 33 ' Mussolini griff ihn seinerseits wiederum scharf an und schrieb, bei Grandi sei der Faschismus „nicht mehr Befreiung [...], sondern Tyrannei": „Wir sind zu viele, und wenn die Familie zu groß wird, werden Streit und Trennung unvermeidlich", diktierte Mussolini. 332 Nicht nur in Bologna, sondern in der gesamten Po-Ebene hatten sich, wie Angelo Tasca schrieb, „raffgierige Egoismen" eingeschlichen.333 Die Autorität des „Duce" fand besonders dort ihre Grenzen, wo lokale Konfliktlinien berührt wurden. Viele Squadrenftihrer befürchteten ähnliches wie der Ferrareser Squadrenftihrer Italo Balbo, der seine Karriere eng mit der Zerstörung sozialistischer Organisationen und ihrer anschließenden Ersetzung durch faschistische Organisationen verbunden sah. Fiel die Möglichkeit der physischen Vernichtung oder Bedrohung des Gegners fort, so fürchtete Balbo, könnte er seine Macht verlieren. Balbos Kommentare zu Mussolinis Taktik, die er vornehmlich in der faschistischen Zeitung „11 Ballila" veröffentlichte, waren sehr bissig: Er bezeichnete Mussolini als „Erstarrten" und „Hypnotisierten", der sich in einer „illusorischen" Situation befände. Mussolinis politische Analysen seien von „grotesk kindischer Oberflächlichkeit". 334 Parlamentarismus und Wahlen, so urteilte Balbo auch später immer wieder, „vernebeln die Gehirne". Tatsächlich paarte sich Balbos entschiedene Opposition gegenüber dem Sozialismus mit einem fast ebenso intensiven Hass gegenüber dem Typus des Parlamentspolitikers. Er verstand sich selbst vor allem als Soldat und glaubte auch im Feld der Politik an den Nutzen und die Notwendigkeit von Gewalt. 335 Schon anlässlich der Wahlen vom Mai 1921 hatten die Squadristen auf den Straßen gesungen: „Wir sind Squadri329 Payne, History, S.101. Vgl. Farinacci, Faschistische Revolution, Bd.3, S.123. 330 Gentile, Storia, S.259-261; De Feiice, Mussolini il fascista, S.134/135; Tasca, S.173. 331 Siehe etwa: Dino Grandi: Risposta al Duce, in: L'Assalto Nr.42 vom 13.8.1921. S.l. Vgl. Tasca, S. 181, S.197/198. 332 Popolo d'ltalia vom 7.8.1921. 333 Tasca, S.l70. Vgl. Gentile, Storia, S.286. 334 II Ballila vom 21.8.1921. Auszugsweise wiedergegeben bei Roveri, AfTermazione, S.21. Ähnliche Aussagen von Dino Compagni Perrone, Leandro Arpinati und Roberto Farinacci sind bei Gentile, Storia, S.261 und 286, wiedergegeben. 335 Balbo, Diario, S.l66. Siehe auch ebd., S.29, 95; Comer, Fascism, S.l74, 186.
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sten, Angreifer - fröhlich und jugendlich - Warum uns zu Assessoren machen - Oh Benito, Oh Vaterland, Oh Jesus?" 336 Auch der Squadrenführer Roberto Farinacci aus Cremona stellte bissig fest, dass „all die Zeit, die in Rom in den Verhandlungen mit den Gegnern verloren wurde, besser [hätte] genützt werden können". Die Drohungen Mussolinis, dem Faschismus den Rücken zu kehren, schlug Farinacci in den Wind. Auf Mussolinis Bemerkung, daß der Faschismus „mein Sohn ist", konterte Farinacci, dass „sehr viele von uns das 21. Lebensjahr schon erreicht haben und sich also ihr eigenes Urteil bilden können". Gemeint war, dass der Faschismus alt genug zum Vatermord sei. Nach Farinacci wären „radikale Reinigungen" des Faschismus von undisziplinierten und ängstlichen Elementen das Gebot der Stunde gewesen. 337 Schon einen Monat zuvor hatte Farinacci die Demission der Repräsentanten der Lombardei aus dem Zentralkomitee des Faschismus mit den Worten veranlasst, dass die „pazifistische Haltung [...] unsere Stärke, wenigstens jedoch unsere Würde entwertet und unsere Märtyrer schmäht". 338 Viele Squadrenfuhrer waren wie Farinacci nicht imstande, sich eine andere politische Lösung als einen bewaffneten Aufstand vorzustellen. Sie fühlten sich als die wahren und wirklichen Faschisten, als „harte Schläger" (picchiatori) und „Männer des Knüppels", während sie die Politiker der Bewegung als „Schwätzer" abtaten. 339 Von daher verstärkten die Squadristen während der Phase des Befriedungspaktes das Ausmaß ihrer Gewalttaten. Besonders nachdem am 21. Juli 1921 18 Faschisten in Sarzana durch carabinieri getötet worden waren, nahmen sie das Ereignis zum Anlass, sich so darzustellen, wie Dino Grandi formulierte, „dass wir der Staat und die Nation sind". 340 Was das bedeutete, war klar: Nach Roberto Farinacci kamen zwischen den letzten Julitagen und Mitte November 1921 insgesamt 80 Menschen ums Leben. Ungezählte Übergriffe auf sozialistische Genossenschaften, Gewerkschaftszentralen und informelle Treffpunkte wurden im Juli und August 1921 in den Hochburgen des Squadrismus durchgeführt. 341
336 Zitiert nach Biondi, S.61. 337 Roberto Farinacci: A proposito di pace. Lettera dellOn. Farinacci, in: L'Assalto Nr.42 vom 13.8.1921, S.2. Die Bemerkungen Mussolinis: Fatto compiuto, in: Popolo d'Italia vom 3.8.1921. 338 Farinacci, Squadrismo, S.94-96. Vgl. Biondi, S.62. 339 Lyttelton, Seizure, S.54. 340 Grandi am 21.7.1921 in der Abgeordnetenkammer, zitiert nach Gentile, Storia, S.268. 341 Farinacci, Faschistische Revolution, Bd.3, S.124. Vgl. fur Parma: ACS, Mdl, DGPS, AGR, CA, 1921, busta 104, fasc.220: Fascio di combattimento di Parma, anno 1921, sottofasc.: „Parma. Azione fascista. lncidente con Socialisti", ohne fol.; ebd., fasc.221: Fascio di combattimento di Parma, anno 1921, ohne fol. Für Reggio Emila siehe: Telegramma-Espresso des Präfekten von Reggio Emilia, Berti, an Mdl vom 11.8.1921, in:
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Vor allem die Strafexpeditionen großen Stils dienten der Machtdemonstration der lokalen Squadrenfuhrer gegenüber Mussolinis neuem Befriedungskurs. Die bekannteste unter ihnen war sicher der spektakuläre Marsch von 3.000 uniformierten Squadristen aus Ferrara, Bologna und Reggio Emilia auf die Stadt Ravenna Mitte September 1921. 342 Dieser Machtdemonstration des Squadrismus folgte kurze Zeit darauf eine ähnliche Expedition gegen Ferrara. Die Kampfansage gegen Mussolinis Befriedungspakt wurde zu einem gewalttätigen Beutezug der Squadristen. Um die gesunkene Bedeutung Mussolinis kundzutun, nahmen an der konzertierten Aktion in Ferrara viele Oppositionelle gegen Mussolini teil, Grandi aus Bologna ebenso wie Balbo aus Ferrara, Misuri aus Perugia oder Caradonna aus Apulien. Der Protest beschränkte sich jedoch nicht allein auf die Sabotage des Befriedungspaktes. Die Squadristen begannen ihren Widerstand zu organisieren und zu koordinieren. Schon vor der Ratifizierung des Vertrages wurden etliche Treffen einberufen, auf denen gegen den bevorstehenden Befriedungspakt polemisiert wurde. So wurde von den Delegierten der Bologneser Konferenz der Fasci aus der Emilia und Romagna in der Abschlusserklärung vom 1. August festgehalten, dass sie sich von den Verhandlungen Mussolinis vollkommen unabhängig fühlten. Zudem versprachen sie, eine Haltung von „wachsamer Abwehr" beizubehalten.343 Auf einem weiteren großen Treffen in Todi (Umbrien) wurde der Befriedungspakt ganz offiziell von den faschistischen Federazioni aufgekündigt. 344 Am 14. August, also nachdem der Pakt ratifiziert worden war, wurde auf der Zusammenkunft der „Federazione Fascista" in Ferrara erklärt, der Befriedungspakt habe für Ferrara keinerlei „praktischen und substanziellen Wert". 345 Nur weitere zwei Tage später kam es wiederum zu einer Zusammenkunft von 509 Repräsentanten der Fasci aus der Emilia-Romagna in Bologna, unter ihnen so wichtige Führer wie Grandi, Oviglio, Farinacci, Pasella, Finzi und Riccinato aus den Zentren des intransigenten Radikalfaschismus in Ferrara, Cremona, Modena, Piacenza, Rovigo, Forli, Perugia, Apulien und Venedig. Auf dieser Zusammenkunft wurde die Überzeugung, den „hinterlistigen Verträgen", mit denen man „absolut nichts zu tun" habe, keine Geltung zu ver-
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ACS, Mdl, DGPS, AGR, CA, 1921, cat. G l , busta 108, Fase. Nr. 2: Reggio Emilia, ohne fol. Vgl. Gentile, Storia, S.275/276, 357. ACS, Mdl,DGPS, AGR, CA 1921, cat. G l , fasc. Fasci di combattimento, busta 108, fasc. Nr.2: Ravenna; Alberghi, S.427/428; Corner, Fascism, S.187/188; De Feiice, Mussolini il fascista, Bd. 1, S. 178/179, Anm. 2; Gentile, Storia, S.355/356; Cancogni, Storia, S.126132. Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 2.8.1921, in: ASB, GdP, Nr. 1350, fasc. „Convegno Regionale Emiliano-Romagnolo dei Consigli direttivi dei Fasci di cambattimento". ohne fol.; Segre, Balbo, S.61; Gentile, Storia. S.276. Gentile, Storia, S.288; Tasca, S.183. Roveri, Affermazione, S. 19/20.
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schaffen, nochmals bekräftigt. Balbos Delegation stellte mit 94 Fasci die größte und zugleich unversöhnlichste innerhalb der oppositionellen Gruppen dar. Nun eskalierte die Situation endgültig, und der gesamte agrarische Radikalfaschismus der Po-Ebene sagte sich von Mussolini los. Mussolini kündigte im Gefolge dieses Treffens sogar seinen Rücktritt aus dem zentralen Exekutivkommitee der Fasci an. Balbo und Grandi suchten im Anschluss an die Konferenz D'Annunzio auf, den sie als neuen Führer der faschistischen Bewegung favorisierten. Allerdings äußerte sich dieser nur zweideutig. 346 Auf den Vorschlag Grandis hin wurde der Marsch auf Ravenna beschlossen. Solange die Kommunisten mit ihren „Arditi del popolo" eine bewaffnete und offensive Partei bildeten, so die scheinheilige Begründung, müssten sich die Faschisten gegen die „Unterdrückung" verteidigen. 347 Immer wieder rechtfertigten die Squadristen in der September-Krise von 1921 die Notwendigkeit weiterer Gewaltaktionen mit der Gründung der kommunistischen „Arditi del Popolo" im Frühjahr dieses Jahres. Diese Gründung zeige, so die Squadrenführer, dass der Kommunismus keineswegs besiegt sei. Schließlich hätten die Kommunisten den Befriedungspakt auch nicht unterzeichnet. 348 Dass die Kooperation der Squadrenführer vor allem auf negativ definierten Zielen - Antiparlamentarismus und aktionistischgewaltsamem Antisozialismus - basierte, offenbarte schon früh den Mangel an dauerhaft angelegter gemeinsamer Politikfuhrung. So zeigten sich etwa in der Squadrenhochburg Ferrara Spannungen zwischen den nationalrevolutionär gesonnenen „Faschisten der ersten Stunde" (Gaggioli, Gattelli, Forti) und dem erst im Februar 1921 hinzugekommenen Squadrenführer Italo Balbo, der die Gewaltaktionen enger mit den Interessen der örtlichen Agrarverbände verband. Diese Schwachpunkte wurden durch persönliche Rivalitäten nochmals vertieft. 349 Gleichwohl wurde Mussolini sich seiner Isolierung mehr und mehr bewusst und beeilte sich, das Gros des Squadrismus wieder einzuholen. Zu346 De Feiice, Mussolini il fascista, S.151/152, 157; Roveri, Affermazione, S.20/21; Corner, Fascism, S.187; Segre, Balbo, S.62; Tasca, S. 182/183; Gentile, Storia, S.288, 290-298; Alberghi, S.388-392; Biondi, S.65; Engelmann, Provinzfaschismus, S.104. Ursprünglich war Marsich an Stelle von Balbo für die Reise zu D'Annunzio vorgesehen worden. Am 18.8. kündigte Mussolini seinen Rücktritt an und schon am 19.8.1921 wurde Mussolinis Demissionierung vom Exekutivkommitee der Fasci abgelehnt. 347 Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 16.8.1921, in: ASB, GdP, Nr. 1350, fasc. „Convegno Regionale Emiliano-Romagnolo dei Consigli direttivi dei Fasci di cambattimento", ohne fol. Die Repäsentanten verteilten sich auf die Provinzen wie folgt: 65 aus Bologna, 45 aus Modena, 94 aus Ferrara, 26 aus Parma, 40 aus Piacenza, 12 aus Forli, 20 aus Ravenna, 64 aus Cremona, 75 aus Mantova, 68 aus Polesina, dazu traten circa 100 aus den Fasci im Veneto. Vgl. dazu Tasca, S.182. 348 Farinacci, Faschistische Revolution, Bd.3, S.123; Chiurco, Storia, Bd.3, S.528-536; Gentile, Storia, S.357; Tasca, S.187-190. 349 Vgl. Corner, Fascism, S.122-124, 132-136, 170-208; Gentile, Storia, S.316/317.
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gleich merkte er, dass es ihm nicht gelang, auch nur den rechten Flügel der Sozialisten für sich zu gewinnen. Mussolini war somit genötigt, den Befriedungspakt schon zwei Monate nach seiner Ratifizierung, im Anschluss an dem Römer Kongress der Faschisten, fur nichtig zu erklären und am 15. November 1921 ganz offiziell aufzukündigen. 350 Durch Intensivierung der Gewaltpraxis der Squadristen war der Vertrag ohnehin wertlos geworden. Die intransigenten Faschisten waren nicht bereit, die bereits eroberten Positionen zu gefährden und auf die bewährten Kampfmethoden zu verzichten. Sie verstanden sich als „freiwillige Miliz der Nation", wie Grandi formulierte. 351 Das Grundproblem war damit jedoch nicht behoben, denn das Schwanken zwischen intransigentem Militarismus und politischen Verhandlungen bestimmte die faschistische Bewegung auch noch, nachdem eine Parteibildung zur PNF beschlossen worden war. Immer wieder mußte Mussolini zur Disziplin aufrufen, immer wieder wurden seine Forderungen von den Squadrenführern nur kurzfristig umgesetzt und bald wieder vergessen. 352 Die großangelegten Aktionen der Squadristen im Frühjahr 1922 ließen erneut die Stimmen derer erstarken, die für eine faschistische Insurrektion plädierten. Dieses Kalkül zeigt sich beispielhaft an der Haltung des Radikalfaschisten und Squadristenführers Italo Balbo, der Mussolinis parlamentarische Manöver als ebenso langweiligen wie reizlosen Weg sah, bei dem die Faschisten furchten müssten, kooptiert und zerschlissen zu werden. „Balbo favored a more drastic alternative", schreibt der Historiker Claudio Segre, „one that carried higher risks but also provided opportunities for greater glory and greater revolutionary potential." 353 Als der am 19. Juni zurückgetretene Regierungschef Luigi Facta im Juli 1922 versuchte, ein neues Kabinett zu bilden, hätte auch für die Faschisten die Chance bestanden, sich der Regierung anzuschließen, wenn nicht die Gewalt der Squadristen, die im Sommer 1922 das Land überschwemmte, Mussolinis Bemühungen kompromittiert hätte. Zwar gelang es Ende Juli 1922 dem inzwischen zu einem Gegner der militanten Insurrektion gewandelten Dino Grandi - im Auftrag des Parteisekretärs Michele Bianchi - einen Friedenspakt auszuhandeln, aber schon kurze Zeit später eskalierte wiederum die Gewalt. Eine Gruppe von Faschisten wurde in einem Arbeiterviertel von Ravenna mit Pistolenschüssen empfangen. Ein Faschist wurde tödlich
350 Mussolini, Benito: Morto e sepolto, in: Popolo d'Italia vom 15.11.1921. Vgl. Farinacci, Faschistische Revolution, Bd.3, S.124; Tasca, S.196, 199/200. 351 Grandi, Dino: Interrogativi, in: L'Assalto vom 8.10.1921. Zur Haltung der Squadristen in Cremona, Bologna, Ferrara, Modena, Piacenza, Umbrien, Arezzo, Florenz und Pisa siehe Gentile, Storia, S.352-355. 352 Popolo d'Italia vom 12.2.1922; Segre, Balbo, S.67; Volpe, S.90-97. 353 Segre, Balbo, S.90. Vgl. Balbo, Marsch, S.158,168/169.
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getroffen. Die Faschisten antworteten mit einer Stadtbesetzung und ließen die Hauptquartiere der Sozialisten, Anarchisten und Kommunisten in Flammen aufgehen. 3 5 4 Die Verhandlungen Factas waren damit beendet. Die sozialistische Partei hingegen schloss sich aufgrund dieser Ereignisse dem landesweiten Proteststreik an, der jedoch schnell in sich zusammenbrach. Dem Generalstreik der „Alleanza del lavoro", dem sogenannten „gesetzmäßigen Streik", schlossen sich die politischen und syndikalistischen Organisationen der Linken bis hin zu den Kommunisten an. Der am 31. Juli ausgerufene Streik wurde jedoch schon am Folgetag mit einem Ultimatum der PNF konfrontiert: entweder die öffentlichen Behörden setzten innerhalb von 24 Stunden dem Streik ein Ende oder die Squadren würden sich darum kümmern. Ohne ihr eigenes Ultimatum abzuwarten, gingen die Faschisten am 2. August 1922 zur Offensive über. Der Streik scheiterte an der extremen Gewalt der Faschisten, die die Gelegenheit nutzten, um ihren Kontrollbereich noch mehr auszuweiten. Allein bis zum Streikabbruch der Sozialisten am 2. August wurden 12 Tote, 62 Verletzte sowie 26 zerstörte Genossenschaften und sozialistische Lokale gezählt. Danach setzten die squadristischen Strafexpeditionen erst richtig ein und dauerten weitere fünf Tage an. Nunmehr konnten auch die großen Städte wie Genua und Mailand von den Faschisten eingenommen werden. Zu diesem Zeitpunkt waren Parteileitung und Squadrenführer zumindest in der Öffentlichkeit über die Notwendigkeit der Gewalt einer Meinung. In seinen privaten Gesprächen jedoch beschwichtigte Mussolini die fuhrenden Eliten des Landes. Doch die von fuhrenden Vertretern der PNF wahrgenommene Chance, nunmehr auf die parlamentarische Karte zu setzen und auf Neuwahlen zu drängen, fand bei den auf Insurrektion beharrenden Squadristen keinerlei Gegenliebe. Eine offene Konfrontation der beiden Flügel unterblieb jedoch, obwohl die squadristischen Gewaltaktionen im August und September 1922 anhielten, was sich besonders durch die Stadtbesetzungen in den nördlichsten Teilen Italiens, der sogenannten „Italianisierung" des Alto Adige, äußerte. 355 Kurz bevor Mussolini am 31. Oktober 1922 zum Premierminister Italiens wurde, flackerte der Gegensatz zwischen der Parteileitung und den Squadrenfuhrern wieder auf. Während der letzten Entscheidungen vor dem sogenannten Marsch auf Rom zwischen dem 16. und 24. Oktober drängten die Radikalen wieder auf einen sofortigen Staatsstreich. Die Ereignisse liefen letztendlich auf einen inszenierten Marsch hinaus, bei dem zwar nicht die geringste Gefahr einer gewaltsamen Übernahme der Regierung bestand, der aber im Vorfeld seiner Durchführung durchaus als politisches Druckmittel bei den Verhandlungen fungierte. Am 28. Oktober schließlich bewegten sich etwa 354 Segre, Balbo, S.86-88; Balbo, Marsch, S.115/116; Gentile, Storia, S.602-606. Zur Wandlung Grandis siehe Gentile, Storia, S.632/633, 638. 355 Mantelli, S.54-56; Gentile, Storia, S.606-610, 616-619, 634.
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26.000 Schwarzhemden in Zügen, Lastwagen und zu Fuß auf Rom zu, zumeist mit Knüppeln bewaffnet. In lokalen Aktionen wurden vor allem in den Mittelstädten Norditaliens, der Po-Ebene, Toskana und Apuliens öffentliche Gebäude besetzt - Präfekturen, Quästuren, Bahnhöfe, Telefonzentralen und Kasernen - , ohne dass dies die Militärbehörden auch nur im Mindesten zu verhindern versuchten. Der Marsch auf Rom war jedoch ein nahezu unblutiger und im wesentlichen inszenierter Staatsstreich. Am 31. Oktober zogen Zehntausende von Squadristen mit einer Siegesparade in Rom ein. Obwohl die Entscheidung schon am Vortag durch den König getroffen worden war, der Mussolini die Führung einer neuen parlamentarischen Koalition übertragen hatte, mussten noch dreizehn Menschen auf den Straßen Roms ihr Leben lassen. 356 Diese Episoden zeigen exemplarisch, wie brüchig das Verhältnis zwischen Partei und Kampfbund war. Die brüchigen Machtkonstellationen, die die faschistischen Bewegungen im Hinblick auf das Ausmaß und die Ziele ihrer Gewaltsamkeit bestimmten, blieben bis zur Machtübertragung 1922 ungeklärt. Dass Mussolini ein ausschließlich taktisches Verhältnis zur Gewaltfrage bezog, dass er sich der jeweils aktuellen politischen Situation anpasste, dass er also sein grundsätzliches Verhältnis zur Gewalt offen ließ, wird in seiner Kammerrede vom 17. Februar 1922 anläßlich eines sozialistischen Antrages zur Herstellung der Staatsautorität deutlich: ,,[W]enn unter Demokratie Leichtfertigkeit, Unverantwortlichkeit, Neigung zu Kompromissen und zu Vergleich verstanden wird, dann sind wir entschiedene Antidemokraten." 357 Dass die faschistische Bewegung nicht entlang der Trennlinie der militaristischen Squadren einerseits und der politischen Organisation andererseits auseinanderbrach, lag auch darin begründet, dass den lokalen Squadrenfuhrern eine übereinstimmende politische Linie fehlte. Zu weit lagen die Ansichten der squadristischen Provinzfursten auseinander, zu sehr waren sie durch eine rein negative Stoßrichtung gegen den Parlamentarismus geeint. Mit dem als positiv bewerteten Einsatz terroristischer Gewalt gegen Sozialisten und Kommunisten allein konnten sie keine einheitliche Linie entwickeln.
356 Zum Marsch auf Rom exzellent: Repaci. Siehe daneben auch: Casanova; Tasca, S.332355; Borejsza, S.57-66; Balbo, Marsch, S. 193-195. 357 Benito Mussolini: Der Antrag Celli, in: Mussolini, Benito: Schriften, Bd.2, S.248. Als allgemeine Literatur zur polykratischen Herrschaftsform im Nationalsozialismus vgl. Kershaw, NS-Staat, S. 125-164; Neumann. Behemoth; Mommsen. Hitlers Stellung, S.67101; Frei, Führerstaat, S.9-37.
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SA und Partei Solch innere Zerwürfnisse zwischen der militanten Intransigenz des Kampfbundes und dem politischen Legalismus der politischen Organisation kennzeichnete auch die aufstrebende NS-Bewegung. Exemplarisch fur die Spannungen zwischen der SA und der politischen Organisation, die in der SA oftmals als „P-Null" diffamiert wurde, waren die Berliner Stennes-Krisen von 1930 und 1931, die schon in einem Bericht des Reichsministers vom Mai 1931 als „klassisches Beispiel" für die „Divergenz der Legalitätsbeteuerungen Adolf Hitlers und dem revolutionär-gewaltsamen Wollen seiner Unterfuhrer" bewertet wurden. 3 5 8 Die beiden Berliner Stennes-Krisen vom August 1930 und April 1931 resultierten zum einen daraus, dass die paramilitärische SA unter Walter Stennes nach radikaleren Methoden als die Parteileitung drängte, welche stärker an die Legalitätstaktik gebunden war. Zum anderen bildeten die permanente Finanzmisere der SA und die ungeregelte Kompetenzabgrenzung zwischen örtlicher SA und Parteiorganisation den Anlass für ständige Reibereien. 359 Der Führer der SA in Ostdeutschland und Berlin, Hauptmann a. D. Walter Stennes, 360 wandte sich im Frühsommer 1930 immer militanter gegen die Erscheinungsformen des „Parteibonzentums" und gegen den „byzantinischen Stil" Hitlers. Der Ankauf des Münchner Palais Barlow im Sommer 1930, der später „Braunes Haus" genannten Parteizentrale, verschärfte die Missstimmungen gerade unter den arbeitslosen SA-Männern. Das Palais wurde so luxuriös ausgebaut, dass eine Sondererhebung von Parteibeiträgen für das
358 Der Reichsminister des Innern an die Nachrichtenstellen der Länder vom 13.5.1931, 13 maschinenschriftliche Seiten, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6808, Heft „SA Allgemeines", fol. 89. 359 BAB (ehem. BÄK) NS 26/82 („Wie es zur Stennes-Aktion kam"); Polizeipräsidium im Landeskriminalpolizeiamt in Berlin an die Polizeidirektion in München vom 16.9.1930, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6808, Heft „SA Allgemeines", fol.103-108; Der Reichminister des Innern an die Nachrichtenstellen der Länder vom 13.5.1931, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr. 6808, Heft „SA Allgemeines", fol.89-97. Als Literatur: Werner, S.461-485, 529-535; Moreau, S.72-81; Höver, S.319-334, 341-353; Horn, Führerideologie, S.326/327, 409-411; Höner, S.162-173; Sauer, Mobilmachung, S.848852; Longerich, Bataillone, S. 103/104, 110/111; Kershaw, Hitler, S.437-442; Schulz, Aufstieg, S.580-584, 636-640; Bennecke, Hitler, S. 148/149; Fischer, Stormtroopers, S.46/47, 166, 192/193, 207/208; Broszat, Machtergreifung, S.48-50; Fest, Hitler, S.390400; Jamin, Rolle der SA, S.334; Kater, Verhältnis, S.348, 352, 363. Zur kurzfristigen Kooperation Otto Strassers und Walter Stennes' vgl. Moreau, S.35-45, 86-93; Jasper, Gescheiterte Zähmung, S.107; Broszat, Machtergreifung, S.50. 360 Zur Biographie von Stennes vgl. Liang, S.98-101; Broszat, Machtergreifung, S.48. Zwei Doktorarbeiten von Ralf Pauli an der Universität München und von Tim Brown an der University of California werden demnächst über die Person Stennes und die Revolten 1930 und 1931 ausfuhrlicher Auskunft geben.
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Braune Haus angekündigt werden musste, während die SA-Lokale nur spärlich eingerichtet werden konnten. Dementsprechend stand das Finanzgebaren zunächst im Mittelpunkt der Kritik. 361 Stennes beschwerte sich zudem, dass SA-Führer bei der Aufstellung der Listenkandidaten für den Reichstag nicht berücksichtigt wurden. Dies war für die SA-Führer nicht nur eine Prestigefrage, denn mit dem Mandat waren auch materielle und rechtliche Vorteile verbunden, wie die Diäten, Freifahrkarten für das Bahnnetz und die Immunität. Damit hätte die finanziell ohnehin schlecht ausgestattete SA entlastet werden können. Stennes trug seine Forderungen zunächst beim Obersten SA-Führer Franz Pfeffer von Salomon vor. Dieser erhielt jedoch von Hitler den offiziellen Bescheid, dass der Posten eines SA-Führers und eines Mandatsträgers aufgrund der starken Inanspruchnahme durch die Parlamentsarbeit unvereinbar seien. Tatsächlich befürchtete Hitler aber, die Autonomiebestrebungen der SA-Führung könnten durch die Mandate Auftrieb erhalten und zudem die Glaubwürdigkeit der Legalitätspolitik in der Öffentlichkeit Schaden nehmen. Das Hitlers Entschluss kundgebende Rundschreiben Pfeffers an die SA-Führer offenbart indes, wie wenig selbst Pfeffer von der offiziellen Argumentation überzeugt war. 3 6 2 Der erfolglose Pfeffer demissionierte schließlich am 29. August 1930, offenbar aufgrund des doppelten Drucks von Seiten der SA und der Parteileitung. 363 Noch eine Woche zuvor hatte Pfeffer, nachdem Hitler Einsicht in die Bücher der SA-Stabskasse genommen hatte, von diesem ein Schreiben erhalten, das Pfeffers „katastrophale Finanzgebarung" scharf kritisierte. Die Wirtschaftsbetriebe der SA und die Mittelvergabe für den Stab der Obersten SA-Führung wurden seitdem dem Reichsschatzmeister der NSDAP direkt unterstellt. 364 Stennes hingegen ließ nicht locker und schickte eine Delegation nach München. Als Hitler ein persönliches Gespräch ausschlug, traten die Stennes untergebenen SA-Führer zurück. Nach einer SA-internen Sitzung verfügte Stennes, dass die Wahlpropaganda und der Versammlungsschutz der SA ab 361 IfZ, Fa 88/83; Fest, Hitler, S.396; Völkischer Beobachter Nr.125 vom 28.5.1930, S.l; Schulz, Aufstieg, S.581; Schulz, Brüning, S.131. Die kommunistische „Welt am Abend" führte aus, daß die Treppe zum ersten Stockwerk angeblich 30.000 Reichsmark kostete und fur den Senatssaal sechzig geschnitzte Sessel im Wert von 250.000 Mark gefertigt wurden. Eine Summe, wie die Welt am Abend kommentierte, von „der etwa 5000 arbeitslose Unterstützungsempfänger im Monat ihr Leben fristen müssen" (Welt am Abend vom 11.7.1931, 3. Seite der 1. Beilage). 362 Rundschreiben „SAF [d.h. SA-Führer, SR] und Mandat" des OSAF Franz von Pfeffer vom 2.8.1930, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6826, fol.557. Vgl auch Werner, S.463. 363 Schreiben von Pfeffer an die SA-Führer bis zum Brigadefuhrer vom 29.8.1930 und Rundschreiben des OSAF von Pfeffer an die SA vom 29.8.1930: „Abschied", beide in: BAB (ehem. BÄK), Sammlung Schumacher, Ordner 403, ohne fol. Vgl. Wagener, S.9497. 364 RSA, Bd.III, Teil 3, S.359-363 (Anordnung vom 20.8.1930).
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dem 30. August eingestellt würden - also 14 Tage vor dem Reichstagswahltermin wenn nicht der Berliner Gaugeschäftsftihrer Wilke entlassen und die SA-Führer auf die Reichstagswahlliste gesetzt würden. Als schließlich bei den Verhandlungen zwischen den Partei- und SA-Leitern auch noch ein SS-Spitzel entdeckt wurde, eskalierte die Situation. Stennes versammelte den etwa 2.000 Mann zählenden Berliner Gausturm der SA und verpflichtete ihn auf seine alleinige Führung. In der Nacht vom 30. zum 31. August befahl er einem 30 Mann starken SA-Trupp, die Geschäftsstelle der Berliner NSDAP in der Hedemannstraße zu besetzen. Es kam zu einem blutigen Handgemenge. Schließlich musste die Polizei zu Hilfe gerufen werden. 365 Eilends kamen Goebbels (der sich auf einer Wahlreise befand) und Hitler am folgenden Tag nach Berlin. Hitler versuchte Stennes mit dem Angebot eines künftigen Ministerpostens im Braunschweiger Landtag loszuwerden, der schlug jedoch aus. Schließlich bewilligte Hitler eine Reihe von finanziellen Forderungen zugunsten der SA. 3 6 6 Am Abend des 1. September 1930 wurde im Kriegervereinsheim vor über 2.000 Berliner SA-Leuten zwischen Hitler und Stennes die öffentliche Aussöhnung demonstriert. Dabei löste die Mitteilung Hitlers, er selbst werde die Führung der SA übernehmen, „großen Jubel" aus, wie es in einem Polizeibericht hieß. „Seine an sich überanstrengte Stimme zum fast hysterischen Schreien steigernd", hieß es dort weiter, „appellierte er an die Treue seiner SA und endete theatralisch: 'Wir wollen in dieser Stunde geloben, dass nichts uns trennen kann, so wahr uns Gott helfen kann gegen alle Teufel! Unser allmächtiger Herrgott segne unseren Kampf!'". Die anschließenden Heilrufe wurden abgewinkt, da Hitler mit gefalteten Händen seinen eigenen Worten nachlauschte. 367 Dass die Integra365 Schreiben von Wündisch aus dem Polizeipräsidium im Landeskriminalpolizeiamt Berlin an die Polizeidirektion in München vom 16.9.1930, Seite 1 bis 4, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6808, Heft „SA Allgemeines", fol.103-108. Schulz (Brüning, S.129) meint, dass auch die OSAF-Stellvertreter Süd und Mitte, August Schneidhuber und Manfred von Killinger, auf die Seite von Stennes traten, ohne allerdings einen Quellenbeleg zu liefern. Vgl. weiterhin Broszat, Machtergreifung, S.49; Welt am Abend vom 1.9.1930, S.l. 366 Am 2.9.1930 erließ Hitler eine Verfugung, wonach in einer „besonderen SA-Zulage" für jedes SA-Mitglied 20 Pfennig an die SA abgeführt werden sollte, von zwei Reichsmark Aufnahmegebühr in die NSDAP sollte künftig eine Reichsmark an die SA abgeführt werden und aus den „Kampfschatzspenden" der Ortsgruppen der NSDAP sollten 50 Prozent an die SA-Dienstellen fließen (Verfugung des OSAF Hitler vom 2.9.1930, abgedruckt in RSA, Bd.III, Teil 3, S.381; Bennecke, Hitler, S.252). So auch in: Schreiben Wündisch aus dem Polizeipräsidium im Landeskriminalpolizeiamt Berlin an die Polizeidirektion in München vom 16.9.1930, Seite 9/10, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6808, Heft „SA Allgemeines", fol.103-108. Der Rechtsschutz fur verhaftete SA- und SS-Männer ging nun auf Kosten der zuständigen Gaukassen (Wemer, S.484/485); Welt am Abend vom 9.9.1930, S.2. 367 Schreiben von Wündisch aus dem Polizeipräsidium im Landeskriminalpolizeiamt Berlin an die Polizeidirektion in München vom 16.9.1930, Seite 5-10, hier Seite 7/8, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6808, Heft „SA Allgemeines", fol.103-108. Siehe auch: RSA, Bd.
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tion der Bewegung über die Personalisierung auf den wundertätigen Hitler und seine charismatische Autorität hergestellt wurde, war ein kennzeichnender Konfliktlösungsmechanismus der NS-Bewegung. Das Gleichgewicht zwischen uneingeschränkter Ermächtigung Hitlers und kontrollierender Rückbindung an die plebiszitäre Zustimmung war labil, weil es nicht auf Regelhaftigkeit beruhte. 368 Tatsächlich schwelte der Gegensatz weiter und spitzte sich zunehmend auf die unterschiedlichen Machteroberungsstrategien in SA und NSDAP zu. Schon ein halbes Jahr später brach der Konflikt mit der SA erneut aus. Stennes schrieb Ende Februar dem im Januar 1931 neu eingesetzten SAStabschef Ernst Röhm, dass die Ortsgruppenleiter der Partei „durch irgendwelche lächerlichen Vorwände" die SA-Führer bei der Ausübung ihres Dienstes hindern würden. Der SA-Führer werde dadurch „Funktionären" unterworfen, denen Stennes die „Fähigkeiten auf dem Gebiete der SA" absprach. Es gebe zudem durch die „trostlose Wirtschaftslage" - er erwähnt Berliner SA-Standarten mit 67 Prozent Erwerbslosen - und die „wenig erfreulichen politischen Aussichten mehr und mehr [...] Mißstimmungen in der SA". 3 6 9 Tatsächlich ging es Stennes um die Frage, ob eine parlamentarische Machtübernahme mit dem Stimmzettel angestrebt werde oder ob eine revolutionäre Aktion die Zielsetzung der NS-Bewegung bestimmen sollte. Dies berührte auch die Frage nach Bedeutung und Stellenwert des „revolutionären Sozialismus" in der NSDAP. Berlin war eines der Zentren nationalsozialistischer Werbung um die Arbeiterschaft. Gerade Goebbels' Propaganda machte viel Gebrauch von der SA und zielte auf eine Gewinnung der Arbeiterschaft. Hierin unterschied sich die Berliner Situation von Teilen der Gesamtpartei, die sich seit 1928/29 auf die Gewinnung bäuerlicher und bürgerlicher Mittelschichten verlegte. 370 Der Wahlerfolg vom 14. September 1930 zeigte aber auch Goebbels, welche Chancen der parlamentarische Weg zur Zerstörung der Weimarer Republik bot. Zudem war Goebbels die Loyalität gegenüber der NSDAP-Führung wichtiger als der Aktivismus und „revolutionäre" Kurs der SA. 3 7 1 Darüber
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III, Teil 3, S.378/379; Vossische Zeitung vom 2.4.1931, S.l; Broszat, Machtergreifung, S.49. Zur charismatischen Herrschaft: Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S.140-148, 654-687; Kroll, Webers Idealtypus, S.47-72; Bach, S.7-34; Kamphausen, S.231. Schreiben von Walther Stennes an Ernst Röhm vom 28.2.1931, in: BAB (ehem. BÄK) NS 26/325, ohne fol. Vgl. die Abschnitte 2.2 und 3.2.11 Dies war keineswegs immer so gewesen. Der junge Goebbels vertrat bis zur Bamberger Führertagung vom 14.2.1926 eine revolutionäre' Strategie. So antwortete er in seiner Schrift „Der Nazi-Sozi" auf die Frage, wie man die Macht erringen könne, wenn die notwendigen Mehrheiten fehlten und der Staat gegen den Nationalsozialismus sei, folgendermaßen: „Dann marschieren wir gegen diesen Staat, dann wagen wir den letzten
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hinaus verschärfte sich der Druck, gemäßigter aufzutreten, nachdem die Regierung Brüning am 28. März 1931 eine Notverordnung erlassen hatte, die sie ermächtigte, verfassungsrechtliche Bestimmungen außer Kraft zu setzen etwa Versammlungen aufzulösen und politische Vereinigungen zu verbieten. Darin war zweifellos die potentielle Drohung eines Parteiverbots enthalten, die Hitler fürchtete. 372 Stennes, dessen Forderung nach Reichstagsmandaten für SA-Führer nicht entsprochen worden war, wollte die SA nicht auf die „Rolle einer Klebekolonne herabgewürdigt" sehen. 373 Sein Aktivismus störte in dieser Situation mehr denn je die Legalitätstaktik der Partei. Der neue Stabschef Ernst Röhm und Hitler planten daher den Machtbereich des OSAF-Stellvertreters im Osten durch Ausgliederung von Nordsachsen und Ostpreußen (inklusive Danzig und Mecklenburg) zu schwächen. Den SA-Führern verboten sie jegliche Redetätigkeit, während sie selber Durchhalteparolen an die SA-Männer veröffentlichen. „[HJaltet die Ohren steif und die Faust in der Tische geballt" schrieb Röhm im Februar 1931. Eine Aussprache zwischen Stennes und Röhm Ende März führte zu scharfen Auseinandersetzungen, und als gerüchteweise bekannt wurde, dass Hitler Stennes auf der Weimarer SA- und Parteiführertagung am 1. April 1931 absetzen werde, wurde in der Nacht von 31. März zum 1. April erneut die Berliner Gaugeschäftsstelle von SAMännern gestürmt. Zudem wurde die Redaktion von Goebbels' Zeitung „Der Angriff besetzt. 374 Stennes erklärte Goebbels für abgesetzt, den Bruch mit der Münchner Parteileitung für „irreparabel" und proklamierte den „wahren, revolutionären" Nationalsozialismus gegenüber der ,,bürgerliche[n] Verbonzung" in der Parteiorganisation. Die „verspießerte, feige und bourgeoise" Politik der NSDAP sei nichts weiter als ein „erbärmliches Legalitätsgeschwätz", statt dessen müsse man sich von den „Mitteln parlamentarischer Betätigung lösen". 375
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großen Streich um Deutschland, aus Revolutionären des Wortes werden dann Revolutionäre der Tat. Dann machen wir Revolution! Dann jagen wir das Parlament zum Teufel [...] Der Wille zur Macht schafft sich schon die Mittel zur Macht" (Goebbels, NaziSozi, S.18). Anordnung Hitlers vom 2.4.1931, in: RSA, Bd.IV, Teil 1, S.246-248; Gusy, S.193-201; Longerich, Bataillone, S.1U; Werner, S.443/444. Der Reichsminister des Innern an die Nachrichtenstellen der Länder vom 13.5.1931, Seite 2, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6808, Heft „SA Allgemeines", fol.89-97. Mitteilungen des Landeskriminalpolizeiamtes Berlin vom 31.5.1931: „Die StennesRevolte", in: BHLA Pr. Br. Rep.2 A I Pol., Nr.2141, fol.3-8; Höver, S.350/351. Die Durchhalteparolen: Ernst Röhm: Kameraden der SA und der S.S.!, in: Völkischer Beobachter Nr. 49 vom 18.2.1931. Zu Hitlers Veröffentlichungen siehe: RSA, Bd.IV, Teil 1, S.200, 236-238. Neue Preußische Kreuzzeitung vom 2.4.1931, 5. Seite der 1. Beilage; Der Reichsminister des Innern an die Nachrichtenstellen der Länder vom 13.5.1931, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6808, fol.89-97; BAB (ehem. BÄK) NS 26/82, ohne fol.
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Das entsprach dem Selbstverständnis der SA. Der Nationalsozialismus war ihrem Verständnis nach eine „Willensbewegung", die auf taktische Ränkespiele und programmatische Spitzfindigkeiten verzichtete. In der von Stennes herausgegebenen Zeitung „Arbeiter-Bauern-Soldaten" ließ er in einem Artikel vom April 1931 verlauten: „Einst hiess es in 'Mein K a m p f , dass die erste Aufgabe der SA die Propaganda sei und wir alle wüssten, dies ist nicht die letzte und höchste Aufgabe. Oft genug war uns das letzte Ziel gewiesen, das ohne 'Köpferollen' (Hitler) oder 'Blutopfer' (Goebbels) nicht vermieden werden könne. Bis dann wie eine Bombe der Erlaß Nr. 1 des Herrn Röhm einschlug, in dem die SA als 'eine Propagandatruppe' bezeichnet wird." Eindrücklich schilderte Stennes in der gleichen Ausgabe dieser Zeitschrift seinen Eindruck, der tatsächlich viele SA-Männer verwundert haben mochte: „'Im grossen Sportpalast trieb man die Stimmung bis zur Siedehitze empor und schuf die Bereitschaft zum Barrikadenkampf für die deutsche Revolution, um anschliessend bekannt zu geben, dass jeder Verstoss gegen die Notverordnung [vom 28. März 1931, S.R.] mit Ausschluss aus der Partei bestraft werde'". 3 7 6 Das jenseits von Parteipolitik stehende vitalistische Selbstverständnis der SA-Basis drückte der einfache SA-Mann Erich Mani schon anderthalb Jahre zuvor, stellvertretend für viele seiner SA-Kameraden, so aus: „Parteien? Das ist doch ein ewiges Jagen und Hasten nach Futterkrippen und Ministerpensionen, erreicht durch verantwortungslose Versprechungen, die man dem Wähler machte, um sein persönliches Ziel - und nur das - zu erreichen [...] Um diese Partei, nein, um diese Bewegung muß es anders bestellt sein! [...] Aufgabe der Bewegung im allgemeinen ist es, die politische Idee in das Volk zu tragen [...] Diesen und keinen anderen Eindruck muß die marschierende SA, wie auch der einzelne SA-Mann auf jeden Volksgenossen machen". 3 7 7 Die Parteiorganisation griff diese Stimmungen nur insofern auf, als sie die Legalität lediglich als notwendiges Übel hinstellte, das in der Phase nach der kommenden Machteroberung überflüssig sein werde. Der stellvertretende Reichspropagandaleiter Franke formulierte dies paradigmatisch im August
376 „Arbeiter, Bauern, Soldaten" Nr. 1 vom 9.4.1931, in: StAM, Pol. Dir. München. Nr.6818, fol.33. Siehe den Artikel von Walter Stennes: „SA. an die Front!", in: Arbeiter, Bauern, Soldaten vom 9.4.1931 (Nr.l), S.l. Dort heißt es, daß der Partei ,jede klare politische Linie fehlt": „Kein Wunder, daß infolgedessen die Parole einmal 'Heraus aus dem Reichstag', dann wieder 'Hinein in den Reichstag' lautet [...] Ganz ähnlich liegen die Dinge in allen wirtschaftspolitischen Fragen. Bald ist man fxir Privateigentum, bald dagegen; bald für den Sozialismus, bald dagegen". Weiterhin: „Die soziale Frage", in: Arbeiter, Bauern, Soldaten vom 28.5.1931, S.l/2; Arbeiter. Bauern, Soldaten vom 11.5.1931 (Nr.9), letzte Seite. 377 Erich Mani: Aufgaben der SA, in: Der SA-Mann Nr.31 vom 21.9.1929 (Beilage des Völkischen Beobachter Nr.219 vom 21.9.1929).
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1931: „Legal sind wir nur, solange wir müssen, keine Minute länger". 378 Strittig blieb jedoch, wann der Moment zum Losschlagen erreicht sein würde. Darüber hatte man in Partei und Kampfverband unterschiedliche Vorstellungen. Um den Stimmungen in der SA die Spitze zu nehmen, wurde Stennes am 1. April 1931 vom neuen SA-Führer Ernst Röhm in seiner Funktion als SAFührer Ost abgesetzt und durch den ehemaligen Führer der Schwarzen Reichswehr, Oberstleutnant a. D. Paul Schulz, ersetzt. Hitler schloss Stennes aus der Partei aus. Goebbels und Stennes kämpften nun gegeneinander um die Loyalität der SA-Basis. Kurzfristig erreichte Stennes einigen Erfolg vor allem in der Berliner und der schlesischen SA. In Berlin hatte er Anfang April 2.300 SA-Männer und wichtige SA-Führer auf sich einschwören können. In Schlesien waren im Mai 1931 immerhin 3.000 SA-Männer zu Stennes übergewechselt. 379 Es kam zu Schlägereien zwischen hitlertreuen SA-Männern und den Stennes-Anhängern. Außerhalb der norddeutschen Regionen blieb Stennes' Einfluss jedoch gering. 380 Die NSDAP-Leitung konterte mit Geldzuweisungen an treue SA-Führer, ließ die aufsässigen SA-Männer mit Hilfe der Polizei aus der Geschäftsstelle räumen, veranlasste die Berliner SS unter Kurt Daluege, die widerständigen SA-Führer zu verfolgen. Goebbels reagierte, in Zusammenarbeit mit Göring und gedeckt durch Hitler, mit Parteiauschlüssen. Allein in Berlin sollen Ende Mai 1931 500 Mitglieder aus der SA ausgeschlossen worden sein. 381 Am 16. April 1931 schließlich marschierten 3.100 Berliner SA- und SS-Männer im Sportpalast auf und beendeten mit dieser symbolischen Geste die zweite Stennes-Krise. Letztlich unterlag die Stennes-Organisation aufgrund mangelnder Finanzen und vor allem, weil die NSDAP-treue SA als „Hitlerflügel" der Bewegung den charismatischen Führer hinter sich hatte. Auch die zeitweilige Zusammenarbeit zwischen Stennes und Otto Strasser in der „Kampf-
378 StAM, Pol. Dir. München Nr. 6818, fol.33. 379 Mitteilungen des Landeskriminalpolizeiamtes Berlin vom 31.5.1931: „Die StennesRevolte", in: BHLA Pr. Br. Rep.2 A I Pol., Nr.2141, fol.3-8; RSA, Bd. IV, Teil 1, S.248260; Vossische Zeitung vom 2.4.1931, S.l und 10.4.1931. Vgl. die Zahlen bei Werner, S.545. Zur schlesischen SA siehe: Schreiben vom Oberführer Kremser der Untergruppe Schlesien an alle Standartenführer, Sturmbannführer und Sturmfuhrer vom 2.4.1931, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6825, Heft „Korrespondenz SA und NSDAP", ohne fol. 380 LAB, A Rep.358, Nr.630; Welt am Abend in den Ausgaben vom 1.7.1931, S.2, vom 2.7.1931, S.2 und vom 3.7.1931, S.2; Der Reichsminister des Innern an die Nachrichtenstellen der Länder vom 13.5.1931, Seite 11, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr. 6808, Heft „SA Allgemeines", fol.89-97. Siehe auch Longerich, Bataillone, S. 111. 381 Mitteilungen des Landeskriminalpolizeiamtes Berlin vom 31.5.1931: „Die StennesRevolte", in: BHLA Pr. Br. Rep.2 A 1 Pol., Nr.2141, fol.3-8; Moreau, S.80; Longerich, Bataillone, S.l 11; Kershaw, Hitler, S.441. Standartenführern wurde ein Monatsgehalt von 500 Reichsmark ausgezahlt (Vossische Zeitung vom 10.4.1931).
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gemeinschaft revolutionärer Nationalsozialisten" verlief letztlich im Sande. 382 Dass ausgerechnet eine „ausgespochene Landknechtsnatur" wie Edmund Heines im Juni 1931 der Nachfolger von Stennes im Gausturm Schlesien wurde, war sicher kein Zufall. Mit seiner aggressiven Rhetorik und militärischen Erfahrung, so hoffte man, könne er die SA-Basis an sich binden. Zugleich war Heines ein Vertrauter Röhms, und man konnte auf seinen militärischen Gehorsam bauen, der sich bei Heines durch die Mitgliedschaft in paramilitärischen Organisation seit seinem 17. Lebensjahr eingeschliffen hatte. Tatsächlich vermischte er gleich in seinem ersten Gruppenbefehl - in fur die SA typischer Weise - Verbalradikalismus und Aufforderung zum Gehorsam. Er forderte „im Namen der Bewegung straffe Unterordnung und Disziplin. Und noch eins Kameraden: Nerven behalten! Unverantwortliche Hetzer und Provokateure versuchen Euch zu ungesetzlichen Massnahmen aufzuputschen. Das könnte den Herrschaften so passen, dass wir ihnen Gelegenheit geben, kurz vor dem Endsieg unserer Bewegung das Genick abzudrehen". 383 Mit solchen Durchhalteparolen aus dem Reiche der Gewaltsprache, zudem aus dem Munde eines „Haudegens", hoffte man, die insurgenten SA-Massen bei der Stange zu halten. Schon zwei Wochen danach erklärte Heines anlässlich einer verbotenen SA-Demonstration in Breslau, dass den polizeilichen Anordnungen nicht Folge zu leisten sei. Überhaupt, so Heines, werde die SA in Zukunft zur „Selbsthilfe" greifen. Mitte Januar 1933 hatte Heines seine anfängliche Zurückhaltung völlig in den Wind geschlagen und angeordnet, die SA müsse „schlagfertig und marschtüchtig" gehalten werden: „Mit dem Stimmzettel sei heute nichts mehr anzufangen, es müßten zur Ergreifung der Macht jetzt andere Wege eingeschlagen werden" zitierte der Regierungspräsident in Oppeln den SA-Gruppenführer. 384 Gute zwei Wochen später, quasi in letzter Sekunde vor einer erneuten Krise, wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Die Stennes-Krisen innerhalb der Berliner NSDAP waren keineswegs eine lokale Besonderheit. In den Jahren 1930 bis 1932 kam es an vielen Orten des Reiches immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen der SA und der NSDAP, die sich vor allem an finanziellen Fragen entzündeten und 382 Gliech, S.203; Erklärung Hitlers vom 17.4.1931, in: RSA, Bd.IV, Teil 1, S.314; Moreau, S.86-93. 383 Gruppenbefehl Nr.l des Gruppenführers Heines vom 6.6.1931, in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.310, fol. 121/122 (M). Zu Biographie von Edmund Heines: Bessel, Politische Gewalt, S.391/392; Werner, S.31 (Anm.71), 538/539. 384 Bericht des Regierungspräsidenten in Oppeln vom 11.1.1933 an den Preuß. Minister den Innern, in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.312, fol.74 (M). Siehe zu Heines Plänen auch die Äußerungen von Hans Kallenbach: „Röhm und sein Anhang", die nach dem sogenannten Röhm-Putsch am 4.7.1934 erstellt wurden, in: BAB (ehem. BÄK) NS 26/328; Leßmann, S.354.
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zuweilen durch übermäßige Ausgaben der Politischen Organisation angestachelt wurden. Solche Krisen lassen sich im April/Juni 1928 in Köln, im März 1929 in Württemberg, Anfang 1930 in Stuttgart, im Mai in Schlesien, im September in Augsburg, im Oktober in Dachau, im Februar 1931 in Hanau oder im September 1932 in Mecklenburg nachweisen. Das Schema blieb jeweils ähnlich, wenngleich die Krisen meist weniger dramatisch abliefen. 385 Tatsächlich entzündeten sich die Krisen vor allem an der polykratischen Organisationsstruktur der NS-Bewegung. Die Konflikte kreisten zumeist um organisatorische Fragen: Wer befiehlt wem oder wer gibt wem Geld? Auch die Verteidigung von Vorrechten und der Zusammenprall hitzköpfiger Persönlichkeiten spielte eine Rolle. Vor allem die organisatorische Struktur der Bewegung schien viele der Konflikte zu produzieren. Kampf und Lebenskampf galten nicht nur als allgemeine Maxime, sondern waren auch in der politischen Praxis der Organisation grundlegend verankert. Die Ämterkumulation, die Multiplikation der Leitungsinstanzen und die unscharfen Kompetenzabgrenzungen kennzeichneten schon während der Aufstiegsphase die chaotische und aufgeblähte Führungsstruktur, die formale und informelle Führungsprinzipien neben- und gegeneinander stellte. Die verworrenen parteiinternen Macht- und Kompetenzverhältnisse mussten immer wieder Konflikte heraufbeschwören, die sich nur noch durch die Figur des „Führers" lösen ließen. 386 Diese polykratischen Verhältnisse schlugen sich auch in der Finanzmisere der SA nieder. Als die NSDAP im Verlauf der Jahre 1929-1931 stärkere finanzielle Unterstützung erhielt und die Kontakte zu den alten Eliten intensivierte, wuchs der Kontrast zur SA, in die zur gleichen Zeit immer mehr Arbeitslose eintraten. Da die SA dadurch zunehmend in finanzielle Schwierigkeiten geriet, verschärften sich die Spannungen zur Politischen Organisation. 3 8 7 Die Beziehungen der SA zum Reichsschatzmeister der NSDAP 385 RSA, Bd.V, Teil 2, S.351/352, 369, 373/374 (Zitat); Schreiben des Polizeipräsidenten von Köln, Bauknecht, an den Regierungspräsidenten in Köln vom 14.6.1928, in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.309, fol.175-178 (M); Der Regierungspräsident Merseburg, Sommer, an den Preußischen Minister den Innern vom 23.12.1932, in: GStA PK. I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.312, fol.67/68 (M); Tyrell (Hrsg.), Führer, S.250ff. (Dokument 95); Schreiben der SA Mecklenburg an Adolf Hitler vom 10.11.1932, in: BAB, NS 23/157, ohne fol. Weiterhin: Longerich, Bataillone, S.100-109, 163/164; Bessel, Political Violence, S.54-66; Reiche, Development, S.146-172; Horn, Führerideologie, S.406/407, 411-413; Werner, S.374-376, 397/398, 489/490, 506-509. 386 Vgl. Mommsen, Hitlers Stellung, S.67-101; Broszat, Staat, S.49-81; Neumann, Behemoth, S.531-550; Horn, Führerideologie, S.419; Bessel, Political Violence, S.61/62; Longerich, Bataillone, S.148/149. Zusammenfassend Kershaw, NS-Staat, S. 125-164; Thamer, Verführung, S. 351-364. 387 Zur Finanznot der SA siehe: Werner, S.506-515; Longerich, Bataillone, S. 131-136; Bessel, Political Violence, S.54-57; Höhne, S.95-99; Bennecke, Hitler, S.141/142, 162;
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Franz Xaver Schwarz waren schlecht. So erklärte ihm Wetzel, Oberführer in der Berliner SA, am 30. November 1930, er habe auf die Einnahmen aus der Partei für den September 1930 freiwillig verzichtet. Für den Oktober aber habe er nichts erhalten. Im Ganzen seien bisher im Gau Berlin erst 732.- RM an ihn abgeführt worden. 3 8 8 Auch von der SA aus Magdeburg-Anhalt, Sachsen, der SA-Standarte Wuppertal, vom Gruppenführer Ostland, den SAOberführern aus Franken und aus der Pfalz trafen Ende 1931 bei der Obersten SA-Leitung ständige Beschwerden über die NSDAP-Ortsgruppen ein. Diese würden die notwendigen und für die SA bestimmten Gelder zurückhalten oder für andere Zwecke verwenden. 3 8 9 Da die SA keine Finanzhoheit besaß, war sie von der Finanzierung durch die Partei abhängig, wobei die Gelder von oben nach unten verteilt wurden. Zu den unteren Stellen der SA sickerten so nur noch kleine Unkostenbeiträge durch. Das Finanzsystem bewirkte, dass der größte Teil der Kosten vom einzelnen SA-Mann zu tragen war. Insbesondere der arbeitslose SA-Mann, so Peter Longerich, musste sich die Kosten für öffentliche Verkehrsmittel, für die Fahrten zu den Veranstaltungsorten, und die Anschaffung seines Braunhemdes „buchstäblich vom Munde absparen". 390 Zudem geriet die 1927 gegründete SA-Versicherung durch die Gewalteskalation am Ende der Weimarer Republik in Finanznöte. 391 Machten 1927 lediglich 110 SA-Männer Versicherungsansprüche geltend, so waren es 1928 schon 360, 1929 881, 1930 2.506, 1931 6.307 und 1932 sogar 14.005. 3 9 2 Der durch die Versicherung abgedeckte Schadensersatz sollte durch monatliche
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Welt am Abend vom 7.8.1931, S.2; Erich Peter Naumann: SA - kehrt marsch!, in: Die Weltbühne 28, Zweites Halbjahr, Heft 52, 1932, S.932-934. Zur Kontaktaufnahme der NSDAP mit den alten Eliten vgl. nur: Höhne, S. 94/95; Jasper, Gescheiterte Zähmung, S. 63-74, 88-104, 115-125; Peukert, Weimarer Republik, S.256-261. Bericht über die Aussprache der SA-Führer mit dem Reichsschatzmeister Schwarz über die Finanzierung der SA vom 30.11.1930 (Referent Zöberlein), in: BAB (ehem. BÄK), Sammlung Schumacher, Ordner 403, ohne fol. Siehe auch Werner, S.508. StAM, Pol. Dir. München, Nr.6826, fol.460 (Vierteljahresbericht des Obersten SA-Führers vom 8.12.1931). Longerich, Bataillone, S.134. Vgl. Hamilton, S.320; Kater, Allsätze, S.828. Zum Teil finanzierte sich die SA durch die Zigarettenfabik Dreßler in Dresden, die „Sturm"Zigaretten verkaufte, der NSDAP seit Herbst 1929 zu 49 Prozent gehörte sowie durch ein Netzwerk von Hilfsmaßnahmen (dazu Longerich, Bataillone, S. 135/136; Bennecke, Hitler, S.205-207; Kershaw, Hitler, S.439; Wagener, S.60-62; Fischer, Stormtroopers, S.128/129). Zur SA-Verrcherung: Rundschreiben des Osaf vom 15.1.1927 betr.: SA-Versicherung, in: GStA PK. I. HA., Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.309, fol. 107/108 (M). Grundlegend ist Laube, S. 196-217. Daneben: Werner, S.408-415; Longerich, Bataillone, S.96; Wagener, S.62. Siehe auch: Der Angriff vom 20.2.1930, 2. Seite der 1. Beilage; RSA, Bd.III, Teil 2, S.530/531, 541/542; RSA, Bd.III, Teil 3, S.84, Anm. 4; RSA, Bd.IV, Teil 3. S.248, Anm. 13 und RSA, Bd.IV, Teil 2, S.198, Anm. 4. Werner, S.412; Bessel, Political Violence, S.76; Longerich, Bataillone, S.96.
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Beiträge der NSDAP-Mitglieder in einer Höhe von 20 Pfennig gesichert werden. Es blieb jedoch bis 1933 ein ungelöstes Problem, alle Mitglieder der NSDAP zum Versicherungsbeitritt zu veranlassen und die Beträge pünktlich einzutreiben. Infolge der unzulänglichen Deckung konnte man zunehmend weniger Schadensfalle anerkennen, so dass die Beiträge am 1. März 1930 auf 30 Pfennig heraufgesetzt werden mussten. 393 Der Vorwurf der „Verbonzung" seitens der SA hatte in diesen sozialen Problemen seine Begründung. Die Konflikte basierten aber nicht allein auf einem Kampf um Geld und parteiinterne Kompetenzen. Hier manifestierte sich, analog zur italienischen Situation, ein Mentalitätsunterschied zwischen den „Soldaten" und den „Politikern" der nationalsozialistischen Bewegung. In dem Referatskonzept eines Stellvertreters des Obersten SA-Führers zum Verhältnis von SA und Parteiorganisation, das anlässlich der Führerbesprechung vom 30. November 1930 konzipiert worden war, wurde dieser Unterschied deutlich artikuliert. Die SA bestünde, so der Verfasser, „aus Soldaten [...] also einer Art von Menschen, die auf ein Ideal eingeschworen und auf ein weitgestecktes hohes Ziel eingesetzt in sturer Gradheit ihren Weg gehen, während die Art von Menschen, die gezwungen sind, sich mit Politik in ihrer Vielgestalt und Wendigkeit zu befassen, naturnotwendig anders sind." Die SA trage, im Gegensatz zu der „im Ganzen grundfaulen Masse der Pg. [Parteigenossen]" neunzig Prozent der Parteiarbeit. Da sie „Tag für Tag und Nacht für Nacht herangemußt" hätte, sei die SA das „Rückgrat der Partei". Daraus folgte für Schneidhuber: „Die junge Kraft und Energie, erst recht das heranwachsende Führertum sammelt sich ausschließlich in der SA, niemals in den Reihen einer Ortsgruppe oder einer Gauleitung". 394 Auch in einem Schreiben des Reichsinnenministers vom Mai 1931 wurde auf die „Denkart" von Stennes hingewiesen, die auf dem für „revolutionär gehaltenefn] Kampfgeist der Truppe" basiere. 395 Dieser Mentalitätsunterschied zur NS-Partei schlug sich in einem ständigen Murren der SA-Aktivisten gegenüber den Legalitätsbekundungen nieder, welche,
393 Werner, S.415, 410/411,414; RSA, Bd.III, Teil 3, S.381. 394 OSAF, Stellvertreter Süd vom 19.9.1930: „Stellungnahme zur vorgesehenen UmOrganisation der SA-Führung", in: BAB (ehem. BÄK), Sammlung Schumacher, Ordner 403, ohne fol. An der SA-Führerbesprechung vom 30. November nahmen von der Parteiseite teil: Reichsgeschäftsführer Bouhler, Major Buch, Goering, Himmler, Oberst Hierl, Reichsschatzmeister Xaver Schwarz und Gregor Strasser (Anordnung vom 27.11.1930, in: BAB (ehem. BÄK), Sammlung Schumacher, Ordner 403, ohne fol). Vgl. Wagener, S.54; Longerich, Bataillone, S. 108. 395 Schreiben des Reichministers des Innern an die Nachrichtenstellen der Länder vom 13.5.1931, 5. Seite, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6808, Heft „SA Allgemeines", fol.89-97.
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so der SA-General Inspektor Kurt von Ulrich, in der SA nicht verstanden wurden und die „Moral stark niederdrückten". 396 Ebenso dachten auch die Squadristen, die Wahlarbeit, das Kleben von Plakaten und die Versammlungspolitik als fremde Politikform betrachteten. „Wir hatten zwei unterschiedliche Politikformen unter uns: die Politik der Versammlungen und die Politik der Expeditionen" schrieb der Squadrist Banchelli, ohne einen Zweifel daran zu lassen, dass ein richtiger Squadrist ausschließlich an den Expeditionen interessiert war. Die politische Praxis war maßgebend für den Mentalitätsunterschied. Gewalt war für die faschistischen Kampfbündler Essenz und Ausdruck ihrer Gruppenexistenz und die Hauptquelle ihres Korpsgeistes, während sie fur die Parteimitglieder einen stärker instrumentellen Charakter trug. 397 Dieser Unterschied zwischen Parteigliederung und Kampfbund zeigte sich auch darin, dass die einfachen SA-Mitglieder nicht immer zugleich Mitglieder der NSDAP waren. Wenn auch eine Quantifizierung dieses Anteils von Nicht-Parteimitgliedern nur annäherungsweise möglich ist, so blieb die offizielle Pflicht der SA-Männer, der Partei beizutreten, wahrscheinlich „reine Theorie". 398 1 929 behauptete der Oberste SA-Führer Franz von Pfeffer noch, daß „die SA-Männer [...] nur zum kleinsten Teil Mitglieder der Partei" seien. 399 In einer Gerichtsverhandlung vom Mai 1931 stellte Hitler fest: „Die Aufgabe ist es, der SA klarzumachen, daß sie Parteimitglieder sind". 400 Ein SA-Befehl des Gausturms München-Oberbayern vom Januar 1932 macht deutlich, dass den SA-Mitgliedern offenbar freigestellt worden war, der NSDAP beizutreten. So waren von 604 Münchner und Hamburger SA-Mitgliedern des Jahres 1932, wie Conan Fischer herausgearbeitet hat, nur 56 Prozent zugleich auch Mitglieder der NSDAP gewesen. Punktuelle Erhebungen Detlev Mühlbergers im württembergischen Waiblingen und hannoveranischen Northeim weisen noch niedrigere Ziffern um die 40 Prozent aus. Die Praxis der SA-Männer, der Partei nur verspätet oder auch gar nicht beizutreten, führte offensichtlich zu Schwierigkeiten. Nun hieß es, dass „in die SA nur noch aufgenommen werden [darf], wer gleichzeitig seinen Beitritt zur NSDAP erklärt hat". Noch im September 1932 gab es SA-Sturmführer, die ihre Männer daraufhinweisen mussten, endlich in die Partei einzutreten. Im 396 Bericht Kurt von Ulrichs an den Obersten SA-Führer vom 22.7.1931, betrifft „Stimmung in der SA (hauptsächlich aus dem Westen und Süden)"; zitiert nach Fischer, Stormtroopers, S. 161. 397 Die Aussage von Banchelli wird nach einem Textauszug bei Schneider (Making, S.290) zitiert. Vgl. Cardoza, Agrarian Elites, S.333. 398 Jamin, Rolle, S.333. Zur Anweisung, daß alle SA-Männer zugleich Mitglied der N S D A P zu sein hätten, siehe beispielhaft nur: G R U S A III vom 3.6.1927, in: RSA, Bd.II, Teil 1. S.335. Vgl. Longerich, Bataillone, S. 131,1 34; Bessel. Political Violence, S. 46. 399 Wagener, S.40. 4 0 0 RSA. Bd.1V, Teil 1, S.368.
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Vorjahr gab es offenbar an vielen Orten SA-Einheiten, ohne dass eine NSDAP-Ortsgruppe existierte. 401 Der Mentalitätsunterschied zwischen SA und Partei schlug sich sogar in handfesten Putschplänen nieder. Noch im Frühjahr 1932 wurde überall im Reich mobilgemacht. 402 Nachdem die NSDAP, trotz erheblicher Wahlerfolge, in den großen Ländern (Preußen, Bayern, Württemberg) nicht an die Macht gelangen konnte, wurde für den Fall des Sieges von Hitler bei den Reichspräsidentenwahlen geplant, im März oder April 1932, jedenfalls noch vor den preußischen Landtagswahlen, mit einem „Marsch auf Berlin" loszuschlagen. Etliche Berichte von staatlichen und Polizeibehörden, insbesondere aus Preußen, bestätigen dieses Vorhaben. 403 Schon seit Februar waren die
401 SA-Befehl Nr. 1/32 der SA-Untergruppe (Gausturm) München/Oberbayern vom 8.1.1932, in: StAM, Pol. Dir München, Nr.6822, Heft „Organisation der SA und SS", fol.3; Schreiben des Sturmfuhrers Julius Uhl vom Sturm 62 „Kurt Neubauer" in München an seine Truppfuhrer Reitgassi, Braun und Zellner vom 22.9.1932, in: StAM, Pol. Dir. München Nr.6823, Heft „Dienstbetrieb in der SS und SA", fol.207; OSAF, Stellvertreter Süd vom 19.9.1930: „Stellungnahme zur vorgesehenen Um-Organisation der SAFührung", in: BAB (ehem. BÄK), Sammlung Schumacher, Ordner 403, ohne fol.; Fischer, Stormtroopers, S.19, 23 (Anm.37); Mühlberger, Hitler's Followers, S.160/161; Jamin, Zwischen den Klassen, S.72 (Anm.31), 73-76 (zu den SA-Führern). Vgl. Reiche, Development, S.209. 402 Brachers Qualifizierung der SA-Absichten als ,,keine[r] Umsturzaktion großen Stils" muß als obsolet gelten (Bracher, Auflösung, S.424). 403 Dazu folgende Schreiben und Berichte im GStA PK, 1. HA., Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.311 (M): Schreiben des Regierungspräsidenten in Düsseldorf an den Preuß. Minister des Innern vom 26.2.1932 und 7.3.1932, fol.30/31; Schreiben des Preuß. Minister des Innern an den Polizeipräsidenten in Berlin vom 31.3.1932, fol.32; Schreiben der Nachrichtensammelstelle im Reichsministerium des Innern an die Nachrichtenstellen der Länder vom 2.3.1932, fol.63; Mitteilungen des Amtlichen Preußischen Pressedienstes vom 5.4.1932, fol. 168-170; Der Preußische Minister des Innern [ohne Datum], fol. 171-176. Folgende Berichte im GStA PK, I. HA., Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.313 (M): Schreiben des Oberpräsidenten der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen an den Preußischen Minister des Innern vom 3.3.1932, fol.262-268; Bericht des Kriminalsekretärs vom 9.3.1932, fol.272-274; „Übersicht über die bekannt gewordenen staatsfeindlichen Umtriebe der SA" [ohne Datum], fol.275-279; Schreiben des Regierungspräsidenten in Liegnitz an die Pressestelle des Preuß. Staatsministeriums vom 6.4.1932, fol.291/292; Geheimes Schreiben des Regierungspräsidenten in Merseburg an den Minister des Innern vom 18.3.1932, fol.303; Schreiben der Regierungspräsidenten in Schleswig und Erfürt, des Polizeipräsidenten von Altona, der Landjägerei des Kreises Pinneberg, der Ortspolizeibehörde Oppenbüttel, der Regierungspräsidenten in Lüneburg und Hildesheim, des Polizeipräsidenten in Hannover, des Regierungspräsidenten von Gumbinnen, sämtlich von Mitte bis Ende März 1932, fol.305-308, 310-331, 333, 335-339, 367; Schreiben des Regierungspräsidenten in Köln an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz vom 10.3.1932, fol.341; Geheimes Schreiben des Polizeipräsidenten Köln an den Regierungspräsidenten in Köln vom 8.3.1932, fol.342/343; Schreiben des Landrates in Wipperfurth an den Regierungspräsidenten in Köln vom 22.3.1932, fol.346; Schreiben des Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, Gau Volksstaat Hessen an die Terrorabwehrstelle beim Parteivorstand der SPD in Berlin vom 25.2.1932, fol. 357; Nachrichtensammelstelle im IAN an die
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SA-Leute im gesamten Reich verstärkt mit Waffen ausgerüstet worden, „bis hin zu Sprengstoff und schweren Maschinengewehren", wie aus dem preußischen Innenministerium berichtet wurde. Laut Besprechungen der SA-Führung soll die Hälfte aller SA-Männer mit Waffen ausgerüstet gewesen sein. 404 Die Pläne sahen vor, sämtliche Waffenvorräte des ostdeutschen Grenzschutzes in der Grenzmark Posen-Westpreußen zu beschlagnahmen. 405 Die SA-Männer wurden mit Uniformen versehen und zunehmend motorisiert, Massenquartiere wurden eingerichtet und die SA mit Proviant versorgt. Die preußische SA wurde auf Weisung der Münchner Führung in Alarmbereitschaft gesetzt, vereinzelt bildeten sich auch „Sprengtrupps". Ein als „RelaisDienst" bezeichnetes motorisiertes Nachrichtennetz zur Verbindung sämtlicher wichtiger SA-Führerstellen wurde installiert, das nach behördlicher Ansicht den „Charakter eines strategischen Aufmarschplans" hatte. 406 Ein SA-"Nachrichtendienst" zur Beobachtung der politischen Gegner, zur Erkundung der Polizeiorganisation und -stärke sowie der Stimmung in der Bevölkerung wurde eingerichtet. Übersichten über den Sitz wichtiger öffentlicher Behörden und Betriebe und Mobilmachungspläne wurden fertiggestellt, teilweise wurden regelrechte nationalsozialistische Proskriptionslisten erstellt. In den Mitteilungen des Amtlichen Preußischen Pressedienstes vom 5. April 1932 hieß es, dass ,,[a]lle diese Vorbereitungen" mit „besonderem Nachdruck gerade einige Wochen vor dem Termin der Reichspräsidentenwahl gefordert" wurden. Die Nationalsozialisten hätten „offenbar weitge-
Abwehrabteilung des Reichswehrministeriums vom 29.2.1932, fol.365/366; Schreiben des Regierungspräsidenten in Alleinstein an den Preuß. Minister des Innern vom 9.5.1932, fol.369; Schreiben des Amtsvorstehers in Widminnen an den Landrat in Lotzen vom 18.3.1932, fol.372/373. Siehe auch das Schreiben Groeners an Severing vom 8.3.1932, in: Staat und NSDAP, S.299; Kittel, S.641/642; Schumann, Politische Gewalt, S.322. Zum „Reichsrelais" der SA im Januar 1932 siehe vor allem den Schriftwechsel in: GStA PK, I. HA., Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.311, fol.94-117, 121-123 (M). 404 Der Preußische Minister des Innern [ohne Datum], in: GStA PK, 1. HA., Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.311, fol. 171-176 (M); Bericht des Kölner Polizeipräsidenten vom 21.07.1932, in. BAB (ehem. BÄK) R 43/1, Nr.2684, fol.283. 405 Schreiben des Oberpräsidenten der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen an den Preußischen Minister des Innern vom 3.3.1932, in: GStA PK, I. HA., Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.313, fol.262-268 (M); „Übersicht über die bekannt gewordenen staatsfeindlichen Umtriebe der SA" [ohne Datum], in: ebd., fol.275-279; Schreiben Groeners an den Preußischen Mnister des Innern vom 8.3.1932, in: Staat und NSDAP, S.299/300. Vgl. Vogelsang, Reichswehr, S.168. 406 Nachrichtensammeistelle im IAN an die Abwehrabteilung des Reichswehrministeriums vom 29.2.1932, in: GStA PK, 1. HA., Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.313, fol.365/366 (M). Ähnliche Berichte aus dem süddeutschen Raum gibt Rüffler, S.313/314.
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hende Vorbereitungen für den Fall der Machtübernahme getroffen". 407 Der Preußische Minister des Innern ergänzte: „Das sind schlechthin Vorbereitungen und Rüstungen für den Bürgerkrieg, die von dem Vorwand, nur fur Unruhen von kommunistischer Seite zu gelten, nicht gedeckt werden. Sie sind ein frivoles Spiel mit dem Feuer, dem die Preußische Staatsregierung nicht länger zusehen wird. Eidliche Versicherungen auf die Legalität der nationalsozialistischen Organisationen können die Preußischen Verwaltungsbehörden nur dann respektieren, wenn die Praxis der NSDAP mit den Eiden der Führer im Einklang steht." 408 Es ist kaum anzunehmen, dass die NSDAP-Führung über die Absichten der SA nicht informiert war - schon am 18. März, einen Tag nach den Durchsuchungen in den nationalsozialistischen Geschäftsstellen in Preußen, überreichten die Reichstagsabgeordneten Frank und Göring dem Reichsinnenminister eine von allen Reichstagsabgeordneten unterzeichnete Legalitätserklärung. 409 Hitler selbst erklärte am 17. März, dass Severings Vorgehen ein „Angstmanöver" sei und seine Maßnahmen „völlig haltlos" seien. Angesichts der Bewaffnung und der in der SA erstellten Pläne erscheint Hitlers Einlassung, dass die SA-Alarmbereitschaft lediglich ein normaler Vorgang der Wahlarbeit gewesen sei, wenig glaubwürdig. 410 Tatsächlich war es wohl eher so, dass die intensiven Ermittlungen der preußischen Behörden einerseits und der für die SA-Massen enttäuschende Sieg Hindenburgs bei den Reichspräsidentenwahlen andererseits die vorbereiteten Putschabsichten der SA vereitelt hatten. Während und nach den Reichstagswahlen vom Juli 1932 provozierten Teile der SA nochmals die Staatsmacht. Diese hauptsächlich von jungen Aktivisten in der SA getragenen Aufstände konzentrierten sich vornehmlich auf die östlichen Provinzen Preußens. Wahrscheinlich waren sie ohne Einwilligung der Münchner SA-Leitung vorbereitet worden. 411 Bei den meisten 407 Mitteilungen des Amtlichen Preußischen Pressedienstes vom 5.4.1932, in: GStA PK, I. HA., Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.311, fol.168-170 (M). Hervorhebung im Original. 408 Der Preußische Minister des Innern [ohne Datum), in: GStA PK, I. HA., Rep. 77, Mdl, Tit.4043, Nr.311, fol.171-176 (M). Ähnliche Befürchtungen hegten auch die Innenminister der Länder Bayern, Baden und Hessen, wie auf der Innenministerkonferenz am 5. April 1932 deutlich wurde, die in Staat und NSDAP, S.304-309, abgedruckt ist. 409 Siehe den Eintrag vom 11.3.1932 und 17.3.1932, in: Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente (hg. von Fröhlich, Elke), Band 2. München u.a. 1987, S. 138/139, 143/144; Goebbels, Kaiserhof, S.66. Vgl. Winkler, Weimar, S.449/450; Bracher, Auflösung, S.424-431; Kershaw, Hitler, S.459; Longerich, Bataillone, S.153/154; Rüffler, S.315. 410 Hitlers Erklärung in: RSA, Bd.IV, Teil 3, S.246-251. 411 Bericht für den Regierungsrat Diels im Preuß. Mdl vom 29.7.1932, in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.311, fol.367 (M). Bessels Hinweis, daß Röhm die Aktionen sanktioniert habe (Political Violence, S.177, Fußnote 75) beruht auf einem schwächeren Quellennachweis. Vgl. RSA, Bd.V, Teil 1, S.299.
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Anschlägen dürfte es sich um lokal geplante Aktionen gehandelt haben, wie in Görlitz, wo allein in der Nacht vom 9. zum 10. August 1932 mehr als 30 Zwischenfälle vorkamen. 412 Vor allem in Ostpreußen und Schlesien kam es zu zahlreichen Überfällen und Bombenanschlägen gegen sozialdemokratische und kommunistische Amtsträger und Zeitungsredaktionen. Eine Welle von Sprengstoffanschlägen richtete sich, vor allem in den südlichen Teilen Ostpreußens, gegen jüdische Geschäfte und Warenhäuser. Weiterfuhrende Aktionen im Hinblick auf einen Staatsstreich wird man diesen regionalen Aufständen allerdings nicht unterstellen können. 413 Ähnliche Entfremdungen zwischen der auf „legalem Kurs" gehaltenen Politischen Organisation und der wachsenden Unruhe in der SA war im Jahre 1932 auch in anderen Regionen zu beobachten. In Berlin liebäugelte der erst im August 1931 eingesetzte SA-Führer von Helldorf Anfang August 1932 offenbar kurzfristig mit einem gewaltsamen Staatsstreich. 414 Am stärksten trat in diesem Jahr die Revolte des SA-Gruppenführers Wilhelm Stegmann in Nürnberg hervor, die zur Besetzung von Julius Streichers NSDAP-Geschäftsstelle in Nürnberg und zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen SA und Partei führte. Stegmanns Gruppe trat schließlich aus der „verbonzten" NSDAP aus und formulierte eine klare Absage an den Legalitätskurs der NSDAP. 4 1 5 Eine Umfrage der SA-Führung bei ihren regionalen Untergliederungen vom September 1932 demonstrierte deutlich, wie stark deren Hoffnungen enttäuscht worden waren, glaubte man doch, die Machtübernahme in greifbarer Nähe zu haben. Zudem zeigen die Stimmungsberichte eine deutliche Kritik an der schlechten Finanzlage der SA. Negative Berichte kamen aus allen Teilen der Republik, sei es aus Hannover, Hamburg, Ostholstein, Aachen, Darmstadt oder Baden. Die Mehrheit wünschte die „Legalität zum Teufel", berichtete die SA-Gruppe Südwest. Aus Danzig meldete man, dass die SA von dem Gedanken beherrscht sei,
412 Bessel, Political Violence, S.91. 413 Siehe Bessel, Political Violence, S. 87-96; Der Volksbote Nr.174 vom 27.7.1932; Vorwärts Nr. 348 vom 26.7.1932, Nr.349 vom 27.7.1932, Nr.351 vom 28.7.1932; Berliner Tageblatt Nr.357 vom 29.7.1932, Nr.388 vom 17.8.1932. Weiterhin diverse Berichte von Regierungsstellen an das preußische Innenministerium, in: GStA PK. I. HA, Rep.77. Mdl, Tit.4043, Nr.311, fol.351-353, 363-367, 377, 380-383 (M); Longerich, Bataillone, S.156158; Der Oberpräsident der Provinz Westfalen an den Preußischen Minister des Inneren vom 5.8.1932, in: GStA PK. I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.312, fol.13 (M). Zu den antisemitischen Ausschreitungen im August 1932, vor allem in Ostpreußen und Oberschlesien: GStA PK. 1. HA, Rep. 77, Mdl, Tit.4043, Nr. 122, fol.22-39. 40-44. 58/59 (M). 414 Harrison, S.393. 415 Hierzu: Reiche, Development, S.146-172; Longerich, Bataillone. S.163/164.
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„daß der legale Weg nicht gangbar ist". Das Pendel schlug deutlich zur Seite der Gewaltaktion aus. 4 1 6 Es war sicher kein Zufall, dass der SA-Führer Walther Stennes von Hermann Göring init den italienischen Squadristen verglichen wurde. 417 Tatsächlich bestand in beiden Bewegungen - bis zu den Machtübertragungen an Mussolini und Hitler - ein labiles Nebeneinander von gewaltbereiten Putschisten, die sich vor allem in den KampfVerbänden sammelten, und den Politikern, die eher durch Kontaktnahmen mit den alten Eliten und parlamentarische Verhandlungen an die Macht kommen wollten. Diese Doppelstrategie produzierte Spannungen innerhalb der Bewegungen, die immer wieder zu manifesten Krisen führten. 2.3.4 Mittel und Wege zu Beschwichtigung und Kooperation Durch welche Maßnahmen konnten die Bewegungen zusammengehalten werden, was verhinderte den endgültigen Bruch zwischen Miliz- und Parteiführung? Die Mittel weisen erstaunliche Parallelen auf. In beiden Fällen wurde nämlich erstens auf die Militarisierung der Kampfbünde und zweitens auf die Festigung des Führermythos zurückgegriffen, wobei der charismatische Führer die „gültige Heiligkeit der Autorität" unterstrich. 418 Militarisierung An Erklärungen zur Notwendigkeit einer „Aristokratie des Gehorsams" im italienischen Faschismus hat es auf dem Höhepunkt der Krise um den Befriedungspakt wahrlich nicht gemangelt. 419 Schon Mitte August 1921 wurde gehandelt. In Mailand, dem Zentrum des politischen Flügels der Bewegung, richtete man eine Propagandaschule ein, auf der Mussolinis Überlegungen zum Wesen und Charakter des Faschismus gelehrt wurden. Am Ende des Jahres 1921 konnte man auch die verstärkte Bildung von „squadre sportive" beobachten, die militärisch durchorganisiert waren. 420
416 Die Stimmungsberichte im IfZ, Μ A 132, hier zitiert nach Longerich, Bataillone, S.159/160. Siehe auch Fischer, Stormtroopers, S.162-164. 417 Göring bemerkte: „Stennes wollte den Marsch auf Rom" (Schreiben des Reichsministers des Innern an die Nachrichtenstellen der Länder vom 13.5.1931, 6. Seite, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6808, Heft „SA Allgemeines", fol.89-97). 418 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S.662. 419 Gentile, Storia, S.282, 318, 326, 336. 420 Bericht der Präfektur von Neapel an das Innenministerium, DGPS, vom 19. Oktober 1921, in: ACS, Mdl, DGPS, CA 1922, cat. Gl, fasc. „Fasci di combattimento. Costituzione Fasci per Provincie e Affari generali", busta 101, fasc.. „Assemblea fascista" in Neapel am 16. Oktober 1921, ohne fol. Zur Propagandaschule: Gentile, Storia, S.331/332, Fußnote 22.
