Gewachsenes und Gemachtes: Philosophische Grundlegungen und bioethische Perspektiven 9783495998656, 9783495998649


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Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
Erster Gang: Gewächse und Gemächte
1. Wachsen und Werden
1.1 Von Bäumen, die nicht gewachsen sind
1.2 Das Gewachsene als Gestaltungsraum des Menschen
1.3 Begriffe der Natur
1.4 Gewachsenes versus Gemachtes
1.5 Aristotelisch verfasste Lebenswelt
2. Das Phänomen des Lebendigen
2.1 Vom Unbelebten zum Lebendigen
2.1.1 Facetten des Lebens
2.1.2 Analoga des Wachstums in der toten Natur
2.1.3 Transzendenz der Lebewesen
2.1.4 Grenzbereiche des Lebendigen: Viren
2.1.5 Lebensentstehung auf der Erde
2.1.6 Bedingungen für die Entstehung des Lebens
2.1.7 Biogenese: Der Anfang liegt im Dunkeln
2.1.8 Die DNA der Lebewesen
2.1.9 Werden und Entfaltung des Lebens
2.1.10 Komplexität des Lebendigen
2.1.11 Reizempfindlichkeit und Selbsterhaltung
2.1.12 Leben und Tod
2.2 Perspektiven des Lebendigen
2.2.1 Denken des Organischen: Aristoteles
2.2.2 Der Organismus als Instantiierung des Systems: Kant
2.2.3 Organismen und Freiheit: Jonas
2.2.4 Die Selbstgestaltung des Organismischen: Perspektiven heutiger Biophilosophie
2.3 Wissenschaft des Lebendigen: Vom Beobachten zum Herstellen
2.4 Zugänge zum Lebendigen
2.4.1 Die Perspektive lebendiger Erfahrung
2.4.2 Subjektivität des Lebendigen
2.4.3 Grenzen der Objektivierung
2.4.4 Die im Labor gemachte Natur
2.5 Verkürzungen, die dem Lebendigen nicht gerecht werden
3. Die Eigenart menschlichen Lebens
3.1 Der Mensch und sein Leib
3.2 Das Leben führen
3.3 Sich in den Augen des Anderen sehen und einander anerkennen
4. Gewachsenes im Horizont des technisch Machbaren
4.1 Technik gehört zum Menschsein: Frühe Zeugnisse
4.2 Auch die Götter nutzen Technik: Mythische Verdichtungen
4.3 Mit Technik der Natur nacheifern und diese nachahmen: Antike Vorstellungen
4.4 Von der Nachahmung der Natur zur Nachahmung des Schöpfergottes:Mittelalter und Renaissance
4.5 Der Aufschwung von Naturwissenschaften und Technik:Neuzeitliche Weichenstellungen
4.6 Technik kann zur Entfremdung von sich und der Natur führen: Hegel und Marx
4.7 Technik als Organprojektion: Kapp
4.8 Technik in der Hand des Menschen oder der Mensch in der Hand der Technik? Exemplarische Positionen aus dem 20. Jahrhundert
4.8.1 Technik als Resonanzphänomen zur Selbstdeutung des Menschen: Gehlen
4.8.2 Der Einfluss technischer Begriffe auf alle Bereiche des menschlichen Lebens: Guardini und Anders
4.8.3 Die gestellte Natur: Heidegger
4.8.4 Die Verabschiedung von Subjekten und Objekten: Latour
5. Im Zeitalter der Machbarkeit
5.1 Das Credo des Homo faber
5.2 Eingriffe in natürliche Prozesse
5.3 Biomacht: Zugriffe auf Leib und Leben
Zweiter Gang: Umgestaltung, Überwindung und Neuschöpfung von Gewachsenem und Gemachtem
6. Das Zwergenhafte bestimmen und die Welt im Kleinen neu zusammensetzen: Wege in Nanowelten
6.1 Leitidee und Anwendungsfelder nanotechnologischer Forschung
6.2 Nanotechnologien und ihr Verhältnis zur Natur
6.3 Medizinische Anwendungen
6.4 Fazit
7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie
7.1 Ansätze und Ziele der Synthetischen Biologie
7.2 Das Verständnis von ›Leben‹ in der Synthetischen Biologie
7.3 Synthetische Biologie in der gesellschaftlich-politischen Debatte
7.3.1 Synthetische Biologie in den Medien
7.4 Ethische Aspekte der Synthetischen Biologie
7.5 Wiederkehr der Neandertaler und Umsiedlung von etwaigen Marsbewohnern?
7.6 Fazit
8. Menschen »machen«
8.1 Gezeugt, nicht gemacht: Kinderwunsch und Wunschkinder
8.1.1 Das Zeitalter der Wunder
8.1.2 Wunder werden machbar: Moderne Reproduktionsmedizin
8.1.3 Wie wollen wir Kinder empfangen?
8.2 Möglichkeiten und Grenzen der Gentherapie
8.2.1 Die Faszination der Gene
8.2.2 Somatische Gentherapie
8.2.3 Keimbahntherapie
8.3 Enhancement: Die Natur durch Technik verbessern?
8.3.1 Therapie und Enhancement: Eine Klärung
8.3.2 Auf dem Weg zum perfekten Menschen?
8.3.3 Menschenpark statt Garten des Menschlichen?
8.3.4 Der Menschenpark nimmt Gestalt an
8.3.5 Vertauschte Köpfe? Kopftransplantationen als Beispiel für ein besonders extremes Enhancement
8.3.6 Fazit
8.4 Mensch-Maschine-Entgrenzungen: Über Cyborgs
8.4.1 Mischwesen aus Mensch und Maschine
8.4.2 Implantation von Technik im Hirn
8.4.3 Fazit
8.5 Posthumanismus: Die Natur durch Technik überwinden?
8.5.1 Eine Welt ohne Technik?
8.5.2 Abschied von der Natur
8.5.3 Aufbruch ins postbiologische Zeitalter
8.5.4 Vom Kampf gegen den Drachen: Bostrom
8.5.5 Herrschaft der Maschinen: Moravec
8.5.6 Singularity: Kurzweils posthumanistische Ideen
8.5.7 Fazit
8.6 Chimbrids und die Frage der Überwindung von Artgrenzen
8.6.1 Rätselhaft-phantasievolle Vorstellungen von Mensch-Tier-Mischwesen
8.6.2 Biotechnologische Konkretionen
8.6.3 Transgene Organismen
8.6.4 Zytoplasmatische Hybride
8.6.5 Hirnchimären
8.6.6 Chimbrids im Horizont praktischer Vernunft
8.6.7 Fazit
Schluss
Literatur
Sachregister
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Gewachsenes und Gemachtes: Philosophische Grundlegungen und bioethische Perspektiven
 9783495998656, 9783495998649

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Marcus Knaup

Gewachsenes und Gemachtes Philosophische Grundlegungen und bioethische Perspektiven

https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Marcus Knaup

Gewachsenes und Gemachtes Philosophische Grundlegungen und bioethische Perspektiven

https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Hagen, FernUniversität, Habil., 2022 ISBN 978-3-495-99864-9 (Print) ISBN 978-3-495-99865-6 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Erster Gang:

Gewächse und Gemächte . . . . . . . .

23

1. Wachsen und Werden . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

1.1 Von Bäumen, die nicht gewachsen sind . . . . . . . . .

27

1.2 Das Gewachsene als Gestaltungsraum des Menschen

.

29

1.3 Begriffe der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

1.4 Gewachsenes versus Gemachtes . . . . . . . . . . . .

39

1.5 Aristotelisch verfasste Lebenswelt . . . . . . . . . . .

46

2. Das Phänomen des Lebendigen . . . . . . . . . . . .

51

2.1 Vom Unbelebten zum Lebendigen . . . . . . . . . 2.1.1 Facetten des Lebens . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Analoga des Wachstums in der toten Natur 2.1.3 Transzendenz der Lebewesen . . . . . . . . 2.1.4 Grenzbereiche des Lebendigen: Viren . . . 2.1.5 Lebensentstehung auf der Erde . . . . . . . 2.1.6 Bedingungen für die Entstehung des Lebens 2.1.7 Biogenese: Der Anfang liegt im Dunkeln . . 2.1.8 Die DNA der Lebewesen . . . . . . . . . . 2.1.9 Werden und Entfaltung des Lebens . . . . . 2.1.10 Komplexität des Lebendigen . . . . . . . . 2.1.11 Reizempfindlichkeit und Selbsterhaltung . . 2.1.12 Leben und Tod . . . . . . . . . . . . . . .

51 51 55 57 62 64 66 68 71 76 85 87 88

. . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . .

5 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Inhaltsverzeichnis

2.2 Perspektiven des Lebendigen . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Denken des Organischen: Aristoteles . . . . . . 2.2.2 Der Organismus als Instantiierung des Systems: Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Organismen und Freiheit: Jonas . . . . . . . . 2.2.4 Die Selbstgestaltung des Organismischen: Perspektiven heutiger Biophilosophie . . . . .

92 92 96 102 104

2.3 Wissenschaft des Lebendigen: Vom Beobachten zum Herstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

108

2.4 Zugänge zum Lebendigen . . . . . . . . . 2.4.1 Die Perspektive lebendiger Erfahrung 2.4.2 Subjektivität des Lebendigen . . . . 2.4.3 Grenzen der Objektivierung . . . . 2.4.4 Die im Labor gemachte Natur . . .

116 116 117 118 121

. . . . . . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

2.5 Verkürzungen, die dem Lebendigen nicht gerecht werden

127

3. Die Eigenart menschlichen Lebens . . . . . . . . . .

143

3.1 Der Mensch und sein Leib . . . . . . . . . . . . . . .

143

3.2 Das Leben führen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

152

3.3 Sich in den Augen des Anderen sehen und einander anerkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

153

4. Gewachsenes im Horizont des technisch Machbaren

159

4.1 Technik gehört zum Menschsein: Frühe Zeugnisse . . .

159

4.2 Auch die Götter nutzen Technik: Mythische Verdichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

163

4.3 Mit Technik der Natur nacheifern und diese nachahmen: Antike Vorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

4.4 Von der Nachahmung der Natur zur Nachahmung des Schöpfergottes:Mittelalter und Renaissance . . . . . .

167

4.5 Der Aufschwung von Naturwissenschaften und Technik:Neuzeitliche Weichenstellungen . . . . . . . .

174

4.6 Technik kann zur Entfremdung von sich und der Natur führen: Hegel und Marx . . . . . . . . . . . . . . . .

179

4.7 Technik als Organprojektion: Kapp . . . . . . . . . . .

184

6 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Inhaltsverzeichnis

4.8 Technik in der Hand des Menschen oder der Mensch in der Hand der Technik? Exemplarische Positionen aus dem 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.1 Technik als Resonanzphänomen zur Selbstdeutung des Menschen: Gehlen . . . . . 4.8.2 Der Einfluss technischer Begriffe auf alle Bereiche des menschlichen Lebens: Guardini und Anders 4.8.3 Die gestellte Natur: Heidegger . . . . . . . . . 4.8.4 Die Verabschiedung von Subjekten und Objekten: Latour . . . . . . . . . . . . . . . .

188 194 199 204 215

5. Im Zeitalter der Machbarkeit . . . . . . . . . . . . .

219

5.1 Das Credo des Homo faber . . . . . . . . . . . . . . .

219

5.2 Eingriffe in natürliche Prozesse . . . . . . . . . . . . .

223

5.3 Biomacht: Zugriffe auf Leib und Leben . . . . . . . . .

225

Zweiter Gang: Umgestaltung, Überwindung und Neuschöpfung von Gewachsenem und Gemachtem . . . . . . . . . . . . . . . .

233

6. Das Zwergenhafte bestimmen und die Welt im Kleinen neu zusammensetzen: Wege in Nanowelten

237

6.1 Leitidee und Anwendungsfelder nanotechnologischer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

237

6.2 Nanotechnologien und ihr Verhältnis zur Natur . . . .

251

6.3 Medizinische Anwendungen . . . . . . . . . . . . . .

257

6.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

263

7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

267

7.1 Ansätze und Ziele der Synthetischen Biologie . . . . .

267

7.2 Das Verständnis von ›Leben‹ in der Synthetischen Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

284

7 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Inhaltsverzeichnis

7.3 Synthetische Biologie in der gesellschaftlich-politischen Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Synthetische Biologie in den Medien . . . . . .

306 315

7.4 Ethische Aspekte der Synthetischen Biologie . . . . . .

321

7.5 Wiederkehr der Neandertaler und Umsiedlung von etwaigen Marsbewohnern? . . . . . . . . . . . . . . .

338

7.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

350

8. Menschen »machen«

355

. . . . . . . . . . . . . . . . .

8.1 Gezeugt, nicht gemacht: Kinderwunsch und Wunschkinder . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 Das Zeitalter der Wunder . . . . . . 8.1.2 Wunder werden machbar: Moderne Reproduktionsmedizin . . . . . . . 8.1.3 Wie wollen wir Kinder empfangen?

. . . . . . . . . . . .

355 355

. . . . . . . . . . . .

358 361

8.2 Möglichkeiten und Grenzen der Gentherapie 8.2.1 Die Faszination der Gene . . . . . . 8.2.2 Somatische Gentherapie . . . . . . 8.2.3 Keimbahntherapie . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

381 381 389 400

8.3 Enhancement: Die Natur durch Technik verbessern? . . 8.3.1 Therapie und Enhancement: Eine Klärung . . . 8.3.2 Auf dem Weg zum perfekten Menschen? . . . . 8.3.3 Menschenpark statt Garten des Menschlichen? 8.3.4 Der Menschenpark nimmt Gestalt an . . . . . . 8.3.5 Vertauschte Köpfe? Kopftransplantationen als Beispiel für ein besonders extremes Enhancement 8.3.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

414 414 421 436 447

8.4 Mensch-Maschine-Entgrenzungen: Über Cyborgs 8.4.1 Mischwesen aus Mensch und Maschine . 8.4.2 Implantation von Technik im Hirn . . . . 8.4.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

481 481 490 493

8.5 Posthumanismus: Die Natur durch Technik überwinden? 8.5.1 Eine Welt ohne Technik? . . . . . . . . . . . . 8.5.2 Abschied von der Natur . . . . . . . . . . . . 8.5.3 Aufbruch ins postbiologische Zeitalter . . . . . 8.5.4 Vom Kampf gegen den Drachen: Bostrom . . .

495 495 496 498 499

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

463 480

Inhaltsverzeichnis

8.5.5 8.5.6 8.5.7

Herrschaft der Maschinen: Moravec . . . . . . Singularity: Kurzweils posthumanistische Ideen Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8.6 Chimbrids und die Frage der Überwindung von Artgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.1 Rätselhaft-phantasievolle Vorstellungen von Mensch-Tier-Mischwesen . . . . . . . . . 8.6.2 Biotechnologische Konkretionen . . . . . . 8.6.3 Transgene Organismen . . . . . . . . . . . 8.6.4 Zytoplasmatische Hybride . . . . . . . . . 8.6.5 Hirnchimären . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.6 Chimbrids im Horizont praktischer Vernunft 8.6.7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

501 508 512

. .

514

. . . . . . .

. . . . . . .

514 517 521 524 532 535 541

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

545

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

555

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

615

9 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Vorwort

Die vorliegende Studie untersucht das Verhältnis zwischen Technik und Natur, Künstlichem und Natürlichem mit Hilfe des Begriffspaars des »Gewachsenen« und »Gemachten«. Der erste Gang der Arbeit erörtert Grundlegungsfragen die Beziehung des Menschen zu Natur und Technik betreffend. Wichtige Grundbegriffe (Natur, Leben und Lebendiges, Organismus, Mensch und Leiblichkeit, Technik und Machbarkeit) werden hier geklärt und einer kritischen Reflexion unterzogen. Der zweite Gang der vorliegenden Studie zeigt die zuneh­ menden Rückwirkungen in den Verschiebungen zwischen »Gewach­ senem« und »Gemachtem« auf den Menschen selbst, sein Selbst- und Weltverhältnis wie seine Sozialität auf. Diskutiert werden hier u.a. Fragen der Nanotechnologie und einer neuen Gestaltung von Materie, die Ansprüche der Synthetischen Biologie, Leben künstlich herzustel­ len, die Überwindung von Speziesgrenzen, die Wiedererschaffung ausgestorbener Arten im Labor wie auch unterschiedliche Facetten einer Neuerschaffung und Überwindung des Menschen. Die vorliegende Studie wurde von der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität in Hagen im Sommerse­ mester 2022 als schriftliche Habilitationsleistung im Fach Philosophie angenommen. Die Arbeit ist das Ergebnis eines längeren Denkweges. Manches wäre gewiss noch anzusprechen und zu schreiben gewesen, doch irgendwann muss man einen Schlusspunkt setzen. Das hier Dargelegte möge Anlass und Einladung zu einer lebendigen Ausein­ andersetzung sein. Herr Prof. Dr. Thomas Sören Hoffmann (Hagen) hat die Arbeit begleitet und mich stets durch manchen guten Ratschlag unterstützt. So konnte die Arbeit gut wachsen und gedeihen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Herr Prof. Dr. Michael Fuchs (Linz) und Herr Prof. Dr. Günther Pöltner (Wien) haben die Mühe des Zweitund Drittgutachtens auf sich genommen. Dafür gebührt ihnen mein aufrichtiger Dank. Der FernUniversität in Hagen und der Geschwister Büschbell-Stiftung danke ich für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses. Für die freundschaftlichen Gespräche mit Dr. Gabriele Olveira und Dr. Klaus Honrath danke ich ganz besonders. Sie

11 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Vorwort

haben maßgeblich zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Nicht uner­ wähnt bleiben sollen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer meiner Lehrveranstaltungen, mit denen ich verschiedene Thesen diskutieren konnte. Ihnen ist diese Arbeit eines Lernenden für Mitlernende gewidmet. Für wertvolle Korrekturhilfen sei Doreen Andreas, Helge Köttgen und Alhard Snethlage ganz herzlich gedankt. In meinen Dank einschließen möchte ich auch meine Eltern, die den langen Ausbildungsweg ihres Sohnes mit Liebe begleitet haben. Hagen / Zagreb, im Sommer 2022

Marcus Knaup

12 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Abkürzungsverzeichnis

A

Adenin

AA

Akademieausgabe

a. a. O.

am angegebenen Ort

Abs.

Absatz

acatech

Deutsche Akademie der Technikwissenschaften

aDNA

ancient DNA (fossile DNA)

AL

Artificial Life

a. M.

am Main

Art.

Artikel

ATP

Adenosintriphosphat (Nukleotid)

Bd.

Band, Bände

bes.

besonders

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes

bzw.

beziehungsweise

C

Cytosin

CAR

Chimeric Antigen Receptor

CAR-Therapie

Krebsimmuntherapie

CAR-T-Zellen

gentechnisch veränderte Zellen

Cas

CRISPR associated proteins

CCR5

ein Gen, das beim Menschen auf Chromosom 3 liegt

cf.

confert (lat.), bezüglich

Chimbrids

Portmanteau aus Chimären (chimeras) und Hybri­ den (hybrids)

CRISPR

clustered regularly interspaced short palindromic repeats

ders.

derselbe

13 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Abkürzungsverzeichnis

DFG

Deutsche Forschungsgemeinschaft e.V.

d. h.

das heißt

d. i.

das ist

DIY

Do-It-Yourself-Biologie

dies.

dieselbe

DIR

Deutsches IVF-Register

DNA

deoxyribonucleic acid

DNS

Desoxyribonukleinsäure

Dok.

Dokument

dt.

deutsch

ebd.

ebenda

E. coli

Escherichia coli (Bakterium)

EN

Ethica Nicomachea / Nikomachische Ethik

ESchG

Embryonenschutzgesetz

et al.

et alii (lat.), und andere

etc.

et cetera (lat.), und so weiter

EU

Europäische Union

evtl.

eventuell

f.

folgende [Seite]

ff.

folgende [Seiten]

Fn.

Fußnote

Fragm.

Fragment

frz.

französisch

G

Guanin

GenTG

Gesetz zur Regelung der Gentechnik (Gentechnikgesetz)

GG

Grundgesetz

ggf.

gegebenenfalls

GIFT

intratubarer Gametentrasfer (= reproduktionsmedizini­ sches Verfahren)

griech.

griechisch

GVO

gentechnisch veränderter Organismus

HEAVEN

HEad Anatomosis VENture

14 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Abkürzungsverzeichnis

HeiGA

Heidegger, M.: Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 1975 ff.

HIV

Human immunodeficiency virus

HNO

Publikationsorgan für HNO-Ärzte in Klinik und Praxis

Hrsg.

Herausgeber

hrsg. von

herausgegeben von

HUGO

Human Genomprojekt

ICSI

Intrazytoplasmatische Spermieninjektion

i. e.

id est (lat.), das ist

iGEM

International Genetically Engineered Machine Competi­ tion

insbes.

insbesonders, insbesondere

iPs-Zelle

induzierte pluripotente Stammzelle

ITAS

Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemana­ lyse des Karlsruher Instituts für Technologie

IVF

In-vitro-Fertilisation

IVM

In-vitro-Maturation (= eine Form der IVF)

JCSW

Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften

JCVI

J. Craig Venter Institut

Jg.

Jahrgang

Jh.

Jahrhundert

Kap.

Kapitel

kGy

Kilogray

KL

Künstliches Leben

lat.

lateinisch

LH

Luteinisierendes Hormon

m

Meter

MIT

Massachusetts Institute of Technology

mRNA

messenger RNA

mtDNA

mitochondriale DNA

MYBPC3

Myosin binding protein C, cardiac Gen, das als Ursache für Kardiomyopathie angese­ hen wird

15 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Abkürzungsverzeichnis

NBC

Nationales Bioethik-Komitee Italiens

n. Chr.

nach Christus

NEP

Neuroenhancer

nm

Nanometer (1 nm = 1 Milliardstel Meter; 1 nm = 10–9m)

Nr.

Nummer

NSTC

National Science and Technology Council

o. g.

oben genannt(e)

o. O.

ohne Ortsangabe

OP

Operation

OTC

Ornithin-Transcarbamylase, Enzym

PCR

polymerase chain reaction

PCSBI

Presidential Commission for the Study of Bioethi­ cal Issues

PEG

Polyethylenglykol

pH

Wert für sauren oder basischen Charakter

PID

Präimplantationsdiagnostik

resp.

respective (lat.), bzw.

RNA

ribonucleic acid / Ribonukleinsäure

RPE

Ribulosephosphat-3-Epimerase, Enzym

S.

Seite(n)

SCID

severe combined immunodeficiency, Immundefekt

SHEEF

Synthetic Human Entities with Embryo-like Features

sog.

sogenannt

Sp.

Spalte

StZG

Stammzellgesetz

Suppl.

Supplement

SVO

synthetisch veränderter Organismus

Synbio

Synthetische Biologie

Syst Synth Biol

Systems and Synthetic Biology

T

Thymin

TAB

Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deut­ schen Bundestag

16 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Abkürzungsverzeichnis

TierSchG

Tierschutzgesetz

TPG

Transplantationsgesetz

U

Uracil

u.

und

u. a.

und and[e]re, und and[e]res, unter and[e]rem, unter ander[e]n

UN

Vereinte Nationen

UNESCO

Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wis­ senschaft und Kultur

USA

Vereinigte Staaten von Amerika

usw.

und so weiter

v. a.

vor allem

v. Chr.

vor Christus

VERE

Virtual Embodiment and Robotic Re-Embodiment

vgl.

vergleiche

Vol.

Volume

Vs.

versus

WHO

World Health Organization

WMA

World Medical Association

WTA

World Transhumanist Association

XNA

xeno nucleic acid / Xenonukleinsäure

z. B.

zum Beispiel

zit.

zitiert

17 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

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Einleitung

Das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu anderen Lebewesen wie auch zur Natur als Ganzer wird heutzutage zunehmend durch die Brille der Machbarkeit betrachtet. Seit Menschen die Bühne des Lebens betreten haben, haben sie sich freilich zur Natur in ein Verhält­ nis gesetzt und gestaltend in die Prozesse des Lebendigen eingegrif­ fen. Uns stehen jedoch ganz neue Dimensionen dieses Gestaltens, Veränderns und Neuschaffens offen. Heute ist es unter anderem im Bereich des Möglichen, Materie neu zu gestalten, Atome und Moleküle neu zu positionieren, DNA zu synthetisieren, künstliche Lebewesen zu schaffen, Artgrenzen zu überwinden, ausgestorbene Arten im Labor zu neuem Leben zu erwe­ cken, Menschen im Reagenzglas herzustellen und auf unterschiedli­ che Weise zu verändern. Auch sind Verbindungen aus Organismen und Maschinen längst nichts völlig Ungewöhnliches mehr. Technik und Natur verschmelzen zusehends. Im Alltag gelingt es uns meistens ganz gut, zwischen dem, was von Natur aus ist, dem Gewachsenen, und dem, was durch Menschenhand entstanden ist, dem Gemachten, zu unterscheiden. Durch die Möglichkeiten moder­ ner Biotechnologien wird diese selbstverständliche Unterscheidung jedoch zunehmend schwierig. Natur wird tiefgreifend verändert, zu überwinden und gar neu zu schaffen versucht. Es läge in unseren Händen, so sind z. B. Paul Crutzen, Nobelpreisträger für Chemie, und Christian Schwägerl überzeugt, festlegen zu können, was Natur ist und sein soll (»decide what nature is and what it will be«1). Mit dieser Überzeugung stehen sie freilich nicht alleine. Vieles, von dem Generationen vor uns noch nicht einmal zu träumen gewagt hätten, ist heute selbstverständlich oder scheint in absehbarer Zeit greifbar zu sein. Die Frage ist daher umso dringender, Crutzen, P. J. / Schwägerl, C.: Living in the Anthropocene: Towards a New Global Ethos, in: Yale Environment 360, 24. Januar 2011, http://e360.yale.edu/features/living_in_the_anthropocene_toward_a_new_global _ethos (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022).

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Einleitung

ob wir all das, was wir technisch machen können, auch tatsächlich tun sollen. Wenn neue Entwicklungen aus dem Bereich der Lebenswissen­ schaften hervortreten, sind unterschiedliche Reaktionen denkbar: Die einen jubeln, die anderen sehen Gründe zur Besorgnis. So wird dann einerseits ein ›komplettes Verbotspaket‹ oder andererseits eine ›Freigabe ohne weitere Auflagen‹ gefordert: »Alles soll so bleiben, wie es nun einmal ist!« versus »Alles, was verändert werden kann, soll auch verändert werden!« Demgegenüber versucht die vorliegende Arbeit, sowohl der Freiheit des Einzelnen wie der Normativität des Lebendigen gerecht zu werden, zu differenzieren und für Orientie­ rung zu sorgen. Das Beziehungsgeflecht des Gewachsenen und Gemachten soll im Folgenden reflektiert werden. Die Dominanz eines technischen Weltumgangs wird zu hinterfragen sein. Chancen und Risiken aktu­ eller Herausforderungen für den Einzelnen wie für die Gesellschaft als Ganzes gilt es abzuwägen. Dabei soll nicht die größte Mitteleffizienz im Fokus stehen, sondern die Sorge, wie angesichts verschiedener Herausforderungen ein dem Menschen angemessen gutes Selbstver­ hältnis und -verständnis gewährleistet werden kann. Es gehört zum Kerngeschäft der Philosophie, solche Grundfragen aufzugreifen und sie im Lichte unserer modernen Entwicklungen zu diskutieren. Der Philosophie kommt eine aufklärerische Aufgabe zu: Sie erörtert unsere Begriffe, hinterfragt explizite und implizite Voraussetzungen von Aussagen und sorgt so für Klarheit. Angesichts der verschiedenen Herausforderungen, vor die wir gestellt sind, ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass die Einzel­ wissenschaften nicht alle Fragen beantworten können und stets auch nur eine begrenzte Perspektive einzunehmen in der Lage sind. Fragen wie z. B. die nach einem glückenden Leben, dem Sinn unserer Existenz wie auch der Vernünftigkeit unserer Praxis können sie nicht oder jedenfalls nicht in ausreichender Weise beantworten. Es handelt sich um philosophische Fragen. Philosophie geht im wahrsten Sinne des Wortes »aufs Ganze«: Sie ist »totales Denken«, insofern sie das Ganze zu bedenken hat, während es sich bei den Einzelwissenschaften um teilbezogenes Denken handelt. Die vorliegende Arbeit versteht sich als philosophische Theorie und Praxis. Die Studie unternimmt es, philosophische Reflexion über eine gute Praxis, Forschungsergebnisse der Einzelwissenschaften sowie verschiedene in der Gesellschaft anzutreffende Perspektiven zu

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Einleitung

verbinden. Innovative Lösungen sollen vorgelegt werden. Der Ansatz ist pluriperspektivisch und antireduktionistisch.2 Die Studie wird in zwei Gängen entfaltet. Der erste Gang ist überschrieben mit »Gewächse und Gemächte«. Hier soll es zunächst um Grundlegungsfragen gehen. Das Verhältnis des Menschen zu Natur und Technik ist in diesem Teil der Arbeit philosophisch zu erör­ tern, wobei verschiedene Perspektiven einzubeziehen sein werden. Es soll bei diesem ersten Schritt gefragt werden, was Leben und Orga­ nismen auszeichnet. »Natur« und »Leben« werden als Bedingung unseres Handelns und unserer Technik zu bedenken sein, um neu Maß nehmen zu können. Im zweiten Gang werden wir uns konkreten Anwendungsfragen zuwenden und die Frage nach der Gestaltung bzw. Umgestaltung von Gewachsenem beleuchten. Bei unseren Überlegungen, was zu tun oder eben nicht zu tun ist, werden wir uns orientieren am Umgang mit uns selbst als autonomen, leiblich strukturierten Freiheitswesen. Hierzu gehört es, die in den Leib eingeschriebene Kontingenz anzu­ nehmen und respektieren zu lernen.

2 In diesem Sinne weiß sich die vorliegende Arbeit der Konzeption einer Integrativen Bioethik verpflichtet, wie sie von Ante Čović, Hrvoje Jurić, Walter Schweidler, Thomas Sören Hoffmann und anderen entwickelt wurde. Hierzu: Hoffmann, T. S.: Integrative Bioethik, in: Fuchs, M. / Gottschlich, M. (Hrsg.): Ansätze der Bioethik, Freiburg / München 2019, S. 161–191; Hoffmann, T. S.: Praktische Philosophie als integratives Denken. Grundlagen und aktuelle Herausforderungen mit besonderer Rücksicht auf die Bioethik, in: Čović, A. / Hoffmann, T. S. (Hrsg.): Integrative Bioethik. Beiträge des 1. Südosteuropäischen Bioethik-Forums, Mali Lošinj 2005, Sankt Augustin 2007, S. 13–25.

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Erster Gang: Gewächse und Gemächte

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Herr K. und die Natur Befragt über sein Verhältnis zur Natur, sagte Herr K.: »Ich würde gern mitunter aus dem Haus tretend ein paar Bäume sehen. Besonders, da sie durch ihr der Tages- und Jahreszeit entsprechendes Andersausse­ hen einen so besonderen Grad von Realität erreichen. Auch verwirrt es uns in den Städten mit der Zeit, immer nur Gebrauchsgegenstände zu sehen, Häuser und Bahnen, die unbewohnt leer, unbenutzt sinnlos wären. Unsere eigentümliche Gesellschaftsordnung läßt uns ja auch die Menschen zu solchen Gebrauchsgegenständen zählen, und da haben die Bäume wenigstens für mich, der ich kein Schreiner bin, etwas beruhigend Selbständiges, von mir Absehendes, und ich hoffe sogar, sie haben selbst für die Schreiner einiges an sich, was nicht verwertet werden kann.«3

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Brecht, B.: Geschichten vom Herrn Keuner, Frankfurt a. M. 1971, S. 23.

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1. Wachsen und Werden

1.1 Von Bäumen, die nicht gewachsen sind Begonnen sei mit dem Bericht von einem durchaus eindrucksvollen Projekt, im Bewusstsein übrigens, dass am Anfang der Philosophie das Staunen4 steht. Jenes Projekt liegt nun schon einige Jahre zurück, genaugenommen in den 1970er Jahren. Der Ort, von dem ich berichte, ist Los Angeles; es könnte sich aber auch überall sonst auf der Welt abgespielt haben. Die dortige Stadtverwaltung kam damals auf die Idee, an einer viel befahrenen Straße 900 Bäume aufstellen zu lassen.5 Das hört sich zunächst noch nicht besonders spektakulär an, gewiss. Doch das Ungewöhnliche: Bei all diesen Bäumen sollte es sich um Plastikbäume handeln! Warum dies? Es wurde seinerzeit argumentiert, dass die auf dem Mittelstrich der Straße befindliche Erdschicht zu gering sei, um das Gedeihen natürlicher Bäume zu ermöglichen. Anders gesagt: Weil man glaubte, künstliche Bäume würden besser in diese Landschaft und auf diese Straße passen als gar keine, sollte dieses Projekt umgesetzt werden. Die Verwunderung über das Plastikbaum-Projekt in der Bevöl­ kerung war, wie man sich unschwer vorstellen kann, groß. Es gab zahlreiche Reaktionen aus der Bevölkerung. In einem Zeitungsartikel vom 8. Februar 1972 ist in der Los Angeles Times zum Thema Plas­ tikbäume Folgendes zu lesen: »Plastic trees. It comes out sounding wrong, as if there had been a short-circuit between the brain and the tongue. The words are self-contradictory, they are unreal, they evoke an idea alien to experience, they challenge the limits of human imag­ Vgl. Aristoteles: Metaphysik I 2, 982 b 12 f. Vgl. auch Bartels, A.: Grundprobleme der modernen Naturphilosophie, Paderborn / München / Wien / Zürich 1996, S. 210; Tribe, H. L.: Was spricht gegen Plastikbäume?, in: Birnbacher, D. (Hrsg.): Ökologie und Ethik, Stuttgart 1980, S. 20–71. Die Los Angeles Times hat im Jahre 1972 in mehreren Ausgaben darüber berichtet. Im Archiv der Zeitung sind diese Artikel zu finden. 4

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1. Wachsen und Werden

ination.«6 Im selben Artikel ist von »imitations of life« die Rede, in der Ausgabe vom 13. Februar 1972 wird eine Botanikerin zitiert, die hier eine »travesty on nature« zu beobachten meinte.7 Und in den Leserbriefen vom 12. Februar 1972 wird dem »Tree of Life« der »Tree of Death« entgegengesetzt.8 Das Ende vom Lied: Das Projekt wurde schließlich eingestellt. Unterstellen wir einfach einmal, Plastikbäume würden natürli­ chen Bäumen zum Verwechseln ähnlich sehen. Einem Autofahrer, der einigermaßen schnell fährt, würden die Unterschiede möglicherweise gar nicht auffallen. Dies wirft die ganz grundsätzliche Frage auf: Was macht das Gewachsene aus? Und was das Gemachte? Was unterscheidet sie und was eint sie? Welche Einstellung nehmen wir hierzu ein? Im Alltag gehen wir mit einer Selbstverständlichkeit davon aus, dass es einerseits das Gewachsene, das Natürliche, gibt, und andererseits das, was wir herstellen, das Gemachte. Diese Sicherheit scheint heute gerade durch den Fortschritt der Biowissenschaften zunehmend in Frage gestellt zu werden: Was also, wenn die Grenzen zwischen Gewachsenem und Gemachtem verschwimmen? Wenn sie gar nicht mehr so klar sind, wie wir uns das vielleicht wünschen? Nehmen wir einmal an, ein Vorzug unserer Plastikbäume würde darüber hinaus darin bestehen, dass sie sogar wie natürliche Bäume Stoffwechsel betreiben könnten. Wäre es vertretbar, in der ganzen Stadt natürliche Bäume durch diese Art von »Super-Plastikbäumen« auszutauschen? Sollen wir also Gewachsenes beliebig durch Gemach­ tes ersetzen? Und ist das Gewachsene, die Natur, zu der ja auch wir Menschen gehören, beliebig technisch veränderbar? Über einen natürlichen Baum sagen wir, dass er lebendig ist. Ist Leben eigentlich künstlich herstellbar, machbar, wie Vertreter der Synthetischen Biolo­ gie meinen? Und was macht dies letztlich mit dem, der Bäume, wie wir sie kennen, durch künstliche austauscht? Um diese Fragen soll es in der vorliegenden Arbeit gehen. Take That, Joyce Kilmer, in: Los Angeles Times, 8. Febr. 1972, S. D12. Sharp Edges of Criticism at Plastic Shrubbery, in: Los Angeles Times, 13. Febr. 1972, S. WS 1. 8 Plastic Trees in Tinseltown – Ugh!, in: Los Angeles Times, 12. Febr. 1972, S. B 4. In einem anderen Leserbrief heißt es: »Are we to dispense with nature entirely, because of plastic's expected lower cost of maintenance? What about the maintenance of the human spirit? What about the maintenance of the human body? Or have our omnipotent public servants created plastic foliage that produces oxygen?« (Ebd.). 6 7

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1.2 Das Gewachsene als Gestaltungsraum des Menschen

1.2 Das Gewachsene als Gestaltungsraum des Menschen Erlauben Sie mir, Sie nun in »meinen« Garten mitzunehmen. Genau genommen handelt es sich um den Garten, der zu meinem Elternhaus gehört, was aber für unsere Argumentation keine weitere Rolle spielt. Dieser Garten ist durch eine kleine Hecke vom Nachbargrundstück und der angrenzenden Straße abgegrenzt.9 Eine kleine Hütte, in der ein Grill und diverse Gartengeräte aufbewahrt werden, steht in der Mitte. Durch die Wege, die vor längerer Zeit verlegt, die Sträucher, die einmal gepflanzt wurden, wurde dem Garten eine Gestalt gegeben; er wurde »formiert«. Eine Weise der Gestaltung wäre es auch, wenn das Gras nicht gemäht und das Kraut munter sprießen gelassen würde.10 In unserem Garten jedoch ist das Gras kurz gehalten. Wege führen zu Gemüse­ beeten, Sträucher werden regelmäßig beschnitten, Moos von den Wegen entfernt. Aus dem Zusammenspiel der einzelnen Komponen­ ten entsteht ein Ganzes. Der Garten eröffnet eine Perspektivenvielfalt: »In einem Garten gibt es Wege, und ein verständig angelegter Garten zeigt von jedem Blickpunkt aus ein jeweils anderes, sinnvolles Bild.«11 Für das erwähnte Gartenhäuschen gab es wie für das Wohnhaus einen festen Plan. Diejenigen, die es errichtet haben, wussten, was sie wann zu tun hatten. Während der Vogel, der in einem der Bäume, die zu diesem Garten gehören, nistet, vor aller Erfahrung weiß, ein Nest zu bauen, muss der Mensch zunächst einen Konstruktionsplan ersinnen,12 den er zugrunde legt. Er kann seine Wünsche, seinen per­ sönlichen Geschmack einfließen lassen, während Modevorstellungen 9 Unser Wort »Garten« geht auf die indogermanische Wurzel »gher« bzw. »ghortos« zurück, was die Bedeutung »einfassen« und »das Eingefasste« hat. Der Garten ver­ weist demnach sowohl auf die Dimension des Umzäunens (ursprünglich mit Gerten) wie auch das Objekt des Geheges. Das lateinische Wort »hortus«, das französische Wort »jardin« wie auch die englischen Begriffe »yard« / »garden« beziehen sich ebenfalls auf einen umfriedeten Schutz- und Nutzraum. 10 Hegel thematisiert diesen Gedanken in Bezug auf die Jagd: »Auch daß ich Wild schone, kann als eine Weise der Formierung angesehen werden.« (Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Naturrecht und Staatswissenschaft im Grund­ risse, Werke Bd. 7, Frankfurt a. M. 142015, § 56, S. 122). 11 Weizsäcker, C. F. von: Der Garten des Menschlichen, München 1977 (Neuausgabe 2008), S. 15 f. 12 Rudolf Borchardt deutet den Garten als »Ausweis des Menschen«: »Er ist eine Ordnung auch im Sinne des Maßes, der Erziehung und der Rettung – denn alle Ord­

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1. Wachsen und Werden

auf den Nestbau keinen Einfluss haben.13 Der Vogel hat zudem nicht erst nachgedacht und einen Plan erstellt, bevor er sein Nest gebaut hat. Gleichwohl erfüllt es für ihn einen Zweck. Und wenn wir uns in unserem Garten etwas fortbewegen, stoßen wir dort auf verschiedene Pflanzen, kleine und große, die sich an verschiedenen Stellen ausbreiten, aber auch wieder zugrunde gehen, die nicht »fertig« sind, sondern einem stetigen Wandel unterliegen. Ein Garten und freilich auch eine von Menschenhand gestaltete Landschaft sind von sich aus tätig. »Auch im Barockgarten, der nur durch ständige Pflege, durch Neupflanzung und Beschneidung seine Gestalt behält, ist die lebendige Erfüllung dieser Gestalt immer noch Leistung des Lebendigen.«14 Freilich ist unser Garten keine unberührte Natur.15 Regelmäßig gibt es hier und da technische Eingriffe. Der Gärtner neigt sich dafür immer wieder zur Erde, bückt sich, um das ihm Anvertraute zu pflegen. Der Gärtner verwendet technische Mittel und formt so Natur. Anders gewendet: Sein kulturelles Wirken, das typisch für ihn ist, drückt sich in natürlichen Formen aus. Der Gärtner steht für eine Lebensform, die hilft, dass Natur sich erweitern und erneuern kann. In diesem Sinne spreche ich vom Homo hortulanus. Der Homo hortu­ lanus erhält sich und seinen Garten mit Hilfe der Technik. Ihm geht es nicht um bloße Effizienzsteigerung und die Durchsetzung seiner Interessen. Er nimmt Rücksicht auf das Eigenleben der Pflanzen. Die Bäume im Garten sind nicht einfach von uns gemacht. Sie sind gewachsen: Ein Keim hat sich entfaltet und ist aufgegangen. Blät­ ter sprießen, werden gelb und verdorren. Es ist etwas in Bewegung und wächst. Anders dagegen die erwähnten Plastikbäume, das Gemachte:

nungen sind eben auch dieses.« (Borchardt, R.: Der leidenschaftliche Gärtner. Ein Gar­ tenbuch, Zürich 1951, S. 38). 13 Das Verhalten des Vogels ist artspezifisch. Aristoteles würde wohl sagen: Der Vogel folgt einem seiner Natur eigenen Streben. 14 Kluxen, W.: Landschaftsgestaltung als Dialog mit der Natur, in: Zimmerli, W. C. (Hrsg.): Technologisches Zeitalter oder Postmoderne?, München 21991, S. 73–87, hier S. 74. 15 »Gardens are mirrors of ourselves, reflections of sensual and personal experience. By making gardens, using or admiring them, and dreaming of them, we create our own idealized order of nature and culture. Gardens connect us to our collective and primeval past. Since the beginning of human time, we have expressed ourselves through the gardens we have made.« (Francis, M. / Hester, R. T.: The Meaning of Gardens, Cambridge 1990, S. 2).

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1.2 Das Gewachsene als Gestaltungsraum des Menschen

Der Ursprung des Machens liegt außerhalb dieser. Sie wurzeln nicht; ihre Stämme sind nicht das Gewachsene eines Gewächses. Ein Baum im Garten erinnert uns daran, dass es nicht nur Perso­ nen und Sachen (wie den Plastikbaum) gibt, sondern die Wirklichkeit vielgestaltiger ist: Er ist weder ein Artefakt, noch eine Person. Durch Arbeit – denken wir an die Ernte – vermögen Personen sich das, was die Natur wachsen lässt, die Früchte eines Baumes, anzueignen. Das Gewachsene ist uns im Spielraum des Brauchbaren gegeben.16 Es ist die Vernunft, die uns von all dem, was uns im Garten und darüber hinaus im gesamten Reich des Lebendigen begegnet, abhebt. Wir sind in der Lage, eine universale Perspektive einzunehmen. Wir können denken und dabei das Natürliche überschreiten. Wir sind nicht nur den Prozessen und Zwängen der Natur unterworfen, sondern sind in der Lage, uns hierzu zu verhalten.17 Am Garten wird deutlich, dass Natur etwas zu Gestaltendes, aber eben auch etwas Unhintergehbares ist. Der Mensch ist als Freiheits- und Vernunftwe­ sen gestaltend tätig; das Gewachsene ist sein Gestaltungsraum. »Das Modell für den technischen Umgang [mit der Natur], der sie zugleich gestaltet und bewahrt, ist der Garten.«18 Der Gärtner berücksichtigt Lichtverhältnisse sowie andere Gegebenheiten des Ortes. Sein Wirken ist ein Resonanzgeschehen auf verschiedene Ansprüche, die der Baum hat. »Die gestaltende Tätigkeit ist zeitlich offen, weil sie sich immer wieder neu einlassen muss auf Unwägbarkeiten des Baumwachstums, Unbilden der Witterung, Schädlinge, Alterung und Verfall.« (Obert, M.: Tanzende Bäume, sprechende Steine. Zur Phänomenologie japanischer Gärten, Freiburg / München 2019, S. 101) Und auch das Wachsen des Baumes ist Resonanzgeschehen auf das Wirken des Gärtners. Er »antwortet« auf die Feuchtigkeit und Neigung des Bodens ebenso wie auf die Eingriffe des Gärtners. »Die Baumgestalt offenbart sich somit als naturwüchsige ›Antwort‹ auf Ansprüche und Herausforderungen seitens der Umwelt wie des Gärtners.« (A. a. O., S. 101). 17 Bei Walter Schweidler heißt es treffend: »Kultur ist der Inbegriff der Leistungen, mit denen der Mensch aufgrund seiner Natur die Natur aller anderen Wesen und seine eigene Natur auf das eigentlich Menschliche hin überschreitet, das wir in der Forde­ rung der ›Humanität‹ zum Ausdruck bringen.« (Schweidler, W.: Kleine Einführung in die Angewandte Ethik, Wiesbaden 2018, S. 151) Zum Gedanken des Überschreitens des Natürlichen siehe auch: Schweidler, W.: Die Wahrheit der Grenze. Zu den meta­ physischen Implikationen des modernen Wissenschaftsbegriffs, in: Knapp, M. / Kobusch, T. (Hrsg.): Religion – Metaphysik(kritik) – Theologie im Kontext der Moderne / Postmoderne, Berlin / New York 2001, S. 169–186. 18 Kluxen, W.: Landschaftsgestaltung als Dialog mit der Natur, in: Zimmerli, W. C. (Hrsg.): Technologisches Zeitalter oder Postmoderne?, München 21991, S. 73–87, hier S. 83; siehe hierzu auch: Röttgers, K. / Schmitz-Emans, M. (Hrsg.): Gärten, Reihe Philosophisch-literarische Reflexionen, Bd. 13, Essen 2011; Schweidler, W.: Der Garten 16

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1. Wachsen und Werden

1.3 Begriffe der Natur Diese ersten Überlegungen verweisen uns auf das, was bei den Römern natura, den Griechen fðýsiV heißt: Natur. Spätestens mit Hesiod gewinnt die Vorstellung an Bedeutung, dass das wahre Sein gestaltet, Natur geordnet ist. Man denkt über den Kosmos nach, das Ganze von Himmel und Erde, womit die Frage verknüpft ist, was eigentlich diese Ordnung ausmacht, woher sie kommt. Es ist die Frage nach der Ârc®, dem Anfanghaften und Zugrundeliegenden – eine Frage, die für das weitere Nachdenken über Natur folgenreich werden sollte. »Dieser Ursprung, auf den hin das Insgesamt aller natürlichen Phäno­ mene bedacht wurde, war zugleich das leitende Prinzip des Seins, des Wachsens und Werdens und des Vergehens; des Wachsens im Hinblick auf einen Bestand, der seinerseits wieder in das Werden und das Ver­ gehen eingebettet war. Als Prinzip dieses Werdens und Vergehens und des Standes von Gewordenem war es auch als Prinzip des Erkennens angesprochen. Die Ârc® als Anfang und Ursprung für ein Ganzes, genannt fðýsiV, war zugleich Prinzip der Erkenntnis dieses Ganzen in seiner Ordnung, seinem Aufbau und in seinen Werdeprinzipien.«19

Der Begriff fýsiV kommt von fýein resp. der Medialform fúesjai. Das Verb egõ fýw können wir ins Deutsche übersetzen mit »kei­ men«. Mit fýsiV ist ein Werden im Sinne von Wachsen gemeint wie auch das Ergebnis eben jenes Prozesses.20 Gemeint ist der Wuchs, die äußere Gestalt und innere Natur. Und auch, dass das Pflänzchen

als ›terza natura‹, in: Heinecke, B. / Blanke, H. (Hrsg.): Revolution in Arkadien, Hal­ densleben-Hundisburg 2007, S. 13–22. 19 Baumgartner, H. M.: Metaphysik der Natur. Natur aus der Perspektive spekulati­ ver und kritischer Philosophie, in: Honnefelder, L. (Hrsg.): Natur als Gegenstand der Wissenschaften, Freiburg / München 1992, S. 237–266, hier S. 238. 20 Harald Patzer legt dar, dass fðýein den dynamischen Sprossungsvorgang meint. Die mediale Form fýesjai lenkt den Blick auf das Verwurzeltsein, die Ortsgebun­ denheit einer Pflanze. »Die Pflanze […] ist der gesuchte Urbereich der Wurzel φυund das pflanzliche Hervorbringen oder Wachsen die in dieser Wurzel angesprochene Urerscheinung. Das Wachsen ist aber der Pflanze nicht nur eigentümlich, […] es füllt zugleich ihr Sein vollständig aus.« (Patzer, H.: Physis, Grundlegung zu einer Geschichte des Wortes, Stuttgart 1993, S. 222 f., zit. nach: Hoffmann, T. S.: Philosophische Phy­ siologie. Eine Systematik des Begriffs der Natur im Spiegel der Geschichte der Philoso­ phie, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, S. 52).

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1.3 Begriffe der Natur

zu einer bestimmten Art von Pflanzen gehört, wird mit diesem Begriff ausgesagt.21 Göttlichen Mythen setzen die Vorsokratiker ein Gesetz der Natur gegenüber, das das Weltganze regelt. Die Frage nach dem Grund des Werdens und der Veränderung soll nicht weiterhin vom Mantel des Mythos umgeben sein. Die Vorsokratiker fragen nach dem, was Natur ausmacht, ihrem Wesen: Was ist es, woraus die Welt besteht? Was macht sie aus? Was ist der Einheitsgrund des Gewordenen? Natur und die Dinge, die uns umgeben, sind, so die hier anzutreffende Überzeugung, in ihrem Grund zu erkennen. Gefragt wird nach Prinzip und Ursprung natürlicher Seiender. Natur gilt ihnen als geordnet. Lebewesen sind im Verständnis der Vorsokratiker dadurch gekenn­ zeichnet, dass hier Gegensätze in einem Ganzen zusammenspielen im Hinblick auf eben jenes Ganze.22 Der Grund der Dinge wird im Stofflichen ausfindig zu machen versucht.23 »Das Tier bringt hervor, indem es ein neues Eines ›zur Welt bringt‹, das mit seinem Hervorgehen selbständig wird. Anfangs noch kaum geformt, bildet es sich erst sich selbst überlassen aus. Der Sproß aber, den die Pflanze hervortreibt, bleibt mit ihm dauerhaft eins, und wird ausgeformt, indem die treibende Pflanze ihm ständig ihre Formkraft mitteilt. Er hat nicht einmal untergeordnete Selbständigkeit, sondern die Pflanze wird dadurch, daß sie ihn ausbildet, erst eigentlich sie selbst. Blätter und Zweige geben ihr erst ihren Umriß.« (Patzer, H.: Physis. Grundlegung zu einer Geschichte des Wortes, Stuttgart 1993, S. 228). 22 Vgl. Ballauff, T.: Die Wissenschaft vom Leben. Eine Geschichte der Biologie, Frei­ burg / München 1954, S. 11. 23 Bei ihrer Suche nach einem Prinzip der Natur gelangen die Vorsokratiker dabei zu unterschiedlichen Antworten: Für Thales ist das Wasser das (Ur-) Element. (Vgl. Aristoteles: Metaphysik I 3, 983 b 20) Nach Aristoteles könnte diese Überzeugung darin ihren Ursprung haben, dass »die Nahrung aller Dinge feucht« sei (ebd.). Ana­ ximenes meint, die Luft sei der Urgrund: »Es entstände alles infolge einer gewissen Verdichtung der Luft und wieder in Folge der Verdünnung.« (Pseudoplutarch, Stroma­ teis 3 = 13 A 6) Heraklit bringt das Feuer ins Spiel. Das gemeinsame Band dieser Antworten ist darin zu sehen, dass sie allesamt Materieursachen benennen. Argu­ mentativ können jene Antworten dadurch untermauert werden, dass jene genannten Elemente eine weite Verbreitung aufweisen und amorph sind. Für sie gilt, dass sie ebenso allgemein wie bestimmbar sind. (Vgl. Kummer, C.: Philosophie der organischen Entwicklung, Stuttgart 1996, S. 40) Die Antwort des Anaximandros ist schon abstrakter als die seiner ionischen Kollegen. Er will den Ursprung nicht im Wasser oder einem der anderen Elemente ausmachen. »Anaximandros, des Praxiades Sohn aus Milet, der Schüler und Nachfolger des Thales, hat als Urgrund und Element der Dinge das Unendliche angenommen, indem er als erster diesen Namen für den Urgrund gebrauchte.« (Simplicius zu Aristoteles‘ Physik 24, 13 ff., D 12 A 9) Das Seiende wird hier bestimmt durch das, was es nicht ist. Für ihn wie auch schon für Anaximenes ist das Ur-Element göttlich. 21

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1. Wachsen und Werden

Mit dem Begriff fðýsiV bezeichnen die Vorsokratiker das »Wer­ Empedokles benennt neben den drei bereits genannten Elementen die Erde als weiteres Element, wobei die einzelnen Elemente nicht aufeinander zurückgeführt werden könnten. Das, was ist, sei aus den verschiedenen Elementen gemischt, ähnlich der Arbeit eines Malers, der aus Grundfarben alle möglichen Werke erschaffen kann. Die Menge sowie die mechanisch erfolgte Kombination der Teilchen weichen jeweils voneinander ab. Die verschiedenen Seienden in der Natur würden durch Mischung und Trennung der Elemente entstehen. (Fragm. 21) Auf Form- und Zweckursachen greift er nicht zurück. (Vgl. Empedokles: Fragm. 23) Liebe und Streit führen zu Verei­ nigung und Trennung und sorgen so dafür, dass der Gang des Lebens weitergeht. Seine Elementenlehre ist bis zur Erstellung des Periodensystems durch den französischen Chemiker Antoine Laurent de Lavoisier im 18. Jahrhundert überaus einflussreich. Für Demokrit sind es bekanntlich die Atome, welche die Frage nach einem Prinzip der Natur, aus dem alles hervorgeht, umfassend beantworten sollen. Veränderung wird von ihm hinsichtlich der Bewegung von Stoffquanten zu begründen versucht. Während Demokrit also im Hinblick auf die Natur von einzelnen, unteilbaren Stoffen ausgeht, nimmt die Antwort des Parmenides dagegen ihren Ausgang vom Ganzen. Die Vorsokratiker nehmen an, dass durch Mischungsverhältnisse oder auch dadurch, dass Elemente wieder getrennt werden oder vergehen, etwas entsteht. »Der Seelen Tod ist Wasser zu werden, Wassers Tod Erde zu werden; aus Erde aber gewinnt Wasser Leben und aus Wasser die Seele,“ wie es etwa bei Heraklit heißt (Heraklit: Fragmente, griechisch / deutsch, hrsg. von B. Snell, München 142007, Fragm. B. 36). Oder auch: »Kaltes erwärmt sich, Warmes kühlt ab, Feuchtes vertrocknet, Dürres wird benetzt.« (A. a. O., Fragm. B. 126) Widerstrebendes vereinige sich auf einer höheren Ebene zu einem Ganzen. (Vgl. z. B. a. a. O., Fragm. B. 10) Aufschlussreich ist auch folgendes Fragment: »Verbindungen: Ganzes und Nichtganzes, Zusammengehendes und Auseinanderstrebendes, Einklang und Mißklang und aus Allem Eins und aus Einem Alles.« (10 fr. 10) Das, was Natur im Kern ausmache, entzöge sich einer nur oberflächlichen Auseinandersetzung. »Die Natur liebt es, sich zu verbergen.« (98 fr. 123) Alkmaion von Kroton, nicht »nur« Philosoph, sondern auch Arzt, überträgt diesen Gedanken insbesondere auf den Bereich der Lebewesen, die als aus Verschiedenheit hervorgegangene geeinte Ganzheiten aufgefasst werden. Befinden sich die in einem Lebewesen verbundenen antagonistischen Kräfte in einem gleichberechtigten Misch­ zustand, sei das Lebewesen gesund. Überwiegt jedoch eine Kraft gegenüber anderen, befindet sich das Lebewesen in einem Krankheitszustand. (Vgl. Aetius V 30,1 = Alkmaion fr. 4) Gegensätzliches wie Tag und Nacht, Leben und Tod schlügen, so wiederum Heraklit, immer wieder in den anderen um und brächten Neues hervor. Hierdurch entstehe eine Ordnung, die von Dauer sei. Heraklit nimmt auch Bezug auf das »Eine Weise«, das »sinnvolle Wort«, in dem alles Gegensätzliche aufgehoben ist. (Vgl. a. a. O., Fragm. B 2, B 32, B 33, B 40,41) Es ist unveränderlich, absolut, über allem, was geboren wurde und einmal vergehen wird, hinaus, wohl aber nicht unverbunden hiermit. (Vgl. a. a. O., Fragm. 108) Jener Logos durchwalte alles. Alle Entitäten stünden durch ihn in einem Verhältnis zueinander. Auch Anaxagoras nimmt an, dass Elemente sich mischen, wieder auseinandertre­ ten und so Neues hervorgeht. Die Elemente selbst gelten ihm als unveränderlich, unbewegt, ohne Anfang und ohne Ende. (Fragm. 4) Als Prinzip der Ordnung des

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1.3 Begriffe der Natur

den eines organisch Wachsenden«24 sowie die sich in diesem Wachs­ tumsprozess bildende Gestalt.25 Beide Sinndimensionen lassen sich schon bei Homer ausmachen.26 Von fðýsiV ist in seiner Odyssee einmal die Rede. Um der Gefahr zu entgehen, dass Odysseus durch Kirke in ein Schwein verwandelt wird, verabreicht ihm Hermes ein Kraut. Dort heißt es: »So sprach der Schirmende [Hermes], zog aus der Erde ein Pharmakon Gab es, und zeigte mir auch, wie es gewachsen.

Weltganzen führt er den Geist ein, der zusammensetzt und in Bewegung bringt: »Anaxagoras setzte als Prinzipien des Weltganzen den Geist und die Materie, den Geist als das tätige, die Materie als das werdende [Prinzip], denn wie [noch] alle [Stoffe] zusammen waren, trat der Geist an sie heran und ordnete sie.« (78 Hippolytos I 8,1 (aus Theophrast) = 59 A 42) Neben stofflichen Elementen kennt Anaxagoras also auch zweckgerichtete Elemente: Natur wird hier erstmals teleologisch erklärt. Und auch Pythagoras bringt gegenüber einer bloßen Fokussierung auf den Stoff als Prinzip der Weltordnung den Gedanken der Formprinzipien ins Spiel, bleibt somit nicht beim Sinnlich-Wahrnehmbaren ste­ hen: Ein Olivenfass könne aus diesem oder jenem Material sein, entscheidend sei die Gestalt. Durch Zahlenverhältnisse werden harmonische Beziehungen erzeugt: Wir können dies nachvollziehen, wenn wir an die Quarten, Quinten und Oktaven in musi­ kalischen Kompositionen denken, durch die sich eine Ordnung ergibt. Dieses Denken wird auch auf die Natur übertragen. »Natur ist erkannte Gestaltung, aufgedeckte Struktur.« (Kummer, C.: Philosophie der organischen Entwicklung, Stuttgart 1996, S. 42) Entscheidend sind für Pythagoras die Mischungsverhältnisse aus Stoff und Form. Es stellt sich eine Harmonie ein, wenn die richtige Mischung erreicht ist. »Philosophische Teleologie, wie sie erstmals bei Anaxagoras, dann aber vor allem bei Platon und Aristoteles auftritt, ist demgegenüber [der Erklärung mittels bloßer Mate­ rialursachen] etwas Zweites. Sie ist Reflexion auf das, was in diesem anfänglichen ›wissenschaftlichen‹ Denken verlorenging, und der Versuch, den entstandenen ›Phä­ nomenverlust‹ philosophisch wieder einzuholen. Teleologisch erklären heißt bei Pla­ ton und Aristoteles: etwas ›durch das Beste erklären‹, das heißt zeigen, daß etwas geschieht, weil es so am besten ist.« (Spaemann, R. / Löw, R.: Natürliche Ziele. Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, Stuttgart 2005, S. 21) Insofern das Denken der Vorsokratiker materialistisch und nicht teleologisch ist, gibt es manche Parallele zu heutigen Diskursen. (Vgl. ebd.) Aristoteles, so Spaemann, ginge es demgegenüber um eine »Rettung der Phänomene« (a. a. O., S. 22). 24 Vgl. Parmenides: Fragm. I, 28 B 10, 19 und Empedokles: Fragm. I, 31 B. 25 Vgl. Heraklit: Fragmente, griechisch / deutsch, hrsg. von B. Snell, München 14 2007, Fragm. B 1, 112, 123. 26 Vgl. Homer: Odyssee X, 303. Für Homer ist die Seele nicht ein Lebensprinzip. Er will sie vor allem als etwas verstehen, was abbildhaft auf die Abwesenheit eines Toten verweist. Auch Tiere haben seiner Ansicht nach am Leben teil. Gleichwohl spricht er nicht von einer Tier- und Pflanzenseele, wie später Aristoteles.

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1. Wachsen und Werden

Schwarz war die Wurzel, weiß wie Milch war die Blüte, die Götter Nennen es Moly.«27

In diesen wenigen Zeilen wird geschildert, dass Hermes ein Pflänz­ chen präsentiert und auch zeigt, wie es gewachsen ist. Es hat einen eigenen Duft, vermag sogar Fieber zu senken. Geschildert wird die schwarze Wurzel des Pharmakons wie auch die weiße Blütenpracht. Angesprochen ist der Werdeprozess eines Wachsenden. Der Wuchs, die Gestalt, sind die fðýsiV des Pflänzleins. Die Pflanze ist ein Gewachsenes, fuómenon. Homer wie auch Aischylos und Sophokles haben Natur im Sinne von 1.) Werden / Wachstum / Wuchs sowie 2.) Gestalt / Beschaffenheit / Wesen im Blick.28 Die Frage nach dem, was Natur, fýsiV, ausmacht, wurde im Laufe der Philosophiegeschichte immer wieder neu gestellt. Die Sophisten arbeiten Unterschiede des vom Menschen Gemachten zur Natur heraus: Sie heben fýsiV z. B. von nómoV, proaíresiV, jésiV und freilich técnh ab. Natur hat einen normativen Sinn. Besondere Wertschätzung wird dem zum Ausdruck gebracht, was von Natur aus ist. »Vivere secundum naturam«, heißt es bei den Stoikern. Hiermit ist eine Grundspannung menschlicher Existenz angesprochen: Der Mensch ist natürlichen Prozessen unterworfen, ja muss sich ihnen fügen und anpassen. Es gibt jedoch etwas, das den Menschen aus natürlichen Prozessen heraushebt, was seine Sonderstellung begrün­ det.29 Im Kontext der hippokratischen Heilkunst ist Natur eine norma­ tive Instanz, die hilft, dem Leben eine Richtung zu geben. Die Natur des Menschen wird gedacht als Wechselspiel verschiedener Kräfte, Säfte und Temperaturen. »Der Arzt hat sich dieser Natur als ein Steuermann zu bedienen […], der diesem labilen Fließgleichgewicht die Ökonomie, und damit Richtung und Ordnung verleiht. Als Diener der Physis wird er zum Meister des Nomos.«30 Homer: Odyssee X, 302–306. Vgl. Homer: Odyssee X, 303; Aischylos: Suppl. 496; Pers. 441; Cho 281; Ag: 633; Prom 488 ff.; Sophokles: Ant. 659. 727; Ai 1259. 1301. 29 Vgl. Forschner, M.: Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant, Darmstadt 1993, S. 46. 30 Schipperges, H.: Die Natur – Ein Leitbild für die Heilkunde?, in: Fuchs, G. (Hrsg.): Mensch und Natur. Auf der Suche nach der verlorenen Einheit, Frankfurt a. M. 1989, S. 51–80, hier S. 56. 27

28

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1.3 Begriffe der Natur

Platon will nicht nur etwas bedenken, sondern das, was dieses ausmacht: das Wesen. Das, was lebendig ist, zeichnet sich seiner Aus­ kunft nach durch Selbstbewegung aus.31 Das Prinzip des Lebendigen wird Seele genannt.32 Es sind seinem Dafürhalten nach die Ideen, welche als Zweck- und Exemplarursachen fungieren. Lebewesen sind für Platon nicht bloß eine Ansammlung von Materie, Biomasse, wie wir heute vielleicht sagen würden. Sie haben Ordnung, Struktur und Dauer und sind durch eine Einheit der Elemente charakterisiert. Das, was etwas zu dem macht, was es ist, nennt Platon fýsiV und greift damit einen Gedanken der Vorsokratiker auf. Auch die uns umgebende Natur, in die wir eingebettet sind, wird so genannt. Platon bezieht sich kritisch auf die Positionen der Vorsokratiker und nimmt gewissermaßen »zweite Fahrt« auf.33 Er geht nicht davon aus, dass ein Urstoff sich zu diesen oder jenen Körpern ausdifferen­ ziert hätte. Das Seiende sei vielmehr durch Formen und Zahlen gestaltet.34 »Zahlen sind in diesem Fall kein Mittel, um bereits vorge­ fundene Einheiten zu quantifizieren oder ihre räumliche Ausdehnung zu messen; als Strukturprinzipien ermöglichen sie die Gliederung des Urstoffs und damit, dass es überhaupt qualitativ unterscheidbare Einheiten gibt, die dann auch quantitativ zählbar sind.«35 Sein Fragen erschöpft sich nicht in den materiellen Prinzipien, die die Ionier ins Spiel gebracht hatten. Auch der universalteleologische noûV des Anaxagoras ist seine Antwort nicht. Ihm geht es um das Wesentliche von etwas, eÏdoV. Den Kosmos könne man mit einem Organismus vergleichen.36 Ähnlich wie sich in einem Organismus Geistiges und Materielles gegenseitig durchdringen, durchwirke der göttliche Logos den Kos­ mos. Platon geht es um die Idee jener lebendigen Ganzheit.37 Teile und Ganzes seien im Kosmos wie in einem Organismus aufeinander abgestimmt, würden zusammenspielen und sich in der Platon: Phaidros 245 c 7–8. Platon: Phaidon 105 c-d. 33 A. a. O., 99 d – 100 a. 34 Platon: Timaios 53 b. 35 Kather, R.: Die Wiederentdeckung der Natur. Naturphilosophie im Zeichen der öko­ logischen Krise, Darmstadt 2012, S. 22. 36 Platon: Timaios 30 c. 37 Hierzu: Gadamer, H.-G.: Idee und Wirklichkeit in Platons Timaios (1974), in: Gadamer, H. G.: Gesammelte Werke, Bd. 6, Tübingen 1999, S. 242–270; Gloy, K.: Studien zur Platonischen Naturphilosophie in Platons Timaios, Würzburg 1986. 31

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1. Wachsen und Werden

Beziehung auf das jeweils andere realisieren und so ihre eigentümli­ che Bestimmung erhalten. Der Kosmos ist geordnet. Für Platon ist er auch Bedingung für die verschiedenen Einzelseelen.38 Der Mensch wurzelt seiner Ansicht nach in dem, was zeitlos und unvergänglich ist; er sei ein »himmlisches Gewächs«: »Denn indem das Göttliche dort, wo die erste Entstehung der Seele sich vollzog, unser Haupt und unsere Wurzel befestigt, richtet es den ganzen Körper auf.«39 Für den Menschen gilt, dass die Vernunft in ihm wirksam sein soll. Im Hinblick auf den Kosmos formuliert: Seine seelischen Regungen solle der Mensch in Einklang mit der kosmi­ schen Ordnung zu bringen versuchen.40 »Insofern kann vernünftiges Leben bei Platon auch noch heißen, im Einklang mit den natürlichen Rhythmen [zu] leben.«41 Der Demiurg, von dem Platon im Timaios spricht, ist ein Bau­ meister. Er baut, dabei das Unvergängliche im Blick behaltend.42 Als Abbild des Ewigen wird Welt ins Dasein gesetzt. Aus ungeord­ neter Bewegung entsteht durch sein Wirken Ordnung.43 Maß und Proportion sind hier anzutreffen. Anders als die kosmogonischen Überlegungen seiner Vorgänger nimmt Platon nicht nur das Werden, sondern auch die Beständigkeit des Seienden in den Blick. Die Welt gehört nicht zu den Ideen, ist aber das Bestgeordnete und Schönste unter dem Werdenden.44 Das Schöne, so Platon, sei in der Idee des Schönen gegründet. Für die Ideen gilt nach Platon, dass man sie gewiss erkennen könne; anders verhielte es sich im Reich der Natur, wo nur eine Wahrscheinlichkeit erzielt werden könne.45

Platon: Gorgias 506 c – 508 a. Während das Leben des individuellen Organismus nach Platon in der Seele begründet liegt, des gesamten Kosmos in der Weltseele resp. der Tätigkeit des Demiurgen, nimmt Aristoteles hinsichtlich der Frage der Seelentätgkeit lediglich die konkreten Lebensäußerungen eines Organismus in den Blick. Mehr noch als Platon ist er an biologischen Überlegungen interessiert. 39 Platon: Timaios 90 a. 40 A. a. O., 42 e – 44 d. 41 Böhme, G.: Die Natur vor uns. Naturphilosophie in pragmatischer Hinsicht, BadenBaden 2002, S. 56. 42 Platon: Timaios 28 b. Zur Kritik des Stagiriten siehe: Aristoteles: Metaphysik I 9, 991 b 2–3. 43 Platon: Timaios 30 a. 44 A. a. O., 29 a. 45 A. a. O., 29 b ff., 54 a f. 38

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1.4 Gewachsenes versus Gemachtes

»Natur« erschöpft sich für Platon nicht in dem, was von den Sin­ nen wahrnehmbar, was betastbar und hörbar ist und den Augen offen­ steht, sondern auch formale, ideelle Vermögen gehören fest zu seiner Naturkonzeption. Natur: Das ist für Platon das konkrete Einzelding, das kein Machwerk des Menschen ist; es ist die Gesamtheit jener Einzeldinge und schließlich das intelligible Wesen der Entitäten. Es ist das, was wächst, sich entfaltet und wieder vergeht. Das, was Natur ist, erschließt sich im Nachvollzug jenes demiurgischen Hervorbrin­ gens. Der Kosmos ist nicht aus sich heraus, ist das Andere der Idee, wie wir sagen können. »Er ist geworden; denn er ist sichtbar und betastbar und im Besitz eines Körpers. Alles Derartige aber ist durch die Sinne wahrnehmbar; das durch die Sinne Wahrnehmbare aber, das durch Meinen in Verbindung mit Sinneswahrnehmung zu erfassen ist, erwies sich als Werdendes und Erzeugtes; von dem Gewordenen aber behaupten wir ferner, daß es notwendig aus einer Ursache hervorging.«46

Natur ist, was sie ist, durch die Idee. Die Welt ist vergänglich, wird einmal vergehen. Das gilt grund­ sätzlich auch für das Bauen und Konstruieren des Menschen, welches dem Verfall in der Zeit ausgesetzt ist.47 Ethisches Verhalten entsteht nicht aus jenem Konstruieren und Bauen des Menschen. Das Gute und Tugendhafte, so Platon, lässt sich nicht aus materiellen Bedin­ gungen deduzieren. Ein gelingendes Leben ist seiner Auskunft nach eines, das sich am Guten orientiert und von hierher versucht, mit den Machwerken und verschiedenen Gegebenheiten umzugehen, auf dass das Leben der Gemeinschaft gefördert wird.

1.4 Gewachsenes versus Gemachtes Um sagen zu können, was denn unter »Natur« zu verstehen ist, wurde im Laufe der Philosophiegeschichte das Gewachsene immer A. a. O., 28 b f. Natur wird in der Politeia in den Blick genommen in ihrer Beziehung zur staatlichen Verfassung. Parallelen zwischen der Naturordnung und der Ordnung im Staat werden versucht auszumachen. Platon entfaltet hier auch den Gedanken, dass das, was geworden ist, auch einmal ein Ende haben wird. Vgl. Platon: Politeia 546 a. 46 47

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1. Wachsen und Werden

wieder dem Gemachten gegenübergestellt: Zu denken ist etwa an eine Gegenüberstellung zur Technik, zu Kunst, Geschichte und Kultur.48 Dadurch erhoffte man sich, dass das, was mit Natur gemeint sein könnte, klarer werde. Greifbar ist diese Gegenüberstellung von Gewachsenem und Gemachtem bereits bei Aristoteles. Mit Natur meint der Stagirite alle natürlichen Seienden, ihr Wesen wie auch die den Wachstums- und Gestaltungsprozessen zugrundeliegenden Gesetze.49 Mit fýsiV ist ein Prozess gemeint. Das, was zur Natur gehört, hat seine Zielgestalt aus sich selbst. Seine Lehre von den vier Ursachen ist ihm hilfreich, um die Überlegungen seiner Vorgänger zu rekonstruieren und einen eigenen Vorschlag zu erarbeiten. So war vor ihm bereits einerseits von materiellen Ursachen die Rede, andererseits schon von Bewegungsund Formalursachen. Aristoteles nun legt eine Synthesis vor, einen zweiten Anfang der Philosophie, der eine dynamische Verbindung zwischen Besonderem und Allgemeinem begründet und am Vorbild des Wachstums von Organismen orientiert ist. Mit Nachdruck spricht er sich dafür aus, die Betrachtung des Natürlichen hochzuschätzen.50 In allem Natürlichen, so Aristoteles,

48 Auf diese Kontrastierung wurde mehrfach hingewiesen: Vgl. Baumgartner, H. M.: Metaphysik der Natur. Natur aus der Perspektive spekulativer und kritischer Philo­ sophie, in: Honnefelder, L. (Hrsg.): Natur als Gegenstand der Wissenschaften, Frei­ burg / München 1992, S. 237–266, bes. S. 244 ff.; Heidegger, M.: Vom Wesen und Begriff der φύσις, Aristoteles, Physik B, 1, in: Heidegger, M.: Wegmarken, Frankfurt a. M. 2013, S. 239–301, hier S. 239; Köchy, K.: Konstruierte Natur? Eine Fallstudie zur Synthetischen Biologie, in: Hartung, G. / Kirchhoff, T. (Hrsg.): Welche Natur brauchen wir? Analyse einer anthropologischen Grundproblematik des 21. Jahrhun­ derts, Freiburg / München 2014, S. 299–316, hier S. 299. In der vorliegenden Arbeit wird mit dem Begriff »Gemachtes« insbesondere das technisch / biotechnologisch Hergestellte gemeint sein. »Gewachsenes« steht für das, was von Natur aus ist. 49 Aristoteles: Metaphysik I 3, 984 b 9; I 6, 987 b 2; Aristoteles: Physik I 6, 189 a 27. 50 Vgl. Aristoteles: De partibus animalium I 5, 645 a 7–15. Ka˜ gàr Ên toîV m# kecðarismænoiV aütvn pròV t#n aÍsjðhsin katà t#n jðewrían äómwV äh dhmiourg®sasa fðýsiV ÂmhcðánouV ähdonàV paræcðei toîV dynamænoiV tàV aÎt™aV gnwrízein ka˜ fðýsei fðilosófðoiV. Ka˜ gàr Àn eÍh parálogon ka˜ Átopon, eÎ tàV mån eÎkónaV aütvn jðewroûnteV cðaíromen äóti t#n dhmiourg®sasan tæcðnhn synjðewroûmen, oëon t#n grafðik#n Ë t#n plastik®n, aütvn då tvn fðýsei synestõtwn m# mâllon ÂgapÖmen t#n jðewrían, dynámeno™ ge tàV aÎt™aV kajðorân.

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1.4 Gewachsenes versus Gemachtes

will er etwas Wunderbares ausmachen können.51 Es lässt uns staunen, sofern wir nicht völlig abgestumpft sind. Von der fúsiV eines natürlichen Dinges kann man sprechen, um das zu bezeichnen, was eine natürliche Entität zu dem macht, was sie ist. Die fúsiV eines Baumes macht ihn zu einem bestimmten Baum: Der erwähnte Baum im Garten ist eine Eiche. Das, was die Eiche zu einer Eiche macht, ist nicht dasselbe, was ein Eichhörnchen zu einem Eichhörnchen macht. Natur, so die Auskunft des Stagiriten, habe das Prinzip seiner Bewegung und Ruhe in sich. Als selbst Bewegender gehört der Baum im Garten zur Natur.52 Über den Stamm unseres Baumes können wir sagen: »Als Holz ist es gewachsener Baumstamm; dieser hat die αρχή κινήσεως in ihm selbst.«53 Angenommen, der Stamm des geschilderten künstlichen Baumes sei nicht aus Plastik, sondern aus Holz. Er wäre »nicht Holz, sondern nur hölzern, aus Holz; und nur was ein Anderes ist als Holz kann hölzern sein; weshalb wir niemals einen Baumstamm als hölzern ansprechen; wohl dagegen einen Apfel als ›holzig‹ und das Benehmen eines Menschen als ›hölzern‹.«54 Im Hinblick auf den Baum in unserem Garten dürfen wir festhalten: »[D]as Holz ist das Gewachsene eines Gewächses.«55 Im Hinblick auf die geschilderten künstlichen Bäume würde Aristoteles sagen, dass diese kein Prinzip der Bewegung, keinen 51 Aristoteles: De partibus animalium I 5, 645 a 16 f. )En pâsi gàr toîV fðysikoîV Énest™ ti jðaumastón. 52 Bewegung ist ein Grundphänomen der Natur: das Prozesshafte, das, was sich verändert. Es gibt ganz unterschiedliche Veränderungen in der Natur: solche, die die Quantität, die Qualität oder auch den Ortswechsel betreffen. (Physik III 1) Ersteres haben wir z. B. im Falle von Wachstum und Schwinden vorliegen. Auch ein Beispiel für eine qualitative Veränderung ist schnell genannt: Denken wir z. B. an den Reifungsprozess einer Frucht, die zunächst noch grün, dann rot ist. Aristoteles denkt freilich auch über substantielle Veränderungen und Wesensveränderungen nach: das Entstehen und Vergehen. Hier spricht man nicht von Prozess, sondern von metabol®, Umschlag. Bewegung ist Ausdruck des Lebendigen. Es geht dabei keineswegs nur um Ortsbe­ wegung, sondern um Lebensdynamik. Heidegger formuliert den aristotelischen Gedanken folgendermaßen: »Pflanzen und Tiere sind in der Bewegtheit, und zwar auch dann, wenn sie stillstehen und ruhen; Ruhe ist eine Art der Bewegung; nur das Bewegliche kann ruhen.« (Heidegger, M.: Vom Wesen und Begriff der φύσις, Aristo­ teles, Physik B, 1, in: Heidegger, M.: Wegmarken, Frankfurt a. M. 2013, S. 239–301, hier S. 247). 53 A. a. O., S. 253. 54 Ebd. 55 A. a. O., S. 254.

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1. Wachsen und Werden

»innewohnenden Drang zur Veränderung«56, in sich haben. Sie sind von Menschen erdacht und gemacht, Artefakte. Grandios angefertigt, »echten« Bäumen zum Verwechseln ähnlich, aber letztlich »auf Grund anderer Ursachen«57 da. Sie sind nicht einfach vom Himmel gefallen, Zufallsprodukte. Ihnen wurde von einfallsreichen Menschen eine bestimmte Gestalt gegeben. Ein Konstrukteur ist die Ursache, die dem Plastikbaum, d. h. dem Material, äußerlich ist.58 Unser Plastikbaum hat keinen Trieb zur Veränderung, den er von sich aus mitbringt. Ganz anders würde sein Urteil über jene Bäume ausfallen, die wir draußen im Wald oder in dem von mir schon geschilderten Garten beobachten können. Diese wurden nicht von uns erdacht und konstruiert.59 Der Bewegungsursprung (ebenso wie der Ursprung von Stillstand) liegt in diesen selbst, nicht woanders.60 Er kommt diesen auch nicht nur beiläufig zu, sondern gehört zu ihrem Wesen.61

Aristoteles: Physik II 1, 192 b 20. Im ersten Buch der Physik widmet sich der Stagirite den Prinzipien, welche den wer­ denden Entitäten zugrunde liegen. Im zweiten Buch konzentriert er sich auf die Frage, was Natur als solche ist. Es gibt Entitäten von Natur aus. Und es gibt solche, die auf andere Ursachen zurückgehen. (Physik 192 b 8 f.) Das Natürliche, i. e. das, was von Natur aus ist, und das, was Nicht-Natürlich ist, was eben nicht von Natur aus ist, gehen auf andere Ursachen zurück. Im ersten Buch ist das im Blick, »woraus Natur besteht«, während das zweite die Frage fokussiert, »was seinerseits aus Natur bzw. durch die Natur besteht« (Wieland, W.: Die aristotelische Physik, Göttingen 31992, S. 233). 57 Aristoteles: Physik II 1, 192 b 8 ff. 58 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik VI 4, 1140 a 10–16 und Metaphysik XII 3, 1070 a 4–9. 59 An diese Dimension von Natur erinnert auch Merleau-Ponty: Natur ist das, »was einen Sinn hat, ohne daß dieser Sinn vom Denken gesetzt wurde. Es ist die Selbst­ hervorbringung eines Sinnes. Die Natur unterscheidet sich also von einem einfachen Ding; sie hat ein Inneres, bestimmt sich von Innen heraus […].« (Merleau-Ponty, M.: Die Natur. Aufzeichnung von Vorlesungen am Collège de France 1956–1960, München 2000, S. 19 f.). 60 Aristoteles spricht von Ursachen und differenziert dabei, ob diese auf externe oder interne Faktoren zurückgehen. Für den Plastikbaum gilt, dass er fremdursächlich ist. Seine ἀρχή ist die τέχνη. Die ἀρχή ist außerhalb. Das Gewachsene wächst von innen her, aus sich heraus. Die ἀρχή bestimmt von innen den Entwicklungsgang. Das Gemachte wird von außen bewirkt. Das Gemachte hat weder Wirkursache noch Zweck in sich. Sie liegen in ihrem Hersteller: dem Menschen. Beim Gewachsenen liegen Was und Wozu in diesem selbst. Es trägt das Ziel in sich, hat seine ἐντελέχεια in sich. Aristoteles: Metaphysik I 3, 984 b 9; I 6, 987 b 2; Aristoteles: Physik I 6, 189 a 27. 61 Aristoteles: Physik II 1, 192 b 21 f. 56

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1.4 Gewachsenes versus Gemachtes

Der Ursprung alles Gemachten ist selbst nichts Gemachtes, sondern von Natur aus. Die Plastikbäume fallen ja nicht vom Himmel, die Materialien dafür sind vom Menschen nicht aus dem Nichts geschaffen worden, sondern der Mensch hat hier auf verschiedene Rohstoffe zurückgegriffen, die er be- und verarbeitet hat. Es gäbe wohl jene Plastikbäume nicht, wenn es echte Bäume nicht gäbe. Vom Plastikbaum haben wir ein vollumfängliches Wissen, wie er entstanden ist, was bei einem natürlichen Baum anders ist. Wir sagten, die Plastikbäume würden natürlichen Bäumen zum Verwechseln ähneln. Die Hersteller dieser ganz besonderen Bäume haben die Absicht verfolgt, sie so natürlich aussehen zu lassen wie ein natürlich gewachsener Baum. Wir könnten uns sogar vorstellen, dass der Hersteller den Ehrgeiz hatte, seine Plastikbäume noch perfekter zu machen, als natürliche Bäume es sind. Sein Orientierungspunkt hierfür bliebe dabei das Gewachsene, die Natur. Gleichwohl ist er nur dem Anschein nach ein Lebewesen.62 Ein Plastikbaum weist keine Lebensvollzüge auf (dunámeiV t²V q»ycð²V). Ein Baum wäre nur dem Namen nach ein Baum, erfüllte er diese Funktionen nicht. Das Sein unseres Baumes im Garten ist dynamischer Lebensvollzug. Das kann man von seinem Plastik-Kollegen nun wahrlich nicht behaupten. Anders als dieser strebt der natürliche Baum danach, am Leben zu sein. Angenommen, unser Baum wird gefällt und zu einem Schreib­ tisch, einem Bett oder Schrank verarbeitet. Die Gestalt des jeweiligen Holzerzeugnisses ist eine auf den Menschen zurückgehende Bildung, eine durch ihn bewirkte (Kunst-)Form. Um die genannten Gegen­ stände zu schaffen, bedarf es gewisser Voraussetzungen wie etwa des Stoffes. Durch menschliche Intervention kommt es zu einer Umge­ staltung.63 62 Auf die Frage, ob Pflanzen ebenfalls Lebewesen sind, haben Zeitgenossen von Aristoteles ganz unterschiedliche Antworten gegeben. Eine einheitliche Linie gab es hier nicht. Aristoteles löst die Frage so, dass er von Tieren (zÖa) und von belebten Entitäten (zÖnta) spricht, wobei letzterer Terminus umfassender ist und Pflanzen wie Tiere, zu denen auch der Mensch zählt, umfasst. Noch für Kant sind Pflanzen emp­ findungslos und nicht fähig, sich aktiv zu bewegen – was typisch für Lebewesen ist. Ihnen fehlen seiner Ansicht nach Begehrungsvermögen und Vorstellungskraft. (Vgl. Kant, I.: Kritik der praktischen Vernunft, in: AA Bd. V, S. 9 f.). 63 Gehen wir einmal davon aus, dass das gezimmerte Bett nicht mehr gefällt, weshalb man es im Erdreich »verschwinden« lässt. (Gleiches gilt auch für den Schreibtisch oder den Schrank) Es würde jedoch, so Aristoteles, nicht wieder ein Bett hervorbringen, wohl aber Holz, aus dem dieses gezimmert wurde, freilich auch nur dann, wenn es

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1. Wachsen und Werden

Bei der Herstellung des Plastikbaums ist eines zum anderen gekommen. Die notwendigen Arbeitsvorgänge waren also addi­ tiv. Aus verschiedenen Komponenten ist schließlich etwas Neues gemacht worden. Beim Plastikbaum hängt die Identität von jener Funktion ab, die der Macher ihm zuschreibt. Das Wachsen des Baumes wie das Wachsen überhaupt hat eine zeitliche Dimension. Er verändert sich z. B. im Laufe der Jahreszeiten, legt an Masse zu. In diesem Prozess des Lebendigen kommt das Wesen des Lebendigen zur Entfaltung. Etwas wächst und gedeiht, sagen wir. Alles geschieht fließend.64 Der Baum macht viele Verände­ rungen durch und bleibt dabei mit sich selbst identisch. Um ein Lebewesen als Lebewesen ausweisen zu können, muss es nach Aristoteles mindestens eine der Lebensäußerungen aufweisen: Vernunft, Wahrnehmung, örtliche Bewegung, Bewegung der Ernäh­ rung, Wachstum und Schwinden.65 Es zeichnet natürliche Bäume aus, dass sie sich entwickeln und entfalten können. Sie wachsen in die Höhe. Nicht nur Plastikbäume können dies nicht, sondern, wie wir heute wissen, auch Bakterien sind dazu nicht in der Lage: Es gibt verschiedene Teilungsprozesse, sie wachsen aber nicht.66 Der Baum im Garten kann sich mit nach­ haltigem Erfolg fortpflanzen67 – und überleben. »Oder etwas kann bewegt sein in der Weise des Verkümmerns, zugleich aber noch in noch irgendwie »arbeitet«. Ebenso wenig wie unser Plastikbaum hat auch ein Bett, insofern es ein Bett ist, keinen inneren Bewegungsursprung, wohl aber, wenn wir berücksichtigen, dass es aus Holz gefertigt ist. Insofern es zum Bereich des Gemachten gehört, weist es keine Bewegungen auf. 64 In diesem Sinne versteht schon Parmenides Wachsen als einen Prozess des Übergehens von einem Zustand in einen anderen. Demnach wachsen die Dinge der Welt, verdichten sich (vgl. Fragm. 19,2). 65 Weiter heißt es: diò ka˜ tà fðyómena pánta dokeî z²n: fðaínetai gàr Ên aütoîV Écðonta dýnamin ka˜ Ârcð#n toiaúthn, di) ä³V aÚxhsín te ka˜ fðjð™sin lambánousi katà toùV Ênant™ouV tópouV: oü gàr Ánw mån aÚxetai, kátw d) oÚ, Âll) äomo™wV Êp) Ámfðw ka˜ pántÑ, äósa Âe˜ træfðeta™ te ka˜ z‰ dià tælouV, äéwV Àn dýnhtai lambánein trofð®n. cðwrízesjðai då toûto mån tvn Állwn dynatón, tà d) Álla toútou Âdýnaton Ên toîV jðnhtoîV. fðaneròn d) Êp˜ tvn fðyomænwn: oüdemía gàr aütoîV äypárcðei dýnamiV Állh q»ycð²V. (Aristoteles: De anima II 2, 413 a 25 ff.). 66 Bakterien bestehen nicht wie andere Lebewesen aus vielen, sondern nur aus einer Zelle. Sie haben weder Nervensystem noch Gehirn. 67 Aus einem Menschen wird ein Mensch, aus einem Apfelbaum wieder ein Apfel­ baum, aus einem Plastikbaum jedoch nicht wieder ein Plastikbaum. Vgl. Aristoteles: De Generatione et Corruptione 333 b; De anima II 4, 415 a 25 ff.

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1.4 Gewachsenes versus Gemachtes

der anderen Weise sich bewegen, nämlich der des Anderswerdens: am verdorrenden Baum welken die Blätter, das Grün wird zu Gelb. Das so zweifach Bewegte […] ruht zugleich als der dort stehende Baum.«68 Wachstum ist Bewegung. Es erfolgt eine Bewegung von A nach B. Wachstum und Ernährung / Stoffwechsel gehören zusam­ men. Das Ernährungsvermögen bzw. die Fähigkeit Stoffwechsel zu betreiben, können ohne andere Lebensäußerungen vorkommen. Pflanzen kommt nach Aristoteles lediglich das Nährvermögen zu. Unser Baum ist vor einiger Zeit einmal entstanden und dann gewachsen. Und insofern hatte er auch die Möglichkeit – aristotelisch: die Potentialität – nachzuwachsen. Er kann sich – z. B. nach Sturm­ schäden – regenerieren.69 Oder wenn ein Tier ein Blatt frisst oder ein Kind dieses mutwillig oder beim Klettern im Baum zerstört, besteht die Möglichkeit, dass es nachwächst. Dieses Vermögen verbindet unseren Baum z. B. mit einem Wurm,70 unterscheidet ihn aber von Artefakten wie Plastikbäumen. Bäume, Würmer und auch wir Men­ schen sind Subjekte von Lebensprozessen, Plastikbäume nicht.71

Heidegger, M.: Vom Wesen und Begriff der φύσις, Aristoteles, Physik B, 1, in: Heidegger, M.: Wegmarken, Frankfurt a. M. 2013, S. 239–301, hier S. 249. 69 »Die Grenze zwischen Regeneration und Wachstum ist fließend, denn natürlich wächst eine sich regenerierende Pflanze; allerdings nur bis zu ihrem ursprünglichen Status quo, wohingegen permanent wachsende Pflanzen bis zu ihrem Tode wachsen, d. h. an Biomasse zunehmen (wenn auch mit sich vermindernder Wachstumsrate). Sie sind langlebig. Dieses ›permanente Wachsen‹ ist das engere Verständnis von Nach­ wachsen, da dieses fortwährende Wachsen in der Pflanze selbst begründet liegt und nicht der Mensch durch sein Eingreifen dazu beiträgt.« (Karafyllis, N. C.: Nachwach­ sende Rohstoffe. Technikbewertung zwischen den Leitbildern Wachstum und Nachhal­ tigkeit, Opladen 2000, S. 105 f.). 70 Sogar wenn ein Wurm versehentlich durch eine Gartenharke durchgerissen wird, können seine Wunden heilen. »[A]m Wundverschluß entsteht nicht nur eine neue Mundöffnung mit all ihren Muskeln und Drüsen, es entsteht auch ein Gehirn. Ein völlig neues Gehirn, ein neues Führungsorgan. Nun wissen wir auch, wer da Meister ist: der Wurmkörper baut sich selber sein Führungsorgan, es ist die oberste Instanz und erbaut sich sein Gehirn zum Dienst am Ganzen.« (Portmann, A.: Alles fließt. Wege des Lebendigen, Freiburg 1967, S. 33). 71 »Wachsen hat eine Richtung. Verliert es diese Richtung, entstehen entartete Zellen, die auf Dauer zum Tod des Organismus führen.« (Beck, M.: Mensch-Tier-Wesen. Zur ethischen Problematik von Hybriden, Chimären, Parthenoten, Paderborn / Mün­ chen / Wien / Zürich 2009, S. 211). 68

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1. Wachsen und Werden

1.5 Aristotelisch verfasste Lebenswelt In unserem alltäglichen Leben setzen wir die Differenz von Gewachse­ nem und Gemachtem ganz selbstredend voraus. Sie scheint plausibel zu sein und unser Verhältnis zu uns selbst, zu unseresgleichen und zur Natur zu betreffen. »Unsere Lebenswelt ist in gewissem Sinne ›aristo­ telisch‹ verfasst«72, wie Habermas schreibt. »Im Alltag unterscheiden wir ohne großes Nachdenken die anorganische von der organischen Natur, Pflanzen von Tieren, und die animalische Natur wiederum von der vernünftig-sozialen Natur des Menschen.«73 Ein Vorteil dieser Unterscheidung kann darin ausgemacht werden, dass wir uns so besser orientieren können.74 72 Habermas, J.: Das Gewachsene und das Gemachte, in: Schöne-Seifert, B. / Talbot, D. (Hrsg.): Enhancement. Die ethische Debatte, Paderborn 2009, S. 297–304, hier S. 297. 73 Ebd. Diese Auffassung scheint auch gestützt zu werden, wenn wir uns das Lemma »Natur« in verschiedenen lexikalischen Werken ansehen. Im Brockhaus wird Natur definiert als »zentraler Begriff der europ. Geistesgeschichte, im Sinne von dem, was wesens­ gemäß von selbst da ist« (Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden, Bd. 15, Mannheim 191991, S. 372–374, hier S. 372). Das große Welt Lexikon erläutert Natur ganz ähnlich als »Teil der Welt, dessen Zustandekommen und Erscheinungsform unabhängig vom Eingreifen des Menschen verstanden werden« kann. (Das große Welt Lexikon in 21 Bänden, Bd. 13, Berlin 2008, S. 317 f., hier S. 317) Im Duden wird unter Natur in diesem Sinne alles verstanden, »was an organischen u. anorganischen Erscheinungen ohne Zutun des Menschen existiert oder sich entwickelt« (Duden: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden, Bd. 6, Mannheim / Leip­ zig / Wien / Zürich 31999, S. 2707). In Meyers Enzyklopädischem Lexikon wird unter dem Lemma »Natur« ebenfalls betont, dass diese jener »Teil der Welt [ist], dessen Zustandekommen und gesetzmäßige Erscheinungsform unabhängig vom Eingreifen des Menschen ist bzw. gedacht werden kann« (Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden, Bd. 16, Mannheim 91976, S. 808 f., hier S. 808). Im Oxford English Dictionary wird der Gegensatz zum Künstlichen angesprochen. (The Oxford English Dictionary, Vol. VII, Oxford 1970, S. 41 f., hier S. 42) In The New Encyclopedia Britannica, Chicago 15 1985 sowie in The Australian Encyclopedia, Sydney 31979 und in The Encyclopedia Americana. International Edition. Complete in thirty Volumes, Danbury / Connecticut 1982, gibt es zwar bezeichnenderweise jeweils einen Eintrag zum Naturalismus, aber keinen zur Natur. Wenn Natur die ganze Wirklichkeit sein soll, wie der Naturalismus postuliert, sollte doch zumindest erläutert werden, was unter Natur verstanden wird. 74 Habermas weist ganz richtig darauf hin, dass Aristoteles ganz unterschiedliche Einstellungen zur Natur voneinander abhebt: Zum einen kennt Aristoteles eine theo­ retische Einstellung zur Natur. Eigene Präferenzen werden nicht weiter in die Waag­ schale gelegt, sondern es geht darum, möglichst interesselos die Natur zu betrachten. Aristoteles kennt freilich auch eine technische Einstellung. Damit ist eine solche

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1.5 Aristotelisch verfasste Lebenswelt

In der Literatur findet sich auch der Hinweis, dass die klare Unterscheidung, die Aristoteles vor knapp 2.500 Jahren getroffen hat, heute nicht mehr so einfach sei: Wir könnten nicht mehr im selben Sinne von Natur sprechen wie der Stagirite. Angelika Krebs hält die­ sen Einwand insofern für bedeutsam, als dadurch deutlich werde, dass Natur nicht einfach »rohe« und »wilde« Natur sei, sondern immer schon vom Menschen geformte, kulturell bearbeitete, gepflegte und gehütete Natur ist, was wir ja schon bei unserem gedanklichen Besuch im Garten festgehalten haben. »Der Einwand spricht nicht gegen die [aristotelische] Definition, da menschlich überformte Natur dennoch nicht etwas vom Menschen Gemachtes, sondern eben nur etwas von ihm Überformtes ist.«75 Krebs veranschaulicht dies an folgendem Bei­ spiel: »Den Schwarzwald haben Menschen zwar angelegt, aber nicht gemacht, die Altstadt von Freiburg hingegen haben sie gemacht.«76 Günter Ropohl verweist auf ein reziprokes Verhältnis des Gewachsenen und Gemachten: Technik sei stets auf Natur angewie­ sen, habe Anteil an ihr. Das, was gemacht ist, sei nämlich aus Naturbeständen zuwege gebracht. Unvollkommen sei das Gemachte unter anderem auch, weil ihm eine »ökologische Einbettung« fehle.77 Andererseits könne nur mit Hilfe der Technik der Fortbestand einer weitgehend technisierten Natur bewahrt werden.78 Die »Welt des Gegebenen« sei im Wandel in eine »Welt des Gemachten«, wie er konstatiert.79 In seiner Arbeit Natur, Technik, Geist arbeitet Gregor Schiemann die bleibende lebensweltliche Relevanz des aristotelischen Naturver­ ständnisses wie jenes Naturverständnisses der frühen Neuzeit, für das bei ihm paradigmatisch das von Descartes steht, heraus. Gerade auch im 21. Jahrhundert würden wir davon ausgehen, dass die Welt aus gemeint, die es darauf absieht, etwas hervorzubringen bzw. in den Lauf der Natur einzugreifen. Schließlich auch eine praktische Einstellung des klugen, tugendhaften Handelns in Personenverbänden. (Vgl. Habermas, J.: Das Gewachsene und das Gemachte, in: Schöne-Seifert, B. / Talbot, D. (Hrsg.): Enhancement. Die ethische Debatte, Paderborn 2009, S. 297–304, hier S. 297). 75 Krebs, A.: Naturethik im Überblick, in: Krebs, A. (Hrsg.): Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion, Frankfurt a. M. 1997, S. 337–379, hier S. 340. 76 Ebd. 77 Vgl. Ropohl, G.: Technologische Aufklärung. Beiträge zur Technikphilosophie, Frank­ furt a. M. 21999, S. 68. 78 Vgl. a. a. O., S. 51–71. 79 A. a. O., S. 20.

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1. Wachsen und Werden

Natur – Gewachsenem – und andererseits Nichtnatur – Gemachtem – besteht. Schiemann verweist auch auf eine damit zusammenhän­ gende ethische Dimension: »Wer sich gegenüber Natur oder Nichtna­ tur in spezifischer Weise verhalten will, muß wissen, welche Gegen­ stände von seinem Verhalten betroffen sein werden. Umgekehrt ergeben sich bestimmte Handlungsabsichten erst aus einer Kenntnis über die Struktur eines Wirklichkeitsbereiches.«80 Weiterführend ist Schiemanns folgende Überlegung: »Wo sich neue Phänomene aus Natur und Nichtnatur bilden oder gebildet haben, können sie oftmals – und müssen vielleicht auch – mit den herkömmlichen Begriffen thematisiert werden.«81 Oliver Müller macht zu Recht darauf aufmerksam, dass Technik in vielen Bereichen einen Zugang zur Natur ermögliche.82 Insofern das Technische ganz konkret zum Menschen, »zur menschlichen Selbstentfaltung«83, gehöre, der Mensch Techniker sei, sei auch die Gegenüberstellung von Natur und Technik »problematisch«84. Die Unterscheidung von Gewachsenem und Gemachtem hätte zwar eine gewisse intuitive Plausibilität; überzeugend sei sie aber für ihn den­ noch nicht, da seiner Ansicht nach erst vom Gemachten her das Gewachsene überhaupt bestimmt werden könne.85 Freilich ist es richtig, dass sich der Mensch technisch verwirklicht und seine Welt technisch erschließt, was ich noch näher entfalten werde. Während der Biber jedoch »nur« Dämme und die Spinne »nur« Netze bauen kann, hat der Mensch, der ja nicht mit Werkzeugen geboren wird, sondern diese herstellt, durchaus verschiedene Optionen und kann sich von der Technik und seinen Erzeugnissen distanzieren. Der Mensch geht nicht darin auf, Technik zu haben. Eine ausschließliche Orientierung an der Technik wie auch an den eigenen Bedürfnissen, die durch eine technische Nutzbarmachung der Natur befriedigt werden sollen, verstellt den Blick auf den eigentlichen Charakter der Natur. Es stellt sich auch die Frage, was letztlich das ausmacht, was wir die 80 Schiemann, G.: Natur, Technik, Geist. Kontexte der Natur nach Aristoteles und Des­ cartes in lebensweltlicher und subjektiver Erfahrung, Berlin / New York 2005, S. 425. 81 A. a. O., S. 3. 82 Vgl. Müller, O.: Selbst, Welt und Technik. Eine anthropologische, geistesgeschichtli­ che und ethische Untersuchung, Berlin / Boston 2014, S. 24. 83 A. a. O., S. 25. 84 Ebd. 85 Vgl. Müller, O.: Zwischen Mensch und Maschine. Vom Glück und Unglück des Homo faber, Berlin 2010, S. 68.

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1.5 Aristotelisch verfasste Lebenswelt

Unverfügbarkeit des Menschen nennen: Haben wir es hier auch mit einem durch und durch technischen Bereich zu tun? Und noch einmal anders: Wenn alles nur noch Technik ist, wird der Begriff dann nicht letztlich leer und funktionslos? Problematisch ist es jedenfalls, wenn die Natur selbst kein phi­ losophisches Problem mehr zu sein scheint. Richtig weist Müller auf die Ambivalenz des Naturbegriffs hin und darauf, dass man sie »nicht allein« als Gegenüber zur Technik sehen könne.86 Er zitiert Blumenberg, der darauf hinweist, dass Natur nicht nur das passive Material für den Techniker sei, sondern diese auch »wie ein Schrei nach dem Zügel und Zaum des Menschen ist, nach seinen Wegen und Brücken, nach seinen Greifern und Raumgeräten, nach seinen Spielzeugen und nach seiner Konsumlust«87. Hier klingt eine »aktive« Seite der Natur an, die eben nicht nur Feld menschlicher Bearbeitung und Technisierung ist – eine Dynamik und Lebendigkeit, die im Zuge neuzeitlicher Naturwissenschaften aus dem Blick geraten ist, und die es lohnt, wiederentdeckt zu werden – gerade auch, um zentrale Probleme heutiger Technisierungsprozesse besser einordnen und verstehen zu können. Gerade in der Spannung von Gewachsenem und Gemachtem, Herstellbarkeit und Vorgefundenheit, kann deutlich werden, was hiermit gemeint ist.

Vgl. Müller, O.: Natur und Technik als falsche Antithese. Die Technikphilosophie Hans Blumenbergs und die Struktur der Technisierung, in: Philosophisches Jahrbuch, 115. Jahrgang / I (2008), S. 99–124, hier S. 114. 87 Blumenberg, H.: Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomeno­ logie, in: Blumenberg, H.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und Reden, Stuttgart 1981, S. 7–54, hier S. 7 f. Zit. nach: Müller, O.: Natur und Technik als falsche Antithese. Die Technikphilosophie Hans Blumenbergs und die Struktur der Techni­ sierung, in: Philosophisches Jahrbuch 115. Jahrgang / I (2008), S. 99–124, hier S. 114. 86

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2. Das Phänomen des Lebendigen

2.1 Vom Unbelebten zum Lebendigen 2.1.1 Facetten des Lebens Die Frage danach, was Leben ist und in seinem Kern ausmacht, ist nicht erst eine Frage des 21. Jahrhunderts.88 Zu allen Zeiten und kulturübergreifend haben Menschen darüber nachgedacht. Im Alltag sind wir uns in den allermeisten Fällen sicher, ob wir es mit etwas Lebendigem zu tun haben oder nicht. Wenn nicht, behelfen wir uns, indem wir z. B. an einer künstlichen Blume schnuppern oder einen Plastikbaum ertasten. Leben hat viele Facetten. Oder um es mit Craig Venter, dessen Arbeiten uns im zweiten Gang noch näher beschäftigen werden, zu sagen, wirft die Frage danach, was Leben ist, »ein ganzes Universum von Fragen auf, die alles andere als einfach sind«89. Wir dürfen freilich nicht den Fehler machen, menschliches Leben mit Selbstbewusstsein gleichzusetzen. Das führt nicht weiter. Warum dies so ist, sehen wir, wenn wir an Phasen des Lebens denken, in denen wir eben nicht bei Bewusstsein sind: z. B. wenn wir während einer Operation narkotisiert sind oder einfach einen tiefen Schlaf genie­ ßen oder aber unser Bewusstsein durch eine Ohnmacht verlieren. 88 Im 19. und 20. Jahrhundert erfährt der Begriff besondere Aufmerksamkeit. Zu denken wäre etwa an die »Lebensphilosophie«, den »Vitalismus«, die Phänomenolo­ gie Husserls wie auch den Pragmatismus. Hierzu: Seebohm, T.: Leben von Innen und Außen, in: Marx, W. (Hrsg.): Die Struktur lebendiger Systeme. Zu ihrer wissenschaft­ lichen und philosophischen Bestimmung, Frankfurt a. M. 1991, S. 79–104; zum philo­ sophischen Lebensbegriff sei zudem auf folgende Arbeiten besonders verwie­ sen: Fuchs, M.: Leben, in: Sturma, D. / Heinrichs, B. (Hrsg.): Handbuch Bioethik, Stuttgart / Weimar 2015, S. 91–97; Kather, R.: Was ist Leben? Philosophische Posi­ tionen und Perspektiven, Darmstadt 2003; Simon, J.: Leben, in: Krings, H. / Baum­ gartner, H. M. / Wild, C. (Hrsg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Bd. II, München 1973, S. 844–859. 89 Venter, J. C.: Leben aus dem Labor. Von der Doppelhelix zum künstlichen Organis­ mus, Frankfurt a. M. 2014, S. 7.

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2. Das Phänomen des Lebendigen

Das Leben kann weitergehen, während unsere Bewusstseinsprozesse unterbrochen werden können. Wenn wir von »Leben« sprechen, haben wir dabei zum einen die jeweiligen konkreten Individuen im Blick, deren Sein Leben ist. Mit »Leben« bezeichnen wir die Gesamtheit der Lebensäußerungen eines Organismus. Auch eine Verwendung als Mengenbegriff ist üblich: z. B., um eine Gruppe von Organismen zu benennen. Nicht unüblich ist eine Verwendung zudem im Hinblick auf die Gesamtheit aller Organismen in der gesamten Entwicklungsgeschichte des Lebendigen seit dem ersten Auftreten von Organismen. Auch alle Lebewesen, die einmal nach uns kommen werden, werden manchmal dazugezählt. Wir meinen damit also auch den »Strom des Lebens«, in dem eben jene Einzelnen genealogisch verbunden sind. Von Lebewesen sagen wir, dass sie sich selbst erhalten können. Gleichzeitig gehört aber auch die stetige Veränderung, ihre Dynamik, ihr Wandel zu ihnen. Lebendige Wesen zeichnen sich durch Selbstorganisation aus, ein Gedanke, den Aristoteles wie Kant stark machen. Das Leben hat unglaublich viele Formen hervorgebracht. Gera­ dezu atemberaubend! Denken wir z. B. einmal an einen Blauwal (Balaenoptera musculus). Er kann um die 30 m lang werden – und ist damit das größte auf Erden lebende Tier. Und mit 200 Tonnen auch das schwerste. Aber es gibt auch winzige Einzeller. Der kleinste uns bekannte Organismus misst gerade einmal 0,2 Mikrometer im Durchschnitt. In Griechenland gibt es über 2.000 Jahre alte Oliven­ bäume und in Kalifornien über 2.500 Jahre alte Mammutbäume, die schon lebten, als Aristoteles, Platon oder auch Jesus noch gar nicht geboren waren. Dagegen liegt die durchschnittliche Lebensdauer eines Bakteriums bei etwa 20 Minuten. Auf unserem blauen Planeten

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2.1 Vom Unbelebten zum Lebendigen

leben etwa 3 bis 10 Millionen Pflanzen- und Tierarten.90 Sie alle sind an ihren jeweiligen Lebensraum angepasst.91 Lebewesen mit Nervensystemen gibt es noch nicht so lange: gerade einmal 500 Millionen Jahre, also seit dem Präkambrium. Im Vergleich mit der Lebensspanne des Menschen ist das freilich eine ganze Menge. Doch wenn wir daran denken, dass die Erde vor etwa 4,5 Milliarden Jahren entstanden ist, werden andere Dimensionen deutlich. Leben gab es auch schon, bevor es Nervensysteme gab.92 Die ersten Zellen treten etwa vor 3,8 bis 3,7 Milliarden Jahren auf. Eukaryontenzellen gibt es seit ca. 2 Milliarden Jahren. Organismen, die aus mehreren Zellen bestehen, betreten vor etwa 700 bis 600 Millionen Jahren die Bühne des Lebens.93 Es ist schon überaus erstaunlich, unter welch extremen Bedin­ gungen und an welch unwirtlichen Orten Lebewesen bestehen kön­ nen. In der Biologie spricht man von Extremophilen. Zu denken wäre etwa an die Barophilen, eine Organismenart, die unter großem Druck in den Tiefen der Meere anzutreffen ist.94 Folgende Aussage Darwins hat sicherlich nichts an Aktualität eingebüßt: »Der niedrigste Organismus ist etwas bei weitem Höheres als der unorganische Staub unter unseren Füßen; und kein vorurteilsfreier Die tatsächliche Vielfalt des Lebens ist weitgehend terra incognita. Einigermaßen gut erforscht sind Säugetiere. Als bekannt gelten z. B. 32.000 Fischarten, während schätzungsweise noch 10.000 unbekannt sind. 6.600 Amphibienarten sind bekannt, während es möglicherweise noch 15.000 weitere Arten gibt. (Vgl. Wilson, E. O.: Die Hälfte der Erde. Ein Planet kämpft um sein Leben, München 2016, S. 27 ff.) Mit Biodiversität ist die »Lehre von der Erforschung biologischer Vielfalt und ihrer Bedrohung auf der Erde unter Berücksichtigung geeigneter Schutzkonzepte« gemeint (Streit, B.: Was ist Biodiversität? Erforschung, Schutz und Wert biologischer Vielfalt, München 2007, S. 12). Dabei ist eine dreifache Größe im Blick: 1.) die Vielfalt der Arten, 2.) die (genetische) Vielfalt innerhalb einer Art sowie 3.) die Vielfalt der Öko­ systeme, denen Organismen zugehören. 91 Der Mensch, so der Hinweis von Edward O. Wilson, ist bisherigen Lebensbedin­ gungen gut angepasst, nicht aber jenen, die wir gerade selbst erschaffen. (Vgl. Wilson, E. O.: Die Hälfte der Erde. Ein Planet kämpft um sein Leben, München 2016, S. 10 f.). 92 Auch bei der Embryogenese ist es so, dass sich aus der Lebendigkeit des Embryos erst allmählich ein Nervensystem entwickelt. 93 Vgl. Damasio, A.: Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, München 2017, S. 56. 94 »Derzeit werden eine Höchsttemperatur von 121 °C, ein pH-Wert von 0,5 pH, eine Energiedosis von 8 kGy und eine nahezu wasserfreie Umgebung als Grenzwerte für Leben auf der Erde vermutet.« (Litterst, L.: Neues Leben aus dem Labor. Biowissen­ schaftliche und ethische Aspekte der Synthetischen Biologie, Wiesbaden 2018, S. 190). 90

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2. Das Phänomen des Lebendigen

Mensch kann irgendein lebendes Wesen, wie niedrig es auch stehen mag, studieren, ohne in Enthusiasmus über seine wunderbare Struktur und Eigenschaften zu geraten.«95

Aber nicht erst Darwin betont Gemeinsamkeiten der lebendigen Wesen, wenn er festhält, dass »alle lebenden Wesen sehr vieles gemeinsam in ihrer chemischen Zusammensetzung, ihrem Zellen­ bau, ihren Wachstumsgesetzen und ihrer Empfindlichkeit gegen schädliche Einflüsse«96 aufweisen.97 Für Aristoteles besteht die Gemeinsamkeit der Lebewesen in ihrer Beseeltheit. Die Seele kann unterschiedlich komplex sein. Bei einem Lebewesen, dessen seelische Möglichkeiten umfassender sind, fehlen nicht die seelischen Vermö­ gen der weniger komplexen Lebewesen. Pflanzen verfügen seiner Auskunft nach über Ernährung und Wachstum, während mit der Tier­ seele zusätzlich Wahrnehmung und Ortsbewegung in Verbindung gebracht werden. Dem Menschen stehen noch andere Möglichkeiten offen als eben Pflanzen und Tieren. Der Mensch ist begabt mit νοῦς, wie Aristoteles sagt. Er kann nach Wahrheit fragen und sein Leben und Handeln nach Gründen ausrichten, sich selbst überschreiten. Bei Aristoteles treffen wir bereits auf die Vorstellung eines Über­ gangs. Seiner Auskunft nach gehören alle Lebewesen zu einer Kette des Lebendigen, einer scala naturae. Lebewesen sind miteinander ver­ bunden, sind verwandt, wobei Aristoteles versucht, der Kontinuität im Reich der lebenden Wesen wie auch der Unterschiede hinsichtlich ihrer jeweiligen Komplexität gerecht zu werden.98 Darwin, C.: Die Abstammung des Menschen, übersetzt von H. Schmidt, mit einer Einführung von C. Vogel, Stuttgart 2002, S. 215. 96 Darwin, C.: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Leipzig 1980, S. 533, zit. nach: Penzlin, H.: Das Phänomen Leben. Grundfragen der Theoretischen Biologie, Heidelberg 2014, S. 4. 97 Neu ist, womit Darwin diese Verwandtschaft erklärt: mit der Genese. Aristoteles geht noch von einer Konstanz der Arten aus. Fossilien deutet er beispielsweise als Urzeugungen, die misslungen seien. Gleichwohl lässt sich die Geschichte des Leben­ digen in seinen Spuren als »Ausdifferenzierung seelischer Potenziale« deuten. (Olveira, G.: Substanz denken – philosophische Untersuchungen zu Aristoteles und Whitehead, Hamburg 2014, S. 157). 98 Kant spricht von tierischen Anlagen im Menschen, womit er 1.) die Selbsterhal­ tung, 2.) die Fortpflanzung seiner Art und 3.) das Bedürfnis nach Gemeinschaft meint. (Vgl. Kant, I.: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: AA Bd. VI, S. 26) »Die, wenn gleich nicht vornehmste, doch erste Pflicht des Menschen gegen sich selbst in der Qualität seiner Thierheit ist die Selbstheit in seiner animalischen Natur.« (Kant, I.: Die Metaphysik der Sitten, in: AA Bd. VI, S. 421.). 95

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2.1 Vom Unbelebten zum Lebendigen

Aristoteles versteht die Seele als Ursprung der Bewegung (causa efficiens). Auf die Seele wird auch die artspezifische Formbestimmung zurückgeführt (causa formalis). Auch die Erfüllung des Zwecks hat ihre Ursache in der Seele (causa finalis).99 Der Evolutionsbiologe Ernst Mayr sagt das so: »Mit außergewöhnlicher Klarheit sah Aristoteles, daß es ebensowenig Sinn hat, lebende Organismen als bloße Materie zu beschreiben, wie ein Haus eine Ansammlung von Ziegel­ steinen und Mörtel zu nennen.«100

2.1.2 Analoga des Wachstums in der toten Natur Im Alltag setzen wir ganz selbstredend voraus, dass Leben und Wachstumsvorgänge zusammengehören. Leben ist ein Verände­ rungsprozess: Etwas wächst, differenziert sich und nimmt eine bestimmte Form an. Aber nicht nur Kinder und zierliche Pflänzchen, die sich einmal zu einem großen Baum entwickeln, der Schatten zu spenden vermag, wachsen. Analoga des Wachstums mag man auch in der unbelebten Natur entdecken, wenn wir etwa an eine Flamme denken. »Die Flamme, die ihre Nahrung gleichsam assimiliert, indem sie sie vergast, kann wachsen, indem die Assimilation zunimmt.«101 99 »Causa finalis als eine Sichtweise auf ein Seiendes erschließt eine unausschöpfliche Bandbreite an Möglichkeiten wie etwas zu dem wird, was es ist. Causa finalis als letztendlich für den menschlichen Geist nicht mehr erkennbare Zielgeleitetheit umfasst das in der Materie angelegte Potential, die aus endlicher Perspektive noch zählbar erscheinenden Formmöglichkeiten und die (im Sinne einer schlechten Unend­ lichkeit) nicht zu überblickenden Wirkursachen.« (Olveira, G.: Substanz denken – philosophische Untersuchungen zu Aristoteles und Whitehead, Hamburg 2014, S. 177). 100 Mayr, E.: Eine neue Philosophie der Biologie, München 1991, S. 76. »Das Allgemeine ist nicht nur zuerst in der Natur, sondern in ihr auch das Erste als das eidos der einzelnen Dinge. Es ist Grund der Wirklichkeit der Dinge, insofern sie sich in ihrem eidos als in ihrer artgemäßen Form erhalten und somit bestimmte Dinge sind. In dieser Form haben sie ihr telos, ihren Zweck als das, was sie in dem erhält, was sie sind. Insofern sie in Bewegung sind und sich also verändern, bewegen sie sich auf diesen Zweck hin und nicht über ihn hinaus. Sonst verlören sie ihre Identität, ihr Sein als das, was sie schon waren (to ti en einai) und zu bleiben bestrebt sind.« (Simon, J.: Subjekt und Natur. Teleologie in der Sicht kritischer Philosophie, in: Marx, W. (Hrsg.): Die Struktur lebendiger Systeme. Zu ihrer wissenschaftlichen und philosophischen Bestimmung, Frankfurt a. M. 1991, S. 105–132, hier S. 108). 101 Becher, E.: Naturphilosophie, Leipzig / Berlin 1914, S. 367.

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2. Das Phänomen des Lebendigen

Wachstum kann man auch bei Kristallen beobachten. Ein Kris­ tall wird in einer entsprechenden Mutterlauge wachsen und seine Form bewahren. Und freilich wird er auch ein abgebrochenes Stück ergänzen können. Edith Stein argumentiert, dass in diesem Falle bereits vorhandene Teilchen desselben Stoffes angelagert werden, weshalb man nicht von einem echten Wachstum sprechen könne. Lebendiges Wachstum würde sich dagegen dadurch auszeichnen, dass fremde Stoffe einen Umwandlungsprozess durchlaufen und Gestal­ tung nach einem inneren Bildungsgesetz stattfinde.102 Rudolf Kötter grenzt das Kristallwachstum vom Wachstum des Lebendigen dadurch ab, dass er das Wachstum von etwas Lebendigem durch qualitative Veränderungen begleitet sieht, womit er z. B. auch einen Gestaltund Funktionswandel vor Augen hat.103 Und Heinz Penzlin hebt in seinem Einführungswerk zur Theoretischen Biologie hervor, dass Kristallwachstum und Wachstum des Lebendigen schlicht und einfach auf konträren Prinzipien beruhten und demnach auch in ihrem Ablauf unterschiedlich seien.104 Das, was Lebendiges auszeichnet, gilt für Kristalle nicht. Um das Wachsen eines Kristalls zu erläutern, kommen wir mit unserem physikalischen und chemischen Wissen ganz gut weiter. Doch schon bei ganz einfachen Lebewesen haben wir es eben nicht nur mit physikalischen Kräften zu tun, sondern mit Qualitäten. »Während sich das Wachsen eines Kristalls durch chemische und physikalische Kräfte erklären lässt, richten schon einzellige Lebewesen wie Amöben oder Guardia ihre Bewegungen nach der Qualität der Reize in ihrer Umgebung. Nahrung etwa wird auch gegen physika­ lische Krafteinwirkungen gesucht und verfolgt. Die Sensitivität für unterschiedliche Reize tritt erst auf, wenn eine durch eine Membran von der Außenwelt unterschiedene Innenwelt entsteht. Die Zelle gilt daher vielen Biologen als Grundeinheit des Lebendigen. Die Fähigkeit,

102 Vgl. Stein, E.: Endliches und ewiges Sein. Versuch eines Aufstieges zum Sinn des Seins (ESGA 11/ 12), Freiburg 2006, S. 208. 103 Kötter, R.: Wachstum, Evolution und Entwicklung. Wissenschaftstheoretische Überlegungen, in: Karafyllis, N. C. (Hrsg.): Biofakte. Versuch über den Menschen zwi­ schen Artefakt und Lebewesen, Paderborn 2003, S. 101–129, hier insbes. S. 101. 104 Vgl. Penzlin, H.: Das Phänomen Leben. Grundfragen der Theoretischen Biologie, Heidelberg 2014, S. 37 f. Penzlin macht darauf aufmerksam, dass für Ernst Haeckel das Kristallwachstum eine »Lebenserscheinung« gewesen sei, die dann »in dem endlich erstarrten Gebilde erlischt« (zit. nach: a. a. O., S. 38).

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2.1 Vom Unbelebten zum Lebendigen

sich durch die Sensitivität für Reize selbständig neuen Bedingungen anzupassen, ist eine Bedingung des Überlebens und damit auch der Evolution. Aus dieser ersten Form von Innenwelt hat sich mit wach­ sender biologischer Komplexität, mit der Entstehung mehrzelliger Lebewesen, von Nervenzellen und schließlich sogar des Gehirns die Fähigkeit zur Wahrnehmung sinnlicher Qualitäten, zur Empfindung von Schmerz und Lust, von Bedürfnissen und Zielen entwickelt.«105

2.1.3 Transzendenz der Lebewesen Lebewesen sind alle sehr unterschiedlich. Gemeinsam ist ihnen, dass sie aus Zellen bestehen. Leben verwirklicht sich in zellulären Struktu­ ren. Die einzelnen Komponenten einer Zelle sind nicht lebensfähig. Es gibt einfach gebaute Zellen wie die von Bakterien (Protocyten) und weitaus komplexere, wie sie für die Konstitution aller anderen Lebewesen typisch sind (Eucyten). Aristoteles wusste bekanntlich schon, dass das Ganze stets mehr ist als seine Teile.106 Auf einen Organismus übertragen heißt dies: Er ist als Gestaltganzheit mehr als die ihn konstituierenden Zellen.107 Sein Lebendigsein greift auf das der Zellen zurück, geht aber darüber hinaus. Die Zellen werden wiederum durch den Organismus am Leben erhalten. Zellen bestehen, wie wir heute wissen, aus Kohlen­ stoff-Wasserstoff (C-H)-Gerüsten sowie Stickstoff (N), Phosphor (P), 105 Kather, R.: Was ist Leben? Biologische, kulturelle und religiöse Perspektiven, in: Baumann, U. (Hrsg.): Was bedeutet Leben? Beiträge aus den Geisteswissenschaften, Frankfurt 2008, S. 23–48, hier S. 34. »Die einfachste Form der Raumerfahrung haben wachsende einzellige Organismen bei der Zunahme ihres Volumens. Das Wachstum von Zellen erfordert die Inkorpo­ ration von Nährstoffen. Dies führt zu einer Vergrößerung der Zellen und erhöht die Menge der Teilprozesse, die in einer durchgehenden operativen Präsenz der Teile im Ganzen der Zelle aufeinander abgestimmt werden müssen.« (Falkner, G. G. / Falkner, R. A.: Die Selbstgestaltung der Lebewesen in Erfahrungsakten. Eine prozessbiologischökologische Theorie der Organismen, Freiburg / München 2020, S. 136). 106 Vgl. Aristoteles: Metaphysik VII 17, 1041 b. 107 Hegel unterstreicht ebenfalls, dass der Organismus eine Einheit ist: »ein Materi­ elles, in welchem das Außereinander der Teile aufgehoben, das Einzelne zu etwas Ide­ ellem, zum Moment, zum Gliede des Ganzen herabgesetzt erscheint; kurz, das Leben muß als Selbstzweck gefaßt werden, als ein Zweck, der in sich selber sein Mittel hat, als eine Totalität, in welcher jedes Unterschiedene zugleich Zweck und Mittel ist.« (Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen, Werke Bd. 10, hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1986, § 423, S. 212).