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Im November 1921 dann, nur zwei Monate nach den Machtdemonstrationen der Squadristen, wurde ein nationaler Kongress der Fasci in Rom einberufen, auf dem den Forderungen nach stärkerer Disziplin eine einheitliche organisatorische Gestalt verliehen wurde. In den Kongresstagen vom 7. bis zum 10. November 1921 wurde die faschistische Bewegung zu einer Partei mit Statuten und geregelten Hierarchien umgeformt. Dass sich die neue Partei ausdrücklich durch die drei Prinzipien „Ordnung, Disziplin und Hierarchie" definierte, war kein Zufall. 421 Schon Anfang April 1921 hatte Mussolini mehrfach betont, dass der Faschismus eine „Armee" sein solle, in der man die „freiwillige Disziplin" wiedererkenne. Mitte des Monats stellte er fest, dass „der Sinn für Disziplin unter den Faschisten am größten sei", und dies sei ein „Privileg, ein Stolz, ein Adelstitel, eine Garantie des Sieges". 422 Auf dem Mailänder Kongress der Faschisten Anfang Juni 1921 definierte man die faschistische Bewegung durch die Autonomie ihrer Organisationen und unterstrich gleichzeitig ihre hierarchische Struktur und kollektive Identität und Treue. 423 Weniger eine inhaltliche oder programmatische Übereinkunft als vielmehr die autoritäre Festlegung einer hierarchischen Befehlsstruktur war es, die den Gewaltaktionen der radikalen Squadristen Einhalt gebieten sollte. Es ging nicht darum, den Kampfbund aufzulösen, sondern die Funktionen innerhalb der faschistischen Bewegung so auszudifferenzieren, dass der Squadrismus die Partei nicht an der Erfüllung ihrer politischen Aufgaben hinderte. Mussolini wollte beides: Einerseits vermeiden, dass die Squadristen ihm die Waffen der Legalität entwinden, und andererseits nicht auf das Druckmittel der Gewalt verzichten, freilich ohne selbst die Hegemonie innerhalb der faschistischen Bewegung zu verlieren. Der Römer Kongress vom November 1921 symbolisierte dies auf frappante Weise. Zum Kongress hatten sich 10.000 Faschisten zusammengefunden. Am Eingang des Sitzungsgebäudes überwachten Squadristen in martialischen Uniformen den Einlass. Während es auf den Straßen Roms zu Übergriffen kam, wurde innerhalb des Sitzungsgebäudes „das Prinzip stärkster Disziplin" für die frischgebackene Partei beschlossen. Im Anschluss an den Kongress kam es dann zu schweren Zusammenstößen am Bahnhof und im Arbeiterviertel San Lorenzo, bei denen sechs Tote, 14 Schwer- und 93 Leichtverletzte sowie elf verletzte Polizisten
421 Payne, History, S. 102; Gentile, Storia, S.392; Lytellton, Seizure, S.76. Zum Römer Kongreß vom November 1921 siehe: Gentile, Storia, S.361-386; Pombeni, Demagogia, S:29-37; De Feiice, Mussolini il fascista, Bd. 1, S.183-198; Corriere della Sera Nr.268 vom 9.11.1921 undNr.270vom 11.11.1921. 422 Mussolini, Benito: Discorso di Bologna, in: Ders.: Opera Omnia, Bd.XVI. S.244 (Rede vom 3.4.1921); Mussolini, Benito: L'equilibrio, in: Popolo d'ltalia vom 22.4. 1921. 423 Zum Kongreß siehe Gentile, Storia, S.229-243, hier S.243.
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zurückblieben und insgesamt 306 Personen - unter ihnen 80 Squadristen festgenommen wurden. 4 2 4 Am 22. November 1921 wurde durch das Zentralkomitee der PNF ein Generalkommando der „Squadre di Combattimento" gebildet, das für die Konstituierung, Organisation und Disziplin der Squadren zuständig war. Sie sollten für eine Festlegung des Verhältnisses zwischen dem politischen und dem militärischen Flügel der Bewegung Sorge tragen, die Gewalttätigkeit der Squadristen unter Kontrolle bringen und Sporteinrichtungen zur körperlichen Ertüchtigung schaffen. Dieses Generalkommando setzte sich aus vier Generalinspektoren zusammen, die die „Squadre di Combattimento" befehligen sollten. Zu den Generalinspektoren wurden General Asclepia Gandolfo, ein ehemaliger Kommandant von Fiume, der seinerzeit D'Annunzios Putsch unterstützt hatte; Leutnant Ulisse Igliori, Weltkriegssoldat, ebenfalls Teilnehmer an D'Annunzios Fiumeunternehmen und Squadrenführer von Rom und dem Lazium; der Marchese Dino Perrone Compagni, ras des Agrarfaschismus in der Toskana, sowie Italo Balbo, der berüchtigte Squadrenfuhrer aus Ferrara und der Emilia ernannt. 425 Bald arbeiteten diese vier Männer ein Organisationsstatut aus, das im Februar 1922 von der Partei gebilligt und im März eingeführt wurde. Hierin wurde eine einheitliche Uniformierung der Squadren festgeschrieben, eine engmaschige paramilitärische Befehlsstruktur eingeführt, die, in Anlehnung an römische Militäreinheiten, von den Squadren (20-50 Mann) über Centurien (4 Squadren), Kohorten (4 Centurien) bis zu den Legionen (3-9 Kohorten) reichte. Jeder dieser Einheiten wurde ein Führer zugeordnet. Zudem wurde festgelegt, daß alle erwachsenen männlichen Mitglieder der PNF zugleich auch Mitglieder der squadre d'azione sein sollten. 426 Die mit diesen Anweisungen festgeschriebene Disziplinierung und Zentralisierung vermochte jedoch die praktischen Probleme der Kontrolle keineswegs zu lösen. In dem Briefwechsel zwischen den Inspektoren Perrone Compagni und Italo Balbo machte der erstere immer wieder darauf aufmerksam, dass es sehr schwer sei, so große Einheiten wie die Legionen, zumal in
424 Vgl. ACS, Mdl, DGPS, CA 1921, busta 90, fasc.149 und 150: „Congresso nazionale". Die Aufstellung der Toten, Verletzten und Festgenommenen durch den Römer Quästor Valenti am 13.11.1921 (ACS, Mdl, DGPS, CA 1921, busta 90, fasc. 150: „Congresso nazionale", ohne fol.). Verfälschend die faschistische Darstellung bei Chiurco, Storia, Bd.3, S.590-592 und Benedetti, S.6/7; aber auch bei Lazzero, S.14. Vgl. weiterhin Tasca, S.199; Gentile, Storia, S.362, 382, 386. 425 ACS, Mdl, DGPS, CA 1922, cat. G l , „Fasci di Combattimento. Costituzione Fasci per Provincie e Affari generali": 2. Fasci di combattimento, Affari Generali, fasc.III, ohne fol. (Präfektur von Padua an das Innenministerium, Direzione Generale della Pubblica Sicurezza vom 18.4.1922); Chiurco, Storia, Bd.4, S.485; Gentile, Storia, S.388, 392/393; Segrö, Balbo, S.71. Zu Igliori siehe auch Chiurco, Storia, Bd. 5, S.173/174. 426 Segrö, Balbo, S.72/73; Tasca, S.213; Mantelli, S.51.
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den ländlichen Regionen, zu kontrollieren. 427 Daher beschloaa das zentrale Komitee der PNF im August 1922, ein Oberkommando des Squadrismus einzuführen, da die einzelnen Kompetenzgebiete nicht genau genug umrissen worden waren und die Disziplin in den Squadren immer noch zu wünschen übrig ließ. Unter der Leitung von Italo Balbo, Cesare Maria De Vecchi und General Emilio De Bono wurde ein Reglement der faschistischen Miliz ausgearbeitet, das vor allem eine strenge Disziplinarordnung, aber auch weitere Vorschriften fur Uniform, Grußformel und Aufmarschform, für die Aufstellung von Sondereinheiten sowie eine nähere Festlegung der Hierarchiebenen umfaßte. Zudem wurden die Squadren zu regelmäßigen militärischen Übungen, Aufmärschen und sogenannten Propagandaexpeditionen abkommandiert. 428 Den Squadren, die sich nach diesem langen Weg der Militarisierung und Hierarchisierung noch immer renitent verhielten, begegnete man im September 1922 schließlich mit Ausschlussverfahren und physischen Sanktionen. „Wo es eine Situation gibt, die krankhaft ist" erklärte Mussolini, „muss man sie mit Eisen und Feuer kurieren". 429 Wenige Tage vor dem sogenannten Marsch auf Rom trat zur Disziplinierung der Squadren und der Militarisierung ihrer Organisationsstruktur das Versprechen, man werde sie bei Eroberung der Staatsmacht zur Miliz machen und ihr die vormilitärischen Ausbildungskurse überlassen. Der Squadrismus solle, wie es im „Popolo d'Italia" hieß, als Staatsorgan das „Ideal der bewaffneten Nation verwirklichen". 4 3 0 Zu eben dieser Zeit, kurz vor dem Machtantritt Mussolinis, wurde in „La rivolta ideale", einer faschistischen Zeitschrift der Romagna, der Zusammenhang zwischen Befriedungspakt, Krise und Disziplinierung der Squadristen in einer sprachlichen Umschreibung direkt eingestanden: „Kein Pakt", so hieß es, „sondern nur unsere Disziplin muß unsere Aktionen bestimmen". 431 Auch die Spannungen zwischen SA und NSDAP sollten durch eine stärkere Disziplinierung der SA unterdrückt werden. Nach der ersten StennesRevolte sind die markigen Ausführungen der Parteileiter zur Einhaltung der „eiseren Disziplin" Legion. Im Oktober 1930, auf dem Höhepunkt der Zwistigkeiten zwischen SA und Partei, stellte der SA-Stabschef Otto Wagener heraus, die SA stelle das Reservoir für ein „kommendes deutsches Nationalheer" dar. In seinem Schreiben an die Stellvertreter des Obersten SA-Führers machte er klar: „Die SA erzieht den Geist der kommenden Armee. Deshalb
427 ASB, 1921-1922, Alfabetico, fasc. „Dino Perrone Compagni", ohne fol. 428 Chiurco, Storia, Bd.4, S.489-495; Balbo, Marsch, S. 153-157, 179; Gentile, Storia, S.626628; Tasca, S.303/304; Engelmann, Provinzfaschismus, S.198. 429 Mussolini, Benito: Disciplina assoluta!, in: Popolo d'Italia vom 7.9.1922. 430 Popolo d'Italia vom 24.10.1922. 431 ACS, MRF, busta 142, ohne fol. (La rivolta ideale Nr.6 vom 13.10.1922).
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muß auch die SA selbst und jeder einzelne SA-M[ann] in diesem Geist erzogen sein." Doch blieb es nicht bei bloßen Appellen an die Disziplin und die „freudigste Unterordnung". 432 Der seit dem Januar 1931 neu eingesetzte SA-Stabschef Ernst Röhm verknüpfte diese Absicht mit einer gewissen Militarisierung der SA. Dies drückte sich zum einen darin aus, dass die SA-Leitung stärker hierarchisiert wurde. Neue Hierarchieebenen wurden in die Organisation eingezogen, jede Einzelheit des SA-Dienstes erschöpfend geregelt, Spezialformationen wie die SA-Motorstürme wurden verstärkt, und die SA-Führer sollten durch die im Frühjahr 1931 neu eingerichtete „Reichsfuhrerschule" militärisch geschult werden. 4 3 3 Wichtig waren hier die regional organisierten „SASchulungslehrgänge", die drei Ziele verfolgten: Ein geeignetes Führungskorps auszubilden, den SA-Leuten durch Sportund Exerzierübungen ein eigenes Betätigungsfeld zu geben und die Teilnehmer fester in die Organisation einzubinden. So schrieb der Regierungspräsident in Breslau im September 1931 über die neu installierten Schulungskurse der schlesischen SA: „Besonderer Wert wird darauf gelegt, die SA-Leute eine Zeit lang aus dem Alltag loszulösen, um sie in die nationalsozialistische Gedanken- und Gefühlswelt einzuführen. Der SA-Mann soll 'seelisch und äusserlich vollkommen umgestülpt' in seinen Sturm zurückgehen." 434 Einen Monat später veröffentlichten die Nationalsozialisten in einem Artikel über die Sportschulen ihre Erfolgsmeldung: „Es ist ein neuer Geist, der in der schlesischen SA eingezogen ist. Ein Geist der nichts mit Prätorianertum und politischem Landsknechtstum zu tun hat. Auch in disziplinarer Hinsicht beginnt sich die Wirkung wohltuend bemerkbar zu machen." 4 3 5
432 Zitate aus: Völkischer Beobachter Nr. 159 vom 6./7.7.1930 (Gauleiter Wagner); Der Angriff Nr.54 vom 6.7.1930 (Gauleiter Goebbels in der Beilage „Politisches Tagebuch"); Der Angriff Nr.53 vom 3.7.1930 (Gauleiter Goebbels); RSA, Bd.IV, Teil 1, S.248-258. Für den Rundbrief: Schreiben des Stabschefs Wagener an die OSAF-Stellvertreter vom 3.10.1930, in: BAB (ehem. BÄK), Sammlung Schumacher, Ordner 403, ohne fol. 433 Zur Remilitarisierung der SA ab 1931 siehe auch Höhne, S.102-122; Longerich, Bataillone, S.112-115; Werner, S.469, 500/501, 519, 535-543. Zur Reichsfuhrerschule siehe: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6812, Hefte „Reichsfuhrerschule" und „Verzeichnisse über die Teilnehmer an den Kursen der R.F.S."; StAM, Pol. Dir.München, Nr.6822, Heft: „Reichsfiihrerschule der SA"; StAM, Pol. Dir. München, Nr.6831, Heft VI „Braunes Haus, Reichsfiihrerschule", fol. 1-93; Preußisches Polizeiinstitut (Hrsg.): Denkschrift über Kampfvorbereitungen und Kampfgrundsätze radikaler Organisationen (bearb. von Polizeimajor Ratcliffe), in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.311, S.69/70 bzw. fol.323/324 (M). Daneben auch Horn, Führerideologie, S.395-398; Werner, S.555-562; Orlow, S.222-225. 434 Der Regierungspräsident in Breslau (Schlesien) an den Preuß. Minister des Innern vom 25.9.1931, in: GStA PK, I. HA., Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.310, fol.157 (M). 435 Unsere schlesischen SA-Sportschulen, in: Der SA-Mann Nr.36 vom 15.10.1931 (Beilage des Völkischen Beobachters Nr. 228 vom 15.10.1931).
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Tatsächlich organisierte Edmund Heines im Sommer 1931 immerhin vier von Rittmeister Winterfeld geleitete Schulungskurse für die schlesische SA, an denen insgesamt 470 SA-Männer teilnahmen. Dazu kamen drei weitere zur Führerausbildung angelegte Sportkurse von September bis Oktober 1931 mit insgesamt über 300 Teilnehmern. Damit absolvierten innerhalb kurzer Zeit mehr als fünf Prozent der gesamten schlesischen SA eine Führerausbildung. 4 3 6 In Berlin hatte man schon nach der ersten Stennes-Krise, im Herbst 1930, eine SA-Führerschule in Grundmühle bei Oranienburg errichtet. Zu den wöchentlichen Kursen wurden bis zu 150 Leute abkommandiert, die dort militärische Grundkenntnisse in Theorie und Praxis, Hinweise auf den Dienstweg innerhalb der NSDAP und im Umgang mit der Polizei erhielten. Insgesamt drei Monate, bis zum Dezember 1930, währte die Einrichtung in Grundmühle. 437 Im November 1931 wurden zudem durch einen Erlass Hitlers nochmals neue Hierarchieebenen in die Organisation eingezogen. Die Beförderung innerhalb der SA wurde vom Dienstalter abhängig gemacht, um eine größere Sicherheit über die Zuverlässigkeit und Loyalität der SA-Führer zu erzielen. Ein halbes Jahr darauf wurde die Anweisung vom Mai 1931 nochmals wiederholt, dass die SA-Führer vom Sturmführer aufwärts direkt durch Hitler ernannt werden. Ihre Reputation an der SA-Basis sollte so nochmals gestärkt werden. 438 Zudem wurden im gesamten Reich verstärkt Wehrsportübungen von den SA-Männern absolviert, zumal die sie durch Röhms Absprache mit Kurt von Schleicher im März 1931 die Grenzschutzeinheiten im Osten verstärkten und auf Truppenübungsplätzen exerzieren konnten. Durch die intensivierten Marschübungen, das Sport- und Geländetraining, das Proben des scharfen Schusses und das Simulieren von Straßenschlachten wurden den SAMännern Aktionsfelder eröffnet, die sie vom Konflikt mit der NSDAP ablenken sollten. Der Gausturm Berlin etwa hielt seit dem Herbst 1930 neben den militärischen Geländeübungen in der Grundmühler Schule auf dem Gut 436 Die Stärke der schlesischen SA betrug im Oktober 1931 15.351 Mann. Gruppenbefehle Nr.9, 10 und 19 vom 6.7.1931, 1.8.1931 und 2.9.1931 von Edmund Heines an die schlesische SA, in: GStA PK, I. HA., Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.310, fol.137/138, 139143, 160/161 (M); Der Regierungspräsident in Breslau an den Preuß. Minister des Inneren vom 27.11.1931, betrifft: SA-Ausbildungskurse auf dem Gute Schleibitz, Kreis Oels in: GStA PK, I. HA., Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.310, fol.177/178 (M); GStA PK, I. HA., Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.311, fol.37; Schreiben des Regierungsrates 1. Kl. Frank an das Staatsministerium des Innern in München vom Dezember 1931, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6818, fol.34,35,38. 437 Schreiben des Regierungsrates I. Kl. Frank an das Staatsministerium des Innern in München vom Dezember 1931, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6818, fol.28-31: Wirsching, Weltkrieg, S.455/456. 438 Erlaß Nr.4 vom 28.11.1931, in: RSA, Bd.IV, Teil 2, S.212-215. Erlaß vom Mai 1931: Völkischer Beobachter Nr. 141 vom 21.5.1931.
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Schönwalde bei Schönerlinde Übungen ab, an denen der Berliner SA-Sturm 2 und die Berliner Standarten I und IV teilnahmen. Seit dem Oktober 1932 schließlich wurden vom Berliner SA-Führer auch größere Geländeübungen in Grämitzberge südwestlich von Berlin angeordnet. Im oberbayrischen Raum waren schon im März dieses Jahres verstärkt militärische Übungen der SA beobachtet worden. Ähnliches ließ sich fur das gesamte Reich feststellen.«9 Röhms Übereinkommen mit Schleicher kam den Neigungen des SAStabschefs zur Stärkung des Wehrverbandscharakters der SA entgegen, der das Wesen des Nationalsozialismus als „soldatisch durch und durch" bezeichnete. Allerdings ergaben sich aus der Teilnahme der SA am Grenzschutz immer wieder kulturell bedingte Spannungen, da der vulgär-bandenartige Habitus der militärisch wenig geschulten SA-Männer mit dem aristokratisch-elitären Selbstverständnis der Reichswehroffiziere kollidierte. 440 Die durch Einziehung verschiedenster Hierarchieebenen und Militarisierung versuchte Disziplinierung des Squadrismus wie der SA musste jedoch auf natürliche Grenzen stoßen, beruhte doch die Mitgliedschaft in beiden Organisationen auf Freiwilligkeit. Mit Sanktionsgewalt allein ließen sich die Spannungen in den faschistischen Bewegungen nicht überbrücken. Der Kitt, der sie in den Krisenmomenten zusammenhielt, war das höchst labile Fundament der charismatischen Autorität, welche die emotionale Vergemeinschaftung der Bewegungsmitglieder vertiefte und verstärkte. Der die ideellen Interessen befriedigende Führermythos ersetzte fehlende materielle und politische Gemeinsamkeiten durch einen Offenbarungs- und Heroenglauben bei den Anhängern der Bewegung, wobei eben dieser Glaube den Legitimitätsgrund der charismatischen Herrschaft darstellte.
439 Denkschrift „Zur Frage der Legalität oder Illegalität der NSDAP", in: StAM Pol. Dir. München Nr.6818, fol.33; Schreiben des Regierungsrates I. Kl. Frank an das Staatsministerium des Innern in München vom Dezember 1931, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6818, fol.28-31; Engelbrechten, S.95, 243/244; Rote Fahne vom 28.4.1931, 1. Seite der 1. Beilage; Graf, S.41/42; Erich Peter Naumann: SA-kehrt marsch!, in: Die Weltbühne 28, Zweites Halbjahr, Heft 52, 1932, S.932-934; Halbmonatsbericht des Regierungspräsidenten von Oberbayern vom 5.3.1932, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6808, Heft „SA Allgemeines", fol.43; GStA PK, I. HA., Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.310, fol.159, 163, 177/178 (M); BAB (ehem. BÄK) NS 23/474 (Stimmungsbericht der Untergruppe Mittelschlesien-Süd vom 26.9.1932). 440 Zum Grenzschutz: Staat und NSDAP, S.189/190 (Brief Röhms an Schleicher vom 24.3.1931 und Brief Schleichers an Röhm vom Ende März 1931); Fallois, S.38-46; Vogelsang, Reichswehr, S.118/119; Longerich, Bataillone, S. 115. Vgl. zu Verhandlungen mit den Regierungsbehörden während der Frontbann-Zeit: Röhm, Geschichte [1934], S.321-346. Zu der Bedeutung des Wehrgedankens in der SA allgemein siehe auch: Werner, S. 41/42; Longerich, Bataillone, S.115; Rüffler, S.93, 295. Zitat Röhms: Röhm, Ernst: Die braunen Bataillone der deutschen Revolution, in: Nationalsozialistische Monatshefte 5, Heft 46, 1934, S.5. Vgl. Fallois, S.55-62; Röhm, Warum SA?, S.l 1-20.
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Charismatische
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Führer
Besonders seit dem Römer Kongress im November 1921 wurde Mussolini zu einer charismatischen Autorität stilisiert. 441 Schon während der internen Krise des Faschismus im Mai 1921 wurde Mussolini immer öfter als Führer inszeniert. So etwa in der Zeitung „II Fascio", die schrieb, Musslini hätte sich „uns niemals mehr als in diesem Moment als scharfsinniger Politiker und capo offenbart". 442 Auf dem faschistischen Kongress in Mailand Anfang Juni 1921 wurden überall Bilder Mussolinis in verschiedensten Formaten angebracht, die ihn in der - in späteren Zeiten geläufigen - Ikonographie des Übermenschen mit dem typisch starren Blick zeigten. 443 Mussolini selbst arbeitete an diesem Bild des entschlossenen und unbeirrbaren Führers mit. Noch auf dem Höhepunkt der Krise betonte er ständig, dass er der Vater des Faschismus sei. „Wir sind eine Armee", bekundete er am 24. Juli 1921 in einem Interview und fuhr fort: „Diese Armee befehlige ich. Wenigstens bis jetzt. Weil ich die Bewegung geschaffen habe, weil ich sie auf den Weg der militärischen Ehre gefuhrt habe, weil ich sie liebe, wie sie sicherlich niemand anders lieben kann". 444 Auf den Tag genau zeitgleich mit der Ratifizierung des Befriedungspaktes bezeichnete Mussolini den Faschismus sogar als „seinen Sohn". 445 Dieser Bezug auf die intime und personalistische Familiengruppe zeigt deutliche Parallelen zu der für die charismatische Herrschaftsform typischen emotionalen Vergemeinschaftung. Zugleich wurde der Neologismus „Duce" - gebildet vom lateinischen Wort „dux" und damit auf römische Vorbilder hinweisend - in der Bewegung zunehmend populär. Der schon für Garibaldi verwendete Begriff umgab Mussolini mit einem Heroenkult, während man ihn vor 1921 schlichter oft als „maestro" bezeichnet hatte. 446 Anfang August 1921 äußerte sich Mussolini selbst zur Bezeichnung „Duce": „Ich bin nur dem Namen nach der 'duce'. Ich habe bislang über dieses Wort hinweggesehen, weil es mir, der solch Worte und feierlichen Tand verabscheut, nicht gefiel. Aber es gefiel den anderen." Ganz gezielt setzte Mussolini, der sich selbst als „treuer duce" titulierte, den Führungsanspruch gegen die revoltierenden Squadristen ein. 441 442 443 444
Vgl. Gentile, Storia, S.219/220, 222. Noi: Crisi fascista?, in: 11 Fascio vom 28.5.1921. Kursivierung im Original. Gentile, Storia, S.231. Interview in der „Provincia della Spezia" vom 30.7.1921, zitiert nach den Auszügen bei De Feiice, Mussolini il fascista, B d . l , S.142 und Gentile, Storia, S.273. 445 Mussolini, Benito: Fatto compiuto, in: Popolo d'Italia vom 3.8.1921. 4 4 6 II Gagliardetto vom 14.7.1921, in: ACS, MRF, busta 130, 1. Mappe („Ritagli di giornali"); Payne, History, S.102; Petersen, Mussolini, S.245; Referat Jens Petersen, in: Der italienische Faschismus, S.35; Melograni, Cult, S.229. Natürlich wurde der Duce-Kult erst in der Regimephase vollends aufgebaut. Allein an den zwischen 1922 und 1943 geschriebenen circa 400 Büchern über Mussolini, die aus faschistischer Feder stammen, zeigt sich dies. Hasler, S.420-506; Petersen, Mussolini, S.248-258; Biondi, S.3-10.
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Obwohl er sich selbst zum „Freund unter Freunden; niemals jedoch als Patron unter Knechten" stilisierte, machte er unmissverständlich klar, daß der squadristische Weg keine Befreiung, sondern Tyrannei und Egoismus sei. Nur einer könne die Ziele und das Wesen der Bewegung bestimmen. Der Squadrismus sei „nicht mehr der Faschismus, der von mir konzipiert wurde". Drohend schloss er: „Es gibt Platz für alles in Italien, auch für dreißig Faschismen, was bedeuten würde: für keinen Faschismus". 447 Mit Recht konnte Mussolini einwenden, dass die Squadrenführer im Wesentlichen lokale Figuren waren, die ohne nationale Ausstrahlungskraft blieben und in nicht wenigen Fällen auch bloß regionale Ambitionen hatten. So setzte Mussolini auf die nationale Karte, indem er auf dem Römer Kongress im November 1921 betonte, der Faschismus sei keine venetianische, toskanische oder emilianische Erscheinung, „sondern italienisch, nur italienisch". Nach dem Bericht des „Popolo d'Italia" fiel die Zuhörerschaft unmittelbar nach der Rede Mussolinis in eine „religiöse Stille", bevor dann „heftige, eindrucksvolle und endlose Ovationen" erschallten. Blumen wurden auf die Bühne geworfen, Schreie und der Schlachruf „alalä" ertönten. Abschließend soll von allen Kongreßteilnehmern die faschistische Hymne „Giovinezza" gesungen worden sein. Der enthusiastische Bericht vom persönlichen Triumph Mussolinis war offenbar keine reine Stilisierung der „Duce-Fabrik" in der faschistischen Parteizeitung, denn auch in der sozialistischen Zeitung „Avanti" und im rechtsliberalen „Corriere della sera" war ähnliches nachzulesen - eine Anerkennung also, die zeigte, daß sein Charisma Geltung beanspruchen konnte. 448 Diese Stilisierung des Führerbildes beeindruckte zwar nicht alle, aber doch die meisten Vertreter eines gewaltsamen Weges. 4 4 9 Die Personalisierung des Konfliktes führte zu einer spürbaren Schwächung des milizionären Teils der Bewegung. Durch die Stärkung der personalistisch auf den „Duce" hin ausgerichteten informellen Zusammengehörigkeit und der ideellen Interessen und emotionalisierten Bande konnten die unterschiedlichen politischen Interessenlagen zumindest notdürftig überbrückt werden. Mussolinis nicht regional begrenztes, sondern nationsweites Prestige, seine Stilisierung zum Gründer und Wächter des Faschismus sowie sein missionarisches Sendungsbewusstsein waren wichtige Ressourcen, die seinem Aufbau zu einem Führer charismatischen Typs dienten. Piero Marsich etwa, syndikalistischer Faschi447 Mussolini, Benito: La culla e il resto, in: Popolo d'Italia vom 7.8.1921. Vgl. Mussolini, Opera omnia, Bd.XVIl, S.349; Repaci, S.923. 448 Mussolini, Benito: II progamma fascista [8.11.1921], in: Ders.: Opera omnia, Bd.XVIl, S.216-223; Popolo d'Italia Nr. 270 vom 11.11.1921; Avanti vom 9.11.1921; Corriere della sera Nr.268 vom 9.11.1921. Zur „Duce-Fabrik" der Jahre 1920-1922: Biondi, S.51-85. Zur Geltung des Charismas: Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S.140. 449 Lytellton, Seizure, S.73; Riccardi, S.41-44; Corner, Fascism, S.227, 232. Vgl. Piazzesi, S.162,168, 197.
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stenführer im Veneto, der entschieden gegen die Umwandlung der Bewegung in eine Partei opponierte, ließ sich durchaus von dem Ducebild beeindrucken und konzedierte, dass Mussolini „immer unser größter Duce" sein werde, 4 5 0 obwohl er der Meinung war, der Faschismus müsse intransigent und frei von parlamentarischen Kompromissen bleiben. Zudem genoss das „politische Genie" Mussolini auch außerhalb der faschistischen Bewegung, in konservativen und monarchistischen Kreisen, eine „außeralltägliche Popularität". 451 Durch die Stilisierung Mussolinis zum Duce, der allein in der Lage sei, intuitiv das Wesen des Faschismus zu erkennen und somit die Bewegung zu repräsentieren, mussten alle Kritiken als Verrat an der Bewegung selbst erscheinen. Als der Stern der Mussolini stets bedrohenden Konkurrenzgestalt Gabriele D'Annunzios im Frühjahr 1922 sank, konnte die Figur des Duce die Spannungen innerhalb der Bewegung noch besser überbrücken. Nach Überwindung der letzten innerparteilichen Revolte im März 1922 nahm Mussolini eindeutig die Spitzenposition in der Partei ein. 4 5 2 Schon Ende 1920 durch die entschiedene Fiumepolitik des Premierministers Giovanni Giolitti eingeengt, dann von dem parlamentarischen Faschismus entfremdet und schließlich von der immer mächtiger und umfangreicher werdenden faschistischen Bewegung außerhalb Fiumes geschwächt, kämpfte die Bewegung der Fiumelegionäre unter der gerade für Jüngere wichtigen Symbolfigur des Poeten D'Annunzio um ihre Eigenständigkeit, zumal sich auch die Triester Faschisten unter Francesco Giunta im März 1922 als Konkurrenzorganisation in Fiume engagierten. D'Annunzio entfremdete sich durch seinen nationalrevolutionären Romantizismus sukzessive von der faschistischen Bewegung. Im Mai 1922 schließlich konnte D'Annunzio von Mussolini sogar öffentlich im „Popolo d'Italia" angegriffen werden. 453 Indem Mussolini auf dem Römer Kongress vom November 1921 Dino Grandi, den syndikalistisch-mazzinistisch gesinnten Faschistenführer aus Bologna, für seine Person gewinnen konnte, war auch der squadristische Widerstand gedämpft. Grandi und Mussolini bekundeten mit theatralischen und publicity wirksamen Gesten, gegenseitigen Umarmungen und Küssen ihre Aussöhnung, und Grandi erklärte öffentlich seine „große Zuneigung" zu
450 451 452 453
In „L'Italia nuova" vom 30.5.1921, zitiert nach Gentile, Storia, S.294. Bach, S.115. Referat Jens Petersen, in: Der italienische Faschismus, S.35; Melograni, Cult, S.225. Popolo d'Italia vom 31.5.1922. Zur Stellung D'Annunzios: Tasca, S.216-219; Gentile, Storia, S.340/341, 457. Zu Marsich: Gentile, Storia, S.286-288, 344-346, 380/381. 448457; Lytellton, Seizure, S.74/75.
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Mussolini. Solcherlei symbolische Zurschaustellungen festigten Mussolinis Stellung. 454 Der Squadrismus hatte nach dem November 1921 keinen einigenden politischen Kopf, da Marsich isoliert und D'Annunzio geschwächt war. Mussolini war damit der einzige, der die politischen Aktionen des Faschismus leiten konnte und stand fortan als alleiniger Führer fest. 455 Selbst Italo Balbo konnte sich dem Kult um den Duce nicht entziehen und schrieb wenige Monate nach dem Römer Kongress in sein Tagebuch: „Ich bin jeden Monat, häufig sogar alle vierzehn Tage, in Mailand bei Mussolini. Es sind unvergessliche Begegnungen. Der Capo klärt und vereinfacht die kompliziertesten Probleme: die große Tugend des Duce. Außerdem ist er stets äußerst liebenswürdig. Nie lässt er mich abreisen, ohne mich umarmt zu haben. Sein Vertrauen ist meine Wegzehrung". 456 Im Laufe des Jahres 1922 zeigt sich deutlich, dass die Rolle Mussolinis als „Duce" der Bewegung auch von den Führern des Squadrismus wie Italo Balbo, Cesare Forni oder Alberto Chiurco akzeptiert wurde. Die charismatischen Gefolgschaftsbildung wurde zudem durch Hierarchisierung, Zentralisierung und Bürokratisierung der Partei gestärkt. 457 Anders als Mussolini konnte Hitler schon während der Stennes-Krisen 1930/31 auf einen bereits entwickelten Führerkult zurückgreifen, der in krisenhaften Momenten der Bewegung immer wieder als Integrationsmittel zur Verfugung stand. 458 Hitler galt als alleiniger Führer, ihm wurden bei den inszenierten Reden vor dem meist massenhaften Publikum euphorische Ovationen entgegengebracht. Schon beim Betreten des Veranstaltungsraumes schrieen die Teilnehmer ihre Heil-Rufe. Im feierlichen Gestus schritt der stets verspätet eintreffende Hitler entweder einsam in einem durch SA-Männer freigestellten Korridor auf die Rednertribüne zu, oder aber er ging am Ende einer Kolonne marschierender SA-Männer, um zu seinem Rednerplatz zu gelangen. In seiner rednerisch-agitatorischen Kraft lag sicher ein wichtiger Grund für seine Führerstellung, die immer weiter ausgebaut wurde. Der Gruß „Heil Hitler" war seit 1923 zunehmend in Gebrauch und wurde während der Parteikrise von 1926 als verpflichtend innerhalb der Bewegung eingeführt. Später wurde auch die Anrede „Mein Führer" obligatorisch. Da454 Giornale d'Italia vom 9.11.1921; II congresso regionale dei Fasci veneti di combattimento, in: Popolo d'Italia vom 31.8.1921. Zur Haltung Grandis nach dem Kongreß siehe Gentile, Storia, S.444/445. Vgl. Segre, Balbo, S.69; Tasca, S.199. 455 Lyttelton, Seizure, S.74/75; Tasca, S.200; Gentile, Storia, S.347, 361. 456 Balbo, Diario, S.18; deutsch: Balbo, Marsch, S.26/27; Segre, Balbo, S.69. 457 Gentile, Storia, S.588/589; Lombardi, S. 176-230. Vgl. Neumann, Permanent Revolution, S.77ff. 458 Barth, Erwin: Joseph Goebbels und die Formierung des Führer-Mythos 1917-1934. Erlangen 1999; Orlow, S.46-75; Kershaw, Hitler, S.348-357; Schildt, Gerhard: Die Arbeitsgemeinschaft Nord-West. Diss. Phil. Freiburg 1964.
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mit wurde die Spontaneität der Führerverherrlichung in einer verbindlichen Norm zu einem „Treuegelöbnis" gemacht, wie Gregor Strasser im Januar 1927 schrieb. 459 Schon im Mai 1927, bei den Auseinandersetzungen um den Aktionismus in der Münchner SA, hatte Hitler, neben beschwörenden Forderungen nach stärkerer Disziplin, die SA auf die Treue zu seiner Person verpflichtet. Die auf zwei Versammlungen zusammengetrommelten SA-Männer schworen, jeder einzeln, per Handschlag Hitler persönlich ihre Treue. 460 Zweifelsohne glaubten fuhrende Nationalsozialisten an das Charisma Hitlers. 461 Ebenso wie Mussolini betonte Hitler, dass er allein der „Gründer" und „Schöpfer" der Bewegung sei, niemand mit „größerer Inbrunst" an dem Nationalsozialismus hänge als er und dass seine Ideen die Bewegung „beseelten". 4 6 2 Da charismatische Herrschaft der ständigen Erneuerung und Bewährung ihrer Außeralltäglichkeit bedarf, musste der Führerkult ständig aktiviert werden. Wie bei Mussolini wurde die charismatische Autorität durch eine Änderung in der Parteisatzung flankiert, die Hitler als Parteivorsitzenden „freiesten Spielraum" erlaubte, um ihn „unabhängig von Majoritätsbeschlüssen" zu machen. 463 Das fur Hitlers Herrschaft typische Verfahren, institutionelle Konflikte zu lösen, indem er die Führung an sich zog, wurde auch nach der Demission von Pfeffers wirksam. Schon am 2. September 1930 hatte Hitler die Leitung der SA als „Partei- und Oberster SA-Führer" übernommen, um seine Verbundenheit mit der SA zu demonstrieren und um das innerhalb der SA verbreitete Gefühl einer Zurücksetzung gegenüber den Funktionären der Politischen Organisation aufzufangen. Alle höheren SA-Führer wurden von nun an durch Adolf Hitler persönlich ernannt, und jeder einzelne hatte das Gelöbnis unbedingter Gefolgschaftstreue auf Hitler abzulegen. 464 Die Integrationskraft des „Führers" neutralisierte damit bis zu einem gewissen Grade die Spannungen innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung, die aber dennoch ein labiles Gebilde blieb. Dies erkannte auch Major August Schneidhuber, der als Stellvertreter-Süd des Obersten SA-Führers den zweithöchsten Rang in der SA bekleidete. In einer Denkschrift vom 19. September
459 Heß, Rudolf: Der „Faschisten"-Gruß, in: Der SA-Mann Nr.4 vom Juni 1928 (Beilage des Völkischen Beobachters Nr. 138 vom 16.6.1928); Dienstvorschrift fur die P.O. der NSDAP. München 1932, S.50; Paul, S.175-177; Kershaw, Hitler, S.375-382; Broszat. Staat, S. 40-44. 460 Siehe die Reden vom 18.5.1927 und 25.5.1927, in: RSA, Bd.II, Teil 1, S.309-311, 320322. Vgl. Longerich, Bataillone. S.64; Kershaw, Hitler, S.379. 461 Vgl. Bärsch, S.136-187. Bärsch betrachtet u.a. das Hitlerbild von Dietrich Eckart, Rudolf Heß, Julius Streicher, Baidur von Schirach, Heinrich Himmler, Hermann Göring und Joseph Goebbels. 462 Wagener, S.82, 94; RSA, Bd.IV, Teil 1, S.251/252 (Artikel Hitlers vom 4.4.1931). 463 Satzung der NSDAP/NSDAV vom 22.5.1926, in: RSA, Bd.I. S.461-465, hier S.464. 464 Bennecke, Hitler, S.149, 252; Horn, Führerideologie, S.387; Mommsen, NSDAP, S.29.
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1930 konstatierte er, dass der Zusammenhalt im Nationalsozialismus „allein auf dem Führer Adolf Hitler" und dem „wunderbaren Geist" zurückgehe, der inbesondere die SA beseele, um dann festzustellen: „Daß dieses Sammelbecken - die Partei - bisher ausreichte, das Werdende zu fassen, ist nicht etwa das Verdienst von Organisatoren, sondern allein das des Kennwortes 'Hitler', unter dem alles zusammenhält". Die SA-Männer würden nur Adolf Hitler als ihren Führer ansehen, in soldatischer Haltung treu zu ihm stehen und „keine Götter neben diesem" kennen. 465 Das Bild von Hitler als Heilsbringer und Erlöser wurde auch in der SA-Publizistik geschürt und beschworen. 466 Aber auch Hitler selbst stellte sich in dieser Weise dar und verstand es, seine Person als eigentliche Identität der Parteiarmee darzustellen. „Es ist unmöglich, die SA aufzulösen", sagte er im März 1931 auf einer SA-Versammlung, „denn sie ist keine Organisation, sondern ein Wesenskern, der in der Hauptsache aus mir selbst besteht. Ich bin die SA, und Ihr gehört zur SA. Ihr seid die SA, und ich gehöre zu Euch". Wie Mussolini erinnerte auch Hitler während der zweiten Stennes-Krise im April 1931 daran, dass er der Gründer der Bewegung sei und keiner mit „größerer Inbrunst" an der NSDAP hängen könne als er selbst. 467 Bei NSDAP wie PNF gründete sich die charismatische Herrschaft auf die gläubige Anhängerschaft, die beim erklärten Duce oder „Führer" Heldentum, Größe und Sendungsbewußtsein wahrnahm. Die in sich instabile charismatische Herrschaftsform tauchte vor allem in tiefgreifenden Krisenmomenten der Bewegungen auf oder wurde, aufgrund unerfüllter Erwartungen, zu diesen Zeiten verstärkt. 468 Die Integration der Squadren und der SA in die Parteien wurde neben dieser charismatischen Vergemeinschaftung durch eine permanente Mobilisierung erzielt. Diese wiederum korrespondierte mit einem jugendlichen Aktivismus, der Anschluss an die jungen Parteien erlaubte. „Der Faschismus", schreibt der italienische Historiker Emilio Gentile treffend, „fühlte sich immer als Bewegung und Miliz". Vor allem die junge Generation fühlte sich von der aktivistischen Dynamik des Faschismus angezogen. Gewalt und Geschwindigkeit wurden den Immobilitäten der Nachkriegsgesellschaften entgegengesetzt. Mit diesem Mobilitätsappeal wurde mit emphatischer Energie eine Massenbewegung in Gang gesetzt, die die utopische Projektion einer 465 OSAF, Stellvertreter Süd vom 19.9.1930: „Stellungnahme zur vorgesehenen UmOrganisation der SA-Führung", in: BAB (ehem. BÄK), Sammlung Schumacher, Ordner 403, ohne fol. 466 Siehe beispielhaft: Bade, SA, S.143; Okraß, S.230; Hennigsen, S.l 13. 467 RSA, Bd.IV, Teil 1, S.229 (Rede vom 7.3.1931); RSA, Bd.IV, Teil 1, S.251 (Artikel vom 4.4.1931). 468 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S.140-148, 654-687; Kershaw, Hitlers Macht, S.25; Cavalli, S.253-283; Pombeni, Demagogia, S.37; Melograni, Cult, S.221-237; Gentile, Storia, S.295.
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zukünftigen Erlösung in sich barg. Es waren dieser Gestus und Politikstil, der das Identitätsmerkmal der faschistischen Bewegungen ausmachte. Das Gefühl, einer offeneren und beweglicheren politischen Bewegung anzugehören, die rebellisch überlieferte Bindungen aufzusprengen vorgab, die Dynamik der Bewegung und die Modernität ihrer öffentlichen Ausdrucksformen gaben dem Faschismus das integrative Image einer neuen und unverbrauchten Kraft. Der aktivistische Schein, der durch eine permanente Mobilisierungsleistung erzielt wurde, vertrieb die gegenwärtigen Sorgen eines möglichen Scheiterns. Gerade durch das Image einer jungen, unverbrauchten und von mitreißender Dynamik getragenen Systemalternative wurden die Bewegungen zusammengebunden. Gegenüber den Lähmungen und Widersprüchen der demokratischen Politik in den zwanziger Jahren, aber auch gegenüber dem traditionellen Kabinettsstil der Regierungen schienen die faschistischen Bewegungen einen radikalen Neuanfang zu versprechen - trotz der Verhandlungen ihrer jeweiligen Parteispitze mit Regierungsmitgliedern und Teilen der traditionellen Eliten. 469 Die Intregrationsmechanismen
im Vergleich
Die Integration und Befriedung der Kampfbünde mittels ihrer Militarisierung basierte auf einem paradoxen Konzept. Denn einerseits wurde durch die damit verbundene Disziplinierung eine gewisse Kontrolle erreicht. Andererseits wurde aber auch die Organisation insgesamt gestärkt und zu größerer Eigenständigkeit gefuhrt. Diese labile Konstruktion, die die eigentlichen Konfliktlinien durch fragile Ersatzlösungen überdeckte, benötigte die Figur des charismatischen Führers, der die ideellen Interessen der Bewegungsmitglieder nach emotionaler Vergemeinschaftung bündelte und ihnen einen Ausdruck verlieh. Es bestand von daher für beide Bewegungen eine innere Notwendigkeit, möglichst schnell an die Macht zu gelangen, denn für längere Zeit hätte sich der Zwiespalt zwischen Kampfbund und Partei nicht überbrücken lassen. Auch aus dieser Labilität der inneren Machtbalance in den faschistischen Bewegungen erklärt sich der dynamische Drang, die permanent hohe Mobilisierung und das frenetische Tempo in den faschistischen Bewegungen, das funktional sinnvoll war und zugleich ein Lebensgefühl ausdrückte. Trotz gradueller Unterschiede in den Organisationsstrukturen der Bewegungen gilt, dass sich die beiden faschistischen Parteileitungen umso weniger militant und gewaltbereit präsentierten, je populärer sie wurden. Je größer die Organisation wurde, je mehr beide Bewegungen in der Öffentlichkeit bedeutende Rollen einzunehmen vermochten, je wichtiger die Kontaktnahme zu den alten Eliten und Regierungskreisen wurde, umso stärker wuchsen die 4 6 9 Gentile, Storia, S.219 (Zitat); Broszat, Struktur, S.52-76; Peukert, Weimarer Republik, S.232-242; Hamilton, S.319; Gentile, Storia, S.349
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Spannungen zwischen den Politikern und den radikalen Milizionären in den faschistischen Kampfbünden. Die Konfliktlinien verliefen zwischen Legalität und Putsch, zwischen Verhandlungen und Gewalt, zwischen Kompromiß und Intransigenz. Die internen Krisen in der Endphase der faschistischen Bewegungen vor den Machtübertragungen zeugen von der Instabilität und Labilität faschistischer Bewegungen. Kurzfristige Absprachen und Übereinkommen, ständig wechselnde Allianzen in den faschistischen Bewegungen, exemplarische und vor allem symbolisch zu verstehende Strafen der Parteileitungen gegen allzu großen Widerstand zeugen von dieser inneren Labilität faschistischer Bewegungen. Mussolini wie Hitler trieb vor allem der Wille zur Macht, ohne dass endgültig geklärt war, ob man sich hierbei legaler oder illegaler Mittel bedienen wollte. Beide mussten den Kontakt mit den Massen in den faschistischen Kampfbünden aufrechterhalten und dem Verdacht vorbeugen, man verfalle allmählich dem Parlamentarismus. Die lokalistische Begrenzung und das Fehlen einer klaren Strategie bildeten die Schwäche in beiden Kampfbünden. Da sich die Proteste der lokalen Kampfbundfuhrer nicht kreuzten und sie somit keine starken und überregionalen Allianzen bilden konnten, obsiegten in Italien wie Deutschland die Parteileitungen. Das Versprechen auf eine baldige und unmittelbar bevorstehende Machtergreifung, eine charismatische Führerfigur, ständiger Aktionismus, die verstärkte Hierarchisierung der Bewegung und das Fehlen einer erfolgversprechenden alternativen Massenbewegung hielt die labilen Bewegungsgebilde letztlich zusammen. Die Gleichsetzung von Gewaltpropaganda mit Politik, ihre tiefe Eingewobenheit in die faschistische Struktur markierten die zentrale Grenze zur traditionellen Rechten. Die folgende Kritik Friedrich Plümers, die sich in den eingeklammerten Bemerkungen zu einem Ausspruch Hitlers äußert, zeigt dies deutlich. Plümer schrieb: „'Wir machen den Fehler anderer Parteien nicht mit, in der Form zu erstarren. (Welch ungeheuerer Mißgriff!) Wir sind eine revolutionäre Partei! (Das ist die KPD auch und gerade deshalb eine straffe Organisation!) Die Sturmabteilung ist mehr wert als eine politische Organisation'". 470 Plümer stammte aus dem deutsch-völkischen Umfeld des rechtsnationalistisch-militaristischen Milieus der Weimarer Republik. Er war ein Anhänger Ludendorffs und begriff sich vor allem als Gegner des Nationalsozialisten Hermann Esser. Was Plümer durch seine Klammerbemerkungen an der NSDAP kritisierte, spricht Bände über den Unterschied zwischen der traditionellen Rechten (wie etwa der DNVP) und dem faschistischen Neuling. Was die NSDAP wie auch die PNF tatsächlich auszeichnete, war, dass sie eine Massenpartei und keine traditionelle Honoratiorenpartei sein wollte. Die
470 Plümer, Friedrich: Die Wahrheit über Hitler und seinen Kreis. O.O. o.J., S.18.
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faschistischen Parteien waren keine Rechtsparteien im herkömmlichen Sinne, sondern Bewegungen, deren Faszination von ihrer Ubiquität, ihrer Mitgliederstärke und radikalen Gewaltsamkeit ausging: Jugendliche Bewegung mit Aufbruchssymbolik statt traditioneller Ansprüche und herkömmlicher Symbolik; an der Spitze ein charismatischer Führer statt eine eindeutige Programmatik; die radikale Beschwörung von Intransigenz durch militante Gewaltsamkeit. Gewalt und Militarismus stellten klassische Werte im rechtsnationalen Milieu dar, sie fungierten neben dem extremen Nationalismus als Bindeglied zu den benachbarten Gruppen im Milieu. Gleichwohl war es so, dass die Massenanhängerschaft die faschistischen Bewegungen von den rechten Gruppierungen effektvoll unterschied. Sie schienen hierdurch in der Lage zu sein, sich mit der Linken messen zu können und mit dem Kommunismus aufzuräumen. Die faschistischen Bewegungen beherzigten insofern die Notwendigkeit von in „funktionaler Demokratisierung" begriffenen Gesellschaften, nämlich das Angebot einer Massenbewegung als verbindende Brückenorganisation zwischen Regierung und Regierten. 471 Das polykratische Verhältnis zwischen den faschistischen Parteien und ihren Kampfbünden kennzeichnet hingegen eine Trennungslinie zu den kommunistischen Bewegungen in Italien und Deutschland. Während die italienischen Kommunisten nur über extrem schwache Kampfbünde verfugten, so war im Verhältnis der KPD zum RFB seit 1931 klar, dass vom „individuellem Terror" - der sich bis dahin in der Parole „Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft" am klarsten manifestiert hatte - zu Gunsten eines erhofften revolutionären „Massenterrors" abzugehen sei. Der RFB hatte damit Strategie und Taktik der KPD noch weniger bestimmen können, als dies für die SA hinsichtlich der nationalsozialistischen Bewegung galt. Dies war ein Unterschied, der von der KPD nicht freiwillig gemacht wurde, da der RFB seit dem Jahr 1929 verboten war und die RFBUntergrundorganisationen durch staatliche Maßnahmen wesentlich stärker verfolgt wurden als die SA. Gleichwohl gab es auch wichtige Unterschiede zwischen den faschistischen Bewegungen in Italien und Deutschland. Im deutschen Fall spielten bei den internen Krisen der Bewegung die Finanznöte eine entscheidende Rolle. 472 Dies traf auf die italienische Bewegung nicht zu. Hierin liegt einer der größten Unterschiede zwischen den faschistischen Bewegungen in Italien und Deutschland. Die Finanzierung der Squadristen durch die örtlichen Agrarier und Industriellen machte den Squadrismus von der Parteileitung der 471 Elias, S.260/261, Anm.31. 472 Vgl. zur Selbstfinanzierung der NSDAP: Trumpp, S.223-241; Turner, S.19, 22, 24-31; Matzerath/Tumer, S.59-92; Vogt, Martin: Zur Finanzierung der NSDAP zwischen 1924 und 1928, in: GWU 21, 1970, S.234-243.
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PNF weitgehend unabhängig. Die gesamte Parteibewegung finanzierte sich lediglich in den Jahren 1919 und 1920 von den Mitgliedsbeiträgen, denn ab 1921 schufen sich die italienischen Faschisten durch massive Subventionen und Spenden eine solide finanzielle Basis. Die Zuwendungen kamen erstens von Landbesitzern und Industriellen sowie deren Organisationen und Vereinigungen, zweitens von Banken, drittens von bürgerlichen Gruppen und ländlichen Mittelschichten und viertens schließlich durch die syndikalistische Kontrolle einiger Ländereien und die Verteilung von Arbeitsmöglichkeiten für Landarbeiter. Vor allem die Landbesitzer wurden aus Angst vor dem Verlust ihrer sozialen Position zu Finanziers der faschistischen Bewegung, da erstens die Landarbeiter- und Tagelöhner-Gewerkschaften immer mächtiger wurden (die Anzahl dieser Arbeiter hatte durch die wirtschaftliche Entwicklung besonders um die Jahrhundertwende stark zugenommen) und da zweitens durch die städtische Entwicklung die industrielle Konkurrenz anwuchs. 473 Die Spenden der agrari wurden meist in den Squadrenbars eingetrieben. Stolz berichtet etwa die faschistische Darstellung von Alberto Chiurco von 20.000 Lire, die die Bologneser Squadristen Anfang 1921 innerhalb einer Stunde in ihrem Caffe eingetrieben hatten. Diese Praxis der Squadristen, sich direkt von den Agrariern entlohnen zu lassen, war weit verbreitet. 474 Von Italo Balbo, dem Squadrenfuhrer aus Ferrara ist sogar ein Arbeitsvertrag überliefert, der ihm 1.500 Lire pro Monat und (nach der Niederringung der Sozialisten) eine Anstellung in einer Bank zusicherte. Martin Clark und Manilo Cancogni schätzten die durchschnittliche Bezahlung eines Squadristen auf 40 Lire am Tag, während Emilio Gentile 25 Lire pro Tag veranschlagt. Welche Einschätzung auch exakter sein mag, sie lag in jedem Falle über dem besten Tageslohn eines männlichen bracciante in der Emilia Romagna, der in Reggio Emilia im Jahre 1922 pro Tag mit 23,2 Lire bezahlt wurde. Der Konflikt zwischen dem paramilitärischen und politischen Flügel nährte sich somit im italienischen Faschismus stärker aus politischen-mentalen als aus pekuniären Wurzeln. Die Squadristen hatten im Unterschied zu ihren SA-Kameraden keinerlei finanzielle Probleme. 475 Ein weiterer Unterschied bestand darin, dass der Nationalsozialismus bis 1933 zu einem guten Teil eine Wahlbewegung gewesen war, die um Stimmen rang, um die politische Macht zu gewinnen. Die faschistische Bewegung 473 Siehe dazu De Feiice, Primi elementi, S.223-244; Gentile, Storia, S.40-42, 429-440, 620623; Cardoza, Agrarian Elites, S.304,310, 323, 338/339; Corner, Fascism, S.124-126, 128, 131; Lyttelton, Seizure, S.63; Colarizi, S.135/136; Cavandoli, S.130/131; Demers, S.200/201; Vaini, S. 15-19; Squeri, S.91; Brustein, Logic, S.162. 474 Chiurco, Storia, Bd. 3, S.49. Ähnlich auch in Parma und Ferrara: Squeri, S.254; Corner, Fascism, S. 124/125, 131. 475 Zu Balbos Vertrag: Corner, Fascism, S.172/173; Clark, S.37; Cancogni, Storia, S.64; Gentile, Storia, S.477. Zum Lohn eines bracciante: Tirelli, S.673.
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Italiens dagegen verzichtete auf diesen Weg. Während die NSDAP zu einer Partei wurde, die in ihren Wahlhochburgen die absolute Mehrheit erreichte, Mitte 1932 mit über 37 Prozent reichsweit ihr bestes Ergebnis erzielte und damit zur mit Abstand stärksten Partei wurde, war die Beteiligung der Faschisten (zusammen in einem nationalen Block unter der Führung des Liberalen Giovanni Giolitti) an den Wahlen marginal, sie erreichten national kaum fünf Prozent. Während die 35 faschistischen Parlamentarier Italiens nicht einmal sieben Prozent Parlaments ausmachten und weit hinter der sozialistischen Fraktion mit ihren 123 Sitzen lagen, stellten die 230 deutschen Nationalsozialisten unter den 608 Abgeordneten eine Fraktion, die vor der SPD mit ihren 133 Sitzen lag. Dieser Unterschied beider Bewegungen wirkte sich freilich auch auf das Verhältnis zu den jeweiligen Kampfbünden aus. Die Taktik und Strategie beider Parteien musste - so gesehen - eine andere sein. Andererseits spielte auch für Mussolini die Rücksicht auf die herrschenden Interessen in Parlament, Regierung und Bürgertum eine wichtige Rolle. Traditionell bemaß sich der Einfluss in der italienischen Regierung eben nicht proportional zum Wahlergebnis, sondern war durch eine Politik des trasformismo gekennzeichnet, die Aushandlungen und Absprachen, Korruption und Interessenverschmelzungen in das Zentrum rückte. Von daher musste auch Mussolini eine mindestens scheinlegale Politik betreiben, auch wenn er kaum auf die parlamentarische Präsenz seiner Bewegung setzen konnte.
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2.4 Wehrhafte Demokratien? Reaktionen und Maßnahmen der staatlichen Organe Im Hinblick auf die Zwischenkriegszeit stellte Norbert Elias in seiner „Studie über die Deutschen" fest: „Doppelbinderprozesse, in deren Verlauf die Gewaltandrohung kommunistischer Gruppen diejenigen 'faschistischer' Gruppen, und umgekehrt diese jene, wachriefen und verstärkten, gehörten von nun an [seit dem Ersten Weltkrieg und der russischen Revolution, S.R.] zu den stehenden Teilaspekten der Entwicklung vieler Länder, in Europa und anderswo. Wieweit solche Durchbrechungen des staatlichen Gewaltmonopols jeweils möglich waren, hing ab von der Stärke und Stabilität der staatlichen Zentralgewalt, insbesondere von der Effizienz des Gewaltmonopols selbst [...]. Ich habe den Eindruck, daß man in der bisherigen Geschichtsschreibung dieser Aushöhlung des deutschen Staates von innen durch Terrorakte, durch den systematischen Gebrauch von Gewalt, nicht das Gewicht beigelegt hat, das ihr tatsächlich zukommt. Damit verstellt man sich zugleich die Einsicht in die paradigmatische Bedeutung, die diese Bedrohung und am Ende fast Lahmlegung des staatlichen Gewaltmonopols in menschlichen Gesellschaften überhaupt besitzt". 476 Zweifellos wird die Entwicklung, Stärke und Legitimität außerstaatlicher Gewalt entscheidend durch die entschlossene Haltung, Durchsetzungsfahigkeit und Effizienz der jeweiligen Staatsgewalt beeinflusst und bedingt. Es gehört zur Charakteristik des neuzeitlichen Staates, dass er allein über die Gewaltmittel verfugt und die Menschen kontrolliert, die sie anwenden. 477 Gegenüber einer intransigenten politischen Bewegung wie dem Faschismus, mit dem keine demokratische Konfliktaustragung möglich war, der keine Verhältnismäßigkeit der Mittel kannte und zu exzessiver Konfliktbereitschaft neigte, mußte der demokratische Rechtsstaat zum Leviathan werden, musste, um den gesellschaftlichen Krieg zu begrenzen, auf seinen Monopolisierungsansprüchen beharren. Inwieweit wurde eine solche staatliche Monopolisierung der physischen Gewalt durchgesetzt? Inwiefern konnte außerstaatliche politische Gewaltsamkeit unterdrückt werden? In welchem Rahmen also entfaltete sich die faschistische Gewalt und welche Grenzen wurden ihr aufgezeigt? Bei der Beantwortung dieser Fragen soll geprüft werden, mit welcher Entschiedenheit die Monopolisierungsansprüche des Staates hinsichtlich des Gewaltmonopols (Normdurchsetzung), der Gesetzgebung (Normsetzung) und Rechtsprechung (Sanktionsmonopol) verwirklicht wurden. Inwieweit gelang oder misslang 476 Elias, S.286, 290. Auch Juan Linz konstatiert, daß der Zusammenhang zwischen dem Aufstieg des Faschismus und dem Verlust des Gewaltmonopols des Staates noch nicht ausreichend erforscht sei (Linz, Political Space, S.165). 477 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S.29/30, 516-519.
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dem Staat die Ausschaltung der konkurrierenden faschistischen Macht und Gewalt? Wurden Monopolisierungsansprüche zurückgesetzt und, wenn ja, weshalb? Welche Schwächen in der Organisation und im Einsatz des Gewaltmonopols behinderten die erfolgreiche Eindämmung der faschistischen Gewalt? Hintergrund dieser Fragen ist die Analyse der Zivilgesellschaftlichkeit beider Nachkriegsregime. Fünf Bedingungen für den Aufbau und Erhalt einer friedliche Zivilgesellschaft scheinen hierbei zentral: erstens eine liberale politische Kultur der Toleranz mit einer auf Affektkontrolle beruhenden Kultur und Mentalität; zweitens eine freie, aber nicht unregulierte Marktwirtschaft mit weitgehender Chancengleichheit und der Sicherung sozialer Grundbedürfnisse; drittens die Möglichkeit zu demokratischer Teilhabe ohne soziale oder kulturelle Diskriminierung; viertens funktionsfähige staatliche Institutionen mit der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols und schließlich fünftens die rechtsstaatliche Kontrolle dieses Gewaltmonopols. Die Frage nach der Funktionstüchtigkeit der beiden letztgenannten Elemente steht hierbei im Mittelpunkt der Betrachtung, ohne die Rückkopplung mit den anderen Elementen dabei aus dem Auge zu verlieren. 2.4.1 Die Polizei in Italien und Deutschland Angelo Tasca hat in seinem schon 1938 erschienenen Werk den italienischen Staat recht entschieden beurteilt: „Die peripheren Organe des Staates - Polizei, Verwaltung, Justiz, Heer - ließen den Faschisten Unterstützung zuteil werden, die von der Duldung bis zur direkten Komplizenschaft reichte. Die Staatsorgane leisteten den Schwarzhemden die nötigste Vorarbeit, sie versorgten sie mit Waffen und Transportmitteln, sie sicherten ihnen Straffreiheit." Etwas zurückhaltender bewertete Jonathan Dunnage die Polizei in der Provinz Bologna (neben Ferrara das Zentrum der faschistischen Bewegung). Er schrieb von „sometimes practical help, from the provincial police forces, the army, and the judiciary." Paul Corner wiederum kennzeichnet die Polizeihaltung als „collusion" und verweist auf das oft schwer auseinanderzuhaltende Spektrum polizeilicher Verhaltensformen, denn es sei „frequently difficult to decide if the police were lax, incompetent, afraid or pro-fascist". Für die Lage in Deutschland stellte Norbert Elias weniger die Kooperation der Staatsorgane heraus, sondern vielmehr, „daß die neuen Regierungsbehörden nur in recht begrenztem Maße über die zur Aufrechterhaltung des Monopols der physischen Gewalt und somit des innerstaatlichen Friedens erforderlichen Militärund Polizeikräfte verfügten". Unterschieden sich somit die beiden Staatsapparate darin, dass die einen faschistische Gewalttaten begrüßten, während die anderen, angesichts mangelhafter Mittel, ohnmächtig gegenüber dem grassie-
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renden Paramilitarismus und den kommunistischen wie nationalsozialistischen Gewaltattacken blieben? 478 Ob Sympathie oder entschlossenes Durchgreifen - die Verhaltensmuster der Polizei hatten die Kampfbünde entscheidend beeinflusst. Das konkrete Verhalten der Polizeibeamten vor Ort bestimmte den politischen Alltag, regelte und begrenzte Gewalteinsatz und Gewaltbereitschaft. Die Basis der Kampfbünde leitete die Erfahrungswerte mit der Polizei nach oben weiter, und insofern bestimmten die Erfahrungen an der Basis bis zu einem gewissen Grade auch die Grundsatzrichtlinien der Führungsspitzen beider Kampfbünde. Die italienische
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Die beiden wichtigsten Polizeiorgane Italiens waren die zivilen Guardie Regie und die militärischen Carabinieri. Erstere unterstanden dem Innenministerium und wurden im Oktober 1919 von dem Regierungschef Francesco Saverio Nitti aus den 1852 in Turin und Genua gegründeten Guardie di pubblica sicurezza, die 1890 in die größere Polizeieinheit der Guardie di Cittä umgewandelt worden waren, aufgebaut. Das zweite wichtige Polizeiorgan waren die dem Kriegsministerium unterstehenden Carabinieri Reali, die 1814 erstmals in Piemont gegründet worden waren und eine Abteilung der Armee bildeten. Seit 1822 war das Kriegsministerium für Rekrutierung, Disziplin, Bewaffnung, Verwaltung und Ausbildung der Carabinieri zuständig, während das Innenministerium die Polizeipflichten der Carabinieri koordinierte. Diese durch königliches Dekret geregelte Aufgabenverteilung in Piemont wurde dann im geeinten Italien übernommen. 479 Guardia Regia und Carabinieri standen sich keineswegs freundlich gegenüber und hatten keine gemeinsame Führungsebene. Ihr Einsatz wurde nur durch die regionalen Präfekturen und die ihnen unterstellten Quästuren (vergleichbar den deutschen Polizeihauptquartieren) miteinander koordiniert, wobei der Präfekt die Regierung auf der Ebene der Provinz repräsentierte und für alle administrativen Aufgaben einschließlich der Polizeiarbeiten zuständig war. Die institutionelle Spaltung der Polizei führte jedoch dazu, dass die angeordnete Arbeitsteilung, wonach die Carabinieri vor allem in den ländlichen Gegenden eingesetzt werden sollten, während die Guardie Regie für die städtische Überwachung vorgesehen waren, in der Praxis kaum beachtet wurde. Ähnlich bedeutungslos blieb der im April 1920 gefasste Beschluss, die
478 Tasca, S.370; Dunnage, Italian Police, S.117; Corner, Fascism, S.140, 206; Elias, S.286. Snowden (Fascist revolution, S.196) spricht von „massive collaboration". 479 Corso, S.27, 49, 83-114. Zu den Polizeispitzeln, die zuweilen Erfolge in der Aufklärung der politischen Verbrechen erzielen konnten, insgesamt jedoch eher erfolglos blieben: Dunnage, Italian Police, S.95; ACS, Mdl, DGPS, AGR, CA, 1921, busta 104, fasc.220, ohne fol.: Schreiben des Direttore capo della divisione polizia giudiziaria an DGPS vom 19.6.1921.
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Carabinieri vornehmlich zum Schutz der Gebäude und nur im Ausnahmefall zur Unterdrückung von Unruhen einzusetzen. 480 Die politischen Einstellungen der Guardie Regie waren durch die Erfahrungen mit den Arbeiterstreiks der Jahre 1919 und 1920 geprägt. Schon ihr Gründungszweck lag in der Unterdrückung von Arbeitertumulten. Im Juli 1919 waren vielerlei Plünderungen und Streiks gegen die Teuerung der Lebenshaltungskosten zu verzeichnen, bei denen die Polizei eingriff. Auch während der 1.800 bis 2.000 Arbeiterstreiks des Jahres 1920, die sich in der revolutionären Atmosphäre der Nachkriegsjahre vor allem auf dem Lande ereigneten, kam es neben vielen Überstunden häufig zu Konflikten zwischen den Demonstranten und der Polizei - teilweise mit blutigem Ausgang. Hierbei waren auch direkte Angriffe auf Polizisten keine Ausnahme. 481 Zweifelsohne waren - motiviert durch die negativen Erfahrungen aus ermüdenden Überstunden, den Ohnmachtsgefuhlen angesichts der sozialistischen Erfolge und dem Ausgeliefertsein aufgrund zu geringer Stärke und blutigen Auseinandersetzungen - die antisozialistischen Haltungen in den Reihen der Polizeikräfte weit verbreitet, die auch ohne solche Erfahrungen ohnehin schon national gesonnen waren und sozialistischen Gedankengängen mit Skepsis gegenüberstanden. Die Abneigung wurde zusätzlich durch die sozialistische Propaganda verstärkt, die beispielsweise Ladenbesitzer aufforderte, die Einkäufe von Polizisten abzulehnen, oder die die Frauen der Polizeikräfte als „Prostituierte" diffamierte. Es ist unbezweifelbar, dass den Faschisten als militanten Gegnern der Sozialisten die Sympathien der Polizeikräfte gehörten. Zudem waren die Squadristen nicht ungeschickt, da sie die Carabinieri nicht nur respektierten, sondern ausdrücklich lobten und heroisierten, anstatt sie wie die Sozialisten zu beschimpfen und zu verprügeln. Bot sich eine gute Gelegenheit, wurden die Polizeieinheiten von den Faschisten sogar gegen sozialistische Angriffe geschützt und verteidigt. 482 Von nur mittelbarer Bedeutung für die antisozialistischen Haltungen der Polizei waren hingegen die Fabrikbesetzungen vom August und September 1920. Denn trotz des Drucks der Industriellen strebte Premierminister 480 Corso, S.17-28, 37-51; Jensen, S.6, 113; Davis, S.233, 237; Dunnage, Law, S.381; Dunnage, Ordinamenti, S.68; Dunnage, Italian Police, S.2-4, 12, 95/96; Tasca, S.86. Enttäuschend und oberflächlich ist: Calanca, Alvaro: Storia dell'Arma dei Carabinieri, Bd. 3. Foggia 1988, hier S.31-47. Zur enormen Bedeutung der Präfekten seit 1870: Fried. S. 120-162. 481 Candeloro, S.305; Tasca, S.95; Mantelli, S.24-28; Dunnage, Italian Police, S.93/94, 96-98; Dunnage. Ordinamenti, S.64; Farneti, S.14. 482 De Feiice, Mussolini il fascista, S.28 (Polizeibericht vom 11.3.1921); Dunnage, Ordinamenti, S.64; Dunnage, Italian Police, S. 107/108, 144; Squeri, S.142; Stefanini, S.29/30; Snowden, Fascist revolution, S.191-193. Snowden (Fascist revolution, S.195) meint sogar, dass die Kollaboration der Polizei dort stark war, wo auch die sozialistische Bewegung stark war. Empirisch ausreichend belegen kann er seine interessante These jedoch nicht.
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Giovanni Giolitti eine Kompromisslösung an und nahm ausdrücklich von polizeilichen Maßnahmen gegen die Arbeiter Abstand. Er schlug ein Mitspracherecht der Arbeiter vor und erreichte schließlich die Unterzeichnung neuer Arbeitsverträge. In einer Rede vor dem Senat vom 26. September 1920 führte er unmissverständlich aus: „Ich habe diesen Industriellen erklärt, dass sie in keiner Weise auf ein Eingreifen der Staatsgewalt rechnen können." Die Räumung der Fabriken hätte, so Giolitti, „offensichtlich" den „Bürgerkrieg" bedeutet und wäre nur unter Aufbietung aller Polizeikräfte möglich gewesen. So kam es bei den Fabrikbesetzungen kaum zu Konflikten mit der Polizei. Trotz 500.000 beteiligter Arbeiter aus der metal 1 verarbeitenden Industrie verliefen die Fabrikbesetzungen relativ unblutig. 483 Tatsächlich verdankte sich die enge Kooperation der Squadristen mit den Polizeieinheiten den blutigen Erfahrungen der Polizisten mit den sozialistischen Arbeitern und Tagelöhnern auf dem Lande. In zahllosen Einzelfallen kann aufgezeigt werden, dass die Feindschaft der Squadristen gegenüber den roten „Umstürzlern" {sovversivi) vom gewöhnlichen Guardia Regia, Carabiniere oder maresciallo (Polizeimeister) voll und ganz geteilt wurde. 4 8 4 Im Mai 1921 etwa veröffentlichte eine Gruppe von Guardie Regie ein Flugblatt, in dem sie den Sozialisten „unversöhnliche Rache" für einen ermordeten Kollegen schworen. Das „schändliche und infame Vergehen" muss gerächt werden, befanden die Polizisten offenherzig. 485 Die weitgreifenden Weigerungen, gegen gewalttätige Faschisten vorzugehen und sozialistische Institutionen zu beschützen, waren Ausdruck dieser antisozialistischen Haltung der Polizeikräfte. Nicht selten wurde beobachtet, dass die Polizisten auf dem Revier die Aufnahme der Anzeigen von sozialistischen Funktionären oder sonstigen betroffenen Personen verweigerten. Bei Angriffen auf sozialistische Organisationen und Institutionen entfernten sich anwesende Polizisten von ihren Posten oder schlugen sich gar auf die Seite der Squadristen. Auch zu polizeilichen Entwaffnungen der Sozialisten direkt vor 483 Nur in den Fiatbetrieben Turins war der bewaffnete Widerstand der Schutzformation der Guardie rosse erwähnenswert, da nach der Räumung der Fabriken einiges gefahrliche Waffenmaterial sichergestellt werden konnte. Giolitti, Discorsi parlamentari, S.1787; Candeloro, S.328-336; Tasca, S. 102-104; Vivarelli, Storia, Bd.2, S.592-645, bes. 630-632 (dort auch die weiterfuhrende Literatur); Giolitti, Denkwürdigkeiten, S.267-270. 484 Labriola, Arturo: Le due politiche - Fascismo e comunismo. Neapel 1924, S.181-184; Cancogni, Storia, S.62; ACS, Mdl, Gabinetto di S.E. Bonomi, Ordine pubblico (19211922), busta 3, Affari per provincie: fasc.35: Genua, sottofasc.3: Conflitto di Sarzana (Telegramm des Präfekten Poggi an das Innenministerium, 23.7.1921); ASB, GdP, Nr. 1344, fasc. Medicina, ohne fol. (Schreiben an Mdl, DGPS, vom 29.7.1921); ASB, GdP, Nr. 1345, fasc. Molinella, ohne fol. (Schreiben von Paolo Fabbri von der Camera Confederate del Lavoro in Bologna an den Präfekten in Bologna vom 30.7.1921 und Schreiben des VizeQuästors an den Quästor von Bologna vom 2.8.1921). 485 Flugblatt von „Un gruppo di Regie Guardie" vom 18.5.1921, in: ASB, GdP, Nr.1347, fasc.: Pratiche riservate, ohne fol.
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den squadristischen Strafexpeditionen war es gekommen, so dass die faschistischen Schläger leichtes Spiel bei ihren Plünderungen und Brandstiftungen hatten. Bei polizeilichen Razzien wurden des Öfteren die betroffenen Faschisten nicht auf das Revier mitgenommen, obwohl Waffen bei ihnen aufgefunden wurden. Selbst die parteioffizielle Geschichte der „faschistischen Revolution" aus dem Jahre 1929 berichtet unverblümt von Strafexpeditionen, die „im Einvernehmen" mit Polizei- und Militäreinheiten erfolgten. Beobachtet wurde neben der Abgabe von Transportmitteln, Waffen und Munition auch die Schießausbildung von Squadreneinheiten durch Polizisten. Während in den Jahren 1919 und 1920 solche Abkommen zwischen Faschisten und Polizisten noch selten waren und die Polizei häufiger einfach 'nur' sympathisierte und den Schutz der sozialistischen Institutionen und Funktionäre vernachlässigte, bildete die direkte und offene Kooperation in den Jahren 1921 und 1922 eher die Regel als die Ausnahme. Gleichwohl konnte schon in den Jahren 1919 und 1920 beobachtet werden, dass Polizeikräfte den Gewaltakten der arditi und anderer nationalistischer Vereinigungen im wahrsten Sinne des Wortes Beifall spendeten oder auch ganz offiziell die Erlaubnis erhielten, zusammen mit den Nationalisten zu demonstrieren. 486 In den Jahren 1921 und 1922 gaben aber sogar die internen Polizeiberichte die große Sympathie zwischen Polizeieinheiten und Faschisten offenherzig zu. 4 8 7 Vereinzelt bildeten sich Squadren, die ausschließlich aus Carabinieri bestanden. In nicht wenigen Fällen beteiligten sich Squadren an den Trauerfeierlichkeiten für einen im Straßenkampf getöteten Carabiniere und ehrten den Verstorbenen zusammen mit den anwesenden Polizisten. 488 Solch erschreckende Vorkommnisse blieben aber Einzelerscheinungen - Sympathie und Wegschauen der Polizisten waren unzweifelhaft maßgebender als offene und aktive Unterstützung. Bezeichnend und symptomatisch für die Kooperation zwischen der Polizei und den Squadristen war ein Fall aus Minerbio in der Provinz Bologna. Zwei Carabinieri, die ein sozialistisches Genossenschaftshaus {cooperativa) und
486 Chiurco, Storia, Bd.3, S.272, 413-415. Für Fälle der Kooperation von Polizei und Faschisten siehe: Cancogni, Storia, S.69, 104/105; Dunnage, Ordinamenti, S.64-66, 75, 80, 84/85; Dunnage, Italian Police, S. 94/95, 102/103, 108; Snowden, Fascist revolution, S.198, 200; Tasca, S.138, 142-144, 146, 148-151; Corner, Fascism in Ferrara, S.140-142, 205; Lyttelton, Faschismus, S. 317; Lyttelton, Cause, S.45; Cardoza, Agrarian Elites, S.361; Squeri, S.143/144; Kelikian, S.143; Nolte, Faschismus, S.255; Schneider, S.46; Engelmann, Provinzfaschismus, S.76, 143, 149, 193; Carsten, Aufstieg, S.67, 70, 73/74, 278; De Felice, Mussolini il rivoluzionario, S.538/539. 487 Vgl. nur die Berichte, die Snowden (Fascist revolution, S. 196-200) wiedergibt. 488 Carabiniere Petrucci, in: II Bargello. Foglio d'Ordini della Federazione fiorentina degli Fasci di Combattimento 9, Nr.l vom 28.10.1936, S.6; Engelmann, Provinzfaschismus, S.53; Squeri, S.142.
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eine casa del popolo am Ort überwachen sollten, wurden aus dem Hinterhalt beschossen. Einer der Carabinieri wurde in die Brust getroffen. „Die Nachricht der Verwundung verbreitete sich sofort unter den Faschisten in Minerbio, die sich in einer Stärke von 80 (40 unter ihnen ortsfremde Faschisten) zu einem Festmahl in der örtlichen trattoria 'Leone' zusammengefunden hatten," wie der ausfuhrliche Bericht des Polizeimajors Vittorio Sforni acht Tage nach den Vorfallen vermerkt. Als die aufgebrachten Polizeieinheiten vor Ort überstürzte Untersuchungen in einer sozialistischen osteria durchführten, wurden sie von den Faschisten begleitet, die diese Gelegenheit nutzten, um die Polizisten handgreiflich zu unterstützen. Zusammen mit den Carabinieri durchsuchten sie - mit nicht gerade zimperlichen Methoden - die Sozialisten nach Waffen und gaben den Polizisten „falsche Hinweise auf mögliche Verantwortliche des Vorfalls". An verschiedenen Orten des Dörfchens wurden bis in den Abend Durchsuchungen vorgenommen; die Situation steigerte sich derart, dass laut einer späteren Polizeinachforschung „Panik unter dem sozialistischen Teil der Bevölkerung" des Dörfchens ausbrach. Die Squadristen schössen wild auf der Straße umher und „bedrohten auch die Anwohner mit der Waffe in der Hand". Auch einige Polizisten ließen sich anstecken und schössen auf offener Straße. Nun unternahmen die Faschisten auch „Durchsuchungen" auf eigene Faust, wobei mehrere Menschen zusammengeschlagen wurden. Noch vier Stunden, nachdem der Schuss auf den Carabiniere abgefeuert worden war, konnten die Faschisten die sozialistische Genossenschaft ungehindert einnehmen, wobei sie das Mobiliar und alle Schriftstücke auf die Straße warfen und anzündeten. Laut Polizeibericht entstand hierbei ein Schaden von 8.000 Lire. Erst in der späten Nacht beruhigte sich die Situation. Die Polizeiermittlungen ergaben anhand der Schmauchspuren, dass der Carabiniere nicht von Sozialisten angeschossen worden war, sondern sich selbst durch eigene Ungeschicklichkeit die Schusswunde zugefugt hatte. 489 Die Episode vom Spätsommer 1921 zeigt, dass die einige Monate zuvor abgegebene Warnung des Bologneser Präfekten Cesare Mori, nämlich dass die Polizisten keine Untersuchungen mit direkter Unterstützung seitens der Faschisten vornehmen sollten, in der praktischen Polizeiarbeit wirkungslos verpuffte. Die Haltung der Polizei hatte sich gegenüber einer Warnung, die der Polizeipräsident (Quästor) von Bologna schon im November 1920 gegenüber Mori abgegeben hatte, nicht verändert. Damals merkte der Quästor an, dass der Präfekt nicht auf die Polizeikräfte zählen könne, falls Demonstrationen von Nationalisten oder Faschisten zu unterdrücken seien, insbesondere dann nicht, falls sich
489 Bericht des Maggiore Comandante Vittorio Sforni, Legione Territoriale dei Carabinieri Reali di Bologna, Divisione di Bologna Esterna, an die Präfektur in Bologna vom 18.10.1921, in: ASB, GdP, Nr.1344, fasc.: Minerbio, ohne fol.
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diese Demonstrationen gegen Syndikalisten oder Anarchisten richten. 490 Ähnliche Verhältnisse herrschten in der Provinz Ferrara, in der die Anweisungen des Präfekten oder Quästors von den Polizeioffizieren ebenfalls oft nicht beachtet wurden. 491 Die geschilderte Episode zeigt, dass die Polizisten jeden Vorwand nutzten, um gemeinsam mit den Faschisten gegen die verhassten Sozialisten vorzugehen. Tatsächlich war ein solches Verhalten der Polizei spätestens seit Anfang 1921 an der Tagesordnung. Seitdem ereigneten sich ebenso bezeichnende wie ungeheuerliche Episoden. So schickte etwa eine Truppe der Guardie Regie dem Fascio von Bologna ein Glückwunschtelegramm für die von den Faschisten geleistete „Arbeit". Von Polizisten und Faschisten gemeinsam begangene Überfalle auf kommunistische Bars wurden genauso beobachtet wie die Anwesenheit von Polizisten in den Squadrenbars, die dort antisozialistische Lieder anstimmten. 492 Das gemeinsame Vorgehen von Polizisten und Faschisten führte auch zu engen Freundschaften. Carabiniere waren Zechkumpane der Squadristen und teilten deren politische Einstellung, wie etwa die Stärkung des Nationalgefühls und der nationalen Ordnung. Wie viele Polizisten sich als Mitglieder in den Reihen der Squadristen befanden, ist aufgrund des beschränkten Zugangs zu den Archiven der italienischen Polizei bis heute nicht genau zu klären. Zahlreiche Einzelbeispiele belegen, dass auch noch im Dienst befindliche Polizeibeamte bei der Gründung der Fasci beteiligt waren. 4 9 3 Unter den im faschistischen „Heldenbuch" von 1925 aufgeführten 424 getöteten Faschisten der „Kampfzeit" befanden sich nach faschistischen Angaben neun Polizisten, die noch im Dienst waren, sowie ein Ex-Polizist. Diese Polizeikräfte gehörten entweder zu den Carabinieri Reali, den Guardie Regie oder, in einem Falle, zu der Guardia municipale.494 Aus vielen Provinzen Italiens wurde berichtet, dass ehemalige Carabinieri zu den führenden Squadristen gehörten. 495 Besonders im Jahr 1922 war der Autoritätsverfall weit fortgeschritten. In den Hochburgen des Squadrismus wurden jetzt einzelne Polizeibeamte, die die Kooperation mit den Faschisten noch immer verweigerten, physisch angegriffen. 496
490 Präfekt von Bologna an Quästor, Unterpräfekten und Kommandanten der CarabinieriAbteilungen vom 29.7.1921 (Dokumentenabdruck bei Dunnage, Italian Police, S.177). Schreiben des Quästors an den Präfekten von Bologna vom 26.11.1920, wiedergegeben nach De Feiice, Mussolini il rivoluzionario, S.657, Anm. 2. Ein ähnliches Schreiben Moris vom Oktober 1921 in: Cardoza, Agrarian Elites, S.361. 491 Corner, Fascism, S.141. 492 Dunnage, Italian Police, S. 124. 493 Dunnage, Ordinamenti, S.87/88; Engelmann, Provinzfaschismus, S.142. 494 Sample Reichardt-SQ-Märtyrer. 495 Engelmann, Provinzfaschismus, S.142. 496 Dunnage, Ordinamenti, S.85/86. Siehe auch Tasca, S.136, 225; Chiurco, Storia, Bd.3, S.256/257; ACS, DGPS, CA 1921, busta 108, fasc. Nr. 1: „Fascio di combattimento. Reggio
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Bei den dem Kriegsministerium unterstellten militärischen Polizeieinheiten der Carabinieri war die aktive Unterstützung besonders stark. Da die Kommandanten der Carabinieri eigenverantwortlich Entscheidungen treffen konnten, ohne die Zustimmung des Präfekten abzuwarten oder einzufordern, und die Stärke der einzelnen Carabinieri-Einheiten unabhängig vom Präfekten entschieden wurde, wog die enge Kooperation zwischen Carabinieri und Faschisten umso schwerer. Die Bemühungen des Bologneser Präfekten Cesare Mori, belastete Personen aus der Polizeiarbeit zu entlassen, mussten durch die Zersplitterung der Polizeiorganisation an ihre Grenzen stoßen. 497 Während bei der dem Innenministerium unterstehenden Guardia Regia ein vergleichsweise misstrauisches Verhältnis zu den Faschisten bestand, war bei der militärischen Polizei der Carabinieri wesentlich häufiger ein freundschaftliches Verhältnis zu den Faschisten zu beobachten gewesen, wie in den Berichten von Quästoren aus verschiedenen Provinzen beklagt wurde. So kam es auch zu Auseinandersetzungen zwischen der Guardia Regia und den Carabinieri in Bezug auf die Behandlung der Faschisten. Die Toleranz der Guardie Regie gegenüber den Faschisten war des Öfteren Ergebnis von massiven Drohungen der Faschisten - sei es physischer Art oder sei es durch Pressekampagnen. 498 Der Squadrenfuhrer Umberto Banchelli räumte die offene Kooperation mit den Carabinieri ausgerechnet angesichts eines der wenigen Fälle ein, in denen diese Polizeieinheiten einmal entschieden gegen die Squadristen vorgingen. Während des sogenannten Zwischenfalles von Sarzana am 21. Juli 1921 hatten sich die Polizeieinheiten am Bahnhofsgelände entschlossen den vierhundert bis fünfhundert Squadristen entgegengestellt, die aus Florenz, Pisa, Carrara, Lucca und Viareggio zur Befreiung von zehn ihrer inhaftierten Kameraden und zu Strafexpeditionen gegen die örtlichen Kommunisten nach Sarzana gefahren waren. Die Squadristen waren überrascht, als sich die Polizeieinheiten mit Waffengewalt zu Wehr setzen, und flüchteten Hals über Kopf aus der Stadt. Insgesamt sechzehn Squadristen wurden erschossen und weitere dreißig
Emilia" (Express Telegramm des Präfekten von Reggio Emilia an Mdl vom 2.3.1921; Schreiben des Präfekten von Reggio Emilia an DGPS vom 3.3.1921). Für Übergriffe auf nicht kooperationsbereite carabinieri in der Provinz Bologna siehe: ASB, GdP, Nr. 1347, fasc. „Ordine pubblico" (Telegramma interno des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 27.4.1921); ASB, GdP, Nr.1373, ohne fol. (Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 20.8.1922); ASB, GdP, Nr.1373, ohne fol. (Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 25.6.1922); ASB, GdP, Nr. 1350, ohne fol. (Schreiben des Quästors aus Bologna an den Präfekten in Bologna am 27.8.1921); ASB, GdP, Nr.1373, ohne fol. (Schreiben des Quästors aus Bologna an den Präfekten in Bologna am 25.8.1922 und Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 25.6.1922). 497 Dunnage, Italian Police, S. 124/125. 498 Dunnage, Italian Police, S.109, 138-142.