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2. Das Phänomen des Lebendigen

Schwefel (S) und Sauerstoff (O). Zellen können sich teilen, sich vermehren. Wir wissen heute auch um intrazelluläre Bewegungsvor­ gänge. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts haben wir Kenntnis von Zellen. Zu verdanken ist dies einer wichtigen Erfindung: dem Mikroskop, welches es fortan ermöglichte, Objekte zu vergrößern, die dem menschlichen Auge sonst verborgen bleiben mussten. Eine Zellmem­ bran verleiht allen Zellen Stabilität und begrenzt sie. Hierüber erfolgt auch der Stoffaustausch mit der Umwelt. Jene Begrenzung trennt ein Inneres und ein Äußeres und verleiht ihnen Individualität.108 »Die Plasmamembran besteht aus einer Doppelschicht von Lipiden, in die verschiedene Proteine eingebettet sind. Über diese Proteine werden

Vgl. Rager, G.: Morphologie und funktionelle Einheiten der Zelle, in: Rager, G. / Wegner, G. (Hrsg.): Synthetische Biologie – Leben als Konstrukt, Freiburg / Mün­ chen 2015, S. 53–86, hier S. 56. Das mag auch der Grund sein, warum Plessner die Grenze, über die ein Lebewesen verfügt, in besonderer Weise betont. Ein (anorganischer) Körper höre dort auf, wo seine durch einen anderen gesetzte Grenze sei, während bei einem organischen Körper die Begrenzung (etwa in Form einer Membran) zu diesem selbst gehöre und nicht äußerlich sei. Jene für ein Lebewesen typische Abgrenzung zu seiner Umwelt nennt Plessner bekanntlich »Positionalität«. Entsprechend seiner Komplexität habe ein Lebewesen ein unterschiedliches Verhältnis zu seiner Grenze. (Vgl. Plessner, H.: Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 2009, S. 6, 9) »Es lebt in dynamischer Bezogenheit sowohl auf sein Umfeld als auch im Gegensinne zu ihm, dem lebendigen Ding, zurück, d. h. also im Doppelaspekt ineinander nicht überführbarer Richtungsgegensätze.« (A. a. O., S. 9) Lebewesen nehmen eine bestimmte Stellung im Raum ein und treten als Einzelwesen hervor. Über unseren Baum würde Plessner sagen, dass er »rein nach den Gesetzen des Wachstums« lebt. Es gibt einen Austausch von Stoffen, Zufuhr oder »Hemmung der Regulationsstoffe des Wachstums«, weshalb Plessner hier von einer offenen Organi­ sationsform spricht. (Plessner, H.: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Ein­ leitung in die philosophische Anthropologie, Gesammelte Schriften, Bd. IV, Frankfurt a. M. 1981, S. 290) Anders sähe es laut Plessner beim Tier aus. Dieses wird im Unter­ schied zur Pflanze als geschlossene und zentrische Lebensform charakterisiert. Das Tier kann sich stärker von seiner Umwelt abgrenzen. »Geschlossen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen mittelbar seiner Umge­ bung eingliedert und ihn zum selbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht.« (Vgl. a. a. O., S. 291). Anders als ein Baum sei ein Tier in der Lage, seinen Leib zu instrumentalisieren. Seine Zentriertheit könne allein der Mensch sich bewusst machen. Er kann sich von sich selbst wie auch von seiner Umwelt distanzieren. 108

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2.1 Vom Unbelebten zum Lebendigen

selektiv Kontakte mit der Umwelt ermöglicht.«109 Die Zelle ist also nach innen geschlossen und nach außen geöffnet. Sie vermag Reize wahrzunehmen und hebt sich von ihrer Umwelt ab, auf die sie stets bezogen ist. Aus seinen Grenzen – der Zellwand, der Membran, der Haut – macht der Organismus ein Durchgangstor für den Austausch mit der Umwelt. Er vermag so, mit den Einflüssen auf ihn umzugehen, zwischen Innen und Außen zu vermitteln. Eine Grenze scheidet bekanntlich Etwas gegen Anderes ab. Es ist dadurch für sich, nicht für Anderes. Das Andere ist Etwas und scheidet sich gegen das Etwas ab. Das Etwas wird durch seine Grenze konstituiert. Die Grenze hat eine vermittelnde Funktion zwischen Etwas und Anderem. Wäre die Grenze geschlossen, gäbe es keinen Stoffwechsel. Das Lebewesen könnte nicht bestehen, ein chemisches Gleichgewicht wäre vorhanden. Wir können uns aber auch einmal vorstellen, was wäre, wenn sie vollständig offen wäre: An Dauer und Struktur wäre jetzt nicht mehr zu denken. Es ist die Grenze (die Membran), die den Austausch einschränkt und auch ermöglicht. »[M]it dem Leben als solchem [kam] innere Identität in die Welt – und folglich, in einem damit, auch seine Selbstisolierung vom Rest der Wirklichkeit. […] Eine Identität, die von Augenblick zu Augenblick sich macht, immer neu behauptet und den gleichmachenden Kräften physischer Selbigkeit ringsum abtrotzt, ist in wesentlicher Spannung mit dem All der Dinge.«110

Lebewesen haben eine feste Grenze, über die sie gleichzeitig auch hinaus sind.111 Sie erhalten sich, indem sie sich ändern.112

109 Rager, G.: Morphologie und funktionelle Einheiten der Zelle, in: Rager, G. / Wegner, G. (Hrsg.): Synthetische Biologie – Leben als Konstrukt, Freiburg / München 2015, S. 53–86, hier S. 56. 110 Jonas, H.: Das Prinzip Leben, Frankfurt a. M. 1997, S. 155. 111 Auch Jonas betont die Transzendenz der Organismen: Abgrenzung von der Umwelt wie auch Überschreiten zeichne sie aus: »Mit der Transzendenz des Lebens«, so Jonas, »meinen wir, daß es einen Horizont jenseits seiner punktuellen Identität unterhält.« (Jonas, H.: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutun­ gen, Frankfurt a. M. / Leipzig 1992, S. 27). 112 Leben ist »Konstanz im Wandel«, wie Hengstenberg treffend sagt. (Hengstenberg, H. E.: Zur Ontologie des Lebendigen, in: Katholische Akademie Freiburg (Hrsg.): Das Geheimnis des Lebens, Freiburg 1968, S. 9–24, hier S. 11 f.).

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2. Das Phänomen des Lebendigen

Schon bei ganz einfachen Lebewesen gibt es ein Gewahrwerden der Grenzen von Selbst und Nichtselbst.113 Das ist notwendig, um bestehen zu können und in und mit der Umwelt agieren zu können. Organismen haben Bedürfnisse und greifen über sich hinaus. Sie vermögen sich von ihrer Umwelt abzuheben und mit anderen Organismen in Beziehung zu treten, die ebenso Bedürfnisse haben und somit auch über sich hinausgreifen. Es entsteht ein Wechselver­ kehr. Tote Entitäten sind gegenüber der Umwelt »konform«, während das Lebendige »unangepasst« ist. Es gibt zahlreiche Wechselwirkungen zwischen Organismen und der Umwelt. Die Umwelt prägt die Organismen, die sich darauf einstellen. Und Organismen wirken ihrerseits auf die Umwelt ein und verändern diese.114 Lebendige sind »nicht nur Gegenstände für äußere Beobachter […], sondern [besitzen] auch ein Fürsich und Innesein«115. Sie haben eine gewisse Sensitivität: für sich wie auch 113 Damasio sagt das so: »Sehr einfache, einzellige Lebewesen [bedienen] sich che­ mischer Moleküle, um zu spüren und zu reagieren, […] um bestimmte Verhältnisse in ihrer Umwelt einschließlich der Gegenwart anderer Lebewesen wahrzunehmen.« (Damasio, A.: Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kul­ tur, München 2017, S. 27). 114 Es gibt ein komplexes Zusammenspiel der verschiedenen Organismen, eine »Gemeinschaft« der Lebendigen, die im Wechselverkehr mit der Umwelt stehen. »[D]ie Arten von Pflanzen und Tieren [sind] ganz offensichtlich nicht einfach ein bunter Haufen mehr oder weniger zufällig an einem Ort versammelter Lebewesen. Die Natur, gleichgültig, ob sie sich in einem ziemlich natürlichen Zustand oder in einem (stark) vom Menschen veränderten befindet, hat ›Struktur‹. Die Pflanzen, die an Ort und Stelle wachsen, können das nur, wenn die örtlichen Verhältnisse ihren Lebensansprüchen genügen. […] Es gibt viele Pflanzenarten, die auf Tiere, vornehm­ lich auf Insekten, angewiesen sind, weil diese ihre Pollen von Blüte zu Blüte übertra­ gen. Andere Arten von Tieren, Pflanzen und Pilzen entwickeln sehr enge Gemein­ schaften in ihrem Zusammenleben, die so gut funktionieren, dass diese als Symbiose bezeichnete Beziehung allen Beteiligten mehr bringt als das isolierte Leben. Kurz: Die nahezu unüberschaubare Fülle von Beziehungen der Lebewesen untereinander beweist, dass die Artengemeinschaften keine bloße (und beliebig austauschbare) Ansammlung von Pflanzen, Pilzen und Tieren darstellen.« (Reichholf, J.: Ende der Artenvielfalt? Gefährdung und Vernichtung von Biodiversität, Frankfurt a. M. 2008, S. 79 f.) Diesen Aspekt betonen auch Whitehead und Plessner. (Vgl. Whitehead, A. N.: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt a. M. 1987, S. 199; Plessner, H.: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Gesammelte Schriften, Bd. IV, Frankfurt a. M. 1981, S. 383 f.). 115 Scheler, M.: Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bonn 182010, S. 9. Adolf Portmann hebt als Biologe ebenfalls die Bedeutung der Innerlichkeit hervor, die sich im Äußeren manifestiere. (Vgl. Portmann, A.: An den Grenzen des Wissens. Vom

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2.1 Vom Unbelebten zum Lebendigen

für ihre Umgebung. Dies verbindet alle Lebendigen. Je höher ein Organismus auf der Stufenleiter des Lebens steht, je größer ist sein Verhaltensradius.116 Leben ist Selbstbezug des Lebendigen, Ausdruck von Subjektivi­ tät. Es entwickelt sich selbst.117 Wir haben es mit einer lebendigen Bewegung zu tun, die in sich selbst zielhaft ist. Aristoteles spricht von Êntelæcðeia, Kant später von der Selbstzweckhaftigkeit. Beitrag der Biologie zu einem neuen Weltbild, Wien / Düsseldorf 21974, S. 138 ff.; Portmann, A.: Die Tiergestalt. Studien über die Bedeutung der tierischen Erscheinung, Basel 1965, bes. S. 240). Portmann spricht von der Natur als »einer ungeheuren, unbekannten, waltenden Ein­ heit […]. In diesem Unbekannten finden sich Lebewesen mit verschiedener Stufung von Innerlichkeit, von verschiedenen Graden des Wachseins, von verschiedener Wirk­ fähigkeit als Zentren spontaner Veränderung. Jedes dieser Lebewesen ist vor jeder Analyse ausnahmslos als Ganzes vor uns.« (Portmann, A.: Aufbruch der Lebensfor­ schung, Zürich 1965, S. 27). Und auch für Hegel ist klar: Es »beginnt die subjektive Lebendigkeit, das Lebendige in der vegetabilischen Natur«. (Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wis­ senschaften im Grundrisse. Zweiter Teil, Die Naturphilosophie. Mit den mündlichen Zusätzen, Werke Bd. 9, hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1986, § 337, S. 337) Nur ein Wesen, das lebendig ist, könne, so Hegel an späterer Stelle, Mangel fühlen und habe einen Trieb, diesen aufzuheben. (Vgl. a. a. O., § 359, S. 468 f.) Von hier ist es Hegel möglich, eine Brücke zum Zweckbegriff zu schlagen: »Bedürfnis, Trieb sind die am nächsten liegenden Beispiele vom Zweck. Sie sind der gefühlte Widerspruch, der innerhalb des lebendigen Subjekts selbst stattfindet, und gehen in die Tätigkeit […].« (A. a. O., § 204, S. 360 f.) Zur Innerlichkeit siehe auch: Goldstein, K.: Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Men­ schen, Paderborn 2014; Jonas, H.: Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frankfurt a. M. 1997; Fetz, R. L.: Die Wirklichkeit der Wirkwesen. Grundlegung einer organismischen und strukturgenetischen Wirklichkeitskonzeption, Freiburg / München 2019, S. 65. 116 »[S]elbst das unmittelbare Verhalten des einzelnen Lebewesens besteht schon aus Aktivitäten, die die Umwelt modifizieren. Die einfachsten Organismen lassen ihre Nahrung in ihr Inneres hineinschwimmen. Die höheren Tiere suchen und jagen ihre Nahrung, fangen und zerkleinern sie – und passen so die Umwelt ihren eigenen Zwe­ cken an. […] Die höheren Lebensformen sind darauf eingestellt, ihre Umwelt durch aktives Eingreifen zu verändern; und im Falle des Menschen ist dieser aktive Angriff auf die Umwelt der bemerkenswerteste Zug seiner Existenz.« (Whitehead, A. N.: Die Funktion der Vernunft, Stuttgart 1974, S. 8 f.). 117 »Die Freiheit präsentiert sich vor diesem Hintergrund als die höchstmögliche Form, die die Selbstregelung und der Selbstbezug durch die menschliche Selbster­ kenntnis und Selbstbestimmung erlangen können.« (Fetz, R. L.: Die Wirklichkeit der Wirkwesen. Grundlegung einer organismischen und strukturgenetischen Wirklichkeits­ konzeption, Freiburg / München 2019, S. 67).

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2. Das Phänomen des Lebendigen

Eine Gemeinsamkeit aller auf Erden lebenden Wesen ist es, dass ihr Dasein mit einer einzelnen Zelle begonnen hat. Diese hat sich dann als einzelliger oder als vielzelliger Organismus weiterent­ wickelt. Der Mensch besteht aus schätzungsweise 5 ×1013 Zellen – eine beeindruckende Zahl. Dabei beginnt alles mit einer befruchteten Eizelle, die sich kontinuierlich, ohne Sprünge, zu einem Embryo entwickelt und dieser sich dann zu einem erwachsenen Menschen. Lebewesen sind miteinander verwandt, haben eine lange Zeit der Entwicklung hinter sich und stammen wohl von einer urtümlichen Lebensform ab. Auch fundamentale molekulare Merkmale lassen sich bei allen Lebewesen ausfindig machen: »So ist das Gewebe aller Organismen aus Zellen aufgebaut, die von Lipidmembranen umhüllt sind, welche den Austausch mit der äußeren Umgebung regulieren. Die molekularen Mechanismen zur Erzeugung von Energie sind bei allen Arten ähnlich. Die genetische Information ist in der DNA gespeichert, wird in RNA transkribiert und in Proteine übersetzt. Schließlich werden alle biologischen Prozesse von einer Reihe meist ähnlicher Proteinkatalysatoren, den Enzymen, beschleu­ nigt.«118

Es gibt im Reich des Lebendigen zahlreiche Einzeller. Jene, die einen Zellkern haben, werden Eukaryoten, jene ohne Zellkern Prokaryoten genannt. Bei uns oder auch bei Pflanzen und Tieren, die wie wir vielzellig sind, haben sich Zellen spezialisiert: es gibt z. B. Hautzellen, Nervenzellen usw. Diese Liste könnten wir noch viel umfassender ausfüllen, gibt es doch schätzungsweise 250 verschiedene Typen von Zellen. Hinsichtlich ihrer Funktionen wie ihrer Struktur ähneln sich die Zellen der Einzeller wie der Vielzeller.119

2.1.4 Grenzbereiche des Lebendigen: Viren Da, wo es Lebewesen gibt, treffen wir auch auf Viren. Es gibt Viren, die lediglich aus einem Nucleinsäuremolekül bestehen, aber auch komplexere Viren. Schätzungsweise gibt es über 100 Millionen ver­ Wilson, E. O.: Die Zukunft des Lebens, Berlin 2002, S. 161. Vgl. Herzog, V.: Zellbiologie der Lebensentstehung: Der Weg vom Molekül zur Zelle, in: Herzog, V. (Hrsg.): Lebensentstehung und künstliches Leben. Naturwissen­ schaftliche, philosophische und theologische Aspekte der Zellevolution, Ettlingen 2010, S. 17–151, hier S. 18.

118 119

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schiedene Formen von Viren. Die genetische Diversität ist hoch. Nicht alle befallen den menschlichen Organismus und nicht immer führt dies zu einer Krankheit. Einige ihrer Vertreter können für den menschlichen Organismus gefährlich sein. Viren haben weder einen eigenen Stoffwechsel noch reprodu­ zieren sie sich eigenständig. Sie vermehren sich dadurch, dass sie ihr Erbgut in eine Wirtszelle injizieren.120 Für eine eigene Protein­ synthese sowie Energiebereitstellung können sie nicht sorgen. Die atomare Ebene von Viren ist gleichwohl sehr komplex.121 Ulrich Kutschera bezeichnet Viren als Zwischenformen und ordnet sie in den »Grenzbereich leblose Biomoleküle/urtümliche Mikroben«122 ein. Severo Ochoa spricht davon, dass Viren »in einer zwielichtigen Zone an der Grenze des Lebendigen«123 stehen, und vermutet, dass es zunächst Zellen und erst dann Viren gab, da Letztere nämlich auf einen Wirt angewiesen sind: jedenfalls habe es sie vor denjenigen Viren gegeben, die uns bekannt sind und die sich nicht außerhalb von Zellen replizieren können.124 Und Wolfhard Weidel spricht prägnant von Viren als »geborgte[m] Leben«125.

Während Viren zwar mutieren können (also Evolution haben), aber keinen eigenen Stoffwechsel aufweisen und dafür auf Wirtsorganismen zurückgreifen müs­ sen, können Bienenarbeiterinnen und Maultiere sich nicht fortpflanzen. Sie werden grundsätzlich steril geboren. Alle Merkmale des Lebendigen kommen hier also nicht zum Tragen. Ganz junge, alte oder kranke Menschen können sich nicht resp. nicht mehr fortpflanzen. 121 Vgl. Crick, F.: Die Natur des Vitalismus, in: Küppers, B.-O. (Hrsg.): Leben = Physik + Chemie?, München 21990, S. 121–137, hier S. 122; Mölling, K.: Supermacht des Lebens: Reisen in die erstaunliche Welt der Viren, München 2015, bes. S. 13–20. »Ein isoliertes Virusteilchen (Virion) besitzt zwar ein Genom, ist aber weder in der Lage, seine Gene zu replizieren, noch ATP zu bilden. Viren sind keine Zellen und deshalb auch keine Lebewesen, haben aber vieles mit Lebewesen gemein. Sie spei­ chern ihre Erbinformationen wie Lebewesen in Nucleinsäuren und geben sie auch wie die Lebewesen weiter. Man kann die Viren als ›evolvierende Nucleinsäure-ProteinEinheiten‹ bezeichnen, die sich – wenn auch selber keine Lebewesen – von Lebewesen ableiten. Viren sind Parasiten. Sie können sich nur innerhalb einer fremden Zelle unter Ausnutzung der Stoffwechselfließbänder vermehren.« (Penzlin, H.: Das Phänomen Leben. Grundfragen der Theoretischen Biologie, Heidelberg 2014, S. 81 f.). 122 Kutschera, U.: Evolutionsbiologie, Stuttgart 42015, S. 11. 123 Ochoa, S.: Die molekularen Grundlagen der Vererbung und Evolution, in: Natur­ wissenschaftliche Rundschau 26 (1973), S. 1–14, hier S. 1. 124 Vgl. a. a. O., S. 3. 125 Weidel, W.: Virus. Die Geschichte vom Geborgten Leben, Berlin / Göttingen / Heidelberg 1957. 120

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2. Das Phänomen des Lebendigen

Zu Beginn des neuen Jahrtausends, im Jahre 2002, ist es gelun­ gen, auf künstlichem Wege ein Virus zu erzeugen. Im Magazin Nature konnte man hierzu lesen: »Using genetic code as the recipe and car­ bon-containing chemicals as ingredients, researchers have made infective poliovirus entirely from scratch. This is the first time that a working biological entity has been made using chemistry alone.«126

2.1.5 Lebensentstehung auf der Erde Unser Sonnensystem und unsere Erde sind vor etwa 4,6 Milliarden Jahren entstanden. Bakterien sind nach allem, was man heute glaubt zu wissen, die ältesten Lebewesen. Forscher haben 3,5 Milliarden alte Bakterienablagerungen in Australien ausfindig machen können, doch die Anfänge reichen wahrscheinlich noch etwas weiter in die Tiefen der Vergangenheit zurück. Vor etwa 3,85 Milliarden Jahren betritt Lebendiges die Bühne.127 Das Angesicht der Erde hat eine lange Entwicklungsgeschichte hinter sich. Kosmologen gehen heute davon aus, dass das Universum einst auf einem außergewöhnlich kleinen Raum mit außergewöhnlich hoher Dichte zusammengepresst war. Hawking verwendet bekannt­ lich das Bild eines »Universum[s] in der Nussschale«128. »Ein derarti­ ges expandierendes Universum hatte sich bereits 1917 aus Einsteins http://www.nature.com/news/2002/020712/full/news020708-17.html (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). Dieser Text nimmt Bezug auf: Cello, J. / Paul, A. V. / Wimmer, E.: Chemical synthesis of poliovirus cDNA: Generation of infectious virus in the absence of natural template, in: Science, 297/2002, S. 1016–1018. 127 In Apatitkristallen, deren Alter auf 3,85 Milliarden Jahre eingestuft wurde, konn­ ten Relationen stabiler Isotope ausfindig gemacht werden, »wie sie nur bei Kohlenstoff auftreten, der aus Lebewesen stammt […] In Schichten, die 3460 ± 2 Millionen Jahre alt sind, fanden die Mikropaläontologen Anfang der 1990er Jahre fadenförmige Abdrücke mehrzelliger Urorganismen, die an noch heute lebende Cyanobakterien erinnern.« (Kutschera, U.: Evolutionsbiologie, Stuttgart 42015, S. 109) »Bedenkt man […], dass es rund eine Milliarde Jahre gedauert hat, bis die einzelligen Bakterien und Archaeen auf unserem Planeten sich zu komplexeren Lebensformen heranbildeten, so lässt sich erahnen, wie empfindlich unser Lebensort ist, wie kom­ pliziert die Teile der Ökosysteme sind, die jeder Art als Heimat dienen, und wie intrikat und miteinander verknüpft die nichtlinearen Interaktionen zwischen den Arten sind.« (Wilson, E. O.: Die Hälfte der Erde. Ein Planet kämpft um sein Leben, München 2016, S. 184). 128 Hawking, S.: Das Universum in der Nussschale, München 22004. 126

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Feldgleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie ergeben und wurde von dem holländischen Astronom Willem de Sitter theoretisch vorhergesagt.«129 Was vor diesem auch als »Urknall« bezeichneten Ereignis liegt, lässt sich nicht in naturwissenschaftlichen Gleichungen angeben. Die uns zur Verfügung stehenden physikalischen Gesetze greifen hier nicht. Immerhin können wir uns aber diesem »Big Bang« bis auf 10–32 Sekunden annähern.130 Günther Hasinger hat die gesamte Geschichte des Universums mit seinen etwa 13,5 Milliarden Jahren bis zum heutigen Tag in der Zeitleiste eines Kalenderjahres abzubilden versucht.131 Eine Sekunde dieses Kalenderjahres steht dann für 500 Jahre. Während Mitte Januar Galaxien und vielleicht auch Schwarze Löcher entstehen, dauert es bis September, bis unsere Sonne und unser Planetensystem entstehen. Und schon Ende September treten die ersten Lebensfor­ men hervor; Homo sapiens betritt erst am Silvestertag sechs Minuten vor Mitternacht die Bühne. Stellen wir uns die zeitlichen Dimensionen einmal vor Augen: »Das bedeutet, dass unsere Erde vielleicht nur knapp 800 Millionen Jahre, das wären 17 % ihrer bisherigen Geschichte, unbewohnt geblie­ ben ist.«132 Das, was Lebewesen heute ausmacht, hat sich in der Geschichte des Lebens herausgebildet. Aus den einfachsten Anfängen ist in mehr als 4.000 Millionen Jahren eine erstaunliche und beein­ druckende Fülle und Vielfalt des Lebendigen entstanden. Zunächst traten Bakterien und Archaea auf133 und vor etwa 2,6 Milliarden Jah­ ren dann einzellige Lebewesen, die mit einem Zellkern und Chromo­ somen ausgestattet waren und sich sexuell vermehrten (Eukaryo­

129 Hasinger, G.: Das Schicksal des Universums, in: Borrmann, S. / Rager, G. (Hrsg.): Kosmologie, Evolution und Evolutionäre Anthropologie, Freiburg / München 2009, S. 15–47, hier S. 21. 130 Vgl. a. a. O., hier S. 22. 131 A. a. O., S. 32–34. 132 Penzlin, H.: Das Phänomen Leben. Grundfragen der Theoretischen Biologie, Hei­ delberg 2014, S. 2. 133 »Als folgenschwer erwies sich in dieser Entwicklung das Auftauchen von Orga­ nismen, die mit Hilfe der Energie aus dem Sonnenlicht dem Wasser den Wasserstoff entziehen konnten, den sie für den Aufbau der Zellsubstanz brauchten, und dabei molekularen Sauerstoff freisetzten. Dieses Ereignis war die Ursache für den Anstieg der Menge an atmosphärischem Sauerstoff vor 2,0 bis 1,5 Milliarden Jahren.« (de Duve, C.: Aus Staub geboren. Leben als kosmische Zwangsläufigkeit, Reinbek bei Ham­ burg 1997, S. 20).

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2. Das Phänomen des Lebendigen

ten).134 Aus den ganz einfachen Zellen entwickelten sich schließlich immer kompliziertere Zellen. Volker Herzog bezeichnet das Auftreten der ersten Zellen als »das bedeutsamste naturgeschichtliche Ereignis seit dem Urknall und der Entstehung von Materie, Zeit und Raum. […] Aber erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Zunahme von Erkenntnissen vor allem in Zellbiologie, Biochemie, molekularer Genetik und Physik war es möglich, einen zellulären Lebensbeginn auf der Erde zu postulieren und dieses Postulat durch sinnvolle Experimente zu unterstützen.«135

Bevor Leben überhaupt entstehen und sich entwickeln konnte, muss­ ten sich erst einmal die Voraussetzungen dafür einstellen. Das Ange­ sicht der Erde, die Erdatmosphäre in den ersten zwei Milliarden Jahren und nicht zuletzt die Oberflächentemperaturen in den ersten 500 Mil­ lionen Jahren unterscheiden sich doch sehr deutlich von der Erde, die wir heute kennen und die unser Lebensraum ist. Die Bedingungen für Leben waren zunächst einfach noch nicht gegeben. Die Atmosphäre wäre für uns giftig gewesen, die Temperaturen schlichtweg zu hoch. Zunächst gab es auf der Erde keinen Sauerstoff. Die Bedingungen waren also anaerob.

2.1.6 Bedingungen für die Entstehung des Lebens In einer Jahrmillionen dauernden Entwicklung änderte sich die gerade geschilderte Situation. Wasserdampf verdichtete sich und konnte als Regen auf die Erde kommen und tiefer liegende Regionen mit Wasser füllen. Die Urmeere bildeten sich. Aus dem Gestein wurden durch das Wasser Mineralien herausgelöst. Energiequellen gab es reichlich, war es doch auf der Erde im wahrsten Sinne »wüst«: es tobten dauerhaft Gewitter und Blitze. Hinzu kamen zahlreiche Vulkanausbrüche. Eine Ozonschicht gab es noch nicht und die Sonnenstrahlen konnten die Erde auf direktem Wege erreichen.136 Vgl. Junker, T.: Evolution. Die 101 wichtigsten Fragen, München 2011, S. 83. Herzog, V.: Vorwort, in: Herzog, V. (Hrsg.): Lebensentstehung und künstliches Leben. Naturwissenschaftliche, philosophische und theologische Aspekte der Zellevolu­ tion, Ettlingen 2010, S. 9–16, hier S. 9. 136 Vgl. Gassner, J. M. / Lesch, H.: Das aktuelle kosmologische Weltbild. Ein Produkt evolutionären Denkens, in: Neukamm, M. (Hrsg.): Darwin heute. Evolution als Leit­ bild in den modernen Wissenschaften, Darmstadt 2014, S. 51–88, hier S. 84. 134

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»In der Frühphase der Erde gab es eine sehr dichte Atmosphäre aus Kohlendioxid und Wasser, die durch die vulkanische Aktivität der Erdoberfläche immer wieder mit anderen Verbindungen angereichert wurde. Die Gezeitenkraft des damals noch sehr nahen Mondes durch­ knetete das Erdinnere genauso, wie die noch sehr heißen, glutflüssigen, immer wieder an die Erdoberfläche drängenden Magmaströme.«137

Die Geschichte des Lebens beginnt wohl damit, dass Atome sich zu Molekülen zusammengeschlossen haben, von wo aus dann die weitere Entwicklung ausging. Wie sich dies genau vollzog, liegt für uns im Dunkeln. Eine Theorie, die hierauf eine Antwort zu geben versucht, ist mit den Namen der beiden Forscher Haldane und Oparin verbunden. Sie hat sehr großen Zuspruch. In den 1920er Jahren kommen sie (unabhängig voneinander) zu der Annahme, dass der entscheidende Schritt in dem auf der Erde befindlichen Wasser – der »Ursuppe des Lebens« – durch den Einfluss der erwähnten elektrischen Entladun­ gen stattgefunden hat.138 »Unter den physikalisch-chemischen Bedingungen, die auf der Urerde herrschten, gerieten diese Moleküle in eine immer komplexer wer­ dende ›Reaktionsspirale‹, bis schließlich die Nucleinsäuren (RNA und DNA), Proteine und andere kompliziert gebaute Moleküle entstanden waren, die heute das Leben beherrschen.«139

Es entstehen die ersten Protozellen.140 Sie sind von einer Membran umgeben und vermehren sich dadurch, dass sie sich teilen. Hierauf folgen für die nächsten zwei Milliarden Jahre Einzeller. Von hier führt Ebd. Hierfür scheint zu sprechen, dass aus der Verbindung von Wasser, Wasserstoff, Methan und Ammoniak bei genügend Entladungen organische Verbindungen ent­ stehen. (Vgl. Reichholf, J. H.: Die kontingente Evolution. Entstehung und Entwicklung der Organismen, in: Fischer, E. P. / Wiegandt, K. (Hrsg.): Evolution. Geschichte und Zukunft des Lebens, Frankfurt a. M. 2003, S. 45–75, hier S. 52). 139 de Duve, C.: Aus Staub geboren. Leben als kosmische Zwangsläufigkeit, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 18. 140 Es entstehen lebendige Systeme, die »neuartige Eigenschaften besitze[n], die ausschließlich auf die zahlreichen Interaktionen seiner Bestandteile zurückzuführen sind. Diese Eigenschaften des Gesamtsystems sind mehr als nur die lineare Addition der Eigenschaften seiner Komponenten. Dabei wirken die einzelnen Bestandteile nur nach ihnen selbst innewohnenden Eigenschaften und Regeln zusammen. Es bedarf keinerlei zusätzlicher Informationen von außen, seien es genetische oder sensorische, um diese neuen Systemeigenschaften entstehen zu lassen.« (Neuweiler, G.: Und wir sind es doch – die Krone der Evolution, Berlin 2008, S. 24). 137

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ein prokaryotischer Weg einerseits zu den heutigen Bakterien und andererseits ein eukaryotischer Weg zu vielgestaltigen Mikroorganis­ men.141 Von der eukaryotischen Zelle geht der Weg zu den Vielzellern. Differenzierungen und Musterbildungen treten auf, Zellverbände bilden sich. »Lebewesen sind aufgebaut aus sehr großen Kettenmolekülen, die überwiegend aus Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff bestehen. Andere Atomsorten wie Phosphor, Calcium, Eisen usw. sind in den langen Kohlenstoffketten eingebaut. Das Leben auf der Erde wird sicher zunächst mit ganz einfachen, relativ kurzen Kohlen­ stoffverbindungen begonnen haben und im Laufe der Zeit immer kompliziertere und größere Molekülverbände aufgebaut haben.«142

2.1.7 Biogenese: Der Anfang liegt im Dunkeln Die Frage nach den Anfängen fordert auch schon antike Denker heraus. So legt etwa Anaximander Überlegungen zur Entstehung der Welt und der hier anzutreffenden Lebewesen vor, die Gedanken der Evolutionstheorie vorwegzunehmen scheinen. Die Geburtsstätte der ersten Lebewesen sei das Feuchte. Diejenigen, die später ihren Lebensraum vom Meer auf das Land verlegten, mussten sich dement­ sprechend verändern und anpassen.143 Auch Empedokles lehrt, dass das Leben in verschiedenen Phasen entstanden sei. Erst allmählich hätten sich Körper herausgebildet. Demokrit geht es darum, die Vielfalt der Seienden sowie ihre Eigenschaften zu begründen, wozu er auf atomistische Vorstellungen zurückgreift. Wir müssen natürlich festhalten, dass, wenn wir über den Beginn des Kosmos und die Entstehung des Lebens nachdenken, weder Sie noch ich dabei waren. Das ist keineswegs eine banale Aussage, inso­ fern wir keine Zeugen haben, die wir befragen können. In verschiede­ nen Projekten wird versucht, die geschilderten Anfangsbedingungen Vgl. de Duve, C.: Aus Staub geboren. Leben als kosmische Zwangsläufigkeit, Rein­ bek bei Hamburg 1997, S. 40. 142 Gassner, J. M. / Lesch, H.: Das aktuelle kosmologische Weltbild. Ein Produkt evolutionären Denkens, in: Neukamm, M. (Hrsg.): Darwin heute. Evolution als Leit­ bild in den modernen Wissenschaften, Darmstadt 2014, S. 51–88, hier S. 84. 143 Vgl. Röd, W.: Der Weg der Philosophie, Bd. 1: Altertum, Mittelalter, Renaissance, München 1994, S. 44 f. 141

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künstlich nachzustellen. Aus dem, was wir heute beobachten und wissen, versucht man auf die Anfangsbedingungen zu schließen und so zu begründeten Hypothesen zu kommen. Diese müssen besser sein als andere Hypothesen. Wir schließen also auf die beste Erklärung. Wir können Gründe dafür vorbringen, warum es vernünftig ist, die Ausgangshypothese anzunehmen. Festhalten können wir jedoch dies: Über eine lange Reihe von Generationen ist jeder von uns mit den Anfängen des Lebens auf diesem Planeten verbunden. »Hätte ein einziges Glied in dieser langen Kette niemals existiert, so würde der Mensch nicht genau das geworden sein, was er jetzt ist«144, wie Darwin bemerkt. Und Richard Dawkins bringt es folgendermaßen auf den Punkt: »Alle Organismen, die jemals gelebt haben – jedes Tier und jede Pflanze, alle Bakterien und alle Pilze, alles, was kreucht und fleucht, und sämtliche Leser dieses Buches – können auf ihre Vorfahren zurückblicken und folgende stolze Behauptung aufstellen: Von unseren Vorfahren ist kein einziger als Säugling gestorben. Alle haben das Erwachsenenalter erreicht, und jedem einzelnen gelang es, mindestens einen heterosexuellen Partner (beziehungsweise eine Partnerin) zu finden und sich mit Erfolg zu paaren.«145

Nicht unplausibel ist in diesem Kontext folgender Gedanke: Wenn es (an einem anderen Ort bzw. zu einer anderen Zeit) ähnliche Grundbe­ dingungen gibt wie zu Beginn des Lebens, kann rein theoretisch auch wieder Leben auftreten und sich entwickeln.146 Die heute lebenden Wesen haben einen gemeinsamen Ursprung, eine gemeinsame Entwicklungsgeschichte. Im Laufe dieser haben sich Arten verändert. Dies allerdings hat sich allmählich, in vielen kleinen Schritten, vollzogen (Gradualismus). Die Zahl der Arten ist dabei nicht konstant geblieben, sondern hat sich um ein Vielfaches vergrößert. Evolutionstheoretiker räumen Arten, die besser als andere an ihre Umwelt angepasst sind, höhere Überlebenschancen ein.147 144 Darwin, C.: Die Abstammung des Menschen, übersetzt von H. Schmidt, mit einer Einführung von C. Vogel, Stuttgart 2002, S. 215. 145 Dawkins, R.: Und es entsprang ein Fluß in Eden. Das Uhrwerk der Evolution, Mün­ chen 21995, S. 13 f. 146 Vgl. de Duve, C.: Aus Staub geboren. Leben als kosmische Zwangsläufigkeit, Rein­ bek bei Hamburg 1997, S. 18. 147 Vgl. Kutschera, U.: Darwinismus, Dobzhanskyismus und die biologische Theorie der Evolution, in: Borrmann, S. / Rager, G. (Hrsg.): Kosmologie, Evolution, und Evo­ lutionäre Anthropologie, Freiburg / München 2009, S. 255–270.

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In der Natur greifen vielfältige Faktoren ineinander und inter­ agieren miteinander. Sie ist dynamisch, stets im Prozess. So gibt es verschiedene anorganische Faktoren, die das Angesicht der Natur prägen und dauerhaft verändern, etwa natürliche Veränderungen des Klimas.148 Aber auch das Verhalten der Organismen selbst modifi­ ziert die Natur: »Dass es in der Natur so viel Veränderung, so viel Dynamik gibt, liegt […] keineswegs allein an den nichtlebendigen Kräften, wie Witterung und Klima, Wasserverfügbarkeit und anderen Faktoren, sondern auch an den Lebewesen selbst. Sie sind Teil der Dynamik und Verursacher zugleich.«149

Ohne Organismen würde die Erde ganz anders aussehen. Es gibt nicht nur Wechselwirkungen zwischen Ökosystemen und der gesamten Biosphäre, sondern auch das Vorhandensein einzelner Arten hat Fol­ gen.150 Organismen sind nie im thermodynamischen Gleichgewicht. Sie sind stets im Veränderungsprozess.

Der Hinweis auf Variation und Selektion führt nicht zu letzten Antworten, wenn es um die großen Veränderungen innerhalb der Geschichte des Lebendigen geht: denken wir z. B. an die Entstehung des Metabolismus einer Zelle oder auch das Auftreten mehrzelliger Organismen. 148 Die Besiedelung Grönlands wird z. B. dadurch möglich. Die Veränderungen haben Einfluss auf Ackerbau und das kulturelle Leben. Anfang des 14. Jahrhunderts kommt es auf dem gesamten Erdball zu einem Kälteeinbruch. Die Alpengletscher bewegen sich, es kommt zu Ernteausfällen, die Weinberge Nordeuropas gehen zugrunde. Zu allen Jahreszeiten sinkt die Durchschnittstemperatur um bis zu zwei Grad, während der Eiszeit sogar um bis zu neun Grad. (Vgl. Fagan, B.: Die Macht des Wetters. Wie das Klima die Geschichte verändert, Düsseldorf 2001, bes. S. 197, 205). 149 Reichholf, J.: Ende der Artenvielfalt? Gefährdung und Vernichtung von Biodiversi­ tät, Frankfurt a. M. 2008, S. 88 f. 150 »Das bemerkenswerteste Beispiel dafür ist das aus mikroskopisch kleinen pho­ totrophen Bakterien, Archaebakterien und Algen bestehende Meeresphytoplankton, das bei der Steuerung des Weltklimas eine wichtige Rolle spielt. Man nimmt an, dass allein das von den Algen erzeugte Dimethylsulfid ein wesentlicher Faktor bei der Regulierung der Wolkenbildung ist.« (Wilson, E. O.: Die Zukunft des Lebens, Berlin 2002, S. 34).

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2.1.8 Die DNA der Lebewesen Lebewesen streben nach Leben, danach, sich zu erhalten.151 Um leben zu können, sind Organismen auf Wasser angewiesen. Der Mensch besteht zu ca. 65 Prozent aus Wasser. Alle Lebewesen, die wir kennen, so ist heutzutage in jedem Biologielehrbuch der Mittelstufe nachzulesen, haben einen genetischen Code. Bei der DNA handelt es sich um ein biologisches Makromolekül. Zusammengesetzt ist es aus Zucker, Phosphat sowie den Nucleinsäuren: Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin / Uracil.152 Über Wasserstoffbrücken schließen sich zwei DNA-Moleküle zu einem Doppelstrang zusammen. Hierbei gehen stets Adenin und Thymin sowie Guanin und Cytosin zusam­ men. Das Bild einer Leiter wird in dem Zusammenhang immer wieder herangezogen: die Seitenteile dieser Leiter werden dabei durch Zucker-Phosphat-Verbindungen gebildet; die schon genannten Basenpaare bilden die Leitersprossen. Das Genom, das Erbgut, eines Lebewesens kann Milliarden solcher Basen enthalten.153 In der DNA findet sich die Erbinformation von Zellen und Organismen. Die ein­ zelnen DNA-Abschnitte werden Gene genannt. Eine Gemeinsamkeit aller Lebewesen – ob Baum, Hamster oder Mensch – besteht darin, dass die DNA in ihrem molekularen Aufbau und ihrer biochemischen Beschaffenheit gleich ist. Francis Crick und James Watson haben im Jahre 1953, übrigens knapp einhundert Jahre nach Darwins On the Origin of Species by Means of Natural Selection, Or Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life,154 die Struktur der Desoxy­

Zu dieser Überzeugung gelangt vor Darwin schon Spinoza (conatus in suo esse perseverare). Vgl. Spinoza, B.: Ethik III, Prop. 6. 152 Vgl. Mayr, E.: Eine neue Philosophie der Biologie, München 1991, S. 8, 27 f. 153 »Jeweils 3 Nukleotidbasen (›Buchstaben‹) stehen, um im Bild zu bleiben, für ein ›Wort‹ (Basentriplett bzw. Codon), welches für eine der 20 Aminosäuren kodiert. Die insgesamt 43 = 64 möglichen Tripletts (Codons) reichen aus, um alle 20 Aminosäuren zu kodieren. Demnach entfallen auf jede Aminosäure im Durchschnitt drei verschie­ dene Codons.« (Neukamm, N. / Kaiser, P. M.: Chemische Evolution und evolutionäre Bioinformatik. Voraussetzungen zum Verständnis der Struktur des Lebendigen, in: Neukamm, M. (Hrsg.): Darwin heute. Evolution als Leitbild in den modernen Wissen­ schaften, Darmstadt 2014, S. 108–132, hier S. 115). 154 Darwin, C.: On the Origin of Species by Means of Natural Selection, Or Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, London 1859. 151

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ribonucleinsäure darstellen können, was einer Initialzündung für moderne biotechnische Entwicklungen gleichkam.155 Bei uns Menschen besteht die DNA aus über drei Milliarden Basen. Sie ist »aufgewickelt« und befindet sich im Zellkern (Nukleus). Sie wird dubliert, wenn es zur Zellteilung (Zytokinese) kommt. Auf insgesamt 23 Chromosomenpaaren ist unser menschliches Erb­ gut angelegt. »Der Befund, dass alle Lebensformen, die wir auf unserem Planeten finden, den gleichen molekularen Mechanismus der Informationsspei­ cherung und Auslese nutzen, legt die Vermutung nahe, dass es einen ersten gemeinsamen Vorfahren gegeben haben muss, aus dem sich dann im Zuge der Evolution alle weiteren Lebensformen entwickelt haben, bis hin zum Menschen.«156

Die Kombinationsmöglichkeiten des Erbgutes stellen uns auch noch einmal unsere jeweilige Einmaligkeit vor Augen: Es hat noch nie zwei Menschen gegeben mit exakt derselben Genausstattung. Eine Neuauflage ist im Rahmen natürlicher Abläufe nicht vorgesehen. Unabhängig von ihrer jeweiligen Spezialisierung besitzt jede Zelle unseres Organismus dasselbe Erbmaterial. In den Genen tragen wir die lange Entwicklungsgeschichte mit uns. Unsere Gene bilden zusammen das Genom resp. den Genotyp, und steuern nicht nur die Entwicklung, sondern wirken sich auch auf die Vererbung aus. Doch nicht nur die Gene, sondern auch die Umwelt hat einen Einfluss auf die Entwicklung von Organismen. An einem DNA-Abschnitt kann es zu Veränderungen, Mutationen, kommen. Dies geschieht etwa dadurch, dass ein Fehler beim Repli­ kationsvorgang auftritt oder auch durch Umwelteinflüsse. Durch Mutationen kommt es zu neuen Varianten. »Gerade weil das Leben unablässig Gefahren ausgesetzt ist, kann es sich auch mitunter recht schnell verändern.«157 Der Mensch hat etwa 21.000 Gene. Gene

»There has hardly been a more decisive breakthrough in the whole history of biology than the discovery of the double helix.« (Mayr, E.: The Growth of Biological Thought, Diversity, Evolution, and Inheritance, Harvard 1982, S. 825). 156 Rager, G. / Wegner, G.: Vorwort. Synthetische Biologie – Neue Debatte über das Leben, in: Rager, G. / Wegner, G. (Hrsg.): Synthetische Biologie – Leben als Kon­ strukt, Freiburg / München 2015, S. 7–25, hier S. 9. 157 Reichholf, J. H.: Was stimmt? Evolution. Die wichtigsten Antworten, Freiburg 2007, S. 47. 155

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können kopiert und exprimiert werden.158 Biologen sprechen in dem Zusammenhang vom Phänotyp. »Der wesentliche Fortschritt, den die Sexualität mit sich brachte, war und liegt in der ungleich wirkungsvolleren Weitergabe von genetischen Neuerungen, von neuen Kombinationen, die gleichsam vom Leben auf Tauglichkeit getestet werden können. Sie eröffnete mehr als alles andere im Lebendigen das Tor zur Vielfalt, zur Aufspaltung und Weiterentwicklung. Und sie schützt durch diese innere genetische Vielfalt auch ungleich besser als jeder äußere Abwehrmechanismus vor Krankheitserregern – also wieder vor der uralten Mikrobenkonkur­ renz, die stets versucht, in alles Lebendige einzudringen.«159

In vielen Debatten, in denen es um unsere Gene geht, wird der Eindruck vermittelt, es sei völlig klar, was denn ein Gen sei. Doch dem ist keineswegs so. Es gibt zahlreiche Definitionen des Gens. In einer einschlägigen Datenbank im Internet werden sogar knapp 50 unterschiedliche Definitionen auseinandergehalten.160 Seit dieser biologische Terminus zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Wilhelm Johannsen eingeführt wurde, hat er eine Entwicklung durchgemacht. Unterschiedliche Bedeutungen und Funktionen wurden mit diesem Terminus in Verbindung gebracht.161 Unterschiede können ausgemacht werden zwischen der klassi­ schen Genetik und der späteren Molekulargenetik. In der klassischen

158 »Die im Zellkern lokalisierte, in der DNA gespeicherte Erbinformation wird im Cytoplasma der Zelle in eine Aminosäuresequenz übersetzt. […] Zunächst entsteht durch Abschrift (Transkription) eine Boten (messenger)-RNA (mRNA). Diese wird an den Ribosomen der Zelle (den Orten der Proteinsynthese) in eine Aminosäurekette übersetzt (Translation). Eine Abfolge von 3 Nucleotiden (Basen) auf der DNA codiert eine Aminosäure im Genprodukt (= Aminosäurekette). Eine Dreierfolge wird als Tri­ plet oder Codon bezeichnet.« (Kutschera, U.: Evolutionsbiologie, Stuttgart 42015, S. 19). 159 Reichholf, J. H.: Die kontingente Evolution. Entstehung und Entwicklung der Organismen, in: Fischer, E. P. / Wiegandt, K. (Hrsg.): Evolution. Geschichte und Zukunft des Lebens, Frankfurt a. M. 2003, S. 45–75, hier S. 59. 160 Vgl. http://www.biological-concepts.com/views/search.php?term=593 (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 161 Sehr eindrücklich ist diese Entwicklung nachgezeichnet in: Schuol, S.: Das regu­ lierte Gen. Implikationen der Epigenetik für Biophilosophie und Bioethik, Freiburg / München 2017. Darwin hatte (Lamarck folgend) noch von sogenannten »Gemmulae« gesprochen: Eigenschaften des Lebendigen würden vermittels winziger Partikel in die nächste Generation weitergegeben.

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Genetik, womit der Zeitraum von 1900 bis zur Entdeckung der molekularen Struktur der DNS durch Watson und Crick im Jahre 1953 gemeint ist, sind Funktion und Struktur des Gens noch unbekannt. Im Vordergrund steht die Phänotyp-Ebene: Von den vererbten Merkma­ len her wird versucht zu erschließen, was Gene ausmachen.162 Erst die Molekulargenetik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun­ derts widmet sich der Frage nach Funktion und Struktur von Genen.163 »War es davor unklar, ob Protein oder DNS die materiale Basis des Gens ist, konnte das Gen nun auf der DNS lokalisiert werden. In struktureller Hinsicht gilt das Gen fortan als ein von einem Start- und Stopcodon eingegrenzter, proteincodierender Basensequenzabschnitt der DNS. Diese Definition legt zugleich auch die Funktion fest: Durch die Transkription des DNS-Abschnitts in RNS und anschließende Translation wird eine in der Basensequenz der DNS gespeicherte Ordnung in die Aminosäuresequenz des Proteins übertragen und diese bestimmt dessen biochemische Eigenschaften.«164

Eine wichtige Wegmarke stellt das Humangenomprojekt dar, welches das Verständnis von Genen entscheidend erweitert und verändert hat. So hebt Sebastian Schuol hervor, dass Gene sich teilweise überlap­ pen können, demnach nicht klar umgrenzte Basensequenzabschnitte darstellen. Zudem werde klarer, dass Gene einer Regulierung bedür­ fen.165 Im Fokus systembiologischer Arbeiten steht weniger die Struk­ tur als die Funktion für den Gesamtorganismus und dessen Beziehung zur Umwelt; von Interesse ist das Zusammenspiel von DNS und anderen (molekularen) Einheiten. Die DNS ist hiernach mit einem »gesamtorganismischen Funktionskontext verbunden«166. Das Gen übernimmt demnach keine Sonderrolle. Diskutiert werden Zusam­ menspiel und Integration verschiedener Funktionsebenen. Diese Sicht wurde mitbeeinflusst durch die Forschungen zur Epigenetik. »Neu an diesem Wissen ist, dass Gene im Hinblick auf ihre Funktion (Biosynthese von Protein) in zwei Modi vorkommen, aktiv oder inak­ tiv. Das davor primär durch die Basensequenz bestimmte Verständnis eines Gens wird dadurch erweitert, aber auch relativiert: Sofern näm­ 162 163 164 165 166

Vgl. a. a. O., S. 363. Vgl. a. a. O., S. 40. A. a. O., S. 363 f. Vgl. a. a. O., S. 364. A. a. O., S. 18.

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lich ein DNS-Abschnitt inaktiv vorliegt, kann er keine phänotypische Wirkung entfalten. Die in der DNS gespeicherte Information stellt nur eine Seite der Medaille dar und wird durch epigenetische Genregula­ tion komplettiert.«167

Die Epigenetik, diese Bezeichnung knüpft übrigens bewusst an den aristotelischen Begriff ἐπιγένησις an,168 macht unter anderem darauf aufmerksam, dass ein Gen nicht eine isolierte und statische Einheit darstellt, und dass verschiedene Kontextbezüge zu berück­ sichtigen sind. Dies hat zu einer Vertiefung unserer Sichtweise von Genen geführt. Wurde das Gen, so Schuol, im Kontext der klassischen Gene­ tik zunächst als »Vererbungseinheit«169 gesehen, änderte sich dies zugunsten einer Sichtweise als »Entwicklungseinheit«170. Ein Gen ist demnach nicht »Dingeinheit«171, sondern Teil eines dynamischen Ganzen. Die Umwelt wirkt regulativ; der persönlichen Lebensweise kommt eine Bedeutung hinsichtlich der jeweiligen genetischen Aus­ prägung zu.172 »Weder ein Gen noch eine Zelle kann im absoluten Sinne als eine autarke Einheit verstanden werden – selbst verändern sie sich nicht, sie sind in übergeordnete Funktionsbezüge eingebettet und werden von diesen zwar nicht determiniert, aber durchaus mit verändert. Organis­ men im Allgemeinen, aber auch einzelne Zellen stellen offene Systeme dar, die sich mit ihrer Umwelt in einem stofflich/informationalen Fließgleichgewicht befinden.«173

Durch die moderne Gentechnologie und die gesellschaftspolitischen Debatten hierzu hat sich teilweise das Bild verfestigt, unser Leben werde von Genen diktiert, Gene seien deterministisch, was allein schon aufgrund der komplexen Zusammenhänge von Genen mehr als fraglich ist.

A. a. O., S. 19. Vgl. Waddington, C. H.: The basic ideas of biology, in: Waddington, C. H. (Hrsg.): Towards a Theoretical Biology. Prolegomena. An IUBS Symposium, Edinburgh 1968, S. 1–32, hier S. 9 f. 169 Schuol, S.: Das regulierte Gen. Implikationen der Epigenetik für Biophilosophie und Bioethik, Freiburg / München 2017, S. 24. 170 A. a. O., S. 24, vgl. S. 96 ff. 171 A. a. O., S. 84. 172 Vgl. a. a. O., S. 28. 173 A. a. O., S. 90. 167

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2.1.9 Werden und Entfaltung des Lebens In den Lebewesen ist die Geschichte des Lebens enthalten. Deshalb analysiert man heute z. B. Eigenschaften und Fähigkeiten von Lebe­ wesen und versucht, durch Rückschlüsse Auskunft über frühere Generationen zu bekommen. Man nimmt Parallelen an zwischen den chemischen Reaktionen zu Beginn des Lebens und jenen Reak­ tionen, die wir heute mit dem Leben in Verbindung bringen, und zieht daraus die Konsequenz, den Anfang des Lebens erhellen zu können.174 »[W]as die Biologie über das Leben zu sagen hat und mit der ihr möglichen Präzision sagt, ist doch trotz aller scheinba­ ren naturwissenschaftlichen Eindeutigkeit weder selbst deutungsfrei, noch in einen deutungsfreien Raum hineingesagt; es ist und bleibt deutungsbedürftig.«175 Beobachtungen, Messergebnisse und Daten müssen interpretiert werden. Und diejenigen, die diese Daten deuten, haben einen spezifischen Blick darauf. Folgendes Beispiel illustriert dies: Charles Darwin war berührt von der Lektüre eines Buches über die soziale Frage und die Verarmung der Menschen. Ausgehend von diesem Blickwinkel hat er dann das Leben und den »struggle for life« gedeutet. So schreibt er in seiner Autobiographie: »Im Oktober 1838 […] las ich zufällig zur Unterhaltung Malthus’ Buch über das Bevölkerungsproblem, und da ich hinreichend darauf vorbereitet war, den überall stattfindenden Kampf um die Existenz zu würdigen, namentlich durch lange fortgesetzte Beobachtung der Lebensweise von Tieren und Pflanzen, kam mir sofort der Gedanke, daß unter solchen Umständen günstige Abänderungen dazu neigen, erhalten zu werden, und ungünstige, zerstört zu werden. Das Resultat hiervon würde die Bildung neuer Arten sein. Hier hatte ich nun endlich eine Theorie, mit der ich arbeiten konnte.«176

Wenn wir nach der Entstehung des Lebendigen fragen, geht es hierbei auch um die Frage, ob Lebendiges stets aus Lebendigem hervorgeht oder nicht. Blicken wir auf die Geschichte der experimentellen Biolo­ 174 Vgl. z. B. de Duve, C.: Aus Staub geboren. Leben als kosmische Zwangsläufigkeit, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 18. 175 Lüke, U.: Das Leben – natürlich, übernatürlich, künstlich?, in: Rager, G. / Wegner, G. (Hrsg.): Synthetische Biologie – Leben als Konstrukt, Freiburg / München 2015, S. 127–159, hier S. 135. 176 Darwin, C.: Charles Darwin – ein Leben. Autobiographie, Briefe, Dokumente, hrsg. von S. Schmitz, München 1982, S. 93.

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gie, so sehen wir, dass die Frage einer möglichen Urzeugung lange Zeit diskutiert wurde.177 Ganz unterschiedliche Stoffe und Lösungen wurden hierzu genau untersucht. »Aber in allen Fällen, in denen die Lösungen durch gründliches Erhitzen keimfrei gemacht und gegen die Außenluft abgeschlossen waren, zeigte sich auch nach so langer Zeit kein Leben in ihnen«178, wie Moritz Schlick zu Beginn des 20. Jahr­ hunderts in seiner Naturphilosophie festhält. Seiner Ansicht nach sei das Pferd auch von der falschen Seite aufgezäumt worden, insofern die Gesetze des Lebens nicht bis ins Einzelne bekannt gewesen seien. Erst wenn diese bekannt seien, sei auch eine planmäßige Herstellung mög­ lich. »Die künstliche Erzeugung eines Vorgangs ist freilich ein gutes Kriterium dafür, dass man das Wesen des Vorgangs richtig erfasst hat; dass der Blitz ein elektrischer Vorgang ist, wird am augenfälligsten dadurch bewiesen, dass man mit der Elektrisiermaschine einen Blitz im Kleinen herstellt.«179 Diese Überzeugung kann man heute in vielen naturwissenschaftlichen Publikationen antreffen: Etwas gilt dann als verstanden, wenn man Funktionsabläufe kennt und es nachbauen kann – wie hier in diesem Beispiel eben den »Blitz im Kleinen«. Wir werden darauf zurückkommen! Wenn eine experimentelle Nachah­ mung gelinge, so hält Schlick in diesem Kontext fest, sei keineswegs eine mechanistische Erklärung des Lebendigen bewiesen: »[D]azu wäre auf jeden Fall eine restlose Erkenntnis der inneren Vorgänge

Die Annahme einer Urzeugung ist bis ins 19. Jahrhundert durchaus geläufig und wird zu plausibilisieren versucht. So wird beispielsweise das Auftreten der Pockener­ reger hiermit in Verbindung gebracht. (Vgl. Julius, N. H.: Zusätze zu den frühen Bemerkungen über die Pocken-Epidemie in Hamburg. Notizen aus dem Gebiete der Natur- und Heilkunde 8, Nr. 156 (1824), S. 25–27; siehe auch: Toepfer, G.: Urzeugung, in: Toepfer, G.: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der bio­ logischen Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 2011, S. 608–619) Haeckel spricht beispiels­ weise von einer »logische[n] Nothwendigkeit«, dass Organismen aus dem Anorga­ nischen spontan entstehen können (Haeckel, E.: Generelle Morphologie der Organismen, Bd. I, Berlin 1866, S. 179). Auch in der klassischen deutschen Philosophie macht man sich über diese Frage Gedanken. Die Annahme einer spontanen Genera­ tion wäre nach Kant »die Erzeugung eines organisirten Wesens durch die Mechanik der rohen unorganisirten Materie« (Kant, I.: Kritik der Urteilskraft, in: AA Bd. V, S. 419). Wirklich erhellend scheint ihm diese Erklärung nicht. Die Organisation von Lebewesen bringt er mit der Zeugung in Zusammenhang (vgl. Kant, I.: Über den Gebrauch teleologischer Principien, in: AA Bd. VIII, S. 179). 178 Schlick, M.: Naturphilosophie. Das Wesen von Naturgesetzen und die Erklärung des Lebens, hrsg. von K.-D. Sedlacek, Norderstedt 2015, S. 85. 179 Ebd. 177

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bei der Lebensentstehung erforderlich.«180 Schlick gelangt zu der Überzeugung, wir wüssten nicht, wie das Leben entsteht. Es sei unerlässlich, die Gesetze der lebendigen Natur zu studieren. Viele moderne Kollegen pflichten ihm hier wohl bei. Es herrscht nicht nur Unklarheit darüber, wie das Leben entstand, sondern auch wo. Die Theorie, Leben habe seinen Anfang in einer Art »Ursuppe« genommen, wurde bereits angesprochen. In den 1950er Jahren versuchte man, diese Überlegungen experimentell zu unter­ mauern. Es wurde im Labor versucht, vergleichbare Grundvorausset­ zungen herzustellen wie zu Urzeiten auf der Erde.181 In einer Eisen-Schwefel-Umgebung, so kann man eine andere Theorie zusammenfassen, sah man die Bedingungen für die Entwick­ lung von Zellen und die Entstehung des Lebens erfüllt. »Ausgangspunkt seien Eisen-Schwefel-Verbindungen wie Pyrit, die am Grenzbereich zwischen dem heißen, mineralreichen Quellwasser und dem kaltem, sauren Meereswasser als Kondensationskern für die Anlagerung organischer Stoffe dienten. Die Bedingungen für diese Synthese sind am ehesten in den bis zu 15 m hohen Tiefseeschlo­ ten erfüllt.«182

A. a. O., S. 86. »Ein erhitztes Gemisch der Gase Methan (CH4), Ammoniak (NH3), Wasserdampf (H2O) und Wasserstoff (H2) wurde in Abwesenheit von molekularem Sauerstoff (d. h. unter anaeroben Bedingungen) einer elektrischen Entladung ausgesetzt. Unter diesen simulierten Bedingungen der jungen Erde (Hitze, Gewitter) bildeten sich innerhalb weniger Tage eine Reihe bekannter organischer Verbindungen, die wir heute als Bau­ steine (Monomere) der Biomoleküle vorfinden (z. B. verschiedene Aminosäuren, Harnstoff, organische Säuren) […] Durch Variation der Versuchsbedingungen (andere Gasgemische, wie z. B. CO/CO2/N2/H2O-Dampf; Zugabe katalytisch wirksamer Tonmineralien, alternativer Energiequellen wie Ultraviolett- oder β-Strahlung) konn­ ten […] auch verschiedene Zucker, Fettsäuren und die Nucleinsäurebase Adenin syn­ thetisiert werden.« (Kutschera, U.: Evolutionsbiologie, Stuttgart 42015, S. 165). 182 Herzog, V.: Zellbiologie der Lebensentstehung: Der Weg vom Molekül zur Zelle, in: Herzog, V. (Hrsg.): Lebensentstehung und künstliches Leben. Naturwissenschaftli­ che, philosophische und theologische Aspekte der Zellevolution, Ettlingen 2010, S. 17– 151, hier S. 54 f. »Für diese Hypothese spricht, dass zu den einfachsten Organismen unserer Zeit die sogenannten Archaea gehören, thermophile Tiefseebakterien, die an diesen Kaminen leben, sich bei Temperaturen von ca. 100 bis 140 Grad Celsius am schnellsten ver­ mehren und sich seit den Anfängen des Lebens über die Jahrmilliarden bis heute gehalten haben.« (Neuweiler, G.: Und wir sind es doch – die Krone der Evolution, Berlin 2008, S. 15). 180

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Auf einer Expedition der National Science Foundation wurde im Jahre 2000 ein Gebiet von hydrothermalen Schloten im mittleren Atlantik entdeckt. Dieses Gebirge im Meer wird als »Lost City« bezeichnet.183 Es handelt sich um ca. 30 Schlote, die in erster Linie aus Calciumcarbonat (Kalk) bestehen. Sie haben eine Höhe von etwa 30 bis 60 Metern. Wasserstoff und Methan werden von den Schloten an das CO2-haltige Wasser weitergegeben. Beide Gase stammen aus Fluiden, konzentrierten Lösungen, die durch eine Reaktion des Meerwassers mit dem Gestein Peridotit entstehen. Volker Herzog hält hierzu Folgendes fest: »Diese Bedingungen könnten ideale ›Brutstätten der Lebensentste­ hung‹ sein: Die Wände der kalkigen Schlote sind mit vielen kleinen Poren durchsetzt, in denen sich Molekülketten anreichern können, die bei der Durchmischung des heißen mineralreichen Quellwassers mit dem CO2-haltigen Wasser der Umgebung entstehen. Es wird postuliert, dass sich an den Innenwänden der Poren Lipide und andere hydrophobe Verbindungen anlagern, aus denen bei Gelegenheit Lipo­ somen-artige, allseits geschlossene Hüllen entstehen, die die Makro­ moleküle einschließen und gegen die Außenwelt begrenzen.«184

Nicht im Wasser, sondern im Meereseis – so lautet eine andere Antwort auf die Frage, wo denn das Leben entstanden sei. Hierbei geht man davon aus, dass weite Teile unseres Planeten in Eis gehüllt waren, als die ersten Zellen auftraten. Es hätten sich Blasen, so Vertreter dieser Theorie, zwischen den Eiskristallen herausgebildet. Diese seien dann von Salzlösungen erobert worden, wodurch zellanaloge Gebilde entstanden seien. Volker Herzog hierzu: »Für die Bildung von RNSMolekülen könnte die poröse Struktur von Meeres-Eis, die zellähnli­ che Kämmerchen bildet, geeignete Bedingungen geboten haben.«185 Im Hinblick auf den Beginn des Lebens wird der Katalyse eine große Bedeutung beigemessen. Hiermit wird die Fähigkeit von Stoffen in den Blick genommen, die für chemische Reaktionen not­ wendige Aktivierungsenergie herabzusetzen, so dass die Reaktion

183 Vgl. Herzog, V.: Zellbiologie der Lebensentstehung: Der Weg vom Molekül zur Zelle, in: Herzog, V. (Hrsg.): Lebensentstehung und künstliches Leben. Naturwissen­ schaftliche, philosophische und theologische Aspekte der Zellevolution, Ettlingen 2010, S. 17–151, hier S. 55 f. 184 Ebd. 185 A. a. O., S. 57.

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weitaus schneller zustandekommt.186 Leben sei möglich geworden durch Katalyse und die Fähigkeit zur Replikation.187 Mit dem uns 186 »Katalysatoren erreichen dies, indem sie die Reaktionspartner an sich lagern und so in Position bringen, dass sie mühelos miteinander reagieren können. Dabei wird die chemische Reaktion nicht nur um Größenordnungen beschleunigt, sondern gleich­ zeitig wird auch selektioniert, weil ein Katalysator nur solche Stoffe anlagern kann, die seiner eigenen Struktur wie Schlüssel und Schloss entsprechen.« (Neuweiler, G.: Und wir sind es doch – die Krone der Evolution, Berlin 2008, S. 13). 187 Der deutsche Biochemiker Manfred Eigen, 1967 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet, nimmt eine Selbstorganisation von präbiotischen Systemen an. Seine Theorie wird Hyperzyklentheorie genannt. (Siehe hierzu: Eigen, M.: The Hypercycle. Coupling of RNA and Protein Biosynthesis in the Infection Cycle of an RNA Bacte­ riophage, in: Biochemistry, Vol. 30, Number 46, 1991, S. 11005–11018; Eigen, M.: Stufen zum Leben, München / Zürich 1987, S. 83–98, S. 225–237; Eigen, M. / Schuster, P.: The Hypercycle. A Principle of Natural Self-Organization, Berlin / Hei­ delberg / New York 1979) Eigen geht es darum, den Schritt in der präzellulären Phase hin zur Zelle, hin zur Entstehung des Lebendigen zu erläutern: Hyperzyklen quasi als Wegweiser in Richtung Zellen, als Basis einer natürlichen Selbstorganisation. Gemeinsam mit Peter Schuster erläutert er dies: »[T]he first living cell must itself have been the product of a protracted process of evolution which had to involve many single, but not singular, steps. In particular, the genetic code looks like the product of such a multiple evolutionary process, which probably started with the unique assignment of only a few of the most abundant primordial amino acids.« (A. a. O., S. 2) Postuliert wird ein in Etappen ablaufender molekularer Entwicklungsprozess, der zu einer leben­ digen, einen genetischen Code verwendenden Zelle führt. »A detailed analysis of macromolecular reproduction mechanism suggests that catalytic hypercycles are min­ imums requirement for a macromolecular organization that is capable to accumulate, preserve and process genetic information.« (Ebd.) Mit dem Begriff »Hyperzyklus« bezeichnen Eigen und Schuster ein System, eine zyklische Verknüpfung, von autokatalytischen, sich selbst reproduzierenden Einzel­ zyklen. (Vgl. Eigen, M. / Schuster, P.: The Hypercycle. A Principle of Natural SelfOrganization, Berlin / Heidelberg / New York 1979, S. 5) Im Hinblick auf die Schwelle von der Chemie zur Biologie komme den Nukleinsäuren, die sich abiotisch vermehren, eine besondere Bedeutung zu. Proteine sorgen ihrer Auskunft nach für die funktionelle Verknüpfung mehrerer solcher Zyklen. Die Vermehrung einer Nucleinsäure wird durch ein Protein begünstigt und vice versa in gegenseitiger Wechselwirkung ist die Nukleinsäure für die Bildung eines Proteins förderlich. Eine übergeordnete zyklische Verknüpfung vermag ein kooperatives Gefüge herzustellen, sich selbst zu unterhalten und zu replizieren. »Lebewesen entstehen aus ungeordneter, nichtorganisierter Materie.« (Eigen, M. / Winkler, R.: Das Spiel, München 1983, S. 287) Charakteristisch für Lebewesen sei es, dass sie sich fortpflanzen können, eine »selbstreplikative Struktur« aufzuweisen. (Eigen, M. / Winkler, R.: Das Spiel, München 1983, S. 197) Jene selbstreplikative Struktur wird auf eine Selbstorganisation der Materie zurückgeführt. Hinsichtlich des Übergangs vom Unbelebten zum Belebten sind laut Manfred Eigen vor allem zwei Eigenschaften der Materie in den Blick zu nehmen: Zum einen die

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zur Verfügung stehenden naturwissenschaftlichen Methodenarsenal lässt sich wohl beschreiben, dass in Systemen Energie vorhanden ist, »materielle Komplexität aller für den Lebensprozess typischen Strukturen«, zum anderen ein auf »funktionelle Zweckmäßigkeit ausgerichtete molekulare Aufbau die­ ser Strukturen« (Eigen, M.: Stufen zum Leben, München 1987, S. 249). Komplexität ist demnach nicht nur etwas, das alle Lebewesen auszeichnet, sondern schon die molekulare Ebene, die Nukleinsäuren und Proteine, müssen so komplex sein, dass eine Entwicklung überhaupt möglich ist. (Vgl. a. a. O., S. 33) Keineswegs unabhängig und losgelöst von der Materie hat sich Leben entwickeln können. Strukturierte Mate­ rie ist die notwendige Bedingung dafür gewesen, dass überhaupt Lebensformen auf­ treten konnten. In anderen Worten: Materie weist schon Struktur auf, ist in sehr umfassender Weise geformt. Die molekularen Strukturen sind schon sehr reichhaltig, Materie ist nicht einfach nur »da«. Materie tritt nicht unabhängig von Form auf; sie entwickeln sich gemeinsam. Die molekularen Strukturen sind »zu einer Optimierung und damit zur teleonomischen Annäherung an ein zweckbestimmtes Verhalten befä­ higt. Sie bewahren das Erreichte und substituieren es ausschließlich durch das Zweck­ mäßigere.« (Eigen, M.: Stufen zum Leben, München 1987, S. 257) Ging Aristoteles in seiner Physik davon aus, dass sich die Natur selbst vervollkomm­ nen kann, versteht M. Eigen die Entwicklungsgeschichte des Lebendigen als »Opti­ mierung funktioneller Effizienz« (a. a. O., S. 65). Eigen spricht von einer »Zielgerich­ tetheit des Evolutionsprozesses« (a. a. O., S. 79). Eine alles erschließende »Weltformel, die die Entstehung des Lebens als Konsequenz materiellen Verhaltens zwingend deduzierte und gleichzeitig das Wunder der Mannigfaltigkeit höheren Lebens bis hin zur Seele des Menschen erklären könnte« (a. a. O., S. 101), gebe es nicht. Im Hinblick auf die Suche nach einer solchen sowie die Situation der modernen Biologie führt er eine Aussage aus Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus an: »Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.« (A. a. O., S. 120) An der Hyperzyklentheorie wurde auch Kritik geübt, z. B. derart, dass »unter den Bedingungen der Uratmosphäre die Zyklen abbrechen und deshalb nicht zu höher organisierten Strukturen führen« (Herzog, V.: Zellbiologie der Lebensentstehung: Der Weg vom Molekül zur Zelle, in: Herzog, V. (Hrsg.): Lebensentstehung und künstliches Leben. Naturwissenschaftliche, philosophische und theologische Aspekte der Zellevolu­ tion, Ettlingen 2010, S. 17–151, hier S. 41) könnten. Hieraus wird geschlussfolgert, dass der Schritt zur sich replizierenden Zelle nicht ausreichend expliziert werde. (Vgl. a. a. O., S. 41) Hans Kuhn fragt nach den physikalisch-chemischen Bedingungen für die Entstehung des Lebens und betont in seinen Überlegungen hierzu die Bedeutung der Umwelt. Die Selbstorganisation der Materie erfahre eine Anregung sowohl durch eine (periodi­ sche) Temperaturveränderung als auch durch die räumliche Umgebung auf dem Erd­ ball zur präbiotischen Zeit. (Vgl. Kuhn, H.: Self-organization of molecular systems and evolution of the genetic apparatus, in: Angewandte Chemie. A Journal of the Ger­ man Chemical Society, Vol. 11, Nr. 9 (1972), S. 798–820) »Der Anlaß zur Bildung immer komplexerer Strukturen wird in einer von außen diktierten zeitlichen Periodi­ zität und in einer räumlich abwechslungsreichen Umgebung gesehen, die nur durch zunehmende Komplexität der evolvierenden Systeme allmählich als Lebensraum ver­ fügbar wird.« (Kuhn, H.: Evolution selbstorganisierender chemischer Systeme, in: Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Vorträge N 254, Opla­

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diese Wirkungen entfaltet und zyklische Anordnungen entstehen. Es würde aber die naturwissenschaftlichen Kompetenzen überschreiten, erwarteten wir auch noch die Antwort, wie aus jenen Zyklen lebendige Einheiten entstanden sind. Die unterschiedlichen Hypothesen hierzu lassen sich nicht experimentell überprüfen. Ein anderer Antwortversuch im Reigen der Lebensursprungs­ theorien misst Tonmineralien eine herausragende KatalysatorBedeutung für die Entstehung organischer Strukturen zu.188 Es gibt Autoren, die der Ansicht sind, eine präbiotische Entstehung von Nukleotiden sei schlichtweg zu aufwendig und die Folgen wären letzt­ lich zu gering gewesen. Die Syntheseprodukte hätten sich nicht nur rasch verbreitet, sondern wären eben auch rasch wieder zerfallen. Die Anhänger dieser Theorie verlagern ihre Suche nach den Ursprüngen des Lebens in die Weiten des Weltalls. Leben soll demnach nicht auf der Erde, sondern außerhalb dieser entstanden sein. Überall im Weltall verteilt seien »Keime des Lebens«, weshalb in diesem Kontext von »Panspermie« (πανσπερμία) die Rede ist. Diese Lebenskeime hätten dann auch ihren Weg zur Erde gefunden. Dieser Überzeugung ist der Chemie-Nobelpreisträger Svante Arrhenius. In seiner Arbeit Das Leben selbst. Sein Ursprung, seine Natur189 macht sich auch Francis Crick hinsichtlich der Frage nach dem Ursprung des Lebens für die Panspermie-Hypothese stark: Mikroorganismen reisten hiernach in einem Raumschiff, welches von einer höherstehenden Zivilisation entwickelt wurde, zur Erde, wo alles dann seinen Gang nahm.190 »Das Raumschiff war unbemannt, um ihm die größtmögliche Reichweite den 1975, S. 9) Kuhn betont – wie Eigen – die Rolle der RNA im Kontext der Entste­ hung des Lebendigen. Zur Kritik an Selbstorganisationstheorien sei verwiesen auf: Kuhlmann, M.: Theorien komplexer Systeme: Nicht-fundamental und doch unverzichtbar?, in: Bartels, A. / Stöckler, M. (Hrsg.): Wissenschaftstheorie, Paderborn 2007, S. 307–328, hier bes. S. 313 f. 188 Hierzu: Herzog, V.: Zellbiologie der Lebensentstehung: Der Weg vom Molekül zur Zelle, in: Herzog, V. (Hrsg.): Lebensentstehung und künstliches Leben. Naturwis­ senschaftliche, philosophische und theologische Aspekte der Zellevolution, Ettlingen 2010, S. 17–151, hier S. 56 f. 189 Crick, F.: Das Leben selbst. Sein Ursprung, seine Natur, München / Zürich 1981. 190 Hierbei handelt es sich nicht um eine Einzelmeinung. Gegen eine Urzeugung und für die Vorstellung kosmischer Lebenskeime plädieren z. B. auch Hermann Helm­ holtz, Lord Kelvin und Svante Arrhenius. (Vgl. Portmann, A.: An den Grenzen des Wissens. Vom Beitrag der Biologie zu einem neuen Weltbild, Wien / Düsseldorf 21974, S. 199 f.).

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zu sichern. Das Leben begann hier bei uns, als diese Organismen in das Urmeer entlassen wurden und sich zu vermehren begannen.«191 Crick weist schließlich auf die »äußerst dürftig[e] Zahl der einschlä­ gigen Fakten«192 hin, die für diese Theorie sprechen würden, welche »noch unausgereift«193 sei. Einen Lebenskeim, der aus den Tiefen des Weltalls den Weg zur Erde gefunden hat, kann Crick nicht vorweisen. Bisher konnte kein Erweis erbracht werden, dass es außerhalb der Erde Leben gibt. Ein Argument für die These, Leben sei nicht auf der Erde entstanden, sondern außerirdischen Ursprungs, ist der Hinweis darauf, dass höchstens 200 Millionen Jahre ausgereicht haben müs­ sen, bis Leben aufgetreten ist. »Das ist zwar wenig im Vergleich zur gesamten Geschichte des Lebens auf der Erde, aber absolut gesehen ist es dennoch ein langer Zeitraum«194, wie Christian de Duve darlegt. Freilich ist die Annahme, es gebe derartige widerstandsfähige Keime, nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Aber wirklich triftige Argu­ mente für die Annahme der Panspermie-Hypothese gibt es nicht. Im Grunde verlagert die Panspermie-Theorie die Frage nach dem Ursprung des Lebens und beantwortet sie daher nicht wirklich.195 191 Crick, F.: Das Leben selbst. Sein Ursprung, seine Natur, München / Zürich 1981, S. 12 f. 192 A. a. O., S. 180. 193 A. a. O., S. 182. 194 de Duve, C.: Aus Staub geboren. Leben als kosmische Zwangsläufigkeit, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 33. Manfred Eigen argumentiert in dieselbe Richtung. Vgl. Eigen, M.: Stufen zum Leben, München / Zürich 1987, S. 30. 195 Ernst Mayr hält Folgendes fest: »[D]ie Wahrscheinlichkeit einer mehrfachen Ent­ stehung einer sich selbst reproduzierenden Ansammlung von Nucleinsäurepro­ tein[en] ist in der Tat hoch. Seit geraumer Zeit ist bekannt, daß kleinere organische Moleküle, etwa Aminosäuren, Purine und Pyrimidine, im Universum spontan ent­ stehen können und man solche Prozesse im Labor nachvollziehen kann. […] Nach den Untersuchungen von Eigen und seiner Schule […] und der Entdeckung der enzy­ matischen Beschaffenheit der RNA scheint es in dieser Hinsicht keine prinzipiellen Schwierigkeiten mehr zu geben.« (Mayr, E.: Eine neue Philosophie der Biologie, Mün­ chen 1991, S. 87 f.) Gleichwohl hält er es für unwahrscheinlich, dass sich irgendwo anders auch intelligentes Leben entwickelt hat. (Vgl. a. a. O., S. 94) Exobiologen gehen der Frage nach, unter welchen Bedingungen Leben auch auf ande­ ren Planeten möglich sein könnte. Besondere Aufmerksamkeit hat in diesem Zusam­ menhang der Fund von Bakterien und Pilzen im Tiefengestein der Erde gesorgt. Man spricht hier von SLIMEs, was für subsurface lithoautotrophic microbial ecosystems steht. Diese versorgen sich über anorganische chemische Stoffe und sind autotroph, von der Erdoberfläche unabhängig. (Vgl. Wilson, E. O.: Die Zukunft des Lebens, Berlin 2002, S. 29) Edward O. Wilson unterstreicht die Bedeutung der SLIMEs für die Exo­

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biologie. Es könnte sein, dass derartige Gesteinsmikroben resp. ihre außerirdischen Vertreter z. B. in den Tiefen des Mars verborgen sein könnten. »Während seiner frü­ hen, aquatischen Periode gab es auf dem Mars Flüsse und Seen und vielleicht auch Zeit genug, um eigene Oberflächenorganismen zu entwickeln. […] Wenn sich auf dem Mars tatsächlich Leben entwickelt haben sollte oder durch winzige Mikroben von der Erde aus eingeführt wurde, dann müssen sich unter diesen Lebensformen extre­ mophile Organismen befinden, von denen wiederum einige ökologisch unabhängige Einzeller sind (oder waren), die im Dauerfrostboden und darunter existieren können.« (A. a. O., S. 30; vgl. hierzu auch: Wilson, E. O.: Der Sinn des menschlichen Lebens, München 2015, S. 111 ff.) Die Panspermie-Theorie sei, so Wilson, eine »zumindest […] entfernte Möglichkeit« (Wilson, E. O.: Der Sinn des menschlichen Lebens, München 2015, S. 115). Einschrän­ kend fügt er hinzu: »Wir wissen zu wenig über die große Vielfalt von Bakterien, Archaeen und Viren auf der Erde, um irgendwelche Aussagen über die Extreme der evolutionären Anpassung hier und anderswo im Sonnensystem machen zu können.« (A. a. O., S. 116) Nicht nachvollziehbar dagegen ist es, von hier lebenden Tierarten auf mögliche extraterrestrische Lebewesen zu schließen, wie es E. O. Wilson tut: »Unter­ suchen wir nämlich die zahllosen Tierarten auf der Erde mit ihrer geologischen Geschichte und übertragen wir diese Informationen auf plausible Äquivalente auf anderen Planeten, so lassen sich Auftreten und Verhalten intelligenter außerirdischer Organismen durchaus grob skizzieren.« (A. a. O., S. 118) Und Wilson fährt weiter fort und macht sich nach der Betrachtung der Physiologie landbewohnender Tiere auf der Erde Gedanken über außerirdische Wesen: »Bei Außerirdischen ist das [der langge­ zogene Körper, die Lage des Gehirns im organismischen Gesamtgefüge] nicht anders. Auch sie haben einen im Vergleich zum restlichen Körper großen Kopf mit eigens vorgesehenem Raum für die Unterbringung der notwendig riesigen Gedächtnisspei­ cher.« (A. a. O., S. 124) Wilson meint auch zu wissen, dass sie über eine »sehr hohe Intelligenz« verfügen müssen. (Vgl. a. a. O., S. 125) Die Frage nach der Entstehung des Lebens auch außerhalb der Erde provoziert jeden­ falls in einem Zeitalter, in dem wir zum Mond fliegen können und unbemannte Flug­ kapseln, die Informationen über unsere Erde enthalten, ins All schicken, die Frage, ob Leben hier auf der Erde einzigartig ist. Es ist uns heute möglich, nach Weisen extra­ terrestrischen Lebens z. B. auf dem Mars zu suchen, und wir wissen, dass etwa 1010 Sterne alleine unserer Milchstraße zugerechnet werden können und es noch unge­ zählte weitere Galaxien gibt. Schon Nicolaus Cusanus ist – wie ein Blick in den zweiten Teil seiner beeindruckenden philosophisch-theologischen Arbeit De docta ignorantia zeigt – davon überzeugt, dass der Kosmos keinen Mittelpunkt hat. Er schlussfolgert daraus aber nicht, dass die Existenz des Lebens auf der Erde, den Menschen freilich eingeschlossen, ohne Sinn sei. Dass es sie (und uns eingeschlossen) überhaupt gibt und nicht vielmehr nichts, führt er auf einen Seinsgrund der Welt zurück, den er Gott nennt. Das Universum verdankt sich nicht sich selbst, hat sich nicht selbst ins Sein gesetzt, sondern ist geschaffen von Gott, der selbst ungeschaffen ist. Die Erde bewegt sich, was wir im Alltag aber freilich nicht bemerken. Bewegungen nehmen wir, so Cusanus, durch den Vergleich mit etwas wahr, das sich nicht bewegt. So ginge es jemandem wohl auch, so Cusanus, wenn er auf einem anderen Stern weilte. Unter den geschilderten Bedingungen könnte dieser meinen, an einem unbeweglichen Mittel­ punkt zu sein. Alles andere jedoch würde währenddessen in Bewegung sein.

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2.1.10 Komplexität des Lebendigen Von unterschiedlichen Autoren wird betont, dass Komplexität ein ganz entscheidendes Merkmal von Lebewesen sei. Bereits die ersten Lebensformen, aus denen sich dann noch komplexere entwickelt hätten, seien komplex gewesen. Richard Dawkins hebt bezüglich der Komplexität von Lebewesen vier Merkmale hervor: a) Typisch sei eine heterogene Struktur. Eine komplexe Entität besteht aus vielen und verschiedenartigen Teilen; b) Die Teile sind nicht bloß »zusammengewürfelt«. Es gibt eine innere Struktur. »Ein komplexes Ding ist etwas«, so Dawkins, »dessen Bestandteile so angeordnet sind, wie es wahrscheinlich nicht durch Zufall allein zustande gekommen sein kann.«196; c) Mit komplexen Strukturen gehen zweckgerichtete Lebensäußerungen einher: »Näh­ men wir alle Zellen einer Schwalbe und setzten sie aufs Geratewohl zusammen, so ist die Wahrscheinlichkeit, daß das daraus resultie­ rende Gebilde fliegt, so gut wie Null. Nicht alle lebenden Dinge fliegen, aber sie tun andere Dinge, die genauso im Voraus spezifizier­ bar sind.«197; d) Die Zusammensetzung der einzelnen Komponenten hängt mit der jeweiligen, ganz spezifischen Lebensäußerung einer komplexen Struktur zusammen: »Wale fliegen nicht, aber sie schwim­ men, und sie schwimmen mit ungefähr der gleichen Leistungsfähig­ keit wie Schwalben fliegen. Die Wahrscheinlichkeit, daß eine zufällige Anhäufung von Walzellen schwimmen kann, geschweige denn so

»[D]eshalb würde jener, wenn er sich auf der Sonne, der Erde, dem Mond, dem Mars usw. befände, sich sicherlich immer neue Pole bilden. Der Bau der Welt ist deshalb so, als hätte sie überall ihren Mittelpunkt und nirgends ihre Peripherie, da ihre Peripherie und ihr Mittelpunkt Gott ist, der überall und nirgends ist.« (Nikolaus von Kues: Phi­ losophisch-theologische Werke, Bd. 1, De docta ignorantia, Hamburg 2002, S. 95) Im 20. Jahrhundert ist es dann Albert Einstein, der den Gedanken der Relativbewegung der Himmelskörper wirkmächtig entfaltet. Aus der Omnipräsenz des göttlichen Urgrundes schlussfolgert Cusanus, dass jeder einzelne von uns wie auch jeder einzelne Stern im selben Abstand zu ihm steht. Er schlussfolgert dann auch, dass die Erde ein Stern wie andere Sterne auch sei – und nicht etwa von minderer Bedeutung, weil sie kleiner sei als die Sonne (vgl. a. a. O., S. 99). Vom Gedanken der Gleichrangigkeit der Sterne und der Allgegenwart Gottes ist es für ihn kein Ding der Unmöglichkeit, dass es auch auf einem anderen Planeten Leben geben könnte (vgl. a. a. O., S. 103 ff.). 196 Dawkins, R.: Der blinde Uhrmacher. Warum die Erkenntnisse der Evolutionstheorie zeigen, daß das Universum nicht durch Design entstanden ist, München 52013, S. 20. 197 A. a. O., S. 21.

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schnell und effizient schwimmen kann wie ein Wal, ist so gering, daß wir sie vergessen können.«198 Gerhard Neuweiler betont die Komplexität auf allen Ebenen im Reich des Lebendigen. Entscheidend sei, dass unterschiedliche Teilsysteme zusammenarbeiten. Es gelte demnach die Regel: Das Gesamtsystem ist umso komplexer, je mehr einzelne Systeme hier­ bei zusammenwirken.199 »Es sind verschiedenartige, spezialisierte Enzyme, die kooperativ in Mitochondrien ATP erzeugen, es sind verschiedenartige Zelltypen, die funktionsspezifische Organe ermöglichen: Verschiedenartige Organe müssen im lebensfähigen Individuum kooperieren, verschieden befä­ higte Individuen interagieren in Populationen und verschiedenartige Organismen tragen das Gleichgewicht eines Ökosystems.«200

Die Komplexität des Lebens hänge mit der Selbstorganisation sowie der Interaktion eines Organismus mit seiner Umwelt zusammen. »Was die Mutabilität der Gene für die Variabilität und Vielfalt des Lebens bedeutet, bedeutet die Selbstorganisation für die Komplexität der Lebensformen.«201 Neuweiler unterstreicht, dass die Geschichte des Lebendigen – von den ersten enzymatischen Reaktionen und den ersten Zellen – eine Entwicklung hin zu immer komplexeren Systemen darstellt. Dies beruhe auf einer zunehmenden Flexibilität wie auch Lernfähigkeit, die Organismen größere Anpassungsmöglichkeiten und Freiräume ermöglichen.202 Komplexität bringe zwar auch eine gewisse »Stör­ anfälligkeit« des organismischen Systems mit sich – weshalb Säuge­ tiere eher aussterben als einfachere Bakterien. Die Vorteile würden jedoch überwiegen: »Wachsende Komplexität zahlt sich aber dennoch aus, weil sie eine zunehmend differenzierte und detailgetreuere Wahrnehmung der Außenwelt durch Sinnesorgane und Nervensysteme erzeugt und durch entsprechende motorische Organe, durch Flossen, Beine und Flügel, eine unerschöpfliche Vielzahl rascher Verhaltensreaktionen zulässt,

Ebd., S. 21 f. Neuweiler, G.: Und wir sind es doch – die Krone der Evolution, Berlin 2008, S. 75 f., 78. 200 A. a. O., S. 76. 201 A. a. O., S. 26. 202 Vgl. a. a. O., S. 9. 198

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die den komplexeren Organismen eine wachsende Flexibilität in ihren Überlebensmöglichkeiten bietet.«203

2.1.11 Reizempfindlichkeit und Selbsterhaltung Organismen bestehen aus den gleichen Elementen wie tote Körper auch. Besondere Faktoren, die sie von toten Dingen unterscheiden, kann man mit Hilfe technischer Messinstrumente nicht feststellen. Gleichwohl gibt es unterscheidende Merkmale der Organismen zum Bereich des Nichtlebendigen. Der Baum im Garten, der Vogel im Baum und auch die Katze, die es auf den Vogel abgesehen hat, weisen jeweils eine besondere Form auf. Das Beispiel unseres Plastikbaumes hat uns vor Augen geführt, dass Menschen in der Lage sind, äußere Formen von Organismen nachzubilden. Nicht aber ihre innere Form: Es ist die Selbstgestaltung der Organismen, die sie vor toten Objekten und menschlichen Mach­ werken auszeichnet. Bäume sind – anders als ihre Plastik-Kollegen – nicht unemp­ findlich gegenüber Reizen. Sie registrieren Sonnenstrahlen ebenso wie schädliche Einflüsse. Gegen Fressfeinde können sie sich auf ihre Weise auch zur Wehr setzen: Eine Eiche beispielsweise stellt Gerb­ stoffe in Rinde und Blättern bereit, die den Fressfeinden entweder den Appetit verderben oder sie vergiften. Ulmen und Kiefern setzen auf Lockstoffe, durch die Wespen angezogen werden, welche sich dann um die für den Baum gefährlichen Insekten kümmern.204 Und von Akazien und Weidenbäumen ist bekannt, dass der Tanningehalt deutlich ansteigt, wenn ihre Selbsterhaltung auf dem Spiel steht. Sie stellen dann das Gas Ethen bereit, das über den Wind zu anderen Bäumen getragen wird, welche daraufhin ihre Giftproduktion starten. Diese bei lebendigen Bäumen zu beobachtende Reizempfindlich­ keit und Selbsterhaltung zeigt, dass Organismen in der Lage sind, ihren Gleichgewichtszustand zu regeln. Biologen bezeichnen diese A. a. O., S. 26. Vgl. hierzu: Anhäuser, M.: Der stumme Schrei der Limabohne, in: MaxPlanck­ Forschung 3/2007, S. 64 f.; Wohlleben, P.: Das geheime Leben der Bäume. Was sie fühlen, wie sie kommunizieren – die Entdeckung einer verborgenen Welt, München 4 2014, S. 14–20; Chamovitz, D.: Was Pflanzen wissen. Wie sie sehen, riechen und sich erinnern, München 2013, S. 48. 203

204

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Selbstregulation auch als Homöostase. Anders ausgedrückt: Orga­ nismen streben stets nach Stabilität, um sich zu erhalten. Homöostase ist die Voraussetzung für Bestehen und Gedeihen eines jeden Lebe­ wesens.205

2.1.12 Leben und Tod Die Begriffe von Leben und Tod bedingen einander, wie Tag und Nacht einander bedingen. Die eine Seite verweist immer schon auf die andere.206 Zum Leben gehört der Tod: Der Tod sorgt für Verjüngung und Erneuerung des Lebens. So wird beispielsweise die organismische Gestalt durch den Zelltod mit herausgebildet. Dem Leben verleiht der Tod Unwideruflichkeit und Einmaligkeit, woraus der Mensch den Schluss zieht, seinem Leben eine Richtung zu geben. Der erwähnte Baum ist, um sich zu erhalten, auf den Stoffwechsel mit der Umwelt angewiesen. Er ist durch etwas bedingt, das nicht er selbst ist. Er ist endlich. Er ist ein, wie Biologen das gerne nennen, offe­ nes System, betreibt Energie- und Stoffaustausch mit der Umwelt.207 Wir können klar bestimmen, wo der Plastikbaum seinen Anfang und sein Ende hat. Bei Organismen gehören Grenzen zu diesen selbst.208 Der Baum besitzt – anders als der Plastikbaum – Chloroplasten und lebt photoautotroph: er ist also (wie schon Bakterien209 und Algen) in der Lage, Photosynthese zu betreiben, was freilich für uns »Der Teil der homöostatischen Notwendigkeit, der das ›Bestehen‹ betrifft, ist leicht durchschaubar: Er sorgt für das Überleben und wird ohne Bezugnahme oder Ehrfurcht als selbstverständlich vorausgesetzt, wenn man die Evolution irgendeines Lebewesens oder einer Spezies betrachtet. Der Teil der Homöostase der das ›Gedei­ hen‹ ermöglicht, ist komplizierter und wird nur selten zur Kenntnis genommen. Er sorgt dafür, […] dass das Leben innerhalb eines Bereiches reguliert wird, der nicht nur mit dem Überleben verträglich ist, sondern auch dem Gedeihen dient und eine Fortsetzung des Lebens in der Zukunft eines Organismus oder einer Spezies ermöglicht.« (Damasio, A.: Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, München 2017, S. 34). 206 Dies zeigt folgender Aufsatz sehr schön auf: Marten, R.: Die Zweiheit von Leben und Tod, in: Marten, R.: Lob der Zweiheit. Ein philosophisches Wagnis, Freiburg / München 2017, S. 179–192. 207 Vorausgesetzt ist damit eine Differenz zwischen einem »Innen« und einem »Außen«. 208 Vgl. Brenner, A.: Leben, Stuttgart 2009, S. 55. 209 Die bakterielle Photosynthese läuft allerdings ohne Wasserspaltung ab. 205

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Menschen von besonderer Bedeutung ist.210 Dank unseres Baumes und der Pflanzen ist Leben »fern vom thermodynamischen Gleich­ gewicht«211 überhaupt möglich. Anders als der Plastikbaum, der ja ein Artefakt und eben nicht lebendig ist, entgeht der lebende Baum zeitweise dem Entropieprozess. Selbst wenn der Baum tot ist, kann noch von einer gewissen Produktivität gesprochen werden, insofern bei der »Zersetzung die Moleküle mineralisiert und humifiziert werden und für neue Wachs­ tumsvorgänge als Grundlage zur Verfügung stehen«212. Sein Strebe­ verhalten, seine Integrationsprozesse sind an ein Ende gekommen. Lebewesen stellen sich, solange sie leben, dem entropischen Trend, einer Entwicklung in Richtung Unordnung und chemischer Gleich­ verteilung, durch komplexe wie geordnete Strukturen entgegen. Das, was lebendig ist, der Baum also, unterscheidet sich vom Plastikbaum durch die Fähigkeit der Selbsterhaltung. Es bedarf dabei aber auch äußerer Faktoren, damit der Baum sich entfalten kann. »Während makroskopische Körper umweltungebunden sind, ist ein organischer Körper in seiner Funktion auf die Umwelt angewiesen, die die Substanzen enthält, die er für den Stoffwechsel benötigt: auf eine spezifische Zusammensetzung der Atmosphäre und der Nahrung oder eine bestimmte Menge an Flüssigkeit. Auch eine künstliche

210 Unser Baum ist wie alle Pflanzen photoautotroph: Er ernährt sich von anorgani­ schen Stoffen. Sie und ich sind dagegen heterotroph, d. h. sind auf organische Stoffe angewiesen. Heterotrophe Organismen bedürfen autotropher Organismen, um ihre Lebensfunktionen aufrecht erhalten zu können. »Metabolism is the ongoing activity by which living beings continuously self-pro­ duce (and eventually, re-produce), self-repair, and maintain themselves.« (Moreno, A. / Mossio, M.: Biological Autonomy. A Philosophical and Theoretical Enquiry, Dordrecht / Heidelberg / New York / London 2015, S. xxiii) Auch Fichte stellt die autotrophe Ernährung als besondere Eigenschaft der Pflanzen deutlich heraus: »Die Pflanzen werden aus roher Materie […] gebildet; dagegen ernähren sich die Thiere nur aus dem Reiche der Organisation.« (Fichte, J. G.: Grund­ lage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, § 19, Hamburg 1991, S. 210). 211 Schrödinger, E.: Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet, München 1951. 212 Karafyllis, N. C.: Nachwachsende Rohstoffe. Technikbewertung zwischen den Leit­ bildern Wachstum und Nachhaltigkeit, Opladen 2000, S. 85.

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2. Das Phänomen des Lebendigen

Umwelt, etwa in einem Raumschiff, muss deshalb die natürlichen Lebensbedingungen erzeugen.«213

In aristotelischer Terminologie ließen sich die ablaufenden biochemi­ schen Prozesse als Stoffursache bezeichnen. Es würde nach Aristoteles zu kurz greifen, ausschließlich äußere und mechanische Ursachen in den Blick zu nehmen, um etwas über den Baum zu sagen. Es gebe auch eine innere Antriebskraft, Wirkursachen. Unser Plastikbaum würde dadurch auffallen, dass diese Wirkursachen, diese innere Antriebs­ kraft, fehlen. Aristoteles’ Dafürhalten nach wäre es die Zweckursache des Baumes, einmal zur vollen Blüte zu gelangen.214 Während für den Plastikbaum die Beziehung zur Umwelt keine größere Rolle spielt, kann sich der natürliche Baum erst im Zusam­ menspiel mit der Umwelt entfalten, wachsen und gedeihen. Er ist auf sie angewiesen. Und noch etwas: Auf unserem Planeten sähe es heute wohl ganz anders aus, gäbe es keine Bäume. Nimmt man ein Glied aus der Kette der Lebendigen heraus, hat dies Konsequenzen für andere Lebewesen. Von unserem Plastikbaum gilt, dass sein Verhältnis zur Umwelt starr ist. Ob es nun Frühling, Sommer, Herbst oder Winter ist: Er 213 Kather, R.: Der menschliche Leib – Medium der Kommunikation und Partizipa­ tion, in: Hähnel, M. / Knaup, M. (Hrsg.): Leib und Leben. Perspektiven für eine neue Kultur der Körperlichkeit, Darmstadt 2013, S. 21–34, hier S. 23. 214 Wenn wir im Kontext moderner Biologie von »Zweckursachen« sprechen wollten, dürften wir diese nicht mit den Genen gleichsetzen, würde das nämlich bedeuten, Zweckursachen wieder materiell zu denken. Seidl formuliert diese aristotelische Per­ spektive folgendermaßen: »Nicht die Gene codieren, oder speichern Informationen oder lösen Lebensfunktionen aus, sondern jene biologische Lebens- und Zweckursa­ che, die sich der Gene als Werkzeugs bedient, das sie sich selber zubereitet hat.« (Seidl, H.: Evolution und Naturfinalität. Traditionelle Naturphilosophie gegenüber moderner Evolutionstheorie, Hildesheim / Zürich / New York 2008, S. 35) Wichtig ist auch der Hinweis von Gabriele Olveira: »[D]er tiefere naturwissenschaftliche Einblick in Ver­ erbungsmechanismen und die prädeterministische Steuerung der Ontogenese bleibt trotz des Nachweises von DNA im Rahmen der nur physiologisch einsehbaren Ursa­ chen und macht eine weitere Frage nach Ursachen keineswegs obsolet.« (Olveira, G.: Substanz denken – philosophische Untersuchungen zu Aristoteles und Whitehead, Ham­ burg 2014, S. 163) Thomas Sören Hoffmann will daher auch in der aristotelischen Ursachenlehre eine »Lehre von der logischen Polydimensionalität und insoweit von der Nichtpositivierbarkeit des Natürlichen« ausmachen (Hoffmann, T. S.: Integrative Bioethik und der Begriff einer sich zeigenden Natur, in: Schweidler, W. / Zeidler, K. W. (Hrsg.): Bioethik und Bildung / Bioethics and Education. Proceedings of the 2nd Southeast European Bioethics Forum, Mali Lošinj, Sankt Augustin 2014, S. 95–104, hier S. 101).

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2.1 Vom Unbelebten zum Lebendigen

verändert sich nicht, bleibt statisch so, wie er nun mal ist.215 Ein Plastikbaum wäre wohl auch unempfindlicher gegenüber »saurem Regen« und anderen – von Menschen verursachten – Umweltver­ schmutzungen. Kann man den Baum im Garten hinsichtlich des zugrundeliegenden Materials nicht eigentlich auch als Gemachtes betrachten? Der Bauplan, so ließe sich argumentieren, »beruht ja auch auf einer Strukturierung des Materials, die nicht aus diesem selbst, sondern aus der Keimzelle stammt, die das umliegende Material organisiert«216. Es gibt jedoch eine entscheidende Differenz: Diese liegt »darin, daß sich in dieser Organisation ein System selbst aufbaut, während das künstliche Gebilde [also z. B. unser Plastikbaum] seine Struktur von außen und nur um eines Anderen willen erhält«217. Organismen sind dynamisch: alles ist und bleibt in Bewegung. Leben vollzieht sich zwischen Wandel und Stabilität.218 Das Leben­ dige, so ist schon Aristoteles überzeugt, ist durch das Vermögen ausgezeichnet, sich selbst zu organisieren und zu erhalten. In seinem Einführungswerk zur Theoretischen Biologie schreibt Heinz Penzlin: »Jedes Lebewesen repräsentiert ein dynamisches System mit einer internen funktionellen (teleonomen) und ganzheitsorientierten Ord­ nung, die man in Anlehnung an die ursprüngliche Bedeutung des grie­ chischen Wortes Organon als Organisation bezeichnet. Kurz gefasst sind Lebewesen organisierte Systeme, die ihre interne Organisation selbsttätig aufrechterhalten und vermehren – also selbstorganisierend sind. Man bezeichnet Lebewesen deshalb auch mit Recht als Organis­

215 Freilich steht auch ein System, welches nicht offen, sondern geschlossen ist, in einer Beziehung mit der Umwelt. Wir können beispielweise davon ausgehen, dass wir Reaktionen an unserem Plastikbaum feststellen können, wenn wir Energie von außen zufügen. Vom Baum im Garten dagegen werden die jeweiligen Beziehungen zur Umwelt von diesem selbst aktiv gestaltet. Beim Plastikbaum können wir daher klar sagen, wo er anfängt und wo er endet. Der Baum im Garten dagegen vermag über diese Grenzen hinauszureichen. 216 Spaemann, R.: Das Natürliche und das Vernünftige, in: Schwemmer, O. (Hrsg.): Über Natur. Philosophische Beiträge zum Naturverständnis, Frankfurt a. M. 21991, S. 149–164, hier S. 151. 217 Ebd. 218 »Living beings are systems continuously producing their own chemical compo­ nents, and with these components they build their organs and functional parts. In a word, their organisation is maintaining itself. This is why living systems cannot stop their activity: they intrinsically tend to work or they disintegrate.« (Moreno, A. / Mossio, M.: Biological Autonomy. A Philosophical and Theoretical Enquiry, Dordrecht / Heidelberg / New York / London 2015, S. xxiii).

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2. Das Phänomen des Lebendigen

men. Die Organisation lebendiger Systeme ist weder das Produkt des ›Lebens‹, noch eine Eigenschaft neben anderen, sondern das Leben, der lebendige Zustand selbst.«219

Als »Entdecker des Recht – Aristoteles.220

Organischen«

benennt

Penzlin



zu

2.2 Perspektiven des Lebendigen 2.2.1 Denken des Organischen: Aristoteles Bereits in antiken Texten wird über den Unterschied von Organischem und Anorganischem reflektiert. Auf das Substantiv ÔrganismóV trifft man bei einer genauen Textanalyse zwar nicht, gleichwohl aber auf Órganon und auf die adjektivische Wendung ÔrganikóV. Aristoteles spricht von svma Ôrganikón.221 Hiermit zielt er auf beseelte Wesen­ heiten ab. Er reflektiert das Zweck-Mittel-Verhältnis zwischen den Teilen eines geeinten Ganzen. Es geht ihm dabei um ein dynamisches Systemganzes, in dem die verschiedenen Teile miteinander interagie­ ren. In Auseinandersetzung mit dem mechanistischen Denken nimmt der Begriff des »Organismus« besonders seit dem 17. Jahr­ hundert an Fahrt auf.222 Wirkungsmächtig wird das Denken des Organischen dann bei Kant entfaltet, der den Gedanken der Wechsel­ seitigkeit der einzelnen Teile noch mehr als Aristoteles hervorhebt. 219 Penzlin, H.: Das Phänomen Leben. Grundfragen der Theoretischen Biologie, Hei­ delberg 2014, S. 2 f. 220 A. a. O., S. 7. 221 Aristoteles: De anima II 1, 412 b 5 f.: eÎ d® ti koinòn Êp˜ páshV q»ycð²V deî lægein, eÍh Àn Êntelæcðeia äh prõth sõmatoV fðysikoû Ôrganikoû. 222 Zu diesem Grundbegriff biophilosophischer Reflexion: Köchy, K.: Perspektiven des Organischen. Biophilosophie zwischen Natur- und Wissenschaftsphilosophie, Pader­ born / München / Wien / Zürich 2003; Löw, R.: Philosophie des Lebendigen. Der Begriff des Organischen bei Kant, sein Grund und seine Aktualität, Frankfurt a. M. 1980; Toepfer, G.: Organismus, in: Toepfer, G.: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte der biologischen Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 2011, S. 777–842; Toepfer, G. / Michelini, F. (Hrsg.): Organismus. Die Erklä­ rung der Lebendigkeit, Freiburg / München 2016; Jonas, H.: Organismus und Freiheit. Philosophie des Lebens und Ethik der Lebenswissenschaften, hrsg. von H. Gronke, Bd. I/1 der kritischen Gesamtausgabe, Freiburg 2010.

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2.2 Perspektiven des Lebendigen

Aristoteles ist interessiert am Phänomen des Lebendigen; ihm widmet er sich mit großer Hingabe und Aufmerksamkeit. Knapp die Hälfte der Texte, die wir heute im Corpus Aristotelicum vorfinden, greift Fragen der Naturforschung und -philosophie auf. Er widmet sich Fragen der Sinnesphysiologie, legt Studien zur vergleichenden Anato­ mie vor, diskutiert Fragen der Fortpflanzung wie auch des Verhaltens und der Lebensweise verschiedener Tiere. Mit De partibus animalium legt Aristoteles ein biologisches Einführungswerk vor, De anima stellt die grundsätzliche Frage, was Leben ist und Lebewesen ausmacht.223 Das, was Leben ist, bestimmt Aristoteles eben nicht nur (wie beispielsweise in den frühen griechischen Epen) als Gegensatz zum Tod, sondern vor dem Hintergrund seiner Unterscheidung von beleb­ ten und unbelebten natürlichen Entitäten. Dabei versteht er Leben als Eigenschaft eines natürlichen Körpers. Der Körper muss laut Aristoteles eine angemessene organische Struktur haben.224 Materie und Form, körperliche und seelische Prozesse, durchdringen sich, können nicht auseinandergerissen werden. Sie sind nicht identisch, aber auch nicht zwei unterschiedliche Substanzen. Der Baum, um auf unser Beispiel zurückzukommen, stellt in der Perspektive des Aristoteles eine Einheit aus Naturstoff und typischer Form dar. Er ist kein bloßer »Materiehaufen«. Leben, so Aristoteles, ist ἐντελέχεια. Damit meint er, dass es sein Ziel in sich selbst hat. Er denkt dabei an die Form, die sich in der Materie verwirklicht.225 Die Materie ist nach Aristoteles Möglichkeit, während die Form als vollendete Wirklichkeit bestimmt wird.226 Durch die Form findet das, was als Möglichkeit angelegt ist, Vollendung. Aristoteles unter­ scheidet eine erste von einer zweiten Vollendung.227 Am Beispiel von Wissen und Denken kann dies erläutert werden: Wissen ist demnach 223 Ungeachtet dessen habe die aristotelische Biologie, so Martin F. Meyer, über fast zwei Jahrtausende »ein Mauerblümchendasein« geführt. (Vgl. Meyer, M. F.: Aristo­ teles und die Geburt der biologischen Wissenschaft, Wiesbaden 2015, S. 11). 224 Aristoteles: De anima I 3, 407 b 13–26; II 2, 414 a 4–27. 225 Vor dem Hintergrund, dass Leben als Ursprung von Bewegung aufgefasst wird, ist der Tod das eigentlich Unverständliche. »Nur Bewegtes, das seine Bewegung von einem anderen her hat, kann aufhören, nicht aber das Leben als Ursprung von Bewe­ gung.« (Simon, J.: Leben, in: Krings, H. / Baumgartner, H. M. / Wild, C. (Hrsg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Studienausgabe Bd. 3, München 1973, S. 844–859, hier S. 845). 226 Aristoteles: De anima II 1, 412 a 9–10; Metaphysik IX 8, 1050 a 15. 227 Aristoteles: De anima II 5, 417 a 22–29; Metaphysik IX 8, 1050 a 21–23; Physik VIII 4, 255 a 33 ff.

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2. Das Phänomen des Lebendigen

eine erste Vollendung, während die Anwendung dieses Wissens, der eigentliche Denkvorgang, eine zweite vollendete Wirklichkeit darstellt.228 Hat jemand ein bestimmtes Berufswissen, kann dies nach Aristoteles als erste Entelechie bezeichnet werden. Wird dieses Vermögen aktiviert, ist von einer zweiten Entelechie die Rede. So ist es auch im Bereich des Lebendigen. Man kann beispielsweise das Sehvermögen als erste Entelechie, das aktuale Sehen als zweite Entelechie verstehen und dies auch auf den gesamten Organismus derart übertragen, dass die Seele nämlich Vollendung des Leibes ist, d. h. grundsätzliche Bedingung dafür, dass er überhaupt lebendig ist und Vollzug des Lebens selbst.229 Die Seele, so der Stagirite, ist »die erste Vollendung […] eines natürlichen Körpers, der in Möglichkeit Leben hat, und zwar von der Art, wie es der organische ist.«230 Die Seele ist weder Zierwerk noch unabhängige Substanz, sondern Grundbedingung geistiger wie körperlicher Lebensäußerungen. Die einzelnen Körperglieder (von Pflanzen, Tieren und Menschen) übernehmen spezifische Aufgaben im Systemganzen. »Organe sind auch die Teile der Pflanzen, aber ganz einfache, wie das Blatt eine Bedeckung für das Perikarp [die Fruchthülle], das Perikarp aber eine Bedeckung für die Frucht ist; die Wurzeln sind indes analog zum Mund, denn beide nehmen Nahrung auf.«231 Die Entelechie garantiere auch die Identität über die Zeit hinweg.232 Lebewesen sind organisierte Entitäten unterschiedlicher Komplexität, deren Sein in ihrem Lebendigsein besteht; Lebewesen Aristoteles: De anima II 1, 412 a 10–11. Seelisches verwirklicht sich im Leiblichen und tritt in ihm in Erscheinung. Zum aristotelischen Seelenbegriff siehe auch: Knaup, M.: Aristoteles und die Seele als Entelechie, in: Benetka, G. / Werbik, H. / Allolio-Näcke, L. (Hrsg.): Die philosophischen und kulturellen Wurzeln der Psychologie. Traditionen in Europa, Indien und China, Gießen 2018, S. 15–39. 230 Aristoteles: De anima II 1, 412 b 4 ff.: eÎ d® ti koinòn Êp˜ páshV q»ycð²V deî lægein, eÍh Àn Êntelæcðeia äh prõth sõmatoV fðysikoû Ôrganikoû. 231 Aristoteles: De anima II 1, 412 b 1 ff. 232 »Das Leben eines Lebewesens stellt sich zwar auf der phänomenalen Oberfläche als eine Reihe diverser Lebensäußerungen dar, aber darin erschöpft sich das Leben nicht: Hinter der phänomenalen Oberfläche steht ein Grundcharakter, der den ein­ zelnen Lebensvollzügen und -funktionen bestimmte Grundzüge verleiht und die Ein­ zeltätigkeiten zu Teilen eines bestimmten Lebenstypus gestaltet« (Runggaldier, E.: Deutung menschlicher Grunderfahrung im Hinblick auf unser Selbst, in: Rager, G. / Quitterer, J. / Runggaldier, E.: Unser Selbst. Identität im Wandel der neuronalen Prozesse, Paderborn / München / Zürich 22003, S. 143–221, hier S. 218). 228

229

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2.2 Perspektiven des Lebendigen

sind Gestaltganzheiten, deren Teile interagieren und spezifische Voll­ züge ausüben. Werden geschieht nicht »irgendwie«: Es setzt ein Zugrundelie­ gendes voraus.233 Gabriele Olveira formuliert trefflich: »Der Wer­ densprozess vollzieht sich […] an Entitäten, die gegenteilige, von vielen Faktoren abhängende Bestimmungen annehmen können und doch mit sich selbig bleiben, d. h. eine dauerhafte Einheit darstel­ len.«234 Die Natur organisiert sich – Aristoteles’ Auskunft nach – selbst, sie sei wie ein sich selbst behandelnder Arzt, wie der Arztsohn festhält. Den Gedanken verdeutlicht er auch noch mit folgendem Bild: »[H]ätte die Schiffbaukunst ihren Sitz im Bauholz, so wäre ihre Arbeitsweise wie die der Natur.«235 Der Blick des Stagiriten ist auf den gesamten Organismus gerich­ tet, der mehr ist als die Teile, aus denen er besteht.236 Wenn Teile nicht mehr zum Ganzen gehören, üben sie auch nicht mehr die für sie typische Funktion aus, können die bestimmte Aufgabe nicht mehr aktualisieren: Ein Auge ist dann nur noch dem Namen nach ein Auge, eine Hand nur dem Namen nach eine Hand.237 ὄργανον ist eine Ablautbildung zu ἐργάζεσθαι, was übersetzt werden kann mit »arbeiten« resp. »ein Werk zur Vollendung bringen«. Zu dieser Wortfamilie gehört auch das Substantiv ἔργον, was »Werk« bedeutet und beim Stagiriten auch im Sinne von Fähigkeit (δύναμις) Verwendung findet. Organe sind Teile des Organismus, die eine wichtige Aufgabe in der Gestaltganzheit übernehmen, so dass diese ihre jeweiligen Aktivitäten ausführen können.238 Hierzu auch: Quitterer, J.: Was leistet der Seelenbegriff zur Überwindung physikalis­ tischer Deutungen personaler Identität?, in: Knaup, M. / Müller, T. / Spät, P. (Hrsg.): Post-Physikalismus, Freiburg 2011, S. 216–233; Quitterer, J.: Ist der Hylemorphismus eine brauchbare Alternative zum Substanzdualismus?, in: Wallusch, P. / Watzka, H. (Hrsg.): Verkörpert existieren. Ein Beitrag zur Metaphysik menschlicher Personen aus dualistischer Perspektive, Münster 2015, S. 109–121. 233 Aristoteles: Physik I 7, 190 a 10 ff. 234 Olveira, G.: Substanz denken – philosophische Untersuchungen zu Aristoteles und Whitehead, Hamburg 2014, S. 155. 235 Aristoteles: Historia animalium VIII 1, 589a2–5. 236 Aristoteles: Metaphysik VII 17, 1041 b 11–13. 237 Vgl. z. B. Aristoteles: Meteorologica IV 12, 389 b 29–390 a 4. 238 Aristoteles: De partibus animalium II 1, 646 b 13. Die einen Lebewesen haben Hörner, mit denen sie sich verteidigen, die anderen einen Stachel, den sie gegen ihre Feinde einsetzen können oder einen Schwanz,

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2. Das Phänomen des Lebendigen

2.2.2 Der Organismus als Instantiierung des Systems: Kant Das Denken des Organischen ist weniger am mathematischen Erkenntnisideal interessiert als es mechanistische Zugänge zur Natur sind. Von den Idealen der Newtonschen Physik herkommend bewegt sich Kants Denken hin zu einer expliziten Berücksichtigung der Dimension des Organischen. »Gebet mir Materie, ich will euch eine Welt daraus bauen«239, heißt es noch beim jungen Kant. In seiner Schrift Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft hebt er eine »natura formaliter spectata« von einer »natura materialiter spectata« ab, wobei die erste Dimension »das erste innere Princip alles dessen […], was zum Dasein eines Dinges gehört«, meine, die zweite »der Inbegriff aller Dinge [sei], sofern sie Gegenstände unserer Sinne, mithin auch der Erfahrung sein können, worunter also das ganze aller Erscheinungen, d.i. die Sinnenwelt mit Ausschließung aller nicht sinnlichen Objecte, verstanden wird«.240 Im Zusammenhang der Experimente Galileis sei im Hinblick auf jene zweite Dimension von Natur deutlich geworden, so der Königsberger in der zweiten Vorrede zur ersten seiner Kritiken, »daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen den sie abwerfen können. Eine Ameise könnte wohl mit dem Horn eines Nashorns oder eines Rindviehs nicht sehr viel anfangen. Eine Kuh wiederum könnte mit dem Stachel einer Biene nicht sehr viel anfangen. Aristoteles sieht hier eine Nützlichkeit und eine optimale Anpassung an Umweltbedingungen walten, die auf die Natur zurückgeführt wird. In De partibus animalium hebt er gleichteilige von ungleichteiligen Körperteilen ab. In die erste Gruppe fallen z. B. die Knochen, das Blut, die Adern und Sehnen eines Menschen (vgl. Aristoteles: De partibus animalium II 2, 647 b 10–15). Die Gemein­ samkeit dieser Gruppe macht er darin aus, dass sie in Teile zergliedert werden, wenn man mit einem Skalpell an ihnen tätig wird. Das Argument sieht so aus: Ein Teil des Oberschenkelknochens ist ein Stück Knochen, ein Teil Ader selbst Ader. Wir ahnen, dass dieses Kriterium bei der zweiten Gruppe nicht gilt. Für Hand, Gesicht, Kopf und Herz gilt, anders als bei gleichteiligen Körperteilen, dass sie nicht mit einem Skalpell in Teile zerlegt werden könnten, welche hinsichtlich ihrer Gestalt wie des Stoffs gleich sind. (Historia animalium I 1, 486 a 7 f.). 239 Kant, I.: Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt, in: AA Bd. 1, S. 230. 240 Vgl. Kant, I.: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften, in: AA Bd. IV, S. 467.

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2.2 Perspektiven des Lebendigen

zu antworten, nicht aber sich von ihr gleichsam am Leitbande gängeln zu lassen.«241 In seiner ersten Kritik treffen wir auf ein typisch neuzeitliches Verständnis von Natur, welches dann transzendentalphilosophisch einzuholen versucht wird. In der Kritik der reinen Vernunft haben wir es mit einer Natur zu tun, die sich selbst nicht frei auszusprechen vermag. Das heißt: Der Verstand legt ihr seine Gesetze auf. Die Kon­ sequenzen liegen auf der Hand: Sie ragt damit in den Verfügbarkeits­ raum des Menschen. Wichtige Facetten unserer Lebenswirklichkeit werden so jedoch nicht angesprochen. Seine dritte Kritik verschiebt den Horizont der ersten beiden Kritiken. Der kantische Kritizismus ist insofern von hier noch einmal unter anderen Vorzeichen zu sehen. Auffällig ist beispielsweise, dass Kant das Verständnis der Urteilskraft von der Engführung nur auf den Verstandesgebrauch erweitert, was die Sicht auf Totalität eröffnet. Die Dimension des Organischen kommt hier zur Geltung.242 Beim Organismus treffen wir auf eine Kausalität, welche anders ist als die lineare Verstandeskausalität; wir können auch sagen: diese übersteigt. Anders gewendet: Diese Kausalität entzieht sich einer Erklärung durch den Verstand. Das ist auch der Grund, warum Kant

Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft, B XIII. Während in der ersten Kritik der theoretische Vernunftgebrauch die Tür in den Bereich der Naturwissenschaften öffnet, wird durch den praktischen Vernunftgebrauch in der zweiten Kritik die Tür in den Bereich der Sittlichkeit geöffnet. Beide Weisen des Vernunftgebrauchs sollen in der letzten der drei Kritiken, der Kritik der Urteilskraft, vermittelt werden. Der Organismus-Begriff ist dann auch im Opus postumum in besonderer Weise prä­ sent. Kant spricht bevorzugt von »organisirte[n] Wesen«. (Kant, I.: Kritik der Urteils­ kraft, in: AA Bd. V, S. 372 ff.) An anderer Stelle variiert er und spricht mal vom »orga­ nische[n] Naturwesen« (a. a. O., S. 429), »organisirte[n] Körper[n] (a. a. O., S. 193 f.) oder »organisirte[n] Geschöpfe[n]« (a. a. O., S. 372). Anders als der Begriff des Orga­ nismus kann der Lebensbegriff (nicht nur für Kant) auch reine Geistwesen wie Gott und Engel umfassen. Zum Lebensbegriff in der Denkbewegung von Kant zum Deutschen Idealismus siehe auch: Hoffmann, T. S.: »Leben« als Chiffre der Totalität. Der Lebensbegriff des trans­ zendentalen und dialektischen Idealismus und seine Relevanz im »Jahrhundert der Lebenswissenschaften«, in: Gethmann, C. F. (Hrsg.): Lebenswelt und Wissenschaft. XXI. Deutscher Kongreß für Philosophie 15.-19. September 2008 an der Universität Duisburg-Essen. Kolloquienbeiträge (= Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2), Ham­ burg 2011, S. 909–923. 241

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2. Das Phänomen des Lebendigen

auf teleologische Begriffe rekurriert.243 Kant greift auf den Begriff »Naturzweck« zurück, um zu unterstreichen, dass Organismen sich einer rein mechanistischen Erklärung entziehen: Er weiß durchaus, dass die Rede von einem »Naturzweck« die eine oder andere Frage aufwerfen mag. Er weist darauf hin, dass es sich um einen »regula­ tive[n] Begriff für die reflektierende Urteilskraft«244 handelt. In § 65 der Kritik der Urteilskraft bringt Kant die »reflektierende Urteilskraft« ins Spiel: Organismen, so der Königsberger, seien als Entitäten zu betrachten, die durch eine »sich fortpflanzende bildende Kraft« cha­ rakterisiert seien – und damit fundamental anders als bloße Maschi­ nen, die durch eine »bewegende Kraft« ausgezeichnet seien.245 Unser Leib ist nicht nur ein organisierter: Wir sind uns dessen auch bewusst, wie er bekräftigt. »Das Bewustseyn unserer eigenen Organisation als einer bewegenden Kraft der Materie macht uns den Begriff des orga­ nischen Stoffs und die Tendenz zur Physik als organischem System möglich.«246 Wir sprechen von Natur derart, »als ob die Zweckmä­ ßigkeit in ihr absichtlich sei«247.

243 »Der Verstand hat nur das mechanistisch-kausale Bestimmen zur Verfügung und kommt somit überhaupt nicht bis zu solchen Dingen, an deren besonderer Art uns gerade liegt. Er bleibt der spezifischen Einheit der Dinge seiner Natur nach äußerlich und bestimmt nur Relationen ›zwischen‹ ihnen.« (Simon, J.: Subjekt und Natur. Teleologie in der Sicht kritischer Philosophie, in: Marx, W. (Hrsg.): Die Struktur lebendiger Systeme. Zu ihrer wissenschaftlichen und philosophischen Bestimmung, Frankfurt a. M. 1991, S. 105–132, hier S. 119). 244 Kant, I.: Kritik der Urteilskraft, in: AA Bd. V, § 65, S. 375. 245 Vgl. A. a. O., S. 374 ff. Von Urteilskraft zu sprechen meint, eine Frage in einen größtmöglichen Horizont zu stellen, in dem wir sie vernünftig betrachten können. Es greift nämlich zu kurz, lediglich zu fragen, was machbar ist resp. was es kosten darf. 246 Kant, I.: Opus postumum, in: AA Bd. XXI, S. 190. 247 Kant, I.: Kritik der Urteilskraft, in: AA Bd. V, S. 383. Die Natur wird »so vorgestellt, als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Man­ nigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte« (a. a. O., S. 181). Simon erläutert die Auskunft Kants treffend, »daß wir nicht aus der Natur, sondern nur ›durch Erfahrung … in uns selbst‹ – nämlich in der Vorstellung der Möglichkeit der ›Kunstwerke‹ (Artefakte) als etwas, das aus einer ›Idee‹ entstehen soll – ›Kräfte ›kennen‹, die etwas nach einer Idee hervorbringen. So kann es die Vorstellung objek­ tiver Zwecke nur in einer Analogie zu der Kenntnis subjektiver Zwecksetzungen geben und nicht umgekehrt.« (Simon, J.: Subjekt und Natur. Teleologie in der Sicht kritischer Philosophie, in: Marx, W. (Hrsg.): Die Struktur lebendiger Systeme. Zu ihrer wissen­ schaftlichen und philosophischen Bestimmung, Frankfurt a. M. 1991, S. 105–132, hier S. 108 f.).

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2.2 Perspektiven des Lebendigen

Der Königsberger hebt den Gedanken der Reziprozität im Hin­ blick auf die Organismen in besonderer Weise hervor: Die Teile des Organismus stehen in einem Verhältnis der Wechselseitigkeit. Noch deutlicher: Die Teile sind, indem sie einen Bezug zum Ganzen haben. Damit meint er zum einen, dass die Teile sich wechselseitig hervor­ bringen, zum anderen, dass sie von der organismischen Ganzheit, dem integrierten System, abhängig sind. Eine Gemeinsamkeit von Organismen und Artefakten kann nach Kant darin ausgemacht werden, dass ihre jeweiligen Teile sowohl im Hinblick auf das Ganze als auch im Hinblick auf die anderen Teile da sind. Bei Organismen erwirken die Teile sich jedoch wechselseitig und auch das Ganze. Anders gewendet: Sie organisieren sich selbst! Bei einer Uhr, um ein Beispiel des Königsbergers selbst aufzugreifen, wirken die einzelnen Rädchen miteinander, aber keines ist in der Lage, ein anderes hervorzubringen. Auch geht aus einer Uhr nicht eine andere hervor. Eine Übereinstimmung zwischen einer Uhr und einem Baum, d.i. einem Organismus, könnte man freilich darin ausmachen, dass auch hier die Teile um der anderen willen da sind. Ein Rädchen greift eben ins andere. Doch ist es selbst nicht durch die anderen Teile da. Es gibt einen Uhrmacher, der diese Uhr hergestellt hat. Und auch die beste Schweizer Uhr vermag sich nicht selbst zu organisieren.248 Während ein Plastikbaum ein materiell realisierter Zweck eines Plastikbaum-Künstlers ist, die Zwecke setzende Ursache äußerlich ist, liegt der Fall beim Baum anders. Kant lenkt unsere Aufmerksam­ keit auf die Fähigkeit der Selbstorganisation von Lebewesen. Der Organismus ist in seinen Worten ein »organisirtes und sich selbst organisirendes Wesen«249. Er erläutert, dass im organismischen Gan­ zen »alles Zweck und wechselseitig auch Mittel«250 ist. Die einzelnen Teile sind aufeinander bezogen. Organismen sind von sich selbst, so Kant, in mannigfacher Weise Ursache und Wirkung.251 Unser Baum im Garten zeichnet sich nach Kant durch die Selbstorganisation, die Fähigkeit zur eigenen Erzeugung, durch das Wachstum und die Regenerationsfähigkeit aus. Er vermag, so Kant 248 Anders als Cartesius, von dem er sich abgrenzt, weist Kant auch die Ansicht zurück, ein Tier sei bloß eine Maschine. Vgl. Kant, I.: Kritik der Urteilskraft, in: AA Bd. V, S. 464. 249 A. a. O., S. 374. 250 A. a. O., S. 376. 251 A. a. O., S. 371 f.

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2. Das Phänomen des Lebendigen

in der Kritik der Urteilskraft, einen anderen Baum von derselben Gattung hervorzubringen. Baum A ist demnach die Ursache, während der hervorgebrachte Baum B die Wirkung ist.252 Darüber hinaus, so Kant, erzeugt sich der Baum als Individuum: Er wächst. Anders als bei der ersten Perspektive sind Ursache und Wirkung auf ein und denselben Baum bezogen. Jene Wirkung besteht, wie gesagt, in seinem Wachstum. Dazu nimmt er Bestandteile seiner Umgebung auf. Ist er im Hinblick auf die Bestandteile, die er von außen aufnimmt, ein Edukt, so ist er doch nicht eine mechanische Wirkung eben jener Bestandteile, die er von außen erhält: »[I]n der Scheidung und neuen Zusammensetzung dieses rohen Stoffs [ist] eine solche Originalität des Scheidungs- und Bildungsvermögens dieser Art Naturwesen anzutreffen, daß alle Kunst davon unendlich weit entfernt bleibt, wenn sie es versucht, aus den Elementen, die sie durch Zergliederung derselben erhält, oder auch dem Stoff, den die Natur zur Nahrung derselben liefert, jene Produkte des Gewächsreichs wieder herzustellen.«253

Seine Selbsterhaltung lässt sich weder mit chemischen Formeln noch durch die Gesetze der Mechanik erklären. Alle herstellende Kunst sei davon »unendlich weit entfernt«254. R. Löw weist auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Kant und Aristoteles hin: »Kant ist sich mit Aristoteles ganz einig: In Organismen geht die Idee des Ganzen seinen Teilen vorher. […] Wenn wir Kants Auffassung vom Organismus und dessen Seinsweise, dem Leben, einmal gegen die von Aristoteles halten, so überrascht die Übereinstimmung. Die Diffe­ renz aber ist auch unübersehbar: die Legitimation der teleologischen Beurteilung. Für Aristoteles ist sie zwar im Einzelnen problematisch, generaliter aber konstitutiv für Lebewesen: Organismen sind zweck­ mäßig gebaut, sie verfolgen diese Zwecke, sie sind in zweckmäßige Lebenszusammenhänge eingebaut; schließlich ist die ganze Natur ein

252 Kant schreibt: »[S]o erzeugt er sich selbst der Gattung nach, in der er, einerseits als Wirkung, andrerseits als Ursache, von sich selbst unaufhörlich hervorgebracht, und ebenso, sich selbst oft hervorbringend, sich als Gattung, beständig erhält.« (A. a. O., S. 371). 253 Ebd. 254 Ebd.

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2.2 Perspektiven des Lebendigen

zweckmäßiges Ganzes. Ein solches Urteil ohne voraufgehende Kritik der Urteilskraft wäre für Kant ein Dogmatismus.«255

Auch auf eine ethische Perspektive sei hier verwiesen: In Ansehung der anderen nichtmenschlichen Organismen wie der gesamten Natur gegenüber gibt es für den Menschen, so der Königsberger, indirekte Pflichten gegen sich selbst. Sein Überleben wie auch seine Handlungs­ fähigkeit sind von der ihn umgebenden Natur abhängig, die daher zu erhalten ist. »Insofern beispielsweise verschiedenste ökologische Systeme die Grundlage für alles menschliche Leben bilden, ist ihr Schutz deshalb eine Pflicht, weil der Erhalt der natürlichen Bedingungen auch das Leben der Menschen sichert. […] Unsere moralische Verpflichtung gegenüber Vernunftwesen – sei es gegenüber der eigenen Person oder anderen Menschen – begründet […] indirekt eine Verpflichtung zum Erhalt der nicht-menschlichen Natur.«256

Nichtmenschliche Organismen sind, so der Königsberger, nach einer Analogie mit unserer nach Einheit strebenden Vernunft als zweck­ gerichtete Ganzheiten zu sehen. Es ist möglich, unsere zwecktätige Vernunfttätigkeit gleichsam in das Buch der Natur hineinzulesen und so uns hier zu entdecken. »Natur und Vernunft […] zeigen sich als ein wechselseitig aufeinander verweisendes und selbst in unseren Wertzuschreibungen aufeinander angewiesenes Paar. Die Natur erweist sich so als eine Umwelt, in die wir Menschen nicht nur als Naturwesen, sondern auch und besonders als vernunftbegabte Akteure eingebettet sind.«257

255 Löw, R.: Philosophie des Lebendigen. Der Begriff des Organischen bei Kant, sein Grund und seine Aktualität, Frankfurt a. M. 1980, S. 195. Löw lenkt den Blick auch auf Kants späte Philosophie und argumentiert in überzeugen­ der Weise, der Königsberger habe sich wieder dem Stagiriten angenähert und würde mit ihm übereinstimmen. 256 Breitenbach, A.: Die Analogie von Vernunft und Natur. Eine Umweltphilosophie nach Kant, Berlin / New York 2009, S. 201 f. 257 A. a. O., S. 223.

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2. Das Phänomen des Lebendigen

Nehmen wir noch einen anderen Aspekt in den Blick:

2.2.3 Organismen und Freiheit: Jonas Einen Computer kann man auch einfach ausschalten, vom Netz nehmen. Er verharrt dann; Energie wird in dieser Situation nicht benötigt. Ganz anders bei einem Lebewesen: Auf die Zufuhr von Energie kann hier nicht verzichtet werden. Es würde das Ende, sprich: den Tod des Lebewesens bedeuten. Um seine lebendigen Prozesse aufrechtzuerhalten, ist es auf Energie angewiesen. Der für Organis­ men typische dynamische Stoffwechsel kann auch nicht einfach mit dem Stoffwechsel verglichen werden, wie wir ihn etwa von einer Maschine bzw. von einem Motor her kennen. Das liegt daran, dass zwar eine Versorgung mit Brennstoffen stattfindet, »die Motorteile selbst, die diesen Fluss durch sich passieren lassen, nehmen an ihm nicht teil. So beharrt die Maschine als ein selbstidentisches träges System gegenüber der wechselnden Identität der Materie, mit der sie ›gespeist‹ wird; und sie existiert als ganz dieselbe, wenn jede Speisung unterbleibt.«258 Jonas argumentiert, dass der Stoffwechsel den Unterschied zwi­ schen Gewachsenem und Gemachtem ausmache und in diesem die Selbstgestaltung eines Organismus ihren Weg finde. Einen Organis­ mus versteht er als Entität, »deren Sein ihr eigenes Werk ist […], [so] dass dieses Tun ihres Tuns ihr Sein selbst ist«259. Der Organismus bleibe in den Stoffwechselprozessen mit sich selbst identisch: der Stoff wechsle, während die Form ihm Identität gebe.260

258 Jonas, H.: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frank­ furt a. M. 1992, S. 19. Organismen überschreiten sich auf die Natur hin: Die Struktur von Organismen erhält sich durch den ständigen Austausch von Stoffen. Bei einem Plastikbaum erfolgt die Entfernung resp. die Neueinsetzung von Bestandteilen von außen. Sie bleiben »trotz des Austausches ihrer Teile durch die Zeit hindurch dieselben; Lebewesen hingegen gerade aufgrund des Austausches ihrer Teile.« (Gasser, G.: Lebewesen und Artefakte. Ontologische Unterscheidungen, in: Philosophisches Jahrbuch 115/1, 2008, S. 125– 147, hier S. 134). 259 Jonas, H.: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frank­ furt a. M. 1992, S. 82. 260 Vgl. a. a. O., S. 40.

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2.2 Perspektiven des Lebendigen

Bei einem Organismus sei es so, dass dieser das Ergebnis sowie der Vollzieher seiner metabolischen Tätigkeit sei.261 Durch den Metabolismus könne der Organismus von seiner Umwelt Abstand nehmen. Der Organismus ist ein bedürftiger und darauf aus, Stoff­ austausch zu betreiben und sich selbst als lebendige Einheit zu regu­ lieren.262 Jonas will im Vermögen des Organismus, Stoffwechsel zu betrei­ ben, sogar Freiheit grundgelegt sehen, die sich gleichsam wie ein Ariadnefaden durch das Reich des Lebendigen bis hin zum Menschen ziehe. Gemeint ist eine gewisse »Unabhängigkeit der Form hinsicht­ lich ihres eigenen Stoffs«263. Aus diesen ersten »Freiheitskeimen« seien schließlich höherstehende Formen der Freiheit erwachsen.264 Von der autopoietischen Selbstregulation eines Organismus gebe es also eine Verbindung zur Selbstbestimmung der menschlichen Person durch ihre Vernunft, wobei für Jonas klar ist, dass mit der mensch­ lichen Freiheit eine andere Dimension erreicht ist. Den Menschen zeichne eine qualifizierte Freiheit aus. Er ist in der Lage, ein ethisches Leben zu führen, Verantwortung zu übernehmen. Und freilich liegt in der zunehmenden Machtfülle des Menschen auch eine Gefahr: Der Mensch kann die ihm gegebene Freiheit auch missbrauchen, kann Gewalt ausüben und Unrecht tun. Statt Freiheit und Subjektivität also reduktionistisch erklären oder gar wegerklären zu wollen, weitet Jonas die Perspektive und 261 Vgl. Jonas, H.: Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frank­ furt a. M. 1994, S. 146. 262 A. a. O., S. 19. 263 Jonas, H.: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frank­ furt a. M. 1992, S. 22. 264 Vgl. Jonas, H.: Lehrbriefe an Lore Jonas, in: Jonas, H.: Erinnerungen, Frankfurt a. M. 2005, S. 348–383, hier S. 357; Jonas, H.: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M. 1992, S. 12, 22; Zur Würdigung seines Ansatzes: Knaup, M.: Ein neues Naturdenken als Grundlage für die Ethik. Zur Aktua­ lität von Hans Jonas, in: Imago Hominis, Bd. 21, 4/2014, S. 287–302. [Tschechisch: Knaup, M.: Nové chápání přírody jako základ etiky: O aktuálnosti Hanse Jonase, in: Drozenova, W. (Hrsg.): Filosofie Hanse Jonase, Prag 2019, S. 109–135; Ukrainisch: Knaup, M.: Нове мислення природи як основа етики: актуальність Ганса Йонаса, in: Філософія освіти. Philosophy of Education. 2020. 26 (1), S. 171–191]. Das Ehepaar Gernot und Renate Falkner will – anders als Jonas – im Stoffwechsel eher eine Voraussetzung für die Selbstgestaltung eines Organismus ausmachen. Hierzu: Falkner, G. G. / Falkner, R. A.: Die Selbstgestaltung der Lebewesen in Erfah­ rungsakten. Eine prozessbiologisch-ökologische Theorie der Organismen, Freiburg / München 2020.

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2. Das Phänomen des Lebendigen

plädiert dafür, von der in der langen Geschichte des Lebendigen erreichten Höherentwicklung aus einen Blick auf die Vorstufen dieser Lebensäußerungen zu werfen. Einfache wie komplexere Lebensfor­ men sind so in die menschliche Freiheit integriert.

2.2.4 Die Selbstgestaltung des Organismischen: Perspektiven heutiger Biophilosophie Mit dem Begriff des Organischen, das haben die Überlegungen zu Aristoteles, Kant und Jonas gezeigt, wird zum Ausdruck gebracht, dass die Teile eines lebenden Körpers sinnvoll zusammenwirken und aufeinander abgestimmt sind. Die einzelnen Teile übernehmen eine bestimmte Funktion nur durch ihr Zusammenwirken mit anderen Teilen. Nur vom Zusammenspiel der Einzelteile her werden die Systemfunktionen verständlich. In der Wechselwirkung bringt der Organismus sich selbst immer wieder neu hervor. Auch wenn wir auf die Idee kämen, einen Organismus in seine Einzelteile zu zergliedern, würden wir dadurch seiner Einheit nicht beikommen. Organismen sind mehr als eine Addition aus Zellen und Organen. Zeitgenössische biophilosophische Ansätze weisen darauf hin, dass Organismen aus Prozessen hervorgehen. Sie können selbst in verschiedene Prozesse einbezogen sein, wodurch Kreativität entsteht. Für das Wachsen und Werden bedürfe es auch verschiedener Instabi­ litäten. Selbstorganisationsprozesse und Kreativität könnten von hier ihren Ausgang nehmen. Für die Entstehung von Neuem sei Zufall von Bedeutung.265 Bei einem Organismus bestehe eine »durchgehende interne Kohärenz«, wie Spyridon Koutroufinis den Gedanken der Zweckmä­ ßigkeit übersetzt.266 Er verdeutlicht dies an einem anschaulichen Bei­ spiel: Bei einem Auto bewegen sich die Räder, während die Karosserie bewegt wird. Ganz ähnlich bei einem Roboter, der sich fortbewegen kann. Hier gibt es Teile, die in Bewegung sind, andere, die starr und 265 Schmidt, J. C.: Das Andere der Natur. Neue Wege der Naturphilosophie, Stutt­ gart 2015. 266 Koutroufinis, S.: Organismus-Verständnis zwischen Zweckmäßigkeit und Entro­ pie. Eine historisch-theoretische Betrachtung, in: Gadebusch Bondio, M. / Sieben­ pfeiffer, H. (Hrsg.): Konzepte des Humanen. Ethische und kulturelle Herausforderun­ gen, Freiburg / München 2012, S. 191–206, hier S. 192.

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2.2 Perspektiven des Lebendigen

unbewegt sind. Ein Organismus allerdings sei bei einer Tätigkeit stets als Ganzes involviert. »Ein besonderes Charakteristikum der organismischen Körperlichkeit ist […] das Fehlen von kausalen Trennungen zwischen verursachenden und verursachten materiellen Teilen. Aus diesem Grund lässt sich in einem Organismus keine zentrale materielle Ursache seiner Dynamik finden, die ein zentrifugal organisierendes Zentrum seiner materiellen Beschaffenheit ist.«267

Bernd-Olaf Küppers weist auf die Struktur eines Wirbeltierauges hin, um den Gedanken der Zweckmäßigkeit zu verdeutlichen. In vielerlei Hinsicht sei es einer Kamera weit überlegen, etwa hinsichtlich der automatischen Fokussierung von Bildern. Ein Auge sei zudem gerade im grüngelben Bereich besonders empfindlich, dort also, wo das Sonnenlicht besonders intensiv ist, was man auch als Anpassung an die Umweltbedingungen deuten mag. »Zweckmäßigkeit« sei ein »charakteristisches Merkmal aller Lebewesen«.268 Dies unterstreicht er auch noch einmal im Hinblick auf verschiedene Abläufe inner­ halb einer Zelle: »Alle Moleküle einer Zelle wirken in einem genau aufeinander abgestimmten Funktionsschema zusammen, um den Ordnungszustand ›Leben‹ aufrechtzuerhalten.«269 Die Zelle sei in ein komplexes Netzwerk von Stoffwechselkreisläufen involviert, die alle zusammenspielen. Der Körper stellt die Energie für die verschiedenen Stoffwechselprozesse der Zellen bereit. »Ziel und Zielgerichtetheit stehen bei einem biologischen Selbstor­ ganisationsprozeß in einem unauflösbaren rückkoppelnden Bezug zueinander. Naturgesetzlich erklären läßt sich daher nur das ›Dasein‹ biologischer Strukturen, nicht aber ihr ›Sosein‹. Das ›Sosein‹ spiegelt die historische Einzigartigkeit lebender Systeme wider und entzieht sich prinzipiell einer naturgesetzlichen Beschreibung.«270

Gernot und Renate Falkner konnten im Experiment zeigen, dass sich Bakterien an verschiedene Versuchsbedingungen anpassen kön­ nen.271 Abhängig von vorangegangenen Entwicklungen und Wachs­ A. a. O., S. 192 f. Küppers, B.-O.: Der Ursprung biologischer Information. Zur Naturphilosophie der Lebensentstehung, München / Zürich 1986, S. 32 f. 269 A. a. O., S. 34. 270 A. a. O., S. 261. 271 Das Autoren-Ehepaar G. und R. Falkner hat gemeinsam »die energetischen Grundlagen der physiologischen Anpassung mit Hilfe der irreversiblen Thermody­ 267

268

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2. Das Phänomen des Lebendigen

tumsprozessen waren diese in der Lage, neue Eigenschaften hervorzu­ bringen. Anpassungen, die ein Organismus vornimmt, werden von vorangegangenen Erfahrungen mitbestimmt.272 Das Gewesene sei demnach im Erleben eines Organismus präsent. Das Entstehen von Organismen, die Wachstumsprozesse von Zellen, aber auch die Evolution der Arten ließen sich nicht befrie­ digend mit mechanistischen Lösungsansätzen erklären. Die beiden Biologen scheuen sich nicht, von einer Ziel- und Zweckhaftigkeit zu sprechen: Diese »äußert sich im Entwurf einer neuen organismischen Struktur für eine Zukunft, in der die Lebewesen mit dieser Struktur ihre Umgebung so zu ihrer Umwelt umgestaltet haben, dass diese wieder ihrer Natur entspricht«273. Physiologische Prozesse seien auf eine organismische Ganzheit hin ausgerichtet. namik studiert. [Sie] fanden, dass dieser Prozess ausgelöst wird, wenn eine Milieuän­ derung die Funktionsharmonie eines Fließgleichgewichtes des Stoffwechsels beein­ trächtigt. Im Fließgleichgewicht wird die jeweils vorhandene Energie mit optimaler Effizienz verwertet«, die unter den vorgegebenen Bedingungen möglich ist und die nicht der maximalen Effizienz entspricht. In diesem Fall gewährleisten »die im Stoff­ wechsel erzeugten Strukturelemente der Zelle […] die Aufrechterhaltung der Erschei­ nungsform des Organismus.« (Falkner, G. G. / Falkner, R. A.: Die Selbstgestaltung der Lebewesen in Erfahrungsakten. Eine prozessbiologisch-ökologische Theorie der Orga­ nismen, Freiburg / München 2020, S. 12). 272 Vgl. a. a. O., S. 14. Die beiden Biologen haben den Phosphat-Stoffwechsel von Cyanobakterien unter­ sucht. Es ist ihnen gelungen zu zeigen, dass sich zurückliegende Phosphat-Konzentra­ tionen auf aktuelle Stoffwechselprozesse auswirken. Es konnte expliziert werden, dass sich Bakterien an die Versuchsbedingungen anzupassen in der Lage sind. Abhängig von vorangegangenen Entwicklungen und Wachstumsprozessen waren diese fähig, neue Eigenschaften hervorzubringen. Schon durch den Stoffwechsel, den ein Organismus betreibt, sind Vergangenes, Gegenwärtiges und Kommendes miteinander verknüpft. Aber auch Erfahrungen und Lernprozesse, die Organismen machen, sind hier zu nennen. Das Ehepaar Falkner spricht in diesem Sinne von einem »Gedächtnis«. Cassirer formuliert den Gedanken folgendermaßen: »Der Organismus ist niemals in einem einzigen Augenblick lokali­ siert. In seinem Dasein bilden die drei Modi der Zeit – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – ein Ganzes, das nicht in einzelne Elemente aufgespalten werden kann. […] Wir können den jeweiligen Augenblickszustand eines Organismus nicht beschreiben, ohne seine Geschichte zu beachten und ohne auf einen künftigen Zustand zu verwei­ sen, angesichts dessen der gegenwärtige Zustand nur ein Durchgangsstadium ist.« (Cassirer, E.: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 22007, S. 83 f.). 273 Falkner, G. G. / Falkner, R. A.: Die Selbstgestaltung der Lebewesen in Erfahrungs­ akten. Eine prozessbiologisch-ökologische Theorie der Organismen, Freiburg / München 2020, S. 21.

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2.2 Perspektiven des Lebendigen

Die von Aristoteles wie Kant betonten Wechselwirkungen zwi­ schen den Teilen und dem organismischen Ganzen werden auch hier hervorgehoben: So stehen die Subsysteme eines Organismus sowohl untereinander als auch zum Ganzen des Organismus in einer »inneren Beziehung«274. »Dabei wird die Entwicklung einer organismischen Struktur neben äußeren Einflüssen auch durch innere Kräfte bestimmt. Sie sind dafür verantwortlich, dass ein Organismus bei seinen Veränderungen nach stationären Zuständen strebt, aus denen eine bestimmte Formeinheit hervorgeht und bei denen die vorhandene Energie mit optimaler Effizienz verwertet wird.«275

Organismen sind nicht untätig. Indem sie auf ihre Umgebung ein­ wirken, entsteht eine Umwelt. Diese werde, so Gernot und Renate Falkner, als zur eigenen Konstitution gehörend wahrgenommen. Die beiden Biologen sprechen in diesem Zusammenhang von »Selbst­ gestaltung«. Geleitet werde jener Prozess von vorausgegangenen Umwelterfahrungen.276 Sie sprechen in dem Kontext auch von »Erin­ nerung«: »Die Erinnerung leitet die endursächliche Abstimmung von Teilpro­ zessen der Zelle auf ein vom Organismus intendiertes Ziel. […] Die objektivierbaren Manifestationen von Lebewesen beinhalten transi­ ente Strukturelemente, die im Stoffwechsel entstanden sind und die in einem Gefüge von Elementarprozessen so angeordnet werden, dass daraus die entsprechende Gestalt hervorgeht.«277

Organismen könnten, so G. und R. Falkner, ihre Struktur in ihre Umgebung hinein erweitern. Dies bliebe von anderen Organismen nicht unbemerkt, sondern werde als Druck erfahren, der eine Gegen­ 274 A. a. O., S. 22. In den organismischen Subsystemen gebe es eine gewisse Erwartungshaltung. Ände­ rungen in der Umwelt wirkten auf die Selbstgestaltung der Organismen. »Die Selbst­ gestaltung geht dann mit der gegenseitigen Neuanpassung energiekonvertierender Subsysteme einher, bei der die Organismen auch eine neue Umwelt erzeugen, in der der Stoffwechsel potentiell in einer Funktionsharmonie operieren kann.« (A. a. O., S. 93). 275 A. a. O., S. 22. 276 Siehe auch meine Rezension zur Arbeit in: Synthesis Philosophica 2/2020, S. 520–522. 277 Falkner, G. G. / Falkner, R. A.: Die Selbstgestaltung der Lebewesen in Erfahrungs­ akten. Eine prozessbiologisch-ökologische Theorie der Organismen, Freiburg / München 2020, S. 51.

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2. Das Phänomen des Lebendigen

reaktion auslösen könnte. So entstünden Gemeinschaften von Orga­ nismen, welche in ihrem Verhalten aufeinander eingespielt sind. Komme es auf zellulärer Ebene zur Veränderung eines Sub­ systems, habe dies auch für die anderen Subsysteme Folgen: Sie werden umgebaut oder aber durch andere ersetzt. Der Gestaltungsund Umbauprozess vollzieht sich so, dass Energie unter veränder­ ten Umweltbedingungen in für den Organismus optimaler Weise genutzt werden kann. Dies hat zur Folge, dass auch die anderen Subsysteme umgestaltet und umgebaut werden müssen. Über Stoff­ wechselprozesse sind diese mit den anderen Subsystemen verbunden. Gernot und Renate Falkner beschreiben den Selbstgestaltungsprozess folgendermaßen: »Diese Neustrukturierung pflanzt sich wellenartig durch den gesamten Organismus fort, bis größere zelluläre Einheiten entstehen, mit denen die vorhandene Energie mit optimaler Effizienz ausgenützt wird.«278 Der Organismus ist nicht abgeschirmt von seiner Umgebung, sondern wirkt auf diese ein, auf dass eine Umwelt entstehe, »die eine Funktionsharmonie aller energiekonvertierenden Subsysteme gewährleistet« 279. Der Begriff der Umwelt ist hier nicht für den Menschen exklusiv reserviert, sondern das Ergebnis des Selbstgestaltungsprozesses von Organismen. In dieser stetigen Aus­ einandersetzung mit der Umwelt erfahre sich der Organismus selbst. Es sei, so Renate und Gernot Falkner, kaum weiterführend, Organismen als rundum quantifizierbare Entitäten anzusehen. Und auch der Hinweis darauf, dass sie dynamisch sind, sei nicht so zu verstehen, dass man sie auf dem Computer simulieren könne. Insofern Organismen eine materielle Komponente haben, könne man verschiedene Abläufe an und in ihnen messen und auch gut beschrei­ ben. Ein Organismus habe aber immer auch etwas, das sich einem messend-quantitativen Zugang entziehe, etwas Unbegreifliches.

2.3 Wissenschaft des Lebendigen: Vom Beobachten zum Herstellen Wenn wir die Frage stellen, was Biologie resp. was Gentechnologie ist, macht uns das selbst noch nicht zu Biologen oder Gentechnikern. 278 279

A. a. O., S. 27. Ebd.

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2.3 Wissenschaft des Lebendigen: Vom Beobachten zum Herstellen

Wir beantworten diese Frage nicht mit Hilfe von von langer Hand erdachten Experimenten. Was Biologie bzw. was Gentechnologie ist, ist nicht Gegenstand von Biologen und Gentechnikern: »Keine Fachwissenschaft ist ihr eigener Gegenstand, keine kann mit ihren eigenen Methoden und Verfahrensweisen darüber etwas ausmachen, was sie selbst als Wissenschaft ist.«280 Biologen beschreiben unter anderem Wachstumsprozesse. Sie erklären Gesetzmäßigkeiten, stellen Regeln auf und erforschen kau­ sale Verursachungen. Wir erfahren von Seiten der Biologie z. B. etwas über die notwendige Energie bzw. die materiellen Prozesse, die in einem Organismus ablaufen. Über Sinnzusammenhänge, das Warum, erfahren wir von ihr nichts.281 Aufgabe der Biologie ist es nicht, wie z. B. Steven Rose behauptet, eine Ersatzreligion zu sein und letztgültige Antworten zu geben, woher wir kommen und wohin wir einmal gehen.282 Dies würde die Biologie überfordern und weit über ihren Kompetenzbereich hinausgehen. Die Biologie beantwortet nicht die Frage, warum es Leben auf diesem blauen Planeten gibt. Die Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, ist eine philosophische Frage.283 Biologie stellt nicht die Frage, wie wir leben sollen, weshalb von ihr auch nicht eine Antwort hierzu zu erwarten ist. Und so ist auch die Frage, ob wir für dies oder jenes, möglicherweise für die gesamte Natur, Verantwortung tragen, keine biologische Frage. Gleichwohl kann die Arbeit der Biologen, wenn wir z. B. an die Synthetische Biologie denken, ethische Fragen auf den Plan rufen. Die Philosophie fragt z. B., was Natur überhaupt ist, welchen Zugang wir zu ihr haben, und wie das Verhältnis des Menschen zu ihr aussieht. Es geht also um ganz grundlegende Fragen. Die Philosophie 280 Pöltner, G.: Menschliche Erfahrung und Wissenschaft, in: Thomas, H. (Hrsg.): Naturherrschaft. Wie Mensch und Welt sich in der Wissenschaft begegnen, Herford 1991, S. 237–252, hier S. 243. 281 Zu dieser Unterscheidung: Droysen, J. G.: Grundriss der Historik, Bad Cannstatt 1977; Dilthey, W.: Einleitung in die Geisteswissenschaften, Gesammelte Schriften Bd. 1, Stuttgart 71973; Dilthey, W.: Ideen über beschreibende und zergliedernde Psychologie, Gesammelte Schriften Bd. 6, Stuttgart 61974. Als informative Einführung in Leben und Werk bedeutender Biologen sei verwiesen auf: Klinger, R.: Die wichtigen Biologen, Wiesbaden 2008. 282 Vgl. Rose, S.: Darwins gefährliche Erben. Biologie jenseits der egoistischen Gene, München 2000, S. 85 f. 283 Hierzu: Schubbe, D. / Lemanski, J. / Hauswald, R. (Hrsg.): Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Wandel und Variationen einer Frage, Hamburg 2013.

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2. Das Phänomen des Lebendigen

führt selbst keine Experimente durch. Sie rechnet und zählt nicht, sie denkt, argumentiert und begründet. Auch befragt sie ihre Geschichte und erörtert, wie das hier anzutreffende Wissen für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden könnte. Der Philosophie kommt im Kon­ zert der Wissenschaften eine besondere Aufgabe zu: Damit die unter­ schiedlichen Stimmen nicht einfach aufeinanderprallen, sind diese aufeinander abzustimmen. Das Einzelwissen der Naturwissenschaf­ ten muss sie in ein Verhältnis zueinander bringen. Philosophie hat so gesehen die Aufgabe eines Dirigenten zu übernehmen, damit die einzelnen Musiker – um im Bild zu bleiben – nicht aneinander vorbei­ spielen. Sie hat Probleme, die durch eine rein naturwissenschaftliche Herangehensweise entstehen, klar zu benennen und dazu einzuladen, über das jeweils vorausgesetzte Verständnis von Natur zu reflektie­ ren resp. dieses auch zu revidieren. Sie muss kritische Rückfragen an Vorhaben und Methoden der Naturwissenschaften stellen und »die Erkenntnisse der Naturwissenschaften [aufschließen], sie […] umgreifen und – wo es möglich ist, im Durchgang durch Differenzen – zu einer Synthese«284 zusammenführen. Das heißt: Sie »integriert, was sonst isoliert bliebe; sie systematisiert, synthetisiert, stellt Sinn­ zusammenhänge her«285. Die Physik war ohne Frage im 20. Jahrhundert die Leitwissen­ schaft. Das hat einerseits mit bahnbrechenden Leistungen zu tun – man denke an die Relativitätstheorie oder auch an die Quantentheorie –, aber auch mit ihrer methodologischen Grundlage, die seit dem 17. Jahrhundert präzise begründet wurde.286 Und es stimmt schon: Die Physik ist gegenüber der Biologie grundlegender. »[M]an kann Physik ohne Biologie, aber eben nicht Biologie ohne Physik betreiben«287, wie es Vittorio Hösle und Christian Illies auf den Punkt bringen. »[U]nd auch vom Mathema­ 284 Schmidt, J. C.: Das Andere der Natur. Neue Wege der Naturphilosophie, Stuttgart 2015, S. 6. 285 Ebd. 286 Hans Reichenbach, einer der Hauptvertreter des Logischen Empirismus, bezeich­ net die Physik ganz richtig als »exakteste aller Naturwissenschaften«. (Reichenbach, H.: Neue Wege der Wissenschaft, in: Reichenbach, H.: Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie, mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. von N. Milkov, Ham­ burg 2011, S. 3–18, hier S. 3). Die Physik habe die Technik zu einer Blüte heranreifen lassen und liefere nun Apparate, die die physikalische Forschung voranbringen (vgl. a. a. O., S. 4). 287 Hösle, V. / Illies, C.: Der Darwinismus als Metaphysik, in: Hösle, V.: Die Philo­ sophie und die Wissenschaften, München 1999, S. 46–73, hier S. 49.

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2.3 Wissenschaft des Lebendigen: Vom Beobachten zum Herstellen

tisierungsgrad der Physik ist die Biologie noch weit entfernt.«288 Hösle und Illies machen auf einen wichtigen Unterschied der Biologie gegenüber der Physik aufmerksam: Die Physik habe Kräfte und Materie, aber eben nicht sich selbst zum Thema, während die Biologie Wissenschaft des Lebendigen im Sinne eines genitivus subjectivus und eines genitivus objectivus sei. Biologen sind nun mal Menschen aus Fleisch und Blut, lebendige Organismen, und um ihre Verhaltenswei­ sen zu erklären, greifen sie auf die Biologie zurück.289 Illies und Hösle charakterisieren die Biologie als »Brückendisziplin« zwischen Naturund Sozialwissenschaften: »Einerseits ist sie in ihrer Methode Physik und Chemie verwandt, auf deren Ergebnisse sie immer wieder zurück­ greift. Andererseits wirft sie ein Licht auf das menschliche Verhalten, das auch Psychologie und Sozialwissenschaften erhell[en].«290 Der Biologie, die heute viele verschiedene Disziplinen umfasst, wird von vielen Seiten immer wieder bescheinigt, im noch jungen 21. Jahrhundert eine Sonder-, wenn nicht sogar Führungsrolle einzuneh­ men. Nicht selten ist auch von einem »Zeitalter der Biologie« bzw. einem »Bio-Zeitalter« die Rede. Adolf Portmann berichtet rückbli­ ckend, dass man um das Jahr 1916 »Lebensforschung« insbesondere in Zoologie, Botanik, aber auch in der Anatomie und Physiologie zu betreiben suchte.291 Heute sind andere Disziplinen wie z. B. Mole­ kularbiologie, Mikrobiologie, Genetik, Biochemie, aber eben auch die Synthetische Biologie dazugekommen, um die Frage nach dem Lebendigen zu eruieren. »Biology ceases to be the sovereign territory of biologists, biochemists, and medical scientists; in the twenty-first century, physical, mathe­ matical, and engineering sciences converge with the more traditional biological disciplines to seek a deeper understanding of life.«292

Ebd. Vgl. ebd. 290 A. a. O., S. 49 f. 291 Portmann, A.: An den Grenzen des Wissens. Vom Beitrag der Biologie zu einem neuen Weltbild, Wien / Düsseldorf 21974, S. 16. In der Propädeutik zum Studium der gesamten Heilkunst. Ein Leitfaden akademischer Vorlesungen von C. F. Burdach aus dem Jahr 1800 ist von der »Biologie« als eigener Disziplin die Rede, zu welcher Seelenkunde, Morphologie und Physiologie gezählt werden. (Vgl. Ballauff, T.: Biologie, in: Ritter, J.: (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1: A-C, Basel / Stuttgart 1971, Sp. 943–944). 292 Contera, S.: Nano Comes To Life. How Nanotechnology Is Transforming Medicine and the Future of Biology, Princeton / Oxford 2019, S. 1. 288

289

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2. Das Phänomen des Lebendigen

Zu jeder Zeit hat es besondere Schwerpunkte der Forschung gegeben, wir können vielleicht sogar sagen: Moden. Während im 19. Jahrhun­ dert die Aspekte der Entwicklung und Organisation im Vordergrund der Auseinandersetzung einer Bestimmung des Lebensbegriffes ste­ hen, ändert sich dies in den 1950er und 1960er Jahren zugunsten einer molekularbiologischen Betrachtung. Eine besondere Rolle über­ nimmt dabei der Informationsbegriff.293 Die Grundorientierung der Molekularbiologie ist dabei atomistisch. Rückblickend auf das 20. Jahrhundert können drei in besonderer Weise wichtige Etappen für die biologische Forschung herausgestellt werden.294 Die erste wichtige Wegmarke ist mit den Namen von Linus Pauling und Robert B. Corey verbunden. Im Jahre 1950 konnten sie zeigen, dass Proteine dreidimensional gebaut sind. Entscheidende Impulse sind weiterhin den Arbeiten von Francis Crick und James D. Watson zu verdanken, die 1953 die Struktur der Erbsubstanz DNA aufzeigen konnten. Richard Dawkins mutmaßt, dass sie daher »ebenso über Jahrhunderte hinweg berühmt bleiben wie Aristoteles und Platon«295. Die dritte einflussreiche Entwicklung bestand darin, dass es möglich wurde, Erbsubstanz durch Beeinflussen bestimmter Enzyme (DNA-Polymerase) in vitro zu reproduzieren. Diese Weg­ marke aus dem Jahre 1983 ist mit den drei Buchstaben PCR verbun­ den, die für polymerase chain reaction stehen, auf die in modernen Forschungslaboren in unterschiedlicher Weise zurückgegriffen wird: Etwa beim Klonieren von Genen, bei der Erkennung von Virusin­ fektionen und Erbkrankheiten, aber auch bei der Erstellung eines »genetischen Fingerabdrucks« (genetic fingerprinting) und der Unter­ suchung alter (fossiler) DNA greift man auf die PCR zurück.296

Vgl. Peters, K.: Zur Unschärfe des Zukünftigen, in: Angerer, M.-L. / Peters, K. / Sofoulis, Z. (Hrsg.): Future Bodies. Zur Visualisierung von Körpern in Science und Fiction, Wien 2002, S. 1–20, hier S. 4. 294 Vgl. Karafyllis, N. C.: Biologisch, natürlich, nachhaltig. Philosophische Aspekte des Naturzugangs im 21. Jahrhundert, Tübingen / Basel 2001, S. 15. 295 Dawkins, R.: Und es entsprang ein Fluss in Eden. Das Uhrwerk der Evolution, München 21995, S. 29. 296 »In einem heterogenen DNA-Gemisch kann man nun ausgesuchte Abschnitte vervielfältigen. Benötigt werden hierzu Kenntnisse über Teile der Sequenz, so dass spezifisch bindende Oligonukleotidprimer hergestellt werden können, die die Ver­ vielfältigungsreaktion starten. Die neu hergestellten DNA-Fragmente werden abge­ löst. Da sie wiederum als Matrizen für die Primer dienen, entsteht eine Kettenreaktion. Bei größerer Länge der Fragmente (über 5.000 Basenpaare) eignet sich das Verfahren 293

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2.3 Wissenschaft des Lebendigen: Vom Beobachten zum Herstellen

Biologie selbst befindet sich in einem tiefgreifenden Verände­ rungsprozess. In ihren Aufgabenbereich fällt nicht mehr nur die Beobachtung und Beschreibung von Lebensvorgängen. Der Biologie wird teilweise die Rolle zugesprochen, Impulsgeberin für technische Entwicklungen zu sein. Die Verbindung von Biologie und Technik wird als besonders fruchtbar erachtet. Die Sichtung unterschiedlicher Publikationen aus dem Bereich der Biologie scheint nahezulegen, von einem Trend zu sprechen, einen Überblick über das Leben bekommen zu wollen. Hierzu gehört die Überzeugung, nur über das, was man selbst herstellen könne, hätte man auch den Überblick. Verfügbarkeit heißt: visualisieren und herstellen können. Einen Überblick über das Leben versucht man dadurch zu bekom­ men, dass man Prozesse des Lebendigen sichtbar macht. So ist man während einer Schwangerschaft heute oftmals nicht einfach »nur« guter Hoffnung, sondern macht die Leibesfrucht selbst sicht­ bar.297 In den Neurowissenschaften erforscht man das Gehirn des Menschen durch bildgebende Verfahren, was überaus beeindruckend ist, nicht selten aber auch zu Fehlschlüssen seitens namhafter For­ scher führt, die notwendige und hinreichende physische Bedingun­ gen verwechseln. Im Kontext dieses Trends, den Überblick über das Leben bekommen zu wollen, wird auch das menschliche Erbgut zunehmend sichtbar gemacht – in der Hoffnung, so die Zukunft erkennbar und gestaltbar zu machen. »Gene, Proteine, intrazellulare Membrankompartimente – das Leben wird in Organisationseinhei­ ten zerlegt. Es ist unser molekularer Blick, der diese Fragmentierung ermöglicht.«298 Helga Nowotny und Giuseppe Testa beschreiben ganz treffend, worum es zu gehen scheint: »Das Leben zu erkennen heißt, das Leben zu verändern.«299 Unsere Beziehung zur Natur verändert sich dadurch. »Sie wird zur Materie reduziert, die manipuliert und patentiert werden kann.«300 Letztlich ändert sich dadurch auch unsere Sicht auf uns selbst. weniger.« (Gelhaus, P.: Gentherapie und Weltanschauung. Ein Überblick über die genethische Diskussion, Darmstadt 2006, S. 47). 297 Hierzu: Maio, G.: Abschied von der freudigen Erwartung. Werdende Eltern unter dem wachsenden Druck der vorgeburtlichen Diagnostik, Lüdenscheid 2013. 298 Nowotny, H. / Testa, G.: Die gläsernen Gene. Die Erfindung des Individuums im molekularen Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009, S. 13. 299 A. a. O., S. 15. 300 A. a. O., S. 61.

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2. Das Phänomen des Lebendigen

Mit den neuen Möglichkeiten der modernen Biowissenschaften stellt sich auch eine Reihe von Fragen. Neuartige biologische Realitä­ ten werden geschaffen, Zellen mit neuen Eigenschaften kreiert, die eine lukrative Nutzung zu versprechen scheinen. Wie steht es um den Status der in den Forschungslaboren erzeugten Realitäten? Handelt es sich um Gewachsenes? Oder sind sie gemacht? Nicole C. Karafyllis spricht von »Biofakten«, um den Einfluss der modernen Computerund Biowissenschaften auf Menschen wie Tiere und Pflanzen zu unterstreichen. »Man sieht«, so Karafyllis, »den artifiziellen Anteil nicht und findet ihn womöglich auch nicht einmal auf substantieller, molekularer Ebene, obwohl das lebende Subjekt in weiten Teilen künstlich zum Wachsen veranlasst oder zumindest technisch zuge­ richtet wurde«301. Der Begriff »Biofakt« ist freilich ein Kunstwort.302 Während mit dem Begriff »Artefakt« ein Gegenstand, eine Sache gemeint ist, soll mit dem Terminus »Biofakt« der Einfluss des Techni­ schen auf Wachstumsprozesse zum Ausdruck gebracht werden: ein »wachsende[s] Artefakt, dessen Leben anteilig imitiert, provoziert, reproduziert und simuliert werden kann«303. Karafyllis spricht von einer »Verschmelzung« von Technik und Natur zu einer »hybriden Natur«.304 Es bliebe dennoch eine »Rest­ summe«, »die uns wissen oder zumindest erahnen läßt, daß etwas künstlich oder natürlich ist – oder zumindest einmal war«305. Diese Restsumme jedoch ausfindig zu machen, sei zusehends schwieriger geworden. Während also klar sei, dass ein Artefakt (wie unser Plastikbaum) etwas Künstliches sei, wir können auch sagen: etwas Gemachtes, verweise der Begriff »Biofakt« auf Entitäten, die 1.) wach­ 301 Karafyllis, N. C. (Hrsg.): Biofakte. Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen, Paderborn 2013, S. 16. 302 Sie verweist darauf, dass der Begriff erstmals durch den Wiener Tierpräparator Bruno M. Klein in den Jahren 1943/44 verwendet wurde. Vgl. Karafyllis, N. C.: Bio­ fakte – Grundlagen, Probleme, Perspektiven, in: Erwägen, Wissen, Ethik (EWE: Forum für Erwägungskultur), 17/1 (2006), S. 547–558, hier S. 548; Karafyllis, N. C.: Natur als Gegentechnik. Zur Notwendigkeit einer Technikphilosophie der Biofakte, in: Kara­ fyllis, N. C. / Haar, T. (Hrsg.): Technikphilosophie im Aufbruch. Festschrift für Günter Ropohl, Berlin 2004, S. 73–91, hier S. 84. 303 Karafyllis, N. C. (Hrsg.): Biofakte. Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen, Paderborn 2013, S. 9. 304 Karafyllis, N. C.: Das Wesen der Biofakte, in: Karfyllis, N. C. (Hrsg.): Biofakte. Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen, Paderborn 2003, S. 11– 26, hier S. 12. 305 Ebd.

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2.3 Wissenschaft des Lebendigen: Vom Beobachten zum Herstellen

sen, aber 2.) deren Wachstumsprozesse eben nicht aus sich heraus stattfinden, also eigengesetzlich sind.306 Der Anstoß zu ihrem Wachs­ tum liegt außerhalb von ihnen. Sie sind hergestellt, Gemächte, ihre Bedingungen wurden gesetzt. Einerseits gibt es klare Unterschiede zu Machwerken wie unserem Plastikbaum; andererseits gibt es hier auch ein verbindendes Band. Karafyllis spricht auch von »belebten Artefak­ ten«307. »Biologisches Wachstum«, so Karafyllis, könne nicht »gänzlich ersetzt, aber so stark technisch fragmentiert und provoziert werden, daß nur noch der abstrakte Anfangspunkt der Genese als selbsttä­ tiger Naturanteil verbleibt«308. Das, was beim Biofakt denn nun das Künstliche, das Gemachte, sei, könne man, so Karafyllis, mög­ licherweise auch nicht auf molekularer Ebene sehen, obgleich die Wachstumsprozesse technisch beeinflusst wurden. Dies sei auch übertragbar auf künstliche Landschaften.309 Karafyllis führt die Trias Artefakte – Biofakte – Lebewesen an, um das Verhältnis von Natur und Technik besser beschreiben zu können. Artefakte wie Biofakte sind demnach etwas Gemachtes, während die Gemeinsamkeit von Biofakten und Lebewesen im Wachstum zu sehen ist, das in einem Fall technisch veranlasst, im anderen Fall eigengesetzlich ist. Mit dem pfif­ figen Kunstbegriff Biofakte bezeichnet Karafyllis Organismen, die für menschliche Bedürfnisse verändert wurden, um vergegenständlicht und nutzbar gemacht zu werden.310 Ein Mensch, der einen Herz- oder Hirnschrittmacher hat, ein Cyborg, der im zweiten Gang uns noch beschäftigen wird, würde demnach nicht unter die Definition fallen. Hier kommt es zwar auch zu einer Verschmelzung von Organischem und Technischem, jedoch bleibt der Wachstumsprozess davon selbst unberührt. Bei Mensch-Tier-Mischwesen sieht dies schon anders aus. Im Hinblick Vgl. a. a. O., S. 15. Karafyllis, N. C.: Natur als Gegentechnik. Zur Notwendigkeit einer Technikphi­ losophie der Biofakte, in: Karafyllis, N. C. / Haar, T. (Hrsg.): Technikphilosophie im Aufbruch. Festschrift für Günter Ropohl, Berlin 2004, S. 73–91, hier S. 73. 308 Karafyllis, N. C.: Das Wesen der Biofakte, in: Karfyllis, N. C. (Hrsg.): Biofakte. Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen, Paderborn 2003, S. 11– 26, hier S. 14. 309 Vgl. a. a. O., S. 16. 310 Karafyllis, N. C.: Biofakte als neue Kategorie der Informatik?, in: Jakob, R. / Phil­ ipps, L. / Schweighofer, E. / Varga, C. (Hrsg.): Auf dem Weg zur Idee der Gerechtigkeit. Gedenkschrift für Ilmar Tammelo, Berlin / Wien 2009, S. 249–262, hier S. 249 f. 306 307

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2. Das Phänomen des Lebendigen

auf die Erzeugnisse der Synthetischen Biologie kann es sinnvoll sein, diesen Begriff zu verwenden. Wir kommen darauf zurück.

2.4 Zugänge zum Lebendigen 2.4.1 Die Perspektive lebendiger Erfahrung Einen Stein oder einen Computer behandeln wir anders als eine Zimmerpflanze, ein Haustier oder einen Mitmenschen. Leben erblickt sich in dem, was lebt. Es gibt, um eine Formulierung von Volker Gerhardt aufzugreifen, ein »Bewusstsein von der ursprünglichen Verbindung mit anderen lebendigen Wesen«311. Wenn wir hier etwas über das Leben sagen, sollten wir uns vergegenwärtigen, dass wir selbst in dieses eingebunden sind. Leben hat nicht nur mit Bäumen oder Käfern zu tun, ist nicht nur außer uns. Wir selbst sind Lebewesen; erleben uns als lebendig. Von diesem Erleben können wir uns nicht gänzlich losmachen. Unser eigenes Lebendigsein ist immer schon eine Bedingung dafür, überhaupt etwas über das Leben sagen zu können. Wir sind selbst betroffen, invol­ viert. Ich kann meinen Leib und mein Leben von Leib und Leben anderer Lebewesen unterscheiden, mich von diesen abheben und distanzieren. Also: Weil wir selbst lebendig sind, aus Eigenerfahrung, haben wir einen Lebensbegriff. In analoger Weise verstehen wir auch die Pflanzen- und Tierwelt. In anderen Lebewesen vermag ich Eigenschaften auszumachen, die Dinge eben nicht aufweisen.312 311 Gerhardt, V.: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 22018, S. 90. 312 Leben ist daher, wie Thomas Sören Hoffmann formuliert, aus der »Binnenper­ spektive« zu thematisieren: Hoffmann, T. S.: Praktische Philosophie als integratives Denken. Grundlagen und aktuelle Herausforderungen mit besonderer Rücksicht auf die Bioethik, in: Čović, A. / Hoffmann, T. S. (Hrsg.): Integrative Bioethik. Beiträge des 1. Südosteuropäischen Bioethik-Forums, Mali Lošinj 2005, Sankt Augustin 2007, S. 13–25; Hoffmann, T. S.: »Leben« als Chiffre der Totalität. Der Lebensbegriff des transzendentalen und dialektischen Idealismus und seine Relevanz im »Jahrhundert der Lebenswissenschaften«, in: Gethmann, C. F. (Hrsg.): Lebenswelt und Wissenschaft. XXI. Deutscher Kongreß für Philosophie 15.-19. September 2008 an der Universität Duisburg-Essen. Kolloquienbeiträge (= Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2), Ham­ burg 2011, S. 909–923; Hoffmann, T. S.: Integrative Bioethik, in: Fuchs, M. / Gott­ schlich, M. (Hrsg.): Ansätze der Bioethik, Freiburg / München 2019, S. 161–191, hier S. 182.

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2.4 Zugänge zum Lebendigen

Die Frage nach »Leben« ist nicht allein auf einer theoretischen Ebene zu beantworten. Sie betrifft den Menschen existentiell und ethisch.

2.4.2 Subjektivität des Lebendigen Natürliche Prozesse kann ich mit- und nachvollziehen. Ich kann erleben, dass nichtmenschliche Wesen nicht nur Sachen, sondern lebendig sind. Das gilt für Pflanzen wie für Tiere. Jene Erfahrung beschreibt folgende Stelle aus einem Brief von Max Scheler sehr schön. Er berichtet, einen Pflanzenfilm gesehen zu haben. »Wunderbar war ein Pflanzenfilm, in dem je 24 St. Pflanzenleben auf eine Sekunde zusammengezogen ist […]; man sieht die Pflanzen atmen, wachsen u. sterben. Der natürl. Eindruck, die Pflanze sei unbeseelt, verschwindet vollständig. Man schaut die ganze Dramatik des Lebens – die unerhörten Anstrengungen. Am schönsten waren Ranken, die sich an vier nebeneinander gestellten Stangen aufreihen. Das stürmische ›Suchen‹ nach Halt, die ›Befriedigung‹, wenn sie die Stange gefunden, die vergeblichen Versuche (oft sucht die Ranke an einer anderen Ranke Halt, die ebenso haltlos ist, so daß beide zusam­ menbrechen) u. vor allem: die Erscheinung, daß – wenn die Ranke die 4. letzte Stange im Wachsen erreicht hat – sie ›verzweifelt‹ ins Leere greift, sucht und sucht – bis (unerhört!) sie sich nach Mißerfolgen umwendet u. zur 4. Stange zurückkehrt. Das erschütterte mich so, daß ich mit Mühe die Thränen zurückhielt. O wie ist das Leben überall gleich süß, zuckend und schmerzhaft […] und wie ist alles, alles Leben eins.«313

Lebendiges kann objektiviert werden. Der Selbsterfahrung entspre­ chend kann es aber auch als uns ähnlich entdeckt werden. Anschaulich wird in dem zitierten Briefausschnitt geschildert, wie die Lebendigkeit anderer Wesen, das Leben in seiner Vielfältigkeit und die Zusammen­ gehörigkeit des Lebendigen erfahren werden.314 Ähnlich stark wie Scheler formuliert diesen Gedanken auch Martin Buber, und zwar in seiner Schrift Ich und Du. Buber nimmt Scheler, M.: Brief vom 3. März 1926, zit. nach: Mader, W.: Max Scheler in Selbst­ zeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 117 f. 314 Zugrunde liegt ein Verständnis von Erfahrung, das nicht nur auf den Menschen beschränkt ist. 313

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2. Das Phänomen des Lebendigen

hier nicht nur interpersonale Verhältnisse in den Blick, sondern thematisiert auch die Subjektivität alles Lebendigen: »Ich betrachte einen Baum. Ich kann ihn als Bild aufnehmen: starrender Pfeiler im Anprall des Lichts, oder das spritzende Gegrün von der Sanftmut des blauen Grundsilbers durchflossen. Ich kann ihn als Bewegung verspüren: das flutende Geäder am haften­ den und strebenden Kern, Saugen der Wurzeln, Atmen der Blätter, unendlicher Verkehr mit Erde und Luft – und das dunkle Wachsen sel­ ber. Ich kann ihn einer Gattung einreihen und als Exemplar beobachten, auf Bau und Lebensweise. Ich kann seine Diesmaligkeit und Geformtheit so hart überwinden, daß ich ihn nur noch als Ausdruck des Gesetzes erkenne – der Gesetze, nach denen ein stetes Gegeneinander von Kräften sich stetig schlichtet, oder der Gesetze, nach denen die Stoffe sich mischen und entmischen. Ich kann ihn zur Zahl, zum reinen Zahlenverhältnis verflüchtigen und verewigen. In all dem bleibt der Baum mein Gegenstand und hat seinen Platz und seine Frist, seine Art und Beschaffenheit. Es kann aber auch geschehen, aus Willen und Gnade in einem, daß ich, den Baum betrachtend, in die Beziehung zu ihm eingefaßt werde, und nun ist er kein Es mehr.«315

Die Natur kann als Ausdrucksgestalt erfahren werden, die sich den Netzen der Mathematisierbarkeit entzieht. Qualitäten lassen sich in ihr ausfindig machen. Deutlich wird, dass der Mensch an Prozessen teilzuhaben vermag, die für ihn nicht greifbar und verfügbar sind.

2.4.3 Grenzen der Objektivierung Innerhalb der Biologie macht man von mehreren Methoden Gebrauch, um Prozesse des Lebendigen sowie Verwandtschaftsver­ hältnisse untereinander zu erforschen. Besondere Bedeutung kommt einer Tätigkeit zu, die schon für Aristoteles wie Darwin unverzichtbar ist, wenn es darum geht, Natur zu erforschen: das genaue Beobachten! 315

Buber, M.: Ich und Du, mit einem Nachwort von B. Casper, Stuttgart 2016, S. 7.

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2.4 Zugänge zum Lebendigen

Pflanzen und Tiere werden in ihrer natürlichen Umgebung beob­ achtet, um daraus Schlüsse zu ziehen und Vergleiche herzustellen. Das ist möglich bei Organismen, die heute mit uns auf der Erde leben. Auskunft über ausgestorbene Tierarten erhofft man sich über Fossilfunde zu bekommen. Auch diese müssen genau beobachtet und schließlich analysiert werden. Die fossilen Zeugnisse von Lebewesen, die inzwischen ausgestorben sind, werden sorgsam untersucht. Palä­ ontologen bemühen sich, verwandtschaftliche Beziehungen zu heute lebenden Lebewesen aufzuzeigen. Wissenschaft hat ihren Urgrund in suchenden und fragenden Menschen. Ziele, Methoden und der zu erforschende Gegenstand werden klar festgelegt. »Jede Wissenschaft ist als Forschung auf den Entwurf eines umgrenzten Gegenstandsbezirkes gegründet und deshalb notwendig Einzelwissenschaft. Jede Einzelwissenschaft muß sich in der Entfaltung des Entwurfs durch ihr Verfahren auf bestimmte Felder der Untersuchung besondern.«316 Bei unseren Beobachtungen und Forschungen wird immer nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit unter die Lupe genommen. »Nur wenige Prozent [der ausgestorbenen und lebenden Lebewesen] sind bislang untersucht, eingeordnet und benannt worden. Ja, fast die gesamte biologische Forschung gründet sich auf höchstens einige wenige hundert verschiedene Lebensformen.«317 Steven Rose weist darauf hin, dass wir einen Großteil unseres genetisch-biochemischen Wissens insbesondere drei Organismenarten verdanken: Ratten, Tau­ fliegen und Escherichia coli, einem Darmbakterium.318 Es macht den Erfolg der Einzelwissenschaften aus, dass sie ihren jeweiligen Gegenstand im Hinblick auf eine ganz bestimmte Frage hin untersuchen. Dafür eignen sich bestimmte Methoden, andere wiederum weniger oder gar nicht. Und man kann nicht alles untersuchen; Reduzierungen sind wichtig. Die Einzelwissenschaften grenzen »sich einen Teil des Seienden ab und untersuchen die für diesen sich ergebenden Bestimmungen«, wie Aristoteles in seiner Metaphysik erläutert.319 Man darf diesen aspektiven Ausschnitt und Heidegger, M.: Holzwege, HeiGA 5, Frankfurt a. M. 1977, S. 83. Rose, S.: Darwins gefährliche Erben. Biologie jenseits der egoistischen Gene, Mün­ chen 2000, S. 16. 318 Vgl. a. a. O., S. 18. 319 Aristoteles: Metaphysik IV 1, 1003 a. »Aufgrund ihrer methodischen Selbstbeschränkung kann die Naturwissenschaft nie­ mals die kritische Instanz der allgemein-menschlichen Erfahrung und ihrer Implikate 316

317

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2. Das Phänomen des Lebendigen

das Tun der Einzelwissenschaften nicht verabsolutieren, man würde sie damit im Grunde auch überfordern, da es über ihre Kompetenzen und selbstgesteckten Grenzen hinausginge. Wir haben es in dem Fall ja gerade nicht mit dem Gesamtphänomen zu tun, sondern es wird ein bestimmter Aspekt im Hinblick auf eine festgelegte Fragestellung hin untersucht. Ein Lebewesen als Lebewesen entfleucht uns, wenn wir es in seine Gensequenzen aufschlüsseln. Es ist ein Merkmal der Einzelwissenschaften, dass sie einer bestimmten Methode folgen und thematisch fokussiert sind. Was außerhalb ihrer Grenzen liegt, gehört nicht zu ihrem Aufgabenbe­ reich. So kann ich beispielsweise einen menschlichen Organismus hinsichtlich seiner biochemischen Zusammensetzung beschreiben. Die Frage nach Gerechtigkeit ist keine, die von der Biochemie beant­ wortet werden kann. Auch nicht, was eine freiheitliche Gesellschaft zusammenhält und auszeichnet. Oder was Bildung ist. Das ist kein Manko dieser Einzelwissenschaft, sondern schlichtweg nicht ihre Aufgabe und per definitionem von ihrem Forschungsbereich ausge­ schlossen. Bei all unseren wissenschaftlichen Tätigkeiten müssen Vorent­ scheidungen getroffen und Regeln akribisch eingehalten werden: »Erst wenn der Stein nur noch als Masse betrachtet wird, eignet er sich als Gegenstand, an dem die Hypothese bestätigt werden kann, daß alle Masse-Körper von Masse-Körpern nach bestimmten mathematischen Gesetzen angezogen werden.«320 Insofern von vornherein der Fokus auf Empirisches gerichtet ist, bleibt das Zielhafte des Lebendigen von vornherein außen vor. Die Frage, warum z. B. Sokrates das Gefängnis nicht verlässt, ließe sich auch heute nicht durch einen Verweis auf die Knochen und Sehnen von Sokrates oder mit Erregungsmustern und neuronalen Aktivitäten erläutern. Physiologischen Prozessen nähern wir uns heute sogar durch bildgebende Verfahren, doch der Handlungscharak­ ter wird dabei nicht mitberücksichtigt. Über seine Gründe, tatsächlich sein, wie das die Evolutionisten behaupten. Es gilt natürlich auch das Umgekehrte: Die aus der allgemein-menschlichen Erfahrung gewonnene Kenntnis ist ebenso wenig kritische Instanz gegenüber der Fachwissenschaft. Die naturwissenschaftliche Realität ist keineswegs die maßgebliche, sondern die von der naturwissenschaftlichen Methode zugelassene Realität.« (Pöltner, G.: Menschliche Erfahrung und Wissen­ schaft, in: Thomas, H. (Hrsg.): Naturherrschaft. Wie Mensch und Welt sich in der Wis­ senschaft begegnen, Herford 1991, S. 237–252, hier S. 247). 320 A. a. O., S. 245.

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2.4 Zugänge zum Lebendigen

im Gefängnis zu verharren, haben wir dabei noch nichts in Erfahrung gebracht.

2.4.4 Die im Labor gemachte Natur Seit der Neuzeit kommt dem technisch-experimentellen Eingriff eine enorm wichtige Rolle zu, um Natur zu erforschen und schließlich zu nutzen. Wenn wir vom Experiment (von lat. experimentum für Versuch, Probe, Beweis) sprechen, müssen wir verschiedene Größen auseinanderhalten: zunächst einmal ist da derjenige, der das Expe­ riment durchführt. Dann haben wir das zu untersuchende Objekt resp. Subjekt. Der Untersuchung liegen bestimmte Methoden, ein Versuchsaufbau, zugrunde. Und schließlich gibt es natürlich noch die eigentliche Durchführung. Aber damit ist das Experiment noch nicht abgeschlossen. Wir schauen uns das einmal genauer an! Bei Experimenten können wir abhängige und unabhängige Variablen wie auch sogenannte Störvariablen auseinanderhalten. Beginnen wir in der Mitte dieser Liste: Mit einer unabhängigen Varia­ ble ist jener Bereich gemeint, der variiert wird, um Abweichungen feststellen zu können. Konsequenzen hat dies für die abhängigen Variablen. Die Leitfrage ist dabei, welche Folgen die Veränderungen für jenen Bereich haben. Was sich hinter den Störvariablen verbirgt, ist sehr schnell einzusehen: Hiermit sind jene Faktoren gemeint, die sich auf das Experiment auswirken und die erhobenen Daten im Hinblick auf deren Zweck verfälschen. Das Experiment geht über die Beobachtung hinaus, insofern hier ein künstlicher Eingriff geschieht, um Natur unter bestimmten Bedingungen zu untersuchen. Ein wesentliches Merkmal ist demnach die Manipulation: künstliche (Ideal-)Situationen werden hergestellt. Von Belang ist, was gesetzlich möglich ist – nicht die Natur als solche. Mit dem Experiment ist die technische Verwertbarkeit meist schon mit im Blick. Der Gegenstand der Untersuchung wird der planenden Verfü­ gungsgewalt des Menschen unterworfen. Z. B. können wir ein Bäum­ chen in eine Erde setzen, der bestimmte Nährstoffe fehlen oder andere Stoffe beigegeben sind, um zu sehen, wie sich unter diesen Umstän­ den der Baum entwickelt. Ein Experiment muss freilich grundsätzlich wiederholbar sein, damit wir ihm einen Wahrheitsgehalt zusprechen.

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2. Das Phänomen des Lebendigen

Den verschiedenen Einzelwissenschaften geht es um unter­ schiedliche Aspekte der Natur. Naturwissenschaftler sehen in der Natur vor allem aufeinanderfolgende physische Entwicklungen, die sie kausal beschreiben.321 Im Forschungslabor wird Natur angeeignet, zurechtgestutzt, isoliert und so hergerichtet, dass bestimmte Experi­ mente durchgeführt werden können. Experimente geschehen nicht in einem »theoriefreien Raum«. Wir haben es also nicht wirklich mit einer »unberührten« Natur zu tun, die im Labor untersucht wird. Wir hatten bereits erläutert, dass schon Aristoteles in der Bewe­ gung einen entscheidenden Unterschied zu dem, was nicht lebendig ist, ausmacht. Das, was lebt, ist in Bewegung – ein Gedanke, der auch seitens zeitgenössischer biophilosophischer Ansätze hervorgehoben wird.322 Angenommen, wir machen mit dem Smartphone ein Foto oder ein Selfie. Wir halten so einen bestimmten Moment fest. Die Prozesshaftigkeit, die Dynamik des Lebendigen, können wir auch mit dem besten Gerät nicht einfangen. Auf dem Smartphone haben wir eine Momentaufnahme, stillgestellte Bewegung. Leben, das stets in Veränderung ist, muss für das Experiment festgestellt werden. Es ist von vornherein »gereinigt« – nicht nur von sinnlichen Qualitäten. Es hat seine dynamische Bewegung anhalten müssen, damit eine Aussage über sein Lebendigsein möglich wird.323 Renate und Gernot Falkner weisen auf die künstlichen Bedingun­ gen hin, unter denen Experimente im Labor stattfinden. So könne etwa der Selbstbezug eines Organismus, der sich selbst hervorbringt und in seine Umgebung tätig eingreift, nicht berücksichtigt werden, wenn unter Laborbedingungen Organismen von ihrer Umgebung

Vgl. Müller, T. / Schmidt, T. M.: Einleitung, in: Müller, T. / Schmidt, T. M. (Hrsg.): Abschied von der Lebenswelt? Zur Reichweite naturwissenschaftlicher Erklärungsan­ sätze, Freiburg / München 2015, S. 9–14, hier S. 10, 14. 322 »Organisationen des Lebendigen unterscheiden sich in der Art ihrer Bewegungen, mit denen sie sich in der Erfahrung ihres Lebensraumes konstituieren. Dabei wird ganz allgemein bei allen Lebewesen ihre Bewegung auf die (kommunikativen) Inter­ aktionsmöglichkeiten mit anderen Organismen in der von ihnen erlebten Umgebung abgestimmt.« (Falkner, G. G. / Falkner, R. A.: Die Selbstgestaltung der Lebewesen in Erfahrungsakten. Eine prozessbiologisch-ökologische Theorie der Organismen, Frei­ burg / München 2020, S. 143). 323 »Nach Schelling heißt dies, die Natur bei ihrem ›Tod‹ behaften und sich dann vornehmen, das Leben aus ihm zu erkennen.« (Hoffmann, T. S.: Philosophische Phy­ siologie. Eine Systematik des Begriffs der Natur im Spiegel der Geschichte der Philoso­ phie, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, S. 394). 321

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2.4 Zugänge zum Lebendigen

abgeschnitten würden.324 Kreative Veränderungsprozesse von Orga­ nismen könnten unter experimentellen Bedingungen im Labor nicht stattfinden. Im Fokus stünden Daten, die reproduzierbar sind. Nicht von Interesse ist demnach das, was nicht reproduzierbar ist. Indivi­ duelle, irreversible Veränderungen von Stoffwechselprozessen eines Organismus seien nicht im Blick.325 Zudem sei »die Wirkung äußerer Kräfte auf ein bestimmtes System nicht reproduzierbar, wenn dieses System in einem Response auf die experimentelle Untersuchung oder in einer Serie von identischen Experimenten neue Eigenschaften ent­ wickelt«326. Was im Rahmen eines Experimentes thematisiert wird, hat mit unterschiedlichen Wissenschaftspraxen zu tun. Hier gelten kontrol­ lierte Bedingungen; bestimmte Faktoren werden herausgegriffen, manipuliert, damit sich ein bestimmter Effekt einstellt. Verschiedene Objekte werden eigens für Versuche im Labor hergestellt. Denken wir etwa an Labormäuse. In ihnen werden z. B. Gene inaktiviert oder aktiviert, Tumorzellen eingeschleust. Unter Laborbedingungen wird hier also ein Geschehen in Gang gesetzt, das dann gemessen und analysiert werden soll.327 Die »sich zeigende Natur« unterscheidet sich von der »gezeigten Natur« in ihrer Prozesshaftigkeit, ihrer Nicht­ festgestelltheit, ihrer Selbstbewegung.328 Sagen wir es noch einmal mit anderen Worten: Im Labor haben wir es eben nicht mit der Vgl. Falkner, G. G. / Falkner, R. A.: Die Selbstgestaltung der Lebewesen in Erfah­ rungsakten. Eine prozessbiologisch-ökologische Theorie der Organismen, Freiburg / München 2020, S. 21, S. 45–47. 325 Vgl. a. a. O., S. 45. 326 A. a. O., S. 46. 327 Jürgen Mittelstraß spricht von einem »Technikparadigma der modernen Natur­ wissenschaft« (Mittelstraß, J.: Leben mit der Natur, in: Schwemmer, O. (Hrsg.): Über Natur. Philosophische Beiträge zum Naturverständnis, Frankfurt a. M. 21991, S. 37–62, hier S. 49). Damit versucht er, eine Grundherangehensweise modernen naturwissen­ schaftlichen Arbeitens zu charakterisieren: Im Labor müssten die Gegenstände erst einmal hergestellt werden, um sie zu erforschen. Hieraus folgert er dann ganz richtig, dass sich »naturwissenschaftliche ›Entdeckungen‹ heute wesentlich den Bedingungen einer technischen Praxis, nicht mehr den Bedingungen einer ›natürlichen‹ Ordnung verdanken« (a. a. O., S. 49). Verfügungswissen sei im Rahmen moderner Naturwis­ senschaft an die Stelle eines Orientierungswissens in der Natur getreten, wie es noch für die Antike typisch war. (Vgl. a. a. O., S. 50) Die Folge sei ein Verständnis von Natur »ohne Orientierungssinn« (ebd.). 328 So auch: Hoffmann, T. S.: Gezeigte versus sich zeigende Natur. Eine Skizze im Blick auf das Verhältnis von Labor und Natur, in: Köchy, C. / Schiemann, G. (Hrsg.): Philosophia naturalis, Bd. 43: Natur im Labor, Frankfurt a. M. 2006, S. 142–167. 324

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2. Das Phänomen des Lebendigen

»puren Natur« zu tun, sondern Natur wird unter ganz bestimmten Bedingungen in den Fokus genommen. Sie wird isoliert, für die Untersuchung bearbeitet, in ein bestimmtes Koordinatensystem von Fragen und Methoden eingefügt, um so verwertbare Daten zu gewin­ nen. Wir müssen uns daher klarmachen, dass sie ihren natürlichen Charakter dadurch ein Stück weit einbüßt. Wir erkennen also nicht im Labor »die« Natur, »das« Leben, »den« Menschen. Wir haben es mit einem festgestellten Bild des Lebendigen zu tun. Die natura naturans, den lebendigen Menschen, das pralle Leben, werden wir im Labor gerade nicht finden. Was ihre Besonderheit ausmacht, was sie in ihrem Wesen sind, kann man dort nicht erfahren. Insofern können wir sagen, dass die Laborsituation selbst eine Grenze der Naturforschung bedeutet.329 Experimente betrachten wir keineswegs experimentell, sondern unter Rückgriff auf bestimmte Methoden. Insofern technisches Know-how an Bedeutung gewinnt, ändert sich auch der Blick auf Natur selbst, die im Horizont eines technischen Wissens und Eingrei­ fens zu beschreiben versucht wird. Die Technik bestimmt, wie Natur aufzufassen ist. Alle Daten können im Experiment gar nicht erfasst werden. Das würde den Rahmen des Möglichen sprengen. Es muss ausgewählt und systematisiert werden. Es werden Stichproben gemacht, Verall­ gemeinerungen getroffen und es wird versucht, Verhaltensweisen und Gesetzmäßigkeiten zu formulieren. Das, was relevant erscheint, versucht man, in eine Theorie zu fassen.

An anderer Stelle argumentiert Hoffmann: »Der technisch-praktische Zugriff der Naturwissenschaft […] [hat es] keineswegs […] mit ›natürlicher‹ Natur zu tun. Das, was er zu fassen bekommt, ist ein regulierter Schein von Natur – oder, um es ›kanti­ scher‹ zu sagen, eine von ihm her bestimmte Form der Erscheinung von Natur.« (Hoffmann, T. S.: Philosophische Physiologie. Eine Systematik des Begriffs der Natur im Spiegel der Geschichte der Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, S. 89) Hoffmann wendet sich gegen die Eindimensionalität eines berechnenden Naturzugangs. Er argu­ mentiert, dass mit Natur mehr als die Summe aller Organismen sowie aller nichtorganischen Stoffe gemeint sei. Vielmehr hätten wir es seiner Ansicht nach mit einem »Dimensionsbegriff« zu tun (a. a. O., S. 9). Natur sei der »freie Raum eines spezifi­ schen Sich-Zeigens von Alterität« bzw. eine »spezifische Präsenzweise von ›etwas‹“. (A. a. O., S. 9 f.) Natur erhalte sich in Selbstpräsenz und sei mehr als das, was bestimmt werden könne. Sie weise einen Überschuss auf. 329 Vgl. Tetens, H.: Das Labor als Grenze der exakten Naturforschung, in: Philosophia naturalis, Bd. 43 (2006), Heft 1, S. 31–48, bes. S. 41.

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2.4 Zugänge zum Lebendigen

»Nur wo es gelingt, alles, was ›nicht dazugehört‹, als störende Faktoren zu eliminieren, gewinnt man Erkenntnisse, die nachprüfbar sind. Man nennt diese Erkenntnisse objektiv. Die Objektivität der modernen Wissenschaft ist geradezu dadurch definiert, daß sie der Wirklichkeit nicht entspricht, sondern auf solche Erkenntnisse eingeschränkt ist, die sich durch eine eindeutig zu kontrollierende Versuchsordnung gewinnen lassen.«330

Die klugen Experimente, die durchgeführt werden, sind keineswegs unabhängig vom jeweiligen theoretischen Hintergrund. Die gesam­ melten Daten werden nach bestimmten Gesichtspunkten geordnet. Nicht brauchbare Daten werden nicht weiter beachtet. Die gewonne­ nen Daten werden gedeutet. Es wird versucht, Natur und Lebewesen im Hinblick auf eine bestimmte Fragestellung zu verstehen. Es werden Hypothesen aufgestellt, die dann einer Wissenschafts-Community zugänglich gemacht werden. Eine Theorie kann nicht alles erklären, schließlich sind weder sie selbst noch der oder die Wissenschaftler, die sie aufgestellt haben, allwissend. Im Wechselspiel von Experimentieren im Labor und der Ent­ wicklung von Theorien werden Modelle entworfen. Es handelt sich um Modelle für etwas. Sie sind keine Modelle von etwas, bei denen ein Abbildverhältnis zwischen Urbild und Abbild, Explanans und Explanandum, besteht, eine Strukturidentität des Modells mit dem Natürlichen, wie wir mit Peter Janich sagen können. »Die Auffassung des Modells ›von etwas‹ ist nur dort völlig unproble­ matisch, wo das Modell und das Modellierte kategorial gleich sind, d. h. mit denselben Worten beschrieben werden wie z. B. das Haus und das Modell des Hauses im Büro des Architekten. Die Kriterien der Gleichheit zwischen Haus und Modell, ja die Wörter für ihre Beschreibung sind unproblematisch auf beide Objekte gleich anwend­ bar. Dies ist aber beim Verhältnis von Explanans und Explanandum in der Molekularbiologie nicht der Fall.«331

Tobias Müller macht auf ein Charakteristikum von Modellen auf­ merksam, insofern diese »immer nur einen bestimmten Aspekt des empirischen Phänomens modellieren, was dazu führt, dass die Beschreibung notwendig immer partiell ist, während andere Aspekte, Picht, G.: Mut zur Utopie. Die großen Zukunftsaufgaben, München 1969, S. 90. Janich, P.: Der Status des genetischen Wissens, in: Honnefelder, L. / Propping, P. (Hrsg.): Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, Köln 2001, S. 70– 89, hier S. 85.

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2. Das Phänomen des Lebendigen

die für die jeweilige Fragestellung nicht relevant sind, methodisch ausgeblendet werden«332. Unterschiedliche, manchmal auch einander widersprechende Modelle und solche, die bewusst falsche Annahmen verwenden, kommen zum Einsatz. Entscheidend ist hier die Rolle des Wissenschaftlers selbst: Es gibt »kein theoretisches Kriterium, das die Anzahl dieser falschen Propositionen beschränkt oder verbietet, son­ dern es kommt auf die Abwägung des Wissenschaftlers an, ob der Nutzen des Gesamtmodells die Verwendung der falschen Propositio­ nen legitimiert«333. Modelle sind wichtig. Doch wir sollten uns ihrer begrenzten, abstrahierenden und auch idealisierenden Perspektive bewusst sein.334 Aufgrund der methodischen Abstrahierung resp. Ausblendung einiger Phänomene kann im Rahmen der naturwissenschaftlichen Laborperspektive nicht erfasst werden, was denn Natur (und mit ihr natürlich uns Menschen) als Gesamtphänomen ausmacht. Die Dyna­ mik des Lebendigen selbst steht dem entgegen. Das Lebendige lässt sich nicht stillstellen, einfangen. Wir bekommen einen Ausschnitt zu fassen, was wir übrigens auch im Hinblick auf Risikoabschätzungen zu berücksichtigen haben: »In unerwarteten Technikfolgen«, so Falken­ burg, »macht sich oft unerkannte Natur geltend«335.

332 Müller, T.: Naturwissenschaftliche Perspektive und menschliches Selbstverständ­ nis. Eine wissenschaftsphilosophische Analyse zur Unverzichtbarkeit lebensweltli­ cher Qualitäten, in: Müller, T. / Schmidt, T. M.: Einleitung, in: Müller, T. / Schmidt, T. M. (Hrsg.): Abschied von der Lebenswelt? Zur Reichweite naturwissenschaftlicher Erklärungsansätze, Freiburg / München 2015, S. 31–52, hier S. 41. 333 A. a. O., S. 42. 334 Um bestimmte Lebensprozesse zu untersuchen, greift man auch auf so genannte Modellorganismen zurück, an denen exemplarisch Abläufe untersucht werden. »Diese relativ kleinen Organismen«, so Ulrich Kutschera, »können leicht unter künstlichen Laborbedingungen gehalten, ernährt und zur Fortpflanzung gebracht werden.« (Kut­ schera, U.: Evolutionsbiologie, Stuttgart 42015, S. 15 f.) Im Labor eines Biologen ver­ sucht man beispielsweise, Auskunft über die materiellen Prozesse zu bekommen, die für Lebensäußerungen notwendig sind. 335 Falkenburg, B.: Wem dient die Technik? Eine wissenschaftstheoretische Analyse der Ambivalenzen technischen Fortschritts, in: Falkenburg, B.: Wem dient die Tech­ nik?, Baden-Baden 2004, S. 45–177, hier S. 79.

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2.5 Verkürzungen, die dem Lebendigen nicht gerecht werden

2.5 Verkürzungen, die dem Lebendigen nicht gerecht werden Insofern wir Menschen sind, können wir Sinnfragen stellen. Viel­ fach ist es so, dass dann, wenn bestimmte Krisen auftreten, Enttäu­ schungen und Schicksalsschläge, aber auch besondere Erlebnisse von Schuld, Zufall und Glück, die Frage nach Sinn in besonderer Weise gestellt wird, während sie im Alltag in den Hintergrund rückt, Men­ schen dieser Frage aus dem Weg gehen und »funktionieren«.336 Ins­ besondere durch die Erfahrung des Todes eines geliebten Menschen kann sich die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens besonders laut und deutlich stellen. Es ist die Erfahrung, dass ein Sinn fehlt, ja verloren gegangen zu sein scheint, wodurch Menschen veranlasst werden, diese Frage zu stellen.337 Die Frage nach Sinn und Bedeutung ist keine naturwissenschaft­ liche Frage, sondern wir haben es hier mit einer genuin philoso­ phischen Aufgabe zu tun, das Leben und die eigene Existenz zu deuten.338 Einige Physiker des 20. Jahrhunderts waren sich der Gren­ zen wissenschaftlichen Erkennens ganz besonders bewusst. Denken wir beispielsweise an die Heisenbergsche Unschärferelation, wonach Grenzen durch den Beobachtungs- und Messprozess gegeben sind. Im Hinblick auf die Kosmologie formuliert Peter Janich: »Wenn das Universum so groß ist, daß die Laufzeiten von Signalen ferner kosmischer Ereignisse jeden zeitlichen Rahmen menschlicher Erkenntnisbemühungen sprengen, so läßt sich behaupten, daß wir in

336 Bekanntlich hat Karl Jaspers den Begriff der »Grenzsituationen« maßgeblich geprägt. Hierzu sei verwiesen auf: Jaspers, K.: Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1919, S. 202–246; Jaspers, K.: Philosophie, Bd. II: Existenzerhellung, Berlin 1932, S. 201–254. Zum Begriff der Grenzsituation im bioethischen Kontext weise ich hin auf: Hoffmann, T. S.: Macht und Ohnmacht in den Heilberufen, in: Imago Hominis, Bd. 27, 1/2020, S. 11–20; Rehbock, T.: Grenzsituationen: ihre philosophische Bedeutung, erläutert am Beispiel der Krankheit, in: Hoffmann, T. S. (Hrsg.): Grundbegriffe des Praktischen, Freiburg / München 2014, S. 105–129. 337 Vgl. Heidegger, M.: Sein und Zeit, Tübingen 182001, §§ 9 und 45, S. 41–45 und S. 231–235. 338 Hinzuweisen ist auf den viel diskutierten Unterschied zwischen »Verstehen« und »Erklären«.

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2. Das Phänomen des Lebendigen

räumlicher und zeitlicher Hinsicht nur ein kleines Fenster in das für menschliche Verhältnisse so gut wie unendliche Weltall haben.«339

Auch biologisch gesehen gibt es Grenzen, wenn wir etwa an die Möglichkeiten unserer Sinnes- und Nervenorgane denken. Von technischen Entwicklungen wie auch von Naturwissenschaf­ ten ist schon aus rein methodischen Gründen nicht zu erwarten, dass sie die Frage nach dem Sinn von Sein werden beantworten können. Umso mehr erstaunt es daher, wenn etwa der für seine Beiträge zur Soziobiologie und Evolutionstheorie bekannte US-Amerikaner Edward O. Wilson suggeriert, allein aus naturwissenschaftlicher Sicht die Frage nach Sinn beantworten zu können. Eines seiner Bücher trägt den Titel The Meaning of Human Existence,340 in der deutschen Über­ setzung: Der Sinn des menschlichen Lebens.341 Wilson zitiert direkt zu Beginn dieser Arbeit die paulinische Aussage aus 1 Kor 13,12 »Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin«, die eigentlich einen eindeutig christologischen und eschatolo­ gischen Bezug hat. Er selbst habe den Anspruch zu zeigen, dass »unsere Stellung, unser Sinn ganz und gar nicht das sind, was Paulus erwartete«342. Eigentlich müsste an dieser Stelle schon klar sein, dass er damit den Kompetenzbereich seiner Disziplin überschreitet. Er will nicht nur über Naturgesetze und die Entwicklungsgeschichte des Lebendigen forschen und schreiben, sondern auch eine Antwort nach dem Warum unserer Existenz geben, wozu Naturwissenschaften von ihrem Selbstverständnis und ihrer Methodologie her jedoch nicht in der Lage sind. Es gibt es eine Reihe von Ansätzen, welche bereit sind, die gesamte Wirklichkeit mit Natur gleichzusetzen343 oder aber diese Janich, P.: Grenzen der Naturwissenschaft. Erkennen als Handeln, München 1992, S. 20. 340 Wilson, E. O.: The Meaning of Human Existence, New York 2014. 341 Wilson, E. O.: Der Sinn des menschlichen Lebens, München 2015. 342 A. a. O., S. 1. 343 Eine naturalistische Position vertritt beispielsweise der Physiker und Philosoph Hans Reichenbach. In der Geschichte der Menschheit habe eine »Revolution« statt­ gefunden, als die Zeit religiöser und metaphysischer Erklärungen abgelöst wurde vom Zeitalter der Physik, in dem es nur noch Tatsachen gebe. (Vgl. Reichenbach, H.: Die philosophische Bedeutung der modernen Physik, in: Reichenbach, H.: Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie, mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. von N. Milkov, Hamburg 2011, S. 19–46, hier S. 43) Für ihn gibt es dann auch nur noch zwei »Menschentypen«: zum einen den »naturwissenschaftliche[n]« Menschen, dem es ausschließlich um das nüchterne »Erkennen von Sachverhalten« gehe. Dem stellt er 339

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2.5 Verkürzungen, die dem Lebendigen nicht gerecht werden

zu bezweifeln und sich für einen radikalen Konstruktivismus stark­ machen. In nicht wenigen Publikationen findet sich die Aussage, es genüge, die physikalischen Bedingungen des Lebendigen nur gut genug zu kennen, um zu wissen, was Leben ist. So verstehe man dann auch, was Biologie sei. Auch begegnet einem in diesem Zusammenhang die Ansicht, nicht nur das menschliche Bewusstsein, sondern auch das Miauen eines Kätzchens oder das Zwitschern eines Vogels im Baum könnten ohne Verlust auf physikalische Abläufe reduziert werden. Im Grunde ließe sich auch das Fach Biologie auf Chemie und Physik reduzie­ ren.344 Von Zwecken in der Natur zu reden, sei demnach auch tabu. Jene Protagonisten sehen offenbar den Zweck ihres Daseins darin, überall Zwecke zu eliminieren, oder wie Whitehead pointiert formu­ liert: »So mancher Wissenschaftler hat mit viel Geduld und Scharfsinn Experimente konstruiert, deren Zweck die Bestätigung seiner Überzeu­ gung war, dass tierisches Verhalten nicht durch Zwecke gelenkt wird. Und möglicherweise hat er daneben in seiner Freizeit noch Aufsätze geschrieben, in denen der Nachweis geführt wird, dass Menschen

den »literarische[n] Mensch[en] gegenüber, dem es um das Verstehen emotionaler Erlebnisse des Menschen gehe und welchem das objektive Betrachten wesensfremd sei. Problematisch ist hier die unreflektierte Gleichsetzung Reichenbachs von Natur­ wissenschaft und naturalistischer Haltung und die Forderung, ausschließlich natur­ wissenschaftliche Daten als Tatsachen anzuerkennen und alles andere als »Fake News« abzutun. (Vgl. Reichenbach, H.: Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie, in: Reichenbach, H.: Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie, mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. von N. Milkov, Hamburg 2011, S. 47–94, hier S. 88 f.). 344 Francis Crick ist beispielsweise davon überzeugt, dass »das letzte Ziel der moder­ nen Bewegung in der Biologie […] die Erklärung der gesamten Biologie auf der Grundlage von Physik und Chemie« sei. (Crick, F.: Die Natur des Vitalismus, in: Küp­ pers, B.-O. (Hrsg.): Leben = Physik + Chemie?, München 21990, S. 121–137, hier S. 125) Die Überzeugung, alles sei auf Physik reduzierbar, ist eine philosophische Haltung, welche der Physik eine fragwürdige Rolle zuweist. Es handelt sich nicht um eine physikalische Theorie. Einigkeit gibt es im physikalistischen Lager jedoch nicht. Der Physiker und Philosoph Moritz Schlick, Leitfigur des Wiener Kreises im Logischen Empirismus, ist hinsicht­ lich der Frage, ob auch die Biologie auf Physik reduziert werden könne, zurückhaltend. Hierüber gebe es verschiedene Ansichten. (Vgl. Schlick, M.: Naturphilosophie. Das Wesen von Naturgesetzen und die Erklärung des Lebens, hrsg. von K.-D. Sedlacek, Norderstedt 2015, S. 9) Die Aufgabe der Biologie sieht er darin, die verschiedenen Lebenserscheinungen zu erklären und Prinzipien dafür zu benennen (vgl. a. a. O., S. 82).

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2. Das Phänomen des Lebendigen

sich in nichts von den übrigen Tieren unterscheiden, weshalb ›Zweck‹ ein für die Erklärung ihrer körperlichen Betätigungen (einschließlich seiner eigenen) vollkommen irrelevanter Begriff sein muss. Ich finde Wissenschaftler, deren Lebenszweck in dem Nachweis besteht, dass sie zwecklose Wesen sind, sind ein hochinteressanter Untersuchungs­ gegenstand.«345

Jedenfalls haben derartige Positionen eine große Anhängerschaft. »Lebensvorgänge«, so Kutschera, »sind im Prinzip physikalisch-che­ misch erklärbar«346. Die Gleichung »Leben = Physik + Chemie« erfasst viele Facetten jedoch nicht einmal ansatzweise.347

Whitehead, A. N.: Die Funktion der Vernunft, Stuttgart 1974, S. 16. Kutschera, U.: Evolutionsbiologie, Stuttgart 42015, S. 21. 347 Ich beziehe mich hier auf den Buchtitel: Küppers, B.-O.: Leben = Physik + Chemie? Das Lebendige aus Sicht bedeutender Physiker, München / Zürich 1987. Physik ist kein Gegenstand der Physik, Biologie und Chemie sind kein Gegenstand von Biologie und Chemie. Ebenso ist auch Technik kein Gegenstand der Technik. Alle diese Disziplinen haben bestimmte Arbeitsweisen, mit deren Hilfe wir jedoch nicht eruieren können, was diese als Wissenschaft ist. Die moderne Molekularbiologie untersucht physikalisch-chemische Prozesse. Das ist natürlich wichtig, doch dürfen wir nicht erwarten, so in Gänze verstehen zu können, was Leben ausmacht. Prägnant formuliert Henri Atlan: »Von dem Moment an, in dem man Biochemie und Biophysik betreibt und die physikalisch-chemischen Mechanis­ men als die Eigenschaften von Lebewesen begreift, verschwindet das Leben. Heute darf kein Molekularbiologe bei seiner Arbeit das Wort ›Leben‹ in den Mund nehmen. Das erklärt sich aus der Geschichte: Er beschäftigt sich mit Chemie, wie sie in der Natur existiert, in gewissen physikalisch-chemischen Systemen mit gewissen Eigen­ schaften, Pflanzen und Tiere genannt, das ist alles! Die Biochemie ist die Chemie der funktionellen Moleküle (Lipide, Proteine), die ihrer Interaktionen untereinander und mit Ionen, Salzen etc., und das Studium der Art und Weise, in der dieses Ensemble zu biologischen Funktionen beiträgt.« (Atlan, H. / Bousquet, C.: Questions de vie, entre le savoir et l’opinion, Paris 1994, S. 43 f., zit. nach: Falkner, G. G. / Falkner, R. A.: Die Selbstgestaltung der Lebewesen in Erfahrungsakten. Eine prozessbiologisch-ökologische Theorie der Organismen, Freiburg / München 2020, S. 48) Mayr bemerkt kritisch, dass sich Vertreter aus den Bereichen Genetik, Embryologie, Ökologie wie Taxonomie zwar alle der Biologie zurechneten, ihnen aber weder das Verbindende noch grundlegende Unterschiede etwa zur Physik genügend bewusst wären. (Vgl. Mayr, E.: Das ist Biologie. Die Wissenschaft des Lebens, Heidelberg / Berlin 1998, S. 12) Er selbst bringt die Unterschiede der Biologie zur Physik zur Spra­ che: Freilich würden Lebensvorgänge mit den Gesetzen der Biologie und Chemie beschreibbar, nicht jedoch darauf reduzierbar. Viele Facetten, die ausschließlich im Bereich der belebten Natur anzutreffen seien, würden in der Physik unbeachtet bleiben (vgl. Mayr, E.: Das ist Biologie. Die Wissenschaft des Lebens, Heidelberg / Berlin 1998, S. 17). 345

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2.5 Verkürzungen, die dem Lebendigen nicht gerecht werden

Für den bereits erwähnten Insektenkundler und Soziobiologen E. O. Wilson ist es lediglich eine Frage der Technik, zu wissen, wie ein Schmetterling sieht: »Da wir heute die richtigen Instrumente haben, können auch wir die Welt mit den Augen des Schmetterlings sehen.«348 Angenommen, wir kennten tatsächlich sämtliche physi­ kalischen Daten über Schmetterlinge: von der Beschaffenheit ihrer Flügel über die acht Typen von Rezeptoren zur Farberkennung bis hin zum Aufbau des Auges (Asiatische Schwalbenschwänze sind Terachromaten, womit gemeint ist, dass ihre Augen mit vier unter­ schiedlichen Wellenbereichen zurechtkommen). Wir wissen auch dann nicht, wie es ist, ein Schmetterling zu sein. Sein lebendiges Erleben, sein Fürsich und Innesein, dass es sich für ihn irgendwie anfühlt, dieser Organismus zu sein, können wir nicht fassen. Als Problem für eine physikalistische Position, die nicht aus den Resultaten der Wissenschaften folgt, sondern eine philosophische Position darstellt, erweisen sich z. B. die Rolle subjektiver Erlebnis­ gehalte und das Verständnis des Physischen.349 Facetten des Orga­ nismischen, die nicht quantitativ erfasst werden können, tauchen in Weltbeschreibungen der Physikalisten nicht auf. Intentionalität entzieht sich einer physikalistischen Erklärung. Warum in einer durch und durch materiell beherrschten Welt Subjektivität auftreten konnte, kann nicht befriedigend von ihnen erklärt werden. Unsere Wirklichkeit lässt sich keineswegs vollständig aus der Beobachterperspektive beschreiben. Es fehlt etwas: die Erlebnisper­ spektive, die nicht auf eine Dritte-Person-Perspektive reduziert wer­ den kann. Qualitative Erlebnisgehalte können nicht physikalistisch erklärt werden. »[E]ine Erklärung hat immer die Form eines Schlus­ ses, und eine physikalische Erklärung des Mentalen müsste ein Schluss aus rein physikalischen Prämissen auf mentale Sachverhalte sein«350, wie der ehemalige Physikalist Holm Tetens feststellt.351

Wilson, E. O.: Die Einheit des Wissens, Berlin 21998, S. 64. Vgl. hierzu: Knaup, M.: Leib und Seele oder mind and brain? Zu einem Paradigmen­ wechsel im Menschenbild der Moderne, Freiburg 2012; Knaup, M. / Müller, T. / Spät, P. (Hrsg.): Post-Physikalismus, Freiburg 2011. 350 Tetens, H.: Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Stuttgart 22015, S. 24. 351 »Dass ein Organismus um sein Überleben kämpft, flieht oder sich wehrt, beinhal­ tet, dass er Befriedigung oder Vereitelung der Bedürfnisse, Sein oder Nicht-Sein irgendwie als Unterschied spürt. Schon der Stoffwechsel lässt sich deshalb nicht nur 348

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2. Das Phänomen des Lebendigen

Die in diesem Abschnitt angesprochene Frage nach dem Sinn glaubt Richard Dawkins mit dem ihm zur Verfügung stehenden natur­ wissenschaftlichen Wissen vollumfänglich beantworten zu können. »[U]nsere eigene Existenz [war] zwar früher einmal das größte aller Rätsel […], [stellt] heute aber kein Geheimnis mehr dar […], da das Rätsel gelöst ist«352, wie er meint. Gelöst hätten es Darwin und Wallace mit ihren Überlegungen zur Evolution.353 Ganz innovativ ist die Behauptung freilich nicht.354 Optimistisch ob der Erfolge der Naturwissenschaften schreibt beispielsweise Marcelin P. E. Berthelot im Jahre 1885: »Die Welt hat jetzt keine Geheimnisse mehr.«355 Philosophische wie religiöse Fragen sind Dawkins suspekt, da sie sich einem experimentellen Zugriff entziehen.356 Wirklich ist für ihn nur das, was experimentell überprüfbar ist. Dawkins hat einen sehr eingeschränkten Begriff von Vernunft und Wissenschaft.357 Eine Reihe von fragwürdigen und unreflektierten metaphysischen Grund­ entscheidungen schwingt im Hintergrund vieler seiner Ausführungen mit. Aussagen über die Existenz oder auch Nichtexistenz Gottes zu treffen, fällt nicht in den Aufgabenbereich der Biologie. Whitehead hat dazu treffend bemerkt:

in physiologischen Begriffen beschreiben […].« (Kather, R.: Was ist Leben? Philoso­ phische Positionen und Perspektiven, Darmstadt 2003, S. 134). 352 Dawkins, R.: Der blinde Uhrmacher. Warum die Erkenntnisse der Evolutionstheorie zeigen, daß das Universum nicht durch Design entstanden ist, München 52013, S. 7. 353 Darwin wird immer wieder als Gewährsmann für eine atheistische Weltdeutung bemüht. Jedoch ist Darwins Verhältnis zu theologischen Fragen weit komplexer als Dawkins glauben machen will. Darwin, der in Westminister Abbey begraben wurde, hat z. B. selbst einen theologischen Abschluss erworben – sein einziger akademischer Abschluss übrigens. So weist etwa der britische Naturphilosoph John Dupré darauf hin, dass es »gewiß nicht zu seinen [Darwins] intellektuellen Zielen [gehörte], das Christentum zu überwinden« (Dupré, J.: Darwins Vermächtnis, Frankfurt a. M. 2009, S. 50). Hierzu auch: Blume, M.: Evolution und Gottesfrage. Charles Darwin als Theo­ loge, Freiburg 2013; Hösle, V.: Weshalb teleologische Prinzipien eine Notwendigkeit der Vernunft sind. Natürliche Theologie nach Darwin, in: Knaup, M. / Müller, T. / Spät, P. (Hrsg.): Post-Physikalismus, Freiburg 2011, S. 271–305. 354 Hierzu: Bayertz, K. / Gerhard, M. / Jaeschke, W. (Hrsg.): Der Darwinismus-Streit, Hamburg 2012. 355 Zit. nach: Penzlin, H.: Das Phänomen Leben. Grundfragen der Theoretischen Biologie, Heidelberg 2014, S. VII. 356 Vgl. Dawkins, R.: Forscher aus Leidenschaft. Gedanken eines Vernunftmenschen, Berlin 2018, S. 17. 357 Vgl. a. a. O., S. 13.

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2.5 Verkürzungen, die dem Lebendigen nicht gerecht werden

»Die Neigung zu übertriebenen Behauptungen ist schon immer eines der Grundlaster der Wissenschaft gewesen, und so hat man den zahl­ reichen innerhalb strikter Grenzen unzweifelhaft wahren Aussagen dogmatisch eine nicht bestehende universelle Gültigkeit beigemes­ sen.«358

Dawkins ist überzeugt, man könne den Menschen und alles Leben­ dige vollkommen und ohne Verlust durch naturwissenschaftliche Verfahren erklären. Es gebe »nichts außerhalb« der »physikalischen Welt«.359 Mentale Lebensäußerungen seien letztlich bloß physikali­ sche Prozesse, wovon Dawkins seine Leser mit Argumenten über­ zeugen möchte, was allerdings selbst kein physikalischer Vorgang ist. Leben ist für den bekannten Biologen letztlich nichts anderes als »Bytes und Bytes und Bytes«, es sei »durch und durch digital«, wobei er schon übersieht, dass derartige »nichts-anderes-als-Aussa­ gen« nur wenig mit naturwissenschaftlicher Präzisionsoffenheit zu tun haben.360 Maschinen seien »ehrenamtliche Lebewesen«361, alle Lebewesen »gut gestaltete Maschine[n]«362, »Überlebensmaschinen«363, was an La Mettrie und Descartes erinnert. Es handelt sich nicht um eine durch experimentelle Messverfahren gewonnene biologische Aussage. Von »Genbomben« zu sprechen, erinnert mehr an Kriege als an Gene­ tik.364 Merkwürdig muten auch diese Aussagen aus seiner Feder zur Genetik an: »Um langfristig erhalten zu bleiben, muß ein Gen ein Whitehead, A. N.: Die Funktion der Vernunft, Stuttgart 1974, S. 26. Dawkins, R.: Der Gotteswahn, Berlin 52009, S. 25. 360 Vgl. Dawkins, R.: Und es entsprang ein Fluss in Eden. Das Uhrwerk der Evolution, München 21995, S. 31. 361 Dawkins, R.: Der blinde Uhrmacher. Warum die Erkenntnisse der Evolutionstheorie zeigen, daß das Universum nicht durch Design entstanden ist, München 52013, S. 23. 362 Dawkins, R.: Und es entsprang ein Fluss in Eden. Das Uhrwerk der Evolution, München 21995, S. 14; vgl. Dawkins, R.: Der blinde Uhrmacher. Warum die Erkennt­ nisse der Evolutionstheorie zeigen, daß das Universum nicht durch Design entstanden ist, München 52013, S. 15. 363 Dawkins, R.: Und es entsprang ein Fluss in Eden. Das Uhrwerk der Evolution, München 21995, S. 32. 364 Vgl. Dawkins, R.: Und es entsprang ein Fluss in Eden. Das Uhrwerk der Evolution, München 21995, S. 177. Von der Nüchternheit eines Naturwissenschaftlers, wie sie z. B. Edward O. Wilson in hellen Farben zeichnet, ist diese Aussage jedenfalls weit entfernt: »In den wissen­ schaftlichen Veröffentlichungen oder in Vorträgen auf Fachkonferenzen meidet der Naturwissenschaftler Metaphern. Sorgfältig achtet er darauf, dass man ihm nie Rhe­ torik oder poetische Ausschweifung vorwerfen kann. [...] Die Sprache des Vortragen­ 358

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2. Das Phänomen des Lebendigen

guter Kamerad sein. Es muß sich in Gesellschaft der anderen Gene in dem Fluß oder vor ihrem Hintergrund gut benehmen.«365 Ist ein Gen denn eine zur Freundschaft fähige Person, ein handelndes Subjekt? Hat es Interessen, eine Zielstrebigkeit? Oder vertauscht Dawkins hier nicht einen Teil des Lebewesens (nämlich ein einzelnes Gen) mit dem ganzen Lebewesen? Gene sind auch keineswegs »egoistisch«366, was Dawkins wiederholt behauptet. Was ist z. B. mit der Entscheidung eines Ordensmannes zu einem Leben im Zölibat oder auch dem Entschluss eines Paares, beim Geschlechts­ verkehr zu verhüten? Anders gewendet: Wo bleibt hier die menschli­ che Freiheit? Für Aufmerksamkeit hat Dawkins’ Mem-Theorie gesorgt. Ein Mem steht nach Dawkins für die »Einheit der kulturellen Verer­ bung«367. Er denkt dabei z. B. an »Melodien, Gedanken, Schlagworte, Kleidermode, die Art, Töpfe zu machen oder Bögen zu bauen«368. Auch Meme unterliegen seinem Dafürhalten nach den Prinzipien der Selektion und Variation. Wie sie wirken, erläutert er folgendermaßen: Sie springen »von Gehirn zu Gehirn […] mit Hilfe eines Prozes­ ses, den man in einem allgemeinen Sinn als Imitation bezeichnen kann«369. Was die physische Bedingung für die Meme sein kann, sagt Dawkins nicht. Günter Rager kritisiert, dass die Reduzierung auf Mem-Einheiten der Einheit des Wissens nicht gerecht werde. Zudem, so Rager, seien Menschen in der Lage, etwas in Freiheit zu tun oder zu lassen. »In diesem Prozess der Beurteilung und Entscheidung geht

den hat immer gesetzt zu sein und der Logik nachprüfbarer Tatsachen zu gehorchen.« (Wilson, E. O.: Der Sinn des menschlichen Lebens, München 2015, S. 41) Eine ausgezeichnete Kritik an R. Dawkins hat Rudolf Langthaler vorgelegt: Langtha­ ler, R.: Warum Dawkins Unrecht hat. Eine Streitschrift, Freiburg 2015. 365 Dawkins, R.: Und es entsprang ein Fluss in Eden. Das Uhrwerk der Evolution, München 21995, S. 18. 366 Vgl. z. B. a. a. O., S. 151. So ist es auch irreführend, im Hinblick auf die Ebene des Genoms von Krankheiten zu sprechen. Hier gibt es Abweichungen und Variationen. Krank ist jedoch ein Mensch. Vgl. Lemke, T.: Die Polizei der Gene. Formen und Felder genetischer Diskriminierung, Frankfurt a. M. / New York 2006, S. 35. 367 Dawkins, R.: Das egoistische Gen, Berlin / Heidelberg / New York 1978, S. 226. 368 A. a. O., S. 227. 369 Ebd.

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2.5 Verkürzungen, die dem Lebendigen nicht gerecht werden

es nicht um isolierte Mem-Einheiten oder Memplexe, sondern um kulturelle Gesamtzusammenhänge.«370 Es greift schlichtweg zu kurz, alles Denken, Erkennen und Han­ deln des Menschen im Hinblick auf die Gene zu erklären. Viele Facetten bleiben dabei ausgeblendet. Dawkins’ eigene Überlegungen und Publikationen hätten, so gesehen, auch nichts mit Wissenschaft und Wahrheitssuche zu tun, sondern wären eine clevere Selektions­ strategie seiner Gene, wie Reinhard Löw kritisiert. Dawkins selbst wäre bloß eine Bücher schreibende Marionette seiner Gene, um so seine Fortpflanzungschancen zu erhöhen. Mit Wahrheit hätte eine solche Arbeit nichts zu tun. »Würde […] diese evolutionistische Anthropologie einen Wahrheits­ anspruch stellen, so höbe sich der selber auf. Diese Theorie ist auch nur ein Evolutionsprodukt, ein einziges, ungeheuerliches Paradoxon, dessen Kern in dem Satz besteht: ›Jetzt lüge ich.‹ Wenn er wahr ist, ist er gelogen, wenn gelogen, dann ist er wahr.«371

Die Bedeutung der sozialen Mitwelt wie auch der natürlichen Umwelt darf nicht übersehen werden. Sie wirken ebenfalls auf den Menschen ein und prägen ihn. Anders gesagt: Gene inklinieren, sie determinie­ ren aber nicht. Der Mensch ist nicht ein bloßer Statist, während die Gene Regie führen. Nicht Gene handeln, sondern der Mensch als Ganzes. Er ist in seiner Ganzheit autonom, nicht ein Teil von ihm. Menschen und andere Organismen sind Funktionsganzheiten, weshalb es schlichtweg zu kurz gesprungen ist, ihn auf einen Teil – sei es seine molekulare, genetische oder neuronale Ausstattung –

370 Rager, G.: Mensch sein. Grundzüge einer interdisziplinären Anthropologie, Frei­ burg / München 2017, S. 111. 371 Löw, R.: Substanz oder Evolution, in: Thomas, H. (Hrsg.): Naturherrschaft. Wie Mensch und Welt sich in der Wissenschaft begegnen, Herford 1991, S. 69–87, hier S. 77.

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2. Das Phänomen des Lebendigen

zu reduzieren.372 Ein Ganzes, eine lebendige Einheit, ist mehr als ein Teil.373 Rainer Marten kritisiert die einseitige Fokussierung auf die Frage des Überlebens: »Schon die Rede vom Überleben allein signalisiert den der menschli­ chen Lebenspraxis selbst fremden und äußerlichen Standpunkt des Genetikers. Überleben – das vermittelt das Bild des Übrigbleibens, des noch einmal (wie vereinsamt auch immer) Fortexistierens. Lebens­ praktisch hat jedoch kein Mensch bloßes Übrigbleiben im Sinn. Die Herausforderung zu ›überleben‹ stellt Menschen z. B. vor die Aufgabe, durch eine Zeit zu kommen. Die Zeit wird – qualitativ – als gemein­ schaftlich gebildete, das Durchkommen als durch gemeinschaftliche Praxis geprägtes erfahren.«374

Martens Kritik und sein Hinweis, dass Menschen in sozialen Kon­ texten leben, können noch ergänzt werden durch die Tatsache, dass es dem Menschen als Freiheits- und Vernunftwesen immer auch um ein besseres und schließlich auch um ein gutes Leben geht. Er kann aus sich herausgehen auf etwas, das die Überlebenssicherung »Viele DNA-Abschnitte können durch die Expression von Regulatorproteinen an der Synthese eines Proteins beteiligt sein, andererseits kann ein DNA-Abschnitt durch alternatives Spleißen Grundlage für unterschiedliche Proteine sein. Was ein ›Gen‹ im klassischen Sinne ist, was im Organismus also eine bestimmte Eigenschaft hervor­ bringt oder nicht, das ist die gemeinsame Leistung von DNA und aller an der Prote­ insynthese beteiligten Moleküle – letztlich die Leistung aller Bestandteile einer Zelle. Mit anderen Worten: das Genom grenzt zwar die prinzipiellen Entwicklungsmög­ lichkeiten einer jeden Zelle ein, deren Realisierung ist aber eine Leistung des gesamten Organismus.« (Herresthal, S.: Leben verstehen? Überlegungen zur teleologischen Beurteilung des Organismus in der Biologie, in: Spieker, M. / Manzeschke, A. (Hrsg.): Gute Wissenschaft. Theorie, Ethik und Politik, Baden-Baden 2017, S. 63–85, hier S. 65). 373 Fragwürdig ist in diesem Sinne auch seine Sicht auf das menschliche Gehirn, dem er Subjektstatus zuschreibt: »Unser Gehirn wurde mit der Fähigkeit, sich Ziele zu setzen und Absichten zu haben. Ursprünglich standen diese Ziele ausschließlich im Dienste des Überlebens der Gene: Es war das unmittelbare Ziel, einen Büffel zu töten, eine neue Wasserstelle zu finden, ein Feuer nicht ausgehen zu lassen und so weiter. Im weiteren Überlebensinteresse der Gene war es auch ein Vorteil, solche Ziele so flexibel wie möglich zu gestalten.« (Dawkins, R.: Forscher aus Leidenschaft. Gedanken eines Vernunftmenschen, Berlin 2018, S. 71) Es ist nicht das Gehirn, das Absichten und Ziele hat resp. handelt. Dawkins begeht hier einen mereologischen Fehlschluss: Er verwechselt einen (zweifellos wichtigen) Teil des Menschen mit der lebendigen Ganz­ heit. 374 Marten, R.: Nachdenken über uns. Philosophische Texte, Freiburg / München 2018, S. 39. 372

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und die genetische Reproduktion übersteigt. Schon bei Tieren lässt sich beobachten, dass sie nicht nur nach Überleben, sondern nach Wohlbefinden streben. Sie gehen ein, wenn man ihnen dieses versagt. So ließe sich übrigens in dem Zusammenhang grundsätzlich auch der Gedanke der Kooperativität des Lebendigen stark machen. Bereits auf der Ebene katalytischer Reaktionen in der präbiotischen Zeit lässt sich feststellen, dass sich Organismen, die mit anderen zusammenwirken, letztlich besser erhalten können. Im Bereich des Lebendigen gibt es zahlreiche Beispiele für Kooperativität. Argumen­ tieren ließe sich, dass Gene nicht für sich alleine stehen, sondern auf andere Gene bezogen sind, welche ihrerseits Transduktionsfaktoren und RNA-Ketten benötigen.375 Im Hinblick auf die Entwicklungsgeschichte des Lebendigen geht es bei Dawkins nicht um die Art resp. das Individuum. Es sind die Gene, die für ihn im Mittelpunkt stehen. Er betrachtet den gesamten Bereich menschlicher Phänomene durch die Brille, dass Gene letztlich die alles entscheidende Rolle spielen.376 Wir haben es hier mit einem atomistischen Blick auf die Geschichte des Lebendigen zu tun: Nicht der Organismus mit seinen inneren und äußeren Bezügen, sondern Gene und einzelne Merkmale stehen im Vordergrund. Nehmen wir z. B. das Verhältnis von Müttern zu ihren Sprösslingen. Über Mütter kann man bei Dawkins Folgendes lesen: »Ich betrachte eine Mutter als eine Maschine, die so programmiert ist, daß sie alles in ihrer Macht Stehende tut, um Kopien der in ihr enthaltenen Gene zu vererben.«377 Seine Aussagen über Kinder gehen – man wird kaum verwundert sein – in dieselbe Richtung. So heißt es hierzu: »Die Gene in den Körpern von Kindern werden aufgrund ihrer Fähigkeit selektiert, Elternkörper

375 »Es gehört zum integrativen Potenzial des Organismusbegriffs, auch die selekti­ onstheoretische Perspektive in sich aufnehmen zu können. […] Die organismische Ganzheitlichkeit und Harmonie ist entstanden in einem Kontext von sich überlagern­ den Schichten der Konkurrenz und Kooperation.« (Toepfer, G.: Einleitung, in: Toepfer, G. / Michelini, F. (Hrsg.): Organismus. Die Erklärung der Lebendigkeit, Freiburg / München 2016, S. 9–35, hier S. 17). 376 Dawkins versteht Gene als fundamentale »Einheit der natürlichen Auslese« (Dawkins, R.: Das egoistische Gen, Berlin / Heidelberg / New York 1978, S. 39), als »grundlegende Einheit des Eigennutzes« (a. a. O., S. 39). Ein Gen sei eine Einheit, »die in hohem Maße dem Ideal des unteilbaren Partikels nahekommt« (ebd.). Erstaunli­ cherweise spricht er an späterer Stelle davon, dass es sich um eine »zweckmäßige Einheit« handle (a. a. O., S. 230). 377 A. a. O., S. 145.

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zu überlisten.« 378 Und weiterhin liest man bei ihm: »Ein Kind sollte sich keine Gelegenheit zum Betrügen … Lügen, Täuschen, Ausbeuten … entgehen lassen.«379 Fraglich, ob so überhaupt verstanden wurde, was das Mutter-Kind-Verhältnis und Phänomene wie Liebe und Für­ sorge sowie Erziehung und Bildung ausmacht. Gefragt wird lediglich, welche Funktion bestimmte Gene ausüben und worin ein Selektions­ vorteil bestehen soll. Zudem könnte das, was als Egoismus erscheint, der Weg sein, wie Altruismus sich durchsetzt: also ein Kunstgriff der Natur, um einer altruistischen Haltung zum Durchbruch zu verhelfen. Aus biologischer Perspektive könnte man die hier stillschweigend vorausgesetzte scharfe Aufspaltung von angelegten und angeeigneten Eigenschaften eines Menschen, der Bedeutung der Gene einerseits und jener von Erziehung und Umwelt andererseits, in Frage stellen.380 Wird die Rolle der Genetik wie auch der Evolutionstheorie derart betont, tritt die Perspektive des Organismischen in den Hintergrund. Doch es scheint insofern ein Umdenken stattzufinden, als im Bereich des evolutionären Denkens der Organismusbegriff als Voraussetzung für die Entwicklungsgeschichte angesehen werden kann und im Hin­ blick auf die Genetik klarer wird, dass Organismen keine Marionetten ihrer Gene sind, sondern lebendige Ganzheiten, die die Aktivität ihrer Anlagen in einem Sinne regeln können, den Aristoteles, Kant und Jonas als zweckmäßig beschreiben würden. Teleologie wird bei Dawkins im Grunde auf den Kopf gestellt: Der Organismus wird zu einem Instrument, welches das Überleben der Gene sichern soll. Wir dürfen Gene nicht derart entrücken, wie es Dawkins tut: Sie schweben schließlich nicht im luftleeren Raum, sondern sind stets auf Zellen und deren Strukturen angewiesen. Für die Replikation benötigen Gene Energie. Diese beziehen sie aus Enzymketten. Für Kopierprozesse benötigen Gene zelluläre Strukturen. Gerhard Neu­ weiler hat daher folgende Bedenken gegen Dawkins vorgetragen: Drehte sich in der Evolution tatsächlich alles um den Fortbestand der Gene, stünden Bakterien auf dem Siegertreppchen ganz oben. »In jedem Menschen leben mehr Kolibakterien, als selbst heute auf der überbevölkerten Erde Menschen zu finden sind. Dennoch werden wir A. a. O., S. 161. A. a. O., S. 164. 380 Hierzu: Fox Keller, E.: Das Jahrhundert des Gens, Frankfurt a. M. / New York 2000; Neuweiler, G.: Und wir sind es doch – die Krone der Evolution, Berlin 2008, bes. S. 83–95. 378

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ein einzelnes hochkomplexes Lebewesen wie beispielsweise Johann Sebastian Bach ungleich faszinierender finden als alle biologischen Erfolge der Bakterienmassen.«381

Der Fortbestand von Genen sei, so Neuweiler, auf dem Niveau von Bakterien, die sich rasch und überaus erfolgreich vermehren, eben anders als bei komplexen Lebewesen, die eben auch durch äußere Einflüsse der Natur in besonderer Weise verletzbar sind.382 Nicht die Integration der organismischen Ganzheit, sondern die Zersplitterung in Teile steht bei Dawkins im Vordergrund. Gegenüber der Sichtweise, dass der Ball am Anfang der Entwicklung des Lebens allein bei den Genen lag und die aus Replikatormolekülen hervor­ gegangenen Organismen Knechte der Gene waren, weist Antonio Damasio darauf hin, dass Materie von Anfang an auf homöostatische Prozesse angewiesen war, was langfristig zu komplexen internen Regulationsprozessen des Lebendigen führte.383 Organismen seien, so der Mikrobiologe James A. Shapiro, in der Lage, eine Umstruktu­ rierung der eigenen genetischen Ausstattung vorzunehmen.384 Auch der Blick des Physiologen Denis Noble richtet sich von den Genen auf den Gesamtorganismus.385 Dieser würde mit Hilfe der DNA seinen Phänotyp hervorbringen. Hinsichtlich der Genexpres­ sion unterstreicht er die Rolle der Zellen.386 Gegen eine Gen-fokus­ sierte Sichtweise, wie wir sie bei Dawkins finden können, wendet sich Noble ausführlich in seiner Arbeit The Music of Life. Biology Beyond Genes. Der klingende Titel spielt darauf an, dass Leben kein Ding, sondern dynamisch, prozesshaft, in Bewegung ist. Er weist darauf hin, dass in einem Organismus ganz unterschiedliche Faktoren zusammenspielen: Da gibt es Gene, denen zweifellos eine große

Neuweiler, G.: Und wir sind es doch – die Krone der Evolution, Berlin 2008, S. 26. Vgl. a. a. O., S. 33. 383 Vgl. Damasio, A.: Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschli­ cher Kultur, München 2017, S. 51 f. 384 Vgl. Shapiro, J.: Evolution. A View from the 21st Century, Upper Saddle River 2011. 385 Noble, D.: Genes and Causation, in: Philosophical Transactions of the Royal Society (2008), S. 3001–3015, hier S. 3012: »We must shift our focus away from the gene as the unit of selection to that of the whole organism.« Vgl. hierzu auch: Beurton, P. J.: Was sind Gene heute?, in: Theory Bioscience (1998) 117, S. 90–99. 386 Noble, D.: Genes and Causation, in: Philosophical Transactions of the Royal Society (2008), S. 3001–3015, hier S. 3003, 3008. 381

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Bedeutung zukommt.387 Zu Lebewesen gehörten aber auch noch Proteine, verschiedene subzelluläre Prozesse, Zellen, Gewebe und Organe. Hinter der »DNA-mania«388 stehe die Vorstellung, es genüge lediglich Gene und Proteine in den Fokus zu nehmen, um so alles über einen Organismus zu wissen.389 Noble weist darauf hin, dass die unterschiedlichen Ebenen auf mannigfaltige Weise miteinander in Verbindung stehen, etwa durch Rückkopplungen. »Complicated systems generally tend to regulate themselves by feedback effects, that is, by a process in which higher-level (systems) parameters influence lower-level components.«390 Gene stünden in Austausch mit anderen Genen sowie dem Organismus als Ganzem und hätten nichts Diktatorisches: »There is a complex interaction between genes and their environment – both the cellular environment and also the wider environment of the organisms in which they exist. The organisms in turn interact with their environment, and this also will have an impact on gene expression.«391

In Kapitel 2.3 wurde herausgearbeitet, dass Organismen Erfahrungen machen, die sich einer Außenperspektive verschließen: »[T]o live is experience«392, wie Denis Noble das formuliert. Der 2005 verstorbene Ernst Mayr, dem u. a. Hubert Markl und Ulrich Kutschera bescheinigen, einer der bedeutendsten Biologen und ein – wie auch die New York Times schrieb – »Darwin des 20. Jahrhunderts«393 zu sein, wendet sich in aller Deutlichkeit gegen physikalistisches Denken und eine Reduzierung der Biologie auf Physik. »[N]icht ein einziges der großen Konzepte der darwinschen Evolutionstheorien folgte den Vorschriften des Physikalismus«394, so Mayr. 387 »Strictly speaking, therefore, to speak of a gene as the ›gene for x‹ is always incorrect. Many gene products, the proteins, must act together to generate biological functions at a high level. If we must use the expression ›gene for x‹ then we should at least add the plural and speak of the ›genes for x‹.« (Noble, D.: The Music of Life. Biology Beyond Genes, Oxford 2006, S. 9). 388 Noble, D.: The Music of Life. Biology Beyond Genes, Oxford 2008, S. 3. 389 Vgl. a. a. O., S. 5. 390 A. a. O., S. 50. 391 A. a. O., S. 33. 392 A. a. O., S. 1. 393 Kutschera, U.: Evolutionsbiologie, Stuttgart 42015, S. 9; ähnlich: Markl, U.: Vor­ wort, in: Mayr, E.: Eine neue Philosophie der Biologie, München 1991, S. I-XII, hier S. I. 394 Mayr, E.: Eine neue Philosophie der Biologie, München 1991, S. XIII.

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2.5 Verkürzungen, die dem Lebendigen nicht gerecht werden

Es sei nicht richtig, dass alle Wissenschaften sich am Leitbild der Physik zu orientieren und den Physikalismus als philosophische Grundhaltung zu akzeptieren hätten, da es gerade in der Biologie und insbesondere in seiner Disziplin, der Evolutionsbiologie, eine Reihe von Phänomenen gebe, die so nicht angemessen erklärt wer­ den könnten. Man dürfe, so Mayr, auch den Unterschied zwischen belebten und unbelebten Systemen nicht übersehen – unabhängig von der Einfachheit eines Organismus resp. der Komplexität einer unbelebten Entität. 395 Lebende Systeme weisen nämlich »zahlreiche Eigenschaften [auf], die sich in der unbelebten Welt schlichtweg nicht finden«396. Mayr hebt die organismische Organisation sowie die Bedeutung der DNA als Besonderheit des Lebendigen hervor.397 Hinsichtlich ihrer Arbeitsweise, ihres Forschungsgegenstandes wie auch ihrer Terminologie hebe sich die Biologie von der Physik ab.

»Bei [der] Reduktion biologischer Prozesse auf molekularbiologische Abläufe [braucht] man nicht mehr zu berücksichtigen, was Organismen als kreative Wesen von leblosen Dingen unterscheidet.« (Falkner, G. G. / Falkner, R. A.: Die Selbstge­ staltung der Lebewesen in Erfahrungsakten. Eine prozessbiologisch-ökologische Theorie der Organismen, Freiburg / München 2020, S. 21). 395 Vgl. Mayr, E.: Eine neue Philosophie der Biologie, München 1991, S. 7. 396 A. a. O., S. 8. 397 Vgl. a. a. O., S. 8, 24, 27 f.

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3.1 Der Mensch und sein Leib Im Deutschen sprechen wir davon, dass Leib und Leben zusammen­ gehören. »Wie er / sie leibt und lebt«, sagen wir, was die enge Verbindung von Leib und Leben unterstreicht. Unser Begriff »Leib« kommt von »lîp«: »Leben«.398 Heidegger sagt das in Nietzsche I so: »Wir sind nicht zunächst ›lebendig‹ und haben dann dazu noch eine Apparatur, genannt Leib, sondern wir leben, indem wir leiben.«399 Der Leib ist Ermöglichungsgrund und Grenze unserer konkreten Existenz. Ohne ihn könnten wir nicht leben. Der Leib erinnert uns daran, dass wir zur Natur gehören.400 Anders als Engel oder Gott sind Menschen Wesen, die leiblich struk­ turiert sind. Als leibliche Vernunftwesen sind Menschen in die Natur eingebettet und können sich von ihr emanzipieren. Der Mensch erfährt dies an sich selbst: Er hat einen Körper, den er zu objektivieren vermag, und erlebt seinen Leib. Stellen Sie sich einmal vor, einen langen Spaziergang hinter sich zu haben. Sie sind erschöpft, trinken ein Glas Wasser – oder besser noch: ein kühles Bier. Bei all dem werden Sie von einem Regenschauer unangenehm überrascht. Ihre Kleidung klebt an Ihrer Haut. Die Situation betrifft Sie. Sie erleben, dass Ihr Leib zu Ihnen gehört und Sie zu Ihrem Leib. Und nun stellen wir uns vor, nicht nur als Spaziergänger unterwegs zu sein, sondern das Tempo zu erhöhen und durch einen Wald zu joggen, über Stock und Stein. Nach einer Weile fällt Ihnen das Atmen schwer, da Sie schon länger nicht mehr im Wald gejoggt sind. Sie bemerken ein 398 Hierzu: Hähnel, M. / Knaup, M. (Hrsg.): Leib und Leben. Perspektiven für eine neue Kultur der Körperlichkeit, Darmstadt 2013. 399 Heidegger, M.: Nietzsche I, Pfullingen 1961, S. 119. 400 Siehe hierzu auch: Böhme, G.: Leib. Die Natur, die wir selbst sind, Berlin 2019; Böhme, G.: Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbar­ keit, Frankfurt a. M. 1992; Thomas, P.: Selbst-Natur-Sein. Leibphänomenologie als Naturphilosophie, Berlin 1996.