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verwundet. 499 Der bei dem Vorfall beteiligte Squadrist Umberto Banchelli erläuterte in seinen Memoiren, warum die Expedition schiefging: „Die Squadren waren zu sehr daran gewöhnt, über einen Feind zu siegen, der entweder gleich flüchtete oder nur harmlos reagierte", schrieb er, und konzedierte, dass der Faschismus sich nur dank der Hilfe der CarabinieriOffiziere in dieser Art habe entfalten können: „Man muss zugeben", schrieb er, „dass der Faschismus sich deshalb so rasch entfalten konnte, dass er deshalb weitgehend freie Hand hatte, weil viel Funktionäre und Offiziere der Carabinieri und anderer Waffengattungen unserem Werk und unserer Erhebung mit Wohlwollen gegenüberstanden; wir fanden bei ihnen italienische Herzen und italienische Ideale vor. Unteroffiziere und Mannschaften bemühten sich in einem edlen Wettstreit, dem Fascio zu helfen." Es entsprach tatsächlich der Wirklichkeit, dass dort, wo diese Unterstützung der Carabinieri fehlte, die Polizeieinheiten von den Faschisten offen bedroht wurden. 500 Dass sich die Polizeikräfte von außerstaatlichen Kräften bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unterstützen ließen, war nichts Ungewöhnliches in der Geschichte der italienischen Polizei. Sie war traditionell so schlecht ausgerüstet, dass sie immer wieder auf zusätzliche Kräfte angewiesen war, sei es durch städtische Bürgerpatrouillen zur Bekämpfung der Kriminalität wie 1909 und 1915 oder sei es durch bewaffnete Nationalisten wie in der roten Woche vom Juni 1914. Vor allem gesellschaftliche Elitegruppen hatten sich in staatliche Aufgaben eingemischt, denn seit der Einigung Italiens waren die sozialen Eliten auch ohne Amtsträgerschaften maßgeblich an staatlicher Politik beteiligt und klientelistisch in den Staatsapparat eingewoben. Neben den offiziellen Polizeikräften wurden von den sozialen Eliten selbständige, außerlegale Einheiten aufgestellt. Gerade in der Situation der Nachkriegsgesellschaft, in der die bei den Polizeieinheiten verhaßte sozialistische Bewegung ein eng geknüpftes Netz von Organisationen aufgebaut hatte, tolerierten die zuständigen Beamten zumindest anfänglich nur zu gerne zusätzliche Verstärkung, die ihnen ihre Kontrollaufgaben zu erleichern schien. Neben der üblichen Praxis - der durch parallele Hausdurchsuchungen und Razzien vollzogenen faschistischen Amtsanmaßung - lassen sich Fälle nachweisen, bei denen Polizei und Squadristen ganz offiziell zusammenarbeiteten. Solcherart private Unterstützung der Polizeikräfte trug dazu bei, daß die Autorität der Staatsschutzorgane nur schwach ausgebildet war. Zudem dürfte auch die Erinnerung an den Risorgimento eine Toleranz gegenüber patriotisch auftretenden Aktivisten
499 Die „fatti di Sarzana" sind gut untersucht. Vgl. dazu zuletzt zusammenfassend: Engelmann, Provinzfaschismus, S.92-97 (mit weiteren Literaturangaben). 500 Banchelli, S.14. Ähnlich auch Cesare Rossi der meinte: „Nur in Italien gibt es den Staat nicht"'. Zitiert nach De Feiice, Mussolini il fascista, S.317; Dunnage, Italian Police, S. 109.
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hinterlassen haben. Es gelang den Faschisten, der Vorstellung, daß sie legitimiert seien, das Gewaltmonopol mit dem Staat zu teilen - weil sie zum „Schutz der Nation" agierten - zu einer praktisch weitgehend unwidersprochenen Gültigkeit zu verhelfen.501 Insgesamt gesehen war das Verhalten der italienischen Polizei, insbesondere der Carabinieri, gegenüber den Faschisten in den Jahre 1919/20 durch stillschweigende Sympathie und ab 1921/22 durch ein weitgreifendes Maß an offener Kooperation und Unterstützung gekennzeichnet. Diese Radikalisierung innerhalb der Polizei war auch die Folge von Erfahrungen, die bei Konfrontationen mit sozialistischen Streikenden und Demonstranten gemacht wurden. Die Faschisten waren seit 1921 bei den Polizeieinsätzen gegen die Sozialisten oder Kommunisten als inoffizielle Verstärkung nicht nur geduldet, sondern zunehmend sogar erwünscht. Die Polizei wie die Faschisten teilten eine tiefgehende antisozialistische Einstellung, die bei den gemeinsamen Aktionen nochmals verstärkt wurde. Die Polizei in der Weimarer Republik Die Beurteilung der Haltung der deutschen Polizei gegenüber den Nationalsozialisten hat bislang stark variiert. „Häufig verrät die Sprache der Polizei- und Behördenberichte Ohnmacht, Laxheit oder auch offene Sympathie angesichts der nationalsozialistischen Agitation", urteilt der Historiker Peter Longerich. Richard Bessel hat dagegen betont, dass die Polizei durchgriff. Öffentliche NS-Versammlungen seien gut überwacht worden. Kam es zu Veranstaltungsreden gegen die Staatsautorität, so seien diese unterbunden worden. Außerdem habe es die Polizei verstanden, die NS-Organisation für ihre eigene Informationsbeschaffung zu unterwandern. Auch SA-Heime und SA-Büros seien oftmals auf illegalen Waffenbestände durchsucht worden. Bessel zeichnet damit eher ein Bild polizeilicher Entschiedenheit und Durchgriffsstärke.502 Gerade auf dem Lande und in Kleinstädten aber, die Bessel vor allem untersucht hat, waren die Gendarmen schon kräftemäßig nicht in der Lage, eine kompromisslose Haltung gegenüber der SA an den Tag zu legen. Hier ähnelte sich die Situation der Polizeieinheiten in Italien und Deutschland am stärksten. Angesichts der motorisierten faschistischen Straßenkämpfer standen beide vor besonderen Schwierigkeiten. Zum einen hatten die Faschisten ihr Werk schon verrichtet, bevor die Polizei eintreffen konnte. Zum anderen waren die angereisten faschistischen Täter den örtlichen Polizeieinheiten und Bewohnern unbekannt, so dass eine Identifizierung der Straftäter erheblich erschwert
501 Dunnage, Italian Police, S.XV/XV, 14, 65-85; Dunnage, Ordinamenti, S.67, 75-78, 82; Engelmann, Provinzfaschismus, S.65, 132/133; Linz, Political Space, S.165. 502 Longerich, Bataillone, S.154; Bessel, Political Violence, S.81, 89.
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wurde. 503 So tadelte der preußische Innenminister im Januar 1932 die „schlaffe und nachlässige Haltung", die „Unsauberkeit" und die „Trunkenheitsexzesse" innerhalb der Schutzpolizei. Besonders auf dem Lande erschwere der Mangel an Lastkraft- und Streifenwagen die Strafverfolgung, konstatierte der Minister. 504 Dazu kam, dass die ungeplanten und spontanen Konfrontationen aufgrund der geringeren Polizeidichte nur schwer zu überwachen waren. Solche Berichte lesen sich ähnlich wie die Klagen italienischer Präfekten über die mangelhafte technische Ausstattung der Polizeikräfte mit Lastkraftwagen und Kommunikationsmitteln.505 Dem Bologneser Präfekten Cesare Mori etwa wurden bis zum Januar 1922 von den angeforderten 40 Lastwagen gerade einmal fünf angeliefert. Selbst diese vom Militär gestellten LKW gaben schon nach drei Tagen ihren Geist auf. So beklagte er gegenüber dem Innenministerium, dass in verschiedenen Orten die Polizeieinheiten immobil bleiben mussten und ihren Dienst nicht in der beabsichtigen Art und Weise verrichten konnten. 506 Auch in Deutschland entfaltete die seit 1932 verstärkte Ausrüstung hochmobiler SA-Einheiten mit Lastwagen insbesondere in ländlichen Gegenden eine hohe Effizienz. Den Überfällen, Attentaten und Krawallen der faschistischen Kämpfer standen die ländlichen Polizeieinheiten in Italien wie in Deutschland oftmals machtlos gegenüber. Zudem waren in Italien die Carabinieri in den Kasernen stationiert, die sich in größeren Städten oder bestenfalls in Kleinstädten befanden. Die Kontrolle über die ländlichen Gegenden war dadurch erheblich erschwert, die Carabinieri erlangten zuweilen nicht einmal Kenntnis von den Gesetzesverstößen.507 In den Städten verlegte sich die SA auf eine Zersetzungsarbeit, die sich am kommunistischen Vorbild orientierte. Nationalsozialisten legten, wie zuvor schon die Kommunisten, Kartotheken mit den Fotos der Polizeibeamten an. Missliebigen Beamten gingen auch Morddrohungen zu. 508 Die Zersetzungsarbeit der Nationalsozialisten zielte aber seit 1929/30 auch auf die Gewinnung der Polizei mittels Flugschriften oder direkter Anwerbung. So war auf einer
503 Siehe hierzu fiir die Weimarer Republik: Liang, S.l 14-128; Leßmann, S.178, 331 ff.; Gusy, S.273. Für Italien: Dunnage, Ordinamenti, S.79. 504 Zitiert nach Leßmann, S.290-292. Auch der hessische Innenminister Wilhelm Leuschner konstatierte, dass der SA-Terror auf dem Lande groß sei (Innenministerkonferenz am 5.4.1932, in: Staat und NSDAP, S.307). 505 Vgl. Dunnage, Ordinamenti, S.66, 78/79. 506 Telegramm des Präfekten Mori aus Bologna an DGPS vom 27.1.1922, in: ACS, Mdl, DGPS, CA, 1922, cat. G l , fasc. „Fasci di combattimento. AGR, busta 102, Fase.: Tutela dell'ordine pubblico nelle provincie della bassa Valle Padana", ohne fol. 507 Dunnage, Italian Police, S.4. 508 Leßmann, S.292/293; Ausführungen Severings und Leuschners auf einer Konferenz der Innenminister am 17.11.1931, in: Staat und NSDAP, S.220, 223; Münchner Neueste Nachrichten Nr.93 vom 6.4.1932. Zu den Kommunisten: Striefler, S.267-269, 287-289.
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Konferenz der Regierungs- und Polizeipräsidenten am 5. Dezember 1930 immerhin von „verstärkten Werbungen der NSDAP unter den Polizeimannschaften" die Rede. Wuppertaler Polizeibeamte hatten 1931 einen „SA-Polizeisturm" gegründet, in Hamburg bildeten NS-Sympathisanten einen „Kameradschaftsbund nationaler Polizeibeamter", in Offenbach existierte seit dem Juli 1932 eine „Fachgruppe Polizei" innerhalb der Partei, und selbst in Gleiwitz konnte gegen Ende des Jahres 1932 eine „Arbeitsgemeinschaft nationalsozialistischer Polizeibeamter" gegründet werden. Wenngleich immer wieder einzelne Polizeibeamte ihrer Zusammenarbeit mit der NSDAP überfuhrt werden konnten, so fand insgesamt jedoch der direkte Einbruch der Nationalsozialisten unter den Angehörigen der Schutzpolizei „in geringerem Maß als [in] [der] übrige[n] Beamtenschaft" statt. 509 Auch wenn die Unterwanderung der SA dort erfolgreicher war, wo die KPD-Kampfbünde stark waren, so kann die direkte Wirkung der Zersetzungsarbeit der SA wenigstens in quantitativer Hinsicht als gescheitert gelten. Nach einer Übersicht aus dem Jahre 1937, die auf Anordnung Himmlers erstellt wurde, waren gerade einmal 26 der knapp 1.500 Dortmunder Schutzpolizisten, 20 der 1.470 Bochumer und drei der 334 Hammer Schutzpolizisten vor der „Machtergreifung" der NSDAP beigetreten. Einer Schätzung des Historikers Hsi-Huey Liang zufolge befanden sich vor 1933 etwa 200 bis 300 NSDAP-Anhänger unter den 23.000 Berliner Bediensteten. Ausgeschiedene Polizeiwachtmeister scheinen hingegen öfter zu SA und NSDAP gefunden zu haben. 510 Wichtiger als diese in SA-Einheiten tätigen Polizeibeamten (die polizeiliche Einsätze verrieten oder nationalsozialistische Flugblätter auf den Wachen kursieren ließen) war jedoch die verbreitete antirepublikanische Haltung zahlreicher Polizeioffiziere. Die Mehrzahl der zirka 2.500 Polizeioffiziere stammte aus dem Militär und betrachtete den Polizeidienst nicht als eine Alternative, sondern als Fortsetzung des Militärdienstes.511 Die Polizeioffiziere fühlten sich jedoch gegenüber den Soldaten zurückgesetzt, partiell unter Wert beschäftigt und als zu Unrecht einer zivilen Leitung unterworfen. An dem eifersüchtigen Uniformvergleich der Polizisten konnte man ihre Minderwertigkeitsgefühle, auf keinen Fall schlechter dazustehen als die Reichswehrangehö-
509 Leßmann, S.302-318, 308 und 310 (Zitate); BAB (ehem. BÄK) NS 23/407 (Schreiben der Gauleitung der NSDAP Hamburg an den Osaf-Stellvertreter Nord vom 26.11.1929). Anders urteilt, propagandistisch verzerrt, die Welt am Abend vom 11.3.1932, S.2. Preußischen Beamten war seit dem 3.7.1930 die Teilnahme und Unterstützung der NSDAP wie KPD verboten. Der entsprechende Runderlass und die Diskussion im Justizministerium in: Staat und NSDAP, S.87-93. 510 Leßmann, S.310-318; Liang, S.103. Dass Beamte unter den SA-Mitgliedern unterrepräsentiert blieben (Fischer/Mühlberger, S.105), erklärt sich zum Teil aus dem am 27.7.1932 erlassenen Mitgliederverbot fur Beamte. 511 Im Jahre 1931 waren 88 Prozent der Polizeioffiziere vom Oberleutnant aufwärts ehemalige (Reserve-)Offiziere oder Unteroffiziere der Reichswehr. Leßmann, S.171-175.
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rigen, in Gestalt einer wahrhaften Uniformpsychose beobachten. Wenn die Polizeioffiziere auch keinen aktiven Kampf gegen die Republik führten, so setzten sie sich, angesichts ihres antidemokratischen und soldatisch-monarchistischen Politikverständnisses, nicht mehr als zwingend nötig fur deren Erhalt ein. Solche Einstellungen sickerten zum Teil bis hinunter zum einfachen Schutzpolizisten und konnten so weit fuhren, dass verschiedene Polizeibeamte bei den Razzien gegen die SA wissentlich Waffen und Munition übersahen. Nicht die aktive Unterstützung, aber eine passiv-abwartende und wenig entschiedene Haltung kennzeichnete das generelle Verhalten innerhalb der deutschen Polizei. 512 Zugleich griff die Polizei schon in den Jahren 1930 und 1931 immer seltener in die Auseinandersetzungen zwischen NSDAP und KPD ein. 5 1 3 Da die SA die offene Konfrontation mit der Polizei stärker vermied als die entsprechenden KPD-Organisationen, wurde ihnen schon deshalb von der Polizei mehr Sympathie entgegengebracht. Dies zeigt sich allein daran, dass in den Meldungen der Nachrichtensammelstelle des Reichinnenministeriums die Berichterstattung über die KPD und ihre Nebenorganisationen seit 1930 schon rein quantitativ den zwanzigfachen Raum gegenüber den Materialsammlungen zu den rechtsradikalen Verbänden, Parteien und Organisationen einnahm. 514 Ein Ungleichgewicht in der Beobachtungsintensität, das, wie gezeigt werden konnte, mit den tatsächlichen Kräfteverhältnissen nicht in Einklang stand. Während die preußische Polizei stärker republikanisch gesonnen war als etwa die bayrischen Einheiten, so wurde auch hier seit dem „Preußenschlag" die Position der demokratischen Polizisten empfindlich geschwächt. So wurden 22 der 24 sozialdemokratischen Polizeipräsidenten und 11 der 44 Polizeidirektoren ihres Amtes enthoben. Erste Folgen ließen nicht lange auf sich warten. So zeigten sich Ende Juli 1932 50 uniformierte Polizisten der Kölner Schutzpolizei als Besucher auf einer NSDAP-Veranstaltung. Es geschah nun immer häufiger, dass Schutzpolizisten Gewalttätigkeiten von SA-Männern ignorierten oder bereits verhaftete SA-Leute ohne zwingenden Grund wieder frei ließen. 515 Bei den Septemberwahlen 1930 fanden sich nach einer Stichprobe von 3.612 Berliner Schutzpolizisten, die allerdings nicht repräsentativ war, immerhin doppelt so viel sozialdemokratische Wähler wie bei den Berliner Reichstagswahlergebnissen. Die Kommunisten waren in der Wahl der
512 Zum Vorstehenden vgl. ausführlicher bei: Leßmann, S.175-180, 194-199, 202-207, 302318; Liang, S.103-105; Gusy, S.272-276; Graf, S. 154/155; Bessel, Political Violence, S.82. 513 Bering, S.99; Gusy, S.273-275, 305, 307. 514 Gusy, S.292. Zur Nachrichtensammelstelle auch ebd., S.283-293; Staat und NSDAP. S.X1V-XVII1. 515 Leßmann, S.370-378.
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Polizisten deutlich unterrepräsentiert. Für die NSDAP votierten hingegen gut 20 Prozent der Polizisten (unter den Berlinern waren es nur 12,8 Prozent). 516 Das zeitgenössische Urteil über die preußische Schutzpolizei als einer Carl Severing ergebenen, republikanischen Schutztruppe sollte nicht mit einer tiefgreifenden sozialdemokratischen Gesinnung innerhalb der breiten Masse der Polizeikräfte verwechselt werden und deutet wohl eher auf ihre prinzipiell staatstreue Haltung hin. Unter den Polizei-Offizieren hingegen dominierte eine konservativ-monarchistische Einstellung. Immerhin konnte beobachtet werden, dass sich im August 1931 47 der 500 Berliner Schupo-Offiziere an dem vom Stahlhelm initiierten Volksentscheid fur die Auflösung des preußischen Landtages beteiligten, der von DNVP, DVP, NSDAP und KPD getragen wurde. 517 Auch die Politische Polizei, die sich in ihrer praktischen Arbeit vor allem um die Beobachtung der politischen Republikgegner kümmerte, wandelte sich seit dem „Preußenschlag" von einer legalistischen, zuweilen auch resignativen, aber prinzipiell republikanischen Organisation zum, so der Historiker Christoph Graf, „Instrument eines autoritären und reaktionären, auf vorrevolutionäre und antidemokratische Zustände ausgerichteten Regimes". Bis Anfang Oktober 1932 hatten 94 der 588 politischen Beamten in Preußen ihre Stellungen verloren. Fortan konzentrierte sich ihre Arbeit vor allem auf die Verfolgung kommunistischer Staatsfeinde. 518 In Italien wie in Deutschland waren somit die antikommunistische Mentalität der Polizisten ein wichtiges Motiv für ihre prinzipiell eher passive Haltung gegenüber den Faschisten. Gleichwohl kann in Deutschland nicht von einer Kollaboration der Polizei mit den Nationalsozialisten gesprochen werden. Zu einigen Unterschieden zwischen italienischer und deutscher
Polizei
Worin lagen die Unterschiede zwischen der oftmals offenen Kooperation der polizeilichen Kräfte in Italien einerseits und der vergleichsweise starken Gegenposition der deutschen Polizei andererseits begründet? Die Annahme, dass die Unterschiede sich aus einer geringen Polizeipräsenz in Italien erklären lassen, kann durch einen einfachen Vergleich der Polizeidichte widerlegt wer516 Zahlen zu den Wahlen in vier Berliner Polizeirevieren in Charlottenburg, Friedrichshain/Lichtenberg, Kreuzberg und Alexanderplatz sowie dem Polizei-Krankenhaus bei Leßmann, S.301. Berliner Wahlergebnisse bei Falter/Lindenberger/Schumann, S.72. 517 Siehe dazu Leßmann, S.364, 367-369; Bericht des ehemaligen Polizeikommandeurs Magnus Heimannsberg vom September 1957 (Abdruck in Bracher, Auflösung, S.641-643); Rohe, Reichsbanner, S.375; Winkler, Weg in die Katastrophe, S.675/676; Höner, S.25/26; Albrecht, S.298. 518 Vgl. Graf, S.28-91 (Zitat S.90); Liang, S.171-183; Gusy, S.276-283, 303; Leßmann, S.371. Strieflers Einschätzung (Kampf, S.371) ist dagegen nicht haltbar. Zum Preußenschlag allgemein siehe die Darstellung bei Winkler, Weg in die Katastrophe, S.646-680; Höner, S.313-355; Bracher, Auflösung, S.491-526; Leßmann, S.349-370.
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den. Eine Aufstellung von elf ausgewählten italienischen Provinzen aus dem Januar 1922 und 24 ausgewählten preußischen Regierungsbezirken aus dem Jahre 1930 zeigt, dass die Polizeidichte in allen ausgewählten italienischen Provinzen deutlich höher war als in Preußen - wenn man einmal von dem Ausnahmefall Berlins mit seinem hohen Anteil an Verwaltungspersonal absieht. 519 In den vornehmlich aus der Emilia ausgewählten Provinzen - die im Brennpunkt der politischen Straßenkämpfe standen - lag die Polizeidichte um ein gutes Drittel höher als in den preußischen Regierungsbezirken. In den preußischen Regierungsbezirken war die Polizeidichte dort am höchsten, wo es zu vermehrten Zusammenstößen kam, wie in Düsseldorf oder Schleswig. Umgekehrt lagen tendenziell diejenigen Bezirke am Ende der Skala, die ein vergleichsweise ruhiges Pflaster waren. Die Polizeidichte reichte selbst in den gewalttätigen Bezirken Preußens nur in den Großstädten Berlin und Düsseldorf an die durchschnittliche Polizeidichte der italienischen Provinzen heran. Der in der Literatur häufig als Ursache fur die Schwäche der italienischen Polizei angeführte Mangel an Polizeikräften kann angesichts des Vergleichs zur deutschen Situation nicht als Ursache der mangelnden Durchsetzungskraft des Gewaltmonopols in Italien betrachtet werden. 5 2 0
519 Zur Berliner Polizei siehe Liang, passim; Bering, S.44, 46, 50, 55/56. 67/68, 96, 271. 520 Etwa Snowden, Fascist revolution, S.194. Wenngleich die Polizeidichte in Preußen für das Jahr 1930 erhoben wurde und somit nicht ausgeschlossen ist, dass die Kräfte in den Jahren 1931 und 1932 nochmals leicht verstärkt wurden, so ist kaum anzunehmen, dass die Polizeidichte auch im Schlussjahr der Republik diejenige Italiens überstieg, da sich die Stärke der Polizeieinheiten nach den Übereinkünften mit den Alliierten über die Höchstgrenzen an Polizeikräften zu richten hatte.
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Tabelle 7: Ein Vergleich der Polizeidichte in Italien und Deutschland am Vorabend der Machtübertragungen 521 ITALIEN (Januar 1922) Provinz Polizeidichte Bologna 194,99 Mantova 224,27 Ravenna 246,17 371,32 Ferrara Cremona 429,43 455,44 Parma 513,41 Modena Rovigo 516,74 Reggio Emilia 532,61 Piacenza 552,39 Forli 568,21
0418,63
DEUTSCHLAND (April 1930) Polizeidichte Regierungsbezirk Berlin 218,71 Düsseldorf 419,3 Oppeln 426,4 Königsberg 456,12 Hannover 458,76 Schleswig 479 Schneidemühl 493,3 Gumbinnen 545,33 Wiesbaden 546,24 Arnsberg 548,71 Merseburg 560, 01 Köln 565,34 Erfurt 575,45 Stettin 589,82 Breslau 601,66 Münster 618,27 766,4 Stade Lüneburg 820,9 Kassel 825 Magdeburg 830,96 Aurich 943,24 Potsdam 980,92 Aachen 1183,14 Minden 1348,89 0635,07
521 Eigene Berechnung. Die Polizeidichte berechnet sich danach, auf wie viele Einwohner durchschnittlich ein Polizist kommt. Das heißt, je niedriger die ausgewiesene Ziffer ist, umso höher ist die Polizeidichte. Als Polizeieinheiten wurden die Schutzpolizei und die Landjäger in Deutschland ausgewählt, in Italien die Carabineri Reali und die Guardia Regia. Quellengrundlagen: Aufstellung der stationierten Carabinieri Reali und Regia Guardia in Bologna, Parma, Modena, Reggio Emilia, Piacenza, Mantova, Rovigo, Ferrara, Forli und Ravenna, in: ACS, Mdl, DGPS, CA, 1922, cat. Gl, fasc. „Fasci di combattimento. AGR, busta 102, Fase.: „...Tutela dell'ordine pubblico nelle provincie della bassa Valle Padana", ohne fol. (für die Polizeieinheiten wurden zusammengenommen: Die Guardie und Carabinieri „effettivamente presenti", squadrone, nuclei mobile und ihre Verstärkungen). Für die Einwohnerzahlen: Istituto Centrale di Statistica: Annuario Statistico Italiano. Seconda Serie, Bd. IX. Anni 1922-1925. Roma 1926, S.14. Für die preußische Polizei: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.120, fol.114-116, 118 (M). Für die Einwohnerzahl: Statistisches Reichsamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Jahrgang 51 von 1932. Berlin 1932, S.6.
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Tatsächlich sagt die bloße Polizeistärke und -dichte allein so gut wie nichts über die Effizienz der jeweiligen Polizeiarbeit aus. Um diese zu beurteilen, müssen erstens die wirklich im Streifendienst eingesetzten Straßenpolizisten berücksichtigt werden, zweitens sollten die Klarheit und Eindeutigkeit der an sie ergangenen Anweisungen durch vorgesetzte Behörden, drittens ihre technische Ausstattung und viertens ihr wirklicher Wille zur Bekämpfung außerstaatlicher Gewalt untersucht werden. In Italien hatten sich während des Krieges - als eine vergleichsweise komfortable Alternative zum Kriegseinsatz an der Front - viele Männer bei den Polizeieinheiten verpflichtet. Nach dem Friedensschluss hatte sich für diese Polizisten die Situation radikal verändert. Es gab nun keinen Grund mehr, die niedrige Bezahlung, die langen und ermüdenden Arbeitszeiten und die strengen Disziplinvorschriften hinzunehmen. Die Mehrheit lehnte eine Erneuerung ihrer Arbeitsverträge ab, die sechs Monate nach dem Krieg ausliefen. Nach 1918 nahmen zudem gerade unter den unterbezahlten Guar die Regie, deren Gehälter nicht mit der starken Inflation Schritt hielten, Akte der Undiszipliniertheit, von der Desertion bis zur Krankmeldung, stark zu. In den ersten Nachkriegsjahren war die Zuteilung der Polizeikräfte völlig aus den Fugen geraten und die Einheiten waren hoffnungslos unterbesetzt. So waren etwa in Bologna im Jahre 1919 durch Desorganisation und Krankmeldungen noch nicht einmal 15 Prozent der Guardie Regie einsatzfähig - lediglich 36 von 253 möglichen Männern versahen ihren Streifendienst auf der Straße. Unter den Guardie Regie wie unter den Carabinieri wurden wegen der geringen Bezahlung oder zusätzlicher Dienstzeiten sogar nationsweite Streiks geplant. Zudem versuchten die Revolutionäre unter den Soldaten, sich mit den Polizeikräften zu fraternisieren. Das Vertrauen in die Polizeimacht erreichte einen Tiefpunkt. Das Ausmaß der Lähmung innerhalb der Polizei war ungewöhnlich stark. Zwar gab es auch bei den deutschen Polizisten in den ersten Nachkriegsjahren eine erhebliche Fluktuation, weil diese sich während des Dienst „unerlaubt entfernten", um auf Arbeitsuche zu gehen, oder Entlassungsgesuche einreichten. Aber die Personalverluste erreichten hier lediglich Spitzenwerte von 20 Prozent. 522 Der in Italien gerade in den bürgerlichen Schichten - unter den Agrariern und Unternehmern - wahrgenommene Verlust an Durchgriffsstärke gegenüber der Arbeiterbewegung beförderte Entwicklung des faschistischen Squadrismus als einer Art Ersatzpolizei, die energischer Zugriff als die reguläre Polizei. Die Regierung der Nachkriegszeit hatte sich auf eine präventive und vermittelnde Polizeiarbeit bei gesellschaftlichen Konflikten konzentriert, die den bürgerlichen Eliten angesichts der revolutionären Forderungen der Arbeiterbewegung um so inadäquater erschien. Die Unterstützung des Squadrismus sollte im 522 Dunnage, Italian Police, S.88/89; Donati, Guardia, S.444; Dunnage, Ordinamenti, S.68-73; Leßmann, S.89, 126/127.
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Sinne der bürgerlichen Eliten an die Art der Polizeiarbeit der 1890er Jahre anknüpfen, als die italienische Regierung mittels Notstandsgesetzgebung, militärischer Interventionen und Kriegsrecht repressiv gegen die Arbeiterbewegung vorgegangen war. Höhepunkt dieser repressiven Polizeiarbeit war der Mailänder Mai 1898 gewesen, als 80 Tote und 450 Verletzte unter den Demonstranten zurückblieben. Die Verhängung des Kriegsrechtes in einigen Städten, die Einstellung des Erscheinens von 110 Zeitungen, die Schließung tausender sozialistischer Vereinigungen und die Verhaftungen einiger wichtiger Arbeiterführer waren nur einige der Kennzeichen, die die Repressionsphase der 1890er Jahren auszeichneten. Der Staat war von dieser repressiven Linie aus verschiedenen Gründen abgerückt: Erstens wurde die Polizei allein zahlenmäßig mit dieser Aufgabe überfordert, zweitens konnte Giolitti mit seiner Politikfuhrung des trasformismo aus machtpolitischen Erwägungen nicht auf die parlamentarische Hilfe der immer stärker werdenden Sozialisten verzichten und drittens hoffte die Regierung nach dem Krieg, durch Aussöhnung die befürchtete soziale Revolution zu verhindern und den gesellschaftlichen Frieden zu wahren. Die gesellschaftlichen Eliten beklagten die Ohnmacht der Carabinieri und verloren ihren Glauben an die Fähigkeit der Regierung, die Aktivitäten der sozialistischen Ligen und Gewerkschaften zu bändigen. Daher setzten sie, wie schon einige Male vor dem Ersten Weltkrieg, auf außerstaatlich-gewalttätige „Selbstschutzorganisationen". Im September 1920 zum Beispiel fanden sich 150 Agrarunternehmer in Bologna zu einem Treffen zusammen, auf dem sie ihre Bereitschaft bekundeten, sich selbst zu bewaffnen, um Recht und Ordnung wiederherzustellen. Nach den Erfahrungen mit Giolittis Politik gegenüber den sozialistischen Fabrikbesetzungen griffen auch die städtischen Unternehmer zu außerlegalen Mitteln. Mit dem Erstarken der faschistischen Bewegungen traten seit dem Frühjahr 1921 dann die faschistischen Schlägerbanden an die Stelle der Selbstschutzorganisationen.523 Die historische Entwicklung und Desorganisation der italienischen Polizeiorgane liefert weitere wichtige Hinweise auf die vergleichsweise ineffektive Haltung der Schutzmacht. Während die italienische Polizei vor 1900 noch extrem schwach entwickelt war, wurde sie erst unter Giovanni Giolitti zahlenmäßig so erweitert und logistisch verstärkt, daß sie eine ernstzunehmende Kraft darstellte. So hatte sich erst im Jahre 1907 die Anzahl der Guardie di Cittä gegenüber ihrer Stärke in den 1890er Jahren verdoppelt. 524 Neben der in Italien im Vergleich zu Deutschland ausgeprägteren antikommunistischen
523 Vgl. hierzu Bach Jensen, S.l-9, 66-72, 115-134, 144-151, 163-172, 180/181; Davis, S.232241, 354/355; Dunnage, Italian Police, S.10-12, 19-64, 92/93, 97, 99-102, 107, 167/168; Cardoza, Agrarian Elites, S.301; Fried, S.147. 524 Davis, S.232-241; Jensen, S.l 13, 173-182, 176 (Zahl), 300/301; Alongi, Manuale, S.62, 65; Dunnage, Law, S.381-408.
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Einstellung der Polizeikräfte war es somit vor allem deren Einteilung in autonome und sich zum Teil feindlich gegenüberstehende Einheiten, die ein effizientes Vorgehen der italienischen Schutzmacht verhinderte. In Italien waren die Kräfte mit polizeilichen Befugnissen schon seit dem 19. Jahrhundert in verschiedenste Einheiten zersplittert. Es war eine strukturelle und institutionelle Schwäche der italienischen Polizeikräfte, dass verschiedene voneinander unabhängige Polizeikorps koexistierten, die unterschiedlichen Ministerien unterstanden. Hierdurch entstanden immer wieder Kompetenzrangeleien zwischen den einzelnen Polizeieinheiten. Die Präfekten beklagten sich oft, dass die Armeekommandanten nur eine bedingte Kooperationsbereitschaft bei der Abstellung der Carabinieri zeigten, während umgekehrt die Armeekommandanten den exzessiven Einsatz der Carabinieri durch die Präfekten kritisierten. Die konfliktive Struktur, unklare Weisungsbefugnisse, gegenseitige Behinderung der Arbeit oder Verweigerung der Zusammenarbeit verhinderten ein effizientes Durchgreifen der italienischen Staatsmacht. Die Polizeibeamten sahen sich dadurch oft in der Situation, einander widersprechenden Regierungsanweisungen und -direktiven folgen zu müssen. 525 Der komplizierte bürokratische Entscheidungsweg, die geringe Erfahrung der zuständigen Beamten auf der obersten Ministerialebene und die geringe Spezialisierung der unteren Polizeieinheiten verhinderten meist ein rasches Handeln der zuständigen Polizei-Kommandanturen. Zudem wurde dadurch, daß die Carabinieri unverheiratet bleiben sollten und außerhalb ihrer Heimatregionen wie Militäreinheiten kaserniert wurden, jedweder lebendige Kontakt zur örtlichen Bevölkerung abgeschnitten. Erst durch die Gesetzesinitiativen des Premierministers Rudini vom Dezember 1897 wurden sukzessive Streifendienste der Polizeieinheiten eingerichtet, um den Kontakt zur Bevölkerung zu verbessern. Vordem waren keine Patrouillendienste der Polizisten vorgesehen worden. Während die Lockerung der Bestimmungen (den Guardie di Cittä wurde erlaubt zu heiraten und, sofern sie nicht ledig waren, auch eine Wohnung außerhalb der Polizeikaserne zu nehmen) nach dem Krieg wieder rückgängig gemacht wurden, blieb wenigstens eine stärker dezentrale Kasernierung bestehen, die ein schnelleres Eingreifen der Polizeikräfte ermöglichte. Die Verfolgung von Straftaten und die Nachforschungen bei Verbrechen waren jedoch immer noch erheblich erschwert, da die Kasernierung für eine Konzentration der Kräfte an einem Ort sorgte und Bevölkerung und Polizei sich tendenziell mißtrauisch gegenüberstanden. Zudem waren die Polizeieinheiten nicht nur mit technisch veraltetem Material ausgestattet, sondern auch unterversorgt, sowohl was die Transportfahrzeuge als auch was die Kommunikationsmittel betraf. Dazu trat schließlich - neben der mangelnden Orts-
525 Dunnage, Italian Police, S.XV, 142/143.
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kenntnis - die schlechte Ausbildung und Unerfahrenheit der meisten Polizisten. 526 Fälle von Zusammenarbeit mit den SA-Männern waren innerhalb der deutschen Polizeieinheiten nur selten zu beobachten gewesen und zogen bei ihrer Aufdeckung meist harte Strafen nach sich. Diese Fälle standen in keinerlei Verhältnis zur offenen Kooperation zwischen Carabinieri und Squadristen. Das Gewaltmonopol des deutschen Staates war vergleichsweise gut erhalten und gewahrt geblieben. Dies hing mit verschiedenen Gründen zusammen. Zum einen waren die unmittelbaren Nachkriegswirren vorbei und das Ergreifen des Polizistenberufes, der einen durchaus respektablen sozialen Status für sich beanspruchen konnte, verlor in den stabilen Jahren der Weimarer Republik den Charakter einer Durchgangs- oder Ausweichbeschäftigung, den er für viele italienische Polizisten hatte. 527 Auch die besseren Arbeitsbedingungen der deutschen Polizisten trugen zu ihrer vergleichsweise selbstständigen Haltung bei. Die seit dem Juli 1922 per Reichsgesetz gewonnene Sicherheit, als sogenannter Kündigungsbeamter (eine durchaus paradoxe Konstruktion) mit wenigstens zwölfjähriger Festeinstellung im Dienste der Schutzpolizei beschäftigt zu werden und anschließend eine zusätzliche - aber nicht garantierte - Option als „Versorgungsanwärter" auf Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst zu bekommen, war viel mehr, als die italienischen Kollegen auch nur wünschen konnten. Wenngleich für den deutschen Polizeibeamten die Chance auf eine Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst sehr unsicher war und oft eine schwierige Arbeitsuche auf dem freien Markt nötig wurde: Die Kapitalabfindungen, dreijährigen Übergangsbeihilfen, die Einrichtung von „Berufsfürsorgestellen für ausscheidende Polizeibeamte" und weitere Vergünstigungen und Hilfen bestärkten letztlich doch eine im Prinzip loyale Haltung der Schutzpolizisten gegenüber dem „väterlichen" Staat. 528 Der deutsche Schutzpolizist wurde auch nicht so schlecht entlohnt wie sein italienischer Kollege. Zwar bewegte sich das Gehaltsniveau eines Polizei-Anwärters auf einer Stufe mit dem eines Landarbeiters, aber schon der Polizei-Oberwachtmeister verdiente besser als ein tariflich entlohnter Angestellter im Berliner Groß- und Einzelhandel. Dazu kamen staatliche Beihilfen, von der Befreiung bei der Beitragsleistung zur Sozial- und Krankenversicherung bis hin zu Bekleidungs- oder Entbindungshilfen. Auch die Kürzung der Beamtenbesoldung am Ende der Weimarer Republik wurde bei den Schutzpolizisten nicht
526 Alongi, Organizzazione, S.249-267; Cadoronchi, S.217, 220; Bach Jensen, S.114, 145/146, 149-151; Dunnage, Ordinamenti, S.68-73; Orsi; Dunnage, Italian Police, S.13, 142/143. Die Ursache für die Kasernierung der Carabinieri und der Guardie di Cittä lag in der traditionell starken Durchsetzung der sizilianischen Polizei mit kriminellen Elementen aus der Mafia und dem Brigantentum begründet. 527 Leßmann, S.155, 158, 286-295. 528 Ausführlich: Leßmann, S.87, 124-150.
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vollständig realisiert. Die meisten Polizisten waren mit dem zwar nicht üppigen, aber doch annehmbaren und sicheren Einkommen zufrieden. Schließlich gab es kein italienisches Pendant zur der seit 1921 eingeführten einjährigen Ausbildung der preußischen Polizei-Anwärter, die auf speziell eingerichteten Polizeischulen mit militärischem Drill in den Gebieten „Körperschulung", „Waffenausbildung" und „Polizeifachunterricht", der Staats-, Polizei- und Strafrechtskunde umfasste, unterrichtet wurden. Auch hierdurch wurde die Staatsbindung der deutschen Beamten erhöht. 529 Vor allem der im Vergleich zu Italien rationale und schnelle Aufbau der preußischen Polizeibürokratie, ihrer Dienstwege und Befehlsverhältnisse vorangetrieben durch Wilhelm Abegg und Carl Severing - verhinderte einen mit Italien vergleichbaren Effizienzmangel der Polizeiarbeit. Die im November 1920 gegründete und im Mai 1922 leicht umorganisierte preußische Schutzpolizei faßte die Sicherheits-, Ordnungs- und Grenzpolizei zu einer straff gegliederten Einheitspolizei zusammen, wobei den Regierungspräsidenten als Landespolizeibehörden die Aufsicht über die Schutzpolizei zukam - diese Aufsicht beeinhaltete alle Fragen des Dienstbetriebes, der Vorschriften, Bewaffnung und Personalia. Die staatliche Polizeiverwaltung wurde in den Städten von den untergeordneten Polizeipräsidenten und auf dem Lande von Polizeiverwaltungsämtern übernommen. Mit der Einrichtung der Bezirksreviere wurden auch die kasernierten Schutzpolizeiabteilungen durch den Streifendienst im Revier in die alltägliche Polizeiarbeit eingebunden. 530 Zwar waren viele Polizisten nicht mit dem demokratischen Parteienstaat der Weimarer Republik einverstanden. Auch sie hatten in der Bürgerkriegssituation der unmittelbaren Nachkriegsjahre schlechte Erfahrungen mit sozialistischen Demonstranten oder Streikenden gemacht und waren innerhalb des proletarischen Milieus verachtet. Aber anders als in Italien fühlten sich die Polizeibeamten einer Staatsdiener-Mentalität verbunden, die die Zersetzung des staatlichen Gewaltmonopols durch rechtsgerichtete außerstaatliche Gewaltorganisationen stärker begrenzte. 531 Zwar wurde auch die preußische Schutzpolizei in den Schlussjahren der Weimarer Republik durch die politischen Veranstaltungen, Groß-Demonstrationen und Schlägereien stark belastet, aber die Effizienz der Polizeiarbeit blieb angesichts von immerhin durchschnittlich 600 bis 1.000 Verhaftungen pro Monat (im Jahre 1931), die wegen politischer Vergehen vorgenommen wurden, bestehen. 532 Der Unterschied zwischen beiden Ländern lag darin, dass in Italien das Gewaltmonopol des Staates eigentlich noch gar nicht richtig existierte, wäh529 Vgl. Leßmann, S. 159-164, 226-251. 530 Leßmann, S.92, 96-101. 531 Leßmann, S.87-102, 179/180, 199, 302. Zur Geschichte der deutschen Polizei im 19. Jahrhundert siehe: Funk, Polizei; Jessen; Lindenberger, S.72-78. 532 Leßmann, S.288/289.
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rend die Polizei in Deutschland seit den 1870er Jahren systematisch ausgebaut worden war und durch den grassierenden Paramilitarismus nach dem Ersten Weltkrieg nicht zersetzt werden konnte. Zwar lassen sich des Öfteren Respektlosigkeiten der SA-Männer wie der RFB-Leute gegenüber den Schutzpolizisten beobachten, die von Beschimpfungen über Einschüchterungen bis hin zu massiven Drohungen und tätlichen Angriffen reichen. 533 Aber im Vergleich zu Italien waren vergleichsweise wenige deutsche Polizisten getötet worden, was darauf hinweist, dass der Autoritätsverfall der staatlichen Organe vergleichsweise gering war. Ihre Geltungskraft blieb auch in der paramilitärischen Stimmung der Nachkriegszeit gegenüber den italienischen Verhältnissen recht gut erhalten. Zusammengefasst ergibt der Vergleich beider Polizeiapparate, dass sich die beiden Staatsapparate hinsichtlich ihrer möglichen Durchsetzungsfahigkeit, also ihrer zahlenmäßigen Stärke und Logistik, noch am ähnlichsten waren. Beide Staaten wären aufgrund dieser Möglichkeiten zur Eindämmung der Gewalttätigkeiten in der Lage gewesen. In der Frage der Haltung und politischen Einstellung unterschieden sich jedoch die italienischen Polizisten von ihren deutschen Kollegen. Mangelte es ersteren an einem entschiedenen Festhalten am staatlichen Gewaltmonopol, so war gerade dies die Stärke der deutschen Polizei. Auch wenn die Schutzpolizisten nicht unbedingt die größten Anhänger der parlamentarischen Demokratie waren von der offenen Kooperationsbereitschaft und -praxis der italienischen Carabinieri der Jahre 1921/22 waren sie weit entfernt. Die größten Unterschiede bestanden jedoch hinsichtlich der Effizienz der Staatsmacht. Der chaotischen Zersplitterung der Polizeiorganisation in verschiedene, jeweils weitgehend autonome und wenig miteinander koordinierte Teile in Italien stand (gerade in Preußen) eine vergleichsweise effizient aufgebaute deutsche Polizeiorganisation gegenüber. Die Ineffizienz der italienischen Polizeiorgane bestärkte die Squadristen in ihrer Auffassung, daß sie allein die Nation vor dem Bolschewismus erretten könnten. Darüber hinaus vermochte die italienische Polizei die zügellosen Gewaltorgien der Faschisten nur in Ausnahmefällen zu unterbinden. Diese Spirale aus dem ständigen Wechsel von Machtanspruch und Gewaltpraxis galt in Deutschland nur sehr eingeschränkt. Die SA-Männer hatten es nicht nur mit einem vergleichsweise funktionsfähigen, sondern auch mit einem weniger kooperationsbereiten Polizeiapparat zu tun.
533 Leßmann, S.293-295.
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2.4.2 Die italienische Regierung Inwiefern deckte sich diese Einstellung und Praxis der unteren Staatsorgane mit den Haltungen innerhalb der Regierungskreise? Wurden Anordnungen verschleppt, oder war die Arbeit der Polizei die Konsequenz einer wohlwollenden Haltung innerhalb der Regierungen? Schon Premierminister Francesco Saverio Nitti hatte sowohl im Juli 1919 wie auch Anfang 1920 auf die Unterstützung einer wachsenden Anzahl nationalistischer Vereinigungen gezählt, um die Polizei bei der Ünterdrückung sozialistischer Streikaktivitäten zu unterstützen. Darüber hinaus ordnete Nitti die Bildung von Bürgerkomitees an, um die streikenden Arbeiter zu ersetzen. 5 3 4 Als sich Nitti dann erfolglos bemühte, die Unterstützung der Linken zu finden, machte er sich die Rechte und das Militär zum Feind. Die politischen Kräfteverhältnisse waren nach den Wahlen vom November 1919 so verteilt, dass keine Regierungsbildung möglich schien, ohne noch mehr Spaltungen innerhalb zerrissenen Parlamentsgruppierungen zu produzieren: Die Sozialisten und Popolari als größte Gruppen wollten nicht miteinander kooperieren. Die Sozialisten waren in einen revolutionär gesonnenen maximalistischen Flügel, der seit dem Parteitag vom November 1918 die Mehrheit stellte, und einen reformistischen Minderheitsflügel um Filippo Turati gespalten. Die katholischen Popolari um Don Sturzo wiederum waren antiliberal und antisozialistisch eingestellt, wobei die parlamentarische Gruppe um Filippo Meda eher moderater war. Die wechselseitige Kooperationsverweigerung war fatal, da Sozialisten und Katholiken zusammengenommen 52,8 Prozent der Stimmen erhalten hatten, in Nord- und Mittelitalien waren es sogar 71,1 Prozent. Im Juni 1920 trat der liberale Demokrat Nitti frustriert zurück. 535 Sein Nachfolger wurde der alte Giovanni Giolitti, der die Kunst des sogenannten trasformismo, der elitären Verhandlungstechnik mit Einzelpersonen statt mit gesellschaftlichen Gruppen, nahezu perfekt beherrschte. Giolitti zog den Klientelismus organisierter Parteipolitik vor und betrieb Patronage- statt Öffentlichkeitspolitik. Dass damit ein Vertreter autoritärer Politikfuhrung an die Macht kam, hatte vor allem mit der gegenseitigen Lähmung der in etwa zehn Parlamentsgrüppchen zerfallenen großen politischen Blöcke aus Liberalismus, Katholizismus und Sozialismus zu tun. Nachdem die Krise des biennio rosso, der Fabrikbesetzungen und Streiks überstanden war, der Vertrag von Rapallo unterzeichnet, die Fiumefrage geregelt und der politische Brotpreis abgeschafft war, glaubte Giolitti, den Sozialisten eine Lektion erteilen zu können. Er löste das Parlament auf, in der Hoffnung, dass die Neuwahlen einen Stimmenverlust der Sozialisten und der katholischen Popolari mit sich brin534 Dunnage, Italian Police, S. 102. 535 Vgl. dazu: Di Siena, S.47-55; Farneti, S.10-12; Petersen, Wählerverhalten, S.127.
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gen würden (tatsächlich hatten sich beide bei den Wahlen vom Mai 1921 mit zusammengenommen 49,7 Prozent behaupten können). Von daher tat Giolitti wenig, um die blutigen Angriffe der Faschisten einzudämmen und die Kooperation der unteren Staatsorgane mit den faschistischen Kräften einzugrenzen. 5 3 6 Die Aufnahme der Faschisten in eine gemeinsame Wahlliste mit Giolittis Rechtsliberalen im Mai 1921 führte zu einem nicht zu unterschätzenden Reputationsgewinn der Faschisten beim gemäßigten Teil der öffentlichen Meinung. Der Wachstumsschub des Faschismus in dieser Phase dürfte auch auf die Wirkungen dieser Listenbildung zurückzuführen sein. Analog zu den Regierungen Papen und Schleicher in Deutschland nahm Premierminister Giolitti irrtümlicherweise an, er könne die Faschisten benutzen, um die Sozialisten besser zu kontrollieren. Auch Giolittis fehlgegangene Idee, durch Zugeständnisse die faschistische Bewegung zu spalten und ihren gewaltsam-radikalen Teil zu isolieren, wurde zehn Jahre später in Deutschland wiederholt. Giolitti selbst schrieb aber noch in seinen Erinnerungen, er hätte den Einzug der Faschisten ins Parlament „willkommen" geheißen, während er schon zuvor für D'Annunzios Einmarsch in Fiume „Verständnis" gehabt hatte. Letztlich zeigt Giolittis Einstellung eine fatale Unterschätzung der faschistischen Gewalt, da er lediglich ihren kriminellen, nicht aber ihren politisch umstürzlerischen Charakter erkannte. 537 Von einer Komplizenschaft der vom Juni 1920 bis zum Februar 1922 amtierenden Regierungen Giolitti oder Bonomi mit den Faschisten kann dennoch nicht die Rede sein. Immer wieder äußerten Giovanni Giolitti, Ivanoe Bonomi und Camillo Corradini (der Unterstaatssekretär des Inneren in der Regierung Giolitti) scharfe Kritik vor allem an Militärs und lokalen Präfekten und Quästoren. Stellvertretend für diese Kritik war der Brief Corradinis, der im Mai 1921 an das Kriegsministerium erging: „Ich wurde informiert, dass sich Armeeoffiziere in den Fasci eingeschrieben haben und dass dies mit dem Einverständnis der Armeekommandantur [in Florenz] geschehen sei. Das Armeekommando hat simplerweise geantwortet, dass laut Vorschriften die Beteiligung der Offiziere lediglich an subversiven Vereinigungen untersagt sei, aber die faschistische Vereinigung nicht subversiv, sondern patriotisch sei. Daher sei der Beitritt der besagten Offiziere nicht verboten. Eine Anzahl von Offizieren trägt ostentativ die Insignien der faschistischen Vereinigung und, ich wiederhole, viele Offiziere beteiligen sich, wie man weiß, an den faschistischen Strafexpeditionen f...] All dies geschieht ohne eine Korrektur oder ein Diszi-
536 Tasca, S.157; Farneti, S.16, 23-26; Lyttelton, Seizure, S.33/34; Giolitti, Denkwürdigkeiten, S.271. Wahlergebnisse bei Petersen, Wählerverhalten, S. 129-133. 537 De Grand, The Hunchback's Tailor, S.229-268; De Feiice, Mussolini il fascista, S.35-53; Farneti, S.21/22, 30; Thamer, Marsch, S.247; Giolitti, Denkwürdigkeiten, S.263, 272; Squeri, S. 145/146. Zur Haltung des Bürgertums: Cardoza, Agrarian Elites, S.309/310.
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plinarverfahren der Militärfuhrung in der Armee, welche weder eigene Nachforschungen, Bestrafungen oder Zurückweisungen dieser rein politischen Aktivitäten vornimmt, die krimineller Natur sind." 5 3 8 Premierminister Giovanni Giolitti schränkte schon im Januar 1921 die Erlaubnis zum Tragen von Waffen ein und veranlasste, alle ausgegebenen Berechtigungen nachzuprüfen und gegebenenfalls die Abgabe der Waffen bei den Polizeibehörden zu verlangen. Auch sein Amtsnachfolger Ivanoe Bonomi versuchte wiederholt, die faschistischen Aktionen zu bremsen und die Komplizenschaft zwischen den lokalen Behörden und dem Faschismus abzustellen. So wies er etwa die Präfekten des Landes am 21. Dezember 1921 an, die politischen Wehrverbände zu entwaffnen und vermehrt Hausdurchsuchungen durchzufuhren. Zudem verfugte er Einschränkungen des Lastautoverkehrs und eine stärkere Kontrolle der Waffenscheinausgabe. Aber die Verschärfung der schon unter Giolitti erlassenen Beschränkung des Waffenbesitzes im Dezember 1921 scheiterte daran, dass die Polizeibehörden das Dekret nicht in die Praxis umsetzten. Die Instruktionen aus der Hauptstadt waren schon dadurch ineffizient, dass sie keinerlei StrafVorschriften bei Nichtbefolgung enthielten. Bonomis Anweisung, dass derjenige, der sich illegal in den Besitz einer Waffe gebracht hatte, nicht mehr auf freien Fuß gesetzt werden konnte, blieb reine Theorie. In der Provinz Bologna etwa wurden im März 1922 gerade einmal zwölf Lizenzen aufgehoben, acht Anträge zurückgewiesen und drei Waffen konfisziert. Wahrscheinlich befand sich sogar in der Präfektur und Quästur ein Spitzel, der die Faschisten vor bevorstehenden Razzien warnte. Daß dies eine schwache Bilanz war, wird deutlich, wenn man bedenkt, daß es im Dezember 1921 in Italien Waffenscheine für 637.000 Gewehre und 208.000 Revolver gab. Andernorts wurde der Entzug der Waffenscheine schon nach kurzer Frist von den örtlichen Quästoren wieder zurückgenommen. Ein illegales Vorgehen der Waffenbesitzer umging man auch durch die extensive Gewährung von Ausnahmegenehmigungen. 539 Nicht nur im Fall der Konfiszierung der Waffen scheiterte die Durchsetzung der Staatsautorität daran, dass die mittleren und unteren Staatsorgane die Anweisungen der Zentrale oft verschleppten oder gar sabotierten. Fast gewinnt man den Eindruck, dass nur Bonomi aus der zunehmenden faschisti-
538 Brief Corradini an das Kriegsministerium vom 25.5.1921, in: ACS, DGPS, AGR, CA 1921, busta 75A, fasc. Arezzo. 539 Schreiben Bonomis an die Präfekten des Reiches und die Generalkommissare von Trient und Triest vom 21.12.1921, in: ACS, Mdl, Gabinetto di S.E. Bonomi, Ordine pubblico (1921-1922), busta 1, fasc.l: Affari diversi, fol.53-56; Dunnage, Italian Police, S.120, 122, 127; Tasca, S.175, 192, 201/202; Engelmann, Provinzfaschismus, S.45, Anm.18. Vgl. Payne, History S.106; Cardoza, Agrarian Elites, S.380; Squeri, S.150; Neppi Modona, S.304. Selbst Giulio Alessi, Justizminister in Factas Kabinett, versuchte im August 1922, die Gesetze zu verschärfen, scheiterte jedoch an den politischen Kräfteverhältnissen im Kabinett (Neppi Modona, S.273).
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sehen Gewalttätigkeit seit 1921 gelernt hatte und eine härtere Linie verfolgte. Gleichwohl waren die Anweisungen der Zentrale, die an die örtlichen Präfekten und Einheiten der Armee ergingen, meist nicht mehr als vage Appelle. Die praktikable Wirkung von Formulierungen wie: „Das Gesetz muß unter allen Umständen verteidigt werden", war gering. An konkreten Zuweisungen wie etwa neuer Ausstattung, zusätzlichem Polizeipersonal oder eindeutigen Verhaltensmaßregeln für die Polizisten vor Ort wurde in den römischen Telegrammen oft nichts gesagt. 540 Die Geschichte des Faschismus war vor allem eine Geschichte seiner Unterschätzung, wie Karl-Dietrich Bracher in Bezug auf den Nationalsozialismus betont hat. Viele politische Kräfte hofften, den Faschismus entweder benutzen, transformieren oder konstitutionalisieren zu können. Giolitti bändelte mit den Faschisten an, um die Sozialisten zum Eintritt in die Regierung zu zwingen; die Konservativen, um eine Regierungskoalition mit den Sozialisten zu verhindern; Industrielle und Agrarier, um die Arbeitergewerkschaften zu zerschlagen. Jeder sah im Faschismus einen provisorischen Verbündeten, dessen man sich später würde entledigen können. Die Gewaltsamkeit des Faschismus wurde daher wie andere illegale Aktivitäten betrachtet, die mit den normalen justiziellen Methoden zu kontrollieren sei, ohne die in ihr beschlossene Kraft einer insurrektiven Herausforderung zu beachten. 541 Die Kontaktaufnahmen mit dem Faschismus waren auch Folge einer Zersplitterung des politischen Systems in Italien, durch die nur instabile Parlamentsmehrheiten möglich wurden. Innerhalb der zwei Jahre von 1920 bis 1922 erlebte Italien immerhin vier Kabinette unter Giolitti, Bonomi und zweimal unter Facta sowie schließlich Mussolinis Kabinett (auch die instabile Weimarer Republik erlebte in ihren 14 Jahren immerhin 23 Kabinettsbildungen). In diesen zwei Jahren entstand ein Machtvakuum, das sich in drei Phasen unterteilen lässt. 542 Die erste Phase vom Oktober 1920 bis zum Juni 1921 unter Premierminister Giovanni Giolitti war durch einen zunehmenden Verlust politischer Autonomie gekennzeichnet. Die politischen Institutionen erwiesen sich als unfähig, in den Sozialprotesten erfolgreich zwischen den Kontrahenten zu vermitteln. Man kann durchaus von einem sich in den politischen Raum auswirkenden Klassengleichgewicht sprechen. Sträflich war die Unterschätzung der Straßenpolitik durch Giolitti, da er sich ihrer lediglich im Machtspiel des
540 De Feiice, Mussolini il fascists, S.36-39; Tasca, S.150; Lyttelton, Faschismus, S.307, 317; Payne, History, S.106; Dunnage, Italian Police, S.143; Fried, S. 161; Snowden, Fascist revolution, S.184/185, 187-190, 194/195; Carsten, Aufstieg, S.65. 541 Tasca, S.370; Fried, Italian Prefects, S.161; Giolitti, Denkwürdigkeiten, S.272; Snowden, Fascist revolution, S.186; Baglieri, Joseph: Italian Fascism and the Crisis of Liberal Hegemony: 1901-1922, in: Larsen/Hagtvet/Myklebust (Hrsg.), S.325, 331-333. 542 Die Phaseneinteilung folgt Revelli, Italy, S.9/I0.
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Montecitorio bedienen wollte, ohne eine unangefochtene Handlungsfähigkeit der Staates auf der Politikarena der Straße anzustreben. Massen- und Straßenpolitik waren Giolitti bei seiner eigenen Politikfuhrung immer fremd geblieben. So konnte der Antikommunismus - obwohl er ebenso bei den Liberalen, Popolari oder Nationalisten vorhanden war - allein bei den Faschisten zur leitenden politischen Praxis werden. Der Straßenkampf war ein Faktor, der dem Faschismus erlaubte, die wichtige politische Ressource des Antikommunismus für sich zu monopolisieren. Giolittis Regentschaft war eine Zeit der unzähligen Versuche, politische Verbündete zu gewinnen, gekennzeichnet von einer Serie von Konzessionen an die verschiedensten politischen Interessengruppen. Fatal war hierbei das Bündnis mit den Faschisten, die zu den Wahlen im Mai 1921 in die gemeinsame Wahlliste des blocco nazionale aufgenommen wurden - den Faschisten wurde hierdurch auf der politischen Bühne enorme Reputation zuteil. Giolitti wollte zwar individuelle faschistische Straftaten verfolgen, aber die faschistische Bewegung als Ganzes wollte er im traditionellen Politikstil des trasformismo gegen die Sozialisten ausspielen und in das System einbinden, da er sich vor einer antifaschistischen Koalition aus Reformsozialisten, Demokraten um Nitti und katholischen Popolari fürchtete. Offenbar unterschätzte Giolitti hierbei den gewalttätigen Charakter des Faschismus als ein durch Parlamentarisierung zu bändigendes Phänomen. So zerstritten sich zunächst Liberale und Popolari in der Frage, ob man scharf gegen die faschistische Gewalt vorgehen sollte, bis dann die Spaltung die Liberalen selbst erreichte. 543 Die zweite Phase von Juli 1921 bis Februar 1922 unter Premierminister Ivanoe Bonomi war durch eine Erschöpfung legitimer politischer Alternativen gekennzeichnet. In dieser Phase offenbarte sich die totale Ineffizienz institutionalisierter Entscheidungsprozesse. Durch die Bankenkrise und die scharfe Rezession erschöpfte sich der staatliche Budgetspielraum, so dass die Politik immer weniger auf die Gesellschaft einzuwirken vermochte. Gleichzeitig war dies die Phase des massenhaften Aufstiegs des Faschismus und der höchsten Virulenz der politischen Straßengewalt, die der Pazifizierungspolitik Bonomis gegenüberstand. Der letztendliche Rückzug des Staates auf eine bloße Schiedsrichterrolle bedeutete die Quasi-Legalisierung der politischen Auseinandersetzungen. Alle politischen Überlegungen wurden nunmehr von der Straßengewalt der Faschisten beeinflusst, wenn nicht sogar bestimmt. Die dritte Phase der beiden Kabinette unter Luigi Facta reichte vom Februar 1922 bis zum 16. November 1922, wobei die Wahl Mussolinis zum Regierungschef den Endpunkt dieser Phase darstellt. In dieser Periode erlangte der Faschismus die Hegemonie im rechten Lager, und die Faschisten konnten sich als gesellschaftliche Konsensstifter präsentieren. Die Kabinette Factas 543 Vgl. hierzu ausführlich bei De Grand, The Hunchback's Tailor, S.229-268; Veneruso, S.95126; De Feiice, Mussolini il fascista, S.3-99; Valeri, Giolitti.
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standen deutlich weiter rechts als dasjenige Bonomis und umfassten Kabinettsmitglieder, die mit dem Faschismus sympathisierten. Zwar verbesserten sich in der Zeit seit Factas Regierungsantritt die ökonomischen Bedingungen, aber die politische Krise wurde dadurch keineswegs abgemildert. Factas Kabinett war auch deswegen so schwach, weil es in drei Gruppierungen gespalten war. Er selbst und zwei weitere Liberale plädierten dafür, die Faschisten in die Regierung hineinzuziehen, drei liberale Regierungsmitglieder wollten eben dies mit aller Macht verhindern, und die dritte Gruppe aus zwei Popolari und einem Liberalen wollte ebenfalls die Regierungsbeteiligung der Faschisten verhindern, scheute aber vor dem Gebrauch von Gewaltmitteln gegenüber den Faschisten zurück. 544 Im Wesentlichen waren es zwei Schwächen, die während Factas Regierungszeit offenkundig wurden: Das linke Lager, hierunter vor allem die Sozialisten und die katholischen Popolari, verweigerte eine Einigung - sowohl mit der liberalen Mitte als auch untereinander. Bei den Sozialisten war diese Haltung der Vorherrschaft des maximalistischen Flügels spätestens seit dem Mailänder Kongress vom Oktober 1921 zu verdanken. Die Sozialisten hatten, animiert durch die bolschewistische Revolution in Rußland, einen reformistischen Kurs abgelehnt und verweigerten die Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien und Institutionen. Sie erwarteten nicht mehr, dass sich die Demokratie in einen Sozialismus transformieren lasse. 545 Die Katholiken hingegen standen dem sozialistischen Maximalismus und seinem revolutionären Gestus feindlich gegenüber. Daraus entstand eine Situation gegenseitiger Lähmung, aus der die Faschisten wohl den größten Gewinn gezogen haben. Die Liberalen weigerten sich anzuerkennen, dass die italienische Gesellschaft spätestens nach dem Ersten Weltkrieg den Schritt in die Massengesellschaft vollzogen hatte. Zudem betrachtete ein Großteil der konservativen Kräfte die faschistische Bewegung nach wie vor als ein einfach zu handhabendes Instrument, um die linken Arbeiter zu bändigen und niederzuhalten. Als im Februar 1922 die Alleanza del Lavoro gegründet wurde (die sich aus den nicht-katholischen Kräften der Sozialisten, der sozialistischen Dachgewerkschaft CGL, den unabhängigen revolutionären Syndikalisten, Anarchisten und Republikanern zusammensetzte), um den Faschisten entschlossen entgegenzutreten, waren die traditionellen Eliten vom Faschismus als ihrem Retter überzeugt. Der Versuch der Sozialisten, jenseits einer parlamentarischen Koalitionsbildung zu einer Gegenkraft zu werden, scheiterte schnell. Der am 31. Juli 1922 ausgerufene Generalstreik (sciopero legalitario) „für die
544 Vgl. Veneruso; Farneti, S.26-32; De Feiice, Mussolini il fascista, S.35-39, 246-248; Knox, Common Destiny, S.35, 40; Neppi Modona, S.269; Dunnage, Italian Police, S.125; Payne, History, S.107. 545 Sabbatucci, Giovanni: 1 socialisti nella crisi dello Stato liberale (1918-1926), in: Ders. (Hrsg.): Storia del socialismo italiano. Rom 1980, S.292-296; Fried, S.159.
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Freiheit" brach schon während der gerade einmal dreitägigen Streikphase vom ersten bis zum dritten August in sich zusammen. Der Streik hatte sich im Grunde genommen auf bescheidene Forderungen nach Recht und Ordnung gegründet. Nicht einmal neue Arbeitsbedingungen wurden in den Forderungskatalog aufgenommen. Dennoch evozierte der Streik sofort tiefverwurzelte Ängste vor der roten Bedrohung. Da bei den drei Streiktagen des August zwölf Menschen getötet wurden, hatten die Faschisten ein Alibi für ihre fünf Tage andauernden Vergeltungsmaßnahmen. In der Folge zerfiel die Linke durch die Abspaltung des reformistischen „Partito Socialista Unitario" im Oktober 1922 noch weiter. Doch selbst mit den Reformsozialisten unter Matteotti wollen die zunehmend nach rechts gerückten katholischen Popolari unter dem neuen Papst Pius XI. nicht verhandeln. Die liberalen Gruppierungen wiederum waren durch innere Zerwürfnisse tief gespalten, so dass alle Einigungsversuche scheiterten. Zudem genoss der Faschismus bei Rechtsliberalen wie Antonio Salandra, der sich selbst als „Faschist ehrenhalber" bezeichnete, deutliche Sympathien. Der Faschismus befand sich im Aufwind. Er trat als Sieger über die Linke hervor, hatte sich ein beeindruckendes militärisches Image verschaffen können, genoss einmal mehr die Sympathien des verschreckten Bürgertums und weckte die Überzeugung, dass keine stabile Regierungsbildung ohne die Beteiligung der Faschisten möglich sei. Die Vorstellung, den Faschismus bändigen zu können, blieb nicht allein auf die politischen Eliten beschränkt, sondern wurde innerhalb der wichtigsten Unternehmergruppen, wie dem mächtigen Industriellenverbund „Confindustria", geteilt. 546 2.4.3 Die italienische Armee Der Faschismus profitierte jedoch nicht allein von der Handlungsunfähigkeit des liberalen Systems. Er fand unter den alten Eliten auch aktive Unterstützer. Dabei war die Illusion maßgebend, man könne den Faschismus in fast beliebiger Art und Weise kontrollieren. So betrachtete das Offizierskorps die faschistische Bewegung wenigstens mit vorsichtigem Wohlwollen und aktiver Sympathie und zeigte sich von der großen Anzahl der faschistischen Anhänger beeindruckt. 547 Der beste Kenner der Beziehungen der Armee zum Faschismus, der Militärhistoriker Giorgio Rochat, urteilt entschieden: „Es gibt keinen
546 Sabbatucci, Giovanni: I socialisti nella crisi dello Stato liberale (1918-1926), in: Ders. (Hrsg.): Storia del socialismo italiano. Rom 1980, S.317-325; De Rosa, S.245-253; Alatri, S. 168-173; Repaci, S.215-220; Payne, History, S.107; Dunnage, Italian Police, S.135/136; Gentile, Storia, S.606-610, 615, 636-638; Melograni, Gli industriali e Mussolini, S.9fT.: Salandra, S.25/26. 547 Thamer/Wippermann, S.178; Repaci, S.173ff; Gentile, Storia, S.611, 614: Farneti, S. 16/17.
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Zweifel an der offenen Sympathie der großen Mehrheit der Offiziere für die faschistische Bewegung in den Jahren 1919-1922. Ebensowenig über die häufige Hilfe, die der Squadrismus durch die Lieferung von Waffen und Lastkraftwagen seitens der Armee gewann". 5 4 8 Der Faschismus fand in der Armee einen natürlichen Verbündeten, da er sowohl für die Erweiterung der Grenzen Italiens eintrat als auch für eine stärkere Militarisierung der italienischen Gesellschaft plädierte. Unterstützte die Armee anfanglich vor allem die Nationalisten, zu denen ungezählte personelle Verbindungen bestanden, so wurde die Verbindung zum Faschismus in dem Maße intensiver, in dem die Nationalisten zum Faschismus überwechselten und die Faschisten zunehmend zur zentralen Agentur des Antikommunismus wurden. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg fürchtete man in der Armee, dass die antimilitaristische Propaganda der sozialistischen Maximalisten und Anarchisten gerade bei den einfachen Soldaten, die zum Großteil dem Proletariat zugehörten, verfangen könnte. Premierminister Nitti ordnete daher im Juli 1919 an, die in vielen sozialistischen Zeitungen erscheinenden Berichte über die schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen und über Insubordination und Meuterei der Soldaten zu zensieren. Entgegen aller Angst scheint es jedoch nur vereinzelt zu „subversiven" Tätigkeiten der Soldaten gekommen zu sein. Im Gegenteil: Schon seit Anfang 1918 war es oft zu Schlägereien mit Sozialisten oder zu antisozialistischen Demonstrationen von Armeeangehörigen und Kriegsveteranen gekommen. 5 4 9 Die offene Kooperation der Armee mit der faschistischen Bewegung begann schon früh. Bereits am 20. Oktober 1920 verfügte Ivanoe Bonomi als Kriegsminister im Kabinett Giolittis in einem Rundschreiben, dass die vor der Entlassung stehenden Reserveoffiziere (etwa 60.000 Personen) in die wichtigsten Städte geschickt werden sollten und dort - bei Weiterzahlung von vier Fünfteln des Gehalts - den fasci di combattimento beitreten sollten, um diese zu leiten und zu organisieren. 550 Skandalöse Vorfalle zeigten, wie weit die Übereinkunft zwischen Faschisten und Armeeoffizieren in den Jahren 1921 und 1922 gediehen war. So wurden den Faschisten von der Armee Waffen ausgehändigt, wie etwa in Taranto, als es den Faschisten dank der Hilfe des Armeeleutnants Nicola Schiavone gelungen war, aus dem Waffendepot der Kaserne in Rossarol eine Kiste Handgranaten zu erhalten. Aus den Depots von San Paolo erhielten die Faschisten 24 Gewehre des Modells 91. Ähnliches ereignete sich überall in Italien. 551 Auch in den Kadettenschulen und
548 Rochat, Militari, S.491. Zur Zusammenarbeit der Armee mit der faschistischen Bewegung siehe vor allem: Rochat, Esercito, S.191-448; Rochat, Mussolini, S. 113-132. 549 Dunnage, Italian Police, S.89-92. 550 Tasca, S.125-127. Zu dem Rundschreiben Bonomis: Rubbiani (Hrsg.). 551 Chiurco, Storia, Bd.3, S.268. Ähnliche Fälle bei Frullini, S.261/262; Tasca, S.148/149; Snowden, Fascist revolution, S.198, 203/204.
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Militärakademien zeigten sich zum Teil empörende Vorgänge, wie in der Kadettenschule von Lucca, in der 300 von insgesamt nur 370 Kadetten zu Mitgliedern eines „geheimen Fascio" wurden. Die höchsten Stellen der Akademie und der Militärkommandantur in Florenz hatten diese Vorgänge unterstützt. 552 Auch die Sympathie von General Sani, des Kommandeurs der 6. Armee, war offenkundig. Während der faschistischen Besetzung Bolognas hatten die Faschisten vor dem Hauptquartier der Armee skandiert: „Nieder mit Mori" und „Lang lebe die Armee". Währenddessen verhandelte Sani mit dem Faschistenfuhrer Italo Balbo über einen Waffenstillstand zwischen Armee und Faschisten. 553 In der Nacht des Marsches auf Rom, vom 27. auf den 28. Oktober 1922, gingen die Befugnisse der Zivilbehörden - aufgrund der Ausrufung des Belagerungszustandes durch die italienische Regierung - unmittelbar an die Militäreinheiten über. Es zeigte sich, wie weit die Kooperation zwischen Faschismus und Armee schon gekommen war. Nur in einigen großstädtischen Zentren wie in Rom, Turin oder Mailand wurden die Faschisten an der Besetzung der öffentlichen Gebäude gehindert. Überall sonst schlossen die Faschisten mit den Militärkommandos Kompromisse - ganz so, als hätten sie schon eine legitime Macht im Staate dargestellt. 554 2.4.4 Deutsche Reichs- und Länderregierungen In Deutschland beschränkte sich das gesetzliche Vorgehen der Reichs- und Länderregierungen gegen die SA zunächst auf die Verbote des Tragens der Braunhemden. Uniformverbote gegen die SA wurden zuerst im April 1930 in Hessen und am 5. Juni in Bayern, dann aber auch - und das war entscheidend - a m 11. Juni 1930 in Preußen verhängt, woraufhin Baden und später Hamburg nachzogen. 555 Der Sinn dieser staatlichen Maßnahmen wurde von den Historikern unterschiedlich beurteilt. Heinrich Bennecke und Christian Striefler sehen das Uniformverbot als unwirksame Maßnahme an, da das Verbot für die „Erwerbslosen unter der SA [...] in ihrem ohnehin recht eintönigen Leben eher eine interessante Abwechslung" gewesen sei. Peter Longerich sah in den Maßnahmen deutlich mehr Sinn, indem er feststellt, dass die SA durch
552 Snowden, Fascist revolution, S.198/199. 553 Salvemini, S.68-70; Alberghi, S.501, 508; Dunnage, Italian Police, S.133. Weitere Beispiele aus Bologna: Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten von Bologna vom 9.4.1922, in: ASB, GdP, Nr. 1373, ohne fol. 554 Tasca, S.338, 342, 344-346; De Feiice (Hrsg.), Esercito, S.1207-1210; Gentile, Storia, S.649. 555 RSA, Bd.V, Teil 2, S.301/302, Anm.23. Der Runderlaß des Preußischen Innenministers, in: Staat und NSDAP, S.87. Siehe auch: Werner, S.460; Longerich, Bataillone, S.100; Burkert/Matußek/Wippermann, S.26 (mit falscher Datumsangabe); Leßmann, S.336/337.
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das Verbot in der Absicht, als militärähnliche Organisation geschlossen aufzutreten, empfindlich getroffen worden sei. 556 Tatsächlich trafen die gegen die Nationalsozialisten ergangenen Uniformverbote - grundsätzlich gesehen - einen empfindlichen Punkt. Denn die Uniformen galten den SA-Männern als der sichtbare Ausweis ihrer politischen Identität, was auch die SA-Führung zugestand, deren Stabschef Franz Pfeffer von Salomon heftig auf den preußischen Erlass reagierte, mit dem , jeder Esel regieren" könne. 557 Durch den sogenannten 'Hosen- und Hemdenkrieg' konnte man jedoch das Verbot umgehen. Anstatt im Braunhemd marschierte man in weißen Hemden durch Stadt und Land. Die Erweiterung des Verbots auf alle möglichen Abzeichen, bis hin zum Tragen weißer Metallknöpfe an den Mützen, geriet zur Groteske, denn im Einzelfall war schwer zu entscheiden, was als „politisches Abzeichen" gelten konnte. Der preußische Erlass konnte deswegen nicht zu konsequenten Maßnahmen fuhren, weil gegen die SA-Männer nur in Ausnahmefallen Zwangsstrafen durchgeführt werden sollten. Der Erlass war rechtlich gesehen eine interne Dienstanweisung für die Polizeibeamten, aber keine polizeiliche Verfügung. Dadurch war auch nicht klar genug definiert, was eigentlich eine „geschlossene Abteilung" war, was als ein politisches Abzeichen galt und wie das Wort „Tragen" aufzufassen war. Die Polizei reagierte aufgrund des vermehrten Zeitaufwandes und der nicht selten erfolgreichen Klagen der Nationalsozialisten zunehmend entnervter. Die hilflosen Maßnahmen des Staates benutzte vor allem Goebbels, um einerseits die Überlegenheit und Schlitzohrigkeit der „Bewegung" und andererseits den Autoritätsverlust des Staates mit beißendem Spott zu ironisieren. Der Fortgang des Verbots trug so, angesichts der anhaltenden Gewalteskalation, dazu bei, die Autorität des Staates weiter zu untergraben. 558 Neun Monate nach dem Vorstoß der genannten Länder wurden am 28. März 1931 auch auf der Reichsebene Gesetzeslücken und Anwendungsdefizite gegen den politischen Radikalismus per Notverordnung des Reichspräsidenten geschlossen. Ursprünglich durch den preußischen Innenminister Carl Severing initiiert, konnten nunmehr politische Versammlungen und Demonstrationen verboten werden, wenn hierbei zu Ungehorsam gegen die Gesetze aufgefordert oder der Staat verächtlich gemacht wurde. Das Tragen von Schusswaffen und politischen Uniformen konnte durch die Verordnung verboten werden, und die Auflagen für Propagandafahrten mit Lastkraftwagen
556 Bennecke, Hitler, S.146/147; Striefler, S.316; Longerich, Bataillone, S.100; Schumann, Politische Gewalt, S.310/311, 324/325. Die nationalsozialistische Sicht bei Engelbrechten, S.129-131; Völkischer Beobachter vom 20.6.1930. 557 SA-Befehl vom 10.7.1930 („Weisse Verbotshemden"),i η: BAB (ehem. BÄK), Sammlung Schumacher, Ordner 403, ohne fol. 558 Zum „Hosen- und Hemdenkrieg" siehe Leßmann, S.337-339; Schulz, Brüning, S.611.
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wurden erschwert. 559 Insgesamt zehn Länder, darunter auch Preußen, erließen erneut Abzeichen- und Uniformverbote, die schließlich durch die Vierte Notverordnung des Reichspräsidenten vom 8. Dezember 1931 vereinheitlichend für alle Länder erlassen wurden. 5 6 0 Nur ein halbes Jahr später, im Juni 1932, wurden diese Bestimmungen durch eine neuerliche Notverordnung des Reiches wieder aufgehoben. Der „Neue Kurs" der jetzigen Regierung von Papen basierte auf Absprachen mit den Nationalsozialisten und war Produkt einer politischen Taktik, die in der Endphase der Republik immer stärker alle sachlichen Argumente in den Hintergrund drängte. So wurden die zwei und drei Tage später auf Länderebene nochmals erlassenen Uniformverbote in den von der Bayrischen Volkspartei bzw. von Zentrum und SPD regierten Ländern Bayern und Baden weitere 14 Tage später durch die Reichsregierung wieder aufgehoben, obwohl die politisch motivierten Gewalttaten sprunghaft zugenommen hatten. Weitere zwanzig Tage danach, am 18. Juli, erließ die Reichsregierung wiederum ein allgemeines Verbot für Versammlungen unter freiem Himmel, da es am Vortag zu blutigen Zusammenstößen in Altona gekommen war. Dies hatte allerdings weniger mit einer konsequenten Praxis gegen die politischen Gewalttätigkeiten zu tun, als damit, dass ein Anlass zur Vorbereitung des sogenannten „Preußenschlages" durch die Regierung von Papen geschaffen werden sollte. 561 Die Tolerierung der Regierung Papen durch die NSDAP führte zur Konzession der Regierung, sofort Neuwahlen auszuschreiben und das Verbot der SA wieder aufzuheben. Zudem fand die NSDAP in dem neuen „Kabinett der Barone" einige neue Gönner. So war der Reichsinnenminister in Papens Kabinett und Nachfolger Wilhelm Groeners, Wilhelm Freiherr von Gayl, den Nationalsozialisten wenigstens für die Zeit bis Ende Juli 1932 wohlgesonnen, wie aus seiner symptomatischen Äußerung auf einer Kabinettssitzung hervorgeht, als er behauptete: „Die junge, immer weitere Kreise erfassende Bewegung Adolf Hitlers mußte, um die in ihr lebendigen Kräfte dem Wiederaufbau des Volkes nutzbar zu machen, von den ihr unter Brüning und Severing angelegten Fesseln befreit und zum erfolgreichen Kampf gegen den internationalen Kommunismus gestützt werden." 562 Die Geschichte der Uniform verbote zeigt, dass die Rücksichtnahme auf die eigenen Verbände, sei es auf den Reichsbanner bei der SPD, sei es auf den Stahlhelm bei der DNVP, um nur zwei Beispiele zu nennen, zu inkonsequen559 Gusy, S. 193-201; Winkler, Weg in die Katastrophe, S.309/310; Leßmann. S.339/340. 560 RSA, Bd.V, Teil 2, S.302, Anm. 23; RSA, Bd.V, Teil 1, S.42, Anm.8; Schulz. Brüning, S.611. 561 Winkler, Weg in die Katastrophe, S.627/628, 654; Winkler, Weimar, S.484/485; Gusy, S.207-212; RSA, Bd.V, Teil 1, S. 190/191, Anm. 3, S.195, Anm. 25. 562 Zitiert nach Jasper, Gescheiterte Zähmung, S.92. Vgl. die Äußerungen Gayls auf der Sitzung der vereinigten Ausschüsse des Reichsrates vom 11.6.1932, in: Staat und NSDAP, S.330/331; Winkler, Weg in die Katastrophe, S.627/628.
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ten und widersprüchlichen Gesetzesbeschlüssen führten. Die Ubiquität des Paramilitarismus auf allen politischen Seiten verhinderte ein Einlenken auf zivilgesellschaftliche Bahnen und eine wirksame staatliche Eindämmung der paramilitärischen Straßenpolitik.563 Wie sehr die Aufsplitterung der parlamentarischen Interessen nach parteipolitischer Couleur zum Dissens mit einer konsequenten justiziellen Verfolgung führte, zeigt sich an den Amnestien der Republik. Vom Beginn bis zum Ende der Republik ergingen in Reich und Ländern mindestens 73 Amnestien. Die Schwerpunkte bei dieser Gewährung von Straffreiheit für rechtskräftig abgeurteilte Straftäter lag erstens bei Delikten im Ersten Weltkrieg und der anschließenden kriegsbedingten Notzeit, zweitens bei Eigentums-, Wirtschafts- und Steuerdelikten während der Wirtschaftskrise und drittens bei den politischen Straftaten. Die Amnestien für politische Straftaten konterkarierten die Strafverschärfungen durch die Republikschutzgesetze und die Notverordnungen durch Abmilderung oder Aufhebung. Seit 1928 konnten sich die politischen Straftäter nahezu darauf verlassen, dass ihre jeweiligen Parteigänger in den Parlamenten ihnen Straffreiheit verschaffen würden. Symptomatisch für diese Praxis war die Amnestie vom 20. Dezember 1932, unter die insgesamt 76.000 politische Straftaten fielen.564 Nach den Novemberwahlen 1932 brachten NSDAP, KPD und auch die SPD Gesetzesanträge zur Amnestierung der Mitglieder ihrer Kampfbünde - also SA, RFB und Nachfolgeorganisationen sowie Reichsbanner - ein. Jede dieser Parteien bemängelte auf ihre Art die politische Einseitigkeit der Weimarer Justiz. Mit der verfassungsdurchbrechenden ZweiDrittel-Mehrheit der antragstellenden NSDAP, KPD und SPD wurde das Straffreiheitsgesetz am 9. Dezember 1932 verabschiedet und trat am 21. Dezember in Kraft. Allein hinsichtlich der politischen Straftaten wurden etwa 38.000 bereits verhängte Strafen erlassen oder gemildert, weitere 38.000 anhängige Strafverfahren wurden niedergeschlagen. 565 Es bestand eine fatale Entfremdung zwischen Parlament und Strafverfolgungsbehörden. Die Praxis der Amnestierung musste fast zwangsläufig darauf hinwirken, den Sinn für politische Verbrechen abzustumpfen. In dieser Hinsicht standen selbst bei der SPD die Parteiinteressen über der Notwendigkeit von Staatsautorität und Gewaltmonopol, die für eine wehrhafte Demokratie unabdingbar gewesen wären.
563 Zum Zusammenhang von Uniformverbot und Aufhebung desselben am Beispiel des Stahlhelm siehe Berghahn, S.193-197, 203, 221-223; zum Reichsbanner: Rohe, Reichsbanner, S. 419-425. 564 Christoph, S.354/355; Rüffler, S.323. Zur Anzahl der Amnestien siehe die Auflistung bei Christoph, S.399-404. 565 Gusy, S.219-243; Christoph, S.333-357, hier auch ein Abdruck des Gesetzestextes (S.417420). Zu den Republikschutzgesetzen und Notverordnungen auch Rüffler, S.27-42.