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Stechen in der Seite, ringen um Luft. Der Leib tritt als bedürftig in den Vordergrund. Das Atmen ist etwas, das wir nicht machen, das von selbst geschieht.401 Nach dem geschilderten Waldjogging kann ich mir den Atemrhythmus bewusst vergegenwärtigen. Ich bin also Beobachter und beobachte meinen Atem. Gleichzeitig kann ich diese Selbsttätigkeit als zu mir gehörend erleben. Ich erlebe Natur durch meinen Leib und meinen Leib als meine Natur.402 Einen Baum im Garten kann ich umschreiten und so ein Gefühl für seine Größe und Proportionen bekommen. Ich kann mit meinen Händen seine Rinde berühren. Dank meines Leibes eröffnen sich mir Räume. Wenn ich barfuß im Garten unterwegs bin, spüre ich das frisch gemähte Gras zwischen den Zehen. Aber auch den Betonweg, der sich durch den Garten zieht. Auch das Gemachte erfahre ich, insofern ich ein Leibwesen bin. Unseren Plastikbaum muss ich vielleicht erst berühren, um zu erspüren, dass er »nicht echt« ist. Mit der Hand können wir fühlen, Konturen nachfahren, Gestalten ertasten; oder wir können mit unserem Blick etwas abtasten. Das, was uns begegnet, steht in einem Verhältnis zum Leib. Er ist das Medium, durch das wir in und zur Welt sind. Dank unseres Leibes können wir die Welt erschließen: Der Leib vermittelt zwischen den erlebten eigenen Vollzügen und dem quantitativ erfassbaren Raum. Unser Leib besteht aus demselben Stoff wie die Natur, zu der wir gehören. Durch Wahrnehmung bleibt sie uns daher auch nicht Meistens atmen wir, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Wenn wir eine Zeit lang unter Wasser die Luft anhalten oder nach einem Sprint um Luft ringen, müssen wir irgendwann wieder atmen: Es findet wieder ein Austausch von Sauerstoff und Kohlenstoffdioxid mit unserer Umgebung statt. Das gehört eben zu unserem Natursein. Den Gedanken der Bedürftigkeit des Leibes verdanke ich Jonas. »Mit dem Begriff ›Bedürfnis‹ sind wir auf eine Eigenschaft des Organischen gestoßen, die einzig dem Leben zukommt und die der ganzen übrigen Wirklichkeit unbekannt ist. […] Seine Macht, die Welt zu benutzen, dieses einzige Vorrecht des Lebens, hat ihre genaue Kehrseite in dem Zwang, sie benutzen zu müssen, bei Strafe des Seinsverlustes.« (Jonas, H.: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M. 1992, S. 85) Und weiter führt er aus: »So geht Bedürfnis von Anbeginn damit einher und kennzeichnet die auf solche Weise gewonnene Existenz als ein Schweben zwischen Sein und Nichtsein. Das ›nicht‹ liegt stets auf der Lauer und muss immer von neuem abgewehrt werden. Mit anderen Worten: Leben trägt den Tod, seine Nega­ tion, in sich selbst.« (A. a. O., S. 86). 402 Vgl. Böhme, G.: Leib. Die Natur, die wir selbst sind, Berlin 2019; Böhme, G.: Der Begriff des Leibes: Die Natur, die wir selbst sind, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59 (4)/ 2011, S. 553–563, bes. S. 558. 401

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unzugänglich, sondern kann begriffen werden. Der Leib ist kein Ding unter Dingen. Er gehört zu mir, ist mir gegeben.403 Das heißt: Natur ist nicht nur etwas, das wir äußerlich erfahren, sondern etwas, das mit uns selbst zu tun hat, was uns gegeben ist und uns geschieht. Als leiblich strukturierte Wesen sind wir geistbegabte Naturwesen. Wenn wir den eigenen Leib erfahren, ist dies freilich auch eine Erfahrung von Natur. »Der Leib ist die Natur, die uns im leiblichen Spüren gegeben ist. Dieses Spüren ist die Erfahrung von Natur, nämlich von etwas, das mir gegeben ist und als etwas, was von selbst da ist […].«404 Unser Leib zeigt sich, wie gesagt, als ein bedürftiger: wir leben im Schlaf- und Wachrhythmus, sind auf soziale Interaktion mit anderen angewiesen. Wir müssen essen und trinken, uns Nahrung einverleiben. Hierbei ist der ganze Leib beteiligt, nicht nur ein Organ. Keinesfalls ist der Leib durchgängig kontrollierbar und verfügbar. »Dass der Leib als Natur erfahren wird, meint geradezu, dass er als etwas erfahren wird, das nicht vollständig der Herrschaft des Ich zu unterwerfen ist, sondern sich demgegenüber widerständig und träge verhält bzw. umgekehrt sich selbsttätig äußert.«405 Als Personen können wir uns zu unseren leiblichen Prozessen verhalten, wir können uns hiervon distanzieren und diese auch reflek­ tieren. Wir können unseren Leib vergegenständlichen, bekommen ihn aber niemals ganz in den Griff. Insofern er dynamisch und lebendig ist, entzieht er sich einer vollständigen Verobjektivierung. Wir können weder grenzenlos über ihn verfügen, noch bleibt er uns total verschlossen. Als Personen können wir uns also unseres Leibes bedienen. Pla­ ton erwähnt dies bereits gegenüber Alkibiades.406 Allerdings sind hier Grenzen einzuhalten. Eine vollständige Instrumentalisierung würde den eigentlichen Zweck verfehlen. Die unterschiedlichen Weisen des Hierzu auch: Böhme, G.: Leib. Die Natur, die wir selbst sind, Berlin 2019. A. a. O., S. 12. »Der Mensch muss lernen, das in jeder leiblichen Regung implizierte Gefühl der Betroffenheit wahrzunehmen und ernst zu nehmen. […] Der Mensch, der ein mün­ diger Patient werden will, muss lernen, leibliche Regungen und auch Schmerzen nicht nur als Beeinträchtigung seiner Kondition und Störungen in seinen Leistungsmög­ lichkeiten zu verstehen, sondern als Vergewisserung in seiner leiblichen Existenz und in Erinnerung daran, dass es jetzt um mich geht.« (A. a. O., S. 105). 405 Böhme, G.: Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Zug 2003, S. 67 f. 406 Platon: Alkibiades I, 129 e. 403

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3. Die Eigenart menschlichen Lebens

Verfügens haben ihren Grund in einer letzten Unverfügbarkeit des Leibes, der stets zu mir gehört. Lassen wir den Königsberger hier zu Wort kommen: »So lange wir die Absicht haben, uns selbst zu erhalten, so können wir unter dieser Bedingung über unseren Körper disponieren. So kann sich z.E. einer den Fuß abnehmen lassen, sofern er ihn am Leben hindert.«407 Leiblich zu sein ist unsere Existenzweise als Vernunftwesen, die handeln und etwas in der Welt bewirken können.408 Wir sind leiblich in die Welt gestellt. Wir können uns bewegen, einen eigenen Standpunkt gewinnen. Unseren Leib werden wir dabei nicht los. Er ist unser »point of view«. Wenn wir in einem Zug oder Flugzeug sitzen, werden wir von einem Ort zum anderen bewegt. Insofern wir leibliche Wesen sind, werden wir jedoch nicht einfach nur bewegt, sondern sind selbst zu lebendiger Bewegung fähig. Der Leib ist ein sich bewegender Leib. Er wird nicht bewegt wie das Pendel einer alten Standuhr oder das Rädchen einer Maschine. Alle Bewegungen, die vom Leib ausgehen, sind ein Ganzes, sind in ihm geeint. Der ganze Leib ist daran beteiligt. Wir erleben uns als In-Bewegung-Sein, spüren unser Lebendigsein. Säuglinge können noch nicht auf ihren eigenen Füßen stehen; sie strampeln herum, ergreifen die Dinge, die ihnen begegnen. Allmäh­ lich bekommen sie ein Gespür für die qua Leib gegebenen Bewe­ gungsmöglichkeiten. Bewegungen und Lernprozesse werden dem Leib im Laufe des Lebens eingeschrieben. Einen anderen Menschen erkennen wir anhand seiner Bewegungen und Gesten. Die Haltung eines Menschen, sein Gehen und Stehen, kann seine Haltung gegen­ über anderen zum Ausdruck bringen und von diesen wiederum auch beeinflusst werden. Zur Achtung vor der sittlichen Vernunft, so hatte daher Kant argumentiert, gehöre es, die Kriecherei vor anderen zu unterlassen. In § 12 der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten heißt es: »[D]enn ihr demütigt euch alsdann nicht unter einem Ideal, das euch eure eigene Vernunft vorstellt, sondern unter einem Idol, was euer eigenes Gemächsel ist.«409 Kant, I.: Eine Vorlesung über Ethik, Frankfurt a. M. 1990, S. 161 f. Wir können ein Verhältnis zu uns selbst einnehmen. Der Stagirite weiß darum und spricht von der ersten und zweiten Natur. Der Königsberger weiß freilich ebenfalls darum und verweist seinerseits darauf, dass der Mensch aus Fleisch und Blut Homo phaenomenon und in Raum und Zeit gestellt ist, aber bestimmt ist, sich als sittliches Wesen, Homo noumenon, darzustellen. 409 Vgl. Kant, I.: Die Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, in: AA Bd. VI, S. 436 f. 407

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3.1 Der Mensch und sein Leib

Der eigene Leib kann besonders in den Vordergrund rücken, wenn etwas nicht mit ihm stimmt. Er kann mir fremd werden und sich sogar gegen mich wenden, etwa in einer Situation der Krankheit. Schmerzen oder eine Krankheit können die Folge haben, dass der Leib überhaupt erst Thema wird, während er vorher unbeachtet blieb. Der Leib erinnert uns ferner daran, dass wir endliche Wesen sind: Er ist vulnerabel. Leiblichkeit stellt uns unsere Hinfälligkeit, unsere Kontingenz vor Augen. Wir alle wurden einmal geboren und müssen irgendwann einmal wieder diese Welt verlassen. Leben kann nicht rückwärts gelebt werden; es hat eine bestimmte Richtung. Am Leib werden Phänomene des Wachsens und Vergehens erleb- und spürbar. Der Leib erfährt Widerstand, Grenzen können wir leiblich erspü­ ren. Das kann mit Schmerzen verbunden sein, in denen uns der Widerstand ganz gegenwärtig ist. Dass wir lebendig sind, kann uns in der Auseinandersetzung mit Krankheiten, Behinderungen, Altern und Sterben ganz bewusst werden. »Die Bewältigung von solchen Erfahrungen von Grenzen, die durch die leibliche Verfassung gesetzt sind, ist ganz wesentlich davon abhängig, ob und wie es gelingt, sie als Unerwartete, meist oft Schmerzhafte in seiner Offenheit und Situiertheit wahrzunehmen und in die je eigene Existenz zu integrieren. Und es sind genau diese Erfahrungen, in denen sich das normative Potenzial des Leiblichen zeigt.«410

Zu Leib und Leben gehört es, Wahrnehmungen zu haben.411 Verge­ genwärtigen wir uns in diesem Zusammenhang einmal die Bedeutung unserer Haut. Im Alltag sprechen wir davon, dass uns etwas »unter die Haut geht«, wenn wir in besonderer Weise von etwas betroffen sind. Wenn wir uns ärgern, können wir »aus der Haut fahren«. Wenn wir uns etwas oder jemandem hingeben, sind wir »mit Haut und Haar« dabei. Die Beispiele ließen sich leicht fortsetzen und unterstreichen die besondere Aufgabe der Haut. Die Haut ist Grenze und Durchgangstor in einem: Sie begrenzt einerseits die materielle Leibesgestalt und gewährleistet andererseits die Verwobenheit von mir mit der Welt. Sie ist Schutzhülle, die sich begrenzend um die Gestaltganzheit legt, hat also trennende und abgrenzende Funktion, List, E.: Die Ethik und das Lebendige. Die Frage nach der Normativität des Leibes aus der Sicht einer Theorie des Lebendigen, in: Reichold, A. / Delhom, P. (Hrsg.): Normativität des Körpers, Freiburg / München 2011, S. 56–72, hier S. 64. 411 Hierzu: Nuzzo, A.: Ideal Embodiment. Kant’s Theory of Sensibility, Bloomington 2008; Svare, H.: Body and Practice in Kant, Dordrecht 2006. 410

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3. Die Eigenart menschlichen Lebens

und gewährleistet gleichzeitig Offenheit und Durchlässigkeit. Hier können sich Erfahrungen des Lebens, Spuren des Alterns, Verletzun­ gen einschreiben.412 Das Gewesene ist im Leib gegenwärtig. In Worte fasst dies Aharon Appelfeldt, der während des Zweiten Weltkrieges durch die Wälder der Ukraine flüchten musste: »Seit Ende des Zweiten Weltkrieges sind bereits über fünfzig Jahre vergangen. Vieles habe ich vergessen, vor allem Orte, Daten und die Namen von Menschen, und dennoch spüre ich diese Zeit mit meinem ganzen Körper. Immer wenn es regnet, wenn es kalt wird oder stürmt, kehre ich ins Ghetto zurück, ins Lager oder in die Wälder, in denen ich so lange Zeit verbracht habe. Die Erinnerung hat im Körper anscheinend lange Wurzeln.«413

Aus der Entwicklung von Kindern wissen wir, dass der Hautkontakt eine große Bedeutung hat. Kurz nach der Geburt wird ein Kind der Mutter daher auf die Brust gelegt: Sie berühren und vergewissern sich einander. Das Kind ertastet und spürt die Mutter. Wir berühren, begreifen und behandeln etwas mit unserem Leib. Diesen können wir spüren, erleben. Das Tasten mit den Fingern ermöglicht es blinden Menschen sogar, Schriftzeichen wahrzuneh­ men und lesen zu können. Es war Aristoteles, der das Tasten und Berühren in besonderer Weise hervorgehoben hat.414 Die PC-Tasta­ 412 Vgl. Fuchs, T.: Das Gedächtnis des Leibes, in: Fuchs, T.: Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische Essays, Baden-Baden 2008, S. 37–64; siehe auch: Etzel­ müller, G. / Fuchs, T. (Hrsg.): Verkörperung – eine interdisziplinäre Anthropologie, Berlin 2017. »Dieses Gedächtnis bildet sich im Verlauf von Interaktionen zwischen Organismus und Umwelt, indem sich wiederkehrende Interaktionsmuster in sensomotorischen Schemata und entsprechenden körperlichen Dispositionen niederschlagen. […] Die­ ses verkörperte Gedächtnis wird aktualisiert durch geeignete Situationen oder auch durch übergeordnete Willensakte.« (Fuchs, T.: Verkörpertes Wissen – verkörpertes Gedächtnis, in: Etzelmüller, G. / Fuchs, T. / Tewes, C. (Hrsg.): Verkörperung – eine neue interdisziplinäre Anthropologie, Berlin / Boston 2017, S. 57–78, hier S. 60). An anderer Stelle schreibt Fuchs: Erfahrungen, die wir am eigenen Leib machen, schreiben sich in den Leib ein: »Die Inkorporation von Erfahrungen ermöglicht die Anpassung des Lebewesens bzw. des Menschen an die erfahrene Umwelt. Unser ganzer Orga­ nismus kann in gewissem Sinne als eine Art impliziter Vorannahme über die Welt angesehen werden.« (Fuchs, T.: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, Stuttgart 2013, S. 130). 413 Appelfeldt, A.: Geschichte eines Lebens, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 57, zit. nach: Fuchs, T.: Das Gedächtnis des Leibes, in: Fuchs, T.: Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische Essays, Baden-Baden 2008, S. 37–64, hier S. 73. 414 Vgl. Aristoteles: De anima II 4, 415 a 1 ff.

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3.1 Der Mensch und sein Leib

tur, mit der ich gerade diese Zeilen schreibe, kann ich abtasten. Sie leistet mir einen gewissen Widerstand. Ich kann die Tastatur, diese jedoch kann mich nicht spüren – was keineswegs banal ist. Im Spüren der Tastatur kann ich mich selbst als berührend erleben. Ich spüre nicht nur den leichten Fett- und Staubflimmer der Tastatur, sondern mich in diesem Spüren selbst, mich als berührend. Lege ich die zweite Hand auf die erste, so nehme ich mich als spürend und gespürt wahr. Dank unseres Leibes haben wir einen Zugang zur Natur und ein Wissen davon, was Lebendigsein ist. »An der Haut und mittels der Haut begegnen sich Selbst und Welt unmittelbar und beständig, wenn auch unter ständig wechselnden Bedingungen. Die Haut lässt sich dabei zum einen natürlich als Grenze und Scheidelinie, als Hülle interpretieren, die Innen und Außen trennt und die gewissermaßen das Subjekt vor der Welt schützt. Aber sie ist weit mehr als das; viel adäquater lässt sie sich als semipermeable Membran verstehen, die Welt und Subjekt miteinander in Beziehung setzt und sie wechselseitig empfänglich und durchlässig macht.«415

Einen Leib zu haben, bedeutet füreinander und für das, was begegnet, empfindsam zu sein.416 Jene Resonanz ist bei Maschinen nicht gege­ ben: »Wenn man lernen will, wie sich Seide anfühlt, muss man lernen oder bereit sein, seine Hand auf eine bestimmte Weise zu bewegen und gewisse Erwartungen zu haben. […] Dank der gefühlten Über­ einstimmungen zwischen den einzelnen Wahrnehmungsfertigkeiten können wir denselben Gegenstand sowohl sehen als auch berühren. Damit ein Computer dasselbe fertigbringen könnte, müsste er darauf programmiert sein, eine besondere Liste der optischen Merkmale eines analysierten Gegenstandes aufzustellen und sie mit jener Liste zu vergleichen, die er erhält, wenn er den Gegenstand mit Rezeptoren

Rosa, H.: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2018, S. 85. Merleau-Ponty sagt das folgendermaßen: »Von dem Augenblick an, in dem ich erkannt habe, daß meine Erfahrung, gerade insofern sie die meine ist, mich dem öffnet, was ich nicht bin, daß ich für die Welt und die Anderen empfindsam bin, nähern sich mir in einzigartiger Weise alle Wesen, die das objektive Denken auf Distanz hielt. Oder umgekehrt: Ich erkenne meine Verwandtschaft mit ihnen, ich bin nichts als ein Vermögen ihnen Widerhall zu geben, sie zu verstehen, ihnen zu antworten.« (MerleauPonty, M.: Das Metaphysische im Menschen, in: Merleau-Ponty, M.: Das Auge und der Geist. Philosophische Essay, Hamburg 2003, S. 47–70, hier S. 63). 415

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3. Die Eigenart menschlichen Lebens

abtastet. […] Mein Körper ermöglicht mir, diese Analyse zu umge­ hen.«417

Durch den Leib sind wir in und zur Welt. Der Leib trennt mich von der Welt und ermöglicht Zugang zu ihr. Er ist das Wesensmedium menschlicher Personen.418 Der Leib ist kein Anhängsel, sondern gehört zu mir. Der Leib ist »Medium, das sich zwar als solches von uns selbst (als den im Medium Lebenden) unterscheidet, das aber doch nicht unabhängig in sich neben unserem Sein liegt wie etwa Licht und Luft, die ja für uns auch Medien sind, das vielmehr als Medium ein unmittelbares und wesentliches Element unseres Selbstseins ausmacht.«419 Wenn wir einander als Personen begegnen und annehmen, kommt unserem Leib eine besondere Bedeutung zu. Er ist unsere Brücke zum anderen: Da, wo mein Leib ist, bin ich selbst. Und da, wo dein Leib ist, bist du.420 Der Leib eines anderen Menschen wird als verwandt zur eigenen Leiblichkeit gewusst und erfahren. Wenn wir einander berühren, berühren wir uns, nicht irgendeinen Gegenstand. In der Liebe und ihren leiblichen Ausdrucksformen kann ein Mensch ganz bei sich selbst sein.421 Vermittels des Leibes kann die Person sich anderen mitteilen, bewusst wie auch unbewusst: in der Sprache, in Bewegungen, in der Mimik. Ein Wort hat eine notwendige materiale Voraussetzung. Im 417 Dreyfus, H. L.: Was Computer nicht können. Die Grenzen künstlicher Intelligenz, Frankfurt a. M. 1989, S. 198. 418 Hegel spricht vom Leib als »Dasein meiner Persönlichkeit« (Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke Bd. 7, hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt a. M. 14 2015, § 48, S. 110). 419 Welte, B.: Leiblichkeit als Hinweis auf das Heil in Christus, in: Welte, B.: Gesam­ melte Schriften I/3: Leiblichkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit, Freiburg 2006, S. 82– 113, hier S. 84. 420 Heidegger sagt das in seinen Zollikoner Seminaren so: »[D]er Leib ist je mein Leib. Das gehört zum Leibphänomen.« (Heidegger, M.: Zollikoner Seminare, HeiGA 89, Frankfurt a. M. 32006, S. 783). 421 Vgl. Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke Bd. 7, hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt a. M. 142015. Und bei Hösle lesen wir: »Durch den Eros kommt der Mensch in die Welt – und zwar in einem doppelten Sinne: Sein physischer Eintritt in die Welt verdankt sich erotischen Aktivitäten anderer; und das Aufflammen des erotischen Begehrens eröffnet dem Begehrenden selbst eine neue Welt.« (Hösle, V.: Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, München 1997, S. 250).

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3.1 Der Mensch und sein Leib

Wort können wir Sinn entdecken. So ist es auch beim Leib. Auch hier treffen wir auf Sinn: das, was ihn zusammenhält, ausmacht. Der Leib ist Ausdrucksfeld der menschlichen Person. Besonders deutlich wird das am menschlichen Blick. Er kann etwas Sinnvolles ausdrücken. Dass der »Blick des Menschen spricht«422, wie Edith Stein sagt, ist nur möglich, da der Mensch eben nicht nur durch mentale Akte zu bestimmen ist.423 Das wechselseitige Beziehungsgeschehen, das durch den Blick eröffnet wird, beschreibt Georg Simmel folgen­ dermaßen: »Man kann nicht durch das Auge nehmen, ohne zugleich zu geben. Das Auge entschleiert dem anderen die Seele, die ihn zu entschleiern sucht.«424 Blicke können sprechen, berühren. Sie können heilen und ver­ letzen. Sie können etwas über eine Person, ihre Einstellung und Gefühle offenbaren. Andererseits können Personen ihre Blicke auch »verschließen«. Als Personen sind wir nicht gleichgültig gegenüber den Blicken anderer Personen, in denen wir ihre Vulnerabilität sehen können. Im Blick enthüllt sich die Person, exponiert sie sich. Im Blick teilt sie nicht nur Informationen, sondern sich selbst mit. Der Blick ist Ausdruck einer Sphäre des Unverfügbaren. Wir sind durch unseren Blick identifizierbar. »[D]ie Verletzung oder Tötung eines anderen ›Augenträgers‹ [kommt] in gewisser Weise stets einer Selbstbeschä­ digung gleich, sie erzwingt eine entfremdende Resonanzblockade.«425 Nicht von ungefähr kommt es daher, dass man Hinzurichtenden frü­ her sehr oft die Augen verbunden hat.426 Dass Blicke sprechend sein können, kann in einer physikalistischen Einstellung nicht erfasst wer­ den.

422 Stein, E.: Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesung zur philosophischen Anthropologie (ESGA 14), Freiburg 2004, S. 74. 423 »Das Gesicht bewirkt, daß der Mensch schon aus seinem Anblick, nicht erst aus seinem Handeln verstanden wird. Das Gesicht, als Ausdrucksorgan betrachtet, ist sozusagen ganz theoretischen Wesens, es handelt nicht wie die Hand, wie der Fuß, wie der ganze Körper; es trägt nicht das innerliche oder praktische Verhalten des Menschen, sondern es erzählt nur von ihm.« (Simmel, G.: Exkurs über die Soziologie der Sinne, in: Simmel, G. (Hrsg.): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe Bd. 11, Frankfurt a. M. 1989, S. 722–742, hier S. 725). 424 A. a. O., S. 724. 425 Rosa, H.: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2018, S. 121. 426 Vgl. ebd.

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3. Die Eigenart menschlichen Lebens

3.2 Das Leben führen Organismischem Leben geht es um eine Weise der Selbstgestaltung, des Sich-Hervorbringens, der Steigerung des Lebens. Organismen greifen über ihre Grenzen hinaus und sind in diesem Sinne Wesen der Transzendenz. Sie haben, wie Gernot und Renate Falkner dargelegt haben, ein »Gedächtnis«, gestalten sich in ihren Erfahrungsakten und durch diese. Dieses Hineinragen des Vergangenen in das Gegenwär­ tige erreicht beim Menschen eine andere, weit darüber hinausgehende Dimension. Wir sind in einen Zeitstrom eingetaucht, haben einen Zeitbezug. Unsere Gegenwart erstreckt sich in das Verflossene und das Kommende. Die Zeitdimensionen des Vergangenen, des Gegen­ wärtigen und Kommenden gehören zusammen, wobei jede das ist, was sie ist, durch die jeweils anderen. »[D]iese Wesensgestaltung des Lebens [bedeutet] ein fortwährendes Hinausgreifen über sich selbst als gegenwärtiges.«427 Ich selbst bin nicht nur dem Lauf der Dinge unterworfen, sondern kann kreativ tätig sein und verändere mich durch meine Entschei­ dungen. Durch Wege, die ich einschlage, Dinge, die ich herstelle, verändere ich mich. Insofern ich mich in meinem Status quo negiere, werde ich ein anderer. Und freilich ist dies nichts Starres, steht es mir doch offen, weiterhin zu mir selbst Stellung zu beziehen, bejahend, aber eben auch ablehnend. Das Leben der Person erschöpft sich nicht in physischen Abläu­ fen, geht freilich auch nicht in der Quantität des gelebten Lebens auf. Simmel hat dies prägnant auf folgenden Nenner gebracht: »Das Leben findet sein Wesen, seinen Prozess darin, Mehr-Leben und Mehr-alsLeben zu sein […].«428 Zu menschlichen Organismen gehört, wie er unterstreicht, Selbst-Transzendenz.429 Der Mensch weiß um seine Grenze als Grenze. Indem er dies weiß, kann er darüber hinausgreifen. Er kann sich an Anderes und Simmel, G.: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, Breslau 2012, S. 16. A. a. O., S. 34. 429 Simmel beschreibt dies folgendermaßen: »Allein: dass wir als erkennende Wesen und innerhalb der Möglichkeiten des Erkennens selbst die Idee überhaupt fassen kön­ nen: die Welt ginge in die Formen unseres Erkennens nicht hinein, dass wir, selbst rein problematischer Weise, eine Weltgegebenheit denken können – das ist ein Hin­ ausschreiten des geistigen Lebens über sich selbst, Durchbruch und Jenseitigkeit nicht nur einer einzelnen, sondern seiner Grenze überhaupt, ein Akt der Selbsttranszen­ denz, der die – gleichviel, ob wirkliche oder nur mögliche – immanente Grenze selbst erst setzt.« (A. a. O., S. 9 f.). 427

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3.3 Sich in den Augen des Anderen sehen und einander anerkennen

Andere hingeben und ist gerade so er selbst. Seine Identität gewinnt der Mensch durch die Anerkennung Anderer.

3.3 Sich in den Augen des Anderen sehen und einander anerkennen Menschen können miteinander sprechen, sich verständigen, was unterstreicht, dass es für sie grundlegend ist, einander als Subjekte anzuerkennen. Sprechen lernen Menschen von anderen Menschen; die Begabung wird nicht entfaltet, wenn die Ansprache fehlt.430 Wir können uns in Andere einfühlen, ihre Perspektive einneh­ men. Wir anerkennen in Anrede und Antwort den Gesprächspartner als Du, als Gegenüber, als Person.431 Ohne menschliche Ansprache würden Menschen verkümmern und sterben, wie grausame Experimente mit Neugeborenen aus ver­ gangenen Jahrhunderten dokumentieren. Mensch wird man eben nur unter anderen Menschen.432 430 Sprache entsteht nicht »von Natur« aus. Menschen müssen angesprochen wer­ den; sie lernen sprechen dadurch, dass andere sie ansprechen. Sprache entsteht in uns nicht »gegen« die Natur. An kleinen Kindern kann man sehr schön beobachten, wie neugierig sie Wortfetzen aufnehmen und nachahmen, wie sie selbst Laute bilden. Sie haben eine natürliche Befähigung, Sprache zu lernen. Kinder lernen durch Nachahmung in der Weise des Nachsprechens Sprache, was zugleich das Denken und damit eine Unabhängigkeit von Situationen und Umwelt, Raum und Zeit, ermöglicht. Anders gesagt: Zu dem, was der Mensch von Natur ist, wird er durch sein Eingebundensein in die menschliche Gemeinschaft und Kultur, durch die Ansprache anderer, die Voraussetzung ist, Sprache zu erlernen. Erst durch einen Bildungsprozess kommt das, was in der Natur grundgelegt ist, zu sich. Literarisch wird dies sehr ansprechend aufgegriffen von Boyle, T.C.: Das wilde Kind, München 2010. 431 älógon äècein heißt es bekanntlich bei Aristoteles: Damit ist gemeint, dass der Mensch mit Sprache begabt ist, Sprache hat. Hiermit hängt noch etwas anderes zusammen. Dass es zum Menschen gehört, Rechenschaft zu geben und Rücksicht zu nehmen. (Vgl. Gadamer, H.-G.: Der Mensch als Naturwesen und als Kulturträger, in: Fuchs, G. (Hrsg.): Mensch und Natur. Auf der Suche nach der verlorenen Einheit, Frank­ furt a. M. 1989, S. 9–30, hier S. 18) »Das ist sozusagen die andere Seite aller Sprach­ lichkeit, daß sie uns dem anderen begegnen läßt, der widersprechen kann und Rück­ sicht fordert und am Ende Verständigung suchen läßt.« (Ebd.). 432 Aristoteles geht davon aus, dass ein gelingendes Leben in der Realisation jener wesenseigenen Vollzüge bestehe: Bei uns Menschen würde dies darin bestehen, sich von der Vernunft leiten zu lassen und tugendhaft zu handeln. Wenn er den Menschen sowohl in der Nikomachischen Ethik als auch in der Politik als ζῷον

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3. Die Eigenart menschlichen Lebens

Wo Menschen zusammenkommen, gibt es immer auch Konflikte und Widerstände, ein Bestreben, besser als andere zu sein, diese zu negieren. Recht und Moral verpflichten uns vor diesem Hintergrund darauf, dass wir es bei all dem stets mit unseresgleichen zu tun haben. Als Personen richten wir uns nicht einfach danach, dass sich der Stärkere schon durchsetzen wird, sondern wir richten uns nach unserer Vernunft. Es ist jedoch so, dass wir durch unsere Vernunftbe­ gabung nicht nur über uns hinauswachsen, sondern auch bestialisch werden können. Mit den Worten des Teufels, dem Gegenspieler Faustens, gesprochen: »Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, / Nur thierischer als jedes Thier zu sein.«433 Meine eigene Freiheitssphäre wird durch die eines anderen Menschen begrenzt und ist nicht unend­ lich.434 Weil es andere Menschen gibt, muss ich mich als jemand, der etwas bewirken kann, selbst immer auch wieder zurücknehmen. πολιτικόν bezeichnet, (Aristoteles: Politik I 2, 1253; Nikomachische Ethik I 5, 1097 b 11) will er damit ein besonderes Merkmal der Gattung Mensch hervorheben: seinen Gemeinschaftsbezug. Seine Sprachfähigkeit, seine Vernunft – er ist ja auch ζῷον λόγον ἔχον – entwickelt er im Dialog, im Leben mit anderen. Βίος ist auf das Gemeinwesen bezogen. Eine isolierte Daseinsform wird als nichtmenschlich empfunden. Für den Stagiriten ist βίος nicht Poiesis (poíhsiV), sondern Praxis (prâxiV). (Vgl. Aristoteles: Politik I 4, 1254 a 7) Max Scheler hat die aristotelische Betonung des Gemeinschaftsbezuges im Hinblick auf Robinson Crusoe gelesen. Auch Robinson sei ein Gemeinschaftsmensch gewesen, hätte ursprünglich gewusst, dass er zu einer Menschengemeinschaft gehöre. (Vgl. Scheler, M.: Vom Ewigen im Menschen, Bonn 62000, S. 372) Und Rainer Marten hält treffend fest: »Das erste Bedürfnis eines Menschen bleibt allezeit der andere Mensch. Das ist keine Spezialität der Hilflosigkeit am Anfang und Ende des Lebens, sondern ist zeitlebens der Fall. […] Der Mensch braucht den Menschen, um Mensch zu sein.« (Marten, R.: Nachdenken über uns. Philosophische Texte, Freiburg / München 2018, S. 339). 433 Goethe, J. W. von: Faust. Erster Theil, in: Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887, 14. Bd., Z. 285 f. 434 Prägnant heißt es bei Fichte: »Das Verhältnis freier Wesen zueinander ist […] das Verhältnis einer Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit. Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen: und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln.« (Fichte, J. G.: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissen­ schaftslehre, § 4, Dritter Lehrsatz, Hamburg 1991, S. 44) Zu Leiblichkeit und Anerkennung bei Fichte siehe auch: Gottschlich, M.: Fichtes Deduktion der Leiblichkeit. Interpretation der §§ 5 – 6 des Naturrechts von 1796, in: Hoffmann, T. S. (Hrsg.): Das Recht als Form der ›Gemeinschaft freier Wesen als solcher‹. Fichtes Rechtsphilosophie in ihren aktuellen Bezügen, Berlin 2014, S. 41–86; Hoffmann, T. S.: Philosophische Physiologie. Eine Systematik des Begriffs der Natur im Spiegel der Geschichte der Philosophie, Stuttgart Bad-Cannstatt 2003, S. 488–509.

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3.3 Sich in den Augen des Anderen sehen und einander anerkennen

Meine Freiheit findet eine Interventionsgrenze an der Freiheit meines Gegenübers. Indem ich meine Freiheit beschränke, erhalte ich sie.435 Wir begrenzen also unsere jeweiligen Expansionstendenzen und achten, dass die andere Person Selbstzweck ist. Anders gewendet: Wir können von unseren Neigungen, Begierden, Interessen, Zielen Abstand nehmen und uns gerade so übersteigen. In dieser Fähigkeit zur Distanznahme ist es begründet, dass unser Subjektstatus zu respektieren ist. In den Augen des Anderen sehe ich mich, er sieht sich in meinen. Wir vergewissern einander unsere Identität – eine lebendige Bewegung, die von der Andersheit des Anderen getragen wird.436 Ich anerkenne den Anderen und dieser anerkennt mich.437 Impliziert ist hier, dass der Leib des Anderen nicht nur Brücke zum Anderen, sondern auch (Rechts-)Grenze, der Leib unverfügbar 435 »Freiheit [kann es] ohne gegenseitige Anerkennung nicht geben.« (Habermas, J.: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Frankfurt a. M. 2001, S. 30). 436 Habermas formuliert diesen Gedanken folgendermaßen: »Das Bewußtsein mei­ ner selbst ist Derivat einer Verschränkung der Perspektiven. Erst auf der Basis wech­ selseitiger Anerkennung bildet sich Selbstbewußtsein, das an der Spiegelung meiner im Bewußtsein eines anderen Subjektes festgemacht sein muß.« (Habermas, J.: Tech­ nik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt a. M. 1968, S. 13) Und an anderer Stelle führt er aus: »Die auf ihren tiefsten Grund reflektierende Vernunft entdeckt ihren Ursprung aus einem Anderen; und dessen schicksalhafte Macht muss sie anerkennen, wenn sie nicht in der Sackgasse hybrider Selbstbemächtigung ihre vernünftige Ori­ entierung verlieren soll.« (Habermas, J.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philo­ sophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005, S. 113). 437 Es waren bekanntlich Fichte und Hegel, die den Begriff »Anerkennung« entfaltet und zur Vollendung gebracht haben. Ideengeschichtlich könnte man auch eine frühere Geburtsstunde ansetzen: Spaemann weist darauf hin, dass bereits die antike Natur­ theorie als Anerkennungstheorie gelesen werden kann: »[S]ie erkannte dem von Natur Seienden Selbstsein und die Struktur eines Um-willen zu, aufgrund deren wir mit ihm in einer Gemeinschaft natürlicher Wesen stehen. Denn wir erfahren ja umge­ kehrt uns selbst als Wesen, deren Identität nur der bewußte Vollzug einer schon vor­ ausgesetzten organischen und erlebten Einheit ist.« (Spaemann, R.: Das Natürliche und das Vernünftige, in: Schwemmer, O. (Hrsg.): Über Natur. Philosophische Beiträge zum Naturverständnis, Frankfurt a. M. 21991, S. 149–164, hier S. 162) Zum Begriff der Anerkennung siehe auch: Habermas, J.: Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, Frankfurt a. M. 1968, S. 9–47; Spaemann, R.: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹, Stuttgart 21998, S. 191–208; Honneth, A.: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 62010; Honneth, A.: Anerkennung. Eine europäische Ideengeschichte, Berlin 2018; Ricœur, P.: Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frank­ furt a. M. 2006; Taylor, C.: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frank­ furt a. M. 2009.

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3. Die Eigenart menschlichen Lebens

ist. Da, wo mein Leib ist, kann nicht gleichzeitig ein anderer Leib sein. Insofern ist er Grenze zur Welt. Habeas corpus bedeutet demnach, die leibliche Integrität von Personen zu achten. Wer meinen Leib angreift, greift nicht etwas, sondern mich an.438 Der Leib verweist uns auf die Person als Wesen der Freiheit. Ihre Freiheitsnatur – nicht schon ihre konkrete Ausübung – ist anzuerkennen.439 Die Gestalt des Leibes ist keineswegs wertfrei, sondern normativ gehaltvoll. »[N]ur dann ist der andere wahrhaft als Selbstzweck gedacht, wenn so schon sein organisches Selbstsein in den Umkreis des unbedingt Anzuerkennenden fällt.«440 Der Leib ist die Bedingung dafür, dass wir als Vernunft- und Freiheitswesen existieren können; unsere Handlungen sind an ihn gebunden. Er bringt menschliche Gefühle, sein Seelenleben, zum Ausdruck. Der Leib ist Vorausset­ zung auch von Selbstbewusstsein, unseres Freiseinkönnens und unse­ rer Handlungen.441 438 »Meinem Körper von anderen angetane Gewalt ist Mir angetane Gewalt.« (Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke Bd. 7, hrsg. von E. Molden­ hauer / K. M. Michel, Frankfurt a. M. 142015, § 48, S. 112) Zum Leib als Rechtsprinzip sei auch verwiesen auf: Hoffmann, T. S.: Würde versus Vernutzung des Menschen. Ein Einspruch aus philosophischer Sicht, in: Kühnhardt, L. (Hrsg.): Biomedizin und Menschenwürde (ZEI Discussion Paper C97 2001), Bonn 2001, S. 57–66; Hoffmann, T. S.: Primordial Ownership versus Dispossession of the Body. A Contribution to the Problem of Cloning from the Perspective of Classical European Philosophy of Law, in: Roetz, H. (Hrsg.): Cross Cultural Issues in Bioethics: The Example Of Human Cloning, Amsterdam 2005, S. 387–407; Hoffmann, T. S.: Philosophische Physiologie. Eine Systematik des Begriffs der Natur im Spiegel der Geschichte der Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, bes. S. 66 f., 215. 439 »[J]ust as the body is the elementary and irreplaceable experience of a suitable coincidence of world and self and therefore of real freedom, there is also no empirical self-consciousness except as a reflex of recognised bodily plane of action, which in turn is only limited by planes of actions of other bodily subjects.« (Hoffmann, T. S.: Pri­ mordial Ownership versus Dispossession of the Body. A Contribution to the Problem of Cloning from the Perspective of Classical European Philosophy of Law, in: Roetz, H. (Hrsg.): Cross Cultural Issues in Bioethics: The Example Of Human Cloning, Ams­ terdam 2005, S. 387–407, hier S. 389). 440 Hoffmann, T. S.: Würde versus Vernutzung des Menschen. Ein Einspruch aus philosophischer Sicht, in: Kühnhardt, L. (Hrsg.): Biomedizin und Menschenwürde (ZEI Discussion Paper C97 2001), Bonn 2001, S. 57–66, hier S. 62. 441 Angesichts dessen, dass wir leiblich strukturiert sind, konstatiert der Königsber­ ger, dass die »erste Pflicht des Menschen gegen sich selbst […] die Selbsterhaltung« der organismischen Bedingungen sei. (Kant, I.: Die Metaphysik der Sitten, in: AA Bd. VI, S. 553) Ein moralisches Leben ist nur im Zusammenhang seiner organismischen Natur möglich.

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3.3 Sich in den Augen des Anderen sehen und einander anerkennen

»[W]er den Urort von Anerkennung, wer Interpersonalität an ›anspruchsvollere‹ Kriterien binden will als an die stumme, wehrlose, leibliche Gegenwart eines zur Freiheit bestimmten Wesens selbst, hat nicht nur die paradoxale Grundstruktur der conditio humana, die mit einem ›Ich bin Leib‹ der Freiheit beginnt, übersprungen, sondern auch sich selbst dem sittlichen Anspruch, Gegenüber, nicht Herr anderer Freiheit zu sein, schon entzogen.«442

Wir anerkennen einander als moralfähige Subjekte, die nicht vollstän­ dig instrumentalisiert werden dürfen, als Mitglieder einer Rechtsge­ meinschaft, deren Existenz nicht zur Disposition gestellt werden darf. Ich anerkenne den anderen Menschen als Träger von Rechten und Pflichten, als leiblich strukturiertes Freiheits- und Vernunftwesen, dessen unverfügbarer Freiheitsbereich und selbstzweckhafte Existenz zu achten ist.443 Es würde die Rede von Anerkennung geradezu verkehren, wenn diese nur geleistet werden sollte, wenn unser Gegenüber auch tatsäch­ lich schon ein Subjekt ist. Anerkennung meint eben auch, dass jeman­ dem der Freiraum gewährt wird, Subjekt zu werden. Um überhaupt anerkennen zu können, muss ich selbst immer schon von anderen anerkannt sein. Anerkennung »lebt von der freien Gabe, die unabhängig von einer Prüfung geschenkt wird. […] Wo ich warte, was der andere tut und wie er ist, da ist die freie Anerkennungsbeziehung schon gescheitert. Ihr Inhalt ist es ja, den anderen als ihn selbst freizugeben, ihn selber sein eigener Zweck sein zu lassen, ihn also gerade nicht unter unser Gesetz zu bringen […]. Indem ich anderes anerkennend freigebe, verwirkliche ich mein eigenes Selbstsein, denn die Gabe ist der Akt der Freiheit. Ich verfehle daher meine eigene Freiheit, wenn ich nicht in der Lage bin, frei zu geben.«444

Hoffmann, T. S.: Würde versus Vernutzung des Menschen. Ein Einspruch aus philosophischer Sicht, in: Kühnhardt, L. (Hrsg.): Biomedizin und Menschenwürde (ZEI Discussion Paper C97 2001), Bonn 2001, S. 57–66, hier S. 62 f. 443 Hierzu ausführlich: Rothhaar, M.: Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts. Eine rechtsphilosophische Rekonstruktion, Tübingen 2015 sowie Rothhaar, M.: Menschen­ würde qua Anerkennung: Kant und Fichte, in: Joerden, J. C. / Hilgendorf, E. / Thiele, F. (Hrsg.): Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin 2013, S. 92–95. 444 Spieker, M.: »Zäsur oder Moment?« – Über die Anschaulichkeit der Geburt und die verborgene Gabe, in: Weilert, A. K. (Hrsg.): Spätabbruch oder Spätabtreibung – Entfernung einer Leibesfrucht oder Tötung eines Babys? Zur Frage der Bedeutung der 442

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3. Die Eigenart menschlichen Lebens

Geburt für das Recht des Kindes auf Leben und das Recht der Eltern auf Wohlergehen, Tübingen 2011, S. 107–127, hier S. 122.

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4. Gewachsenes im Horizont des technisch Machbaren

4.1 Technik gehört zum Menschsein: Frühe Zeugnisse Schon der frühe Mensch macht unterschiedliche Erfahrungen mit der Natur, die als bergend und bedrohlich, als Grundlage wie auch Grenze des eigenen Handelns erfahren wird. Dies gibt er an seine Kinder und Kindeskinder weiter, das Gelernte wird tradiert.445 Rückblickend können wir heute sagen, dass die Geschichte des Menschen mit der Technik eng verzahnt ist. Der Mensch greift von Anbeginn an auf Technik zurück. Homo habilis, Homo rudolfensis sowie Homo erectus haben Faustkeile verwendet, um gezielt etwas zu bearbeiten und herzustellen. Ebenso der Neandertaler und der Homo sapiens. Der Einsatz von Steinen ist keineswegs in seiner Bedeutung zu unterschätzen, sei es zum Bearbeiten von etwas oder auch zum Werfen. Körperlicher Aufwand wird durch den Einsatz von Steinen verkleinert, der Körper durch den Einsatz von Steinen entlastet und gleichzeitig ein größerer Aktions­ radius gewonnen. Es ist schlichtweg effektiver, mit einem Steinkeil etwas zu bearbeiten als mit der bloßen Hand. »Durch die Trias von Werfen, Schlagen, Schneiden öffnet sich ein Fenster, in dem Produktionen geschehen und Produkte erscheinen können: In dieser Öffnung sieht man auf ganz neue Weise, was ›herauskommt‹. Dieses Herauskommen ist von grundsätzlich anderer Qualität als beim Keimen von Pflanzen oder bei animalischen Gebur­ ten.«446 445 Hierzu gehört etwa die Erfahrung, wie er sich gegenüber wilden Tieren oder Beutetieren zu verhalten hat. Er lernt auch mit dem Feuer umzugehen. 446 Sloterdijk, P.: Das Menschentreibhaus. Stichworte zur historischen und propheti­ schen Anthropologie, Weimar 2001, S. 36. Zum Menschen als Werfer siehe auch: Kirschmann, E.: Das Zeitalter der Werfer: eine neue Sicht des Menschen. Das Schimpansen-Werfer-Aasfresser-Krieger-Modell der menschlichen Evolution, Hannover 1999.

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4. Gewachsenes im Horizont des technisch Machbaren

Der Mensch schafft selbstständig Werkzeuge, um besser bestimmte Ziele verfolgen zu können; und er schafft Werkzeuge, um weitere Werkzeuge herstellen zu können.447 Er tut dies in Voraussicht des­ sen, was er zu tun beabsichtigt, und erschließt sich, was machbar ist. Jene Leistungen reichen über die Unmittelbarkeit des Naturzu­ sammenhangs ebenso wie über die individuelle Handlung hinaus. Der Gebrauch von Werkzeugen, das wird hier deutlich, spielt eine wichtige Rolle für das Werden menschlicher Gemeinschaften. Tech­ nik übt ihrerseits einen Einfluss auf das kulturelle Leben der Men­ schen aus.448 »Schon das Werkzeug ist ein Repräsentant der Absicht, mit Heraus­ forderungen überlegt umzugehen. Die Technik kann als Paradigma für den Anspruch gelten, sich geordnet und gemeinschaftlich, d. h. methodisch, kooperativ und gut organisiert auf die erkannten Lebens­ lagen einzustellen.«449

Die Statuetten und Mensch-Tier-Darstellungen der prähistorischen Zeit sind ein aufschlussreiches Zeugnis dafür, dass der Mensch ver­ sucht, sich mit der Natur auseinanderzusetzen. Verschiedene rituelle Handlungen sollen natürliche Abläufe in eine gewünschte Richtung lenken. Der Mensch fragt danach, was seine Stellung in der Natur ist, setzt sich mit diesen Kunstwerken von der Natur ab. Naturelementen wie der Erde, auf der Menschen stehen, der Luft, die sie atmen, dem Feuer, das sie wärmt, dem Wasser, das sie Auf die Bedeutung der Werkzeugtechnik, die – wie Bilder und Gräber – zum Menschen gehören, weist besonders Hans Jonas hin. Vgl. z. B. Jonas, H.: Werkzeug, Bild und Grab. Vom Transanimalischen im Menschen, in: Jonas, H.: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M. 1992, S. 34–49; Jonas, H.: Homo pictor: Von der Freiheit des Bildens, in: Jonas, H.: Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frankfurt a. M. 1994, S. 265–301. 448 Wenn wir von Technik sprechen, meinen wir nicht nur gewisse kontrollierte Prozesse, die einer bestimmten Methodik und Logik folgen, um dieses oder jenes gewünschte Ziel Wirklichkeit werden zu lassen. In diesem Sinne wären wohl auch die deutsche Außenpolitik oder das Bemühen eines indianischen Regenmanns um Regen unter dem Oberbegriff Technik zu subsumieren. Gemeint ist die schöpferische Transformation von Energie und natürlichen Stoffen, die Herstellung von Artefakten (Werkzeuge, Maschinen) und ihre jeweilige Betätigung. Technik gehört fest zum Freiheitswesen Mensch; sie hilft ihm, Welt zu erschließen und zu gestalten, wobei dem Kausalitätsprinzip wie auch der Dingwahrnehmung eine besondere Rolle zukom­ men. Unter Technologie wollen wir die Erforschung und Vermittlung technischer Prozesse verstehen. 449 Gerhardt, V.: Partizipation. Das Prinzip der Politik, München 2007, S. 203. 447

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4.1 Technik gehört zum Menschsein: Frühe Zeugnisse

nährt, sowie Naturkräften, vom Regen bis zum Sturm, von Hitze und Kälte bis zu Erdbeben, wird eine numinose Mächtigkeit attestiert.450 Diese Mächte sind apersonal, können beleben wie zerstören, treten unerwartet auf, ohne dass der Mensch Einfluss darauf nehmen könnte. »Religionsgeschichtlich entsprechen diesem Stadium die kosmischen Gottheiten bzw. Dämonen, die in noch antlitzlosen Gewalten beschworen und mit Opfern versöhnt werden, z. B. wie die indische Mutterdämonin Kali, eine schwarze, mit Leichenschädeln behängte Lebens- und Todesgöttin.«451 In der Vorstellungswelt der Ägypter werden Naturkräfte zu mythischen Gottheiten: »In männli­ chen und weiblichen Gottheiten wird der Lebens- und Todesaspekt der Natur nun deutlicher ortsmäßig nach oberer Welt und Unterwelt geschieden. numina werden (anschauliche) Personifikationen; sie werden Götter.«452 In archaischen Zeiten erfährt sich der Mensch als ein Glied inner­ halb des göttlichen Naturorganismus. Mythen beschreiben dieses Beziehungsverhältnis. Mythen stellen etwas dar; sie zielen nicht wie die Magie darauf ab, in Naturprozesse mittels besonderer Mittel und Kräfte aktiv einzugreifen.453 In Mythen verdichtet sich im wahrsten Sinne des Wortes der Umgang des Menschen mit der Natur: Das vorhandene Wissen über den Menschen, die Natur und das technisch Mögliche wird in den verschiedenen Mythen in ein Gesamtbild 450 Zum Begriff des Numinosen: Otto, R.: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917. 451 Gerl-Falkovitz, H.-B.: Natur oder Schöpfung? Über einen vergessenen Unter­ schied, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 49 (2020), S. 510–522, hier S. 511. 452 Ebd. 453 Hierzu ausführlich: Gloy, K.: Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens. Das Verständnis der Natur, München 1995, S. 30–72. Etymologisch gesehen gehen unsere Begriffe Maschine, Macht und Magie auf den gemeinsamen indogermanischen Stamm »magh« zurück. (Vgl. Ropohl, G.: Techno­ logische Aufklärung. Beiträge zur Technikphilosophie, Frankfurt a. M. 21999, S. 167) Magische Praktiken sind in frühen Formen der Technik recht präsent. Sie sollen helfen, einen Erfolg herbeizuführen. Und sie haben eine gewisse Kontrollfunktion: Das, was man selbst nicht vollständig überschauen kann, soll mit Hilfe magischer Praktiken überwacht werden. Magische Praktiken in früheren Zeiten, so Hegel, seien als Bestre­ ben einzuordnen, der Natur habhaft zu werden: »Die Hauptbestimmung […] ist die direkte Beherrschung der Natur durch den Willen, das Selbstbewußtsein, daß der Geist etwas Höheres ist als die Natur.« (Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Reli­ gion, Werke Bd. 16, hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt a. M. 72014, S. 283).

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4. Gewachsenes im Horizont des technisch Machbaren

eingezeichnet. Wissenschaft im heutigen Sinne gibt es freilich noch nicht. Die Artefakte, die der Mensch mit seinen Händen herstellt, helfen ihm, den Alltag zu meistern und Umwelt zu erschließen.454 Die Weichen ändern sich mit der Entstehung der Hochkultu­ ren.455 Der Mensch betreibt Ackerbau und kultiviert Natur; er fügt sich in den Rhythmus des Tages- und Jahreslaufes ein: Wachstums­ prozesse sind stets auch Wartezeiten, kann Wachsen ja nicht gemacht werden.456 Jahreszeiten können eingeplant, Vorratsspeicher angelegt werden: die Wiege der Ökonomie. Der Mensch lernt, Naturenergien wie z. B. die Wasserströmung und die Windenergie zu händeln. Tiere werden gehalten und gezüchtet, Pflanzen angebaut. Ressourcen, die die Natur bietet, werden genutzt. Entwickelt werden Handels- und Verkehrswege, Eisen und Bronze werden 454 Erste Ansätze zum Werkzeuggebrauch gibt es schon im Tierreich, wie Studien tierischen Verhaltens zeigen. Zu denken ist etwa an Buntbarsche, die Blätter als »Kin­ derwagen« benutzen, und natürlich an den Werkzeuggebrauch bei verschiedenen Affenarten (vgl. Roth, G.: Die Evolution von Geist und Bewusstsein, in: Elsner, N. / Lüer, G. (Hrsg.): Das Gehirn und sein Geist, Göttingen 2000, S. 174 und 186). Ein Tier kann einen Wahrnehmungsinhalt (auch sich selbst) mit einem Laut verbin­ den, z. B., wenn es auf den Namen hört, den sein Herrchen ihm gegeben hat, oder es ein bestimmtes Spielzeug / Werkzeug bringt. Einen allgemeinen Begriff (z. B. des Tieres, des Werkzeugs) kann es weder bilden noch erfassen. Anders als Tiere benutzen Menschen Werkzeuge zur Herstellung von Werkzeugen (vgl. auch Kant, I.: Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren, in: AA, Bd. II, S. 59; Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke Bd. 18, hrsg. von E. Molden­ hauer / K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1971, S. 23: Der »Potenz der Sprache« stellt Hegel (neben Besitz und Familie) eben auch die »Potenz des Werkzeugs« gegenüber (Hegel, G. W. F.: Jenaer Systementwürfe I, Gesammelte Werke, Bd. 6, hrsg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1975, S. 297 ff.). 455 Hegel misst dem Ackerbau eine besondere Rolle zu. Er sieht hierin nämlich eine »Vorsorge auf die Zukunft« in bisher nicht dagewesener Qualität. Landwirtschaft sei so verstanden ein Schritt in Richtung Befreiung von der »Abhängigkeit des Ertrags von der veränderlichen Beschaffenheit des Naturprozesses« (Hegel, G. W. F.: Grund­ linien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grund­ risse, Werke Bd. 7, hrsg. von E. Moldenhauer / K. M. Michels, Frankfurt a. M. 1986, § 203, S. 355). 456 »Die neue Produktionsweise der Agrikultur, speziell der Anbau von Korn (der Vorratswirtschaft ermöglicht und erzwingt), führt zur Konstituierung sozialer Konti­ nuitäten: der Kontinuität der Arbeit, einer Arbeit an Wachstumsprozessen, die kon­ tinuierliche Betreuung erfordern; der Kontinuität von Abstammungslinien, die pro­ duzierende Kollektive zusammenhalten; der Kontinuität der Objektbindung, eines Besitzanspruchs auf die Produktionsanlage des kultivierten Landes, in die Arbeit langfristig investiert ist.« (Popitz, H.: Der Aufbruch zur Artifiziellen Gesellschaft. Zur Anthropologie der Technik, Tübingen 1995, S. 10 f.).

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4.2 Auch die Götter nutzen Technik: Mythische Verdichtungen

gewonnen und verarbeitet.457 Die Bedeutung des Handwerks tritt klar hervor. Jagd und Ackerbau sind vielfach in religiöse Kontexte einge­ bettet und werden von Riten und Opfern begleitet. Die Menschen sind vertraut mit der sie umgebenden Natur: Seeleute orientieren sich an den Sternbildern. Was geschieht, geschieht in Einklang mit der Natur.458

4.2 Auch die Götter nutzen Technik: Mythische Verdichtungen In den Epen Homers begegnen uns viele Götter, die selbst Technik verwenden und handwerkliche Tätigkeiten vermitteln, wenn wir etwa an Hephaistos, Prometheus459 oder Athene denken. Technik ist also auch religiös fundiert. Es ist die Göttin Athene, besonders aber Hephaistos, denen die Menschen die técnai verdanken.460 Auch die Ambivalenz der Technik wird schon klar wahrgenom­ men und ins Wort gebracht. Bekannt – und u. a. von Künstlern wie Lovis Corinth und Vincent van Gogh später bildlich dargestellt – ist beispielsweise die Schilderung Homers, wie Hephaistos auf den Ehebruch seiner Gattin Aphrodite mit Ares reagiert. Er stellt ein besonders starkes Netz her, das er am Bett befestigt und welches den Hierzu: Sommer, M.: Wirtschaftsgeschichte der Antike, München 2013. In der Zeit des 7. und 6. Jahrhunderts v. Chr. kommt es im Mittelmeerraum zu einigen technischen Veränderungen. So werden in Griechenland Steine zum Bau von Tempeln verwendet – nach dem Vorbild Ägyptens. Um Metalle besser zu verarbeiten, werden Hohlgussverfahren entwickelt. Töpferwaren dienen der Aufbewahrung von Lebensmitteln. Das Gesicht der Städte ändert sich: Die Infrastruktur wird ausgebaut, die Wasserversorgung optimiert. Die Landwirtschaft spielt eine herausragende Rolle. Man bedient sich menschlicher und tierischer Muskelkraft. Zum Mahlen des Getrei­ des greift man seit dem frühen Principat auf Wasserenergie zurück. (Vgl. Schneider, H.: Geschichte der antiken Technik, München 2007, S. 7). 459 Prometheus raubt bekanntlich den Göttern das Feuer – dessen Besitz und Hand­ habung über das Tier erheben. Anders als dieses kann der Mensch sich von den Bedingungen seiner Umwelt unabhängig machen. Um seine Ziele durchzusetzen, greift er auf Technik, wofür das Feuer eben steht, zurück. Damit der Mensch sich damit jedoch nicht selbst auslöscht, sorgt der Göttervater Zeus vor: Er schenkt Recht und Scham, die das Menschengeschlecht schützen. Hierzu: Blumenberg, H.: Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979; Blumenberg, H.: Höhlenausgänge, Frankfurt a. M. 1989. 460 Homer: Ilias XV, 410–412; Odyssee VI, 232–234. 457

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besonderen Vorzug hat, so fein zu sein, dass selbst Götter es nicht erblicken können. So gelingt es ihm, die beiden beim Liebesspiel ein­ zufangen, was ein Gelächter der herbeigerufenen Götter entfacht.461 Und freilich können wir in dem Zusammenhang auch an das trojani­ sche Pferd denken, das eine kriegsentscheidende Funktion hat.462 Wenn wir heute von »Technik« sprechen, hat dies seine sprach­ liche Wurzel wie viele andere Begriffe auch im Griechischen, der »Ursprache« der Philosophie: τέχνη ist der griechische Ausdruck. Freilich sind das, was die alten Griechen damit bezeichnen, und das, was wir heute mit »Technik« meinen, nicht einfach deckungsgleich. Tέχνη steht im Dienst der Natur, ist ihre Gehilfin (súnergoV): Konkret bedeutet dies, dass sie diese a) nachahmt und b) auch vervoll­ ständigt. Sowohl für die Natur als auch für die τέχνη gilt, dass sie im Hinblick auf einen bestimmten Zweck wirken. Für die Bewahrung seiner Existenz ist der Mensch auf Hilfsmittel angewiesen.463 Tέχνη steht im Horizont des guten und glückenden Lebens: Sie ist zum Nutzen bestimmt und auf das Gute hin angelegt. Tέχνη ist »eine auf Vernunftbegabung beruhende, stets auf praktische Umsetzung ausgerichtete Form der Erkenntnis und des Wissens, die vorwiegend,

461 Vgl. Homer: Odyssee VIII, 325 ff. In Homers Ilias begegnet uns der Begriff τέχνη lediglich einmal, womit die manuelle Fertigkeit der Handwerker und ihr spezifisches »Know-how« gemeint ist. (Homer: Ilias III, 60–63, vgl. Löbl, R.: TEXNH – TECHNE. Untersuchungen zur Bedeutung dieses Wortes in der Zeit von Homer bis Aristoteles, Bd. I: Von Homer bis zu den Sophisten, Würzburg 1997, S. 9–12) In der Odyssee greift Homer achtmal auf den Begriff zurück. (Vgl. a. a. O., S. 20). 462 Vgl. Homer: Odyssee VIII, 492 ff. In den Texten Homers wird τέχνη für ein zielgerichtetes, geschicktes Vorgehen ver­ wendet. Hierzu: Schneider, H.: Das griechische Technikverständnis. Von den Epen Homers bis zu den Anfängen der technologischen Fachliteratur, Darmstadt 1989, S. 11– 31. An der Schwelle vom 7. zum 6. Jahrhundert v. Chr. vollzieht sich eine Ablösung von archaischen Weltentstehungsmythen. Die philosophischen Überlegungen, die an ihre Stelle treten, nehmen die Frage in den Fokus, was denn die Welt im Eigentlichen, ihrem Wesen nach sei. Das eigenmächtige Handeln personifizierter Naturgewalten resp. verschiedener göttlicher Wesen wird im naturphilosophischen Denken der Antike durch eine unpersönliche Ordnung abgelöst. 463 Vgl. Aristoteles: Politik VII 8, 1328 b 6.

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4.3 Mit Technik der Natur nacheifern und diese nachahmen: Antike Vorstellungen

aber nicht immer, in der Hervorbringung materieller Objekte wahr­ nehmbare Gestalt gewinnt«464.

4.3 Mit Technik der Natur nacheifern und diese nachahmen: Antike Vorstellungen Der Mensch kann gestaltend wirken, etwas ins Dasein setzen. Er stellt her, erbaut, richtet sich einen Lebensraum ein.465 Der Begriff τέχνη umspannt sowohl das Element des Künstlichen wie die künstlerische Komponente, das Handwerk wie die Kunst. Tέχνη steht im Zusam­ menhang mit dem Hervorbringen, der poíhsiV.466 Bei Demokrit treffen wir auf die Vorstellung, Technik würde der Natur nacheifern und diese nachahmen. Der Mensch hätte sich etwa das Weben und Stopfen von den Spinnen, den Häuserbau von den Schwalben und den musikalischen Gesang von Nachtigall, Schwan und Singvögeln abgeschaut und sei so ein »Schüler« der Natur geworden.467 464 Löbl, R.: TEXNH – TECHNE. Untersuchungen zur Bedeutung dieses Wortes in der Zeit von Homer bis Aristoteles, Bd. II: Von den Sophisten bis zu Aristoteles, Würzburg 2003, S. 271 f. 465 Seinen Ursprung hat der griechische Begriff τέχνη in den Tätigkeiten eines Zim­ mermanns: im Behauen, Gestalten und Verbinden, während er im Laufe der Zeit zu einem Überbegriff für das gestaltende Wirken des Menschen insgesamt wird. Ganz ähnlich sieht es im Indogermanischen aus. Dort bezieht sich die Wortwurzel darauf, »das Holzwerk des Hauses [zusammenzufügen]« (Pokorny, J.: Indogermanisches ety­ mologisches Wörterbuch, Bern / München 1959, S. 1058. Diesen Hinweis verdanke ich: Fischer, P.: Philosophie der Technik. Eine Einführung, München 2004, S. 11). Im Lateinischen ist von technica ars die Rede; im Deutschen wird das Lehnwort Technik im frühen 18. Jahrhundert üblich (vgl. Schadewaldt, W.: Die Begriffe ›Natur‹ und ›Technik‹ bei den Griechen, in: Schadewaldt, W.: Natur, Technik, Kunst. Drei Beiträge zum Selbstverständnis der Technik in unserer Zeit, Göttingen / Berlin / Frankfurt 1960, S. 33–53, hier S. 45 f.) Einschlägige Texte zum τέχνη-Begriff: Löbl, R.: TEXNH – TECHNE. Untersuchungen zur Bedeutung dieses Wortes in der Zeit von Homer bis Aristoteles, Bd. I: Von Homer bis zu den Sophisten, Würzburg 1997; Löbl, R.: TEXNH – TECHNE. Untersuchungen zur Bedeutung dieses Wortes in der Zeit von Homer bis Aristoteles, Bd. II: Von den Sophisten bis zu Aristoteles, Würzburg 2003. 466 Vgl. Heidegger, M.: Die Technik und die Kehre, Stuttgart 102002, S. 12. 467 Vgl. Plutarch: De soll. anim. 974 A (DK 68 B 154), in: Die Vorsokratiker, grie­ chisch / deutsch, ausgewählt, übersetzt und erläutert von J. Mansfeld und O. Prima­ vesi, Stuttgart 2012, S. 758 f.

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In seiner Protreptikos-Schrift argumentiert Aristoteles, man möge sich am Leitfaden der Natur orientieren, um so die besten Werkzeuge ausfindig zu machen.468 Einschlägig für uns ist in dem Zusammenhang folgender Gedanke, den er in Physik II, 8, 199a 15–17 darlegt. Der Stagirite schreibt hier: äólwV då äh tæcðnh tà mån Êpiteleî äà äh fðýsiV Âdynateî Âpergásasjðai, tà då mimeîtai. Zwei Aspekte sind hier von Bedeutung. Zum einen wird eine Dimen­ sion von τέχνη darin ausgemacht, Vollendung des Natürlichen zu sein. Sie übernimmt insofern die Aufgabe, das zu Ende zu bringen, was die Natur nicht zu Ende bringt.469 Zum anderen ist sie mímhsiV, Nachah­ mung der Natur, wobei diese Dimension tonangebend ist; so nimmt die Möglichkeit der Vollendung des Natürlichen hier auch ihren Ausgang.470 Das lateinische Äquivalent für mímhsiV ist imitatio. Auf einer ganz grundsätzlichen Ebene ist erst einmal damit gemeint, dass (reflektiert oder nicht) eine Verhaltensangleichung einer Entität an ein Modell stattfindet. Auch eine göttliche resp. demiurgische τέχνη

Aristoteles: Protreptikos B 13, B 47. Technik kann ganz konkrete menschliche Lebensverhältnisse zu gestalten helfen und gewissermaßen Natur vollenden. Folgendes Beispiel möge dies illustrieren: Was­ ser fließt bekanntlich abwärts. In Quellen und Flüssen strömt es von selber, wie Aris­ toteles in seiner Meteorologie festhält. Ein Brunnen bedürfe nachhelfender Kunst. Der Bau eines Brunnens ermöglicht es, dass Wasser von unten nach oben fließen kann. (Vgl. Aristoteles: Meteorologie II, 353 b 27 ff.) Wenn der Stagirite davon spricht, Tech­ nik könne Natur vollenden, ist damit eine Unterstützung der naturgemäßen Produk­ tivität gemeint. Es geht gerade nicht darum, die Natur zu »beherrschen«. »[W]enn Aristoteles schreibt, dass die Kunst sogar die Natur gelegentlich übertreffe und ver­ bessere bzw. vollende, dann setzt das voraus, dass es für die Natur überhaupt ein Besser und Schlechter, ein Vollkommener und Unvollkommener gibt, als dass Natur überhaupt auf etwas aus ist, worin man ihr auf die Beine helfen kann. Wem einmal mit einer Prothese oder einem Bypass geholfen wurde, der müsste eigentlich verste­ hen, wovon Aristoteles redet.« (Spaemann, R.: Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene, in: Spaemann, R.: Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Auf­ sätze II, Stuttgart 2011, S. 301–320, hier S. 310). 470 Aristoteles geht von einer Strukturanalogie natürlicher und technischer Hervor­ bringungen aus: Wird etwa ein Schiff gebaut, kann die Gestalt eines Fisches Vorbild sein. Natürliche Formen und Prozesse dienen demnach als Orientierung. Angenom­ men, die Natur wollte etwas Gemachtes, z. B. ein Wohnhaus, hervorbringen, müsste sie analog vorgehen wie Architekten und Baumeister: also mit dem Keller und nicht mit dem Dachstuhl beginnen. Vgl. hierzu auch: Blumenberg, H.: ›Nachahmung der Natur‹. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: Blumenberg, H.: Schriften zur Technik, hrsg. von A. Schmitz / B. Stiegler, Berlin 2015, S. 86–125, hier S. 86. 468

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4.4 Von der Nachahmung der Natur zur Nachahmung des Schöpfergottes

ist nicht den Naturprozessen übergeordnet: Sie ahmt das Gewachsene nach. Der Künstler vermag die Natur zu ergänzen. In der Antike ist es nicht das Ziel, Natur zu unterwerfen. Im Vordergrund stehen ihre Nutzung wie auch ihre Ergänzung. Sie ist Orientierungsinstanz. Im Laufe der Zeit ist es dem Menschen gelungen, die Natur seinen eigenen Zwecken immer effizienter anzu­ verwandeln.471 Die Natur ist groß, übermächtig, auch unberechenbar. Der Mensch ist eingebettet in sie, abhängig von ihr. Er ist aber nicht für sie verantwortlich. Als groß, übermächtig und unberechenbar wird heute vor allem das vom Menschen Gemachte angesehen.

4.4 Von der Nachahmung der Natur zur Nachahmung des Schöpfergottes: Mittelalter und Renaissance Technik fällt keineswegs vom Himmel. Sie ist stets in einem sozialen Kontext verortet. Geographischen Bedingungen, politischen Verhält­ nissen wie gesellschaftlichen Strukturen, religiösen Grundhaltungen und nicht zuletzt Naturverhältnissen kommt eine große Bedeutung für die Entwicklung von Technik zu. Im Mittelalter spielt – wie schon in der Antike – das Betreiben von Landwirtschaft eine wichtige Rolle. Unter jüdisch-christlichen Vorzeichen wird Natur als Schöpfung verstanden. Sie ist nicht ewig und unvergänglich, sondern entstanden und wird einmal vergehen.472 Das, was geschaffen wurde, ist nichts Gottfremdes, ein ihm entgegen­ gesetztes Prinzip, sondern gilt, mit den Worten der Vulgata als »valde bonum«, als sehr gut.473 »Omnis natura in quantum natura est bona est«474, wie Augustinus in diesem Sinne schreibt. Demnach hat für ihn So heißt es prägnant bei Cicero: »Der Mensch [besitzt] die uneingeschränkte Herrschaft über die Güter der Erde: Wir nutzen die Ebenen und die Berge, uns gehören die Ströme, uns gehören die Seen, wir säen Korn, wir pflanzen Bäume; durch Bewäs­ serungsanlagen machen wir unsere Ländereien fruchtbar, wir stauen die Flussläufe, bestimmen ihre Richtungen und leiten sie ab; kurz, mit unseren Händen unternehmen wir den Versuch, innerhalb der Natur gleichsam eine zweite Natur zu schaffen.« (M. Tullius Cicero: De naturam deorum. Über das Wesen der Götter, lateinisch / deutsch, übersetzt und hrsg. von U. Blank-Sangmeister, Stuttgart 1995, II, S. 152). 472 Vgl. z. B. Augustinus: Confessiones / Bekenntnisse XI, 6, 7; XII, 3 ff. 473 Gen. 1,31. 474 Augustinus: De libero arbitrio III, cap. XIII, 36, 127. 471

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4. Gewachsenes im Horizont des technisch Machbaren

nicht nur die Bibel, sondern auch die Natur Offenbarungscharakter. In seiner exegetischen Arbeit De Genesi ad Litteram spricht er von zwei Büchern: also einem liber scripturae einerseits und einem liber crea­ turae andererseits, ein Topos, der, wie wir noch sehen werden, nicht nur in der mittelalterlichen Kunst und dann bei Galilei erfolgreich sein sollte.475 Das Buch der Natur liege offen zu Tage: In der Natur könne der Schöpfer gefunden werden;476 das Lesen im Buch der Natur eröffne einen besseren Zugang zur Offenbarung. Den Schriftsinn könne man demnach besser verstehen, je größer die Kenntnis vom liber naturae sei. In einem hermeneutischen Verstehensprozess kann der liber naturae erschlossen werden. Dass jenes Buch gerade keines mit »sieben Siegeln« bleibt, ist für ihn im Offenbarungsgeschehen begründet. An anderer Stelle führt Augustinus den ordo naturae auf die potentia fabricatoria Dei, die andauernde bildende Kraft Gottes, zurück. Auf Gott gehen alle Wesen und natürlichen Formen zurück.477 Mit Natur meint er all das, was von Gott ins Dasein gesetzt wurde, wie auch das individuelle Wesen des von Gott Geschaffenen. Insofern der göttliche Urgrund die Dinge erkennt, sind sie: »Universas creaturas et spirituales et corporales non quia sunt ideo novit Deus, sed ideo sunt quia novit.«478 Die aus Gott hervorgegangene Schöpfung partizipiert an ihm, ist für den Menschen da, dem Menschen anvertraut. Der Mensch versteht sich als Teil eines kosmischen Ganzen. Die Geschöpfe, so weiß der Psalmist, sind wechselseitig aufeinander bezogen.479 Ein »Irrtum über die Geschöpfe geht über in eine falsche Meinung von 475 Augustinus: De Genesi ad Litteram, in: Patrologiae cursus completus, series Latina, Bd. 34, S. 219 ff. Erstmals spricht Augustinus vom Buch der Natur in seiner apologetischen Schrift Contra Faustum Manichaeum (vgl. Corpus Scriptorum. Series Latina, Bd. 25, 1, S. 782). An anderen Stellen greift er das Motiv erneut auf, etwa in seinem Psal­ menkommentar: »Liber tibi sit pagina divina, ut haec audias; liber tibi sit orbis ter­ rarum, ut haec videas. In istis codicibus non ea legunt, nisi qui litteras noverunt; in toto mundo legat et idiota.« (Augustinus: Ennarrationes in Psalmos, in: Corpus Scrip­ torum. Series Latina, Bd. 38, S. 522). 476 Vgl. z. B. auch Augustinus: De civitate Dei XI, 4. 477 Augustinus: De civitate Dei, XII, 26. 478 Augustinus: De trinitate XV, c. 13. Thomas von Aquin greift vor der Hintergrundfolie des johanneischen Evangelienpro­ logs jenen Gedanken auf: »Scientia Dei causa rerum.« (Thomas von Aquin: Summa theologiae I, 14,8 und 12). 479 Vgl. Psalm 104.

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4.4 Von der Nachahmung der Natur zur Nachahmung des Schöpfergottes

Gott und führt den Geist der Menschen von Gott weg«480, so Thomas von Aquin, der mit Augustinus von einer Spur der Dreifaltigkeit in der gesamten Schöpfung spricht, von Abbild allerdings nur hinsichtlich der vernunftbegabten geschaffenen Personen, die im Übrigen ähnlich wie ihr Schöpfer wirklich selbstständig sein können.481 Die Rede vom »imago Dei« schließt eine Vernutzung anderer Menschen aus. Wir können diesen Begriff also auch als Synonym für die Unverfügbarkeit des Menschen lesen. »Trotz seiner Ebenbildlichkeit wird freilich auch [der] Andere als Geschöpf Gottes vorgestellt. Hinsichtlich seiner Herkunft kann er Gott nicht ebenbürtig sein. Diese Geschöpflichkeit des Ebenbildes drückt eine Intuition aus, die […] auch dem religiös Unmusikalischen etwas sagen kann.«482 Natur, so der Aquinate, der platonische wie aristotelische Überlegungen aufgreift, habe ein Prinzip der Bewegung und Ruhe in sich. In der Natur beobachtet er Prozesse, die regelmäßig ablaufen: Aus einer Buchecker werde eine Buche, aus einer Eichel eine Eiche, aus einem Kirschkern ein Kirschbaum, wenn man sie freilich nicht an ihrer Entwicklung hin­ dere.483 Natürliche Prozesse sind nach Thomas auf eine Vollendung hin ausgerichtet: »omne agens agit propter finem«484. Alle Organis­ men bestehen laut Thomas aus esse und essentia, Akt und Potenz also, und partizipieren am unendlichen Sein. Sie haben eine ihnen 480 Thomas von Aquin: Summa contra gentiles, II, c 3. An anderer Stelle unterstreicht er, auch die nicht zur Vernunfterkenntnis fähigen Organismen würden zum Guten streben, was er im Hinblick auf die teleologische Verfasstheit der Lebendigen mit Berufung auf Aristoteles begründet. »Unde necesse est dicere, quod omnes res naturales sunt ordinatae et dispositae ad suos effectus con­ venientes.« (Thomas von Aquin: De veritate, qu. 22, a. 1) Thomas unternimmt es, die Ausführungen des Stagiriten zur Teleologie mit dem christlichen Schöpfungsglauben an einen guten Gott zu verbinden. 481 »Deinde considerandum est de fine sive termino productionis hominis, prout dicitur factus ad imaginem et similitudinem dei.« (Thomas von Aquin: Summa Theologiae I, qu. 93); siehe auch: a. a. O. I qu. 45 a 7. Mittelalterliche Philosophen und Theologen unterscheiden zwischen natura naturans und natura naturata, also der hervorbringenden und der hervorgebrachten Natur. Auf diese Weise heben sie Naturprodukte vom Bereich des Gemachten ab. Da die Schöpfung durch den göttlichen Urgrund entstanden ist, weise sie auch Züge jener hervorbringenden Natur auf. 482 Habermas, J.: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a. M. 2001, S. 30. 483 Vgl. Thomas von Aquin: Commentaria in octo libros physicorum aristotelis II.1, 1, Ed. Leon. Bd. 2, S. 57. 484 Thomas von Aquin: Summa Theologiae I q 44 a 4.

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4. Gewachsenes im Horizont des technisch Machbaren

wesensgemäße Form; diese aktualisiere sich, so der Aquinate, in einem Prozess des Werdens. Im Wachstum, so Thomas in den Spuren des Stagiriten, erreichen Pflanzen und Tiere ihre Vollendung. Ihre Natur wird konkret, wobei in Erinnerung gerufen sei, dass Konkretum von concrescere kommt, i. e. zusammenwachsen.485 Das spezifische Ziel des Menschen sei die Entfaltung seiner Vernunft. Ohne die anderen Geschöpfe wäre der Mensch nicht das, was er ist, argumentiert Hildegard von Bingen. Es würde demnach auf eine Selbstzerstörung hinauslaufen, würde der Mensch die anderen Geschöpfe vernichten. Der Umgang mit der Mitschöpfung hat dem­ nach Konsequenzen für das Leben des Menschen selbst.486 Die eigen­ ständig tätige Natur sei erfüllt von einer Grundkraft, die sie viriditas nennt. »Hier spürt man noch die ursprüngliche Pflanzung, Gottes Gegenwärtigkeit im Garten der Natur, das Buch der Natur, dessen Zeichen der Mensch versteht, mit denen er sich bespricht, wie er auch von ihnen beansprucht wird.«487 Der Mensch wird als Mikrokosmos gedacht, der alle Relationen und Strukturen des Weltganzen gebündelt in sich trägt.488 Insofern das Ähnliche Ähnliches zu erkennen vermag, eröffnet sich für den Menschen ein Zugang zur Natur. Natur ist der »ars divina« ver­ dankt, Gott ist ihr transzendent. Menschliche Vernunft vermag die den Naturprozessen zugrundeliegenden Prozesse zu durchleuchten. »Wissenschaft« zu treiben, bedeutet für mittelalterliche Autoren ins­ besondere ein genaues und vertieftes Quellenstudium. Dass Erkennt­ nis empirisch-exakt sein muss, ist eine fremde Vorstellung. Zu vielem 485 Leben ist uns als konkrete Gestalt gegeben: dieser Baum, dieses Tier, dieser Mit­ mensch. 486 Hierzu: Kather, R.: Hildegard von Bingen interkulturell gelesen, Nordhausen 2007; Kather, R.: Die Wiederentdeckung der Natur. Naturphilosophie im Zeichen der ökolo­ gischen Krise, Darmstadt 22012, S. 42–59. 487 Schipperges, H.: Die Natur – Ein Leitbild für die Heilkunde?, in: Fuchs, G. (Hrsg.): Mensch und Natur. Auf der Suche nach der verlorenen Einheit, Frankfurt a. M. 1989, S. 51–80, hier S. 57. 488 Die Mikrokosmos-Makrokosmos-Vorstellung, die uns schon bei Platon begegnet ist, eröffnet Denkern der Renaissance später die Möglichkeit, auch das Erdinnere zu deuten. Ähnlich wie der menschliche Organismus Adern und Venen aufweise, so auch der dem menschlichen Auge verborgene Erdinnenraum. Selbst Stoffwechseltätigkei­ ten werden auszumachen versucht: Ausscheidungen der Erde wandeln sich demnach zu Edelmetallen oder Steinen. Vereinzelt wird auch in anthropologischen Ansätzen des 20. Jahrhunderts der Mikrokosmos-Gedanke aufgegriffen: Vgl. z. B. Stein, E.: Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesung zur philosophischen Anthropologie (ESGA 14), Freiburg 2004, S. 30.

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hat der Mensch im Mittelalter einen Zugang über Symbole, die über sich hinaus verweisen. Als Vernunftwesen bemüht sich der Mensch, natürliche Abläufe zu verstehen. Es wird hegend und pflegend, aber auch züchterisch in Wachstumsprozesse eingegriffen. Technik ist nicht mehr Nachah­ mung der Natur, sondern wird zur Nachahmung des Schöpfergot­ tes.489 Im Kontext der Bibel wird menschliche Herrschaft als Mitwir­ 489 Der Renaissancedenker Marsilio Ficino betont im 15. Jahrhundert, dass mensch­ liche Kunst die Natur nachahme. Menschen seien fleißige Nachfolger, emsige Nach­ ahmer, der Natur. Im dritten Kapitel von Buch XIII seiner Theologia platonica heißt es: »non servi simus naturae, sed aemuli.« (Theologia Platonica XIII, 3, in: Opera Omnia, Turin 1962, Bd. 1, S. 325 (Nachdruck von: Basel 1576, S. 295) Eine Antwort auf die göttliche formatio der Natur sei die menschliche reformatio (De christiane reli­ gione XVIII, in: A. a. O., S. 52 (Nachdruck Basel 1576, S. 22)). Auch im 21. Jahrhundert versuchen Techniker, Natur nachzuahmen und sich an den Prinzipien des Lebendigen zu orientieren. Die hier waltende Absicht ist es, von der Natur zu lernen, sich ihre technische Optimierungskraft zu eigen zu machen, sich von ihren Konstruktionen und Funktionsabläufen inspirieren zu lassen. »Damit werden einerseits Erwartungen in Bezug auf Ideen für technische Innovationen, andererseits aber und vor allem Hoffnungen auf eine naturnähere und nachhaltigere Technik ver­ bunden.« (Grunwald, A.: Technikzukünfte als Medium von Zukunftsdebatten und Tech­ nikgestaltung. Karlsruher Studien Technik und Kultur, Karlsruhe 2012, S. 177). Denken wir auch einmal an den Stacheldraht, mit dem heutzutage etwas abgezäunt wird. Impulsgeber dafür waren Dornenhecken. Ganz ähnlich bei Klettver­ schlüssen. Hier hat man sich am Haftmechanismus von Kletten orientiert. Die For­ men, Strukturen, Prozesse und Prinzipien der Natur werden beobachtet, aufgegriffen und in technische Entwicklungen umzusetzen versucht. Die Fertigkeit der Spinnen, Netze zu weben, die enorm leicht und gleichzeitig widerstandsfähig sind, macht man sich heute in Architektur und Kunst zu eigen. Aber auch schon die Fischernetze auf einem Kutter lassen an die Fähigkeit dieser Tiere denken. Die gebogenen Flügelenden der Flugzeuge hat man sich bei Vogelarten wie Kondor und Adler abgeschaut, auch für die Stromlinienförmigkeit gibt es Vorbilder. Und ein kleiner Grashalm auf der Wiese, der sich im Wind hin und her bewegt, ohne dabei abzuknicken, ist Vorbild für die Hochhäuser moderner Städte. Auch im Hinblick auf den Leichtbau war Natur – beim Flugzeugbau wie auch bei der Fahrzeugtechnik – durchaus Vorbild. Doch Flug­ zeuge zu konstruieren, ist etwas Neues und keineswegs ausschließlich dem Gedanken der Nachahmung verbunden. In der Bionik wird Natur »in bestimmter Weise modelliert […]: nämlich technomorph, anthropomorph und ecomorph. Die Synthetische Biologie schließt heutzutage in gewisser Hinsicht an.« (Schmidt, J. C.: Das Andere der Natur. Neue Wege zur Natur­ philosophie, Stuttgart 2015, S. 224) Zur Frage der Nachahmung der Natur verweise ich auf die kluge Arbeit von Hans Blumenberg: ›Nachahmung der Natur‹. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: Blumenberg, H.: Schriften zur Technik, hrsg. von A. Schmitz / B. Stieg­ ler, Berlin 2015, S. 86–125; speziell zur Bionik sei verwiesen auf: von Gleich, A. /

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kung an der Herrschaft Gottes verstanden.490 Diese ist, wie wir mit Spaemann sagen können, dadurch charakterisiert, dass »sie, indem sie die Kreatur in ihren Dienst nimmt, diese in ihr eigenes Wesen bringt, sie als sie selbst ›sein läßt‹. Legitime menschliche Herrschaft ist Indienstnahme und Fürsorge in einem.«491 Pade, C. / Petschow, U. / Pissarskoi, E.: Bionik – Aktuelle Trends und zukünftige Poten­ ziale, Bremen 2007; Ferdinand, J.-P. / Petschow, U. / von Gleich, A. / Seipold, P.: Literaturstudie Bionik. Analyse aktueller Entwicklungen und Tendenzen im Bereich der Wirtschaftsbionik, Berlin 2012. 490 Technik ahme Natur nicht einfach nur nach, wie der Kardinal und Philosoph Nikolaus von Kues unterstreicht. Es gebe Erfindungen, für die es keine Vorbilder in der Natur gebe. Betont wird in dem Zusammenhang die menschliche Schaffenskraft und Kreativität des Geistes. In Idiota de mente (deutsch: Der Laie über den Geist) lässt er einen Laien im Gespräch mit einem Philosophen im zweiten Kapitel Folgendes sagen: »Der Löffel hat außer der Idee in unserem Geiste kein weiteres Urbild. Und wenn auch der Bildhauer oder der Maler seine Vorbilder den Dingen entnimmt, die er nachzugestalten sich müht, so tue ich das doch nicht, ich, der ich aus Holzstücken Löffel, sowie Schalen und Töpfe aus Ton hervorbringe.« Bei Petrarca findet sich der Gedanke, es zeichne den Menschen aus, über die Schöpfung verfügen zu können, wie er es wünsche und wie es für ihn angenehm und zuräglich sei. (Vgl. Petrarca, F.: Heilmittel gegen Glück und Unglück / De remidiis utriusque for­ tunae, München 1988, bes. S. 190 und 196) Bei Giannozzo Manetti, der sich ähnlich wie Pico della Mirandola Gedanken über die Würde des Menschen macht und hierzu seinen Traktat De dignitate et excellentia hominis vorgelegt hat, werden insofern die Akzente anders gesetzt, als dieser zwar auch hervorhebt, dass die Welt zum Nutzen des Menschen erfunden und eingerichtet sei, die Schöpfung durch das Wirken des Menschen aber verschönert und so zu einer größeren Vollendung erhoben werden könne. (Buch 3, Kap. 21) Menschsein bedeutet in dieser Perspektive, nicht nur Bewirt­ schafter und Bewohner der Erde zu sein (Buch 1, Kap. 8), sondern eine Berufung zu haben, Partner und kreativer Mitschöpfer Gottes zu sein. (Buch 1, Kap. 14) Manetti schreibt: »Quid vero de subtili et acuto eius tam pulchri et tam formosi hominis ingenio dicemus, quod equidem tantum et tale est, ut cuncta queque post primam illam novam ac rudem mundi creationem ex singulari quodam et precipuo humane mentis acumine a nobis adinventa ac confecta et absoluto fuisse videantur? Nostra namque, hoc est humana, sunt quoniam ab hominibus effecta cernuntur: omnes domus, omnia opida, omnes urbes, omnia denique orbis terrarum edificia, que nimirum tanta et talia sunt, ut potius angelorum quam hominum opera ob magnam quandam eorum excellentiam iure censeri debeant. […] Hec quidem et cetera huiusmodi tot ac talia undique con­ spiciuntur, ut mundus et cuncta eius ornamenta ab omnipotenti deo ad usus hominum primo inventa institutaque et ab ipsis postea hominibus gratanter accepta multo pul­ chriora multoque ornatiora ac longe politiora effecta fuisse videantur.« (Manetti, G.: De dignitate et excellentia hominis, Padua 1975, Buch 3, Kap. 20 f., S. 77 f). 491 Spaemann, R.: Kommentar, in: Kongregation für die Glaubenslehre: Die Unan­ tastbarkeit des menschlichen Lebens. Zu ethischen Fragen der Biomedizin. Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre. Mit einem Kommentar von Robert Spaemann, Freiburg 1987, S. 67–95, hier S. 70.

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Schon ab dem Ende des 13. Jahrhunderts kann man an Kirchtür­ men mechanische Uhren vorfinden, die die Tages- und Gebetszeiten anzeigen.492 Die Ordnung der Welt wird später mit der Uhr- bzw. Maschinenmetapher zu beschreiben versucht.493 Der nächste Schritt ist der, dass die Maschine selbst zum Vorbild für Natur und Lebendi­ ges wird, was dem mittelalterlichen Denken noch fernliegt. In seiner Schrift Der Laie und die Experimente mit der Waage argumentiert Nikolaus von Kues, der mit einem Bein im Mittelalter, mit dem anderen schon in der Neuzeit steht, das Vermessen des Menschen und der Natur solle aus humanitären Gründen geschehen,

Das Unendliche bedarf anders als der endliche Mensch keiner technischen Geräte. Ein »deus ex machina« ist gerade kein Gott. Ist der mittelalterliche Mensch noch über­ zeugt, dass seine Existenz wie das, was er vermag, dem Unendlichen verdankt sei, ändert sich dies seit dem 18. Jahrhundert. Grob gesagt kann man es auf folgende Faustformel bringen: Je größer der Machtbereich des endlichen Menschen, je macht­ loser erscheint ihm das Unendliche. Ich greife an der Stelle eine Anekdote auf, die Spaemann von seiner Überquerung des Atlantiks mit einem Ozeandampfer berichtet. Er erläutert einer mitreisenden Ordensschwester die Vorzüge eines Radargerätes. Hierauf reagiert diese ganz entzückt auf den Gedanken, dass man fortan bei Nebel nicht mehr beten müsse. (Vgl. Joas, H. / Spaemann, R.: Beten bei Nebel. Hat der Glaube eine Zukunft?, Freiburg 2018, S. 34 f.) Deutlich wird an dieser kleinen Geschichte jedenfalls, dass die Faszination für die Technik heute oftmals in ihrer Verlässlichkeit begründet zu sein scheint. Im Kontext der Technik verliert die Welt ihre Vieldeutigkeit. Im zweiten Gang werden wir (z. B. im Posthumanismus-Kapitel und in den Ausfüh­ rungen zur medialen Darstellung der Synthetischen Biologie) auf Beispiele treffen, die zeigen, dass religiöse Vorstellungen auch heute moderne Technik beeinflussen, ihr geradezu imprägniert zu sein scheinen. 492 Die erste Taschenuhr sorgte 1510 für Aufsehen. Bekannt wurde sie später als »Nürnberger Ei« und konnte volle Stunden ansagen. Sie lief keine 24 Stunden, sondern nur 14. Vgl. Irrgang, B.: Philosophie der Technik, Darmstadt 2008, S. 101. 493 Als Beispiel sei hier Christian Wolff genannt: »Eine Maschine ist ein zusammen­ gesetztes Werck, dessen Bewegungen in der Art der Zusammensetzung gegründet sind. Die Welt ist gleichsam ein zusammengesetztes Ding, dessen Veränderungen in der Art der Zusammensetzung gegründet sind. Und demnach ist die Welt eine Maschine.« (Wolff, C.: Gesammelte Werke, I. Abt, Bd. 2, Hildesheim / Zürich / New York 1983, S. 337) Robert Boyle versteht die Welt als Uhr: »Das Universum gleicht einer seltenen Uhr, etwa der des Straßburger Münsters, in der alle Dinge so klug ersonnen sind, dass sie, nachdem die Maschine einmal in Gang gesetzt ist, nach dem ursprünglichen Entwurf des Erbauers von alleine funktionieren und die Bewegungen keine besonderen Ein­ griffe von Seiten des Erbauers oder irgendeines von ihm beauftragten, vernunftbe­ gabten Wesens erfordern.« (Boyle, R.: The Works of the Honourable Robert Boyle, Bd. V, London 1772, S. 163, zit. nach: Whitrow, G. J. Die Erfindung der Zeit, Hamburg 1991, S. 189).

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sei kein Selbstläufer.494 Es sei sinnvoll, exakte Daten zu erheben, die man in praktischer Hinsicht unterschiedlich anwenden könne. Um zu genauen Aussagen zu kommen, müsse man von der subjektiven Beurteilung sinnlicher Qualitäten absehen. Um etwa die Bekämpfung von Krankheiten voranzutreiben oder Getreide effizienter anzubauen, sollten genaue Daten erhoben werden.495 Im Blick ist die technische Nutzbarmachung der Natur – aus humanitären Gründen.496 Am Beispiel eines Abgrunds verdeutlicht Blumenberg die für die verschiedenen Epochen charakteristische Einstellung zu Natur und Technik. In der Antike fordert ein solcher Abgrund ein Staunen heraus: vor jedem einzelnen Wesen wie auch dem Kosmos als Gan­ zem. Im Mittelalter bannt der Abgrund den Blick des Menschen, um schließlich in die Höhe, zur Transzendenz, erhoben zu werden. In der Neuzeit blickt man in die Leere des Abgrunds und versucht, den Abgrund zu überbrücken.497

4.5 Der Aufschwung von Naturwissenschaften und Technik: Neuzeitliche Weichenstellungen Im philosophischen Denken ab 1600 setzen sich neue Leitbilder durch. Das Individuum wird wichtiger. Gleichzeitig entfalten sich ver­ schiedene Wissenschaftszweige, ab 1800 auch verstärkt Technologie. Mechanisierung gewinnt ab 1700 an Bedeutung. In der Philosophie gibt es Strömungen, die mechanischen Grundprinzipien besondere 494 Vgl. Nikolaus von Kues: Der Laie und die Experimente mit der Waage, in: Philo­ sophisch-Theologische Schriften. Studien- und Jubiläumsausgabe, hrsg. von L. Gabriel, 3 Bände, Wien 1982, Bd. 3, S. 631. 495 Freilich weist diese Aussage des Renaissancedenkers bereits in Richtung moder­ ner Naturwissenschaften, die Trennung von objektivem Wissen und subjektivem Erleben. Anders als diese jedoch hat er stets im Blick, dass man wohl Quantitäten, nicht aber Qualitäten messen kann. Seelisch-Geistiges kann, so Cusanus, nicht durch eine naturwissenschaftliche Zugangsweise erfasst werden. 496 Ab dem 15. Jahrhundert macht auch die Kartographie markante Fortschritte. Vermutlich geht eine der ältesten Karten Mitteleuropas auf Aufzeichnungen von Nico­ laus Cusanus, der mit dem Kartographen Paolo dal Pozzo Toscanelli befreundet war, zurück. Der Gedanke des Kartographierens wird uns später noch einmal begegnen. 497 Blumenberg, H.: Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänome­ nologie, in: Blumenberg, H.: Schriften zur Technik, Berlin 2015, S. 163–202, hier S. 163 f.

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Aufmerksamkeit schenken und hierauf auch Prozesse des Lebendigen zurückführen wollen. Mit der Neuzeit ist ein neues Ausmaß der Naturbeherrschung erreicht. Neuzeitliche Naturwissenschaft will nicht mehr jewría im antiken Sinne sein. Dieser ging es um Erkenntnis um ihrer selbst willen. Im Hinterkopf ist also nicht ein etwaiger Nutzen, der mit der Erkenntnis verbunden sein könnte. »Neuzeitliche Natur­ beherrschung beruht darauf, systematisch vom eigenen Sein und Wesen des Beherrschten abzusehen.«498 Orientierungswissen und Tatsachenwissen rücken auseinander, was damit zu tun haben könnte, dass bei der Erklärung von Naturprozessen ihre Zielhaftigkeit in den Hintergrund tritt. Es kommt in der Neuzeit auch zu einem anderen Verständnis davon, was Ursachen sind. Wenn Naturwissenschaftler heute von Ursachen sprechen, meinen sie damit meistens Daten, die gemessen, und Phänomene, die beobachtet werden können. Anders als in der antiken Naturphilosophie fehlt hier eine Vermittlung zwi­ schen empirisch-beobachtbaren Daten und intelligiblen Ursachen. »Ursache« wird seither mit Material- und Wirkursache gleichge­ setzt.499 In der Neuzeit kommt es zu vielen Entdeckungen und folgenrei­ chen Erfindungen. Ja, wir können mit Fug und Recht sagen, dass es die Zeit des Erfindertums ist. Die Begeisterung und Neugier, neue Türen zu öffnen, unbekannte Wege einzuschlagen, verbindet uns mit jener Zeit. Auch uns scheinen sich ständig neue und unbe­ kannte Welten zu öffnen. Dies sind nicht andere Kontinente, sondern Nanowelten; ist nicht die Entdeckung unbekannter Tierarten, sondern die Kreation neuer Wesen durch Fusion menschlichen Erbgutes mit den Eizellen von Kühen bzw. durch die Implementierung artifizieller DNA-Sequenzen in das Erbgut von Organismen. Zahlreiche Aufbrüche sind mit der Neuzeit verbunden. Charak­ teristisch ist ein Antrieb, den eigenen Radius auszuweiten. Technisch und ökonomisch will man sich die Welt erschließen und verfügbar machen. Das Unverfügbare soll in den eigenen Machtbereich gerückt, erzwungen und planbar werden. 498 Spaemann, R.: Kommentar, in: Kongregation für die Glaubenslehre: Die Unan­ tastbarkeit des menschlichen Lebens. Zu ethischen Fragen der Biomedizin. Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre. Mit einem Kommentar von Robert Spaemann, Freiburg 1987, S. 67–95, hier S. 70. 499 Trefflich beschrieben in: Heisenberg, W.: Das Naturbild der heutigen Physik, Hamburg 1955, S. 24 ff.

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»Das kulturelle Antriebsmoment jener Lebensform, die wir modern nennen, ist die Vorstellung, der Wunsch und das Begehren, die Welt verfügbar zu machen. Lebendigkeit, Berührung und wirkliche Erfah­ rung aber entstehen aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren. Eine Welt, die vollständig gewusst, geplant und beherrscht wäre, wäre eine tote Welt. […] Das Leben vollzieht sich als Wechselspiel zwischen dem, was uns verfügbar ist, und dem, was uns unverfügbar bleibt, uns aber dennoch ›etwas angeht‹.«500

Vieles dreht sich seither vor allem um die Frage, wie Objekte handhab­ bar gemacht, gewusst und genutzt werden können, wobei sich Technik auf Objekte als Mittel richtet, diese aber nicht als Zwecke an ihnen selbst zu thematisieren vermag.501 Dadurch entziehe sich, so Rosa, »die Erfahrung von Lebendigkeit und von Begegnung […] – das, was Resonanz ermöglicht«502. Natur wird vom Machen, vom Herstellen her begriffen. Sie ist fortan nicht einfach mehr das, was vorgegeben ist. Aufmerksamkeit hat das, was durch technisches Tun und Eingreifen machbar und möglich ist. Während es in der Renaissance, insbesondere ihrer italienischen Ausprägung, noch die Überzeugung gibt, die Natur spreche den Menschen an, ändert sich diese Sichtweise vor der Hintergrundfolie des neuzeitlichen Mechanizismus.503 Liebrucks formuliert trefflich: »Natur wird […] nicht mehr ›um Rat‹ gefragt, wie die Zeugen,

Rosa, H.: Unverfügbarkeit, Wien / Salzburg 2018, S. 8. Das Paradigma der Machbarkeit findet sich bei Hobbes ausgesprochen: »Ubi ergo generatio nulla […] ibi nulla philosophia intelligitur.« Demnach vermag der Mensch nur verstehen, so Hobbes, indem und soviel er macht. (Vgl. Hobbes, T.: De corpore, P. I, Kap. 1, Sekt. 8, in: Opera philosophica quae latine scripsit, hrsg. von G. Molesworth, Bd. 1, Aalen 1966). 502 Vgl. Rosa, H.: Unverfügbarkeit, Wien / Salzburg 2018, S. 10. 503 Vgl. Hoffmann, T. S.: Philosophie in Italien. Eine Einführung in 20 Porträts, Wies­ baden 2007, S. 28 f. 500 501

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sondern wie ein Angeklagter ausgefragt.«504 Die Verbindung von Wissenschaft und Technik wird allmählich enger. Erwähnenswert ist eine besondere Faszination für Automa­ 505 ten. Unterschiedliche Figuren werden mit einem Triebwerk ausge­ stattet – Konstruktionen, die in imposanter Weise unterstreichen, Liebrucks, B.: Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1964, S. 26. Hintergrund der Ausführungen Liebrucks’ ist freilich Kants Vorrede B der Kritik der reinen Vernunft. Der Königsberger unterstreicht dort, dass »die Vernunft nur das ein­ sieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, […] und die Natur nöthigen müsse auf ihre Fragen zu antworten«. Und weiter heißt es dort: »die Vernunft […] muß an die Natur gehen […] in der Qualität […] eines bestallten Richters, der die Zeugen nöthigt auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.« (Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft, in: AA Bd. III, S. 10) Die Vorstellung eines Gerichtsprozesses findet sich auch noch an anderer prominenter Stelle. Francis Bacon verwendet unterschiedliche Bilder, um den Umgang mit der Natur zu beschreiben: etwa die Vorstellung von der Natur als einem Labyrinth sowie die oben angesprochene Gerichtsvorstellung. Die Natur sei ein großes Labyrinth, »wo überall unsichere Wege, täuschende Ähnlichkeiten zwischen Dingen und Merkmalen, krumme und verwickelte Windungen und Verschlingungen der Eigenschaften sich zeigen« (Bacon, F.: Neues Organon, Teilband 1, Hamburg 21999, S. 25). Den Menschen verortet er in diesem Labyrinth als Fremdling, der sich allerdings nicht immer darüber im Klaren sei, sich in einem Labyrinth zu befinden. Die Rede von der Natur als einem Labyrinth vermag auch die Komplexität der Natur zu unterstreichen: Sie kann nicht einfach vom Menschen überblickt werden. Dies möchte er allerdings ändern, sie grundsätzlich enträtseln können: durch einen experimentellen Zugriff und geeignete interpretatorische Erklärungen. Natur müsse vor ein Gericht gebracht und untersucht, ihr Einfallsreichtum offengelegt werden, welcher sich adäquater unter Misshandlun­ gen zeige als in ihrer eigenen Freiheit, »denn die Natur der Dinge offenbart sich mehr, wenn sie von der Kunst bedrängt wird als wenn sie sich selbst frei überlassen bleibt.« (A. a. O., S. 57) Und Bacon schreibt noch deutlicher, ihm gehe es um »eine Geschichte der gebundenen und bezwungenen Natur, d. h. wenn sie durch die Kunst und die Tätigkeit des Menschen aus ihrem Zustand gedrängt, gepreßt und geformt wird« (a. a. O., S. 55). Mensch und Natur stehen sich hier als unterschiedliche Parteien gegenüber. Die so aufgedeckte Wahrheit sei vor allem mit Nützlichkeit verbunden. 505 Die Faszination für Automaten ist allerdings schon weit älter. So berichtet der Historiker Kallixeinos von einem Automaten. Gezeigt wurde dieser im Festzug des Ptolemaios II. Philadelphos in Alexandria. In seinem Bericht heißt es: »Das acht Ellen hohe Bildnis der sitzenden Nysa […] konnte aber auf mechanische Weise aufstehen, ohne dass jemand Hand anlegte, und nachdem es Milch aus einer goldenen Schale gespendet hatte, setzte es sich wieder.« (Kallixeinos, zit. nach: Schneider, H.: Geschichte der antiken Technik, München 2007, S. 103) Zur Faszination für Automaten in der Neuzeit: Karafyllis, N. C.: Bewegtes Leben in der frühen Neuzeit. Automaten und ihre Antriebe als Medien des Lebens zwischen den Technikauffassungen von Aristoteles und Descartes, in: Engel, G. / Karafyllis, N. C. (Hrsg.): Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Bd. 8 (2004), Heft 3 / 4: Technik in der Frühen Neuzeit – Schrittmacher der europäischen Moderne, Frankfurt a. 504

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wozu der Mensch mit Hilfe der Technik in der Lage ist. So stellt man beispielsweise Krebsautomaten her, die sich wie Krebse fortbewegen, Fliegen, die über große Distanzen fliegen konnten, oder auch eine Ente, die nicht nur durch Fortbewegung und die typischen Schnatter­ geräusche auffällt, sondern auch durch »Nahrungsaufnahme« und anschließende Ausscheidung. Dies alles fasziniert wohl auch deshalb, weil all diese Tätigkeiten sonst mit Lebewesen in Verbindung gebracht werden. Und wenn wir uns vor Augen führen, dass Jacques de Vaucanson der geistige Vater sowohl jener Automaten-Entlein als auch verschiedener Webstühle ist, können wir in der Herstellung von Automaten sowohl spielerische als auch zweckdienliche und ökonomische Aspekte ausmachen. Leben wird hier simuliert. Der Traum vom künstlichen Leben wird im 20. und 21. Jahrhundert weiter geträumt, wie wir im zweiten Gang noch näher sehen werden. Der von Aristoteles gemachte Unterschied von Gewachsenem und Gemachtem verliert für die Leitwissenschaft der Neuzeit, die Physik, an Bedeutung. Spielt das Gemachte bei Aristoteles gegenüber dem Gewachsenen eine geringere Rolle,506 ändert sich dies im Zuge des neuzeitlichen Denkens: Es wird zum Maßstab, um Körper wie Naturprozesse zu erklären. In den Fokus rücken Körperfunktionen, während die Bedeutung des Leibes in den Hintergrund rückt. Leibniz spricht in § 64 seiner Monadologie davon, dass Organis­ men gleichsam eine Art natürlicher Automaten seien. Und freilich sind hier die beiden Franzosen Descartes und La Mettrie zu erwähnen, deren Arbeiten bis heute nachwirken. Für Descartes, der scharf zwi­ schen res extensa und res cogitans unterscheidet, ist der Vergleich zwi­ schen Lebewesen und Maschinen naheliegend. Der menschliche Kör­ per, so Cartesius, sei eine Maschine, »die aus den Händen Gottes kommt und daher unvergleichlich besser konstruiert ist und weit wunderbarere Getriebe in sich birgt als jede Maschine, die der Mensch erfinden kann«507. Der Körper wird rein mechanistisch gedacht, er ist ausgedehnt, messbar: die Geburtsstunde nicht nur von Science-Fic­ tion, sondern auch zeitgenössischer Robotik und posthumanistischer Vorstellungen. M. 2004, S. 295–335; Sutter, A.: Göttliche Maschinen. Die Automaten für Lebendi­ ges, Frankfurt a. M. 1988. 506 Vgl. Aristoteles: Physik IV 8, 215 a. 507 Descartes, R.: Discours de la méthode V, 9; vgl. auch Meditationes II, 5. Auf­ schlussreich auch: Über den Menschen, Heidelberg 1969, S. 44.

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4.6 Technik kann zur Entfremdung von sich und der Natur führen: Hegel und Marx

Descartes spricht davon, der Mensch müsse sich zum »maître et possesseur de la nature«508 aufschwingen. Natur ist nicht mehr von geistigen Prinzipien durchformt, sondern Geist und Natur werden einander gegenübergestellt. Tiere und Pflanzen, denen die Fähigkeit fehlt, zu denken, gelten lediglich als ausgedehnte Körper. Sie können mit dem zur Verfügung stehenden Methodenspektrum der Naturwis­ senschaften vollständig erfasst werden. Zweckmäßiges Verhalten von niederen Lebewesen wird in Abrede gestellt.509 Den Menschen im Sinne der Maschinenebenbildlichkeit zu bestimmen, bedeutet auch, seinen Subjektstatus verabschieden zu wollen. Den Menschen von seinem Machwerk her zu verstehen und auf die Maschine zu rekurrieren, nimmt von hier seinen Ausgang und wird bis heute immer wieder variiert.510

4.6 Technik kann zur Entfremdung von sich und der Natur führen: Hegel und Marx Im 18. Jahrhundert erstarkt die Sicht, alles entwickle sich von sich aus zu einem wirtschaftlich besseren und freiheitlicheren Zustand, wobei der Technik eine nicht zu unterschätzende Rolle zukomme. Technik soll, so die Hoffnung, Freiheit, Glück für jedermann sowie Wohlstand bringen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beginnt die Industrielle Revolution mit ihren bekannten tiefgreifenden sozialen, wirtschaftlichen, technischen Veränderungen. Zur Zeit der Industria­ lisierung kommt es zu einer Landflucht: Um Arbeit zu finden, siedeln viele Menschen in Städte um. Ballungsräume entstehen. Descartes, R.: Discours de la méthode VI, 3. Diese Sichtweise ist problematisch. »Sie trifft nur auf reversible Vorgänge zu, bei denen ein bestimmter Zustand durch äußere Kräfte so verändert wird, dass sich der ursprüngliche Zustand durch entgegengesetzt wirkende Kräfte wieder einstellt. Für die irreversible Natur biologischer Prozesse gibt es daher keine mechanistische Erklä­ rung.« (Falkner, G. G. / Falkner, R. A.: Die Selbstgestaltung der Lebewesen in Erfah­ rungsakten. Eine prozessbiologisch-ökologische Theorie der Organismen, Freiburg / München 2020, S. 45). 510 Leben wird in diesem Rahmen zu einem bloßen Funktionsmechanismus einzelner Bauteile: Ist der Mensch eine Maschine, dann muss diese nur korrekt gewartet und repariert werden, um fortbestehen zu können. In diesen Fußspuren werden kranke Organe beim Menschen wie defekte Leitungen oder alte Schrauben ersetzt, sind Eingriffe in die Keimbahn statthaft und geboten und kann man im Sinne transhuma­ nistischer Ideen Geist auf eine Festplatte überspielen oder einen Cyborg als »besseren« Menschen konzipieren. 508

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Entscheidend für den Beginn der Industriellen Revolution war ein Wertewandelprozess. Konsum wurde zunehmend wichtiger. Das Industriezeitalter bedeutet eine enorme Steigerung der Produktion. Es kann von der »Geburt der Konsumgesellschaft«511 gesprochen werden. Fabriken entstehen. Arbeit findet fortan verstärkt in der Industrie statt, nicht mehr zu Hause. Menschliche wie tierische Kraft wird durch physikalische Kräfte ersetzt. Das Machen wird zuneh­ mend von Maschinen übernommen: Neue Optionen eröffnen sich dadurch, insofern Erzeugnisse und Arbeitsprozesse möglich werden, die vorher so nicht möglich gewesen wären oder schlichtweg länger gedauert hätten.512 In der Industriellen Revolution kommt zunächst Werkzeugma­ schinen mit Riemenantrieb, später dann mit Elektrizität bzw. gas­ förmigen Brennstoffen betriebenen Maschinen eine herausragende Bedeutung zu. Spinnmaschinen können z. B. durch Dampf- oder Wasserantrieb bewegt werden. Die Arbeitskraft des Arbeiters wird also durch verschiedene andere Kräfte ersetzt, was die Produktivität letztlich deutlich erhöht. Orientierte sich in der vorindustriellen Phase der Arbeitsalltag noch am natürlichen Hell- und Dunkelwerden bzw. am Wetter, gestaltet sich dies in der industriellen Zeit deutlich anders. Der Takt der Maschinen bestimmt den Arbeitsrhythmus und das Leben der Menschen. Während die Maschinen immer ausgefeilter werden, tritt der Mensch im Rahmen der Produktionsprozesse eher in den Hintergrund. Arbeitsprozesse werden automatisiert und in kleinstmögliche Einheiten zerteilt, was die Effizienz erhöht. Deutlich

Irrgang, B.: Philosophie der Technik, Darmstadt 2008, S. 191. Dass die Entwicklung der Technik ihrerseits auf ökonomische Prozesse und die (ent­ stehende) kapitalistische Gesellschaft zurückwirkt, analysiert in besonderer Weise auch: Weber, M.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 61972, S. 10. 512 Auf diesen Aspekt, dass verschiedene (Natur-) Kräfte die Arbeitskraft des Men­ schen übernehmen, um den Antrieb der Maschinen sicher zu stellen, macht Hegel aufmerksam. »Der Natur selbst geschieht nichts«, wie er festhält, was im 20. Jahr­ hundert, etwa bei Heidegger, anders beurteilt wird. (Hegel, G. W. F.: Jenaer Realphi­ losophie. Vorlesungsmanuskripte zur Philosophie der Natur und des Geistes von 1805– 1806, hrsg. von J. Hoffmeister, Hamburg 1969 [unveränderter Nachdruck der Erst­ auflage von 1931], S. 198 [Zitat im Original gesperrt, nicht kursiv]). 511

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4.6 Technik kann zur Entfremdung von sich und der Natur führen: Hegel und Marx

tritt hier zu Tage, dass das Leben der Menschen, ihre Arbeit, durch­ gängig von der ökonomischen Rationalität geregelt werden soll.513 Hegel leuchtet die durch Technisierungsprozesse entstehenden gesellschaftlichen Umbrüche philosophisch aus und diagnostiziert Entfremdungsprozesse gegenüber der Natur, was Marx aufgreifen wird. Gegenüber dem Werkzeug habe die Maschine, so das Argument Hegels, eine ganz andere Tiefenwirkung: Der Umgang mit dem Werkzeug bleibe eine Tätigkeit des Menschen. Der Mensch nimmt es in die Hand, legt seine Tätigkeit in es. Er macht sich zu einem Ding, bekommt bei starker Beanspruchung gar Schwielen in der Hand. Dies könne im Hinblick auf den Einsatz von Maschinen so nicht mehr behauptet werden. Hier »läßt [der Mensch] sie ganz für ihn arbeiten. Aber jener Betrug, den er gegen die Natur ausübt, […] rächt sich gegen ihn selbst; was er ihr abgewinnt, je mehr er sie unterjocht, desto niedriger wird er selbst. Indem er die Natur durch mancherley Maschinen bearbeiten läßt, so hebt er die Nothwendigkeit seines Arbeitens nicht auf, sondern schiebt es nur hinaus, entfernt es von der Natur […], und das Arbeiten, das ihm übrig bleibt, wird selbst maschinenmäßiger.«514

Wohltuend ist, dass der technische Fortschritt von Hegel weder verdammt noch zelebriert wird; er wägt klug ab und differenziert, wo es nötig ist. Die Grundlage der Freiheit, die Leitbegriff seines Denkens ist, kann für ihn jedenfalls nicht im technischen Fortschritt selbst liegen. Kritisch beleuchtet er neue Weisen der Abhängigkeit, die sich durch die um sich greifende Technisierung auftun: »Die Richtung des gesellschaftlichen Zustandes auf die unbestimmte Vervielfältigung und Spezifizierung der Bedürfnisse, Mittel und Genüsse, welche […] keine Grenzen hat, – der Luxus – ist eine […] unendliche Vermehrung der Abhängigkeit und Not […].«515 Vgl. Schmitt, C.: Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, in: Schmitt, C.: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1929– 1939, Berlin 31994, S. 138–150, bes. S. 141. 514 Hegel, G. W. F.: Jenaer Systementwürfe I, Gesammelte Werke, Bd. 6, hrsg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1975, S. 321. 515 Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke Bd. 7, hrsg. von E. Moldenhauer / K. M. Michel, Frankfurt a. M. 142015, § 195, S. 350 f. An anderer Stelle weist Hegel auf verschiedene Wissensformen hin. Da gibt es z. B. die Korrelation. Wir können diese folgendermaßen beschreiben: Wenn A stattfindet, verhält sich B in einer bestimmten Weise. Eine hinreichende Bedingung ist damit freilich nicht genannt. Eine höhere Stufe der Wissensformen stellt die Wechselwirkung 513

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4. Gewachsenes im Horizont des technisch Machbaren

Marx beobachtet und beschreibt die verschiedenen Verände­ rungsprozesse der Gesellschaft. In diesem Rahmen setzt er sich auch mit Fragen der Technik auseinander. Eine Folge der Ausbreitung der Dampfmaschine ist für ihn, dass der Mensch austauschbar werde, heute würden wir vielleicht sagen: eine bloße Nummer, die jeden­ falls als Naturkraft nicht mehr in jedem Fall benötigt wird. Seine Sprache ist kraftvoll: So spricht er etwa von einem »mechanischen Ungeheuer«, welches an die Stelle einer einzelnen Maschine trete, und von einer »dämonischen Kraft«, die er hier walten sieht.516 Maschinen sorgen für Gewinne. Produktionsverhältnisse, so Marx, werden also durch Technik mitbeeinflusst.517 Technik könne eigentlich die Arbeitszeit verkürzen und die Arbeit selbst erleichtern, doch unter den Vorzeichen des Kapitalismus, so Marx, geschehe durch sie das Gegenteil: Sie verlängere den Arbeitstag und führe zu mehr Arbeit. Insofern sei Technik dann auch vor allem ein Mittel zur Unterjochung dar. Demnach gilt: A wirkt auf B resp. B wirkt auf A. Es besteht also ein Bedingungs­ verhältnis zwischen den beiden Größen A und B. Doch auch dadurch, so Hegel, werde das Verhältnis dieser beiden Größen noch nicht vollends deutlich. Hierzu sei eine andere Dimension nötig, die er Begriff nennt und womit das gemeint ist, wodurch die Entitäten das sind, was sie sind, was also ihr inneres Selbst über ihr äußerliches Ver­ hältnis hinaus aufschließt: »[E]inen Gegenstand begreifen heißt somit, sich seines Begriffes bewußt werden.« (Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wis­ senschaften im Grundrisse 1830, Teil 1: Die Wissenschaft der Logik, Werke Bd. 8, hrsg. von E. Moldenhauer / K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1970, S. 302) Der Begriff ist umfassend. Von ihm her sei Wirklichkeit zu erfassen. Übertragen wir dies einmal auf ehrgeizige Digitalisierungsstrategien. Gesammelt werden eifrig Daten; letztlich blei­ ben sie der untersten Ebene des Wissens verhaftet. Die unterschiedlichen Dimensio­ nen werden nicht von der Warte der Ganzheit her betrachtet. Die Teile bleiben unver­ bunden. (Hierzu auch: Han, B.-C.: Undinge. Umbrüche der Lebenswelt, Berlin 2021, S. 46 ff.). 516 »Als gegliedertes System von Arbeitsmaschinen, die ihre Bewegung nur vermit­ telst der Transmissionsmaschinerie von einem zentralen Automaten empfangen, besitzt der Maschinenbetrieb seine entwickeltste Gestalt. An die Stelle der einzelnen Maschine tritt hier ein mechanisches Ungeheuer, dessen Leib ganze Fabrikgebäude füllt und dessen dämonische Kraft, erst versteckt durch die fast feierlich gemeßne Bewegung seiner Riesenglieder, im fieberhaft tollen Wirbeltanz seiner zahllosen eigentlichen Arbeitsorgane ausbricht.« (Marx, K.: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals, in: Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx, K. / Engels, F.: Werke, Bd. 23, Berlin 1962, S. 402). 517 »Die kapitalistische Produktion entwickelt […] nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.« (A. a. O., S. 529 f.).

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4.6 Technik kann zur Entfremdung von sich und der Natur führen: Hegel und Marx

und Ausbeutung, während sie eigentlich doch ein »Sieg über die Naturkraft«518 sei. Natur ist in der Marx’schen Perspektive das, was einer Bearbei­ tung offensteht. Und Arbeit ist für ihn jener Prozess, der zwischen Mensch und Natur stattfindet. Die Bearbeitung der Natur wirke auf den Menschen zurück, er bleibe davon nicht unberührt.519 Er macht verschiedene Schieflagen moderner Gesellschaften aus, etwa jene, dass die Erzeugnisse der Natur zwar angeeignet, nicht aber anverwandelt werden. An dieser Stelle greift er dann auf einen Begriff zurück, der schon bei Hegel gefallen ist: Er will hier einen Ent­ fremdungsprozess von Produkt und Prozess der Arbeit ausmachen. Auch eine Entfremdung von der Natur wird diagnostiziert.520 Das heißt hier: Die Beziehung hat gelitten, Vertrautheit und Nähe sind verloren gegangen, Unverbundenheit und Gleichgültigkeit sind an die Stelle getreten. Die Maschine ist zum Maßstab für die Arbeit geworden. Dies bringt es nach Marx dann auch mit sich, dass der Mensch sich selbst – gerade auch im Hinblick auf seine Leiblichkeit – fremd wird.521 Technik ist für ihn jedoch nicht per se Quelle der Entfremdung; vielmehr will er das eigentliche Problem in der kapitalistischen Pro­ duktionsweise ausmachen. Er prangert die hiermit einhergehende »Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse« an. Anschaulich beschreibt er diese als »verzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt, wo Monsieur le Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben.«522 Folgendes Zitat sollten wir schon einmal im Hin­ A. a. O., S. 465. »Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte […] setzt er [der Mensch] in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eigenes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur.« (A. a. O., S. 192). 520 Vgl. z. B. Marx, K.: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx, K. / Engels, F.: Werke, Bd. 40, Berlin 1968, S. 517. 521 Den Begriff Entfremden übernimmt Marx von Hegel, der ihn in seiner Phänome­ nologie des Geistes expliziert. Schon im Mittelhochdeutschen ist er belegt und begegnet etwa in den Werken eines Meister Eckhart. Etwas, was als vertraut gilt, rückt in einen anderen Bedeutungszusammenhang. 522 Marx, K.: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 3: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx, K. / Engels, F.: Werke, Bd. 25, Berlin 1964, S. 838. 518

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terkopf behalten. Es zeigt uns nämlich, dass Marx ebenfalls als Ver­ treter der noch näher zu besprechenden These zu gelten hat, wonach Maschinen verlängerte Organe des Menschen seien: Maschinen »sind Produkte der menschlichen Industrie; natürliches Material, verwan­ delt in Organe des menschlichen Willens über die Natur oder seiner Betätigung in der Natur. Sie sind von der menschlichen Hand geschaffne Organe des menschlichen Hirns.«523 Technik kann keine Antwort auf Technik sein, soll die hier beschriebene Entfremdung und Verdinglichung wirklich überwunden werden. Anzuempfehlen wäre es, den Umgang mit der Natur grund­ sätzlich zu überdenken. Oder um noch einmal Marx zu zitieren: »Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.«524

4.7 Technik als Organprojektion: Kapp Wir hatten im vorausgehenden Abschnitt schon auf die Organprojek­ tionstheorie hingewiesen, um die es nun gehen soll. Starten möchte ich dafür mit folgendem Zitat: »Weil Werkzeuge und Maschinen weder auf den Bäumen wachsen noch als Göttergeschenke fertig vom Himmel herabfallen, sondern ›weil wir sie selbst gemacht haben‹, tragen sie als Produkte dieses Selbst das deutliche Gepräge des bald unbewusst findenden, bald bewusst erfindenden Geistes. Daher geben sie in der Rückbeziehung 523 Marx, K.: Ökonomische Manuskripte 1857 / 1858, in: Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx, K. / Engels, F.: Werke, Bd. 42, Berlin 1983, S. 602. 524 Marx, K.: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 3: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx, K. / Engels, F.: Werke, Bd. 25, Berlin 1964, S. 784. Habermas formuliert den Gedanken, sich um ein anderes Verhältnis zur Natur zu bemühen, wie folgt: »Statt der ausgebeuteten Natur können wir die brüderliche suchen. Auf der Ebene einer noch unvollständigen Intersubjektivität können wir Tie­ ren und Pflanzen, selbst den Steinen, Subjektivität zumuten und mit Natur kommu­ nizieren, statt sie, unter Abbruch der Kommunikation, bloß zu bearbeiten.« (Habermas, J.: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt a. M. 1968, S. 57).

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4.7 Technik als Organprojektion: Kapp

auf ihre Zeugungsstätte Erklärung und Aufschluss über die organische Tätigkeit selbst, welcher sie wie das Nachbild dem Vorbild ihre Entste­ hung verdanken.«525

Dies ist in der im Jahre 1877 vorgelegten Arbeit Grundlinien einer Philosophie der Technik von Ernst Kapp zu lesen, die nachhaltig auf die weiteren Debatten gewirkt hat und daher nun aufgegriffen werden soll. Durch die Technik werde der Mensch in die Lage versetzt, seinen Alltag zu gestalten, wie Kapp unterstreicht. Für Menschen des 21. Jahrhunderts dürfte das sicherlich nicht fremd klingen.526 Unsere Aufmerksamkeit hat der Autor aber spätestens dann, wenn er die Entwicklungsgeschichte des Menschengeschlechts als Geschichte der 525 Kapp, E.: Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehung der Kultur aus neuen Gesichtspunkten, Hamburg 2015, S. 159. 526 Bei Kapp ist erstmals von einer »Philosophie der Technik« die Rede (Kapp, E.: Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehung der Kultur aus neuen Gesichtspunkten, Hamburg 2015). Überlegungen, wie die z. B. von Marx, wo Technik und Natur nicht im Zentrum der philosophischen Überlegungen stehen, bezeichnet Günther Ropohl als »parathema­ tische Technikphilosophie«, die er von einer »thematischen Technikphilosophie« abgrenzt. (Vgl. Ropohl, G.: Technologische Aufklärung. Beiträge zur Technikphiloso­ phie, Frankfurt a. M. 21999, S. 11) Kapp wäre in diesem Sinne Vertreter einer »thema­ tischen Technikphilosophie«, die nachhaltig auf weitere Debatten gewirkt hat. Eine frühe Auseinandersetzung mit der Technik findet sich auch bei August Koelle, der allerdings hinsichtlich der Tiefe seiner Reflexionen hinter Kapp zurücksteht. Koelle legt in seinem Werk System der Technik, Berlin 1822 eine Bestandsaufnahme des tech­ nischen Wissens seiner Zeit vor. Seiner Überzeugung nach ließen sich vier Hauptan­ sichten der Technik unterscheiden: einmal im Hinblick auf das zugrundeliegende Material, dann hinsichtlich der zum Einsatz kommenden Werkzeuge, drittens im Hinblick auf den Begriff der Arbeit und schließlich hinsichtlich der technischen Erzeugnisse (a. a. O., S. 19). Unterschiedliche Phasen werden voneinander abge­ grenzt: An erster Stelle stehe die Erzeugung, gefolgt von der Entfaltung. Hieran schließe sich die Phase der Verarbeitung und schließlich die der Veredelung an. Sein Blick auf die Technik ist insgesamt sehr optimistisch. Sie könne zur Vervollkommnung des Menschen beitragen, was Kapp ganz ähnlich sieht. Technik würde, so Koelle, den Menschen mit der Natur »befreunde[n]« (a. a. O., S. 25). So hebt er auf die besondere Rolle der Technik für den Menschen ab: Dass der Mensch das kann, was er kann, verdankt er nach Koelle der Technik. Sie ist die Grundlage, die »Basis« (a. a. O., S. VII), wie er sagt. Damit meint er, dass der Mensch dank ihr nicht einfach den Widrigkeiten der Natur ausgeliefert ist. Technik verhelfe ihm, damit umzugehen. Der Mensch stehe im Spannungsfeld von Himmel und Erde, sei ein geistiges und physisches Wesen. »Die Herstellung des Gleichgewichts zwischen Erde und phyischem Daseyn heißt Geschichte der Technik« (a. a. O., S. 32), wie Koelle schreibt. Die Industrialisierung verbindet er vor allem mit der Zunahme von Wohlstand und Macht einer Nation (a. a. O., S. VII). Dass Technik selbst ein Problem sein könnte, ist kein Thema.

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Technik deutet. Der Mensch bediene sich immer schon der Technik, habe sie in seiner Hand, wie wir im Hinblick auf Kapp besonders schön sagen können, denn er spricht von einer »Organprojektion« des menschlichen Leibes,527 womit er sich von Positionen abgrenzt, die insbesondere die Bedürftigkeit und Mangelhaftigkeit der mensch­ lichen Physiologie hervorheben. Schauen wir zunächst einmal auf den zweiten Teil des von ihm geprägten Begriffs, also darauf, was er mit »Projektion« meint. Gemeint ist hiermit ein Abbildungsverhältnis. Er bringt nämlich z. B. das Kartographieren ins Spiel, bei dem es ja darum geht, Strukturen maßstabgetreu darzustellen.528 Ein interessanter Autor ist Kapp nicht zuletzt auch deshalb, weil er sich immer wieder mit der Leiblichkeit des Menschen beschäftigt. Der von Kapp eingeschlagene Weg sieht so aus, den Leib als Bezugspunkt und Vorbild für die Erfindung technischer Artefakte zu interpretieren. Technische Mechanismen würden »nach organischem Vorbilde«529 zustande kommen. Möglich sei dies, da der Leib selbst etwas Besonderes, ja Vorzügliches sei.530 Dieser ist und bleibt der Bezugspunkt bei der Erschaffung techni­ scher Artefakte.531 Eine besondere Rolle misst er dabei der Hand zu. Kapp spricht in einem dreifachen Sinne von der Hand: Sie sei zum einen das natürli­ che Werkzeug des Menschen, zudem Vorbild für andere Werkzeuge und drittens sei sie Hilfsmittel, um jene stofflichen Nachbildungen zuwege bringen zu können.532 Der antike Gedanke der imitatio, der in der Renaissance variiert wurde, wird von Kapp fruchtbar zu machen versucht. Technische Voll­ züge seien imitatio, was mit der Stellung des Menschen in der Natur, 527 Vgl. Kapp, E.: Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehung der Kultur aus neuen Gesichtspunkten, Hamburg 2015, S. 40 ff. 528 A. a. O., S. 40. 529 A. a. O., S. 3. 530 »Erst mit der Gewissheit der leiblichen Existenz tritt das Selbst wahrhaft ins Bewusstsein. Es ist, weil es denkt, und es denkt, weil es ist. ›Selbst‹, nach der Ableitung des Wortes von si liba, heißt ›Leib und Leben‹.« (A. a. O., S. 16). Zur Kritik an Kapps Organprojektionstheorie siehe: Leinenbach, H.: Die Körperlichkeit der Technik. Zur Organprojektionstheorie Ernst Kapps, Düsseldorf 1990. 531 Verkehrswege seien, so Kapp, dem Blutgefäßnetz, der Hammer der menschlichen Faust und die Dampfmaschine dem Organismus nachgeahmt. (Kapp, E.: Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehung der Kultur aus neuen Gesichtspunkten, Hamburg 2015, S. 52, 123, 128). 532 Vgl. a. a. O., S. 51.

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4.7 Technik als Organprojektion: Kapp

nicht über bzw. außerhalb ihrer, begründet wird.533 Er argumentiert, dass der »Mensch unbewusst Form, Funktionsbeziehung und Nor­ malverhältnis seiner leiblichen Gliederung auf die Werke seiner Hand überträgt und dass er dieser ihrer analogen Beziehungen zu ihm selbst erst hinterher sich bewusst wird«534. Das Gemachte müsse aus dem Unterschied zum Gewachsenen, nicht aus der Gleichsetzung damit aufgefasst werden, wie Kapp herausarbeitet.535 So benennt er z. B. Gemeinsamkeiten zwischen Organismen und Maschinen – etwa dass es sich in beiden Fällen um komplexe Entitäten handelt, die einen Aus­ tausch von Stoffen betreiben – geht aber klar auch auf die Differenzen ein: »Die Maschine ist ein äusserlich und willkürlich gemachtes Artefact, der Organismus nach immanentem, verborgenem Gesetz ex ovo gewachsen.« Und weiter: »Das Hegemonicon der Maschine gehört nicht zu ihr, residiert nicht in ihr.«536 So werde beispielsweise ja auch ein Zug von einem Zugführer gelenkt. Anders verhalte es sich beim Organismus. Dort nämlich liege das Hegemonicon in diesem.537 Hier greift er den aristotelischen Gedanken der Bewegung auf. Was lebt, hat Bewegung in sich, ist nicht einfach bloß von anderem bewegt. Leben ist dynamisch, entwickelt sich von sich aus. Die Umgestaltung des menschlichen Organismus durch Technik hat Kapp noch nicht im Blick. Technik will er als einen Weg der menschlichen Selbsterkenntnis verstehen: »[D]ie Welt außer ihm ist die Handhabe zur Erschließung der Welt in ihm.«538 Der Mensch habe ein technisches Weltverhältnis, worauf eben auch die Kultur beruhe. Provozierend mag vor diesem Hintergrund zunächst klingen, die Zukunft des Menschen als eine »handlose« beschreiben zu wollen, wie es gegenwärtig beispielsweise Flusser und Han tun.539 Plausibel wird dies, wenn wir daran denken, dass die derzeit rapide an Bedeutung gewinnende Digitalisierung von digitus kommt, also dem lateinischen Vgl. a. a. O., S. 33. A. a. O., S. 3. 535 Vgl. a. a. O., S. 99 f. 536 A. a. O., S. 126. 537 Vgl. ebd. 538 A. a. O., S. 25. Dem Menschen geht, laut Kapp, »indem er sich der Führung jener Verwandtschaft zwischen Vorbild und Nachbild überlässt und die von ihm geschaffene Außenwelt messend an sich selbst legt, ein stets höheres Selbstbewusstsein auf.« (A. a. O., S. 144). 539 Vgl. Flusser, V.: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München 1993, S. 84; Han, B.-C.: Undinge. Umbrüche der Lebenswelt, Berlin 2021, S. 16 ff. 533

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Wort für Finger.540 Mit den Fingern rechnen wir, wählen und tippen wir, wischen wir auf dem Tablet, zoomen heran und unterwerfen wir das, was begegnet, den eigenen Bedürfnissen. Jene Verkürzung beschreibt Han folgendermaßen: »Der handlose Mensch der Zukunft macht nur von seinen Fingern Gebrauch. Er wählt, statt zu handeln. Er drückt auf Tasten, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Sein Leben ist kein Drama, das ihm Handlungen aufnötigt, sondern ein Spiel.«541 Handeln meint in diesem Zusammenhang, von seiner Freiheit Gebrauch machen zu können, die mehr ist, als eine bloß konsumisti­ sche Wahl mittels technischer Gerätschaften zu treffen.

4.8 Technik in der Hand des Menschen oder der Mensch in der Hand der Technik? Exemplarische Positionen aus dem 20. Jahrhundert Im 20. Jahrhundert ist die Frage, welche Rolle der Technik im mensch­ lichen Leben zukommt und wie es um die Beziehung des Menschen zu ihr und zur Natur bestellt ist, ein wichtiges Thema.542 Wir treffen hier auf Vorstellungen, die uns inzwischen schon bekannt sind, nun aber Fahrt aufnehmen. Die Natur sei zu überwinden, die Technik sei die Hoffnung des Menschen. Vollmundig formuliert etwa Filippo Tom­ maso Marinetti im Jahre 1911: »Bisogna dunque preparare l’immi­ nente e inevitabile identificazione dell’uomo col motore.«543 Ihren Nachhall scheinen derartige Überzeugungen in aktuellen Debatten über Cyborgs zu finden, mit denen wir uns im zweiten Gang noch 540 Durch die Digitalisierung verändert sich viel. Daten werden gesammelt, Informa­ tionen ausgetauscht. Diese werden produziert und konsumiert. Menschliche Bezie­ hungen lassen sich jedoch nicht einfach digitalisieren; sie verarmen, wenn sie nicht mehr real stattfinden. Es bleibt stets eine Lücke. Eine Welt der perfektionierten Digitalisierung ist nicht bewohnbar. 541 Han, B.-C.: Undinge. Umbrüche der Lebenswelt, Berlin 2021, S. 16. 542 Nach einem Aufsatz von Carl Schmitt aus dem Jahr 1929 sei der Beginn des 20. Jahrhunderts durch einen geradezu schon »religiösen Glaube[n] an die Technik« zu charakterisieren (Schmitt, C.: Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisie­ rungen, in: Schmitt, C.: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Ver­ sailles 1929–1939, Berlin 31994, S. 138–150, hier S. 142). 543 »Bereiten wir die bevorstehende und unvermeidliche Verschmelzung des Men­ schen mit dem Motor vor.« (Marinetti, F. T.: L’uomo moltiplicato e il regno della mac­ china, 1911, zit. nach: Mraček, W.: Simulierte Körper. Vom künstlichen zum virtuellen Menschen, Wien 2004, S. 166).

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4.8 Technik in der Hand des Menschen oder der Mensch in der Hand der Technik?

beschäftigen werden. Die technische Beherrschung der Welt durch den technisierten Menschen ist auch Stoff für das Musiktheater: Kurz vor dem Ersten Weltkrieg und zu einer Zeit, als die Erforschung des Weltraums in greifbarere Nähe rückt, wird die futuristische Oper Sieg über die Sonne von Alexei Krutschonych, Welimir Chlebnikow, Michail Matjuschin und Kasimir Malewitsch uraufgeführt. In den 1920er Jahren werden verschiedene Aspekte der Mecha­ nisierung des Lebens thematisiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg steht besonders vor Augen, dass mit Hilfe von Technik eben auch erschreckende Grausamkeiten durchgeführt und viele Menschenle­ ben ausgelöscht werden können. Der Abwurf der Atombombe löst Debatten darüber aus, ob Technik überhaupt noch in der Hand des Menschen liegt oder wir nicht bereits Marionetten einer übermächti­ gen Technik sind. Während es für die Alten bekanntlich vornehmlich das Staunen war, das zum Philosophieren führt, ist es für manche Vertreter des 20. Jahrhunderts ein Unbehagen gegenüber den Begleit­ erscheinungen der Technisierung, ja ein Erschrecken angesichts der Zerstörung der Natur, das zur philosophischen Reflexion anspornt. Angesichts erheblicher Konsequenzen für das Menschengeschlecht und den gesamten Erdball gilt es, Orientierung im Denken zu gewin­ nen. Seit den 1950er Jahren wird der Computer immer wichtiger. Heute ist er kaum mehr aus einer Wohnung wegzudenken.544 Die 1970er Jahre sind geprägt durch die ökologische Krise. Die Verletz­ lichkeit der Natur tritt neu ins Bewusstsein. Die Auswirkungen einer modernen, industriell geprägten Gesellschaft werden in Grenzen des Wachstums des Club of Rome fokussiert.545 Nachdenken über die Folgen von Technik löst u. a. auch der Reaktorunfall in Tschernobyl im Jahre 1986 und in Fukushima im Jahre 2011 aus. Michio Kaku, einer der Väter der Stringtheorie, erinnert an die Aussage eines Bevollmächtigten des amerikanischen Patentamtes aus dem Jahr 1899. Dieser war überzeugt: »Alles, was erfunden werden kann, ist bereits erfunden worden.« (Zit. nach: Kaku, M.: Die Zukunft der Physik. Unser Leben in 100 Jahren, Reinbek bei Hamburg 7 2016, S. 19) Ganz ähnlich auch die Überzeugung von Thomas Watson, ehemaliger Chef von IBM. Jener meinte 1943: »Ich denke, es gibt einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer.« (Zit. nach: a. a. O., S. 20) Wir Heutigen mögen darüber vielleicht schmunzeln, insofern hier der wissenschaftlich technologische Fortschritt offensicht­ lich gänzlich falsch eingeschätzt wurde. 545 Vgl. Meadows, D. / Zahn, E. / Milling, P.: Die Grenzen des Wachstums, Stutt­ gart 1972. 544

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Technik ist heute global: Unabhängig von religiösen, sozialen und kulturellen Unterschieden der Menschen finden wir Technik überall auf dem blauen Planeten. Ja, der Hoheitsbereich der Technik wird (spätestens seit der Industriellen Revolution) größer und größer, ihr Einfluss auf uns und gesellschaftliche Strukturen wächst. Mit ihr verbinden wir Fortschritte und Wohlstand, aber auch unerbetene Effekte und Gefahren. Letztere müssen gar nicht immer sofort offen zu Tage liegen, sondern können, durchaus auch für eine längere Zeit, verdeckt sein. Dies macht deutlich, dass es wichtig ist, klar zu sagen, wie eine wünschenswerte Entwicklung aussehen sollte und wie eben nicht.546 Technik und Wissenschaft sind heute eng verflochten, treiben sich gegenseitig an: So ist es beispielsweise möglich, durch neue technische Errungenschaften Bereiche zu erschließen, die vorher noch als verschlossen gelten mussten. Dadurch, dass Technik in bisher unzugängliche Bereiche eindringt, vermag sich auch unser Blick auf das Hier und Jetzt zu verändern. In diesen Zusammenhang ist die Überlegung von Paul Feyerabend einzuordnen, »daß die Praxis der Fernrohrbeobachtung und die Bekanntschaft mit neuen Berichten nicht nur das veränderte, was man durch das Fernrohr sah, sondern auch das, was man mit bloßem Auge sah«547. Übertragen wir das auf den Bereich der Gentechnologie: Unabhängig davon, ob wir die Mög­ lichkeiten von Gentherapie und Keimbahntherapie in Anspruch zu nehmen wünschen, hat sich dadurch unsere Sicht auf den Menschen und das Verständnis von Krankheit geändert. Technik prägt heute in vielfältiger Weise unser Leben: sei es, dass wir einen Freund mit dem Telefon anrufen oder abends das Licht einschalten, um noch im Bett lesen zu können. Heute ist es so, dass wir wissen, wo wir z. B. einen Laptop einschalten, aber nicht immer wissen, wie diese Geräte arbeiten. Wenn etwas technisch machbar ist, erscheint der Verzicht auf Technik nicht selten als schwierig oder gar schon unmöglich. Wer ohne ein Mobiltelefon im Alltag auskommen will, wird schnell feststellen, von verschiedenen gesellschaftlichen Möglichkeiten und Angeboten ausgeschlossen zu sein. Als gut und richtig gilt, was tech­ 546 Vgl. auch Hösle, V.: Warum ist die Technik ein philosophisches Schlüsselpro­ blem?, in: Hösle, V.: Praktische Philosophie in der modernen Welt, München 1995, S. 87–108; Jonas, H.: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technolo­ gische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1984. 547 Feyerabend, P.: Wider den Methodenzwang, Frankfurt a. M. 132013, S. 160.

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4.8 Technik in der Hand des Menschen oder der Mensch in der Hand der Technik?

nisch machbar ist. Zunehmend rechtfertigungsbedürftig erscheint, auf verschiedene technische Optionen verzichten zu wollen. E-Mails und Smartphones haben eine wichtige soziale Funktion und unsere Weise zu kommunizieren verändert. Aber auch wenn für Bankgeschäfte und Internetkäufe nur noch eine PIN benötigt wird, wissen wir, dass dadurch eine persönliche Kommunikation von Ange­ sicht zu Angesicht nicht ersetzt werden kann. Technik kann hilfreich sein, um bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen. Sie kann auch selbst zum Bedürfnis werden und neue Bedürfnisse wecken.548 Ein Smart­ phone verleitet schnell dazu, die Welt durch die Bildschirmoberfläche zu betrachten. Informationen werden hierüber schnell beschafft und ausgetauscht. »Das Smartphone verschärft […] die Hyperkommuni­ kation, die alles einebnet, glattschleift und letzten Endes gleichschal­ tet. Wir leben zwar in einer ›Gesellschaft der Singularitäten‹, aber in ihr kommt paradoxerweise das Singuläre, das Unvergleichbare, kaum vor.«549 Um eine wirkliche Begegnung mit dem Anderen geht es im Kontext der Hyperkommunikation jedoch gerade nicht.550 Zur Technik gehört es, Unsicherheiten abzuschütteln, worin ein besonderer Reiz zu liegen scheint. Technik macht den Alltag handhab­ bar, vorhersagbar. Sie legt bestimmte Handlungsmuster nahe. »Technik ›fixiert‹ Handlungen in der Weise, dass sie durch ihre schein­ bare Einfachheit und Selbstverständlichkeit implizit vorgibt, wie zu handeln ist, ohne dass die Komplexität der Handlungsalternativen präsent zu bleiben braucht […]. [D]en Erfolg der technischen Lösung [gibt es] nur um den Preis der Standardisierung«551.

Natürlich besteht immer auch eine Gefahr, alles an die Technik zu delegieren und sogar von ihr abhängig zu werden. Es ist schließlich auch bequem, unmündig zu sein, wie schon Kant feststellt: »Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt […], so

548 Vgl. Hösle, V.: Warum ist die Technik ein philosophisches Schlüsselproblem?, in: Hösle, V.: Praktische Philosophie in der modernen Welt, München 1995, S. 87–108, hier S. 91. 549 Han, B.-C.: Undinge. Umbrüche der Lebenswelt, Berlin 2021, S. 30. 550 Vgl. a. a. O., S. 36. 551 Maio, G.: Werte für die Medizin. Warum die Heilberufe ihre eigene Identität vertei­ digen müssen, München 2018, S. 70.

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brauche ich mich ja nicht selbst bemühen.«552 »Experten« ersetzen das eigene Nachdenken. Technik kann Räume der Freiheit weiten und einschränken. Für den Menschen stellt sie einen großen Gewinn dar – und das freilich nicht nur, weil er seine Gewinne dadurch mehren kann. Durch Technik kann er sich selbst allerdings auch verlieren. Sie hilft, zu optimieren, kann den Menschen aber auch überfordern und das, was individuell und liebenswert ist, überdecken. Vieles, was einmal als Anker dienen konnte, hat sich heute verflüchtigt; vieles ist fraglich geworden. Durch Technik und Wissen­ schaft haben sich Lebensformen verändert, ja beschleunigt. Mögli­ cherweise auch, weil für viele Zeitgenossen von eschatologischen Perspektiven eine geringere Strahlkraft ausgeht, als es zu früheren Zeiten der Fall war, muss das Leben im Hier und Jetzt beschleunigt, müssen möglichst viele Ereignisse aneinandergereiht werden. Hart­ mut Rosa führt die erstaunliche Entwicklung der Technik im 19. und zurückliegenden 20. Jahrhundert wie auch die soziale Beschleu­ nigung der Menschen auf eine technische und ökonomische Beschleu­ nigung zurück. Technische Beschleunigung bedeute z. B., dass man für eine Tätigkeit weniger Zeit benötige als unsere Vorfahren.553 Moderne Technik führe zu zahlreichen Veränderungen der sozialen Realität, z. B. hinsichtlich der Beziehung zu Raum und Zeit: »Abläufe und Prozesse sind nicht länger lokalisiert, und tatsächliche Orte wie Hotels, Banken, Universitäten und Industrieanlangen tendieren dazu, ›Nicht-Orte‹ zu werden, also Orte ohne Geschichte, Identität oder Beziehung.«554 Rosa zeichnet die Moderne als ein Zeitalter der Beschleunigung. Unsere modernen Gesellschaften seien durch ein strenges Zeitregime durchreguliert.555 Der technische Fortschritt, so zeigt Rosa an ver­ schiedenen Beispielen immer wieder auf, bringe keineswegs einen Zeitgewinn mit sich. Im Gegenteil: Es entstehe viel eher eine Zeitnot. Heute könne man dank des Internets Kommunikation viel schneller betreiben. Eine Mail ist schneller geschrieben und versendet als ein Brief. Freie Zeitressourcen seien dadurch nicht gewonnen, insofern Kant, I.: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: AA Bd. VIII, S. 35. Vgl. Rosa, H.: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2018, S. 30. 554 Rosa, H.: Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer Kritischen Theorie spät­ moderner Zeitlichkeit, Berlin 62018, S. 21. 555 Vgl. a. a. O., S. 8. 552

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die meisten Menschen mehr Zeit für Kommunikation benötigen als vor der Erfindung des Internets. Ganz ähnlich sehe die Situation bei der Einführung von Autos und Waschmaschinen aus. Mit einem Auto können wir uns schnell von A nach B bewegen; unsere Kleidung können wir heute viel einfacher reinigen als Generationen vor uns. Wir legen aber, so Rosa, weit größere Distanzen als früher zurück bzw. haben unser Verhalten derart geändert, dass wir heute jeden Tag die Wäsche wechseln.556 Viele Zeitgenossen sähen sich nicht in der Lage, die kaum zu überblickende Fülle an Möglichkeiten, er spricht von einer »Explosion der Weltoptionen«557, auszuschöpfen. Die Beschleunigungsrate werde stetig weiter gesteigert. Es gebe eine Tendenz, immer mehr in immer weniger Zeit zu tun. Menschen fühlten sich getrieben. Im Anschluss an Lübbe spricht er davon, dass Gegenwart »schrumpfe«.558 Wir haben gesehen, dass Hegel und Marx von »Entfremdung« gesprochen haben, um ein gestörtes Welt- und Selbstverhältnis zu beschreiben. Hieran knüpft Rosa an. Soziale Beschleunigung führe zu Formen der sozialen Entfremdung: Menschen verfolgen Ziele und führen Handlungen aus, zu denen sie nicht von anderen gezwun­ gen werden. »Entfremdung bezeichnet […] eine Form der Welterfahrung, in der das Subjekt den eigenen Körper, die eigenen Gefühle, die dingliche und natürliche Umwelt oder aber die sozialen Interaktionskontexte als äußerlich, unverbunden und nichtresponsiv beziehungsweise als stumm erfährt. […] Entfremdung [wird] immer dann und dort über­ wunden, wo Subjekte in der Interaktion die Erfahrung machen, dass sie von anderen oder anderem berührt werden, dass sie aber auch selbst die Fähigkeit haben, andere(s) zu berühren«559.

Im vorliegenden Kapitel müssen wir uns auf exemplarische Posi­ tionen beschränken. Wir können diese anhand der Frage ordnen, welche Rolle dabei dem Menschen im Spannungsfeld von Natur und Technik zukommen soll. Ist er nur ein Handlanger der schon längst übermächtig gewordenen Technik oder hat er noch die Zügel in der Hand? Vgl. Rosa, H.: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2018, S. 32. A. a. O., S. 41. 558 Vgl. Rosa, H.: Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit, Berlin 62018, S. 23 f. 559 Rosa, H.: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2018, S. 306. 556

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Es gibt also Positionen, die der Technik selbst eine Subjektrolle zuweisen, andere, die eher die gestaltende Kraft des Menschen resp. der Gesellschaft hervorkehren.560 Zum Reigen der ersten Gruppe können Technikoptimisten wie auch solche gehören, die stets Beden­ ken gegenüber technischen Neuerungen haben. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass der Technik eine gewisse Eigenmächtigkeit unterstellt wird. Man ist sich hier – bei aller Unterschiedlichkeit – durchaus einig, dass von der Technik weitgehende gesellschaftliche und soziale Veränderungen ausgehen. Die zweite Gruppe ist insgesamt kaum einheitlicher als die erste, aber auch hier gibt es gewisse Familien­ ähnlichkeiten: So ist man hier etwa daran interessiert, gesellschafts­ politische und ökonomische Rahmenbedingungen zu benennen, die auf technische Entwicklungen einen Einfluss ausüben. Betont wird in diesem Kontext die Rolle des Menschen, in dessen Hand Technik liegt. Es ist wohl so, dass beide Seiten durchaus Richtiges ansprechen, weder die eine noch die andere Seite letztlich ganz richtig liegt. Zwischen Menschen, Gesellschaft und den vom Menschen hervor­ gebrachten Technologien gibt es zahlreiche Wechselwirkungen. Der Mensch bringt Technik hervor, die wiederum auf ihn zurückwirkt.

4.8.1 Technik als Resonanzphänomen zur Selbstdeutung des Menschen: Gehlen In diesem Kontext ist auch Gehlen zu nennen. Sein sympathisches Grundanliegen ist es, Überlegungen zur Technik mit modernen bio­ logischen Erkenntnissen zu verknüpfen, um so eine tiefere Antwort darauf vorlegen zu können, was unser Menschsein ausmache. Er will in der Entwicklung der Technik vor allem eine Antwort auf eine angeblich mangelhafte organische Ausstattung des Menschen sehen.561 Insofern ist er ein moderner Vertreter der eben erwähnten Ansicht, Technik könne einen Organmangel des Menschen ausglei­ Hinsichtlich dieses Ordnungskriteriums sei auch verwiesen auf: Zoglauer, T. / Weber, K. / Friesen, H. (Hrsg.): Technik als Motor der Modernisierung, Freiburg / München 2018. 561 Vgl. Gehlen, A.: Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt a. M. 2016 (text- und seitengleich mit Bd. 3.1 der Arnold Gehlen Gesamtausgabe); Gehlen, A.: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2007 (text- und seitengleich mit Bd. 6 der Arnold Gehlen Gesamtausgabe), insbes. S. 5–23. 560

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chen. Aristoteles hatte eine solche Sichtweise mit dem Verweis auf die Vorzüglichkeit des Leibes und der Hand als dem brauchbarsten Organ beantwortet. Technik ist dem Menschen als Vernunftwesen quasi in die Hand gelegt.562 562 Mit der Annahme, der Mensch sei nur unzureichend auf die Umwelt eingestellt, weshalb er eben auf Technik angewiesen sei, beschäftigt sich schon Aristoteles und weist dies zurück. Er macht seinen Gegeneinwand in De partibus animalium durch einen Verweis auf die menschlichen Hände deutlich. (Aristoteles: De partibus anima­ lium IV 10, 687 a 20 ff.) Kapp hat, wie wir gesehen haben, hieran angeknüpft. Die besondere Stellung des Menschen werde, so Aristoteles, durch den Gebrauch seiner Hände deutlich. Die Hand sei nicht einfach ein Werkzeug, sondern ein Organ, welches im Sinne ganz verschiedener Werkzeuge benutzt werden könnte und sich daher als besonders nützlich und vielseitig erweise. Sie kann zur Klaue, zum Huf, zum Horn oder auch zum Speer und zum Spieß werden bzw. auch noch ganz anders eingesetzt werden. Nicht umsonst sprechen wir ja auch heute noch davon, etwas oder jemanden in die Hand zu bekommen. Der Mensch, so Aristoteles, habe zwei Hände, eben weil er die besondere Begabung hat, diese auch angemessen nutzen und sich verschiedene technische Fähigkeiten zu eigen machen zu können. Der jeweiligen Situation ent­ sprechend kann er technisch etwas in die Hand nehmen. Also: Insofern dem Menschen eine herausgehobene Stellung schon aufgrund seiner Vernunftbegabung zukomme, verfüge er auch über Hände (Aristoteles: De partibus animalium IV 10, 687 a 8–16). Er schreibt: »Die Natur schafft die Organe für die Funktion, aber nicht die Funktion für die Organe.« (A. a. O, IV 12, 694 b) Anaxagoras hatte das Argument etwas anders aufgezogen: Weil der Mensch Hände habe, die so besonders sind, sei er auch in beson­ derer Weise vernünftig und nehme eine besondere Rolle innerhalb der lebendigen Wesen ein. (Vgl. a. a. O., IV 10) Die aristotelische Argumentation lässt sich schön an einem Beispiel verdeutlichen: So kann sich wohl unschwer eine größere Effektivität einstellen, wenn ich einem Konzert-Violinisten eine Geige gebe, als andererseits jemandem, der zwar im Besitz einer besonderen Geige ist, und sei es eine Stradivari, aber noch nie eine Stunde Musikunterricht in seinem Leben hatte. (A. a. O., IV 10, 687 a 16- b 5) Das Besondere der menschlichen Hände wird auch von Cicero hervorgehoben (siehe hierzu: Marcus Tullius Cicero: De natura deorum / Über das Wesen der Götter, latei­ nisch / deutsch, übersetzt und herausgegeben von U. Blank-Sangmeister, Stuttgart 1995, S. 251–259). Der Renaissancephilosoph Marsilio Ficino formuliert den Gedan­ ken, der Mensch sei ein Mängelwesen, verbindet diese Vorstellung aber mit einer theozentrischen Perspektive. Anders als bei den Tieren sei der menschliche Leib sehr gebrechlich und schwach. Gerade so aber sei er in der Lage, der Seele, welche sich auf das Göttliche hin ausstrecke, zu dienen. Ficino betont hier also den Vorzug der menschlichen Schwäche. (Vgl. Hoffmann, T. S.: Philosophie in Italien. Eine Einführung in 20 Porträts, Wiesbaden 2007, S. 87–105, hier S. 98) Diese Perspektive fällt, wie wir noch sehen werden, bei modernen Autoren wie z. B. Moravec weg bzw. wird durch eine technische Sicht ersetzt. Dabei kann die Sichtweise, dass der Mensch ein Män­ gelwesen ist, auch unabhängig von einem theologischen Bezug wie bei Ficino den Gedanken stark machen, dass der Mensch eben nicht »fertig«, nicht »abgeschlossen« ist, sondern unabgeschlossen und offen auf Entwicklung hin. (In diesem Sinne

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Baut der Mensch ein Flugzeug, weil er einen Mangel empfindet, nicht wie ein Spatz in den Himmel aufsteigen zu können? Oder baut er es, weil es seiner Intelligenz und seinen kreativen Fähigkeiten entspricht und er schneller von A nach B reisen möchte? Technik hat auch eine spielerische Dimension, die bei der Rede vom Mangel nicht im Blick ist. Anders formuliert: Technik kann nicht allein als

z. B. Blumenberg, H.: Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1981, S. 104–136, bes. S. 104) Durch ihre Aristoteles-Lektüre geprägt, betonen in diesem Sinne auch Hegel (Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, hrsg. von E. Moldenhauer / K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1986, S. 236 f.) im 19. und Heidegger (Heidegger, M.: Was heißt Denken? (1951–1952), HeiGA 8, Frankfurt a. M. 2002, S. 18) im 20. Jahrhundert die besondere Rolle der Hand: Hegel hebt darauf ab, dass sich dank ihr der Mensch als Freiheitswesen verwirklichen und zur Erscheinung bringen könne, Heidegger betont den Unterschied zu tierischen Greiforganen. »Nur ein Wesen, das spricht, d. h. denkt kann die Hand haben und in der Handhabung Werke der Hand vollbringen.« (Ebd.) Hans-Eduard Hengstenberg weist die Rede vom Menschen als Mängelwesen zurück (vgl. Hengstenberg, H.-E.: Philosophische Anthropologie, Stuttgart 1957, S. 93 ff.) und hebt ebenfalls auf die Vorzüge der menschlichen Hand ab. Sie weise im Unterschied zur tierischen Greifhand eine besondere Spezialisiertheit auf und »ist selbst kein Werkzeug, eben weil sie alle Werkzeuge entspringen läßt«. (A. a. O., S. 91). Sie sei »ausdruckshaft«, könne den Menschen in seiner Ganzheit repräsentieren (vgl. a. a. O., S. 92). Man könne Werkzeuge nicht »als Ersatz für Organminderwertigkeiten« bezeichnen, womit er u.a. auf Scheler Bezug nimmt: »Die Werkzeugbildung setzt ja gerade vollendete Organe beim Menschen voraus.« (A. a. O., S. 97) In eine ähnliche Stoßrichtung argumentiert auch Heinrich Popitz, der unterstreicht, dass Technik eine besondere Organeignung zur Voraussetzung habe. Sie könne, wie ja das Beispiel frü­ her Technik unschwer zeige, seine Fähigkeiten verstärken. Insofern sei die Rede von »Organverstärkung« durchaus sinnvoll. Im aristotelischen Sinne hält er fest: »Das Werkzeug verstärkt die Hand, – aber gerade die menschliche Hand ist ein schlechter Indikator für die ›Organmängel‹ des Menschen.« (Popitz, H.: Der Aufbruch zur Arti­ fiziellen Gesellschaft. Zur Anthropologie der Technik, Tübingen 1995, S. 56) Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Arbeit Hand und Wort von André Leroi-Gourhan. Er argumentiert, Sprachvermögen und technische Möglichkeiten des Menschen hätten sich gemeinsam entfaltet. Mit ihren Händen hätten unsere Vorfah­ ren Nahrung gesammelt, zerlegt, zum Verzehr zubereitet und schließlich gegessen. »Die freie Hand führt fast notwendig zu einer technischen Aktivität, die von der des Affen verschieden ist; ihre Freiheit bei der Fortbewegung verlangt im Verein mit dem Fehlen offensiver Reißzähne die Verwendung […] von Werkzeugen […].« (LeroiGourhan, A.: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a. M. 1980, S. 36) Insofern dadurch das Gebiss von verschiedenen anderen Aufgaben, die es zuvor übernommen hatte, entlastet wurde, wäre dies der Startschuss für die Entwicklung der Sprache gewesen. »Die Hand setzt die Sprache frei.« (A. a. O., S. 42).

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Kompensation für Schwächen und Mängel beschrieben werden: Mit ihr ist es möglich, etwas ganz Neues zuwege zu bringen. Gehlen zählt zweifellos zu den Denkern, die im zurückliegen­ den 20. Jahrhundert der Anthropologie wichtige und facettenreiche Impulse gegeben haben. Auch zur modernen Malerei, zu soziologi­ schen Fragen hat er gearbeitet. Es ist nach wie vor lohnenswert, sich mit seinen Arbeiten auseinanderzusetzen. In seiner 1940 erstmals erschienenen und zehn Jahre später (nicht zuletzt auch aus politischen Gründen) überarbeiteten und um eine Institutionenlehre erweiterten Arbeit Der Mensch, die als sein Hauptwerk gilt, wird Handeln als eine Schlüsselkategorie zum Verständnis des Menschen herausdestilliert.563 Der Mensch sei sich selbst eine Aufgabe, sei eben nicht einfach »festgestellt«, wie Gehlen schreibt.564 Seine Sicht vom Menschen ist insbesondere dadurch geprägt, dass er ihm eine biologische Ausstattung attestiert, die defizi­ tär sein soll.565 Er spricht daher vom »Mängelwesen« Mensch.566 Der Mensch habe im Naturganzen wohl eine Sonderstellung, aber eben unter negativen Vorzeichen. Eine organische Spezialisierung habe der Mensch laut Gehlen nicht vorzuweisen.567 Defizite, so Gehlen, glei­ che der Mensch durch kompensatorische Leistungen aus. Stets und ständig müsse der Mensch um sein Überleben kämpfen, da er nicht in eine bestimmte Umwelt eingepasst sei, was zur Folge habe, die ihn umgebende Wirklichkeit lebensdienlich gestalten zu müssen.568 Hiermit ist ein weiterer Kernbegriff der Gehlen’schen Anthropologie

563 Vgl. Gehlen, A.: Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt a. M. 2016 (text- und seitengleich mit Bd. 3.1 der Arnold Gehlen Gesamtausgabe), S. 47 ff., 272 ff. 564 Vgl. a. a. O., S. 30. 565 Vgl. a. a. O., S. 31, 95 ff. 566 Vgl. a. a. O., S. 59 ff. 567 Vgl. a. a. O., S. 32, 95 ff. 568 Der Mensch »bewältigt tätig die Wirklichkeit um ihn herum, indem er sie ins Lebensdienliche verändert, weil es eben natürliche, von selbst angepaßte Existenzbe­ dingungen außer ihm nicht gibt oder weil die natürlichen unangepaßten Lebensbe­ dingungen ihm unerträglich sind. Und, von der anderen Seite gesehen, holt er damit aus sich eine sehr komplizierte Hierarchie von Leistungen heraus, ›stellt‹ in sich selbst eine Aufbauordnung des Könnens ›fest‹, die in ihm bloß der Möglichkeit nach liegt, und die er durchaus eigentätig, auch gegen innere Belastungen handelnd, aus sich herauszuzüchten hat. D. h. der Inbegriff menschlicher Fähigkeiten, von den elemen­ tarsten bis zu den höchsten, wird von ihm in Auseinandersetzung mit der Welt erst eigentätig entwickelt« (A. a. O., S. 36).

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verknüpft: jener der Weltoffenheit. Gehlen übernimmt den Begriff von Scheler.569 Was genau meint diese »Offenheit« bei Gehlen? Nicht aufgrund der Geistbegabtheit, so Gehlen, sondern aufgrund der genannten Defizite sei der Mensch »weltoffen«. Der Technik kommt in dem Zusammenhang die Aufgabe zu, für Entlastung im komplizier­ ten Naturverhältnis zu sorgen. Dies greift Gehlen dann in seiner 1957 publizierten Arbeit Die Seele im technischen Zeitalter auf, die wohl seine, was die Verkaufszahlen angeht, erfolgreichste Arbeit war.570 Nachdem er hier auf die Zweideutigkeit der Technik, die zum Guten wie zum Bösen verwendet werden könne, verwiesen hat, greift Gehlen erneut seine Vorstellung des Mängelwesens Mensch auf, um Technik als Prinzip des Organersatzes, der Organverstärkung sowie als Entlas­ tung des Menschen zu interpretieren. »Wer im Flugzeug reist, kann alle drei Prinzipien in einem haben: es ersetzt die uns nicht gewachsenen Flügel, überbietet weit alle organischen Flugleistungen überhaupt und erspart unserer Fortbewegung über ungeheure Entfernungen jegliche Eigenbemühung.«571 Gehlen geht noch einen Schritt weiter, indem er der Technik eine eigene Logik unterstellt und ihr Subjektcharakter bescheinigt. Positiv wird vermerkt, dass sie geistreich und lebensför­ dernd sei, negativ, dass sie trickreich und lebenszerstörend sei.572 Die Vorstellung von Technik als angewandter Naturwissenschaft wird von ihm zurückgewiesen. Angemessener sei es, von einem Zusammenwirken und gegenseitigen Aufeinanderangewiesensein von Technik, Naturwissenschaften sowie Industrie auszugehen.573 Gehlen spricht auch von einem »akademische[n] Vorurteil«, dass Technik stets rational resp. auf bestimmte Zwecke angelegt sei.574 Technik sei ein »Resonanzphänomen«: zur Selbstdeutung sei der Mensch auf Nichtmenschliches angewiesen – und hier komme das vom Menschen Gemachte ins Spiel.575 569 Vgl. Scheler, M.: Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bonn 182010, S. 40. Plessner hatte, wie wir im Rahmen unserer Ausführungen zum Begriff der »Grenze« oben bereits ausgeführt haben, von der exzentrischen Positionalität des Menschen gesprochen. 570 Gehlen, A.: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2007 (text- und seitengleich mit Bd. 6 der Arnold Gehlen Gesamtausgabe). 571 A. a. O., S. 7. 572 Ebd. 573 Vgl. a. a. O., S. 12. 574 A. a. O., S. 17. 575 Vgl. a. a. O., S. 16.

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4.8.2 Der Einfluss technischer Begriffe auf alle Bereiche des menschlichen Lebens: Guardini und Anders Im Folgenden gilt es auf zwei Denker näher einzugehen, die – bei aller Unterschiedlichkeit -einen zunehmenden Einfluss technischer Begriffe auf alle Bereiche des menschlichen Lebens konstatieren. Ein verbindendes Band kann darin erblickt werden, dass es ihnen um die Denkweise geht, die hinter dieser Entwicklung steht. Beide thematisieren ein Perfektionsdenken, das immer stärker um sich greife. Die Rede ist von Romano Guardini und Günther Anders. In seinen Briefen vom Comer See aus den 1920er Jahren beschäf­ tigt sich Guardini mit den Schattenseiten von Wissenschaft und Technik.576 Nicht weniger als die »Menschlichkeit« des Menschen und seiner technischen Entwicklungen, so der Religionsphilosoph, stünde auf dem Spiel. Es ziehe eine Welt herauf, in der es schwieriger werde zu leben: eine Welt, die der Mensch sich einerseits zu beherrschen anschickt, an der er andererseits aber auch leidet. »Diese Herrschaft ist […] mit Leben bezahlt. Der Mensch steht nun nicht mehr in der ersten lebendigen Beziehung zum leibhaftigen Ding, zum leibhaftigen Men­ schen. Er steht in einer ›abgezogenen‹, künstlichen Welt, in einer Ersatzwelt, in einer Welt von Uneigentlichkeiten und meinenden Zei­ chen.«577 In diesem Zusammenhang konstatiert Guardini bereits eine Veränderung der Biologie als Wissenschaft: Sie werde »zur Technik ausgebaut«578, wobei es sich um eine »Technik zur Beherrschung des lebendigen Menschen«579 handle. »Immer künstlicher wird die Sphäre, in der wir leben; immer weniger menschlich«580. Gleichwohl sei eine Flucht vor der Technik nicht der richtige Weg. Viel eher müsse es darum gehen, sich reflektierend zu den eigenen Möglichkeiten zu verhalten, Macht zu verantworten, die in immer schnellerem Zeitmaß zunähmen.581 Bis in die Neuzeit hinein sei die Vorstellung von einem »huma­ nen« Menschsein prägend gewesen, wie er in seinem viel beachte­

576 577 578 579 580 581

Guardini, R.: Die Technik und der Mensch. Briefe vom Comer See, Mainz 21990. A. a. O., S. 29. A. a. O., S. 51. Ebd. A. a. O., S. 25. A. a. O., S. 103.

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ten Werk Das Ende der Neuzeit darlegt.582 Doch der Mensch habe nicht zuletzt durch die Technik, deren Wirkungen er nicht mehr so einfach »durchfühlen« könne, einen unmittelbaren Zugang zur Natur verloren. Das Verhältnis zu ihr sei vor allem durch Apparate vermittelt und durch Berechnungen bestimmt, insofern formelhaft und abstrakt geworden.583 »Den Menschen, der so lebt, nennen wir den ›nicht-humanen‹ Menschen.«584 Natur begegne vor allem als das Fremde und werde nicht mehr erfahren. Vieles sei durch Technik zum Verschwinden gebracht, was er mit dem Ausdruck »nicht-natür­ liche Natur« zu charakterisieren versucht.585 »Diese beiden Phäno­ mene: der nicht-humane Mensch und die nicht-natürliche Natur bilden einen Grundbezug, auf dem das kommende Dasein aufbauen wird«586, so Guardini. Das menschliche Schaffen beschreibt er folgen­ dermaßen: »Ihm fehlt das Organische im Sinne des Wachstums wie der Proportion; es wird gewollt und durchgesetzt.«587 Guardini macht auf Folgendes aufmerksam: In den neuzeitlichen Ausführungen zur Technik kann man immer wieder auf die Begründung stoßen, sie sei hilfreich für das Wohl des Menschen. Uns werden im zweiten Gang der vorliegenden Studie auch verschiedene Begründungen für moderne Biotechnologie begegnen, die – das sei hier vorweggenom­ men – ebenfalls das Wohl für die Menschheit hervorkehren. Guardini jedenfalls bleibt hier skeptisch. »Der Mensch, der sie trägt, weiß, daß es in der Technik letztlich weder um Nutzen noch um Wohlfahrt geht, sondern um Herrschaft; um eine Herrschaft im äußersten Sinn des Wortes, sich ausdrückend in einer neuen Weltgestalt.«588 An anderer Stelle spricht Guardini von der »Unvollständigkeit« des modernen Menschen.589 Wenn Guardini von der Unvollstän­ digkeit des Menschen spricht, wird daraus nicht geschlussfolgert, technische Eingriffe seien unbedenklich bzw. es gebe gar eine Art Verpflichtung zur biotechnologischen Veränderung des Menschen. 582 Vgl. Guardini, R.: Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung, in: Guar­ dini, R.: Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung / Die Macht. Versuch einer Wegweisung, Mainz / Paderborn 1986, S. 9–94, hier S. 59. 583 Vgl. a. a. O., S. 60. 584 A. a. O., S. 61. 585 A. a. O., S. 62. 586 A. a. O., S. 63. 587 A. a. O., S. 75. 588 A. a. O., S. 51. 589 Guardini, R.: Der unvollständige Mensch und die Macht, Würzburg 21958.

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Unvollständig heißt hier vielmehr, dass etwas verloren gegangen ist, im Laufe der Zeit auf der Strecke geblieben ist. Nach seiner Diagnose habe der Mensch seit der Neuzeit die nötige Distanz zur technischen Entwicklung, den richtigen Maßstab zur Beurteilung jener Dinge, von denen die Zukunft der Menschen abhängen wird, wie auch die innere Freiheit gegenüber den hiermit verbundenen Interessen und Problemen verloren.590 Der Mensch müsse einen neuen Umgang mit der eigenen Macht lernen und bei allem Erfinden und Hervorbringen die Frage im Blick behalten, was aus ihm selbst werden solle.591 Es sei wichtig, Distanz zur Welt neu einzuüben, um ihr gegenüber Stand sowie eine neue Freiheit des Sehens und Tuns zu gewinnen. »Was jedem wertschaffenden Verhalten zur Welt zugrunde liegt, ist der Akt, in welchem der Mensch Abstand vom unmittelbar Gegebenen nimmt. Nicht mit dem Zugehen auf die Dinge, sondern mit dem Zurücktreten von ihnen beginnt die Kultur. Erkennen, Bewerten, Entscheiden, Formen und schöpferisches Hervorbringen – alles das hat zur ersten Voraussetzung jene Distanz, welche die Freiheit geistiger Bewegung ermöglicht.«592

Kommen wir nun zu Anders, für den es zu den wichtigsten Aufgaben der Philosophie gehört, Grenzen des Menschen, seiner Vernunft ebenso wie seines Fühlens und Verantwortens, aufzuzeigen,593 und in dessen Arbeiten das Thema Technik und ihre Bedeutung für den Menschen ganz zentral ist: »[S]chließlich leben wir ja nicht vor der Folie von Bienen, Krabben und Schimpansen, sondern vor der von Glühbirnenfabriken und Rundfunkapparaten.«594 Wenn über Technik diskutiert wird, trifft man immer wieder auf das Argument, es komme letztlich darauf an, was ein Mensch aus Vgl. a. a. O., S. 19. Vgl. a. a. O., S. 20. Dem Thema »Macht« widmet Guardini auch eine eigene kleine Schrift (Guardini, R.: Die Macht. Versuch einer Wegweisung, in: Guardini, R.: Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung / Die Macht. Versuch einer Wegweisung, Mainz / Paderborn 1986, S. 95–186). Hier unterstreicht er, dass jene neue Macht, die der Mensch erlernen möge, nicht nur eine über die Natur sei, sondern über die Macht selbst: »das heißt, sie dem Sinn des Menschenlebens und Menschenwerkes unterzuordnen.« (A. a. O., S. 168). 592 Guardini, R.: Der unvollständige Mensch und die Macht, Würzburg 21958, S. 22. 593 Vgl. Anders, G.: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, 51980, S. 18. 594 A. a. O., S. 327. 590 591

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der Technik macht. Sie sei ein Mittel, das selbst weder gut noch böse sei. Einige Autoren verweisen in diesem Sinne z. B. auf ein Messer, das man zum Schälen von Kartoffeln wie auch zur Entführung eines Flugzeuges verwenden könne. Doch so einfach könne man es sich nicht machen, wie Anders meint. Für ihn gibt es Erscheinungen von Technik, die alleine dadurch, dass es sie gibt, schon eine bestimmte Richtung anzeigen, unterschiedliche Optionen gerade nicht zulassen. Noch nicht die Technologie des Zellkerns, sondern die des Atomkerns ist für Anders eine zentrale Frage und lasse sich seiner Ansicht nach nicht in die üblichen Zweck-Mittel-Kategorien einordnen. Sie sei vor allem eine Bedrohung für die Freiheit des Menschen und sein nacktes Überleben. Im Angesicht dessen könne man auch nicht davon ausge­ hen, dass Technik irgendwie neutral sei.595 Menschliche Handlungen seien hier durchaus präsent, nämlich in diese hineinverlagert.596 Das Vorhandensein der Atombombe gibt eine bestimmte Richtung des politischen Agierens bereits vor. Ganz ähnlich kann dies wohl auch auf bestimmte Entwicklungen in der Medizin übertragen werden, etwa die Präimplantationsdiagnostik (PID), die zur Selektion führt. Es geht, so können wir das Argument hier weiterentwickeln, bei der Technik nicht einfach um einen bunten Strauß von Möglichkeiten. Dass es diese und jene Technik gibt, hat bereits mit bestimmten Weichenstellungen zu tun, die das Denken prägen. Anders gehört deutlich in den Kreis jener Denker, die die Eigendynamik der Technik hervorheben und die damit verbundenen Gefahren.597 Zwei Weltkriege und insbesondere der Abwurf der In der Zurückweisung der Annahme, die Technik sei neutral, können wir auch eine Parallele zu Heidegger ausmachen. Eine solche Sichtweise hätte laut Heidegger Tech­ nik vor allem als Instrument im Blick, um etwas auszurichten, zu bestellen: »Wer die Technik als etwas Neutrales nimmt, stellt sie wiederum nur instrumental und d. h. technisch vor.« (Heidegger, M.: Die Gefahr, in: Heidegger, M.: Bremer und Freiburger Vorträge, HeiGA 79, Frankfurt a. M. 22005, S. 46–67, hier S. 59 f.) Die Argumentation von Carl Schmitt geht in eine ähnliche Richtung. Technik sei »Instrument« und »Waffe«. Als solche könne sie von jedermann genutzt werden und sei eben nicht neu­ tral. (Schmitt, C.: Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, in: Schmitt, C.: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1929– 1939, Berlin 31994, S. 138–150, hier S. 146 f.) »[J]ede starke Politik wird sich ihrer bedienen«, so Schmitt 1929 (a. a. O., S. 150). 596 Vgl. Anders, G.: Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen, München 31981, S. 103. 597 Anders steht hier stellvertretend für diese Gruppe. Verwiesen sei auch auf Ernst und Friedrich Georg Jünger, Carl Schmitt und Oswald Sprengler. 595

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4.8 Technik in der Hand des Menschen oder der Mensch in der Hand der Technik?

Atombomben über Hiroshima und Nagasaki mit ihrem riesigen zerstörerischen Potential haben großen Einfluss auf sein Denken und Arbeiten. Der heutige Mensch sei in der Lage, innerhalb kürzester Zeit – quasi per Knopfdruck – sich selbst und den gesamten Planeten Erde zu vernichten.598 Diese Möglichkeit hätte es in der Weise so vorher noch nicht gegeben. Technik sei dem Menschen über den Kopf gewachsen – und insofern übermächtig.599 Horkheimer hatte das so formuliert: »Die Maschine hat den Piloten abgeworfen; sie rast blind in den Raum.«600 Technik habe, davon ist Anders überzeugt, auch den Menschen verändert – und zwar zu einem antiquierten Wesen, das mit seinen eigenen Artefakten nicht Schritt halten könne. Und so spricht er von einem prometheischen Gefälle zwischen dem Menschen und dem von ihm Gemachten, dem menschlichen Herstellen und dem hinterherhinkenden Vorstellungsvermögen. »Durch unsere unbeschränkte prometheische Freiheit, immer Neues zu zeitigen […], haben wir uns als zeitliche Wesen derart in Unordnung gebracht, daß wir nun als Nachzügler dessen, was wir selbst projektiert und produziert hatten, mit dem schlechten Gewissen der Antiquiert­ heit unseren Weg langsam fortsetzen oder gar wie verstörte Saurier zwischen unseren Geräten herumlungern.«601 Vgl. Anders, G.: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, 51980, S. 239 ff. 599 Vgl. z. B. Anders, G.: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, 51980, S. 99 f.; Anders, G.: Die Anti­ quiertheit des Menschen, Bd. II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, S. 9; siehe z. B. auch: Sprengler, O.: Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, München 1932, S. 75; Jünger, F. G.: Die Perfektion der Technik, Frankfurt a. M. 1946, S. 60. 600 Horkheimer, M.: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt a. M. 2007, S. 146. Und in der Dialektik der Aufklärung heißt es in diesem Sinne: »Die Entwicklung der Maschine [ist] in die der Herrschaftsmaschinerie umgeschlagen […], so daß techni­ sche und gesellschaftliche Tendenz, von je verflochten, in der totalen Erfassung der Menschen konvergieren.« (Horkheimer, M. / Adorno, T.: Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente, in: Horkheimer, M. / Adorno, T.: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1987, S. 58). 601 Anders, G.: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, 51980, S. 16. Den Aspekt des Neuen, des Erfindens und Entdeckens, stellt auch Plessner heraus: Plessner, H.: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophi­ sche Anthropologie, Gesammelte Schriften, Bd. IV, Frankfurt a. M. 1981, S. 396 f. 598

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Die Folge dieses Gefälles beschreibt Anders als prometheische Scham. Der Leib des Menschen sei nicht so perfekt wie die von ihm mühevoll fabrizierten, exakt arbeitenden Maschinen.602 Er fühle sich unterlegen und schäme sich laut Anders, einmalig zu sein, selbst ein Gewordener und kein Gemachter zu sein. Dies bringe den Menschen dazu, nach Wegen zu suchen, um seine leiblichen Grenzen in drama­ tischer Weise auszuweiten.603 Der Mensch mache sich damit selbst zum Gemachten, wenn er sich nur noch am Gemachten orientiere und diesem immer ähnlicher werde: eine imitatio instrumenti, wie Anders meint. Folgende Aussage scheint insbesondere im Hinblick auf Ent­ wicklungen im Bereich des Enhancements und des Posthumanismus, auf die wir später noch näher eingehen werden, an Aktualität nichts eingebüßt zu haben: »Was aus dem Leib werden soll, ist also jeweils durch das Gerät festgelegt; durch das, was das Gerät verlangt. Damit erfährt das Verhältnis zwischen ›Nachfrage und Angebot‹ eine eigen­ tümliche Pervertierung.«604 Anders weist darauf hin, dass es wichtig sei, die Weichen für die Zukunft richtig zu stellen, im Heute schon das Morgen herauszu­ lesen.605 Die Aufgabe der Philosophie, so könnte man ergänzen, ist es darüber hinaus, den Blick auf das zu lenken, was über die Zeiten und Kulturen hinaus erhalten bleibt, auf das, was wirklich gut ist und sich einer bloßen Nutzbarkeit entzieht.

4.8.3 Die gestellte Natur: Heidegger Die Philosophie des 20. Jahrhunderts verdankt Martin Heidegger zweifellos richtungsweisende Impulse.606 An unterschiedlichen Stel­ len hat er auch über die Bedeutung der Technik nachgedacht. Ihm geht 602 Vgl. Anders, G.: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, 51980, S. 24. 603 Vgl. a. a. O., S. 35 ff. 604 A. a. O., S. 39. 605 A. a. O., S. 428. 606 Die Publikation der Schwarzen Hefte im Jahr 2014 hat verschiedene Debatten über Heideggers politische Verflechtungen und antisemitische Überzeugungen ausgelöst. Bei aller Kritik an seiner Person wie auch an den zurecht inkriminierten Textstellen, sollte letztlich jedoch das Bemühen um eine sachliche Auseinandersetzung mit seinem Denken im Vordergrund stehen. Eine gute Einführung in sein Werk, seine Weise zu argumentieren, seine Bezüge zu anderen Denkern aus der Geschichte der Philosophie, dabei die Problematik und Aporetik seines Denkens klar im Blick habend, bietet:

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es weder um eine Ethik der Technikfolgenabschätzung noch um eine Verdammung der Technik. Vielmehr will er verstehen und deutlich machen, was das Wesen von Technik eigentlich ist. Seine Auseinandersetzung mit der Technikthematik beginnt mit seinen Überlegungen zum tæcðnh-Begriff in den 1920er Jahren. Er arbeitet trefflich heraus, dass unser Denken und Handeln, die Art, wie wir uns, andere und freilich das Leben insgesamt sehen, eine tech­ nische Struktur aufweisen kann. Hatte Husserl über die Lebenswelt gesprochen, so nimmt Heidegger das alltägliche In-der-Welt-Sein in den Fokus, wodurch das Technik-Thema Aufmerksamkeit erhält. Das vom Menschen hergestellte Werk, so Heidegger in Sein und Zeit, verweist einerseits auf das, zu welchem Nutzen und Zweck es hergestellt wurde, andererseits auf die Natur, aus der es hergestellt wurde, und schließlich auf den Träger und Benutzer selbst.607 In Sein und Zeit verfolgt Heidegger das Ziel, den Sinn von Sein aus Sicht des menschlichen Daseins zu eruieren. Dinge seien vorhanden oder zuhanden, wie Heidegger in dem Zusammenhang sagt, und was uns auch noch einmal an die besondere Rolle der Hand erinnern mag, mit der die Welt durch das Dasein erschlossen wird. Die Perspektive verschiebt sich in den 1930er Jahren und Heidegger argumentiert, Sein müsse für sich gedacht werden. In den 1930er Jahren (inspiriert durch die Arbeiten von Ernst Jünger) und Anfang der 1940er Jahre will er das Wesen der Technik mit dem Begriff der Machenschaft explizieren. Die Entwurzelung des Menschen, die durch moderne Technik entstanden sei, müsse überwunden werden.608 »Das Ent-sprechen hört auf die Stimme des Zuspruchs. Was sich als Stimme des Seins uns zuspricht, be-stimmt unser Entsprechen. ›Entsprechen‹ heißt dann: be-stimmt sein, être disposé, nämlich vom Sein des Seienden her. […] Das Entsprechen ist notwendig und immer, nicht nur zufällig und bisweilen, ein gestimmtes. Es ist in Seubert, H.: Heidegger – Ende der Philosophie oder Anfang des Denkens, Freiburg / München 2019. 607 Vgl. Heidegger, M.: Sein und Zeit, Tübingen 182001, S. 70 f. In Sein und Zeit ist die Technik-Thematik in den §§ 14–18 präsent. Zur Genealogie des technikphilosophischen Denkens Heideggers: Luckner, A.: Heidegger und das Denken der Technik, in: Cesarone, V. / Denker, A. / Hilt, A. / Radinković, Ž. / Zaborowski, H. (Hrsg.): Heidegger und die technische Welt, HeideggerJahrbuch 9, Freiburg / München 2015, S. 9–24. 608 Heidegger, M.: Geschichte des Seyns, HeiGA 69, Frankfurt a. M. 1998, S. 24.

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seiner Gestimmtheit. Und erst auf dem Grunde der Gestimmtheit (disposition) empfängt das Sagen des Entsprechens seine Präzision, seine Be-stimmtheit.«609

Während das Denken zu hören vermag, gilt das für technische Arte­ fakte gerade nicht. Sie sind gegenüber jener Stimme taub. Technik sei, so Heidegger in den Beiträgen, am Machbarkeitsdenken orientiert: »Alles ›wird gemacht‹ und läßt sich machen, wenn man nur den ›Willen dazu aufbringt‹ und […] dieser Wille, der alles macht, hat sich im Voraus der Machenschaft verschrieben, jener Auslegung des Seienden als des Vor-stellbaren und Vor-gestellten – Vor-stellbar heißt einmal: zugänglich im Meinen und Rechnen; und heißt dann: vollbringbar in der Her-stellung und Durchführung.«610

Vor allem geht es Heidegger um das mit der Technik einher- und vorhergehende Denken, das das Leben der Menschen prägt und bestimmt. Der Mensch, so Heidegger, lebe in technischen Verhältnis­ sen und könne Technik von sich aus nicht bewältigen, womit er ihre besondere Rolle und Größe unterstreicht. Die Alternative, wonach der Mensch entweder in der Hand der Technik sei oder diese in der Hand habe, greife zu kurz, wie er etwa in den Überlegungen VI der Schwarzen Hefte festhält.611 Dies bedeute, sie selbst als Maschine oder Werkzeug zu sehen (also technisch), und nicht etwa als »Wesensfolge einer Grundstellung zum Seienden«612. »Es funktioniert alles. Das ist gerade das Unheimliche, daß es funktioniert und daß das Funktionieren immer weiter treibt zu einem weiteren Funktionieren und daß die Technik den Menschen immer mehr von der Erde losreißt und entwurzelt«613, wie er in einem Spiegel-Interview aus dem Jahr 1966, welches dann zehn Jahre später anlässlich seines Todes publiziert wurde, gegenüber Rudolf Augstein und Georg Wolff zu bedenken gibt. Und in einem Interview mit Richard Wisser aus dem Jahre 1969 bringt Heidegger hellsichtig, um nicht prophetisch zu sagen, einige Folgen moderner Biotechnologien Heidegger, M.: Was ist das – die Philosophie?, Pfullingen 1956, S. 23. Heidegger, M.: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), HeiGA 65, Frankfurt a. M. 1989, S. 108 f. 611 Vgl. Heidegger, M.: Überlegungen II-VI (Schwarze Hefte 1931–1938), HeiGA 94, Frankfurt a. M. 2014, S. 426. 612 Ebd. 613 Heidegger, M. / Augstein, R. / Wolff, G.: Nur noch ein Gott kann uns retten, in: Der Spiegel, Nr. 23, 30. Jg., 31. Mai 1976, S. 193–219, hier S. 206. 609 610

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zur Sprache. Es werde möglich, »den Menschen so zu machen, d. h. rein in seinem organischen Wesen so zu konstruieren, wie man ihn braucht: Geschickte und Ungeschickte. Gescheite und – Dumme. So weit wird es kommen!«614 Durch Technik würden heute »[a]lle Entfernungen in der Zeit und im Raum schrumpfen«615, wie Heidegger in seinem Hinweis zu seinen Bremer Vorträgen aus dem Jahre 1949 schreibt. Er sieht, dass wir heute ganz schnell und bequem mit dem Flugzeug von A nach B reisen können, was zu früheren Zeiten beschwerlich oder auch gar nicht möglich war. Wir können dies auch auf moderne Medien über­ tragen. Während es früher oftmals länger brauchte, bis eine Nachricht sich verbreitete, geschehe dies heute im Nu. Die Beseitigung von Wegstrecken und Entfernungen sei noch nicht gleichbedeutend mit Nähe.616 Heidegger selbst hat den Rundfunk im Blick. Wir können es aber auch unschwer auf das Internet beziehen. Übertragen wir dies auf »soziale Netzwerke« wie Facebook, WhatsApp und Twitter: Einerseits kann die Person auf einem anderen Kontinent wohnen und uns durch dieses »soziale Netzwerk« sehr nah sein. Kilometer, Berge und Meere können so überbrückt werden. Andererseits sagt eine lange »Freundesliste« noch nicht viel über die menschliche Beziehung und tatsächliche Nähe zu dieser Person aus. Sie kann einem auch sehr fern sein, insbesondere wenn man ihr nicht von Angesicht zu Angesicht begegnet. Im Netzwerk herrscht das Abstandslose. Alles, so ließe sich sagen, gilt gleich und wird damit gleichgültig.617 Vittorio Hösle sagt das so: »Die intellektuelle Beschränkung desjenigen, der nicht mehr in der Lage ist, ein längeres Buch durchzuarbeiten und ein komplexeres Argument zu durchdenken, geht einher mit dem größenwahnsinnigen Gefühl, das Universum des Wissens stehe einem zur Verfügung, wenn

614 Martin Heidegger im Gespräch mit Richard Wisser, in: Neske, G. / Kettering, E. (Hrsg.): Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, Pfullingen 1988, S. 21–28, hier S. 25. 615 Heidegger, M.: Der Hinweis, in: Heidegger, M.: Bremer und Freiburger Vorträge, HeiGA 79, Frankfurt a. M. 22005, S. 3. 616 »Was streckenmäßig unübersehbar weit entfernt ist, kann uns nahe sein. Kleine Entfernung ist nicht schon Nähe. Große Entfernung ist noch nicht Ferne.« (Ebd.). 617 Vgl. Heidegger, M.: Die Gefahr, in: Heidegger, M.: Bremer und Freiburger Vorträge, HeiGA 79, Frankfurt a. M. 22005, S. 46–67, hier S. 52.

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man im Internet surft und im Prinzip mit jedem anderen Menschen auf dem Planeten verlinkt ist.«618

Im ersten seiner Bremer Vorträge widmet er sich dem, was ein Ding eigentlich ausmacht.619 Er hat nämlich den Eindruck, dass dies ebenso wenig wie die Frage der Nähe bisher ausreichend Beachtung erfahren hätte. Hintergrund für Heideggers Bestimmung ist das althochdeut­ sche thing: »die Versammlung zur Verhandlung einer in Rede stehen­ den Angelegenheit, eines Streitfalls«620. Er macht das am Beispiel eines Kruges deutlich. Dieser ist nicht etwa vom Himmel gefallen, sondern verdankt sich einer Herstellung, die nach Heidegger das Eigene des Kruges zu Tage fördert. Er sammelt und behält einerseits, andererseits ermöglicht er ein Ausgießen und Spenden. Heidegger verortet dies im Horizont des »Gevierts« von Himmlischem und Irdischem, Göttlichem und Sterblichem: »Im Geschenk des Gusses weilen je verschieden die Sterblichen und die Göttlichen. Im Geschenk des Gusses weilen Erde und Himmel.«621 Der Denker aus Meßkirch spricht in seiner ihm eigentümlichen Sprache vom »Ge-Stell«, um den Grundzug der modernen Technik zu beschreiben.622 Es geht ihm nicht bloß um Maschinen oder ein­ zelne technische Errungenschaften, nicht um die Summe unserer Mobiltelefone, Atomkraftwerke und Biotechnologie-Laboratorien. Wenn er von »Ge-Stell« spricht, meint er auch nichts Technisches. Es geht Heidegger um eine Beschreibung des Charakters moderner Technik einerseits sowie andererseits um eine Beschreibung unserer Beziehung zur Welt und natürlich auch zu uns selbst.623 Was er mit Ge-Stell meint, können wir uns folgendermaßen erschließen, wenn wir uns verdeutlichen, welche Bedeutung ein Gestell eigentlich haben kann. Ein Gestell kann eine Stütze sein, wenn wir etwa an ein Büchergestell denken.624 Angesprochen ist hier eine funktionale 618 Hösle, V.: Globale Fliehkräfte. Eine geschichtsphilosophische Kartierung der Gegen­ wart. Mit einem Geleitwort von Horst Köhler, Freiburg / München 2019, S. 117. 619 Vgl. Heidegger, M.: Das Ding, in: Heidegger, M.: Bremer und Freiburger Vorträge, HeiGA 79, Frankfurt a. M. 22005, S. 5–23, hier S. 5. 620 A. a. O., S. 13. 621 A. a. O., S. 12; vgl. Heidegger, M.: Die Gefahr, in: Heidegger, M.: Bremer und Freiburger Vorträge, HeiGA 79, Frankfurt a. M. 22005, S. 46–67. 622 Vgl. Heidegger, M.: Die Technik und die Kehre, Stuttgart 102002. 623 Vgl. Heidegger, M.: Das Ge-Stell, in: Heidegger, M.: Bremer und Freiburger Vor­ träge, HeiGA 79, Frankfurt a. M. 22005, S. 24–45, hier S. 33, 40, 45. 624 Vgl. a. a. O., hier S. 32.

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Dimension von Technik. Aber auch das Gefahrenpotential klingt hier an. Stellen also im Sinne eines Herausforderns und Nachstellens.625 Das Ge-Stell »rafft alles Anwesende in die Bestellbarkeit und ist so die Versammlung dieses Raffens«626. Es gilt, noch auf einen weiteren Aspekt aufmerksam zu machen. Im Brennpunkt seines Nachdenkens über Technik steht nicht das Machen, sondern das Entbergen! Zur Wahrheit des Seins gehöre Unverborgenes, wie Heidegger sagt. Wenn etwas in der Diktion Heideggers als »unverborgen« bezeichnet wird, meint er, dass es der menschlichen Erfahrung offensteht. Er spricht davon, dass die Art und Weise, wie sich das »Unverborgene« dem Menschen zeige, einem Wandel unterliege.627 Nicht alles aber stelle sich als unverborgen dar. Es gebe eben auch Verborgenes. Heidegger charakterisiert Technik als eine »Weise des Entbergens«628. Was meint er damit? Seiendes, was zunächst noch im Bereich des Verborgenen ist, tritt durch sie zu Tage, wird durch sie hervorgebracht. Anders gesagt: Es wird etwas ans Licht gebracht, was sonst verborgen geblieben wäre. Es öffnet sich, wie Heidegger sagt, »ein ganz anderer Bereich für das Wesen der Technik«629, wenn wir auf sie achten. Der Mensch vermag sich nach Heidegger durch die Technik zu entbergen und zu begegnen. Dieser Gedanke ist uns schon bei Kapp begegnet; und auch Heideggers Zeit­

625 Vgl. a. a. O., S. 27, 29; vgl. Heidegger, M.: Die Gefahr, in: Heidegger, M.: Bremer und Freiburger Vorträge, HeiGA 79, Frankfurt a. M. 22005, S. 46–67, hier S. 53. Ein Moment moderner Technik ist es, für die Natur ein Risiko zu sein, diese ohne Rücksicht auszunutzen. Heidegger nennt dies ein »Herausfordern« der Natur durch die Technik. »Das in der modernen Technik waltende Entbergen ist ein Herausfordern, das an die Natur das Ansinnen stellt, Energie zu liefern, die als solche herausgefördert und gespeichert werden kann.« (Heidegger, M.: Vorträge und Aufsätze, HeiGA 7, Frankfurt a. M. 2000, S. 15) An anderer Stelle heißt es: »Das Auszeichnende der modernen Technik liegt darin, daß sie überhaupt nicht mehr bloß ›Mittel‹ ist und nicht mehr nur ›im Dienst‹ für andere steht, sondern selbst einen eigenen Herrschaftscha­ rakter entfaltet.« (Heidegger, M.: Hölderlins Hymne ›Der Ister‹, HeiGA 53, Frankfurt a. M. 1984, S. 53). 626 Heidegger, M.: Das Ge-Stell, in: Heidegger, M.: Bremer und Freiburger Vorträge, HeiGA 79, Frankfurt a. M. 22005, S. 24–45, hier S. 32. 627 Siehe auch: von Herrmann, F.-W.: Technik und Kunst im seynsgeschichtlichen Fragehorizont, in: Biemel, W. / von Herrmann, F.-W. (Hrsg.): Kunst und Technik, Frankfurt a. M. 1989, S. 25–46. 628 Heidegger, M.: Die Technik und die Kehre, Stuttgart 102002, S. 13. 629 A. a. O., S. 12.

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genosse Cassirer würde dies so unterschreiben.630 Mit der Technik erschließt sich der Mensch Welt. Tæcðnh deutet Heidegger als ein Hervorbringen. Das Entbergen, das seiner Ansicht nach in der modernen Technik waltet, sei demge­ genüber ein Herausfordern.631 Sie sei heute die Weise des Entbergens. Als Hervorgebrachtes gilt ihm das, was am Gemachten als Entborge­ nes zu Tage tritt. Im Hinblick auf die Technik unter neuzeitlichen Vorzeichen spricht er auch vom Bestellten, Herausgeforderten.632 Natur werde durch Technik gestellt, ähnlich wie z. B. ein Dieb von 630 Technik gehe es nach Cassirer um das, was möglich sei und verwirklicht werden könne. Technik frage nicht, was ist, sondern was sein kann. (Cassirer, E.: Form und Technik, in: Cassirer, E.: Symbol, Technik, Sprache, Hamburg 1995, S. 39–91, hier S. 81) Technische Leistungen seien so gesehen eine Weise des Auf-Deckens: »[E]s wird damit ein an sich bestehender Sachverhalt aus der Region des Möglichen gewisser­ maßen herausgezogen und in die Wirklichkeit verpflanzt.« (Ebd.) Technik komme, so zeigt sich Cassirer überzeugt, in unserer gegenwärtigen Kultur nicht eine Statistenrolle zu. Kultur sei ohne sie nicht zu denken: Sie zeige uns, was der Mensch ist. (Mit der Frage nach der Technik beschäftigt sich Cassirer auch in seinem Hauptwerk Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Den­ ken, Hamburg 2010, S. 253–257 sowie Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis, Hamburg 2010, S. 320–322) Während Heidegger auf das »In-der-Welt-sein« abhebt, betont Cassirer die symbo­ lischen Formen, welche seiner Auskunft nach nicht bloß wirklichkeitsabbildend seien, sondern mit denen der Mensch Wirklichkeit erschließe und ihr Gestalt gebe. In diesem Sinne sei die Technik dem Menschen eigentümlich und (wie Sprache, Wissenschaft, Religion, Kunst und Moral) eine »symbolische Form«. (Vgl. Cassirer, E.: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Denken, Hamburg 2010, S. 257) Durch Technik bekomme der Mensch einen neuen Zugang zum »Gefüge seines Leibes und seiner Gliedmaßen« (ebd.). Menschsein, Lebendigsein erschließe sich von der Technik her. Cassirer konstatiert einen zunehmenden Einfluss technischer Begriffe und Fragestel­ lungen auf alle Bereiche des menschlichen Lebens wie auch auf das Ganze der Philo­ sophie, deren Aufgabe sich nicht darin erschöpfen könne, der Technik innerhalb der menschlichen Kultur eine bestimmte Rolle zuzuweisen resp. Nutzen und Nachteil gegeneinander abzuwägen. (Vgl. Cassirer, E.: Form und Technik, in: Cassirer, E.: Symbol, Technik, Sprache, Hamburg 1995, S. 39–91, hier S. 41 f., 77) Die »Welt der Technik«, so Cassirer, »beginnt sich erst zu erschließen und ihr Geheimnis preiszu­ geben, wenn man auch hier von der forma formata zur forma formans, vom Gewor­ denen zum Prinzip des Werdens zurückgeht« (a. a. O., S. 43). 631 Vgl. Heidegger, M.: Die Technik und die Kehre, Stuttgart 102002, S. 14. 632 Die Neuzeit wird charakterisiert als Epoche, bei der Messbares in den Vordergrund trete, die Seinsfrage jedoch verblasse. »Seinsverlassenheit« resp. »Seinsvergessen­ heit« heißt das in der Diktion Heideggers: »Hier gelangt bereits die seit langem schwelende ›Seinsvergessenheit‹ zur Herrschaft; man meint, ohne das Sein ›denken‹ zu können, dergestalt, daß das Sein als Gegenständlichkeit zum Gemächte des Den­

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4.8 Technik in der Hand des Menschen oder der Mensch in der Hand der Technik?

einem Kaufhausdetektiv gestellt wird. Natur wird herausgefordert, zum Kampf gestellt.633 Wenn die Technik »herausfordernd« genannt wird, heißt das auch, wie Luckner richtig sieht, dass sie »nicht seins­ weisenbelassend«634 ist. Heidegger macht eine Gefahr darin aus, dass sich der Mensch blind in die Hände der Technik begibt: »Der Mensch ist der Maschine völlig dienstbar, wenngleich er meint und vorgibt, sie zu meistern.«635 Der Mensch mache die Natur zum Bestand, wie Heidegger sagt. Technik habe, das wird hier unweigerlich deutlich, etwas Bedrohli­ ches, ein Gewaltpotential. Natur ist vom Ge-Stell nicht zu trennen, ist sie nämlich in dessen Grundbestand gestellt. Insofern greift auch der Hinweis zu kurz, dass und wie Natur durch Technik ausgebeutet werde. Sehr deutlich heißt es: »Im Weltalter der Technik gehört die Natur im vorhinein in den Bestand des Bestellbaren innerhalb des Ge-Stells.«636 Anders gesagt: Natur ist heutzutage nicht isoliert von Technik zu sehen, steht ihr nicht einfach gegenüber. Sie ist »keine Grenze der Technik«637, sondern vielmehr »Grundbestandstück des technischen Bestandes«638. Über sie wird technisch verfügt; sie ist nicht unabhängig von Technik. Hier ist offensichtlich eine andere Dimension als bei einem vormodernen Verhältnis von Natur und Technik erreicht. Auch da habe es natürlich stets technische Eingriffe

kens im Sinne der rechnenden Vergegenständlichung gemacht wird.« (Heidegger, M.: Schwarze Hefte 1942–1948, HeiGA 97, Frankfurt a. M. 2015, S. 92). 633 »Ein Landstrich wird gestellt, auf Kohle nämlich und Erze, die in ihm anstehen. […] Das anstehende und als solches schon auf ein Sichstellen abgeschätzte Gestein wird herausgefordert und demzufolge herausgefördert. Das Erdreich ist in ein solches Stellen einbezogen und von ihm befallen. Es ist bestellt, betroffen, mit Gestellung.« (Heidegger, M.: Das Ge-Stell, in: Heidegger, M.: Bremer und Freiburger Vorträge, HeiGA 79, Frankfurt a. M. 22005, S. 24–45, hier S. 27). 634 Luckner, A.: Heidegger und das Denken der Technik, in: Heidegger-Jahrbuch 9: Heidegger und die technische Welt, hrsg. von V. Cesarone, A. Denker, A. Hilt, Ž. Radinković, H. Zaborowski, Freiburg / München 2015. S. 9–24, hier S. 17; hierzu auch: Schüssler, I.: Machenschaft und Gestell, in: Friesen, H. / Lotz, C. / Meier, J. / Wolf, M. (Hrsg.): Ding und Verdinglichung, München 2012, S. 65–97. 635 Heidegger, M.: Schwarze Hefte 1939–1941, HeiGA 96, Frankfurt a. M. 2014, S. 253. 636 Heidegger, M.: Das Ge-Stell, in: Heidegger, M.: Bremer und Freiburger Vorträge, HeiGA 79, Frankfurt a. M. 22005, S. 24–45, hier S. 45. 637 A. a. O., hier S. 43. 638 Ebd.

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in die Natur gegeben. Heute aber sind diese derart herausfordernd, dass sie die Seinsweise der Natur verändern.639 Dass der heideggersche Gedanke des Ge-Stells philosophisches, erkenntniskritisches Potential hat, können wir übrigens unschwer feststellen, wenn wir ihn z. B. auf das World Wide Web übertragen. Ganz selbstverständlich sprechen wir davon, »etwas ins Netz zu stellen«, wenn wir Daten hochladen oder Informationen preisgeben. Vor der Hintergrundfolie der heideggerschen Überlegungen könnten wir sagen, dass wir so zu Bestandstücken gestellt werden und die Vernetzung ein Ausdruck des Ge-Stells ist. Der Mensch wird dabei zum »Angestellte[n] des Bestellens«640: »Der Mensch ist jetzt der im Bestellen aus diesem für dieses Bestellte.«641 Ein Merkmal des Ge-Stells macht Heidegger darin aus, Gleiches durch Gleiches ersetzen zu wollen: schließlich muss die Bestellbarkeit ja gewährleistet sein. Alles werde daher gleichförmig gemacht, modu­ larisiert. Im Bereich der modernen Biotechnologien zeigt sich dies, wie wir noch sehen werden, heute sehr deutlich. Was modularisiert ist, gilt auch als beherrschbar. Und insofern mit dem Internet oder dem Smartphone Bestellen, Vorstellen und Herstellen in besonderer Weise zum Tragen kommen, können wir auch hier von einem Ge-Stell spre­ chen. Die technische forma mentis präge unser Denken, verändere es. Heutige Technik fördere jede Menge Maschinen und, so Heidegger, seinsvergessene Menschen zu Tage. Eine Gefahr, die er gerade für den Menschen der Gegenwart ausmacht, bestehe darin, sich zu vergegenständlichen. Echtes Menschsein werde so abgestreift. Sich selbst begegne der Mensch als Teil der Dingwelt, als jemand, der Technik gebrauche, während eine Begegnung mit sich selber, seinem Wesen, ausbleibe.642 Eine besondere Rolle spielten hierbei die verschiedenen Naturwissenschaften. Heidegger will in der Technik nicht einen Arm der Naturwissenschaften sehen. Für die Naturwissenschaften sei vielmehr charakteristisch, dass sie eine »Anwendung des Wesens der Technik« (ebd.) seien. 640 Heidegger, M.: Das Ge-Stell, in: Heidegger, M.: Bremer und Freiburger Vorträge, HeiGA 79, Frankfurt a. M. 22005, S. 24–45, hier S. 30. 641 Ebd. 642 »Die Herrschaft des Ge-Stells droht mit der Möglichkeit, daß dem Menschen versagt sein könnte, in ein ursprünglicheres Entbergen einzukehren und so den Zuspruch einer anfänglicheren Wahrheit zu erfahren.« (Heidegger, M.: Die Technik und die Kehre, Stuttgart 102002, S. 28) 639

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In seiner bekannten Meßkircher Rede aus dem Jahr 1955 heißt es: »Es wäre kurzsichtig, die technische Welt als Teufelswerk verdammen zu wollen. Wir sind auf die technischen Gegenstände angewiesen; sie fordern uns sogar zu einer immerzu steigenden Verbesserung heraus. Unversehens sind wir jedoch so fest an die technischen Gegenstände geschmiedet, dass wir in die Knechtschaft zu ihnen geraten.«643

Herrschaft über die Natur anzustreben und sie dann auch auszuüben, ist das Eine. Doch gerade die gewonnene Macht kann in eine Unfrei­ heit umschlagen, wenn sich alles nur noch um die Unterordnung unter diese Herrschaftsausübung dreht. Im Umgang mit der Natur gehe es darum, das, was der Mensch noch nicht bestimmt habe, in seinen Herrschaftsbereich zu überführen, damit das, was wächst, so wächst und gedeiht, wie, wann und wenn der Mensch es möchte. Und dies gilt keineswegs nur für die den Menschen umgebende Natur. Auch über sich selbst versucht er zunehmend eine Herrschaft aufzurichten. Bestimmend ist ein Paradigma des Machens: Alles muss berechenbar sein, nützlich gemacht werden können. Der Umgang mit der Natur werde dadurch ein instrumenteller. Von Interesse ist insbesondere, wie sie kontrolliert und manipuliert werden kann. Etwas kontrollieren und manipulieren zu können, heißt nämlich, Macht über etwas zu haben. »Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt. […] Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen«644, wie Adorno und Horkheimer in ihrer Dialektik der In seinem Vortrag Das Ge-Stell aus der Bremer Vortragsreihe Einblick in das was ist (1949) heißt es: »Der Mensch ist im Weltalter der Herrschaft der Technik, in das GeStell, durch dieses bestellt. Der Mensch ist in seiner Weise Bestand-Stück […].« Wei­ ter führt Heidegger aus: »Daß er Bestand-Stück ist, bleibt die Voraussetzung dafür, daß er Funktionär eines Bestellens werden kann. Gleichwohl gehört der Mensch in einer völlig anderen Weise in das Ge-Stell als die Maschine. Diese Weise kann unmenschlich werden.« (Heidegger, M.: Das Ge-Stell, in: Heidegger, M.: Bremer und Freiburger Vorträge, HeiGA 79, Frankfurt a. M. 22005, S. 24–45, hier S. 37) Deutlich wird Heidegger auch in seinen Seminaren. Hier bezeichnet er den Menschen als »Spielwerk« der Technik. Vgl. Heidegger, M.: Seminare 1951–1973, HeiGA 15, Frankfurt a. M. 1986, S. 370. 643 Heidegger, M.: Gelassenheit. Zum 125. Geburtstag von Martin Heidegger, Heideggers Meßkircher Rede von 1955, mit Interpretationen von A. Denker und H. Zabo­ rowski, Freiburg / München 22015, S. 22. 644 Horkheimer, M. / Adorno, T. W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Frag­ mente, Frankfurt a. M. 1988, S. 10.

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Aufklärung schreiben. »Die Menschen«, so Adorno und Horkheimer weiter, »bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie Macht ausüben.«645 Über Technik reflektieren wir laut Heidegger oftmals nicht in angemessener Weise. So werde sie beispielsweise von einigen Auto­ ren und Zeitgenossen als »Katastrophe« resp. als »Verhängnis« zu kennzeichnen versucht.646 Erstaunlicherweise würden solche Urteile mit einem besonders reflektierten Rennen hinter den neuesten Tech­ niktrends einhergehen. Im Grunde aber würde man Technik hier vor allem technisch begegnen. In den Bremer Vorträgen formuliert er das so: »die Technik durch menschliches Tun zu meistern und menschen­ würdig zu lenken«647. Insofern zu den Folgen der Seinsvergessenheit die mit der Technik einhergehenden Bedrohungen gehören, will er einen Ausweg darin ausmachen, der Seinsfrage Geltung zu verschaf­ fen. In diesem Sinne müsse eine Umkehr hin zu einem besinnlichen Denken stattfinden. Heidegger verweist darauf, dass es mehr gibt als nur technisches Denken und Handeln. Nämlich auch solches, das nichttechnisch ist. Ein Beispiel ist die Kunst, die ja auch in der tæcðnh gründet. Sie wahrt die Dinge und eröffnet einen anderen Horizont als bloßes Nutzbar­ keitsdenken, weshalb es dann auch nicht verwundert, dass der Begriff Ge-Stell erstmals in Der Ursprung des Kunstwerks648 Verwendung findet.649 Kommen wir auch noch einmal auf die eben zitierte Meßkir­ cher Rede zurück. Heidegger macht dort darauf aufmerksam, dass es eben nicht nur die Abhängigkeit von der Technik, die Knechtschaft gibt, sondern auch ein freies Verhältnis, Technik zu benutzen. »Wir lassen die technischen Gegenstände in unsere tägliche Welt herein und lassen sie zugleich draußen, d. h. auf sich beruhen als Dinge, 645 A. a. O., S. 15. Adorno und Horkheimer gehen davon aus, »daß der Boden, auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesell­ schaft ist. Technische Rationalität heute ist die Rationalität der Herrschaft selbst.« (A. a. O., S. 129). 646 Vgl. Heidegger, M.: Die Gefahr, in: Heidegger, M.: Bremer und Freiburger Vorträge, HeiGA 79, Frankfurt a. M. 22005, S. 46–67, hier S. 58. 647 A. a. O., S. 59. 648 Vgl. Heidegger, M.: Der Ursprung des Kunstwerks, in: Heidegger, M.: Holzwege, HeiGA 5, Frankfurt a. M. 1977, S. 1–74, hier S. 59. 649 Vgl. Luckner, A.: Heidegger und das Denken der Technik, in: Heidegger-Jahrbuch 9: Heidegger und die technische Welt, hrsg. von V. Cesarone, A. Denker, A. Hilt, Ž. Radinković, H. Zaborowski, Freiburg / München 2015. S. 9–24, hier S. 23.

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die nichts Absolutes sind, sondern selbst auf Höheres angewiesen bleiben.« Jene Haltung nennt er »die Gelassenheit zu den Dingen«650.

4.8.4 Die Verabschiedung von Subjekten und Objekten: Latour Bruno Latour hat das Ziel, die Beziehung von Natur, Technik und Gesellschaft neu auszuleuchten. Der französische Soziologe hebt besonders hervor, dass Technik und der Bereich des Sozialen in einem reziproken Verhältnis stehen. Eine klare Trennlinie könne man nicht ziehen.651 Ein Stichwort, das in dem Zusammenhang immer wieder auf­ taucht, ist das der Hybride, der Mischwesen: Diese seien deshalb herausfordernd, da sie sich nicht einfach einem Bereich zuordnen lie­ ßen. Latour will weder von Subjekten noch Objekten sprechen.652 Der Begriff des Akteurs wird von Latour ausgedehnt: In Frage kommen hier keineswegs nur menschliche, sondern eben auch nichtmenschli­ che Akteure. »Richtet man seine Aufmerksamkeit auf die harten Dinge, schon werden sie weich, sanft und menschlich. Richtet man seine Aufmerk­ samkeit auf die Menschen, schon werden sie elektronisch, automatisch oder digital. Wir können noch nicht einmal genau definieren, was die einen menschlich und die anderen technisch macht, während wir ihre Modifikationen und Substitutionen, ihr Hin und Her und ihre Bedürfnisse, ihre Delegationen und Stellvertretungen genau doku­ mentieren können.«653

Latour legt noch weitere Beispiele vor. Ohne technische Artefakte hätten sich soziale Beziehungen nicht verstetigen können. Dinge um uns herum und technische Artefakte spielen hinsichtlich unserer 650 Heidegger, M.: Gelassenheit. Zum 125. Geburtstag von Martin Heidegger, Heideggers Meßkircher Rede von 1955, mit Interpretationen von A. Denker und H. Zabo­ rowski, Freiburg / München 22015, S. 23. 651 Ein technischer Gegenstand könnte soziale Beziehungen vermitteln, was er am Beispiel eines Doppelschlüssels zu verdeutlichen sucht: Zu Beginn des 20. Jahrhun­ derts wurde in Berlin ein Durchsteckschlüssel erfunden, der nach dem Aufschließen einer Tür durch das Schloss durchgeschoben werden muss und erst wenn auf dieser Türseite abgeschlossen wird, kann der sogenannte »Berliner Schlüssel« wieder in die Tasche wandern. Vgl. Latour, B.: Der Berliner Schlüssel, Berlin 32016. 652 Vgl. a. a. O., S. 10. 653 A. a. O., S. 26.

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sozialen Beziehungen eine große Rolle, halten diese gar manchmal zusammen, wie er meint. Ein automatischer Türschließer wie auch eine Bodenschwelle im Straßenverkehr – im Französischen ist vom gendarme couche, vom schlafenden Polizisten, die Rede – würden seiner Auskunft nach den Unterschied zwischen Subjekt und Objekt unterlaufen. Der Bodenschwelle sei das Handlungsprogramm einge­ schrieben, Mensch/Auto zum Abbremsen zu bringen. Es könne durch diesen »schlafenden Polizisten« eine Einstellungsänderung beim Fah­ rer herbeigeführt werden. Statt weiter zu rasen, würde er sich an Geschwindigkeitsbegrenzungen halten, Vorschriften achten. Latour schreibt: »Diese Verbindungen aus Vorschriften (Langsam fahren!), Polizisten, Baumaterial und Diskussionen der Verkehrsplaner, die einmal stattgefunden haben, jetzt aber in der Form der Bodenschwelle stecken, [sind] als ein Kollektiv menschlicher und nichtmenschlicher Akteure zu begreifen.«654 Dinge sind den Menschen gleichgestellt, wie er sagt: als soziale Akteure sogar gleichberechtigt. Sie seien »nichtmenschliche Handlungsträger«655, an sozialer Interaktion wie menschliche Personen auch beteiligt. In den Dingen selbst stecke die Moral moderner Gesellschaften – wie das Beispiel der Bodenschwel­ len zeige. Richtig liegt Latour insofern, als wir unsere Welt tatsächlich unzureichend verstehen, wenn wir sie lediglich einteilen in handelnde menschliche Subjekte einerseits und technische Erzeugnisse anderer­ seits. Allerdings sieht seine Lösung nicht vor, Pflanzen und Tiere stärker zu berücksichtigen oder in anderer Weise über Organismen nachzudenken, sondern dem Gemachten Handlungen zuzuschreiben. Handeln hat für ihn vor allem damit zu tun, dass »etwas« eine Wirkung haben kann. Mit Gründen und einem freien Willen haben Handlungen hier nichts zu tun, was mir problematisch scheint. Latours Überlegungen ziehen die Unterschiede zwischen Gewachsenem und Gemachtem, Sozialem und Technischem, Hand­ lungen und Ereignissen, Mikro und Makro in Zweifel.656 Menschliche Subjekte und nichtmenschliche Artefakte stehen für Latour auf einer 654 Latour, B.: Dinge handeln – Menschen geschehen, in: Metzel, O.: Freizeitpark, hrsg. von U. Wilmes / M. Streeruwitz, München 1996, S. 108–116, hier S. 109. 655 Vgl. a. a. O., S. 108. 656 Diese Linie führt Donna Haraway weiter fort. Für sie gibt es weder Gewachsenes noch Gemachtes, sondern nur noch Hybride. Alles kann mit allem verschaltet werden. Einen ontologischen Unterschied zwischen dem Organischen und dem Gemachten gebe es nicht: Vgl. Haraway, D.: Die Biopolitik postmoderner Körper, in: Haraway, D.:

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Stufe. Auch letzteren müssten Rechte zukommen, wie er betont. Es sei ein Vorurteil, zwischen Menschen und Nichtmenschen zu unterschei­ den. Er will dagegen überall nur Akteure sehen: sowohl menschliche als auch nichtmenschliche. Beide, so Latour, tauschten Eigenschaften miteinander aus.657 Es ist irritierend, wenn er in anthropomorphi­ sierender Weise von Bodenschwellen und technischen Artefakten spricht und somit auch dem Handlungsbegriff nicht mehr gerecht wird. Anregend ist er zumindest darin, dass er die Macht der Dinge auf unsere sozialen Beziehungen und Handlungen thematisiert. Mensch und technisches Produkt, Technik und Natur, seien nicht zu trennen. Den Versuch einer solchen Isolierung hält er für ein typisches Kennzeichen der Moderne.658 »Modern« in diesem Sinne will er nicht sein. Der Titel seines Essays Wir sind nie modern gewesen soll dann auch nahelegen, dass es stets Mischwesen gegeben hätte, die sich einer klaren Zuordnung zu Natur resp. Technik sperren. Diesbezüglich dürfe man kein Scheuklappendenken an den Tag legen, wie er es für die Moderne unterstellt.659 Im Hinblick auf naturethische Fragen argumentiert Latour in seinen Gifford Lectures, die Umwelt nicht bloß als toten und zu schüt­ zenden Raum wahrzunehmen. Ökologische Probleme ließen sich nicht allein technisch lösen. Noch so gut gemeinte Klimaschutzpro­ jekte würden letztlich einem Weltbild verhaftet bleiben, wonach sich der Mensch über die Natur erhebe, diese lediglich unabänderlichen Gesetzen unterworfen sei. »Umweltschützer [haben] allzuoft jene graue NATUR grün angestrichen, die im 17. Jahrhundert konzipiert worden war«660, so Latour. Demgegenüber müsse ins Bewusstsein treten, dass alle Organismen miteinander in Wechselverkehr stünden, wozu Latour auch die Erde selbst zählen möchte, was Erinnerun­ Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M. / New York 1995, S. 160–199, bes. S. 175 f. 657 Vgl. Latour, B.: Where Are The Missing Masses? The Sociology of a Few Mundane Artifacts, in: Bijker, W. E. / Law, J. (Hrsg.): Shaping Technology / Building Society: Studies in Sociotechnical Change, Cambridge / Mass 1992, S. 225–264, bes. S. 236. 658 Vgl. Latour, B.: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthro­ pologie, Frankfurt a. M. 52015. 659 Vgl. a. a. O., S. 49. Vieles bleibt bei Latour leider nebulös und philosophisch unbefriedigend: z. B. sein Verständnis von »Akteuren« oder auch dass Natur und Technik keine ontologischen Kategorien darstellen. 660 Latour, B.: Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime, Berlin 2017, S. 85.

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gen an Platons Timaios zu wecken vermag: »mundum esse animal, totum sentiens«661, hatte in den Fußspuren Platons Tommaso Campa­ nella gesagt. Es müsse um ein gelingendes Zusammenspiel menschlicher und nichtmenschlicher Akteure gehen, wobei mit der zweiten Gruppe nicht nur die belebte und unbelebte Natur gemeint ist, sondern auch Technik und das von Menschenhand Hervorgebrachte.662

Campanella, T.: De sensu rerum et magia, libri quatuor, Frankfurt a. M. 1620, lib. 1, cap. 9, S. 36. 662 Vgl. Latour, B.: Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime, Berlin 2017. 661

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5. Im Zeitalter der Machbarkeit

5.1 Das Credo des Homo faber In gewisser Weise wurde im Zuge der zunehmenden Technisierung die Welt »entzaubert«. Gleichwohl wurde sie erneut »verzaubert«,663 insofern in der Technik ein Allheilmittel zur Lösung von Proble­ men gesehen wird. Blumenberg sagt das so: »Nichts hinnehmen, alles erzeugen.«664 Im Folgenden soll es keineswegs nur um eine literarische Roman­ figur aus dem Roman Homo faber von Max Frisch gehen. Es geht mir darum, auf eine Denkweise aufmerksam zu machen. Schauen wir uns einmal an, welches Glaubensbekenntnis Frisch den Ingenieur Walter Faber sprechen lässt: »Ich glaube nicht an Fügung und Schicksal, als Techniker bin ich gewohnt, mit den Formeln der Wahrscheinlichkeit zu rechnen. […] Es ist, wenn einmal das Unwahrscheinliche eintritt, nichts Höheres dabei, keinerlei Wunder oder Derartiges, wie es der Laie so gerne haben möchte. Indem wir vom Wahrscheinlichen sprechen, ist ja das Unwahrscheinliche immer schon inbegriffen und zwar als Grenzfall des Möglichen, und wenn es einmal eintritt, so besteht für unsereinen keinerlei Grund zur Verwunderung, zur Erschütterung, zur Mystifika­ tion. […] Ich habe mich schon oft gefragt, was die Leute eigentlich meinen, wenn sie von Erlebnis reden. Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Ich sehe alles, wovon sie reden, sehr genau; ich bin ja nicht blind. Ich sehe den Mond über der Wüste von Tamaulipas – klarer als je, mag sein, aber eine errechenbare Masse, Vgl. Belardinelli, S.: Leiden und Sterben im Zeitalter der Technik, in: Abel, G. / Christin, R. / Hogrebe, W. (Hrsg.): Lebenswelten und Technologien, Berlin 2007, S. 49–59, hier S. 55. 664 Blumenberg, H.: Theorie der Lebenswelt, Berlin 2010, S. 190. Zur Figur des Homo faber und ihrer philosophischen Rezeption sei verwiesen auf: Müller, O.: Zwischen Mensch und Maschine. Vom Glück und Unglück des Homo faber, Berlin 2010; Müller, O.: Selbst, Welt und Technik. Eine anthropologische, geistesgeschichtliche und ethische Untersuchung, Berlin / Boston 2014, S. 74 ff. 663

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5. Im Zeitalter der Machbarkeit

die um unseren Planeten kreist, eine Sache der Gravitation, interessant, aber wieso ein Erlebnis? Ich sehe die gezackten Felsen, schwarz vor dem Schein des Mondes; sie sehen aus, mag sein, wie die gezackten Rücken von urweltlichen Tieren, aber ich weiß: Es sind Felsen, Gestein, wahrscheinlich vulkanisch, das müsste man nachsehen und feststellen. Wozu soll ich mich fürchten? Es gibt keine urweltlichen Tiere mehr. […] Ich kann mich auch nicht entschließen, etwas wie die Ewigkeit zu hören; ich höre gar nichts, ausgenommen das Rieseln von Sand nach jedem Schritt. Ich weigere mich, Angst zu haben aus bloßer Fantasie, beziehungsweise fantastisch zu werden aus bloßer Angst.«665

Ein aufschlussreiches Bekenntnis. Die Frage, wer er ist, beantwortet sich für Walter Faber durch das, was er macht. Ohne Technik, so Faber, sei sein Leben geradezu sinnlos, trostlos. Er liebt sie, braucht sie und glaubt an sie. Kontrolle ist ihm elementar wichtig; Zufall und alles, was an Unvorhergesehenem daherkommt, bereitet ihm dagegen großes Unbehagen. »Wir leben technisch, der Mensch als Beherrscher der Natur, der Mensch als Ingenieur, und wer dagegen redet, der soll auch keine Brücke benutzen, die nicht die Natur gebaut hat.«666 Er beteuert, mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen,667 mit den »Tatsachen« fertig zu werden,668 genügend Lebenserfahrung zu haben669 und es mit der Vernunft zu halten.670 Technik ist für ihn der Inbegriff von Sicherheit, von Lebensqualität, von Sinnhaftigkeit. Mit ihr kann das Leben gemeistert werden. Sie hilft auch, sich die Natur und das Leben vom Hals zu halten, in Distanz hierzu zu treten. Stets soll in der Welt des Homo faber der Nutzen gesteigert werden. Alles wird durch die Brille des technischen Tuns gesehen und gedeutet. Alles dreht sich um das, was machbar ist. Technisierungs­ abläufe werden verinnerlicht. Dem, was gemacht ist, kommt eine Sonderrolle zu: auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht wird dem Gemachten ein Vorrang eingeräumt.671 Freilich soll auch in diesem Kapitel nicht einer Technik-Ableh­ nung das Wort geredet werden. Wohl aber gilt es auf Schieflagen Frisch, M.: Homo faber. Ein Bericht, Frankfurt a. M. 1977, S. 22–25. A. a. O., S. 107. 667 Vgl. a. a. O., S. 47. 668 Vgl. a. a. O., S. 77. 669 Vgl. a. a. O., S. 110. 670 Vgl. a. a. O., S. 80. 671 Vgl. Arendt, H.: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München / Zürich 62007, S. 392. 665

666

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5.1 Das Credo des Homo faber

aufmerksam zu machen. Der Homo faber steht für ein merkwürdig verkürztes Verständnis von Technik, eine Umwertung des Bekannten, auch des Menschen selbst. Technik allein bestimmt sein Denken. Sein Leben und seine Vernunft werden in ihren Dienst gestellt. Leben soll berechenbar sein. Die Technik selbst wird zum alles bestimmenden Maß. Das Gewachsene muss in dem Zusammenhang das sein, was berechenbar ist. Die Homo faber-Denkweise weitet sich aus und gewinnt immer mehr Anhänger. »Wo homo faber herrscht, wird […] alles zur Kon­ struktion, erfaßt die moderne Welt unter dem Signum des technolo­ gischen Wandels selbst die Wissenschaft und die Wissensformen.«672 Der Homo faber kreiert neue Wirklichkeiten. Die Macht des Machens ist eine Macht der Heutigen gegenüber den Kommenden. Das von Aristoteles angesprochene Grundgefüge von Praxis, Theorie und poietischem Weltbezug scheint in einer Homo faber-Per­ spektive gestört zu sein.673 »[D]ie reine Schau der Welt ebenso wie die sich an moralischen Normen orientierenden zwischenmenschlichen

672 Mittelstraß, J.: Wissen und Grenzen. Philosophische Studien, Berlin 2001, S. 45. Elisabeth List weist ganz deutlich auf eine Gefahr der Homo faber-Mentalität für die Universitäten hin: »[D]ie ökonomischen Imperative, die an die Universitäten heran­ getragen werden, wirken darauf hin, sie ganz auf die Bereitstellung instrumentellen Verwertungswissens zu beschränken.« (List, E.: Vom Darstellen zum Herstellen. Eine Kulturgeschichte der Naturwissenschaften, Weilerswist 2007, S. 25) Demgegenüber wäre m.E. die theoretischen Grundlagen unserer Wissenschaftskultur zu vergegenwärtigen und ausgehend davon über die Technisierung unserer Welt nach­ zudenken. 673 Herstellendes Machen, so der Stagirite, geht auf äußere Objekte. Wir können beispielsweise an die Konstruktion eines Plastikbaumes oder den Bau eines Hauses denken. Bei beiden Tätigkeiten liegt das Ziel nicht im Vollzug selbst. Das Handeln, die Praxis, unterscheidet sich hiervon. Das Ziel ist eben nicht im entsprechenden hergestellten Objekt zu suchen, sondern im Handeln selbst. Im Handeln realisiert sich die Person. In meinen Handlungen manifestiere ich mich. Meine Handlung gehört zu mir. Es handelt sich nicht um ein Ereignis, sondern um einen Vollzug meiner selbst. Anders als Tiere, sind wir zu einer theoretischen Haltung fähig. Wir können uns auf das ausrichten, was als unveränderlich gilt, z. B. philosophisch über einen göttlichen Urgrund reflektieren oder Mathematik betreiben. Hervorgebracht wird in der Theoria nichts. Jedenfalls verhält sich die Person hier gegenüber dem Objekt schauend, nicht herstellend. Diese Tätigkeit geschieht um ihrer selbst willen. (Vgl. Aristoteles: Metaphysik VI 1, 1025 b 25; Nikomachische Ethik VI 3–9).

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5. Im Zeitalter der Machbarkeit

Beziehungen werden zunehmend technischen Kriterien unterworfen und verkümmern dadurch ihrem Wesensgehalt nach.«674 Wenn wir hier über Homo faber sprechen, sollten wir auch über seinen Bruder sprechen: Die Rede ist vom Homo oeconomi­ cus. Wichtig für den Homo oeconomicus ist es, sparsam etwas zu erreichen. Von Belang ist daher auch für ihn, wie gewinnbringend menschliche Arbeitskraft eingesetzt werden kann, wie Ressourcen sinnvoll eingesetzt werden können. Das alles ist erst einmal natürlich nicht problematisch. Die beiden Brüder Homo faber und Homo oeconomicus stehen dafür, sich die Welt anzueignen und sie zu gestalten. Das ist ein positiver und wichtiger Aspekt. Es ist ja gut und richtig, zu kalku­ lieren, zu rechnen, zu konstruieren. Technik anzuwenden und zu wirtschaften gehört fest zu unserem Menschsein. Wir müssen uns das Gegebene aneignen und formen – ähnlich wie beim eingangs erwähnten Garten: Dem Gärtner geht es stets um das Wohl des ihm anvertrauten Gartens, für den er verantwortlich ist; Lebendiges wird um seiner selbst willen geschätzt und ist nicht bloß ein Ding unter Dingen. Problematisch wird es, wenn der Subjektcharakter, welcher ja Freiheit durch Sittlichkeit zum Ausdruck bringt, aus dem Blickfeld gerät, das eigene Menschsein zum Projekt, zum Machwerk, degradiert wird. Verstehen sich die Brüder Homo faber und Homo oeconomicus, die gerne gemeinsam auftreten, selbst nur noch als Rädchen des technologischen Fortschritts bzw. als Teilchen im Wirtschaftsprozess, dreht sich ihr Denken und Handeln nur noch um die Frage, was die jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Erfordernisse sind, und entziehen sich ihre Lebensbereiche nicht der kommerziellen Verwertung und technischen Machbarkeit, kehrt sich ihre Freiheit in Unfreiheit um. Das Verhältnis zur Natur ist gestört, die eigene Würde und die Anderer wird nicht mehr fraglos anerkannt. Leben wird zu etwas bloß Gegenständlichem. Es geht bloß um Verfügbarkeit. Beide Brüder kreisen stets um die Frage, wie Effizienz noch gesteigert werden kann. Technisches Know-how und ökonomische

674 Hösle, V.: Warum ist die Technik ein philosophisches Schlüsselproblem?, in: Hösle, V.: Praktische Philosophie in der modernen Welt, München 1995, S. 87–108, hier S. 96.

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5.2 Eingriffe in natürliche Prozesse

Interessen wirken häufig wechselseitig aufeinander.675 Entscheidend für die Homo faber- und Homo oeconomicus-Perspektive ist der Nützlichkeitswert von etwas, nicht etwa ein Eigenwert. Alles wird rein funktionalistisch betrachtet. Brigitte Falkenburg macht darauf aufmerksam, dass der Homo oeconomicus in der Manufaktur »die Güterherstellung zerlegt und die Güter aus Teilprodukten zusammensetzt; in der industriellen Produktion macht der homo oeconomicus seine Produkte mit Maschi­ nen so gleichartig wie die Gegenstände physikalischer Gesetze.«676 Wir sollten dies im Hinterkopf behalten, wenn wir uns im zweiten Gang Fragen der modernen Biotechnologie zuwenden, wo zerlegt und zusammengesetzt wird, um so effizienter das Gewachsene händeln zu können. Der Mensch steht in Gefahr, zu einer Ware unter Waren gemacht zu werden. Gerade da, wo es um Leib und Leben, um die Existenz, geht, wird der Mensch zum Objekt der Kalkulation gemacht. Problematisch wird es, wenn Personen miteinander umgehen, als hätten sie es mit leblosen Gegenständen zu tun. Ihr Verhältnis wird dadurch dinghaft. Unser Miteinander verdunkelt sich dadurch und wird teilnahmslos, wenn sich alles nur um Strategien dreht. »Gegenüber anderen Menschen meint Verdinglichung, deren vor­ gängige Anerkennung aus dem Blick zu verlieren, gegenüber der objektiven Welt bedeutet Verdinglichung hingegen, die Vielfalt ihrer Bedeutsamkeit für jene vorgängig anerkannten anderen aus dem Blick zu verlieren.«677

5.2 Eingriffe in natürliche Prozesse Wir haben gesehen, dass der Mensch nicht erst seit diesen Tagen in natürliche Prozesse eingreift. Jedoch gilt es drei Aspekte zu beachten: »[D]as ›Zeitalter der Technik‹ macht gerade ›die Technik‹ nicht zu einem Ziel, sondern immer mehr zu einem Mittel der besinnungslosen Berechnung.« (Heidegger, M.: Überlegungen VII-XI (Schwarze Hefte 1938/39), HeiGA 95, Frankfurt a. M. 2014, S. 149); vgl. auch Horkheimer, M.: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt a. M. 2007, S. 114. 676 Falkenburg, B.: Wem dient die Technik? Eine wissenschaftstheoretische Analyse der Ambivalenzen technischen Fortschritts, in: Falkenburg, B.: Wem dient die Technik? Baden-Baden 2004, S. 45–177, hier S. 78. 677 Honneth, A.: Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie. Um Kommen­ tare von Judith Butler, Raymond Geuss und Jonathan Lear erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 2015, S. 76. 675

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5. Im Zeitalter der Machbarkeit

1.) Die hiermit verbundene Haltung, 2.) den Zeitfaktor und 3.) die Tiefe des Eingriffs selbst. Zum ersten Punkt ist zu sagen, dass es einen markanten Unterschied gibt zwischen einer Indienstnahme (d. h. cul­ tura im Sinne von Pflege und Bearbeiten) und einem Herrschenwollen über die Natur. Die Eigengesetzlichkeit natürlicher Prozesse wird bei einer Indienstnahme beachtet, ein maßvoller Umgang ist angestrebt, Grenzen sind im Blick. Die Beachtung des Zeitfaktors meint, dass wir unterscheiden müssen zwischen einem behutsamen Eingreifen über Generationen hinweg und einem Aktivwerden in immer schnel­ leren Taktzahlen. Verbunden ist hiermit der dritte Aspekt, der der Eingriffstiefe, wonach heute eine ganz neue Dimension von Eingriffen möglich ist, die in Zukunft eventuell gar nicht mehr rückgängig gemacht werden können. »Künstlichkeit oder schöpferisches Konstruieren nach abstrak­ tem Entwurf (Plan) dringt ins Innerste der Materie vor.«678 Während ein Plastikbaum-Hersteller es mit totem Stoff zu tun hat, greifen biologische Techniken in Lebensprozesse ein. Während wir die Kon­ struktion z. B. eines Flugzeuges ziemlich sicher planen und berechnen können (sonst würden wir diese schließlich auch gar nicht nutzen), bleibt gerade aufgrund der Komplexität und Dynamik des Lebendigen eine Reihe von Unbekannten. Das von uns Gemachte können wir, wenn es fehlerhaft ist, umbauen, zurückrufen in die Werkhalle und korrigieren. Bei Organismen sieht dies anders aus.679 Das Paradigma der Machbarkeit besagt: Es kann alles zerlegt und neu zusammengefügt werden. Haraway formuliert dies folgenderma­ ßen: »Jedes beliebige Objekt und jede Person kann auf angemessene Weise unter der Perspektive von Zerlegung und Rekombination betrachtet werden, keine ›natürlichen‹ Architekturen beschränken die mögliche Gestaltung des Systems.«680 Es soll keinen Raum, kein Objekt, geben, das unverfügbar sein soll.

Jonas, H.: Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1987, S. 34. 679 Vgl. a. a. O., S. 167. 680 Haraway, D.: Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Techno­ wissenschaften, in: Haraway, D.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M. / New York 1995, S. 33–72, hier S. 50. 678

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5.3 Biomacht: Zugriffe auf Leib und Leben

5.3 Biomacht: Zugriffe auf Leib und Leben Leben wird heute mit Nachdruck zu funktionalisieren versucht, im Bereich des Menschen auch zu entpersonalisieren, um seiner habhaft zu werden. Leben soll in den Bereich des Verfügbaren gerückt werden. Zw# ist der altgriechische Begriff für die Tatsache des Lebens.681 Es begegnet uns in Lebewesen: in Pflanzen, Tieren, Menschen – und ebenso auch im Bereich des Göttlichen. BíoV meint die spezifische Lebensweise des einzelnen Menschen, nicht sein organisches Leben. Gemeint ist hiermit auch die Dauer eines Lebens.682 Ebenso kann hiermit die Biographie als βίος bezeichnet werden. Es handelt sich bei Aristoteles um einen zentralen Begriff der Praktischen Philosophie. So unterscheidet er etwa eine praktische bzw. politische, eine lustbe­ zogene und eine der Theorie gewidmete Weise zu leben. Er hätte in dem Zusammenhang nicht von ζωή gesprochen, da dies der Begriff für das Faktum des Lebens ist. Die Gottheit gilt ihm als das höchste, ewige Leben.683 Es kann ein Grundzug unserer Zeit darin ausgemacht werden, dass das biologische Leben verstärkt in das Zentrum der politischen Aufmerksamkeit gerückt wird. Ζωή ist, so hat es Foucault gesagt, in die Sphäre der πόλις eingetreten. In der Neuzeit, über verschiedene geistesgeschichtliche Weichenstellungen haben wir ja schon gespro­ chen, entstehe eine neue Form von Macht, die darauf aus sei, das individuelle Leben zu bestimmen. »Die Tatsache des Lebens«, so Foucault, »wird zum Teil von der Kontrolle des Wissens und vom Eingriff der Macht erfaßt.«684 Und an anderer Stelle kann man bei ihm 681 Vgl. Platon: Phaidon 105 c-d; Platon: Politeia 521 a; Aristoteles: De generatione animalium II 1, 732 a 12; III, 11, 762 a 32. 682 Vgl. Plotin: Enneaden III, 7, 11, 44; III, 7, 12, 2; Platon: Nomoi 733 d. 683 Aristoteles: Metaphysik XII 7, 1072 b 26–30; 9 1074 b 20. 684 Foucault, M.: Recht über den Tod und Macht zum Leben, in: Folkers, A. / Lemke, T. (Hrsg.): Biopolitik. Ein Reader, Berlin 2014, S. 65–87, hier S. 72. Der Begriff »Biopolitik« wird erstmals von Foucault in einem Vortrag im Jahr 1974 (Foucault, M.: Schriften, Bd. 3: 1976–1979, Frankfurt a. M. 2003), dann in seiner Vorlesung Histoire de la sexualité: La volonté de savoir (deutsch: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a. M. 1983) verwendet. In Auseinandersetzung mit Foucault ist der Begriff »Biopolitik«, den er selbst synonym mit »Biomacht« gebraucht, mehrfach aufgegriffen und in unterschiedlicher Weise verwendet und weiterentwickelt worden (vgl. hierzu: Folkers, A. / Lemke, T. (Hrsg.): Biopolitik. Ein Reader, Berlin 2014; Pieper, M. / Atzert, T. / Karakayali, S. / Tsianos, V. (Hrsg.): Biopolitik in der Debatte, Wiesbaden 2011).

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lesen: »Das Leben gelangt in den Einflussbereich der Macht – eine überaus wichtige Veränderung und ohne Zweifel eine der wichtigsten in der Geschichte der menschlichen Gesellschaften.«685 Macht, so Foucault, zeige sich (seit dem 17. Jahrhundert) als Disziplinarmacht. Diese unterscheide sich von der vormaligen Macht des Souveräns, auch den Tod als Drohung wahrzumachen. Sie sei anders, viel eher eine Lebens- als eine Todesmacht. Es gehe ihr darum, die Prozesse des Lebens so perfekt wie möglich zu durchdrin­ gen. Damit dies gelingen könne, müssten Körper erfasst, berechnet, verwaltet und nicht zuletzt auch ökonomisch strukturiert werden. Gemeint ist also nicht weniger als eine Tendenz, Kontrolle über Leib und Leben zu gewinnen. Die zugrundeliegenden Mechanismen hätten sich demnach laut Foucault gegenüber der mittelalterlichen Souveränität verschoben. An der Stelle eines Zugriffsrechts (»auf die Dinge, die Zeiten, die Körper und schließlich das Leben«) wie in mittelalterlichen Herrschaftsstrukturen – Foucault bringt hier den Gedanken der Ausnutzung von Diensten und Gewinnen ein –

Giorgio Agamben, der im Hinblick auf »Biopolitik« seinen Fokus eher auf die Tha­ natopolitik legt als auf die Sicherung und Bestimmung des individuellen Lebens, spricht von einer »Politisierung des nackten Lebens«, einer »radikale[n] Transforma­ tion der klassischen politisch-philosophischen Kategorien«. (Agamben, G.: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 102015, S. 14) Er nimmt eine rechtsphilosophische Perspektive ein und führt in seinen Überlegungen die alte Figur des Homo sacer aus dem römischen Strafrecht, die in verschiedenen Arbeiten thematisiert wird, ein. Ein solcher Mensch untersteht (z. B. nach einem Eid­ bruch) weder dem göttlichen noch dem menschlichen Recht. Ersteres bedeutet, dass er nicht einer Gottheit zum Opfer gemacht werden darf. Insofern gilt er als »heilig«. Sein Leben ist aber insofern einer permanenten Bedrohung ausgesetzt, als er kein Rechtsgenosse ist. Als Vogelfreier kann er jederzeit getötet werden, ohne dass dies für den Täter rechtliche Konsequenzen hätte. Er ist einer übergroßen Macht schlichtweg ausgeliefert. Die Unterscheidungen zwischen dem, was öffentlich und privat ist, sind im Hinblick auf den Homo sacer nicht mehr so klar. Agamben ist der Hinweis wichtig, dass »Biopolitik« Teil der alltäglichen privaten Sphäre ist. Die Figur des Homo sacer wird von ihm außer in der erwähnten Arbeit Homo sacer I noch in folgenden Publi­ kationen zum Thema gemacht: Agamben, G.: Ausnahmezustand (Homo sacer II.1), Frankfurt a. M. 2001; Agamben, G.: Herrschaft und Herrlichkeit: Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Homo sacer II.2), Berlin 2010; Agamben, G.: Das Sakrament der Sprache. Eine Archäologie des Eids (Homo sacer II.3), Berlin 2010; Agamben, G.: Was von Auschwitz bleibt (Homo sacer III), Frankfurt a. M. 2003. 685 Foucault, M.: Die Maschen der Macht, in: Foucault, M.: Analytik der Macht, Frankfurt a. M. 72017, S. 220–239, hier S. 232.

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5.3 Biomacht: Zugriffe auf Leib und Leben

steht nun also die Kontrolle.686 Diese Kontrolle richtet sich auf den Menschen, insofern er ein Lebewesen ist, nicht als Rechtssubjekt. Der Aspekt der Ausnutzung bleibt laut Foucault im 17. Jahrhundert beste­ hen, ist aber nur ein Element neben anderen, »die an der Anreizung, Verstärkung, Kontrolle, Überwachung, Steigerung und Organisation der unterworfenen Kräfte arbeiten«687. In Kapitel 4 haben wir den Wandel von einer agrarischen zur industriellen Produktionsform nachgezeichnet. Foucault geht davon aus, dass mit jener Veränderung sich auch Macht ändere und ver­ sucht werde, den Leib den neuen Produktionsweisen anzupassen. Freilich dürfen wir uns an der Stelle auch an das erinnert fühlen, was wir weiter oben Homo oeconomicus-Mentalität genannt haben: wie Arbeitsprozesse verkleinert und modularisiert werden, so auch leibliche Lebensäußerungen! Foucault weist darauf hin, dass der Leib nicht einfach in ein Korsett aus Vorschriften und Zwängen gesteckt wurde. Das Denken habe sich vielmehr geändert, die Vorschriften wurden verinnerlicht und seien in Mark und Bein übergegangen, seien selbstverständlich geworden. Bei Foucault ist in diesem Sinne von einer Tendenz die Rede, »Kräfte hervorzubringen, wachsen zu lassen und zu ordnen, anstatt sie zu hemmen, zu beugen oder zu vernichten«688. Von Interesse für die Disziplinarmacht sei die Kon­ trolle der Gesundheit und Hygiene, der Geburt wie des Todes.689 Der kontrollierte und gemaßregelte Körper ist es, der ökonomischen Profit verspricht.690 Es habe (begünstigt durch Entstehung und Praxis des Kapita­ lismus) eine »Bemächtigung« des Menschen als Lebewesen stattge­ funden.691 Das Leben wurde und werde in die Kalküle der Macht einbezogen und zunehmend versucht, es zu berechnen. Das Leben der Individuen rücke als steigerbare Ressource in den Fokus. Von besonderem Interesse sei die Verbesserung von Lebensprozessen. Vgl. Foucault, M.: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a. M. 1983, S. 132. 687 Ebd. 688 Ebd. 689 Vgl. Foucault, M.: Die Geburt der Biopolitik, in: Foucault, M.: Analytik der Macht, Frankfurt a. M. 72017, S. 180–187, hier S. 180. 690 Vgl. Foucault, M.: Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 172019, S. 176. 691 Vgl. Foucault, M.: In Verteidigung der Gesellschaft, in: Folkers, A. / Lemke, T. (Hrsg.): Biopolitik. Ein Reader, Berlin 2014, S. 88–114, hier S. 88, 103. 686

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5. Im Zeitalter der Machbarkeit

Charakteristisch für diese neu entstandene Form der Macht sei es, so Foucault, dass sie auf die individuellen Körper der Bürgerinnen und Bürger ziele. Zudem habe sich eine Form der Macht ausgebildet, der es um den Gattungskörper und seine Verbesserung gehe. »Die Fortpflan­ zung, die Geburten- und Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau […] wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regu­ lierender Kontrollen.«692 Souveränität bedeutete vor dieser Entwicklung, Recht über Leben und Tod zu haben, Sterben zu machen resp. Leben zu las­ sen.693 Anders die Biomacht, welche dadurch charakterisiert werden kann, dass sie sterben »lässt« und Leben »macht«.694 Die souve­ räne Macht eines Herrschers hat sich demnach also im Laufe der Zeit zugunsten eines Verbundes von Regierungen, Institutionen, Technologien, Denkweisen verschoben, die wechselseitig aufeinander einwirken. Macht ist, so gesehen, netzwerkartig.695 Der (Volks-)Körper ist Gegenstand der Biopolitik. Immer wieder wird die Unverfügbarkeit des individuellen Leibes in Frage gestellt. Als problematisch erscheinen in dem Zusammenhang z. B. normab­ weichende Körper. Biopolitik zielt darauf, einen dynamischen Lebens­ prozess bestimmten Idealen zu unterwerfen.696 Drastisch heißt es bei Foucault: »Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was Foucault, M.: Recht über den Tod und Macht zum Leben, in: Folkers, A. / Lemke, T. (Hrsg.): Biopolitik. Ein Reader, Berlin 2014, S. 65–87, hier S. 69. 693 Vgl. Foucault, M.: In Verteidigung der Gesellschaft, in: Folkers, A. / Lemke, T. (Hrsg.): Biopolitik. Ein Reader, Berlin 2014, S. 88 – 114, hier S. 90. 694 Vgl. a. a. O., S. 90, 96. 695 Macht hat der Mensch verinnerlicht, was freilich nicht immer offen zu Tage liegt. Wir können von einer verdeckten Herrschaft sprechen. Biopolitik ist Körperpolitik: »Es kann also ein ›Wissen‹ vom Körper geben, das nicht mit der Wissenschaft von seinen Funktionen identisch ist, sowie eine Meisterung seiner Kräfte, die mehr ist, als die Fähigkeit zu seiner Besiegung: dieses Wissen und diese Meisterung stellt die poli­ tische Ökonomie des Körpers dar.« (Foucault, M.: Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 172019, S. 37). 696 In der NS-Zeit gab es das Prinzip der Gruppennützigkeit. Hiermit ist gemeint, dass Personengruppen, die selbst keinen Nutzen davon hatten, für medizinische Forschungen herangezogen wurden, in überaus vielen Fällen ohne ihre Zustimmung. Entwickelt sich das Gesundheitswesen immer weiter zu einer Gesundheitsindustrie und wird menschliches Leben insbesondere unter finanziellen Aspekten gesehen, sind wir von einem solchen »Volkskörper« nicht mehr weit entfernt. In diese Richtung können auch die immer wieder neu aufflackernden Debatten zur Organspende gelesen werden, ob nicht jeder automatisch Organspender sein sollte, es sei denn, er spräche sich ausdrücklich gegen diese »Sozialpflichtigkeit« aus. Es scheint für die Befürworter 692

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5.3 Biomacht: Zugriffe auf Leib und Leben

er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.«697 Wir können an diese kluge Analyse anschließen. Die hier beschriebene Form von Macht zeigt sich heute, wenn es darum geht, Gewachsenes zu vereinnahmen, zu modifizieren und letztlich auch zu überwinden. Und klar dürfte auch sein: Macht ist freilich umso größer, wenn ihr Einfluss auf das Denken und Empfinden unbemerkt bleibt resp. es ihr gelingt, als wirkliche Freiheitsoption zu scheinen. Heutige Machtausübung geschieht meistens effizient und unsichtbar.698 Byung-Chul Han führt diesen Gedanken näher aus: Die Machttechnik in modernen Gesellschaften »bemächtigt sich nicht direkt des Individuums. Vielmehr wird dafür gesorgt, dass das Indivi­ duum von sich aus auf sich selbst so einwirkt, dass es den Herrschafts­ zusammenhang in sich abbildet, wobei es ihn als Freiheit interpretiert. Selbstoptimierung und Unterwerfung, Freiheit und Ausbeutung fal­ len hier in eins.«699 Wenden wir es einmal so: Das Individuum glaubt vor allem an das »nackte biologische Leben« und ist bereit, dafür sehr viel in Kauf zu nehmen, um es zu erhalten. Selbst der Verlust der Freiheit wird möglicherweise nicht weiter hinterfragt.700 Im 21. Jahrhundert ermöglicht gerade auch die Genetik, Macht über Leib und Leben zu bekommen. »Vom 21. Jahrhundert an wird der menschliche Forschungs- und Schaffensdrang nur noch von den Gesetzen der Physik, den Regeln der Logik und dem morali­

einer solchen Lösung völlig selbstverständlich zu sein, den Zugriff auf die Organe eines anderen Menschen zu verlangen. 697 Foucault, M.: Recht über den Tod und Macht zum Leben, in: Folkers, A. / Lemke, T. (Hrsg.): Biopolitik. Ein Reader, Berlin 2014, S. 65–87, hier S. 72. 698 Exemplarisch sei hier folgende Situation genannt: Mit Unterstützung der islän­ dischen Regierung wurde Mitte der 1990er Jahre die Firma deCODE genetics gegrün­ det, die im ganz großen Stil genetische Daten der isländischen Bevölkerung gesammelt und ausgewertet hat. Die erhobenen Daten wurden dann kurze Zeit später einem pri­ vatwirtschaftlichen Unternehmen überlassen. (Vgl. Hirsch, A.: Biopolitik und die Rechte des Menschen. Versuch über die Politisierung des Lebens im Zeitalter der Menschenrechte, in: Jonas, J. / Lembeck, K.-H. (Hrsg.): Mensch – Leben – Technik. Aktuelle Beiträge zur phänomenologischen Anthropologie, Würzburg 2006, S. 257– 267, hier S. 257 f.). 699 Han, B.-C.: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Frank­ furt a. M. 22015, S. 42. 700 Vgl. Agamben, G.: An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik, Wien / Berlin 2021, S. 26 ff.

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schen Empfinden unserer Nachkommen eingeschränkt werden«, so beschreibt Ian Wilmut, der Schöpfer des Klonschafes Dolly, das gegenwärtige Zeitalter. Und er fügt hinzu: »Kein Zweifel, Dolly hat uns ins Zeitalter biologischer Kontrolle geführt.«701 Der Zusatz ist alles andere als nebensächlich: Um »biologische Kontrolle« soll es seiner Auskunft nach gehen. Wenn über den genetischen Code gesprochen wird, spielen hierbei auch handfeste ökonomische wie politische Interessen eine Rolle. Andreas Brenner verweist darauf, dass zahlreiche Projekte der Genomforschung in den Vereinigten Staaten von Amerika bis in die 1960er Jahre von NASA und Pentagon gefördert wurden, und auch auf sowjetischer Seite war man an strategischem Wissen und verwertbaren Einsichten interessiert. So gesehen hat das Klima des Wettrüstens unser Wissen um unsere Erbanlagen gefördert.702 Lily E. Kay spricht passend von einer neuen »Bio-Macht, [der] Macht genetischer Information«703. Der moderne Priester scheint der Wissenschaftler zu sein, technologischer Fortschritt heißt das Credo, der Weg wird in der Digitalisierung ausgemacht: des ganz Alltäglichen wie des Lebendi­ gen. Digitale Technologien wie auch das Internet ermöglichen es, Menschen ganz leicht zu überwachen und auf diese Weise Macht auszuüben.704 Medizinische Daten werden eifrig und in rasantem 701 Wilmut, I. / Cambell, K. / Tudge, C.: Dolly. Der Aufbruch ins biotechnische Zeitalter, München 2002, S. 25. An späterer Stelle schreibt er gemeinsam mit Keith Campbell: »Die Biologie von mor­ gen […] dürfte eine praktisch unbegrenzte Kontrolle über Lebensprozesse gewinnen. Zwar wäre die Annahme gefährlich, wir könnten eines Tages alle Lebensprozesse bis in ihre letzten Verzweigungen verstehen. [… Unsere Nachkommen werden] über eine Macht verfügen, die wohl nur durch ihre Vorstellungskraft begrenzt sein wird – und natürlich die Gesetze der Physik und der Logik.« (A. a. O., S. 301) Die Biologie werde sich weiterentwickeln, Fortschritte machen. Es werde durch sie eine »absolute Kon­ trolle« (a. a. O., S. 325) geben. »Wir stehen an der Schwelle zum Zeitalter der biolo­ gischen Kontrolle und müssen uns moralisch und politisch dafür rüsten.« (A. a. O., S. 325 f.). 702 Vgl. Brenner, A.: Leben, Stuttgart 2009, S. 9 f.; Brenner, A.: Leben. Eine philoso­ phische Untersuchung, hrsg. von Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich, Bern 2007, S. 13. 703 Kay, L. E.: Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code?, Baden-Baden 2005, S. 9. 704 Die Sorgen sind nicht ganz neu. In der Mitte des 20. Jahrhunderts hat Georges Canguilhem eine politische Gefahr der Genforschung darin ausgemacht, dass Erban­ lagen zentral überwacht werden können. Erfreulicherweise liegt der Band inzwischen

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5.3 Biomacht: Zugriffe auf Leib und Leben

Tempo erhoben; hiermit zusammenhängend auch soziale Faktoren: die Bevölkerung wird durchleuchtet und kontrolliert, wobei Daten grundsätzlich zueinander in Bezug gebracht werden können, wodurch sich freilich noch einmal ganz neue Möglichkeiten auftun. Im Kontext moderner Biopolitik soll Lebenszeit verlängert wer­ den. Petra Gehring spricht davon, dass Lebenszeit käuflich werden soll: »Indem man die sterblichen Substanzen und die bisher in die Generationenfolge einfach mit dem Individuum versunkenen Bioda­ ten nicht nur technisch erschließt und produktiv macht, sondern eben auch lagerbar, übertragbar, verkehrsfähig, macht man perspektivisch Lebenszeit käuflich.«705 Eine besondere Rolle spielen heute gewiss Biobanken. Hier wird sowohl Datenmaterial als auch biologisches Material gespeichert. Markus Jansen hält kritisch fest: »Biobanken sollen […] vor allem Übersicht und Transparenz im Kampf gegen ›Volkskrankheiten‹ erzeugen. In sogenannten Kohorten wer­ den Hunderttausende ›rekrutiert‹, um der medizinischen Forschung umfassendes Biomaterial zur Verfügung zu stellen. Möglichst differen­ zierte biologische und soziale Profile der Rekruten werden erstellt, in aktualisierter Übersetzung vor. (Vgl. Canguilhem, G.: Das Normale und das Pathologische, Berlin 2017) Möglicherweise stünden wir, so Thomas Lemke im Blick auf G. Canguilhems Arbeit zuspitzend formulierend, heute am Beginn eines Zeitalters einer »Polizei der Gene« (Lemke, T.: Die Polizei der Gene. Formen und Felder genetischer Diskriminierung, Frank­ furt a. M. / New York 2006, S. 14). Lemke verbindet die Vorstellung einer solchen Totalüberwachung mit der Gefahr der Diskriminierung. Wenn Dispositionen für bestimmte Krankheiten öffentlich werden, könne dies zu gravierenden Nachteilen für die betroffenen Personen und unliebsamen Stigmatisierungen führen. Die Möglich­ keiten direkter und indirekter sowie struktureller und interpersonaler Diskriminie­ rung seien zahlreich: Denkbar sei es z. B., dass der Abschluss von Krankenversiche­ rungen verweigert oder eine Adoption verunmöglicht würde, wenn einer der Ehepartner, eine Krankheitsdisposition aufweist. Ungut sei zudem der hierdurch an Bedeutung zulegende Glaube an einen Genfatalismus. (Vgl. ebd.) Lemke macht in diesem Zusammenhang auf ein Dilemma aufmerksam: »Das Verbot einer ›Ungleich­ behandlung‹ von Menschen mit einer ›abnormen‹ genetischen Konstitution verstärkt den kulturellen Glauben an die Sonderstellung genetischer Faktoren, dem doch eigent­ lich mit der rechtlichen Regulierung begegnet werden soll. […] Auf der einen Seite gibt es Praktiken genetischer Diskriminierung und Menschen, die unter diesen Prak­ tiken leiden; auf der anderen Seite wird der genetische Essentialismus durch die wis­ senschaftliche und rechtliche Bekräftigung einer Sonderrolle genetischer Faktoren erneuert und verstärkt.« (A. a. O., S. 142). 705 Gehring, P.: Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt a. M. / New York 2006, S. 34.