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Der Weimarer Staat wurde insofern durch parteipolitische Egoismen zerrieben. Die Inkonsequenz war keine Folge eines Informationsmangels. Sowohl der Reichsregierung als auch den Länderregierungen fehlte es nicht an Hinweisen aus ihren Innenministerien. Interne Denkschriften dieser Ministerien, die schon im Mai, August und November 1930 abgefasst wurden, später nochmals im März 1932, wiesen immer wieder auf mögliche Putschabsichten in der SA hin, die von der NSDAP-Parteiführung zwar nicht expressis verbis gefördert, aber in der Praxis immerhin geduldet wurden. 5 6 6 So hieß es in einer Denkschrift des Reichsinnenministeriums vom August 1930: „Die NSDAP erstrebt mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln den gewaltsamen Umsturz der auf die Weimarer Verfassung gegründeten deutschen Republik". Die Partei habe „geschlossene, militärisch disziplinierte Kampftruppen", die für einen Umsturz eingesetzt werden könnten. „Sie fühlen sich schon jetzt gerüstet, um unter Anwendung von brachialer Gewalt den Umsturz herbeizufuhren." Auch der Reichsinnenminister Joseph Wirth (Zentrum) verwies in einem Schreiben an das Auswärtige Amt vom 4. April 1931 auf die erwähnten Denkschriften vom August 1930 und das Urteil des Leipziger Reichsgerichts vom September 1930, demzufolge „zum mindesten Teile der NSDAP auf einen gewaltsamen Umsturz hinarbeiteten". Auch Razzien, wie etwa die Funde der Polizei vom 17. März 1932, erbrachten vielerlei Hinweise auf eine weitgreifende Alarmbereitschaft der SA zu den preußischen Wahlen vom April 1932. Eine Denkschrift des preußischen Innenministeriums aus dem Frühjahr 1932 bestätigte erneut die auf „gewaltsame Beseitigung der Verfassung" ausgerichteten Bestrebungen der SA. Der Zweck der Organisation werde unter diesem Gesichtspunkt überhaupt erst „verständlich und erklärbar", so die Denkschrift. Die „hochverräterischen Unternehmungen" seien keine Randerscheinungen, sondern „von der Gesamtbewegung nicht nur geduldete, sondern gewollte Betätigung". Die angestrebte Beseitigung der Demokratie solle „auf gewaltsamem oder jedenfalls nicht nur legalem Wege erreicht werden". Auch die alltäglichen Berichte der preußischen Polizei ergaben zwar kein eindeutiges Erscheinungsbild, aber immerhin doch Beobachtungen über einen kontinuierlich verstärkten Ausbau der SA. 5 6 7
566 Vgl. Staat und NSDAP, S.51-81, 95-155, 290-298; Höner, S. 159-162; Bucher, S.288-294. 567 Denkschrift des Reichsinnenministeriums über hochverräterische Unternehmen der NSDAP vom 12.8.1930, in: Staat und NSDAP, S.95/96 (Zitat); Denkschrift des Preußischen Ministeriums des Innern über die NSDAP als staats- und hochverräterische Verbindung vom Ende August 1930, in: Staat und NSDAP, S.128, 146,155; Der Reichsminister des Innern an das Auswärtige Amt vom 4.4.1931, in: Staat und NSDAP, S.191/192 (Zitat); Polizeiberichte vor allem aus Bayern vom 7.11.1931, 11.11.1931, 12.11.1931. 13.11.1931, in: Staat und NSDAP, S.209-213; Reichsinnenminister Groener an Preuß. Minister des Innern vom 8.3.1932 und bayrisches Staatsministerium des Innern an Reichsministerium des Innern vom 30.3.1932, in: Staat und NSDAP. S.299-302; Denkschrift des preußischen
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Gewöhnlich mischten sich solche Eindrücke über den aufständischen Charakter der SA mit der Auffassung, die Gewalt der SA erkläre sich aus den in ihr wirksamen kriminellen Elementen. Ähnlich wie in Italien unterschätzte man auch hier die SA als „halbe Räuberbande", wie sich der badische Innenminister Emil Maier im April 1932 ausdrückte. 568 Selbst der preußische Innenminister Severing war sich bei der Einschätzung der SA unsicher. Einerseits beurteilte er im Februar 1931 gegenüber den preußischen Ober-, Regierungs- und Polizeipräsidenten die SA als „militärisch bedeutungslos", ihr „Getue" sei „lächerlich", andererseits forderte er am 14. Oktober 1931 im preußischen Landtag alle Fraktionen zu einer Entschließung gegen die Kampfbünde der radikalen Bewegungen auf. 5 6 9 In der Reichsregierung war spätestens seit 1931 weniger Unschlüssigkeit als vielmehr eine nachsichtige Haltung im Umgang mit der NSDAP maßgebend. Dies lag erstens an der Unterschätzung und zweitens an der Protektion, die die NSDAP in konservativen und national gesonnenen Kreisen genoss. Schon Reichskanzler Heinrich Brüning lehnte es ab, die Nationalsozialisten für ebenso gefährlich zu erachten wie die Kommunisten. Seit dem Rechtsruck der Regierung Brüning durch die Kabinettsumbildung im Oktober 1931 intensivierten sich die Kontakte zur NSDAP - so traf sich Brüning schon am 10. Oktober 1931, nur einen Tag nach dem Abschluss der Kabinettsumbildung, in einer geheimgehaltenen Begegnung im Hause von Trevianus mit Hitler. Brüning beabsichtigte, die NSDAP aus ihrer radikalen Oppositionsrolle herauszufuhren, denn von einer Regierungsbeteiligung, zuerst in Hessen und später im Reich, versprach er sich eine Zähmung der Partei. Die Unterschätzung der NSDAP, also das Kalkül, diese werde sich bei einer Regierungsbeteiligung entweder abnutzen, durch Unfähigkeit lächerlich machen oder wenigstens entradikalisieren, führte sogar dazu, dass Brüning die Bedeutung der „Boxheimer Dokumente" gezielt herunterspielte. In jedem Falle wusste Brüning zu schätzen, dass die NSDAP ein „Gegengewicht gegen die KPD" bildete. Damit teilte Brüning die Illusionen, so Heinrich August Winkler, die unter dem konservativen Bürgertum verbreitet waren: „Der Führer der NSDAP galt als Patriot und Idealist, seine Partei als ungebärdige, aber überwiegend gutwillige Masse, die durch Mitverantwortung diszipliniert werden konnte". 570
Ministeriums des Innern über die NSDAP, in: Staat und NSDAP, S.291 und 294 (Zitate); Höner, S.98. 568 Niederschrift über die Konferenz der Innenminister im Reichsministerium des Innern vom 5.4.1932, in: Staat und NSDAP, S.308. Vgl. dazu Groeners Ausführungen vom November 1931 über die politischen Auseinandersetzungen als „Kulturschande" und „Mordseuche" (Staat und NSDAP. S.218). 569 Staat und NSDAP, S.185; Leßmann, S.331/332. 570 Winkler, Weg in die Katastrophe, S.451, 450 (Zitat Brünings).
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2.4.5 Die deutsche Reichswehr Brünings Vorgehen gegenüber der NSDAP war mit der Reichswehrführung abgestimmt. Der vom Juni 1928 bis zum Juni 1932 amtierende Reichswehrminister Groener, der seit Oktober 1931 zugleich auch als Reichsinnenminister amtierte, war zwar generell der Ansicht, die Reichswehr müsse sich aus dem Streit der Parteien heraushalten, aber Anfang des Jahres 1932 ermöglichte er (durch einen Erlass vom 29. Januar 1932) NSDAP-Mitgliedern, in die Reichswehr einzutreten. Hitler, fand er, mache einen „sympathischen Eindruck", und den Nationalsozialisten gegenüber solle man doch „Gerechtigkeit walten" lassen. Der spätere Reichskanzler Schleicher verhandelte im März 1931, als Chef des Ministeramtes im Reichswehrministerium, mit dem SAChef Ernst Röhm über die Beteiligung der SA am Grenzschutz und wertete dadurch die SA gleichsam zur personellen Reserve der Reichswehr auf. Der Skandal bestand darin, dass die Nationalsozialisten als Staatsfeinde in die Lage versetzt wurden, über die Machtmittel des Staates zu verfügen. Zähmungsvorstellungen und eine Eingliederung der SA-Leute in staatliche Organisationen bestimmten spätestens seit dem Frühjahr 1931 die nationalen Kreise in Reichswehr und Regierung. 571 Besonders das Verhältnis zur Reichswehr entwickelte sich zunehmend besser. Schon im März 1929 hatte Hitler in einer Rede in München die Reichswehr umworben, indem er ihre Gemeinsamkeiten mit der NSDAP betonte: Beide seien gegen den Versailler Friedensvertrag, für den Ausbau der Reichswehr und die Erziehung des deutschen Volkes zur Wehrhaftigkeit. Tatsächlich war für die Reichswehrangehörigen wie für viele Nationalsozialisten mit der Revolution von 1918 eine Welt zusammengebrochen, und beiden lag eine stärkere „Wehrhaftmachung" der deutschen Nachkriegsgesellschaft besonders am Herzen. Die lange Rede Hitlers wurde in einer Sondernummer des „Völkischen Beobachters" abgedruckt und an die Reichswehrsoldaten verteilt, bis dies vom Reichswehrministerium untersagt wurde. Die NSDAP genoß vor allem unter den Reichswehroffizieren Sympathien, insbesondere unter den jüngeren. Gleichzeitig bemühte sich die NSDAP um Kontaktnahmen zur Reichswehr. Gespräche zwischen Reichswehrangehörigen und Nationalsozialisten waren eine Alltäglichkeit. In einem Rundschreiben der NSDAP aus dem Jahre 1930 etwa hieß es, dass der Kontakt zu ehemaligen
571 Siehe Staat und NSDAP, S.XXXV1, 171/172 (Anm. 2), 212/213. 308; Winkler, Weg in die Katastrophe, S.433, 446-454, 485/486 (über Groener); Winkler, Weimar, S.434/435; Schulz. Brüning, S. 588-591; Leßmann, S.333/334. Zu Groener: Hürter, Johannes: Wilhelm Groener. Reichsminister am Ende der Weimarer Republik (1928-1932). München 1993.
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SA-Männern, die nunmehr in der Reichswehr seien, zu intensivieren sei und die Ergebnisse an die Gauleitungen der Partei weiterzuleiten seien. 572 Gleichwohl kann nicht davon die Rede sein, dass die Reichswehr nationalsozialistisch durchtränkt gewesen sei und die Zersetzungsbemühungen der NSDAP größere Erfolge erzielt hätten. Gerade der revolutionäre Duktus der NSDAP stieß auf wenig Gegenliebe in der Reichswehr. Im Laufe des Jahres 1929 ergriff die Reichswehrfuhrung auch verschiedene Initiativen gegen die NSDAP. So wurden etwa im Juli 1929 alle nationalsozialistischen Angestellten und Arbeiter aus den Reichswehrbetrieben entlassen. Die Beziehungen der NSDAP mit der Führungsspitze waren auf einem Tiefpunkt angelangt. 573 Bis 1929 war die Reichswehrführung nicht von der Legalität der NSDAP überzeugt, und erst der berühmte Legalitätseid Hitlers am 25. September 1930 führte zu einem Umschwung. Vor allem die Großveranstaltungen der NSDAP und die dort inszenierte Disziplin und Begeisterung beeindruckten jedoch die Reichswehr in zunehmendem Maß und beförderten ihre Kooperationsbereitschaft. 574 Die Grenzschutzorganisation der Reichswehr im Osten, die ihren Ursprung in den Erwägungen der Heeresleitung von 1919 zur Verteidigung der Grenze gegenüber Polen hatte und (sofern sie nicht nur „Grenzpolizei" war) außerhalb der Bestimmungen des Friedensvertrages von Versailles stand, rekrutierte Hilfstruppen aus verschiedenen nationalen Verbänden und Gruppen. Diese Grenzschutzeinheiten - in der Frühphase der Republik durch die Zeitfreiwilligenorganisationen und geheime Verbände wie die sogenannte Schwarze Reichswehr unterstützt - waren zunächst nur fur kurze Waffenübungen vorgesehen worden. Seit 1930 zogen die Wehrverbände, wie etwa der Stahlhelm und seit 1931 auch die SA, größere Aufmerksamkeit des Reichswehrministeriums auf sich und wurden verstärkt einbezogen. Jedoch zeigten sich 1932 schon Spannungen zwischen SA und Reichswehr, da die SA Waffenlager plünderte und sich illegal auf Truppenplätzen betätigte. Dass die Reichswehroffiziere die SA-Männer als „widerlich", „abstoßend" und „lächerlich" empfanden, deutet auf die mentalitätsspezifischen Unterschiede zwischen dem aristokratisch-elitären Selbstverständnis der militärischen Befehlshaber und einer vergleichsweise proletarischen SA hin. Den besessenen Soldaten Röhm seinerseits störte die unpolitische Haltung und Arroganz der Reichswehr. Die
572 Hitlers Rede vom 15.3.1929, in: RSA, Bd.III, Teil 2, S.45-71. Das Rundschreiben in: BAB (ehem. BÄK) R 134/90/43 (zitiert nach Rüffler, S.233). Siehe des weiteren: Fallois, S.2046; Bucher, S.118, 122, 138-143; Schulz, Aufstieg, S.509, 512; Vogelsang, Reichswehr, S.59, 61/62; Winkler, Weg in die Katastrophe, S.485-488. 573 Bucher, S.150-152; Schulz, Aufstieg, S.507/508, 510/511; Rüffler, S.287. 574 Vogelsang, Reichswehr, S.118-121, 160; Bucher, S.145/146; Rüffler, S.287; Leßmann, S.334; Fallois, S.39.
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SA-Männer wiederum nahmen Anstoss daran, dass die Stahlhelmer mit höheren Posten versehen wurden als sie selbst. 575 Die SA sollte nicht durch ein rein schlichtes Verbot, sondern durch eine positive Integration in den Staat aufgelöst werden. Diese Absicht, gerade die männliche jugendliche Bevölkerung einer körperlichen und militärischen Ausbildung unter staatlicher Aufsicht zuzuführen, hatte spätestens seit 1929 einen weiten Konsens bis hin zur Sozialdemokratie gefunden. Im Sommer 1931 wurde unter Edwin von Stülpnagel ein „Reichskuratorium für Jugendertüchtigung" aufgebaut, durch das die Wehrverbände für ein staatlich subventioniertes Wehrsportprogramm gewonnen werden sollten. 576 Groener selbst war ein entschiedener Anhänger der Idee, für die Jugend unter staatlicher Fürsorge „eine Art Miliz" zu schaffen. Es war, wie Heinrich August Winkler herausgearbeitet hat, eine Verlagerung der Regierungspolitik nach rechts, auf die die Reichswehrführung in der zweiten Hälfte des Jahres 1931 hingearbeitet hatte. 577 So wurde in Berlin am 10. Januar 1932 der „Deutsche Volkssportverein" gegründet, dem sämtliche SA- und SS-Männer als Mitglieder beitraten. Die SA-Männer des „Volkssportvereins" beteiligten sich 1932 an der vom Reichswehrministerium geförderten „General-Vogt-Arbeitsgemeinschaft" (GVA). Dadurch erreichte man nicht nur die offizielle Zuteilung von Turnund Sporthallen durch die Bezirksjugendämter, sondern konnte auch jeden Sonntag auf den Truppenübungsplätzen der Reichswehr Wehrsport- und Geländeübungen ausführen. 5 7 8 Der SA-Historiker Julek Karl von Engelbrechten kommentierte dies so: „Man glaubte [...] eine schlaue Rechnung aufgetan zu haben. Die Parole der Herrschaften [der Reichswehr, S.R.] lautete: Laßt sie Soldaten spielen, gebt ihnen ein Holzgewehr in die Hand, denn das wollen sie ja nur, und wir haben sie runter von der Straße. Daß wir ihnen diesen Gefallen nicht taten, sondern ihre GVA für unsere ureigensten Zwecke ausnützten, hat diesen Herren Kummer bereitet". 579 Diese schleichende Usurpation staatlicher 575 Carsten, Reichswehr, S.168-173; Fallois, S.37-45; Vogelsang, Reichswehr, S.157-160: Winkler, Weimar, S.424/425; Schulz, Aufstieg, S.506; Berghahn, S.193. 576 Vogelsang, Neue Dokumente, S.416; Schulz, Aufstieg, S.506; Berghahn, S.193; Fallois, S.33/34. Zur positiven Haltung der SA zum Reichskuratorium seit dem November 1932 siehe: Der Kommissar des Reiches Dr. Schütze an den Preußischen Minister des Innem vom 28.11.1932, in: GStA PK, 1. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Rep.77, Tit.4043, Nr.312, fol. 62 (M). So sollen sich unter den Teilnehmern an den ersten Kursen des Reichskuratoriums 60 Prozent Angehörige der NSDAP befunden haben. 577 Groener auf der Konferenz der Innenminister am 5.4.1932, in: Staat und NSDAP. S.305, 308; Winkler, Weimar, S.425 (Zitat). Vgl. Berghahn, S. 193/194; Fallois, S. 33/34.. 578 Vogelsang, Reichswehr, S.161/162; Werner, S.567; Gliech, S.140; Welt am Abend vom 18.2.1932, S.2. 579 Engelbrechten, S.208/209. Vgl. ebd., S.241. Die Rote Fahne vom 28.4.1931, 1. Seite der 1. Beilage, schrieb: „Für die gesamte SA. werden Geländeübungen, Exerzierübungen usw. ständig veranstaltet".
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Institutionen führte nicht nur zur Militarisierung der SA-Männer. Da die Wehrsportaktivitäten nicht auf die SA begrenzt blieben, begann man auch im Stahlhelm seit dem Frühjahr 1932 mit dem Ausbau des Wehrsports, stellte „Sportkorps" auf und hielt überall im Reich Wehrsporttage und Übungen ab, wobei sich niemand mehr darum kümmerte, dass diese Manöver eigentlich verboten waren. 580 2.4.6 Ein letzter Versuch Trotz aller Protektion kam es Mitte April 1932 aber dennoch zu einem SAVerbot durch den Reichswehr- und Reichsinnenminister Wilhelm Groener. Die Organisation sollte hiernach aufgelöst, die Materialien polizeilich sichergestellt und die weitere Aufrechterhaltung der Organisation mit Gefängnis bestraft werden. Die Durchführung des Verbotes stieß auf keine größeren Schwierigkeiten, aber größere Waffenfunde blieben aus, da die SA Zeit gefunden hatte, sich auf die Polizeirazzien vorzubereiten. Durch Zuträger aus Beamtenkreisen war sie über das bevorstehende Verbot informiert worden. 581 Mehrere Gründe trugen zu dem Verbot vom 13. April 1932 bei: Groeners Enttäuschung, dass Hitler sich selbst zur Reichspräsidentenwahl gestellt hatte, anstatt Hindenburg zu unterstützen; die Drohung der wichtigsten Länderinnenminister in Preußen, Baden, Hessen und Bayern, selbständig gegen die SA vorzugehen und die Nachricht, dass die SA nach einem siegreichen Ausgang der Reichspräsidentenwahlen losschlagen würde. Schon seit dem Frühjahr 1931 wurden jedoch auch immer wieder die Gegenargumente stark gemacht. Ein bloßes Verbot böte keine Möglichkeit, die freiwerdenden Kräfte einzubinden. Erst dann, so argumentierte der wankelmütige Groener, könnte ein SAVerbot wirklich greifen. Schleichers Bemühungen - seit dem Herbst 1931 — um eine Einbeziehung der NSDAP wurde auch von Brüning geteilt, wenngleich Brüning vorsichtiger dachte und eine Art eingeschränkte Regierungsbeteiligung im Sinn hatte. Vor der Preußenwahl vom 24. April 1932 und durch die Dokumente, die die preußischen Behörden am 17. März 1932 sicherstellen konnten, war die Gelegenheit für ein SA-Verbot günstig. Kurt von Schleicher torpedierte jedoch ein Verbot und schlug vor, den Nazis zuvor ein Ultimatum zur Entmilitarisierung der SA aufzuerlegen. Groener lehnte dies als zu umständlich und unsicher ab. Er hielt an der Idee eines Wehrsportverbandes fest. Vor
580 Berghahn, S.233/234. Jetzt ausfuhrlich hierzu: Tautz, Joachim: Militaristische Jugendpolitik in der Weimarer Republik. Die Jugendorganisationen des Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten (Jungstahlhelm und Scharnhorst, Bund deutscher Jungmannen). Regensburg 1998. 581 Der Text der entsprechenden Verordnung des Reichspräsidenten vom 13.4.1932 in: Staat und NSDAP, S.316/317; Leßmann, S.335/336; Bracher, Auflösung, S.431.
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Hindenburg standen nun zwei Lager, die eine Gruppe mit von Schleicher und Staatssekretär Meissner und die andere mit Groener und Brüning, die freilich vor allem aus Preußen durch Severing und Braun Unterstützung erhielten. Als Groener die alleinige Verantwortung für das SA-Verbot übernahm, unterzeichnete Hindenburg schließlich die Notverordnung, obwohl er zuvor die Kritik von rechts gegen das Verbot gefürchtet hatte. 582 Diese reichlich späte Entscheidung zur staatlichen Selbstbehauptung wurde schon zwei Monate später, am 16. Juni, wieder rückgängig gemacht und das SA-Verbot aufgehoben. Das neu installierte „Kabinett der Barone" (Vorwärts) unter Franz von Papen benötigte die Duldung durch die NSDAP-Parlamentarier. Auch die Länderregierungen folgten, aus Furcht vor der möglichen Verhängung eines Ausnahmezustandes, der entsprechenden Notverordnung des Reichs. 583 Seit der Regierung Papen scheiterte ein einheitliches und effizientes Vorgehen gegen die SA, weil die NSDAP, die bis in den Herbst 1932 immer größere Wahlerfolge errang, in zunehmendem Maße für koalitionsiahig gehalten wurde. Es war die eitle Hoffnung Papens, der Nationalsozialismus werde sich zähmen lassen. Gespräche und Angebote an NSDAP-Führer - seien es Hitler, Göring oder Gregor Strasser - waren an der Tagesordnung; die NSDAP wurde in die Gedankenexperimente und Kabinettsspiele einbezogen, sie stellte fortan eine feste Größe im Arkanum der Sondierungsgespräche um die Macht dar. Auch die Förderung paramilitärischer Verbände der Rechten durch das Reichswehrministerium hielt weiterhin an. Es war vor allem der Arroganz der Vertreter der alten Eliten zu verdanken, dass sie den newcomer durch Kontaktnahmen aufwerteten. Als Profis im politischen Geschäft glaubten sie, die Nationalsozialisten durch diplomatisches Verhandlungsgeschick in der Hand zu haben. Daneben litt die Handhabung des Republikschutzgesetzes unter der erschwerten Nachweisbarkeit strafrechtlicher Tatbestände. Der unverkennbar parteipolitische Einschlag in der Behandlung dieser Fragen trug zur Zuspitzung der prekären Entwicklung bei. Die gesamte Rechte reagierte ebenso empfindlich bei jedem Vorgehen gegen die militanten Rechtsorganisationen wie die sozialdemokratischen Minister in Preußen, Hessen, Baden oder Sachsen das Eingreifen gegen uniformierte politische Organisationen immer zu spezialisieren und einzugrenzen versuchten, um ein generelles Vorgehen auszuschließen, da dies auch das sozialdemokratische Reichsbanner betroffen hätte. Auch die SPD wollte das militärische Gebaren für ihre Zwecke nutzen
582 Bracher, Auflösung, S.424-431; Winkler, Weg in die Katastrophe, S.523-526; Vogelsang, Reichswehr, S.162-180; Leßmann, S.334/335. Dokumente in: Staat und NSDAP. S.300. 304-309,312-319, 322-326. 583 Winkler. Weimar, S.484/485; Rüffler, S.318.
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und kämpferische Traditionen mit der Demokratie verbinden. 584 Somit war schließlich keine Seite zu unpopulären Maßnahmen gegen die wachsenden paramilitärischen Kräfte bereit. Zu einer strikten Trennung des Militärischen oder Soldatischen von der Innenpolitik war keine Seite entschlossen - die engstirnige Interessenpolitik verspielte die Chance zu einer zivilgesellschaftlichen Entwicklung. 2.4.7 Ein Ländervergleich In beiden Ländern war es der unter den alten Eliten (und hier besonders in der Armee) und der bei den Führern der rechten Parteien verbreitete Antikommunismus, der dem Faschismus die meisten Sympathien zutrug. Da die faschistischen Straßenschläger zahlenmäßig mit den Kommunisten konkurrieren konnten und sich handfest den kommunistischen Demonstranten entgegenstellten, erschien die faschistische Gesamtbewegung als potentieller Verhandlungspartner, zumal man hoffte, durch Abkommen und Koalitionen mit der Spitze der faschistischen Parteien die exzessive Konfliktbereitschaft der Kampfbünde begrenzen zu können und die Bewegung so zu zähmen, dass diese sich nicht gegen den Staat und die alten Eliten selbst richtete. Die großen Streik- und Demonstrationswellen von sozialistischer wie kommunistischer Seite - zum einen während der roten Jahre des biennio rosso 1919/20 und die kläglichen Versuche der Revitalisierung während des Generalstreiks vom Juli 1922, zum anderen die Aktivitäten der deutschen Sozialisten und Kommunisten am Anfang der Republik etwa während der Berliner Kämpfe von 1919 - hatten bei den bürgerlichen Schichten eine tiefsitzende Angst vor dem Bürgerkrieg, vor dem Auseinanderfallen der Gesellschaft, vor Chaos, Gewalt und Anarchie hinterlassen. So war sich das linksliberale „Berliner Tageblatt" im März 1931 noch sicher, dass der „nationalsozialistische Brei auseinanderfließen" werde, während mit angstvollem Unterton bemerkt wurde, daß die „kommunistische Masse [...] sich mächtig ausbreiten und verhärten" werde. Wahrscheinlich noch stärker als die letztlich doch sehr begrenzte Gewaltpraxis wirkte die vollmundige kommunistische Propaganda, in der ständig mit einem bewaffneten Aufstand und einer Revolution gedroht wurde. Dabei wurde der Wunsch nach einem Sturz der Regierung von den Kommunisten meist durch konkrete soziale Forderungen vor Ort begleitet. Die überzogenen Appelle der Kommunisten halfen den Faschisten. Sie verursachten furchterregende Assoziationen und eine tiefgreifende Verunsicherung der bürgerlichen Eliten. So tauchte der Bürgerkriegsbegriff in den letzten Jahren vor den faschistischen Machtübertragungen verstärkt im öffentlichen Diskurs der liberalen wie auch der rechtsgerichteten Presse auf. Diese
584 Schulz, Aufstieg, S.493/494.
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Sympathie ex negativo war vermutlich mehr, als die Faschisten aus eigener Kraft jemals hätten erreichen können. 5 8 5 2.4.8 Die Spruchpraxis der Gerichte in Italien und Deutschland So verblieben letztlich nur noch die Gerichte als staatliches Zwangsmittel, um die Gewalttätigkeiten der faschistischen Kampfbünde einzudämmen. Grundsätzlich war weder die Betätigung für die PNF noch für die NSDAP illegal beiden Parteien war ihre Agitation gestattet, obwohl sie sich gegen das bestehende System richtete. Gerichtliche Maßnahmen gegen die faschistischen Bewegungen ließen sich somit erst dann ergreifen, wenn diese zur Erreichung ihre Ziele Gewalt einsetzten. Beide Nachkriegsgesellschaften waren justiziell gesehen keine „wehrhaften Demokratien". Wie sah nun die Praxis der Gerichte aus? Roberto Farinacci gibt an, dass in der Zeit vom 1. März bis zum 31. Mai 1921 etwa 2.000 „Umstürzler" und 300 Faschisten verhaftet worden seien. 5 8 6 Dies bewies jedoch nicht, wie Farinacci insinuierte, ein tatsächlich stärkeres Gewaltmaß von links, sondern vielmehr die Einseitigkeit der italienischen Polizei und Justiz. Tatsächlich wurden im ersten Halbjahr 1921 lediglich 396 Squadristen inhaftiert, während gleichzeitig 1.421 Sozialisten in die Gefängnisse gehen mußten. Dies stand in deutlicher Diskrepanz zu den tatsächlichen Gewaltvorfallen, da von den Squadristen, wie im ersten Abschnitt dieses Kapitels aufgezeigt, ungleich häufiger Gewalttaten ausgingen. Die Rechtslastigkeit der Strafverfolgungsbehörden offenbart sich vor allem dadurch, dass während dieses Zeitraumes 878 angezeigte Squadristen auf freien Fuß gesetzt wurden, währenddessen nur 617 Sozialisten wieder freigelassen wurden. Von völliger Straflosigkeit kann indes nicht die Rede sein, da fast 90 Prozent der Straftaten immerhin zur Anzeige kamen. Das hohe Ausmaß der freigelassenen Straftäter hing auch mit den Gesetzesmodalitäten zusammen. Nach Artikel 372 des Strafgesetzbuches konnte bei Körperverletzungen, die inner585 Berliner Tageblatt vom 21.3.1931. Zur Wahrnehmung der Sozialisten und Kommunisten in der bürgerlichen Presse: Schumann, Politische Gewalt, S.334-358 (zu den Jahren 19301933), 262-264 (zu den Jahren 1925-29, in denen die Angst vor den „roten Horden" zwar vorhanden, aber nicht „alles überragend" gewesen sei). Weiterhin immer noch nicht überholt: Eksteins, Modris: The Limits of Reason. The German Democratic Press and the Collapse of Weimar Democracy. Oxford 1975; Bosch, Michael: Liberale Presse in der Krise. Die Innenpolitik der Jahre 1930 bis 1933 im Spiegel des „Berliner Tageblatts", der „Frankfurter Zeitung" und der „Vossischen Zeitung". Frankfurt am Main 1976; Sösemann. Bernd: Das Ende der Weimarer Republik in der Kritik demokratischer Publizisten. Theodor Wolff, Ernst Feder, Julius Elbau, Leopold Schwarzschild. Berlin 1976; Asmuss, Burkhard: Republik ohne Chance? Akzeptanz und Legitimation der Weimarer Republik und der deutschen Tagespresse zwischen 1918 und 1923. Berlin 1994; Szejnmann, Nazism, S. 168175. 586 Farinacci, Faschistische Revolution, Bd.2, S.294.
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halb von 10 Tagen kuriert werden konnten, der Straftäter wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Zudem mußte eine Anzeige von Geschädigten eingehen, um Strafmaßnahmen einleiten zu können. Angesichts der massiven Drohungen der squadristischen Täter gegenüber ihren Opfern wird diese Anzeige jedoch oft ausgeblieben sein. 587 Im Jahre 1920 versuchte das Justizministerium durch neue gesetzliche Grundlagen, die Streikaktivitäten der sozialistischen Revolutionäre einzudämmen und somit die im Vorjahr verlorengegangene Staatsautorität zurückzugewinnen. Tatsächlich nahmen die Richter auf der lokalen Ebene, jedenfalls im Vergleich zu der Behandlung der Faschisten, gegenüber den Sozialisten eine Politik der Härte, Rigorosität und Intransigenz in der Anwendung des Gesetzes ein. In der Rechtspraxis betrafen die ministeriellen Anweisungen gegen waffentragende politische Extremisten oft nur den kommunistischen Kampfbund der Arditi del popolo. Auf der Grundlage der Artikel 248, 253 und 254 des Strafgesetzbuches, die die Gründung bewaffneter Organisationen und krimineller Vereinigungen verboten, wurden kommunistische Lokale geschlossen und ihre Mitglieder verhaftet. 588 Auf die faschistischen Organisationen wurden diese Gesetze hingegen nicht angewandt. Im Gegenteil: Der Justizminister in Giolittis Kabinett, Luigi Fera, erließ sogar ein Rundschreiben an alle Gerichte, in dem die Weisung enthalten war, man möge alle Verfahren gegen die Faschisten einschlafen lassen. 589 In den ersten Monaten des Jahres 1922 wurden daher die wegen „privater Gewalttätigkeit" angeklagten Faschisten überall in Italien freigesprochen. Meist jedoch verzögerten die Richter die Verfahren und gaben sich die größte Mühe, die Faschisten nicht zu verurteilen. Einige offensichtliche Fälle endeten mit einem Freispruch. 590 Dass Regierung, Justizministerium und die Faschisten in derart offenkundiger Art und Weise gegen die Kommunisten zusammenarbeiteten, untergrub die Autorität und das Prestige des Staates. Zudem wurde das Verhalten der einfachen Polizisten auf der Straße dahingehend beeinflusst, dass diese nachsichtiger mit faschistischen Straftätern umgingen. Dass die Regierung die parlamentarischen Vertreter des
587 ACS, Mdl, DGPS, AGR, CA, 1925, busta 96. Auch in: De Feiice, Mussolini il fascista, S.35; Gentile, Storia, S.491, 493/494; Petersen, Problem, S.332/333; Dunnage, Italian Police, S.122; Squeri, S.155. Nach Alberghi (S.378) sollen von 317 Zusammenstößen zwischen Faschisten und Sozialisten, die zwischen Ende 1920 und Mai 1921 stattfanden, 265 bei der Magistratur angezeigt worden sein. Die Polizei verhaftete 162 Faschisten und 274 Sozialisten, während 219 Faschisten und 255 Sozialisten wieder auf freien Fuß gesetzt wurden. 588 Neppi Modona, S.225-235, 240/241, 256-261; Tasca, S.201/202; Dunnage, Italian Police, S.127/128, 130. 589 Tasca, S.157; Neppi Modona, S.304. Zu Fera siehe auch Neppi Modona, S.233-236, 255. 590 Tasca, S.223; Snowden, Fascist revolution, S.196/197; Squeri, S.152/153, 155-160.
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Faschismus als verhandlungswürdig betrachtete, tat ein Übriges, um die Toleranz der einfachen Polizisten gegenüber den Squadristen zu erhöhen. Mit welch fadenscheinigen Gründen Anklagen gegen die Faschisten von den Gerichten fallengelassen wurden, zeigt ein Blick in die Rechtspraxis der Provinz Bologna. Beispiele aus dieser Provinz sind um so schlagender, da der Präfekt, der 1872 geborene ehemalige Polizist Cesare Mori, als unerschrockener Mann der Ordnung galt, der seine Pflichten als Staatsbediensteter über alle ideologischen Erwägungen stellte. 591 Eine Statistik des Innenministeriums zeigt die vergleichsweise konsequente Praxis des seit Februar 1921 im Amt befindlichen Bologneser Präfekten. Alle im Mai 1921 registrierten 73 gewalttätigen Zusammenstöße wurden tatsächlich zur Anzeige gebracht. Eine solch entschiedene Praxis fand sich keineswegs in allen Präfekturen. In Modena etwa wurden 41 der 93 registrierten Zusammenstöße erst gar nicht angezeigt. Auf eine diesbezügliche Nachfrage aus dem Justizministerium unter Giulio Rodinö hieß es von der Generalstaatsanwaltschaft Modenas, dass mancher Staatsanwalt persönliche Sympathien fur den Faschismus habe. Auch was die Anzahl der Verhafteten anging, war man in Bologna strenger als anderswo: 84 Faschisten und 52 Sozialisten wurden inhaftiert. So viele faschistische Gewalttäter konnten in keiner anderen Provinz dingfest gemacht werden, und in keiner anderen Provinz wurden mehr Faschisten als Sozialisten verhaftet. Allerdings lag die Provinz auch an der Spitze, wenn es darum ging, die Angezeigten wieder freizulassen. 40 angezeigte Faschisten und 24 Sozialisten wurden auf freien Fuß gesetzt. Nur in fünf der 69 Provinzen waren es mehr. 592 Bei der Freilassung zeigte sich auch in Bologna eine Ungleichbehandlung von linken und rechten Straftätern. So wurden in der Zeit zwischen dem 8. und 31. Mai des Jahres 1921 40 Sozialisten inhaftiert und nur 9 wieder auf freien Fuß gesetzt, während bei den Faschisten, die in derselben Zeitspanne dingfest gemacht wurden, 24 in Haft blieben, aber 37 wieder frei kamen. Ähnliche Verhältnisse zeigen sich ein Jahr später. Zwischen dem März und dem September 1922 wurden insgesamt 427 Faschisten verhaftet, aber 311 von ihnen wurden wieder auf freien Fuß gesetzt, von den 155 Sozialisten hingegen wurde nicht einmal die Hälfte, nämlich 73, wieder freigelassen. Aus einem Polizeibericht vom 9. August 1922 ging sogar hervor, dass sich neun Faschisten, die der vorsätzlichen Tötung angeklagt waren, auf freiem Fuß befanden und weitere zwei sich unbekannt versteckt hielten. 593 Dass die Faschisten sich häufig der Verhaftung durch Flucht entziehen konnten, hatte Mori oftmals bei den Carabinieri-Behörden beklagt. Er äußerte immer wieder seine Skepsis,
591 Vgl. zu Mori: Petacco, Prefetto, S.9-38; Dunnage, Italian Police, S.l 19. 592 Die Tabelle zu diesen Fällen bei De Feiice, Mussolini il fascista, S.36-39. Die Provinzen, in denen mehr angezeigte Straftäter freigelassen wurden, waren Ferrara, Modena, Reggio Emilia, Siena und Verona. Zu den Verhältnissen in Modena: Neppi Modona, S.305. 593 Dunnage, Italian Police, S. 121.
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warum sich gerade so viele Faschisten, aber vergleichsweise wenige Sozialisten vor der Polizeibehörden verstecken konnten. Die selektive Verhaftungspraxis der Polizei wurde dadurch deutlich, daß Mori in Einzelfallen nachweisen konnte, dass angeblich flüchtige Faschisten sich schlicht in ihren Wohnungen aufhielten. 594 Viele Maßnahmen Moris versandeten dadurch, dass sie von den unteren Polizeiorganen verschleppt, unzureichend oder einfach gar nicht ausgeführt wurden. Die Einschränkung der Erlaubnis des Lastwagenverkehrs, Straßensperren oder die Zensur der von den Faschisten aufgegebenen Telegramme hätten effektive Maßnahmen sein können, wenn die Polizisten diese Anweisungen Moris konsequent befolgt hätten. 595 Als Mori Ende Mai 1922 beispielsweise ein Dekret erließ, das ortsfremden Arbeitern verbot, in die Gemeinden der Provinz überzusiedeln, waren die Faschisten bis zum äußersten provoziert. Mori wollte durch das Dekret vermeiden, dass es zu Konflikten zwischen der ortsansässigen Arbeiterschaft und den von den Faschisten angeworbenen „gelben" Arbeitern aus der Nachbarprovinz kam. Tatsächlich waren die sozialistischen Gewerkschaften dadurch, daß die Faschisten den Agrarunternehmern gewerkschaftlich nicht organisierte Arbeiter zuführten, an einer empfindlichen Stelle ihrer Macht, nämlich der Arbeitsvermittlung, getroffen worden. Nur durch das Verschieben der (von den bewaffneten Squadristen bewachten) Arbeitslosen konnten die Faschisten die sozialistische Gewerkschaft quasi durch Aushungerung zur Räson bringen - die Kosten für den Transport der Arbeitslosen aus Ferrara übernahmen die Agrarunternehmer, die die neuen Arbeiter sogar übertariflich entlohnten. Die sozialistischen Arbeitsvermittlungsämter waren überflüssig geworden und konnten von den lokalen Großgrundbesitzern ignoriert werden. Da die Überführung der von Faschisten begleiteten Arbeiter aus der Nachbarprovinz jedoch immer wieder zu Zusammenstößen führte, entschloss sich Mori zu diesem Schritt. Die Faschisten reagierten auf Moris Maßnahme mit einer generellen Mobilmachung. Um sie wieder rückgängig zu machen, wurde die Stadt Bologna Mitte Mai 1922 von Italo Balbo mit Zehntausenden von Squadristen aus der Emilia besetzt - die Polizeigewalt wurde von ihnen, wo dies trotz des passiven Verhaltens der Polizisten noch nötig war, durch Gewalt außer Kraft gesetzt. Die Stadt sollte erst dann wieder geräumt werden, so die Faschisten, wenn Mori abberufen sei. Am 3. Juni 1922 veröffentlichte Mussolini im „Popolo d'Italia" den Demobilisierungsbrief für die Squadristen, und am 23. Juni wurde Mori tatsächlich abberufen und als Präfekt nach Bari versetzt. Die Carabinieri hatten nur allzu gerne seine angeblich fanatische Opposition gegenüber den Faschisten gerügt, und auch ein Bericht des Innenministeriums bezichtigte ihn der Übereifrigkeit wie der Isolation von den
594 Dunnage, Italian Police, S. 121; Cardoza, Agrarian Elites, S.382. 595 Dunnage, Italian Police, S. 120.
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tragenden Schichten der Provinz. Die Stadtbesetzung war ein wirksames Erpressungsmittel und demonstrierte zudem die Hilflosigkeit der Regierung gegenüber dem faschistischen Terror. 596 Mori scheiterte aber nicht allein an der Gegenwehr der Faschisten und der stillschweigenden Obstruktion der ihm untergebenen Polizeibehörden. Auch die Kooperation der Präfekten anderer Provinzen blieb ihm versagt. So wäre, aufgrund der engen Kooperation der Faschisten Ferraras und Bolognas, eine Koordination der Polizeiarbeit beider Provinzen nötig gewesen. Samuele Pugliese, der Präfekt Ferraras, gab Mori jedoch keine befriedigenden Versicherungen zur Zusammenarbeit. Gleichzeitig waren Puglieses Sympathien für den Faschismus unverkennbar. 597 Auch als Mori im November 1921 zu einer Art Superpräfekt über die elf Provinzen mit der höchsten Gewaltfrequenz (Bologna, Ravenna, Forli, Ferrara, Rovigo, Modena, Reggio Emilia, Parma, Piacenza, Cremona und Mantua) ernannt und mit außergewöhnlichen Machtbefugnissen ausgestattet wurde, scheiterte die konsequente Bekämpfung der politisch motivierten Straßengewalt wiederum an der Verschleppung durch die mit den Faschisten sympathisierenden Polizeibehörden und an dem unkooperativen Verhalten der gedeckelten Präfekten. Mori, der beständig den Anstieg der Gewalttätigkeiten und den gleichzeitigen Mangel an Kooperation der Provinzialautoritäten beklagte, war zunehmend frustriert. 598 Moris vergleichsweise strenge Praxis erwies sich auch in justizieller Hinsicht als wirkungslos. Die bei der General Staatsanwaltschaft von Bologna nachgewiesenen Strafermittlungen vom November 1920 bis zum März 1922 weisen erschreckende Ergebnisse aus. 5 9 9 Nur einer der verhafteten Faschisten erfuhr am 8. März 1922 eine Verurteilung zu 2 Monaten und 24 Tagen Haft wegen unerlaubten Waffentragens. 600 Immer wieder hieß es, aus Mangel an Beweismaterial müsste das Verfahren eingestellt werden. Eine Verurteilung sei nicht möglich. 601 Das war auch anderswo so. Es kam in Italien ausgesprochen selten zu Strafprozessen gegen gewalttätige Squadristen. 602 Betrachtet man die Bologneser Fälle im Einzelnen, ergibt sich immer wieder das selbe Muster. Die gefangengenommenen Squadristen stritten eine Tat-
596 Alberghi, S.490-493, 496/497, 503-505; Tasca, S.225-227; Dunnage, Italian Police, S. 126/127, 130-135; Cardoza, Agrarian Elites, S.383/384. 597 Alberghi, S. 343/344; Corner, Fascism, S.177; Dunnage, Italian Police, S.126/127, 133; Cardoza, Agrarian Elites, S.382. 598 Vgl. dazu Dunnage, Italian Police, S.128-130; Corner, Fascism, S.205; Alberghi, S.490. 599 Der Registerband über alle Fälle findet sich in: ASB, Procura generale presso la corte di appello di Bologna (1861-1949), Nr.24: Registro generale in materia penale (14.11.192030.3.1922). 600 ASB, Procura generale presso la corte di appello di Bologna, Nr.24, Fall Nr.353. 601 ASB, Procura generale presso la corte di appello di Bologna, Nr. 24. Für das Jahr 1921 die Fälle Nr.228, 293, 303, 326, 343, 377, 420, 428. Für das Jahr 1922 die Fälle Nr. 2, 13, 35. 602 Snowden, Fascist revolution, S. 197.
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beteiligung ab, und die Nachforschungen der Polizeibehörden waren alles andere als gründlich. Auch der Präfekt Mori bestätigt diesen Eindruck in seinen Klagen über die Nachlässigkeit bei den Polizeiermittlungen.603 Einer dieser Fälle war eine „Strafexpedition" gegen die sozialistische Camera del Lavoro in der Via D'Azeglio im Zentrum Bolognas. In der Nacht vom 24. zum 25. Januar 1921 griffen mindestens zwanzig Squadristen die Gewerkschaftszentrale an. Das Haus wurde mit Bomben beworfen, geplündert und in Brand gesetzt. Die Squadristen erklärten dem zuständigen Polizeikommissar, dies sei eine „spontane" Strafaktion für zwei getötete Faschisten gewesen, denn in Modena waren am 24. Januar zwei Faschisten bei den Begräbnisfeierlichkeiten für den faschistischen Studenten Mario Ruini umgekommen. 604 Das Direktorium des örtlichen Fascio jedenfalls, so erklärten die Squadristen, habe die Zerstörungen an dem Gewerkschaftshaus nicht angeordnet. Obwohl die führenden Mitglieder des Bologneser Faschismus bei der Inbrandsetzung vor Ort anwesend waren, schenkte die Behörde den Erklärungen der Squadristen Glauben. Es könne möglich sein, dass dies nicht geplant gewesen sei, glaubten die Beamten, obwohl Modena 100 Kilometer von Bologna entfernt liegt und obwohl Bomben geworfen wurden. Dass die Beamten der absurden Idee, daß die Squadristen offenbar immer „sehr spontan" Bomben mit sich führten, um gelegentlich einmal eine sozialistische Einrichtung in Flammen aufgehen zu lassen, auch noch Glauben schenkten, kann nur als Einverständnis gewertet werden. Den neun festgenommenen Squadristen jedenfalls wurde keine Strafbeteiligung nachgewiesen. Dass diese sich mehr oder weniger zufällig bei der Gewerkschaftszentrale aufhielten und den Zerstörungen ihrer Kameraden zusahen, wurde als Möglichkeit in Betracht gezogen und aus Mangel an Beweisen akzeptiert. Selbst Leandro Arpinati, der politische Sekretär im Direktorium des 8.000 Mitglieder zählenden Bologneser Fascio, wurde am Tatort angetroffen. Obwohl der ermittelnde Kommissar den bekannten Faschistenfiihrer Arpinati noch nicht einmal zum Tathergang vernommen hatte, wurde der gesamte Prozess eingestellt. Nur ein Squadrist wurde, um die opera buffa zu komplettieren, von der Behörde ermahnt - weil er eine Schreibmaschine aus dem Gewerkschaftshaus entwendet hatte. 605 Was in Bologna passierte, war symptomatisch fur die italienischen Verhältnisse. Dem genauen Hergang der Auseinandersetzungen und der justiziellen Feststellung der Schuldfragen wurde andernorts von Polizei und Justiz meist nicht einmal im Ansatz nachgegangen. Die Passivität der Ermittlungsrichter, gezielte Verzögerungen und das verspätete Erlassen von Haftbefehlen zeigen, dass man zwar formal in rechtsstaatlichen Bahnen agierte, dass aber 603 Dunnage, Italian Police, S. 123. 604 Siehe hierzu Chiurco, Storia, Bd.3, S.36/37. 605 ASB, Corte d'appello di Bologna, Atti Penali 1861-1957, Nr.124. Sezione d'accusa, Sentenze (1921), Nr.280.
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sowohl die örtlichen Strafverfolgungsbehörden und die lokalen Notabein eine Verurteilung der Squadristen oft nicht wünschten. 606 Vor deutschen
Gerichten
Wie sahen dagegen die deutschen Verhältnisse aus? Zunächst einmal gingen die Justizbehörden bei der Beurteilung von KPD wie NSDAP davon aus, dass beide die bestehende Verfassungsordnung beseitigen wollten. Da die KPD nie versichert hatte, auf die Anwendung illegaler Mittel zu verzichten, wurde sie als revolutionäre Partei betrachtet, die einen gewaltsamen Umsturz der Weimarer Reichsverfassung herbeizuführen suchte und demzufolge als „hochverräterisch" und „staatsfeindlich" galt. Der öffentlich bekundete Legalitätswilie der NSDAP hingegen (womit die Legalität des Weges bis zur Machtübernahme gemeint war) führte dazu, dass der staatsfeindliche Charakter der NSDAP nicht als ein grundsätzlicher angenommen wurde, sondern stattdessen von den Gerichten immer wieder aufs Neue geprüft wurde. Die Ahndung der einzelnen Straftaten der Nationalsozialisten stand vor dem Problem der Zurechenbarkeit, denn der Nachweis, dass einzelne Aufrufe zu politischen und verfassungsfeindlichen Gewalthandlungen repräsentativ für die gesamte Partei waren, war äußerst schwierig zu führen. 607 Die allgemeine Zielsetzung der Nationalsozialisten, die bekundeten, dass die Weimarer Reichsverfassung keinerlei Legitimation besäße, da sie durch einen verbrecherischen Akt installiert worden und zudem „im System falsch" (Goebbels) sei, genügte den Gerichten nicht, um die NSDAP als hochverräterisch zu qualifizieren. Da die Weimarer Reichsverfassung als „offene Verfassung" keine Beschränkungen für den Inhalt einer Verfassungsänderung vorsah, warf die Zielsetzung der Nationalsozialisten die schwierige Frage auf, ob eine Verfassungsänderung auf verfassungsmäßigem Wege überhaupt eine Beseitigung der gesamten Verfassung beinhalten konnte. 608 Jenseits der justiziellen Unterscheidung zwischen KPD und NSDAP ist in diesem Zusammenhang jedoch die Rechtspraxis der Gerichte entscheidend. Wichtig ist, ob durch die grundsätzliche juristische Bewertung der NSDAP diese auch mit weniger oder milderen Strafen zu rechnen hatte. Der von Christoph Gusy herausgestellte Befund, dass sich die Urteilsgründe der Justiz bei Verurteilung der Straftaten von links und rechts unterschieden, deutet in diese Richtung, denn während die KPD, so Gusy, als hochverräterisch qualifiziert wurde, blieb eine solche Einschätzung hinsichtlich der NSDAP bis 1933 der Ausnahmefall. „Damit hatten Kommunisten die Vermutung hochverräterischen Handelns gegen sich, welche sie im Einzelfall entkräften mußten; wäh-
606 Engelmann, Provinzfaschismus, S.52/53, 64/65, 108-111; Cancogni, Storia, S.70/71. 607 Rüffler, S.7-9, 12,70/71. 608 Gusy, S.27; Rüffler, S.42-53.
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Latenter Bürgerkrieg?
rend Nationalsozialisten in jedem Einzelfall der Hochverrat nachgewiesen werden mußte." 609 Der Erlass der Notverordnung zum Schutze von Volk und Staat vom 28. März 1931 traf in den drei Folgemonaten die Kommunisten schwerer als die Nationalsozialisten. Von den 3.418 reichsweiten Polizeiaktionen und Maßnahmen zur Strafverfolgung entfielen allein auf die KPD, deren Nebenorganisationen noch nicht mitgerechnet, 2.027 Fälle. 610 Auch für die justizielle Ahndung ergab sich ein ähnliches Verhältnis, denn auch hier wurden innerhalb dieses Zeitraumes fast dreimal so viele Kommunisten wie Nationalsozialisten verurteilt (905 zu 305). Dies entsprach fast exakt dem Verhältnis zwischen kommunistischen und nationalsozialistischen Versammlungsstörungen, die die preußischen Polizeibehörden für das Jahr 1931 ausgewiesen haben. Die Übersicht des Reichsinnenministeriums lässt kein politisches Gefalle der Verurteilungen zwischen den Ländern mit rein bürgerlicher Regierung und solchen mit sozialdemokratischen Ministern erkennen. 611 Die Kongruenz der Ergebnisse von Polizei und Justiz könnte bedeuten, dass sich die Justiz auf die ersten Ermittlungen der Polizei verlassen und diese unkritisch benutzt hatte. Das bloße Ungleichgewicht bei den Verurteiltenzahlen läßt insofern noch keine klaren Rückschlüsse auf eine mögliche Einseitigkeit der Rechtsprechung zu. 612 Aber nicht allein die bloße Anzahl der Verurteilungen, sondern auch das Strafmaß muss zu einer Beurteilung der Weimarer Justiz herangezogen werden. Eine seriöse Übersicht für die Endphase des Jahres 1932 wurde anhand von 306 Prozessen an den Sondergerichten erstellt. Das Recht zur Einrichtung dieser Sondergerichte wurde zunächst durch eine Verordnung des Reichspräsidenten vom 6. Oktober 1931 noch unter dem Reichskanzler Brüning geschaffen. Sein Nachfolger von Papen setzte mit Hilfe dieser Verordnung im August 1932 Sondergerichte „gegen den politischen Terror" ein. Diese Gerichte existierten nur vier Monate, vom 9. August bis zum 19. Dezember 1932. „Sie waren für zahlreiche [...] politische Straftaten zuständig und urteilten im Schnellverfahren, in denen die Rechte der Angeklagten weitgehend außer Kraft gesetzt waren" urteilt der Historiker Ralph Angermund. 613
609 Gusy, S.357-363 (Zitat S.359). 610 Winkler, Weg in die Katastrophe, S.310; Winkler, Weimar, S.401. Zur Notverordnung siehe Gusy, S. 193-201. 611 Winkler, Weg in die Katastrophe, S.394. 612 Beliebig ist die Auswahl bei Hannover/Hannover-Dück. Ihre Untersuchungsschwerpunkte können nicht als „typisch gelten" und beruhen nicht auf einer „umfassenden Sichtung des veröffentlichten Materials", wie die Autoren behaupten. Hannover/Hannover-Drück, S.14/15. Beliebig auch: Gumbel, Köpfe, S.47-80. Schnell verallgemeinernd: Winkler, Weg in die Katastrophe, S.449; Winkler, Weimar, S.434. 613 Angermund, S.137. Zu den Gesetzen siehe: Reichsgesetzblatt 1, S.403-407, 550, 565-570; Gusy, S.203-205, 212/213.
Wehrhafte Demokratien?
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Die Ergebnisse zeigen zunächst einmal den schon im ersten Kapitelabschnitt herausgearbeiteten Befund: Die Nationalsozialisten hatten im Jahre 1932 gegenüber den Kommunisten hinsichtlich der Gewalttätigkeiten deutlich aufgeholt. Des Weiteren wurden von den 539 angeklagten Nationalsozialisten immerhin 300 verurteilt, während gegen 325 von den 473 angeklagten Kommunisten ein rechtskräftiges Urteil erging. Vor allem die Höhe der Strafen unterschied sich. Die Zuchthausstrafen gegen die Kommunisten beliefen sich auf 244 Jahre. Das war mehr als das Zweieinhalbfache dessen, was die Nationalsozialisten mit ihren 91 Jahren bekamen. Bei den milderen Gefängnisstrafen glichen sich die Verhältnisse jedoch an. Die Nationalsozialisten erhielten 139 Jahre und sieben Monate und die Kommunisten mußten - recht ähnlich 155 Jahre und siebeneinhalb Monate absitzen. 614 Zwar hatte sich damit die rechtslastige Einseitigkeit der Justiz gegenüber der Frühphase der Republik deutlich abgeschwächt, 615 doch konnte von einer justiziellen Gleichbehandlung der Republikgegner von links und rechts auch in der Endphase der Weimarer Republik keine Rede sein. Insofern kann festgehalten werden, dass nicht nur die italienische, sondern auch die deutsche Justiz politisch keineswegs neutral blieb. Republikanische Juristen waren äußerst rar, ein Berliner Senatspräsident etwa zählte am Ende der Republik nur fünf Prozent der preußischen Richterschaft zu den Parteigängern der Republik. Dem Republikanischen Richterbund - der SPD, Zentrum und DDP nahestand - gehörten jedenfalls nur 300 der etwa 10.000 Richter an. Die Richterschaft war in ihrer Mehrheit antirepublikanisch und antiparlamentarisch eingestellt, bevorzugte ein autoritäres Staatsmodell und war zu Teilen antisemitisch. 616 Während die deutschen Richter zwar nicht so sehr wie ihre italienischen Kollegen dazu neigten, Straftatbestände auf Seiten der politischen Rechten einfach nicht zu ahnden und die faschistischen Straßenkämpfer laufen zu lassen, so bleibt als Gemeinsamkeit bestehen, dass auch gegenüber den nationalsozialistischen Straftätern die Urteile wesentlich milder als gegenüber den kommunistischen Schlägern ausfielen. Für beide 614 GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr. 122, fol.399 (M). Die Angaben beziehen sich auf die Zeit vom 9. August bis zum 25. November 1932. Für die Justiz in Westmittelfranken vgl. Kittel, S.359. 615 Zur Rechtslastigkeit der Justiz in der Frühphase der Republik siehe: Gusy, S.217/218; Rüffler, S.163-171; Gumbel, Vier Jahre. Gumbels Analysen wurden durch eine Denkschrift des Reichsjustizministers bestätigt. Die entsprechende Denkschrift ist dem hier angegebenen Wiederabdruck von 1980 beigefügt worden. 616 Siehe Angermund, S.31-44; Gusy, S.354-366. Weniger überzeugend: Hannover/HannoverDrück, passim; Bracher, Auflösung, S. 172-178; Rüffler, S.285/286. Verzerrend: Strieder, S.306-311. Die Arbeiten von Emil Julius Gumbel („Vier Jahre politischer Mord" und das von der Deutschen Liga für Menschenrechte herausgegebene „Acht Jahre politische Justiz") beziehen sich auf die Frühzeit der Republik, die hier nicht näher untersucht wird. Zu Gumbel siehe: Jansen, Christian: Emil Julius Gumbel. Portrait eines Zivilisten. Heidelberg 1991.
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Latenter Bürgerkrieg?
Länder ist generell anzumerken, dass der exakte justizielle Strafnachweis nicht einfach zu fuhren war und die Justiz mit der sprunghaft angestiegenen politischen Gewalt vollkommen überfordert war. So betrug die Anzahl der politischen Prozesse in Preußen im Jahr 1930 schon etwa 14.500 Fälle, während sie 1929 noch bei rund 9.000 gelegen hatte. Vor allem im Jahre 1932 schnellte die Anzahl der Verfahren nach oben. In den ersten drei Monaten dieses Jahres war die Anzahl der Verfahren auf das Fünffache gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres angewachsen. 617 Die vergleichsweise milde Praxis der Gerichte führte dazu, dass die faschistische Straßengewalt als machtvolle Kraft erscheinen konnte, die sich zum „eigentlichen" Rechtsträger stilisieren konnte. So beurteilte ein nationalsozialistischer Abgeordneter im Preußischen Landtag, Dr. Muhs, in einer Parlamentsdebatte zur Amnestie vom Juni 1932 die SA-Schläger als „Märtyrer", die ihre Straftaten aus „Überzeugung" begangen hätten. Daher müsse man „anerkennen, daß es durchaus eine Tat von großem persönlichen Mut und großer Anständigkeit sein kann, wenn jemand aus persönlicher Überzeugung diese Schwere einer Tat auf sich nimmt". Sein Fraktionskollege Dr. Roland Freister pflichtete dem bei. Er begriff seine parlamentarische Aufgabe darin, dafür zu sorgen, dass die „Kämpfer fur die deutsche Befreiung an dem Befreiungskampf teilnehmen können". 618 Dass die SPD der Dezemberamnestie 1932, wenn auch mit „schwerem Unbehagen", zustimmte, scheint unerklärlich. Die Erläuterung des Reichstagsabgeordneten Dr. Marum (SPD) zur Zustimmung zeigt den inneren Zwiespalt der Partei. Einerseits betonte er, dass „durch häufige Amnestien der politische Terror und der politische Mord begünstigt werden, [...] daß das Gefühl der Täter für ihr Unrecht verschwindet, daß sie angereizt werden, neue Taten zu begehen [und daß] jede Amnestie die Autorität des Rechts und des Rechtsgefühls auf das schwerste beeinträchtigen [muß]". Andererseits hätten die Gerichte „Blut- und Schreckensurteile" gefällt. Schließlich fuhr Marum merkwürdig widersprüchlich fort: „Wir wünschen aber, daß diese Amnestie Gesetz wird und daß damit der Versuch gemacht wird, zu einer Entspannung des politischen Kampfes, zur Rückkehr von Gerechtigkeit und damit zum Verschwinden des politischen Mordens und des Terrors aus Deutschland zu kommen". 6 1 9 Letztlich zeigt diese Rede, wie realitätsblind die SPD die Radikalität von Kommunismus und Nationalsozialismus beurteilte. Die rechtspolitische Haltlosigkeit des ständigen Wechsels zwischen scharfer Ausnahmegesetzgebung und anschließender Milde musste die Autorität des staatlichen Gewaltmonopols und die Rechtssicherheit zersetzen und der
617 Angermund, S.36 und S.37, Anm. 99; Christoph, S.324; Rüffler, S.290 (Beispiele aus Baden). 618 Zitiert nach Christoph, S.328/329. 619 Zitate nach Christoph, S.335, 345/346.
Wehrhafte Demokratien?
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nationalsozialistischen Propaganda gegen die „Schwatzbude" des Parlamentes unerhörten Auftrieb geben. Zusammenfassend betrachtet zeigt sich, dass das staatliche Gewaltmonopol in beiden Staaten durch eine einseitige und rechtslastige Rechtsprechung, eine politisch unterschätzte faschistische Bewegung und einen im italienischen Fall ineffizienten und korrumpierten Polizeiapparat ausgehöhlt worden war. In einer Phase der Bewährung und des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates hatte dieser demokratisch nicht legitimierten Mächten Freiräume eingeräumt und ihnen teilweise dort freien Lauf gelassen, wo die linke Arbeiterbewegung zum Opfer faschistischer Gewalt wurde. Die Erfahrung der faschistischen Straßenkämpfer, eine Lücke in der Gesetzgebung finden und auf milde Richter oder baldige Amnestien hoffen zu können, motivierte sie zum Fortsetzen ihrer Gewalttätigkeiten.
3 D A S REKRUTIERUNGSPOTENTIAL: SOZIALE GRUPPEN, LEBENSLÄUFE UND GENERATIONEN
3.1 Rasantes Wachstum und ländliche Stationen: Quantitative Entwicklung und regionale Schwerpunkte Die Kampfbünde des Squadrismus und der SA waren keine Geheimorganisationen. Im Gegenteil: Sie suchten die Öffentlichkeit, um die faschistischen Bewegungen allgemein bekannter zu machen. „Nicht in geheimen Konventikeln soll gearbeitet werden, sondern in gewaltigen Massenaufzügen, [...] durch die Eroberung der Straße", hieß es 1929 im 'SA-Mann'. 1 Darin unterschieden sich die faschistischen Bewegungen von den rechtsradikalen Geheimorganisationen am Beginn der Weimarer Republik. Während jenes Freischärlertum einen konspirativen Charakter trug und in Teilen elitär war, transformierten die Faschisten physische Gewaltsamkeit zu einem Massenphänomen, das eine öffentliche Dimension hatte. 2 Die faschistischen Bewegungen trugen somit keineswegs einen „Elitecharakter" und waren nicht, wie Francis Carsten meinte, „gegen eine Massenmitgliedschaft" eingestellt. 3 Schon im ersten SA-Befehl vom November 1926 drückte sich Hitler in einem Brief an den SA-Führer von Pfeffer unmissverständlich aus: „Um von vornherein jeden geheimen Charakter der SA zu verhüten, muß [...] schon die Größe ihres Bestandes ihr selbst den Weg weisen, welcher der Bewegung nützt und aller Öffentlichkeit bekannt ist. Sie darf nicht im Verborgenen tagen, sondern soll unter freiem Himmel marschieren und damit endgültig einer Betätigung zugeführt werden, die alle Legenden von 'Geheimorganisationen' zerstört [...] Was wir brauchen, sind nicht hundert oder zweihundert verwegene Verschwörer, sondern hunderttausend und aber hunderttausend fanatische Kämpfer für unsere Weltanschauung". 4 Tatsächlich waren NSDAP und SA Massenorganisationen. Die NS-Bewegung zählte mit ihren zirka 850.000 Mitgliedern im Januar 1933 zu den größten deutschen Parteien, die nur noch von der SPD mit ihren knapp über einer 1
2 3 4
„Die SA. Ihr Sinn und Zweck", in: Der SA-Mann Nr.29 vom 7.9.1929 (Beilage des Völkischen Beobachter Nr.207 vom 7.9.1929). Vgl. BLHA Pr. Br. Rep.2 A 1 Pol. Nr.2135, fol.231/232; Befehl des SA-Führers West Werner von Fichte an die ihm unterstellten SAFührer vom 5.9.1929, zitiert in: Staat und NSDAP, S.59. Vgl. dazu knapp: Elias, S.261, 290, 294-296. Carsten, Aufstieg, S.274. SABE Nr.l vom 1.11.1926, in: RSA, Bd.II, Teil 1, S.83/84. Diese Aussage Hitlers wurde in der SA-Literatur oftmals zustimmend zitiert. So etwa in: Roegels, S. 12/13, 16.
Wachstum und Stationen
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Million Mitgliedern (1930) überboten wurde. 5 Dies war auch beim italienischen Faschismus nicht anders, der im Mai 1922 mit 250.000 bis 300.000 Mitgliedern die größte Partei Italiens darstellte, noch vor der sozialistischen PSI mit 216.337 Mitgliedern (Januar 1921) und der katholischen PPI mit ihren 255.000 Mitgliedern (April 1920). 6 Um die Vorherrschaft über die Straßenöffentlichkeit zu erreichen, mussten die Kampfbünde zu Massenorganisationen werden. Hier konnten sie sich als aktivistische Bewegungen präsentieren, die mit den optischen Mitteln ihrer Fahnen und Uniformen und den akustischen Signalen von Marschtritt und Gesang ihren Anspruch auf die 'Eroberung' der Straße markierten. Sowohl die Masse der Körper als auch die Ästhetisierung der Politik entfalteten eine ungeheuere Werbekraft, die für die faschistischen Bewegungen von entscheidender Bedeutung war. 3.1.1 Rasantes Wachstum Gesonderte Aufstellungen des PNF über die Stärke der squadre d'azione sind weder nationsweit noch regional überliefert, da die informell organisierten Squadren eng mit der faschistischen Gesamtbewegung verbunden waren. Im Jahre 1919, als der Faschismus noch eine kleine und vornehmlich städtische Bewegung war, waren der politische und der paramilitärische Flügel des Faschismus in den meisten Regionen noch identisch. Gleichwohl bildeten die paramilitärischen Squadren - wie im Kapitel 4.1.2 gezeigt werden wird zunehmend eigenständige Einheiten. Erst seit dem Frühjahr 1921, in dem sich die Squadren in den meisten italienischen Provinzen eigene Namen, Banner und Mitgliedsausweise zulegten, lässt sich präziser abschätzen, welchen Anteil die Squadristen an der faschistischen Gesamtbewegung hatten. 7 Die Berichte der staatlichen Behörden liefern punktuelle Hinweise über den Umfang des Squadrismus. So war nach Auskunft des Quästors von Florenz vom Juni 1921 jeder dritte Faschist der Provinz ein squadrista. Unter den 6.353 Faschisten, die die Provinz im Juni 1921 zählte, befanden sich mithin 2.100 Squadristen. 8 Ihr Anteil dürfte in der Folgezeit noch angestiegen sein.
5
6 7 8
Zu den NSDAP-Mitgliedem: Jamin, Zwischen den Klassen, S.2, hier nach der NSDAP Parteistatistik von 1935); Fischer, German Communists, S. 130; Brustein, Logic of Evil, S.14 und S.200, Anm.53. Zu den SPD-Mitgliedern: Grebing, Helga: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. München 1966, S.166. Gentile, Storia, S.550. Zu den Vergleichszahlen: Petersen, Wählerverhalten, S.124/125. 133. Lyttelton, Faschismus, S.320; Cardoza, Anthony L.: Squadristi, in: Cannistraro, Historical Dictionary, S.516; Cancogni, Storia, S.83; Chiurco, Storia, Bd.3, S.346/347. Bericht der Questura in Florenz vom 19.6.1921, in: ACS, Mdl. DGPS, CA 1922, cat. Gl, fasc.: „Fasci di combattimento. Affari generali. Nr.2: Elenco denunzie, fol.177-179. Zur Stärkemeldung der Faschisten in der Provinz Florenz: De Feiice, Mussolini il fascista, S.8.
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Das Rekrutierungspotential
Aus der Provinz Bologna sind einige Angaben fur das Jahr 1922 überliefert. So hieß es im April 1922, dass neben den 2.000 Faschisten, die zu den kultischen Feierlichkeiten der Gründung des Fascio in Mezzolara erschienen, auch 1.000 Squadristen gekommen seien. 9 Im September 1922 beantwortete der Präfekt von Bologna einen Fragebogen aus dem Innenministerium, in dem danach gefragt wurde, wie viele der Mitglieder der faschistischen Partei Squadristen seien. Der Präfekt antwortete: „Die Anzahl der Mitglieder jeder sezione schwankt, je nach ihrer Bedeutung, zwischen 100 und 300, sicher zählt der Fascio in Bologna etwa 5.000 Mitglieder, derjenige von Imola etwa 1.000 und der von Vergato weitere 500. Die Gesamtzahl der Mitglieder [in der Provinz Bologna] ist in etwa 20.000. Diese setzten sich etwa zur Hälfte aus den squadre d'azione (oder principi) zusammen." Das war eine Verdopplung im Vergleich zum Vorjahr, in dem die in vier Kompanien eingeteilten Squadristen nur 5.000 Köpfe gezählt hatten. 10 Verallgemeinert man diese Angaben, so bewegte sich der Anteil der Squadren in einer Größenordnung zwischen einem Drittel und der Hälfte der faschistischen Gesamtbewegung. Im April 1922 befanden sich demzufolge etwa 73.000 bis 110.000 Squadristen unter den 220.000 Faschisten. Für die Entwicklung des Mitgliederbestandes der PNF verfugt man über parteieigene Angaben, deren Korrektheit angezweifelt werden kann. Die Partei hatte nicht durchgängig über die Mitgliederentwicklung berichtet und ihr Wachstum verschiedenen angegeben - das eine Mal in der Form einer Steigerung der Mitgliederanzahl, das andere Mal als Wachstum ihrer Parteisektionen. So lässt sich nur unter Vorbehalt schätzen, dass sich der Mitgliederbestand vom Dezember 1920 bis zum Februar 1921 offenbar um 25 Prozent gesteigert hat. Der stärkste Wachstumsschub blieb wahrscheinlich dem Jahr 1921 vorbehalten, denn vom Februar bis zum November 1921 hatte sich die Partei, gemessen an der Anzahl der Parteisektionen, um mehr als das Doppelte vergrößert (120 Prozent). Nach der Anzahl der Mitglieder, lag die Steigerungsrate von März bis Dezember 1921 sogar bei 170 Prozent. 11 9 10
11
Schreiben des Quästors von Bologna an den Präfekten in Bologna vom 23.4.1922, in: ASB, GdP, Nr. 1369, fasc.: Budrio, ohne fol. Fragebogen des Innenministeriums, ausgefüllt von der Präfektur von Bologna, Präfekt Aphel, am 8.9.1922, in: ASB, GdP, Nr. 1368, fasc. Giornale d'Assalto, ohne fol. Zum Herbst 1921: Cardoza, Agrarian Elites, S.316. Die Zahl fur den April 1922 entstammt Angaben des Innenministeriums. Die bei De Feiice abgedruckten Angaben zur Mitgliederentwicklung der „Fasci di Combattimento" sind problematisch, denn der angebliche Mitgliederschub nur innerhalb eines Monats (von April auf Mai 1922) um 100.000, also um etwa die Hälfte des Gesamtbestandes, ist unwahrscheinlich (De Feiice, Mussolini il fascista, S.8-11). Außerdem wiedersprechen die Angaben späteren faschistischen Veröffentlichungen wie etwa in der Tageszeitung: L'impero. Quotidiano fascista della sera, Nr.72 vom 24.3.1929, S.2: „Lo sviluppo del movimento fascista dal 23 marzo al 23 marzo 1929". Hiernach hatte die faschistische Bewegung am 31.12.1922 erst 299.876 Mitglieder. Gentile, Storia, S.550 schätzt eine
Wachstum und Stationen
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In dieser Zeit hatten die squadristischen Gewaltaktionen - vor allem in der Emilia, Toskana und Lombardei - ihren Höhepunkt erreicht. Die sozialistischen Funktionäre wurden verprügelt und vertrieben, die Institutionen der Arbeiterbewegung niedergebrannt, so dass die sozialistischen Gewerkschaften und Ligen dramatisch an Mitgliedern verloren, die zum Teil mit Gewaltandrohung in die faschistischen Gewerkschaften gedrängt wurden. Allein mit diesen Zwangsmaßnahmen lässt sich der Wachstumsschub jedoch nicht erklären. Die Unzufriedenheit mit der sozialistischen Bewegung wuchs zu dieser Zeit gerade bei den Mittelschichten, vor allem den Kleinbauern und Kleinpächtern, den Handwerkern, Studenten, Kleinunternehmern und Freiberuflern, die ihre Interessen nicht durch die sozialistischen Gewerkschaften vertreten sahen und zugleich immer tiefer in die ökonomische Krise gerieten. Frustration und Furcht vor einem Aufstieg der proletarischen Arbeiterbewegung trugen zu dem Mitgliederzuwachs in den faschistischen Fasci bei. Im Jahr 1922 ebbte diese Eintritts welle offenbar wieder leicht ab, denn die Partei wuchs innerhalb eines Jahres vom Dezember 1921 (218.453 Mitglieder) bis zum Dezember 1922 (291.438 Mitglieder) nur noch um 33 Prozent an. 12 Dies mochte damit zusammenhängen, dass seit dem Gewerkschaftskonvent der Faschisten in Bologna (24./25. Januar 1922) deutlich wurde, dass die faschistische „Confederazione nazionale delle corporazioni sindacali" überall waren faschistische Syndikate entstanden, aus denen sich die späteren Korporationen bildeten - auch nicht erfolgreicher gegenüber den Agrariern operierte - als die sozialistischen Parallelorganisationen vor ihr. Welchen Anteil die Squadristen an dieser Wachstumsentwicklung des Faschismus hatten, lässt sich aufgrund der mangelhaften Quellenlage nur sehr grob schätzen. Aber die oben aufgeführten Angaben legen die Vermutung nahe, dass der er mit dem Wachstum der Bewegung immer größer wurde. Für die deutsche Situation sind genauere Angaben zur Entwicklung der SA möglich. Die Angaben zur Stärke der SA sind zwar nicht durchgehend belegt, aber fur die Zeit seit Ende 1930 liegen in ausreichendem Maße interne Stärkemeldungen der SA vor, die eine Vorstellung von der Größe und dem Wachstum der Organisation erlauben.
12
realistischer anmutende Mitgliederzahl von 250.000 Faschisten in der zweiten Hälfte des Jahres 1922. Gentile. Storia, S.364, 549; De Feiice, Mussolini il fascista. S. 10/11.
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D a s Rekrutierungspotential
Schaubild 3: Entwicklung der Mitgliederzahlen der SA (1930-1932) 13 500000 450000 400000 350000 300000 Έ.
Sj 250000 < 200000 150000 100000 50000
0
Es wird berichtet, dass im November 1930 erst etwa 60.000 Männer in der SA organisiert waren. Somit wuchs die SA zwar nicht im direkten Anschlussan die Wirtschaftskrise von 1929 zu einer Massenorganisation heran, aber die Entwicklungen seit dem Jahre 1931 zeigen im Ganzen gesehen doch einen Zusammenhang zwischen der ökonomischen Krise, die nun vollends auf die Situation am Arbeitsmarkt durchschlug, und dem Wachstumsschub der SA. Von 77.000 im Januar 1931 stieg die Mitgliederzahl rasant an, auf über 118.000 im April und 192.000 im Oktober bis auf 221.000 im November des Jahres. Der größte Wachstumsschub ereignete sich im März und April. Mitte des Jahres 1931 hatte sich die SA, im Vergleich zur Zahl vom November 1930, schon verdoppelt. Ein bemerkenswertes Wachstum innerhalb einer Zeitspanne von nur einem guten halben Jahr. In der Zeit vom Oktober 1931 bis zum Juli 1932 lässt sich nochmals ein Wachstumssprung beobachten. So gab es im Januar 1932 schon 291.000 SAMänner, im Juni des Jahres waren es 397.000 und im Juli 1932 schließlich sogar 425.000 Männer, die sich der SA angeschlossen hatten. Bis zum August 1932 stieg die Mitgliederzahl weiter an, und erreichte schließlich die Ziffer 445.000. Diese Zahl markierte den größten Mitgliederbestand der SA während der gesamten Zeit der Weimarer Republik. 13
Die Zahlen zu allen hier angegebenen SA-Stärken bei: Werner, S.355, 544/545, 548-550, 552; Longerich, Bataillone, S.93, 159; Jamin, Zwischen den Klassen, S.2; Mühlberger, Hitler's Followers, S.159.
Wachstum und Stationen
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Damit gehörte die SA zu den stärksten paramilitärischen Verbänden der Weimarer Republik. Innerhalb der rechtsgerichteten Verbände hatte sie sogar den Stahlhelm überflügelt, denn dessen Mitgliederbestand schwankte in den Jahren 1926 bis 1932 (inklusive seiner Jugendorganisation „Jungstahlhelm") zwischen 320.000 und 400.000. Kleinere Verbände, wie der von Artur Mahraun geleitete „Jungdeutsche Orden" oder der „Wehrwolf, verloren seit der Stabilisierungsphase ab 1924 kontinuierlich an Mitgliedern und dürften ab 1929 nicht mehr als 100.000 Männer umfaßt haben. 14 Zwischen der Abnahme des Mitgliederbestandes der nationalen Verbände, insbesondere ihrer Jugendabteilungen, und der Zunahme der SA bestand offensichtlich ein direkter Zusammenhang. Obwohl die zögerlichen Versuche des Stahlhelms, der Kriegsjugendgeneration Monarchie und König schmackhaft zu machen, ohnehin nur geringe Erfolge gezeitigt hatten, verringerte sich die Anzahl der seit 1924 im Stahlhelm eingerichteten Jugendgruppen - des sogenannten „Jungstahlhelm" 15 - spätestens seit dem Scheitern der Harzburger Front Ende 1931. Die dramatischen Einbrüche zeigen sich beispielhaft an der Mitgliederentwicklung der schlesischen Jungstahlhelmer, die von 15.000 Mitgliedern im Juni 1931 auf 7.000 im Juni 1932 fiel. Auch der Landesverband Brandenburg verlor in der selben Periode die Hälfte seiner Mitglieder und sank bis zum Juni 1932 auf 5.000 Mitglieder ab. Diese Halbierung des Mitgliederbestandes ging oft zugunsten der SA, die ihrerseits wiederum die aggressive Abwerbung von Jungstahlhelmern betrieb. Manfred Kittel spricht in seiner Studie zum protestantischen Westmittelfranken davon, dass die rechtsgerichteten „Wehrverbände das Urstromtal der NS-Bewegung in der Region" gebildet hätten. Auch Dirk Schumann betont für die Verhältnisse in der preußischen Provinz Sachsen, daß „nicht wenige" Jungstahlhelmer seit 1930 ihren Verband verließen und sich der SA anschlossen. Durch solche Umstände bedingt, verschlechterten sich seit 1931 die Beziehungen zwischen den Führungsetagen der SA und des Stahlhelm. Ihre höhere Attraktivität gewann die SA aus ihrem Charakter als Parteiarmee, in der Politik und Militär eng miteinander verflochten waren. Zudem wurden in der NS-Bewegung die Jugendlichen ernster genommen als im Stahlhelm. 16
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Mitgliederzahlen zum Stahlhelm bei: Berghahn, S.286; Götz von Olenhusen, Jungstahlhelm, S.176; Diehl, S.293/294. Erst nach der Machtübernahme durch Hitler verzeichnete der Stahlhelm Massenbeitritte, die seinen Bestand sprunghaft auf 750.000 Mitglieder ansteigen ließ. Genauere Zahlenangaben zu den rechten Wehrverbänden bei Diehl, S.294/295; Mommsen, Militär, S.265-269. In diese Unterorganisation wurden die 18- bis 25jährigen Männer zwecks Sport und Leibesertüchtigung aufgenommen. Götz von Olenhusen, Jungstahlhelm, S.155-180, 174/175 (Zahlen); Fischer, Stormtroopers, S.186/187; Kittel, S.597 (Zitat); Schumann, Politische Gewalt, S.281 (Zitat). Ausführlich dazu: Tautz, Joachim: Militaristische Jugendpolitik in der Weimarer Republik. Die
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Das Rekrutierungspotential
Das rasante Wachstum der SA 1931 verlangsamte sich im Folgejahr, da nunmehr ein guter Teil des Reservoirs der rechten Verbände schon abgeschöpft worden war. Um den Mitgliederbestand nochmals zu verdoppeln, verging anstatt eines halben ein knappes Jahr - vom November 1931 zum August 1932. Für die Monate von August 1932 bis zum Ende der Weimarer Republik liegen nur Stärkemeldungen der SA vor, die die SA-Motorstürme unberücksichtigt lassen. Die Zahlen von September bis Dezember 1932 zeigen jedoch, dass die Mitgliedsentwicklung nunmehr sogar leicht rückläufig war. Während für den September noch 446.000 SA-Männer angegeben wurden, fiel die Zahl in den folgenden Monaten und erreichte im Dezember 1932 eine Stärke von 427.000 Mann. Zum Zeitpunkt der sogenannten Machtergreifung gab es also etwa 430.000 SA-Männer. Offenbar hatte sich die schubartige Entwicklung der letzten zwei Jahre erschöpft. Der Nimbus vom unaufhaltsamen Aufstieg der Bewegung begann zu bröckeln. Trotz des Wahlerfolgs vom Juli 1932 war Hitler Mitte August 1932 in den Geheimverhandlungen um eine Kanzlerschaft gescheitert - eine empfindliche Niederlage fiir sein Prestige als Parteiführer. Goebbels notierte in sein Tagebuch: „Nichts ist schwieriger, als einer siegesgewissen Truppe zu sagen, daß der Sieg aus den Händen geronnen ist". Die Enttäuschung traf zudem auf eine durch interne Krisen belastete NS-Bewegung, denn Teile der SA favorisierten in verstärktem Ausmaß einen gewaltsamen Weg der Machterringung. Die SA war durch die vielen Wahltermine des Jahres 1932 schon seit Jahresbeginn permanent im Einsatz gewesen, und nun erreichte die Entwicklung, angesichts der Erfolglosigkeit der Parteiführung, einen kritischen Punkt: Frustration machte sich breit, die Organisation kam folgerichtig nicht mehr voran. 17 Da ein erheblicher Anteil der Nationalsozialisten im paramilitärischen Flügel der Bewegung organisiert war, kann es nicht verwundern, dass das Wachstum der NSDAP weitgehend parallel zum Wachstum der SA verlief. Leider liegen keine zuverlässigen Zahlen über den Mitgliederbestand der NSDAP vor. Bekannt ist jedoch, dass sich zwischen der Septemberwahl 1930 und dem Januar 1933 die Zahl der ausgegebenen Mitgliedsbücher von 300.000 auf 1.435.530 vergrößerte. Diese Zahl spiegelt jedoch, aufgrund von Lücken in der Vergabe der Mitgliedsnummern und zwischenzeitlichen Parteiaustritten, nicht die tatsächliche Mitgliederzahl wider. Übereinstimmend betont die Forschung eine hohe Fluktuationsquote innerhalb der Parteimitgliedschaft. Danach waren etwa 40-50 Prozent der Mitglieder schon vor 1933 wieder aus der Partei ausgetreten. Da die freiwerdenden Mitgliedsnummern nicht neu besetzt
17
Jugendorganisationen des Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten (Jungstahlhelm Scharnhorst, Bund deutscher Jungmannen). Regensburg 1998. Tagebücher von Joseph Goebbels, Bd.2 (Eintrag voml3.8.1932). Vgl. Kapitel 2.3.3.
und
Wachstum und Stationen
261
wurden, klaffen die parteieigenen Angaben über die Mitgliedsnummern und die tatsächliche Stärke der NSDAP weit auseinander. Bekannt sind aber punktuelle Angaben. So gab es während der Septemberwahl von 1930 exakt 129.563 Nationalsozialisten und fur den Zeitpunkt des 30. Januar 1933 wird ein Mitgliederbestand von etwa 850.000 Nationalsozialisten angenommen. Daraus ergibt sich, dass gegen Ende des Jahres 1930 um die 40 Prozent der Parteimitglieder der SA angehörten und zum Zeitpunkt der „Machtergreifung" schon mehr als die Hälfte der Nationalsozialisten Mitglieder der SA gewesen waren. Eine stichprobenartige regionale Überprüfung für Ostpreußen bestätigt diesen hohen Anteil der SA: im Juni 1931 gab es dort 11.700 NSDAP-Mitglieder und zugleich 5.390 SA-Leute, also stellte die SA auch hier 46,1% des NSDAP-Bestandes. 18 Somit zeigt sich eine starke Parallelität zwischen den faschistischen Bewegungen Italiens und Deutschlands, da es sich bei beiden um stark paramilitärisch geprägte soziale Bewegungen handelte, in denen jeder zweite Faschist dem paramilitärischen Flügel der Bewegung angehörte. Dieser Anteil der Miliz am Mitgliederbestand der Bewegung war ungewöhnlich hoch und wurde von keiner anderen politischen Gruppierung erreicht. Am ähnlichsten waren die Verhältnisse noch bei den deutschen Kommunisten. Aber selbst hier erreichte man ein 'zivileres' Verhältnis von kämpfender Parteimiliz und Parteiorganisation. Aufgrund der starken Fluktuation in der kommunistischen Bewegung liegen unterschiedliche Zahlenangaben über den Bestand von KPD und dem seit 1929 illegalen RFB sowie dem „Kampfbund gegen den Faschismus" (KgdF) vor. Je nach Berechnungsgrundlage schwankt der Anteil der Milizionäre unter den Kommunisten zwischen knapp der Hälfte (46 Prozent) und weniger als einem Drittel (27 Prozent) des Mitgliederbestandes der KPD, der Ende des Jahres 1932 zwischen 320.000 und 360.000 Mitgliedern lag. 19 Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass sowohl der RFB als
18
Zur Mitgliederentwicklung der NSDAP siehe: Tyrell (Hrsg.), Führer befiehl, S.352; Horn, Führerideologie, S.379 (Anm.224); Brustein, Logic, S.14 und S.200 (Anm.53); Childers, Nazi Voter, S.194; Jamin, Zwischen den Klassen, S. 1/2. Zu Ostpreußen: Schreiben des Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen an den Preußischen Minister des Innern vom 9.10.1931, in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4034, Nr.310, fol.207/208 (M). JeanChristoph Caron hat den Anteil der lippischen SA-Männer unter der regionalen Parteigenossenschaft am Ende des Jahres 1932 mit 30 bis 40 Prozent beziffert (Inszenierte Ehre im Fest des „Dritten Reiches". Die Ehrung der nationalsozialistischen Aktivisten auf dem „Erinnerungstreffen" im Land Lippe, 1934-1939. Magisterarbeit Universität Bielefeld 1998, S.33-53). Solche Berechnungen setzen allerdings voraus, dass alle SA-Männer Mitglied der NSDAP waren, was durchaus nicht zutraf (siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 2.3.3).