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5. Im Zeitalter der Machbarkeit

diese leisten damit einen ›wichtigen Beitrag für die Forschung‹, wie es immer heißt.«706

Der Leib rückt heute als umverteilungspflichtige Ressource in den Fokus. Es wird versucht, ihn in den Bereich des Verfügbaren zu rücken.707 Er wird fragmentiert, objektiviert, instrumentalisiert. Ver­ wertungsmöglichkeiten von Daten und Informationen, Zellen, Orga­ nen und Substanzen des Körpers resp. des gesamten Leibes werden gesellschaftlich kontrovers diskutiert. Nicht immer ist dabei freilich im Blick, dass der Leib gerade keine Sache ist, für die es einen Preis gibt. »Wo gemacht wird, wird weggeworfen: wir leben zugleich im Wegwerfzeitalter.«708

Jansen, M.: Digitale Herrschaft. Über das Zeitalter der globalen Kontrolle und wie Transhumanismus und Synthetische Biologie das Leben neu definieren, Budapest 2015, S. 30. 707 Für Körperstoffe gibt es heutzutage Märkte; mit ihnen handelt man, als seien es Rohstoffe. Sie werden nutzbar gemacht, gewinnbringend zu verwerten versucht. Dies hat Folgen für unseren Umgang mit Leiblichkeit. »Mit der Nutzbarmachung der Sub­ stanzen wird der Körper nicht nur finanziell neu, nämlich ›höher‹ bewertet, sondern es wandelt sich das, was ein lebendiger Körper ist. Die individuellen Körper der Men­ schen werden anders behandelt, anders verwendet, anders wahrgenommen und anders dargestellt. Sie, oder vorsichtiger gesprochen: etwas von ihnen, etwas an ihnen, scheint selbst zirkulationsfähig zu werden.« (Gehring, P.: Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt a. M. / New York 2006, S. 17). 708 Marquard, O.: Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeid­ lichkeit des Unverfügbaren, in: Marquard, O.: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophi­ sche Studien, Stuttgart 2015, S. 67–90, hier S. 67; siehe hierzu auch: Hoffmann, T. S.: Kultur – Ethik – Recht. Eine Skizze im Blick auf den globalen Antagonismus von Norm- und Nutzenkultur, in: Hoffmann, T. S. / Schweidler, W. (Hrsg.): Normkultur vs. Nutzenkultur, Berlin 2006, S. 29–54. 706

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Zweiter Gang: Umgestaltung, Überwindung und Neuschöpfung von Gewachsenem und Gemachtem

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»Wir leben im Zeitalter der Machbarkeit. Erst wurde nichts gemacht, dann wurde einiges gemacht, heute wird alles gemacht.«709

Wenn das »Prinzip des Machens […] sich aus seiner dienenden Stel­ lung befreit und zum einzigen Prinzip des menschlichen Denkens, Handelns und Fühlens avanciert, dann muß der Begriff eines Unan­ tastbaren, nicht zu Machenden, vielmehr allem Zugrundeliegenden, kurz der Begriff des Sittengesetzes, seinen Sinn verlieren, dann ist insbesondere die Erfahrung des anderen Menschen als Selbstzweck, wie sie das Sittengesetz gebietet, nicht mehr möglich.«710

Im Folgenden sollen Grenzverschiebungen, Grenzüberschrei­ tungen und Entgrenzungen thematisiert werden. Grenzen zwischen Gewachsenem und Gemachtem, Natur und Technik, Mensch und Maschine, Lebendigem und Nichtbelebtem scheinen sich in der Folge moderner Lebenswissenschaften und deren technischer Anwendung zu verschieben bzw. sogar im Auflöseprozess zu sein. Eine besondere Herausforderung moderner Lebenswissenschaften hat auch damit zu tun, dass ihre Auskunft, was zum Bereich des Gewachsenen und nicht zum Gemachten gehört, erst erfolgen kann, wenn sie einen Eingriff vornehmen.

709 Marquard, O.: Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeid­ lichkeit des Unverfügbaren, in: Marquard, O.: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophi­ sche Studien, Stuttgart 2015, S. 67–90, hier S. 67. 710 Hösle, V.: Warum ist die Technik ein philosophisches Schlüsselproblem?, in: Hösle, V.: Praktische Philosophie in der modernen Welt, München 1995, S. 87–108, hier S. 105.

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6. Das Zwergenhafte bestimmen und die Welt im Kleinen neu zusammensetzen: Wege in Nanowelten

6.1 Leitidee und Anwendungsfelder nanotechnologischer Forschung Menschen bauen und konstruieren: seien es Brücken und Burganla­ gen, Kathedralen oder Wolkenkratzer, Flughäfen oder Einkaufszen­ tren. Der Radius des Möglichen ist dabei u. a. durch die Eigenschaften der Dinge eingeschränkt: Ein bestimmtes Material X können wir noch so behandeln, schmieden oder mischen – es wird nicht zu einem Ding Y werden. Dies allerdings muss durch die aktuelle nanotechnologische Forschung nicht mehr einfach hingenommen werden. Teleskope erschließen die Tiefen des Alls und die Geschichte des Universums. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts bricht man in neue Welten auf. Diese findet man im ganz Kleinen. Von nánoV, Winzling, Zwerg, hat eine Technik ihren Namen erhalten, die sowohl Analyse als auch Umgestaltung und technische Nutzbarmachung des Gegebenen in Nanometergröße erlaubt. Nanopartikel können eine natürliche wie auch eine anthropogene Herkunft haben.711 Ein Nanometer entspricht dabei einem Milliardstel Meter.712 Das ist etwa 80.000-mal kleiner 711 Wenn wir von Nanopartikeln sprechen, geht es hier insbesondere um ihre markan­ teste Gemeinsamkeit: ihre Größendimension. Die chemische Zusammensetzung ist dabei freilich alles andere als gleich. „›Nanomaterial‹ bezeichnet ein natürliches, bei Prozessen anfallendes oder herge­ stelltes Material, das Partikel in ungebundenem Zustand, als Aggregat oder als Agglo­ merat enthält, und bei dem mindestens 50 % der Partikel in der Anzahlgrößenvertei­ lung ein oder mehrere Außenmaße im Bereich von 1nm bis 100 nm haben.« (Amtsblatt der Europäischen Union, 5.5.2017, L117/17). https://www.spectaris.de/fileadmin/Infothek/Medizintechnik/Positionen/%C3% 9Cberblick-zur-neuen-europ%C3%A4ischen-Medizinproduktverordnung/MDR_V erordnung_EU.pdf (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 712 Was größer ist als 100 Nanometer, wird Makro genannt.

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6. Nanotechnologien

als der Durchmesser eines Haares auf dem menschlichen Kopf. Etwa ein Hunderttausendstel einer Buchseite ist ein Nanometer. Bei einem roten Blutkörperchen liegt ein Durchmesser von ungefähr 5.000 nm vor. Bei Molekülen wie der DNA haben wir es mit Nanometergrößen zu tun: Der Helix-Durchmesser beträgt etwa 2 nm. Bei Viren haben wir es mit einer Größendimension von 10–400 nm zu tun. Viele Prozesse im Bereich des Lebendigen vollziehen sich im Nanobereich, wenn wir u. a. an Transportvorgänge innerhalb von Zellen denken. Zu nennen wäre freilich auch die Größe von Salzkristallen in der Meeresluft. Christian Schneider verwendet ein schönes Bild, um die Größendimension zu veranschaulichen: »1 nm verhält sich zum Durchmesser einer Orange wie der Durchmesser einer Orange zu dem der Erde!«713 Wenn wir von nanoskaligen Größen sprechen, bewegen wir uns im Größenbereich von Molekülen. In dieser Größendimension, so die Hoffnung, die sich mit der Nanotechnologie verbindet, seien weitaus andere Effekte möglich, insofern die Eigenschaften von festen Partikeln im Nanobereich beim gleichen Material anders sein können als im Makrobereich. Dies reicht von der elektrischen Leitfähigkeit über Magnetismus, Lichtbrechungseigenschaften, Härte bis hin zur Fluoreszenz. Oberflächen von Materialien lassen sich so nach eigenen Vorstellungen gestalten, Materialeigenschaften können neu generiert werden.714 Und darum geht es den unterschiedlichen Akteuren: Funk­ tionale Strukturen, Elemente und Systeme in Nanometerdimension zu untersuchen, herzustellen und verfügbar zu machen. Auf der Ebene von Molekülen wie Atomen werden grundlegende Zusammenhänge analysiert. Von besonderer Relevanz ist der künstliche Charakter der Nanotechnologie. Man arbeitet daran, Materialien mit neuen Eigenschaften und Effekten herzustellen. Nicht immer jedoch wird klar umrissen, worin genau das neue Phänomen bestehen soll resp.

Schneider, C.: Licht in der Welt der Nanotechnologie. Ein verständlicher Einstieg in die Grundlagen und Anwendungen, Wiesbaden 2016, S. 1. 714 Zur Vielzahl an möglichen Einsatzbereichen von Nanoprodukten: Zukünftige Technologien Consulting der VDI Technologiezentrum GmbH (Hrsg.): Innovationsund Marktpotenzial neuer Werkstoffe. Monitoringbericht 2007, Düsseldorf 2007, S. 15–21; European Commission (Hrsg.): European Technology. Platform on Nanomedicine. Nanotechnology for Health – Strategic Research Agenda, Luxembourg 2006. 713

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was die Effekte sind.715 Es geht also um Veränderbarkeit und darum, das, was bisher nicht dem Auge zugänglich war, da es im Bereich atomarer und molekularer Größenordnungen anzutreffen ist, visuell und technisch zugänglich zu machen.716 Unterschiedliche Forschungsgebiete aus Natur- und Ingenieur­ wissenschaften versammeln sich unter dem Dach der Nanowissen­ schaften. Biologen, Chemiker, Mediziner, Physiker, Techniker arbei­ ten hier Hand in Hand: ganz ähnlich wie etwa im Bereich der Synthetischen Biologie, mit der wir uns im nächsten Kapitel beschäf­ tigen wollen. Einen einheitlichen Methoden- und Theorienkanon gibt es kaum. Als wegbereitend gilt die Entwicklung der Rastersonden- und Rasterkraftmikroskopie in den 1980er Jahren.717 Nanotechnologien zielen darauf ab, nicht nur dem Anliegen Fausts zu folgen, zu erfor­ schen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, sondern diese im Kleinen neu zusammenzusetzen: Atome werden neu geordnet und manipuliert. Verschiedentlich wird betont, dass Nanotechnologie selbst noch jung sei, die Ursprünge aber schon weiter zurückreichen, ohne dass dies damals bewusst gewesen wäre: »Schon in der Antike und im Mittelalter kannten Glasmacher die Wirkung von in Glasschmelze eingebrachtem Gold. Anders als die Farbe von solidem Gold kann Glas, in welchem sich Gold-Nanopartikel befinden, auch tiefrote, 715 Vgl. Grunwald, A.: Auf dem Weg in eine nanotechnologische Zukunft. Philoso­ phisch-ethische Fragen, Freiburg / München 2008, S. 38. 716 »Häufig wird unterschieden zwischen ›Nano2Bio‹, wo es um Nutzung der Nano­ technologie für die Analyse und Herstellung biologischer Nanosysteme (z. B. subzel­ lularer Strukturen und Vorgänge) geht, und ›Bio2Nano‹, das für die Nutzung von Materialien und Bauplänen aus lebenden Systemen zur Herstellung technischer Nanosysteme steht.« (Grunwald, A. / Fleischer, T.: Nanotechnologie – Wissenschaft­ liche Basis und gesellschaftliche Folgen, in: Gazsó, A. / Greßler, S. / Schiemer, F. (Hrsg): Nano. Chancen und Risiken aktueller Technologien, Wien / New York 2007, S. 1–20, hier S. 7). 717 Das Rastertunnelmikroskop ermöglicht die Abbildung und Manipulation einzel­ ner Atome. Entwickelt wurde es von Gerd Binnig und Heinrich Rohrer, die dafür im Jahre 1986 mit dem Nobelpreis für Physik geehrt wurden. Binnig entwickelte später ein anderes Rastersondenverfahren: das Rasterkraftmikroskop, welches einen noch präziseren Zugriff erlaubt. Die Arbeiten Christoph Gerbers trugen zur Entwicklung bei. Hierzu: Binnig, G. / Quate, C. / Gerber, C.: Atomic Force Microscope, in: Physical Review Letters, Jg. 56, 9 (1986), S. 930–933; Soentgen, J.: Atome sehen, Atome hören, in: Nordmann, A. / Schummer, J. / Schwarz, A. (Hrsg.): Nanotechnologien im Kontext. Philosophische, ethische und gesellschaftliche Perspektiven, Berlin 2006, S. 97–113.

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satte Farben annehmen.«718 Das Präfix »Nano« war zu jener Zeit freilich noch in weiter Ferne. Stefan Gammel nennt noch ein weiteres schönes Beispiel aus dem 4. Jahrhundert, bei dem Nanotechnologie seiner Ansicht nach scheinbar schon vorweggenommen wurde:719 Die Rede ist vom Lykurg-Kelch, der im British Museum zu London aufbewahrt wird und bestaunt werden kann. Das Faszinierende dieses Kelches besteht darin, dass er seine Farbe wechseln kann: und zwar von Grün in Rot. Grün ist er, wenn das Licht von außen auf den Sakralgegenstand fällt. Kommt es von innen, ist die Farbe rot wie Blut. Erklären lässt sich dieser Farbwechsel damit, dass Gold- und Silberpartikel in Nanogröße auch hier eine Rolle spielen. In verschiedenen Arbeiten zur Nanotechnologie wird auf einen Vortrag Richard Feynmans aus dem Jahre 1959 verwiesen, der quasi den Startschuss für nanotechnologische Bestrebungen darstelle: »There’s Plenty of Room at the Bottom«720. In ein neues Gebiet der Physik wolle Feynman einladen. Und in der Tat liest sich der Text des weltbekannten Physikers wie eine Vision. Ihm sei es weniger um Aussagen zur Grundlagenphysik als um ganz konkrete technische Anwendungen gegangen. Wenn Feynman von einem »Spielraum nach unten« spricht, geht es ihm um jene nanoskaligen Dimensionen, die allerdings noch nicht so genannt werden. Feynman spricht etwa davon, wie man Atome beliebig verschieben und neu zusammen­ setzen könne.721 Er macht in seinem Beitrag den Vorschlag, ein Elektronenmikroskop nicht nur zur Vergrößerung, sondern auch zur Verkleinerung zu nutzen. So würde es gelingen, mit einem Strahl aus geladenen Teilchen kleinste Strukturen zu erzeugen.722 Auch das, was heute als Drug Delivery Systems, Nanoroboter im Körper von Patienten, von sich reden macht, taucht in dem erwähnten Auf­ satz bereits auf. Und auch die Frage der effizienten Speicherung Schneider, C.: Licht in der Welt der Nanotechnologie. Ein verständlicher Einstieg in die Grundlagen und Anwendungen, Wiesbaden 2016, S. 21. 719 Vgl. Gammel, S.: Ethische Aspekte der Nanotechnologie (Interfakultäres Zentrum für Ethik in den Wissenschaften), Tübingen 2007, S. 10 f. 720 Feynman, R.: There’s Plenty of Room at the Bottom, in: Engineering and Science, Febr. 1960, S. 22–36. 721 Feynman versteht Moleküle und Atome als Grundlage, um daraus etwas zu kon­ struieren: »[…] we must always accept some atomic arrangement that nature gives us.« (A. a. O., S. 34). 722 Für die Mikroskopietechnik erhofft er Verbesserungen, auf dass Atome sichtbar gemacht werden könnten. Naturbeschreibungen sollten jedoch, daran sei erinnert, nicht mit unseren Modellen von Natur in einen Topf geworfen werden. 718

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von Daten beschäftigt den Physiker. Der Bezug auf diesen Beitrag als Gründungsurkunde der Nanotechnologie ist daher naheliegend. Gleichwohl hat dieser Aufsatz zunächst kaum Breitenwirkung entfal­ tet und wurde entsprechend selten rezipiert.723 Vom Präfix »Nano« scheint heute ein besonderer Zauber aus­ zugehen, dem Aufmerksamkeit und Forschungsgelder sicher sind. »Nano« ist modern, »Nano« ist förderungswürdig. Wer »Nano« ist, zählt zur Avantgarde.724 Erstmals begegnet uns der Begriff Nanotech­ nology im Jahre 1974 bei Nori Taniguchi, einem japanischen Wissen­ schaftler.725 Bis zur Jahrtausendwende war Nanotechnologie auch unter Inge­ nieuren und Wissenschaftlern noch weitgehend terra incognita. Eine große Fördermaßnahme bestand vor allem in der Gründung der USamerikanischen Nanotechnologie-Initiative.726 Es folgten weitere for­ 723 »In the first 20 years after Feynman’s lecture was published in 1960, it was cited a mere seven times in the scientific literature. This scant record does not square with the common belief that Feynman’s paper represents the origin of nanotechnology«, wie Chris Toumey unterstreicht (Toumey, C.: Plenty of room, plenty of history, in: Nature Nanotechnology, Vol. 4, Dec. 2009, S. 783–784, hier S. 783). Und an anderer Stelle schreibt er: „›Plenty of Room‹ was rediscovered retroactively when nanotech­ nology needed a simple coherent history.« (Toumey, C.: The man who understood the Feynman machine, in: Nature Nanotechnology, Vol. 2, Jan. 2007, S. 9–10, hier S. 9). Christian Kehrt spricht in dem Zusammenhang von einem »Feynmanmythos« (Kehrt, C.: Mit Molekülen spielen. Wissenschaftskulturen der Nanotechnologie zwischen Politik und Medien, Bielefeld 2016, S. 42), der »Teil einer Popularisierungsstrategie der Nanotechnologie« (a. a. O., S. 43) sei. Kehrt bezieht sich auf eine Arbeit von Andreas Junk und Falk Riess (vgl. Junk, A. / Riess, F.: From an Idea to a Vision. There’s Plenty of Room at the Bottom, in: American Journal of Physics 74 (2006), H. 9, S. 825–830) und hält fest: Die Rede Feynmans sei »eine unbeachtete Randbemerkung des Nobel­ preisträgers gewesen, die erst im Zuge des öffentlichen Nanohypes den Status eines zentralen Referenzpunktes im Nanodiskurs erlangt habe.« (A. a. O., S. 44 f.). 724 »Wer rechtzeitig auf den Nano-Zug aufgesprungen ist, der erlebt heute als Nano­ wissenschaftler eine gesteigerte öffentliche Aufmerksamkeit, einen Geldsegen für die eigene Forschung und oft auch einen erheblichen Karriereschub, von denen er ein paar Jahre zuvor als Chemiker, Physiker oder Materialwissenschaftler nur träumen konnte.« (Schummer, J.: Nanotechnologie. Spiele mit Grenzen, Frankfurt a. M. 2009, S. 133). 725 Vgl. Yamamoto, V. / Suffredini, G. / Nikzad, S. / Hoenk, M. / Boer, M. S. / Teo, C. / Heiss, J. D. / Kateb, B.: From Nanotechnology to Neuroscience / Nanoneuro­ surgery and Nanobioelectronics, in: Heiss, J. D. / Kateb, B. (Hrsg.): The Textbook of Nanoneuroscience and Nanoneurosurgery, Boca Raton 2014, S. 1–28, hier S. 3. 726 Zur Rolle forschungspolitischer Initiativen: Schummer, J.: Nanotechnologie. Spiele mit Grenzen, Frankfurt a. M. 2009; Schaper-Rinkel, P.: Nanotechnologiepolitik: The discursive Making of Nanotechnology, in: Lucht, P. / Erlemann, M. / Ruiz Ben, E.

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schungspolitische Initiativen.727 Der nanotechnologischen Forschung wird eine herausragende Bedeutung für Wissenschaft und alltägliches Leben zugesprochen. Immer wieder wird nanotechnologische Forschung als »enabling technology«728 resp. »converging technology« bezeichnet.729 Hiermit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass durch sie für andere Tech­ nologiezweige, etwa Biotechnologien, ganz neue Möglichkeiten ins Haus stehen. Diese ergeben sich dadurch, dass wir es mit ganz neuen Größendimensionen und neuen Materialeigenschaften zu tun haben, eben »Nano-Welten«. Eine einheitliche, zumal hinreichend aussagekräftige Definition der Nanotechnologie gibt es, wie von verschiedener Seite hervorge­ hoben wird, nicht.730 Meistens wird darauf hingewiesen, dass es sich um ein Forschungs- und Technologiefeld in einem ganz bestimm­ ten Größenbereich handelt. Von einer Querschnittstechnologie ist z. B. die Rede.731 Joachim Schummer betont, dass es insbesondere außerwissenschaftliche Akteure sind und waren, die sich für Nano­ technologie öffentlich starkmachen und hierfür werben.732 »Nano­ (Hrsg.): Technologisierung gesellschaftlicher Zukünfte. Nanotechnologie in wissen­ schaftlicher, politischer und öffentlicher Praxis, Freiburg 2010, S. 39–53; Kehrt, C.: Mit Molekülen spielen. Wissenschaftskulturen der Nanotechnologie zwischen Politik und Medien, Bielefeld 2016, S. 71–89. 727 Juristen diskutieren, ob und inwieweit es einen Patentschutz für chemische Elemente geben kann: Schulz, T. H.: Nanomaterialien als Risiko? Herausforderungen an das Europarecht. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des Welthan­ delsrechts (Schriften zum Europäischen Recht, Bd. 168), Berlin 2015. 728 »As ›enabling technologies‹ they are said to have – together with already existing technologies – the potential to create new and hitherto unknown possibilities. As ›dis­ ruptive technologies‹, however, they are said to replace old technologies by new ways of production or completely new products.« (Ach, J. S. / Siep, L.: Introduction: Ethical Problems Regarding Nanobiotechnology, in: Ach, J. S. / Siep, L. (Hrsg.): Nano-BioEthics. Ethical Dimensions of Nanobiotechnology, Berlin 2006, S. 7–8, hier S. 8). 729 Hierzu kritisch: Schmidt, J. C.: Tracing Interdisciplinarity of Converging Tech­ nologies at the Nanoscale. A Critical Analysis of Recent Nanotechnologies, in: Tech­ nology Analysis & Strategic Management 20 (2008)1, S. 45–63. 730 In der »Unbestimmtheit« und »flexible[n] Interpretierbarkeit« (Kehrt, C.: Mit Molekülen spielen. Wissenschaftskulturen der Nanotechnologie zwischen Politik und Medien, Bielefeld 2016, S. 12) wird teilweise auch ein Vorzug ausgemacht, insofern hiermit verschiedene Ideen und Zielvorstellungen verbunden werden können. 731 Vgl. Schulz, T. H.: Nanomaterialien als Risiko? Herausforderungen an das Euro­ parecht. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des Welthandelsrechts (Schriften zum Europäischen Recht, Bd. 168), Berlin 2015, S. 27. 732 Schummer, J.: Nanotechnologie. Spiele mit Grenzen, Frankfurt a. M. 2009.

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technologie« bezeichne, so Schummer, eine soziale, politische und ökonomische Bewegung, keine einheitliche Technik.733 Auch Alfred Nordmann unterstreicht, dass wir es hier mit ganz heterogenen Forschungsfeldern zu tun haben, weshalb er lieber von Nanotechno­ logien im Plural sprechen mag.734 Er teilt die Aussage Schummers, dass es insbesondere politische Gründe seien, die Nanotechnologien gepusht hätten.735 Nanotechnologie, so Schummer, sei in vielfacher Hinsicht gar nicht so neu, wie häufig unterstellt werde: Insbesondere seien die verschiedenen Forschungsbereiche gar nicht einheitlich, um hier von einer einheitlichen Technik sprechen zu können. Eher treffe es den Kern, sie als ein »Bündel neuer Forschungsrichtungen«736 zu charak­ terisieren: »ein Bündel von Ideen über die Rolle von Wissenschaft und Technik in der Gesellschaft, die an der Schnittstelle zwischen Wis­ senschaft und Öffentlichkeit artikuliert werden«737. Nanotechnologie versuche, bekannte Grenzen zu verschieben, mit ihnen zu spielen. Vgl. a. a. O., S. 145. Es ist gar nicht so einfach zu sagen, was Nanotechnologie ist – was freilich auch ein Vorteil sein könnte. Der Umstand, dass sie schwieriger zu fassen ist, macht Nano­ technologie m.E. beispielsweise auch ein Stück weit immun gegen Gegner: Sie wird nicht als Ganze getroffen. J. Schummer macht auf folgende interessante Entwicklung aufmerksam. In einem Forschungsbericht des Bundesministeriums für Bildung und Forschung aus dem Jahr 2002 tauchte Nanotechnologie im Zusammenhang der »Materialforschung« auf. Die jährliche Fördersumme wurde mit 8 Millionen Euro beziffert. Dasselbe Ministerium publizierte ein paar Monate später einen weiteren Text, in dem die Förderausgaben für Nanotechnologie mit 350 Millionen Euro beziffert wurden. Wie kann das sein? »Während der erste Bericht auf einer engen, projektbe­ zogenen Definition von Nanotechnologie basierte, arbeitete die Broschüre mit einem diffusen Begriff, unter den man rückwirkend zahlreiche andere Forschungsprojekte fassen konnte. […] Enge Begriffe erzeugen kleine Budgets und kleine Märkte. Mit schrittweisen Begriffserweiterungen steigert man Budgets und Märkte durch Einbe­ ziehung anderer Technologien, demonstriert Innovationsinitiative und Wachstum und deckt ungeahntes Wirtschaftspotential auf.« (A. a. O., S. 19 f.). 734 Nordmann, A.: Die Welt als Baukastensystem. Denkmuster hinter der Nano­ technologie, in: Politische Ökologie 101 (2006), H. 9, S. 20–23, hier S. 23; auch Grun­ wald versteht den Begriff »Nanotechnologie« als Sammelbegriff für unterschiedliche Forschungsrichtungen. (Vgl. Grunwald, A.: Auf dem Weg in eine nanotechnologische Zukunft. Philosophisch-ethische Fragen, Freiburg / München 2008, S. 9) Es sei kein »klar definierter Bereich der Wissenschaften« (a. a. O., S. 36). 735 Nordmann, A.: Die Welt als Baukastensystem. Denkmuster hinter der Nanotech­ nologie, in: Politische Ökologie 101 (2006), H. 9, S. 20–23, hier S. 20. 736 Schummer, J.: Nanotechnologie. Spiele mit Grenzen, Frankfurt a. M. 2009, S. 12. 737 A. a. O., S. 13. 733

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Weniger der Erkenntnisgewinn, um etwa Theorien zu formu­ lieren resp. kritisch zu überdenken, sondern die Manipulation im Kleinstbereich und die Herstellung neuartiger Objekte sei nach Nord­ mann ein treibendes Motiv der Nanotechnologien. Er wählt dafür den Begriff TechnoWissenschaft, womit er zum Ausdruck bringen will, »dass in ihr Technik und Wissenschaft untrennbar verbunden sind und nicht einmal begrifflich auseinandergehalten werden können. TechnoWissenschaft ist also weder verwissenschaftlichte Technik noch technisch angewandte Wissenschaft. Es handelt sich hier um keine Disziplin oder Gattung wissenschaftlicher Arbeit, sondern um eine hybride Form und somit Symptom für einen grundlegenden Wandel der Wissenschaftskultur.«738

Nanotechnologische Entwicklungen erscheinen vor allem auch in ökonomischer Hinsicht von großem Interesse zu sein: Vollmundig verkündet z. B. Drexler: »We would be able to produce radically more of what people want and at a radically lower cost – in every sense of the word, both economic and environmental.«739 Die Verwandtschaft von Homo faber und Homo oeconomicus tritt offenkundig auch im Kontext der Nanotechnologie hervor. Es verbindet die Nanotechnologie mit vielen anderen neuen Ent­ wicklungen im Bereich von Technik und Naturwissenschaften, dass große Hoffnungen erzeugt und nicht minder große Versprechungen gemacht werden, sich aber auch manche Ängste mit den neuen Ent­ wicklungen verbinden. So war von Anfang an mit der Nanotechnolo­ gie der nicht unrealistische Wunsch verbunden, diese sei gerade auch unter Aspekten der Effizienz und Gewinnsteigerung bedeutsam. Ver­ bunden wird dies mit der Verheißung, manche Geißeln der Mensch­ heit – auf der individuellen Ebene angefangen bei Krankheiten (zu denken wäre z. B. an die nanobasierte Krebstherapie740) bis hin zur 738 Nordmann, A.: Was ist TechnoWissenschaft? Zum Wandel der Wissenschafts­ kultur am Beispiel von Nanoforschung und Bionik, in: Rossmann, T. / Tropea, C. (Hrsg.): Bionik. Aktuelle Forschungsergebnisse in Natur-, Ingenieur- und Geisteswis­ senschaften, Heidelberg 2005, S. 209–218, hier S. 210. 739 Drexler, K. E.: Radical Abundance. How A Revolution In Nanotechnology Will Change Civilization, New York 2013, S. ix. 740 In Tumore eingeschleuste Nanopartikel können durch Laser oder Magnet erhitzt werden, was eine Zerstörung des Tumors zur Folge hat. Zu Nutze macht man sich hier, dass Nanopartikel sehr einfach in einen Tumor eindringen können, wo sie sich anla­ gern und im Normalfall nicht in den Blutkreislauf zurückgelangen. Hierzu: Mieszwaska, A. J. / Mulder, W. J. / Fayad, Z. A. / Cormode, D. P.: Multi­

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Bewältigung von Umweltproblemen – ließen sich mit ihr lösen. Hohe Erwartungen also, die sich mit dieser Technologie verbinden. Nicht immer wird jeweils deutlich gemacht, was tatsächlich möglich und was Programm ist, was realistisch und was ungewisse Zukunftsmusik ist. In vielen Publikationen werden Vorzüge der Nanotechnologie hervorgehoben: Nanotechnologie scheint insgesamt positiv konno­ tiert zu sein. Sie wird als Entwicklung dargestellt, die u. a. »cleanly, inexpensively, and on a global scale«741 arbeite. Nanotechnologie habe ein »potential to transform our world«742. Auf die Agrikulturelle Revolution der Neolithischen Zeit, die Industrielle Revolution sowie die moderne Informationsverarbeitung folge nun die Nanotechnolo­ gie.743 Hiermit ginge auch eine Veränderung der menschlichen Arbeit einher. Es waren u. a. Hegel und Marx, die auf eine Veränderung des Begriffs der Arbeit durch die um sich greifende Technisierung hingewiesen und dies tiefgründig analysiert hatten.744 Drexler, der auf diese Denker nicht eingeht, charakterisiert den mit der Nanotechnolo­ gie verbundenen Arbeitsbegriff vor allem positiv. Innovation sei hier gefragt, »creative work«745. Nanotechnologie würde die Gesellschaft verändern, wie er unterstreicht: »Transforming the material basis of civilization can transform the impact of human beings on the Earth, perhaps for the better.«746 Sie sei jedenfalls der Weg in eine »unex­

functional Gold Nanoparticles for Diagnosis and Therapy of Disease, in: Molecular Pharmaceutics 10 (2013), S. 831–847. 741 Drexler, K. E.: Radical Abundance. How A Revolution In Nanotechnology Will Change Civilization, New York 2013, S. ix. 742 A. a. O., S. xi. 743 Vgl. a. a. O., S. xii, S. 39 ff. 744 Arbeit bleibt durch die Technisierung nicht ohne Folgen, wie Hegel sagt. (Vgl. Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, hrsg. von E. Moldenhauer u. K. M. Michels, Frankfurt a. M. 1986, S. 153) Der Gegenstand der Arbeit bildet sich im Prozess des Arbeitens in den Arbeiter ein, wie er aufmerksam analysiert. Durch moderne Technik verändert sich Arbeit, insofern sie sich von der Natur entfernt, sie sich nicht lebendig auf etwas Lebendiges richtet. 745 Drexler, K. E.: Radical Abundance. How A Revolution In Nanotechnology Will Change Civilization, New York 2013, S. 51. 746 A. a. O., S. 233. Richtig ist wohl, dass sich im Kontext der Nanotechnologie Fragen der Verteilungs­ gerechtigkeit zum einen innerhalb reicherer Länder mit hohem Lebensstandard als auch gegenüber weniger entwickelten Gesellschaften stellen. (Vgl. Baumgartner, C.: Ethische Aspekte nanotechnologischer Forschung und Entwicklung in der Medizin, in: Das Parlament (2004), B23–24, S. 39–46; Mnyusiwalla, A. / Daar, A. S. / Singer,

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pected world«747. Materielle Beschränkungen würden weitgehend der Vergangenheit angehören.748 Es können im Kontext der Nanotechnologien a) Top-down- und b) Bottom-up-Ansätze unterschieden werden. Mit a) sind verschie­ dene mechanisch-physikalische Herstellungsprozesse angesprochen: Es geht darum, Strukturen in kleinere Strukturen von oben nach unten zu verwandeln. Eine Hürde, die hier auftritt, leuchtet schnell ein: Es wird immer schwieriger, exakt zu arbeiten, je mehr man zu kleine­ ren Strukturen kommt. Ansätze, die darauf abzielen, Moleküle und Atome von unten herab nach oben neu zusammenzusetzen, werden b) zugerechnet. Möglich wird es dadurch, komplexe neue Strukturen zusammenzufügen. Hierzu zählt z. B. die Fällungsreaktion. Einer Metallionen enthaltenden Flüssigkeit wird z. B. ein Fällungsreagenz hinzugefügt, was dann die gewünschte Ausflockung zur Folge hat. Es kristallisieren sich insgesamt vor allem drei Gebiete nanotech­ nologischer Forschung und Anwendung heraus. Diese sind (1) die Verkleinerung von Materialstrukturen auf Nanogröße; (2) die medi­ zinische und biotechnologische Anwendung und (3) der Einsatz im Kontext moderner Informations- und Kommunikationstechnologien.

P. A.: Mind the gap. Science and ethics in nanotechnology, in: Nanotechnology 14 (2003), R9-R13). 747 Drexler, K. E.: Radical Abundance. How A Revolution In Nanotechnology Will Change Civilization, New York 2013, S. 1. 748 Andreas Lösch spricht im Hinblick auf die Debatten in Deutschland zur Nanotechnologie von einer »Defuturisierung« (vgl. Lösch, A.: Visual Dynamics: The Defu­ turization of the Popular Nano-Discourse as an Effect of Increasing Economization, in: Kaiser, M. / Kurath, M. / Maasen, S. / Rehmann-Sutter, C. (Hrsg.): Governing Future Technologies: Nanotechnology and the Rise of an Assessment Regime, Dordrecht 2010, S. 89–108), Monika Kurat von einer »Fokusverschiebung« hin zu Nanomate­ rialien. (Vgl. Kurath, M.: Nichtwissen lenken. Nanotechnologie in Europa und in den Vereinigten Staaten, Baden-Baden 2016, S. 146) Gemeint ist damit, dass in der Bun­ desrepublik seit Beginn des Millenniums konkrete Anwendungsfragen vermehrt dis­ kutiert werden: Dies reicht vom Einsatz in der Lebensmittelindustrie über medizini­ sche Anwendungen bis hin zu Umwelt- und Sicherheitsfragen. Nanotechnologie ist demnach nicht nur etwas, das mit futuristischen Ideen in Verbindung gebracht wird, sondern für Hier und Heute relevant erscheint, woraus auch verschiedene Hand­ lungsempfehlungen abgeleitet werden; Regulierungsfragen wird besonders Raum gegeben. Während in US-Debatten Implikationen zunächst weniger im Fokus waren, werden in Deutschland von Beginn an Technikfolgenabschätzungen ebenso wie Hoff­ nungen aufgegriffen. (Vgl. a. a. O., S. 128) Umweltfragen sind in den deutschen Debatten besonders präsent, während zivilgesellschaftliche Partizipation weniger the­ matisch ist. (Vgl. a. a. O., S. 337).

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Beginnen wir mit (1): der Verkleinerung von Materialstrukturen. In Science-Fiction-Formaten ist dies schon länger ein Thema. Stanis­ law Lem erzählt Ende der 1970er Jahre von Nanomaschinen.749 Die Populärkultur war jedenfalls für den erfolgreichen Entwicklungsgang der Nanotechnologie von nicht geringer Bedeutung.750 »Der Gebrauch der Bilder als Kommunikationsmedien ermöglichte sinnstiftende Kommunikation zwischen wissenschaftlichen, wirt­ schaftlichen und massenmedialen Bewertungen der Potentiale gegen­ wärtiger nanotechnologischer Entwicklungen. Damit sind die Bilder nicht nur ein Mittel zur Kommunikation. […] [Sie] eröffnen […] einen Möglichkeitsraum, in dem unterschiedliche und variierende Zukünfte der Nanotechnologie denkbar, verhandelbar und diskursspezifisch bewertbar werden.«751

Bei den verschiedenen Anwendungsfeldern der Nanotechnologien ist von Belang, dass in Nanodimensionen Effekte auftreten, die auf Makroebene nicht vorhanden sind, wie z. B. eine weitaus größere Vgl. Lem, S.: Sterntagebücher, Frankfurt a. M. 92017, 21. Reise, S. 212–274. Eine prominente Rolle im Hinblick auf die Einbeziehung futuristischer Ideen kommt Kim Eric Drexler zu. In den 1980er Jahren publizierte er ein Buch, in dem er etwa von »assemblers« spricht, kleinen Maschinen, die den Körper durchforsten (vgl. Drexler, K. E.: Engines of Creation, New York 1986, Kap. 4). Sie seien auch in der Lage, sich selbst zu vermehren: »In short, replicating assemblers will copy themselves by the ton, then make other products such as computers, rocket engines, chairs, and so forth. They will make dissassemblers able to break down rock to supply raw material. […] Assemblers will be able to make virtually anything from common materials without labour, replacing smoking factories with systems as clean as forests.« (Ebd.) Überlegungen in diese Richtungen haben auch Kritik erfahren. Ein Punkt, der ver­ schiedentlich in Stellung gebracht wird, wird Argument der »dicken und klebrigen Finger« genannt. Was steckt hinter diesem Argument mit dem ausgefallenen Namen? Zum einen zielt es darauf ab, dass ein Assembler unendlich viele Finger haben müsste, um tatsächlich Herr über die einzelnen Atome zu werden, sie ergreifen und neu aus­ richten zu können. Die räumlichen Kapazitäten sind jedoch begrenzt (»fat fingers problem«). Zum zweiten zielt das Argument auf das Problem, ergriffene Atome auch wieder loslassen zu können (»sticky fingers problem«). »The atoms of the manipulator hands will adhere to the atom that is being moved. So it will often be impossible to release this minuscule building block in precisely the right spot.« (Smalley, R. E.: Of Chemistry, Love and Nanobots, in: Scientifc American 285 (2001), S. 76–77, hier S. 77) Anders gewendet: Zwischen demjenigen, der ergreift und dem, was ergriffen und manipuliert wird, bestehen stets Wechselwirkungen, die nicht zu vernachlässi­ gen sind. 751 Lösch, A.: Visionäre Bilder und die Konstitution der Zukunft der Nanotechnologie, in: Lucht, P. / Erlemann, M. / Ruiz Ben, E. (Hrsg.): Technologisierung gesellschaftlicher Zukünfte, politischer und öffentlicher Praxis, Freiburg 2010, S. 129–146. 749

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6. Nanotechnologien

Festigkeit bei niedrigen Temperaturen und Verformbarkeit bei stei­ genden Temperaturen. Nutzbar macht man dabei die größere Ober­ flächenenergie. So verändert sich das Verhältnis von Oberfläche und Volumen in erheblicher Weise bei der Verkleinerung: »Je kleiner die Partikel, desto größer wird die Oberfläche im Verhältnis zum Volu­ men, wodurch die Reaktivität der jeweiligen Substanz beträchtlich ansteigt. Außerdem zeigen Nanopartikel, die kleiner als 50 nm sind, spezielle Quanteneffekte, die in Forschung und Technologie genutzt werden sollen.«752 Diese Vorteile kommen etwa in der Flugtechnologie zum Einsatz, wo man auf leichtere Materialien setzt, die zugleich robuster sind. Aber auch der Einsatz als Katalysatorsysteme kommt in Frage: Schad­ stoffe können mit Nanomaterialien bekämpft, Abwasser aufbereitet werden. Wasserabweisende Wandfarben und Kühlschränke mit Sil­ berbeschichtungen gehören ebenfalls zum Repertoire. Auch in der Lebensmittelindustrie ist man an der Nanotechnologie interessiert: Die Haltbarkeit oder auch Konsistenz von Lebensmitteln wie auch deren Verpackungen könne so verbessert werden.753 Mit Nanoteilen aus Titandioxid ausgestattete Sonnencremes stellen einen noch stär­ keren Sonnenschutz dar. Silbernanoteilchen in Kleidung lassen diese antimikrobiell sein. Hinter dem Stichwort tissue engineering steckt das Ziel, Gewebe besser austauschen zu können. Man erhofft sich beispielsweise auch, den Alterungsprozess des Menschen zu verlang­ samen. Besonders bekannt ist der sogenannte »Lotus-Effekt«, womit an die Blätter der Lotusblume erinnert wird: gemeint sind Flächen resp. Oberflächenbeschichtungen, die quasi »selbstreinigend« sind. War es im 20. Jahrhundert – wie wir in unserer Auseinander­ setzung mit Günther Anders gesehen haben – die Atombombe, die Diskussionen zur Militärtechnik bestimmt hat, rücken derzeit 752 Gammel, S.: Ethische Aspekte der Nanotechnologie (Interfakultäres Zentrum für Ethik in den Wissenschaften), Tübingen 2007, S. 6. 753 Vgl. Grobe, A.: Nanomaterialien in Lebensmitteln: Gerüchteküche, Zukunftsvi­ sionen und reale Anwendungen, in: Deutsche Akademie der Naturforscher Leopol­ dina – Nationale Akademie der Wissenschaften: Nano im Körper. Chancen, Risiken und gesellschaftlicher Dialog zur Nanotechnologie in Medizin, Ernährung und Kosme­ tik, hrsg. von J. Hacker, Nova acta Leopoldina, Bd. 114, Nr. 392, Stuttgart 2012, S. 43– 52; Vilgis, T.: Molekulargastronomie – Geschmack – Nano im Buffett?, in: Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften: Nano im Körper. Chancen, Risiken und gesellschaftlicher Dialog zur Nanotechnologie in Medizin, Ernährung und Kosmetik, hrsg. von J. Hacker, Nova acta Leopoldina, Bd. 114, Nr. 392, Stuttgart 2012, S. 29–41.

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6.1 Leitidee und Anwendungsfelder nanotechnologischer Forschung

Computer und Vernetzungsfragen in den Fokus. Zudem wird die militärische Nutzung der Nanotechnik diskutiert, werden ihre Poten­ tiale für die Kriegsführung und Terrorbekämpfung ausgelotet. Im Militärwesen werden neue Schnittflächen von Mensch und Maschine denkbar. An bessere Panzerungen und leistungsfähigere Drohnen ist z. B. zu denken. Die Manipulation von Viren resp. die Entwicklung neuer Sprengstoffe kann für Militär wie auch für Terroristen von Interesse sein.754 Neue Möglichkeiten der Spionage und Kriegsfüh­ rung erscheinen am Horizont. (2) Im Rahmen moderner Informations- und Kommunikations­ technologie greift man ebenfalls auf Errungenschaften der Nanowis­ senschaftler zurück. Eine neue Etappe der Mikroelektronik werde durch Nanotechnologie eingeläutet. Zu Nutze macht man sich etwa quantenmechanische Prozesse, etwa im Bereich des Quanten-Com­ puters. Auch bringt man elektronische und biologische Systeme miteinander in Verbindung (»combination of dry and wet worlds«755). Es wird u. a. versucht, eine immer größere Zahl von Transistoren auf einem immer kleineren Raum zu platzieren. Auch arbeitet man daran, neue Möglichkeiten der Speichertechnik und Datenverarbei­ tung zuwege zu bringen. Armin Grunwald fasst prägnant einige Ansätze zusammen: »Photonische Kristalle weisen ein Einsatzpotenzial für rein optische Schaltkreise auf, etwa als Grundlage für eine zukünftige nur auf Licht basierende Informationsverarbeitung. Quantenpunkte und Koh­ lenstoff-Nanoröhren sind weitere Hoffnungsträger für neue technische Ansätze. In der molekularen Elektronik lassen sich mit Hilfe der Nano­ technologie elektronische Bauelemente mit neuen Eigenschaften auf atomarer Ebene zusammensetzen mit Vorteilen u. a. in einer potenziell hohen Packungsdichte.«756

Vgl. z. B. Altmann, J.: Military Nanotechnology: Potential Application and Preven­ tive Arms Control, London 2006; Altmann, J. / Gubrud, M. A.: Risks from Military Uses of Nanotechnology – The Need for Technology Assessment and Preventive Control, in: Roco, M. C. / Tomellini, R. (Hrsg.): Nanotechnology – Revolutionary Opportunities and Social Implications, Luxembourg 2002, S. 144–148. 755 Zweck, A.: Nanobiotechnologie – Anwendungsfelder und Technikfolgen, in: Köchy, K. / Norwig, M. / Hofmeister, G. (Hrsg.): Nanobiotechnologien. Philosophi­ sche, anthropologische und ethische Fragen, Freiburg / München 2008, S. 25–45, hier S. 41. 756 Grunwald, A.: Auf dem Weg in eine nanotechnologische Zukunft. Philosophischethische Fragen, Freiburg / München 2008, S. 34. 754

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6. Nanotechnologien

Besonders interessant für uns ist der Bereich (3) der medizinischen Anwendungen, der auch aufgrund der zahlreichen zukunftsträchtigen Möglichkeiten eine besondere Rolle spielt.757 Das hier waltende Leitmotiv kann folgendermaßen beschrieben werden: »[T]o cure, we need to traverse the spectrum of scale from the macro­ scopic size of the doctor to the nanometer scale of biomolecules, navigating the very intricate ›multiscale‹ landscape of organs, tissues, and cells in between.«758

Vergegenwärtigen wir uns einfach nochmals, mit welchen Größendi­ mensionen wir es zu tun haben! Die Größe von Proteinen etwa bewegt sich im Nanobereich. Das gilt, wie gesagt, auch für die DNA. Jenen biologischen Entitäten kann man sich durch nanotechnische Verfah­ rensweisen besser annähern, sie analysieren – und unter Kontrolle bringen. Lebendige Prozesse sollen mittels Nanotechnologien besser erforscht und auch effizienter überwacht werden. Schranken, die her­ kömmlichen Therapieformen gesetzt waren, könnten überschritten werden. Implantate wie auch Prothesen können durch Nanomate­ rialien verbessert werden. Zu denken wäre etwa an Gewebe und Knochenersatz wie auch an neuartige Beschichtungen für Knochen­ implantate.759 An Stents,760 Kathetern wie auch an verschiedenen 757 Axel Zweck hält fest: »Die Nanomedizin hat sich als Anwendungsbereich der Nanobiotechnologie mit dem mittelfristig größten Marktpotenzial herauskristalli­ siert.« (Zweck, A.: Nanobiotechnologie – Anwendungsfelder und Technikfolgen, in: Köchy, K. / Norwig, M. / Hofmeister, G. (Hrsg.): Nanobiotechnologien. Philosophi­ sche, anthropologische und ethische Fragen, Freiburg / München 2008, S. 25–45, hier S. 29) Zur Nanomedizin siehe auch: Freitas, R. A.: Nanomedicine. Vol. I: Basic capabilities, Georgetown 1999; Freitas, R. A.: Nanomedicine, Vol. IIA: Biocompatibilty, George­ town 2003. 758 Contera, S.: Nano Comes To Life. How Nanotechnology Is Transforming Medicine and the Future of Biology, Princeton / Oxford 2019, S. 4. 759 Vgl. Heckl, W. M. / Weitze, M.-D.: Das Unsichtbare durchschauen, in: Max­ PlanckForschung 2/13, S. 12–17, hier S. 14. https://www.mpg.de/7482306/W001 _Zur-Sache_012-017.pdf; Grobe, A. / Schneider, C. / Rekić, M. / Schetula, V.: Nanomedizin – Chancen und Risiken. Eine Analyse der Potentiale, der Risiken und der ethisch-sozialen Fragestellungen um den Einsatz von Nanotechnologien und Nanoma­ terialien in der Medizin. Gutachten im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2008, S. 23 ff. 760 Es wird erwartet, »dass die Nanobeschichtungen für Stents, die die Komplikati­ onsrate durch Hypersensibilisierungen deutlich senken, einen großen Durchbruch für die Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bedeuten und möglicherweise ent­ scheidend zur Kostensenkung beitragen können« (a. a. O., S. 49).

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6.2 Nanotechnologien und ihr Verhältnis zur Natur

Geräten, die im medizinischen Alltag zum Einsatz kommen, können antibakterielle Nano-Beschichtungen zum Einsatz kommen. Robert A. Freitas Jr. benennt drei Aspekte der Nanomedizin: »(1) the comprehensive monitoring, control, construction, repair, defence, and improvement of human biological systems, working from the molecular level, using engineered nano-devices and nano­ structures; (2) the science and technology of diagnosing, treating, and preventing disease and traumatic injury, of relieving pain, and of preserving and improving human health, using molecular tools and molecular knowledge of the human body; (3) the employment of molecular machine systems to address medical problems, using molecular knowledge to maintain and improve human health at the molecular scale.«761

Laut Heckl und Weitze habe es schon Nanomedizin gegeben, bevor man dies auch so nannte. Wir kennen den Gedanken ja schon im Hinblick auf die Nanotechnologie insgesamt. Insofern Medizin mole­ kulare Ursachen erkunde, sei sie nanobasierte Medizin. »Die molekulare Wechselwirkung von Antigen und Antikörper, die Kraft, die zwischen beiden wirkt, ist Nanotechnologie in der Medizin und trägt etwa zur Medikamentenentwicklung bei.«762

Und weiter heißt es: »In Zukunft erhofft man sich durch ein molekulares Verständnis für die Ursachen von Krankheiten unter anderem bessere Heilungschancen für zerstörtes Gewebe, indem Nanomaterialien und adulte Stammzel­ len zum Aufbau neuer Haut, neuer Knochen, Nerven oder neuen Blutgewebes eingesetzt werden.«763

6.2 Nanotechnologien und ihr Verhältnis zur Natur Wenden wir uns nun der Frage zu, welches Verständnis von Natur in den Publikationen zur Nanotechnologie anzutreffen ist. Im ersten Gang haben wir die Selbstorganisation von Organismen in beson­ Freitas, R. A.: Nanomedicine, Vol. I: Basic capabilities, Georgetown 1999, S. 9. Heckl, W. M. / Weitze, M.-D.: Das Unsichtbare durchschauen, in: MaxPlanck­ Forschung 2/13, S. 12–17, hier S. 14. https://www.mpg.de/7482306/W001_Zur-S ache_012-017.pdf. 763 Ebd. 761

762

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6. Nanotechnologien

derer Weise hervorgehoben. Organismen, so sagten wir, sind in der Lage, komplexe zelluläre Prozesse zu steuern, Strukturen zu bilden und zu erhalten. Dies möchte man sich im Kontext der Nano­ technologien zu Nutze machen, etwa bei der Bildung synthetischer molekularer Strukturen. Um dieses Ziel zu erreichen, werden etwa Moleküle oder DNA mit Nanopartikeln in Verbindung gebracht. Sie können dann periodisch räumlich neu geordnet werden.764 Im Kontext der Nanotechnologien wird Natur durchaus als Vor­ bild verstanden, das nachgeahmt zu werden verdiene (eben um diese Verfügbarkeit besser realisieren zu können).765 »Nature shows some of the possibilities. Looking at the molecular machinery of life, we find that proteins can fit together to form motors, sensors, structural frameworks, and catalytic devices that transform molecules; proteinbased devices also copy and transcribe data stored in DNA.«766 In verschiedenen Arbeiten werden beispielsweise Mitochondrien als Vorbilder für Nanomaschinen ins Spiel gebracht.767 Das Verweben 764 Vgl. Zweck, A.: Nanobiotechnologie – Anwendungsfelder und Technikfolgen, in: Köchy, K. / Norwig, M. / Hofmeister, G. (Hrsg.): Nanobiotechnologien. Philosophi­ sche, anthropologische und ethische Fragen, Freiburg / München 2008, S. 25–45, hier S. 34. 765 Alfred Nordmann spricht trefflich im Hinblick auf die Nanotechnologie von der Vorstellung, »sie könne mit der Natur über die Natur hinausgehen«. (Nordmann, A.: Mit der Natur über die Natur hinaus?, in: Köchy, K. / Norwig, M. / Hofmeister, G. (Hrsg.): Nanobiotechnologien. Philosophische, anthropologische und ethische Fragen, Freiburg / München 2008, S. 131–147, hier S. 131) Damit wird ihr m.E. eine Rolle zugesprochen, die traditionell mit dem menschlichen Geist in Verbindung gebracht wurde. 766 Drexler, K. E.: Radical Abundance. How A Revolution In Nanotechnology Will Change Civilization, New York 2013, S. 26. 767 Von der Natur könne man »lernen«, »to create novel nonscale devices« (SchröderOeynhausen, F.: What is Nanobiotechnology, in: Ach, J. S. / Siep, L. (Hrsg.): NanoBio-Ethics. Ethical Dimensions of Nanobiotechnology, Berlin 2006, S. 9–12, hier S. 9). Die Natur wird als »Vorbild« bezeichnet, welche durch Nanotechnologie nachgeahmt resp. nur schwer nachgeahmt werden könne: Viren seien Beispiele für überaus kom­ plexe Nanoteilchen in der Natur. Ihre Funktionsmechanismen könnten nicht voll­ ständig nachgeahmt werden. Auch für »Nanoroboter« will man Vorbilder im Orga­ nismus ausmachen. In den Fokus rücken dann Ribosomen, Fibrillen und Tubuli, Transport- und Rezeptormoleküle (vgl. Moshammer, H. / Wallner, P.: Gesundheits­ risiken durch Nanopartikel?, in: Gazsó, A. / Greßler, S. / Schiemer, F. (Hrsg): Nano. Chancen und Risiken aktueller Technologien, Wien / New York 2007, S. 165–180, hier S. 171). Die beim Metabolismus involvierten Moleküle werden in einem Text des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag auch als »Nano­ maschinen« bezeichnet. (Vgl. Paschen, H. / Coenen, C. / Fleischer, T. / Grünwald,

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6.2 Nanotechnologien und ihr Verhältnis zur Natur

natürlicher und technischer Prozesse ist ein besonderes Anliegen nanowissenschaftlicher Projekte. Denken wir z. B. noch einmal an die Unterscheidung unserer Plastikbäume und ihrer realen Vorbilder im ersten Gang zurück. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal haben wir im Stoffwechsel ausgemacht. Im Kontext der Nanotech­ nologie ist es auch ein Ziel, Photosyntheseprozesse nachzuahmen: Das Spezifikum des Gewachsenen soll technisch eingeholt werden, nachbaubar und effizient nutzbar gemacht werden.768 Im Kapitel über die Synthetische Biologie werden wir uns noch mit dem Projekt der Neuschöpfung des Lebens beschäftigen, bei dem auch Nanowis­ senschaftler involviert sind. In verschiedenen Arbeiten werden auch Bezüge der Nanotechnologien zur Bionik hergestellt, insofern es hier wie dort um Nachahmung natürlicher Abläufe gehe.769 Das ist freilich richtig beobachtet. Wir sollten uns jedoch vergegenwärtigen, dass es bei den Nanotechnologien darum geht, die Welt von klein auf umzuwandeln, Gegebenes umzustrukturieren, zu manipulieren. Folgendes Zitat eines Biochemikers bringt es ganz passend auf den Punkt: »The fastest road to a workable nanotechnology is to start with a nanotechnology that already works – biology. Some researchers have gone beyond trying to mimic Mother Nature and are trying to

R. / Oertel, D. / Revermann, C.: Nanotechnologie. Forschung, Entwicklung, Anwen­ dung, Berlin / Heidelberg 2004, S. 207). 768 Armin Grunwald benennt die Vorteile dieser Idee: »Eine Energieversorgung auf der Basis dieses Prinzips [der Photosynthese] wäre CO2-neutral, würde leicht spei­ cherfähige Energie bereitstellen, wäre dezentral realisierbar, praktisch unerschöpflich und würde keine problematischen Abfälle erzeugen.« (Grunwald, A.: Auf dem Weg in eine nanotechnologische Zukunft. Philosophisch-ethische Fragen, Freiburg / München 2008, S. 192). 769 Vgl. Oertel, D. / Grunwald, A.: Potenziale und Anwendungsperspektiven der Bionik. Vorstudie, Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag, Arbeitsbericht 108, Berlin 2006. https://www.tab-beim-bundestag.de/de/pdf/publikationen/berichte/TAB-Arbeit sbericht-ab108.pdf Wiebke Pohler Schär argumentiert, »Nano« nicht nur als Größenmaß, sondern auch als eine »neue Form sozialer Wirklichkeit« zu verstehen. (Vgl. Pohler Schär, W.: Inno­ vationen in der Nanomedizin. Eine ethnografische Studie, Bielefeld 2017, S. 37) Die mit Hilfe moderner Rastersondenmikroskope erzeugten Bilder aus der Nano-Welt will sie als Nachahmung der makroskopischen Welt verstehen. Sie »schließen an uns bekannte Formen von Objektivität an« (a. a. O., S. 77); die »Objekte haben hier eher etwas mit unseren Sehgewohnheiten zu tun, als mit der Realität« (ebd.).

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6. Nanotechnologien

put the grand old lady to work on their own schemes.«770 Insofern geht es nicht nur um Nachahmung natürlicher Prozesse. Natur wird als etwas betrachtet, das dem technischen Machbarkeitsideal unterstellt ist, das objektiviert und für die Interessen des Menschen verfügbar gemacht werden kann: ein passives Material. Eine Selbstbezüglichkeit des Organismischen scheint dagegen nicht im Blick zu sein.771 Der Titel jenes Heftes zur Gründung der US-amerikanischen Nanotechnologie-Initiative lautet – wenig erstaunlich – Shaping the World Atom by Atom.772 Durch Nanotechnologie soll demnach Materie in Nanogröße analysiert, verschoben, neu konfiguriert und so neue Eigenschaften hervorgebracht werden.773 Im Zuge dessen, dass es für Homo faber möglich ist, Atom für Atom und so die Welt im Kleinen wie im Großen umzubauen, ändert sich auch das Verhält­ nis des Menschen zum Gegebenen, das vor allem durch die Brille der Nutzbarmachung und Instrumentalisierung betrachtet wird. Die Beziehung zur Natur wird weiter technisiert. Vorherrschend ist der für die Neuzeit bekannte Technikoptimismus mit der mechanistischen Sicht auf die Natur und das Lebendige: »Eine Maschine muss nicht notwendigerweise aus Stahl und mit Öl geschmiert sein, sondern kann aus Polymeren, Proteinen, Lipiden und Liposomen und ähnli­ chem bestehen. Die Natur ist voll von Nanomaschinen, jede Zelle hat Milliarden in sich.«774 770 Edwards, S. A.: The Nanotech Pioneers. Where are they taking us?, Weinheim 2006, S. 105. 771 Diese Auffassung passt zum neuzeitlichen Naturverständnis. Gleichwohl wird eine neue Sicht auf die Natur behauptet: »[T]he nanotechnology revolution will bring a new understanding of nature: complex systems, materials, biomachines, single molecules and the cell.« (Whitesides, G. M.: Science and Education for Nanoscience and Nanotechnology, in: Roco, M. C. / Bainbridge, W. S. (Hrsg.): Nanotechnology: Societal Implications I. Maximizing Benefits for humanity, Dordrecht 2007, S. 42–51, hier S. 50). 772 National Science and Technology Council (NSTC): Shaping the World Atom by Atom, Washington D.C. September 1999. http://www.ewh.ieec.org/soc/cpmt/pres entations/nanoarticle.pdf (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 773 Wie realistisch und effizient jene immer wieder neu zum Klingen gebrachte Leit­ melodie ist, auf dieser Ebene anzusetzen und von hier her die Welt neu zusammen zu setzen, wird meist nicht weiter diskutiert. Vgl. Nordmann, A.: Entflechtung – Ansätze zum ethisch-gesellschaftlichen Umgang mit der Nanotechnologie, in: Gazsó, A. / Greßler, S. / Schiemer, F. (Hrsg.): Nano – Chancen und Risiken aktueller Technolo­ gien, Wien 2007, S. 215–229, bes. S. 220. 774 Im Legoland der Moleküle: Interview Prof. Heckls mit Annett Wiedekind, in: Süddeutsche Zeitung, 6. Juli 2004, zit. nach: Kehrt, C.: Mit Molekülen spielen. Wis­

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6.2 Nanotechnologien und ihr Verhältnis zur Natur

In Texten zur Nanotechnologie wird auch Bezug auf die »Ein­ heit der Natur« genommen: »The unity of nature at the nanoscale provides the fundamental basis for the unification of science, because many structures essential to life, computation, and communication are based on phenomena that take place at this scale.«775 Und es gibt Arbeiten, in denen naturalistische Aspekte besonders hervorgehoben werden: Hiernach könne man mit Hilfe von Technik Natur durchgän­ gig erforschen und zugänglich machen. Gegen eine Gleichsetzung von Gewachsenem und Gemachtem spreche hiernach nichts. Auch der Zuwachs an Verfügungswissen wird verschiedentlich herausgestellt. Nanotechnologische Entwicklungen stellen eine Herausforde­ rung dar, insofern die Differenzen zwischen Gewachsenem und Gemachtem, Lebendigem und Unbelebtem, Mensch und Maschine, Therapie und Enhancement flüssig zu werden scheinen. Für Jan Cor­ nelius Schmidt liegt auf der Hand, dass es bei den Nanotechnologien auf eine Hybridisierung von Natur und Technik herausläuft. »Das, was an einem Nanoobjekt (Produkt, Prozeß) als Natur, und das, was als Technik bezeichnet werden kann (bzw. konnte), wird unbestimmt.«776 Die für unsere Lebenswelt Orientierung gebenden Grenzen seien obsolet und in Auflösung begriffen. Technik erscheine als etwas, das sich selbst organisieren, das wachsen könne.777 Gregor Schiemann akzentuiert hier etwas anders. Er versteht Natur zum einen als Gegen­ satz, zum anderen aber auch als Bedingung für Nanowelten.778 Man greife auf natürliche Prozesse und Entitäten zurück und versuche, diese selbst nachzubauen. Die Nanowelt, die von Nanowissenschaft­ lern kreiert werde, sei eine »Kunstwelt«779: Sie vermag, »in kleinsten senschaftskulturen der Nanotechnologie zwischen Politik und Medien, Bielefeld 2016, S. 164. 775 Roco, M. C. / Bainbridge, W. S.: Overview, in: Roco, M. C. / Sims Bainbridge, W. (Hrsg.): Nanotechnology: Societal Implications I. Maximizing Benefits for humanity, Dordrecht 2007, S. 1–13, hier S. 7. 776 Schmidt, J. C.: Unbestimmtheit der Nanotechnologie. Über Kontrolle der (und in der) Nanotechnologie, in: Köchy, K. / Norwig, M. / Hofmeister, G. (Hrsg.): Nano­ biotechnologien. Philosophische, anthropologische und ethische Fragen, Freiburg / Mün­ chen 2008, S. 47- 64, hier S. 61. 777 Vgl. ebd. 778 Vgl. Schiemann, G.: Kein Weg vorbei an der Natur: Natur als Gegenpart und Voraussetzung der Nanotechnologie, in: Nordmann, A. / Schummer, J. / Schwarz, A. (Hrsg.): Nanotechnologien im Kontext. Philosophische, ethische und gesellschaftliche Perspektiven, Berlin 2006, S. 115–130. 779 A. a. O., S. 116.

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6. Nanotechnologien

Dimensionen die Funktionsweise von natürlichen Systemen [zu] beeinflussen«780. Es werden Nanoprodukte zuwege gebracht, die es in der Natur so nicht gebe. Ob und inwiefern diese tatsächlich auch naturverträglich sind, sei vielfach nicht ausgemacht.781 Andererseits bezögen sich die Projekte der Nanotechnologen auf konkrete natür­ liche Prozesse und Entitäten. Im Hinblick auf Nanotechnologien ließen sich Bedingungen nennen, die auch weiterhin Gewachsenes und Gemachtes voneinander unterscheiden lassen. »Allerdings«, so Schiemann, »werden wohl die Fälle zunehmen, unter denen diese Bedingungen für bestimmte Bedeutungen von Natur nicht mehr gegeben sein werden. Doch solche Ununterscheidbarkeiten von Natur und Technik sind aus wissenschaftlicher Sicht nicht problematisch und teilweise auch nicht neu.«782 In wissenschaftlicher Hinsicht sei es wohl keine große Herausforderung, weiterhin Natur und Technik aus­ einanderzuhalten. Im Alltag würden wir nanotechnologische Innova­ tionen als Verschmelzungen von Natur und Technik wahrnehmen. Hier gebe es Konfliktpotential. Für Schiemann gehört etwas dann zum Bereich des Gewachsenen, wenn ein wissenschaftlicher Nachweis nicht mehr möglich ist, dass es seine Herstellung Menschenhand verdankt. Vice versa gilt für ihn, dass etwas zum Bereich des Gemach­ ten zählt, wenn man zeigen kann, dass es auf einen menschlichen Verursacher zurückgeht. 783 Wenn wir z. B. an Klonierungsverfahren denken, bei denen wohl nicht mehr erkennbar wäre, dass sie auf ein menschliches Handeln zurückgehen, scheint das von Schiemann vorgetragene Kriterium jedoch unzureichend zu sein. Das von ihm vorgetragene epistemische Argument genügt nicht, um bestimmte biotechnologische Verfahren zu rechtfertigen. Ebd. Ebd. 782 Schiemann, G.: Nanotechnologie und Naturverständnis, in: Köchy, K. / Norwig, M. / Hofmeister, G. (Hrsg.): Nanobiotechnologien. Philosophische, anthropologische und ethische Fragen, Freiburg / München 2008, S. 67–83, hier S. 69 f. 783 A. a. O., hier S. 78. »Würde sich ein künstlicher Gegenstand in keiner seiner phänomenalen Eigenschaften von vergleichbaren natürlichen Gegenständen unterscheiden, dürfte er dennoch nicht zur Natur gerechnet werden, wenn man seinen künstlichen Herstellungsursprung noch weiß (z. B. naturidentische und von entsprechenden natürlichen Molekülen getrennte Moleküle).« (Schiemann, G.: Kein Weg vorbei an der Natur: Natur als Gegenpart und Voraussetzung der Nanotechnologie, in: Nordmann, A. / Schummer, J. / Schwarz, A. (Hrsg.): Nanotechnologien im Kontext. Philosophische, ethische und gesellschaftliche Perspektiven, Berlin 2006, S. 115–130, hier S. 121). 780 781

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6.3 Medizinische Anwendungen

6.3 Medizinische Anwendungen In der Nanomedizin finden nanoskalige Materialien Verwendung.784 Sie wird charakterisiert als »effective bridge between bulk materials and atomic or molecular structures«785. Nanomedizin soll dem Wohl des Patienten und der Gesellschaft dienen, Gesundheit erhalten und Lebensqualität verbessern. Mit ihr verbindet sich die Hoffnung, verschiedene Erkrankungen bereits festzustellen (und dann eben auch bekämpfen zu können), wenn sie gerade erst entstehen und erste Symptome sich allmählich entwi­ ckeln.786 Vollmundige Zukunftsversprechungen der Art, dass ein neues Zeitalter der Medizin beginne, scheinen die Komplexität von Mensch und Medizin nicht ganz im Blick zu haben. Zudem darf man den Verdacht haben, dass solche Ankündigungen immer auch durch ver­ schiedene Interessen geleitet sein könnten. »Ein typisches Muster der Erfolgsversprechungen beruht auf der Gleichung: Wissen bedeutet Handeln, im Grunde sind sie eins. Doch […] von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu erfolgreichen Handlungen zu kommen, erweist sich als viel komplizierter.«787 Es scheint jedenfalls plausibel, dass die Nanomedizin die eine oder andere positive Entwicklung bereithält. Eine »Heilswissen­ schaft« ist sie jedoch nicht. Man würde ihr nicht gerecht, würde man von ihr Heil erwarten, wie manche besonders optimistische Zukunftsverheißungen nahelegen. Und nicht alles, was optimistisch in Aussicht gestellt wird, wird auch tatsächlich eintreten. Urban Wiesing formuliert dies treffend: »Wenn man sich die Zukunft in bestimmter Weise vorstellt und auch noch Voraussetzungen festlegt, anhand deren die Zukunft eintreten und gemessen werden soll, dann ist nicht auszuschließen, dass die Vorhersagen ohnehin eintreffen werden, egal was passiert. Konkret: 784 Vgl. Wagner, V. / Dullaart, A. / Bock, A. K. / Zweck, A.: The emerging nanome­ dicine landscape, in: Nature Biotechnology 24 (2006), S. 1211–1217. 785 Mishra, A. K.: Preface, in: Mishra, A. K. (Hrsg.): Nanomedicine for Drug Delivery and Therapeutics, Beverly 2013, S. XV-XVII, hier S. XV. 786 Hierzu auch: Lima, R. A. / Minas, G. / Catarino, S. (Hrsg.): Micro/Nano Devices for Blood Analysis, Basel / Beijing / Wuhan / Barcelona / Belgrad 2019. 787 Wiesing, U.: Heilswissenschaft. Über Verheißungen der modernen Medizin, Frank­ furt a. M. 2020, S. 32 f.

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6. Nanotechnologien

Wenn man behauptet, eine Erkrankung lasse sich in 20 Jahren endgül­ tig besiegen, sofern nur alle Anstrengungen gebündelt werden (was sich kaum überprüfen lässt), dann kann man bei Nichteintreten des Versprochenen immer noch sagen, die Anstrengungen seien nicht gebündelt worden.«788

Nanotechnologien kommen a) in der medizinischen Diagnostik zum Einsatz. Ein Handlungsfeld ist hier die In-vivo-Diagnostik: Im Rah­ men von Bildgebungsverfahren macht man sich zu Nutzen, dass Nanomaterialien u. a. längere Zeit fluoreszieren. Diese Kontrastmit­ tel können in vivo eingesetzt werden.789 Bestimmte Krankheiten sollen durch Biomarker angezeigt werden. Entstehung und Verlauf einer Krankheit sollen so besser überprüfbar werden. Ein weiteres Handlungsfeld stellt die In-vitro-Diagnostik dar, wobei nanotechnologische Messprinzipien zum Einsatz kommen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Biochips, welche in vitro ein­ gesetzt werden und als Trägermedien dazu dienen, einen Schnelltest z. B. im Falle einer Epidemie, einer Sepsis sowie für kardiovaskuläre Erkrankungen und Krebs durchzuführen. Wichtig wird es sein, Diagnose und Therapie nicht zu vermischen und neben den gewonnenen Daten auf Nano-Ebene auch weiterhin Faktoren wie Alter, Vorerkrankungen und Gesamtzustand in die ärztlichen Überlegungen einzubeziehen. Im Zusammenhang mit der Nanomedizin stellt sich auch die Frage, wie wir mit Unsicherheiten und unserem Nichtwissen umge­ hen wollen. Vielfach ist es im Leben so, dass unser Wissen nicht ausreicht, wir mehr zu wissen wünschen. Es ist aber auch durchaus möglich, dass das Wissen, wie es tatsächlich gesundheitlich um einen steht, einen Menschen geradezu in einen Würgegriff nehmen und die weitere Lebensführung negativ beeinflussen kann. Ein solches Wissen kann zu viel für diesen Menschen sein. Im Hinblick auf die persönliche Lebensqualität und um eine Antizipation des Krankseins zu vermeiden, kann es naheliegend sein, auf Wissen zu verzichten. Ein Patient muss auch weiterhin das Recht haben, ein Wissen über seine gesundheitliche Situation zu erlangen oder ein solches Wissen A. a. O., S. 20. Als Kontrastmittel werden z. B. Eisenoxidnanopartikel eingesetzt. Vgl. auch: Alexiou, C.: Nanomedicine. Innovative applications in medicine, in: HNO 61 (2013), S. 197–201; Ghamsari, M. S.: State of the Art in Nano-bioimaging, London 2018. 788

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6.3 Medizinische Anwendungen

ablehnen zu können, was jeweils Ausdruck seiner informationellen Selbstbestimmung ist.790 Eine besondere Tragweite kommt freilich ins Spiel, wenn es um Krankheiten geht, die nicht resp. noch nicht heilbar sind. Über Wesen, Tragweite und Bedeutung der jeweiligen nanomedizinischen Untersuchungen sind Patienten aufzuklären. Auch im Hinblick auf b) die Therapeutik erhofft man sich durch Nanotechnologien positive Entwicklungen. Hierzu gehören die Bereitstellung maßgeschneiderter Wirkstoffe und Therapieverfahren wie auch der Wirkstofftransport. Ein Vorteil wird darin erblickt, Medikamente in Zukunft noch besser dosieren zu können.791 Im Rah­ men einer Krebsbehandlung kommen Polymerkapseln zum Einsatz, welche Chemotherapeutika in kranke Zellen resp. das Tumorgewebe bringen. Für eine Freisetzung der Medikation sorgt ein Laserimpuls. Immer wieder ist in diesem Zusammenhang von »Nanotrans­ portrobotern« die Rede, die helfen sollen, dass Medikamente genau dort im Organismus hingelangen, wo sie hinsollen (Drug Delivery Systems). So ist in einem Text der Max-Planck-Gesellschaft Folgendes zu lesen: »Neben ihrer vitalen Bedeutung für die Funktionsweise von Zellen lassen diese molekularen Motoren viele Anwendungsarten erwarten. Als biomimetische Transportsysteme nehmen sie zukünftig sicherlich eine Schlüsselrolle […] ein.«792 Wirkstoffe werden erfolg­ reich durch den Körper geschleust, migrieren durch Zellwände,793 Klassisch formuliert bei Jonas: »Niemals darf einem ganzen Dasein das Recht zu jener Ignoranz versagt werden, die eine Bedingung der Möglichkeit authentischer Tat, d. h. Freiheit überhaupt ist.« (Jonas, H.: Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt 1987, S. 194) Hierzu auch: Chadwick, R.: Das Recht auf Wissen und das Recht auf Nichtwissen aus philosophischer Sicht, in: Petermann, F. / Wiedebusch, S. / Quante, M. (Hrsg.): Perspektiven der Humangenetik, Paderborn 1997, S. 195–208; Duttge, G.: Rechtlich-Normative Implikationen des Rechts auf Nichtwissen in der Medizin, in: Wehling, P. (Hrsg.): Vom Nutzen des Nichtwissens. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2015, S. 75–91. 791 Zur Medikamentenapplikation siehe: Tran, L. A. / Wilson, L. J.: Nanomedicine: making controllable magnetic drug delivery possible for the treatment of breast cancer, in: Breast Cancer Research 13 (2011), S. 303. 792 Max-Planck-Gesellschaft: Pressemitteilung PRI B 71/2005 (173), S. 2. 793 »The delivery system, therefore, helps in the delivery of drugs to specific sites; thus, eliminating the undesired side effects on healthy cells.« (Tatiparti, K. / Sau, S. / Gawde, K. A. / Iyer, A. K.: Copper-Free ›Click‹ Chemistry-Based Synthesis and Characterization of Carbonic Anhydrase-IX Anchored Albumin-Paclitaxel Nanopar­ ticles for Targeting Tumor Hypoxia, in: Lee, S.-H. (Hrsg.): Nano/Micro-Assisted Regenerative Medicine, Basel / Beijing / Wuhan / Barcelona 2018, S. 108–128, hier S. 121). 790

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6. Nanotechnologien

gelangen sogar bis ins Gehirn. Die Blut-Hirn-Schranke, die das Eindringen von Fremdkörpern in das Gehirn sonst verhindert, kann umgangen werden, d. h. Nanopartikel werden vom Immunsystem nicht als Fremdkörper erkannt. Jene Schranke verhinderte bisher einen pharmazeutischen Einlass in das Zerebrum. Nun aber können Wirkstoffe passgenau ins Gehirn transferiert werden, was z. B. bei der Behandlung einer Alzheimererkrankung von Vorteil sein kann. Eine ganz individuell abgestimmte Medikation ist so möglich, eine Thera­ pie, die also besser auf den entsprechenden Patienten abgestimmt werden kann.794 Gerade jenes Überwinden der Blut-Hirn-Schranke könnte allerdings auch eine ernst zu nehmende Gefahr darstellen. »Die winzigen Partikel können Zellmembranen durchdringen, sich möglicherweise in Organen anreichern oder im Atemtrakt Entzün­ dungen hervorrufen.«795 Der Arzt muss in jedem Fall seiner Sorg­ faltspflicht zum Schutz von Leben und Gesundheit gegenüber dem Patienten nachkommen. Selbstredend ist der Patient über Nutzen und Risiken eines Eingriffs ausreichend zu informieren. Auch c) die Medizin-Technik ist hier als weiterer Bereich der medizinischen Konkretionen zu nennen. So werden Implantate wie auch medizinische Gerätschaften (Katheter, Stents, Wundauflagen) durch spezielle Nano-Beschichtungen widerstandsfähig gegen Bakte­ rien und Keime gemacht.796 Im medizinischen Kontext stellt sich u. a. auch die Frage, wie mit Nanopartikeln verfahren werden soll, wenn diese ihre Funktion erfüllt haben – schließlich sind sie in der Lage, Zellmembranen zu durchdrin­ gen. Möglich ist es auch, dass sie sich in Organen ansammeln oder im Organismus zu Störungen führen.797 794 Eine Fallstudie legt nahe, dass bei einer Krebstherapie nur 10 Prozent des Che­ motherapeutikums gegenüber einer systemischen Gabe verabreicht werden müssen, Nebenwirkungen dadurch reduziert werden können. (Vgl. Pohler Schär, W.: Innova­ tionen in der Nanomedizin. Eine ethnografische Studie, Bielefeld 2017, S. 13). 795 Heckl, W. M. / Weitze, M.-D.: »Nano ja, aber nicht zu nah« – Einleitung, in: Nova Acta Leopoldina NF 114, Nr. 392, 2012, S. 17–21, hier S. 17. 796 Vgl. Hong, Z. / Zhang, P. / He, C. / Qiu, X. / Liu, A. / Chen, L. / Chen, X. / Jing, X.: Nano-composite of poly(L-lactide) and surface grafted hydroxyapatite: mechanical properties and biocompatibility, in: Biomaterials 26 (2005), S. 6296– 6304. 797 Im Tierexperiment wurde Mäusen Kupfer sowohl in Nanodimensionen als auch in Mikrogröße oral verabreicht. Während letzteres nicht zu Schäden führte, konnten bei der Verabreichung in Nanogröße Schäden an inneren Organen der Nager (Leber, Nieren, Milz) beobachtet werden. (Vgl. Chen, Z. / Meng, H. / Chen, C. / Zhao,

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6.3 Medizinische Anwendungen

Nanomedizin wird eine hochtechnisierte Medizin sein – und sie wird kostspielig sein. Bei all den Entwicklungen gilt es im Blick zu behalten, was Medizin ausmachen sollte. Es ist möglich, dass sich durch Nanomedizin auch unser Verständnis von Kranksein ändert: Dadurch, dass wir noch mehr über etwaige Risiken wissen, werden Menschen zu Kranken auf Abruf. Zu diskutieren ist freilich, ob einer Abweichung von Normdaten umgehend mit einer Medikamentie­ rung begegnet werden muss, und ob Medizin als Nanomedizin dem Menschen zugewandt ist, diesen in den Mittelpunkt der ärztlichen Bemühungen stellt. Das Verstehen des Patienten darf bei allem wün­ schenswerten technischen Fortschritt nicht zur Nebensache werden. Für eine ethische Auseinandersetzung fällt die neue Eingriffstiefe in jenen Nanowelten ins Gewicht. Aspekte der Verbesserung (Enhancement), die auch im Kontext der Nanotechnologien eine Rolle spielen (etwa wenn nanomedizinische Eingriffe die Hirnleistungen von Alzheimer-Patienten steigern können, könnte es auch bei nicht erkrankten Menschen zu einer Steigerung ihrer zerebralen Leistun­ gen kommen), werden wir an späterer Stelle aufgreifen. Mit der Nanomedizin stellen sich auch bekannte medizinethi­ sche Fragen neu: von Therapieoptionen angefangen bis hin zur infor­ mierten Einwilligung eines Patienten zu einer Behandlung (informed consent). Im Kontext medizinischer Anwendungen wäre insbeson­ dere an die Würde und Autonomie des Menschen wie auch die hieraus abzuleitenden Prinzipien der Schadensvermeidung und Fürsorge zu erinnern.798 Eingriffe, die dem Patienten schaden, sind demnach zu unterlassen. Das Wohl des Patienten als leib-seelisches Wesen ist zu fördern.799 Ein Arzt ist und bleibt Arzt des Patienten – er ist nicht Interes­ senvertreter der Gesellschaft, der Angehörigen oder der Forschung. Hinsichtlich des Patienten ist freilich im Blick zu behalten, dass Y. / Jia, G. / Wang, T. / Yuan, H. / Ye, C. / Zhao, F. / Chai, Z. / Zhu, C. / Fang, X. / Ma, B. / Wan, L.: Acute Toxicological Effects Of Copper Nanoparticles In Vivo, in: Toxicology Letters 163/2 (2006), S. 109–120). 798 Siehe hierzu z. B.: Grunwald, A.: Ethics of nanotechnology. State of the Art and Challenges Ahead, in: Schmid, G. (Hrsg.): Nanotechnology. Vol. 1: Principles and Fundamentals, Weinheim 2008, S. 245–286; Grunwald, A.: Nanotechnologie, in: Sturma, D. / Heinrichs, B. (H.): Handbuch Bioethik, Stuttgart / Weimar 2015, S. 333– 338; Grunwald, A.: Responsible Nanobiotechnology. Philosophy and Ethics, Singapore 2012. 799 Nicht unproblematisch ist es, dass es in Lebensmitteln wie auch in Kosmetikpro­ dukten bisher keine Nachweispflicht gibt.

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6. Nanotechnologien

sich dieser in einer Ausnahmesituation befindet: in physischer wie psychischer Sicht. Er ist abhängig von dem, was der Arzt sagt. Er ist weniger souverän als ein gesunder Mensch. Betroffene und ihre Ange­ hörigen bewegen sich nicht selten in einem Netz aus Hoffnungen und Erwartungen, Ängsten, Fragen und Zustimmungen, Unsicherheiten und Risiken. Der Arzt muss auch weiterhin »Künstlerarzt« bleiben und nicht zum »Schablonenarzt« werden.800 Letzterer betrachtet den Kranken vor allem als Objekt: Standardisierungen und Kategorisierungen rücken für ihn in den Vordergrund, was freilich eine gewisse Effizienz mit sich bringt, jedoch auch zu einer Entpersonalisierung von Arzt, Pfleger und Patient führt. Dagegen geht es bei dem Künstlerarzt um den Patienten als Ganzes: »[E]r wendet sein erworbenes Wissen, sein erlerntes und erfahrenes Wissen auf, um im freien Urteil an jedem einzelnen Ereignis in besonderer Art und Weise darüber zu entscheiden, was Not tut.«801 Für ihn steht weiterhin der Patient als leiblich strukturierte, einmalige Person, für die die Krankheit eine existentielle Bedeutung hat, im Vordergrund. »Nicht die Fülle des Wissens, die Gelehrsamkeit noch die glänzende Beherrschung der Technik macht den Arzt, sondern allein die Fähigkeit, die Mittel, die ihm Wissenschaft, Erfahrung, Menschenkenntnis und Geschicklichkeit an die Hand geben, zu einem einheitlichen Denken und Tun zu verschmelzen, in dem alle leiblichen und seelischen Bezie­ hungen des Kranken ihre Rechnung finden. Diese Eigenschaft erhebt den Arzt zum Künstler und die Medizin zu einer wirklichen Kunst, die, wie jede andere, neue Quellen des Heils der ihr bedürftigen Menschheit erschließt.«802

Wenn es mit Hilfe von Nano-Robotern möglich werden sollte, den Zustand des menschlichen Organismus permanent zu überwachen, um letztlich menschliche Kontingenz abzustreifen, wäre zu fragen, ob dies eigentlich ein wünschenswertes Ziel ist bzw. wo Möglichkeiten des Missbrauchs und der Manipulation von Menschen gegeben sein 800 Die Unterscheidung geht auf Ernst Schweninger zurück. (Vgl. Honigmann, G.: Das Wesen der Medizin, Leipzig 1924, S. 273) Der »Schablonenarzt« betrachtet den Kranken v. a. als Objekt, während es dem »Künstlerarzt« um den Patienten als Indi­ viduum in seiner leib-seelischen Ganzheit geht. Hierzu auch: Knaup, M.: Medizin und ärztliche Kunst, in: Zeitschrift für medizinische Ethik, 2/2020, S. 233–249. 801 Honigmann, G.: Das Wesen der Medizin, Leipzig 1924, S. 274. 802 Honigmann, G.: Krankheitserkenntnis und Krankenbehandlung, Berlin 1928, S. 123.

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6.4 Fazit

könnten. Es war Kapp, der Technik als Verlängerung und Verfeinerung des Organismus hatte deuten wollen. Bis in nanotechnische Dimen­ sionen hinein scheinen seine Überlegungen aktuell zu sein.

6.4 Fazit Der Bereich nanotechnologischen Forschens ist uneinheitlich und überaus komplex. Chancen und Gefahren sowie ethische und gesell­ schaftliche Dimensionen der Nanotechnologien werden in Wissen­ schaft und zunehmend auch gesellschaftspolitischen Debatten disku­ tiert. Niels Gottschalk-Mazouz ist m.E. zuzustimmen, wenn er fest­ hält, dass die Zukunft dieser Technologien auch davon abhängig sein wird, wie hierüber diskutiert wird, welche Differenzierungen vorgenommen werden. »Schließlich ist die Nanotechnologie intern vielfältig genug, als fort­ schreitende Miniaturisierung auf ganz verschiedenen Technikfeldern, um eine solche Differenzierung zuzulassen. Der Hype um Nano wäre dann jedenfalls endgültig dahin und die Nanotechnologie eine ›ganz normale‹ ambivalente Technologie geworden: Ein Weg, den – ob nun plötzlich aufgrund eines Unfalls oder nach und nach auch so – bisher noch jede der vielen Technologien genommen hat, die uns als revolutionär und universell heilsbringend gepriesen wurde.«803

Durch Nanotechnologien werden Eingriffe in die Natur in einem neuen Größenmaßstab möglich. Bisherige materielle Grenzen kön­ nen überwunden werden, eine Neuordnung der materiellen Struktu­ ren wird möglich. Der Mensch kann Welt neu gestalten, Natur anders ordnen. Dadurch ändert sich freilich auch unsere Beziehung zum Stoff, aus dem die Welt gemacht ist. In einem uns nun schon bekann­ ten Bild formuliert: Der Homo faber konstruiert, verändert natürliche Einheiten und hofft, einen noch besseren Zugriff auf das Gegebene zu bekommen. Grenzen verschieben sich. Es wird künstlich etwas aus etwas zuwege gebracht, das selbst schon künstlich konstruiert 803 Gottschalk-Mazouz, N.: Risiko, Akzeptanz und Akzeptabilität. Was man von der Gentechnologie über die Nanotechnologie lernen kann, in: Hubig, C. / Koslowski, P. (Hrsg.): Maschinen, die unsere Brüder werden. Mensch-Maschine-Interaktion in hybri­ den Systemen, München 2008, S. 173–187, hier S. 186.

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6. Nanotechnologien

wurde. Mit Heidegger gesprochen: Das Gestell umspannt in der Tat alle Bereiche des Kosmos, fängt selbst den Nano-Bereich mit ein. Risiken, die auf uns zukommen, sind in den Blick zu nehmen: Im Hinblick 1.) auf den menschlichen Organismus und 2.) auf die Umwelt. 1.) Nanopartikel können aufgrund ihrer Größe in Organe und Zellen vordringen, medizinische Produkte dorthin transportie­ ren. »Denkbar ist, dass die Energieproduktion der Zelle gestört und durch die nanogroßen Fremdkörper oxidativer Zellstress ausgelöst wird. Der oxidative Stress verursacht dann Folgereaktionen wie etwa eine akute Beeinträchtigung der Gefäßfunktion oder Herzrhythmusstörungen. Nanomaterialien können sich sogar in der DNA ablagern. Bestimmte unverträgliche Metalle können auch bereits in geringen Mengen als Nanosubstanzen den Zelltod herbeiführen. Einige Untersuchungen deuten zudem auf ein genotoxisches Potenzial bestimmter Nanoma­ terialien hin. Siliziumoxid-Partikel blockierten im Versuch wichtige Funktionen des Zellkerns wie etwa die DNA-Replikation.«804

2.) Nanopartikel können in die Umwelt gelangen und dort Wirkungen haben, die gar nicht absehbar sind, da Langzeitstudien nicht vorlie­ gen.805 Besondere Vorsicht müsste gerade dort walten, wo seitens der 804 Schulz, T. H.: Nanomaterialien als Risiko? Herausforderungen an das Europarecht. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des Welthandelsrechts (Schriften zum Europäischen Recht, Bd. 168), Berlin 2015, S. 50. »Nanocarriers may overcome solubility or stability issues for the drug and minimize drug-induced side effects. But there could be significant toxicity issues associated with the nanocarriers themselves, which requires resolution. Over the past couple of years, a number of toxicology reports have demonstrated that exposure to nanotechnology derived particles pose serious risks to biological systems. For instance, exposure of human keratinocytes to insoluble single-wall carbon nanotubes was associated with oxidative stress and apoptosis. The toxic effects of inhalation exposure to ferric oxide (FE2O3) and zinc oxide (ZnO)nanoparticles in rats was significantly increased. Histopathological examination showed that both types of nanoparticles caused severe damage in liver and lung tissues.« (Sing, P. P.: Recent Advances of Multifunctional Nanomedicines, in: Mishra, A. K. (Hrsg.): Nanomedicine for Drug Delivery and Ther­ apeutics, Beverly 2013, S. 163–187, hier S. 181). 805 Die Diskussionen ähneln hier jenen aus dem Bereich der gentechnisch veränder­ ten Organismen resp. der Synthetischen Biologie. Die Nanomaterialen können mit organischen Stoffen anders interagieren als Mate­ rialien in anderen Größendimensionen. »[N]anomaterials often do not behave like their bulk counterparts« (Leslie-Pelecky, D. L.: Nanotoxicology, in: Labhasetwar, V. / Leslie-Pelecky, D. L. (Hrsg.): Biomedical Applications of nanotechnology, New Jersey 2007, S. 227–241, hier S. 227 f.). Neben der Größe als möglicher Faktor für

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6.4 Fazit

Nanopartikel gerade eine Wirkung auf naturbedingte Eigenschaften biotischer Systeme intendiert ist. Die Anforderungen an die Forscher sind angesichts möglicher Risiken hoch. Für Patienten resp. Proban­ den sind entsprechende Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Auch Beeinträchtigungen für den Wurzelwuchs von Pflanzen sind möglich.806 Von Toxikologen wird vor möglichen Folgen gewarnt, die die Freisetzung von Nanopartikeln in die Umwelt mit sich bringen könnte. Welche Konsequenzen für Mikroorganismen, Wirbel- und Säugetiere möglich sind, ist heute noch nicht deutlich absehbar.807 Ungewiss ist, ob Nanomaterialien eine Krebserkrankung fördern können.808 Die Arbeit an Atomen und Molekülen in Nanometerdimensio­ nen und die Beschäftigung mit Größenmaßstäben der DNA, ihrer Analyse und künstlichen Umgestaltung, liegen nicht so weit aus­ einander. Mit jenen Ansätzen wollen wir uns im anschließenden Kapitel auseinandersetzen.

Toxizität gibt es noch weitere Parameter, die zu berücksichtigen sind: »Chemical com­ position, surface area, surface charge, crystal structure, chemical reactivity, solubility, shape, and degree of agglomeration are also important parameters for understanding toxicity. This produces a much more extensive list of parameters than those addressed in typical toxicity studies.« (A. a. O., S. 229). 806 Vgl. Tesseraux, I. / Wehrle, G. / von der Trenk, K. T.: Nanomaterialien: Toxiko­ logie / Ökotoxikologie, hrsg. von der Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz Baden-Württemberg, Karlsruhe 2010, S. 24. 807 Vgl. Becker, H. / Dubbert, W. / Schwirn, K. / Völker, D.: Nanotechnik für Mensch und Umwelt – Chancen fördern und Risiken mindern, hrsg. vom Umweltbundesamt, Dessau-Roßlau 2009, S. 11. 808 »Generell ist die Datenbasis zur Bewertung des von Nanomaterialien ausgehen­ den karzinogenen Potentials nicht ausreichend. Während einige Studien Hinweise auf ein nanospezifisches Tumorpotential zeigte, kamen andere Untersuchungen zu nega­ tiven Ergebnissen.« (Bundesinstitut für Risikobewertung/Umweltbundesamt: Stel­ lungnahme 5/2011, 15. April 2011, S. 2).

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7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie

»Schon seit geraumer Zeit versuchen die Naturwissenschaften, auch das Leben künstlich herzustellen, und sollte ihnen das gelingen, so hätten sie wirklich die Nabelschnur zwischen dem Menschen und der Mutter alles Lebendigen, der Erde, durchschnitten«809 – wie Hannah Arendt schreibt. Im Folgenden soll es um die Synthetische Biologie gehen, die mit dem Ziel in Verbindung gebracht wird, Leben künstlich herstellen zu können.

7.1 Ansätze und Ziele der Synthetischen Biologie »Um neun Uhr holten wir unsere Anker ein und segelten kurz nach 10 los … wir hatten eine angenehme Fahrt, bis wir den Wellenbrecher umschifften … wo mein Elend begann. Mir ging es bald ziemlich schlecht, und in dem Zustand blieb ich bis zum Abend … Ich litt ent­ setzlichst; solch eine Nacht habe ich noch nicht verbracht, allenthalben nichts als Qualen.«810

Dies lässt der junge Charles Darwin am 10. Dezember 1831 sein Tagebuch wissen. Den Grund für seine Fahrt auf See hält er drei Tage später fest. So schreibt er am 13. Dezember 1831 Folgendes: »Die grundsätzlichen Ziele sind 1. Sammeln, beobachten und lesen in allen Zweigen der Naturgeschichte, die ich irgendwie bewältigen kann.«811 Und in seiner Autobiographie hält er in diesem Sinne fest: »Die Beobachtung und Sammlung von Tatsachen habe ich mit allem nur denkbaren Fleiß betrieben. […] Von früher Jugend an hatte ich den drängenden Wunsch, alles, was ich beobachtete, auch zu verstehen oder 809 810 811

Arendt, H.: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München / Zürich 62007, S. 9. Zit. nach: Neffe, J.: Darwin. Das Abenteuer des Lebens, Hamburg 2006, S. 28. Zit. nach: ebd.

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7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie

zu erklären, das heißt also, alle Tatsachen nach allgemeinen Gesetzen zu ordnen.«812

Darwin nimmt es in Kauf, seekrank zu sein, will mit der Beagle – er ist von Dezember 1831 bis Oktober 1836 unterwegs – neue Welten erkunden, sammeln und das Gesammelte klassifizieren. Zahlreiche Felle, Skelette und Exemplare lässt er nach London bringen. Er hofft inständig, wie es in seinem Tagebucheintrag vom 17. Dezember 1831 heißt, an »etwas teilhaftig zu werden, das ich mir in meinen wildesten Träumen niemals vorstellen konnte«813. Diese Hoffnung teilt gewiss auch der US-amerikanische Biochemiker Craig Venter, der sich im 21. Jahrhundert zu neuen Ufern aufmacht. Mit der Sorcerer II brach Venter gemeinsam mit seinem Team zu Expeditionen auf und fuhr kreuz und quer über die Ozeane. Alle 200 Seemeilen wurde dabei eine Wasser­ probe entnommen, um so mit Hilfe von verschiedenen Filtersystemen Bakterien und dann auch Viren einzufangen, die dann in einem seiner Forschungslabore untersucht wurden. Eine ungeheure Datenmenge kam so zusammen. 400 Mikroorganismenarten und sechs Millionen Gene wurden bei den Expeditionen entdeckt. »Der Computer verglich jedes DNA-Fragment mit jedem anderen und erzeugte Gruppen ähn­ licher Sequenzen; außerdem sagte er anhand der Sequenzen die zuge­ hörigen Proteine voraus.«814 Venter beteuert, dieses Unternehmen habe größte Auswirkungen auf seine Sicht vom Leben gehabt.815 »Ausgehend von Millionen neu entdeckten Genen sind wir jetzt dabei, die Werkzeuge für den Beginn einer neuen Phase der Evolution zusam­ menzustellen. Bäume nehmen durch die Photosynthese Kohlendioxid auf. Das Gleiche gilt für die Ozeane, hier sind allerdings weitere Mechanismen im Spiel. Könnte man neue Lebewesen entwerfen, die in den Abgasleitungen eines Kohlekraftwerks leben und dort das Kohlendioxid aufnehmen? Könnte man Mikroorganismen und ihre außergewöhnlichen biochemischen Eigenschaften nützlich machen, um die Atmosphäre zu verändern?«816

Darwin, C.: Mein Leben. 1809–1882, vollständige Ausgabe der »Autobiographie«, hrsg. von seiner Enkelin N. Barlow, mit einem Vorwort von E. Mayr, aus dem Engli­ schen von C. Krüger, Frankfurt a. M. / Leipzig 2008, S. 152 f. 813 Zit. nach: Neffe, J.: Darwin. Das Abenteuer des Lebens, Hamburg 2006, S. 29. 814 Venter, C.: Entschlüsselt. Mein Genom, mein Leben, Frankfurt a. M. 2009, S. 521. 815 Vgl. ebd. 816 A. a. O., S. 523 f. 812

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7.1 Ansätze und Ziele der Synthetischen Biologie

Venter träumt davon, wie sich das, was er in der Natur vorfindet, in veränderter Weise »nutzbar machen«817 lässt. Im Bild gesprochen ist es nicht sein Anliegen, die Wasserkraft zu nutzen, sondern das Wasser selbst zu verändern. Ihm geht es nicht in erster Linie darum, zu sammeln, zu beobachten und daraus Schlüsse zu ziehen. Natur ist auch nicht mehr etwas, das erlebt werden soll. Seine Ziele sind andere, haben sich verschoben. Er will selbst ein neues Kapitel der Evolutionsgeschichte aufschlagen, fragt, was verändert und umgebaut werden kann. Es geht ihm darum, wie in die Natur eingegriffen wer­ den kann, sie umgestaltet werden kann. Das Machen, das Gestalten und Konstruieren geben den Ton an. »Ist es möglich, mit unseren der­ zeitigen Kenntnissen das Chromosom einer ganz neuen Art zu planen und chemisch aufzubauen, sodass die erste sich selbst verdoppelnde künstliche Lebensform entsteht, mit der man alternative Energiefor­ men anzapfen kann?«818 Die Frage, wie man Bakterien abändern und ein Designergenom gestalten kann, treibt ihn an. Ihm geht es um die Macht des Überblicks und die Frage, wie Leben künstlich konstruiert werden kann, wobei er sich Hilfe und kompetente Antwort von der Synthetischen Biologie erhofft. Die Frage nach dem Verhältnis von Gewachsenem und Gemach­ tem wird besonders relevant im Hinblick auf diesen noch jungen und sich rasch entwickelnden Forschungszweig. Die Synthetische Biologie vermag das zu verändern, was ein jedes von Natur aus ist und von Natur aus anstrebt. Von einer »neuen Ära der biologischen Gestaltung«819 ist die Rede. Ganz richtig stellt Gerhard Wegner fest, man könne einige »der Fragestellungen, die von dieser als ›neu‹ bezeichneten Forschungsrichtung in den Fokus genommen werden, ohne Vorbehalt zu den wesentlichen Fragen derzeitiger Naturwissen­ schaft [zählen]. Sie sind Herausforderung und Ansporn zugleich.«820 Unter dem Dach der Synthetischen Biologie finden sich ganz unterschiedliche Forschungsdisziplinen vereint. Dies sind Gentech­ nik, Molekular- und Systembiologie, Organische Chemie, Nanotech­ nologie, Informationstechnik und Ingenieurswissenschaft. Syntheti­ A. a. O., S. 525. Ebd. 819 Venter, J. C.: Leben aus dem Labor. Von der Doppelhelix zum künstlichen Organis­ mus, Frankfurt a. M. 2014, S. 16. 820 Wegner, G.: Konzepte, Strategien und Ziele der Synthetischen Biologie: eine kri­ tische Betrachtung, in: Rager, G. / Wegner, G. (Hrsg.): Synthetische Biologie – Leben als Konstrukt, Freiburg / München 2015, S. 27–52, hier S. 27. 817

818

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7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie

scher Biologie geht es weniger darum, Gesetze ausfindig zu machen, sondern darum, sich ihren Gegenstand technisch zu konstruieren. Der Zusatz »synthetisch« (synthesis = Zusammensetzung) zeigt an, dass es sich um eine herstellende, nicht analytisch ausgerichtete Disziplin handelt. Man greift auf systembiologische Modelle zurück, überprüft diese durch Nachbau und Veränderung.821 Transportiert wird ein modulares Bild von Biologie – von molekularen Elementen bis hin zu Zellen. Standardisierungen spielen eine große Rolle. Dahinter scheint der neuzeitliche Traum wirksam, Leben verfügbar machen zu können. Das Selbstbild der Biologie ändert sich also, was nicht unterschätzt werden sollte.822 Es geht ihr nicht mehr nur darum, zu beobachten und zu beschreiben. Sie folgt nun dem Paradigma der Machbarkeit. Es geht gerade nicht nur um biochemische Analysen von Abläufen, die für Lebewesen eine notwendige Rolle spielen, sondern insbesondere auch darum, neuartige biologische Realitäten zu entwickeln. Auf den Punkt gebracht: Nicht die Frage nach Eingriffen in Lebendiges, nach Manipulationen, steht im Vordergrund, sondern vor allem die Konstruktion, das Herstellen des Lebenden. Insofern im Bereich der Synthetischen Biologie noch vieles als offen erscheint, wird diskutiert, in welchem Verhältnis sie zur klas­ sischen Gentechnologie steht. Wandelt sie in ihren Fußstapfen und setzt sie diese fort? Oder geht sie neue Wege? Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Gentechnologiebericht« an der Berlin-Brandenburgi­ schen Akademie der Wissenschaften stellt fest, dass es diesbezüglich keinen Konsens gebe, aber die »Anwendung ingenieurwissenschaft­ licher Konstruktionsprinzipien« sowie ein damit einhergehender »Denkstil« für die Synthetische Biologie kennzeichnend seien.823 Nicht selten wird der Synthetischen Biologie in diesen Diskussionen attestiert, ihr ginge es gegenüber der (klassischen) Gentechnik um David Berry hat daher folgenden Vorschlag gemacht: »The term synthetic biology should really be synthetic biotechnology.« (Zit. nach: Köchy, K.: Was ist Synthetische Biologie?, in: Köchy, K. / Hümpel, A. (Hrsg.): Synthetische Biologie. Entwicklung einer neuen Ingenieurbiologie? Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechno­ logiebericht, Berlin 2012, S. 33–49, hier S. 37). 822 Auf Entwicklungen in diese Richtung hatte Guardini zu Beginn des 20. Jahrhun­ derts hingewiesen. 823 Vgl. Interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Gentechnologiebericht«: Kernaussagen und Handlungsempfehlungen, in: Köchy, K. / Hümpel, A. (Hrsg.): Synthetische Bio­ logie. Entwicklung einer neuen Ingenieurbiologie? Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht, Berlin 2012, S. 29–32, hier S. 29. 821

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7.1 Ansätze und Ziele der Synthetischen Biologie

eine »qualitativ neue Dimension des wissenschaftlichen Umgangs mit Lebewesen«824, insofern sie sich die Erzeugung neuartiger biologi­ scher Einheiten, die wir in der Natur so nicht vorfinden, nach mensch­ lichen Zwecken auf die Fahnen geschrieben hat. Im Bild gesprochen geht es also nicht um alten Wein in neuen Schläuchen, um eine Neuetikettierung des Altbekannten.825 Eine Verwandtschaft zwischen Gentechnologie und Synthetischer Biologie kann jedenfalls darin ausgemacht werden, dass es ihnen um ein Funktionswissen geht.826 Zu nennen ist die Arbeit an sogenannten »Protozellen«, also solchen Zellen, die ganz und gar künstlich hergestellt werden. In anderen Worten: Erklärtes Ziel ist eine De-novo-Synthese von Orga­ nismen. Man erhofft sich, das Wissen zum Zellaufbau und zu den Genfunktionen vermehren zu können. Auf lange Sicht will man so eben auch besser erklären können, was Leben ausmacht und wie es einst entstanden ist. Der Technik, die bereits im Begriff der »Gentech­ nik« begegnet, kommen hier eine ganz neue Aufgabe und Funktion zu. Dieser Forschungszweig ist bestrebt, das Dogma Omne vivum ex vivo zu beseitigen. Auch die Nähe von Synthetischer Biologie und Nanotechnologie wird hervorgehoben. Die Synthetische Biologie könne als Spezifizie­ rung resp. als Teilgebiet der Nanotechnologien aufgefasst werden, insofern wir es bei der Arbeit an der DNA mit Nanogrößendimensio­ nen zu tun hätten.827

824 Boldt, J. / Müller, O.: Leben zum Selbermachen, in: Spektrum der Wissenschaft, April 2010, S. 42–45, hier S. 42. 825 Während Venter einerseits die Errungenschaften und Möglichkeiten der Synthe­ tischen Biologie (und nicht zuletzt seines eigenen Instituts) hervorhebt, schreibt er andererseits fast schon bescheiden, dass zwischen Molekularbiologie und Syntheti­ scher Biologie fast kein Unterschied bestehe. Die Bezeichnung »Synthetische Biolo­ gie« klinge einfach besser, ähnlich wie sich der Begriff Systembiologie auch attraktiver anhöre als die Bezeichnung Physiologie. (Venter, J. C.: Leben aus dem Labor. Von der Doppelhelix zum künstlichen Organismus, Frankfurt a. M. 2014, S. 120). 826 Engelhard benennt folgende Unterschiede: 1.) eine andere methodische Arbeits­ weise; 2.) eine unterschiedliche konzeptionelle Ausrichtung; 3.) eine verschiedene Fachkultur sowie 4.) die unterschiedliche Eingriffstiefe in quantitativer wie qualitati­ ver Hinsicht. (Vgl. Engelhard, M.: Die Synthetische Biologie geht über die klassische Gentechnik hinaus, in: Dabrock, P. / Bölker, M. / Braun, M. / Ried, J. (Hrsg.): Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zur Ethik der Synthe­ tischen Biologie, Freiburg / München 2011, S. 43–59). 827 Vgl. de Vriend, H.: Constructing Life. Early social reflections on the emerging field of synthetic biology, Rathenau Institute, The Hague 2006, S. 23.

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7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie

Wir können an der Stelle aber auch auf einen Unterschied zur Nanobiotechnologie hinweisen, welche ja organische und elektroni­ sche Entitäten miteinander verbindet. Im Kontext der Synthetischen Biologie geht es eher darum, mit Hilfe technisch-ingenieurswissen­ schaftlicher Methoden sich dem Bereich der molekularen Biotech­ nologie zuzuwenden. Anders gewendet: Nanobiotechnologie geht es um Manipulationen molekularer Vorgänge in biotischen Syste­ men, während die Synthetische Biologie darauf abzielt, lebendige Systeme zu konstruieren. »In den zentralen Forschungsansätzen der Synthetischen Biologie treffen daher die epistemologischen und onto­ logischen Annahmen der Technikwissenschaften auf den Objektbe­ reich der molekularen Biologie und Biotechnologie, d. h. den Bereich des Lebens.«828 Gerade auch vor der Hintergrundfolie der im ersten Gang dar­ gelegten Theorien und Überlegungen zum Ursprung des Lebens bekommt die der Synthetischen Biologie zugemessene Rolle deutli­ chere Konturen: Man erhofft sich Antworten, die über den Bereich des Labors hinausreichen und Auskunft geben über das Leben und somit auch über den Menschen selbst. Anders gesagt: Man erhofft sich nicht nur experimentelle Daten, neue auch ökonomisch interessante Investitionsmöglichkeiten, sondern erkenntnistheoretischen Gewinn darüber, wie Leben entstanden sein könnte. Durch Rekonstruktion der Vergangenheit in die Zukunft! Doch die Vergangenheit selbst bekommen wir nicht zu fassen. Sie ist uns entschwunden. In den Experimenten bekommen wir es mit einer Vergangenheit zu tun, wie sie vermutlich gewesen sein könnte. Zu denken ist auch an die Erzeugung eines »Minimalorganis­ mus«, der auf ganz grundlegende Funktionen beschränkt ist. Es geht hierbei darum, kleinste lebensfähige Einheiten herzustellen (die Rede ist von essentiellen Gensets). Hierauf können dann bestimmte Gen­ sequenzen als sogenannte Chassis (Hülle) aufgesetzt werden.829 Ein Top-down-Ansatz wäre in diesem Kontext eine Strategie, welche die Reduktion vorhandener Genome verfolgt, um einen Minimalorga­ 828 Vgl. Boldt, J.: Synthetische Biologie, in: Grunwald, A. (Hrsg.): Handbuch Tech­ nikethik, Stuttgart / Weimar 2013, S. 364–369, hier S. 364. 829 Der Begriff »minimal organism« begegnet erstmals 1965 bei Haldane im Kontext von Überlegungen zur Entstehung des Lebendigen: Haldane, J. B. S.: Data needed for a blueprint of the first organism, in: Fox, S. W. (Hrsg.): The Origins of Prebiological Systems and of their Molecular Matrices, New York 1965, S. 11–15, hier S. 12.

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7.1 Ansätze und Ziele der Synthetischen Biologie

nismus herzustellen. Die Strategie, aus einzelnen DNA-Fragmenten ein Genom aufzubauen, wird in diesem Zusammenhang als Bot­ tom-up-Ansatz bezeichnet. In solche »Minimalorganismen« könnten verschiedene »Biobricks« eingebracht werden, um ausgehend von diesen verschiedene neue Eigenschaften und Merkmale künstlich her­ zustellen.830 Es ist naheliegend, dass dies in ökonomischer Hinsicht äußerst faszinierend scheint. Mit dem Stichwort »Minimalorganis­ mus« wären wir auch schon wieder bei Craig Venter, einem der herausragenden Köpfe der Synthetischen Biologie. 2007 konnte er einen Patentantrag für ein minimales Bakteriengenom einreichen. Im ersten Gang der Arbeit ist uns auch die Vorstellung eines GenDeterminismus begegnet. Die Arbeiten zum Minimalgenom machen jedenfalls deutlich, dass es diesen so nicht gibt. Venter unterstreicht, dass es in bestimmten Situationen und Umweltbedingungen wichtig sein kann, ein bestimmtes Gen zu haben, in anderen eben nicht. Entscheidend ist das Zusammenspiel von genetischer Ausstattung und Umweltfaktoren.831 Nicht geklärt ist die Frage, ob die Reihenfolge der Gene von Belang ist.832 »Das einfachste Beispiel ist Mycoplasma genitalium, das zwei Gene für den Zuckertransport hat: eines für Fruktose und eines für Glukose. Wenn beide Zucker im Medium sind und man schaltet eines der beiden Transportgene aus, würde man sagen, dass die Gene nicht essentiell sind, weil die Zelle ja weiterlebt. Wenn das Medium als Zucker nur Glukose enthält und man den Glukosetransporter ausschaltet, stirbt die Zelle, und man sagt: Aha, das ist ein essentielles Gen. Alle diese Dinge sind eine Frage der Definition, wobei zwei Dinge wichtig sind: der genetische Code und die Umwelt.«833

Auch dieser Strang der Synthetischen Biologie schickt sich an, auf Dauer zur Klärung beitragen zu können, was Leben ist. Wunschor­ 830 Mit dem Terminus technicus Biobricks werden modularisierte Bausteine, funktio­ nelle DNA-Sequenzen bezeichnet, die synthetisch erzeugt wurden. 831 »Man kann das Leben eines Menschen oder Leben überhaupt nicht allein anhand der DNA definieren. Wenn man nicht weiß, in was für einer Umwelt sich eine Zelle oder eine Spezies befindet, kann man ihr Leben nicht verstehen. Die Umwelt eines Organismus ist letztlich ebenso einzigartig wie seine genetische Information.« (Ven­ ter, J. C.: Entschlüsselt. Mein Genom. Mein Leben, Frankfurt a. M. 2009, S. 12 f.). 832 Vgl. Beitrag von J. C. Venter, in: Brockman, J. (Hrsg.): Leben, was ist das? Ursprünge, Phänomene und die Zukunft unserer Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 2009, S. 39–61, hier S. 55. 833 A. a. O., S. 46.

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ganismen möchte man selbst designen können. Zellprozesse sollen verfügbar gemacht werden und vollständig kontrollierbar sein.834 Ein weiteres Arbeitsfeld besteht in der vollständigen Synthese von Genomsequenzen (Synthetische Genomik).835 Zu nennen ist hier etwa die Arbeit des Teams um Eckhard Wimmer, der sich 2002 mit der Meldung an die Öffentlichkeit wenden konnte, die chemische Synthese des vollständigen Genoms des Poliovirus – wir haben es hier mit 7.000 Basenpaaren zu tun – sei geglückt. 2003 gelang dem Team um Craig Venter die Genomsynthese eines Virus aus der Gruppe der Bakteriophagen (5.000 Basenpaare). In diesem Zusammenhang ist auch das Team um Jeffrey Taubenberger zu nennen, dem 2005 die Rekonstruktion und Synthetisierung der 13.000 Basenpaare des Genoms des Virus der Spanischen Grippe gelang.836 Das Jahr 2008 ist noch einmal mit dem Namen Venters in Verbindung zu bringen: Seiner Arbeitsgruppe gelang die Genomsynthese eines modifizierten Mycoplasma-Bakteriums mit 600.000 Basenpaaren. Worum es bei diesem Arm der Synthetischen Biologie geht, wird in folgender Stellungnahme des JCVI (J. Craig Venter Institute) deut­ lich: »Sequencing genomes has now become routine, giving rise to thou­ sands of genomes in the public databases. In essence, scientists are digitizing biology by converting the A, C, T, and G’s of the chemical makeup of DNA into 1’s and 0’s in a computer. But can one reverse the process and start with 1’s and 0’s in a computer to define the characteristics of a living cell? We set out to answer this question.«837 834 »In den meisten Studien dieses Forschungsbereichs werden derzeit vorwiegend Humanpathogene untersucht, häufig mit dem Ziel, essentielle Gene, die als Angriffs­ stellen für Antibiotika verwendet werden können, zu ermitteln.« (Litterst, L.: Neues Leben aus dem Labor. Biowissenschaftliche und ethische Aspekte der Synthetischen Bio­ logie, Wiesbaden 2018, S. 46). 835 Siehe hierzu auch: Schummer, J.: Das Gotteshandwerk. Die künstliche Herstellung von Leben im Labor, Berlin 2011, S. 98 f. 836 Verschiedenen Forschergruppen ist es gelungen, das Vogelgrippevirus H5N1 so umzugestalten, dass es für Säugetiere infektiös wird. Und auch das fast schon verges­ sene Pferdepockenvirus konnte 2017 unschwer nachgebaut werden. Vgl. Knoepffler, N.: Den Hippokratischen Eid neu denken. Medizinethik für die Praxis, Freiburg / Mün­ chen 2021, S. 253 f. 837 J. Craig Venter Institute: First Self-Replicating Synthetic Bacterial Cell: Overview, 2010. https://www.jcvi.org/research/first-self-replicating-synthetic-bacterial-cell (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022).

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2010 konnten sich Venter und sein Team, von denen das Zitat stammt, mit der Nachricht an die Öffentlichkeit wenden, ihnen sei die Synthese eines künstlichen Bakteriums geglückt: Mycoplasma mycoides JCVI-syn1.0 lautet der Name dafür. Es sei, so die Forscher, möglich, dass ein künstlich hergestelltes synthetisiertes Genom in eine Bakterienzelle transferiert werde und dieses die Funktion eines nichtsynthetisierten Genoms übernehme.838 Genau genommen ging es darum, dass es gelungen war, das 1,08 Millionen Basenpaare umfassende Erbgut von Mycoplasma mycoides künstlich herzustellen (also den Erreger der Lungenseuche bei Rindern). Vorgegangen war man so, dass man das Genom zerlegte (top down), es auf jene Teile reduzierte, die überlebenswichtig scheinen, und diese schließlich Schritt für Schritt durch künstlich hergestellte Sequenzen ersetzte. Das Ergebnis war dann ein durch und durch synthetisiertes Genom. Dieses wurde im Anschluss in das Bakterium Mycoplasma caprico­ lum (es handelt sich hierbei um den Erreger der Lungenseuche bei Ziegen) transplantiert. Bei diesem Bakterium wurde zuvor die DNA entfernt. »The only DNA in the cells is the designed synthetic DNA sequence, including watermark sequences and other designed gene delections and polymorphisms, and mutations acquired during the building process.«839 Über die so hergestellten neuen Zellen heißt es weiter: »The new cells have expected phenotypic properties and are capable of continuous self-replication.«840 Ihre Arbeit, so das Team um Venter, stehe »in sharp contrast to various other approaches to genome engineering that modify natural genomes by introducing multiple insertions, substitutions, or delections. This work provides a proof of principle for producing cells based on computer-designed genome sequences. DNA sequencing of a cellular genome allows storage of the genetic instructions for life as a digital file.«841 Den Forschern geht es also um chemisch synthetisierte Genome, welche in eine vorhandene Bakterienzelle transferiert werden können. Gewisse Gibson, D. G. / Glass, J. I. / Lartigue, C. / Noskov, V. N. / Chuang, R. Y. / Algire, M. A. / Benders, G. A. / Montague, M. G. / Ma, L. / Moodie, M. M. / Merryman, C. / Vashee, S. / Krishnakumar, R. / Assad-Garcia, N. / Andrews-Pfannkoch, C. / Denisova, E. A. / Young, L. / Qi, Z. Q. / Segall-Shapiro, T. H. / Calvey, C. H. / Parmer, P. P. / Hutchison, C. A. / Smith, H. O. / Venter, J. C.: Creation of a bacterial cell controlled by chemically synthesized genome, in: Science 329 (2010), S. 52–56. 839 A. a. O., S. 52. 840 Ebd. 841 A. a. O., S. 55. 838

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Rahmenbedingungen (wie bereits vorhandene Bakterienzellen) sind also notwendig für die Forschung der Synthetischen Biologen. In dem Science-Artikel, in dem die Forscher über ihre Arbeit berichten, ist nicht von der Schaffung künstlichen Lebens die Rede, wohl aber davon, dass Leben als »digitale Datei« verstanden werden könne. Der genannte Artikel schließt mit folgender Feststellung: »We have been driving the ethical discussion concerning synthetic life from the earliest stages of this work. As synthetic genomic applications expand, we anticipate that this work will continue to raise philosophical issues that have broad societal and ethical implications.«842 Venter und sein Team konnten demnach also davon berichten, dass es ihnen gelungen ist, das Genom eines Bakteriums zu synthetisieren und im Anschluss mit Erfolg in eine Zelle zu transplantieren. Zurückgegriffen wurde bei ihrer Arbeit also auf die vorhandene Genomsequenz, die dann einer Veränderung unterzogen wurde. Im Hinblick auf die Transplantation griff das Forscherteam auf eine Zelle zurück. Gleichwohl ist der Begriff »Creation« (und nicht etwa »synthesis«, »construction« oder »shaping«) das erste Wort bereits im Titel der Arbeit. Die Synthetische Biologie kann auf die Systembiologie zurück­ greifen. Systembiologen sind bestrebt, Organismen in ihrer Gesamt­ heit zu beschreiben. Sie wollen die Komplexität von Lebewesen verstehen und dabei die Prozesse auf der Ebene des Genoms wie des Proteoms und der Organellen bis hin zum Verhalten berücksichtigen. Sie greifen dazu in methodischer Hinsicht auf mathematische Model­ lierung, Computersimulation und Heuristiken zurück. »Die System­ biologie liefert die unentbehrlichen Vorlagen für die Aufgaben, die sich die Synthetische Biologie stellt: nämlich die Konstruktion von einfachsten Lebensformen aus den dazu nötigen Substrukturen und molekular definierten Komponenten.«843 Vor der Hintergrundfolie Systembiologischer Forschung und ihrer Arbeiten zur Komplexität von Organismen arbeiten Vertreter der Synthetischen Biologie daran, aus synthetischen Einheiten neue Entitäten zu entwerfen. Im Kontext xenobiologischer Projekte geht es darum, im Hin­ blick auf bekannte biochemische Prinzipien neue biologische Einhei­ ten zu kreieren, die es so in der Natur nicht gibt. Konstruiert werden A. a. O., S. 56. Rager, G. / Wegner, G.: Vorwort. Synthetische Biologie – Neue Debatte über das Leben, in: Rager, G. / Wegner, G. (Hrsg.): Synthetische Biologie – Leben als Kon­ strukt, Freiburg / München 2015, S. 7–25, hier S. 11.

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Moleküle, die ähnliche Funktionen ausüben sollen wie die DNA, aber eben keine (natürliche) DNA sind. Die Rede ist von sogenannten Xeno Nucleic Acids (XNA). Während bisher alle Lebewesen eine DNA haben, sollen also Lebewesen geschaffen werden, die eine XNA haben. Und diese weist gegenüber der DNA eine veränderte molekulare Struktur auf, insofern beispielsweise eine Desoxyribose durch eine Hexose ausgetauscht wird. Hingewiesen sei darauf, dass die XNA auch replikationsfähig ist.844 Die Xenobiologie nutzt »nicht-natürliche Moleküle, um Xenoorganismen oder CVOs (che­ misch veränderte Organismen) […] herzustellen. Diese CVOs kön­ nen bisher nicht verwendete chemische Elemente (z. B. Fluor und Bor), neuartige Buchstaben, Bausteine und Gerüste enthalten. Die Forschung will dieses Ziel durch einen alternativen genetischen Code oder eine alternative Leseweise des genetischen Codes erreichen, wofür der ganze Fluss der genetischen Information neu gestaltet wird.«845

Nediljko Budisa bemüht in dem Zusammenhang die vielzitierte Aussage von Karl Marx, wonach die Philosophen die Welt lediglich verschieden interpretiert hätten, es aber darauf ankomme, sie auch zu verändern.846 Eben diese Bereitschaft und vor allem die Fähigkeit, auch tatsächlich etwas ändern zu können, traut er insbesondere der Xenobiologie zu. Der Abstand zwischen natürlichen und modifizier­ ten Wesen nehme seiner Ansicht nach immer weiter zu. »Am Ende dieses Weges steht künstliches Leben, das genetisch und metabolisch so weit vom natürlichen entfernt ist, dass es außerhalb des Labors auf der Erde nicht überleben kann.«847 Mit der Xenobiologie wäre es möglich, neue Türen aufzustoßen, und für eine Neugestaltung der chemischen Zusammensetzung von Molekülen zu sorgen. »Die

Vgl. Pinheiro, V. B. / Herdewijn, P. / Holliger, P. et al.: Synthetic Genetic Polymers Capable of Heredity and Evolution, in: Science 336 (7079), 2012, S. 341–344. 845 Budisa, N.: Xenobiologie, künstliches Leben und genetische Firewall, in: Voigt, F. (Hrsg.): Grenzüberschreitungen – Synthetische Biologie im Dialog, Freiburg 2015, S. 77–89, hier S. 84. 846 A. a. O., S. 77. Das Marx-Zitat, welches sich scheinbar gegen die Philosophie richtet, setzt selbst bereits eine bestimmte Sicht auf die Welt voraus. Auch ein Naturwissenschaftler, der z. B. Leben neu kreieren möchte, handelt gemäß seiner Interpretation der Welt. Um Welt also in irgendeiner Weise zu verändern, muss man eine gewisse Vorstellung von ihr haben und sie zunächst interpretieren. 847 A. a. O., S. 77 f. 844

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Mission der Xenobiologie ist der Einbau dieser menschengemachten Chemie in lebende Zellen.«848 In einer Publikation des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag wird die Synthetische Biologie als eine »Hope-, Hype- und Fear-Technologie« beschrieben.849 Das trifft es ganz gut, da sich mit ihr zahlreiche Hoffnungen, aber eben auch sehr viele Ängste und Befürchtungen verbinden. Sie umgibt außerdem der Nimbus des Neuen, Unbekannten, Noch-nicht-Dagewesenen. Das, was über sie zu lesen ist, gilt als besonders spektakulär. Wenn wir in verantwortungsvoller Weise über die Synthetische Biologie sprechen wollen, so haben wir ihre Grundannahmen in den Blick zu nehmen, die Chancen, die mit ihr verbunden werden wie auch mögliche Konsequenzen, die sich aus ihrer Arbeit ergeben können. Ganz hoffnungsvoll wird in unterschiedlichen Publikationen immer wieder auf die Zukunft geschaut und herausgestellt, was alles mit der Synthetischen Biologie möglich werden könnte. Dass man neue Wege in der Diagnose und Behandlung von Krankheiten entwickeln könne, steht dabei auf der Liste zumeist ganz oben.850 So ist etwa der Malaria-Wirkstoff Artemisinin zu nennen. Klassischerweise wurde dieser Wirkstoff aus der Pflanze Artemisia annua gewonnen, was nicht ganz einfach ist. Die Synthetische Biologie eröffnet hier neue Mög­ lichkeiten: Unschwer ist es dadurch, die durch Hefe hervorgebrachte Artemisininsäure in den gewünschten Wirkstoff zu wandeln.851 Neue Impfstoffe und Pharmazeutika würden in greifbare Nähe rücken.

A. a. O., S. 84. Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (Hrsg.): TABBrief Nr. 39, August 2011, https://www.itas.kit.edu/tab-brief_nr039.php (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 850 So nennt beispielsweise Volker ter Meulen direkt schon im ersten Satz seiner Veröffentlichung jene Hoffnungen und vermeintliche Vorteile, die die Synthetische Biologie mitbringt: »The creation of an artificial yeast chromosome shows that syn­ thetic biology is getting closer to what most scientists want: to be able to deliver benefits to society. The field has already found cheaper ways to produce medicines, and is making progress in applications from water purification to material design. « (ter Meulen, V.: Time to settle the synthetic controversy, in: Nature 509 (2004), S. 135). 851 Vgl. Paddon, C. J. et al.: High-level semi-synthetic production of the potent anti­ malarial artemisinin, in: Nature 496 / 7446 (2013), S. 528–532; Torgerson, H. / Schmidt, M.: Perspektive der Kommunikation für die synthetische Biologie, in: Weitze, M. D. / Pühler, A. (Hrsg.): Biotechnologie Kommunikation. Kontroversen, Analysen, Aktivitäten, Berlin 2012, S. 113–154. 848

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Auch hinsichtlich medizinischer Diagnostik könnten sich neue Türen öffnen: z. B. bei der Bekämpfung des Ebola-Erregers.852 Auch neuartige Lebensmittel könne man so kreieren: In Zeiten, wo das Verzehren von Tieren aus verschiedenen Gründen zunehmend gesellschaftlich hinterfragt und nach alternativen Ernährungsformen gesucht wird, wird auch davon gesprochen, mittels synthetisch her­ gestellter Einzeller »artifizielles Fleisch« herzustellen. Ob das so schmeckt, wie es sich anhört, sei dahingestellt. Nicht ganz unwahr­ scheinlich ist es jedenfalls, dass es gelingen kann, synthetisch gleich­ artige Muskelzellen von Tieren herzustellen. Will man nicht ganz auf Gemüse umsteigen, wird aber wohl auch weiter geschlachtet werden müssen. In Aussicht wird gestellt, anstelle fossiler Rohstoffe nachwach­ sende Rohstoffe nutzen zu können. Der Energiebereich könnte durch die Arbeit der Synthetischen Biologie optimiert werden: Stoffwech­ selprozesse in Kleinstorganismen könnten verändert und neue Roh­ stoffe hervorgebracht werden. Immer wieder ist von alternativen Kraftstoffen wie Ethanol oder Wasserstoff die Rede.853 Venter bringt diese Hoffnung publikumswirksam so vor: »Replace petrol-chemical industry.«854 Es soll kein Zweifel gelassen werden: Die Synthetische Biologie weist in die Zukunft und ist eine sprudelnde Quelle von Innovationen. Andere Vertreter der Zunft stoßen ins selbe Horn: »Darunter auch Amyris: Es versucht Hefen, die nicht mehr nur ›Bioethanol‹, sondern gleich Treibstoffe für herkömmliche Motoren produzieren, zur Marktreife zu bringen. Der Start-up LS9 aus San Fran­

852 Vgl. Sauter, A. / Albrecht, S. / van Doren, D. / König, H. / Reiß, T. / Trojok, R.: Synthetische Biologie – die nächste Stufe der Bio- und Gentechnologie, Büro für Tech­ nikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB), TAB-Arbeitsbericht Nr. 64, Berlin 2015, S. 11, 66. 853 In einer Studie aus dem Jahre 2013 konnte gezeigt werden, dass es tatsächlich möglich ist, Kraftstoff, welcher ja sehr begehrt ist, aus synthetisch modifizierten Escherichia Coli Bakterien zu produzieren: Howard, T. P. / Middelhaufe, S. / Moore, K. / Edner, C. / Kolak, D. M. / Taylor, G. N. / Parker, D. A. / Lee, R. / Smirnoff, N. / Aves, S. J. / Love, J.: Synthesis of Customized Petroleum-Replica Fuel Molecules by Targeted Modification of Free Fatty Acid Pools in Escheria Coli, in: Proceedings of the National Academy of Sciences 110, 2013, S. 1–6. 854 http://www.ted.com/talks/craig_venter_is_on_the_verge_of_creating_synthe­ tic_life#t-148 (Minute: 15:47) (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022).