19
Zahlen bei Winkler, Weg in die Katastrophe, S.312, Anm.115 und S.595; SchmiechenAckermann, Nationalsozialismus, S.387 und 389, Anm.61. Hierbei ist allerdings noch nicht berücksichtigt, dass die Mitglieder der Kampfbünde nicht immer der kommunistischen Partei angehörten.
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Das Rekrutierungspotential
auch der KgdF spätestens seit Ende 1931 dramatisch an Mitgliedern verloren. Gerade dem KgdF wurde von der Parteileitung keine hohe Effizienz bescheinigt, und die Mitgliederentwicklung war - nach kurzem Höhenflug - wieder rückläufig. So war etwa die Mitgliederzahl des Berliner KgdF von 6.000 bis 7.500 Mitgliedern im Mai 1931, dem Höhepunkt der Mitgliederentwicklung, auf gerade einmal 2.000 im August 1932 zusammengeschrumpft. Auch im KPD-Bezirk Magdeburg-Anhalt schmolz der Mitgliederbestand von 3.500 (Juli 1931) auf 300 Mitglieder ein Jahr später zusammen. Ähnlich verhielt es sich mit dem illegalen RFB und der wegen Erfolglosigkeit im Sommer 1931 aufgelösten „Antifaschistischen Jungen Garde". 2 0 Vergleicht man Squadrismus und SA, so fallt zunächst ins Auge, welch enorme Wachstumsraten beide Kampfbünde zu verzeichnen hatten. Die Mobilisierung war, parallel zur rasanten Entwicklung der beiden faschistischen Bewegungen insgesamt, in extrem kurzer Zeit erfolgt. Auch die Kommunisten, die ebensolche Nachzügler auf der politischen Bühne waren, konnten mit den Wachstumsschüben der Faschisten nicht konkurrieren. Durch die Wachstumsdynamik, die sich mit einem pausenlosen Aktivismus und „Erneuerungspathos" (Broszat) der faschistischen Kampfbünde verband, mochten die Mitglieder den - letztlich illusorischen - Eindruck bekommen haben, man könne sich allen sozialen Zwängen durch die Demonstration gemeinsamer Stärke und entschiedener Gewaltausübung entziehen. „Uns kann keiner", so oder ähnlich mag die Attraktivität des Kampfbund-Kollektivs alltagssprachlich ausgedrückt worden sein. Detlev Peukert hat für den Nationalsozialismus prägnant formuliert, was für den italienischen Faschismus ebenso gültig war: „Bewegung in Permanenz, Bewegung um ihrer selbst willen, Bewegung als ständiger Beweis vorwärtsdrängender Dynamik: das war das Credo der NSDAP". Was die Attraktivität der Faschisten ausmachte, war die Verbindung des Images einer unverbrauchten Kraft von mitreißender Dynamik mit der Absorption aller Unzufriedenen und Deklassierten in einer klassenübergreifenden und radikalen Systemalternative. Die Ästhetisierung des Aufbruchs in militanten Bildern, die Stilisierung des rasanten Wachstums in einer Rhetorik der Unaufhaltsamkeit und die sakralisierten Erlösungsrituale unterstrichen die auf eine klassenübergreifende Volksgemeinschaft ausgerichtete Sicht der Faschisten. 21 Der hohe Anteil der faschistischen Kampfbünde an den beiden Gesamtbewegungen bewirkte, dass der Faschismus vor allem den Charakter einer straff 20
21
Zum Kommunistenanteil in den Kampfbünden: Mallmann, Kommunisten, S.197, 372, 376, Anm. 487 auf S.510 (mit weiterführender Literatur); Finker, Geschichte, S.38. Zu den KPDMitgliedern: Winkler, Weg in die Katastrophe, S.595. Zur Mitgliederentwicklung der Kampfbünde: Schmiechen-Ackermann, Nationalsozialismus, S.381, 385-396; Wirsching, Weltkrieg, S.566-570; Schumann, Politische Gewalt, S.290-292. Peukert, Weimarer Republik, S.232/233 (Zitat). Vgl. Schieder, NSDAP, S.142-145; Broszat, Struktur, S.52-76.
Wachstum und Stationen
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organisierten und einheitlichen Glaubens- und Kampfgemeinschaft glaubhaft machen konnte. So wurde die Idee vom Kampf als dem zentralen Merkmal der faschistischen Lebensweise wirkungsvoll unterstrichen. Der Kommunismus war in dieser Hinsicht den faschistischen Bewegungen am ähnlichsten, wobei der Vergleich der faschistischen Bewegungen untereinander stärkere Ähnlichkeiten aufweist als der Vergleich von Rechts- und Linksradikalen. 3.1.2 Hochburgen: Ländlicher Squadrismus versus städtische SA? Eine gesellschaftlich wie numerisch entscheidende Bedeutung erlangte der Faschismus erstmals in Julisch-Venetien. In Triest - der neuntgrößten Stadt Italiens mit fast 240.000 Einwohnern - konnten für das Jahr 1920 154 Squadristen namentlich aufgelistet werden. Der städtische Fascio war zum damaligen Zeitpunkt der größte Italiens und genoss die Sympathien des städtischen Bürgertums. Ein antislawischer Chauvinismus und militanter Antisozialismus bildete die Grundlage des örtlichen Squadrismus, wobei sein paramilitärischer Aufbau zum Muster für die Squadren in ganz Italien wurde. In der Frühphase der Jahre 1919 und 1920 war der Squadrismus noch keine Massenbewegung und blieb, außerhalb Julisch-Venetiens, auf einige norditalienische Städte begrenzt. 22 Ein ländlicher Squadrismus war so gut wie nicht existent. Wie in Deutschland entwickelte sich der italienische Faschismus aus den militanten nationalen Gruppen. Es waren hier wie dort die in den Grenz- und Nationalitätenkämpfen involvierten rechtsradikalen Organisationen, die Fiumelegionäre unter D'Annunzio und die Freikorps in Schlesien, die die Keimzellen der faschistischen Gruppen bildeten. 23 Etwa ab Mitte des Jahres 1921 wuchs der Faschismus rasant an. Nun bildeten sich die eigentlichen Hochburgen des Squadrismus heraus und machten ihn zu einer Massenbewegung. Diese Hochburgen lagen zweifellos in der PoEbene, in denen der Sozialismus schon seit der Jahrhundertwende stark war und bis wenige Monate vor der Jahreswende 1921/22 seine stärksten Bastionen besaß. Bei den Parlaments- und Kommunalwahlen hatten die Sozialisten hier, vor allem in den wenigstens 100.000 Einwohner zählenden Städten, ihre höchsten Stimmengewinne erzielt. So erhielten sie etwa bei den Parlamentswahlen von 1913 - und das war durchaus typisch - in der Stadt Bologna 45,8
22
23
Apih, S.114-143; Lyttelton, Seizure, S.53/54; Gentile, Storia, S.132-135; Engelmann, Provinzfaschismus, S.22/23. Zum Fascio von Triest: Chiurco, Storia, Bd.2, S. 310/311; Istituto Centrale di Statistical Censimento della popolazione del Regno d'Italia al 1. dicembre 1921, Bd. XIX: Relazione Generale. Rom 1928, S.106. Vgl. Lyttelton, Adrian: Italian Fascism, in: Laqueur, Walter (Hrsg.): Fascism. A Reader's Guide. London 1976, S.134/135; Revelli, Italy, S.13-16. Thamer, Nationalsozialismus, S.19, 46.
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Das Rekrutierungspotential
Prozent; bei den Parlamentswahlen von 1919 sogar 63,1 Prozent der Stimmen. Die roten Gemeindeverwaltungen waren für die dort ebenfalls sehr starken Gewerkschaften von Vorteil: notfalls konnten die Landarbeiter mit öffentlichen Arbeitsprojekten beschäftigt werden, man lieferte in den Wintermonaten Zuschüsse und Subventionen, organisierte soziale Programme und übte politischen Einfluss aus. 24 Die squadristische Gewalt richtete sich in diesen Gegenden gegen das ganze Spektrum der „roten Tyrannei" - von der sozialistischen Gemeindeverwaltung über die Gewerkschaften, Kooperativen, Zeitungen und Parteien bis hin zu den Freizeitorganisationen. Unzweifelhaft waren Bologna und Ferrara die Zentren des Squadrismus in der Emilia. Diese Squadristen setzten ihre Einheiten auch in Modena, Reggio Emilia, Parma, Cremona oder Pavia ein, um die örtlichen Einheiten zu unterstützen. Bis nach Venetien (Rovigo, Padua, Verona und Vicenza) reichte der Wirkungsgrad von Balbos motorisierten Squadrenverbänden aus Ferrara. Symptomatisch war ein Rundschreiben des Parteisekretärs Michele Bianchi vom 31. Juli 1922, der angesichts des bevorstehenden nationalen Generalstreiks der sozialistischen „Alleanza del Lavoro" die Squadristen aus Bologna und Ferrara anwies, „einen Teil ihrer Kräfte an die Faschisten der Romagna und von Ancona abzugeben". 25 Diese regionale Stärkeverteilung des Squadrismus korrespondierte freilich auch mit der der faschistischen Partei. So wohnten Mitte 1922 63 Prozent der Faschisten in Norditalien, aber nur 23 Prozent in Mittel- und gar nur 11 Prozent in Süditalien (drei Prozent entfielen auf die Inseln). In Norditalien war es vor allem die Lombardei mit ihren Mitgliederhochburgen in Cremona, Mantua und Pavia, sowie die Emilia und die Toskana, die zusammen deutlich über 50 Prozent der norditalienischen Faschisten beheimateten. 26 Bis zum „Marsch auf Rom" blieb die PNF eine politische Bewegung der agrarischkleinindustriellen und mit wichtigen Agrostädten durchsetzten Gebiete Nordund teilweise auch Mittelitaliens, die sich durch ein gemischtes System der Landbearbeitung auszeichneten, da hier sowohl die Pächter und Halbpächter als auch die Landarbeiter einen wichtigen Anteil der Landwirtschaft ausmachten. Die industriellen Metropolen Turin und Mailand sowie weite Teile des rückständigen Südens (mit Ausnahme Apuliens) können in diesem Prozess der Durchsetzung des Faschismus hingegen als retardierende Elemente angesehen werden. 27
24 25
26 27
Neben vielen anderen siehe: Petersen, Wählerverhalten, S. 120-136; Tasca, S.230; Cardoza, Agrarian Elites, S.345/346; Balbo, Diario, S . l l . Corner, Fascism, S.137, 183; Zitat: Chiurco, Storia, Bd.4, S.193. Zudem wurden die Squadristen aus Carrara, der Lomellina und der Provinz Alessandria angewiesen, die Faschisten in der Region um Genua zu unterstützen. Gentile, Storia, S.550; De Feiice, Mussolini il fascista, S. 6, 8-11; Revelli, Italy, S.14. Vgl. dazu Granata, Storia nazionale, S.524-540; Corner, Fascism, S.121,137, 162.
Wachstum und Stationen
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Auf die sozialen Ursachen des Wachstums von Faschismus und Squadrismus in den Regionen der Emilia wird im folgenden Abschnitt ausführlich eingegangen. Die politischen Gründe für die begrenzte Präsenz des Faschismus in einigen Gegenden Mittel- und ganz Süditaliens waren von Provinz zu Provinz recht unterschiedlich. Generell war es das Fehlen einer starken und aggressiven sozialistischen Bewegung, das es den Faschisten erschwerte, dort Fuß zu fassen. Zudem war der Platz am rechten Rand des politischen Spektrums oft schon durch traditionelle nationale Bewegungen wie die ANC oder der „Partito d'azione" besetzt. In manchen Regionen Süditaliens wie in Kalabrien mangelte es der faschistischen Bewegung auch an einflussreichen und fähigen Führern. 28 Die städtischen Ursprünge des Faschismus lassen sich zum Teil noch für die Jahre 1921 und 1922 nachweisen, als der Faschismus sukzessive mit ländlichen Elementen durchmischt wurde. In der Provinz Reggio Emilia etwa kamen Anfang 1923 40,3 Prozent der Squadristen aus der Provinzhauptstadt, während der entsprechende Bevölkerungsanteil lediglich bei 23,3 Prozent lag. 29 Ein Befund, der sich auch in der Marmorregion Massa-Carrara zeigt, denn gut 46 Prozent der Squadristen kamen aus den beiden Provinzhauptstädten, in denen aber nur 19 Prozent der Bevölkerung lebten. Gleichwohl verlief die relative Rekrutierung im Bergland der Provinz erfolgreicher als in der Stadt Carrara selbst. 30 Während das Aktionsfeld der Squadristen vornehmlich in den ländlichen Gebieten lag, ist also der Wohnort nicht immer entsprechend zuzuordnen und war offenbar häufig städtischen Ursprungs. Adrian Lyttelton hat schon früh daraufhingewiesen, dass viele squadristi in den Provinzhauptstädten lebten. 31 Frank Snowden hat in seiner Studie zum toskanischen Faschismus zudem darauf aufmerksam gemacht, dass das dichotome Bild der italienischen Forschung vom städtischen und ländlichen Faschismus - wobei ersterer eine kleine Gruppe Gebildeter aus der unteren Mittelklasse bezeichnet und letzterer das wirkliche Massenphänomen des gewalttätigen Squadrismus meint - problematisch ist: „The problem in relation to Tuscany is that urban squadrists
28 29
30
31
Sechi, S.316-330; Gentile, Storia, S.551 -556. Cavandoli, S.133 (277 von 688 untersuchten Squadristen kamen aus der Hauptstadt). Für die Stadt-Land-Bevölkerungsverhältnisse: Direzione Generale della Statistical Annuario Statistico Italiano. Seconda Serie, Bd.VIll. Anni 1919-1921. Indici Economici al 1924. Rom 1925, S.33). Engelmann, Provinzfaschismus, S.153/154, 86; Direzione Generale della Statistica: Risultati sommari del Censimento della popolazione eseguito il 1° dicembre 1921, Bd.VII: Toscana. Rom 1925, 6/7. Lyttelton, Faschismus, S.316; Tasca, S.379.
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Das Rekrutierungspotential
from the capital played the decisive part in the destruction of agrarian socialism". 32 Die strikte Trennung zwischen Stadt und Land ist ohnehin fragwürdig, weil im modernen Nord- und Zentralitalien, namentlich dem Veneto, der Lombardei, der Emilia und Toskana - allesamt Hochburgen des squadrismo, in denen zwischen 60 und 70 Prozent der Faschisten beheimatet waren - das flache Land (le Campagne) vielfach ein Anhängsel der modernen Agrostädte war und eng mit ihnen verwoben war. Auch wohnten nicht wenige agrarische Grundbesitzer in der Stadt, so dass ländliche Belange mit Leben und Politik der Stadt verflochten waren. Es gab, wie Snowden geschrieben hat, eine „convergence of interests between town and countryside". Von den vor allem ländlichen Aktionsfeldern sollte also nicht unmittelbar auf die ländliche Rekrutierung des Squadrismus geschlossen werden. 33 Diese Einschätzung läßt sich jedoch nicht durchgängig bestätigen, denn der Anteil der städtischen Squadristen sank mit dem Wachstum des Faschismus. Die Organisierungsquote auf dem Lande stieg tendenziell an. Von den 687 Squadristen der Provinz Bologna etwa, deren Wohnort für die Jahre 1921 oder 1922 nachgewiesen werden konnte, kamen nur 124 aus der Hauptstadt. Während also lediglich 18 Prozent der Squadristen aus der Provinzhauptstadt kamen, war der entsprechende allgemeine Anteil unter der Bevölkerung mit 31,7 Prozent wesentlich höher. 34 Eine genaue Gewichtung des Verhältnisses zwischen städtischem und ländlichem Wohnsitz der Squadristen ist aufgrund unvollständiger Mitgliederlisten nicht mehr möglich. Zudem ist der Aufstieg des italienischen Faschismus in großstädtischen Gebieten bislang ein vernachlässigtes Forschungsfeld geblieben, auch wenn einige Ziffern für den März 1921 überliefert sind, die nahelegen, dass der Faschismus hier nicht hatte Fuß fassen können. So gab es zu diesem Zeitpunkt in Rom nur 1.480 Faschisten, in Turin 581, in Genua 2.470 und in Mailand nicht mehr als 6.000 Faschisten. 35
32 33 34
35
Snowden, Fascist revolution, S.208. Zum Stadt-Land-Faschismus der italienischen Forschung siehe: Granata, Storia nazionale, S.503-544. Zuerst: Salvatorelli, S.21. Hunecke, Agrargeschichte, S.316,320; Snowden, Fascist revolution, S.209 (Zitat); Revelli, Italy, S.14. Sample Reichardt-Bologna. Von den 645.989 Einwohnern der Provinz wohnten im Jahre 1921 205.058 in der Hauptstadt Bologna (Direzione Generale della Statistica: Annuario Statistico Italiano. Seconda Serie, Bd. VIII. Anni 1919-1921. Indici Economici al 1924. Rom 1925, S.31; Istituto Centrale di Statistica: Censimento della popolazione del Regno d'Italia al 1° dicembre 1921, Serie VI, Bd.VIll: Emilia. Rom 1927, S.5). Vgl. ferner: Lyttelton, Faschismus, S.316/317. Lyttelton, Adrian: Italian Fascism, in: Walter Laqueur (Hrsg.), Fascism. A Reader's Guide. Analyses, Interpretations, Bibliography, London 1976, S.134/135; Corner, Fascism, S. 121.
Wachstum und Stationen
Ländliche
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SA-Basis
Für die SA ist aufgrund der bruchstückhaft überlieferten Mitgliederlisten unklar, wie hoch der Anteil der städtischen SA-Männer tatsächlich war. 36 Die NSDAP selbst war es, die immer wieder das Bild von einer städtisch geprägten SA beschwor. Symptomatisch hieß es in einem Artikel des „Völkischen Beobachters" vom Mai 1930: „Als der Nationalsozialismus begann, in Norddeutschland und überhaupt außerhalb Münchens Fuß zu fassen, da waren es in erster Linie die Gruppen in den Industriegebieten, die mit unglaublicher Zähigkeit die Idee vorwärts trugen und einen Stamm von Menschen vereinigten, die selbst den Teufel aus der Hölle zu holen bereit waren. Die größten bayrischen Industriestädte, Nürnberg und Pirmasens sind nationalsozialistische Hochburgen, das industrielle Sachsen zählt zu den Gauen, die die meisten Braunhemden aufmarschieren lassen können, die Ruhr, Berlin, Hamburg und andere zählen zu den stärksten Stützpunkten der Bewegung." 37 Für die SA-Führer traf dieses Propagandabild durchaus zu, denn diese zeichneten sich durch eine ausgeprägt städtische Herkunft aus, wobei vor allem die Mittel-, aber auch die Großstädte überrepräsentiert waren. Die Herkunft aus ländlichen Gemeinden hingegen war bei den SA-Führern stark unterrepräsentiert. Während nur 13,6 Prozent der SA-Führer in Orten unter 2.000 Einwohnern wohnten, war dies bei der allgemeinen Bevölkerung zu knapp 33 Prozent der Fall. 38 Für die SA-Basis hingegen liegen die Befunde anders. Schon wenige Stichproben zeigen, dass die SA keineswegs städtisch geprägt war. Im Regierungsbezirk Königsberg etwa kamen im Oktober 1930 fast 30 Prozent der 917 SA-Männer aus der Zentralstadt Königsberg, während auch die allgemeine Bevölkerung des Bezirkes zu 31,5 Prozent in der Stadt wohnte. Das in etwa ausgeglichene Verhältnis änderte sich aber zu Ungunsten der städtischen SAMänner, deren Anteil im Juni 1931 auf 7,3 Prozent fiel (323 von 4.450 Männern). Das bedeutet nichts weniger, als dass der Massenzuzug zur ostpreußischen SA offensichtlich ländlicher Natur war. 3 9 Detlev Mühlbergers Sample, das er aus verschiedenen Regionen (Baden, Hessen-Nassau, Provinz Hannover, Provinz Westfalen) gewonnen hat, weist bei 32,7% der SA-Männer einen Wohnort in Gemeinden unter 2.000 Einwohnern nach und bei weiteren 36% einen Wohnort in Gemeinden von 2.000 bis 4.999 Einwohnern. Aus den
36 37 38 39
Siehe dazu Bessel, Political Violence, S.33-39 und 44. Role: Brüder aus Zechen und Gruben, in: Völkischer Beobachter Nr.125 vom 28.5.1930, S.3. Jamin, Zwischen den Klassen, S.94, 100, 369. Bessel, Political Violence, S.29/30, 37. Im Regierungsbezirk wohnten 1925 911.787 Menschen, während die Stadt Königsberg im gleichen Jahr 287.312 Einwohner hatte (Statistisches Reichsamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 50. Jahrgang, 1931. Berlin 1931. S.6 und 10).
268
Das Rekrutierungspotential
Großstädten über 100.000 Einwohnern kamen hingegen nur 17,6 Prozent der SA-Leute. 40 Wenngleich Mühlbergers Sample nicht repräsentativ ist, so lässt sich der aus seinen Daten gewonnene Eindruck einer stark ländlichen SA mit weiteren Beispielen erhärten. Auf einer SA-Führerbesprechung am 15. und 16. September 1931 gab Röhm bekannt, dass sich die Grenzen der SA-Gruppen „im allgemeinen in Preußen mit den Grenzen der Provinzen decken, während sie in den übrigen deutschen Freistaaten und in Österreich den dort üblichen Verwaltungsbezirken entsprechen". 41 Auf dieser Tagung bezeichnete der Leiter der Abteilung I beim SA-Stabschef, General von Hörauf, die SA im Rheinland, in Schlesien, Ostpreußen und Schleswig-Holstein als „sehr gut organisiert". 42 Vergleicht man die Stärkemeldungen der SA-Gruppen im November 1931 mit der männlichen Wohnbevölkerung in den entsprechenden Provinzen, so zeigt sich, dass die SA ihre (relativ zur Bevölkerungszahl) stärksten Mannschaften vor allem in den nordöstlichen Regionen des Reiches rekrutierte. Die SA-Gruppen und Untergruppen im Ostland, in Schlesien, Pommern, der Ostmark und Mecklenburg waren doppelt so stark wie im übrigen Reich. Vor allem aber in Norddeutschland, wie die Gruppe Nordmark in Schleswig-Holstein deutlich macht, war die SA mehr als viermal so stark wie im Reichsdurchschnitt. Selbst die nordöstlichen SA-Gruppen wurden von der SA-Nordmark um das doppelte übertroffen. Es waren somit die ländlich geprägten Regionen, in denen die SA stark war, während sie im verstädterten Ruhrgebiet schwach blieb. Zwar zeigt sich auch Thüringen als SA-Hochburg, aber im Durchschnitt blieb das industriell geprägte Sachsen unterrepräsentiert, und Hannover, Hessen, Baden, Oberbayern und Franken waren nur durchschnittliche bis schwache Regionen fur die SA. Unterentwickelt war die SA im katholisch-süddeutschen Raum und in Halle-Merseburg, Niederschlesien sowie in den Großstädten. Besonders in den katholisch-industriellen Arbeiterregionen, in den Bezirken Düsseldorf und Köln-Aachen, wird dies deutlich. Hier war die SA mehr als doppelt so schwach wie im nationalen Durchschnitt. Entsprechend blieb auch die Wachstumsrate in den südlichen Gauen zurück. So wuchs nach einer Auswertung Eric Reiches die süddeutsche SA im Jahre 1931 nur um 30 Prozent an, während sie in ausgewählten Regionen Nord- und Westdeutschlands im gleichen
40 41
42
Mühlberger, Hitler's Followers, S. 179 (N=305). Der Polizeipräsident an den Preußischen Minister des Innern vom 5.10.1931, in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4034, Nr.310, fol.309-311 (M). Schon 1926 wurde festgelegt, dass die Gaustürme der SA sich an den Gaugrenzen der NSDAP orientieren sollten (Horn, Führerideologie, S.289). Der Oberste SA-Führer an die Gruppenführer der SA vom 28.8.1931, in: BAB (ehem. BÄK), Sammlung Schumacher, Ordner 403, ohne fol.
Wachstum und Stationen
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Zeitraum um 60 bis 70 Prozent anstieg. Ähnlich dünn vertreten wie im Süden war die SA auch in den Großstädten Hamburg und Berlin. 43 Vom Aufbau der Berliner SA kann eigentlich erst seit 1927 gesprochen werden. Erst ab 1930 kam sie über den Status einer Sekte hinaus. Auch die sächsische SA hatte 1929, nimmt man Dresden und Leipzig zusammen, erst 600 Mitglieder. 44 Dem stand eine starke SA im ländlichen Schleswig-Holstein gegenüber, die schon früh von den rechtsgerichteten Organisationskernen diverser militanter Vorläuferorganisationen - vom Jungstahlhelm über den Werwolf bis zum Bund Wiking und dem Jungdeutschen Orden - profitieren konnte, weil diese in die örtliche SA integriert wurden. Die SA-Untergruppe Nordmark bildete im Oktober 1931 mit über 12.000 Mitgliedern die stärkste Untergruppe des gesamten Reiches. Angesichts der relativ geringen Bevölkerungsdichte in der Region (Hamburg und Hannover bildeten eigene Untergruppen) fiel dieser hohe Organisationsgrad umso deutlicher ins Gewicht. Auch in den ländlichen Regionen der SA-Gruppe Ostland betrug die Mitgliederzahl zu diesem Zeitpunkt schon 9.745 Mann. In Pommern hatte die SA schon 7.856 Mitglieder aufzuweisen. Die SA-Gruppe Schlesien stellte mit 13.715 Mitgliedern im Oktober 1931 eine Hochburg der SA dar. Bis zum August 1932 konnte sie ihren Mitgliederbestand noch einmal fast verdreifachen (36.106 Mitglieder). In Schlesien wie Ostpreußen profitierte die SA, wie schon in der Nordmark, von der vorgängigen Präsenz nationalistischer Wehrverbände, Freikorpstruppen, dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund und der Vielzahl kleiner völkisch-nationaler Verbände. Vor allem die DNVP und der Stahlhelm waren es, die in der Zeit von 1919 bis zur Mitte der zwanziger Jahre die Grundkerne für ein rechtsnational-evangelisches Milieu gelegt hatten, das dann von der NS-Bewegung abgeschöpft wurde. Entscheidend für die SA-Erfolge war die Einbindung der bäuerlichen und mittelständischen Sympathisanten, Wähler und Anhänger dieses Milieus, die sich vor ihrer Proletarisierung fürchteten. 45 In der Berliner SA dagegen waren im August 1930 erst etwa 2.000 SAMänner organisiert. Im April 1931 war die Mitgliederzahl auf cirka 3.300 Mann angestiegen, und im November des Jahres zählte sie 4.000 Köpfe - das war knapp die Hälfte der etwa 10.000 Mitglieder der Berlin-Brandenburger
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44 45
Eigene Berechnung nach: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.311, fol.37; Statistisches Jahrbuch für das deutsche Reich, 51. Jg., 1932. Berlin 1932, S.5-10; Reiche, Development, S.103. Zur SA in Halle-Merseburg auch: Schumann, Politische Gewalt, S.224, 227, 283. Reichardt, Gewalt, S.39-61; Szejnmann, Claus-Christian Werner: The Rise of the Nazi Party in Saxony between 1921 and 1933. Ph. D. Thesis, King's College London 1995, S.84. Rietzler, S.259-275; Heberle; Wulf, Peter: Die politische Haltung des schleswigholsteinischen Handwerks 1928-1933. Köln/Opladen 1969; Bessel, Political Violence. S.1321; GStA PK, 1. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.311, fol.37; Broszat, Machtergreifung, S.112-117. Als Quellen interessant: Zimmer; Killinger, Kampf.
270
Das Rekrutierungspotential
SA. Erst zu Beginn des Jahres 1932 stieg die Mitgliederzahl deutlich an. Die Berliner SA war jetzt mit den Brandenburger Verbänden zusammengefasst worden und zählte etwa 20.500 Mann. Im Juni und August 1932 betrugen die Ziffern 27.000 bzw. 31.000. Im Januar 1933 befanden sich dort etwa 60.000 SA-Männer. 46 Die Berliner Mitgliederentwicklung war typisch für die Großstadtreviere, in denen sich die SA ausgesprochen spät entwickelte. Hier rekrutierte sie sich vergleichsweise stärker aus den linksradikalen und kommunistischen Organisationen und weniger aus dem Reservoir der rechtsradikalen Verbände, die in den ländlichen Gegenden Nord- und Ostdeutschlands von zentraler Bedeutung waren. Das linke Großstadt-Reservoir brachte der SA jedoch im Allgemeinen einen wesentlich schwächeren Zuwachs. Die städtisch strukturierten SA-Untergruppen Berlin, Hamburg, Düsseldorf und Köln-Aachen rangierten hinsichtlich des von ihnen erfassten Prozentsatzes der männlichen Wohnbevölkerung allesamt am unteren Ende der SA-Einheiten.47 Aufgrund der nur bruchstückhaft überlieferten Mitgliederverzeichnisse und Stärkemeldungen lässt sich dieser Befund nicht durchgängig und exakt belegen. Der außerordentlich spät einsetzende Massenzuzug zur städtischen SA wird dennoch aus den fragmentarisch überlieferten Stärkemeldungen sichtbar.
46
Zu den Zahlen: Broszat, Machtergreifung, S.49; Werner, S.545, 548, 550/551; Engelbrechten/Volz, S.22; Schmiechen-Ackermann, Nationalsozialismus, S.175/176; Vossische Zeitung vom 10.4.1931; Diels, S.213. Engelbrechten gibt folgende Stärkemeldungen: 1928: 800 Mann; Anfang 1930: ca. 3000; April 1931: 3100; Februar 1932: 15.000; April 1932: 16.000; Juli 1932: 25.000 (SA und SS); Januar 1933: 32.000 (Engelbrechten, S.46, 73, 98, 123, 206, 213, 234, 253). Die Anzahl der sogenannten Septemberlinge, die nach der Reichstagswahl vom September 1930 eintraten, dürfte aber höher gewesen sein (siehe Broszat, Machtergreifung, S.60-64 und Werner, S.511/512).
47
Eigene Berechnung nach: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.311, fol.37; Statistisches Reichsamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 51. Jg., 1932. Berlin 1932, S.5-10.
Wachstum und Stationen
271
Tabelle 8: Stärke der SA in einigen deutschen Großstädten 48 Jahr
München
1921 1922
300
1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931
3.000
1932 1933
Nürnberg
Berlin
120180 800
420 1.600
5.000
2.500 3.000
Stuttgart
Bremen
Hamburg
Düsseldorf
100
500 ca. 200 300
Hannaver
60
800 2.000 3.100 4.000
107 ca. 50
150 900
28
200 400
180 700800 1.500
300 4.200
Wie Tabelle 8 zeigt, war die städtische SA bis in das Jahr 1930 hinein nicht zu einer Massenorganisation geworden. Erst seit Anfang 1931 wuchs die Organisation zu nennenswerter Größe an. Im Laufe dieses Jahres, in den meisten Fällen jedoch erst im Jahre 1932, ist ein deutlicher Wachstumssprung der großstädtischen SA zu verzeichnen. Dieser vollzog sich allerdings in einem rasanten Tempo. Dennoch nehmen sich im Jahre 1932 die SA-Zahlen aus den Großstädten Berlin und Hamburg noch bescheiden aus, jedenfalls im Vergleich zu den 34.500 SA-Männern aus Nieder- und Oberschlesien oder den knapp 18.000 ostpreußischen SA-Männern, die es dort zur Jahresmitte 1932 gab. 4 9 Im Jahre 1930 hatte man in der SA-Führung eine Karte mit den regionalen Schwerpunkten der SA erstellt, die auf Anweisung Hitlers geheimgehalten wurde. Dabei wurde auf einer großen Landkarte für je 100 SA-Männer eine Farbnadel eingesteckt. Etwa 1.500 Nadeln, also eine realistische Größe von 150.000 Mann, wurden in achttätiger Arbeit auf der Karte angebracht. Aus den Aufzeichnungen Otto Wageners sind die groben Ergebnisse bekannt. Er schrieb, dass die Karte ein „überraschendes Bild" bot: „Man hätte doch an-
48
49
Zahlenmaterial aus: Schmiechen-Ackermann, Nationalsozialismus, S.130/131, 136, 174/175, 219, 221, 226, 242, 246, 357/358; Reiche, Development, S.XV, 24, 50, 60, 102/103,123; GStA PK, 1. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.311, fol.37; Krause. Hamburg. S.97, 143 Zu den Stärkemeldungen aus Schlesien und Ostpreußen siehe: Bessel, Political Violence. S.30.
272
Das Rekrutierungspotential
nehmen müssen, daß die SA ziemlich gleichmäßig über ganz Deutschland verteilt sei. Aber das war keineswegs der Fall. Dann hätte man glauben sollen, daß in den dichter besiedelten Gebieten auch die SA dichter säße als dort, wo vielleicht 80 bis 100 Menschen auf einen Quadratkilometer wohnten. Aber das war wiederum nicht der Fall. Es hob sich vielmehr in der Mitte und im Norden und Osten des Reiches eine wesentliche [sie] stärkere SA-Gruppierung hervor, während sie im Westen, Südwesten und Süden, sowie in Teilen von Schlesien unverhältnismäßig viel dünner war. Wir glaubten an Fehler. Aber die Zahlen und Nadeln stimmten. Wir nahmen die Personalien der SA-Führer vor. Aber wir konnten keinen Anhaltspunkt finden, daß in den schwächeren Gegenden weniger tüchtige SA-Führer seien". So riefen die ratlosen SA-Führer den „Führer" selbst zur Karte, um diese zu interpretieren. Nach einigen Minuten des Nachsinnens rief er aus: „Diese Karte hier, hören Sie einmal, jetzt hab' ich's, sie ist eine Religionskarte". Hitlers Idee hat tatsächlich viel für sich. Wie schon aus der Analyse der Wählerhochburgen der NSDAP hinlänglich bekannt, so war auch die Stärke der SA in den katholischen Regionen deutlich unterdurchschnittl ich. 50 Ähnliche Ursachen wie für die NSDAP-Wahlerfolge dürften für die SAStärke verantwortlich sein. Die Festigkeit des katholischen Milieus, das engmaschige Netz an Vereinen mit ihrer tiefgreifenden Integrationsstärke boten dem Aufbau der SA offenbar keinen guten Nährboden. Ähnliches gilt für die Schwäche der SA in industriell geprägten Arbeitergebieten. Wiederum war es offenbar die Milieufestigkeit der Arbeiterorganisationen, die ein überdurchschnittliches Anwachsen der SA verhinderte. Es kann daher auch nicht verwundern, dass ausgerechnet die SA-Untergruppen in den katholischen Arbeiterregionen Düsseldorf und Köln-Aachen zu den mitgliederschwächsten des gesamten Reiches zählten. 51 Die Stadt-Land-Verteilung der SA zeigt, dass keine Korrelation zwischen der Stärke der Kommunisten einerseits der Größe der SA andererseits herzustellen ist. Der Vergleich der geographischen Verteilung der faschistischen Kampfbünde zeigt, daß die Unterschiede zwischen ihnen geringer ausgeprägt waren, als die zwischen den beiden Gesellschaften im Allgemeinen. Einerseits war der Squadrismus zwar ein ländliches Phänomen, aber er konzentrierte sich doch auf die industriell vergleichsweise weit entwickelten und von modernen Agrostädten durchsetzten Regionen Norditaliens, insbesondere der Po-Ebene 50
51
Wagener, S.76/77. Zu den NSDAP-Wahlhochburgen: Falter, Hitlers Wähler, S.169-193. Religionskarten und Kartenmaterial zu Wahlhochburgen der NSDAP bei: Hürten; Gotto, Klaus/Repgen, Konrad (Hrsg.): Die Katholiken und das Dritte Reich. Mainz 1990. Dass die SA in katholischen Gegenden schwächer sei, wird auch bei Fischer, Stormtroopers, S.183 behauptet, aber nirgendwo belegt. Eigene Berechung nach: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.311, fol.37; Statistisches Reichsamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch fur das Deutsche Reich, 51. Jg., 1932. Berlin 1932, S.5-10.
Wachstum und Stationen
273
und der Emilia-Romagna. Im rückständigen Süditalien spielte der Squadrismus hingegen kaum eine Rolle. Andererseits war die SA keineswegs eine großstädtische Erscheinung, sondern versammelte ihre mitgliederstärksten Bataillone in den evangelischen und ländlichen Gebieten Nord- und Ostdeutschlands. Im industriellen Ruhrgebiet oder in Sachsen blieb sie, in Relation zur dortigen Bevölkerungsdichte, vergleichsweise schwach. Die Dichotomisierung zwischen städtischer SA hier und ländlichem Squadrismus dort ist also eine grobe Vereinfachung. Angesichts der relativen Ähnlichkeit zwischen Squadrismus und SA stellt sich somit die Frage, ob es, trotz der gewaltigen Unterschiede zwischen dem Agrarland Italien und der Industrienation Deutschland, nicht doch ein typisches Sozialprofil der faschistischen Kampfbünde gab.
3.2 Furcht und Frustration: Soziale Gruppen und soziale Erfahrungen Auf den ersten Blick konnten die sozialen Verhältnisse in Italien und Deutschland kaum unterschiedlicher sein. Zieht man nur einmal einen Vergleich der Hauptwirtschaftssektoren heran, so waren im Deutschland des Jahres 1920 30,5 Prozent der Erwerbstätigen im Primärbereich der Wirtschaft beschäftigt, während es im Italien desselben Jahres noch 56,1 Prozent waren. Im Sekundärbereich des produzierenden Gewerbes zeigt sich ein ähnlicher Kontrast: Hier standen 41,4 Prozent in Deutschland gegen gerade einmal 24,6 Prozent in Italien. Es ist klar: Italien war ein agrarisch strukturiertes Land, während der Industrialisierungsgrad Deutschlands ungleich höher war. Der enorme Anteil von 48 Prozent des gesamten Bruttoinlandsproduktes in Italien (1920) kam dem Primärbereich der Wirtschaft zu. Im Deutschland dieses Jahres wurden in diesem Sektor nur 16 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftet. Dieser Entwicklungsrückstand drückte sich auch in der Produktivität aus: Vom englischen Fall ausgehend (=100) lagen die Indexziffern des realen Sozialproduktes je Einwohner im Jahre 1922 bei 53 im italienischen und 72 im deutschen Fall. Die Weimarer Republik war mithin moderner als das relativ rückständige Italien. 52
52
Zahlen nach: Fischer, Wolfram (Hrsg.): Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd.6. Stuttgart 1987, S.93, 96; Petzina, Deutsche Wirtschaft, S.171. Vgl. Aubin, Hermann/Zorn,Wolfgang (Hrsg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2. Stuttgart 1976, S.528, 796; Lill, Rudolf: Geschichte Italiens in der Neuzeit. 4., durchges. Aufl. Darmstadt 1988, S.246; Revelli, Italy, S.4-7; Hunecke. Agrargeschichte, S.321-323.
274
Das Rekrutierungspotential
Auf der politischen und kulturellen Ebene denkt man unmittelbar daran, dass Italien zu den Siegermächten des Ersten Weltkriegs gehörte, Deutschland aber der Verlierer par excellence war. Deutschland war 1919 zu einer Demokratie geworden, während Italien eine konstitutionelle Monarchie mit ausschließlichem, allerdings stark erweitertem Männerwahlrecht blieb. Zudem war die deutsche Armee im Unterschied zur italienischen Siegermacht, die im Juli 1919 über 1,5 Millionen Armeesoldaten verfugte, auf ein kleines Kontingent von 100.000 Mann beschränkt worden. Ein Vergleich des Anteils der Soldaten an der männlichen Bevölkerung zwischen 20 und 44 Jahren zeigt, dass im Deutschland des Jahres 1920 nur 1,1 Prozent und im Italien desselben Jahres 22,9 Prozent dieser Altersgruppe zur Armee gehörten. Es ist daher anzunehmen, dass in der Weimarer Republik vergleichsweise viele militärische Elemente nach dem Ersten Weltkrieg in den paramilitärischen Raum drängten. Kulturelle Unterschiede wie die Bindekraft der Familien sowie das größere Ausmaß und die stärkere Bindekraft des Katholizismus in Italien traten hinzu. 53 Konnten unter so unterschiedlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zwei in vielerlei Hinsicht bis zum Verwechseln ähnliche faschistische Kampfbünde überhaupt entstehen? Wo finden sich vergleichbare gesellschaftliche Referenzpunkte? Es macht offenbar keinen Sinn, bei der Feststellung der Differenz zwischen einzelnen Indikatoren sozialer, wirtschaftlicher oder politischer Art stehenzubleiben und diese isoliert miteinander zu vergleichen. Vielmehr müssen Übergangs- und Desintegrationsprozesse sozialer, politischer und kultureller Art, müssen die Krisenkonstellationen innerhalb ihrer jeweiligen nationalen Entwicklungspfade miteinander verglichen werden. Die gesellschaftlichen Ursachen für den Aufstieg des Faschismus wurden oft im Zusammenhang mit den politischen und sozialen Veränderungen gesehen, die seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zu beobachten waren. Es hatten sich neue Herausforderungen durch das allgemeine Wahlrecht und die damit zusammenhängende Krise der elitären politischen Organisationen des Bürgertums, durch die Unzufriedenheit der traditionellen industriellen und agrarischen Eliten mit dem parlamentarischen System, durch die Entwicklung der sozialistischen Bewegung in Partei- und Gewerkschaftsformen ergeben. Diese Entwicklungen, wie auch vielfaltige ökonomische Schwierigkeiten, waren durch den Ersten Weltkrieg enorm beschleunigt und radikalisiert worden und hatten sich in politischen und sozialen Unruhen entladen. Der Prozess der Dekomposition der politischen Ordnung der Mittelklassen wurde in der „Klassengesellschaft im Krieg" (Jürgen Kocka) beschleunigt. Der „verstümmelte Sieg" in Italien und die militärische Niederlage Deutschlands entfachten
53
Einen Vergleich von Italien und Deutschland als politische Gesellschaften liefert Tarchi. Zu den Angaben über das Armeekontingent in Italien: Ledeen, Italy, S. 107/108; Loriga, S.24.
Furcht und Frustration
275
die nationalen Leidenschaften und brachen, verschärfend zum Klassenkonflikt, Generations- und Geschlechterkonflikte auf. Eine kumulative Krise in drei miteinander verflochtenen Arenen entstand: In der politischen Arena entstanden zunehmende Vermittlungsprobleme zwischen Parlament/Regierung einerseits und der Bevölkerung andererseits, inklusive der damit verbundenen Repräsentationsprobleme. In der ökonomischsozialen Arena entstand ein Konfliktpotential durch die Polarisierung und Ausdifferenzierung der Klassenformationen sowie durch die arbeitsmarktbedingte Verschärfung des Klassenkonfliktes. In der kulturellen Arena verschafften sich relativ neue kollektive Identitäten deutlicher als je zuvor Geltung, wobei dieser Geschlechter- und Generationskonflikt politisch deutlich verschärfend wirkte. Inwiefern schlugen sich diese Krisen in der sozialen Zusammensetzung der faschistischen Kampfbünde nieder? 3.2.1 Probleme bei der Erforschung des squadristischen Sozialprofils Paolo Pombenis Bemerkung aus dem Jahre 1991, dass „keine Studien über die soziale Zusammensetzung der PNF [existieren]" und dass dies ,,[u]m so mehr für die faschistischen Sturmabteilungen gilt", ist nach wie vor gültig. 5 4 Sieht man von einigen vereinzelten Aufsätzen zu lokalen Mitgliederstrukturen der PNF ab, so ist die Forschung tatsächlich nach wie vor auf die von dem faschistischen Generalsekretär Umberto Pasella 1921 erstellte Statistik zum Sozialprofil der PNF angewiesen, die am 8. November 1921 im Parteiblatt „Popolo d'Italia" veröffentlicht wurde. Hinsichtlich des Squadrismus ist die Situation noch schlechter. Empirische Ergebnisse sind hier nur den unterschiedlichen und meist vagen Randbemerkungen der in den siebziger und achtziger Jahren boomenden Regional- und Lokalforschung zu entnehmen. Typisch für die Behandlung des sozialstatistischen Materials in diesen Studien ist das Vorgehen Anthony Cardozas in seiner Arbeit über die Provinz Bologna. Darin heißt es: „Most of the squad members, the squadristi, were students, public employees, shopkeepers, farm managers, or landowners; virtually all of them were young men between the ages of sixteen and twenty-three". Blickt man gespannt auf die Quellengrundlage für diese Einschätzung, findet man in der Fußnote die erstaunlich offenherzige Aussage: „This conclusion is based on only ten men". Obwohl Cardozas Studie zweifellos zu den seriöseren und vor allem analytisch aufschlussreichsten Lokalstudien gehört, ist dieses Verfahren, den Mangel an Quellen durch grobschlächtige Verallgemeinerungen zu ersetzen, symptomatisch für die gesamte Regionalforschung. So schrieb etwa auch Mario Vaini, dass unter den Squadristen in Mantua die nichtproletarischen Elemente überwogen hätten. Vornehmlich hätten Männer aus den ländlichen
54
Pombeni, Besondere Form, S.172, Anm. 26. Ähnlich Merkl, Comparing, S.765, 769.
276
Das Rekrutierungspotential
Mittelschichten (Kleinbesitzer, Pächter und Halbpächter), Studenten, städtische Handwerker und Dauerarbeitslose zum Squadrismus gefunden. Auch Beamte und Soldaten hätten nicht gefehlt. Auch Vaini erklärt ganz offen, dass diese Einschätzung auf einer Betrachtung von 22 Fällen basiert, nämlich auf den im Straßenkampf gefallenen Squadristen aus der Region. 55 Diese katastrophale Forschungslage hängt vor allem damit zusammen, dass die meisten statistischen Unterlagen der regionalen PNF-Sektionen im Zuge der Ereignisse des 25. Julis 1943 zerstört wurden. 56 So wurden bislang nur sieben punktuelle und jeweils nur wenige hundert Fälle umfassende Zufallsamples über die soziale Zusammensetzung des Squadrismus in den toskanischen Provinzen Massa-Carrara und Parma, der Stadt Florenz, der Industriestadt Livorno, der friaulischen Provinzhauptstadt Udine sowie über die emilianische Provinz Reggio Emilia und die Stadt Bologna vorgelegt. 57 3.2.2 Der Squadrismus in Bologna - im regionalen Kontext und interregionalen Vergleich Die Ergebnisse, die aus diesen sieben Regionalstudien gewonnen wurden, zeigen eine breite soziale Streuung. Während etwa Roger Engelmann in seiner Arbeit über die kleine toskanische Marmorregion Massa-Carrara (145 Fälle) den hohen Arbeiteranteil am örtlichen Squadrismus herausstreicht, hat Roberta Suzzi Valli in ihren Erhebungen über den Squadrismus in den Universitätsstädten Bologna und Florenz (381 Fälle) einen extrem hohen Anteil studentischer Squadristen von 40 bis 50 Prozent festgestellt. Rolando Cavandoli wiederum hat für die moderne emilianische Agrarprovinz Reggio Emilia den hohen Anteil der breit gefassten Mittelschichten aus Angestellten, Handwerkern und Kleinbauerntum herausgehoben, der von Proletarisierung bedroht war (688 Fälle). Ähnlich hat Lawrence Squeri in seiner Studie über Parma argumentiert, indem er vor allem die Abstiegsmobilität der öffentlichen Angestellten als soziale Charakteristik des Parmenser Squadrismus herausgestellt hat (120 Fälle). Auch Anna Maria Preziosi hat den hohen und deutlich überrepräsentierten Anteil von nicht näher spezifizierten Angestellten in ihrem Sample über die Stadt Udine hervorgehoben (585 Fälle). Selbst in der Industriestadt Livorno machten nach einer Studie von Tobias Abse die Angestellten (22,4%) und Studenten (28%) die größten Berufsgruppen unter den Squadristen aus. Die Arbeiter blieben hier, wie auch in allen anderen untersuchten
55 56
57
Cardoza, Agrarian Elites, S.320; Vaini, S.137, 157. Cavandoli, S.131. Allerdings sind die Listen in einigen Regionen und Städten erhalten geblieben. So erfasst zur Zeit eine Turiner Forschergruppe um Professor Gianni Perona die Mitgliedskarteien der Turiner PNF. Engelmann, Provinzfaschismus, S.155/156; Squeri, S.103/104; Preziosi, S.193-201; Cavandoli, S.133; Suzzi Valli, Myth, S.136/137; Abse, Rise, S.68/69.
Furcht und Frustration
277
Städten, mit 29,4% gegenüber ihrem Anteil von 41,6% an der erwachsenen männlichen Bevölkerung Livornos extrem unterrepräsentiert (Sample von 214 Fällen). Diese wenigen Befunde zum Squadrismus legen die Vermutung nahe, dass einerseits die fast durchgängige Unterrepräsentation der Arbeiter und andererseits die starke Anpassungsfähigkeit des Sozialprofils der faschistischen Organisation an die örtliche oder regional vorherrschende Sozialstruktur ihre auffalligsten Merkmale waren. Durch ihre provinzialistische Adaptation glichen die Kampfbünde auf nationaler Ebene noch mehr sozialen Mischbewegungen, als sie es auf lokaler und regionaler Ebene ohnehin schon waren. Die These von der „schichten- und klassenspezifische[n] Unbestimmtheit" (Wolfgang Schieder) und starken sozialen Anpassungsfähigkeit taucht schon im Selbstbild der Squadristen und nicht nur in ihrer Propagandarhetorik auf. Oft wird von der klassenlosen italienischen Nation gesprochen. 58 So hob der toskanische Squadrist Piazzesi in seinem Tagebuch die Überwindung der sozialen Schranken in seiner Squadra hervor, um die Bedeutung der persönlichen Freundschaften zueinander umso deutlicher herauszustreichen. „Wir bemerken an uns, dass dieser Sitz [gemeint ist der Treffpunkt der Squadristen, S.R.] wie eine Mischmaschine wirkt, die die verschiedensten sozialen Elemente vermischt, Studenten mit Arbeitern, Kaufleute mit Freiberuflern; es vereint und schwächt die Scheidewände zwischen den Klassen". Auch in der Propaganda gehörte es zu den stehenden Redewendungen des italienischen wie des deutschen Kampfbundes, den Faschismus als klassenlose Gemeinschaft darzustellen. „Alle Stände" seien in der SA zusammengeführt worden, behauptete stellvertretend fur viele Nationalsozialisten Fritz Carl Roegels und nannte konkret „Arbeiter, Akademiker, Kaufleute, Büromenschen" als typische SA-Männer. Auch beim italienischen Squadrismus wurde der klassenübergreifende Charakter des Kampfbundes herausgestrichen. Zum Faschismus habe die „opferwillige Jugend" gefunden, hieß es. „Wie in der Armee" haben sich im Squadrismus „die Intellektuellen mit Arbeitern vermisch[t]." Nur wenige insider bemerkten, wie der 1922 aus der PNF ausgeschlossene Squadrist Umberto Banchelli, dass der soziale Zuschnitt des frühen Squadrismus eine unüberwindliche Mauer gegenüber der Arbeiterschaft errichtet hatte. 59
58 59
Schieder, Strukturwandel, S.70. Piazzesi, S.85; Roegels, S.14; Jean de Bennefon: Cos'e il fascismo, in: Popolo d'Italia vom 20.4.1922; Banchelli, S. 54; Pellegrini; Fracastoro di Fomello; Schneider. S.288, 291. Zur squadristischen Propaganda vgl. Suzzi Valli. Myth, S.140-144
278
Das Rekrutierungspotential
Der Squadrismus in Bologna Eine genauere Analyse ist angesichts der Unzulänglichkeit der bisherigen statistischen Erhebungen angezeigt. Hierfür wurde die Provinz Bologna als Untersuchungsregion ausgewählt, die, wie im vorigen Abschnitt geschildert, eine zentrale Hochburg des Faschismus war. Inwieweit Bologna typisch für den italienischen Squadrismus war, soll im Folgenden durch Punkt-zu-PunktVergleiche mit den Verhältnissen in anderen Provinzen und Regionen erörtert werden. Bologna rangierte hinsichtlich der Mitgliederstärke der Faschisten an zweiter Stelle unter allen 71 italienischen Provinzen und vereinigte im Dezember 1921 immerhin mehr als fünf Prozent aller italienischen und fast neun Prozent aller norditalienischen Faschisten auf sich. 60 Der Bologneser Fascio, der sich im Herbst 1920 wiedergründete, scheint auf den ersten Blick geradezu typisch für die Zusammensetzung des Faschismus gewesen zu sein, denn hier dominierte zunächst die städtische Mittelklasse. Einzelhändler, Handwerker, Kleinindustrielle sowie kleine Unternehmer führten den Bologneser Fascio an. Der Fascio repräsentierte die Bedürfnisse der Mittelklasse und unteren Mittelschicht, die von der ökonomischen Krise der Nachkriegsjahre härter betroffen waren als die großen Industrie- und Agrarunternehmer. Diese Mittelschichtler fühlten sich von der Regierung benachteiligt, die ihrer Meinung nach die großen Kapitalisten und die Arbeiterklasse bevorzugte, während sie selbst von den Preissenkungen, die der Präfekt mit den Sozialisten aushandelte, am stärksten betroffen waren. Im Faschismus versuchten sie - als Neulinge auf der politischen Bühne - , eine politische Repräsentation zu finden. Die Historikerin Fiorenza Tarozzi hat behauptet, dass unter den Squadristen Bolognas weniger diese mittelständischen als vielmehr bürgerliche und militärische Elemente anzutreffen gewesen seien. Die Squadristen seien zumeist nationalistische Studenten, antisozialistische Ex-Soldaten und Mitglieder anderer paramilitärischer Gruppen, einschließlich der arditi und der Fiumelegionäre D'Annunzios, gewesen. 61 Um nun die Bedeutung und Verteilung von mittelständisch-städtisch strukturiertem Faschismus beziehungsweise bürgerlich-militärischem Agrarsquadrismus genauer untersuchen zu können, wurden für die Provinz Bologna alle polizeilich registrierten Squadristen der Jahre 1921 und 1922 erfasst. Dabei konnten aus über zweitausend Polizeiberichten, die der Bologneser Präfektur zur Kenntnisnahme eingereicht wurden, insgesamt 1.447 Namensnennungen von Squadristen gefunden werden, die etwa zu gleichen 60 61
De Feiice, Mussolini il fascista, S.8-10. Dunnage, Italian Police, S.101; Tarozzi, Fiorenza: Dal primo al secondo fascio di combattimento: note sulle origini del fascismo a Bologna (1919-1920); in: Casali (Hrsg.), S.95/96, 105. Tarozzi hat keine eigenen empirischen Erhebungen zum Bologneser Squadrismus vorgenommen.
279
Furcht und Frustration
Teilen aus den Jahren 1921 und 1922 stammen. Es wurden, soweit möglich, Angaben über Alter, Wohnort, Beruf, Verwandtschaft, politische Festnahmen, Funktion in der faschistischen Bewegung und Kriegserfahrung erfasst. Diese Namen umfassen auch Mehrfachnennungen über polizeilich besonders auffällig gewordene, stark gewalttätige Squadristen. Nach Abzug dieser Mehrfachnennungen ergab sich eine Größe des Samples von 1.190 Squadristen, wobei von 281 Squadristen die Berufsangaben erfasst werden konnten, also einem Anteil von 23,6 Prozent des Gesamtsamples. Eine gewisse Überrepräsentation von Squadristen aus niedrigeren Schichten steht bei diesem Verfahren zu vermuten, da bürgerliche Täter in der Regel eine größere Geschicklichkeit bei der Vermeidung von polizeilicher Verfolgung an den Tag legten und mit größerer Nachsicht seitens der Behörden rechnen konnten. 62 Die allgemeine Volkszählung von 1921 erlaubt in einigen Fällen einen Vergleich zur Verteilung der Berufe in der allgemeinen Bevölkerung Bolognas, wobei hier nur die männliche Bevölkerung über zehn Jahren berücksichtigt wurde, weil es dem Prinzip nach keine weiblichen Squadrenangehörigen gab und der Frauenanteil de facto noch geringer gewesen sein dürfte, als die zwei Fälle des Samples deutlich machen. Nicht alle Berufe sind in der Statistik so ausgewiesen, dass sie dem Sample zugeordnet werden konnten, doch konnten wenigstens für die wichtigste Berufe Vergleichszahlen erhoben werden.
Tabelle 9: Soziale Zusammensetzung des Squadrismus in Bologna (1921 und 1922) 63 Berufsgruppe
Squadristen (Anzahl)
Squadristen (in Prozent)
Arbeiterschaft
108
38,4
Arbeiter (operaio) Hilfsarbeiter (manovale)
30
10,7
2 1 1
0,7 0,4 0,4
1 1
0,4 0,4
Laufbursche (fattorino) Hausdiener (domestico) Knecht (garzone) Hirte (pastore)
62
63
Berufliche Gliederung der männlichen Bevölkerung Bolognas in Prozent (zehn Jahre und älter) 37,65
0,44
Sample Reichardt-Bologna (zu den Erhebungsgrundlagen siehe im Anhang). Zur Verzerrung des Samples siehe die analogen Probleme bei Engelmann, Provinzfaschismus, S.154. Sample Reichardt-Bologna. Die Zuordnung erfolgte nach Sylos Labini, S. 153-160. 175-188 und nach: Istituto Centrale di Statistica: Censimento della popolazione del Regno d'ltalia al 1° dicembre 1921, Serie VI, Bd.VIll: Emilia. Rom 1927, S.282-307, 438/439. Aus der Volkszählung sind auch die Einzelziffern für die berufliche Gliederung der männlichen Bevölkerung Bolognas (zehn Jahre und älter) in Prozent entnommen.
Das Rekrutierungspotential
280 Tagelöhner (bracciante) 10 Fuhrmann (birocciaio, 15 carretiere) Maurer (muratore) 18 5 Eisenbahner (ferroviere)^
3,6 5,4
Diener, Kellner (cameriere)
1,1 3,6
Mechaniker (meccanico)^ 5 Maschinist (macchinista) Dreher (tornitore) Heizer (fuochista) Zementarbeiter (cemenista) Kieshauer (ammacatore ghiaia) Anstreicher (imbianchino) Maler (pittore) Drucker (tipografo)
3 10
6,4 1,8
1,85 3,45
1 1 1 2 di 3
0,4 0,4 0,4 0,7
1 1 1
0,4 0,4 0,4
Handwerker, Einzelhändler
45
16,0
Böttcher (bottaio) Elektriker (elettricista) Schuhmacher (calzolaio) Schneider (sarto) Schmied (fabbro) Tischler, Schreiner (falegname) Schlachter (macellaio) Müller (mugnaio) Konditor (pasticciere) Maurermeister Gaststättenbesitzer (esercente) Kaffeehausbesitzer (caffetiere) Einzelhändler (negoziante) Teigwarenhändler (pastaio) Händler (commerciante)
2 2 4 1 3 3 4 3 2 1 3 2 7 1 7
0,7 0,7 1,4 0,4
1,1 0,7 2,5 0,4 2,5
Kleinbauern
36
12,8
18,6
Bauer (contadino, agricoltore) 6 6 Fischer (pescatore) Kleinbauer (colono)
16
5,7
4,82
1 13
0,4 4,6
0,01
0,12
1,1
1,1 1,1 1,4 1,1 0,7 0,4
24,16
2,24
2,13 0,31 0,1
0,05
11,39 6 7
64 Mit „ferroviere" wurden nicht nur die Arbeiter der Eisenbahn, sondern auch die Angestellten der Eisenbahnbetriebe bezeichnet. 65 Unter der Bezeichnung „meccanico" fallen nach italienischem Sprachgebrauch auch Schlosser, Dreher und Metallarbeiter. 66 „Contadini" sind meist, jedoch keineswegs immer, kleine, selbständig und auf eigenem Boden wirtschaftende Bauern. 67 In der ISTAT-Statistik inklusive der Halbpächter als „coloni e mezzadri".
281
Furcht und Frustration
Pächter (affituario)
6
2,1
2,39
Angestellte und Beamte
36
14,6
7,05
Angestellte (impiegato)
15 4
5,3
Handlungsgehilfe (commesso)
1,4
Kaufleute (ragioniere) 6 8 Krankenpfleger (infermiere) Lageraufseher (magazziniere) Kassierer (cassiere) Zeitungsverkäufer
3
1,1
1 1 2 2
0.4 0,4 0,7 0,7
Polizist (Guardia Regia)
2
0,7
Feuerwehrmann (pompiere)
1
0,4
Sekretär (segretario)
1 4
0,4
Beamte Armee (tenente, caporale)
5
1,4 1,8
Bürgertum
49
17,4 (7,9/69 5,74
29
10,3
Besitzer (proprietario) Unternehmer/Großgrundbesitzer (possidente)
2
0,7
13
4,6
Industrieller (industriale)
1
0,4
Makler (mediatore) Ingenieur (ingegniere)
1 1
0,4 0,4
Arzt (medico)
0,7
Sonstige
2 7
Hausfrau, Spinnerin
2
0,7
TV
281
99,7
Studenten, (studenti)
Arbeiter
und
Oberschüler
2,0
1,5 2,0
[8,0]
0,17 0,26
0,7
256.344
Squadrismus
Beginnen wir mit den Arbeitergruppen, so fallen hierunter besonders die Tagelöhner, Fuhrleute, Maurer und die meccanici auf. Die Berufe unter der Arbeiterschaft auf dem Lande waren oft hart und entbehrungsreich. Bei den
68
69
Analog zur deutschen Berufsbezeichnung Kaufmann konnte als „ragioniere" sowohl ein kleiner Angestellter in der Privatwirtschaft als auch der Juniorchef eines größeren Familienunternehmens bezeichnet werden. Oft trugen die kaufmännisch-technisch Gebildeten die Berufsbezeichnung „ragioniere" (Janz, „Per un'Italia piu grande", S.141, Anm. 8). Die Studenten werden in der ISTAT-Statistik nicht unter den Erwerbstätigen ausgewiesen, so dass die entsprechende Vergleichszahl hier in eckigen Klammem angegeben wird.
282
Das Rekrutierungspotential
Fuhrleuten (birocciai) handelte es sich um Transportarbeiter, deren wirtschaftliche Bedeutung aufgrund des aufkommenden Kraftwagens im Schwinden begriffen war. Die birocciai waren schlecht qualifizierte Arbeiter mit niedrigem Bildungsniveau (hohe Analphabetenrate), die mit einem einfachen zweirädrigen Karren Güter transportierten. Aufgrund ihrer schlechten Entlohnung befanden sich die Mitglieder dieser Berufsgruppe meist in der Nähe zum Subproletariat.70 Auch die Tagelöhner (braccianti), die auf Tages- oder sogar Stundenbasis und nur bei gutem Wetter angeheuert wurden, hatten einen sehr niedrigen Lebensstandard und lebten in heruntergekommenen Wohnungen oder Hütten mit unzulänglicher Kleidung. Die Ernährung, die häufig nur aus polenta bestand, war vielfach so schlecht, dass Krankheiten und Mangelernährungen die Folgen waren. Diese Tagelöhner, die auf der Suche nach Arbeit herumreisen mussten, hatten oft nur wenige persönliche Bindungen außerhalb ihrer Familie und repräsentierten stets eine Quelle der Unzufriedenheit. Gleichwohl war der Anteil der braccianti im Sample deutlich unterrepräsentiert. Bedenkt man, dass die braccianti unter der Landbevölkerung der Provinz Bologna ein gutes Drittel ausmachten, war ihr Anteil im Squadrismus mit gerade einmal 3,6 Prozent verschwindend gering. 71 Dies war sicher keine Besonderheit der Provinz Bologna. In Reggio Emilia etwa stellten die Landarbeiter nur 2,5 Prozent des von Cavendoli erhobenen Samples und auch in Massa-Carrara fanden sich nur zu 1,4 Prozent braccianti in Roger Engelmanns Sample. 72 Die geringe Beteiligung der Landarbeiter am Squadrismus erklärt sich daraus, dass die Tagelöhner fest in die sozialistischen Gewerkschaftsorganisationen und Arbeitsvermittlungsinstitutionen eingebunden waren und dort ihre Interessen - von der Lohnerhöhung bis zu besseren Arbeitsverträgen - vertreten sahen. Der Faschismus/Squadrismus als politischer newcomer konnte von dort kein Rekrutierungspotential erhoffen. Besser hingegen sahen die Chancen des Squadrismus bei den Arbeitern aus den kleinen, oft handwerklich geprägten Betrieben und Werkstätten aus, wie bei den Maurern, die durch stark hierarchisierte Arbeitsverhältnisse und autoritär geprägte Beziehungsmuster am Arbeitsplatz gekennzeichnet waren. Die recht unbestimmte Gruppe der meccanici (3,5 % des Samples) umfasste sowohl die Schlosser und Dreher als auch Metallarbeiter und lässt sich nur schwer mit allgemeinen Statistiken vergleichen. Die meccanici hatten in der Regel ein für die Arbeiterschaft recht hohes Qualifikationsprofil, und das Gefühl, „etwas Besseres" sein zu wollen,
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Engelmann, Provinzfaschismus, S.161. Preti, Lotte, S.58-60; Procacci, Lotta, S.l 12, Anm.l (Berechnung des Anteils der braccianti von S.R.). Cavandoli, S.132/133; Engelmann, Provinzfaschismus, S.155.
Furcht und Frustration
283
mag zu einer Absetzbewegung dieser Gruppe und damit auch zu einer größeren Anfälligkeit für den Faschismus geführt haben. 73 Tatsächlich konnten die faschistischen Gewerkschaften in der gesamten Emilia wie auch in der Toskana nur mit Hilfe squadristischer Gewalt in der italienischen Arbeiterschaft institutionalisiert werden. Durchaus typisch für die Phase exzessiven squadristisehen Terrors war der Brief des sozialistischen Abgeordneten Luigi Fabbri vom Oktober 1921, den dieser an den Bologneser Präfekten Cesare Mori richtete. Fabbri protestierte, dass „all unsere Aktivitäten [...] sogar als einfache Bürger durch die faschistischen Drohungen und Gewalttaten komplett gelähmt werden". 74 Beleidigungen, Drohbriefe, mitternächtliche Besuche und brutale Gewaltattacken der hochmobilen und gut bewaffneten Squadristen gehörten zum Alltag der sozialistischen Funktionäre in Partei und Gewerkschaft. Mit Terror und Gewalt wurden auch die Tagelöhner zum Gehorsam gebracht. Ihre politische Konversion verlief quasi unter vorgehaltener Pistole oder durch schlichte Erpressung, wie bei den Tagelöhnern in Ferrara, die aufgrund ihrer traditionell unsteten Beschäftigung mit hoher saisonaler Arbeitslosigkeit zentral auf eine funktionierende Arbeitsvermittlung angewiesen waren. Nachdem die sozialistische Arbeitsvermittlung de facto zerschlagen worden war, konnten die mit den großen Grundbesitzern und den Pächtern zusammenarbeitenden faschistischen Syndikate (die sich im Februar 1921 gegründet hatten) diese Aufgabe übernehmen und zwangen so die arbeitssuchenden Tagelöhner zur Kooperation. Zudem versprachen sie ihnen stetige Arbeit, sofern sie in die Syndikate einträten. Die Zerschlagung der sozialistischen Gewerkschaftshäuser und die Vertreibung oder Ermordung der Gewerkschaftsführer ging der Einrichtung der faschistischen Syndikate fast immer voraus. 75 Erst Mitte August 1921 trat eine größere Welle von Arbeitern zum Faschismus über, nachdem deutlich geworden war, dass die sozialistischen Gewerkschaften endgültig geschlagen und vernichtet worden waren. Zunächst unterstützten die großen Landbesitzer und Pächter die faschistischen Gewerkschaften durch finanzielle Zuwendungen und bevorzugte Beschäftigung der bei ihnen organisierten Arbeiter. Sie sahen in den faschistischen Syndikaten zuallererst ein Instrument, mit dem das Monopol der sozialistischen Federterra als Organ der organisierten Arbeitsvermittlung und der Arbeitsverträge gebrochen und ein zwischengewerkschaftlicher Wettbewerb inszeniert werden konnte. Tatsächlich wurde die Zusammenarbeit mit den Squadristen im zweiten Halbjahr und zu Beginn des Jahres 1922 zunehmend
73 74 75
So argumentiert auch Engelmann, Provinzfaschismus, S.164. Fabbri an Mori vom 5.10.1921, zitiert nach Cardoza, Agrarian Elites, S.347/348. Tasca, S.220-223; Corner, Fascism, S.X, 138, 144/145, 159-167, 189; Cardoza, Agrarian Elites. S.336/337, 346-350, 364-379; Lyttelton, Seizure, S.68-71.
284
Das Rekrutierungspotential
besser. Zu dieser Zeit senkten einige Syndikate, etwa in Ferrara, die Löhne der Landarbeiter deutlich ab. 7 6 Der Mitgliederverlust der sozialistischen Arbeiterbewegung war dramatisch. Die Anzahl der Mitglieder in der sozialistischen Dachgewerkschaft CGL sank von 2,15 Millionen Mitgliedern im Jahre 1920 auf gerade einmal 400.000 Mitte 1922 ab. Die Federterra, die Anfang 1921 noch 800.000 Mitglieder aufwies, zählte ein Jahr später nur noch 200.000 Mitglieder. Auch die weitgehend von Arbeitern getragene PS1, von der sich die kommunistische Gruppe im Januar 1921 abgespalten hatte, sackte von 172.000 Mitgliedern im Januar 1921 auf 73.000 im Oktober 1922 ab. Die Faschisten waren im Gegenzug deutlich auf dem Vormarsch, so etwa in der Provinz Bologna, wo die größte und stabilste Federterra Italiens im Jahr 1920 noch ganze 73.000 Mitglieder hatte, die faschistische Föderation der nationalen Syndikate im Januar 1922 aber schon 25.000 Mitglieder aufweisen konnte. Tatsächlich war die Arbeiterbewegung in der Emilia schon vorher an ihre Grenze gestoßen, denn die Wahlen vom Mai 1921 zeigten überdeutlich, dass die maximal istische Haltung der organisierten Arbeiterbewegung in der Region vom Wähler nicht honoriert wurde. Gegenüber den Wahlen vom November 1919 hatten PSI und PCI zusammengerechnet 22,1 Prozent verloren und rutschten von 60,1 Prozent auf 38,7 Prozent ab. 7 7 Die Zwangsrekrutierung in die faschistischen Syndikate erklärt den - in einigen Regionen - nicht unerheblichen Arbeiteranteil im italienischen Faschismus des Jahres 1922. Arbeitergruppen scheinen - auch zum toskanischen Faschismus - in nennenswertem Ausmaß erst in der zweiten Jahreshälfte dazugestoßen zu sein. Zu spät mithin, um noch die grundsätzliche Richtung der faschistischen Politik zu beeinflussen, die sich zu dieser Zeit bereits fest etabliert hatte. Dass es den Faschisten der Toskana gelang, im Laufe des Jahres 1922 ausgerechnet unter den Bahnarbeitern einige Anhänger zu finden, muss auf den ersten Blick überraschen, da diese Berufsgruppe zu den ersten, aktivsten, militantesten und am besten organisierten Berufsgruppen der sozialistischen Bewegung zählte. Doch diese Erfolge zeigten weder die soziale Variabilität des Faschismus noch einen wirklich zählbaren Einbruch in die Kreise der Arbeiterschaft, sondern vielmehr, mit welchen Geldmengen die Industrie und selbst der Staat bereit waren, Streikbrecher, Informanten und Agenten unter den Bahnarbeitern anzuwerben. Bei beiden Gruppen nahm das Transportsystem - der Wirtschaft wegen der Güterdistribution und dem Staat wegen 76
77
Cardoza, Agrarian Elites, S.338/339, 353-364; Corner, Fascism, S.190/191. Zum sozialen Mitgliederprofil der PSI: Ridolfi, S.120 (Tabelle 25), 122 (Tabelle 26), 132 (Tabelle 32); Petersen, Wählerverhalten, S.142. Zahlen zur CGL: Vivarelli, Storia, Bd. 2, S.300; Gentile, Storia, S.550. Zahlen zur Federterra: Cardoza, Agrarian Elites, S.291; Sabbatucci, Crisi, S.137. Zahlen zur PSI: Sabbatucci, Crisi, S.130; Tasca, S.283. Zahlen zu Bologna: Cardoza, Agrarian Elites, S.342, 344. Wahlergebnisse: Petersen, Wählerverhalten, S.131.
Furcht und Frustration
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der sozialen Kontrolle - eine wichtige Aufgabe wahr. Die mit Geldmitteln abgeworbenen Arbeiter fanden ihre politische Heimat bei den Faschisten. Ähnliche Vorgänge ereigneten sich im toskanischen Ort Gavorano. Hier wurden Bergarbeiter aus Sardinien als Streikbrecher angeheuert, die dann in die faschistische Bewegung überfuhrt wurden. Mit Gewalt versuchte man schließlich in den Hochburgen des Squadrismus am Ende des Jahres 1922, auch die Metall- und Hüttenarbeiter sowie die Bergleute in die faschistischen Gewerkschaften zu zwingen. Ohne die Anwendung von Bestechung oder Zwangsmitteln gelang es den Faschisten vor allem bei denjenigen Arbeitern eine Resonanz zu finden, die nicht fest in das Netz der Parteien und Gewerkschaften der sozialistischen Arbeiterbewegung eingebunden waren. Während die Faschisten kaum Erfolge unter Fabrik- und Industriearbeitern oder gewerkschaftlich hoch organisierten Arbeitergruppen wie den Hafenarbeitern und Schauerleuten erzielen konnten, hatten sie vergleichsweise größere Erfolge bei Arbeitern, die in kleinen, oft handwerklich geprägten Werkstätten arbeiteten. Diese Arbeitsplätze waren oft von autoritären Arbeitsbeziehungen geprägt. Es waren diese handwerklich geprägten Arbeiter, die dazu beitrugen, dass an einigen Orten der Toskana die Arbeitergruppen eine gewisse Größe, manchmal bis zu 40 Prozent, erreichten. Die Charakteristik der faschistischen Arbeiter in Italien deckt sich auffällig mit derjenigen der nationalsozialistischen Arbeiter, die ebenfalls häufig aus kleinen und mittleren Betrieben, der Landwirtschaft oder öffentlichen Unternehmungen kamen, die von den Arbeiterorganisationen noch kaum erfasst worden waren. 78 Vereinzelt lässt sich eine soziale Adaptation des Faschismus an die jeweils lokale Strukturierung der Gesellschaft beobachten, wie bei den unterbeschäftigten Werft- und Hafenarbeitern an der hochindustrialisierten ligurischen Küste. 79 Auch unter den Squadristen der Marmorregion Carrara, einer ausgesprochenen Arbeiterregion der Toskana, waren die Arbeitergruppen im Vergleich zur örtlichen Erwerbsbevölkerung nur leicht unterrepräsentiert (66,9 zu 72,2 Prozent). Trotz seiner eindeutigen Frontstellung gegen die Arbeiterbewegung erhielt der Squadrismus schon bald nach seinem Auftauchen in der Marmorregion nennenswerten Zulauf aus Kreisen der Arbeiterschaft. Bei diesen faschistischen Arbeitern handelte sich vor allem um junge Arbeiter mit niedrigem Qualifikationsprofil, die, von der Absatzkrise betroffen, zumeist arbeitslos waren. Insgesamt zeigt sich, dass die soziale Zusammensetzung des örtlichen Squadrismus der regionalen Sozialstruktur sehr ähnlich war. Unter
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Snowden, Fascist revolution, S.165/166, 171-179; Winkler, Weimar, S.190; Winkler, Mittelstandsbewegung, S.99. Diese Arbeiter stiegen in der Hierarchie der faschistischen Bewegung kaum auf. Die Führungspositionen in der faschistischen Partei wie ihrem Kampfbund verblieben oft in den Händen der Mittelklassen. Lyttelton, Seizure, S.68-71; Petersen, Wählerverhalten, S.143,
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Das Rekrutierungspotential
den wenigen Beschäftigten in der schwach ausgebildeten Landwirtschaft der Region Massa-Carrara konnte der Squadrismus - anders als beim ansonsten weitverbreiteten Agrarfaschismus - kaum Mitglieder rekrutieren, während die Angehörigen aus Mittelstand und Bürgertum, insbesondere durch die große Gruppe der Studenten und Oberschüler, leicht überrepräsentiert waren. 80 Während die Führungsgruppe des Squadrismus im Massa-Carrara ausgesprochen bürgerlich war - ehemalige Frontoffiziere und junge Angehörige der kleinen und mittleren Marmorunternehmerschaft dominierten - , galt dies nicht für die Basis des lokalen Squadrismus. 81 Von solchen Ausnahmefällen abgesehen, waren jedoch die Land- und Industriearbeiter im Squadrismus deutlich unterrepräsentiert. Die Einbindung in das sozialistische Milieu aus Gewerkschaften, Partei und Freizeitorganisationen sowie betriebliche und nachbarschaftliche Solidaritätsstrukturen verhinderten eine stärkere Hinwendung zu Faschismus und Squadrismus, der diesen Gruppen auch hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Interessenlagen wenig versprach. So war der Anteil der Arbeiter unter den Squadristen der Stadt Bologna mit 5,3 Prozent ebenso verschwindend gering wie ihr Anteil in Florenz, der sich gerade einmal auf 3,6 Prozent belief. Selbst in der toskanischen Industriestadt Livorno fanden sich nur 29,4 Prozent Arbeiter unter den Mitgliedern der faschistischen Miliz MVSN von 1923, obwohl die Arbeiter dort 41,6 Prozent der erwachsenen männlichen Bevölkerung in der Stadt stellten. 82 Die Mittelschichten im Squadrismus Kehren wir wieder zu unserem Bologneser Sample zurück und analysieren nun die Mittelschichten, also die Handwerker und Einzelhändler, Angestellten, Beamten und Kleinbauern. Mit diesem Untersuchungsgegenstand rückt eine vielschichtige soziale Gruppe in das Blickfeld, die schon von den zeitgenössischen Beobachtern als das typische soziale Substrat des Faschismus betrachtet wurde. Der Kommunist Antonio Gramsci hatte schon 1921 beobachtet, dass der Frühfaschismus einen städtischen Kern besaß und sich vornehmlich aus Veteranen, Studenten und den städtischen Mittelschichten rekrutierte, wohingegen die faschistische Massenbewegung seit 1921 ländlicher Natur war und sich vor allem aus Grundbesitzern, Pächtern und Kleinbauern rekrutierte. 83
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Engelmann, Provinzfaschismus, S.13, 162-164, 166-169. Zur Führungsgruppe Engelmann, Provinzfaschismus, S.48-50. Suzzi Valli, Myth, S.136; Abse, Rise, S.68/69. Die MVSN war während der faschistischen Regimephase die Auffangorganisation für die ehemaligen Squadristen. Siehe dazu Abschnitt 1.2. Gramsci, Antonio: I due fascismi, in: L'Ordine Nuovo vom 25.8.1921. Siehe auch: Gramsci, Fascismo, S.133-135.
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Dieses von Antonio Gramsci geprägte Bild der „zwei Faschismen" wurde vielfach, und keineswegs nur in sozialistischen Kreisen, aufgegriffen und weitgehend bestätigt. Die städtischen Kerngruppen des frühen Faschismus, die aus ehemaligen Offizieren, Studenten und bürgerlichen Elementen ohne gefestigte Existenz bestanden haben, wurden durch den städtischen Mittelstand aus Kleinhändlern und Handwerkern und schließlich auch die Angestellten ergänzt. Der andere Teil war der agrarische Faschismus, der seit 1920/21 die Massenbasis des Faschismus stellte und sich auf die kleinen und mittleren Bauern sowie die Großgrundbesitzer stützte, während er kaum Landarbeiter fur sich gewann. Auch Angelo Tasca schrieb in seinem erstmals 1938 erschienenen Werk: „Der Faschismus holt sich seinen Anhang vorwiegend aus den mittleren Schichten" und diese Mittelklassen „sind vor allem städtisch"; es sei „eine Tatsache, dass die Führer der faschistischen Kampfgruppen der squadre, in erster Linie aus dem mittleren städtischen Bürgertum kamen". 8 4 Neben Gramscis Interpretation ist die These vom Faschismus als Revolte der Mittelschichten gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem zu einer einflußreichen Deutung des Faschismus geworden. Diese Interpretation kam unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg auf und wurde erstmals 1923 vom liberalen Publizisten und Historiker Luigi Salvatorelli vertreten, der die technischen Berufe, die Staatsangestellten und die sogenannten freien Berufe der Advokaten und Mediziner als die soziale Basis des Faschismus kennzeichnete. Ging man in der zeitgenössischen Diskussion der Jahre 1919 bis 1923 davon aus, dass die kriegsbedingte rasche Proletarisierung der ceti medi zur Missgunst gegen die sozialistische Arbeiterbewegung gefuhrt hatte, so stellten auch Historiker immer wieder die Bedeutung der krisengeschüttelten Mittelschichten samt ihrer antiproletarischen Einstellung für den Aufstieg des Faschismus heraus. 85 Diese Interpretation zeigt einige Parallelen zur Diskussion um die „zeitinadäquate Ideologie" des alten Mittelstandes und die „standortinadäquate Ideologie" des neuen Mittelstandes, die Theodor Geiger 1930 als wichtigste soziale (nicht: politische!) Ursache für den Aufstieg der NSDAP gesehen hatte. Auch Geigers Thesen wurden, wie die Salvatorellis, schon in den dreißiger Jahren lebhaft diskutiert. Sie wurden - im Unterschied zur italienischen Debatte - aufgrund von Geigers wesentlich differenzierterer Argumentation in der Folge meist in positiver Anknüpfung erweitert, etwa von Hendrik de Man, Carl Mierendorff, Svend Riemer, Rudolf Heberle, Rudolf Küstermeier, Erik 84
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Tasca, S.378/379. Zur Forschungslage mit weiteren Literaturhinweisen in den dortigen Anmerkungen: Schieder, Strukturwandel, S.74-78; Granata, Storia nazionale, S.503-512, 541-544. Salvatorelli; De Felice, Interpretazioni, S.168, 178/179, 186-188; De Felice, Italian Fascism, S.312-317; Roberts, Petty Bourgeois, S.337-347; Gentile, Storia, S.60-162, 560/561; Schieder, Strukturwandel, S.70; Petersen, Wählerverhalten, S. 140-142. Einen ergiebigen zusammenfassenden Oberblick bietet: Salvati, S.65-84.
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Das Rekrutierungspotential
Nölting, Emil Lederer, Walter Dirks und (in kritischer Absicht) von Arthur Rosenberg. Auch in der Bundesrepublik fand diese Diskussion dann durch Seymour Martin Lipsets Thesen aus den 50er Jahren, aber auch durch Ralf Dahrendorf, M. Rainer Lepsius und die sozialhistorische Forschung der 70er Jahre Eingang in die Historiographie. Die These von der sozialen Dominanz des Mittelstandes ist in den 80er/90er Jahren, vor allem durch Falters Analyse der Wählerschichten der NSDAP, zwar stark relativiert, aber letztlich nicht widerlegt worden. 86 Die Resultate des vom Autor erhobenen Samples zeigen, dass unter den Bologneser Squadristen vor allem die Angestellten und die Kleinbauern hervorstachen, während die Halbpächter, coloni, die Handwerkergruppen, die kleinen Geschäftsinhaber und Einzelhändler unterrepräsentiert blieben. Mit 14,6 Prozent sind sie im Sample doppelt so stark vertreten wie in der Bevölkerung Bolognas. Weil ein wichtiger Anteil im Sample schlicht mit „impiegato" (Angestellter) bezeichnet wurde, ist kein genauer Vergleich nach einzelnen Angestellten- und Beamtengruppen möglich. Die Angestellten stellten eine im Prinzip aufsteigende soziale Gruppe dar, wobei sie aber durch die im Krieg einsetzende Inflation zunehmend proletarisiert wurden. Verglichen mit 1913 (=100) stieg der Preisindex auf eine Ziffer von 268,1 im Jahre 1919 an und vervierfachte sich bis zum Jahre 1921 mit der Ziffer 416,8 gegenüber 1913. Die Ersparnisse der Mittelschichten, soweit sie in Obligationen, Hypotheken und Banknoten angelegt worden waren, wurden fast völlig durch die Inflation aufgezehrt. Während durch die massive Steigerung der Lebenshaltungskosten viele Angestelltengruppen enorm an Kaufkraft verloren, wuchsen gleichzeitig die Reallöhne der Arbeiter. Durch die Arbeitskämpfe 1919/20 konnten sie Zuwächse gegenüber dem Vergleichsjahr 1913 verzeichnen. So stieg der Reallohnindex der Arbeiter von 93 im Jahre 1919 auf 115 im Folgejahr bis auf 127 im Jahre 1921. Der Reallohnindex der Industriearbeiter dieses Jahres lag sogar bei 138.87 Vergleichen wir diesen Befund für Bologna mit den toskanischen Verhältnissen, so zeigt sich, dass auch hier die bedrohten Mittelschichten, wie Snowden betont hat, den Hauptanteil des Faschismus stellten. Ähnlich wie Theodor Geiger in den dreißiger Jahren für die NSDAP hervorgehoben hat, betont auch Snowden die „Panik im Mittelstand", die der faschistischen Bewegung Mitglieder zuspülte. Die frühen Kernelemente des toskanischen Faschismus, die Studenten und ehemaligen Soldaten eines weitgehend städti86
87
Dazu: Kraushaar, Implosion, S.77-91; Falter, Jürgen W.: Radikalisierung des Mittelstandes oder Mobilisierung der Unpolitischen? Die Theorien von Seymour Martin Lipset und Reinhard Bendix über die Wählerschaft der NSDAP im Lichte neuerer Forschungsergebnisse, in: Steinbach, Peter (Hrsg.): Probleme politischer Partizipation im Modernisierungsprozeß. Stuttgart 1982, S.438-469. Catalano, S.181-244; Zamagni, S.213, 239; Roveri, Crisi economica, S.427-441; Petersen, Wählerverhalten, S.139/140; De Feiice, Mussolini il rivoluzionario, S.434.
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sehen Squadrismus, bekamen seit dem Frühjahr 1921 durch verschiedene Gruppen des städtischen Mittelstandes Gesellschaft. Diese hatten zuvor oft abseits der Politik gestanden und waren, aufgrund ihrer sozialen Herkunft und ihres jungen Alters, Neulinge auf der politischen Bühne. Ihr erstes politisches Engagement gehörte offenbar dem Squadrismus. Die Historikerin Roberta Suzzi Valli hat anhand von zwei Samples über die städtischen Squadristen in Bologna und Florenz zeigen können, dass nur 12 Prozent der ersten und 9,5 Prozent der zweiten Gruppe vorher politisch aktiv gewesen waren. Diese mittelständischen Gruppen bestanden in der Toskana insbesondere aus Büroangestellten, aber auch aus Einzelhändlern, unteren Beamten und städtischen Grundbesitzern; hinzu kamen dann aber auch Ärzte, Rechtsanwälte und Ingenieure. Ihr politisches Interesse war laut Snowden eng mit ihrem raschen wirtschaftlichen Abstieg verknüpft, der angesichts der rasanten Inflation der Nachkriegsjahre vor allem Berufsgruppen mit festen Gehältern traf. In der toskanischen Stadt Arezzo etwa rekrutierte sich etwa die Hälfte der Squadristen aus Einzelhändlern, Kaufleuten und Angestellten, während weitere 25 Prozent Freiberufler oder Studenten waren. 88 Im Allgemeinen waren offenbar vier Voraussetzungen fur das Engagement der Mittelschichten maßgebend. Erstens das subjektive Gefühl des Bedrohtseins vor allem in den städtischen Mittelschichten. Die traditionelle Haltung der Mittelschichten, etwas Besseres sein zu wollen und einen weiteren sozialen Aufstieg anzustreben, kollidierte mit dem Selbstbewusstsein der Arbeiter. Man fürchtete sich vor dem Aufstieg des Proletariats, dessen Machtzuwachs an dem steigenden Organisationsgrad und Mitgliederbestand in den Gewerkschaften und Parteien sichtbar wurde. Allein auf dem Lande hatte sich die Zahl der Streikenden von einer halben Million im Jahr 1919 auf über eine Million im Jahr 1920 verdoppelt; auch die durchschnittliche Streikdauer hatte sich von 6,8 Tagen im Jahre 1919 auf 13,5 Tage im Jahre 1921 verlängert. Die sich auf Norditalien konzentrierenden Streikaktivitäten der Arbeiter belasteten zudem das Alltagsleben der Mittelschichten, insbesondere durch die Streiks bei der Post, der Bahn und in den Krankenhäusern. Zweitens: Die Angst vor der proletarischen Lebensweise, die den Mittelschichten fremd war, und die Absetzung von den vergleichsweise ungebildeten Arbeitern verdichteten sich zu politischen Unterschieden und Abgrenzungen. Drittens: Ökonomisch hatte der Einzelhandel mit der Konkurrenz der sozialistischen Konsumgenossenschaften zu kämpfen, wie beispielsweise Mitte 88
Snowden, Fascist revolution, S.165/166, 171-179; Cardoza, Agrarian elites, S.247; Lyttelton, Seizure, S.68. Zur These der politischen Neulinge: Schieder, Strukturwandel, S.78; Suzzi Valli, Myth, S. 134/135. Zu Theodor Geiger: Geiger, Panik, S.637-653; Geiger. Soziale Schichtung, S.77-138.
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Das Rekrutierungspotential
1920 in der Kommune Prato, in der insgesamt 24.700 Menschen an 34 Konsumgenossenschaften teilhatten. Das war fast die Hälfte der gesamten Kommune, die insgesamt nur 56.000 Einwohner zählte. Sich für den Faschismus zu engagieren, lag somit durchaus im Interesse der unabhängigen Lebensmittelhändler. Tatsächlich hatten die Faschisten die sozialistischen Konsumgenossenschaften ja buchstäblich in Schutt und Asche gelegt. Auch die von den sozialistischen Kommunalverwaltungen erhobenen Steuerlasten zu Ungunsten der Besitzenden (etwa Gebäude- und Mietsteuern, Geschäfts- oder Luxussteuern) ließen diese zu Sympathisanten und Finanziers der Faschisten, werden. Durch die radikalen Töne der Sozialisten, die Schlimmeres befurchten ließen, wurden die Ängste der Mittelschichten zusätzlich geschürt. Schließlich hatten die sozialistischen Kommunalverwaltungen immer wieder betont, dass sie „ausschließlich die Arbeiterklasse repräsentierten" und das Recht des Privatbesitzes unterhalb der Bedürfnisse der Kommune ansiedelten. Obwohl Frank Snowden kein repräsentatives Sample über die Squadristen der Toskana erhoben hat, ist seine Zusammenfassung dennoch plausibel: „Whatever information is available on the social composition of the directing bodies of local fasci there is a heavy representation of the categories of retailers, landlords, shopkeepers and self-employed". 89 Viertens schließlich hatte die schwindelerregende Inflation zu realen Abstiegserfahrungen oder zumindest Abstiegsängsten vor allem der festentlohnten Angestellten geführt, die jetzt erstmals massenhaft gegen die herrschenden Parteien und Gruppen in Bürgertum und Arbeiterbewegung politisch Stellung bezogen.
Antisozialistischer Squadrismus: Großgrundbesitzer und Kleinbauern Kehren wir zum Squadrismus in Bologna zurück. Die Überrepräsentation der Kleinbauern im Sample wie auch das starke Übergewicht der Landbesitzer können dabei im Zusammenhang erörtert werden. Bologna war typisch für die modernen landwirtschaftlichen Produktionsmethoden auf den fruchtbaren Böden der emilianischen Provinzen. Der profitable Hanf- und Zuckerrübenanbau Italiens war vornehmlich in der Emilia zu Hause, einem intensiv kultivierten Gebiet mit überaus hohen Erträgen. Aus dem dortigen Boden erzielte man einen Hektarertrag von 17 Doppelzentnern Weizen, während der nationale Durchschnitt bei 10 Doppelzentnern lag. Die Region war überaus dicht besiedelt und die Löhne waren vergleichsweise
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Snowden, Fascist revolution, S.171 (Zitat), 167-171. Das Zitat der Sozialisten entstammt der „Bandiera rossa" vom Dezember 1920 und wurde Snowden (ebd., S.170) entnommen. Die Zahlen zu den Streiks aus Serpieri, Guerra, S. 267, 270-274.
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hoch, da die Landarbeiter durchschnittlich nur für 120 oder 130 Tage im Jahr Arbeit bekommen konnten. 90 Die Situation in der Provinz Parma war den Bologneser Verhältnissen nicht unähnlich. Wie in Bologna fürchteten sich die Landbesitzer Parmas vor der sozialen Instabilität, in die sie nach dem Ersten Weltkrieg hineingeraten waren. In Parma, am nordwestlichen Teil der Emilia gelegen, hatten der wirtschaftliche Aufschwung, die verbesserte Infrastruktur und die Modernisierung und Mechanisierung der traditionellen Landwirtschaft, die hier erst am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte, eine große Schicht entwurzelter Tagelöhner und eine Klasse neuer ländlicher Unternehmer hervorgebracht. Beide Gruppen profitierten durch höhere Einkünfte und Löhne von dem verbesserten Ertrag aus Boden und Landwirtschaft. Wie aber der neue Wohlstand in der rasch wachsenden Bevölkerung im einzelnen zur Verteilung gebracht werden sollte, war heftig umstritten. Beide Gruppen standen sich unversöhnlich gegenüber und waren kaum zu Kompromissen bereit. Die unter der ländlichen Arbeiterbewegung verbreitete revolutionär-maximalistische Haltung wurde durch die Arbeitslosigkeit auf dem Lande verschärft. Die Mechanisierung der Landwirtschaft schuf keine ausreichende Beschäftigung für die wachsende Bevölkerung, wobei selbst die zunehmende Emigration nach Nordeuropa und in die USA die Probleme nicht auffangen konnte, und führte seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zu nahezu unvermeidlichen Streiks und Zusammenstößen - zumal Arbeitsmigration und Reduktion des Analphabetismus das politische Bewusstsein der Arbeiter gestärkt hatten. Nachdem sich beide Seiten - die Bauernligen der Federterra und die Vereinigungen der Agrarier - sukzessive aufeinander hatten einstellen können und sich so etwas wie eine gegenseitige Toleranz zu entwickeln begonnen hatte, zerstörte der Krieg die gegenseitige Annäherung. Die sozialistische Bewegung erreichte nach dem Krieg einen bislang für unmöglich gehaltenen Machtzuwachs, zu dem ihre seit den 1890er Jahren aufgebauten Gewerkschaften, Arbeitskammern und Genossenschaften und ihre seit 1919 massive politische Vertretung in den kommunalen Verwaltungen beitrugen. Der revolutionäre Anspruch verfestigte sich und verschaffte sich mit den ungeheueren Streikwellen der Jahre 1919/20, die den intransigenten Forderungen nach besseren Arbeitsverträgen und letztlich nach der Sozialisierung des Bodens Nachdruck verliehen, eine unübersehbare öffentliche Präsenz. Das apodiktische Auftreten der Arbeiterbewegung, die die überwältigende Mehrheit der Landarbeiter organisiert hatte, forderte eine ebenso entschiedene Vergeltung der ländlichen Unternehmer heraus, die auf den gewaltsamen Faschismus als Heilmittel und
90
Corner, Fascism, S.152/153; Cardoza, Agrarian Elites, S.128; Gentile, Storia, S.159/160; Squeri, S.106.
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Gegenwaffe gegen die „rote Tyrannei" der sozialistischen Arbeiterbewegung setzten. 91 Ähnlich wie in Parma lagen die Verhältnisse auch in den anderen Provinzen der Emilia wie in Bologna, Ferrara, Mantua oder Reggio Emilia. Zwar gab es andere Mischungsverhältnisse der sozialistischen Arbeiterbewegung wie etwa die stärkere Präsenz von Genossenschaften in der Provinz Reggio Emilia oder die stärkere Militanz der Arbeiterbewegung in Ferrara und Bologna. Auch war das Landwirtschaftssystem leicht unterschiedlich. So wurde etwa in der Provinz Bologna jahreszeitlich früher und mehr chemischer Dünger eingesetzt, es kamen die Landwirtschaftsmaschinen häufiger zum Einsatz und es wurde ertragreicherer Samen benutzt als in Parma - die Provinz Bologna hatte somit im Ganzen ein moderneres Landwirtschaftssystem mit einem größeren Anteil an Großgrundbesitzern. Auch die Art der Arbeitsverträge mit den Landarbeitern, die meist auf ein bis drei Jahre befristet waren und die Größe des bei den mezzadri verbleibenden Anteils der Ernte waren unterschiedlich. Diese Differenzierungen hingen allerdings nicht vornehmlich von den Provinzgrenzen ab, sondern waren oft, wie etwa in Bologna, schon innerhalb der einzelnen Provinz gegeben. Im Ganzen aber glichen sich die Verhältnisse in der Emilia. Erstens gab es eine modernisierte und mechanisierte Landwirtschaft mit einem relativ hohen Anteil an Landarbeitern, Kleinbauern und mezzadri, deren Existenz, so die Absicht der Arbeiterbewegungsorganisationen, proletarisiert werden sollte. Zweitens existierte ein starkes und politisch maximalistisch ausgerichtetes Gewerkschaftssystem, das fast die gesamte Arbeitsvermittlung auf dem Land in seinen Händen hielt. Drittens wurde der organisierte Arbeitskampf über Streiks mit den Agrarierverbänden ausgetragen. Und viertens gab es fast durchweg sozialistische Kommunalverwaltungen, die neue Steuern auf Grund und Boden zu Lasten der großen Grundbesitzer und Pächter erhoben und den sozialistischen Kooperativen und Arbeitskammern zugleich besondere Privilegien zuteil werden ließen. 92 Im Unterschied zu Gesamt-Italien hatte die Arbeiterschaft der Emilia einen Anteil von 56,2 Prozent Landarbeitern. Im Landesdurchschnitt gab es dagegen nur 46,4% Landarbeiter. Zudem fehlte in der Emilia eine Großindustrie, die sich vor allem auf die Lombardei und das Industriedreieck Mailand-TurinGenua konzentrierte. Insgesamt war die Emilia zu jener Zeit im Schnitt bürgerlicher als das übrige Italien, vor allem weil die Mittelschichten (ceti
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Squeri, S.8-32, 253/254. Zur Arbeitslosigkeit unter den Landarbeitern der Lomellina vgl. Kölling, Bernd: Familienwirtschaft und Klassenbildung. Landarbeiter im Arbeitskonflikt: Das ostelbische Pommern und die norditalienische Lomellina 1901-1921. Vierow bei Greifswald 1996, S.135-158. Siehe Cardoza, Agrarian Elites, S.13-163, 174-183, 212-233, 245-306, 323-339, 350-353; Corner, Fascism; Cavazzoli; Cavandoli; Basini; Alberghi; Tirelli, S.663-690.
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medi) mit 57,2 Prozent über dem Landesdurchschnitt von 50,2 Prozent lagen. Diese Überrepräsentanz erklärt sich daraus, dass die Kleinbauern und mezzadri zu den ceti medi gerechnet wurden. Entsprechend war auch die Arbeiterklasse kleiner als landesweit. Gleichwohl war die Emilia eine rote Hochburg, in der die PSI bei den Parlamentswahlen vom November 1919 über 60 Prozent der Stimmen einfahren konnte (auf dem Land waren es nochmals mehr), während sie im Landesdurchschnitt nur 32,3 Prozent erreichte. 93 Wie in Parma, so hatten viele Landbesitzer der Emilia schon aus ökonomischen Gründen ein zentrales Interesse an der Förderung des Faschismus. Insbesondere, nachdem die Versuche der Agrariervereinigungen, zu eigenständiger politischer Macht zu gelangen, gescheitert waren, weil die Interessendivergenzen der städtischen Handwerker, Einzelhändler, Veteranenorganisationen, kleinen Landbesitzer und großen kommerziellen Grundbesitzer nicht unter einen Hut zu bringen waren. 94 Gleichzeitig explodierte in den ersten Nachkriegsjahren der Mitgliederbestand der Gewerkschaften. Die Dachgewerkschaft Confederazione Generale del Lavoro wuchs von 249.039 Mitgliedern im Jahre 1918 auf 1,16 Millionen im Folgejahr bis auf 2,15 Millionen im Jahre 1920. Auch die ländliche Federterra legte von 100.000 Mitgliedern im Jahre 1918 auf eine Million am Ende des Jahres 1920 zu. 95 Angesichts dieses Wachstums, der Streikwellen 1919/20, der Fabrikbesetzungen und der maximalistisch-revolutionären der Sozialisten sowie schließlich der abwartenden Haltung der Giolitti-Regierung (die sich nicht in die Arbeitskämpfe einschaltete) engagierten sich die militanten Agrarier nicht selten sogar persönlich in der faschistischen Bewegung. Oft genügte ein Tropfen auf dem heißen Stein, wie in Ferrara beispielsweise eine schlechte Ernte, um die Angst vor dem sozialen Abstieg so zu verschärfen, dass ihnen ein politisches Engagement fur die Faschisten dringend angezeigt erschien. Üblich war insbesondere die finanzielle Unterstützung des Squadrismus. Vor allem die Söhne der Agrarier waren es, die überproportional häufig zu Squadristen wurden und meist eine höhere Stellung innerhalb des faschistischen Kampfbundes einnahmen. 96 Tatsächlich waren die Sozialisten aber gerade auf dem Höhepunkt ihrer Macht um die Jahreswende 1920/21 zerstritten. Die Bewegung war in ein reformistisches, ein maximalistisches und ein kommunistisches Lager gespal93 94
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Muzzioli, S.57; Petersen, Wählerverhalten, S.127: Cardoza, Agrarian Elites, S.273. Cardoza, Agrarian Elites, S.259/260, 271/272. Auch die Großgrundbesitzer waren in eine exportorientierte Gruppe der Reis- und Hanferzeuger und in die protektionistisch orientierten Teile der Getreide- und Zuckerrübenproduzenten gespalten. Zahlen nach: Vivarelli, Storia, Bd.2, S.300; Cardoza, Agrarian Elites, S.291; Sabbatucci, Crisi, S.I37. Squeri, S.254; Cardoza, Agrarian Elites, S.303, 323/324; Comer, Fascism, S.l 10/111, 113; Schieder, Strukturwandel, S.77. Zur Finanzierung des Squadrismus durch die Agrarier siehe Kapitel 2.3.4 und die dortigen Literaturangaben.
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ten. Zudem hatten die Sozialisten keine klare Strategie, wie gegen die faschistischen Attacken vorgegangen werden sollte. Nicht zuletzt fehlte ihnen eine militärische Organisation zur Abwehr der faschistischen Angriffe. In dieser Situation konnte die Gewaltoffensive der Squadristen ihre verheerende Wirkung entfalten. In Ferrara beispielsweise lieferten die massiven squadristischen Zerstörungen und Brandstiftungen den örtlichen Agrariern Mitte 1921 den Vorwand, die noch im März 1920 vertraglich abgemachten Bedingungen der Arbeitsvermittlung einseitig aufzukündigen. 97
Der faschistische Kleinbauer und Halbpächter Gewissermaßen eingeklemmt zwischen den beiden Blöcken der italienischen Landwirtschaft - den Großgrundbesitzern und landwirtschaftlichen Unternehmern einerseits und der sozialistischen Arbeiterbewegung andererseits standen die kleinen Bauern und Halbpächter. Während die sozialen Probleme der großstädtischen Arbeiter und der Landarbeiter durch die Organisationen der PSI gebunden wurden, sah es bei den ländlichen Kleinbauern anders aus. In dem Sample der Bologneser Squadristen waren die Kleinbauern mit 5,7 Prozent leicht überrepräsentiert, wobei unter „Kleinbauern" auch die prismatischen Gruppen der agricoltori und contadini erfasst wurden, die nicht mit den Bauern im deutschen Sinne identisch sind, da die italienischen Begriffe auch Pächter, Halbpächter, Tagelöhner oder Feldknechte nicht ausschlossen. Die Landarbeiter und Bauern hatten 2,6 Millionen der im italienischen Heer eingezogenen etwa fünf Millionen Soldaten gestellt. Aufgrund ihrer mangelhaften Qualifikationen wurden sie fast ausschließlich der Infanterie zugeteilt und hatten den Großteil der Kriegsverluste zu tragen. 63 Prozent der Kriegswaisen waren Kinder von Bauern und Landarbeitern. 98 Nach dem Krieg drängten die heimkehrenden Soldaten auf das Land, da man ihnen während des Krieges viel von ihrem „Anrecht auf den Boden" erzählt hatte. Die Kriegspropaganda hatte gegenüber der traditionell eher pazifistisch eingestellten bäuerlichen Masse die Parole „Das Land den Bauern" ausgegeben und den Krieg dadurch als einen „demokratischen Volkskrieg" hingestellt. So wollte man die contadini für ihre Kriegsopfer mit der ersehnten Emanzipation aus den alten Abhängigkeitsverhältnissen belohnen. Im Dezember 1917 wurde das „Nationale Werk für die Frontkämpfer" geschaffen (Opera Nazionale per i Combattenti). Aus dem gut dotierten Fonds sollte Ackerland für die bäuerlichen Frontkämpfer erworben werden, was nach dem Krieg jedoch nicht in dem erwarteten Umfang geschah. Große Enttäuschung machte sich breit, als
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Zur Verbindung der Agrarier mit den Faschisten in der Provinz Ferrara siehe: Corner, Fascism, S.133-136, 145, 200/201. Melograni, Storia, S.93; Petersen, Wählerverhalten, S.123. Allgemein zu den Kriegsopfern im Ersten Weltkrieg Gibeiii.
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sich zeigte, dass die liberalkonservativen Eliten nicht bereit waren, die Versprechungen einzulösen und zugleich die sozialistische Bewegung, die die Landkollektivierung propagierte, die Oberhand gewann." Die ersten Nachkriegsjahre waren durch einen hohen Preisverfall der Agrarprodukte, durch Technisierung und Rationalisierung der Landwirtschaft, durch eine extreme Steigerung der Lebenshaltungskosten und eine schwindelerregende Inflation gekennzeichnet. Ende 1920 war die Lira nur noch 3,5 amerikanische Cents wert, gegenüber 19 Cents vor dem Krieg. Auch die Staatsverschuldung war mit 95.017 Millionen Lire siebenmal so hoch wie vor dem Krieg. 100 Diese Nachkriegsinflation hatte zu oft überstürzten Landkäufen vieler Kleinbauern und kleiner Pächter gefuhrt, die die Gelegenheit zur Schuldentilgung nutzen wollten. Zudem verkauften, verängstigt durch die Streikwellen des Jahres 1920, viele alte Grundbesitzer ihr Land zu sehr niedrigen Preisen. Von 1911 bis 1921 stieg somit der Anteil der kleinen Landbesitzer unter den in der Landwirtschaft Beschäftigten von 18,3 auf 32,4 Prozent an, während der Anteil der Landarbeiter während derselben Eckjahre von 53,3 auf 44,7 Prozent schrumpfte. Zwar stellten die Landarbeiter nach wie vor die Mehrheit der Beschäftigten, aber die kleinen Landbesitzer hatten doch enorm zugelegt und den Abstand deutlich verringert.101 Das Verlangen der Kleinbauern nach Eigenständigkeit stieß mit dem System der Landarbeitergewerkschaften (Federazione nazionale dei lavoratori della terra, kurz: Federterra) zusammen, die die Arbeitsvermittlung monopolisiert hatten. In Ferrara etwa hatten seit Anfang 1920 die Ligen zusammen mit der Federterra - diese war innerhalb von zwei Monaten vom 25.257 organisierten Arbeitern im Juni 1919 auf 40.000 im August angewachsen - eine festgefugte Einheitsfront gegen die großen Grundbesitzer und Verpächter bilden können und dadurch die Bedingungen der Arbeitsverträge weitgehend bestimmt. Die sozialistischen Erfolge vor allem in der Emilia Romagna und in der Toskana führten dazu, dass der Dachverband der Gewerkschaften, die CGL, im Jahre 1921 die Sozialisierung des Bodens forderte. Der Boden sollte von einer agrarischen Gemeinschaft (comunanza agricola) bestellt werden. Diese Maximalforderung wurde nach einer Reihe von Erfolgen erhoben. Zuvor hatte man schon die Reduktion der täglichen Arbeitszeit und der jährlichen Arbeitstage sowie die Erhöhung der Arbeitslöhne durchsetzen können. Aller-
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Vivarelli, Storia, B d . l , S.43-94; De Feiice, Mussolini il rivoluzionario, S.288-418; Serpieri, Guerra, S.42; Corner, Fascism, S.149. Zur Parole „la terra ai contadini quale fu promessa al fante": Papa, S.3-45. 100 Gentile, Storia, S.61/62; Serpieri, Guerra, S. 161; Carsten, Aufstieg, S.63; Snowden, Fascist revolution, S.166. 101 Serpieri, Guerra, S.360/361; Serpieri, Struttura, S.123; Cardoza, Agrarian Elites, S.321; Fameti, S. 12-16, bes. S.15; Comer, Fascism, S.152-155.
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dings stand die sozialistische Arbeiterbewegung auf dem Höhepunkt ihrer Macht Ende 1920 beziehungsweise Anfang 1921 vor einem immer drängenderen Problem. Sollte man die angestrebte Landkollektivierung durch Gewaltaktionen oder durch Reformen vorantreiben? Dem agrarischen Kleinbesitz, der mit tiefem Misstrauen betrachtet wurde, blieb unter diesen Bedingungen kaum eine Entfaltungsmöglichkeit. Vor allem die Pächter (qffituari) und Halbpächter (mezzadri) sollten gemäß den sozialistischen Vorstellungen durch neue Arbeitsverträge aus der Beziehung zum Grundbesitzer gelöst und zu einfachen Verkäufern ihrer Arbeitskraft gemacht, also „verproletarisiert" werden. Das mezzadria-System bestimmte vor allem in der Toskana das Landwirtschaftssystem, kam aber auch zu erheblichen Anteilen in der Emilia vor. Die mezzadri arbeiteten unbeaufsichtigt auf den gepachteten Ländereien und besaßen weder das Vieh, die landwirtschaftlichen Maschinen und Werkzeuge, noch den Samen für die Ernte. Je nach Vertrag hatten sie dem Landbesitzer einen Anteil der Getreideernte (oft die Hälfte) und darüber hinaus meist zwei Drittel der anderen Ernteprodukte abzutreten. Zudem waren weitere Verpflichtungen gegenüber den Landbesitzern einzugehen, wie die Abgabe eines Prozentsatzes ihres Einkommens oder eines Anteils der Eier und sonstiger Produkte sowie die Ableistung von Zusatzarbeit. Im Gegenzug garantierten ihnen die Landbesitzer ein Minimaleinkommen. Insbesondere in der Emilia versuchte die gewerkschaftliche Federterra, die mezzadri durch neue Arbeitsverträge zu proletarisieren, anstatt ihnen dabei zu helfen, das Land zu kaufen und zu unabhängigen Kleinbauern aufzusteigen. Die mezzadri, ohnehin mehr an höheren Getreidepreisen als an besseren Arbeitslöhnen für die Landarbeiter interessiert, waren insbesondere dann aufgebracht, wenn durch Streiks der Federterra Ernten verloren gingen. Die Federterra trat nur am Rande für die Interessen der Halbpächter ein, etwa für eine günstigere Aufteilung der Ernteerträge zwischen Landbesitzern und mezzadri. Traten diese jedoch aus der Federterra aus oder ignorierten die Anweisungen der Streikkomitees, so wurden sie wie aufsässige Landbesitzer behandelt. Sie wurden boykottiert, bedroht, erpresst und mit Gewalt zu einem gehorsamen Verhalten gebracht. Spezielle Tribunale der Federterra verhängten Boykotte, die zur fast totalen Isolation der Betroffenen führten, die fortan weder Kleidung oder Nahrung einkaufen noch ihre Produkte verkaufen konnten. In einigen Fällen wurde ihnen sogar medizinische Hilfe verweigert. Auch kam es dazu, dass die Tiere der Kleinbauern verstümmelt wurden. Zuweilen konnten auch physische Übergriffe beobachtet werden, die meist spontaner Natur waren. Im Ganzen gesehen verweigerten die Sozialisten einer intermediären ländlichen Klasse und dem individuellen Privatbesitz die Existenz und betrachtete die Interessenunterschiede und -konflikte zwischen Landarbeitern und Kleinbauern beziehungsweise Halbpächtern, als von „absolut vorüberge-
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hender und zweitrangiger Natur", wie es Ende 1919 in einer sozialistischen Zeitung Ferraras hieß. 102 Die Macht der Sozialisten nach den Kommunal- und Provinzialwahlen des Jahres 1920 war exorbitant. Von den 280 Gemeinden der Emilia wurden 223 von sozialistischen Mehrheiten verwaltet, und von den 329 Gemeinden der Emilia-Romanga waren es immerhin noch 217, die sozialistisch verwaltet wurden. Die Gewerkschaftszentralen von Bologna, Reggio Emilia oder Ravenna hatten so gut wie alle Lohnarbeiter, Kleinbesitzer und Pächter organisiert und bestimmten die Preise der Lebensmittel, die sie durch ihr dichtes Genossenschaftsnetz auf den Markt brachten. Den Kommunen waren in den Kriegsjahren neue Verwaltungs- und Finanzbefiignisse zugewachsen. Sie verfugten über örtlich festzusetzende Haus-, Grundbesitz-, Gewerbe- und Familiensteuern, in ihrer Hand lagen die Verpachtung des kommunalen Grundbesitzes, die Gewerbeaufsicht, die Städteplanung und die Sozialfürsorge. Die Sozialisten nutzten ihre neuen Kompetenzen. In Reggio Emilia etwa beschloss die sozialistische Rathausmehrheit die Gratisverteilung von Medikamenten und Lebensmitteln und führte oder kontrollierte zahlreiche Lebensmittelläden, Restaurants und eine Großmühle. 2.227 Hektar Land wurden von den Genossenschaften bearbeitet. Die 86 Konsumgenossenschaften zählten im Jahre 1920 16.800 Mitglieder, ihr Umsatz betrug 53 Millionen Lire. Von daher hatte die sozialistische Bewegung vor allem die Großagrarier, aber auch die Handwerker und das agrarische Kleinbürgertum gegen sich. Die sozialistische Verwaltung hatte sich der scharfen Angriffe dieser Gruppen zu erwehren, wie etwa in Ferrara, wo die Sachwalter der sozialistischen Administration als unfähige und inkompetente Revolutionäre angeklagt wurden, die nicht im Interesse der „Allgemeinheit", sondern ausschließlich zum Nachteil der Grundbesitzer und des städtischen Mittelstandes Steuern erließen, um davon öffentliche Arbeiten für das Proletariat zu bezahlen. Auch die Gesetze würden einseitig angewandt und die öffentliche Sicherheit könne nicht mehr gewährleistet werden, klagten die städtischen Mittelschichten zusammen mit dem Provinzpräfekten. Solche Beschuldigungen speisten sich oft mehr aus der Angst vor der radikalrevolutionären, maximalistischen Pro-
102 Zitat: Scintilla vom 20.12.1919 (zitiert nach Corner, Fascism, S.88); Tasca, S.109, 117-122; Cardoza, Agrarian Elites, S.267, 277, 283-285; Corner, Fascism, S.85-103, 156; Vaini, S.55/56; Cantagalli, S.85-102; Gentile, Storia, S.159/160; Squeri, S.6, 106; Zangheri, Renato: Lotte agrarie in Italia. La Federazione nazionale dei lavoratori della terra 19011926, Mailand 1960, S.401-403; Serpieri, Guerra, S. 291/292; Brustein, „Red Menace", S.654/655, 657; Magno, Michele: Galantuomini e proletari in Puglia, Foggia 1984, S.253. Zum System der mezzadria: Toscano, Evoluzione, S.439-493; Marucco, Note, S.377-388.
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grammatik (Sowjetisierung und Militarisierung) denn aus der tatsächlichen politischen Praxis der sozialistischen Kommunalverwaltungen. 103 Die faschistische Propaganda vom „bäuerlichen Infantristen" als Modellheld des „neuen Italien" ging angesichts dieser Situation der Kleinbauern und mezzadri nicht spurlos an der Zielgruppe vorbei. Es war ein elementarer Nationalismus vom sogenannten guten Bauern, der gesund, zäh, arbeitsam und an seine Erde gebunden sei, der hier zum Ausdruck kam. Auch die Arbeiter wurden in ähnlicher Weise durch den elementaren und militanten Nationalismus der Faschisten aufgewertet. 104 Die faschistischen Töne knüpften unmittelbar an die Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg an. Die Faschisten erkannten das Mobilisierungspotential, das in den Kriegsparolen lag und nutzten es für die eigene Bewegung. Im Juli 1922 verkündete Mussolini stolz, dass der Faschismus das historische Verdienst habe, „große Massen ländlicher Elemente in den lebendigen Korpus unserer Geschichte" geführt zu haben. Die „ländliche Passivität" sei in einen „aktiven Zusammenhalt" zur „Gesundheit der Nation" überfuhrt worden. Deutlicher waren die Programme der regionalen Faschistenführer wie des Bologneser Dino Grandi, der im Sommer 1921 deutlich machte: „Wir wollen die Tagelöhner zu Halbpächtern, die Halbpächter zu Pächtern und letztlich zu kleinen Landbesitzern machen. Unser Programm wird zur Vernichtung der Tagelöhner fuhren [...] Der Faschismus versucht, die kleinen Landbesitzer zu begünstigen". Konkreter wurden die Versprechungen zwar nicht, aber den dissidenten mezzadri wurde immerhin Schutz vor den sozialistischen Boykottaktionen und Vergeltungsmaßnahmen versprochen, sofern sie in die faschistischen Gewerkschaften beziehungsweise Syndikate eintraten. 105 Zum Verwechseln ähnlich lautete das im Januar 1921 verkündete Agrarprogramm der Faschisten in Ferrara, das typisch für die faschistische Agrarpolitik der gesamten Po-Ebene war. Auch hier versprach man, die Anzahl der Pächter und kleinen Landbesitzer massiv vergrößern zu wollen. Die „Eroberung von Privatbesitz", nicht aber kollektives Eigentum, sei doch der „geheime Wunsch des Landmannes" hieß es im Agrarprogramm. In Anlehnung an die Propagandarhetorik aus dem Ersten Weltkrieg formulierte man: „Wir geben jedem Mann soviel Land, wie er bearbeiten kann". In dem vom faschistischen Grundbesitzer Vittorio Pedriali ausgearbeiteten Programm spielte man mit den Ängsten der Kleinbauern und beutete ihre Hoffnungen aus, während die Landbesitzer von der Förderung des Kleinbauemtums eine Pufferwirkung zu den sozialistischen Kollektivierungsansprüchen, zu ihren Forderun-
103 Tasca, S.86, 118-123, 138; Ridolfi, S.76; Corner, Fascism, S.77-84, 104/105, 157-166; Petersen, Wählerverhalten, S.128. Für das Beispiel Mantua (59 von 68 Kommunen) siehe: Vaini, S.76/77, 113. 104 Gentile, Storia, S.556/557, 559. 105 L'Assalto vom 11.6.1921.
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gen nach höherem Lohn und weniger Arbeitsstunden für die Landarbeiter erwarteten. Der ländliche Faschismus, so schien es, war eine Gelegenheit, individuelle Vorteile zu ergattern und sich gleichzeitig den Kontrollen und Verpflichtungen gegenüber der Federterra zu entziehen. Seit 1921 trat zum Ausschluss der Kleinbauern aus einem sich hermetisch einigelnden Gewerkschaftssystem die Not hinzu, die sich durch den Verfall der Preise für Agrarprodukte ergab. Es entstand eine breite Schicht agrarischen Kleinbürgertums, das sein Selbstverständnis vom Herrn im eigenen Hause in einer gedrückten Realität schwinden sah. Gerade diese ohnmächtigen und politisch heimatlosen Schichten der italienischen Landbevölkerung, sowohl in der Po-Ebene als auch im Halbpächter-System der Toskana (mezzadria), kamen dann zum Faschismus, der sich als ihr Beschützer inszenierte. Auch wenn der Squadrenführer Italo Balbo stolz verkündete, dass die „kleinen Pächter und die kleinen Besitzer auf dem Land die Stärke unserer Armee" ausmachten, sollte man die Bedeutung dieser Gruppen für die aktivistischen squadristischen Schlägertrupps nicht überschätzen, da viele aufgrund der intensiven Arbeitsbelastungen gar nicht die Zeit für ein tiefergehendes Engagement erübrigen konnten. Zudem blieben nicht wenige der traditionell konservativen und religiös gesonnenen Bauern Anhänger der katholischen Popolari, die sich ebenfalls für die Belange der Halbpächter und Kleinbauern, allerdings stärker in Süditalien, einsetzten. 106
Studentischer Squadrismus Dass der Squadrismus auf einem großen Anteil studentischer Mitglieder fußte, wurde in der Historiographie schon oft hervorgehoben. Manilo Cancogni sprach bereits 1959 für die Frühphase bis 1920 von einem „studentischen Squadrismus" (squadrismo goliardico). Auch Martin Clark hat auf den starken studentischen Anteil im Faschismus hingewiesen und dabei auf die erstaunliche Korrespondenz zwischen wichtigen Aktionen des Squadrismus einerseits, die erst im Herbst 1920 begannen, und dem Beginn des neuen akademischen Jahres andererseits aufmerksam gemacht. Und umgekehrt, so Martin Clark, kamen während der Sommerferien die Aktivitäten vieler Fasci zum Erliegen. Jens Petersen hat mit Hinweis auf die parteioffizielle faschistische Statistik daraufhingewiesen, dass der dort ausgewiesene Anteil von 13 Prozent Studenten in der PNF eine „exzeptionell hohe" Überrepräsentation dieser Gruppe bedeutet. Diese 19.783 faschistischen Studenten machten zudem einen erheb-
106 Carsten, Aufstieg, S.63/64; Cardoza, Agrarian Elites, S.321-323, 337, 353-364; Corner, Fascism, S.132, 146 (Zitat), 146-151, 155, 157, 162 (Zitat Balbo), 160-163; Schieder, Strukturwandel, S.75/76; Petersen, Wählerverhalten, S.136; Serpieri. Guerra, S.316/317: Brustein, „Red Menace", S.657/658.
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lichen Anteil aller männlichen italienischen Schüler und Studenten über 15 Jahren aus, deren Gesamtzahl sich zu dieser Zeit zwischen 135.000 und 170.000 bewegte. 107 Auch in den Quellen finden sich immer wieder Hinweise auf den hohen Anteil von Studenten innerhalb der Squadren. Chiurcos Darstellung der „faschistischen Revolution" etwa erwähnt im Zusammenhang mit den Squadren immer wieder die Bedeutung der Studenten fur den Milizverband. So vermerkt er über eine Squadra in Padua, dass sie „in der Mehrzahl Studenten der glorreichen Universität Patavina" aufgewiesen habe. In diesem Kontext schildert er die Kurzbiographien von drei getöteten Mitgliedern dieser Squadra „Serenissima", die 24, 18 und 20 Jahre alt waren und allesamt an der Universität von Padua eingeschrieben waren. Nicht nur aus Padua ist die Existenz solcher in der Hauptsache studentischer Squadren überliefert. In wichtigen Städten der Toskana wie in Siena und Pisa lässt sich zeigen, dass in den Direktorien der örtlichen Fasci Studenten Schlüsselpositionen einnahmen. 108 Die große Bedeutung der Studenten für den Squadrismus läßt sich auch in der Stadt Bologna nachvollziehen. Hier wurden schon 1919/20 Squadren aufgestellt, die stark durch Studenten geprägt waren. Die Universitätsstadt Bologna gehörte aufgrund der starken Bedeutung der Studentenschaft neben Florenz, Pavia, Neapel und Mailand zu den ersten Städten, an deren Universitäten sich seit Ende des Jahres 1921 faschistische Studentenorganisationen bildeten („Avanguardia studentesca"), die zunehmend eine eigenständige Identität ausformten. 1 0 9 Im Dezember 1921 wurde dann von der Parteileitung die offizielle Bildung der „Gruppi universitari fascisti" (GUF) beschlossen. Nicht von ungefähr hielt die GUF ihren ersten Kongress in Bologna ab, der dort am 21. Februar 1922 stattfand. Dino Grandi unterstrich auf diesem Kongress die besondere Rolle der Universitätsstudenten für die Vorbereitung und Auswahl einer zukünftigen faschistischen Elite, die auch später immer wieder mit dem Kampf der Studenten gegen die „antinationalen" Organisationen betont wurde. 110
107 Cancogni, Storia, S.63; Clark, Martin: Modern Italy 1871-1982. London/New York 1984, S.216; Petersen, Wählerverhalten, S.145-147. In diesem deutschen Aufsatz von Petersen sind einige Teile der italienischen Ursprungsfassung, die den Anteil der Studenten betreffen, nicht wieder abgedruckt worden: Petersen, Jens: Elettorato e base sociale del fascismo italiano negli anni venti, in: Studi storici 16, 1975, S.667-669. 108 Chiurco, Storia, Bd.3, S.256; Menabuoni, in: II Bargello. Foglio d'Ordini della Federazione fiorentina degli Fasci di Combattimento", Jahr 9, Nr.l vom 28.10.1936, S.6; Snowden, Fascist revolution, S.160/161. 109 Cardoza, Agrarian Elites, S.299; Cancogni, Storia, S.63; Snowden, Fascist revolution, S.16I; Petersen, Wählerverhalten, S.146. Die „Avanguardia studentesca" wurde im Januar 1920 in Mailand gegründet. Siehe Nello, Mussolini, S.336. 110 La Rovere, S.460-462; De Negri, S741/742, 747-763; Cattabiani, S.51-58; Nello, Avanguardismo.
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Der enge Zusammenhang des Squadrismus mit dem studentischen Lebensrhythmus hat sich in den Jahren 1921 und 1922 wohl etwas abgeschwächt, aber auch jetzt noch lag der Anteil der Studenten unter den Squadristen der Provinz Bologna bei gut zehn Prozent. Laut ISTAT-Statistik waren zu dieser Zeit acht Prozent der Provinzbewohner Studenten. Tatsächlich war die Überrepräsentation stärker, als durch diese zwei Prozent Unterschied deutlich wird, da nach italienischem Gebrauch zu den „studenti" auch die elf- bis fünfzehnjährigen Schüler der scuole medie und superiori gezählt wurden. Aus dieser Oberschülergruppe befand sich im Squadristen-Sample jedoch nur ein einziger Fall. Die Überrepräsentation innerhalb der Provinz konzentrierte sich natürlich vor allem auf die Hauptstadt selbst. Nach einer Erhebung Suzzi-Vallis waren innerhalb der Universitätsstadt Bologna in den Jahren 1921 und 1922 43,7 Prozent der Squadristen studentischer Herkunft. Auch in dem Sample des Autors über die Provinz Bologna zeigt sich, dass über die Hälfte der studentischen Squadristen in der Hauptstadt Bologna wohnten. 1 1 1 Dass der Frühfaschismus der Jahre 1919/20 überall in Italien so stark an den studentischen Lebensrhythmus gekoppelt war, ist insofern verständlich, als der Faschismus zu diesem Zeitpunkt vor allem eine städtische Erscheinung war. Etliche Ortsgruppen des Faschismus in den norditalienischen Provinzstädten wie Brescia, Mantua, Bergamo oder Cremona bestanden 1919 und 1920 fast völlig aus jungen Reserveoffizieren und Studenten. 1 1 2 Die Studenten gehörten dabei zu den aktivsten und gewaltsamsten Elementen, denn während der Studentenanteil in den Provinzen Reggio Emilia bei nur 2,2 Prozent, in Massa-Carrara bei 9,7 Prozent und in Udine bei 15,8 Prozent lag, so waren 26 Prozent unter den 424 getöteten Faschisten, die die Faschisten als Märtyrer der Kampfzeit auswiesen, Studenten. Aufgrund der Altersangaben dürften die meisten von ihnen Universitätsstudenten und nur wenige Oberschüler gewesen sein. Bei etwa der Hälfte der „studenti" konnte die eindeutige Berufsangabe des studente universitario nachgewiesen werden. 1 1 3 Auch die Auswertung der sozialen Zugehörigkeit von 214 MVSNAngehörigen aus dem Jahr 1923, die Tobias Abse für die Industriestadt
111 Suzzi Valli, Myth, S.135; Sample Reichardt-Bologna. Bei einundzwanzig studentischen Squadristen konnte der Wohnort ermittelt werden. Elf von ihnen wohnten in der Hauptstadt Bologna. 112 Lyttelton, Seizure, S.56/57; De Negri, S.741-744; Petersen, Wählerverhalten, S.146; Corner, Fascism, S. 122/123. 113 Sample Reichardt-SQ-Märtyrer. In 196 Fällen konnten Berufsangaben nachgewiesen werden und in 51 Fällen waren diese Squadristen studenti. Petersen, Wählerverhalten, S.146 hat dieselbe Quelle ausgewertet und errechnet ebenfalls 26 Prozent, obwohl er nur 125 Berufsangaben erfasst hat. Zu den Prozentangaben für die anderen Provinzen: Cavandoli, S.132; Preziosi, S.198; Engelmann, Provinzfaschismus, S.156; Suzzi Valli, Myth, S.137.
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Livorno vorgenommen hat, zeigt, dass die ehemals aktivistischen Squadristen dieses Samples zu 28 Prozent aus der Studentenschaft stammten.' 1 4 Diese Befunde zeigen wie für keine andere Berufsgruppe sonst eine eindeutige und konsistente Überrepräsentation auf. Fast im gesamten Italien konnte ein überproportional hoher Anteil von studenti unter den Squadristen nachgewiesen werden. Die hohe Attraktivität des Squadrismus für die Studenten erklärt sich zum einen aus dem Protest vieler männlicher Studenten gegen ihre relative Deprivation, die sich einerseits aus den steigenden Löhnen der Arbeiter und andererseits durch das befürchtete Schicksal der Arbeitslosigkeit ergab. Die traditionellen Erwartungs- und Anspruchshaltungen wurden aufgrund der stark angewachsenen Schüler- und Studentenzahlen enttäuscht. Die akademischen Grade und Titel verbürgten nicht mehr die alte Sicherheit, nach der man durch die Ausbildung zu einer angemessenen Stellung kam. Selbst bei den vergleichsweise sicheren Studiengängen waren die Perspektiven verlorengegangen - die Akademikerschwemme der Nachkriegsjahre und deren Folgen auf dem Arbeitsmarkt zeitigten gravierende Frustrationen. Die Entwertung des individuellen Abschlusses durch die Verdopplung und Verdreifachung der Zahl der Studienabgänger traf mit einer zur sparsamen Ausgabenpolitik gezwungenen öffentlichen Hand zusammen. Schließlich traf dieser Verlust der Zukunftsperspektiven auf eine neue Studentenschaft, denn seit der Jahrhundertwende studierten immer mehr Angehörige aus den Mittelschichten (1911: 52 Prozent; 1931: 70 Prozent), und so wogen die enttäuschten Aufstiegserwartungen dieser ambitionierten Gruppen umso schwerer. Roberta Suzzi Valli hat gezeigt, dass die Squadristen mit Studiengängen wie Ingenieurwesen, Jura oder Medizin oftmals aufstiegsorientierte und vermeintlich krisensichere Fächer gewählt hatten und vermutlich ob der tatsächlich schlechten Berufsaussichten um so enttäuschter gewesen sein dürften. 1 1 5 Über diese sozialen Interessenlagen hinaus waren die Studenten schlicht durch die Ungebundenheit ihrer Lebenssituation für den Squadrismus geradezu prädestiniert. Sie hatten nicht nur die Zeit, auch an Werktagen Demonstrationen und Strafexpeditionen durchzuführen, sie gingen auch ein geringeres Risiko ein, da sie wegen ihres Alters und ihrer Herkunft aus den besseren Kreisen der Gesellschaft überproportional häufig von der Polizei laufen gelassen wurden. Einige Autoren haben auch darauf hingewiesen, dass die Studenten ihr eigenes Leben oftmals als langweilig empfanden und nach aufregenden Abenteuern und Aktionen suchten. Wichtiger dürfte die Prägung der jungen Studenten durch den Ersten Weltkrieg gewesen sein. Dieser hatte einen deutlichen Nationalisierungsschub 114 Abse, Rise, S.69. 115 Barbagli, Disoccupazione, S.168-179, bes. S.170, 181; De Negri, S.738/739; Prezzolini, Giuseppe: La Gioventü italiana dopo la guerra, in: Corriere della Sera vom 11.9.1921; Innocenti, Mercato, S.83-109; Petersen, Wählerverhalten, S.147; Suzzi Valli, Myth, S.138.
Furcht und Frustration
303
bewirkt. Sofern die studenti für eine Kriegsteilnahme alt genug waren, lässt sich nachweisen, dass sie einen Offiziers- oder zumindest Unteroffiziersgrad erreicht hatten und die Kriegskarriere an die Stelle eines Zivilberufes trat. 116 Die starke Affinität, die zwischen Studentenschaft und Squadrismus bestand, war somit nicht nur Ausdruck der Problemlagen einer sozialen Gruppe, sondern auch Ausdruck eines Generationenkonfliktes, der im Kapitelabschnitt 3.3 ausfuhrlich dargestellt wird. 3.2.3 Eine Wandlung des Squadrismus Mit den Studenten ist eine Gruppe benannt, die sowohl in der Frühphase des Faschismus, also in den Jahren 1919 und 1920, als auch 1921 und 1922 eine bedeutende Rolle im Squadrismus spielte. Dies galt jedoch nicht in demselben Maße für alle hier betrachteten Sozialgruppen. Insofern müssen einige Bemerkungen über die sozialen Besonderheiten des Frühfaschismus bis etwa zur Mitte 1920 nachgetragen werden. In seiner klassischen Untersuchung zum Aufstieg des italienischen Faschismus bemerkte Angelo Tasca über die Anfänge von Faschismus und Squadrismus in den Jahren 1919 und 1920: ,,[I]n den Städten leben die reichen Agrarier, die Offiziere der Garnisonen, die Universitätsstudenten, die Beamten, die Rentiers, die Freiberufler, die Kaufleute. Aus diesen Schichten kommen auch die ersten Faschisten und die ersten Kader der bewaffneten Kampftruppen, der squadre." Im Faschismus dieser Jahre waren, so Tasca, „bunte Elemente" zu finden, die in den Jahren 1921/22 immer mehr zurückgedrängt wurden. Der Faschismus wurde immer deutlicher zu einer Offensive des ländlichen Bürgertums.' 1 7 Dieses Bild eines vornehmlich städtischen und stark durch den militärischen combattentismo und die kleinbürgerlichen Schichten geprägten Frühfaschismus wurde fortan in der Forschung immer wieder repliziert und in regionalen Untersuchungen bestätigt. 118 Insbesondere, was die starke Repräsentanz ehemaliger Kriegsteilnehmer und arditi im Frühfaschismus anbelangt, herrscht in der Forschung nach wie vor weitgehende Einigkeit mit Tascas Ausführungen von 1938: „Die ins Zivilleben zurückgekehrten unzufriedenen Offiziere, die unruhigen Studenten, denen die Bänke auf den Universitäten zu hart sind, die Krämer, die sich gegen die Steuern auflehnen, die 'Deklassier116 Engelmann, Provinzfaschismus, S.167/168; Suzzi Valli, Myth, S.136; Carsten, Aufstieg, S.65, 277. 117 Tasca, S.131,234. 118 Siehe nur: De Feiice, Mussolini il rivoluzionario, S.477/478, 504-506; Lyttelton, Seizure, S.46-49; Baglieri, Joseph: Italian Fascism and the Crisis of Liberal Hegemony: 1901-1922, in: Larsen/Hagtvet/Myklebust (Hrsg.), S.328-330; Petersen, Wählerverhalten, S.149/150; Schieder, Strukturwandel, S.74/75; Cardoza, Agrarian Elites, S.328; Comer. Fascism, S.107/108, 122, 135/136; Revelli, Italy, S.ll/12; Knox, Common Destiny. S.38.
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Das Rekrutierungspotential
ten' aller Art, die sich nach 'etwas Neuem' sehnen, verschaffen dem Faschismus schon in der Geburtsstunde die unerläßliche Ausstrahlung von Nonkonformismus und Häresie [...] Die Faschisten sind fast durchweg einstige arditi oder ehemalige Frontkämpfer, und sie werden von Offizieren gefuhrt". Fast deckungsgleich mit Tasca formulierte Francis Carsten im Jahre 1968 wie dann noch viele Historiker nach ihm: „Viele entlassene Soldaten, vor allem aus den Reihen der 'Arditi', traten den faschistischen Einheiten bei. Sie waren stolz auf den erfochtenen Sieg, aber fühlten sich durch die Behandlung der Regierung vernachlässigt [...] Sie waren entwurzelt und paßten nicht mehr in die bürgerliche Gesellschaft, von der sie sich abgestoßen und verachtet fühlten". 1 · 9 Vor allem die Sozialisten hatten den bei Kriegsende 154.000 Männer zählenden Reserveoffizieren der Armee, die oft direkt von der Schule oder Universität in den Krieg gezogen waren, viel Hass und Verachtung entgegengebracht. Mitte 1919 wurde 76.000 Reserveoffiziere entlassen und am Ende des Jahres nochmals weitere 58.000, die angesichts der Akademikerarbeitslosigkeit und nicht ausreichender Übergangsgelder vor schwerwiegenden Integrationsproblemen standen. Der unter Premierminister Nitti schnell vollzogene Abbau der italienischen Armee von 1,5 Millionen im Juli 1919 auf etwa eine halbe Million im Dezember 1919 führte, ähnlich wie in Deutschland, dazu, dass nicht wenige Elemente in den paramilitärisch-politischen Raum drängten. 1 2 0 Auch die arditi, eine etwa 50.000 Männer umfassende und aus Freiwilligen zusammengestellte Elitetruppe der italienischen Armee, fürchtete angesichts der sozialistischen Kritik einen starken Prestigeverlust und schloss sich zu einem Ehemaligenverband zusammen, der teilweise von den Faschisten finanziert wurde. 121 Erst nachdem diese Gruppen abgeschöpft waren, stießen seit Ende 1920 und vor allem im Jahre 1921 massenhaft ländliche Elemente zum Faschismus: nämlich die Kleinbauern, mezzadri und die handwerklichen Gruppen und Angestellten, die sich nicht von der sozialistischen Arbeiterbewegung vertreten sahen. Sie machten den Faschismus zu einer Massenbewegung. Vier einschränkende Anmerkungen über dieses Bild des sozialen Wandels sollen jedoch nicht verschwiegen werden. Erstens beziehen sich diese Interpretationen der Historiker nicht auf quantifizierte Einzelbeobachtungen. Zweitens beziehen sie sich oft auf die Führungsebene und kaum auf die Basis der faschistischen Bewegung. Drittens blieb das militärische Element auch nach 1921 im Vergleich zur italienischen Gesellschaftsstruktur zweifellos
119 Tasca, S.59/60, 154; Carsten, Aufstieg, S.65. 120 Rochat/Massobrio, S. 196-204; Rochat, Esercito, S.25, 31/32, 59-69; Petersen, Wählerverhalten, S.149/150; Tarchi, S.l 19; Biondi, S.51; Ledeen, Italy, S.106-108. 121 Rochat, Arditi; Cordova, Arditi; Petersen, Wählerverhalten, S.150; Corner, Fascism, S.l 15/116; Suzzi Valli, Myth, S.136; Ledeen, Italy, S.l 12-118.
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überrepräsentiert, wenngleich der Anteil der ehemaligen Kriegsoffiziere innerhalb der faschistischen Massenbewegung der Jahre 1921/22 abnahm. Gleiches galt, wie gesehen, auch für den Anteil der Studenten. Viertens vollzog sich der Aufstieg des Agrarfaschismus in der Poebene und der Emilia Romagna; in Regionen moderner landwirtschaftlicher Produktion also, die von den Agrostädten Bologna, Ferrara oder Cremona durchsetzt waren. Stadt und Land waren hier keineswegs scharf voneinander getrennt. Die in der Forschung konstatierte Stadt-Land-Dichotomie ist, wie schon im vorangegangenen Abschnitt beschrieben, regional zu differenzieren. Dennoch kann keinerlei Zweifel daran bestehen (auch wenn über das Ausmaß des ländlichen Charakters des Faschismus der Jahre 1921/22 gestritten werden kann), dass der Faschismus von 1919 städtischer geprägt war als derjenige von 1922. Die ab 1921 neu hinzugekommenen Gruppen standen meist in einem Konfliktverhältnis zu den älteren städtischen Elementen, wobei der ländliche Faschismus in einem positiven Verhältnis zu den großen Landbesitzern und Pächtern stand und enge Bindungen zu diesen unterhielt, während die städtischen Kerne stärker gegen die Staatsgewalt rebellierten und ihre antisozialistische Praxis stärker mit einem integralen Nationalismus verbanden. 122 3.2.4 Squadrismus und PNF im Vergleich Angesichts der sozialen Adaptationsfähigkeit des Squadrismus an die jeweils regional vorherrschende Sozialstruktur fallt es schwer, die im Squadrismus organisierten gewalttätigen und aktiven Elemente des Faschismus zu generalisieren, um sie mit dem Sozialprofil der PNF zu vergleichen. Gleichwohl lassen sich trotz dieser Einschränkung durch einen Vergleich der Tabellen 10 und 11 einige charakteristische Unterschiede zwischen dem Squadrismus und der PNF ausmachen. Tabelle 10 fasst die Bologneser Squadristen in Sozialgruppen zusammen, die sich an der Volkszählungsstatistik von 1921 orientieren.
122 Beispielhaft für Bologna Strukturwandel, S.76/77.
bei
Cardoza,
Agrarian
Elites,
S.328-331;
Schieder,
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306
Tabelle 10: Vergleich der Squadristen mit der allgemeinen Berufsstruktur in Bologna123 Gruppe
Squadristen Bolognas (Angaben in Prozent)
Kleinbauern Pächter Halbpächter (mezzadri und coloni) Tagelöhner und Landarbeiter, Lohnarbeiter in der Industrie Einzelhandel, Gaststättengewerbe, Lebensmittelverkäufer und Kleingewerbetreibende Handwerker und auf eigene Rechnung in der Industrie Arbeitende (ohne Bauern) Öffentliche Angestellte, Angestellte bei Transportunternehmen (ohne das niedrige Personal), Angestellte bei Banken und Versicherungen; Offiziere der Armee Angestellte in Privatunternehmen, Verkäufer Rentner und Pensionäre Industrielle, Unternehmer, Großkaufleute, Besitzende und Wohlhabende Sonstige Gruppen (Freiberufler, Künstler, Kulturschaffende, Hausfrauen, Arbeitslose, Berufslose etc.) SUMME
6,1 2,1 4,6 38,4
Berufliche Gliederung der männlichen Bevölkerung in der Provinz Bologna, zehn Jahre und älter (Angaben in Prozent) 4,82 2,39 11,39 37,65
5,0
17,47
8,9
6,69
5,0
3,50
8,2
3,55
0,0 7,1
3,02 2,72
14,6 1 2 4
6,79
100
99,99
Die in der Tabelle 11 abgebildete Sozialstruktur der faschistischen B e w e gung wurde aufgrund der Ergebnisse eines Rundschreibens v o m Generalsekretär der PNF, Umberto Pasella, welches im September 1921 an die lokalen Fasci abgesandt wurde, rekonstruiert. Pasella bat darin, die soziale Zusammensetzung des jeweiligen lokalen Fascio an die Zentrale zu übermitteln. Aufgrund der Antwortschreiben konnte das Sozialprofil v o n 151.644 Mitgliedern der B e w e g u n g ermittelt werden, also von etwa 70 Prozent aller Mitglieder. Die Auswertung der Umfrage wurde von der PNF selbst vorgenommen 123 Sample Reichardt-Bologna; Istituto Centrale di Statistica: Censimento della popolazione del Regno d'Italia al 1° dicembre 1921, Serie VI, Bd.VIII: Emilia. Rom 1927, S.156. 124 Inklusive des Anteils der Studenten.
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und A n f a n g N o v e m b e r 1921 in der Parteizeitung „ P o p o l o d'Italia" v e r ö f f e n t l i c h t . 1 2 5 D i e s o z i a l e E n t w i c k l u n g d e s Jahres 1 9 2 2 bleibt in dieser punktuellen Statistik u n v e r m e i d l i c h e r w e i s e unberücksichtigt. S o m i t dürfte vor a l l e m der in der Statistik a u s g e w i e s e n e A n t e i l ländlicher Gruppen z u niedrig liegen.
T a b e l l e 11: Sozialstruktur der P N F im S e p t e m b e r 1 9 2 1 1 2 6 Berufsgruppen
Anzahl (N)
Prozent
Landarbeiter (lavoratori della terra) Industriearbeiter (lavoratori dell'industria) Landbesitzer, Kleinbauern, Pächter, Halbpächter (proprietari terrieri, piccoli agricolori eßttabili) Kaufleute, Handwerker, Händler (commercianti und esercenti) Freiberufler (professionisti) Privatangestellte (impiegati privati)
36.847 23.418
24,3 15,5
Berufliche Gliederung der männlichen Bevölkerung 1921, zehn Jahre und älter (Angaben in Prozent) keine Vgl.-angabe 20,7
18.084
11,9
Keine Vgl.-angabe
13.878
9,2
5,8
9.981 14.989
6,6 9,9
Öffentliche Angestellte (impiegati dello stato) Studenten, Oberschüler (studenti)
7.209
4,7
2,1 Zus. mit öffentl. Ang.: 5,9 s.o.
19.783
13,0
Unternehmer, Industrielle (industriali) Lehrer (insegnanti) Seeleute (lavoratori del mare) Summe
4.269 1.680 1.506 151.644
2,8 1,0 1,0 99,9
0,9127 0,4 keine Vgl.-angabe keine Vgl.-angabe entfällt
T a b e l l e 11 zeigt, dass der alte und n e u e Mittelstand (die bäuerlichen Gruppen a u s g e n o m m e n ) mit z u s a m m e n g e n o m m e n 3 0 , 4 Prozent im F a s c h i s m u s überrepräsentiert war. D i e s e Gruppen bildeten die H a u p t k o m p o n e n t e d e s Fas c h i s m u s , während sie unter d e n B o l o g n e s e r Squadristen durchschnittlich bis
125 Gentile, Storia, S.364. Zum Mitgliederstand: De Feiice, Mussolini il fascista, S.8-11. 126 Gentile, Storia, S.364/365, 556. Die Ergebnisse aus dem „Popolo d'Italia" vom 8.11.1921 sind vielfach wiedergegeben worden, so etwa bei Chiurco, Storia, Bd.3, S.582/583; Lyttelton, Seizure, S.435/436; De Felice, Italian Fascism, S.314; Schieder, Strukturwandel, S.75; Petersen, Wählerverhalten, S.142; Tasca, S.195; Revelli, Italy, S.18. Von Schieder sind die Vergleichszahlen zur italienischen Bevölkerung übernommen. 127 Die Prozentabgabe bezieht sich nur auf die Universitätsstudenten. Eigene Berechnung nach Barbagli, Disoccupazione, S.106/107, 204; Sylos Labini, S.155.
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Das Rekrutierungspotential
leicht unterdurchschnittlich vertreten waren (27,1% zu 31,3%). 128 Dem Squadrismus und Faschismus gemeinsam war, dass beide einen unterdurchschnittlichen Arbeiteranteil sowie einen überdurchschnittlichen Angestelltenanteil innerhalb der Mittelschichten aufwiesen. Auch die bürgerlichen Gruppen, insbesondere die Studenten und ländlichen Unternehmer, waren deutlich überrepräsentiert. Die PNF war zu diesem Zeitpunkt, wie Jens Petersen urteilte, tatsächlich die „erste wirkliche bürgerliche Massenpartei" Italiens. 129 Die faschistische Bewegung als Ganze stellte eine, wie Wolfgang Schieder treffend schrieb, „durchaus widersprüchliche Mischung aus einer eher populistischen, ein breites Spektrum kleinbürgerlich-mittelständischer und bürgerlicher, teils auch proletarische Randgruppen ansprechender" Bewegung dar. Der Struktur als volksparteiliche Sammlungsbewegung entsprach nach Marco Revelli die politische Ausrichtung des italienischen Faschismus als „political oxymoron", als einer in ihren Methoden revolutionären und in ihren Zielen konservativen Bewegung. Dies ist übrigens eine Charakterisierung, die oft auch für den Nationalsozialismus gebraucht wurde. 1 3 0 In der sozialen Zusammensetzung von Partei und Kampfbund zeigen sich keine gravierenden Unterschiede. Dies ist insofern nicht weiter verwunderlich, als die extremistisch-aktiven und intransigenten squadristischen Milizionäre in etwa die Hälfte des Gesamtbestandes der Bewegung stellten und somit die allgemeine Parteistatistik von 1921 wesentlich mitbestimmten. Insofern trennt der Vergleich der Tabelle 10 und 11 nicht sauber zwischen dem Partei- und Milizflügel der Bewegung. Vergleicht man hingegen mit der PNF-Parteispitze, so zeigt sich, dass die bessergestellten Sozialgruppen hier stärker vertreten waren als an der Parteibasis. Unter 127 Funktionsträgern der nationalen Organe der Partei (Mitglieder im Direktorium oder Zentralkomitee, Parteisekretäre, außerordentliche Kommissare) gehörten im Jahre 1922 77 Prozent zu den ceti medi und vier Prozent zum Bürgertum. Lediglich ein einziger dieser Funktionäre war Arbeiter. Nach Berufsfeldern gegliedert, überwiegen die bürgerlichen Berufe: die Rechtsanwälte stellten mit 35 Prozent die größte Gruppe, gefolgt von Journalisten und Publizisten mit 22 Prozent, Lehrern (6 Prozent), Angestellten (5 Prozent), Ingenieuren (4,7 Prozent) bis hin zu den Versicherern (3 Prozent) und anderen. Unter rund tausend Funktionsträgern der PNF auf regionaler und lokaler Ebene ergibt sich ein stärker kleinbürgerliches Berufsprofil: 12 Prozent
128 Vgl. den Ansatz von De Felice, Italian Fascism, S.312-317. Siehe auch: Gentile, Storia, S.560. 129 Petersen, Wählerverhalten, S.136. 130 Schieder, Strukturwandel, S.78; Revelli, Italy, S.20. Siehe auch Schieder, NSDAP, S.152; Schoenbaum, David: Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches. München 1980; Herf, Jeffrey: Reactionary modernism. Technology, culture and politics in Weimar and the Third Reich. Cambridge 1984.
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309
waren Angestellte, fast 10 Prozent Studenten, 7 Prozent Handwerker und ebenso viele Lehrer, 6 Prozent Kaufleute (ragionieri). Daneben waren auch die höhergestellten bürgerlichen Berufe des Rechtsanwalts (9 Prozent), Landbesitzers (7,6 Prozent) oder Ingenieurs, die 3,5 Prozent stellten, vergleichsweise stark überrepräsentiert. Das Proletariat hingegen war auch hier mit einem Anteil von lediglich fünf Prozent deutlich unterrepräsentiert. 131 Durch den massiven Anteil der ceti medi fußte der Faschismus auf einer Gesellschaftsgruppe, der, wie Gino Germani formulierte, „ein höchst revolutionäres und stark autoritäres Potential" zukam. 1 3 2 Die oft benutzte, aber ungeheuer weit gefasste soziale Kategorie der ceti medi, die den einfachen Angestellten wie den gut dotierten Rechtsanwalt umfasst, ist analytisch wenig aussagekräftig. Der Begriff der ceti medi ist deshalb so ungenau, weil er einerseits Handwerker, Bauern und kleine Selbständige umfasst, die in Bezug auf ihr Bildungsniveau und ihr Einkommen der Arbeiterschaft ähnelten. Andererseits umgreift er auch Angestellte, wie etwa Büroangestellte und Kaufleute, die in den genannten Kriterien dem Bürgertum näherstanden. Auch die Art der Entlohnung, die Arbeitsplatzverhältnisse, Berufstraditionen und Art und Umfang der Kontaktnahme zu den sozial Gleichgestellten waren bei einem Kleinbauern, einem Büroangestellten oder einem selbständigen Handwerksmeister jeweils ganz unterschiedlich. Auch waren nicht alle Berufsgruppen der ceti medi traditionell politikfern. Das einigende Band der Bezeichnung ceti medi ist die allen Untergruppen gemeinsame antisozialistische Einstellung, die jedoch fur sich genommen keine spezifisch faschistische Haltung markierte. Dennoch meint Renzo De Feiice davon sprechen zu können, dass die faschistische Presse und Propaganda mit ihrer zwischen Konservativismus und Subversion oszillierenden politischen Ausrichtung „the mentality, the aspirations, the interests, the culture, the self-contradictions, and even the phraseology of the Italian middle classes" reflektierte. 133 So vorherrschend die ceti medi auch waren, sie bildeten keine wirklich konsistente soziale Klasse. Insofern sind Aussagen, wie die der Historikerin Anna Maria Preziosi, daß 67,7 Prozent der Udineser Faschisten aus den ceti medi stammten, oder Rolando Cavandolis Aussage, daß 69 Prozent der Squadristen in Reggio Emilia zu dieser Gruppe gehörten, von nur geringem Wert. Aussagen über extreme Anteile von 78, 87 oder gar 90 Prozent ceti medi unter den Squadristen, wie etwa bei Suzzi Valli über die städtischen Squadristen in Bologna und Florenz, erlauben keine Schlüsse. Es fehlt bislang noch an
131 Gentile, Storia, S.557/558. Gentile hat die fundierte biographische Untersuchung von Missori systematisch ausgewertet. 132 Germani, Gino: Fascismo e classe sociale, in: Critica sociologica Nr.2,1967, S.89. 133 Gentile, Storia, S.86; Petersen, Wählerverhalten, S.154, Anm.44; De Felice, Italian Fascism, S.315 (Zitat).
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einer fundierten, kulturgeschichtlich erweiterten historischen Untersuchung, die zeigt, ob diesen sozialen Gruppen wirklich ein bestimmtes Selbstbild von Zuverlässigkeit, Verantwortlichkeit und Strebsamkeit zu eigen war. Ob es also typische Moralvorstellungen, Normalitätsentwürfe und Sekundärtugenden der ceti medi gab, die mit dem Anspruch nationaler Geltung auftraten, ist eine offene Frage. 134 Zusammenfassend zeigt sich folgendes Bild: Der Squadrismus setzte sich aus heterogenen sozialen Elementen zusammen und war vornehmlich eine soziale Mischbewegung mit starken regionalen Adaptationskräften. Daneben ist die deutliche Unterrepräsentanz der Arbeitergruppen einerseits und die stark überdurchschnittliche Präsenz der bürgerlichen Gruppen aus der Studentenschaft und dem ländlichen Unternehmertum andererseits hervorzuheben. Auch die durch die Inflation in ihrem Status bedrohten Angestelltengruppen waren im Squadrismus häufig überrepräsentiert. 3.2.5 Das Sozialprofil der SA Anders als beim Squadrismus, verfügen wir durch die sozialhistorischen Untersuchungen von Peter Merkl, Michael Kater, Conan Fischer, Mathilde Jamin, Detlev Mühlberger, Richard Bessel und Eric Reiche, die vor allem in den achtziger Jahren entstanden sind, über eine vergleichsweise gut entwickelte Forschung zum Sozialprofil der SA. Aber auch bei der Analyse der sozialen Zusammensetzung der SA stehen die Historiker vor dem Problem, dass nur bruchstückhafte Mitgliederlisten überliefert sind. Eine standardisierte und zentralisierte Mitgliedererfassung wurde in der SA erst Anfang 1934 eingeführt. So konnten bislang keine repräsentativen Samples über das Sozialprofil der einfachen SA-Mitglieder gebildet werden. Zum Teil basieren die veröffentlichten Zufallssamples auf Polizeiberichten und Mitgliederlisten, die weniger als einhundert Mitglieder umfassen. Da Aufstellungen zur Berufszugehörigkeit einzelner lokaler SA-Verbände keine auch nur annähend exakte Hochrechnung erlauben, werden sie im Folgenden aufgrund der Willkürlichkeit ihrer Ergebnisse unberücksichtigt bleiben. Somit können hier nur wenige Berechnungen herangezogen werden. 135
134 Preziosi, S.191-206; Cavandoli, S.133; Suzzi Valli, Myth, S.136; De Feiice, Italian Fascism, S.314. Vgl. Lepsius, Extremer Nationalismus, S.13/14. 135 Unberücksichtigt bleiben einige der kleinen (weniger als 100 Mitglieder) und der nicht repräsentativen Samples von Mühlberger, Longerich, Fischer, Schumann und Stokes: Mühlberger, Germany, S.116-120; Mühlberger, Hitler's Followers, S.168-171; Longerich, Bataillone, S. 83; Fischer, Stormtroopers, S.26; Schumann, Politische Gewalt, S.282-285; Stokes, S.27). Einen Literaturüberblick zur sozialhistorischen SA-Forschung bieten: Bessel, Political Violence, S.34/35; Jamin, Zwischen den Klassen, S. 11-45; Longerich, Bataillone, S.81-85; Mühlberger, Hitler's Followers, S.162-166; Fischer/Mühlberger, S.99-101.
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Arbeiter in der SA Conan Fischer hat als erster auf den hohen Arbeiteranteil in der SA aufmerksam gemacht und die SA als ausgesprochene Arbeiterorganisation mit einem zugleich überdurchschnittlich großen Angestelltenanteil bezeichnet. In seiner Monographie aus dem Jahr 1983 errechnete er fur die Jahre von 1929 bis zur „Machtergreifung" einen Arbeiteranteil in der SA von 63,4 Prozent (N=1.184), der sich in den ersten anderthalb Regimejahren bis zum sogenannten Röhm-Putsch nochmals auf knapp 70 Prozent erhöhte. 136 Leider weist seine Arbeit, obwohl sie die einzige ist, die sich explizit mit der einfachen SA-Mitgliedschaft beschäftigt, erhebliche methodische Mängel auf, da sie auf einer unkontrollierten Zufallssammlung basiert, die mit der jeweiligen regionalen Sozialstruktur nicht in Beziehung gesetzt wurde. Seine Befunde zum hohen Arbeiteranteil basieren auf SA-Mitgliederlisten ganz unterschiedlicher Provenienz und stark differierenden Umfanges. Ein erheblicher Anteil seines Samples ist Polizeiberichten entnommen, so dass der Arbeiteranteil überproportional erfasst sein dürfte. Die heterogenen Listen wurden von Fischer zu einem großen Sample zusammengefasst, so dass er Durchschnittswerte mit unkontrollierbaren regional bedingten Verzerrungsfaktoren berechnete. 137 Wesentlich später, im Jahre 1996, korrigierte Fischer in einem mit Detlev Mühlberger verfassten Aufsatz seine Berechnungen und wies für die Jahre 1925 bis 1933 einen Arbeiteranteil in der SA von 56,5 Prozent aus - nun auf umfangreicherer quantitativer Basis. Das Sample besteht nunmehr aus insgesamt 2.643 SA-Männern und wird regional ausgewiesen. Gemäß dieser Ziffer entsprach der Anteil der Arbeiter in der SA in etwa ihrem Anteil der allgemeinen männlichen Erwerbsbevölkerung (53,2%). Um den Grad der Überrepräsentation zu bestimmen, haben Fischer und Mühlberger den Arbeiteranteil der männlichen Erwerbsbevölkerung gleich 100 gesetzt und für die Arbeiter in der SA eine Ziffer von 107 errechnet. 138 Wenn man die Anzahl SA-Arbeiter jedoch mit dem Anteil der Arbeiter an der männlichen Erwerbsbevölkerung der Altersgruppen zwischen 20 und 29 Jahren vergleicht, die die SA ja ganz überwiegend bestimmten, zeigt sich eine Unterrepräsentanz der Arbeiter innerhalb der SA gegenüber dem allgemeinen Arbeiteranteil (1933: 62,9 Prozent). Zudem verbergen sich hinter den Ergebnissen von Fischer und Mühlberger gravierende Unschärfen. So zeigt sich, dass diejenigen regionalen Befunde, die aus Polizeiberichten
136 Fischer, Stormtroopers, S.31 und 36. Erstmals in: Fischer, Occupational Background, S.131-159. 137 Vgl. dazu die Kontroverse: Bessel/Jamin, Nazis, S.111-116; Fischer/Hicks, S.131-138; Besse 1/Jamin, Statistics, S. 139-140. 138 Fischer/Mühlberger, S.102, 105; Fischer, Stormtroopers, S.31.
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Das Rekrutierungspotential
zusammengestellt wurden, regelmäßig eine Überrepräsentanz der Arbeiter ausweisen, wie in den Fällen von Berlin, Bayern, Ostpreußen und Mü nchen. 139 Die diversen Mitgliederlisten wurden leider nicht immer den entsprechenden Regionen zugeordnet. So wurde etwa für die Münchner SA des Spätsommers 1932 ein Arbeiteranteil von 52,1 Prozent errechnet (männliche Erwerbsbevölkerung Münchens: 49 Prozent), obwohl die 773 Fälle die Münchner Arbeiterbezirke überproportional berücksichtigten, wie die Stadtbezirke Neuhaus mit 63,5 Prozent SA-Männern aus der Arbeiterschaft oder die Gegend um den Ostbahnhof mit 76,5 Prozent proletarischen SA-Männern. 140 Fischer und Mühlberger räumen selbst ein: „The question remains of how representative these particular records" für die SA-Organisation als Ganze waren. Nach wie vor operieren sie mit unkontrollierbaren random samples unterschiedlichster Größe und Provenienz. Einige andere Untersuchungen können die Deutung Fischers und Mühlbergers von 1996 ergänzen. Detlev Mühlberger hatte schon 1987 seine Funde von SA-Mitgliederlisten aus dem bayrischen Raum veröffentlicht. Der wichtigste und umfangreichste Teil seines auf den April 1932 datierten Materials bezieht sich auf 3.252 SA- und SS-Männer. Die Polizei hatte aufgrund eines kurzfristigen SA-Verbots entsprechende Mitgliederkarteien bei Hausdurchsuchungen konfisziert und zu neun SA-Gruppen zusammengestellt. All diese Gruppen wiesen einen Arbeiteranteil von etwa 60 Prozent auf. Die größte Untergruppe „SA-Männer, Bayern" (N=1.539) zeigte einen Anteil von 61,6 Prozent gelernter und ungelernter Arbeiter. 141 Auch in Berlin waren (schon im Februar 1931) die Geschäfts- und Privaträume der SA von der Polizei durchsucht worden. Die Polizei fand insgesamt 1.824 Karteikarten über Berliner SA-Mitglieder. Wie bei den von Mühlberger ausgewerteten bayrischen Einheiten wurden auch die Berliner Karteikarten von der Polizei selbst ausgewertet. 142 Die Liste, die der Berliner Polizeipräsident Albert Grzesinski am 2. März 1931 an den Minister des Inneren schickte, wies jedoch im Unterschied zu Mühlbergers Ergebnissen nur einen Arbeiteranteil von 54 Prozent aus, von denen 14 Prozent auf ungelernte und 40 Prozent auf gelernte Arbeiter entfielen. Diese punktuellen Angaben zum Arbeiteranteil der Berliner SA im Februar 1931 zeigen eine weitgehende Entspre139 Fischer/Mühlberger, S.105, 111-113. Zum allgemeinen Anteil der Arbeiter an der männlichen Erwerbsbevölkerung zwischen 20 und 30 Jahren: Fischer, Stormtroopers, S.31. 140 Fischer, Stormtroopers, S.26, 28; Longerich, Bataillone, S.82. Kater (Ansätze, S.801) berechnete lediglich 26,2 % Arbeiter. 141 Mühlberger, Germany, S. 118-120; Mühlberger, Hitler's Followers, S. 165. 142 BAB (ehern BAP), RMdl 15.01, Nr.26140, fol.84-91 und 96-101, hier: fol.84. Im Einzelnen wurden durchsucht: Die Geschäftsräume des OSAF-Ost, des Gausturms Ost, der Standartenführer und Adjutanten des Gausturms Berlin sowie die Privaträume dieser Führer, der Führer des Bezirks Osten sowie der Führer der Sektion Baltenplatz der NSDAPOrtsgruppe Berlin.
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chung mit dem allgemeinen Anteil der Arbeiter in der männlichen Erwerbsbevölkerung Berlins, der bei 55 Prozent lag. 143 Es muss jedoch angemerkt werden, dass die Aussagekraft der polizeilichen Erhebungen dadurch vermindert wird, dass unklar bleibt, nach welchen Kriterien die Polizei die Berufsangaben zugeordnet hat. Gerade die Zuordnung der für die SA wichtigen Berufsgruppen der Metzger, Schmiede, Maler, Tischler, Schuhmacher und ähnlicher Gruppen bleibt ungeklärt. Dabei ist es entscheidend, ob und warum diese als selbständige oder kleingewerbliche Handwerker beziehungsweise als gelernte Arbeiter klassifiziert wurden. Da man lediglich die auf der Karteikarte vermerkte Berufsangabe kannte, wird die Klassifizierung wahrscheinlich entlang des örtlichen Industrialisierungsgrads vorgenommen worden sein, so dass sich das Sozialprofil des Samples problematischerweise automatisch der örtlichen Sozialstruktur anpasst. Auch die Berufsgruppe des „Kaufmanns" war und ist schwer einzuordnen, da mit dieser Berufsbezeichnung sowohl ein kaufmännischer Angestellter als auch ein selbstständiger Unternehmer gemeint sein konnte. 144 Trotz dieser Probleme zeigt sich an den Berliner Befunden, dass die Arbeiter in der hauptstädtischen SA unterrepräsentiert waren. Zu einem entsprechenden Ergebnis gelangt auch Eric Reiche, der nach einem eigenständig erstellten Sample für die Nürnberger SA der Jahre 1930 bis 1932 einen Arbeiteranteil von 42,6 Prozent errechnet, der niedriger lag als der Anteil von 50 Prozent Arbeitern unter den männlichen Erwerbspersonen Nürnbergs. 145 Vergleicht man somit die Berliner und Nürnberger Befunde mit denen aus dem bayrischen Raum, so liegt die Frage nahe, ob die städtischen Arbeiter weniger anfallig fur die SA waren als die Arbeiter auf dem Lande. 1 4 6 Richard Bessels Analyse des Sozialprofils der SA in den östlichen Provinzen Preußens (Schlesien, Ostpreußen und Pommern) - die sehr wichtige Hochburgen der SA waren - widerlegt diese Vermutung. Allerdings verfügt auch Bessel lediglich über von der Polizei erarbeitete Erhebungen, die zeitlich
143 Grzywatz, S.467; Hamilton, S.486. Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 1933. Der Anteil der Arbeiter unter der Berliner Erwerbsbevölkerung bei beiden Geschlechtern zusammen betrug 50 Prozent. Fischer/Mühlberger, S.103 behaupten einen Arbeiteranteil von 75 Prozent in der Berliner SA (allerdings anhand von gerade einmal 22 ausgewerteten Fällen!). 144 Zu den Problemen der Zuordnung siehe: Schüren, Soziale Mobilität, S.313-361, bes. S.315/316, 324/325; Mai, S.635. Schon bei Michael Katers frühen Pionierarbeiten zur Sozialstruktur der SA zeigt sich, wie stark die Verzerrungen durch eine unterschiedliche Zuordnung der Berufsgruppen sein können. Kater, Ansätze, S.830. Zur Kritik an Katers Verfahren: Jamin, Kritik, S.536-541; Mühlberger, Sociology, S.495; Mühlberger, Hitler's Followers, S.163. 145 Reiche, Development, S. 108, 143, 255-257 (allerdings umfasst Reiches Sample nur 115 Fälle). 146 Eine ähnliche Annahme bei Mühlberger, der diese Vermutung bestätigt, allerdings auf unzureichender statistischer Grundlage (Mühlberger, Hitler's Followers, S.177).
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nur punktuelle Einblicke erlauben und zudem nicht nachprüfbare Zuordnungen der Berufsgruppen enthalten. Im Regierungsbezirk Alienstein machten die landwirtschaftlichen Arbeiter, nach polizeilicher Auswertung von 2.144 SA-Männern im Juni 1931, lediglich 7,7 Prozent der dortigen SA aus, obwohl diese Gruppe im Regierungsbezirk 20,7 Prozent der Erwerbsbevölkerung stellte. Zwei umfängliche Listen für den Regierungsbezirk Königsberg aus dem Oktober 1930 und Juni 1931 mit 917 beziehungsweise 4.450 erfassten SA-Männern dokumentieren ebenfalls einen geringen Arbeiteranteil, denn landwirtschaftliche und Industriearbeiter zusammengenommen machten gerade einmal 11,7 Prozent der dortigen SA aus. Vermutlich zählte die Polizei die Gruppe der gelernten Arbeiter im Gewerbe häufiger zu den Handwerkern, deren Anteil dementsprechend groß wirkt. Eine derart deutliche Unterrepräsentation der SA-Arbeiter gegenüber der Erwerbsbevölkerung erscheint jedenfalls wenig plausibel. Allerdings zeigen alle weiteren Befunde mit wesentlich geringeren Fallzahlen, daß die Landarbeiter in der SA unterrepräsentiert blieben. Dies galt auch für die drei Regierungsbezirke der preußischen Provinz Sachsen, die Dirk Schumann untersucht hat. Gleichwohl gab es Ausnahmen mit dem Kreis Osterburg und den Jerichower Kreisen, wo die Landarbeiter 75 beziehungsweise 60 Prozent der SA stellten. In den städtischen Kernen der Region war der Arbeiteranteil in der SA deutlich unterrepräsentiert, wie etwa in Magdeburg mit einem Arbeiteranteil von gerade einmal 13 Prozent. Die langen sozialdemokratischen Traditionen in der Metallarbeiterbranche hatten die hiesigen Industriearbeiter offenbar von der SA ferngehalten. Eine Erklärung für Bessels Befunde aus den östlichen Provinzen Preußens mag darin liegen, dass der Stahlhelm in diesen Regionen, besonders auf den Ländereien der Großgrundbesitzer, bis Ende 1931 relativ stark blieb und einen größeren Anteil der national gesonnenen Arbeiter von der SA fernhielt. So schwer eine exakte Einschätzung und Beurteilung der Statistiken angesichts der unbekannten polizeilichen Erhebungs- und Zuordnungskriterien auch fallt: Man wird Bessel letztlich doch folgen können, der auf eine eher bäuerlich und mittelständisch geprägte SA in seinen Untersuchungsregionen hinweist, die sich aber, wie er überzeugend bemerkt, durch ein „remarkable degree of social heterogenity" auszeichnete. Der hohe Anteil von Bauern in Bessels Untersuchungsregionen geht vor allem auf die Bauernsöhne zurück, die sich selbst als Bauern bezeichneten. Die hohe Arbeitsbelastung der tatsächlichen Vollbauern macht ihr persönliches Engagement in der SA-Organisation unwahrscheinlich. Zudem waren die sogenannten Bauern in der SA zu 50 Prozent jünger als 25 Jahre. Dies traf aber nur auf 1,1 Prozent der deutschen Bauern insgesamt zu. Die Bauernsöhne waren auf den väterlichen Höfen unterbeschäftigt und fanden aufgrund der Wirtschaftskrise kaum noch Arbeit in der Stadt. Eine konservativ-nationale Grundeinstellung, frustrierende
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Arbeitserfahrungen und eine vergleichsweise freie Zeitverfugung beförderten offenbar den Entschluss dieser Bauernsöhne, der SA beizutreten. 147 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die SA eine Arbeiterorganisation war, sofern damit Organisationen bezeichnet sind, bei denen über der Hälfte der Mitglieder Arbeiter waren. Dieser Arbeiteranteil belegt jedoch auch, dass Arbeiter weder eine große Affinität noch eine besondere Resistenz gegenüber der SA entwickelten. Der Vergleich der Daten Bessels mit denen Fischers zeigt, wie verschieden das SA-Sozialprofil ausgebildet war und je nach der regional gegebenen Sozialstruktur deutlich variierte (siehe Tabelle 12). Am Arbeiteranteil ist dieser Sachverhalt ebenso abzulesen wie am Prozentsatz der Landwirte in den östlichen Provinzen Preußens im Vergleich zu deren Anteil in den Großstädten. 148 Auch in der NS-Propaganda wurden die sozialen Differenzen zwischen den SA-Einheiten der städtisch-industriell geprägten Regionen und der ländlichen Gebiete eingeräumt. So schrieb Fritz Roegels, „in den großen Industriegebieten Rhein-Ruhr und Berlin" war das „sozialistische und proletarische Element" verstärkt und „gab der SA einen noch schärferen und entschiedeneren Charakter". 149
147 Bessel, Political Violence, S.36-39, 44 (Zitat); Schumann, Politische Gewalt, S.282-284; Fischer, Stormtroopers, S.50; Fischer/Mühlberger, S. 107/108; Fischer, German Communists, S.90/91, 97; Finker, Wehrverbände, S.l 12. 148 Vgl. Kater, Ansätze, S.801; Schumann, Politische Gewalt, S.282-284. 149 Roegels, S. 16. Zugleich bemerkte er wenig zureffend: „Graf Helldorf [...] erklärte im August 1931, daß die Berliner SA zu 80 bis 90 % aus Handarbeitern bestünde" (Roegels, S.35).