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cisco, Mitbegründer ist George Church, setzt auf radikal umgebaute E.-coli-Bakterien, die einen Biosprit aus Fettsäuren produzieren.«855

In diesem Sinne heißt es in einer Veröffentlichung der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech): »Diese Prozesse [mittels Synthetischer Biologie] könnten neue Roh­ stoffe nutzen, natürliche Ressourcen sparen helfen und Abfälle ver­ meiden. […] Hier könnte die synthetische Biologie wichtige Beiträge liefern, zum Beispiel bei Verfahren zur Herstellung von Biokraftstoffen der 2. Generation oder bei der Gewinnung von Biowasserstoff aus Was­ ser und Sonnenenergie mithilfe maßgeschneiderter Mikroorganismen oder biomimetisch konzipierter Katalysatoren.«856

Heidegger hatte davon gesprochen, dass die Natur »zu einer einzigen riesenhaften Tankstelle [werde], zur Energiequelle für die moderne Technik und Industrie«857. Diese Sichtweise scheint hier bestimmend zu sein. Im Fokus ist das, was nutzbar gemacht werden kann. Aber auch nicht wenige Ängste werden mit der Synthetischen Biologie in Zusammenhang gebracht: So z. B. die Befürchtung, »eine solche Art der Beschreibung von Leben [wie in der Synthetischen Biologie] könnte auf lange Zeit dazu führen, dass höheren Lebens­ formen nicht mehr die Schutzwürdigkeit zugesprochen wird, die sie heute in der Regel erfahren«858. Weitere Ängste werden immer wieder genannt: z. B. jene, die Technik könne in »die falschen Hände« geraten und missbraucht werden. Auch von »Bio-Terrorismus« wird in dem Zusammenhang gesprochen. Von Synthetischer Biologie ist zum ersten Mal vor inzwischen mehr als einhundert Jahren die Rede: und zwar bei dem französischen Biologen Stéphane Leduc. Eine Publikation aus dem Jahre 1912 trägt den Titel: La Biologie Synthétique.859 Luis Campos argumentiert, dass dieser jedoch nicht Pate stand, sondern man sich bei der Begriffsbil­ 855 Epping, B.: Leben vom Reißbrett – ein bisschen zumindest, in: Spektrum der Wis­ senschaft, Nov. 2008, S. 82–90, hier S. 87. 856 Felcht, U.-H.: Vorwort, in: Pühler, A. / Müller-Röber, B. / Weitze, M.-D. (Hrsg.): Synthetische Biologie. Die Geburt einer neuen Technikwissenschaft, Heidelberg 2011, S. 7 f., hier S. 7. 857 Heidegger, M.: Gelassenheit. Zum 125. Geburtstag von Martin Heidegger, Heideggers Meßkircher Rede von 1955, mit Interpretationen von A. Denker und H. Zabo­ rowski, Freiburg / München 22015, S. 17. 858 Boldt, J. / Müller, O.: Leben zum Selbermachen, in: Spektrum der Wissenschaft, April 2010, S. 42–45, hier S. 44. 859 Leduc, S.: La Biologie Synthétique, Paris 1912.

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7.1 Ansätze und Ziele der Synthetischen Biologie

dung an der Synthetischen Chemie orientiert habe.860 Die Idee, in den Stoffwechsel eines Organismus dergestalt einzugreifen, dass dieser in der Lage sei, aus modifizierten synthetischen Zuckern neuartige Proteine und Fette bereitzustellen, findet sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts, 1890, bei dem Chemiker Emil Fischer.861 Knapp ein­ hundert Jahre später, 1987, veröffentlicht der deutsche Biochemiker Ernst-Ludwig Winnacker einen Aufsatz, in dem er die Bezeichnung »Synthetische Biologie« auf die Gentechnik bezieht, während der Begriff heute für ein neues Wissenschaftsfeld steht.862 Der Kreis jener, die heute für die Synthetische Biologie sprechen, ist nicht homogen: »The one pole contains scientists mostly from traditional biological (and thus rather analytical) disciplines, who argue that life is too complex and will never become a true engineering discipline. The other pole, consisting mainly of (bio) engineers, does see a chance of making biology easier to engineer.«863

Tagungen, Kongresse und Wettbewerbe werden seit Beginn des Mill­ enniums zur Synthetischen Biologie veranstaltet. Erwähnt sei z. B. das iGEM.864 Das Kürzel steht für den Wettbewerb »International Genetically Engineered Machine«, der vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) ausgerichtet wird.865 Die beteiligten Gruppen arbeiten mit »Biobricks«, die verschie­ dentlich kombiniert, erweitert oder auch verändert werden. So war es z. B. das Ziel eines Projektes von teilnehmenden deutschen Wissen­ schaftlern im Jahr 2014, das Bakterium Escherichia coli mit einem Enzym auszustatten, um so bereits im Magen einer Kuh Methangas

860 Campos, L.: That Was The Synthetic Biology That Was, in: Schmidt, M. / Kelle, A. / Ganguli-Mitra, A. / de Vrien, H. (Hrsg.): Synthetic Biology. The Technoscience And Its Societal Consequences, Dordrecht 2009, S. 5–21, bes. S. 7. 861 Vgl. Schummer, J.: Das Gotteshandwerk. Die künstliche Herstellung von Leben im Labor, Berlin 2011, S. 74 f., 97. 862 Vgl. Catenhusen, W.-M.: Vorwort, in: Deutscher Ethikrat (Hrsg.): Werkstatt Leben. Bedeutung der Synthetischen Biologie für Wissenschaft und Gesellschaft. Tagungsdokumentation, Berlin 2013, S. 7. 863 van Est, R. / Stemerding, D. (Hrsg.): Making Perfect Life. Bio-Engineering (in) the 21st Century. Final Report. European Governance Challenges in Bio-Engineering, Brüssel 2011, S. 185. 864 Venter hebt dies als »rauschendes Genetik-Fest« lobend hervor. (Venter, J. C.: Leben aus dem Labor. Von der Doppelhelix zum künstlichen Organismus, Frankfurt a. M. 2014, S. 203). 865 Hierzu: http://igem.org/Main_Page (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022).

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7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie

abzubauen. So würde es direkt nach dem Entstehen abgebaut werden können und somit nicht in die Atmosphäre gelangen, wo es sonst erheblich zur Klimaerwärmung beiträgt. »Die Fülle an Projekten reicht von ölabbauenden Mikroorganismen, über nach Banane rie­ chenden Bakterien, bis hin zu viralen Partikeln, die Krebs heilen.«866 Während Francis Bacon noch meinte, dass neue Erfindungen ihr Ziel darin hätten, »die Not und das Elend der Menschen zumindest teilweise [zu] mildern«867, scheint hier ein spielerisches Verständnis von Wissenschaft eine nicht geringe Rolle einzunehmen. Wir können uns an der Stelle freilich auch daran erinnern, dass es Gehlen war, der von einer der Technik immanenten Triebstruktur gesprochen hatte: davon, dass Technik eben nicht nur rational sei.868 Während im Jahr 2004 gerade einmal fünf Teams teilnahmen, waren es 2019 353 Teams aus 45 unterschiedlichen Nationen, was ein deutliches Interesse an diesem Wettbewerb zeigt.869 »In dem Wettbewerb«, so Venter, »ist man sich sehr genau bewusst, welche gesellschaftlichen Aspekte sich mit der synthetischen Biologie verbinden und wie notwendig es ist, dass auch Nichtwissenschaftler die Bestrebungen, mit der Maschine­ rie des Lebens herumzuspielen, verstehen und akzeptieren.«870 Vom »Herumspielen« mit der »Maschinerie des Lebens« spricht Venter. Ein Gedanke, auf den man durchaus häufiger treffen kann, wenn man sich mit Publikationen zur Synthetischen Biologie beschäf­ tigt. Prägnant ist z. B. auch folgende Aussage: »DNA eignet sich gut als Spielmaterial.«871 Eine Gemeinsamkeit zwischen dem Spiel und 866 Wagner, H. / Morath, V.: iGEM – Eine studentische Ideenwerkstätte der Syn­ thetischen Biologie, in: Köchy, K. / Hümpel, A. (Hrsg.): Synthetische Biologie. Ent­ wicklung einer neuen Ingenieurbiologie? Themenband der interdisziplinären Arbeits­ gruppe Gentechnologiebericht, Berlin 2012, S. 134 f., hier S. 134. »In 2006, just for fun, five MIT undergrads successfully reprogrammed E. coli (which as a resident of the intestinal tract smelled like human waste) to smell like either bananas or wintergreen.« (Church, G. / Regis, E.: Regenesis. How Synthetic Biology Will Reinvent Nature and Ourselves, New York 2014, S. 6). 867 Bacon, F.: Neues Organon, Teilband 1, Hamburg 21999, S. 51. 868 Vgl. Gehlen, A.: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2007 (text- und seitengleich mit Bd. 6 der Arnold Gehlen Gesamtausgabe), S. 17. 869 Vgl. https://blog.igem.org/blog/2020/4/1/the-igem-2019-annual-review (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 870 Venter, J. C.: Leben aus dem Labor. Von der Doppelhelix zum künstlichen Organis­ mus, Frankfurt a. M. 2014, S. 207. 871 Schrauwers, A. / Poolman, B.: Synthetische Biologie: Der Mensch als Schöpfer?, Berlin 2013, S. 142.

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7.1 Ansätze und Ziele der Synthetischen Biologie

der Synthetischen Biologie könnte darin ausgemacht werden, dass ein freies Handeln seitens der Beteiligten vorliegt: Niemand wird in einen Laborraum der Synthetischen Biologen gezwungen; und ein Spiel, das befohlen ist, ist gerade keines. In beiden Fällen werden genaue Regeln befolgt und Kreativität wird umgesetzt, wodurch ein Heraustreten aus dem Alltäglichen eröffnet wird. In beiden Fällen wird mit großem Ernst eine neue Ordnung geschaffen.872 Und in beiden Fällen geht es um eine Darstellung von etwas. Möglich zudem, dass man in beiden Bereichen auch Wettkämpfe wird feststellen kön­ nen, Gewinne und Einsätze. Hier wie dort gibt es feste Zeremonien wie Überraschungen, ein Übersteigen der Welt des Alltäglichen, eine gewisse Ungebundenheit und ein mit der Tätigkeit einhergehendes Lustgefühl. Es gibt aber auch markante Unterschiede und Gründe, die Synthetische Biologie gerade nicht als Spiel zu verstehen. Das eigentliche Spiel ist zwecklos: Es wird um seiner selbst willen, der Freude an der spielerischen Tätigkeit willen, ausgeübt.873 Es geschieht ohne Absicht, von selbst. Dagegen werden bei der Synthetischen Biologie handfeste Zwecke verfolgt: Das beginnt bei handfesten öko­ nomischen Verwertungs- und Gewinnmaximierungsabsichten und reicht bis hin zur Beherrschung des Lebendigen. Die Synthetische Biologie ist poietisch, gerade keine Praxis. Sie ist auch nicht wie das Spiel abgeschlossen und begrenzt, versteht sich gerade nicht als über­ flüssig. Zudem verharmlost die Sichtweise, Synthetische Biologie sei ein Spiel, den Umgang mit Leben, um den es hier geht, und die mit der Synthetischen Biologie verknüpften Risiken. Erwähnt sei hier auch noch die DIY-Biologieszene (Do it your­ self-Biology), zu der Bastler ebenso wie Künstler gehören. Gelegent­ lich ist auch von einer Bio-Hacking-Szene, einer Garagen-Biologie bzw. von Bio-Punk die Rede. Jedenfalls gehen von dieser Gruppe, die sich außerhalb etablierter Institutionen mit der Synthetischen Biologie beschäftigt und diesbezüglich in zunehmend professioneller Weise aktiv ist, durchaus verschiedene Impulse aus. Von »Bürgerlabo­

872 Vgl. Huizinga, J.: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1958, S. 17. 873 Vgl. Fink, E.: Spiel als Weltsymbol, Stuttgart 1960, S. 74; Huizinga, J.: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1958, S. 205; Gadamer, H.-G.: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 6 1990, S. 110; und auch: Poser, S. / Zachmann, K. (Hrsg.): Homo faber ludens. Geschichten zu Wechselbeziehungen von Technik und Spiel, Frankfurt a. M. 2003.

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ren«874 ist daher in anerkennender Weise die Rede. Dieser Gruppe wird eine mediatorische »Rolle bei Vermittlung, Kritik und Erfor­ schung möglicher gesellschaftlicher Folgen der Biowissenschaften«875 zugesprochen, weshalb hier auf die Unterscheidung von Sachwissen und Orientierungswissen hingewiesen sei. Es ist naturwissenschaft­ liche Kompetenz notwendig, um forschen, entwickeln und anwenden zu können. Ebenso die ethische Reflexion über die Grenzen des Mach­ baren, die soziale und ökologische Dimension des Themas. Fraglich ist, ob dies bei der DIY-Szene als vorausgesetzt angesehen werden darf.

7.2 Das Verständnis von ›Leben‹ in der Synthetischen Biologie In seinem 1627 erschienenen utopischen Roman New Atlantis schil­ dert Francis Bacon, wie eine Seemannschaft, die auf dem Weg nach China ist, sich in der Südsee verirrt und auf einer isolierten Insel namens Bensalem landet. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt wird hier ganz groß geschrieben. Klares Ziel sei es, die Natur zu erforschen. »Unsere Gründung hat den Zweck, die Ursachen des Naturgeschehens zu ergründen, die geheimen Bewegungen in den Dingen und die inneren Kräfte der Natur zu erforschen und die Grenzen der menschlichen Macht so weit auszudehnen, um alle möglichen Dinge zu bewirken.«876 Die auf der Insel verfolgten Pro­ jekte müssten anwendungsorientiert sein, weshalb die Technik in besonderer Weise hervorgehoben wird. Ein Forschungsprojekt, das auf Bensalem verfolgt wird, lässt in besonderer Weise aufhorchen: die künstliche Erzeugung von Lebewesen. »Wir haben auch Verfahren, mittels derer wir Pflanzen nicht aus Samen, sondern nur durch eine bestimmte Zusammensetzung des Bodens entstehen und wachsen lassen können. Ferner erzeugen wir neue Pflanzen, die von gewöhn­ lichen verschieden sind, und können Pflanzen einer Art in andere Sauter, A. / Albrecht, S. / van Doren, D. / König, H. / Reiß, T. / Trojok, R.: Synthetische Biologie – die nächste Stufe der Bio- und Gentechnologie, Büro für Tech­ nikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB), TAB-Arbeitsbericht Nr. 64, Berlin 2015, S. 25. 875 A. a. O., S. 21. 876 Bacon, F.: Neu-Atlantis, Stuttgart 2013, S. 43. 874

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verwandeln.«877 In Bensalem ist Leben beherrschbar und künstlich herstellbar. Der neuzeitliche Traum des Francis Bacon, dem auch Kant eine »Veränderung der Denkart«878 attestiert, scheint im 21. Jahrhundert zum Greifen nahe. Leben, so ist C. Venter überzeugt, hänge lediglich von chemischen Reaktionen ab.879 Peter Dabrock, Michael Bölker, Matthias Braun und Jens Ried konstatieren wohl auch angesichts derartiger Aussagen eine »kleine Renaissance des Lebens­ begriffs«880 in den Debatten zur Synthetischen Biologie. Bisher wenig im Blick sei, dass »mehr oder minder bewusst vorausgesetzte Deu­ tungskonzepte auf dem Spiel stehen könnten«881. Im Hinblick auf das Verhältnis der Synthetischen Biologie zum Lebensbegriff findet sich im Reigen der Positionen u. a. auch die Aus­ kunft, dass es zum heutigen Zeitpunkt schlicht und einfach noch nicht möglich sei, zu sagen, was denn Leben ausmache.882 Grundsätzlich ausgeschlossen sei dies demnach nicht. Eine physikalistische Strategie könnte Leben als durch rein physikalisch-chemische Eigenschaften 877 A. a. O., S. 46. Die dort anzutreffenden Gärten sind ein Ort des Experimentierens. Der Natur soll etwas abgerungen werden. Sie ist nicht für sich, sondern für anderes, i. e. Interessen, die an sie herangetragen werden. Man setzt darauf, neues Wissen zu generieren. Moderne Technologien sind hierfür von besonderem Interesse. Thomas Morus unter­ streicht stattdessen in seinem Werk Utopia eine soziale Dimension von Gärten: Soziale Praktiken werden hier eingeübt, nachbarschaftliche Beziehungen gepflegt. Natur ist für sich sowie für andere. (Vgl. Thomas Morus: Utopia, übersetzt von G. Ritter, mit einem Nachwort von E. Jäckel, Stuttgart 1999, Buch II, Kap. 1, S. 64) Bacon entdeckt »den internen Zusammenhang zwischen dem Wachstum von Geset­ zeswissen und der Erweiterung unserer technischen Verfügungsgewalt über die in ihrer Gesetzmäßigkeit erkannten Naturprozesse. Er durchschaut den Zusammenhang von methodisch erzielten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und der möglichen Verwertung dieser Erkenntnisse für technische Verbesserungen, die das Leben erleich­ tern können.« (Habermas, J.: Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Berlin 2019, S. 117). 878 Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft, Vorrede B, in: AA Bd. III, S. 13. 879 Venter, J. C.: Leben aus dem Labor. Von der Doppelhelix zum künstlichen Organis­ mus, Frankfurt a. M. 2014, S. 154. 880 Dabrock, P. / Bölker, M. / Braun, M. / Ried, J.: Einleitung, in: Dabrock, P. / Bölker, M. / Braun, M. / Ried, J. (Hrsg.): Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zur Ethik der Synthetischen Biologie, Freiburg 2011, S. 11–24, hier S. 16. 881 Ebd. 882 Vgl. hierzu: Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Außer­ humanbereich (EKAH) (Hrsg.): Synthetische Biologie – Ethische Überlegungen, Bern 2010, S. 11.

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zu fassen versuchen. Im Hinblick auf organismische Vorgänge seien vor allem materielle Entitäten von Belang, die man räumlich wie zeitlich klar eingrenzen und benennen könne. Hierhinter steckt die Überzeugung, es bedürfe lediglich verschiedener theoretischer Voraussetzungen wie technischer Innovationen, um die Frage, was Organismen sind und wie sie sich erhalten, abschließend auf der Grundlage einer nichtlinearen deterministischen Kausalität zu klären. Die Probleme solcher Positionen hatten wir im ersten Gang dargelegt. Andere, ferne Zeiten, so ist Giambattista Vico überzeugt, sind uns Späteren nicht unerreichbar.883 Begründet wird dies damit, dass Schöpfungen (facta), die von Menschen hervorgebracht wurden, auch von ihnen erkennbar sein müssen. Das, was die Alten an verschie­ denen Kulturleistungen hervorgebracht hätten, könne verstanden und als Modifikation des eigenen Geistes erfasst werden. Seinen Niederschlag hat dies bekanntlich in dem Grundsatz verum et factum convertuntur gefunden.884 Vico möchte Verstehenshorizonte eröffnen und in abgedunkelte Regionen des menschlichen Bewusstseins vor­ dringen, diese erleuchten: »und sei es in der Gestalt, daß der Geist einer fernen Epoche eigene Möglichkeiten, eigene Dimensionen, mitunter auch die eigene Fremdheit gegen sich entdecken muß.«885 Die Stoßrichtung der Vico’schen Aussagen sollte nicht übersehen wer­ den: Wenn nur das Gemachte der menschlichen Wahrheitsfindung offensteht, vermag eine Wissenschaft von der Natur nur äußerst begrenzten Aussagewert zu haben.886 Hatten Denker wie Augustinus und Thomas betont, dass das Erkennen Gottes dem Machen voraus­ gehe, will Vico gerade im Machenkönnen eine herausragende Mög­ lichkeit erblicken, zu erkennen.887 Verschiedene Laborwissenschaftler Vgl. Vico, G.: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Hamburg 2009, § 331. 884 Vgl. Löwith, K.: Vicos Grundsatz: verum factum convertuntur: Seine theologischen Prämissen und deren säkulare Konsequenzen, Heidelberg 1968. 885 Hoffmann, T. S.: Philosophie in Italien. Eine Einführung in 20 Porträts, Wiesbaden 2007, S. 358. 886 »Die Wissenschaft von den durch den Menschen hervorgebrachten Dingen, […] ist, im Unterschied zur Physik, eine fast ›göttliche‹ Wissenschaft, weil in ihr, wie in Gott, obgleich auf unendliche Weise, conoscere und fare ein und dasselbe sind.« (Löwith, K.: Vicos Grundsatz: verum factum convertuntur: Seine theologischen Prämis­ sen und deren säkulare Konsequenzen, Heidelberg 1968, S. 8). 887 »Der Unterschied und zugleich die Ähnlichkeit zwischen göttlichem und mensch­ lichem Erkennen und Machen besteht darin, daß menschliches Erkennen eine die zer­ streuten Elemente zusammenfassende (colligare) cogitatio (andare raccogliendo) ist, 883

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7.2 Das Verständnis von ›Leben‹ in der Synthetischen Biologie

scheinen die theologischen Prämissen Vicos abgestreift zu haben und unter anderen Voraussetzungen sich jenen Grundsatz zu eigen zu machen: Ihren Erzeugnissen attestieren sie selbst eine erkenntnislei­ tende wie erkenntniskritische Dimension. Vor allem das, was sich in Einzelteile zerlegen und neu zusammensetzen ließe, was machbar sei, werde auch am besten erkannt.888 Das Programm lautet demnach: Nachbauen und Eingreifen in das Gegebene bzw. Nachbauen, um dann etwas (in veränderter Weise) selbst herstellen und machen zu können.889 In einer Publikation des Rathenau Institutes heißt es z. B.: »Synthetic biologists don’t just want to create new biological systems, they want to improve them.«890 Das zentrale Wort ist hier »improve«, verbessern.891 Leben ist in dieser Betrachtung eine Objektmasse, die geändert werden kann, um bestimmte technische Funktionen zu erfüllen. Das Ziel lautet: »perform novel desired functions«892. Der erwähnte iGEM-Wettbewerb trägt den Namen »International Genetically Engi­ neered Machine«. Aufschlussreich ist das Logo, welches eine Zelle zeigt, in der es Zahnräder und Buchstaben gibt. Die Synthetische Biologie, so ist auch Heinz Penzlin überzeugt, könne »von Interesse für ein besseres Verständnis der Natur des

wogegen Gottes Erkennen intelligentia (im Sinne von perfecte legere) ist.« (A. a. O., S. 9). 888 »Die Software des Lebens verstehen wir erst dann völlig, wenn wir echtes künst­ liches Leben erzeugen.« (Venter, J. C.: Entschlüsselt. Mein Genom. Mein Leben, Frank­ furt a. M. 2009, S. 538). 889 Vgl. hierzu auch: Boldt, J. / Müller, O. / Arndt, K. M. / Müller, K. M.: Von der Manipulation zur Kreation. Ethische und ontologische Aspekte der Synthetischen Biologie, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 13/2008, S. 153–180; Köchy, K.: Konstruierte Natur? Eine Fallstudie zur Synthetischen Biologie, in: Hartung, G. / Kirchhoff, T. (Hrsg.): Welche Natur brauchen wir? Analyse einer anthropologischen Grundproblematik des 21. Jahrhunderts, Freiburg / München 2014, S. 299–316. 890 van Est, R. / de Vriend, H. / Walhout, B.: Constructing life. The world of synthetic biology, Den Haag 2007, S. 1. 891 Vgl. hierzu den lesenswerten Aufsatz von Hans Primas, der die Biologie auf dem Weg zu einer »demiurgischen Macht« sieht: Primas, H.: Biologie ist mehr als Mole­ kularbiologie, in: Fischer, E. P. / Mainzer, K. (Hrsg.): Die Frage nach dem Leben, Mün­ chen 1990, S. 63–92, insbes. S. 63, 64 f. 892 Manzoni, R. / Urrios, A. / Velazquez-Garcia, S. / de Nadal, E. / Posas, F.: Syn­ thetic Biology: Insights into biological computation, in: Integrative Biology 8, 4 (2016), S. 518–532, hier S. 518.

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Lebendigen«893 sein; er führt aber leider nicht weiter aus, was er genau damit meint. Penzlin rechnet allerdings nicht damit, von ihr eine Auskunft über die Ursprünge des zellulären Lebens zu bekom­ men, was er damit begründet, dass stets auf Gene und Enzyme zurückgegriffen werden müsse, die bereits eine hohe Spezialisierung aufweisen. Die Arbeiten der Synthetischen Biologie würden aber »in aller Deutlichkeit« zeigen, dass Leben »tatsächlich eine emergente Erscheinung ist, die erst dann auftritt, wenn bestimmte Komponenten (Enzyme, Gene u. a.) zusammengefügt werden, die für sich nicht lebendig sind«894. Wir erfahren im Rahmen seiner Ausführungen zur Entstehung des Lebens nicht, warum und wie überhaupt Quantität in Qualität umschlagen soll. Könnte es nicht auch so sein, dass das zur Emergenz Hinführende bereits eine Grundvoraussetzung, eine Potentialität, für das mitbringt, was neu auftritt? Leben wäre dann die Aktualisierung dieser gerichteten Hinbewegung.895 Wagen wir an der Stelle ein kleines Gedankenexperiment: Nehmen wir mit Aristoteles und Jonas einmal an, dass Materie stets durchformt ist, Strukturprin­ zipien hat. Es könnte so eine »Selbstorganisierung der Materie auf das Leben hin«896 gedacht werden. Materie ohne Form gibt es demnach nicht.897 Der Stoff ist in dieser Perspektive »Wiege des Lebens«, von Anfang an präfiguriert. Ihm »muss eine vorausliegende Potentialität für das irgendwann auftauchende ›Neue‹, das demnach nicht total neu ist, zugeschrieben werden; dieses muss als Aktualisierung, als ›Telos‹,

893 Penzlin, H.: Das Phänomen Leben. Grundfragen der Theoretischen Biologie, Hei­ delberg 2014, S. 71. 894 Ebd. 895 Vgl. Jonas, H.: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologi­ sche Zivilisation, Frankfurt a. M. 1984, S. 135. 896 Jonas, H.: Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frankfurt a.M. 1997, S. 402. 897 An einigen Stellen bringt Aristoteles Selbstbewegung nicht nur mit dem Prinzip der Seele in Verbindung, sondern spricht auch schon den Elementen gewisse »Vor­ formen« der Eigenbewegung zu. Während das Feuer nach oben strebe, sei es bei dem Erdhaften so, dass es zum Erdmittelpunkt hinziele. Zwischen Erdmittelpunkt und Himmel verortet er Luft und Wasser (De cael. II und IV 1). Anorganische Materie ist auch geformt, aber – anders als beim Organischen – können wir nicht von einem seelischen (Lebens-)Prinzip sprechen. Hier wird deutlich, dass das Anorganische dem Organischen nicht gänzlich »fremd« ist (De partibus animalium an IV 5, 681a12–15; Hist an. VIII 1, 5888b12 f.). Für den Stagiriten ist es nicht grundsätzlich ausgeschlos­ sen, dass Letzteres aus Ersterem entstehen kann (De gen. an. II 6, 743a21 ff.; III 11, 762a33 ff.).

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7.2 Das Verständnis von ›Leben‹ in der Synthetischen Biologie

als Erfüllung gerichteter Hinbewegung verstanden werden.«898 Unter diesen Voraussetzungen könnte tatsächlich dann auch die Herstellung von Leben im Labor prinzipiell möglich sein. Eine grundsätzliche Begabung, Leben entstehen zu lassen, wäre nicht ausgeschlossen und wäre in der Beschaffenheit des Stoffes selbst begründet. Es würde also versucht, was am Anfang der Geschichte des Universums und des Lebens sich zugetragen hat, zu wiederholen. Doch dies scheint mehr Programm zu sein als tatsächlich in greifbarer Nähe. Der Mensch sei »Diener und Erklärer der Natur«, hatte Francis Bacon im ersten Aphorismus seines Novum Organon I gesagt.899 Diese allerdings lasse »sich nur durch Gehorsam bändigen«900. Die Beziehung von Natur und Technik ist das Thema, das Francis Bacon bewegt. Er denkt nicht nur anders über die Natur, er empfiehlt auch, anders mit ihr umzugehen: Der »natura libera« steht eine »natura vexata« gegenüber: Ganz gezielt soll ihr (technisch) etwas abgerungen, sie in Bedrängnis gebracht werden. Was unter die Regeln des Experimentes gebracht werden kann, ist für Bacon von Interesse. »Denn die Feinheit der Experimente ist weit größer als die der Sinne […].«901 Im vierten Aphorismus des Novum Organum I hält Bacon fest, dass der Mensch die »von der Natur gegebenen Körper« nicht selbst schaffen, wohl aber einander näherbringen oder von einander entfernen könne – eine creatio ex nihilo sei also nicht im Bereich des Möglichen. Der Unterschied zwischen natürlichen und künstlichen Entitäten, Gewachsenem und Gemachtem, könnte, so Bacon, aufgegeben werden.902 Natur ist für ihn das »intra terminos« Mögliche.903 Die Publikationen der Synthetischen Biologie stehen – reflektiert oder nicht – in dieser Tradition. Bacon betont besonders den gesellschaftlichen Nutzen der Naturbeherrschung: Erkenntnis und Fortschritt im Bereich des Humanen würden zunehmen. Die Erfindungen, die ihm vorschwe­ ben, »beglücken und tun wohl, ohne jemandem ein Unrecht oder ein

Jonas, H.: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M. 1984, S. 135. 899 Bacon, F.: Neues Organon, Teilband 1, Hamburg 21999, S. 81, Aphorismus 1. 900 A. a. O., S. 81, Aphorismus 3. Vgl. hierzu z. B. auch S. 271, Aphorismus 129. 901 A. a. O., S. 49. 902 Bacon, F.: De Augmentis Scientarum I, 496. Zit. nach: Krohn, W.: Einleitung, in: Bacon, F.: Neues Organon, Teilband 1, Hamburg 21999, S. IX-LVI, hier S. XVIII. 903 Vgl. Bacon, F.: Neues Organon, Teilband 2, Hamburg 32009, S. 278. 898

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Leid zu bereiten«904. Dieses Argumentationsmuster kann man im Kontext der Synthetischen Biologie antreffen. Auch die Frage nach dem Menschen, seinem Wesen und seinem Ursprung wird aufgeworfen.905 Die hier zum Vorschein kommenden Vorstellungen sind jedoch nicht ganz unproblematisch, wie Joachim Schummer meint: »Der Vergleich mit der Synthetischen Chemie zeigt […], dass zwar kleine systematische Veränderungen eines Gegenstandes unser Wis­ sen über den Gegenstand erweitern können, dass das ehrgeizige Ziel der Totalherstellung […] dies allerdings kaum wird leisten können. Am Beispiel der traditionellen Forschung zum historischen Lebensursprung lässt sich sogar zeigen, dass der daraus erwachsene Zweig der Synthetischen Biologie die ursprüngliche Erkenntnisorien­ tierung explizit aufgegeben hat zugunsten einer Sensationen erhei­ schenden Lebenserschaffung.«906

Insofern sich unter dem Dach der Synthetischen Biologie auch Vertre­ ter der Ingenieurwissenschaften zusammenfinden, nimmt es kaum wunder, dass sich in zahlreichen Publikationen immer wieder tech­ nische Metaphern finden. Von »Schaltkreisen« und »Modulen« ist beispielsweise die Rede oder davon, dass es dank der Synthetischen Biologie möglich sei, »Leben selber zu machen«.907 A. a. O., S. 269, Aphorismus 129. Mejias, J.: Wir wollen die Grippe beherrschen. Praktische Folgen des syntheti­ schen Chromosoms: Ein Gespräch mit Craig Venter, in: Frankfurter Allgemeine Zei­ tung, 25. Mai 2010, S. 31. 906 Schummer, J.: Das Gotteshandwerk. Die künstliche Herstellung von Leben im Labor, Berlin 2011, S. 16. 907 Vgl. z. B. den gleichnamigen Aufsatz Boldt, J. / Müller, O.: Leben zum Selber­ machen, in: Spektrum der Wissenschaft, April 2010, S. 42–45, hier S. 42. In verschiedenen Veröffentlichungen zur Synthetischen Biologie trifft man vielfach auf Vokabular aus dem technischen Bereich. In diesem Sinne ist in einem NatureArtikel zu lesen: »A synthetic biologist may come to a project as an iterative tinkerer, a methodological engineer or an intuitive explorer.« (N.N.: Tribal gathering, in: Nature (509), 2014, S. 133). Petra Schwille verweist in einer Publikation des Deutschen Ethik­ rates auf die Standardisierung von Schrauben und Werkzeug, um die Arbeit Synthe­ tischer Biologen zu erläutern. »Obwohl jede Schraube im Prinzip dieselbe Funktion erfüllt, kommt es doch sehr auf ihre Größe und Gewindeart an, ob man sie dafür auch verwenden kann. Eine solche Standardisierung für biologische Module, Proteine oder ihre Untereinheiten, vorzunehmen, ist die Aufgabe eines sehr großen Teils der syn­ thetischen Biologie.« (Schwille, P.: Synthetische Biologie – Konstruktionsansätze für Lebensprozesse?, in: Deutscher Ethikrat (Hrsg.): Werkstatt Leben. Bedeutung. Bedeu­ tung der Synthetischen Biologie für Wissenschaft und Gesellschaft, Berlin 2013, S. 9– 904 905

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7.2 Das Verständnis von ›Leben‹ in der Synthetischen Biologie

Biologische Einheiten, so Wilfried Weber, seien die »Basisbau­ steine« für genetische Schaltkreise: »Sofern diese Bausteine miteinander verknüpfbar sind und nicht unkontrolliert wechselwirken, können sie zu einfachen genetischen Schaltungen zusammengesetzt werden. Aus diesen einfachen Schal­ tungen können wiederum durch intelligente Verknüpfung und Paralle­ lisierung komplexe Schaltkreise mit den gewünschten Eigenschaften realisiert werden.«908

Die Synthetische Biologie soll es auch ermöglichen, die Komplexität des Lebendigen in den Griff zu bekommen: dadurch, dass man ver­ sucht, sie auf kleine biologische Einheiten und künstlich hergestellte Module zu reduzieren, über die man einen Überblick hat, über die man technisch-ingenieurwissenschaftlich verfügen kann. Gleichwohl ist, so Kristian Köchy, »die Methode der modularen Variation nicht nur ein methodisches Verfahren zur technischen Gestaltung und Verein­ fachung eines Gemachten, sondern gehört auch zum methodischen Kanon der experimentellen Erforschung des Gegebenen«909. Für Michael Reth werfe die Synthetische Biologie vor allem die beiden Fragen auf, wie wir mit der Komplexität von Lebewesen umgehen und wie diese erfasst werden könne.910 Moleküle seien für einen Synthetischen Biologen »wie Teile einer Maschine«. »Er greift in den so vielseitigen und bunten Baukasten der Natur und bas­ telt aus dem isolierten biologischen Komponenten, den ›Biobricks‹,

19, hier S. 11). Hierzu passt, dass die Publikation des Deutschen Ethikrates, in der der Aufsatz der deutschen Biochemikerin publiziert wurde, den unglücklichen Titel Werk­ statt Leben trägt. Es kann nämlich sehr schnell der Eindruck beim Leser entstehen, mit Leben könne man ähnlich verfahren wie mit technischen Artefakten. Anders gesagt: Diese technische Sprache vermittelt eine Sicht vom Menschen, die ihn als Homo faber resp. als Homo creator sieht. Weiterhin fördert diese technische Sprache eine weitere Vermischung von Biologie und Technik. 908 Weber, W.: Synthetische genetische Schaltkreise: Von grün blinkenden Zellen zur Entdeckung neuer Medikamente, in: Pühler, A. / Müller-Röber, B. / Weitze, M.-D. (Hrsg.): Synthetische Biologie. Die Geburt einer neuen Technikwissenschaft, Heidelberg 2011, S. 61. 909 Köchy, K.: Konstruierte Natur? Eine Fallstudie zur Synthetischen Biologie, in: Hartung, G. / Kirchhoff, T. (Hrsg.): Welche Natur brauchen wir? Analyse einer anthro­ pologischen Grundproblematik des 21. Jahrhunderts, Freiburg / München 2014, S. 299– 316, hier S. 311. 910 Reth, M.: Kreativer Umgang mit Molekülen – was ist Synthetische Biologie?, in: Forschung und Lehre, August 2010, S. 552–555.

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neue biologische Maschinen.«911 Wenn es gelinge, aus den einzelnen Komponenten das Ganze wieder zusammenzubauen, könne man die funktionale Rolle der beteiligten Komponenten besser verstehen. Neuartige synthetische Moleküle bezeichnet er als »Signalschalter« bzw. »Signaldetektor«.912 Klaus Mainzer versteht – im Anschluss an den US-amerikani­ schen Nobelpreisträger Herbert A. Simon – die Synthetische Biologie als eine »Wissenschaft vom Künstlichen«.913 Sie sei, so ist Mainzer überzeugt, die Technikwissenschaft des noch jungen 21. Jahrhunderts. Eine besondere Bedeutung komme – ähnlich wie in der Forschung zur Künstlichen Intelligenz – Computern zu. Als »Grundlage […] künstlichen Lebens«914 will Mainzer daher die Computer verstanden wissen. Der Lebensbegriff wird von Mainzer so weit gefasst, dass auch Computerviren darunterfallen.915 Im Hinblick auf die Synthetische Biologie spricht er davon, »genetische Netzwerke« herzustellen, um künstliche Zellen zu erzeugen. »Ingenieure genetischer Schaltkreise müssen«, so Mainzer, »mit erheblichem Rauschen in Genexpressio­ nen zurechtkommen. Im Unterschied zu den isolierten und fest verdrahteten Schaltkreisen der Elektrotechnik sind nämlich geneti­ sche Schaltkreise einer Zelle in das stochastische Rauschen moleku­ larer Wechselwirkungen eingebettet.«916 Als Ziel der Synthetischen Biologie sieht Mainzer daher »genetische Schaltkreise, in denen Voraussagen mit derselben Präzision möglich sind wie in der Elek­ trotechnik«917. Das verlässliche Voraussagen und Berechnen, die Pro­ grammierbarkeit und damit einhergehende technologische Beherr­ schung scheinen hier das Entscheidende zu sein. Mainzer ist sich aber auch der damit verbundenen Schwierigkeiten bewusst: »Wenn synthetisch hergestellte genetische Schaltkreise in einen lebenden Ebd. Ebd. 913 Vgl. Mainzer, K.: Eine Wissenschaft vom Künstlichen und Komplexen: Syntheti­ sche Biologie als Technikwissenschaft des 21. Jahrhundert, in: Pühler, A. / MüllerRöber, B. / Weitze, M.-D. (Hrsg.): Synthetische Biologie. Die Geburt einer neuen Tech­ nikwissenschaft, Heidelberg 2011, S. 19–35. 914 A. a. O., S. 21. 915 »Ähnlich dem menschlichen Organismus werden virtuelle Viren und Bakterien zwar durch Virenscanner und virtuelle Antibiotika bekämpft. Aber auch im Internet wächst die Immunität der feindlichen virtuellen Organismen mit jeder Generation.« (A. a. O., S. 23). 916 A. a. O., S. 28. 917 Ebd. 911

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7.2 Das Verständnis von ›Leben‹ in der Synthetischen Biologie

Organismus implementiert werden, ist zudem mit Wechselwirkun­ gen des ›künstlichen‹ Schaltkreises mit den im lebenden Organismus vorhandenen ›natürlichen‹ Netzwerken zu rechnen.«918 Durch die Synthetische Biologie werde der Unterschied zwischen Gewachsenem und Gemachtem, Natürlichem und Künstlichem zunehmend einge­ ebnet. Synthetische Biologen würden unter Laborbedingungen eine Simulation jenes Zufalls herbeiführen, der in der Evolution waltet. Insofern stelle sich die Frage, warum die so entstandenen Gebilde überhaupt als »künstlich« zu bezeichnen wären. „›Künstlich‹ ist eine Entwicklung nur, wenn sie symbolisch im Computerprogramm und in virtueller Realität einer Computersimulation stattfindet.«919 Die Syn­ thetische Biologie schaffe Natur. Passend dazu ist folgender Gedanke von Hans Jonas: »Der Unterschied zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen ist verschwunden, das Natürliche ist von der Sphäre des Künstlichen verschlungen worden; und gleichzeitig erzeugt das totale Artefakt, die zur Welt gewordenen Werke des Menschen, die auf ihn und durch ihn selbst wirken, eine neue Art von ›Natur‹, das heißt eine eigene dynamische Notwendigkeit, mit der die menschliche Freiheit in einem gänzlich neuen Sinn konfrontiert ist.«920

Die Sicht auf das Gewachsene ist ganz funktional. Von Interesse ist, was sich gestalten, neu erfinden lässt. »[I]f we look at nature through the glasses of genetic engineering, we see a world filled with entities that are already useful to us in many respects and that just need some reshaping here and there to perfectly match our interests. […] Seen from the perspective of synthetic biology, nature is a blank space to be filled with whatever we wish.«921

Leben wird gesehen als steuerbar. Das, was typisch für das Lebendige ist – die Dynamik, das nicht Vorhersehbare – tritt gegenüber dem Gedanken der Konstruktion, des Designs, in den Hintergrund:

Ebd. A. a. O., S. 31. 920 Jonas, H.: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1984, S. 33. 921 Boldt, J. / Müller, O.: Newtons of the leaves of grass, in: Nature Biotechnology 26 (2008), S. 387–389, hier S. 388. 918

919

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»Zum einen kommt es zu einem Verlust des Erklärungshorizontes für Belebtes, wenn dieses auf äußere Zwecke (also auf Messungen und Anwendungen) reduziert wird. Die Frage, wozu dieses Leben da ist, lässt sich nicht einmal sinnvoll stellen. Zum anderen […] geht der Aspekt des Unkontrollierten und Unfertigen, des ›Sich-entwi­ ckeln-Könnens‹ und damit auch des Individuellen verloren. Besonders deutlich wird dies im Falle von Modellorganismen […]. Ein Modell­ organismus wird nicht als er selbst – ein Ding mit einer konkreten Beschaffenheit – behandelt, sondern als das, was er vertreten soll.«922

Durch Ingenieurtätigkeiten würden, so ist vielfach zu lesen, »leben­ dige Maschinen« erzeugt. Zellen resp. Organismen werden als Com­ puter verstanden,923 wobei das Genom die Software sein soll und der Zellkörper die Hardware. Dem Genom komme die entscheidende Rolle zu, während die Zelle im Sinne einer Rechenmaschine arbeite. In der modernen Genomforschung jedoch werden – anders als hier unterstellt – auch extragenetische Faktoren sowie andere zelluläre Faktoren in den Blick genommen.924 Venter ist der Ansicht, wir seien »Informationsmaschinen«925. Dies hätten seine Arbeiten »ganz eindeutig« zeigen können. Im 922 Maksymczak, A.: Natur neu denken. Problemaufriss und Perspektiven am Bei­ spiel der synthetischen Biologie und des Enhancements des Humanen, in: Reder, M. / Filipović, A. / Finkelde, D. / Wallacher, J. (Hrsg.): Jahrbuch Praktische Philosophie in globaler Perspektive 2: ›Natur‹ als Bezugspunkt der praktischen Philosophie, Frei­ burg / München 2018, S. 56–88, hier S. 62. 923 Greifbar ist dies z. B. in folgendem Zitat: »A biological cell is much like a computer – the genome can be thought of as the software that encodes the cell’s instructions, and the cellular machinery as the hardware that interpretes and runs the software. Advances in DNA technology have made it possible for scientists to act as biologi­ cal ›software enigineers‹, programming new biological ›operating systems‹ into cells. « (Gibson, D. G. / Venter, C.: Construction of a yeast chromosome, in: Nature 509 (7499), 2014, S. 168–169, hier S. 168) Zellen, die ein chemisch synthetisiertes Genom aufweisen, werden als »Biomaschi­ nen« bezeichnet. (Budisa, N. / Hösl, M.: Code Engineering: Techniken und Anwen­ dungen, in: Pühler, A. / Müller-Röber, B. / Weitze, M.-D. (Hrsg.): Synthetische Bio­ logie. Die Geburt einer neuen Technikwissenschaft, Heidelberg 2011, S. 39–51, hier S. 49). 924 Vgl. Rehmann-Sutter, C.: Das »Leben« synthetischer Zellen, in: Deutscher Ethik­ rat: Werkstatt Leben, Berlin 2013, S. 75–88, hier S. 81. 925 Mejias, J.: Wir wollen die Grippe beherrschen. Praktische Folgen des syntheti­ schen Chromosoms: Ein Gespräch mit Craig Venter, in: Frankfurter Allgemeine Zei­ tung, 25. Mai 2010, S. 31. Und an anderer Stelle schreibt er: »Von DNA-Maschinen (Menschen) konstruierte Digitalcomputer dienen heute dazu, in der DNA die codierten Anweisungen abzule­

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7.2 Das Verständnis von ›Leben‹ in der Synthetischen Biologie

Hintergrund schwingt ein aus naturwissenschaftlicher Perspektive fragwürdiger Determinismus durch unsere Gene mit.926 Dieser geht einher mit einer Vorstellung von der Maschinenebenbildlichkeit des Lebendigen, die in Descartes bzw. La Mettrie ihre Ideengeber hat.927 Mechanistisch-technizistische Auffassungen des Lebendigen à la Descartes und La Mettrie klingen hier nach. Doch der Vergleich des Lebendigen mit einer Maschine hinkt. »[H]inter diesem Bilde fängt erst das wahre Geheimnis des Lebens an«928, wie wir mit Adolf Portmann festhalten können. Venter glaubt, er selbst sei »der erste chemische Apparat, der seine eigene Sequenz betrachten kann«929. Venter zeigt sich optimistisch: »[T]he future of life depends not only in our ability to understand and use DNA, but also, perhaps in creating new synthetic life forms, that is, life which is forged not by Darwinian evolution but created by human intelligence.«930 Aristoteles ordnet Venter eigenartiger Weise sogar als »eine[n] der ersten ›Materialis­ ten‹“931 ein, um dann aber doch kurz später im selben Buch über den Stagiriten festzuhalten, er habe Leben als etwas verstanden, das »nicht nur physischer Natur ist«932. Er habe eine »vage Vorstellung von den Grundprinzipien«933 gehabt. sen, zu analysieren und so niederzuschreiben, dass man daraus neuartige DNAMaschinen (synthetische Lebewesen) erzeugen kann.« (Venter, J. C.: Leben aus dem Labor. Von der Doppelhelix zum künstlichen Organismus, Frankfurt a. M. 2014, S. 39). Zur notwendigen Kritik der Verwendung des Informationsbegriffs in der Biologie sei verwiesen auf: Janich, P.: Der Informationsbegriff in der Morphologie, in: Janich, P.: Konstruktivismus und Naturerkenntnis. Auf dem Weg zum Kulturalismus, Frankfurt a. M. 1996, S. 290–304. 926 In seiner Autobiographie schreibt er allerdings: »Wer mich als Teenager kannte, hätte sich niemals vorstellen können, dass ich eines Tages Forschung betreiben und wichtige Entdeckungen machen würde. Meine Laufbahn konnte niemand vorhersa­ gen.« (Venter, J. C.: Entschlüsselt. Mein Genom. Mein Leben, Frankfurt a. M. 2009, S. 10). Er wendet sich dort gegen einen Gendeterminismus (a. a. O., S. 16) und betont z. B. die Bedeutung von Bildung. 927 Vgl. hierzu: Knaup, M.: Leib und Seele oder mind and brain? Zu einem Paradig­ menwechsel im Menschenbild der Moderne, Freiburg 2012, S. 51–54, 143–151. 928 Portmann, A.: Alles fließt. Wege des Lebendigen, Freiburg 1967, S. 30. 929 Venter, J. C.: Entschlüsselt. Mein Genom. Mein Leben, Frankfurt a. M. 2009, S. 538. 930 Venter, J. C.: A DNA-Driven World. The Richard Dimbleby Lecture 2007. http://www.bbc.co.uk/pressoffice/pressreleases/stories/2007/12_december/05/ dimbleby.shtml (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 931 Venter, J. C.: Leben aus dem Labor. Von der Doppelhelix zum künstlichen Organis­ mus, Frankfurt a. M. 2014, S. 19. 932 A. a. O., S. 116. 933 A. a. O., S. 42.

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Soll das Tote, die Maschine, Maßstab für biologische Einheiten sein, kann dadurch »die Evolutionsfähigkeit der Entitäten mit all ihren Implikationen auch in Bezug auf Risikoabschätzungen aus dem Blick geraten«934. Insofern es ein erklärtes Ziel der Synthetischen Biologie ist, biologische Einheiten zu schaffen, die es in der Natur so noch nicht gibt, kann die Synthetische Biologie als Bruch mit der Evolution verstanden werden.935 Craig Venter jedenfalls betont, dass der Stammbaum des Lebens durch einen weiteren Zweig erweitert werde, nämlich jenen der Synthetischen Biologie.936 Eine »neue Phase der Evolution«937 sei eingeleitet.938 Es verwundert daher wohl kaum, dass innerhalb der Synthetischen Biologie mit Nachdruck darüber nachgedacht wird, wie evolutionäre Abläufe erheblich abgekürzt und zeitgleich verschiedene Mutanten hergestellt werden können.939 Darwin hatte in Über die Entstehung der Arten die Anpassung von Lebewesen an ihre jeweilige Umwelt, nicht wirklich aber das Auftreten neuer Arten expliziert.940 Während sich die Geschichte des Lebens bisher über zufällige Variationen vollzogen hat und einem Selektionsprozess unterstellt war, scheint nun die Möglichkeit greif­ bar, den Zufall auszumerzen, und es in weit anderer Weise als noch bei der Züchtung möglich zu sein, in die Hände des Menschen zu legen, wie es mit bestimmten Lebensformen weitergehen könnte, und künstliche Lebensformen entstehen zu lassen. Während sich im Laufe der Geschichte des Lebens aus einfachen Strukturen immer komple­ xere entwickelt haben, greift man in den Laboren der Synthetischen Boldt, J. / Müller, O.: Leben zum Selbermachen, in: Spektrum der Wissenschaft, April 2010, S. 42–45, hier S. 44. 935 A. a. O., S. 45. 936 http://www.ted.com/talks/craig_venter_is_on_the_verge_of_creating_synthe­ tic_life (ab Minute 15:10, zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 937 Venter, J. C.: Entschlüsselt. Mein Genom. Mein Leben, Frankfurt a. M. 2009, S. 538; Venter, J. C.: Leben aus dem Labor. Von der Doppelhelix zum künstlichen Orga­ nismus, Frankfurt a. M. 2014, S. 16. 938 Diese Ansicht teilt auch Harvey Feinberg, damals Präsident des amerikanischen Institute of Medicine: »Wir sind dabei, die Evolution alten Stils in eine Neo-Evolution zu verwandeln.« (Zit. nach Gore, A.: Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verän­ dern, München 2014, S. 283). 939 Vgl. Wang, H. / Isaacs, F. J. / Church, G. M. et al.: Programming Cells by multiplex Genome Engineering and Accelerated Evolution, in: Nature 460 (7257), 2009, S. 894–898. 940 Vgl. auch: Fischer, E. P.: Darwins durchgreifender Gedanke. Die Idee der biolo­ gischen Evolution, in: Fischer, E. P. / Wiegandt, K. (Hrsg.): Evolution. Geschichte und Zukunft des Lebens, Frankfurt a. M. 2003, S. 13–44, hier S. 17). 934

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Biologie allerdings schon auf komplexe Strukturen zurück. Nicht weiter zum Thema gemacht wird, was das Phänomen evolutionärer Entwicklung und Veränderung für die synthetischen Einheiten und ihre genetische Ausstattung selbst bedeutet. Also: ob und inwieweit die Regeln der Evolution auch für die neuen synthetischen Gebilde am Baum des Lebens gelten. Wenn in der biotechnologischen Entwicklung eine Fortentwick­ lung der Evolution ausgemacht werden soll, kann das nicht heißen, dass diese Entwicklung auch unter ethischen Gesichtspunkten schon so gewollt sein kann. Wir müssen uns dazu in ein Verhältnis setzen und dies eigens bewerten. Im ersten Gang hatten wir dargelegt, dass sich Mensch und Natur in einem Prozess der wechselseitigen Anpassung entwickelt haben. Eine künstliche Beschleunigung und Verfremdung des Gewachsenen kann im Hinblick auf die gemeinsame Geschichte kritisch gesehen werden. Die Eigenzeit des Natürlichen wird erheblich gestört. In einigen Publikationen zu biologischen und biophilosophi­ schen Fragen wird insbesondere der Gedanke der Abstammung her­ vorgehoben.941 Durch die Möglichkeiten zeitgenössischer Biotechno­ logie wird die Bedeutung dieses Gedankens jedoch abgeschwächt. Was etwas ist, soll nicht durch Abstammung entschieden sein. »Wir schaffen […] neue veränderte Lebensformen und wir sollten in der Lage sein, schon im Computer direkt von der digitalen zur analogen Welt überzugehen. Eines unserer Teams arbeitet an einem Programm, das das leisten soll: eine Spezies am Computer zu entwerfen.«942 Venter ist aber keine Ausnahme. Ähnliche Formulierungen kann man auch bei George Church von der Harvard Medical School, Mit­ initiator des Human Genome Projects, finden.943 »Meine Rolle ist es zu ermitteln, was technisch machbar ist.«944 Für ihn ist nicht nur klar, dass Organismen mechanische Wesen sind und man aus 941 Vgl. z. B. Sober, E.: Philosophy of Biology, Boulder 1993, Kap. 6 und Sterelny, K. / Griffiths, P.: Sex and Death. An Introduction to Philosophy of Biology, Chicago 1999, Kap. 9. 942 Beitrag von J. C. Venter, in: Brockman, J. (Hrsg.): Leben, was ist das? Ursprünge, Phänomene und die Zukunft unserer Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 2009, S. 39–61, hier S. 55. 943 Vgl. z. B. Church, G. / Regis, E.: Regenesis. How Synthetic Biology Will Reinvent Nature and Ourselves, New York 2014, S. 4. 944 Church, G.: Biologie ist Präzisionsarbeit, in: Der Spiegel, 14. Jan. 2013, S. 110– 113, hier S. 111.

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DNA-Bausteinen gänzlich neue Wesen kreieren kann. Er hat auch normale Alltagsgegenstände im Blick: »Wir können biologische Moleküle sogar für Dinge verwenden, für die sie in der Evolution nie gedient haben. DNA-Moleküle zum Beispiel eignen sich, um dreidimensionale Gerüste beliebiger Gestalt zu bauen, und das mit atomarer Präzision. Sie entwerfen am Computer, was Sie haben wollen. Und dann drücken Sie auf einen Knopf und stellen es aus DNA her.«945

Biologie steht im Dienst des Technikers. Das, was technisch möglich ist, kann auch verwirklicht werden. »Biologie ist ein wundervolles Geschenk, das uns von der Natur gemacht wurde. Wir können einfach ein Stückchen DNA in eine menschliche Stammzelle schleusen, und der ganze Rest passiert von selbst. Es ist, als hätte irgendein genialer Ingenieur ein Raumschiff in unserem Hinterhof geparkt, zwar ohne Handbuch, dafür aber voller Überraschungen, die sich von selbst erklären.«946

Es geht der Synthetischen Biologie nicht nur um ein Lesen der DNA, sondern darum, diese zu schreiben (»transition from reading to writing DNA«947), wobei die Natur selbst als Gesprächspartner ausfällt: Im ersten Gang hatten wir die Vorstellung aufgegriffen, Natur werde wie ein Angeklagter auf der Anklagebank behandelt. Diese Vorstellung ist hier wirkmächtig.948 Durch DNA-Sequenzierung könne man die Software ablesen und somit das Lebendige digitalisieren. »Wir gehen von einem Com­ puter-Digitalcode aus, gestalten eine neue Lebensform, synthetisie­ ren mit chemischen Methoden ihre DNA und fahren sie dann hoch, so dass ein echtes Lebewesen entsteht.«949 Leben sei in diesem Sinne ein

A. a. O., S. 112. A. a. O., S. 113. 947 van Est, R. / de Vriend, H. / Walhout, B.: Constructing life. The world of synthetic biology, Den Haag 2007, S. 2. 948 »Die Wissenschaften sollten sich […] darüber im Klaren sein, daß sie monologi­ sieren, daß sie Selbstgespräche über die Natur halten. Sie müssen sich deshalb die Frage gefallen lassen, inwieweit eine solche einseitige Sprache noch wissenschaftlich ist.« (Grätzel, S.: Verstummen der Natur. Zur Autokratisierung des Wissens, Würzburg 1997, S. 11). 949 Venter, J. C.: Leben aus dem Labor. Von der Doppelhelix zum künstlichen Organis­ mus, Frankfurt a. M. 2014, S. 15. 945

946

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»Informationssystem«950. Information wird hier gleichgesetzt mit der Speicherung von Daten, der Möglichkeit ihrer Übermittlung an einen Empfänger wie auch ihrer grundsätzlichen Veränderbarkeit. Es geht hier nicht um semantische, sondern um Ingenieurs-Information. Francis Bacon wird von Venter zu einem gedanklichen Vorläufer der Synthetischen Biologie erklärt, insofern er bei ihm den Gedanken vorfindet, Leben müsse sich künstlich konstruieren lassen. Auch Descartes’ Forderung, sich zu »maîtres et possesseurs de la nature« aufzuschwingen, wird lobend erwähnt.951 Die Synthetische Biologie ermögliche es, dem Strom des Lebendigen neue Flüsse hinzuzufügen: möglich sei, »was Francis Bacon als Herrschaft über die Natur bezeich­ net hatte«952. Die Haltung der Sorge – um sich selbst und den Anderen – scheint Craig Venter insgesamt fremd zu sein. »Als Wissenschaftler, Optimist, Atheist und Alphamännchen mache ich mir keine Sor­ gen.«953 Und Venter hat große Pläne: »Simple calculations indicate that we could send electromagnetic sequence information to a digitalbiological converter on Mars in as little as 4.3 minutes […] to provide a settlement of colonists with vaccines, antibiotics, or personalized drugs.«954 Orientierungswissen ist das wohl weniger. Eher doch Herr­ schaftswissen.955 Und dieses soll nicht nur auf die Erde beschränkt sein, sondern geradezu kosmische Dimensionen annehmen. Die Aussagen Venters lenken unseren Blick auch darauf, welche Bilder im Rahmen Synthetischer Biologie wirkmächtig sind. Nicht nur von der Eroberung neuer Planeten ist die Rede, was irgendwie doch noch an den American Dream und die Erschließung neuer Lebenswelten denken lässt. Ich hatte erwähnt, dass Venter an der Kartierung des mensch­ lichen Erbguts mitgewirkt hat und eine genetische Kartierung der Meeresbakterien anvisiert. Von »Karten« und »Kartierungen« ist immer wieder die Rede. Der Begriff Genkarte bezieht sich auf die A. a. O., S. 177. A. a. O., S. 21. 952 A. a. O., S. 112. 953 Venter, J. C.: Was denn? Ich und mir Sorgen machen?, in: Brockman, J. (Hrsg.): Worüber müssen wir nachdenken? Was die führenden Köpfe unserer Zeit umtreibt, Frankfurt a.M. 22015, S. 252–255, hier S. 252. 954 Venter, J. C.: Life at the speed of light. From the Double Helix to the Dawn of Digital Life, New York 2013, S. 179. 955 Vgl. hierzu: Scheler, M.: Die Wissensformen und die Gesellschaft, Bonn 2008. 950

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Lokalisierung von Genen im Genom. Biologen differenzieren zwi­ schen genetischen und physikalischen Genkarten. Erstere bezeichnen die Lokalisierung genetischer Marker, die auf den Chromosomen vorliegen, die Reihenfolge von Genorten, während die zweite Sorte von Karten die Distanz zwischen Genen dokumentieren soll. Wer Karten erstellt, muss Gebiete abstecken und abmessen. Die Gebiete selbst sind bekannt und stehen einer Erschließung grundsätzlich offen. Möglicherweise muss der Ersteller von Karten aber auch in noch unbekannte Gebiete vordringen, diese zum ersten Mal erobern. Auch wenn Genetiker heute wissen, wo ein Gen liegt, bedeutet das noch nicht, dass sie auch wissen, welche Rolle es tatsächlich im organismischen Gesamtzusammenhang übernimmt. Der Aspekt des Vordringens in unbekannte Gebiete, des Eroberns, passt gewiss zu den erwähnten Expeditionstouren mit der Sorcerer II. Immer wieder ist von einem Code die Rede, von Genen als Buchstaben bzw. einem Genom als Text. Diesen Text gelte es zu lesen, den Code zu entschlüsseln. Hier seien jene Informationen ausfindig zu machen, die das Leben des Organismus bestimmen. Was verschlüsselt ist, könne auch entziffert werden. Die Fülle an Daten zu beherrschen hieße, so kann man Venter verstehen, das Leben verstehen.956 Aber nicht nur im Bereich der Synthetischen Biologie, wie hier bei Venter, sondern auch in anderen Forschungsdisziplinen ist gerne vom »Code« die Rede. Auch in neurowissenschaftlichen Publikationen wird gerne auf den Begriff »Code« zurückgegriffen, z. B. im berühmt-berüchtigten Manifest der Hirnforscher957 oder – wie folgendes Zitat dokumentiert – bei dem deutschen Hirnforscher und Manifest-Unterzeichner Wolf Singer: »Jeder von uns beschäftigt sich mit anderen Fragen: Der eine will verstehen, was in den einzelnen Zellen passiert, der nächste ist daran interessiert, wie im Gehirn die Sprache organisiert wird. Wir alle haben

956 »[J]etzt, wo wir den genetischen Code lesen können, [beginnt] die Phase […], in der wir ihn auch verfassen können. […] das Ende des Darwinismus […].« (Beitrag von J. C. Venter, in: Brockman, J. (Hrsg.): Leben, was ist das? Ursprünge, Phänomene und die Zukunft unserer Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 2009, S. 39–61, hier S. 40). 957 Monyer, H. / Rösler, F. / Roth, G. / Scheich, H. / Singer, W. / Elger, C. E. / Friederici, A. D. / Koch, C. / Luhmann, H. / von der Malsburg, C. / Menzel, R.: Das Manifest. Elf führende Hirnforscher über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung, in: Gehirn und Geist 6 (2004), S. 30–37, hier S. 31.

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aber ein gemeinsames Ziel, das wir in dem Manifest zum Ausdruck bringen: Wir wollen den neuronalen Code entschlüsseln.«958

Der Begriff »Code« suggeriert, dass es hier ein Rätsel zu lösen gibt, was auf neuronaler Ebene geschieht.959 Und auch bei Francis Crick wird man fündig. An seinen Sohn schrieb er einmal Folgendes: »Unsere Struktur ist sehr schön […] sie ist wie ein Code. Wenn man eine Reihe von Buchstaben kennt, kann man auch die anderen schreiben. Jetzt glauben wir daran, dass die DNA ein Code ist.«960 Dass Gene sich einem vollständigen Verständnis entzögen, werde bei der Rede von einem Code verdrängt, wie Lisbeth N. Trall­ ori hellsichtig bemerkt. Fokussiert werde auf das, was (gewinnorien­ tierte) Verwertbarkeit verspreche.961 Hans Blumenberg hat in seiner bemerkenswerten Arbeit Die Lesbarkeit der Welt962 die Vorstellung von der Wirklichkeit als eines lesbaren Buches beleuchtet. Durch die christliche Rede von einem sich im Wort offenbarenden Gott, dessen Schöpfungswort im Buch der Natur seinen Niederschlag gefunden habe, habe sich diese Vorstellung verbreitet. In der Neuzeit rückt in den Fokus, dass auch die experimentell erschlossene Natur lesbar sei – und eben nicht nur auf Wissen aus Bibliotheken zurückgegriffen werden sollte.963 Die Grundidee des Empirismus sieht er darin: »die Natur würde von sich aus ihre Geschichte erzählen, wenn man sie nur ließe, sich nicht ihr aufdrängte und vordrängte, sie nicht durch Vorwissen und Vorurteile an ihrer Selbstkundgabe hinderte«964. Blu­ 958 Singer, W.: Großartige Gehirne, in: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,druck -323627,00.html (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 959 Siehe hierzu auch: Beadle, G. / Beadle, M.: Die Sprache des Lebens. Eine Einfüh­ rung in die Genetik, Frankfurt a. M. 1969. 960 Zit. nach Schwarke, C.: Die Kultur der Gene. Eine theologische Hermeneutik der Gentechnik, Stuttgart 2000, S. 141. 961 Vgl. Trallori, L. N.: Politik des Lebendigen, in: Österreichische Zeitschrift für Poli­ tikwissenschaft, Schwerpunktthema: Körper und Politik, Nr. 1, 1992, S. 5–15. 962 Blumenberg, H.: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 21983. 963 A. a. O., S. 18. 964 A. a. O., S. 86. – Bacon fordert dazu auf, im Buch der Natur zu lesen, »ein rechter Dolmetscher der Natur« sein. (Bacon, F.: Neues Organon, Teilband 1, Hamburg 21999, S. 243, Aphorismus 117) Für Galilei ist das Buch der Natur in der Sprache der Mathe­ matik verfasst. (Vgl. Galilei, G.: Il Saggiatore, Edition Nazionale, Bd. 6, Florenz 1896, S. 232) Er will überall nur Kreise, Dreiecke und geometrische Figuren sehen, die es zu entschlüsseln gelte. Nicht mehr was Natur ist, sondern wie gesetzliche Zusammen­ hänge erfasst und beschrieben werden können, ist für ihn die entscheidende Frage. Die causa efficiens ist für ihn von besonderem Interesse; quantitative Aspekte gilt es

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menberg geht auch auf den genetischen Code und seine Leser ein.965 Er beginnt hier bei Erwin Schrödinger, der in einem Vortrag im Jahr 1943 die Vermutung äußerte, Vererbung lasse sich als eine in den Chromosomen des Zellkerns verschlüsselte Schrift begreifen. So versuchte Schrödinger einerseits der Stabilität der Erbfaktoren, andererseits der Veränderungsfähigkeit bei Vererbungen gerecht zu werden. In diesem Zusammenhang wird der Anspruch erhoben, eben jenes Buch noch genauer, noch besser zu lesen. In diesem Sinne werden dann auch die Basen der DNA als Buchstaben verstanden, die eine Kette bilden. Diese gilt es dann zu durchdringen, um den Text offenzulegen und verständlich werden zu lassen. In der Rede von der DNA als Schrift schwingt immerhin leise die Annahme mit, hier könnte Sinn gefunden werden. Hans Jonas, auf den Blumenberg u. a. ebenfalls verweist,966 hat auf einen anderen wichtigen Aspekt aufmerksam gemacht: Ein Text kann neu geschrieben werden, wenn die Schrift erst einmal entziffert und beherrscht wird.967 Was lesbar ist, kann verbessert, neu ediert oder auch kopiert werden. »Das ist die ebenso unerwartete wie bestür­ zende Wendung der Metapher«, so Blumenberg, »deren Rhetorik den Leser vergessen läßt, daß in der theoretischen Anstrengung, den genetischen Text lesbar zu machen, nicht nur vordergründig und vorläufig die Absicht motivierend wäre, die Fehler des genetischen Programms auffindbar und korrigierbar zu machen.«968 Wenn Venter hier im Kontext der Synthetischen Biologie von einem Code spricht, dann schwingt im Hintergrund die alte Rede vom Buch der Natur mit: Es soll ein anderer, ein eigener, vermeintlich bes­ serer Text verfasst werden als der vorgegebene. Nicht mehr nur lesen, sondern selbst schreiben. Die Schöpfung soll in die Hand genommen werden. Was Johann Georg Hamann im Dezember 1759 in einem seiner Briefe an Immanuel Kant schreibt, scheint an Aktualität nichts eingebüßt zu haben. Dort heißt es: zu erfassen. Religiös motiviert ist die Sicht Keplers, der sich als »Priester Gottes am Buch der Natur versteht« (Kepler, J.: Brief an Herwart von Hohenburg vom 26. März 1598, in: Gesammelte Werke, Bd. 13, Briefe I: 1590–1599, hrsg. von M. Caspar, Mün­ chen 1945, Nr. 91, S. 193). Auf die Rede vom liber naturae werden wir später noch zurückkommen. 965 Vgl. Blumenberg, H.: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 21983, S. 372–409. 966 Vgl. a. a. O., S. 398. 967 Vgl. Jonas, H.: Philosophical Essays. From Ancient Creed to Technological Man, Englewood Cliffs 1974, S. 80. 968 Blumenberg, H.: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 21983, S. 398.

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7.2 Das Verständnis von ›Leben‹ in der Synthetischen Biologie

»Die Natur ist ein Buch, ein Brief, eine Fabel (im philosophischen Ver­ stande) oder wie Sie sie nennen wollen. Gesetzt wir kennen alle Buch­ staben darinn so gut wie möglich, wir können alle Wörter syllabiren und aussprechen, wir wißen so gar die Sprache, in der es geschrieben ist – – Ist das alles schon genung ein Buch zu verstehen, darüber zu urtheilen, einen Charakter davon oder einen Auszug zu machen. Es gehört also mehr dazu als Physick, um die Natur auszulegen.«969

Meist unerwähnt bleibt bei jener Forderung, der Mensch müsse das Heft in die Hand nehmen, den Zufall verbannen und den Gang der Evolution selbst steuern, dass der Mensch nicht das Ende darstellen muss, die Evolution über ihn hinausgehen kann.970 Das reflektierte jedenfalls jener solchen, immer wieder mit Verve vorgetragenen Forderung besteht darin, wie Peter Koslowski treffend bemerkt, dass sie dann einsichtig wäre, »wenn man sicher sein könnte, dass es der Mensch besser weiß als die Evolution.«971 Genau dies sei jedoch gar nicht sicher. Koslowski ergänzt dies deutlicher werdend: »Die Grenzen der Allmachtsträume der Technik werden durch den Respekt vor der Natur gegeben. Eine Technik, welche die Natur nur als Matrix ihrer totalen Wandlung ansieht, die von ihrem Substrat her dem Menschen keine Grenzen vorgibt, wird nicht zu einer Verbesserung der Lage des Menschen führen.«972 Johannes Achatz hat ganz richtig darauf aufmerksam gemacht, dass Venters Programm alles andere als unparteiisch und unvoreinge­ nommen ist. »Was Venter im Kleinen und in Bezug auf das Leben behauptet, wurde vom ersten Menschen im Weltraum, Juri Gagarin, (laut propagandistischer Verklärung) im Großen assertiert: ›Ich sehe hier oben keinen Gott‹. Die analoge Behauptung Venters würde lau­ ten: ›Ich sehe hier drinnen keine Lebenskraft‹.«973 Wohl auch deshalb Kant, I.: Briefwechsel, Bd. 1, 1747–1788, in: AA Bd. X, S. 28. Freilich ist hier durchaus zu differenzieren: So gibt es Vorstellungen, nichts dem Zufall überlassen zu wollen und somit den Gang des Lebens vollständig beherrschen zu wollen. Und es gibt Vorstellungen, die unterstreichen, dass es darum gehen sollte, die Lebensbedingungen des Menschen zu verbessern, was man unschwer bestreiten wollen wird. 971 Koslowski, P.: Mensch-Maschine-Hybride: Dinge, die sprechen, und Maschinen, die unsere Brüder werden, in: Hubig, C. / Koslowski, P. (Hrsg.): Maschinen, die unsere Brüder werden: Mensch-Maschine-Interaktion in hybriden Systemen, München 2008, S. 191–202, hier S. 198. 972 A. a. O., S. 200. 973 Achatz, J.: Framing ›Nature‹ – Synthetische Biologie schreibt (ihre) Geschichte, in: Achatz, J. / Knoepffler, N. (Hrsg.): Lebensformen – Leben formen. Ethik und Syn­ 969

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7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie

sieht Wolfgang Alt die Vertreter der Synthetischen Biologie in der Pflicht, zu prüfen, ob die Sprache, in der über Synthetische Biologie berichtet wird, nicht »teilweise suggestiv« ist und »ausblendende Simplifikationen« enthalte.974 In den einzelnen Arbeitsfeldern der Synthetischen Biologie, so Anna Deplazes-Zemp, greife man unterschiedliche Grundmerkmale des Lebendigen heraus: So stünden bei der Arbeit an Protozellen die Fähigkeit, zelluläre Strukturen auszubilden, sowie die Reproduktion und Selbstgestaltung im Fokus. Bei der Simulation neuer Lebensfor­ men auf dem Computer habe man vor allem den Metabolismus und die Regulationsmechanismen, die beispielsweise für die Homöostase von Bedeutung sind, im Blick. Dagegen rücke für Forscher, die im Bereich der Genomsynthese tätig sind, die genetische Information von Lebewesen in den Vordergrund.975 »Die Charakteristika des Lebendigen«, so Deplazes-Zemp, sollen in der Synthetischen Bio­ logie »nicht nur simuliert oder kopiert, sondern weiterentwickelt werden«976. In einer gemeinsamen Arbeit mit Markus Huppenbauer wird die These formuliert, dass die Erzeugnisse der Synthetischen Biologie (»new forms of life«977) unser Verständnis des Lebendigen wie auch dessen, was eine Maschine ist, verändern werden. »This technology might provide a new example how science influences culture.«978 Ein Organismus ist mehr als all seine Zellen und eine Zelle mehr als ihre einzelnen Komponenten. Insofern gibt es eine gewisse Skepsis gegenüber Versuchen, wirklich Leben im Labor entstehen zu lassen,

thetische Biologie, Kritisches Jahrbuch der Philosophie Beiheft 11/2014, Würzburg 2014, S. 83–100, hier S. 87. 974 Alt, W.: Systemtheoretische Prinzipien des Lebendigen – Emergenz von ›Funk­ tionen‹ und Spielräumen‘, in: Herzog, V. (Hrsg.): Lebensentstehung und künstliches Leben. Naturwissenschaftliche, philosophische und theologische Aspekte der Zellevolu­ tion, Ettlingen 2010, S. 160–231, hier S. 162. 975 Deplazes-Zemp, A.: Leben als Werkzeugkasten. Die Auffassung von Leben in der Synthetischen Biologie, in: Dabrock, P. / Bölker, M. / Braun, M. / Ried, J. (Hrsg.): Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zur Ethik der Synthetischen Biologie, Freiburg / München 2011, S. 95–115, hier S. 100 f. 976 A. a. O., S. 109. 977 Deplazes, A. / Huppenbauer, M.: Synthetic organisms and living machines. Pos­ itioning the products of synthetic biology at the borderline between living and nonliving matter, in: Syst. Synth. Biol. 3 (2009), S. 55–63, hier S. 63. 978 Ebd.

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7.2 Das Verständnis von ›Leben‹ in der Synthetischen Biologie

gerade auch in naturwissenschaftlichen Kreisen. Volker Herzog gibt aus zellbiologischer Perspektive zu bedenken: »Eine neu-synthetisierte Zelle, wenn es denn gelingt, sie entstehen zu lassen, wird herausgefordert werden von bereits bestehenden Zell­ systemen, von Viren und verschiedenen Umweltfaktoren. Die neue Zelle würde völlig unvorbereitet auf diese Gegner treffen, weil sie nicht den harten Weg der Evolution durchlaufen hat. Sie würde wahrschein­ lich untergehen, wenn sie nicht künstlich vor ihren Konkurrenten geschützt wird.«979

Manfred Stöckler ist der Ansicht, die Synthetische Biologie lege keineswegs ein neuartiges Verständnis von Leben zugrunde.980 »Ein­ wände gegen Eingriffe in die Natur, wie sie in der Synthetischen Biologie vorgenommen werden, würden dann auch gegen vielfältige Maßnahmen in der Medizin sprechen, die jedoch allgemein als ethisch unbedenklich gelten.«981 Doch in der Synthetischen Biologie geht es ja nicht nur darum, in die Natur einzugreifen, sondern darum, diese selbst neu zu schaffen. Es ist eine technikverliebte Sichtweise des Lebendigen, die bestimmten Phänomenen des Lebendigen von vornherein gar nicht gerecht werden kann und will. Das gilt im gleichen Atemzuge auch für die vorausgesetzte und mitschwingende Sicht vom Menschen, der selbst Lebewesen ist und sich dieser Technik bedient. »Beschreibungen der Art und Weise, wie man ein Objekt ver­ steht und mit ihm verfährt, sind immer auch Beschreibungen dessen, wozu man sich selbst in der Lage sieht.«982 Das Gewachsene scheint insbesondere als Gegenstand des bearbeitenden Tuns im Blick zu sein, als Material für das, was daraus »gebastelt« und gebaut werden kann.

979 Herzog, V.: Zellbiologie der Lebensentstehung: Der Weg vom Molekül zur Zelle, in: Herzog, V. (Hrsg.): Lebensentstehung und künstliches Leben. Naturwissenschaftli­ che, philosophische und theologische Aspekte der Zellevolution, Ettlingen 2010, S. 17– 151, hier S. 141. (Herzog sieht die »synthetische Zelle« Venters nicht als »wirklich synthetisch« an, da »das transplantierte Genom der vollständigen Ausstattung von Plasmamembran und Cytoplasma bedarf, um eine teilungsfähige Zelle zu generieren«, a. a. O., S. 145). 980 Stöckler, M.: Synthetische Biologie im Lichte der Naturphilosophie: Ein Plädoyer für einen nüchternen Blick, in: Rager, G. / Wegner, G. (Hrsg.): Synthetische Biologie – Leben als Konstrukt, Freiburg / München 2015, S. 87–110. 981 A. a. O., S. 93. 982 Boldt, J.: Synthetische Biologie und das alte Gespenst der Gentechnik, in: Boldt, J. / Müller, O. / Maio, G. (Hrsg.): Leben schaffen? Philosophische und ethische Refle­ xionen zur Synthetischen Biologie, Paderborn 2012, S. 9–15, hier S. 13.

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7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie

Das Machen der Synthetischen Biologie bleibt rückbezogen auf das, was schon ist. Es verändert dieses, schafft das Leben aber nicht neu. In der Synthetischen Biologie geht es auch um eine »technische Nutz­ barmachung von Selbstorganisationsprinzipien. Spezielle Naturge­ setze, nämlich solche, die Selbstorganisationsprozessen zugrunde lie­ gen, werden als Vorbild für Technik angesehen«983. Thomas Heinemann spricht von einem mit der Synthetischen Biologie verknüpften Paradigmenwechsel in Richtung einer durch­ gehenden Technisierung der lebendigen Natur. Hiermit könne die Vorstellung einhergehen, dass der Nutzen der Produkte der Synthe­ tischen Biologie »für den Menschen eine Rechtfertigung für eine menschengemachte ›Verbesserung‹ der Prozesse der Natur und ihrer Evolution liefern kann.«984 Und Heinemann weiter: »Mit der Vorstellung einer solchen durchgängigen anthropogenen Vernützlichung der Natur wäre allerdings nicht nur eine entscheidende Veränderung im Naturverständnis verbunden, sondern mit der konse­ quenten technischen Anpassung des Menschen an seine Bedürfnisse auch die Gefahr seiner Anpassung an die Bedürfnisse seiner Technik, womit wichtige andere Orientierungsräume verloren gingen. Nicht nur sein Naturverständnis, auch sein Selbstverständnis wäre betrof­ fen.«985

7.3 Synthetische Biologie in der gesellschaftlichpolitischen Debatte Im Folgenden ist ein besonderes Augenmerk darauf zu legen, wie die Synthetische Biologie in gesellschaftlich-politischen Diskussionen dargestellt und diskutiert wird. Dabei wird zunächst ein Blick auf die politische Diskussion in Deutschland geworfen, dann analysiert, wie die Berichterstattung in den Medien erfolgt.986 Schmidt, J. C.: Das Andere der Natur. Neue Wege zur Naturphilosophie, Stuttgart 2015, S. 236 f. 984 Heinemann, T.: Leben als Konstrukt – Ethische Herausforderungen durch die Synthetische Biologie, in: Rager, G. / Wegner, G. (Hrsg.): Synthetische Biologie – Leben als Konstrukt, Freiburg / München 2015, S. 229–266, hier S. 250. 985 A. a. O., S. 251. 986 Durch die Veröffentlichungen Venters hat es eine verstärkte gesellschaftlich-poli­ tische Debatte über den noch jungen Forschungszweig gegeben. Noch am Tag der Veröffentlichung der Arbeit Venters in Science (Science 329 (2010), S. 52–56) reagierte 983

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7.3 Synthetische Biologie in der gesellschaftlich-politischen Debatte

In der politischen Debatte stehen insbesondere Fragen der Sicherheit im Vordergrund.987 In der gesellschaftlichen Debatte wer­ der damalige Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Barack Obama, und forderte die Presidential Commission for the Study of Bioethical Issues (PCSBI) auf, die Vorteile und möglichen Gefahren der Synthetischen Biologie zu prüfen. In der Ant­ wort aus dem Jahr 2010 wurde kein Bedarf für etwaige Regulierungen festgestellt. Nahegelegt wurde, die wissenschaftlichen Entwicklungen aufmerksam zu begleiten. Auch im Vatikan reagierte man auf die Arbeiten Venters. »È insomma un lavoro di ingegneria gentica di alto livello, un passo oltre la sostituzione di parti del Dna. Ma in realtà non si è creata la vita […]«, schrieb Carlo Bellieni am 22. März 2010 im L’Osservatore Romano (Bellieni, C.: Un ottimo motore ma non è la vita, in: L’Osser­ vatore Romano, 22. März 2010, S. 5). 987 Greifbar ist dies beispielsweise in der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD vom 22. März 2011. (Deut­ scher Bundestag: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeord­ neten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Stand und Perspektiven der Synthetischen Biologie, Drucksache 17/5165. http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/051/1705165.pdf) Die Fragesteller betonen, dass sich die Arbeiten Synthetischer Biologen hauptsächlich im Bereich der Grundlagenforschung bewegen und eine »gesellschaftliche und politische Begleitung dieser Technologie« unerlässlich sei. (A. a. O., S. 2) In dem Strauß von 72 Fragen überwiegen jene, die sicherheitstechnische Aspekte ansprechen. Die Bundesregierung betont, den internationalen Diskussionsprozess über die Synthetische Biologie aufmerksam zu begleiten. Sie sehe »keinen gesetzli­ chen oder regulativen Handlungsbedarf, da die Sicherheitsrisiken der Synthetischen Biologie denen der bekannten biotechnologischen Methoden ähneln und durch beste­ hende gesetzliche Regelungen, wie insbesondere das Gentechnikgesetz, das Außen­ wirtschaftsgesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz angemessen erfasst« (a. a. O., S. 5) seien. Mit ihren Maßnahmen zur Forschungs- und Wirtschaftsförderung wolle sie Vorreitern wie Craig Venter in Deutschland ein wissenschaftliches und unterneh­ merisches Engagement erleichtern. Ein eigenes Gremium allerdings – wie z. B. die Nanokommission – sei im Hinblick auf die Synthetische Biologie nicht angedacht. Begrenzungen der Wissenschaftsfreiheit seien möglich, wenn es um den »Schutz der Menschenwürde sowie anderer hochrangiger Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Eigentum, Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sowie des friedlichen Zusam­ menlebens der Völker« (a. a. O., S. 17) gehe. Der vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit in Auftrag gegebene Erste Zwischenbericht der Zentralen Kommission für die Biologische Sicherheit vom November 2012 (Az: 46012. http://www.bvl.bund.de/SharedDocs/Download s/06_Gentechnik/ZKBS/01_Allgemeine_Stellungnahmen_deutsch/01_allgemein e_Themen/Synthetische_Biologie.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022) bekräftigt, dass von jenen Forschungsansätzen, die in Deutschland zur Synthetischen Biologie verfolgt werden, kein über das von klassi­ schen gentechnischen Versuchen hinausgehendes Sicherheitsrisiko ausgehen würde,

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7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie

den darüber hinaus noch weitere Themen aufgegriffen. Für ein krea­ tives Beispiel der Auseinandersetzung mit der Synthetischen Biologie dem nicht mit dem Gentechnikgesetz begegnet werden könnte. »Beim aktuellen Stand der Forschung«, so das Dokument, »werden alle Forschungsansätze mit Ausnahme der Synthese von Nukleinsäuren vom GenTG erfasst« (a. a. O., S. 11). Birnbacher führt zu Entscheidungen unter Unsicherheit ganz richtig Folgendes aus: »Erweist sich das Ungewissheitselement einer Entscheidungssituation als unelimi­ nierbar und sind katastrophale Folgen nicht auszuschließen, so erscheint es plausibel, von mehreren Handlungsalternativen diejenige zu wählen, deren schlimmste nicht auszuschließende Folge vergleichsweise am wenigsten schlimm ist.« (Birnbacher, D.: Verantwortung für zukünftige Generationen, Stuttgart 1988, S. 152. Zit. nach: Gesang, B.: Enhancement und Gerechtigkeit, in: Sorgner, S. L. / Birx, H. J. / Knoepffler, N. (Hrsg.): Eugenik und die Zukunft, Freiburg / München 2006, S. 127–149, hier S. 140) B. Giese formuliert im Hinblick auf mit der Synthetischen Biologie verbundene Risi­ ken deutlich: »[W]enn auch die Fähigkeiten zur Vermehrung, Mobilität und Persistenz sowie die vorgesehene Einsatzmenge entsprechend ausgeprägt sind, muss davon aus­ gegangen werden, dass aufgrund des hohen Expositionspotenzials auch das Risiko­ potenzial erhöht ist.« (Giese, B.: Naturwissenschaftliche Aspekte, in: Lanzerath, D. / Giese, B. / Jaeckel, L.: Synthetische Biologie. Naturwissenschaftliche, rechtliche und ethische Aspekte, Freiburg / München 2020, S. 13–51, hier S. 41) Zu den Risikopotentialen der Synthetischen Biologie siehe auch: Giese, B. / von Gleich, A. / Koenigstein, S. / Pade, C. / Schmidt, J. C. / Wigger, H.: Lebendige Kon­ struktionen – Technisierung des Lebendigen. Potenziale, Grenzen und Entwicklungspfade der Synthetischen Biologie, Baden-Baden 2015, S. 145–195. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang eine Studie, die von 2009 bis 2011 durch­ geführt und vom Europäischen Parlament in Auftrag gegeben wurde. Sie trägt den markanten Titel Making Perfect Life. Van Est, R. / Stemerding, D. (Hrsg.): Making Perfect life. Bio-Engineering (in) the 21st Century. Final Report. European Governance Challenges in Bio-Engineering, Brüssel 2011. Die Studie ist im Internet zu finden unter folgenden Links: http://www.europarl.europa.eu/stoa/ und https://op.europa.eu/ de/publication-detail/-/publication/1e592eb3-3a39-4d71-86c1-dbfcb286e721 (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). Durchgeführt wurde die Studie vom Rathenau Institut (Den Haag) in Zusammenarbeit mit dem Institut für Technikfolgen-Abschät­ zung (Wien), dem Fraunhofer-Institut für System und Innovationsforschung (Karlsruhe) sowie dem Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des Karlsruher Instituts für Technologie. Die Synthetische Biologie wird neben drei anderen Bioengi­ neering-Feldern thematisiert, die als Herausforderung für Politik und Gesellschaft verstanden werden. Die Studie arbeitet zwei Hauptlinien (»Megatrends«) heraus, die kennzeichnend seien für das Bioengineering im 21. Jahrhundert. Der eine Trend wird bezeichnet als »biology becoming technology«, der zweite Trend als »technology is becoming biology«: »The ›biology becoming technology‹ trend implies and promises new types of interventions which further enhance the manipulability of living organ­ isms, including the human body and brain.« (A. a. O., S. 5) Der zweite Trend wird folgendermaßen charakterisiert: »The ›technology becoming biology‹ trend embodies a (future) increase in bio-, cogno-, and socio-inspired lifelike artefacts, which will be applied in our bodies and brains, be intimately integrated into our social lives, or used in technical devices and manufacturing processes.« (Ebd.) Es zeichne sich ab, dass die Differenz zwischen Biologie und Technik zunehmend schwinden werde, und Leben

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7.3 Synthetische Biologie in der gesellschaftlich-politischen Debatte

steht das Bio-Fiction-Filmfestival in Wien.988 Es wurde das erste Mal im Mai 2011 und dann drei Jahre später im Oktober 2014 durchge­ führt. Präsentiert wurden Kurzfilme, die sich mit der Synthetischen Biologie in irgendeiner Form auseinandersetzen.989 Beim ersten Fes­ tival wurden 52 Filme gezeigt, 800 Besucher wurden gezählt.990 Erinnert sei an Walter Benjamin, der mit seiner kleinen Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit die Frage provozierte, ob sich unser Verständnis und unser Zugang zur Kunst, der Sinn und der Begriff von Kunst, durch die technische Reproduzierbarkeit geändert haben.991 Übertragen wir dies auf die Möglichkeiten der modernen Biotechnologie: Werden Lebewesen, der Mensch eingeschlossen, zu Kunstwerken? Und was bedeutet die Reproduzierbarkeit von Lebendigem für unser Verhältnis zu uns selbst wie auch zu anderen Lebendigem? Abschaffel ist der Name des Protagonisten in Wilhelm Genazinos Romantrilogie Abschaffel – Die Vernichtung der Sorgen – Falsche Jahre aus den 1970er Jahren. Er ist ein Einzelgänger, der in einer Frankfurter als etwas aufgefasst würde, das der menschlichen Kontrolle und Konstruktion über­ lassen sei. 988 https://bio-fiction.com/ (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). Die preisgekrönten Filme kann man sich auf der Homepage ansehen. Siehe hierzu auch: Schmidt, M. / Meyer, A. / Cserer, A.: The Bio:Fiction film festival: Sensing how a debate about synthetic biology might evolve, in: Public Understanding of Science (PUS), 2013, DOI: 10.1177/0963662513503772. http://www.markusschmidt.eu/wp-content/uploads/2013/10/Bio-fiction-PUS .pdf (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022) / Schmidt, M.: Inszenierung der Synthe­ tischen Biologe in Wissenschaft, Medien, Film und Kunst, in: Deutscher Ethikrat (Hrsg.): Werkstatt Leben. Bedeutung der Synthetischen Biologie für Wissenschaft und Gesellschaft, Berlin 2013, S. 33–50, bes. S. 41 f. 989 »While 26 films (50 %) could be described as fictional, science fiction or fantasy, 21 films (40,4 %) were either documentaries or primarily fact based. The remaining 5 films (9,6 %) presented a combination of factual and fictional elements.« (Schmidt, M. / Meyer, A. / Cserer, A.: The Bio: Fiction film festival: Sensing how a debate about synthetic biology might evolve, in: Public Understanding of Science (PUS), 2013, DOI: 10.1177/0963662513503772, S. 6) http://www.markusschmidt.eu/wp-content/uploads/2013/10/Bio-fiction-PUS. pdf (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 990 Die künstlerische Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Folgen der Synthetischen Biologie wirft auch Fragen der Kunst- und Forschungsfreiheit neu auf. So wird beispielsweise diskutiert, ob die Kunst darf, was Wissenschaftlern verwehrt wird. 991 Vgl. Benjamin, W.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­ keit, Berlin 32013.

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7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie

Spedition arbeitet und sich durch das Leben treiben lässt. Im dritten Teil der Trilogie besucht er eine Tierschau. Er erhofft sich dort ein wenig Abwechslung, will der Langeweile entfliehen. Er bekommt dort u. a. Hasen und Hühner, Gänse und Enten zu sehen. Schließlich gelangt er zu den Tauben, bei denen er länger verweilt und ins Nachdenken gerät. »An jedem Käfig hing ein kleiner Kasten, und in jedem Kasten steckte eine Bewertungskarte. Auf jeder Karte waren die Kategorien VOR­ ZÜGE, WÜNSCHE und MÄNGEL aufgedruckt, und darunter standen handschriftliche Eintragungen. Sofort ging Abschaffel dazu über, nicht mehr die Tiere anzusehen, sondern nur noch die Bemerkungen auf den Bewertungskarten zu lesen. Auf den meisten Karten waren nur Herabsetzungen eingetragen. Einmal hieß es: TIER IST NOCH GANZ UNFERTIG. Oder: TIER IST ZU ALT FÜR AUSSTELLUNG. Abschaf­ fel war froh, daß die Tiere niemals ihre Bewertungen erfuhren. Obwohl manche von ihnen so aussahen, als kennten sie ihre Bewertungen besser als ihr Leben.«992

Geschildert wird auch, welche Bemerkungen in der Rubrik Wünsche zu lesen waren: »Nach Auffassung der Züchter konnte kaum ein Tier so bleiben, wie es war. SCHNABELANSATZ KRÄFTIGER! stand an einem Käfig. EINE IDEE MEHR STIRN an einem anderen. Oder: BAUCHFARBE SATTER ERWÜNSCHT. Am Käfig einer großen, stillen Taube las er die Bemerkung: ETWAS MEHR FUSSWERK, und am Käfig einer anderen: AUGE REINER!«993

Dies provoziert schließlich folgende innere Frage in Abschaffel: »War es denn möglich, daß Menschen in ihrer unersättlichen Wunsch­ kraft sich Tiere sogar anders wünschten, als sie waren und sein konn­ ten?«994

Welche Dimensionen eben jene hier angesprochene »Wunsch­ kraft« annehmen kann, zeigen folgende Beispiele, die nicht mehr dem Bereich des Romans entstammen, sondern aus Wissenschaft und Kunst.

Genazino, W.: Abschaffel – Die Vernichtung der Sorgen – Falsche Jahre. Roman Trilogie, München / Wien 2004, S. 544. 993 Ebd. 994 Ebd. 992

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7.3 Synthetische Biologie in der gesellschaftlich-politischen Debatte

Kunst nimmt heute in ihren mannigfaltigen Erscheinungsfor­ men wichtige Zeitströmungen und Entwicklungen wahr, macht diese für andere zugänglich: in der Musik in Form von Kompositionen und Interpretationen, in der bildenden Kunst (Malerei und Grafik, Archi­ tektur, Bildhauerei), in der Literatur oder auch in der darstellenden Kunst (Tanz, Theater, Film). Kunst fällt nicht einfach vom Himmel, sondern ist immer auch Spiegel ihrer Zeit. Sie zeigt den Menschen als schöpferisches, kreatives Wesen. Im zurückliegenden 20. Jahrhundert wurde verschiedentlich hervorgehoben, dass künstlerische Tätigkeit nicht durch Funktionen festgelegt sei.995 Gegenwartskunst greift Themen aus den Lebenswissenschaften auf und setzt sich damit auseinander. Eine Reihe von Künstlern greift nicht nur biotechnologische Fragen auf, sondern bringt deren Methoden auch selbst zur Anwendung, bezieht Materialien der Syn­ thetischen Biologie in die eigenen künstlerischen Projekte ein. So gibt es Künstler, die ihr Atelier mit einem Labor tauschen. Die Objekte ihres Interesses sind Organismen. Diese werden im Namen der Kunst verwandelt. Transgenic Art und Bio-Art gibt es etwa seit den 1980er Jahren.996 Ihre Projekte widmen sich einer Technisierung des Organismischen wie einer Verlebendigung des Technischen. Es ist keineswegs neu, dass Kunst Erkenntnisse der Naturwissen­ schaften und Fragen der Technik aufgreift. Martin Schongauer und Albrecht Dürer, um hier lediglich zwei namhafte Meister aus der Renaissance zu nennen, betreiben bekanntlich eigene Naturstudien, die sich in ihren künstlerischen Arbeiten niederschlagen. Die Entde­ ckung des molekularen Aufbaus der DNS wird z. B. schon bei Salvador Dalí in den 1950er Jahren im Bild Butterfly Landscape aufgegriffen sowie dann 1963 in seinem Bild Galacidalacidesoxyribonucleicacid, das eine surrealistische Sicht von der Bedeutung des Lebens zeigt.

Vgl. z. B. Adorno, T. W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1973; Heidegger, M.: Der Ursprung des Kunstwerks, in: Heidegger, M.: Holzwege, HeiGA 5, Frankfurt a. M. 1977, S. 1–74; Luhmann, N.: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995. 996 Hierzu: Reichle, I.: Kunst aus dem Labor: Zum Verhältnis von Kunst und Wissen­ schaft im Zeitalter der Technoscience, Hamburg / Berlin 2005; Kießling, S. / Mertens, H. C. (Hrsg.): Evolution in Menschenhand. Synthetische Biologie aus Labor und Atelier, Freiburg 2016. 995

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7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie

Der nicht ganz leicht auszusprechende Titel der Arbeit verbindet Dalís Namen und die DNA miteinander.997 Das Neue der Bio-Art besteht darin, dass sie nicht rein rezeptiv sein will, sondern selbst aktiv in Organismen eingreift. Hierzu wird beispielsweise DNA nicht mehr nur künstlerisch dargestellt, wie Dalí es tut, sondern diese mit den Methoden moderner Biotechnologie ver­ ändert. Ein Kunstprojekt von Tuur van Balen zeigt, welche geradezu absurden Höhenflüge – im wahrsten Sinne des Wortes – die Arbeit Synthetischer Biologen annehmen kann. Freilich steht dieses Projekt nicht generell für »die« Synthetische Biologie, aber es zeigt eine Weise des gesellschaftlichen Umgangs mit dieser neuen Technik. Im Mittelpunkt des Projektes stehen Columbidae, also jene Tiere, denen die Romanfigur Abschaffel seine Aufmerksamkeit geschenkt hatte: Tauben. Van Balen beschreibt sein Kunstprojekt folgendermaßen: »Mithilfe des Biochemikers James Chappell und der Synthetischen Biologie haben wir ein Bakterium entwickelt und erzeugt, das den Stoffwechsel von Tauben verändern kann. Zu diesem Zweck schufen wir einen neuen BioBrick, einen sogenannten biologischen Standard­ baustein, der, wenn man ihn in das Genom des Bakteriums einbaut, Lipase produziert. Wir verwendeten auch einen BioBrick, der den pH-Wert senkt. Das Resultat ist ein biologisches Konstrukt, das eine Art Fensterputzseife herstellt. Wir bauten dieses Konstrukt in das Lactobacillus-Bakterium ein – ein Bakterium, das natürlicherweise im Verdauungstrakt vorkommt.«998

Das Ergebnis: »Wenn man einer Taube also diese Bakterien als Nahrung zuführt, sollte sie biologische Seife produzieren und aus­ scheiden.«999 Ging es bei der Taube des Archytas, die es immerhin zu einiger Berühmtheit gebracht hat, noch um ein aus Holz geschnitztes, klug konstruiertes Tierchen, das aufgrund innerer Luftströme sogar in der Lage war, zu fliegen, und so natürliche Exemplare ansatz­ weise nachahmen konnte,1000 so wird hier vielmehr in einen bereits 997 Hierzu auch: Guardiola, E. / Baños, J.-E.: Dalí and the Double Helix, in: Nature, Vol. 423, 26. Juni 2003, S. 917; Reichle, I.: Kunst aus dem Labor. Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft im Zeitalter der Technoscience, Wien / New York 2005, S. 195. 998 Van Balen, T. / Mertens, H. C.: Synthetische Biologie als Form der kulturellen Praxis. Heike Catherina Mertens im Gespräch mit Tuur Van Beelen, in: Kießling, S. / Mertens, H. C. (Hrsg.): Evolution in Menschenhand. Synthetische Biologie aus Labor und Atelier, Freiburg 2016, S. 17–25, hier S. 17. 999 Ebd. 1000 Vgl. Aulus Gellius: Noctes Atticae X, 12.

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7.3 Synthetische Biologie in der gesellschaftlich-politischen Debatte

bestehenden Organismus eingegriffen, seine Stoffwechselprozesse gravierend verändert. Es geht hier zwar um Tauben, nicht um Adler und Schwäne, aber erinnert sei dennoch an einen Mythos aus alten Tagen. Nemesis, Toch­ ter der Nyx, sorgt in der griechischen Götterwelt für ausgleichende Gerechtigkeit, für die Bestrafung von Unrecht, welches aus Selbst­ überschätzung und Übermut entsteht. Recht sympathisch kommt diese Göttin auf den ersten Blick nicht herüber, eher dunkel und schwierig. Wenn sie auftritt, geht es nicht darum, dass der Mensch fortan seine Wünsche einstellen sollte. Ihr Augenmerk liegt vor allem darauf, dass diese vernünftig sein sollten, ein rechtes Verhältnis zu sich und zum Leben zu bekommen. Neben Tauben ziehen auch Goldfische das Interesse von Tuur van Balen und Künstlern an, die entweder selbst im Labor arbei­ ten oder Projekte zur Synthetischen Biologie in Auftrag geben. In einer Ausstellung van Balens wurden Albino-Goldfische präsentiert. Ihnen fehlten die Fortpflanzungsorgane. Während bei den Tauben auf der Ebene des Stoffwechsels angesetzt wurde, ist es hier die Fort­ pflanzungsfähigkeit. Dawkins hatte Fische lediglich als »Maschine[n] [verstanden wissen wollen], die Gene im Wasser fortbestehen«1001 lassen. Ganz ähnlich scheint es auch hier zu sein. Den Fischen wurden synthetische Nukleinsäuremoleküle injiziert, so dass jene Gene inaktiviert wurden, die für die Entwicklung der Keimdrüsen von Bedeutung sind. Erzeugt wurden diese sterilen Goldfische in einer Maschine. Dies hat den japanischen Namen »Sensei Ichi-go«, was unterschiedliche Bedeutungen hat und, wie Jens Hauser erläutert, ins Deutsche übersetzt werden kann mit: Erstgeborener, aber auch Lehrmeister und Seriennummer Eins.1002 Jene Tauben und Fische sind freilich Organismen, aber solche, in deren Wachstumsbedingungen eingegriffen wurde. Sie sind technisch zugerichtet, manipuliert. Ein medizinisches oder ökologisches Ziel wurde damit nicht verfolgt. Van Balen bestreitet auch ökonomische Interessen. Verkäufe seien kein wichtiges Anliegen und er wisse selbst gar nicht, ob der Kunstmarkt dafür bereit sei. Dann aber folgt Dawkins, R.: Das egoistische Gen, Berlin / Heidelberg / New York 1978, S. 25. Vgl. Hauser, J.: Versteckt, entlarvt, inszeniert: Spielarten von Kunst mit nassen Händen und reinem Gewissen, in: Kießling, S. / Mertens, H. C. (Hrsg.): Evolution in Menschenhand. Synthetische Biologie aus Labor und Atelier, Freiburg 2016, S. 43–58, hier S. 47. 1001

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eine doch erstaunliche Aussage: »Unser Hauptanliegen ist, dass es den Fischen gut geht.«1003 Immerhin werden die Tiere mit einer Störung in der Biosynthese der Melanine und ohne Fortpflanzungsfä­ higkeit erzeugt. Auch hier wird Biologie offenbar als Spiel verstanden, wenn einzelne Komponenten nach eigenem Belieben ausgetauscht werden können. Die Kunstprojekte zeigen aber auch deutlich, was beherrscht wird: Es wird neu definiert, was Lebendigsein ausmacht; Lebendigkeit konstruiert und inszeniert. Es werden Wesen mit Eigenschaftskombi­ nationen kreiert, die sie so von ihrer Natur her nicht haben.1004 Kunst ist Ausdruck von Freiheit. Sie kann störend sein, Selbst­ verständliches kritisch hinterfragen, Konflikte daher bewusst provo­ zieren. Kunst ist aber auch »Einübung der Distanznahme, Abstand zur Welt um der Möglichkeit freier Zuwendung willen. Sie […] hält Erfahrungsmöglichkeiten offen, die eine technisch geprägte Welt von sich aus nicht bietet.«1005 Die Freiheit der Kunst ist nicht grenzenlos. Sie endet dort, wo die Integrität von Lebewesen in empfindlicher Weise gestört wird. Das Töten von Tieren ist keine Kunst. Tieren dürfen auch im Atelier nicht Leiden, Schäden und Schmerzen zugefügt werden. Qualzüch­ tungen sind im Atelier ebenso wie im Labor zu unterlassen. Bei der Präsentation der Werke haben die gleichen Standards wie sonst auch im Hinblick auf die artgerechte Haltung zu gelten. Es ist sicherzustel­ len, dass gentechnisch veränderte Organismen nicht in die Natur gelangen. Ein Umgang mit Krankheitserregern muss entsprechenden Sicherheitsstandards entsprechen: unabhängig davon, ob derjenige, der hier tätig wird, sich nun als Biologe, Hobby-Biologe oder eben Künstler versteht. 1003 Van Balen, T. / Mertens, H. C.: Synthetische Biologie als Form der kulturellen Praxis. Heike Catherina Mertens im Gespräch mit Tuur Van Beelen, in: Kießling, S. / Mertens, H. C. (Hrsg.): Evolution in Menschenhand. Synthetische Biologie aus Labor und Atelier, Freiburg 2016, S. 17–25, hier 25. 1004 Bio-Art eröffne eine neue Zugangsweise zur Natur. Der Weg dorthin wird in einer neuen Verzauberung durch die Technik ausgemacht, was als typisch für eine Homo faber-Mentalität gelten darf: »[B]ioart intends to re-mystify life, by an agnostic appreciation of the unknowable« (Louwrier, D.: Thinking by doing. Bioart as a Form of Hands-on-Ethics, in: Jürgens, A.-S. / Tesche, T. (Hrsg.): LaborARTorium. Forschung im Denkraum zwischen Wissenschaft und Kunst. Eine Methodenreflexion, Bielefeld 2015, S. 153–165, hier S. 161). 1005 Figal, G.: Erörterung des Nihilismus. Ernst Jünger und Martin Heidegger, in: Études Germaniques, 51. Jg., 4 (1996), S. 717–725, hier S. 725.

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7.3 Synthetische Biologie in der gesellschaftlich-politischen Debatte

Wolf-Michael Catenhusen unterstreicht, dass Gesellschaft und Wissenschaft das gemeinsame Interesse verbinden müsse, wonach die Debatte über die Synthetische Biologie nicht einseitig durch Ver­ sprechungen bzw. Science-Fiction-Vorstellungen bestimmt werden dürfe. »Vielmehr hat«, so Catenhusen, »eine interdisziplinäre For­ schung, die in einem verantwortungsvollen Verhältnis zur Gesell­ schaft steht, sehr sensibel auf die kulturellen Rezeptionsströme und öffentlichen Sensibilisierungen zu achten.«1006 Zur Klärung jener Fragen, die die Synthetische Biologie aufwerfe, brauche es Zeit und keine vorschnellen Antworten. Oder um es mit den Worten von Al Gore zu sagen: »[D]ie unmittelbar bevorstehende Erschaffung völlig neuer – und zur Selbstreplikation fähiger – künstlicher Lebensformen [sollte] eigent­ lich Anlass für eine umfassende Diskussion und Debatte sein, nicht nur über die damit verbundenen Risiken, Chancen und angemesse­ nen Absicherungen, sondern auch über die weitreichenden Folgen, die die Überschreitung einer solch epochalen Schwelle mit sich brin­ gen wird.«1007

7.3.1 Synthetische Biologie in den Medien Um das Besondere, das Neue und Umwälzende der Synthetischen Biologie als »Höhepunkt biotechnologischer Entwicklungen«1008 zu betonen, wird z. B. von einer »stille[n] Revolution«1009 bzw. einer »new technology revolution«1010 gesprochen. Das, was die Synthe­ tische Biologie zu leisten vermag, komme einem grundlegenden Catenhusen, W.-M.: Synthetische Biologie – wo liegt unsere gesellschaftliche Verantwortung? Ein politisches Statement, in: Dabrock, P. / Bölker, M. / Braun, M. / Ried, J. (Hrsg.): Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zur Ethik der Synthetischen Biologie, Freiburg / München 2011, S. 387–392, hier S. 391. 1007 Gore, A.: Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014, S. 291 f. 1008 Kaebnick, G. E.: Ethische Fragen zur Synthetischen Biologie, in: Boldt, J. / Müller, O. / Maio, G. (Hrsg.): Leben schaffen? Philosophische und ethische Reflexionen zur Synthetischen Biologie, Paderborn 2012, S. 52–64, hier S. 52. 1009 Boldt, J. / Müller, O.: Leben zum Selbermachen, in: Spektrum der Wissenschaft, April 2010, S. 42–45, hier S. 42. 1010 van Est, R. / de Vriend, H. / Walhout, B.: Constructing life. The world of synthetic biology, Den Haag 2007, S. 1. 1006

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Umsturz unserer bisherigen wissenschaftlichen und weltanschauli­ chen Überzeugungen gleich, einem radikalen Wandel unserer Ein­ stellung zu uns selbst und zur Natur,1011 des Verhältnisses von Gemachtem und Gewachsenem. Die Erzeugnisse der Synthetischen Biologie – wie z. B. ganz neuartige Organismen – hätten demnach Sprengkraft. Wird sie als Revolution angesehen, dann sind finanzielle Investitionen wie auch rechtliche Regulierungen einfacher zu legiti­ mieren. Jedenfalls unterstreicht eine solche Wortwahl, dass es sich um ein wichtiges Forschungsfeld mit Zukunftspotential handelt. Religiöse Sprache und Metaphern sind sehr gebräuchlich, wenn von der Synthetischen Biologie die Rede ist. Es wird gefragt, ob wir Gott »ins Handwerk pfuschen dürfen«. Auch ist die Rede davon, dass der Mensch sich selbst zum Herrn des Lebens und Schöpfer der Welt aufschwingt. »Lasst uns Gott spielen!« titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung1012 und die deutsche Wochenzeitung Die Zeit sprach in diesem Sinne vom »Projekt Genesis«1013. Andere Zeitungen sahen die Forschung dank Venter vor den Toren des Paradieses stehen: »Im Garten Eden gab es zwei Bäume mit verbotenen Früchten. Nach­ dem sie vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen hatten, wurden Adam und Eva aus dem Paradies gejagt, bevor sie vom Baum des ewigen Lebens essen und vollends wie Gott werden konnten. Es sieht fast so aus, als hätten die beiden gerade den Weg dorthin zurück­ gefunden.«1014

Craig Venter schreibt selbstbewusst über seine Arbeit: »Wir versuchen die fundamentalen Prinzipien für den Bauplan des Lebens zu verstehen, sodass wir es nachbauen können – und zwar auf

1011 Nach der Synthetic Biology Conferences SB 3.0 in Zürich (2007) wurden Inter­ views mit führenden Vertretern der Synthetischen Biologie durchgeführt. Folgendes Ergebnis wirft ein Licht auf das Selbst- und Naturverständnis der Befragten: »[…] the scientists interviewed mostly define Synthetic Biology as contrary to nature and the natural system. The ›non-natural‹ aspect used by scientists is not as overemphasized in the media« (Cserer, A. / Seiringer, A.: Pictures of Synthetic Biology. A reflective discussion of the representation of Synthetic Biology (SB) in the German-language media and by SB experts, in: Syst Synth Biol (2009), 3, S. 27–35, hier S. 33). 1012 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Aug. 2007. 1013 Die Zeit, 16. Febr. 2006. 1014 Posener, A.: Wir sind Gott!, in: Die Welt, 23. Mai 2010, S. 63.

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die Art und Weise, wie es, hätte es einen solchen denn gegeben, ein intelligenter Schöpfer von vornherein getan hätte.«1015

Venter selbst wurde auch schon mit Moses verglichen. Wie der alttestamentliche Moses vom Berg herabgestiegen sei, so auch Venter: in seinem Fall sei es ein Datenberg gewesen. Und aus den Steinta­ feln sind in seinem Fall Festplatten geworden, auf denen Milliarden Nukleotide gespeichert wurden. »[U]nd siehe da, das Volk tanzte zwar mit Jubelgesängen aller Feuilletons und Wirtschaftskommentatoren um das goldene Kalb, aber es war das entschlüsselte Genom selbst, um das es tanzte.«1016 Der ehemalige Vizepräsident der USA und Friedensnobelpreisträger Al Gore beschreibt die durch die Entdeckung der DNA ermöglichte Digitalisierung des Lebens als »Fortsetzung der Geschichte darüber, wie der Mensch sich die Erde untertan macht«1017. Diese Beispiele ließen sich ohne größere Probleme erweitern. Es werden in dem Kontext z. B. Argumente derart präsentiert, wonach es nur Gott zukomme, Leben zu schaffen, und es ein Ausdruck menschlicher Hybris sei, es ihm gleichtun zu wollen. P. Dabrock und J. Ried greifen die Frage auf, ob in der Synthetischen Biologie »Gott gespielt« wird.1018 Ihrer Ansicht nach könne der Mensch im Angesicht der Synthetischen Biologie eher als Homo plagiator denn als Homo creator bezeichnet werden, da er ja natürliche Prozesse kopiere, und die Natur und das Leben, das er in ihr vorfindet, als Vorbild fungierten.1019 Einen anderen Zugang zu dieser Frage wählt Ulrich Lüke.1020 An der absoluten Schöpfermacht Gottes hält er fest. Gleichwohl betont er, dass es »keinen Glaubenssatz [gebe], der diesen ersten Satz von der absoluten Schöpfermacht Gottes dahingehend ergänzte, dass er eine mögliche, durch De-novo-Synthese ermöglichte Zit. nach: Gore, A.: Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014, S. 292 f. 1016 Markl, H.: Schöner neuer Mensch?, München 2002, S. 41. 1017 Gore, A.: Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014, S. 286. 1018 Vgl. Dabrock, P. / Ried, J.: Wird in der synthetischen Biologie ›Gott gespielt‹? Eine theologisch-ethische Dekonstruktion, in: Pühler, A. / Müller-Röber, B. / Weitze, M.-D. (Hrsg.): Synthetische Biologie. Die Geburt einer neuen Technikwissenschaft, Hei­ delberg 2001, S. 129–137. 1019 Vgl. a. a. O., S. 131. 1020 Vgl. Lüke, U.: Das Leben – natürlich, übernatürlich, künstlich?, in: Rager, G. / Wegner, G. (Hrsg.): Synthetische Biologie – Leben als Konstrukt, Freiburg / München 2015, S. 127–159. 1015

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Lebensentstehung unter der Federführung und in der Verantwortung des Menschen ausschlösse«1021. Während die creatio originalis allein Sache Gottes sei, seien Menschen und alle anderen Lebewesen in unterschiedlicher Komplexität und Verantwortung in den Bereich der creatio continua, der fortwirkenden Schöpfung, miteinbezogen. Für Lüke ist es demnach durchaus möglich, »dass Gott seine mit­ schöpferischen Geschöpfe diesen Rubikon einer De-novo-Synthese von Leben überschreiten lässt. Der theologische Vorbehalt, das sei ›ausschließlich Chefsache‹, ist nicht zwingend.«1022 Nachdenklich heißt es dann aber weiter, das Projekt Synthetische Biologie könne »zum Essen vom Baum der Erkenntnis [werden], in deren Gefolge uns die Zeit vor der Tat wie das Paradies und die Zeit nach der Tat wie die selbst veranlasste oder selbst verschuldete Vertreibung aus demselben vorkommen wird.«1023 Auffällig ist jedenfalls, dass der Bezug auf Gott und Religion im Zusammenhang der Synthetischen Biologie oftmals mit einer ganz unterschiedlichen Intention erfolgt: z. B. um die Bedeutung des eigenen Faches und der eigenen Forscherleistung in ein besonderes Licht zu rücken. Aber auch um die Arbeit der Synthetischen Biologen von vorneherein als gefährlich darzustellen und Skepsis zu wecken. Schummer spricht von einem circulus vitiosus: »Je lauter die Wissenschaft verkündet, künstliches Leben im Labor herstellen zu wollen, desto heftiger wird ihr vorgeworfen, Gott ins Handwerk zu pfuschen. Und in je schrilleren Tönen Kritiker der Wis­ senschaft vorwerfen, Gott zu spielen, umso erstrebenswerter erscheint ihr das Gotteshandwerk.«1024

Er plädiert für einen neuen Kommunikationsstil, wenn es um Synthe­ tische Biologie geht. Dem kann sicher zugestimmt werden. Insofern Synthetische Biologen auf vorhandene biologische Ein­ heiten zurückgreifen, gilt es noch auf etwas anderes aufmerksam zu machen: Die Erschaffung neuartiger Lebensformen ist keine creatio A. a. O., S. 152. Ebd. Mit der Vorstellung einer kreativen Mitwirkung des Menschen an der Schöpfung Gottes wird eine Gedankenfigur aufgegriffen, die uns im Rahmen der Ausführungen zur Renaissance begegnet ist. 1023 A. a. O., S. 153. 1024 Schummer, J.: Das Gotteshandwerk. Die künstliche Herstellung von Leben im Labor, Berlin 2011, S. 11. 1021

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ex nihilo, wohl aber eine creatio ex existente.1025 Keine Neuschöpfung, sondern eine Zusammensetzungstechnik war am Werke. Ohne die gegebene biologisch-materielle Bedingung gelingt die Herstellung synthetischer Lebensformen nicht. Es ist ein zentrales Anliegen der Synthetischen Biologie, zu standardisieren, was nach unserer Heidegger-Lektüre verständlich erscheint: Biologische Einheiten müssen messbar und vergleichbar sein, um sie austauschen bzw. selbst herstellen zu können. Natur wird so herausgefordert, auf Nutzbarkeit hingestellt. In diesem Sinne ist häufig vom »Lego des Lebens«1026 sowie standardisierten Bio-Bau­ steinen die Rede. Und zwar bei den Pionieren der Synthetischen Biologie ebenso wie bei Autoren, die den neuen Möglichkeiten skep­ tisch bis ängstlich gegenüberstehen.1027 Dies ist insofern verständlich, als es zum Arbeitsgebiet Synthetischer Biologen gehört, komplexe biologische Einheiten in kleinere Grundeinheiten (Biobricks) zu zer­ legen, die dann mit Hilfe synthetischer DNA zu neuen Einheiten konstruiert werden. Es wird zum Ausdruck gebracht, dass man mit den Erzeugnissen Synthetischer Biologie ähnlich umgehen kann wie schon Kinder mit Lego-Steinen. Der Umgang ist kinderleicht und die Möglichkeiten sind riesig. Und es kann zum Ausdruck kommen, dass über standardisierte Einzelteile es leichter wird, Vorhersagen und Berechnungen anzustellen. Man kann hier einen Nachklang car­ Diese Unterscheidung scheint Craig Venter nicht geläufig zu sein. Um seine Position zu verdeutlichen, schlägt er nämlich vor, wir sollten uns einmal vorstellen einen Kuchen »aus dem Nichts« zu backen (Venter, J. C.: Leben aus dem Labor. Von der Doppelhelix zum künstlichen Organismus, Frankfurt a. M. 2014, S. 182): Denkbar wäre es, beim Konditor einen Kuchen zu kaufen und diesen anschließend zu verfei­ nern. Möglich wäre es auch, eine Backmischung im Supermarkt zu kaufen und dieser z. B. noch Eier und Butter / Margarine hinzuzufügen. »Mit dem Backen ›aus dem Nichts‹ meint man aber meist, dass man die Einzelzutaten zusammenmischt, bei­ spielsweise Backpulver, Zucker, Salz, Eier, Milch, Backfett und so weiter. […] Wenden wir auf ›Leben aus dem Nichts‹ die gleichen strengen Maßstäbe [an], könnte das bedeuten, dass wir alle erforderlichen Moleküle, Proteine, Lipide, Organellen, DNA und so weiter aus grundlegenden chemischen Verbindungen oder vielleicht sogar aus den Elementen Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Phosphor, Eisen und anderen zusammensetzen.« (A. a. O., S. 182 f.). 1026 Maier, J.: Lego des Lebens, in: Die Zeit, Nr. 32, 30. Juli 2009, S. 27. 1027 So z. B. Seirian Sumner, die die Möglichkeiten, die Synthetische Biologie als »Legoland für Naturwissenschaftler« mit sich bringe, skeptisch und sorgenvoll betrachtet. Vgl. Sumner, S.: Eine synthetische Welt, in: Brockman, J. (Hrsg.): Worüber müssen wir nachdenken? Was die führenden Köpfe unserer Zeit umtreibt, Frankfurt a. M. 22015, S. 46–50. 1025

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tesischer Forschungslogik heraushören, insofern das, was untersucht wird, mit Descartes gesprochen, in »so viele Teile [geteilt werden soll,] wie es angeht und wie es nötig ist, um es leichter zu lösen«1028. Von diesen Kleinstelementen könne man, so Descartes, zu anderen Fragen übergehen, wobei es empfehlenswert sei, Übersichten anzulegen. Im Hinblick auf die Rede von Lego-Teilen bleibt unerwähnt, dass »many of the parts are not well characterized, or work unpredictably in different configurations and conditions«1029. Deutlich wird in der Rede von Lego-Steinen des Lebens noch einmal die Einstellung des Homo faber: Aus kleinen Einheiten kann man selbst etwas bauen. Das Gewachsene soll in den Bereich des Gemachten überführt, Organis­ men aus Moleküleinheiten sollen selbst hergestellt werden. Leben – so wird hier suggeriert – ist ein Kinderspiel. Es funktioniert wie kleine Lego-Bauklötzchen. Diese Rede transportiert die Botschaft, die Rätsel des Lebens verstanden, die Grundmechanismen des Lebendigen im Griff zu haben.1030 Nicht selten sind auch Anthropomorphismen anzutreffen: So findet man beispielsweise Aussagen zu Kommunikation und Koope­ ration von synthetischen wie natürlichen Zellen.1031 Proteine werden kurzerhand als »schlau« bezeichnet.1032 Auch wird beispielsweise unterstellt, Chromosome oder ganze Genabschnitte hätten einen menschlichen Charakter und würden ein Eigenleben führen. Venter personalisiert z. B. das männliche Y-Chromosom: »Mein Y-Chromo­ som machte sich bemerkbar.«1033 Er suggeriert, sein Y-Chromosom würde ein Eigenleben führen: »für alles kann ich das Y-Chromosom verantwortlich machen.«1034 Chromosome tragen aber keine Verant­ wortung, sondern es ist der Mensch, der handelt und für etwas gera­ Descartes, R.: Discours de la méthode, II 8. Zit. nach: van Est, R. / Stemerding, D. (Hrsg.): Making Perfect life. Bio-Engi­ neering (in) the 21st Century. Final Report. European Governance Challenges in BioEngineering, Brüssel 2011, S. 183. 1030 Auch die Rede von »Chassis« ist bezeichnend, wie Leona Litterst treffend ana­ lysiert: Im Bereich der Kraftfahrzeugtechnik werde hiermit das Fahrgestell, im Bereich der Elektrotechnik das Montagegestell bezeichnet. Die Sprache ist eindeutig technisch. (Vgl. Litterst, L.: Neues Leben aus dem Labor. Biowissenschaftliche und ethische Aspekte der Synthetischen Biologie, Wiesbaden 2018, S. 47). 1031 Vgl. z. B. Venter, J. C.: Leben aus dem Labor. Von der Doppelhelix zum künstlichen Organismus, Frankfurt a. M. 2014, S. 191. 1032 Vgl. z. B. a. a. O., S. 214. 1033 Venter, J. C.: Entschlüsselt. Mein Genom. Mein Leben, Frankfurt a. M. 2009, S. 34. 1034 A. a. O., S. 35. 1028

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7.4 Ethische Aspekte der Synthetischen Biologie

destehen kann und sich verantwortlich weiß. An anderer Stelle findet sich folgendes Beispiel: »Sie stellten einen Organismus vor, dessen ursprüngliche DNA […] ersetzt worden war, so dass das synthetische Genom die Kontrolle übernahm.«1035 Auch synthetisch hergestelltes Erbgut kontrolliert den Menschen nicht. Polizisten oder Grenzbeamte üben Kontrolle aus, aber nicht das Erbgut – sei es natürlich oder syn­ thetisch. Hier scheint jedenfalls eine gehörige Skepsis gegenüber der Freiheit menschlicher Akteure mitzuschwingen. Auffallend ist, dass die Debatten über die Arbeit der Synthe­ tischen Biologie von einigen rhetorisch sehr begabten, medienge­ wandten Protagonisten geführt werden, die durchaus provozierend formulieren können.1036 Aufmerksamkeit ist ihnen auf jeden Fall sicher. Doch nicht nur die, denn mit den Zuspitzungen verbinden sich auch Ängste und Ablehnung. Insofern wäre mehr Nüchternheit in den Debatten durchaus wünschenswert. Holge Torgersen und Markus Schmidt rechnen nicht damit, dass über die Synthetische Biologie in ähnlicher Weise diskutiert wird wie über die Gentechnik. Gleichwohl seien auch in Zukunft stärkere Kontroversen nicht auszuschließen, da die ersten Anwendungen ja noch in den Kinderschuhen steckten.

7.4 Ethische Aspekte der Synthetischen Biologie Ethik ist keine »Verbotswissenschaft«, sondern reflektierte praktische Vernunft. Es geht ihr darum, menschliches Handeln zu reflektieren und zu begründen, leitende Maximen zu prüfen. Sie nimmt das Verhältnis des Menschen zur belebten Umwelt in den Blick und fragt danach, wie ein verantwortungsvoller Umgang mit der außer­ menschlichen Natur aussehen und gestaltet werden kann. Ihr geht es darum, wie in unserem Handeln Vernunft und Humanität verwirk­ licht werden können, und unter welchen Voraussetzungen eben nicht. 1035 Aurenque, D.: Natur, Leben und Herstellung: Worin liegt die ethische Heraus­ forderung der Synthetischen Biologie?, in: Dabrock, P. / Bölker, M. / Braun, M. / Ried, J. (Hrsg.): Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zu einer Ethik der Synthetischen Biologie, Freiburg 2011, S. 327–344, hier S. 328. 1036 Helge Torgersen und Markus Schmidt sprechen von einer »Venterisierung« der Debatte über Synthetische Biologie: Torgersen, H. / Schmidt, M.: Perspektiven der Kommunikation für die Synthetische Biologie, in: Weitze, M.-D. / Pühler, A. / Heckl, W. M. / Müller-Röber, B. / Renn, O. / Weingart, P. / Wess, G. (Hrsg.): BiotechnologieKommunikation. Acatech Diskussion, Sankt Augustin 2012, S. 113–154, hier S. 133.