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Tabelle 12: Sozialprofil der SA in einigen ausgewählten Regionen (19301932) 150 Sozialgrupp en
Regbezirk Alienstein, Juni 1931 Ν=2.144 Arbeiter 7,7 1 5 1 Handwerker, 33,3 Kleinhändler Landwirte, 44,9 landwirtschaftl. Inspektoren Angestellte 10,8 Beamte und 3,1 Angestellte im öffentlichen Dienst Studenten kA Freiberufler kA Verschieden kA
Reg.bezirk Königsberg, Okt. 1930 N=917
München, April 1932 Ν =772
Berlin, Februar 1931 Ν =1.824
11,6 1 5 2 26,5
Schlesien, RegAugust bezirk 1930 KönigsN-^ keine berg, Angabe Juni 1931 Ν=4.4 50 11,7'53 17,2 1 5 4 28,8 27,8
52,1 1 5 5 2,1
54156
31,4
35,0
34,6
0,4
kA
18,5 2,0
17,2 4,3
12,3 2,5
25,8 1,4
27 2,5
4,0 kA 6,0
3,0 kA kA
kA kA 5,6
12,0 4,3 1,8
7,3 7,7 kA
1,5
Das war richtig beobachtet, denn das proletarisch-großstädtische Gelände machte nicht nur die Anwerbung der Arbeiter notwendig, sondern war infolge der verstärkten Präsenz der organisierten Arbeiterbewegung (und insbesondere der Kommunisten) eine schwierigere Gegend für die SA. Dies galt nicht nur für die Hochburg des deutschen Kommunismus in Berlin. Ebenso schwierig wie dort und im Ruhrgebiet lagen die Verhältnisse auch in Sachsen und Thüringen mit den kommunistischen Hochburgen Gotha, Erfurt oder Halle. Hier befand sich die SA oftmals noch bis weit in das Jahr 1931 in der Defensive, was der städtischen SA-Propaganda einen umso offensiveren Charakter
150 Quellen: Bessel, Political Violence, S.36/37; Fischer, Stormtroopers, S.26; BAB (ehem.BAP), RMdl 15.01, Nr.26140, fol.84-91 und 96-101, hier: fol.84. Die Abkürzung „kA" bedeutet keine Angabe in der Quelle. 151 Laut Quelle: „Landarbeiter". 152 Laut Quelle: „Land- und Industriearbeiter". 153 Laut Quelle: „Land- und Industriearbeiter". 154 Laut Quelle: „Land- und Industriearbeiter*'. 155 Laut Quelle: „ungelernte und gelernte Arbeiter*'. 156 Laut Quelle: „ungelernte und gelernte Arbeiter".
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gab. In Sachsen etwa konzentrierte sich die SA primär auf die ländlichen Gegenden. 157 Leider ist nur wenig über die sozialen Verhältnisse der großstädtischen SA-Arbeitergruppen zu erfahren, außer, dass die gelernten Gruppen offenbar stärker vertreten waren als die ungelernten Arbeiter. Natürlich waren viele dieser Arbeiter ohne Beschäftigung, wie in Kapitel 3.2.9 gezeigt werden wird. Eine Differenzierung nach Betriebsgröße und Branchenzugehörigkeit der Arbeiter, ihrem Verhältnis zu den Traditionen der Arbeiterbewegung, nach ihrer Art der Milieugebundenheit wäre notwendig, um ein umfassendes Bild von diesem Segment der Arbeiterschaft zu bekommen. 158 Alter und neuer
Mittelstand
Der Anteil des alten Mittelstandes, der Handwerker und Kleinhändler also, war in der SA, legt man die Befunde in den ländlichen Regionen zu Grunde, leicht überrepräsentiert, während er in den Städten merklich unterrepräsentiert blieb. Für die preußische Provinz Sachsen verweist Dirk Schumann auf den „beachtlichen Anteil" des Mittelstandes in der dortigen SA, aus dem, zusammen mit den Landwirten, die Mehrheit der SA-Angehörigen kam. Es steht zu vermuten, dass der von den Polizeiberichten ausgewiesene niedrige Handwerkeranteil in München und Berlin auf Zuordnungsfehlern beruht. Denn wenigstens für Berlin wird in den privaten Zeugnissen der SA-Führer immer wieder auf den hohen Handwerkeranteil in der SA hingewiesen. So schrieb etwa der Berliner Sturmflihrer Fritz Hahn Ende Mai 1930 in einem privaten Brief an seinen späteren Nachfolger Hans Maikowski euphorisch, wie groß die Anzahl der Neuzugänge im Sturm sei. Unter den fünfzig Neuaufnahmen, so Hahn, befanden sich vierzig Handwerker. Hahns Hinweis für die Charlottenburger SA traf tatsächlich zu, denn allein die Handwerksgesellen machten ein Drittel der Sturmangehörigen aus. Diese waren vornehmlich in kleinen patriarchal geführten Betrieben tätig, wodurch ihr Klassenbewusstsein gering ausgeprägt sein mochte. Es ist wahrscheinlich, dass die Polizei, aufgrund der starken Industrialisierung Berlins, viele Handwerker und Handwerkergesellen zu den gelernten Arbeitern gezählt hatte. 159 Der Charlottenburger Fall deutet zusätzlich darauf hin, dass nicht selten junge Handwerkergesellen und Handwerkerlehrlinge zur SA gingen. Ihr zünftiges Statusbewusstsein - das traditionell durch die vermeintliche Sicherheit ihrer Berufsposition, ihre mehrjährige geregelte Ausbildung und den geringen Grad an Arbeitsteilung bestimmt wurde - mochte jedoch aufgrund ihres Alters 157 Szejnmann, Nazism, S.33/34, 108/109, 114/115, 158. 158 Bessel, Political Violence, S.35; Geary, Nazis, S.456-460; Fischer/Mühlberger, S.101, 108. 159 Zitat: BDC, SA-P (Akte Hahn), ohne fol. (Brief Fritz Hahn an Hans Maikowski vom 29.5.1930); Sample Reichardt-Charlottenburg; Winkler, Mittelstand, S.38. Zur preußischen Provinz Sachsen: Schumann, Politische Gewalt, S.283 (Zitat).
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und der dadurch bedingten geringen Berufserfahrung noch nicht voll entwickelt sein. Zudem wurde der alte Mittelstand gerade in den industriellen Regionen durch Modernisierungsprozesse zurückgedrängt, wodurch das traditionell zünftige Selbstverständnis der Handwerkergesellen zusätzlich geschwächt wurde. 1 6 0 Für sie bestand kaum Hoffnung, durch den erlernten Beruf zur Meisterexistenz aufzusteigen, ja nicht einmal, dem Schicksal der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Diese Bedrohungsängste teilten sie mit der Arbeiterschaft, denn die Arbeitslosigkeit ereilte vor allem junge männliche Arbeiter der industriell geprägten Städte. 161 Der neue Mittelstand, Angestellte und Beamte also, blieb über alle regionalen Unterschiede hinweg so gut wie immer durchschnittlich repräsentiert. Nur geringfügige graduelle Abweichungen gegenüber der allgemeinen Erwerbsstruktur lassen sich von Region zu Region beobachten. Das Bild ändert sich jedoch, wenn man zwischen Angestellten und Beamten unterscheidet. Insbesondere die in der Privatwirtschaft beschäftigten Angestellten waren in der SA oft überrepräsentiert. Fischer und Mühlberger haben anhand ihres 2.643 Fälle umfassenden Samples errechnet, dass die SA im nationalen Durchschnitt fast ein Fünftel ihres Bestandes aus der Gruppe der Angestellten rekrutierte, während diese Gruppe unter der männlichen Erwerbsbevölkerung nur 11,8 Prozent ausmachte. 162 Traditionell war der Unterschied zwischen Arbeitern und Angestellten in Deutschland scharf ausgeprägt. Die Gruppe der Angestellten unterschied sich sozioökonomisch von den Arbeitern durch ihre nicht-manuelle Tätigkeit, in der sie einige Sonderrechte genoss, ihrem in der Regel höheren Verdienst, der als Gehalt ausbezahlt wurde und damit stabiler und berechenbarer war, sowie durch ihre größere Sicherheit am Arbeitsplatz, der weniger mechanisiert und in einem vergleichsweise streßfreien Arbeitsmilieu angesiedelt war. 1 6 3 Dadurch empfanden sich die Angestellten als Berufsstand, der sich von dem der Arbeiter unterschied. Aber durch die Rationalisierungswelle der zwanziger Jahre, Einkommensangleichungen, sozialpolitische Verbesserungen für die Arbeiterschaft und den nun beiden Gruppen drohenden Arbeitsplatzverlust
160 Vgl. Winkler, Mittelstand, S.36-39, 166-182; Kater, Ansätze, S.804. Zum traditionellen Handwerkerbewußtsein: Winkler, Mittelstand, S.25, 28, 35-39. 161 Peukert, Erwerbslosigkeit, v.a. S.314; Kater, Ansätze, S.811. Trotz möglicher Klassifizierungsfehler der Polizei bleibt die Diskrepanz zwischen dem hohen Anteil der Handwerker in der ländlichen SA und ihrer geringeren Vertretung in der städtischen SA erklärungsbedürftig, da ihr allgemeiner Anteil an den Erwerbstätigen über die unterschiedlichen Gemeindegrößen hinweg mit Werten zwischen 20 und 14 Prozent vergleichsweise konstant blieb (Statistisches Reichsamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch ftlr das Deutsche Reich, Jahrgänge 51. Jahrgang von 1932. Berlin 1932, S.17). 162 Fischer/Mühlberger, S.104. 163 Zu Unterscheidungsmerkmalen zwischen Arbeitern und Angestellten Kocka, Angestellte, S.35-37, 49/50.
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näherten sie sich objektiv einander an, die Trennungslinie verflüssigte sich. 164 Die Angestellten - zum Symbol einer sinnentleerten und konsumorientierten Welt geworden, die von Routine und Kontrolle am Arbeitsplatz, von Austauschbarkeit und Anonymität am Arbeitsmarkt betroffen war - entwickelten ausgeprägt antisozialistische Einstellungen, um wenigstens politisch eine scharfe Abgrenzung gegenüber den Arbeitern aufrechtzuerhalten. 165 Die Beamten waren hingegen aus verständlichen Gründen in der SA unterrepräsentiert, denn den preußischen Beamten war seit dem 3. Juli 1930 die Mitgliedschaft in der NSDAP wie KPD per Gesetz verboten. Dementsprechend war die Neigung gering, sich auf der Straße mit der braunen SA-Kluft zu präsentieren. Selbst wenn man bedenkt, dass es wenige Beamte im jungen Alter des typischen SA-Mannes (also unter 30 Jahren) gab, blieben die Beamten in der SA dennoch deutlich unterrepräsentiert. Andererseits ist festzuhalten, dass nach dem 30. Januar 1933 die Beamten in die SA strömten und dort bald überrepräsentiert waren. 166 Oberschicht und Studenten Auch Angehörige der Oberschichten fanden sich kaum in der SA ein, da die Organisation in diesen Gruppen als eine Truppe von plebejischen Rabauken verschrieen war. 167 Blieben die Oberschichten in der SA auch allgemein unterrepräsentiert, so lagen die Verhältnisse an einzelnen Orten und in einzelnen Stürmen ganz anders. Örtlich stark überrepräsentiert waren etwa die Studenten. In den Hochschulstädten stellten die Studenten innerhalb der SA einen erheblichen Anteil an der SA-Organisation. Die in Tabelle 12 wiedergegebenen Zahlen von 4,3 Prozent für München und 7,7 Prozent für Berlin machen dies exemplarisch deutlich, denn reichsweit gab es im Wintersemester 1932/33 gerade einmal 100.740 männliche deutsche Studenten, was einem Anteil von lediglich 0,3 Prozent der männlichen Wohnbevölkerung Deutschlands entsprach. 168 Eine genauere Betrachtung des hohen Anteils der Studenten in den Universitätsstädten zeigt, dass diese sich oft in weitgehend eigenständigen Aktionseinheiten der SA-Stürme konzentrierten. So hatte ein SA-Sturm im Münchner
164 Kocka, Angestellte, S.49-57, 298, v.a. S.51. 165 Vgl. Peukert, Weimarer Republik, S.160/161; Kocka, Angestellte, S.51; Kracauer, Angestellte, passim. 166 Fischer/Mühlberger, S.104-106. Der entsprechende Runderlass zur Beamtenmitgliedschaft und die Diskussion im Justizministerium in: Staat und NSDAP, S.87-93. Mommsen, Hans: Beamtentum im Dritten Reich. Mit ausgewählten Quellen zur nationalsozialistischen Beamtenpolitik. Stuttgart 1966, S.21; Fischer/Mühlberger, S.107. 167 Kater, Ansätze, S.807. 168 Grüttner, S.52; Statistisches Reichsamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Jahrgänge 51 von 1932. Berlin 1932, S.6 (Prozentzahl vom Autor selbst errechnet).
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Stadtteil Schwabing, dem Universitätsviertel, einen Studentenanteil von 22,5 Prozent, während im Münchner Arbeiterbezirk Borstel nicht ein einziger Student Mitglied der örtlichen SA war. Ähnliches ließ sich in der Mannheimer und Nürnberger SA beobachten. 169 Ein Rundschreiben Röhms vom Oktober 1931, in dem über die offizielle Einrichtung eigenständiger Studentenstürme reflektiert wird, beleuchtet die besondere Situation der Studenten innerhalb der SA eingehender. Sie seien, so hieß es bei Röhm, durch ihr Studium und sonstige Verpflichtungen (etwa in den Korporationen) „so in Anspruch genommen, dass die regelmäßige Teilnahme am SA Dienst [...] für sie eine kaum zu leistende Belastung bedeutet." Auch während der Semesterferien könne der Dienst in diesen studentisch strukturierten Stürmen, so fuhr Röhm fort, oft nicht ausgeführt werden. Auch wenn Röhm dies nicht ansprach, mag es gerade in den Großstädten auch zu sozialen Spannungen zwischen den Studenten und Arbeitern in der SA gekommen sein, so dass die Einrichtung von besonderen Studentenstürmen angezeigt erschien. Gerade um diesem Trend der Absonderung entgegenzuwirken, erließ Röhm in seinem Schreiben die Anweisung, keine „Studentenstürme" aufzustellen. Es war ihm offenbar Ernst mit dem propagandistischen Grundsatz „Arbeiter der Stirne und der Faust einander so nah wie möglich [zu] bringen". Um aber den „berechtigten Wünschen der in Ausübung des Hochschulstudiums befindlichen SA-Männer entgegen zu kommen", so Röhm, gestattete er den Studenten ab dem dritten Semester eine teilweise Befreiung von den SA-Appellen und -Diensten, sofern diese vorab von dem betroffenen Studenten beantragt worden waren. 1 7 0 Insgesamt gesehen dürfte der Anteil von studentischen SA-Männern jedoch nicht annähernd so hoch wie im italienischen Squadrismus gewesen sein. Zwar liegt kaum Material über den Anteil der Studenten in der SA vor, aber ein Blick auf den im Februar 1926 gegründeten „Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund" (NSDStB) zeigt, dass die Nationalsozialisten zwar bei den AStA-Wahlen schon relativ früh (seit 1928) beachtliche Stimmengewinne von etwa einem Drittel der Wahlberechtigten einfahren konnten, aber hinsichtlich der Mitgliederentwicklung doch auf bescheidenem Niveau verblieben. So zählte der NSDStB Anfang 1933 gerade einmal 4.827 männliche Studenten, das war nicht mehr als 4,8 Prozent der männlichen Studentenschaft. Wie viele hiervon gleichzeitig SA-Männer waren, ist unbekannt. Allerdings dürfte der Anteil der Studenten in der SA nicht wesentlich höher als der Anteil 169 Fischer, Stormtroopers, S.28; Mühlberger, Hitler's Followers, S.172; Reiche, Development, S. 108/109 (Studentenanteil hier in den Jahren 1930-32: 1,5%, N=131). 170 Der Oberste SA-Führer, Chef des Stabes Ernst Röhm und Quartiermeister Fuchs „Betr.: Studentenstürme" vom 15.10.1931, in: StAM, Pol. Dir. München, Nr.6822, Heft „Organisation der SA und SS", fol.20. Vgl. Rudhard, Leonhard: Student und SA, in: Der SA-Mann Nr.8 vom Oktober 1928 (Beilage des Völkischen Beobachters Nr.252 vom 28./29.10.1928).
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der Studenten in der NSDAP gewesen sein, der bei etwa 3 bis 4 Prozent lag. Diese Zahlen machen deutlich, dass der Nationalsozialismus aufgrund der starken völkisch-nationalistischen Strömungen in der deutschen Studentenschaft starke Stimmengewinne erzielte, die sich aber nicht im gleichen Umfang im Mitgliederbestand niederschlugen, weil die Studenten in den damals sehr weit verbreiteten studentischen Korporationen, Hochschulringen und Gildenschaften fest eingebunden waren (1929 waren 56,5% der männlichen Studenten Mitglied in einer Korporation). Zudem dürfte das traditionell elitäre Selbstverständnis der Studenten einen Beitritt zur SA mit ihrem vermeintlich plebejischen Image behindert haben. Gleichwohl fanden sich, gemessen am Bevölkerungsanteil, überproportional häufig Studenten in der SA. Das lag zunächst schlicht und einfach am jungen Alter der Studenten. Man fühlte sich in der SA als einer Jungerwachsenenorganisation gut aufgehoben und rechnete sich durchaus gute Chancen aus, dort schnell Führungspositionen bekleiden zu können. Der gerade in der SA beschworene faschistische Jugendkult und das Prinzip „Jugend fuhrt Jugend" werteten die junge Studentengeneration im Generationskonflikt der Weimarer Republik auf. Neben der stark ausgeprägten nationalistisch-antisemitischen Grundströmung in der Studentenschaft dürften die Ursachen in der „Überfüllungskrise in den akademischen Berufen" (Michael Grüttner) zu suchen sein. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten deutlich mehr Menschen ein Studium aufgenommen als noch im Kaiserreich. Dies hatte erstens einen demographischen Grund in den zum Studium einrückenden geburtenstarken Jahrgängen, zweitens eine soziale Ursache, weil jetzt mehr Kinder aus dem neuen Mittelstand studierten. 1931 kamen 37,7% der Studentenschaft aus Familien der mittleren/unteren Beamtenschaft und der Angestellten. Ein dritter Grund lag darin, dass sich die Universitäten immer mehr fur Frauen öffneten (1914: 6,7%; 1931/32: 18,8% der Studierenden). Die krisenhafte wirtschaftliche Entwicklung der Weimarer Republik hatte jedoch zur Folge, dass der akademische Arbeitsmarkt immer weniger in der Lage war, die wachsende Zahl der Hochschulabsolventen aufzunehmen. Die akademische Berufsnot provozierte weitverbreitete Existenzängste vor einer „Proletarisierung des Akademikerstandes" (Theodor Geiger), die gerade bei den aufstiegsorientierten und aus ungesicherten Verhältnissen kommenden Mittelschichtstudenten leicht in ein Protest- und Radikalisierungspotential umzuwandeln waren. Angesichts der verbreiteten militant-nationalistischen und völkisch-antisemitischen Einstellungen in der Studentenschaft spülten diese sozialen Entwicklungen der SA und NSDAP akademische Mitglieder zu. 171 Spezialeinheiten für bürgerliche SA-Männer gab es auch auf dem Land. So war die Mitgliedschaft in den - Ende der zwanziger Jahre eingerichteten 171 Grüttner, S. 19-61. Die hier wiedergegebenen Zahlen finden sich auf den Seiten 20, 23, 31, 52, 56. Siehe auch Herbert, S.52-57, 64-69, 79-92; Geiger, Soziale Schichtung, S.100/101.
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SA-Reiterstürmen nur für „bessergestellte" SA-Männer möglich, da die Bedingung für die Mitgliedschaft in diesen Reiterstürmen der Besitz eines eigenen Pferdes war. Die Teilnahme mit sogenannten Miet-Pferden war laut SADienstvorschrift ausdrücklich untersagt. Vor allem in Schleswig-Holstein, aber auch in Pommern, Ostpreußen, Schlesien und Bayern wurden Reiterstürme aufgestellt, deren Größe jedoch nicht bekannt ist. Jedenfalls kamen für diese Einheiten nur wohlhabende Bauern oder deren Söhne, wohl auch einige Angehörige des Mittelstandes und Adlige in Frage. Die Adligen waren in der SA überrepräsentiert und fanden sich dort zumeist in der Führungsetage oder den Spezialeinheiten wieder. Auf die 178 höchsten SA-Führer (Stabschef mit Stab, Obergruppenführer und Gruppenführer) kamen allein 21 Adelige. Bei diesen SA-Männern handelte es sich meist um Angehörige des verarmten preußischen Kleinadels. Fast alle waren Offiziere gewesen, also nachgeborene Adelssöhne, die sich durch die Reduktion der Armee auf ein 100.000-Mann-Heer, die Krise in der Landwirtschaft und die Abschaffung der Fideikommisse in einer unsicheren ökonomischen Lage befanden. Nicht in das Bild des prototypischen jungen und verarmten, preußisch-protestantisch SA-Kleinadeligen passten der 1929 eingetretene Sohn des Ex-Kaisers Prinz August Wilhelm zu Preußen, der 1930 beigetretene Philipp Prinz von Hessen-Kassel, Prinz Friedrich Christian Schaumburg-Lippe oder Josias Georg Erbprinz zu Waldeck-Pyrmont, die als betuchte Hochadlige eine Ausnahmeerscheinung in der SA waren. Diese dienten vor allem dazu, das Prestige der Truppe zu steigern. 172 Ähnlich exklusiv waren auch die SA-Fliegerstürme, die später zum sogenannten Horst-Wessel-Geschwader zusammengefasst wurden. Da die Teilnahme an den Fliegerstürmen den Besitz eines gültigen Pilotenzeugnisses erforderte, dessen Erwerb natürlich kostspielig war, konnte eine starke soziale Selektion in diesen Einheiten beobachtet werden. Die Flieger durften ihre elitäre Stellung durch ein schickes Uniformabzeichen, einen geflügelten Propeller in weißem oder gelbem Metall (je nach Farbe der Uniformknöpfe) ausdrücken. 173 172 Dienstvorschrift, S.42; Preußisches Polizeiinstitut (Hrsg.): Denkschrift über Kampfvorbereitungen und Kampfgrundsätze radikaler Organisationen (bearb. von Polizeimajor Ratcliffe), S.64-66; Standartenbefehl vom 5.1.1932 vom SA-Führer der Standarte 16 (Robert Palm), in: GStA PK, 1. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.311, fol.8/9 (M); Geschichte der SA, S.62/63; Werner, S.407, 427; Bessel, Political Violence, S.31; Longerich, Bataillone, S.92; Campbell, SA Generals, S. 164-166 (Liste). Eingehend zum Adel: Malinowski. 173 Dienstvorschrift, S.43-49; Geschichte der SA, S.70/71; Schreiben des Polizeipräsidenten in Berlin an den Minister des Innern vom 3.6.1932, in: GStA PK, I. HA, Rep77, Mdl, Tit.4043, Rep.77, Tit.4043, Nr.316, fol.9-16 (M); Schreiben des Oberpräsidenten der Rheinprovinz in Koblenz an den Preuß. Minister des Innern vom 4.3.1932 und Mitteilungen des Amtlichen Preußischen Pressedienstes vom 5.4.1932, in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.311, fol.69-71und fol.168-170 (M); Preußisches Polizeiinstitut (Hrsg.):
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Insgesamt gesehen war die bürgerliche Oberschicht in der SA jedoch schwächer vertreten als beim Squadrismus. Beiden gemeinsam war hingegen, dass diese Oberschichtangehörigen oft Führungspositionen in den Kampfbünden innehatten. Diese Thematik wird in Abschnitt 4.4.7 ausfuhrlicher behandelt. 3.2.6 Ein Vergleich von SA und N S D A P Die Kenntnisse über die soziale Zusammensetzung der NSDAP-Mitglieder stehen auf wesentlich besserer Grundlage als die Forschungen zur SA, da mit den im Berlin Document Center (ehemals BDC, jetzt im BAB eingegliedert) hinterlassenen NSDAP-Mitgliederkarten eine ausreichende Grundlage fur repräsentative Analysen zur Verfugung steht. Die intensiven sozialhistorischen Forschungen von Michael Kater (1983), Detlev Mühlberger (1991) und insbesondere die Erhebungen eines Forscherteams um Jürgen Falter und William Brustein (1996) ermöglichen relativ gesicherte Aussagen über das Sozialprofil der NSDAP. 1 7 4 Die Hauptdifferenz zwischen SA und NSDAP bestand nach diesen Erkenntnissen in dem Anteil der Arbeiterschaft. Während die NSDAP-Neumitglieder der Jahre 1925-1933 überproportional häufig Angestellte (21 Prozent) und Selbständige (32 Prozent) waren, war vor allem der Arbeiteranteil mit 40 Prozent deutlich geringer als in der allgemeinen Bevölkerung und der SA. 1 7 5 Die soziale Zusammensetzung der NSDAP war insbesondere seit dem „take o f f der Partei im Jahre 1930 durch einen überproportionalen Anteil des Mittelstands gekennzeichnet. 176 Der Versuch, die Arbeiterschaft zu gewinnen, blieb insgesamt erfolglos. Innerhalb der Betriebe war die Bilanz der Nationalsozialisten mehr als kläglich. In Berlin etwa gab es, trotz des hohen Arbeiteranteils der Stadt, im Juni 1929 gerade einmal 605 NSBO-Mitglieder, und auch im Oktober 1930 zählte die NSBO nicht mehr als 2.300 Mitglieder. 177
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Denkschrift über Kampfvorbereitungen und Kampfgrundsätze radikaler Organisationen (bearb. von Polizeimajor Ratcliffe) [1932], S.64-66; StAM, Pol. Dir. München, Nr.6812, Heft „Fliegersturm 22". Die eingeklammerten Jahreszahlen beziehen sich auf die wichtigste Monographie der Autoren zum NSDAP-Sozialprofil. Kater, Nazi Party; Kater, Sozialer Wandel, S.25-67; Mühlberger, Hitler's Followers; Brustein, Logic; Brustein/Falter, S.83-108; Falter/Kater, S. 155-177. Zum Brustein/Falter Sample: Schneider-Haase, D. Torsten: Beschreibung der Stichprobenziehung zu den Mitgliedern der NSDAP vom 27. März-7. September 1989 im Berlin Document Center. Berlin 1991. Brustein/Falter, S.92. Kater, Nazi Party, S. 246/247, 250/251 (Zahlen). Von 1925-29 waren 60,8% der NSDAPMitglieder Hamburgs aus dem Mittelstand. 1930-32 waren 54.9% der NSDAP-Mitglieder in den deutschen Städten aus dem Mittelstand. Kruppa, S.350/351; Burkert/Matußek/Wippermann, S.28/29; Wirsching, Weltkrieg, S.451/452; Engelbrechten, Armee, S.32, 147, 182.
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Das Rekrutierungspotential
Auch im regionalen Vergleich zeigen sich immer wieder diese Differenzen zwischen SA und NSDAP. So war, um nur ein Beispiel unter vielen zu nennen, die Berliner NSDAP deutlich mittelständisch geprägt. Der Partei war der Einbruch in die Arbeiterschaft nicht gelungen. Unter den NSDAP-Neumitgliedern zwischen 1921 und 1933 befanden sich gerade einmal elf Prozent Arbeiter. Die Mittelschichten dominierten eindeutig, denn die Angestellten stellten 49 Prozent der Mitglieder. Dazu kamen zwölf Prozent Beamte und 18 Prozent Selbständige. 178 Der soziale Unterschied zur Berliner SA mit ihren 54 Prozent Arbeitern könnte nicht klarer sein. Deshalb hatte auch der im Abschnitt 2.3.3 beschriebene politische Konflikt zwischen der Politischen Organisation der NSDAP und der SA, der um den Weg zur Machterringung und um die taktische Haltung zur Gewalt kreiste, klare sozialstrukturelle Hintergründe. 3.2.7 Ein erster Vergleich von SA und Squadrismus Bei aller Vorsicht angesichts der zum Teil nach zweifelhaften Kriterien geordneten Zufallssamples lassen sich folgende grobe Schlüsse ziehen: Erstens war die SA mit über 50 Prozent proletarischen Mitgliedern von der Arbeiterschaft geprägt. Dabei ist jedoch anzumerken, dass dieser Arbeiteranteil in etwa dem der männlichen Erwerbsbevölkerung in Deutschland entsprach. Arbeiter waren dadurch einerseits nicht überdurchschnittlich anfallig für die SA, anderseits bestand hier auch kein der Anwerbung entgegenstehendes Resistenzpotential. Zweitens war die besondere Stärke der SA, dass sie, reichsweit gesehen, Angehörige unterschiedlicher Schichten zusammenführte. Drittens erwies sich die SA als besonders anpassungsfähig an das lokal oder regional jeweils vorherrschende sozialmoralische Milieu. 179 Die beiden letztgenannten Schlüsse galten, wie gesehen, auch für den Squadrismus. Der Hauptunterschied zwischen beiden Organisationen war damit der unterschiedlichen sozialen Verfasstheit beider Länder geschuldet, denn im weitgehend industrialisierten Deutschland lag der Arbeiteranteil natürlich wesentlich höher als im vergleichsweise rückständigen Italien. Eben dieses Bild reproduzierte sich auch in den beiden faschistischen Kampfbünden. Gemeinsam war beiden faschistischen Kampfbünden ihr sozialer Mischcharakter, wobei einschränkend betont werden muss, dass der Squadrismus stärker in der Oberschicht verankert war. Eine Entsprechung zu dem extrem hohen Studentenanteil im Squadrismus fehlte der SA ebenso wie die für Italien typische Überrepräsentanz des Squadrismus in Kreisen der Unternehmer, der großen Pächter und Landbesitzer.
178 Falter, Parteistatistische Erhebung, S.199. 179 Vgl. Longerich, Bataillone, S.85; Hennig, Regionale Unterschiede, bes. S.156.
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Hinsichtlich des Mittelstandes zeigt sich, dass in beiden Fällen die Angestellten deutlich überrepräsentiert waren. Während dies in Deutschland auch auf den alten Mittelstand aus Handwerkern und Kleinhändlern (vor allem auf dem Land) zutraf, traten diese Gruppen im Squadrismus zurück und blieben unterrepräsentiert. „Wir leben in einer Übergangszeit" schrieb Thomas Mann 1932 und fürchtete, dass dieser Übergang nicht „ohne blutige Katastrophen" vor sich gehen werde. 180 Tatsächlich waren sowohl die Jahre 1919 bis 1922 in Italien als auch die Jahre 1929 bis 1932 in Deutschland Phasen eines beschleunigten sozialen Wandels, die mit politischen Krisen gepaart waren. In beiden Kampfbünden waren gerade diejenigen sozialen Gruppen überrepräsentiert, die von den sozialen Krisenerscheinungen am stärksten betroffen waren. In Italien waren dies, erstens, die Angestelltengruppen mit festen Gehältern, zweitens die arbeitslosen Akademiker und drittens die isolierten Kleinbauern. Diese drei Gruppen wurden von der Inflation, der spezifischen Akademikerarbeitslosigkeit und den verschlechterten sozialen Aufstiegsmöglichkeiten, der Umstellung der Kriegs- auf eine Friedenswirtschaft mit einer einhergehenden Absatzkrise sowie dem Aufstieg der sozialistischen Arbeiterbewegung am stärksten benachteiligt. 181 Zudem handelte es sich bei diesen Gruppen - auf lange Sicht gesehen - um sozial aufsteigende Gruppen, die aus prestigeärmeren und einkommensschwächeren Verhältnissen kamen, deren Aufstiegshoffnungen aber durch die Nachkriegskrise zerschlagen worden waren. Die in diesen Gruppen vorhandene Mischung aus Aufstiegsorientierung und stark ausgeprägter Abstiegsangst wurde vor allem durch den Machtzuwachs der sozialistischen Arbeiterbewegung angeheizt. Destruktives Protestverhalten und der Wunsch nach Revanche waren die Folge von Furcht und Frustration. Die aggressive Stoßrichtung verband diese Gruppen mit den Großgrundbesitzern und großen Pächtern, die ebenfalls überdurchschnittlich häufig im Squadrismus vertreten waren. Schließlich waren Angestellte, Studenten und Kleinbauern die Gruppen, die durch keine der klassischen Gewerkschaften vertreten wurden und demzufolge ihr politisches Mitspracherecht bei einem newcomer auf der politischen Bühne suchten: dem Faschismus. Auch in Deutschland waren die Gruppen, die am heftigsten von der Weltwirtschaftskrise und der Rationalisierungswelle der zwanziger Jahre betroffen waren, in der SA überrepräsentiert. So erfasste die Wirtschaftskrise bekanntlich vor allem die jungen Arbeiter der geburtenstarken Jahrgänge 1900-1913, die in der SA leicht überrepräsentiert waren. Die teilweise 180 Mann, Thomas: Der Sieg der Vernunft, in: Vossische Zeitung Nr.127 vom 15.3.1932. Zu der Übergangsthematik siehe: Reichardt, Gesellschaften, S. 139-155. 181 Frascani, S.573-601. Vgl. auch die Beiträge von Mario Abrate, Vera Zamagni, Roberto Cerri und Francesco Bogliari in diesem Sammelband.
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demographisch bedingte Überfüllung des Arbeitsmarktes führte in den Krisenjahren zur höchsten Erwerbslosenquote bei der Alterskohorte der 2025jährigen. Im Juni 1933 kamen auf 100 Erwerbstätige dieser Altersgruppen 44,5 Arbeitslose. Es war eben diese Gruppe von Jungarbeitern, die die eindeutige Mehrheit in der SA bildete. Hinsichtlich der Handwerker kann festgehalten werden, dass es durch die Rationalisierung sowohl zur Entwertung von bisher handwerklich qualifiziert ausgeführten Tätigkeiten als auch zur Einführung von Facharbeiterprofilen mit technischer Spitzenqualifikation kam. Dies bedeutete eine relative Entwertung des traditionellen Handwerks. Auch die Angestellten näherten sich durch die Rationalisierung den Verhältnissen in der Arbeiterschaft an. Aus ihrer Sicht stellte die Verwischung der sogenannten Kragenlinie zu den Arbeitern eine beängstigende Bedrohung dar. Der Kleinhandel schließlich sah sich auch durch die aufkommenden Warenhäuser in seiner Existenzgrundlage bedroht. 182 Auch hier führten also enttäuschte Aufstiegshoffnungen und konkrete Abstiegserfahrungen zu Furcht und Frustration, die durch die antisozialistische und radikale NS-Propaganda in Aggression und Gewalt umgemünzt wurden. 3.2.8 Erweiterung des Blickwinkels: Krisenhafte Lebensläufe Gleichwohl gilt, dass es keine soziale Gruppe gab, die das Sozialprofil der faschistischen Bewegungen eindeutig beherrschte. Die Einteilung der faschistischen Straßenkämpfer nach dem Kriterium ihres Standes (Sozialprestige einer Berufsgruppe) und ihre Zuordnung in Schichten (Einkommenskriterien) zeigen letztlich doch nur, was nach Maßgabe des Modells die wahrscheinlichen Klasseninteressen der Kampfbündler waren, die somit als Motivation zum Beitritt in Anschlag gebracht werden. 183 Die mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe angenommenen Einstellungen sagen jedoch meist mehr über die angesprochenen Berufsgruppen im Allgemeinen aus als über die tatsächlichen Mitglieder der faschistischen Kampfbünde im Konkreten. Die allgemeine Problematik der verschiedenen sozialen Gruppen ist für die Analyse der Kampfbünde von begrenztem Interesse, weil nur Bruchteile der jeweiligen sozialen Gruppe tatsächlich zu Mitgliedern der Kampfbünde wurden. Eine bloße
182 Peukert, Erwerbslosigkeit, S.305-328; Peukert, Jugend, S.29-56, 167-183, 285-310; Wirsching, Weltkrieg, S.371-375; Peukert, Weimarer Republik, S.l 16-129; Gellately, Robert: An der Schwelle der Moderne. Warenhäuser und ihre Feinde in Deutschland, in: Alter, Peter (Hrsg.): Im Banne der Metropolen. Berlin und London in den zwanziger Jahren. Göttingen/Zürich 1993, S.l31-156. 183 Zum Begriff des (Mittel-)Standes in diesem Sinne vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S.534-539; Geiger, Soziale Schichtung, S.77-138.
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Gegenüberstellung von materiellen und statusmäßigen Interessen einzelner sozialer Gruppen mit der faschistischen Propaganda greift zu kurz. Die strukturellen Bedingungen des Handelns müssten vielmehr mit der Lebenspraxis der faschistischen Straßenkämpfer verknüpft werden, um mehr als nur einen Erklärungsaspekt zu berücksichtigen. Sozialpsychologische und kulturelle Fragestellungen wie etwa Fragen nach der Generation und dem Geschlecht in und außerhalb der Erfahrungen in der Arbeitswelt könnten dadurch in die Untersuchung einbezogen werden. Die Sozialstrukturanalyse der faschistischen Kampfbünde steht jedoch vor dem Problem eines unzureichend differenzierten Materials über die Berufszugehörigkeit der Straßenkämpfer. Eines der Hauptprobleme dieser Materialgrundlage liegt in der Statik der Berufsangaben. Die Gleichzeitigkeit von Aufstiegsorientierung und Abstiegserfahrung kann durch eine punktuelle Erfassung der Berufsstruktur nicht geleistet werden. Dies wäre jedoch zwingend nötig, denn schon Peter Merkl stellte richtungsweisend fest, wie stark die soziale Abstiegsmobilität in der SA war. 1 8 4 Die Lebensläufe der Kampfbündler sind im statistischen Material quasi eingefroren, da die Angaben nicht dynamisch sind und keine Entwicklungslinie und -trends deutlich machen können. Man weiß nicht, ob etwa der Squadrist XY kurze Zeit nach seiner polizeilichen Registrierung seine Arbeit verlor, eine bessere oder schlechtere Arbeit annahm. Es ist auch unsicher, ob der SA-Mann YZ seinen wirklichen Beruf auf der Mitgliedskarte eingetragen hat, ob er seinen erlernten oder ob er seinen zur Zeit ausgeübten Beruf notiert hat. Das biographisch stillgestellte Material - obwohl es das einzige ist, was auch nur annäherungsweise repräsentativ genannt werden darf - gibt uns daher nur wenig Aufschluss über die Ursachen des Beitritts zu den Gewaltorganisationen des Squadrismus und der SA. Wenn man jedoch die Verlaufsperspektive der Biographien analysiert und berücksichtigt, dass der soziale Standort sich nach der gesamten sozialen Geschichte der Individuen einschließlich ihrer sozialen Herkunft und der durch ihre „soziale Flugbahn" (Bourdieu) geprägten Erwartungshaltung und Selbsteinschätzung bestimmt, gewinnt man ein anderes Bild als bei der statischen Betrachtung der Berufsverteilung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Diesen Zusammenhang hat der Kultursoziologe Pierre Bourdieu treffend formuliert: „Es ist [...] unmöglich, die Stellung eines Individuums oder einer Gruppe in der Sozialstruktur jemals unter einem, im strikten Sinne, statischem Gesichtspunkt vollständig, d.h. als relative [...] Stellung in gegebener Struktur bei gegebenem Zeitpunkt zu analysieren. Der Punkt der sozialen Flugbahn, den ein synchroner Längsschnitt fixiert, impliziert bereits Momente des sozialen Übergangs. Man muß daher, will man nicht Gefahr laufen, alle Merkmale zu übersehen, die im konkreten Fall eine soziale Stellung einschließlich der Art
184 Merkl, Political Violence, S.65; Schmidt, S.21-43.
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Das Rekrutierungspotential
und Weise, wie man sie erfahrt, als Aufstiegs- oder Abstiegsphase, als Fortschritt oder Regreß kennzeichnen, jeden Punkt als Differential der von der Kurve beschriebenen Funktion, d.h. durch die Kurve in ihrem Gesamtverlauf begreifen". 185 So berechtigt diese Kritik auch ist, angesichts der vergleichsweise schlechten Datengrundlage lassen sich, wie so oft bei historischen Analysen, keine repräsentativen Analysen zum „Neigungsindex" (Bourdieu) der sozialen Lebenskurven der faschistischen Kampfbündler vornehmen. Angesichts dieses verallgemeinerbaren historiographischen Problems hat Reinhard Koselleck richtungsweisend vorgeschlagen, in solchen Fällen den Quellen die Funktion eines „Vetorechtes" zuzuweisen, die damit die Funktion von Wegmarkierungen und Grenzen des Analysepfades übernehmen. Die Quellen stützen als Wächter die Interpretation, können sie aber nicht schlüssig belegen. 186 Das Moment der Willkürlichkeit der Untersuchung wird damit zwar nicht unterbunden, aber doch gebändigt. Auf so unsicherem methodischen Gelände ist größtmögliche Vorsicht angezeigt. So sollen im Folgenden anhand einer detaillierten Fallstudie über die Lebensverläufe in einem Berliner SA-Sturm die Probleme der Berufsanalyse genauer bestimmt werden, die - wo dies möglich ist - mit anderen Befunden verknüpft werden. Anhand von drei Problemfeldern soll gezeigt werden, dass soziale Mobilität und Inkonsistenz die Erlebnisund Wahrnehmungswelt der Männer stärker bestimmten als die bloße Zugehörigkeit zu abstrakten und statisch klassifizierenden Berufs- oder Schichtkategorien. Gelernt ist eben nur gelernt Die Berufsangaben über die betreffenden SA-Männer beziehen sich auf ihren erlernten Beruf, der in den Mitgliedskarteien eingetragen wurde. 187 Dieser war aber oft nicht identisch mit dem ausgeübten Beruf. Viele der Handwerksgesellen des Berliner SA-Sturms 33 arbeiteten nicht in ihrem erlernten Beruf: So hatte der am 11. November 1907 geborene SA-Mann Martin F. das Glaserhandwerk in Quedlinburg erlernt, bevor er nach Berlin zog. Er schilderte seine Kurzbiographie anlässlich einer polizeilichen Vernehmung wie folgt: „Ich habe die Volksschule bis zur ersten Klasse besucht und dann das Glaserhandwerk bei meinem Vater, der damals eine Werkstatt in Quedlinburg besaß, erlernt. Nach Beendigung der Lehrzeit verblieb ich im elterlichen Geschäft. 1927 geriet mein Vater in Konkurs. Im Jahre 1929 kam ich nach Berlin. Hier war ich zeitweise als Glaser tätig. Seit 185 Bourdieu, Soziologie, S.48. Unbehagen an einer statischen Analyse äußern auch: Schmidt, S.22-26; Campbell, SA Generals, S.5; Jamin, Zwischen den Klassen, S.368. 186 Koselleck, Standortbindung, S.206. 187 Dies stellt auch die Problematik von Jamins Untersuchung dar, die sich auf die Eintragung in die Mitgliedskarten bezieht. Kritik dazu bei Oertel, S.14 und Mai, S.635.
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November 1930 habe ich eine Portiersstelle in der Scala. Dort verdiente ich wöchentlich brutto 35.- RM". F. gehörte seit dem Juni 1930 der SA an. 188 Der am 11. September 1908 geborene Konrad S. war gelernter Bäcker, wie er auf seiner Mitgliedskarte vom 1. April 1930 vermerkte. 1931, als er wegen seiner Beteiligung am Überfall auf das von Kommunisten frequentierte Tanzlokal „Eden-Palast" (22.11.1930) angeklagt wurde, war S., laut der kommunistischen „Welt am Abend" ein „irregeleiteter Arbeiter", zum Hausdiener abgestiegen. 189 Der am 6. Februar 1909 geborene SA-Mann Max L. war zwar gelernter Maurer, arbeitete aber spätestens seit 1932 als Flurwärter. 190 Seit dem Herbst 1930 war L. Mitglied des SA-Sturms 33. Auch der am 3. Februar 1909 geborene SA-Mann Kurt P. arbeitete vor 1932 als Handwerksgeselle, er war unselbständiger Zimmerer. Im Juli 1932 wurde er jedoch kurzfristig arbeitslos und fand dann eine Anstellung als Gelderheber. Im August 1932, einen Monat nach dem Verlust seiner Gesellenstelle, wurde P. Mitglied des SA-Sturms. 191 Dass der Gesellenstatus im Handwerk eine Durchgangsstation zur Selbständigkeit gewesen war, konnte für keinen dieser Gesellen nachgewiesen werden. Hier wird exemplarisch sichtbar, dass die Analyse des Karriereweges der einzelnen SA-Männer weitaus aussagekräftiger ist als die starre Zuordnung der SA-Männer zu einer statischen sozialen Schicht nach ihrem erlernten Beruf. Negative Berufskarrieren, bedingt durch die Modernisierungswelle in den zwanziger Jahren und die wirtschaftliche Depression seit 1929, waren vorherrschend. Gerade die Gelernten, so weist die zeitgenössische Jugendforschung aus, klammerten sich in den Zukunftshoffnungen an den einmal gewählten Beruf und standen mit diesem Ideal in einer Realität, die von gelegentlichen Aushilfsarbeiten und Beschäftigung unterhalb des Ausbildungsniveaus geprägt war. 192
Unstete
Arbeitsverhältnisse
Neben der Diskrepanz zwischen erlerntem und ausgeübtem Beruf, die durch Abstiegsmobilität gekennzeichnet war, waren die Unstetigkeit der Arbeitsver-
188 LAB, A Rep.358, Nr.2361, Bd.II, fol.ll und BDC, MK und PK von Martin F. (ohne fol.). Nach Reinhard Schüren zählte F. dem erlernten Beruf nach als Handwerker, dem ausgeübten Beruf nach jedoch als unterer Angestellter (Schüren, S.320, 322, 337). 189 Welt am Abend vom 16.4.1931, 2. Seite der 2.Beilage; BDC, Mitgliedskarte und PK von Konrad S.; Berliner Tageblatt (AA) vom 8.4.1931, 1. Seite des 1. Beiblattes; Vorwärts (AA) vom 8.4.1931, S.3. 190 BDC, MK und B A K N S 26/323, ohne fol. (Brief Max L. an Willi R. vom 14.9.1932). 191 BDC, MK und PK; LAB, Rep.58, Nr.2553, Bd.I, fol.8-10. 192 Tippelmann, S.309-321, 364-377; Peukert, Erwerbslosigkeit, S.317/318. Zur Selbständigkeit im Handwerk: Schüren, S.324.
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hältnisse und der häufige Wechsel von Arbeitsort und -platz eine dominierende Berufserfahrung dieser SA-Männer. Dies zeigen schon die obigen Beispiele. Diese labile Position in der Erwerbswelt kennzeichnete alle sozialen Schichten im Charlottenburger SA-Sturm. Auch ungelernte Arbeiter, die am unteren Ende der Schichtungsskala standen und somit eigentlich nicht tiefer fallen konnten, waren von dieser Unstetigkeit betroffen. In diese Richtung deuten die Befunde zur Bedeutung der Arbeitslosigkeit im SA-Sturm Charlottenburg, wobei jedoch keine statistisch hinreichenden Belege zur Arbeitslosenquote vorliegen. Dass Arbeitslosigkeit kein spezifisches Problem der Charlottenburger SAMänner war, sondern große Teile der SA betraf, wurde schon häufiger in der Forschung betont. In einem Brief von Walter Stennes, dem SA-Führer Ost, der mit Datum vom 28. Februar 1931 an Ernst Röhm gerichtet war, hieß es etwa: „Es gibt in Berlin Standarten, die 67 % Erwerbslose haben". 1 9 3 Im September dieses Jahres sagte der Führer der Berliner SA, Wolf Heinrich Graf Helldorf, im Zusammenhang mit dem sogenannten Kurfiirstendamm-Prozess vor Gericht aus, dass 60 Prozent der SA-Männer erwerbslos seien. 194 Auch nach der parteioffiziellen Version aus der Feder von Julek Karl von Engelbrechten soll im Frühjahr 1931 „weitaus über die Hälfte der Berliner SA [...] erwerbslos, ausgesteuert oder überhaupt ohne jede Unterstützung" gewesen sein. Im November des gleichen Jahres sollen, glaubt man Engelbrechten, 80 Prozent erwerbslos gewesen sein. 195 Damit wäre die Arbeitslosenrate unter den Berliner SA-Männern deutlich höher als die der Berliner Erwerbsbevölkerung, die im Januar 670.000 Arbeitslose zählte. Damit waren 40,1% aller im sekundären Sektor beschäftigten Erwerbspersonen arbeitslos. Berlin lag deutlich über der durchschnittlichen Arbeitslosenquote des Reiches, die im Jahre 1932 mit 29,9% ihren Höhepunkt erreichte. 196 Die hohe Arbeitslosenrate in den Jahren der Weltwirtschaftskrise traf nicht nur die großstädtischen SA-Männer. Im ostpreußischen Pikallen etwa waren 80 Prozent der SA-Männer arbeitslos, in Breslau 60 Prozent, im Raum Hannover (Oktober 1932) sollen „fast alle" SA-Männer, in Gleiwitz sogar alle SA-Männer ohne Arbeit gewesen sein. Der Arbeitslosenanteil unter den niederbayrischen SA-Leuten betrug im September 1932 58 Prozent, im hessischen Fulda 80 bis 90 Prozent. 197 An den Schulungskursen für schlesische SA-Männer, die während des Sommers 1931 organisiert wurden, nahmen 470 Männer teil. Davon waren 267 Teilnehmer, also mehr als 56
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BAB (ehem. BÄK) NS 26/325, ohne fol. Vorwärts (MA) vom 23.9.1931. Engelbrechten, Armee, S.172,190. Grzywatz, S.49; Petzina/Abelshauser/Faust (Hrsg.), S. 119/120. Bessel, Political Violence, S.44; Kater, Ansätze, S.809; Fischer, Stormtroopers, S.86; Mai, S.640; Longerich, Bataillone, S.85,89; Höhne, S.92.
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Prozent, arbeitslos. 198 Katers Untersuchungen bestätigen einen Arbeitslosenanteil in der SA von durchschnittlich über 50 Prozent, während nach der Schätzung der „Vossischen Zeitung" sogar 85 Prozent der SA-Leute ohne Erwerbsbeschäftigung gewesen sein sollen. „Arbeitslosigkeit", so Kater, „und die daraus wachsende Unzufriedenheit seit 1928 waren konstitutiv für das schnelle Anwachsen der SA [...] Im Sommer/Herbst 1933, also zu Beginn der regierungsamtlichen Arbeitsbeschaffung, lag die Quote für das Reich bei 18,5 Prozent, während die Ziffern von 30, 59,3 und sogar 80 Prozent fur einzelne SA-Einheiten in Stadt und Land nichts ungewöhnliches waren". Der SAMann stand dadurch, so Kater weiter, in „einer Polarität von Chiliasmus und Dauerkrise". 199 Kehren wir zum Charlottenburger SA-Sturm zurück, so legen die Fallbeispiele nahe, dass Arbeitslosigkeit den Endpunkt einer langen Reihe frustrierender Lebenskrisen markierte. So wurde der seit 1929 arbeitslose Arbeiter Alfred B. (geboren 1912), der seit Anfang 1930 zum Sturm 33 gehörte, im Herbst 1932 nach der Beteiligung an einer Schlägerei und Messerstecherei in Untersuchungshaft genommen. In einem Schreiben des zuständigen Fürsorgers vom 12. August 1932 heißt es über den 19jährigen: „Aufgewachsen sei er im Elternhause; mit Ausnahme von etwa 1 Jahr in der Zeit von 1930 bis 1931, wo er in Schlafstelle gewohnt, habe er immer Wohnung im Elternhause gehabt. Er sei damals infolge Arbeitslosigkeit und großer Notlage im Elternhause von zu Hause fortgegangen, da er habe versuchen wollen, allein durchzukommen. In dieser Zeit habe er dann abends in Lokalen mit Salzstangen gehandelt. Ohne feste Arbeit sei er seit zwei Jahren. Zuletzt habe er wöchentlich 4.- RM Wohlfahrtsunterstützung bezogen". 200 Dass dieser ungelernte Arbeiter überhaupt Bezüge vom Wohlfahrtsamt erhielt, resultierte aus der Arbeitslosigkeit seines Vaters, eines Tiefbauarbeiters. Ein anderer SA-Mann aus diesem Sturm, ebenfalls wegen des erwähnten Vorfalls in Untersuchungshaft, befand sich in einer sehr ähnlichen Situation. Der 1932 achtzehnjährige Herbert W. hatte folgende berufliche 'Karriere': „Nach [der] Schulentlassung habe er zunächst eine Laufburschenstelle gehabt, dann habe er einige Monate in Lindwo Schmied gelernt, die Lehre aber dann aufgegeben, weil die Arbeit zu schwer gewesen sei. Dann sei er etwa 6 Monate bei der Firma Wolf & Robek, Frauenhofer Strasse als Stellmacher-Lehrling gewesen, doch sei er hier dann wegen Unbrauchbarkeit entlassen worden. Er habe einen Betriebsunfall durch eine Handverletzung gehabt. Dann habe er
198 Gruppenbefehle Nr. 9, 10 und 19 vom 6.7.1931, 1.8.1931 und 2.9.1931 von Edmund Heines an die Schlesische SA, in: GStA PK, I. HA., Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.310. fol. 137/138. 139-143, 160/161 (M). 199 Kater, Ansätze, S.809, 811, 823. 200 LAB, A Rep.358, Nr. 2553, Bd.I, fol.3, 83.
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wieder als Laufbursche kurze Zeit Arbeitsstellen gehabt. Seit Oktober 1931 sei er ohne feste Arbeit. Unterstützung habe er nicht bezogen, weil sich der Vater [bei der Gasanstalt Charlottenburg, S.R.] in fester Arbeit befinde. Dadurch habe er zu Hause immer Schwierigkeiten gehabt, denn die Eltern hätten ihm oft Vorwürfe gemacht, dass sie ihn unentgeltlich mit ernähren müssten. Aus diesem Grunde sei er auch einmal von Hause fortgegangen und etwa 5 Wochen unterwegs gewesen". 201 1932 wurde Herbert W. Mitglied im Sturm 33. 2 0 2 Ein 1913 geborener Konditorgehilfe, Halbwaise, war seit dem Juni 1930 arbeitslos und trat Mitte November 1930 dieser SA-Einheit bei, ein weiterer, der im Mai 1932 arbeitslos wurde, trat noch im selben Monat dem SASturm 33 bei. Ähnliche Beispiele ließen sich hinzufügen. 203 Der „Vorwärts" berichtete im Jahr 1931 von der gerichtlichen Aussage eines SA-Mannes aus dem Sturm 33, aus der hervorgeht, daß seine Arbeitslosigkeit das auslösende Element fur den Eintritt in die SA war: „Als der 19jährige Schlosserlehrling Konrad D., der wegen Beteiligung an einem der Sturm-33-Totschläge mit 1 Jahr Gefängnis vorbestraft ist, [vor Gericht] gefragt wird, weshalb er der SA. beigetreten sei, gibt er die klassische Antwort: 'Mein Meister hatte Pleite gemacht, es war gerade Winter und ich hatte keine Lehrstelle!'". 204 Der zwanzigjährige Maschinenschlosser Georg A. schrieb 1931 im nationalsozialistischen „Angriff seine berufliche 'Karriere' nieder. Nachdem Vater und Bruder arbeitslos wurden, musste er die Schule verlassen: „Aus dem hohen Schüler wurde der Jungarbeiter. Was für Ekel überfiel mich, als ich das erstemal in einer Schlosserei als Lehrling arbeiten mußte. Alle in der Werkstatt zeigten mit dem Finger auf mich und meinten, ich sei etwas besseres. [...] Aus dem Lehrling wurde der Geselle und dann folgte der Rausschmiß". Noch zweimal fand er Arbeit, zuletzt als Arbeiter in einer Autoschlosserei, bis er auch dort wieder entlassen wurde. 205 Seit 1931 war Georg A. Mitglied im SA-Sturm 33. Von der sogenannten Normalerwerbsbiographie
201 LAB, A Rep.358, Nr. 2553, Bd.I, fol.93 (Schreiben des Fürsorgers im Untersuchungsgefängnis an den Oberstaatsanwalt beim Landgericht III vom 15.8.1932) und fol.162. 202 LAB, Α Rep.358, Nr.2553, III. Bd., fol.l 1. 203 LAB, Α Rep.358, Nr.2361, II. Bd., fol.9/10; LAB, A Rep. 358, Nr.2553, I.Bd., fol.30/31 (Vernehmungsprotokoll vom 31.7.1932). Für die weiteren Beispiele: LAB, A Rep.358, Nr.2553, I. Bd., fol.27/28 (Vernehmungsprotokoll vom 31.7.1932) und BDC, MK (Akte Hans F.); LAB, A Rep.358, Nr.609, fol. 5/6 und BDC, MK, PK (Akte Albert F.); LAB, A Rep. 358, Nr.2553, fol.l 1-13 (Vemehmungsprotokoll vom 31.7.1932). 204 „Mord-Sturm 33. Neuer Totschlagsprozeß gegen die SA.-Banditen", in: Vorwärts (MA) vom 4.9.1931, 2. Seite der 1. Beilage. 205 „Vom Leben eines SA.-Mannes", in: Der Angriff vom 24.4.1931, 2. Seite der 2. Beilage. Beruf und Alter von A. sind in der Zeugenliste zum Prozeß um den Tod vom Sturmfuhrer Hans Maikowski vermerkt (LAB, A Rep.358, Bd.3, ohne fol.). Eine Mitgliedskarte von A. im BDC, der Mitglied im SA-Sturm 33 war (siehe: Sturm 33, S.10/11), ist leider nicht mehr vorhanden.
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- der kontinuierlichen und lebenslangen Beschäftigung im einmal erlernten Beruf - waren die SA-Männer in diesen Jahren der „klassischen Moderne" (Peukert) weit entfernt. Ein pointiertes Beispiel dafür liefert ein 1892 geborener Neuköllner SA-Mann, der nach dem Abschluss der Mittelschule und einer bis in den Dezember 1920 reichenden Beschäftigung im Militär in den kommenden zwölf Jahren bis Anfang 1933 insgesamt vierzehn Mal die Arbeitsstelle wechseln musste und zwischenzeitlich viermal arbeitslos gewesen war. 2 0 6 Aus diesen Fallbeispielen geht hervor, dass diese SA-Männer vor allem seit der wirtschaftlichen Depression von 1929 von der Arbeitslosigkeit betroffen waren. Der Beginn ihrer Arbeitslosigkeit korreliert dabei auffällig eng mit dem Eintritt in die SA. 21 von 78 SA-Männern, bei denen ihr Beitrittsdatum ermittelt werden konnte, waren in den Jahren 1929/30 eingetreten. Dazu kamen weitere 47, die in den Jahren 1931/32 Mitglieder dieses SA-Sturmes wurden. Wurden somit 87 Prozent dieser Untersuchungsgruppe in den Jahren 1929-1932 Mitglied in der SA, so standen diesen lediglich neun SA-Männer gegenüber, die in der Zeit von 1926-1928 der SA beigetreten waren. 2 0 7 Die das Selbstwertgefühl vernichtende Arbeitslosigkeit war bei ihnen oftmals die letzte Stufe eines langen beruflichen Deprivationsprozesses, der über eine Ausbildung unterhalb der Berufstätigkeit des Vaters, gefolgt von einer Beschäftigung unterhalb des Ausbildungsniveaus bis zum häufigen Wechsel der Arbeitstätigkeiten führte. 2 0 8 Ihr Arbeitsweg bestand aus einem kontinuierlichen Abstieg. Arbeitslosigkeit scheint in vielen Fällen der Auslöser gewesen zu sein, um der SA beizutreten. Ganz so, wie es John Dollard beschrieb, von dem die Theorie der relativen Deprivation stammt, waren gerade die Permanenz und Dauer der Frustrationen ein wesentliches Moment für ihre Aggressionsbereitschaft, die durch den Eintritt in die gewalttätige SA bekundet werden konnte. 209 Leider hat sich die Forschung um die präzise Untersuchung der Abstiegsmobilität bislang wenig gekümmert. Christoph Schmidts Inhaltsanalyse von 74 ausgewählten Berichten sogenannter alter Kämpfer (1919-1933), über die Hälfte von ihnen SA-Männer, stellte die „Krisenfolgen ihrer Lebensläufe" heraus, die durch Berufskatastrophen geprägt waren. Über 30 Prozent dieser Lebensbeschreibungen, die 1936/37 auf Initiative der NSDAP verfaßt worden waren, beinhalten diese Krisen, obwohl die Befragten dazu nicht explizit auf-
206 LAB, Rep.214, Nr.963, Nr.1616, ohne fol. 207 Sample Reichardt-Charlottenburg. Ein SA-Mann der Untersuchungsgruppe trat erst 1933 diesem Sturm bei. 208 Zur subjektiven Bedeutung der Arbeitslosigkeit siehe Peukert, Erwerbslosigkeit, S.316; Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel. 209 Dollard u.a., S.39-42.
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Das Rekrutierungspotential
gefordert worden waren. 2 1 0 Auch Peter Merkls Sekundäranalyse von 581 Lebensgeschichten „alter Kämpfer" vor 1933 (337 waren Mitglieder der SA) stellt die Beziehungen zwischen enttäuschten Aufstiegserfahrungen, Betroffenheit durch ökonomische Krisen und Engagement in der SA heraus. Insgesamt ein Viertel seiner Gruppe war durch Arbeitslosigkeit, Verlust der Selbstständigkeit oder Brüche in der Berufslaufbahn allein seit 1929 betroffen. 211 Schließlich hat Mathilde Jamin in ihrer repräsentativen Untersuchung über mehr als 1.800 SA-Führer herausgefunden, dass auch hier der die nach unten weisende soziale Mobilität hoch war - nur knapp ein Drittel dieser Gruppe war sozial immobil. Etwa 44 Prozent der SA-Führer waren in mindestens einer Hinsicht - inter- oder intragenerationell - soziale Absteiger. Hier zeigt sich, was die SA-Führer mit den einfachen Mitgliedern verband: Beide Gruppen bestanden aus sozialen Absteigern, denn die Abstiegsmobilität war bei den SA-Führern, wie Jamin formuliert, „deutlich stärker ausgeprägt als in der Bevölkerung". 212 Roger Engelmanns Mikrostudie zu den Squadristen in Massa-Carrara zeigt ähnliches für den italienischen Fall, denn typisch für die jungen und extrem gewalttätigen Squadristen seiner Region, die vornehmlich aus dem Arbeitermilieu stammten, waren ihre individualisierten Beschäftigungsverhältnisse und die soziale Labilität ihrer Berufsverläufe. Zumeist waren sie vom Absinken in subproletarische Verhältnisse bedroht. Nur bei wenigen Berufsgruppen - wie den Mechanikern, Schlossern und Metallarbeitern (meccanici) - bot sich die Chance zu sozialem Aufstieg. Die Unsicherheit im Berufsverlauf trug nach Engelmann entscheidend zur Steigerung ihrer „diffusen Aggressionen und Dominanzphantasien" bei. 2 1 3 Bezeichnend für die einfachen Squadristen Massa-Carraras waren durch Deprivation gekennzeichnete Lebensläufe, wie bei einem 1889 geborenen squadrista aus Torano (Provinz Carrara) beispielhaft gezeigt werden kann. G. I. wurde in den Jahren 1906 bis 1910 insgesamt sechsmal wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung und Diebstahls verurteilt. Er war 1911-13 in Lybien Soldat und nahm auch am Ersten Weltkrieg teil, bis er im August 1916 wegen „geistiger Verwirrung" untauglich geschrieben wurde. Seine Eltern bezogen in den Kriegsjahren von der Gemeinde eine Art Sozialhilfe. Die Familie gehörte damit zu den Kreisen, die in dieser Zeit größte Not litten. 214 Auch Frank Snowden nennt die toskanischen Squadristen 210 Schmidt, S.21-27. Ähnlich Gliech, S.131. 211 Merkl, Political Violence, S.66/67. 212 Jamin, Zwischen den Klassen, S.343, 358-367; Zitat: S.367. Jamin spricht von sozialer Mobilität, wenn dadurch die Schichtgrenze durchbrochen wurde (ebd., S.327). Sie definiert mithin sozialen Abstieg noch wesentlich enger, als dies hier vorgenommen wurde, so dass das Ausmaß des sozialen Abstiegs noch wesentlich größer gewesen wäre. 213 Engelmann, Provinzfaschismus, S.155-165 (Zitat S.159). Vgl. Snowden, Fascist Revolution, S.167. 214 Engelmann, Provinzfaschismus, S.160.
Furcht und Frustration
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eine „group of declasses", „uprooted and idle of all social classes" sowie „the hangers-on of all classes and persuations, upwardly mobile in aspiration, but without concrete prospects". 215 Intergenerationelle
Mobilität
Schließlich wird nicht nur durch die Betrachtung der intra-, sondern auch der intergenerationellen Mobilität im SA-Sturm deutlich, dass Abstiegsprozesse das dominierende Sozialerlebnis der SA-Männer darstellten. Auch von dieser Diskrepanz waren alle Schichten, bis auf die oberen Angestellten, betroffen. Dies traf etwa auf einen Laufboten zu, dessen Vater noch Friseur gewesen war, aber auch auf einen handwerklichen Fleischergesellen, dessen Vater als Eisenbahnassistent Beamter im mittleren Dienst gewesen war. Der Elektrikerlehrling, der nicht über den Besuch der Realschule hinauskam, hatte einen Vater, der als Verwaltungsobersekretär gehobener Beamter gewesen war. Ähnliche Abstiegserfahrungen machte ein Konditorgehilfe, dessen Vater einer Tätigkeit als Polizeioberwachtmeister nachging oder der Schlossergeselle, dessen Vater noch Kaufmann gewesen war. 2 ' 6 Lediglich zwei SA-Männer konnten gefunden werden, die vermutlich eine höhere soziale Stellung erreicht hatten als ihre Väter. Ein SA-Mann, der die Realschule bis zur Obersekunda besucht hatte, bezeichnete sich als Kaufmann, der Vater hingegen war Kutscher gewesen. Eventuell hatte dieser SA-Mann im Jahr 1932 seine Stellung verloren, denn er diente seitdem als Geldverwalter im Sturm 33. 2 1 7 Aber ist der schon erwähnte SA-Mann, der sich als Verkäufer bezeichnete und lediglich eine Aushilfsstelle in einem Charlottenburger Herrenmodegeschäft hatte, ein sozialer Aufsteiger, weil sein Vater, der Former war, als gelernter Industriearbeiter zu bezeichnen wäre? 2 1 8 Die intergenerationelle Mobilität der hier betrachteten Personen war mehrheitlich eindeutig durch Abstiegsprozesse gekennzeichnet. Einen ähnlichen Befund einer intergenerationellen „downward mobility" hat Conan Fischer anhand eines Samples von insgesamt 425 SA-Männern für die reichsweite SA festgestellt. 219 Ähnliche Befunde wie für die SA hat Lawrence Squeri in seiner Untersuchung über die Squadristen in Parma herausarbeiten können, die einen über-
215 Snowden, Fascist revolution, S.161/162. Vgl. ebd., S.166 und 168. 216 Β DC, PK und SA sowie OPG (jeweils die Akten von Friedrich B.), ohne fol.; BDC, MK von Paul Foyer; Vorwärts vom 31.3.1931; Rote Fahne vom 4.9.1931; Welt am Abend vom 15.8.1931; Vorwärts vom 23.8.1931; Welt am Abend vom 12.8.1931 und 13.8.1931; LAB, A Rep.358, Nr.2361, Bd.II, fol. 9/10 (polizeiliche Vernehmung vom 25.2.1931); Welt am Abend vom 1.4.1931. LAB, Α Rep.358, Nr.2553, Bd.I, fol.24/25. Zum Eisenbahnassistenten als Beamten im mittleren Dienst siehe Schüren, S.320 und 333. 217 BDC, PK (Akte Karl D.), ohne fol. 218 LAB, Α Rep.358, Nr.2553, Bd.II, fol.9; BDC, MK von Hans F., ohne fol. 219 Fischer, Stormtroopers, S.39-41.
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Das Rekrutierungspotential
durchschnittlichen hohen Anteil von Angestellten auf sich vereinten. Die kleinen Verwaltungsangestellten und Mittelschullehrer der Provinz befanden sich oft in schwieriger ökonomischer Lage und waren nicht selten auf Arbeitssuche. Diese Gruppe, so Squeri, war härter als die „commercial classes" von der Inflation betroffen und sackte in dem realen Einkommensniveau zuweilen sogar unter das des Proletariats ab. So wurden etwa die Mittelschullehrer in Parma schlechter entlohnt als die örtlichen Eisenbahnarbeiter. Squeri betont die häufige Herkunft der Squadristen aus einem bürgerlichen Elternhaus. Bei 120 Squadristen hat er den Beruf der Väter rekonstruieren können. Unter diesen befanden sich allein in 29 Fällen reiche Landbesitzer mit mehr als 30 Hektar Besitz, neun mittlere Landbesitzer mit 11-30 Hektar und in weiteren 25 Fällen Bauern mit ländlichem Kleinbesitz unter 10 Hektar. In über der Hälfte des Samples (63 Fälle) lassen sich Landbesitz und zudem die Beschäftigung von Arbeitern auf eben diesem Land nachweisen, während lediglich dreizehn Squadristen aus Arbeiterfamilien stammten. Überdurchschnittlich viele Squadristen kamen demnach aus Familien der oberen Mittelklasse, während sie selbst zur proletaroiden Mittelklasse zählten. 220 3.2.9 Relative Deprivation und Gewalt Zum Charlottenburger SA-Sturm gehörten viele gefährdete und gescheiterte Existenzen. Diese Männer waren durch eine Geschäftsaufgabe ihrer Arbeitgeber aus wirtschaftlichen Gründen, durch Beschäftigung unterhalb ihres Ausbildungsniveaus, durch häufigen Wechsel des Arbeitsplatzes und der Berufstätigkeiten sowie häufige und/oder längere Arbeitslosigkeit gezeichnet. Ihre oft mehrfach gebrochenen Erwerbskarrieren bestimmten ihren Lebenslauf stärker als die Tatsache, ob sie sich auf dem Mitgliedsausweis nun als Angestellte oder Arbeiter bezeichnet hatten. Während sie die sozialen Verunsicherungs- und Deklassierungsprozesse am eigenen Leib erlebten, nahmen sie andere SA-Kameraden durch den engen Kontakt mit den degradierten SAMännern zumindest als ständige Bedrohung wahr. Im Sinne der Deprivationstheorie John Dollards lässt sich ein Zusammenhang zwischen ökonomischer Deprivation und Gewaltbereitschaft ausmachen. Die Männer beider faschistischen Kampfbünde waren offenbar soziale Absteiger und solche, die angesichts der sozialistischen Forderungen einen individuellen sozialen Abstieg befürchteten. Wahrscheinlich noch größer war die Gruppe, die ihre Chancen zu sozialem Aufstieg durch den Sozialismus behindert sah, wie die Kleinbauern und Studenten in Italien oder die Angestellten in Deutschland. Einerseits waren sie durch ihre Desintegration und labile soziale Zwischenstellung zwischen der Herkunfts- und Zielschicht verunsichert, und
220 Squeri, S.102-105, 254.
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andererseits strebten sie einen Status an, den sie innerhalb der bestehenden sozioökonomischen Strukturen und politischen Verhältnisse nicht glaubten erreichen zu können. Sie machten die Nachkriegsgesellschaften für die verminderten Umsetzungschancen ihrer Aufstiegsorientierung verantwortlich und empfanden die gesellschaftlichen Verhältnisse als starr und undurchlässig. 221 Mitunter empfanden sie ihren absteigenden Lebenslauf wohl auch als schicksalhaft vorgezeichnet, da sie an der Spitze der Aporien eines brutalen Modernisierungsprozesses standen, der sich in der Weimarer Republik als Rationalisierungswelle und in Italien in der Form einer Modernisierung der Landwirtschaft zeigte. 222 Das Zusammenspiel von Unzufriedenheit und Hoffnungslosigkeit und die Gleichzeitigkeit von Abstiegserfahrung und Aufstiegsorientierung verstärkten die Frustrationen. Wenn Dollards Annahme richtig ist, dass Frustration in Aggression umschlägt, wenn die Aussicht auf Wunscherfüllung subjektiv aussichtslos erscheint (und die Frustration lange anhält), dann traf gerade dies auf die faschistischen Faustkämpfer zu. 2 2 3 Die Angaben über den hohen Anteil der Arbeitslosen in der SA lassen für den faschistischen Kampfbund Deutschlands einige weiterführende Interpretationen im Sinne der Theorie „relativer Deprivation" (Dollard) zu. Der italienische Squadrismus muss bei diesen Überlegungen unberücksichtigt bleiben, da Arbeitslosigkeit hier nur auf spezifische Berufsgruppen konzentriert blieb. In der italienischen Nachkriegsgesellschaft trat Arbeitslosigkeit öfter in verdeckter Form als Unterbeschäftigung auf und fand so in der (aufgrund der stärker improvisierten italienischen Arbeitslosenfursorge) ohnehin rudimentären nationalen Statistik keine Berücksichtigung. Der in Schaubild 4 sichtbare Unterschied zwischen der Arbeitslosenstatistik in Italien und Deutschland lässt sich nicht allein mit der verdeckten Arbeitslosigkeit erklären, die ja auch in Deutschland nicht fehlte (Kurzarbeiter, Notstandsarbeiter, Arbeitsdienst). Entscheidend ist vielmehr, daß die italienische Arbeitslosigkeit nur bestimmte soziale Gruppen wie die Akademiker betraf und nur lokal begrenzte Regionen heimsuchte, wie beispielsweise die Lomellina oder die Marmorregion MassaCarrara, in der es durch den Beitritt zu einer Squadra möglich war, „eine individuelle Lösung des Problems der eigenen Unterbeschäftigung oder Arbeitslo-
221 Vgl. dazu: Lopreato/Chafetz, S. 166-183. 222 Vgl. Peukert, Weimarer Republik, S.l 11-190, 266-272; Geiger, Soziale Schichtung, S.109ff. 223 Die „rational-choice-theory" (ihr klassischer Vertreter ist Mancur Olson) findet dagegen hier keine Anwendung, denn dort wird behauptet, dass soziale Ungleichheit in Gewalt transformiert werde, wenn der Ausgleich der Ungleichheit für die Akteure objektiv ausgeschlossen sei. Dies zu beurteilen ist hier unmöglich. Zu diesem Ansatz: Müller/Weede, S.41-55; Rule, S.32-41, 61
Das Rekrutierungspotential
338
s i g k e i t durch die H i l f e e i n e s f a s c h i s t e n f r e u n d l i c h e n Marmorindustriellen zu finden",
w i e R o g e r E n g e l m a n n betont h a t . 2 2 4
Schaubild
4:
Vergleich
der
Anzahl
der
Arbeitslosen
in
Italien
und
Deutschland225
In D e u t s c h l a n d erschien den A r b e i t s l o s e n die S A w a h r s c h e i n l i c h d e s h a l b attraktiv, w e i l die dortige p a u s e n l o s e Tätigkeit eine w i r k u n g s v o l l e K o m p e n s a tion für die Perspektivlosigkeit u n d Sinnentleerung d e s A l l t a g s bot: D i e vorm a l s leeren Stunden w u r d e n nun mit ' E i n s ä t z e n ' gefüllt. M a n k o n n t e sich als
224 Hennig, Weltwirtschaftliche Konstellation, S.40-60; Blaich, S.58-116. Zur Arbeitslosenpolitik der deutschen Reichsregierung: Homburg, S.73-107. Zur Männer- und Frauenarbeitslosigkeit in Italien: Saraceno, S.202; Rolling, Bernd: Familienwirtschaft und Klassenbildung. Landarbeiter im Arbeitskonflikt: Das ostelbische Pommern und die norditalienische Lomellina 1901-1921. Vierow bei Greifswald 1996, S.135-158; Engelmann, Provinzfaschismus, S.89. 225 Für Italien: De Feiice, Mussolini il fascista, S.142/143, Anm.2; Tasca, S.219. Die Zahlen sind teilweise falsch wiedergegeben bei Gentile, Storia, S.585, Anm. 78; Candeloro, S.382384; Snowden, Fascist revolution, S.236, Anm.83. Für Deutschland: Statistisches Reichsamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 51. Jahrgang 1932. Berlin 1932, S.298; Statistisches Reichsamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 52. Jahrgang 1933. Berlin 1933, S.298. Ohne Notstands- und Fürsorgearbeiter, ohne die in gekündigter und ungekündigter Stellung befindlichen Arbeitssuchenden, aber einschließlich der im Arbeitsdienst Beschäftigten, soweit sie ein Arbeitsgesuch beim Arbeitsamt gestellt haben, und einschließlich der Pflichtarbeiter.
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nützliches Rad in einer dynamischen Bewegung sehen, die Anerkennung durch die „Kameraden" und Geborgenheit in einer Gruppe sicherte. Die SA bot sich als soziales Kontaktfeld, als Teil einer mitreißenden Bewegung, eines mit demagogischer Pose auftretenden Sinnträgers an, der die Möglichkeit bot, die lebensgeschichtlichen Frustrationen aggressiv nach außen zu wenden. Dazu trat die Erwartung, für die Mühen in der SA irgendwann entlohnt zu werden. Die für den Nationalsozialismus typische chiliastische Erlösungshoffnung konzentrierte sich auf die Zeit des heiß ersehnten und bald kommenden „Dritten Reiches". In der SA konnte dem Zerfall des Zeitgefühls, der, wie Jehodas Marienfeld-Studie eindrucksvoll gezeigt hat, eine deprimierende und zugleich dominierende Erfahrung von Arbeitslosen war, Einhalt geboten werden. 226 In der SA wurde der Tagesablauf wieder strukturiert. Durch den permanenten Aktionismus fühlten sich die Arbeitslosen in Schwung gehalten: die „Organisationsdisziplin ersetzte Arbeitsdisziplin" (Detlev Peukert). 227 Zum anderen geriet man durch Arbeitslosigkeit in eine zunehmende soziale Isolation, da die betrieblichen Kontakte und Freundschaften zusammenbrachen. Mit der Arbeitslosigkeit zerbröckelten nicht nur die betrieblichen Bezugssysteme, sie erschütterten zugleich auch private Beziehungen und führten zu familiären Spannungen. 228 An die Stelle der betrieblichen und privaten Beziehungen trat die Kampftruppe. Hier fand man ein schützendes Kontaktnetz, durch das die soziale Isolation gleichzeitig kompensiert und (nach außen hin) verschärft wurde. In der SA wurde eine euphorische Stimmung zelebriert, die den jugendlichen Arbeitslosen, die zwischen „Mutlosigkeit und Zuversicht, zwischen Ausgeglichenheit und Gereiztheit und Gedrücktheit" hin- und herschwankten, die über „das Schicksalhafte der Arbeitslosigkeit" klagten, neuen Sinn gab. 2 2 9 So schrieb der 22jährige SA-Mann Georg Α., die „Kameradschaft" helfe ihm seine Arbeitslosigkeit zu bewältigen: „Jetzt gehöre ich zu der großen Armee der Arbeitslosen, die anstehen und warten, warten bis sie für ein paar Tage Arbeit finden. Ihr, unsere Führer, ihr könnt mit uns den Teufel aus der Hölle holen, denn wir haben Vertrauen zu euch". 2 3 0 Es war das Versprechen auf politische Neuordnung und eine Zukunft, die sich durch grundlegende Umwälzungen auszeichnen würde, die den Vitalismus freisetzte und die erwünschte Zuversicht lieferte. Gerade die aggressive Radikalität, die die SA kultivierte, verdrängte die frustrierenden Aussichten durch eine frene226 Zum Zerfall des Zeitgefühls bei Arbeitslosen siehe: Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel, S.83-92; Staewen-Ordemann, S.90-92; Schmidt, S.28-31. 227 Peukert, Weimarer Republik. S.248. 228 Siehe Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel, S.55-82; Tippelmann, S.376; Schmidt, S.31. 229 Tippelmann, S.313 (Zitat); Staewen-Ordemann, S.86 (Zitat). Dazu auch Peukert, Erwerbslosigkeit, S.321; Peukert, Weimarer Republik, S.248. Zur Situation vor den Arbeitsämtern siehe Schartl, S. 148-152. 230 „Vom Leben eines SA.-Mannes", in: Angriff vom 24.4.1931, 2. Seite der 2. Beilage.
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tische Energie, mit der man den eigenen Lebenskrisen Sinnstiftung entgegensetzte und sie durch destruktive Gewalt abzuschütteln vermeinte. Weniger die Ideologie des Nationalsozialismus als vielmehr die von der SA ausstrahlende Energie und Dynamik machten die Organisation attraktiv. Ganz ähnlich analysierte Detlev J.K. Peukert die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit, denn „auf den Verlust an Zeitdisziplin und Zukunftshoffnung und auf das quälende Gefühl, in einen Wartestand versetzt zu sein, dessen Dauer und Ausgang außerhalb der eigenen Geltungsmacht lag, reagierten die Jugendlichen in verschiedener Weise, mit Apathie oder auch durch den Einsatz für radikale politische Bewegungen, die eine grundlegende und gewaltsame Änderung des Systems versprachen und gleichzeitig in den militarisierten Männerbünden eine Art symbolischen Abschlag auf die erhoffte Gemeinschaftlichkeit und sinnerfüllte Existenz boten". 231 Die Attraktivität der SA basierte nach Peukert darauf, dass den jungen Arbeitslosen ein Halt, ein strukturierter Tagesablauf und eine Gemeinschaft geboten wurden. Dies war ein Sinnzusammenhang für eine „Generation, die aus dem normalen sozialen Kontext des Arbeiterlebens auf die Dauer mehrerer Jahre ausgeschlossen war". 2 3 2 Zur Arbeitslosigkeit gesellten sich also spezifische Generationserfahrungen (dazu im folgenden Abschnitt) und länger andauernde berufliche Krisen, mit den damit verbundenen psychosozialen Folgen. Dem stand eine SA gegenüber, die sich durch ihren dynamischen Bewegungscharakter, ihr Gemeinschaftsgefühl, ihr unmittelbares Heilsversprechen und die Frustabfuhr gegen personalisierte und stereotype Feindbilder auszeichnete. Konstatiert man jedoch ausschließlich die Bedeutung der Arbeitslosigkeit als auslösendes Moment für den Beitritt zur SA, so wäre das ein zu einfacher Schluss. Eine monokausale Erklärung würde die vielen Arbeitslosen, die andere Wege einschlugen, in das interpretatorische Abseits schieben. 233 Vorausgesetzt, dass etwa 60 Prozent der SA-Mitglieder im Jahre 1932 arbeitslos waren, entsprächen diese 267.000 jungen SA-Männer immerhin einem
231 Peukert, Detlev J. K.: Das Mädchen mit dem „wahrlich metaphysikfreien Bubikopf. Jugend und Freizeit im Berlin der zwanziger Jahre, in: Alter, Peter (Hrsg.): Im Banne der Metropolen. Berlin und London in den zwanziger Jahren. Göttingen/Zürich 1993, S.173. Ähnlich: Hamilton, S.319/320. 232 Peukert, Erwerbslosigkeit, S.326. 233 Zur Kritik der einfachen Korrelation zwischen Arbeitslosigkeit und dem Eintritt in die SA: Merkl, Making, S. 190-194. Vgl. die Kritik über den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und der Wahl der Nationalsozialisten: McKibbin, Ross I.: The Myth of the Unemployed: Who Did Vote for the Nazis?, in: The Australian Journal of Politics and History 15, Nr.2, 1969, S.25-40; Falter, Hitlers Wähler, S.292-313; Falter, Jürgen W.: Unemployment and the Radicalisation of the German Electorate 1928-1933. An Aggregate Data Analysis with Special Emphasis on the Rise of National Socialism, in: Stachura, Peter D. (Hrsg.): Unemployment and the Great Depression in Germany. Basingstoke 1986, S.187208; Geaiy, Unemployment, S.265 und folgende Kontroverse: Frey/Weck, S.l-31; Falter, Hat Arbeitslosigkeit, S.121-136.
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Anteil von 25,7 Prozent aller erwerbslosen männlichen Jugendlichen unter 25 Jahren (Stand: 30. Juli 1932). 234 Das heißt umgekehrt aber auch, dass 75 Prozent dieser jungen Arbeitslosen der SA nicht beigetreten waren. Arbeitslosigkeit konnte eben viele Folgen haben. Der Stadtoberinspektor Ernst Wauer beschrieb 1931 diese vielfältigen Folgen der Arbeitslosigkeit für junge Erwerbslose in Berlin: „Die Monate und Jahre dauernde Arbeitslosigkeit wirkt sich aber ganz außerordentlich schwer aus bei dem Teil der Erwerbslosen, welche den Altersgruppen von 14 bis 21 Jahren angehören. Unter diesen befinden sich Jugendliche, die seit der Schulentlassung regelmäßige berufliche Tätigkeit überhaupt noch nicht kennengelernt haben; weiter solche, die nach mehrjähriger erfolgreich abgeleisteter Lehrzeit entlassen werden, und ferner viele, die in ihrem 18. Lebensjahre zur Entlassung gelangen, weil der Tariflohn dann steigt. 'Relatives Glück' für die, wenn sie dann noch Arbeitslosenunterstützung erhalten! Ein großer Teil von ihnen erhält keine! Zum Nichtstun auf unbestimmt lange Zeit verurteilt, geraten die Jugendlichen in der Großstadt nur zu bald in die Gefahr des Abgleitens: Eisdielen (im Winter neuerdings in Kartoffelpuffer-Cafes umgewandelt), Kinos, Rummelplätze - verderbliche Einflüsse der Straße, Cliquen - und Rowdytum, politischer Radikalismus, Prostitution - das sind dann einige der üblichen 'Stationen' auf dem Wege in die Tiefe, und oft folgt dann Bekanntschaft mit Polizei und Jugendgericht". 235 'Politischer Radikalismus' wie Wauer sagt, also die aggressive Reaktion durch den Beitritt zu KPD, RFB oder SA, war also nur eine der möglichen Reaktionsweisen auf den Verlust des Arbeitsplatzes. Man könnte Wauers Auflistung noch andere Reaktionsweisen, vor allem stillgelegte und nach innen gerichtete Verhaltensformen wie Apathie, Resignation oder Depression hinzufügen. Jedenfalls waren die Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit und Gewalt komplex, denn die psychologischen Effekte der Arbeitslosigkeit hingen von den sozialen, politischen und institutionellen Umständen und Einstellungen der Arbeitslosen ab. 2 3 6 Es existierte auch der umgekehrte Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und SA-Mitgliedschaft. Bedenkt man, wie hoch die Zeitanforderungen für den SA-Dienst waren, so haben sie die Vollzeitbeschäftigten sehr stark beansprucht. Gerade Arbeitslose fanden die Zeit zur ständigen Abrufbereitschaft für den SA-Dienst. So hieß es etwa in dem Privatbrief eines arbeitslosen SAMannes, es sei schwierig, den Sturm „bei der Ankurbelungswirtschaft zusammen zu halten". Wenig später berichtete er in einem weiteren Privatbrief, er
234 Eigene Berechnung nach Wemer, Erwerbslosigkeit, S.311. 235 Wauer, S.33. 236 Rosenhaft, Unemployment, S.196; Unemployment, S.261.
SA,
S.355,
Peukert,
544/545,
548-550,
Erwerbslosigkeit,
552;
S.321-325;
Peukert,
Geary,
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habe im Gefängnis einen Mecklenburger SA-Mann kennen gelernt, der schon seit einem halben Jahr in Berlin sei und gerade im Gefängnis eine halbjährliche Strafe aus seinem SA-Dienst in Mecklenburg absitze. Er schrieb: „[Der Mecklenburger SA-Mann] hatte hier [in Berlin] Arbeit und die lag so das er für SA Dienst noch keine Zeit hatte. Nun mußte er seine alten 6 Monate absitzen, ist nachher auch arbeitslos und will in unseren Sturm. Er wird mit mir entlassen. Er hat keine Verwandten und Bekannten in Berlin". 237 Durch die polizeilichen Festnahmen und die Häufigkeit der Einsätze wurde Arbeitslosigkeit auch zu einer Folge des SA-Dienstes. 238 In den Briefen der SA-Männer wird dies ebenfalls thematisiert. Einer schrieb, durch die Haft sei seine Stellung „zum Deibel gegangen", ein weiterer hatte schon durch die polizeilichen Vernehmungen seine Arbeit verloren, ein dritter verlor seine Anstellung als Elektrikerlehrling direkt im Anschluss an seine Tatbeteiligung. 2 3 9 3.2.10 Der soziale Typus des faschistischen Kampfbündlers Die Hinweise auf die hohe Zahl der Arbeitslosen in der SA und die Unstetigkeit der Arbeitsverhältnisse in beiden Kampfbünden steigern die Skepsis gegenüber einer Überbetonung von statistischen Angaben zur Berufsstruktur. Die Berufsangaben lassen recht wenig Rückschlüsse über den tatsächlichen sozialen Status der Mitglieder zu, da sie nicht die Erfahrungen, Hoffnungen und Wünsche sichtbar machen, die sich aus den turbulenten Lebensläufen ergaben. Als Faustregel lässt sich bislang zusammenfassen, dass sich kaum ein gemeinsames soziales Substrat der faschistischen Kampfbünde ausmachen lässt. Vielmehr waren es soziale Deklassierungserfahrungen und Deklassierungsängste aus allen Schichten der Gesellschaft, die typisch für die Männer in den Kampfbünden waren. Beide Kampfbünde waren soziale Mischbewegungen, wobei die zentrale soziale Differenz zwischen Squadrismus und SA im eher bürgerlichen Zuschnitt des italienischen Falles und der Unterrepräsentanz der Arbeiterschaft im Squadrismus lag. Man sollte die Berufserfahrungen und die Bedeutung der Arbeitswelt für die faschistischen Kampfbundmänner jedoch nicht überschätzen. Erstens ist zu bedenken, dass die Squadristen und SA-Männer extrem jung waren - wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden. Von daher kann kaum von einer nach-
237 BÄK NS 26/323, ohne fol. (Brief Alfred B. an Will R. vom 22.10.1932); BÄK NS 26/323, ohne fol. (Brief Alfred B. an Willi R. vom 27.11.1932). 238 Neben den folgenden Zitaten Vgl. Bade, SA erobert Berlin, S.147. 239 BÄK NS 26/323, ohne fol. (Brief Heinz S. an Hans Maikowski vom 1.10.1931; Brief Paul M. an Sturm 33 vom 14.2.1931); Β DC, SA-P (Akte Hahn), ohne fol. (Anklageschrift vom 11.7.1931 wegen des Überfalls auf die Brüder Riemenschneider, S. 1,13).
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haltigen beruflichen Sozialisation gesprochen werden. Die Prägung des Lebensverlaufes durch Berufs- und Arbeitsplatzerfahrungen, die umfassende Einbindung in die Arbeitswelt und die permanente Präsenz des Kollegen, der in der Freizeit zum Freund geworden war - all dies setzt mehrjährige Berufserfahrungen voraus. Wie zu zeigen sein wird, war die Varianz hinsichtlich des Alters innerhalb des Squadrismus und der SA wesentlich geringer als hinsichtlich des Berufes. Das Alter und die damit verbundene Generationserfahrung waren sowohl im Squadrismus als auch in der SA die im Vergleich zum Beruf bedeutsameren sozialen Merkmale. Zweitens war die militärische Erfahrung in Krieg, Wehrverband oder Freikorps von eminenter Bedeutung fiir die faschistischen Faustkämpfer. Zwar existieren keine repräsentativen Daten über die Art der Einbindung der Straßenkämpfer in die verschiedenen militärischen und paramilitärischen Organisationen, aber wenigstens die Kriegsteilnahme oder die Fixierung auf die - gleichsam im Straßenkampf nachholend zu erringenden - Kriegsmeriten verband viele der Kampfbündler, wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden. Auf die Bedeutung des Militärs und des enormen sozialen Prestiges des Offiziers, das dieser besonders zu Vorkriegszeiten, aber auch noch nach dem Ersten Weltkrieg genoß, wird im Zusammenhang mit den Hierarchien in den Kampfbünden zurückzukommen sein. Das dritte soziale Merkmal der faschistischen Kampfbündler, welches wesentlich eindeutiger war als eine vermeintlich gemeinsame Erfahrung in der Arbeitswelt, war ihre männlichen Geschlechtszugehörigkeit und die damit verbundene Deutung von Männlichkeit. Diesen dominierenden Merkmalen nachgeordnet war die Bedeutung der sozialen Zusammensetzung für den Charakter als Kampfbund, für seine Gewalttätigkeit und seine faschistische Merkmalsausprägung. Die faschistischen Kampfbünde stellten regional höchst unterschiedlich zusammengesetzte Mischbewegungen dar. Wie schon häufiger erwähnt, lässt sich einerseits eine soziale Anpassung an die jeweilige örtliche Sozialstruktur feststellen, andererseits war eine gewisse Überrepräsentanz der verängstigten Mittelschichten der Kleinbauern und Angestellten im Squadrismus, der Handwerker und Angestellten in der SA - empirisch festzustellen. Der Anteil der Studenten war im Squadrismus deutlich ausgeprägter als bei der SA, die weitaus proletarischer strukturiert war als der italienische Kampfbund. Die SA spiegelte mit einem Arbeiteranteil von über 50 Prozent den wesentlich höheren Industrialisierungsgrad Deutschlands wider. Sie als Ausdruck der Militanz der Arbeiterklasse zu begreifen, wäre jedoch ebenso verzerrend wie ihre Interpretation als Manifestation einer Militanz der Mittelschichten. Vielmehr waren SA wie Squadrismus vornehmlich das Resultat einer am Ersten Weltkrieg orientierten und volksgemeinschaftlich interpretierten Gewaltpraxis, die über alle Klassenschranken hinweg für ein integrales Nationsideal mit, paradoxerweise, gewaltsamen Mitteln kämpfte. Ohne eine wirklich stringente politische Programma-
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tik zu verfechten, waren sie ebenso auf die Destruktion der offenen, pluralistisch-demokratischen Gesellschaft aus wie auf die Zerstörung der Arbeiterbewegung. Das politische Ideal einer sozialintegrativen Nation gewann erst durch die Entgegensetzung zu einem primär an sozialen Interessen ausgerichteten Weltbild (wie etwa bei den sozialistischen Parteien) an Kontur und erst durch den praktischen Straßenkampf an erfahrungsgesättigter Bedeutung. Der soziale Unterschied zwischen einem vergleichsweise bürgerlichen Squadrismus und einer proletarischen SA tritt nochmals deutlicher hervor, wenn man die im Straßenkampf getöteten „Märtyrer", also die aktivistischen Elemente beider Kampfbünde, miteinander vergleicht. Zwar war deren Anzahl zu gering, um zu einem tatsächlich repräsentativen Ergebnis über den Typus des faschistischen Gewaltaktivisten zu kommen, aber die Ergebnisse zeigen noch einmal pointiert die schon herausgearbeiteten zentralen Differenzen zwischen Squadrismus und SA. Schaubild 5: Die „Märtyrer" der faschistischen Bewegungen in Italien und Deutschland 240 50 -, 45 40 35
— —
• Squadristen • SA-Männer
c 30
Das Schaubild 5 dokumentiert das klare Übergewicht der Squadristen aus der Oberschicht und der Studentenschaft, wie auch die relative Schwäche der italienischen Faustkämpfer in der Gruppe die Handwerker und Kleinhändler, 240 Sample Reichardt-SQ-Märtyrer (Berufsangaben von 190 Faschisten); Sample ReichardtNS-Märtyrer (Berufsangaben von 145 Nationalsozialisten).
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in der wiederum die SA erfolgreicher anwarb. Sowohl der größere Anteil der Arbeitergruppen in der SA und der größere Anteil der Kleinbauern unter den Squadristen war wiederum den allgemeinen nationalen Unterschieden zwischen Deutschland und Italien geschuldet. Insgesamt zeigt sich erneut, dass der Squadrismus stärker durch die „Gruppen der Oberschicht und des akademischefn] Bürgertums" (Jens Petersen) geprägt war als die SA. 241 Der Vergleich der „Märtyrer" belegt, dass der Squadrismus nicht nur in zeitlicher Hinsicht stärker den deutschen rechtsradikalen Verbänden der Jahre 1919-1923 ähnelte als der nationalsozialistischen SA. Der bürgerlich-kleinbürgerliche Zuschnitt von Squadrismus einerseits und Freikorps, Einwohnerwehren wie Zeitfreiwilligenverbänden andererseits, die Bedeutung ehemaliger Militärs und militärischer Strukturen in beiden Fällen, der große Anteil der nationalistischen Studentenschaft, die Finanzierung aus Unternehmerkreisen (in Italien durch die Agrarier, in Deutschland durch Teile der Schwerindustrie), die enge Verbindung zwischen antikommunistischen Aktionen und Wirtschaftsinteressen der Unternehmer, die guten Kontakte zur regulären Armee und zum Teil auch die informelle und zelluläre Organisationsstruktur mit starken lokalen Eigenständigkeiten der einzelnen Verbände - all diese Ähnlichkeiten rücken Squadrismus und Freikorps eng zueinander. 242 Aber die eindeutige Bindung an eine politische Bewegung, die den Squadrismus auszeichnete, fehlte den Freikorps letztlich doch. Der Squadrismus war mit längerfristigen politischen Strategien verbunden und dadurch mehr als nur eine nationalistische Söldnerorganisation. Die faschistischen Bewegungen waren zudem durch die charismatischen Führerfiguren Mussolini und Hitler geeint, wobei Gewalt und politische Propaganda im Faschismus auf das Engste zusammengehörten. Daneben, und das soll nun gezeigt werden, waren SA und Squadrismus Organisationen mit einem äußerst jungen Alterschnitt, in dem der Generationenkonflikt der Nachkriegsgesellschaften zum Ausdruck kam.
241 Petersen, Wählerverhalten, S. 150. Eine ähnliche Sozialstruktur wie der Squadrismus zeigen die zwischen 1923 und 1933 getöteten Mitglieder der Miliz MVSN, die die im Februar 1923 gegründete Nachfolgeorganisation des Squadrismus war. Die 374 Fälle gliedern sich dabei wie folgt: Arbeiter (17,9%), Arbeitslose (2,8 %), Bauern (11,3%), Händler (0,9%), Handwerker (16,9%), Freiberufler (0,9%), Privatangestellte (5,7%), Öffentliche Angestellte (10,3%), Studenten/Oberschüler (12,4%), Landbesitzer (2,8%), Soldaten (18,9%). Daten nach: Revelli, Italy, S.25. Vgl. die Untersuchungen zur Sozialstruktur der MVSN (mit ähnlichen Ergebnissen) durch Valien, S.49-59. 242 Zu den Freikoips und Einwohnerwehren: Carsten, Reichswehr, S.82-98; Diehl, S.23-46, Mauch; Schulze, Freikorps; Winkler, Weimar, S. 118-128; Winkler, Der lange Weg, S.409413, 419; Schumann, Politische Gewalt, S. 70-83, 277; Mai, S.642-645; Rosenberg, Arthur: Geschichte der Weimarer Republik [1935], Hamburg 1991, S.l 11/112; Vogelsang, S.13-40.
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3.3 Tod und Jugend: Altersgruppen, Jugendpathos und Generationskonflikte „Most of the Nazis arrested were youths under twenty years of age. I was appalled to realize the moral degregation of these youngsters. [...] They were no longer adherents of a political creed - just gangsters." Die Erinnerungen des ehemaligen Berliner Polizeipräsidenten Albert Grzesinski waren typisch fur den bürgerlich-demokratischen Zeitgenossen, der in den Faschisten vornehmlich moralisch defekte junge Männer in ihrer Adoleszenzphase sah, die in die Kriminalität abgerutscht waren. Ähnliches bemerkte der Präfekt von Ascoli Piceno, als im März 1921 der städtische Fascio gegründet wurde. Unter den 40 Personen, die sich zu diesem Zwecke zusammengefunden hatten, seien nämlich, so der Präfekt, „molti giovanetti", die sich aufgrund ihres Alters durch „Zügellosigkeit, geringe Ernsthaftigkeit und Besonnenheit" auszeichneten. 243 Von den politischen Absichten einmal abgesehen, die mit solchen Einschätzungen staatlicherseits verbunden waren: Inwiefern setzten sich die faschistischen Kampfbünde tatsächlich aus Jugendlichen oder Jungerwachsenen zusammen? Inwiefern stilisierten sie sich zu Verfechtern der Jugend? Und auf welche generationsspezifischen Erfahrungen stützte sich das faschistische Jugendpathos? 3.3.1 Altersgruppen in den faschistischen Kampfbünden Während Ernst Nolte sich noch schlicht mit einem optischen Eindruck der Fotografien von den Squadren begnügt hatte und dabei „immer wieder ganz junge Gesichter entdecken" konnte, glaubte Manlio Cancogni das übliche Alter der Squadristen läge zwischen 15 und 20 Jahren, während Jens Petersen das Durchschnittsalter der Squadristen in den Jahren bis 1922 auf kaum über 20 Jahre schätzte. 244 Mittlerweile liegen genauere Befunde über die altersmäßige Zusammensetzung des Squadrismus aus verschiedenen Regionen vor, die Petersens Schätzung bestätigen und kaum regionale Differenzen ausweisen. So lag das Durchschnittsalter von 190 Squadristen aus der Mamorregion Massa-Carrara am Stichtag des 31.12.1921 genau bei 23,5 Jahren. Lawrence Squeri bemerkte über die von ihm untersuchten 120 Squadristen in Parma, dass die meisten von ihnen unter 30 Jahren alt waren. 245 Den hohen Anteil von jungen Männern unter 30 Jahren bestätigen auch Suzzi Vallis Untersuchungen. So waren 88,4 243 Grzesinski, S.133; Schreiben des Präfekten von Ascoli Piceno an Mdl vom 13.3.1921, in: ACS, Mdl, DGPS, CA 1923, cat. G l , fasc. Ascoli, busta 77bis, ohne fol. Weitere Beispiele in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.309, fol. 139 (M). 244 Nolte, Faschismus, S.321; Cancogni, Storia, S.115; Petersen, Jugend, S.339. 245 Engelmann, Provinzfaschismus, S.159, 170; Squeri, S.109.
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Prozent der Squadristen aus der Stadt Bologna im Dezember 1921 zwischen 16 und 27 Jahren alt (N=208), und auch in der Stadt Florenz lag der Prozentsatz der jungen Männer in diesen Alterskohorten bei 83,5 Prozent (N=212). Das Durchschnittsalter der städtischen Squadristen lag mit 22,8 Jahren in Bologna und 22,9 Jahren in Florenz nochmals etwas unter dem in den genannten beiden Provinzen und ähnelte dem Durchschnittsalter der bei den politischen Auseinandersetzungen getöteten Faschisten, von denen zweifelsfrei die meisten Squadristen waren. Das Durchschnittsalter dieser Faschisten betrug zum Todeszeitpunkt 22,7 Jahre. 246 Die faschistischen „Märtyrer" Italiens waren damit sogar jünger als die „NS-Märtyrer" mit im Durchschnitt 27,05 Jahren. Auch im Vergleich zu den SA-Männern unter den NS-Märtyrern, deren Durchschnittsalter 24,5 Jahre betrug, waren sie immer noch knapp zwei Jahre jünger. 247 Die von vielen Historikern vertretene Meinung, dass junge Männer den Kern der squadre d'azione bildeten, kann durch die Auswertung der vorliegenden Daten somit eindeutig bestätigt werden. 248 Bislang wurden diese Erhebungen nicht mit dem Altersaufbau der allgemeinen männlichen Bevölkerung verglichen. Dies kann durch die eigenen Erhebungen für Bologna geschehen. Unter den 834 Squadristen lag das Durchschnittsalter am Stichtag (31.12.1922) bei exakt 25,08 Jahren. Der älteste unter den Bologneser Squadristen war 1922 59 Jahre alt, während der jüngste gerade 14 Jahre zählte. Der Anteil der unter 30jährigen Squadristen betrug 82,6 Prozent. 249 Ein Vergleich der prozentualen Verteilung der Alterskohorten im Sample mit dem Altersaufbau der männlichen Bevölkerung in der Provinz Bologna (Schaubild 6) zeigt, dass lediglich drei Alterskohorten überrepräsentativ vertreten waren. Während die Alterskohorte der zwischen 1891 und 1895 Geborenen nur schwach überrepräsentiert war, waren die Geburtsjahrgänge der jungen Kriegsteilnehmer (1896-1900), also die Altersgruppe, die bei Kriegseintritt zwischen 15 und 20 Jahren und beim Ende des Ersten Weltkrieges zwischen 18 und 23 Jahren alt war, stark überrepräsentiert.
246 Suzzi Valli, Myth, S.135; Sample Reichardt-SQ-Märtyrer (N=213). Vgl. zu diesen Ergebnissen auch Petersen, Wählerverhalten, S.148, der durch einfache Auszählung der „Pagine eroiche" ein Durchschnittsalter von 21,2 Jahren bei insgesamt 100 ausgezählten Fällen erhält. 247 Sample Reichardt-NS-Märtyrer. Altersangaben liegen über 137 NS-Märtyrer und darunter 104 SA-Männer vor. 248 Siehe hierzu: De Negri, S.741-744; Nello, Avanguardismo; Gentile, Storia, S. 562; Nello, Mussolini, S.335. 249 Sample Reichardt-Bologna. Zum ältesten Mitglied: ASB, GdP, Nr.1342 und Nr.1370, jeweils ohne fol. Zum jüngsten: ASB, GdP, Nr.1370, ohne fol.
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Schaubild 6: Die Alterszusammensetzung der Squadristen Bolognas im Vergleich zur männlichen Wohnbevölkerung der Provinz 250
vor 1865
18701866
18751871
18801876
18851881
18901886
18951891
19001896
19051901
19101906
Nach 1910
Geburtsjahrgänge
Erstaunlicher als dieser Befund ist hingegen, dass die Alterskohorte der Kriegsjugend (1901-1905) nochmals stärker überrepräsentiert war. Diese youngsters des Squadrismus waren zur Kriegszeit zwischen 10 und 17 Jahren alt. Die Kriegskinder (1906-1920) hingegen hatten nicht so stark zum Squadrismus gefunden, weil sie in den Jahren 1921 und 1922 einfach noch zu jung für eine Mitgliedschaft in der Gewaltorganisation waren. Der Anteil dieser Männer, die zu jung für einen Kriegseinsatz im Ersten Weltkrieg waren, lag in der SA noch höher als beim Squadrismus. Nach einer Erhebung von Conan Fischer unter 330 SA-Männern aus verschiedenen Regionen der Weimarer Republik waren diese zwischen 1929 und 1933 zu 77,6 Prozent jünger als 30 und zu 58,5 Prozent jünger als 25 Jahre, wobei die jungen Männer vor allem in den Jahren nach 1929 zur SA strömten. 251 Vergleicht man diesen Prozentsatz mit dem Anteil der 15 bis 30jährigen Männer in der allgemeinen männlichen Bevölkerung, der bei 29 Prozent lag, so war die SA hier fast doppelt so stark vertreten. Auch wenn man die männlichen Säuglinge und Kinder bis zu 15 Jahren aus der Berechnung
250 Eigene Berechnung nach: Sample Reichardt-Bologna (N=834); Istituto Centrale di Statistical Censimento della popolazione del Regno d'Italia al 1° dicembre 1921, Serie VI, Bd.VIII: Emilia. Rom 1927, S.179 (N=319.860). 251 Fischer, Stormtroopers, S.48-50; Fischer, Occupational Background, S.150.
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herausnimmt, war der Anteil der Jugendlichen und Jungerwachsenen unter 30 Jahren in der SA immer noch fast anderthalbmal so hoch wie in der allgemeinen Bevölkerung. 252 Aus den Erhebungen von Conan Fischer ist leider nicht genau zu erkennen, wie hoch der Anteil der nach 1900 Geborenen war, also derjenigen, die nicht mehr für einen Kriegseinsatz in Frage gekommen waren. Seinen Zahlen lässt sich nur entnehmen, dass ihr Anteil über 60 Prozent gelegen haben muß, aber wahrscheinlich weitaus höher war. Peter Merkls Auswertung der 581 Lebensläufe der Abel-Collection bietet hierfür einen gewissen Ersatz. Nach seiner Auswertung gehörten zu der von ihm etwas irreführend „postwar generation" genannten Gruppe der nach 1900 Geborenen zwei Drittel der SA-Mitglieder des Samples, während aus der „war/prewar generation" ein Drittel der Mitglieder stammte. 253 Zusätzlich sind die ihrem Umfang nach ausfuhrlicheren regionalen Befunde heranzuziehen. Die regionalen Erhebungen zeigen zunächst, dass die SA überall im Reich - auf dem Land wie in der Stadt, im katholischen Süden wie im protestantischen Norden - eine Organisation von jungen Erwachsenen war. Für die Berliner SA sind aus einer Polizeistatistik verlässliche Zahlen über 1.824 Mitglieder im Jahre 1931 überliefert. 89,4 Prozent dieser Berliner SA-Leute waren hiernach unter 30 Jahren alt. Höchstens 10,6 Prozent kamen aufgrund ihres Alters als ehemalige Frontkämpfer überhaupt in Frage. Der Löwenanteil dieser jungen SA-Männer, nämlich 50 Prozent, entstammte der Kriegskindergeneration und war 1931 zwischen 20 und 25 Jahre alt. Weitere 20,4 Prozent waren unter 20 Jahren alt. Aus der Altersgruppe der Kriegsjugendgeneration zwischen 25 und 30 Jahren kamen 19 Prozent der Berliner SA-Mitglieder. 254 Der Anteil der unter 30jährigen war in der SA mehr als dreieinhalbmal so hoch wie in der männlichen Bevölkerung Berlins zwischen 16 und 30 Jahren (1933: 24,2 Prozent). 255 Diese massive Überrepräsentation der jungen Männer fand sich auch in den einzelnen Berliner Stadtteilen wieder. So betrug beispielsweise das Durchschnittsalter von 62 SA-Männern des Charlottenburger SA-Sturms am Stichtag des 1.1.1933 25,03 Jahre. Das jüngste SA-Mitglied war am Stichtag 18 Jahre alt. Mit 17 Jahren, im Juli 1932, trat dieser unselbständige Arbeiter dem SA-Sturm bei. Der älteste SA-Mann hingegen wurde im März 1888 geboren und war somit am Stichtag 44 Jahre alt; im November 1931 war dieser Walzmeister der SA beigetreten. Das jüngste
252 Eigene Berechnung nach: Statistisches Reichsamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Jahrgang 51 von 1932. Berlin 1932, S.13/14. In der Volkszählung von 1925 gehörten knapp 40 Prozent der männlichen Bevölkerung zu den entsprechenden Altersgruppen zwischen 15 und 30 Jahren. 253 Merkl, Making, S. 109; Merkl, Political Violence, S.578. Ähnlich auch: Jamin, Zwischen den Klassen, S.87-89. 254 BAB (ehem. BAP), RMdl 15.01, Nr.26140, fol.84 (N=1824). Vgl. dazu auch die Erinnerungen des ehemaligen Polizeipräsidenten Berlins: Grzenski, S.131-134. 255 Grzywatz, S.437 (N=474.124).
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Mitglied in der Geschichte dieses SA-Sturmes trat im Jahre 1929 mit 15 Jahren der SA bei, und erst im März 1931, mit fast 18 Jahren, wurde er Mitglied der NSDAP. 35 dieser 62 SA-Männer entstammten der Kriegskindergeneration der Geburtsjahrgänge 1908-1912. Wiederum zeigt sich eine dreifache Überrepräsentation im Vergleich zur männlichen Charlottenburger Bevölkerung. 256 Auch unter den von der Polizei im Dezember 1931 im Sturmlokal verhafteten 60 SA-Männern eines Berliner SA-Sturmes aus dem Bezirk Berlin-Mitte errechnet sich ein extrem junges Durchschnittsalter von 22,85 Jahren. Der jüngste unter ihnen war ein sechszehnjähriger Möbelpolierlehrling, der älteste ein 34 Jahre alter Bauarbeiter. Wiederum dominierte die Kriegskindergeneration.257 Die Berliner SA war somit nochmals um einige Jahre jünger als die im Reichsdurchschnitt ohnehin schon junge SA. Besonders frappant an den Berliner Ergebnissen ist, dass diejenige Altersgruppe unter den SA-Männern, die als ehemalige Frontkämpfer in Frage kam, nur einen Anteil von zehn Prozent ausmachte. Berlin zeigt pointiert, was für die SA des gesamten Reiches gilt. So waren etwa in der Nürnberger SA, nach einer Untersuchung Eric Reiches, 61 Prozent der Mitglieder während der Jahre 1930 bis 1932 jünger als 30 Jahre. Das Durchschnittsalter lag bei 29,9 Jahren. 258 Auch außerhalb der Großstädte findet sich ein ähnliches Altersprofil. Richard Bessels Untersuchung zur SA in den östlichen Provinzen Preußens (Schlesien, Ostpreußen, Pommern) weist auf einen Anteil der unter 30jährigen aus der Kriegsjugend- und Kriegskindergeneration hin, der im Regierungsbezirk Königsberg im Oktober 1930 bei 81,4 Prozent und im Juni 1931 sogar bei 85 Prozent lag. Auch unter 2.144 SAMännern des Regierungsbezirks Allenstein waren 84,6 Prozent unter 30 Jahre alt (Stichtag im Juni 1931). 259 Dies lässt darauf schließen, dass in den ostpreußischen Provinzen höchstens ein Fünftel der SA-Männer an der Front gestanden haben konnte. Die übereinstimmenden Analysen lassen also keinen Zweifel darüber aufkommen, dass über die Hälfte der SA aus jungen Männern unter 25 Jahren bestand und die große Mehrheit unter 30 Jahre alt war. 260 Mit ihrem jungen Altersschnitt unterschied sich die SA kaum vom italienischen Squadrismus. Der typische SA-Mann war im Durchschnitt nur um ei256 Sample Reichardt-Charlottenburg. Zum jüngsten Mitglied im Jahre 1933: LAB, A Rep.358, Nr.2553, fol.l 1-13 und LAB, Α Rep.358, Nr.30, 3. Bd., ohne fol. (Zeugenliste). Zum ältesten: BDC, Mitgliedskarte und RS (Akte Hans S.) und LAB, A Rep.358, Nr.639, fol.2. Zum jüngsten Mitglied in der Geschichte des Sturmes 33: LAB, Α Rep.358, Nr.2553, Bd.l, fol.98 und BDC, PK und OPG (Akte Kurt S.). Der Anteil der 14-30jährigen in der Charlottenburger Wohnbevölkerung betrug 1933 26,5 Prozent. Errechnet nach Grzywatz, S.236 (N=90.258). 257 LAB, A Rep.358, Nr.2624, Bd.3, fol.4-6. Durchschnittsalter vom Autor errechnet. 258 Reiche, Development, S.l 12. 259 Bessel, Political Violence, S.36/37. 260 Fischer/Mühlberger, Pattern, S.100.
T o d und Jugend
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nige Jahre älter als sein faschistischer Kamerad in Italien. Der für die faschistischen Straßenkämpfer in Italien wie Deutschland typische Altersschnitt von 20 bis 25 Jahren kann kaum überraschen, da in den faschistischen Kampfbünden vor allem gewalttätige Durchsetzungsfahigkeit gefragt war und klar ist, dass dieses 'Anforderungsprofil' besonders junge Männer anzog. Andererseits fiel das typische Alter des faschistischen Kampfbündlers in eine lebensgeschichtliche Phase, die gemeinhin anderen Problemen galt, nämlich der Etablierung im Berufsleben sowie der Haushalts- und Familiengründung. Generell befanden sich die faschistischen Straßenkämpfer in einer Lebensphase, die durch Befreiungsversuche von den Erwartungen und Forderungen anderer, meist der Elterngeneration, geprägt war. Das Alter zwischen 20 und 25 Jahren markierte zudem den letzten Abschnitt einer Lebensphase, in der man das Leben in die eigene Hand nahm, eigene Werte und eine eigene Moral und Kultur entwickelte, meist gemeinsam mit den 'Emanzipationsgefährten'. 261 Zogen beide Kampfbünde somit noch 'unfertige Männer' in ihrer politisch entscheidenden Lebensphase an, so unterschieden sich Squadrismus und SA jedoch in ihrer generationsmäßigen Zusammensetzung, denn der Anteil der in den Jahren nach 1900 geborenen Kriegsjugend- und Kriegskindergeneration war in der SA mit 80-90 Prozent wesentlich höher als unter den Squadristen, bei denen dieser Anteil zwischen 40 und 50 Prozent lag. 262 3.3.2 Vergleiche: Altersgruppen bei den faschistischen Parteien und anderen politischen Kräften Beide Kampfbünde ähnelten sich in ihrem Altersprofil auch den sonstigen faschistischen Parteigängern, die im Schnitt nur einige Jahre älter als ihre kämpfenden Kameraden waren. Die faschistischen Kampfbünde wie ihre Parteien gehörten damit zu den youngstern auf der politischen Bühne. Das Durchschnittsalter der NSDAP-Mitglieder lag im Jahre 1932 bei etwa 30 Jahren, also nur um einige Jahre höher als bei der SA. Aber auch bei der Partei lag das am häufigsten vertretene Alter in den Jahren vor der „Machtergreifung" bei 22 bis 24 Jahren - wiederum sind keine signifikanten regionalen Unterschiede festzustellen. 263 Die NSDAP zählte mit diesem Altersschnitt zu den jüngsten unter den Parteien der Weimarer Republik. Selbst in der KPD, entgegen einer weitverbreiteten Annahme, lag der Anteil der 18-25jährigen im 261 Bruder, S.511. Ausführlich: Döbert, Rainer u.a. (Hrsg.): Entwicklung des Ichs. Köln 1977. 262 Diese beiden Ebenen von Alters- und Generationsprofil werden bei Joachim Radkau in unzulässiger Weise miteinander vermischt: Radkau, Umgang mit Jugendmythen, S. 101. 263 Falter, Jungmitglieder, S.205; Peukert, Weimarer Republik, S.235; Kater, Sozialer Wandel, S.27. Das durchschnittliche Eintrittsalter der Berliner N S D A P etwa lag 1932 bei Mitte 30. Das Durchschnittsalter der NSDAP-Mitglieder oszillierte bis 1927 um 25 Jahre, 1928-30 um 2 9 Jahre und in der Zeit 1931-32 um 33,5 Jahre (Falter, Parteistatistische Erhebung, S. 186-188).
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Jahre 1927 bei nur 12,3 Prozent, derjenige der 30 bis 40jährigen jedoch bei 32,7 Prozent. Diese Altersgruppe stellte den größten Anteil, gefolgt von den 40-50jährigen, die 21,9 Prozent auf sich vereinigten. Somit entstammte die Mehrheit der KPD-Mitglieder aus der Frontkämpfergeneration und nicht aus der Kriegsjugendgeneration, die bei den Nationalsozialisten maßgebend war. Die KPD, wie es in einer Denkschrift des Preußischen Polizeiinstitutes von 1932 hieß, „stammtfe] in der Hauptsache aus dem Weltkrieg". Die SPD war nochmals deutlich älter als die KPD, denn nicht einmal zehn Prozent der Parteimitglieder waren im Jahre 1930 unter 25 Jahre alt. Damit lag ihr Anteil noch unter dem der über 60jährigen. Die stärkste Altersgruppe in der SPD waren die 40- bis 50jährigen, auf die 30,4 Prozent der SPD-Parteimitglieder entfielen. Das Durchschnittsalter der SPD betrug am Ende der Weimarer Republik sogar 46 Jahre. 264 Solch exakte Zahlen liegen für Italien aufgrund der im Vergleich zu Deutschland wesentlich schlechteren Quellenlage nicht vor. So findet sich nur die vage Angabe, daß 26,2 Prozent der faschistischen Bewegung im Jahre 1921 aus Jugendlichen unter 21 Jahren bestanden habe. 265 Nur wenige regionale Befunde präzisieren diese ungenaue Angabe. So wird über die Provinz Reggio Emilia berichtet, dass das Durchschnittsalter der dortigen PNF-Mitglieder im Oktober 1922 bei 25 Jahren lag. Einen weiteren Hinweis auf das Alter der Faschisten gibt der Anteil der Schüler und Studenten in der faschistischen Gesamtbewegung, der nach parteioffiziellen Angaben im November 1921 bei 13,1 Prozent lag. 266 Mag diese parteieigene Angabe der PNF auch übertrieben sein, so weisen die wenigen Befunde dennoch übereinstimmend ein deutlich jugendliches Profil der PNF aus. Selbst unter den Funktionsträgern der Partei, die natürlich etwas älter als die Parteibasis waren, zeigt sich ein erstaunlich niedriger Altersdurchschnitt. In der 1921 gewählten faschistischen Parlamentsfraktion etwa lag das Durchschnittsalter bei 37,4 Jahren. 267 Aus einem Sample von 114 Direktoriumsmitgliedern der Fasci geht hervor, dass 51 von ihnen zwischen 20 und 30 Jahre alt waren (also 45 Prozent), wäh264 Mallmann, Kommunisten, S.106-109; Preußisches Polizeiinstitut (Hrsg.): Denkschrift über Kampfvorbereitungen und Kampfgrundsätze radikaler Organisationen (bearb. von Polizeimajor Ratcliffe) [1932], S.18. Diese Denkschrift findet sich in: GStA PK, I. HA, Rep.77, Mdl, Tit.4043, Nr.311, fol.286-330 (M), hier: fol.298; Winkler, Schein, S.446; Neumann, Parteien, S.36. Vgl. Falter, „Märzgefallene", S.608-610; Falter/Kater, S.172-177; Falter, Parteistatistische Erhebung, S.186-188; Peukert, Weimarer Republik, S.235. 265 Die Angabe ergibt sich aus der vom Parteisekretär Umberto Pasella erhobenen Umfrage unter den Parteimitgliedern. Von 151.644 Befragten waren 39.791 noch nicht wahlberechtigt, also unter 21 Jahre alt (Popolo d'ltalia vom 8.11.1921). Dieser Anteil von etwa einem Viertel wird in der Literatur immer wieder angegeben: Petersen, Wählerverhalten, S.148; Nello, Mussolini, S.336, Fußnote 3; Passerini, Jugend, S.380; Petersen, Jugend, S.200; Gentile, Storia, S.562. 266 Cavandoli, S.135 (N=1.488); Popolo d'ltalia vom 8.11.1921. 267 Petersen, Wählerverhalten, S. 149.
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rend lediglich 44 Funktionsträger zwischen 31 und 40 Jahre alt waren. 268 1922 war Mussolini 39, Italo Balbo 26, Giuseppe Bottai und Dino Grandi 27, Roberto Farinacci 30 und Cesare Maria De Vecchi 38 Jahre alt. Bottai, Grandi und Farinacci wurden 1921 aus dem Parlament ausgeschlossen, da sie das vorgeschriebene Mindestalter von 30 Jahren noch nicht erreicht hatten. 269 Die faschistischen Parlamentarier waren somit außergewöhnlich jung, wie ein kurzer Blick auf die katholischen Fraktionsmitglieder der Popolari deutlich macht, deren Durchschnittsalter im Jahr 1919 bei 43 Jahren und im Jahre 1921 bei knapp über 42 Jahren lag. 270 Gerade diese Jugendlichkeit der Führerriege der faschistischen Parteien in Italien und Deutschland war es, die sie von anderen politischen Bewegungen abhob - seien sie nun rechtsautoritär-militaristisch, sozialistisch, liberal oder katholisch. Zwar reichten die Forderungen nach einer Einbeziehung der Jugend in Gesellschaft und Politik bis in die Jahrhundertwende zurück, und nach dem Krieg hatten die Parteien aller Richtungen die Bedeutung und Wichtigkeit der Jugend für die politische Entwicklung der Gesellschaft betont. Aber ihre Beschwörungen waren nicht nur aufgrund des zum Teil beträchtlichen Lebensalters der Parteiführer, sondern auch deswegen wenig glaubwürdig, weil man erst spät und unter dem Druck des faschistischen Erfolges bei dem Engagement für die Jugend nachzog. Zudem wurde die Ausrichtung der Politik auf die Jugend weniger konsequent durchgehalten als bei den Faschisten, über die sich alle politischen Richtungen immer wieder beklagten, wie beispielhaft an Erich Ludendorffs Kritik an der SA als einer „Parteiorganisation größtenteils noch unreifer Jugend" deutlich wird. 271 Der damals 34jährige Sozialdemokrat Theodor Haubach mokierte sich noch 1930 darüber, „daß die zahllosen Erörterungen über die 'junge Generation' und ihre Aufgabe [...] an der sozialistischen Bewegung fast spurlos vorübergegangen" seien, um noch in demselben Artikel primär die „fürchterliche Schicksalsgemeinschaft" der Arbeiterschaft herauszuheben. Einen „Klassenkampf der Jugend" zu beschwören empfand Haubach hingegen - wie viele Sozialdemokraten seiner Zeit - als überflüssig. Der Topos der ,jungen Generation" sei, so Haubach, ohnehin nur ein „Verlegenheitsschlagwort". Erste Instanz in der sozialistischen Identität blieb nach wie vor die Klassenzugehörigkeit, die die Generationenfrage überdeckte. Das war tendenziell auch bei den Kommunisten der Fall, wenngleich hier der revolu268 Gentile, Storia, S.562. Vgl. Squeri, S.108. 269 Petersen, Wählerverhalten, S.149; Passerini, Jugend, S.379; Gentile, Storia, S.206. 270 Formigoni, Guido: II ceto politico dei popolari: un'analisi del gruppo parlamentare, in: Orsini/Quagliariello (Hrsg.), S.791. Unberücksichtigt bleiben hier die bei Linz abgedruckten Prozentzahlen, die aufgrund der geringen Fallzahlen nicht aussagekräftig sind (Linz, Notes, S.45). Dennoch wird immer wieder auf Linz' tabellarische Darstellung zurückgegriffen, wie beispielsweise bei Tarchi, S.278. 271 „Verhöhnung des alten Heeres", in: Vossische Zeitung Nr.147 vom 26.3.1932.
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tionäre Einschlag der Bewegung dem jugendlichen Element deutlich mehr Platz einräumte als bei den Sozialdemokraten. So sah auch Antonio Gramsci in der faschistischen Beschwörung der jungen Generation nichts weiter als eine Verschleierung der Klassenverhältnisse. 272 Wenngleich alle politischen Parteien versuchten, die Frontgeneration auf ihre Art und Weise mit Lob zu überhäufen und der Frontkämpfer als jemand galt, dem die Gesellschaft Ehrerbietung schuldete, so bereiteten sie mit ihren öffentlichen Darstellungen der Helden des Schützengrabens nur das Feld, deren Früchte die Faschisten durch die Radikalität ihrer Kriegsheroisierungen ernteten. Alle Parteien und Verbände, konfessionelle ebenso wie berufsständische und paramilitärische, hatten die Jugend wohl als Nachwuchspotential entdeckt und damit die für das 19. Jahrhundert gültige Norm - nämlich einer der Familienautorität unterworfenen, sexuell enthaltsamen und politisch abstinenten Jugend - aufgeweicht. Jugend war zwar zu einem Teil der Öffentlichkeit geworden, aber als politische Partner wurden die Jugendlichen nicht behandelt. So fanden sich bei den Weimarer Parteien die Jugendabteilungen immer wieder auf der Seite der internen Parteiopposition wieder. 273 Jugendlichkeit kennzeichnete hingegen viele der europäischen Faschismen, die alle schon früh eigene Jugendorganisationen aufstellten. 274 Auch NSDAP und PNF hatten schon früh eigene Jugendorganisationen gegründet. So entstand die „Avanguardia studentesca" schon im Januar 1920 in Mailand. Im März 1920 übernahm Luigi Freddi dann die zentrale Koordination der an verschiedenen Orten gegründeten Avanguardia-Sektionen. Im September/November 1921 schließlich wurde die „Avanguardia Studentesca" zergliedert: in die „Avanguardia giovanile fascista" einerseits und die Studentenorganisation der „Gruppi universitari fascisti" andererseits. Auch die Kinderorganisation „Opera Nazionale Balilla" wurde im April 1926 schon recht früh ins Leben gerufen und konnte sich dabei auf schon existierende Jugendgruppen in der PNF stützen. Auch im deutschen Fall waren „Hitlerjugend" und „Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund" schon 1926 gegründet worden. 2 7 5 Es ist aber weniger die Bildung dieser (zahlenmäßig schwachen)
272 Haubach, S.81, 90; Gramsci, Intellettuali, S.43/44. Vgl. Götz von Olenhusen, Jugendreich, S.49-52. 273 Bessel, 'Front generation', S.128, 133, 135; Domansky, Politische Dimensionen, S.115, 128-131. Siehe zu den Katholiken und Liberalen: Krabbe, Gescheiterte Zukunft; Götz von Olenhusen, Jugendreich, S.34-48; Jones, S.347-369. Zu Italien: Linz, Notes, S.34; Payne, Fascism, S.7, 10-13, 47; Payne, History, S. 13/14; Paxton, S.6/7; Dowe, Dieter (Hrsg.): Jugendprotest und Generationenkonflikt in Europa im 20. Jahrhundert. Deutschland, England, Frankreich und Italien im Vergleich. Bonn 1986. 274 Linz, Notes, S.33-36, 43-47, 81; Merkl, Comparing, S.768-772. 275 Zu diesen Organisationen siehe: La Rovere, S.457-475; Cattabiani, S.53-58; Gentile, Storia, S.418-427; Betti, Carmen: L'Opera Nazionale Balilla e l'educazione fascista. Florenz 1984; Ricci, S.734-737; Stachura, Nazi Youth; Grüttner.
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Organisationen, die die Besonderheit der massiven Aufwertung der Jugend im Faschismus zeigt. Diese manifestierte sich vielmehr im Jugendpathos der Faschisten. 3.3.3 Das faschistische Jugendpathos Mit ihrem außergewöhnlich niedrigen Altersschnitt haben die Faschisten ausgiebig Politik gemacht. Im Politikstil und in der Rhetorik der Faschisten wurde Jugendlichkeit als polyvalenter, alle Politikbereiche durchdringender Begriff benutzt. Das emotionalisierte Politikverständnis, die Organisation einer bündischen Gemeinschaft aus Abenteurern, der Appell an einen disziplinierten Heroismus, die Hinwendung zu Gewalt und Straßenaktionen - all dies forderte den Bezug zur Jugendlichkeit geradezu heraus. Die faschistischen Märsche, Umzüge, Gesänge und Beerdigungszeremonien wiesen einen deutlichen Bruch gegenüber dem traditionellen Politikstil und den bürgerlichen Konventionen auf. Der neue Politikstil, die „Ästhetisierung des politischen Lebens" (Walter Benjamin) durch den Faschismus, bezog sich auf das Kollektiv der jungen Generation und signalisierte, zusammen mit dem ständig benutzten Begriff des Gemeinschaftsgeistes, eine Überwindung der Klassenspaltung. 276 Die 'Freude' am vitalistischen Heroismus des dem Futurismus abgeschauten 'vivere pericolosamente', die Ästhetisierung von Gewalt, Tod und Soldatentum und schließlich die physische Kraft und Männergemeinschaft führte die Jugendlichen zusammen. Die Politik eignete sich künstlerische Maßstäbe an, die in einer Ästhetisierung von Jugend und dem sie prägenden Ereignis des Weltkrieges zum Ausdruck kam. Tod und Jugend wurden in der vitalistischen Gewaltästhetik des Faschismus zusammengezogen. 277 „Platz für die Jugend" (Largo ai giovani) war eines der häufigsten Schlagwörter der Propaganda der italienischen Faschisten. In der NSDAP wurde ein ganz ähnlicher „Erneuerungs- und Jugendpathos" (Martin Broszat) gepflegt, der in Gregor Strassers aggressiver Aufforderung „Macht Platz, ihr Alten" zu einer geflügelten Formulierung wurde, die fast deckungsgleich mit der Propagandaformel der italienischen Faschisten war. Auch die französischen Feuerkreuzler benutzten mit der Parole „Platz der Jugend, die Zukunft gehört ihr" fast die selbe Redewendung. Es gehörte zum Repertoire aller Faschismen der Zwischenkriegszeit, gerade die Jüngeren aufzuwerten, um auf diese Weise ihre Bewegungen für diese Altersgruppen attraktiver zu machen. Die Aktionsformen der faschistischen Kampfbünde waren nicht nur auf junge Männer abgestellt, denn durch ihren Appell an die Jugendlichkeit erhielten sie nochmals stärkeren Zulauf von der Jugend. Das faschistische Jugendpathos war für den Faschismus ebenso zugkräftig wie die Verheißung und Wiederherstellung 276 Linz, Notes, S.33-36. Das Benjamin-Zitat aus: Benjamin, Kunstwerk, S.42. 277 Eksteins, S.449, 462/463, 466/467, 479/480; Sontag, S.96-125; Berghaus.
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nationaler Größe. In der faschistischen Rhetorik wurden Jugend beziehungsweise jugendlicher Vitalismus und die Rettung der Nation oft in eins gesetzt. 278 Mit Jugend wurde ein essentialistisch verstandener menschlicher Typus bezeichnet, ein naturgesetzhaft vorgestelltes Charakterbild, das seine Bedeutung in Wahrheit jedoch erst durch die Gegenüberstellung zu dem angeblich „Alten" bekam. Der Kampf der Jugend gegen die Senilität beziehungsweise der des Vitalismus gegen die Behäbigkeit wurde im Faschismus als eine totale und revolutionäre Umwälzung verstanden. Dass Jugend revolutionäre Vitalität und Stärke, Unmittelbarkeit des Handelns und Schnelligkeit der Aktion meinte, wird vor allem im Spiegel der hierbei implizierten Entgegensetzungen deutlich. Die stets wiederkehrenden Stereotypen lassen sich in der folgenden Tabelle 13 grob zusammenfassen. Tabelle 13: Bedeutungsinhalte von „Jugend" und ,/Liter" im Diskurs der faschistischen Kampfbünde Politische Vorbild
Elemente
Politikarena Politischer Rückhalt Politikstil Politische Handlungsmaxime Ästhetik
Jugend (=das Eigene) Weltkriegserfahrung, heroisches Opfer Straße Masse, Volksgemeinschaft offene Gewaltaktion direkt und schnell
Imaginäres Politikziel
Stärke, körperliche Athletik männlicher Jüngling Bildhaft-visuell, Rede und politisches Lied Revolution
Blütezeit der Politik
nahe Zukunft
Geschlecht Politische Ausdrucksform
Alter (=das Fremde) Vorkriegspolitik, friedliches Verhandeln Parlament Elite, Interessengruppen geheime Verhandlung umständlich und langwierig Schwäche, körperlicher Verfall geschlechtsungebunden Abstrakt-schriftlich, Programm und Manifest Reaktion, Stagnation, Resignation Vergangenheit
Jugend bedeutete bei den Faschisten nicht eine Altersbezeichnung, sondern eine Art von sozialer Gruppe. Das Konzept der Jugendlichkeit war oft ein Ersatz für Klassenkonzepte und schlug eine neue und primär emotional begründete Einteilung der Gesellschaft in jung und alt vor, die einer nach sozialen Interessenlagen konzipierten Einteilung in Proletarier und Bourgeoisie entgegengesetzt wurde. Die Faschisten setzten Jugendlichkeit explizit als
278 Treves, S.123; De Feiice, Faschismus, S.63, 151; Wanrooij, Youth, S.75; Strasser, Kampf, S.171; Wirsching, Weltkrieg, S.371; Thamer, Verführung, S.183. Vgl. Loewenberg, S.1469.
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Ersatzkonzeption gegenüber der Klassenkonzeption ein. Jugendlichkeit sollte alle Unterschiede sozialer Herkunft aufheben. 279 Es ging darum, unter dem Zeichen der vitalistischen Jugend eine neue Einheit der Nation zu inszenieren, die nicht von Interessen zerteilt war. Im faschistischen Diskurs bezeichnete Jugend ein ästhetisches und moralisches Konzept der Altersschichtung einer Gesellschaft. Der Nationalsozialist Will Vesper brachte dies folgendermaßen zum Ausdruck: „Die nationalsozialistische Bewegung war, ist und bleibt f...] eine Bewegung der Jugend, nicht nur in jenem äußerlichen Sinne, daß eine an Jahren junge Generation - weil bei allen Revolutionen - im wesentlichen Träger des Umsturzes, der Wandlung ist, sondern in jenem tieferen Sinn, daß unser Volk als Ganzes sich seiner Jugend, seiner ewigen Jugend bewußt wird". 280 Diese Gleichsetzung von Nation und Jugend war typisch faschistisch und macht klar, dass der Faschismus sich vor allem als ein spezielles Lebensgefuhl definierte. Symptomatisch ist auch die Formulierung Renato Baccaläs vom Oktober 1920: „Wir sind aus dem Schoß eines notleidenden Vaterlandes hervorgegangen, aus dem Glauben, aus dem Enthusiasmus, mit einem Wort: aus der Jugend". 281 Allein die Tatsache, dass hier eine neue, unverbrauchte politische Kraft agierte, die sich zudem als „Bewegung" und nicht als Partei bezeichnete, weil sie die parteimäßige Organisation als veraltet und als das Volk in Interessen zerreißend betrachtete, verschaffte dem Faschismus einen juvenilen appeal. Der gewaltsame Aktivismus wurde hierbei zum Jungbrunnen stilisiert. So hieß es in einer faschistischen Publikation über die im Frühling 1921 gegründete toskanische Squadra „Dante Rossi", dass deren Squadristen ein „wenig raue, aber offene und aufrichtige Gesichter" hätten. Nach „den ganzen Kämpfen" hätte sich „der männliche und fröhliche Ausdruck eines Mannes von vierzig Jahren, wie durch ein Wunder, in den eines Zwanzigjährigen geändert". Er hatte dank der „blutigen Strafexpeditionen" plötzlich „das Herz und den Blick eines Zwanzigjährigen, und man hörte Gesänge, die aus der vollen Kehle eines Zwanzigjährigen strömten". 282 Auch der emotionale Radikalismus und die affektive Energie, mit der sie sofortige Lösungsversprechen anpriesen, richteten sich gegen die als alt geltende und behäbige Verhandlungs- und Kompromißpolitik. Selbst den Sozialismus bezeichnete man als „geschwätzig" und kontrastierte ihn mit einer entschiedenen, zwischen Schützengraben und piazza!Straße angesiedelten
279 Vgl. Wanrooij, Rise, S.401, 414; Squeri, S.l 12, 255. 280 Vesper, Will: Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), S. X. Vgl. darin auch den Artikel von Hans Friedrich Blunck(Vom Wandervogel zu SA), bes. S.2/3. Für Italien siehe Malvano, S.310. 281 Baccalä, Renato: Per la nostra libertä!, in: II Fascio vom 16.10.1920. 282 Fantozzi, Dino: La 'Dante Rossi', in: II Bargello. Foglio d'Ordini della Federazione fiorentina degli Fasci di Combattimento, Jahr 9, Nr.l vom 28.10.1936, S.6. Siehe auch Suzzi Valli, Mito, S.48.
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Politik des faschistischen Faustkämpfers. 283 Die Propaganda gegen das parlamentarische System wurde mit einer Revolutionsrhetorik verbunden, die den generationsgebundenen Aggressionspotentialen konkrete Feinde gab. Die skrupellose politische Gewalt der dynamisch wirkenden Straßenkolonnen und nicht zuletzt die tatsächliche Jugendlichkeit der Mitglieder im politischen wie milizionären Teil der Bewegung, die gegen die „Republik der Greise" Sturm lief, gaben den frustrierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein Ventil zur 'handfesten' Durchsetzung ihrer Wünsche nach stärkerer politischer Partizipation und Verbesserung ihrer gedrückten sozialen Lage. 2 8 4 Gerade die Kumulation dieser Charakteristika in der dynamischen Propaganda der Faschisten machte die Attraktivität der faschistischen Kampfbünde umer der jungen Generation aus. Einzelne Elemente des Jugendpathos fanden sich zwar auch in Teilen der freien bündischen Jugendbewegung, wie etwa der mythisch-romantische und nationalistische Idealismus oder die antiliberalen Gemeinschaftsideale. Auch zu den paramilitärischen Organisationsverbänden der Kommunisten waren mit der Aufbruchsrhetorik und dem Militarismus einige Ähnlichkeiten gegeben. Aber an die Ähnlichkeit, die die populistischen und gewaltsamen Massenbewegungen des Squadrismus und der SA untereinander erreichten, kamen diese vergleichsweise partiellen Überschneidungen nicht heran. 285 Nur im Faschismus wurde die Jugend zu einem alles überstrahlenden politischen Ideal stilisiert und ästhetisiert, wobei Jugendlichkeit mit einer gewaltsamen Form politischer Praxis identifiziert wurde. Die Ausformungen und Elemente des Jugendbildes im Squadrismus und in der SA bezogen sich vor allem auf das Verhältnis von Jugend und politischer Repräsentation auf staatlicher Ebene (siehe oben Tabelle 13). Gerade parlamentarische Politik stand im Zentrum der Kritik des militanten Flügels dieser sozialen Bewegungen. Über das „bürokratisch-parlamentarisch alte Italien" notierte der Squadrenfuhrer Italo Balbo in seinem „Tagebuch der Revolution 1922": „Ich sah ein, dass die Jugend, um sich freie Bahn zu schaffen, rücksichtslos und ohne Sentimentalität von Grund auf das altersschwache Italien der Parlamentsregierungen bekämpfen musste. Ich war bereit." 286 Durchgängig sahen dies die Squadrenfuhrer sehr ähnlich wie Balbo. Beide Politikarenen wurden zu Gegensätzen stilisiert, die in unversöhnlichem
283 Noi, Premesse, in: Audacia (Verona) vom 15.1.1921. Ähnlich auch die autobiographischen Erinnerungen von Alessandro Pavolini (November 1927) und Ottone Rosai (1927), in: ACS, Carte [Giorgio] Pini, busta 3, fascicolo 10. 284 Gentile, Storia, S.566. Das Zitat stammt von Goebbels, Zweite Revolution, S.5/6. 285 Den Forschungsstand zur Frage der Kontinuität zwischen Jugendbewegung und Nationalsozialismus referiert mit weiterfuhrenden Literaturangaben: Stachura, German Youth, S.68-81. 286 Balbo, Marsch, S.17. Erstes Zitat: „Fascismo e Giolittismo. Ossia la vita politica e gli stati d'animo", in: 11 littore. Settimanale fascista Nr.10 (1. Jahr) vom 7.10.1922. Diese Ausgabe findet sich im ACS, MRF, busta 142, fasc.169, sottofasc.3
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Konflikt standen. Roberto Farinacci, Squadrenfuhrer in Cremona, schrieb gegen die „kleinen und großen Männer der politischen Bühne": „Platz da, hier kommt die Jugend Italiens! Wenn ihr nicht freiwillig beiseite rückt, werdet ihr von unseren umfassenden Strafmaßnahmen überrannt werden". 2 8 7 Diese Äußerungen der Führungsebene deckten sich mit der Haltung der einfachen Squadristen. So notierte ein squadrista aus der Toskana in seinem Tagebuch, er fürchte, angesichts der unmittelbar bevorstehenden Umwandlung der faschistischen Bewegung in eine Partei, der Faschismus könne dadurch, dass er „in den stinkenden Sümpfen des Montecitorio versinkt", seine „kristallklaren Quellen der Energie" verlieren. Die „Jugend und Poesie der Bewegung" solle sich nicht mit „römischer Alchemie vergiften". Er fürchtete „in einem Wort, dass unser David einen Bauch ansetzt und einen Bart bekommt". Zur italienischen Regierungszentrale selbst fiel ihm nur ein: „Eine wirklich schweinische Stadt dieses Rom - matt, träge, ohne Mark, feige." 2 8 8 Der parlamentarischen Bühne wurde bewusst die politische Arena der Straße entgegengestellt, für die die stilisierten Elemente der Jugend und Dynamik maßgebend waren. Die Kampflieder der Squadren strichen deutlich den jugendlichen Enthusiasmus und die Vitalität des Squadrismus heraus. Bekanntlich wurde das „Giovinezza"-Lied zur Hymne der Faschisten. Immer wieder wurden Straße und Jugend als Gegenbild zu Parlament und Alter in Szene gesetzt. „Gehen wir mit all unserer Zuversicht und unserer Unverfrorenheit auf die piazza hinaus - heldenhafte Jugend, ungestüm und selbstlos", schrieb Bianchi im Oktober 1920. Die Straße, das war per se die politische Arena für die Jugend und mithin für die politische Avantgarde. So hieß es 1921 in der faschistischen Zeitung „II Fascio": „Wir sind die Avantgarde, wir sind die Einzahler einer Generation, die für lange Zeit die Fesseln ihrer eigenen historischen Realität gesprengt haben. Eine Generation, die unaufhaltsam der Zukunft entgegenmarschiert". 289 Auch NSDAP und SA charakterisierten die Weimarer Republik als Gerontokratie, der sie ihren Jugendmythos entgegenhielten. Dass dabei beliebige Traditionen inkorporiert wurden, machen schon die „Sturmlieder" der SA deutlich. Ob mit einem Anklang an bündische und sozialistische Texte wie bei der Liedzeile „Hitlerleute - Kameraden, mit uns zieht die neue Zeit" oder mit Bezug auf Schneckenburgers nationalem Lied der „Wacht am Rhein" (1840):
287 Farinacci, Faschistische Revolution, Bd.2, S.261. Ähnlich auch Giunta, Franscesco: Dalla piazza al parlamento [4.7.1921], in: Giunta, S.91/92. 288 Piazzesi, S.199. 289 Zu den Liedern der Squadren: Graveiii, S.61-82. Bianchi, Dante: ... i fascisti picchiano!, in: II Fascio Nr.37 vom 23.10.1920, S . l ; Leonardi, G.: Siano i superatori, in: II Fascio vom 2.4.1921 (Zitat).
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„Es steht die SA überall/ Für Hitler wie ein Meereswall/ Und um sie rief die Jugend auf/ Der Nazi frischer Siegeslauf'. 2 9 0 Als die Nachkriegsgeneration nach 1928 aus der politischen Abseitsstellung heraustrat, engagierte sich die NS-Bewegung gegen die „Republik der Greise", wie Goebbels ganz symptomatisch formulierte, und machte aus der „Jugend" eine breitenwirksame politische Kategorie. 291 Goebbels nahm zur Stützung der von der Parteileitung betrieben Doppeltaktik - die Parlamentsvertretung und Straßenkampf miteinander verband - direkten Bezug auf das italienische Vorbild. „Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahmzulegen. Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre Sache [...] Auch Mussolini ging ins Parlament [...] Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in eine Schafherde einbricht, so kommen wir." 2 9 2 Der aggressive Ton und die militante Gesinnung charakterisierten die Parlamentsarbeit als Fortsetzung des Straßenkampfes mit anderen Mitteln. Militante Rhetorik wie jugendlicher Gestus dienten also, wie im italienische Fall, als Bindeglied zwischen den beiden Politikformen. Dementsprechend hieß es 1931 im „SA-Mann": „Jugend bedeutet Sturm und Kampf, Kraftentfaltung, die sich das Leben gestalten will". 293 Der Antirepublikanismus der SA verband sich mit einem amorphen nationalen ,Aufbruch". Diese Politikform drückte, wie Peter Merkl bemerkte, eine „Generationsrevolte gegen Eltern, [...] gegen die 'alten Parteien' und ihren 'Parteienkram'" aus. 2 9 4 Partei wie Parlament galten in den faschistischen Bewegungen Italiens wie Deutschlands als überkommene und veraltete Politikformen, denen eine junge
290 Roesler, S.13. Siehe auch Hochmuth (Hrsg.), Sturm- und Kampflieder-Buch; Johst, Hanns: Der unbekannte SA-Mann [Liederbuch], o.O. o.J.; Lindemann; SA-Liederbuch [1934/35]; SA-Liederbuch [1938]; Bayer, Liederbuch. 291 Mommsen, Generationskonflikt, S.58; Stambolis, S.63ff., 274ff.; Loewenberg, S.1459; Domansky, Politische Dimensionen, S.134. Zitat: Goebbels, Zweite Revolution, S.5/6. Vgl. weiterhin die Reden von Goebbels in: Ders.: „Goebbels spricht". Reden aus Kampf und Sieg (hrsg. von Werner Beumelberg). Oldenburg 1933, bes. S.9-48; Berger, Erich: Vom Recht der Jugend, in: Der SA-Mann Nr.42 vom 14.12.1929 (Beilage des Völkischen Beobachters Nr.290 vom 14.12.1929). 292 Der Angriff vom 30.4.1928. Zitiert nach: Neuber, Gerhard: Faschismus in Berlin. Entwicklung und Wirken der NSDAP und ihrer Organisationen in der Reichshauptstadt 1920-1934. Diss. Phil. HU Berlin 1976, S.81. Eine Zusammenstellung der antiparlamentarischen Äußerungen wichtiger NS-Führer in der Denkschrift des preußischen Innenministeriums, in: Staat und NSDAP, S.108-113. 293 Albert, Rudolf: Warum muß die Jugend nationalsozialistisch sein?, in: Der SA-Mann Nr.29 vom 13.8.1931 (Beilage des Völkischen Beobachters Nr.225 vom 13.8.1931). 294 Merkl, Formen, S.438.
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und zugleich gewaltbereite Bewegung entgegengestellt wurde, deren Politikarena die Straße war. Politischer Stil und Ästhetik der Propaganda waren auf die Jugend ausgerichtet, wobei Kraft und Gewalt diejenigen Elemente waren, die Erneuerung wie auch Jugendlichkeit charakterisierten. „Gegen das alte Italien", also gegen den König, die Banken, das Bürgertum, den Sozialismus und das Parlament, die allesamt explizit im „II Fascio" genannt wurden, sollte „sich das junge Italien erheben", und diese „frische Jugend" war „rein und mutig". 295 Die vitale Jugend wurde im Bild des athletischen und kerngesunden faschistischen Jünglings ästhetisiert und unmittelbar der „Altersschwäche" der vergangenen Vorkriegswelt entgegengestellt. Vor allem physiognomische Aspekte wurden zur hassbetonten Charakterisierung der traditionellen bürgerlichen Eliten bemüht, die in der faschistischen Zeitung „II Fascio" als Menschen mit „schlaffen und weißlichen Gesichtern", als „alte dumme Männer, abscheuliche Frauen, und Schleim, und Speichel, und Hustenanfalle, und Gestank" visualisiert wurden. 296 Die vitalistische Politik wurde zu einem unmittelbaren Sinneseindruck gemacht. Demgegenüber wurde die faschistische Jugend mit dem Mythos des starken Mannes verquickt, denn die J u gendlich frische[n] SA-Kameraden" zeichneten sich vor allem durch „Sitte, Selbstzucht, Selbstdisziplin" aus. 2 9 7 Gleichzeitig gehörte die todgeweihte Jugend des Ersten Weltkrieges zum Ursprungsmythos des Faschismus. Damit war die Jugend gemeint, die fur die nationale Sache gefallen war, die, wie im „SA-Mann" formuliert wurde, „im Glauben an Deutschland verblutete". 298 Vor Ort - in den Parlamentsgebäuden selbst - zeigte sich die antiparlamentarische Praxis in den von nationalsozialistischen Abgeordneten verursachten Störungen, Tumultszenen, Schlägereien und Morddrohungen in den Gemeindeparlamenten, Landtagen und vereinzelt auch im Reichstag. Dazu kam der Versuch der Lahmlegung der Parlamentsarbeit durch eine Lawine von kleinen und großen Anfragen. 2 9 9 Auch das Herausschleifen des kommunistischen Abgeordneten Francesco Misiano aus dem Gebäude des Montecitorio durch faschistische Parlamentarier, ein einzigartiger Vorfall der 295 Noi, Ε ora di osare, in: II Fascio vom 27.9.1919. 296 Fred: II Congresso della Lega..., in: II Fascio vom 16.10.1920. 297 Zitate aus: Heinrich, Karl: Hitlers Kampftruppen marschieren, in: Der SA-Mann Nr.29 vom 13.8.1931 (Beilage des Völkischen Beobachters Nr.225 vom 13.8.1931); Unsere Mission gegenüber der deutschen Jugend, in: Der SA-Mann Nr.28 vom 6.8.1931 (Beilage des Völkischen Beobachters Nr.218 vom 6.8.1931). 298 Berger, Erich: Vom Recht der Jugend, in: Der SA-Mann Nr.42 vom 14.12.1929 (Beilage des Völkischen Beobachters Nr. 290 vom 14.12.1929). 299 Vgl. RüfTler, S.228-230, 259-267; Staat und NSDAP, S.126; GStA PK, 1. HA, Rep.84a, Justizministerium, 2.5.1., Nr.13232 (M); Winkler, Weg in die Katastrophe, S.563/564. Demnächst zum Parlament: Mergel, Thomas: Parlamentarische Kultur und Reichstag der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit 1919-1933. Düsseldorf 2002.
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italienischen Parlamentsgeschichte, verteidigten die Faschisten stolz als „Schrei der Rache des neuen Italien". 300 Schließlich sollte die Jugend zum sozialen Träger einer moralischen Umwälzung, einer Art von Kulturrevolution werden, die die durch Klasseninteressen zerfurchte Nation wieder zusammenführte. „Echte Jugend ist volksverbunden, noch nicht angekränkelt vom Klassenbewußtsein der Reaktion oder des Marxismus", wie es im „SA-Mann" hieß. Sie führe die Nation in die „glorreiche Zukunft", da die „Zukunft eines jeden Volkes seine Jugend ist". 301 Die junge Generation wurde dabei immer als die kommende, die künftig bestimmende, die zukunftsweisende verstanden: „Ja, wir sind da, und man spricht von uns, man rechnet mit uns. Eine neue Zeitepoche bricht an, eine neue Generation wächst heran", schrieb dementsprechend ein SA-Mann. 302 Das ästhetisierte Jugendpathos vom italienischen Squadrismus und der deutschen SA waren sich zum Verwechseln ähnlich. Die Unterschiede zwischen beiden traten hinter diesen großen Gemeinsamkeiten weit zurück. So war auch das Jugendpathos der italienischen Faschisten nicht primär folkloristisch oder lebensfroh, wie Joachim Radkau meint. Lauteten die ersten beiden Zeilen der Giovinezza-Hymne der Faschisten zwar „Giovinezza, Giovinezza primavera di bellezza", so deutete dies jedoch noch nicht - im Sinne Radkaus - auf einen „anakreontischen Jugendmythos" hin, der „Jugend mit Jauchzen, mit Schönheit, Frühling und Freiheit assoziiert". 303 Tatsächlich zeigen die folgenden Zeilen des Liedes eine Beschwörung von Militarismus und Todesmut, die im Gegenbild des „verfluchten Bolschewisten" inszeniert wird. 3 0 4 Diese schroffen und aggressiven Elemente fehlten dem italienischen Faschismus keineswegs, wenngleich sie sich mit den von Radkau benannten Elementen mischten. Das „Lächeln" und die Gewalt des Squadristen bildeten eben eine untrennbare Allianz, die den jugendlichen wie männlichen Todesmut in Szene setzen sollten. Daß der „kulturelle Gestus" des italienischen Faschismus etwas „Mondänes und Weitläufiges" enthielt, wie Radkau meint, und andererseits in der „Tradition der bürgerlichen Utopie der Aufklärung" stand, lässt
300 II Popolo d'Italia vom 14.6.1921, dort auch ein Artikel Mussolinis („Debutto"), der die Aktion verteidigte. Zum Vorfall siehe: Parlamente Italiano 1861-1988, Bd. 10, S.7; Gentile, Storia, S.245/246. 301 Albert, Rudolf: Warum muß die Jugend nationalsozialistisch sein?, in: Der SA-Mann Nr. 29 vom 13.8.1931 (Beilage des Völkischen Beobachters Nr.225 vom 13.8.1931); Unsere Mission gegenüber der deutschen Jugend, in: Der SA-Mann Nr. 28 vom 6.8.1931 (Beilage des Völkischen Beobachters Nr.218 vom 6.8.1931). 302 R. Wolff (SA-Mann vom Sturm 10 in Prerow/Ostsee): Aus meinem Tagebuch, in: Der SAMann Nr.l vom Januar 1929 (Halbmonatsbeilage zum „Völkischen Beobachter" vom 12.1.1929). 303 Radkau, Die singende und die tote Jugend, S.99. 304 Graveiii, Canti, S.82.
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sich zumindest für den Squadrismus nicht bestätigen. 305 Zwar erfanden weder die italienischen noch die deutschen Faschisten den Mythos Jugend, beide bezogen sich auch auf bürgerliche Vorbilder aus der Jugendbewegung und knüpften an die bürgerliche Jugendbewegung der Jahrhundertwende an, aber sie radikalisierten deren eher abenteuerhafte Vorstellungen zu einem politischen Generationenkampf auf Leben und Tod. 3 0 6 Das Jugendbild des Faschismus war durch die Aufnahme einer heroisierten Weltkriegserfahrung wesentlich brutal isierter und integrierte eine Ästhetik des Todes und Tötens, die der Jugendbewegung des 19. Jahrhunderts fremd gewesen war. In beiden Fällen wirkte der Jugendmythos bis weit in die Regimephase hinein und wurde in der Ästhetik der steinernen Skulpturen und der ritualisierten und formierten Sportinszenierungen zum integralen Bestandteil der faschistischen Symbolik. Die brachiale Gewalt der Bewegungsjugend erstarrte jedoch in beiden Fällen zunehmend in dem vergleichsweise braven look des nackten Jünglings. Im italienischen Fall verschwanden die squadristischen Abzeichen mit Totenschädeln und Messern zwischen den Zähnen und wurden zunehmend durch die romantisierende Symbolik der 'italienischen Jugend' ersetzt. Die Strafexpeditionen wurden in verschiedenen Medien als lustige Ausflüge von ausgelassener Fröhlichkeit nacherzählt. Im Nationalsozialismus wurden die SA-Aktionen zum heroischen Kampf gegen einen übermächtigen kommunistischen Gegner stilisiert, wobei auch hier die Gewaltaktionen der SA zu Abenteuern trivialisiert und in comic-strip-Manier geschildert wurden. Die romantisierende Variante bestand in der Inszenierung einer treusorgenden „Volksgemeinschaft" aus SA-Kameraden, die in einträchtiger Stimmung um den Weihnachtsbaum herum saßen. 307 Die aus dem Bereich des jugendlichen Straßenkämpfertums entnommenen bildhaften Inszenierungen hatten somit für den Jugendkult der faschistischen Regime eine eindeutige Vorbildfunktion. Wichtig für unseren Zusammenhang ist jedoch, dass der Jugendkult des italienischen Faschismus im Jahre 1922 schon voll ausgebildet war und auch die
305 Radkau, Die singende und die tote Jugend, S.104/105. 306 Radkau (Die singende und die tote Jugend, S. 101) schreibt: „Während in Deutschland der Generationenkonflikt, die pathetische Auflehnung der Jungen gegen die Älteren, bereits Tradition besaß, scheinen solche Phänomen in dem Italien des entstehenden Faschismus etwas Neues gewesen zu sein". Auf Seite 104 heißt es, dass der Nationalsozialismus „einen Grundzug von grimmiger Introvertiertheit [besaß]. Dadurch war der Spielraum für Jugendmythen in der nationalsozialistischen Bewegung von vornherein eingeengt". Radkau versäumt es im gesamten Aufsatz, Entwicklungsphasen im Nationalsozialismus voneinander zu unterscheiden. Dadurch werden Zitate aus den zwanziger Jahren in bunter Collage-Technik mit solchen aus den vierziger Jahren vermischt. 307 Siehe hierzu Malvano, S.312-323, 332-336; Passerini, Jugend, S.384-387; Treves. S. 119146; Ledeen, Italian Fascism, S.137-154; Reichardt/Perry; Stollmann, S.191-215. Allgemeiner: Behrenbeck, S. 195-592; Suzzi Valli, Mito, S. 108-227.
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nationalsozialistischen Bedeutungsinhalte von Jugend sich schon vor 1933 voll entwickelt hatten. 308 3.3.4 Zum Begriff der Generation Wie erklärt sich dieser Zuschnitt des faschistischen Jugendpathos? Auf welchen gelebten Erfahrungen und generationsspezifischen Erlebnissen fußte er? Die Antworten auf diese Fragen müssen differenziert ausfallen, denn beide Kampfbünde setzten sich aus unterschiedlichen Generationen zusammen. Der Squadrismus war zu gleichen Teilen in zwei verschiedene Generationen aufgeteilt - der jungen Frontgeneration der zwischen 1890 und 1900 geborenen Männer einerseits und andererseits der Kriegsjugendgeneration von den Jahrgängen 1900/1901 bis zu jenen von 1906/07, die am Ende des Krieges in ihrer reiferen Kindheit standen. Die generationelle Zusammensetzung der SA war hingegen homogener, denn zwischen 70 und 80 Prozent der einfachen SAMänner stammte aus der Kriegsjugendgeneration der zwischen 1900 und 1910 Geborenen. Dementsprechend machten hier „die eigentlichen Träger des so viel diskutierten Fronterlebnisses" nur 10 Prozent des SA-Mitgliederbestandes aus. Dieses unterschiedliche Generationsprofil zwischen SA und Squadrismus hing schlicht mit dem größeren zeitlichen Abstand der SA zum Ersten Weltkrieg zusammen. 3 0 9 Bevor geklärt werden kann, welche Schlüsse aus diesen Generationsprofilen gezogen werden können, sind einige Bemerkungen zu dem bisher wie selbstverständlich benutzten Begriff der „Generation" zu machen. 310 Zunächst ist dabei festzuhalten, dass der Begriff der Generation als Großkategorie vielfältig fraktionierte Einheiten umfasst. Die in den faschistischen Kampfbünden überproportional vertretenen beiden Generationen der Jahrgänge 1890 bis 1910 können daher nicht als die typischen Vertreter ihrer Generationen im Allgemeinen angesehen werden, denn die meisten Mitglieder dieser Generationen waren politisch überhaupt nicht engagiert. Differenziert man nach Geschlecht, sozialer Position, religiöser Zugehörigkeit und politischer Einstellung, verschwimmt die Vorstellung von der angeblichen Einheit der Generation und ihrer einheitlich nachwirkenden generativen Prägung recht schnell. So fehlten in der SA etwa die katholischen Jugendlichen und Jungerwachse308 Payne, History, S.106. Radkau (Die singende und die tote Jugend, S.102) setzte die volle Ausbildung des „Mythos der Jugend" in Italien viel zu spät für das Jahr 1930 an, in dem es, vor allem durch die Interventionen Giuseppe Bottais, zu ausgesprochen Konflikten um die Bedeutung des Jugendkonzeptes für die faschistische Herrschaftspraxis kam, nicht jedoch zum „Gedeih" des „Mythos der Jugend". Vgl. den Abschnitt 5.1 dieser Arbeit. 309 Die Generationsbegriffe folgen Gründel, S.23/24 (Zitat S.23). Die Anlehnung an Gründel findet sich schon bei: Herbert, S.42-44. 310 Zum Generationsbegriff siehe: Mannheim, Problem, S. 157-185, 309-330; Jaeger, S.429452; Spitzer, Historical Problem, S.1353-I385; Lambert, S.21-45.
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nen, während im Squadrismus die jungen Arbeiter dieser Geburtsjahrgänge vollkommen unterrepräsentiert waren. Schließlich waren es nur junge Männer, nicht aber die gleichaltrigen Frauen, die zu faschistischen Straßenkämpfern wurden. Rechnet man die Befunde zur altersmäßigen Zusammensetzung der SA einmal zusammen, errechnet sich für 1932 eine Anzahl von maximal 300.000-350.000 SA-Männern der Altersgruppen zwischen 1890 und 1910. Das waren lediglich drei Prozent von den insgesamt in diesen Generationen lebenden deutschen Männern (Volkszählung 1933). Auch in Italien stammten im Jahre 1921 etwa 90% der Squadristen aus den Altersjahrgängen 18901910, also maximal etwa 100.000 Squadristen, die damit einen Anteil von zwei Prozent der entsprechenden männlichen Generationsangehörigen aus ganz Italien ausmachten (Volkszählung 1921). Allein dieser Zahlenabgleich macht deutlich, dass die jungen Mitglieder der faschistischen Kampfbünde nicht als typische Fälle für eine oder zwei ganze Generationen stehen können. 311 Dennoch erweist sich der Generationsbegriff als aussagekräftig, wenn man ihn so modifiziert, dass darunter eine Problemgemeinschaft, nicht jedoch eine Problemlösungsgemeinschaft zu verstehen ist. 312 Dabei steht der Erste Weltkrieg als besonders bedeutsames und langfristig folgenreiches Ereignis im Zentrum des Begriffes, der die Erfahrungen der zu dieser Zeit heranwachsenden und aufgrund ihres Alters stark formbaren Gruppe in Absetzung zu den Erfahrungen der älteren Altersgruppen tief geprägt hat. Die Reaktion auf diese Prägung kann dann je nach gesellschaftlicher Interessenlage, Geschlechtsidentität und konfessioneller Bindung variieren. 313 Nach einem so verstandenen Generationsbegriff setzten sich Squadrismus und SA mit ihrem überproportional starken Anteil aus der jungen Frontgeneration und der Kriegsjugendgeneration aus zwei benachbarten Generationsgruppen zusammen, die in ihrer Jugend- und Jungerwachsenenphase im Kraftfeld eines alle bisherigen Erfahrungsdimensionen sprengenden Ereignisses gestanden hatten. Das Kriegserlebnis war für beide Generationen folgenreich und langfristig prägend, aber freilich auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Einerseits durch die Erfahrung von ständig drohender Tötung und dem ohn-
311 Prozentangaben vom Autor selbst errechnet. Zur Größe der faschistischen Kampfbünde siehe Abschnitt 3.1.1. Zum Anteil der Squadristen aus den Geburtsjahrgängen: Berechnung nach dem Sample von Engelmann, dem Sample Reichardt-Bologna und dem Sample Reichardt-SQ-Märtyrer (zusammen N=1.216, Anteil der Generationen: 89,8%). Zur Altersstruktur der deutschen und italienischen Bevölkerung: Wirsching, Weltkrieg, S.376; Direzione Generale della Statistica: Risultati sommari del Censimento della popolazione eseguito il 1° dicembre 1921, Bd. XIX: Regno d'ltalia. Rom 1927, S.9. 312 Spitzer, Historical Problem, S.1356. 313 Die sogenannte Prägungs-Hypothese wurde erstmals von Wilhelm Dilthey im Jahre 1875 formuliert und dann durch die professionelle Psychologie des 20. Jahrhunderts umfassend ausgebaut. Siehe dazu Jaeger, S.432; Mannheim, Problem, S.162-164, 183.
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mächtigen Ausgeliefertsein an der Front eines distanziert-technischen Krieges. Andererseits - bei der Kriegsjugendgeneration - durch das entbehrungsreiche Erlebnis von Hunger und Familiendestabilisation an der sogenannten Heimatfront. Gemeinsam war den Mitgliedern beider Generationen der faschistischen Kampfbünde, dass sie sich zur Zeit des Ersten Weltkrieges in einer lebensgeschichtlichen Entwicklungsphase der Formung befanden. Im Generationsmodell von Karl Mannheim wird dem mit Begriff der „Generationseinheit" eine weitere Dimension hinzugefugt: das innerhalb der konkreten faschistischen Gruppen wirkende Zusammengehörigkeitsgefühl und „einheitliche Reagieren", das sich aus der Gleichaltrigkeit der Kampfbündler ergibt, die sich gemeinsam in einer bestimmten Entwicklungsphase ihres Lebens befanden und in diesen Gruppen ihre Generationserfahrungen artikulierten, verarbeiteten und synchronisierten. 314 Schließlich lassen sich auch entwicklungspsychologische Gemeinsamkeiten aus der für die Kampfbündler maßgeblichen Lebensphase zwischen 20 und 25 Jahren benennen, die gleichzeitig an soziale Konstruktionen gebunden waren und sich hier konkret, wie oben erwähnt, auf die Etablierung im Berufsleben, das Schmieden von Heiratsplänen und das Anvisieren von Haushaltsgründungen beziehen. Zudem lag nach Jean Piaget das kritische Alter für die Ausbildung eines politischen Bewusstseins in eben diesen für die meisten Kampfbündler maßgeblichen Lebensjahren zwischen 17 und 25. Diese sozialpsychologischen Komponenten sollten nicht außer Acht gelassen werden, müssen aber doch so modifiziert werden, dass eine Anknüpfung an die spezifisch-historischen Generationserfahrungen dieser Altersgruppen möglich ist. 315 3.3.5 Der junge Frontsoldat und der Weltkriegsoffizier Immer wieder bekundeten die Squadristen, dass die Mehrzahl von ihnen aus ehemaligen Kriegsteilnehmern bestand. Mussolini selbst sah im Faschismus nicht weniger als eine trincerocrazia, also eine „Herrschaft der Frontsoldaten". Und in der faschistischen Zeitschrift „Gerarchia" hieß es 1922: „Der Faschismus ist ein Kind des Krieges. Sein Kern besteht aus ehemaligen Frontsoldaten (aber wirklichen!)". Auch in der Forschung wird immer wieder auf den eminent hohen Anteil der Kriegsveteranen, wenigstens was die Anfangsjahre 1919 und 1920 angeht, hingewiesen. 316 Demgegenüber sind konkrete 314 Mannheim, Problem, S.313-321; Jaeger, S.435, 441-445. 315 Der Verweis auf Jean Piaget bei: Lambert, S.32-36. Jugend wird hier als eine historische und nicht als eine ontologische Kategorie begriffen, da sich die Lebensbedingungen der jungen Menschen und auch die Vorstellungen von dem, was Jugend ist, im Laufe der der historischen Entwicklung ebenso änderten, wie die Gesellschaften, in denen die Jugend lebte. Vgl. dazu Domansky, Politische Generationen, S.114. 316 Mussolinis Aussage wurde zitiert nach Eksteins, S.456; Volt (Ps. für V. Fani): II concetto sociologico dello Stato, in: Gerarchia 1922, S.427. Vigilia eroica, in: II Bargello. Foglio
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Belege über den tatsächlichen Anteil der Kriegsteilnehmer Mangelware. Von den einhundert Gründern der faschistischen Bewegung im Jahre 1919, den sogenannten „sansepolcristi", die fast ausschließlich Squadristen waren (96 Prozent), ist bekannt, dass sie zur Hälfte (55 Prozent) als Weltkriegssoldat gedient hatten. Bei der anderthalb Jahre später durchgeführten parteieigenen Erhebung vom November 1921 wurde unter den 151.644 befragten Mitgliedern der faschistischen Gesamtbewegung ein ganz ähnlicher Anteil von 57,5 Prozent Kriegsteilnehmern ermittelt. 317 Die Erhebungen aus dem eigenen Sample der Squadristen in Bologna bestätigen die genannten Angaben. Die für die Jahre 1921 und 1922 erhobenen Daten zeigen, dass 56,5 Prozent der Squadristen vor 1901 geboren wurden und somit für den Kriegsdienst in Frage kamen. Diesem Anteil von Angehörigen der Kriegsgeneration stand dementsprechend ein nicht sehr viel kleinerer Anteil von immerhin 43,5 Prozent gegenüber. Dies waren Squadristen, die zu jung für eine Kriegsteilnahme waren. 3 1 8 Ähnliche Prozentsätze zeigt Squeris Arbeit, denn 45 Prozent der Squadristen Parmas waren zu jung für eine Kriegsteilnahme. Auch Suzzi Valli weist für die Geburtsjahrgänge 1901 bis 1906 einen Anteil von 43,7% im Falle der Stadt Bologna und von 46,7% für die Stadt Florenz aus. Engelmanns Arbeit über die Squadristen in MassaCarrara schließlich zeigt, dass ein knappes Drittel aus Altersgründen nicht am Weltkrieg hatte teilnehmen können (32%). 3 1 9
d'Ordini della Federazione florentina degli Fasci di Combattimento 9, Nr.l vom 28.10.1936, S.6. Für die Forschung siehe etwa: Cardoza, Agrarian Elites, S.315. 317 Gentile, Storia, S.466, 365, 562; Popolo d'Italia vom 8.11.1921; Revelli, Italy, S.18. 318 Sample Reichardt-Bologna. 471 von 834 Squadristen wurden vor 1901 geboren. 319 Sample Reichardt-Bologna; Squeri, S.109; Suzzi Valli, Myth, S.136; Engelmann. Provinzfaschismus, S.170, 173-175.
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