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7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie

Friedemann Voigt sieht »Ethik als Begleitwissenschaft moderner Lebenswissenschaften«1037. Eine Begleiterin sollte sie gewiss sein: Und damit ist wohl auch gemeint, dass die ethische Reflexion nicht immer einen Schritt hinterherhinken, sondern auf Augenhöhe Schritt halten sollte. Sie sollte aber auch – im besten Sinne – vorausschauend sein und nach Folgen technologischer Entwicklungen fragen. Gerade dann, wenn es um so grundlegende Angelegenheiten wie Leben und Natur geht.1038 Im Hinblick auf die ethische Betrachtung der Synthetischen Biologie stellt J. C. Venter folgenden Vergleich an. Er bezieht sich auf Isaac Assimov, der die folgenden drei Gesetze der »Roboterethik« aufgestellt hat: »1. Ein Roboter darf keinen Menschen verletzen oder durch Untätigkeit zu Schaden kommen lassen. 2. Ein Roboter muss den Befehlen eines Menschen gehorchen, es sei denn, solche Befehle stehen im Widerspruch zum Ersten Gesetz. 3. Ein Roboter muss seine eigene Existenz schützen, solange dieser Schutz nicht dem Ersten oder Zweiten Gesetz widerspricht.«1039 Im Hintergrund einer solchen Ethik steht die Annahme, wir hätten es bei Robotern mit Wesen zu tun, die mit Freiheit und Einsicht begabt sind, mit Wesen, die von ihrer eigenen Existenz wissen. Craig Venter ist jedenfalls der Ansicht, diese Gesetze könne man auch auf die Synthetische Biologie übertragen. Man müsse lediglich das Wort »Roboter« durch »synthe­ tische Lebensform« ersetzen. Aber haben synthetische Lebensformen denn Einsicht und Freiheit? Inwiefern »gehorchen« die Erzeugnisse Synthetischer Biologie oder könnte es nicht sein, dass diese dem menschlichen Machtbereich völlig entgleiten? Wie haben wir es uns – gerade auch im Hinblick auf die Umwelt – vorzustellen, dass synthetische Lebensformen ihre Existenz schützen? Und was bedeutet die Erschaffung synthetischer Lebewesen für die nichtmenschliche Natur? Diese Fragen beantwortet Venter nicht.

1037 Voigt, F.: Zur Einleitung, in: Voigt, F. (Hrsg.): Grenzüberschreitungen – Synthe­ tische Biologie im Dialog, Freiburg 2015, S. 11–15, hier S. 14. 1038 Es ist wohl so: »Wo die Ethik keinen gesellschaftlich und rechtlich wirksamen Einspruch erhebt, werden sich die Neugier der Forscher, die wirtschaftlichen Interes­ sen der Industrie und die gespenstischen Entwürfe von Sozialtechnikern durchsetzen.« (Müller, A. W.: »Lasst uns Menschen machen!« Ansprüche der Gentechnik – Einspruch der Vernunft, Stuttgart 2004, S. 9). 1039 Venter, J. C.: Leben aus dem Labor. Von der Doppelhelix zum künstlichen Orga­ nismus, Frankfurt a. M. 2014, S. 212.

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7.4 Ethische Aspekte der Synthetischen Biologie

In den Debatten über Synthetische Biologie findet sich beispiels­ weise die Überzeugung, dass die Schaffung neuer Organismen eine »Gestaltung der Umgebung«1040 darstelle. »Gestaltung« klingt nicht weiter besorgniserregend (wenn wir etwa daran denken, dass wir im ersten Gang von der »Selbstgestaltung« der Organismen gesprochen haben) und scheint gut zur Sonderrolle des Menschen (als Gärtner) zu passen, die ihm aufgrund seiner Vernunft zukommt. In unterschiedlichen Arbeiten findet sich der Hinweis, der Mensch habe immer schon in den Lauf der Natur eingegriffen. Die Strategie ist klar: Es soll argumentiert werden, dass die Synthetische Biologie letztlich nichts anderes sei als die Erfindung der Landwirt­ schaft.1041 Wer wollte denn auf die Landwirtschaft verzichten? Geht denn von den Bauern eine Gefahr für die Zerstörung des Planeten aus? Sind landwirtschaftliche Erzeugnisse nicht gut – also auch das, was die Synthetischen Biologen hervorbringen?1042 Manfred Schartl argumentiert, in der Kulturgeschichte hätte die Weiterzucht von solchen Kühen im Vordergrund gestanden, die die meiste Milch geben, und gerade dies habe zu Herden geführt, die in einer Weise Milch liefern, wie es sonst bei Rindern nicht vorkommt. Es ist richtig, dass die Nutzbarmachung und Veränderung

Gaisser, S. / Reiß, T.: Synthetische Biologie im Spannungsfeld von Forschung, Gesellschaft und Wirtschaft: Von der Notwendigkeit eines interdisziplinären und ergebnisoffenen Dialogs, in: Schartl, M. / Erber-Schropp, J. M. (Hrsg.): Chancen und Risiken der modernen Biotechnologie, Wiesbaden 2014, S. 69–90, hier S. 80. 1041 Schartl, M.: Einführung, in: Schartl, M. / Erber-Schropp, J. M. (Hrsg.): Chancen und Risiken der modernen Biotechnologie, Wiesbaden 2014, S. 6. 1042 Wie die weitreichende genetische Modifikation von Organismen im Alltag aus­ sehen kann, verdeutlicht folgendes Beispiel aus dem Bereich der künstlichen Befruch­ tung von Kühen: »Die Synchronisation der Besamung mit dem Eisprung kann über eine Mikrokapsel aus Cellulosesulfat und dem Polymer Poly-DADMAC erzielt wer­ den, die als Spermiendepot dient. Zusätzlich werden menschliche Zellen mit einem Rezeptor für das luteinisierende Hormon (LH) ausgestattet. Der Rezeptor ist an eine Signalkaskade gekoppelt, an deren Ende die Produktion des Enzyms Cellulase steht. Die derart veränderten Zellen werden nun mit dem Sperma in die Mikrokapsel ver­ packt und in den Uterus von Kühen eingebracht. Der mit dem Eisprung der Kühe einhergehende Anstieg von LH führt zur Aktivierung des LH-Rezeptors der Zelle und zur Genexpression von Cellulase. Dies hat den enzymatischen Abbau der Mikrokapsel zur Folge. Die synchrone Freisetzung der Spermien mit dem Eisprung könnte im Bereich der Tierzüchtung die Zahl der erfolgreichen Befruchtungen deutlich erhöhen.« (Litterst, L.: Neues Leben aus dem Labor. Biowissenschaftliche und ethische Aspekte der Synthetischen Biologie, Wiesbaden 2018, S. 83 f.). 1040

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7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie

der Natur nichts Neues ist. Pflanzen und Tiere wurden gezüchtet, damit Menschen leben und sich ernähren können. »Immer hat der Mensch die Erde transformiert. ›Kultur‹ heißt Acker­ bau, d. h. Symbiose von Natur und menschlicher Arbeit. Aber die Fortdauer der Kultur hängt daran, daß bei dieser Transformation keine irreversiblen Veränderungen des natürlichen Substrats dieser Symbiose vorgenommen werden.«1043

Durch die zur Verfügung stehenden biotechnologischen Möglichkei­ ten ist es z. B. möglich, anders als bei gewöhnlichen Zuchtverfahren, Artgrenzen zu überschreiten, ja die Zugehörigkeit zur Art wird damit zur Frage. Der Eingriff erfolgt auf der Ebene der Erbsubstanz. Auf die Auswahlkriterien, die der Züchter stellt, gibt es eine Resonanz des Organismus, der die DNS-Sequenzen selbst im Laufe der Zeit verändert. Der Zeitfaktor, der dem Organismus dabei zur Verfügung steht, die Veränderungen zu integrieren, unterscheidet sich deutlich von einem durch moderne Biotechnologieverfahren ermöglichten Eingriff. Die Geschwindigkeit der genetischen Veränderungen ist enorm. Die Reichweite des Eingriffs ist eine ganz andere als bei üblichen Zuchtverfahren. Mit Hans Jonas lässt sich argumentieren, dass die planmäßige Schaffung neuartiger Lebewesen durch direkten Eingriff in die gene­ tische Ausstattung etwas anderes ist als die Züchtung tierischer und pflanzlicher Nutzarten: »Die nimmt ihren Weg über die Phänotypen und verläßt sich auf die eigenen Launen der Keimsubstanz. Die natürliche Variabilität der Reproduktion wird dazu benutzt, durch Auslese der Phänotypen über die Generationen dem ursprünglichen Genotyp die gewünschten Eigenschaften abzugewinnen, d. h. diese durch Summierung der klei­ nen, jeweils ›spontanen‹ Abweichungen in die betreffende Richtung zu steigern.«1044

Dies sei, so Jonas, durch Menschenhand gelenkte Evolution: An die Stelle der äußerst langsam arbeitenden Selektionsmechanismen der Natur trete die bewusste Zuchtwahl. 1043 Spaemann, R.: Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik, in: Birnbacher, D. (Hrsg.): Ökologie und Ethik, Stuttgart 1980, S. 180–206, hier S. 195. 1044 Jonas, H.: Technik, Medizin, Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1985, S. 206.

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7.4 Ethische Aspekte der Synthetischen Biologie

»Dennoch bleibt es die Natur, die das Auslesematerial liefert: was da unter des Menschen Hand evolviert, ist die Abart selbst durch ihre eigenen Mutanten, die der Züchter auswählt, und der genetische Zusammenhang mit der Wildform, die Rückkreuzbarkeit mit dieser, reißt in der Regel nicht ab. Der Mensch manövriert also mit dem, was das vorhandene Artenspektrum mit der Streuungsbreite seines Mutantenvorrats und weiteren Mutationen ihm vorgibt.«1045

Bei der Synthetischen Biologie sieht dies anders aus. Hier wird »auf einen Schlag« etwas geschaffen, was es so vorher in der Natur noch nicht gab, und in die Natur entlassen. »Die Änderung eines Buchsta­ bens, die Auswechslung eines Wortes (= Gen), die Hinzufügung eines neuen verändert den Text und startet eine neuartige Erbreihe.«1046 Synthetisch hergestellte »Worte« lassen eine ganz neue Erbreihe starten. Es wird »ethisches Neuland«1047 betreten. Jonas hat seinerzeit von einer »biologische[n] Technik«1048 gesprochen: »Ein neues Können klopft an das Tor des Lebensrei­ ches«1049. Ein klassischer Ingenieur würde mit Hilfe von Werkzeugen und anderen Hilfsmitteln Stoffe gestalten und zu einem bestimmten Nutzen herstellen. Die Natur sei hier ein Objekt der Behandlung; der Mensch trete als Gestalter, als Techniker, eben als Subjekt auf. Ein Charakteristikum biologischer Technik macht er darin aus, vorgefun­ dene Strukturen ändern zu wollen, d. h. es gehe ihr um »Planverände­ rung statt De-novo-Planung«1050. Durch biologische Technik, so zeigt sich Jonas überzeugt, komme aber eine andere Dimension ins Spiel: Hier werde nämlich »umplanend auf die ›Pläne‹ von Lebensarten«1051 eingewirkt. Die Besonderheit liege darin begründet, dass der Techni­ ker es hier nicht mit »totem Stoff« zu tun habe: »[B]iologische Technik ist kollaborativ mit der Selbsttätigkeit eines aktiven ›Materials‹, dem von Natur funktionierenden biologischen System, dem eine neue Determinante einverleibt wird.«1052 Biologische Technik stehe für eine neue Stufe von »Macht«, die allerdings zu entgleiten drohe

1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052

Ebd. A. a. O., S. 207. A. a. O., S. 210. A. a. O., S. 163. A. a. O., S. 162. A. a. O., S. 165. A. a. O., S. 164. A. a. O., S. 165.

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angesichts der »überschießenden Komplexität des Lebendigen«1053. Jene Komplexität bringe es mit sich, dass es auch gar nicht möglich sei, Folgen genau vorherzusehen. Manches sei gar nicht abzusehen, bleibe bestenfalls Spekulation. Zu berücksichtigen sei ferner der Aspekt der Unumkehrbarkeit. Klassische Ingenieurskunst sei in der Lage, Fehler rückgängig zu machen. Auch dann noch, wenn Produkte bereits auf dem Markt seien. Bei Lebewesen sei das anders: Das Herstellen ist hier auf Prozesse des Lebendigen bezogen, wirkt auf diese, verändert sie.1054 Die Synthetische Biologie schickt sich an, eben nicht nur »Planveränderung«, sondern De-novo-Planung zu sein, was Jonas so noch nicht im Blick hatte, was die Problematik jedoch verschärft. Der Zufall spielt in der Natur eine große Rolle, was uns z. B. die Quantentheorie im 20. Jahrhundert und schon die Evolutionsbiologie ein Jahrhundert zuvor vor Augen führen. Doch der Zufall scheint auch etwas Bedrohliches zu haben: Wenn alles von der Natur oder sogar durch den Menschen festgelegt ist, ist man auf »der sicheren Seite«, während der Zufall eben jene Gewissheit nicht zu garantieren scheint. Eine Gesetzmäßigkeit, die vermeintlich Sicherheit verspricht, scheint zu fehlen. Der Zufall scheint eine gewisse Eigenwilligkeit zu haben, die Unbehagen auslöst. Nicht nur Spinoza und andere Denker zu Beginn der Neuzeit, auch noch Albert Einstein im 20. Jahrhundert hat nicht zustimmen wollen, dass Zufall zur Natur gehört. Durch Synthetische Biologie scheint es möglich, den Zufall aus der Natur zu vertreiben und durch eigene Genschöpfungen zu ersetzen. Der Mensch macht sich zum »Meister über die Erbmuster selbst, nicht nur über die Weise ihrer Weitergabe«1055. Prinzipien der Evolution werden seitens der Synthetischen Biologie verdrängt. Dies stellt einen sehr bedenklichen Eingriff in die Natur dar.1056 A. a. O., S. 168 f. »Was getan ist, ist getan. Man kann nicht Personen zurück ins Werk liefern oder Bevölkerungen verschrotten.« (A. a. O., S. 167) Hier scheint noch einmal eine Verbindung zum Homo oeconomicus auf: Auch im Wirtschaften gibt es nach Joseph Alois Schumpeter keinen Weg zurück. Schumpeter, J. A.: Über das Wesen der Wirtschaftskrisen, in: Schumpeter, J. A.: Beiträge zur Sozi­ alökonomik, Wien 1987, bes. S. 239 ff.; zu den Grenzen mechanistischen wie organi­ zistischen Denkens im Bereich des Wirtschaftens: Schumpeter, J. A.: Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, Leipzig 1908, S. 533–539. 1055 Jonas, H.: Technik, Medizin, Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1985, S. 215. 1056 In diese Richtung argumentiert auch Christopher J. Preston. Über die Arbeit der Synthetischen Biologen sagt er Folgendes: »They create organisms that lack significant 1053

1054

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Im Rahmen der ethischen Debatten wird auch das Prinzip Gerechtigkeit in Erinnerung gerufen. Damit ist dann meist die Frage der Verteilung von Risiken, aber auch die Frage verbunden, wer von den Vorzügen der Synthetischen Biologie profitiert (und wer nicht). So geben z. B. Johannes Achatz, Martin O’Malley und Peter Kunzmann Folgendes zu bedenken: »Nicht alle Länder werden sich gleichermaßen Forschung zur Syntheti­ schen Biologie leisten, eine gute Ausbildung garantieren, Infrastruktu­ ren schaffen und qualitativ hochwertige Forschung betreiben können. Gerade die Möglichkeiten der frei zugänglichen BioBricks-Datenbank und der DIY-Charakter Synthetischer Biologie bieten die Chance, eine offene Wissenschaftslandschaft zu etablieren.«1057

Das Bedenken etwaiger Risiken ist ein überaus wichtiges Thema in diesem Zusammenhang. Mit dem englischen Begriff Biosecurity lassen sich solche möglichen Schäden zusammenfassen, die vorsätz­ lich ausgelöst werden. Unter Biosafety sind dann solche Schäden zu sehen, die unbeabsichtigt eintreten können.1058 »Die hauptsächli­ chen Risikobefürchtungen«, so Armin Grunwald, »betreffen zunächst mögliche negative Folgen für Gesundheit und Umwelt durch unge­ wollte Freisetzung synthetischer Organismen (Biosafety). Lebende Systeme könnten aufgrund von Selbstorganisation und Vermehrung in ganz anderer und dramatischer[er] Weise außer Kontrolle gera­ connections to the historical evolutionary process.« (Preston, C.: Synthetic Biology: Drawing a Line in Darwin’s Sand, in: Environmental Values 17 (2008), S. 23–39, hier S. 24) Und über die Gebilde der Synthetischen Biologie heißt es bei ihm: »These new biotic artefacts depart from a core principle of Darwinian natural selection – descent through modification – leaving them with no causal connection to historical evolu­ tionary processes. This departure from the core principle of Darwinism presents a challenge to the normative foundation of a number of leading positions in environ­ mental ethics.« (A. a. O., S. 23) Die Synthetische Biologie stehe (gerade auch im Hin­ blick auf die Gentechnologie) für eine neuartige Verhältnisbestimmung von Gewach­ senem und Gewordenem: »The biotic artefacts produced by synthetic biology depart from nature in a more radical way than anything that has come before.« (A. a. O., S. 36). 1057 Achatz, J. / O’Malley, M. / Kunzmann, P.: Der Stand der ethischen Diskussionen um Synthetische Biologie, in: Köchy, K. / Hümpel, A. (Hrsg.): Synthetische Biologie. Entwicklung einer neuen Ingenieurbiologie? Themenband der interdisziplinären Arbeits­ gruppe Gentechnologiebericht, Berlin 2012, S. 165–190, hier S. 180. 1058 Vgl. Schmidt, M.: Biosicherheit und Synthetische Biologie, in: Pühler, A. / Müller-Röber, B. / Weitze, M.-D. (Hrsg.): Synthetische Biologie. Die Geburt einer neuen Technikwissenschaft, Heidelberg 2011, S. 111.

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ten als klassische technische Systeme.«1059 Welchen Folgen hat es, wenn sich synthetisierte Organismen jenseits der Labore zu entfalten beginnen und auf andere, nichtsynthetisierte Organismen, treffen? Weisen die selbstgeschaffenen synthetisierten Organismen vielleicht in solch einem Fall Eigenschaften auf, die in der Laborperspektive nicht zu erwarten waren? Entwickeln sie möglicherweise gänzlich neue Eigenschaften und Funktionen? Es ist nicht klar, welche Fol­ gen für die Sicherheit Organismen haben können, die ein Genom aufweisen, das noch niemals in einem biologischen Organismus existiert hat bzw. neue Funktionen übernehmen kann, die in der Natur jenseits der Labormauern nicht vorkommen.1060 Wolf-Michael Catenhausen jedenfalls redet das von der Synthetischen Biologie ausgehende Risikopotential klein. Sie sei »keine Risikotechnologie, es wird auch sichere und erwünschte Anwendungsfelder geben«1061. Der aufmerksame Leser dürfte jedenfalls über das Wörtchen »auch« zumindest stutzig werden. Nach Jonas kann eine vorausgedachte Gefahr gewissermaßen als Kompass dienen: »In ihrem Wetterleuchten aus der Zukunft, 1059 Grunwald, A.: Synthetische Biologie: Gesellschaftliche Verantwortung der Wis­ senschaft, in: Pühler, A. / Müller-Röber, B. / Weitze, M.-D. (Hrsg.): Synthetische Biologie. Die Geburt einer neuen Technikwissenschaft, Heidelberg 2011, S. 103–109, hier S. 104. 1060 »A further concern relates to unknown risks to the environment and public health, determined by unexpected interactions between synthetic microorganisms and the environment or other organisms in it. Horizontal gene transfer and its potential impact to the balance of the ecosystems, or the interaction of synthetic microorgan­ isms with naturally-occurring substances or unforeseen evolution of synthetic biology agents are all risks that may derive from the non contained use of synthetic biology agents or from inadvertent presence of the organisms in the environment.« (The European Group on Ethics in Science and New Technologies to the European Com­ mission: Ethics of synthetic biology, Brussels, 17. November 2009, https://ec.europ a.eu/info/publications/ege-opinions_en (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022), S. 49). 1061 Catenhusen, W.-M.: Synthetische Biologie und gesellschaftliche Verantwortung, in: Deutscher Ethikrat (Hrsg.): Werkstatt Leben. Bedeutung der Synthetischen Biologie für Wissenschaft und Gesellschaft. Tagungsdokumentation, Berlin 2013, S. 123–126, hier S. 124. Nach F. Voigt kann »ein sehr tiefer Eingriff wie etwa das Einfügen eines dritten Basen­ paares zu einer Reduktion bzw. Verhinderung der komplexen Organismus-UmweltInteraktion eingesetzt werden (genetische Firewall), was zu einer Steigerung von Sicherheit (bzw. Minderung von Risiko) führen kann […].« (Voigt, F. (Hrsg.): Stu­ fenmodell zur ethischen Bewertung der Synthetischen Biologie, Baden-Baden 2017, S. 57).

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im Vorschein ihres planetarischen Umfanges und ihres humanen Tiefganges, werden allererst die ethischen Prinzipien entdeckbar, aus denen sich die neuen Pflichten neuer Macht herleiten lassen.«1062 In diesem Sinne sind mit der Synthetischen Biologie verbundene Sicherheitsfragen in den Blick zu nehmen. Dies lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen: Der Komplettnachbau der 185.000 Basen­ paare Erbsubstanz des Pockenvirus erscheint heute durchaus möglich. Und was möglich ist, wird, wie wir sattsam wissen, auch versucht, in die Tat umzusetzen. So ist es dann auch im Jahre 2006 einem Journalisten geglückt, ohne größere Probleme als Privatmann bei einer Firma ein Fragment des Pockenvirus zu ordern.1063 Ganz offen­ sichtlich gab es hier Sicherheitslücken. Grundsätzlich ließe sich auch ein Virus wie Covid-19 nachbauen, der die Welt schon einmal in Angst und Schrecken versetzt hat. Man könnte diesen Virus auch noch gefährlicher machen. Aber allein die Tatsache, dass wir es im Bereich der Synthetischen Biologie mit neuen biologischen Realitäten zu tun haben, macht deutlich, dass Vorsicht angebracht ist. So konnten z. B. Fouchier, Imai und ihr Team zeigen, dass man die Eigenschaften von Vogelgrippevi­ ren vom Typ H5N1 derart ändern kann, dass das Vogelgrippevirus nicht mehr nur noch zwischen Vögeln übertragen werden kann, sondern auch zwischen Säugetieren.1064 Ein solches beeindruckendes Forschungsergebnis kann allerdings sehr schnell auch zu einer durch­ schlagenden und gefährlichen Waffe werden, die gegen eine ganze Bevölkerung gerichtet werden und weltweite Folgen für das Leben von Menschen haben kann. 1062 Jonas, H.: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1984, S. 7. 1063 Vgl. Epping, B.: Leben vom Reißbrett – ein bisschen zumindest, in: Spektrum der Wissenschaft, Nov. 2008, S. 82–90, hier S. 86. »Eine australische Untersuchung am Mäusepocken-Virus, das dem Pockenvirus, das den Menschen befällt, ähnelt, legt beispielsweise nahe, dass Wissenschaftler die Pockenviren nicht nur wieder nachbilden, sondern dass sie sie auch potenter machen können. Theoretisch kann diese Entwicklung bis hin zur Schaffung vollkommen neu­ artiger Krankheitserreger gehen.« (Kaebnick, G. E.: Ethische Fragen zur Synthetischen Biologie, in: Boldt, J. / Müller, O. / Maio, G. (Hrsg.): Leben schaffen? Philosophische und ethische Reflexionen zur Synthetischen Biologie, Paderborn 2012, S. 52–64, hier S. 53). 1064 Dieses Beispiel verdanke ich Hacker, J. / Kumm, S.: Synthetische Biologie im Dialog – Leben, in: Voigt, F. (Hrsg.): Grenzüberschreitungen – Synthetische Biologie im Dialog, Freiburg 2015, S. 19–32, hier S. 27.

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Die modulare Auffassung des Lebens birgt ein gewisses und nicht leicht wegzudiskutierendes Gefahrenpotential in sich, insofern es naheliegend zu sein scheint, bestimmte Komponenten auszutauschen und durch andere zu ersetzen – und das nicht nur im »Namen der Wis­ senschaft«, sondern auch aus überaus unlauteren Motiven. Denkbar wäre auch die Konstruktion pathogener Bakterien. Wir können dies natürlich weiterspinnen, wenn wir an Terroristen denken, die sich der Synthetischen Biologie bedienen, um ihre Ziele durchzusetzen.1065 Dirk Lanzerath hat jedenfalls Recht, wenn er sagt: »In dem Moment, wo aber die Synthese auf der Ebene von höhe­ ren Organismen oder unter Integration von neuralen Substraten erfolgt, ergeben sich weitreichende gesellschaftliche Folgen, an die sich verschiedene ethische Fragen anschließen. […] Das militärische For­ schungsprogramm ›Hybrid Insect Micro-Electro-Mechanical Systems (HI-MEMS)‹, auch ›cybug program‹ genannt, [beabsichtigt,] Insekten über bioelektronische Schnittstellen ferngesteuert für Aufklärungsar­ beiten einzusetzen […]. Mit cyborgartigen Neoorganismen wie chip­ besetzten Käfern oder aber auch mit Elektroden versehenen Ratten zur Suche nach Verschütteten […] werden Lebewesen erschaffen, für die jegliche praktische Erfahrung fehlt, wie mit ihnen umgegangen werden soll.«1066

Venter schreibt: »Zwar kann man sich ›gefährliche‹ DNA-Sequenzen von Viren verschaffen, aber dann ist es noch ein langer Weg, bis man sie im Labor erfolgreich gezüchtet hat.« (Venter, J. C.: Leben aus dem Labor. Von der Doppelhelix zum künstli­ chen Organismus, Frankfurt a. M. 2014, S. 218). In der Stellungnahme der Europäischen Gruppe für Ethik in Naturwissenschaften und neuen Technologien bei der Europäischen Kommission wird zur Verhinderung von Ter­ rorakten bzw. militärischer Aktionen die Einrichtung einer zentralen Datenbank auf EU- oder internationaler Ebene vorgeschlagen. DNA-Synthesizer seien dort zu regis­ trieren, Forscher(-gruppen), die im Bereich der Biosicherheit und Bioverteidigung arbeiten, sollten dort erfasst werden. The European Group on Ethics in Science and New Technologies to the European Commission: Ethics of synthetic biology, Brussels, 17. November 2009, S. 52. – In der gemeinsamen Stellungnahme der DFG, acatech und der Leopoldina wird die Einrichtung standardisierter Datenbanken zur Überprü­ fung von DNA-Sequenzen empfohlen. An diese könnten sich dann Unternehmen wenden, wenn dort zweifelhafte Anfragen eingehen. https://www.acatech.de/publikation/stellungnahme-synthetische-Biologie (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). Siehe hierzu auch den Sachstandsbericht: Lanzerath, D. / Illig, T. / Bernemann, I. / Hoppe, N. / Robienski, J.: Humanbiobanken, Freiburg / München 2020. 1066 Lanzerath, D.: Synthetische Biologie, in: Sturma, D. / Heinrichs, B. (Hrsg.): Handbuch Bioethik, Stuttgart / Weimar 2015, S. 406–414, hier S. 411. 1065

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Das, was Synthetische Biologen machen, betrifft nicht nur die Arbeit im eigenen Labor, sondern hat Auswirkungen für die gesamte Gesell­ schaft. Durch die Synthetische Biologie ist es langfristig gesehen möglich, das Angesicht der Biosphäre und unseren Umgang mit dem Lebendigen zu verändern. Entscheidungen, die im Hinblick auf die Synthetische Biologie getroffen werden, haben weitreichende Konse­ quenzen und können das Wesen des Menschen, anderer Lebewesen und der Natur als Ganzer für immer in tiefgreifender Weise verän­ dern.1067 Daher stehen Ethik, Wissenschaft, Politik, Gesellschaft und natürlich die Synthetische Biologie selbst in besonderer Weise in Ver­ antwortung. Fragen der Verantwortung könnten, so Grunwald, nicht von einzelnen Wissenschaftlern beantwortet werden. Nur arbeitstei­ lig sei es möglich, Verantwortung zu übernehmen. Für die Syntheti­ sche Biologie und ihre Konsequenzen heißt dies zum Beispiel: »Die Synthetische Biologie hat in einem ›Konzert‹ der Verantwor­ tungsträger zwar einen besonderen Platz, weil ihr spezifisches Fach­ wissen durch andere Beteiligte nicht ersetzt werden kann. Sie spielt jedoch nur ein Instrument unter vielen. Andere Beteiligte sind zum einen weitere Wissenschaften wie Ethik, Risikoforschung und Technik­ folgenabschätzung, Governance- und Wissenschaftsforschung und, sobald die Entwicklung so weit fortgeschritten ist, auch die Innovati­ onsforschung.«1068

Die Verknüpfung von organismischen Strukturen und moderner Technik geschieht heute bereits auf unterschiedlichen Wegen und Ebenen: sei es im Hinblick auf einzelne Zellen, um Gene zu regulieren, aber auch auf der Ebene von Organen, wie etwa dem Enzephalon. Möglich ist es auch, Bewegungen von Insekten, die zudem mit Kameras ausgestattet werden können, zu beeinflussen, was ganz neue Facetten der Überwachung wie auch der Kriegsführung mit sich bringt: »The DragonflEye backpack is designed to navigate autonomously without wireless control, harvest energy from the environment for extended operation, and is a fraction of the weight for smaller insects.« (Ackerman, E.: DragonflEye project wants to turn insects into cyborg drones, in: https://spectrum.ieee.org/automaton/robotics/industrial-robots/draper-drago nfleye-project, zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 1067 »Es wird eine Eingriffstiefe in die molekularen Grundlagen von Lebensprozessen angestrebt, die weit über den aus der Gentechnik bekannten Transfer einzelner Gene von einem Organismus zum anderen hinaus geht.« (Boldt, J.: Synthetische Biologie und das alte Gespenst der Gentechnik, in: Boldt, J. / Müller, O. / Maio, G. (Hrsg.): Leben schaffen? Philosophische und ethische Reflexionen zur Synthetischen Biologie, Paderborn 2012, S. 9–15, hier S. 11). 1068 Grunwald, A.: Synthetische Biologie: Technikzukünfte im Kontext von ›Responsible Research and Innovation‹ (RRI), in: Achatz, J. / Knoepffler, N. (Hrsg.):

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Es ist gar nicht einfach zu bestimmen, was die Erzeugnisse der Synthetischen Biologie denn nun sind: Sie können ja wachsen, sich verändern. Von einer »Würde« dieser Wesen zu sprechen, muss philosophisch als äußerst fragwürdig erscheinen. Sie können sich nicht am Sittengesetz orientieren, sind insofern nicht autonom und können auch keine Pflichten übernehmen, weshalb die Rede von einer Würde nicht weiterführend ist. Aber man kann für einen besonderen Schutzstatus argumentieren. Zur Diskussion, womit wir es da eigentlich in den Forschungs­ laboren der Synthetischen Biologie zu tun haben, gehört auch die Frage, ob die bisherigen Definitionen, was ein genetisch veränderter Organismus (GVO) ist, noch greifen. Bestandteil einschlägiger GVODefinitionen1069 sind der Hinweis auf die Fähigkeit zur Reproduktion und die Möglichkeit der Übertragbarkeit von genetischem Material. Während die Arbeiten Venters, welche ein synthetisches Genom in eine entkernte Zelle übertragen, unter diese Definition fallen würden, ist es anders zu bewerten, wenn die (Proto-)Zelle, in die etwas über­ tragen wird, ebenfalls einer synthetischen Erzeugung verdankt ist.1070 Meines Erachtens könnte in dem Fall aber argumentiert werden, dass auch hier noch das Gewachsene Vorbild für das Gemachte bleibt. Wird Lebensformen – Leben formen. Ethik und Synthetische Biologie, Kritisches Jahrbuch der Philosophie Beiheft 11/2014, Würzburg 2014, S. 37–53, hier S. 53. In der im Jahre 2009 vorgelegten Stellungnahme der Europäischen Gruppe für Ethik in Naturwissenschaften und neuen Technologien bei der Europäischen Kommission unter der Überschrift Ethics of synthetic biology wird Bezug genommen auf den Gedanken der Menschenwürde. (The European Group on Ethics in Science and New Technologies to the European Commission: Ethics of synthetic biology, Brussels, 17. November 2009) Dort heißt es: »As for other new technologies, synthetic biology must respect the international frame on ethics and human rights […] and in particular the respect of human dignity, which is conceived as not only a fundamental right in itself but ›the real basis of fundamental rights‹.« (A. a. O, S. 48) Weiter ausgeführt wird der Bezug auf den Gedanken der Menschenwürde leider nicht. Es sei im Sinne der Nachhaltig­ keit, die Herstellung von Bakterien voranzutreiben, um alternative Brennstoffe bereit­ zustellen. (A. a. O., S. 50) Bedenklich sei nach Ansicht der Gruppe die steigende Zahl der Vergabe von Patenten für Erzeugnisse der Synthetischen Biologie, wodurch die eigentliche Funktion von Patenten – nämlich gewisse Anreize zu schaffen für die For­ schung – aufs Spiel gesetzt werde. (A. a. O., S. 53 f.). 1069 Vgl. 2009/41/EG und 2001/18/EG. 1070 Vgl. Sauter, A. / Albrecht, S. / van Doren, D. / König, H. / Reiß, T. / Trojok, R.: Synthetische Biologie – die nächste Stufe der Bio- und Gentechnologie, Büro für Tech­ nikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB), TAB-Arbeitsbericht Nr. 64, Berlin 2015.

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ein Genom vollständig synthetisch hergestellt, bleibt das natürliche Genom der Bezugspunkt. Es wird aber nicht einfach nur kopiert, sondern derart verändert, dass es beispielsweise statt 64 Codons aus den Basen Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin lediglich 61 Codons aufweist, ein Umbau also vorliegt, den es so in der Natur tatsächlich nicht gibt.1071 Die Folgen sind nicht absehbar. Eine wichtige Frage im Hinblick auf die ethischen Aspekte der Synthetischen Biologie ist die nach dem moralischen Status der synthetisch hergestellten Entitäten.1072 Ein Mikroorganismus aus den Laboren der Synthetischen Biologie wird von Grund auf den Interessen des Menschen entsprechend hergestellt. Anders als beim Züchten von Tieren wird nicht geformt, sondern Leben konstruiert. Die Fokussierung auf die Frage nach dem Status reiche allein freilich nicht, wie Grunwald argumentiert. »Selbst wenn die Objekte der Synthese keinen moralischen Status zuerkannt bekommen würden, wäre bereits der technische Umgang mit ihnen, also das Hineinlegen menschlich gesetzter Zwecke in die technischen Anordnungen der Grundbausteine des Lebens, unter ethi­ schen Aspekten zu diskutieren, noch mehr allerdings mögliche Folgen für Umwelt und Gesundheit.«1073

Doch greifen wir die Frage einmal auf! Wenn eben jene durch Men­ schenhand geschaffenen synthetischen Erzeugnisse Gemeinsamkei­ ten mit natürlichen Lebewesen aufweisen, dann besteht analog auch ein Verhältnis der Verantwortung des Menschen gegenüber synthe­ tisch entstandenen Einheiten. Wie der Mensch für natürliche Wesen Verantwortung hat, übernimmt er sie auch für das, was er geschaffen hat. Es kann argumentiert werden, dass insofern synthetische Lebe­

1071 Vgl. Fredens, J. / Wang, K. / de la Torre, D. / Funke, L. F. H. / Robertson, W. E. / Christova, Y. / Chia, T. / Schmied, W. H. / Dunkelmann, D. L. / Beránek, V. / Uttamapinant, C. / Gonzalez Llamazares, A. / Elliot, T. S. / Chin, J. W.: Total synthesis of Escherichia coli with a recoded genome, in: Nature, Vol. 569, 23. Mai 2019, S. 514– 518. 1072 Gleichwohl gilt folgende Feststellung von Johannes Achatz: »Ethische Bewertung muss jedoch auch dann schon möglich sein, wenn noch nicht vollständig geklärt wer­ den konnte, was die Erzeugnisse Synthetischer Biologie eigentlich sind.« (Achatz, J.: Synthetische Biologie und ›natürliche‹ Moral. Ein Beschreibungs- und Bewertungszu­ gang zu den Erzeugnissen der Synthetischen Biologie, Freiburg / München 2013, S. 13). 1073 Grunwald, A.: Auf dem Weg in eine nanotechnologische Zukunft. Philosophischethische Fragen, Freiburg / München 2008, S. 214.

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wesen einen »Lebensdrive«, eine innere Struktur, haben, sie auch einen Eigenwert haben.1074 Nikolaus Knoepffler und Kathleen Börner schlagen ein Modell der Differenzierung vor. Auf der untersten Ebene stehen demnach einfachste Formen synthetischer Lebewesen. Graduell höher stehen pflanzenähnliche Formen und noch einmal höher solche, die einfa­ chen Tieren ähnlich sind.1075 So wie man einem Hund anders begegne als etwa einem Grashalm oder einem Bakterium, so sei es auch im Hinblick auf die Erzeugnisse der Synthetischen Biologie wichtig, Unterscheidungen vorzunehmen. »Gehen wir […] davon aus, dass ein den einfachen Tieren ähnliches synthetisches Lebewesen eben­ falls, wenn auch nur ansatzweise, solche komplexe Empfindungen und Präferenzen hat, so hat es von diesen immer noch mehr als ein den Pflanzen ähnliches und erst recht als ein einfaches synthe­ tisches Lebewesen.«1076 Als Konsequenz hieraus ergäbe sich, den Eigenwert der betroffenen synthetischen Lebewesen gemessen an ihrer Komplexität zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund spre­ chen die beiden Autoren von einer ethischen Pflicht, synthetische Lebewesen zu erzeugen, wenn diese dem Wohl des Menschen (z. B. therapeutisch) dienen. »Diese Pflicht steigert sich entsprechend der therapeutischen Wirksamkeit im weitesten Sinn (z. B. auch Hunger­ bekämpfung, Entsorgung von Umweltgiften usw.) und entsprechend der therapeutischen Notwendigkeit.«1077 Nicht vertretbar seien solche Vorhaben, bei denen die Risiken nicht abzusehen seien bzw. die Gefahren schlichtweg zu groß und die therapeutischen Erfolge für den Menschen zu gering seien. 1078 Die Erzeugnisse aus den Laboren Synthetischer Biologie haben also für Knoepffler und Börner einen Eigenwert, was aber nicht bedeute, dass sie nicht vom Menschen in Dienst genommen werden dürften. 1074 Insofern es sich um Lebewesen handle, so das Argument der Eidgenössischen Ethikkommission für die Biotechnologie im Außerhumanbereich (EKAH), komme den Erzeugnissen Synthetischer Biologie auch ein Eigenwert zu. Es sei im Hinblick auf den moralischen Status unerheblich, wie ein Lebewesen entstanden ist. Vgl. Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Außerhumanbereich (EKAH) (Hrsg.): Synthetische Biologie. Ethische Überlegungen, Bern 2010, S. 15 ff., 28. 1075 Knoepffler, N. / Börner, K.: Die Würde der Kreatur und die Synthetische Biologie, in: Boldt, J. / Müller, O. / Maio, G. (Hrsg.): Leben schaffen? Philosophische und ethi­ sche Reflexionen zur Synthetischen Biologie, Paderborn 2012, S. 137–152, bes. S. 144. 1076 A. a. O., S. 145. 1077 A. a. O., S. 149. 1078 A. a. O., S. 149 f.

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7.4 Ethische Aspekte der Synthetischen Biologie

Nikolaus Knoepffler und Martin O’Malley betonen, dass es hin­ sichtlich des gesellschaftlichen Umgangs mit der Synthetischen Biolo­ gie wichtig sei, unterschiedliche Interessengruppen zu Wort kommen zu lassen, um Engführungen sowie Lagerbildungen mit verhärteten Kriegsfronten in den Debatten zu vermeiden. Sie heben die Bedeu­ tung von Konfliktentschärfung und das gemeinsame Suchen nach Lösungen für den gesellschaftlich-politischen Diskurs immer wieder hervor. Man könne strukturelle Elemente des Konfliktmanagements übernehmen. Sie denken hier an den Mutual Gains Approach (MAG). Worum es geht, wird schon in der Wendung Mutual Gains deutlich: nämlich Gewinne für unterschiedliche Interessenparteien. »Der wer­ teorientierte Ansatz fokussiert darauf, mögliche Lösungsstrategien zu entwickeln, um den größtmöglichen Wert für alle beteiligten Parteien und alle betroffenen Personen zu realisieren.«1079 Es sei wichtig, unterschiedliche Interessenparteien dafür zu gewinnen, sich an einen Tisch zu setzen, um über die anstehenden Fragen gemeinsam zu spre­ chen. So hätten alle Betroffenen mehr Vorteile, als wenn sie sich nicht auf ein gemeinsames Gespräch einlassen würden und sich von vorne­ herein einer Lösung sperren. Unverrückbare Grundkonstanten seien dabei die Vorstellung von Menschenwürde sowie ein »nachhaltiger, achtungsvoller Umgang mit der Mit- und Umwelt andererseits«1080. Alle Handlungen seien daraufhin einer Prüfung zu unterziehen, »ob sie in der betreffenden Situation den größtmöglichen Wert realisie­ ren«1081. Im Fokus der beiden steht eindeutig der angezielte Konsens und ökonomische Wert, weniger die Frage, was wahr und gut ist. Anders gesagt: Es scheint offensichtlich vorrangig um gemeinsame Konfliktlösungen zu gehen, aber nicht darum, ob eine Handlung tugendhaft ist oder den Ansprüchen des kategorischen Imperativs genügt. In diesem Sinne »spielen die Interessen der am Diskurs Beteiligten eine zentrale Rolle«1082. Was ist aber z. B. mit jenen, die ihre Interessen noch gar nicht artikulieren können, etwa weil sie noch nicht geboren wurden? Wer steht für diese Interessen ein? Und stehen ökonomische Interessen auf derselben Ebene wie wissenschaftliche Knoepffler, N. / O’Malley, M.: Synthetische Biologie – Ethische Überlegungen, in: Achatz, J. / Knoepffler, N. (Hrsg.): Lebensformen – Leben formen. Ethik und Syn­ thetische Biologie, Kritisches Jahrbuch der Philosophie Beiheft 11/2014, Würzburg 2014, S. 55–69, hier S. 56. 1080 A. a. O., S. 57. 1081 Ebd. 1082 A. a. O., S. 58. 1079

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7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie

Interessen oder Fragen der Sicherheit? Wenig konkret heißt es: »Dabei ist vielleicht überraschend, dass bei aller Verschiedenheit der Interessen und der mit diesen Interessen verbundenen Werte doch praktisch alle Beteiligten eine ethische Perspektive teilen, wonach Menschen zu schützen und in ihren Rechten ernst zu nehmen sind sowie die Natur und damit auch die Pflanzenwelt Berücksichtigung verdienen.«1083 Was macht die Autoren da so sicher? »Es darf davon ausgegangen werden«, so Knoepffler und O’Malley, »dass sich in den deutschsprachigen Ländern die meisten an der Debatte beteiligten Personen dem Prinzip der Menschenwürde verpflichtet sehen«1084. »Die meisten« sind aber eben nicht alle. Wie es in den anderen Ländern aussehen könnte und wie Menschenwürde begründet wird, wird offengelassen. Knoepffler und O’Malley betonen immer wieder, wie wichtig die Berücksichtigung der Interessen jener am Diskurs Beteiligten sei.1085 Sollte man nicht eigentlich davon ausgehen, dass die Frage danach, was vernünftig ist, wichtiger sei als die Befriedigung unterschiedlicher Interessen? Die Frage, was moralisch geboten und verboten ist, wird in diesem Kontext dann auch nicht gestellt. Einen Konsens der Interessen machen die beiden Autoren darin aus, »dass die Herstellung synthetisch erzeugter Organismen ethisch unzulässig ist, wenn beispielsweise das mit der Menschenwürde verbundene Recht auf körperliche Unversehrtheit dabei verletzt wird. Umgekehrt könnte sich die Durchführung von Verfahren der Syn­ thetischen Biologie sogar als moralisch geboten darstellen, wenn sie einem menschenwürdigen Dasein entgegenkäme.«1086 Letzteres wird umgehend erläutert: »Zu einem menschenwürdigen Dasein gehört beispielsweise auch unternehmerischer Erfolg, der Arbeits­ plätze schafft.«1087 Knoepffler und O’Malley empfehlen, Einzelfälle zu prüfen, »anstatt von vornherein der Synthetischen Biologie als Ganzer eine Sonderrolle zuzusprechen«1088. Skeptisch beurteilen sie es, auf mög­ liche Risiken zu verweisen. Wer dies tue, vertritt ihrer Ansicht nach »meist die nicht mehr verhandelbare Position des ›nein‹ zur Synthe­ 1083 1084 1085 1086 1087 1088

Ebd. Ebd. Ebd. A. a. O., S. 58 f. A. a. O., S. 59. Ebd.

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7.4 Ethische Aspekte der Synthetischen Biologie

tischen Biologie als einer zu gefährlichen neuen Technik«1089. Aber: Ist es nicht eine Frage der Redlichkeit, Risiken kritisch in den Blick zu nehmen? Und würden etwaige Risiken nicht die von Knoepffler und O’Malley vorausgesetzten Grundannahmen wie Menschenwürde, Wert des guten Lebens sowie den nachhaltigen Umgang mit der Mitund Umwelt tangieren? Sollten um des lieben Friedens willen Risiken besser verschwiegen oder kleingeredet werden? Gleichwohl wissen die Autoren, dass gerade bei einer neuen Technologie menschliche Fehler niemals ausgeschlossen werden können.1090 Sie sagen daher: »Für die Synthetische Biologie besteht […] die gemeinsame Option darin, sich auf Kriterien für Biosafety und Biosecurity zu einigen und so der Forschung einen bestimmten Freiraum zu eröffnen. [….] Mit Hilfe von effektiven Monitoringsystemen könnte gewährleistet werden, dass sich diese Organismen nicht unkontrolliert vermehren (Biosafety). Auch könnten Maßnahmen abgestimmt sein, die einen Mißbrauch dieser veränderten Organismen zu terroristischen Zwecken verhindern (Biosecurity).«1091

Es kennzeichne einen »wertorientierten Zugang«, für alle Beteiligten »einen möglichst hohen Wert zu erzielen«1092. Es sei für Industrien wie einzelne Wissenschaftler unumgänglich, die Interessen anderer Gruppen zu berücksichtigen, um nicht – jetzt scheint doch die Furcht ins Spiel zu kommen – »mittelfristig die politische Unterstützung [zu] verlieren und damit auch [die] vielfältigen Interessen nicht mehr realisieren [zu] können«1093. Dies bedeutet für die beiden Autoren konkret, Forschungsfreiheit und Anwendungsmöglichkeiten zu gewährleisten sowie die Allgemeinheit an den Vorteilen der Syn­ thetischen Biologie partizipieren zu lassen. Eine Lösung sei nicht in Sicht, »wenn die Allgemeinheit nur die Risiken zu tragen hat, aber nicht von den Vorteilen profitiert«1094. So sympathisch und klug der Vorschlag von Knoepffler klingen mag, scheint er – obgleich er an »Menschenwürde« und »Menschen­ rechten« klar festhält (und insofern für Knoepffler und O’Malley gerade nicht alle ethischen Werte auf derselben Ebene stehen) – doch 1089 1090 1091 1092 1093 1094

Ebd. Vgl. a. a. O., S. 63. A. a. O., S. 66. A. a. O., S. 63. A. a. O., S. 64. A. a. O., S. 66.

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7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie

in das Fahrwasser des Relativismus zu geraten. Für den Ansatz spricht m.E., dass Fairness und ein konstruktiver Umgang als wichtig in Erin­ nerung gerufen werden. Dies kann gerade für den gesellschaftlichpolitischen Dialog über brisante Fragen von Bedeutung sein. Ande­ rerseits scheint es letztlich vor allem auf die Verwirklichung (eigener) Interessen anzukommen. Der Gesprächspartner ist dann lediglich jemand, »mit dessen Hilfe man möglicherweise seine eigenen Inter­ essen besser verstehen lernt und dadurch auch eigene Optionen sicht­ bar werden«1095. Die Frage, ob Forschungsprojekte, Konsequenzen und Prinzipien richtig oder nicht richtig sind, ist bedingt durch die Interessen der Debattenteilnehmer. Und für diese kann keine allge­ meine Geltung veranschlagt werden. Die Überzeugungen und Ziele der Diskursteilnehmer können sich durchaus widersprechen (was die Autoren wohl kaum bestreiten werden) und demnach nicht alle wahr sein. Doch die Verwirklichung von Interessen, der (auch finanziell zu verstehende) »Zugewinn für alle Beteiligten«1096 scheint letztlich gewichtiger zu sein als die Frage danach, was letztlich moralisch gebo­ ten und verboten ist.

7.5 Wiederkehr der Neandertaler und Umsiedlung von etwaigen Marsbewohnern? Werden irgendwann in den Zoos dieser Welt rekonstruierte Mam­ muts und Säbelzahntiger zu bewundern sein? Folgende Überlegung wird vorgebracht, wenn von Synthetischer Biologie die Rede ist: Gelänge es, die Erbinformation dieser Tiere zu sequenzieren, wäre es durchaus möglich, die DNA im Prinzip nachzubauen. »Der Vergleich mit den DNA-Sequenzen von Elefanten zeigte, dass Wollhaarmammuts ein klein bisschen enger mit dem Asiatischen als mit dem Afrikanischen Elefanten verwandt sind. Vor rund sieben Millionen Jahren und damit ungefähr zur selben Zeit, als sich die Vorfahren des Menschen von den Vorläufern der Schimpansen abspal­ teten, trennten sich auch die Wege der verschiedenen Elefantenahnen. Allerdings entwickelten sich die Dickhäuter langsamer weiter als die

1095 1096

A. a. O., S. 68. A. a. O., S. 69.

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7.5 Wiederkehr der Neandertaler und Umsiedlung von etwaigen Marsbewohnern?

Hominiden, sodass die Sequenzen von Mammuts und Elefanten noch immer zu 99,4 Prozent identisch sind.«1097

Nach Ansicht des deutschen Biochemikers Stephan Schuster, der sich der Analyse des Mammutgenoms gewidmet hat, gibt es etwa 400.000 Unterschiede in der Gensequenz von Elefanten und Mam­ muts. Wenn man diese ausmachen könnte, wäre es möglich, dass das Mammut seine Auferstehung feiert.1098 Über eine solche Entwicklung würde sich auch George Church freuen. Er hat ein Buch mit dem bezeichnenden Titel Regenesis vorge­ legt.1099 Auf dem Cover ist ein Mammut zu sehen. Das Genom eines Mammuts sei, so Church, im Wesentlichen rekonstruiert. »[T]he genetic information that defines those animals exists, is known, and is stored in computer databases. The problem is to convert that information – those abstract sequences of letters – into actual strings of nucleotides that constitute the genes and genomes of animals in question.«1100 Der Weg zum Mammut, so die Überlegung von George Church, führe über die DNA einer Elefantenkeimzelle. »You could start […] with an elephant’s genome and change it into a mammoth’s. First you would break up the elephant genome into about 30.000 chunks, each about 100.000 DNA units in length. Then, by using the mammoth’s reconstructed genome sequence as a template, you would selectively introduce the molecular changes necessary to make the elephant genome look like that of the mammoth.«1101

Es komme laut Church darauf an, die Stammzellen eines Elefanten umzuprogrammieren, wozu man – so die Theorie – auf synthetische DNA-Stränge zurückgreifen kann. Die Sequenzen des Elefantenge­ noms müssten durch die künstliche Mammutsequenz ersetzt werden.

1097 Fritsche, O.: Die neue Schöpfung. Wie Gen-Ingenieure unser Leben revolutionie­ ren, Bonn 2013 (Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung), S. 40 f. 1098 Anfang des neuen Jahrtausends hatten auch schon Ian Wilmut und Keith Camp­ bell über das Klonen von Mammuts nachgedacht. Die Rekonstruktion eines Mam­ muts, so ihr Urteil damals, sei möglich, wenn man lebensfähiges Gewebe ausfindig machen könnte. (Vgl. Wilmut, I. / Cambell, K. / Tudge, C.: Dolly. Der Aufbruch ins biotechnische Zeitalter, München 2002, S. 309). 1099 Church, G. / Regis, E.: Regenesis. How Synthetic Biology Will Reinvent Nature and Ourselves, New York 2014. 1100 A. a. O., S. 11. 1101 Ebd.

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»All of the revised chunks would then be reassembled to constitute a newly engineered mammoth genome, and the animal itself would then be cloned into existence by conventional interspecies nuclear transfer cloning (or perhaps another method, the blastocyst injection of whole cells).«1102 Den umprogrammierten Zellen müssten also die Kerne entnommen werden. Diese enthalten das mammutisierte Erb­ gut, welches dann im nächsten Arbeitsgang in eine entkernte Eizelle eines Elefanten injiziert werden und einer (asiatischen) Elefantenkuh eingesetzt werden müsste. Wenn das alles ginge, könnte 87 Wochen später ein kleines Mammut das Licht der Welt erblicken.1103 Das mag faszinierend und reizvoll klingen. Und ein Zoo mit Tie­ ren, die eigentlich schon vor langer, langer Zeit wieder von der Bühne des Lebens abgetreten sind, wäre sicherlich etwas ganz Besonderes. Möglicherweise könnte man studieren, wie diese Tierarten gelebt haben und warum sie schließlich ausgestorben sind. Wir müssen uns aber eigentlich noch nicht einmal Hollywoods Jurassic Park vergegenwärtigen, um uns klarzumachen, dass dies auch gewaltig schiefgehen kann. Folgenreich wäre wohl eine Einstellung, wonach Tier- und Naturschutz letztlich zu vernachlässigen sind, da man sich diese ja einfach neu herstellen kann. Christopher J. Preston gibt zu bedenken, dass die Wollhaarmammuts »zu den einsamsten Tieren« gehören würden: »von ihresgleichen wären sie durch Jahrtau­ sende getrennt«1104. Die Überlegungen von G. Church bleiben aber nicht bei neuen Haus- und Zootieren stehen. Voller Zuversicht schreibt er: »If society becomes comfortable with cloning and sees values in true human diversity, then the whole Neanderthal creature itself could be cloned by a surrogate mother chimp – or by an extremely adventurous female human.«1105 Im Zusammenhang dieser Überlegungen ist der Name von Svante Pääbo zu nennen. Er hat sich darauf spezialisiert, das Erb­ gut ausgestorbener Lebewesen zu analysieren. Er hat sich mit dem Ebd. Vgl. Fritsche, O.: Die neue Schöpfung. Wie Gen-Ingenieure unser Leben revolutio­ nieren, Bonn 2013 (Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung), S. 48. 1104 Preston, C.: Sind wir noch zu retten? Wie wir mit neuen Technologien die Natur verändern können, Heidelberg 2013, S. 142. 1105 Church, G. / Regis, E.: Regenesis. How Synthetic Biology Will Reinvent Nature and Ourselves, New York 2014, S. 11. 1102

1103

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7.5 Wiederkehr der Neandertaler und Umsiedlung von etwaigen Marsbewohnern?

Genom von Höhlenbären und Mammuts beschäftigt und sich daran gemacht, die fossile DNA, sogenannte aDNA, aus Neandertalerkno­ chen zu gewinnen. Dabei muss freilich immer eine Verunreinigung der Proben mit moderner menschlicher DNA ausgeschlossen wer­ den. Angetrieben habe ihn dabei die Frage, was den Menschen zum Menschen mache.1106 »[D]er direkte Vergleich [unseres Erbgutes] mit den nächsten lebenden Verwandten wie den Menschenaffen [ist] die eine Richtung, die man einschlagen kann. Die andere Richtung ist der Blick zurück und die Erbgutanalyse der ausgestorbenen Ver­ wandtschaft.«1107 Ihm ging es also darum, »die Vergangenheit des Menschen zu erforschen, indem [er und sein Team die] DNA-Sequen­ zen früherer Menschen analysierten«1108. Auf die Bühne des Lebens getreten ist der Homo sapiens nean­ derthalensis vor ungefähr 300.000 Jahren; aller Wahrscheinlichkeit nach ist er vor 30.000 Jahren wieder abgetreten und hat als Men­ schenart nicht überlebt. Eine Gemeinsamkeit zwischen ihm und uns besteht z. B. darin, dass das Gen, das als wichtig für unsere Sprachent­ wicklung angesehen wird (FOXP2), beim Neandertaler genauso aus­ sieht wie bei uns. Gehirngröße und Gesichtsanatomie sowie der Fund eines Neandertaler-Zungenbeins im Karmelgebirge (1983) legen die Vermutung nahe, dass er sehr wahrscheinlich schon über eine Sprache verfügt hat.1109 »There’s no reason to assume that they weren’t capable of spoken language, but there must be many other genes involved in speech that we yet don’t know about in Neanderthals.«1110 – so Svante Pääbo. Es gibt gute Gründe davon auszugehen, dass der Neandertaler eine hohe Werkzeugkultur und komplexe Sozialstruk­

1106 Vgl. Eberhard-Metzger, C.: Fahndung nach dem kleinen Unterschied. Der Paläo­ anthropologe Svante Pääbo sucht im Erbgut unserer nächsten Verwandten nach den Genen, die uns zu Menschen werden ließen, in: Spektrum der Wissenschaft, Nov. 2008, S. 116–122, hier S. 120. 1107 Ebd. 1108 Pääbo, S.: Die Neandertaler und wir. Meine Suche nach den Urzeit-Genen, Frank­ furt a. M. 2014, S. 79. 1109 Vgl. Gassen, H. G.: Das Gehirn, Darmstadt 2008, S. 12. 1110 Zit. nach: Young, E.: Revisting FOXP2 and the origins of language, in: Discover, 11. Nov. 2009. http://blogs.discovermagazine.com/notrocketscience/2009/11/11/revisiting-f oxp2-and-the-origins-of-language/#.VAreaWP9eVc (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022).

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7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie

turen besaß. Verletzte wurden versorgt, Tote (rituell) bestattet.1111 »Die Neandertaler sind die engsten ausgestorbenen Verwandten der heutigen Menschen.«1112 Vieles spricht dafür, dass sie in einer uns ähnlichen Weise fühlen, denken, wollen würden können.

1111 Vgl. Pääbo, S.: Die Neandertaler und wir. Meine Suche nach den Urzeit-Genen, Frankfurt a. M. 2014, S. 12; Gassen, H. G.: Das Gehirn, Darmstadt 2008, S. 12; Kuckenburg, M.: Der Neandertaler. Auf den Spuren des ersten Europäers, Krugzell 2000, S. 210 ff., 304. Fossilien und Artefakte legen nahe, schon für Homo erectus und Homo sapiens nean­ derthalensis ein wie auch immer geartetes Transzendenzbewusstsein anzunehmen. Ulrich Lüke will hierin eine Gemeinsamkeit mit uns sowie einen Unterschied zur Tierwelt ausmachen. (Vgl. Lüke, U.: Bio-Theologie. Zeit – Evolution – Hominisation, Paderborn / München / Wien / Zürich 1997, S. 236 ff., 260 ff.) »Bei Homo erectusFunden vor allem in China (Zhoukoudian) stieß man auf Schädel, die im Bereich des Hinterhauptes aufgesprengt worden waren und denen man aller Wahrscheinlichkeit nach durch das erweiterte Hinterhauptsloch (Foramen magnum) das Gehirn entnom­ men hatte. Anschließend hatte man diese Schädel dann offenbar (vielleicht sogar zen­ tral) aufbewahrt.« (Lüke, U.: Das Säugetier von Gottes Gnaden. Evolution, Bewusstsein, Freiheit, Freiburg 2006, S. 144) Lüke legt nahe, dies im Sinne einer Anthropophagie resp. Patrophagie zu deuten und somit als Versuch, sich Kräfte und Eigenschaften des Verstorbenen zu eigen zu machen. Nach Kurt Gerhardt bettete der Neandertaler »seine Toten sorglich in Schlafstellung, er gab ihnen ihr persönliches Werkzeug mit«. Hieraus schlussfolgert er, der Nean­ dertaler habe an ein Leben nach dem Tod geglaubt. (Vgl. Gerhardt, K.: Spuren der Menschwerdung im Lichte anthropologisch-urgeschichtlicher Forschung, in: Schei­ dewege. Zeitschrift für skeptisches Denken 5 (1975), S. 119–141, hier S. 136) Auch Harald von Sprockhoff spricht in diesem Zusammenhang von »erstmalig ausgepräg­ ten religiösen Vorstellungen« (Sprockhoff, H. von: Bewusstsein, Geist und Seele. Zur Evolution des menschlichen Geistes, Frankfurt a. M. / Leipzig 1996, S. 35). Jared Dia­ mond ist zurückhaltender, in den Bestattungen von Homo neanderthalensis einen Hinweis auf Religion und Transzendenzbewusstsein sehen zu können (vgl. Diamond, J.: Der dritte Schimpanse. Evolution und Zukunft des Menschen, Frankfurt a. M. 2006, S. 60). Wohl aber will er darin einen Ausweis altruistischen Verhaltens sehen. Ähnlich hatte dies J. Eccles gedeutet (vgl. Eccles, J.: Der Ursprung des Geistes, des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins im Rahmen der zerebralen Evolution, in: Dürr, H.-P. / Zim­ merli, W. C. (Hrsg.): Geist und Natur. Über den Widerspruch zwischen naturwissen­ schaftlicher Erkenntnis und philosophischer Welterfahrung, Bern / München / Wien 2 1989, S. 79–89, hier S. 84). Für Eccles legten die Funde nahe, von einer rudimentären Form von Selbstbewusstsein auszugehen (Eccles, J.: Die Psyche des Menschen. Gifford Lectures 1978–1979 Universität Edinburgh, München / Basel 1985, S. 2 f.). Martin Kuckenburg ist bezüglich der Deutung ebenfalls etwas zurückhaltender (vgl. Kucken­ burg, M.: Der Neandertaler. Auf den Spuren des ersten Europäers, Krugzell 2000, S. 211 f., 217, 220, 315–352). 1112 Pääbo, S.: Die Neandertaler und wir. Meine Suche nach den Urzeit-Genen, Frankfurt a. M. 2014, S. 13.

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7.5 Wiederkehr der Neandertaler und Umsiedlung von etwaigen Marsbewohnern?

2008 gelang die Mitochondriengenomanalyse eines Neanderta­ lers. Die Funde stammten aus Kroatien. 2009 konnte eine Mitochon­ driengenomanalyse für Funde aus dem Neandertal bei Düsseldorf, aus Südrussland und Spanien durchgeführt werden. Hinsichtlich ihres Erbgutes waren die Neandertaler der unterschiedlichen Regionen recht ähnlich. Ihre mitochondriale DNA (mtDNA) unterscheidet sich von der unsrigen.1113 Eine ausführliche Analyse der rekonstruierten 60 Prozent Neandertaler-DNA konnte 2009 erstellt und im Folge­ jahr publiziert werden.1114 Vier Jahre später, 2013, wurde eine noch weit umfassendere Rekonstruktion der Neandertaler-DNA durch das Team um Svante Pääbo vorgelegt. Deutlich wurde noch einmal die enge Verwandtschaft zwischen heute lebenden Menschen und dem Homo neanderthalensis.1115 Vereinzelt sei es vor etwa 50.000 Jahren zur Vermischung beider gekommen. Die heute lebenden Menschen, Menschen vom afrikanischen Kontinent ausgenommen, weisen in ihrem Erbgut 1 bis 4 Prozent Neandertaler-DNA auf. Hieraus kann geschlussfolgert werden, dass es über einen langen Zeitraum speziesübergreifende sexuelle Bezie­ hungen zwischen Neandertalern und Homo sapiens gegeben hat. Der moderne Mensch scheint ein Bedürfnis zu haben, »das eigene Spiegelbild in den tiefen Wassern der Vergangenheit wieder­ zufinden«1116. Schon der Homo neanderthalensis sammelte übrigens Fossilien sowie Steine, die durch eine markante Formung auffielen.1117 Durch den aktuellen Stand der Biotechnologie gibt es noch ganz

Vgl. a. a. O., S. 34 f., 111. Green, R. E. / Krause, J. / Briggs, A. W. / Maricic, T. / Stenzel, U. / Kircher, M.: A draft sequence of the Neandertal Genome, in: Science, Vol. 328, 2010, S. 710–722. Dort heißt es: »Comparisons of the Neandertal genome to the genomes of five presentday humans from different parts of the world identify a number of genomic regions that may have been affected by positive selection in ancestral modern humans, includ­ ing genes involved in metabolism and in cognitive and skeletal development. We show that Neandertals shared more genetic variants with present-day humans in Eurasia than with present-day humans in sub-Saharan Africa, suggesting that gene flow from Neandertals into the ancestors of non-Africans occurred before the divergence of Eurasian groups from each other.« (A. a. O., S. 710). 1115 »Neandertals are the sister group of all present day humans.« (Green, R. E. / Krause, J. / Briggs, A. W. / Maricic, T. / Stenzel, U. / Kircher, M.: A draft sequence of the Neandertal Genome, in: Science, Vol. 328, 2010, S. 710–722, hier S. 710). 1116 Leroi-Gourhan, A.: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a. M. 1980, S. 13. 1117 Vgl. ebd. 1113

1114

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andere Möglichkeiten, in jene Urtiefen vorzudringen. Die Sequenzie­ rung des Neandertalergenoms gestatte jedenfalls die weitere Vermu­ tung, dass es technisch möglich sein müsste, den Neandertaler wie­ derkehren zu lassen: Die Neandertaler DNA-Sequenz müsste geklont und dann in eine menschliche Stammzelle injiziert, diese dann einer Leihmutter eingesetzt werden. »Mit der heutigen Technologie könnte man für ungefähr 30 Millionen Dollar einen Neandertaler lebendig machen«1118, wie Georg Church anlässlich der Nachricht, die Sequen­ zierung des Neandertalergenoms sei abgeschlossen, gegenüber der New York Times sagte. Svante Pääbo hält dies für Provokation und beschreibt einen anderen Weg, der so aussieht, »dass man genetische Varianten von Menschen und Neandertalern in die Genome von Menschen und Menschenaffen einschleust, aber nicht um diese Zellen dann zum Klonen von ganzen Organismen zu verwenden, sondern um ihre physiologischen Eigenschaften im Labor zu untersuchen; andererseits kann man solche Varianten auch in Labormäuse einschleusen.«1119

Und wenn doch der Weg, den Church nennt, eingeschlagen würde? Dass das reproduktive Klonen auf EU-Ebene durch die Charta der Grundrechte und in Deutschland durch das Embryonenschutzgesetz ausdrücklich untersagt ist, heißt kaum, dass nicht doch irgendwann der Versuch unternommen werden könnte, den Neandertaler wieder­ kehren zu lassen. Was wäre wenn? Lassen wir uns einfach mal auf das Gedankenexperiment ein. Würde für den Neandertaler eigentlich auch Artikel 1 unseres Grundgesetzes gelten?1120

1118 Zit. nach: Pääbo, S.: Die Neandertaler und wir. Meine Suche nach den UrzeitGenen, Frankfurt a. M. 2014, S. 363. 1119 Pääbo, S.: Die Neandertaler und wir. Meine Suche nach den Urzeit-Genen, Frank­ furt a. M. 2014, S. 363. 1120 Diese kommt jedem einzelnen Menschen wie auch der Gattung insgesamt zu wie auch das Bundesverfassungsgericht unterstreicht: »Menschenwürde […] ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen. Jeder besitzt sie, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann.« (BVerfGE 87, 209 (228)).

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7.5 Wiederkehr der Neandertaler und Umsiedlung von etwaigen Marsbewohnern?

Verblüffend ist bereits die Begründung von George Church, warum die Erschaffung von Neandertalern richtig wäre: »Neugier mag im Spiel sein, aber das ist nicht der wichtigste Grund. Es ginge ja letztlich darum, die Vielfalt der Gesellschaft zu erhöhen. Wenn irgendetwas schlecht ist, dann ist es ein Mangel an Vielfalt. Diese Grundregel gilt für die Gesellschaft ebenso wie für die Kultur oder für die Evolution. Monokulturen laufen stets Gefahr unterzugehen. Deshalb würde ich die Erschaffung des Neandertalers als eine Form von Risikomanagement betrachten.«1121

Ob jene Wesen Würde hätten, scheint nicht seine Frage zu sein. Doch was genau meinen wir mit diesem Begriff? Wenn wir von Menschen­ würde sprechen, meinen wir damit nicht irgendeine abstrakte Eigen­ schaft, die wir besitzen oder auch verlieren können. Menschenwürde ist kein überholtes Konzept, sondern ein Begriff von besonderer ethischer, politisch-praktischer und juristischer Relevanz. Menschen­ würde ist – wenn wir einen Blick in das Grundgesetz werfen – kein Grundrecht neben anderen, sondern das oberste Konstitutionsprin­ zip des Rechts, also Ermöglichungsgrund für Rechte und Pflichten. Menschenwürde ist ein Absolutum, von unvergleichbarem Wert.1122 Damit ist gemeint, dass es keinen Preis für den Menschen gibt, er aller Verrechenbarkeit entzogen ist und bleibt. Seine Würde ragt über alles bloß Nützliche hinaus. Es geht darum, den Anderen als prinzipi­ elles Subjekt, als Anderen anzuerkennen. Es gehört zum Menschen, autonom sein und Zwecke setzen zu können.1123 Menschenwürde 1121 Church, G.: Biologie ist Präzisionsarbeit, in: Der Spiegel, 14. Jan. 2013, S. 110– 113, hier S. 111. 1122 Vgl. Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA Bd. IV, S. 394, 428, 436. 1123 Zur Eigenart des Menschen gehört es, selbstgesetzlich zu sein. Er besitzt Auto­ nomie nicht einfach wie er ein Auto oder einen Plastikbaum besitzen kann. Wohl aber kann er autonom sein. Autonomie geht es nicht um schrankenloses Schalten und Walten. Der Mensch ist befähigt, der Kausalität aus Freiheit Folge zu leisten. Wenn wir davon sprechen, der Mensch sei ein autonomes Wesen, sollte uns vor Augen stehen, dass er stets in eine Gemeinschaft eingebettet ist. Selbstbestimmung, die die Autonomie des Gegenübers missachtet, ist gerade keine. Positiv formuliert: Zur Autonomie gehört es, die Autonomie des anderen Menschen zu beachten, sie anzuerkennen. Insofern ist sie auch eine Selbstbegrenztheit, die die Unverfügbarkeit des anderen Menschen ausdrücklich bejaht. Mit »Menschenwürde« meinen wir einen Anerkennungssachverhalt: Ich anerkenne dich als Zweck an dir selbst, als unverfügbar. Sie ist ein Proprium des Menschen, welcher eben kein Preisschild trägt und austauschbar ist. Laut Kant ist Würde »nichts

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7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie

wird gerade nicht an bestimmten Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen festgemacht. Menschenwürde darf nicht abwägbar sein, sondern muss voraussetzungslos gelten. Ansonsten wären Weisen der Gewalt- und Machtausübung denkbar, die aus persönlichen Ange­ messenheitsvorstellungen oder auch aus dem, was gerade en vogue ist, resultieren. Das könnte fatale Folgen haben. Würde ist etwas, das sich auf alle Menschen bezieht. Läge die Würde im Geborensein bzw. in besonderen Fähigkeiten, wie etwa der Zukunftsplanung oder der Fähigkeit sich zu erinnern begründet, käme sie nicht allen Menschen zu. Die Würde eines Neandertalers ließe sich ebenso wenig wie Ihre und meine Würde unter dem Mikroskop oder mit Hilfe bildgebender Verfahren feststellen. Der Grund liegt darin, dass man auf Würde nicht zeigen kann wie auf einen Baum. Würde ist dabei nicht etwas, das dem Gusto des Einzelnen überlassen bliebe. Sie ist eine praktische Tatsache.1124 Abhängig von mentalen oder physischen Fähigkeiten, einer Nationalität oder bestimmten Religion ist sie nicht. Sie wird auch nicht von anderen Menschen verliehen oder

Geringeres als der Anteil, den sie dem vernünftigen Wesen an der allgemeinen Gesetzgebung verschafft, und es hierdurch zum Gliede in einem möglichen Reiche der Zwecke tauglich macht, wozu es durch seine eigene Natur schon bestimmt war als Zweck an sich selbst und eben darum als gesetzgebend im Reich der Zwecke […]. Denn es hat nichts einen Wert, als den, welchen ihm das Gesetz bestimmt. Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Wert bestimmt, muss eben darum eine Würde, d.i. unbedingten und unvergleichbaren Wert haben, für welchen das Wort Achten allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgibt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat.« (Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA Bd. IV, S. 434). Zum Begriff der Menschenwürde siehe auch: Schweidler, W.: Über Men­ schenwürde. Der Ursprung der Person und die Kultur des Lebens, Wiesbaden 2012. 1124 Vgl. Hoffmann, T. S.: Würde versus Vernutzung des Menschen. Ein Einspruch aus philosophischer Sicht, in: Kühnhardt, L. (Hrsg.): Biomedizin und Menschenwürde (ZEI Discussion Paper C97 2001), Bonn 2001, S. 57–66, hier S. 63.

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7.5 Wiederkehr der Neandertaler und Umsiedlung von etwaigen Marsbewohnern?

könnte wieder entzogen werden.1125 Würde ist das verbindende Band zwischen allen, die zur Familie des Menschen gehören.1126 Der Blick müsste nun wohl darauf gelenkt werden, dass der Neandertaler zur selben Art wie wir gehört. Er gehört nicht zur Art Pan (Schimpanse), die die beiden Spezies Pan troglodytes (Schimpanse) und Pan paniscus (Bonobo, Zwergschimpanse) umfasst.1127 Aufgrund seiner Menschennatur kann der Neandertaler – wie Sie und ich – ein Freiheitswesen sein. Er gehört der Menschheitsfa­ milie an, kann ein Wesen der Freiheit sein. Ihm käme insofern auch Würde zu. Er ist Mensch, was ausschlaggebend sein muss für seinen moralischen Status. Daher muss es für ihn auch den gebotenen Schutz geben. Der Homo neanderthalensis hat einen Leib wie wir. Er ist als leibliches Subjekt anzuerkennen und zu behandeln, seine Unverfüg­ barkeit zu achten. Das Instrumentalisierungsverbot gilt auch für ihn.

»Der Respekt vor der menschlichen Würde […] ist die notwendige Bedingung dafür, dass der hinreichende Grund, der diesen Respekt gebietet, sich in seiner ganzen Wirklichkeit zeigen kann. Beides: seine Wirklichkeit und die Möglichkeit, sie an ihrer Entfaltung zu hindern, gehören untrennbar zusammen. Das Unantastbare soll nicht verletzt und muss vor Verletzung geschützt werden, weil es sich nur dann als der Grund zeigen kann, der, nachdem er uns seine Verletzung verboten und uns zu seinem Schutz verpflichtet hat, sich tatsächlich als derjenige erweist, der es uns sogar unmöglich macht, ihn anzutasten.« (Schweidler, W.: Über Menschenwürde. Der Ursprung der Person und die Kultur des Lebens, Wiesbaden 2012). 1126 Es ist denkbar, dass von einigen Vertretern speziestypische Eigenschaften (Inter­ essen, Selbstbewusstsein haben, Zukunftsplanung, Erinnerungsvermögen etc.) ein­ gefordert würden, um den Schutzstatus der Neandertaler zu untermauern. Moralität würde in diesem Fall jedoch auf das Vorhandensein von Interessen verkürzt, Person­ sein zu einem Bündel von Interessen gemacht. Interessen können im Grunde auch unmoralisch sein, weshalb nicht die Interessen an sich, sondern die auf das Gute gerichteten Interessen moralisch von Belang sind. »Etwas muss ein moralisches Inter­ esse verdienen, eines solchen Interesses wert sein. Das aber sagt mir nicht das Inter­ esse.« (Pöltner, G.: Menschennatur und Speziesismus, in: Rothhaar, M. / Hähnel, M. (Hrsg.): Normativität des Lebens – Normativität der Vernunft?, Berlin / Boston 2015, S. 251–267, hier S. 258). Hinzu kommt, dass Menschsein selbst keine Eigenschaft ist; wir haben gewisse Eigenschaften, weil wir Menschen sind. 1127 Auch der Homo neanderthalensis besaß eine aufrechte Körperhaltung sowie bei seiner Fortbewegung freie Hände, die ihn zu verschiedenen Formen technischer Akti­ vität führte. Seine Aktivitäten können im weitesten Sinne als religiös und ästhetisch eingestuft werden. Er kümmert sich um Schwache und Verletzte, begräbt seine Toten. Der Aufbau und die Größe seines Gehirns unterscheiden sich nicht sonderlich von unserem. (Vgl. Leroi-Gourhan, A.: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a. M. 1980, S. 35, 131, 145). 1125

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7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie

Mit Kant könnte man nun in dem Sinne argumentieren, dass die Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie genügen muss, um Würde zuzuerkennen. Der Homo neanderthalensis hätte Anteil an der Ver­ nünftigkeit, wäre ein »Zweck an sich selbst« und dürfte daher niemals bloß als Mittel behandelt werden.1128 Er wäre um seiner selbst willen zu achten. Für unseren Neandertaler könnte somit freilich Folgen­ des gelten: »Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muss in allen seinen, sowohl auf sich selbst als auch auf andere vernünftige Wesen gerichte­ ten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.«1129

Wir können auch davon ausgehen, dass ein Neandertaler – ebenso wie wir – Leidens- und Schmerzfähigkeit aufwiese und gewisse Interessen zu entwickeln in der Lage ist. Aufgrund der ähnlichen leiblichen Struktur könnten wir uns in ihn und vice versa er sich in uns einfühlen und wäre Verletzlichkeit etwas, das wir mit ihm teilen. Mit Spaemann ließe sich wie folgt argumentieren: »[W]enn sich andere natürliche Arten im Universum finden sollten, die lebendig sind, eine empfindsame Innerlichkeit besitzen und deren erwachsene Exemplare häufig über Rationalität und Selbstbewußtsein verfügen, dann müßten wir nicht nur diese, sondern alle Exemplare dieser Art ebenfalls als Personen anerkennen.«1130

Craig Venter hält die Debatten über die Wiederkehr von Neanderta­ lern für »phantasievoll«1131. Er sieht hier vor allem das Problem, dass die erhaltenen DNA-Sequenzen nicht vollständig vorliegen, nicht das gesamte Genom einschließen.1132 Gleichwohl sei aber durch die Möglichkeiten der Synthetischen Biologie der Weg eröffnet, »nahezu 1128 Es müsste kritisch darauf hingewiesen werden, dass sein genetisches Programm ein im Forschungslabor von Wissenschaftlern zu heteronomen Zwecken hergestelltes Gemachtes ist. Ein Mitglied der Spezies Mensch bzw. die Menschheit muss, wie uns Kant ins Stammbuch geschrieben hat, jederzeit als Zweck an sich selbst behandelt wer­ den. 1129 Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA Bd. IV, S. 429. 1130 Spaemann, R.: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹, Stuttgart 21998, S. 264. 1131 Venter, J. C.: Leben aus dem Labor. Von der Doppelhelix zum künstlichen Orga­ nismus, Frankfurt a. M. 2014, S. 125. 1132 Vgl. ebd.

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7.5 Wiederkehr der Neandertaler und Umsiedlung von etwaigen Marsbewohnern?

jede Form von Lebewesen zu entwerfen«1133. Doch Venter geht es nicht nur um Hefezellen und Fische. Ihm schwebt noch etwas anderes vor. Inspiriert sind seine Ideen von der Vorstellung der Teleportation, die sich beispielsweise in der Fernsehserie Raumschiff Enterprise findet (»Beam me up, Scotty!«): »Das Genom eines Menschen enthält nur ungefähr 6 x 109 Bits an Information. Meine Arbeitsgruppe perfektioniert derzeit eine Methode, mit der man die digitale Ver­ sion eines DNA-Codes in Form einer elektromagnetischen Welle verschicken kann – und dann kann man in großer Entfernung mit einem besonderen Empfänger das Lebewesen neu schaffen.«1134 Man müsste, so Venters Gedanke, zunächst das Genom sequenzieren. So würde dann die genetische Information erfasst werden. Der DNACode müsste im Anschluss digitalisiert werden, um dann in eine elektromagnetische Welle verwandelt und mit Lichtgeschwindigkeit verschickt zu werden.1135 »Der Tag, an dem wir eine robotergesteuerte Genom-Sequenzierungs­ apparatur mit einer Sonde zu anderen Planeten schicken können, damit sie dort die DNA-Sequenz aller möglicherweise vorhandenen, lebenden oder erhalten gebliebenen Mikroorganismen abliest, ist nicht mehr fern.«1136

Venter ist weiter zuversichtlich: »Schon eine der nächsten Sonden wird in der Lage sein, einige Meter tief zu bohren, und das könnte durchaus reichen, um mögliche Spuren gefrorener Lebensformen zu finden.«1137 Unter der Voraussetzung, dass es Mikroorganismen auf dem Mars gibt oder irgendwann einmal gab, und diese ebenfalls eine DNA aufweisen, könnte man – so Venter – ihre Genomsequenz ablesen und einfach zur Erde funken. Dort wäre es in einem der Labore möglich, das Genom dieser extraterrestrischen Lebensform zu rekonstruieren und das Marslebewesen hier neu zu schaffen.

A. a. O., S. 180. »Heute können wir durch Abwandlung ihrer genetischen Programmierung potentiell die Struktur und Funktion jeder beliebigen Zelle verändern und damit eine atemberau­ bende Vielfalt von Lebewesen schaffen, von unterdimensionierten Hefezellen bis zu schnell wachsenden Fischen.« (Ebd.). 1134 A. a. O., S. 226. 1135 Vgl. a. a. O., S. 227. 1136 A. a. O., S. 258. 1137 Ebd. 1133

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7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie

»Das Gefühl des Unwirklichen, ja Gespenstischen bei solchen Erwä­ gungen noch ganz mutmaßlicher Möglichkeiten […] darf nicht dazu verführen, sie für müßig zu halten. Die Gefahr besteht, daß wir unver­ sehens in verhängnisvolle Anfänge gleiten, unschuldig sozusagen unter dem Banner reiner Wissenschaft und Forschung.«1138

Unklar bleibt, inwiefern die Veränderung eines bestimmten Bestand­ teils einer DNA zu eben einem ganz bestimmten Lebewesen führen kann. Leben ist komplexer. Umweltbedingungen und soziale Faktoren spielen eben auch eine nicht zu unterschätzende Rolle.

7.6 Fazit Im vorliegenden Kapitel wurden unterschiedliche Forschungszweige der Synthetischen Biologie vorgestellt: vom Minimalorganismenan­ satz angefangen über die Neusynthese von DNA-Abschnitten und Genomen sowie die umfangreiche genetische Modifikation von Orga­ nismen bis hin zur Xenobiologie und dem Protozellansatz, die sich in ihren jeweiligen Herangehensweisen zwar unterscheiden, hinsicht­ lich ihrer Voraussetzungen, Visionen, Ziele jedoch nah beieinander­ liegen. Beleuchtet wurde der Anspruch der Synthetischen Biologie, Lebewesen de novo herstellen zu können. Nutzen- und Risikopoten­ tiale wurden ebenso diskutiert wie die Erwartungen, die in techni­ scher, anwendungsbezogener wie ökonomischer Hinsicht mit der Synthetischen Biologie verbunden werden. Gefragt wurde danach, was für eine Auffassung von Leben und Natur zugrunde liegt. Auch die spielerischen resp. künstlerischen Elemente der Synthetischen Biologie wurden in den Blick genommen. Der Minimalorganismenansatz sowie die Neusynthese von DNA-Abschnitten und Genomen unterscheiden sich hinsichtlich ihres methodischen Vorgehens, in der konzeptionellen Ausrichtung sowie hinsichtlich der quantitativen Eingriffstiefe von der klassischen Gentechnik. Auch hinsichtlich der Fachkultur gibt es Unterschiede, wenn wir an die »spielerischen« resp. künstlerischen Elemente den­

Jonas, H.: Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frank­ furt 1987, S. 200.

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7.6 Fazit

ken.1139 Für den Protozellansatz sowie jenen Strang der Syntheti­ schen Biologie, der auf eine umfangreiche genetische Modifikation von Organismen abzielt, trifft dies freilich auch zu. Hinzu kommt zur quantitativen Eingriffstiefe noch eine andere, qualitative Ein­ griffstiefe. Durch ihre ingenieurwissenschaftliche Ausrichtung wie auch insbesondere dadurch, dass es ihr um Konstruktion und nicht Ana­ lyse bzw. Manipulation geht, unterscheidet sich die Synthetische Biologie deutlich von der (klassischen) Gentechnologie und anderen Zweigen der Biologie. Die mit ihr verbundenen Möglichkeiten sind außerdem weit größer und sie vermag viel tiefgreifender in die Natur einzugreifen. Die Grenzen biologischer Prozesse und Abläufe sollen verschoben, wenn nicht gar überwunden, eine neuartige Natur kreiert werden. Problematisch an vielen Publikationen zur Synthetischen Biolo­ gie ist die darin als selbstverständlich vorausgesetzte mechanistische Sicht der Natur. Sie ist hiernach gleichsam wie ein Baukasten, aus dem man mit unterschiedlichen (Lego-)Steinen etwas (neu) zusam­ mensetzen kann. Die Konstruktion des Lebendigen hänge, so die vorausgesetzte Annahme, mit dessen Standardisierung zusammen. Leben gilt als etwas, das sich beliebig konstruieren lasse. Was in ein Baukastenprinzip gebracht werden kann, über das hat man auch den Überblick: man kann es beherrschen. Biologie wird in diesem Sinne zur Ingenieurbiologie, zu einer Handwerkerdisziplin. Im Fokus stehen vor allem Gestaltungsmöglichkeiten und die Frage, wie man sich Phänomene effizient zunutze machen kann. »Dabei geht es aller Voraussicht nach – zumindest global gesehen – auf Dauer nicht um ein Ja oder Nein der Synbio-Nutzung, sondern um ein konkurrierendes Nebeneinander mit alternativen Verfahren zur intelligenten Nutzung der existierenden biologischen Vielfalt und ihrer immanenten Eigenschaften […] – ähnlich, wie heute sowohl ökologi­ sche als auch konventionelle Landwirtschaft betrieben wird.«1140

Vgl. Litterst, L.: Neues Leben aus dem Labor. Biowissenschaftliche und ethische Aspekte der Synthetischen Biologie, Wiesbaden 2018, S. 133. 1140 Sauter, A. / Albrecht, S. / van Doren, D. / König, H. / Reiß, T. / Trojok, R.: Synthetische Biologie – die nächste Stufe der Bio- und Gentechnologie, Büro für Tech­ nikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB), TAB-Arbeitsbericht Nr. 64, Berlin 2015, S. 13. 1139

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7. Leben schaffen? Überlegungen zur Synthetischen Biologie

Die technomorphe Sichtweise blendet wichtige Facetten des Lebendi­ gen aus, weshalb man begründete Zweifel haben darf, ob dies der Frage, was Leben ist, gerecht wird. Insofern durch die Synthetische Biologie der Unterschied zwi­ schen Gewachsenem und Gemachtem zu verschwimmen droht, »droht ein stabiler Orientierungspunkt für menschliches Handeln ins Schwanken zu geraten«1141. Kristian Köchy macht sehr trefflich auf die besonderen Wechselbeziehungen des Gewachsenen und Gemachten im Rahmen der Synthetischen Biologie aufmerksam, wenn er schreibt: »Insbesondere die Tatsache, dass für die technische Konstruktion ein Verfahren zum Einsatz kommt, das nicht nur im Resultat künstlich gemachte Lebenssysteme erzeugen soll, sondern das darüber hinaus im Vollzug dieser Erzeugung auf biologisches Material, biologische Werk­ zeuge und ein biologisches Fertigungsverfahren zurückgreift, dieses alles jedoch im Kontext der Laborforschung und damit unter Vorgabe menschlicher Zwecksetzung tut, zeigt die innige Wechselbeziehung zwischen der Selbstbestimmung des Gewachsenen qua Natur und der Fremdbestimmung des Gemachten qua Technik in der syntheti­ schen Biologie.«1142

Freilich gilt auch im Hinblick auf die Synthetische Biologie: Fakten­ wissen ist unerlässlich, wenn wir nach Orientierung fragen. Ethische Urteilsbildung kann nicht gänzlich losgelöst von der tatsächlichen Forschung erfolgen. Die Fachperspektive der Forscher in den Laboren der Synthetischen Biologie ist zu ergänzen durch eine ethische Refle­ xion und ist dieser unterzuordnen. Viele Fragen und Probleme der Synthetischen Biologie sind noch ungelöst. Um Deutungshoheit auf dem Feld der Synthetischen Biolo­ gie wird gerungen. Wie die Synthetische Biologie in ein paar Jahren oder Jahrzehnten dastehen wird, ist aus heutiger Perspektive nicht so leicht zu sagen. Im Hinblick auf die weitere Arbeit Synthetischer Biologen wird beispielsweise mehr Interdisziplinarität eingefordert. 1141 Dabrock, P. / Ried, J.: Wird in der Synthetischen Biologie »Gott gespielt«? Eine theologisch-ethische Konstruktion, in: Pühler, A. / Müller-Röber, B. / Weitze, M.-D. (Hrsg.): Synthetische Biologie. Die Geburt einer neuen Technikwissenschaft, Heidelberg 2011, S. 129–137, hier S. 134. 1142 Köchy, K.: Konstruierte Natur? Eine Fallstudie zur Synthetischen Biologie, in: Hartung, G. / Kirchhoff, T. (Hrsg.): Welche Natur brauchen wir? Analyse einer anthro­ pologischen Grundproblematik des 21. Jahrhunderts, Freiburg / München 2014, S. 299– 316, hier S. 313 f.

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7.6 Fazit

Die beteiligten Disziplinen würden nicht ausreichend zusammenar­ beiten. »Before they can construct a cell, researchers in synthetic biology must first build bridges between disciplines.«1143 Für die hier eingeforderte Aufgabe, Brücken zu bauen, sollten meines Erachtens gerade auch Philosophie und Ethik einbezogen werden. Mögliche Fol­ gen und Gefahren, die mit der Synthetischen Biologie verbunden sind, sind ernst zu nehmen: z. B. die unkontrollierte Verbreitung neuarti­ ger Lebensformen in der Umwelt. Fachinterne wie gesellschaftliche Überzeugungen und Leitbilder, ausgesprochen oder nicht, z. B. wie Synthetische Biologie als Wissenschaft arbeiten sollte, sollten hin­ terfragt werden. Vorausgesetzte ontologische Überzeugungen sowie metaphysische Weltbilder sind zu reflektieren. Um es mit Venter zu sagen: »In Sachen synthetisches Genom haben wir soeben [erst] die Startlinie überschritten.«1144 Begonnen hatten wir unser Kapitel mit Ausführungen zur Fahrt der Beagle und der Sorcerer II. Ich möchte das nautische Bild nochmals bemühen, allerdings nicht einfach nur auf die Gefahren der Seefahrt verweisen, könnte doch ein Verbleib im Hafen als Stillstand und Ver­ fehlen von Chancen verstanden werden. Wird Leben nur als Zusam­ menspiel standardisierter Bauteile erklärt, geht dies letztlich an der Dynamik des Lebens vorbei. Ein Schiffbruch kann in den Spuren von Blumenberg »Figur einer philosophischen Ausgangserfahrung«1145 sein und für das Gewahrwerden der Grenzen des Erkennbaren stehen. In diesem Sinne wäre ein Schiffbruch und unser Zeugesein dessen in unsere Überlegungen zur Synthetischen Biologie einzubeziehen. Statt um grenzenloses Wissen – wofür ja nicht nur die Fahrt mit der Sorcerer II steht – muss es uns um die Unsicherheiten und das Unverfügbare gehen.

N.N.: Tribal gathering, in: Nature (509), 2014, S. 133. Mejias, J.: Wir wollen die Grippe beherrschen. Praktische Folgen des syntheti­ schen Chromosoms: Ein Gespräch mit Craig Venter, in: Frankfurter Allgemeine Zei­ tung, 25. Mai 2010, S. 31. 1145 Blumenberg, H.: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a. M. 41993, S. 14. 1143

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8. Menschen »machen«

»Wir müssen doch nicht alles machen, was wir können. Nein, wir müssen es nicht. Aber? Aber wir werden es machen. Und weshalb? Weil wir nicht ertragen, wenn der kleinste Zweifel bleibt, ob wir es wirklich können.«1146

Diese Zeilen aus dem Nachlass von Hans Blumenberg machen nachdenklich, insbesondere wenn man sie vor der Hintergrundfolie moderner Biotechnologie liest. Hans Jonas sieht die Welt gar in ein Laboratorium verwandelt: »[M]an findet heraus, indem man im Ernste tut, was man nach dem Herausfinden vielleicht nicht getan zu haben wünscht.«1147 Im Folgenden soll diskutiert werden, ob der Mensch biotechnisch machbar sein, seine Zukunft im Labor liegen soll.

8.1 Gezeugt, nicht gemacht: Kinderwunsch und Wunschkinder 8.1.1 Das Zeitalter der Wunder 1926 malt René Magritte ein Bild, das man als wundersam und provozierend bezeichnen könnte und dem er den Titel L‘âge des mer­ veilles (das Zeitalter der Wunder) gibt.1148 Im Vordergrund dargestellt wird eine nackte Frau, die mit einem langen, über die Kniekehlen 1146 Blumenberg, H.: Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß, Stuttgart 1997, S. 29. 1147 Jonas, H.: Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1987, S. 99. 1148 Dargestellt in: Museum Folkwang (Hrsg.): The Assembled Human. Der montierte Mensch, Bielefeld 2019, S. 129.

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8. Menschen »machen«

reichenden weißen Schleier bedeckt ist. Im Hintergrund des Bildes ist eine weitere Frau zu sehen, ähnlich von einem Gewand umhüllt wie jene im Vordergrund, aber mit ihrem Gesicht vom Betrachter abgewandt. Wir konzentrieren uns auf die uns zugewandte Frau. Der in sich gekehrte Blick der Frau, ihre Körperhaltung sowie der Wurf ihres Schleiers erinnern den Betrachter an die Darstellung bekannter Madonnenfiguren. Wäre sie mit einem weißen Unterge­ wand bekleidet, könnte man etwa an eine Darstellung Mariens wie im portugiesischen Wallfahrtsort Fatima denken, die Hirtenkindern 1917 erschienen sein soll. Aufmerksamkeit zieht insbesondere der Unterleib der dargestellten Frau auf sich: Ihr Innenleben, die Knochen und Organe, wurden durch Räder und Maschinenteile ersetzt. Es geht Magritte um eine neue Betrachtung herkömmlicher Sehgewohn­ heiten, darum, unsere Wirklichkeit zu verdeutlichen. Dafür greift er u. a. auf Deplatzierungen und Metamorphosen zurück. Organismus und Technik sind hier eine erstaunliche Verbindung eingegangen. Die Welt ist technisch: Selbst für Wunder ist Technik zuständig. Sie löst Erstaunen aus, ist außergewöhnlich. Über Sexualität und Fortpflanzung ist eine technische Herrschaft errichtet worden. Zeugen und Empfangen werden durch ein Machen ersetzt. Das, was einmal mit dem großen Begriff »Schicksal« bezeichnet wurde, steht durch einen erweiterten Handlungsradius biotechnolo­ gischer Möglichkeiten im »Zeitalter der Wunder« nicht selten in einem anderen Licht als zuvor: Es gilt nicht mehr einfach als hin­ nehmbar und unabänderlich, sondern als machbar, veränderbar.1149 1149 Schicksal ist etwas, das uns mit allen Menschen verbindet. Tiere haben kein Schicksal. Es wird als Macht über das Leben erfahren: nicht nur im negativen, sondern auch im positiven Sinne. Der Mensch kann, wie Guardini unterstreicht, »sich vom Schicksal getragen wissen« (Guardini, R.: Freiheit / Gnade / Schicksal. Drei Kapitel zur Deutung des Daseins, München 1948, S. 225), es aber auch als feindlich erleben. (Vgl. a. a. O. S. 232) Im Schicksal kann etwas »Geheimnishaftes« entdeckt werden: »Es liegt in, hinter, über jeder angebbaren empirischen Ursache.« (A. a. O., S. 219) Die Verabschiedung des Schicksals durch die Technik, so die These von Marquard, führe letztlich zu einer Refatalisierung: Es gilt, mit den »großen Enttäuschungserfah­ rungen des Selbermachens der Menschen«, die auf »der Unverfügbarkeit der Folgen« beruhen, leben zu lernen (Marquard, O.: Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren, in: Marquard, O.: Abschied vom Prin­ zipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 2015, S. 67–90, hier S. 81). Sehr instruktiv wird das Thema Schicksal in dem von G. Maio verantworteten Sam­ melband mit dem Titel Abschaffung des Schicksals? Menschsein zwischen Gegebenhei­ ten des Lebens und medizin-technischer Gestaltbarkeit, Freiburg 32015 aufgegriffen. So

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8.1 Gezeugt, nicht gemacht: Kinderwunsch und Wunschkinder

Wenn etwas in den Bereich des Machbaren tritt, stellen sich auch Erwartungen und Ansprüche ein. »Der Weg führt vom Fatum zum Faktum, vom Schicksal zum Machsal«1150, wie Odo Marquard richtig beobachtet.1151 Kinder zu bekommen – oder auch nicht – soll der eigenen Planung und Kontrolle entsprechend sein. Heute gilt eine Frau, die gerne ein Kind bekommen würde und ein Jahr lang mit ihrem Mann schläft ohne Verhütungsmittel zu benutzen, laut WHO als »unfruchtbar«.1152

wirft z. B. Markus Enders (a. a. O., S. 49–77) einen Blick auf historische wie systema­ tische Auseinandersetzungen mit der Frage nach dem menschlichen Schicksal und Oliver Müller (a. a. O., S. 119–143) beleuchtet das heideggersche Verständnis von Technik und Schicksal. Besonders hervorzuheben sind aber die Überlegungen von Maio selbst (a. a. O., S. 10–48). Ein Problem der modernen Medizin macht er in einer gewissen Unfähigkeit aus, nicht mehr zwischen dem, was man sinnvoll ändern kann sowie dem, was man als gegeben hinnehmen sollte, unterscheiden zu können (a. a. O., S. 11). Wir dürfen uns an unsere Ausführungen zum Homo faber und Homo oecono­ micus im ersten Gang erinnert fühlen, wenn er darauf verweist, dass die Frage nach einem Schicksal gerade in einer durchtechnisierten und durchökonomisierten Welt als ungute Provokation empfunden werden kann (a. a. O., S. 13). »Eine Gesellschaft, die kein Schicksal duldete«, so Maio, wäre eine unbarmherzige Gesellschaft, gerade weil sie der irrigen Annahme folgte, dass sie über alles Wissen verfügte und alle Entste­ hungsbedingungen vorhersehen und planen könne.« (A. a. O., S. 24). 1150 Marquard, O.: Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeid­ lichkeit des Unverfügbaren, in: Marquard, O.: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophi­ sche Studien, Stuttgart 2015, S. 67–90, hier S. 67. 1151 Durch Methoden der Visualisierung hat sich auch die Schwangerschaft selbst gewandelt: Aus dem Zustand »guter Hoffnung« ist einer geworden, der kontrolliert und überwacht werden muss. Hierzu: Duden, B.: Zwischen ›wahrem Wissen‹ und Prophetie. Konzeptionen des Ungeborenen, in: Duden, B. / Schlumbohm, J. / Veit, P. (Hrsg.): Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, 17.-20. Jahrhundert, Göttingen 2002, S. 11–48. 1152 Nicht uninteressant ist in dem Zusammenhang eine Debatte, die 2016 innerhalb der WHO geführt wurde. (Vgl. Kummer, S.: Leben aus dem Labor. 40 Jahre Repro­ duktionsmedizin – eine Übersicht, in: Imago Hominis 24, 1 (2017), S. 15–34, hier S. 16) Es ging um die Frage, wann jemand als unfruchtbar gelten kann. Es wurde tat­ sächlich der Vorschlag gemacht, dies auf all jene Menschen zu beziehen, denen dafür der geeignete Sexualpartner fehle. Susanne Kummer schreibt hierzu: »Damit könnten sich alleinstehende Männer oder homosexuelle Paare ihren Kinderwunsch erfüllen, unter der Voraussetzung, dass eine Frau als Leihmutter das Kind austrägt. Damit wird der Begriff Krankheit selbst pandemisch: Single zu sein ist keine Krankheit, auch Homosexuelle sind nicht behindert.« (Ebd.).

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8. Menschen »machen«

8.1.2 Wunder werden machbar: Moderne Reproduktionsmedizin Ungewollte Kinderlosigkeit ist ein sensibles und emotional berühren­ des Thema. Menschen, die sich sehnlichst ein Kind wünschen, leiden, wenn sie keine Kinder bekommen können. Das war zu biblischen Zeiten so und ist auch im 21. Jahrhundert nicht anders. Um jenen Menschen doch noch zu einem Kind zu verhelfen, hat die Medizin in den zurückliegenden Jahrzehnten zahlreiche Anstrengungen unternommen. Eine »Logik des Marktes und Herstel­ lens« wirkt hier oftmals im Verborgenen oder tritt ganz offen zu Tage. Treffend schreibt Eva Maria Bachinger: »Der Kinderwunsch ist ein existenzieller Wunsch, nicht vergleichbar mit anderen Wün­ schen, dennoch entspricht die Art der Umsetzung in vielen Fällen Konsumgewohnheiten.«1153 Und jenen Wünschen wird versucht, sei­ tens einer erfolgreichen Wunschmedizin auch zu entsprechen. Wir treffen im Labor auf eine aufmerksame Administration der Körper und Körperflüssigkeiten verbunden mit einer rechnerischen Planung des Lebens.1154 Technisch möglich sind eine Keimzellspende von Samen- oder Eizellen, die Spende (befruchteter) Eizellen1155, Leihmutterschaft, eine extrakorporale Befruchtung und die In-vitro-Fertilisation (IVF). Häufig verbindet man auch diese unterschiedlichen Möglichkeiten. 1153 Bachinger, E. M.: Leihmutterschaft: »Kind auf Bestellung«, in: Imago Hominis 24, 1 (2017), S. 6–10, hier S. 6. 1154 Vgl. Foucault, M.: Der Wille zum Wissen: Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a. M. 1983. 1155 ESchG, § 1, Abs. 1 verbietet in Deutschland die Spende von Eizellen und ebenso auch von bereits befruchteten Eizellen. In verschiedenen Debatten wird darauf hingewiesen, dass aus der Erlaubtheit einer Samenspende neue Regelungen für die Keimzellen einer Frau folgen müssten. Doch so naheliegend ist dies jedoch nicht. Unabhängig davon, dass es auch darum geht, Risiken der Ausbeutung von armen Frauen zu vermeiden und mit einer Eizellspende freilich auch gesundheitliche Risiken verbunden sind, geht es darum, an dem Mater semper certa est festzuhalten und eine Aufspaltung in eine genetische Mutterschaft, eine soziale Mutterschaft und eine Leihmutterschaft zu vermeiden. In § 159 hält das BGB fest: »Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat.« Generative Strukturen dürfen nicht mit Gewalt aufgelöst, Abstammung aufgespalten werden, was nicht absehbare Folgen für die biographische Entwicklung der betroffenen Personen haben kann. – Untersagt sind in Deutschland auch die Leihmutterschaft und die Embryo­ nenadoption. In der EU ist die Frage der Leihmutterschaft keineswegs einheitlich geregelt. In Ländern wie Rumänien, Tschechien und Ungarn gibt es keine Regelung, was dem Markt der Möglichkeiten viele Türen und Tore öffnet, während sie in Groß­ britannien und Griechenland aus »altruistischen Gründen« gestattet ist, d.h. eine Frau

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8.1 Gezeugt, nicht gemacht: Kinderwunsch und Wunschkinder

Wenn von assistierter Reproduktion die Rede ist, sind damit sowohl Inseminationsverfahren als auch In-vitro-Verfahren gemeint. Mit dem medizinischen Terminus Intrauterine Insemination ist gemeint, dass der männliche Samen auf künstlichem Wege direkt in den Eileiter der Frau resp. den Gebärmutterhals gebracht wird. Um eine In-vitro-Fertilisation durchführen zu können, muss bei der Frau zunächst eine Hormonbehandlung durchgeführt werden, um zu gewährleisten, dass mehrere Eizellen produziert werden. Findet ein Eisprung statt, entnimmt der Arzt die Eizellen und bringt sie in einer Petrischale (in vitro) mit dem Samen des Mannes zusammen. Kommt es zur Befruchtung, werden in Deutschland nach zwei bis fünf Tagen maximal drei Embryonen in die Gebärmutter der Frau eingesetzt. Während bei der IVF das Sperma gemeinsam mit den Eizel­ len in eine Petrischale gebracht wird, gibt es auch noch andere Techniken der assistierten Reproduktion. Eine häufige Methode der künstlichen Befruchtung stellt die intrazytoplasmatische Spermienin­ jektion, abgekürzt ICSI, dar, die insbesondere bei Paaren mit stark ausgeprägter männlicher Infertilität Verwendung findet, bei Paaren im fortgeschrittenen Alter und bei solchen, bei denen eine IVF nicht erfolgreich war. Wie bei der IVF ist zunächst eine hormonelle Stimu­ lation der Frau notwendig. Die Eizellen werden punktiert und isoliert. Dann wird die (durch Masturbation1156 oder Operation gewonnene) darf z. B. demnach für ihre Schwester ein Kind austragen oder auch eine Mutter für ihre Tochter, die selbst kein Kind bekommen kann. Ethisch fraglich ist, ob die hiermit verbundene dissoziierte Mutterschaft und Vater­ schaft gewünscht sein kann: »So hat […] nicht nur die Eizellspenderin dem Kind ihre Gene mitgegeben, sondern auch die biologische Mutter hat in nicht unbeachtlicher Weise das Sosein des Kindes durch das Austragen mitbestimmt, weil schon in der Schwangerschaft eine Prägung des Kindes über den mütterlichen Organismus erfolgt. Daher kann hier berechtigt von ›dissoziierter‹ Mutterschaft gesprochen werden, weil nur hier zu erwarten ist, dass das Kind sich von seiner Identität her beiden Müttern zugehörig fühlt.« (Maio, G.: Ethik in der Medizin. Ein Lehrbuch, Stuttgart 22017, S. 347 f.). 1156 Sexualität und Fortpflanzung werden entkoppelt: Es wird so möglich, am Rad der Bevölkerungsregulierung drehen zu können. A. Kuhlmann kritisiert das seiner Ansicht nach mit der modernen Reproduktionsmedizin zusammenhängende »Phan­ tasma einer weitgehend oder vollständig entnaturalisierten und desexualisierten Fort­ pflanzung« (Kuhlmann, A.: Reproduktive Autonomie? Zur Denaturierung der menschlichen Fortpflanzung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46 (1998), S. 917– 933, hier S. 923). R. Spaemann wird noch deutlicher: »Die Gewinnung des männlichen Samens ist […] nicht eine beiläufige Handlung, sondern von Natur mit einer bestimmten emotionalen Verfassung der Person verknüpft. Diese zweckrational,

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gut bewegliche Samenzelle hierbei direkt in das Zytoplasma einer Eizelle eingefügt, was die Befruchtungsrate deutlich erhöht. Nach der Zellteilung erfolgt die Übertragung in die Gebärmutter. Kinderwunschzentren raten, vor der ICSI eine Chromosomen­ analyse der beiden Partner durchzuführen, da bei Retortenkindern auffällig häufiger Chromosomenanomalien festgestellt werden. Bei der ICSI kann es zu verschiedenen Fehlbildungen kommen, wenn Samenzellen mit schlechterer Qualität in die Eizelle injiziert werden. Es besteht bei der ICSI das medizinische Risiko, dass es zu einer Tri­ ploidie Typ II des Fötus kommt: Hierbei weist der Fötus drei haploide Chromosomensätze auf: zwei mütterliche und einen väterlichen. Das Kind hat schwerste Behinderungen und stirbt meist kurz nach der Entbindung oder schon intrauterin. Es ist auch möglich, der Frau noch nicht reife Eizellen zu ent­ nehmen und diese dann unter ärztlicher Beobachtung und mit Hilfe von Hormonzugaben heranreifen zu lassen. Man bezeichnet dieses Verfahren als In-vitro-Maturation, kurz: IVM. Die Abkürzung GIFT steht für ein weiteres Verfahren der assistierten Reproduktion: den intratubaren Gametentransfer. Im Unterschied zur IVF findet die Befruchtung in vivo statt, also im weiblichen Organismus. Doch auch hier müssen zunächst Eizellen entnommen werden, die dann gemeinsam mit dem Sperma des Mannes in den Eileiter gesetzt werden. Bringt man die in der Petrischale befruchtete Eizelle in den Eileiter, spricht man vom intratubaren Gametentransfer. Zwar wurde bis zum heutigen Tag noch kein Mensch geklont, aber die Frage des Klonens würde auch hierher gehören.1157

durch eine Art Selbstüberlistung nach Analogie des Betrugs eines Bullen, herbeizu­ führen, heißt den Menschen – in diesem Fall sich selbst – als bloßes Mittel mißbrau­ chen.« (Spaemann, R.: Kommentar, in: Kongregation für die Glaubenslehre: Die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. Zu ethischen Fragen der Biomedizin. Instruk­ tion der Kongregation für die Glaubenslehre. Mit einem Kommentar von Robert Spae­ mann, Freiburg 1987, S. 67–95, hier S. 94) Ähnlich kritisch beurteilt K. L. Lebersorger die Rolle des Mannes: »Der Mann kann sich aus einer aktiv-potenten Rolle in die eines Statisten gedrängt fühlen, der nicht zustande bringt, was der Arzt schafft. Viele Män­ ner erleben sich auf die beschämende Position des Samenlieferanten reduziert und rivalisieren phantasmatisch mit dem Reproduktionsmediziner.« (Lebersorger, K. J.: Aus vielen mach drei!, in: Imago Hominis 24, 1 (2017), S. 35–43, hier S. 37). 1157 Vgl. Wiesemann, C.: Assistierte Reproduktion und vorgeburtliche Diagnostik, in: Sturma, D. / Heinrichs, B. (Hrsg.): Handbuch Bioethik, Stuttgart /Weimar 2015, S. 199–208, hier S. 199.

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8.1.3 Wie wollen wir Kinder empfangen? Was bedeutet assistierte Reproduktion für die Zukunft des Menschen? Wie wollen wir Kinder empfangen? In Offenheit als unverfügbare und einzigartige Gabe oder wollen wir sie mittels Manipulation ins Dasein zwingen? Viele Menschen können sich noch daran erinnern, als 1978 das erste durch künstliche Befruchtung entstandene Baby das Licht der Welt erblickte. Diese Nachricht hatte aufhorchen lassen. Die In-vitro-Fertilisation (IVF) ist mit den Arbeiten der Mediziner Robert Edwards und Patrick Steptoe verbunden, die im Jahr 2010 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Zunächst hatten sie die IVF an Mäusen erprobt und zehn Jahre benötigt, um diese Technik auch an Menschen anwenden zu können. Bereits im 18. Jahrhundert hatte der italienische Priester und Philosoph Lazzaro Spallanzani eine künstliche Besamung von Hündinnen erfolgreich durchgeführt. Etwa zwei Prozent der Kinder, die heute in Deutschland geboren werden, sind in vitro entstanden.1158 »Die Reproduktionsmedizin«, so ist ganz richtig in der (Mus­ ter-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion zu lesen, steht »im Schnittpunkt vor allem des ärztlichen Berufsrechts, des Familienrechts, des Sozialrechts sowie des Embryonenschutzes und des Strafrechts«1159. Die assistierte Reproduktion wird heiß und kon­ trovers diskutiert, weil sich hiermit verschiedene Folgen verbinden: z. B. können nicht nur Paare, sondern auch Alleinstehende so zu eigenem Nachwuchs kommen. Verwandtschafts- und Familienver­ hältnisse können sich dadurch in erheblicher Weise ändern.1160 Das Verständnis von Elternschaft wandelt sich durch die technischen 1158 Vgl. Maio, G.: Medizin ohne Maß? Vom Diktat des Machbaren zu einer Ethik der Besonnenheit, Stuttgart 2014, S. 17. 1159 (Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion, in: Deut­ sches Ärzteblatt, Jg. 103, Heft 20, 19. Mai 2006, A 1392-A1403, hier A 1392. 1160 In den gesellschaftlichen Debatten ist in diesem Kontext oftmals von homose­ xuell veranlagten Menschen die Rede, die mit Hilfe von assistierter Reproduktion eigene Kinder bekommen könnten. Aber auch die Frage wurde aufgegriffen, ob das Sperma eines Verstorbenen für assistierte Reproduktion verwendet werden darf. Rea­ listisch werden z. B. Kinder mit drei biologischen Eltern. Stefan L. Sorgner begrüßt diese Möglichkeit nicht nur, sondern empfiehlt gleich auch noch die Heirat der drei biologischen Eltern als Option, wobei er allerdings nicht die Frage stellt, was dies für die psychische und soziale Entwicklung der Kinder bedeuten würde. (Sorgner, S. L.: Transhumanismus. »Die gefährlichste Idee der Welt«!?, Freiburg 2016, S. 166 f.)

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Optionen insofern, als dass Elternschaft nun aufgespalten wird in genetische (nach Herkunft der Keimzellen), biologische (durch Schwangerschaft) und soziale (nach Wunsch / Bestellung). Auch in zeitlicher Dimension gibt es auffällige Veränderungen, insofern Gametenspende, Befruchtung in der Petrischale und Schwangerschaft separate Arbeitsprozesse werden und es zu einer zeitlichen Aus­ dehnung kommt. Durch diagnostische Verfahren können etwaige genetische Abweichungen immer präziser erkannt und einem »Qua­ litätscheck« unterworfen werden, was in den überwiegenden Fällen zu einem Aussortieren führt. Die Erfolgsquote der IVF liegt heute bei ca. 16 Prozent, wobei es meistens nicht beim ersten Eingriff klappt und der Statistik nach etwa bis sechs Versuche unternommen werden. Wir müssen uns klar­ machen, dass eben auch mit Hilfe moderner Reproduktionsmedizin viele Paare eben nicht Eltern werden können. Zahlreiche Hoffnungen zerplatzen; für die Paare ist dies mit enormen Enttäuschungen und existenziellem Leid verbunden. Oftmals werden nicht geglückte Ein­ griffe als persönliches Versagen empfunden, verbunden mit hohen finanziellen Kosten. Für die Reproduktionsmedizin in Deutschland gilt das Embryo­ nenschutzgesetz. Hiernach kommt einem Embryo laut Gesetz Lebensrecht und Schutzwürdigkeit zu, wenn die Kernverschmelzung abgeschlossen ist.1161 Die heute übliche Vorgehensweise sieht so aus, dass auf einen Schlag gleich mehrere Eizellen befruchtet und bis zum Vorkernstadium gebracht werden. Nach der Definition des Embryo­ nenschutzgesetzes handelt es sich also noch nicht um einen Embryo. »Würde man der Tatsache, dass nur wenige Stunden diese befruchte­ Jede Gesellschaft, so die anthropologische These von Claude Lévi-Strauss, müsse Mechanismen entwickeln, mit Unfruchtbarkeit umzugehen. (Lévi-Strauss, C.: Anthropologie in der modernen Welt, Berlin 2012, S. 61) Ein Scheuklappendenken führe nicht weiter. (Vgl. a. a. O., S. 72) Den menschlichen Leib versteht er als »höchst[e] Maschine« (a. a. O., S. 133). Er treibt den Gedanken künstlicher Befruch­ tung auf die Spitze und schreibt: »[E]s ist nicht einzusehen, warum nicht auch das tiefgefrorene Sperma eines Urgroßvaters ein Jahrhundert später verwendet werden könnte, um seine Urenkelin zu befruchten.« (A. a. O., S. 62). 1161 ESchG, § 8, Abs. 1. ESchG, § 8 Abs. 1 hält fest, dass als Embryo die »befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an« gilt. Das Embryonen­ schutzgesetz betont, dass Embryonen nur hergestellt werden dürfen, um eine Schwan­ gerschaft herbeizuführen. Es ist untersagt, an diesen Embryonen zu experimentieren, auch wenn man damit etwa die medizinische Forschung vorantreiben möchte.

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ten Eizellen vom Embryo trennen, ehrlich Rechnung tragen, müsste man eher dazu übergehen, eine solche ›Vorratsproduktion‹ von Vor­ kernstadien genauso zu vermeiden wie die ›überzähliger‹ Embryo­ nen.«1162 Als Argument für die assistierte Reproduktion wird sehr häu­ fig der Gedanke der reproduktiven Autonomie in Stellung gebracht. In englischen Publikationen ist von reproductive / procreative auto­ nomy die Rede. Ursprünglich begegnet dieser Begriff im Kontext der Debatten zur Abtreibung. Er wurde dann auf die Möglichkeiten der modernen Reproduktionsmedizin übertragen.1163 Gemeint ist damit meistens, dass unfreiwillig kinderlose Paare die zur Verfügung ste­ henden technischen Möglichkeiten der assistierten Reproduktion in Anspruch nehmen dürfen, ohne von staatlicher Seite daran gehindert zu werden.1164 Gemeint sein können aber auch noch andere Aspekte: 1.) Dass Paare bestimmen sollen, ob sie Nachwuchs haben wollen; 2.) dass sie bestimmen sollen, wann sie Nachwuchs haben wollen; 3.) dass sie bestimmen sollen, auf welchem Weg (natürlich / technisch) sie zu Nachwuchs kommen und auch 4.) dass sie bestimmen sollen, welche Kinder sie bekommen wollen und welche nicht (d. h. welche selektiert werden sollten1165). Stark gemacht wird der Gedanke der individuellen Bestimmung über das eigene Leben. Fortpflanzung sei ein ganz sensibles und privates Thema, das jeder für sich selbst bestimmen sollte; Familie und Familienplanung seien frei zu wählen.

1162 Maio, G.: Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin. Ein Lehrbuch, Stuttgart 2012, S. 245. 1163 Vgl. Krähnke, U.: Selbstbestimmung. Zur gesellschaftlichen Konstruktion einer moralischen Leitidee, Weilerswist 2007. 1164 Vgl. Beier, K. / Wiesemann, C.: Reproduktive Autonomie in der liberalen Demo­ kratie. Eine ethische Analyse, in: Wiesemann, C. / Simon, A. (Hrsg.): Patientenauto­ nomie. Theoretische Grundlagen, praktische Anwendungen, Münster 2013, S. 205–221; Wiesemann, C.: Assistierte Reproduktion und vorgeburtliche Diagnostik, in: Sturma, D. / Heinrichs, B. (Hrsg.): Handbuch Bioethik, Stuttgart /Weimar 2015, S. 199–208, hier S. 201; Beier, K.: Reproduktive Autonomie als biopolitische Strategie – Eine Kritik des liberalen fortpflanzungsmedizinischen Diskurses aus bioethischer Perspektive, in: Finkelde, D. / Inthorn, J. / Reder, M. (Hrsg.): Normiertes Leben. Biopolitik und die Funktionalisierung ethischer Diskurse, Frankfurt a. M. 2013, S. 69–92; Krähnke, U.: Selbstbestimmung. Zur gesellschaftlichen Konstruktion einer moralischen Leitidee, Wei­ lerswist 2007. 1165 Vgl. Savulescu, J.: Procreative Beneficence: Why We Should Select The Best Children, in: Bioethics Vol 15, Number 5/6 2001, S. 413–426, hier S. 418.

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Auch der Hinweis auf das individuelle Wohlergehen wird in dem Zusammenhang bemüht.1166 Doch Zweifel können hier erhoben werden. Was sollte bei einer so weitreichenden Entscheidung wie einem Kinderwunsch eigentlich an erster Stelle stehen? Eine Perspektive von Liebe und Verantwor­ tung oder vor allem die Durchsetzung eigener Interessen und Wün­ sche?1167 Es darf nicht übersehen werden, dass es kein Recht auf ein Kind gibt. Und auch wenn klar ist, dass der Staat nicht in die persönliche Fortpflanzung eingreifen darf, bedeutet dies nicht, dass der persönlichen Vorstellung keine Grenzen gesetzt wären. Auch die Perspektive des Lebensschutzes, das Wohl der Frau und des Kindes sind zu berücksichtigen. Katharina Beier kritisiert daher, dass der »Verweis auf reproduktive Autonomie die in einem solchen Fall zur Debatte stehenden Fragen nach dem moralischen Stellenwert eigener Kinder, der ethischen Relevanz körperlicher Integrität, der Bedeutung der Interessen des zukünftigen Kindes oder dem moralischen Gehalt von Elternschaft nicht mal an der Oberfläche«1168 erfasst. Wenn von reproduktiver Autonomie die Rede ist, geht es um jene Paare, die sich sehnlichst ein Kind wünschen. Diese hätten ein Recht, sich fortzupflanzen und alles zu tun, um ein Kind zu bekom­ men. Gerechtigkeitsargumente werden in dem Zusammenhang auch bemüht.1169 Aber es geht hier nicht nur um zwei Personen, die gerne Eltern würden. Wir müssen uns klarmachen, dass auch das Kind in die Überlegungen einzubeziehen ist. Und auch ein weiterer, hiermit 1166 Vgl. z. B. Buchanan, A. / Brock, D. W. / Daniels, N. / Wikler, D.: From Chance to Choice, Genetics and Justice, Cambridge 2000. 1167 Vgl. O’Neill, O.: Autonomy and Trust in Bioethics, Cambridge 2002, S. 61 f. 1168 Beier, K.: Reproduktive Autonomie als biopolitische Strategie – Eine Kritik des liberalen fortpflanzungsmedizinischen Diskurses aus bioethischer Perspektive, in: Finkelde, D. / Inthorn, J. / Reder, M. (Hrsg.): Normiertes Leben. Biopolitik und die Funktionalisierung ethischer Diskurse, Frankfurt a. M. 2013, S. 69–92, hier S. 88. 1169 Durch die moderne Reproduktionsmedizin stelle sich die Frage nach Verteilungs­ gerechtigkeit neu: Diskutiert wird, wer Zugang zu den neuen technischen Verfahren hat, ob die Kosten dem freien Markt überlassen bleiben oder von der Solidargemein­ schaft getragen werden sollen. »As our powers increase, the territorial of the natural is annexed to the social realm, and the new-won territory is colonized by ideas of justice«, wie man bei Buchanan lesen kann. (Buchanan, A. / Brock, D. W. / Daniels, N. / Wikler, D.: From Chance to Choice. Genetics and Justice, Cambridge 2000, S. 85) Hierzu: Beier, K.: Die Herausforderung der liberalen Gerechtigkeitstheorie durch die moderne Biomedizin. Überlegungen im Anschluss an Buchanans et al. »From Chance to choice«, in: Kauffmann, C. / Sigwart, J. (Hrsg.): Biopolitik im liberalen Staat, BadenBaden 2011, S. 99–122.

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verbundener Personenkreis: etwa jene Frauen, die bereit sind, eine Leihmutterschaft einzugehen. Wir müssen uns kritisch fragen, ob dies nicht eine moderne Form von Menschenhandel darstellt. Oder auch die Ärzte, die zu Wunscherfüllern werden. Insofern muss es fraglich sein, aus der Vorhandenheit neuer technischer Möglichkeiten auch ein Recht darauf ableiten zu können. Wir können daher moderne Reproduktionsmedizin auch nicht auf eine Ebene mit therapeutischen Lösungsansätzen zur Kompensation physischer Mängel setzen (wie z. B. dem Einsatz eines Rollators, wenn die Beine gebrechlich wer­ den).1170 Es würde den Staat überfordern, wollte man ihn zum Garan­ ten und Erfüller der Wünsche all jener machen, die gerne Eltern werden würden. Er hat nicht dafür Sorge zu tragen, dass alle, die ein Kind haben wollen, auch tatsächlich Eltern werden. Für das Paar stellt die assistierte Reproduktion eine hohe psy­ chische und soziale Belastung dar. Eine große Rolle spielen hier oftmals Gefühle von Traurigkeit, aber auch Wut. Identitätsprobleme wie auch Spannungen zwischen den Partnern sind nicht unüblich. Sexualität wird kontrolliert, alles dreht sich darum, »endlich« ein Kind zu bekommen.1171 Für die Frauen kommt auch eine große physische Belastung hinzu, wenn wir etwa an die Hormonbehandlung im Vorfeld einer IVF denken, die Risiken mit sich bringt. Zu nennen sind hier auch Extrauterinschwangerschaften und nicht seltene Aborte. Die infertilen Frauen sind oftmals bereit, enorme Strapazen und Belastungen auf sich zu nehmen. Nicht selten grenzt dieser Einsatz an eine Vernachlässigung, wenn nicht gar Herabwürdigung des eigenen 1170 Vgl. Kuhlmann, A.: Reproduktive Autonomie? Zur Denaturierung der mensch­ lichen Fortpflanzung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46 (1998), S. 917–933, hier S. 922. 1171 Auf diesen Aspekt weist aus psychotherapeutischer Sicht Peter Petersen hin. Er sieht insbesondere die Gefahr einer Entsinnlichung der Sexualität, wenn Sexualität und Fruchtbarkeit ausschließlich als mechanisierte Abläufe gesehen werden: »Frucht­ barkeit und die Freiheit zum Kinde werden verengt auf den Zwang zum Kinde. Auf diese Art findet tiefgehende Entfremdung statt. In diesem Zwang sind Frau und Mann fixiert und behindert durch die Vorstellung, ein Kind zeugen zu müssen. Bei dieser auf den Erfolg einer Schwangerschaft eingeengten Lebenshaltung wird lebendiges Fühlen vernachlässigt, wenn nicht ausgeschaltet. Sexualität […] bleibt auf der Stre­ cke.« (Petersen, P.: Reproduktionsmedizin – Herausforderung an die ärztlich-wissen­ schaftliche Haltung gegenüber der Menschwerdung, in: Benzenhöfer, U. (Hrsg.): Herausforderung Ethik in der Medizin. Beiträge aus der Medizinischen Hochschule Han­ nover, Frankfurt a. M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1994, S. 81–98, hier S. 88).

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Leibes, der – wie Feministinnen kritisieren – zur (Gebär-)Maschine wird,1172 die (von einem selbst und von anderen) ständig überwacht und kontrolliert wird: angefangen bei der Kontrolle der Hormone über operative Bauchspiegelungen und operative Eientnahmen bis zum Transfer des Embryos / der Embryonen in die Gebärmutter. Es nimmt kaum wunder, dass dies alles mit großen Hoffnungen und ständiger Angst, es könnte misslingen, begleitet ist – über Monate hinweg. Da nicht jeder Embryo sich einnistet, man aber die Chancen erhöhen möchte, dass wenigstens ein Kind am Ende geboren werden kann, eröffnet der Gesetzgeber die Möglichkeit, gleich mehrere Embryonen einzusetzen. Laut § 1 Absatz 1 des Embryonenschutzge­ setzes dürfen, wie oben schon erwähnt, innerhalb eines Zyklus nicht mehr als drei Embryonen auf eine Frau übertragen werden. In der Praxis sieht es so aus, dass bei etwa 2,4 Prozent der Geburten, bei denen eine künstliche Befruchtung durchgeführt wurde und erfolg­ reich war, eine Drillingsgeburt erfolgt.1173 Die Geburt von Mehrlingen Es gibt feministische Stimmen, die in der Reproduktionsmedizin vor allem eine Befreiung von Natur und Geschlecht ausmachen wollen. (Takala, T.: Human before Sex? Ectogenesis as a Way to Equality, in: Simonstein, F. (Hrsg.): Reprogen-Ethics and the Future of Gender, Dordrecht / Heidelberg / New York 2009, S. 187–195). Das Bild ist jedoch nicht einheitlich. Andere feministische Vertreterinnen argumentieren gegen eine Vereinnahmung des weiblichen Körpers und kritisieren, dass Frauen mit einer ungeheuren Fülle an Erwar­ tungen überhäuft werden. Es wird – etwa von Rosemarie Tong – bemängelt, dass sich durch die Möglichkeiten der assistierten Reproduktion die Sicht auf den weiblichen Körper ändere, er zum technischen Objekt degradiert würde, der manipuliert und inszeniert werden kann. (Vgl. Tong, R.: Feminist Approaches to Bioethics: Theoretical Reflections and Practical Applications, Colorado 1996) Christina Schües macht auf die Bedeutung von Schwangerschaft und Geburt auf­ merksam. »Die Anerkennung der Gebürtlichkeit bedeutet […] eine Bestätigung der Geburt als generativer Geburt und eine Bestätigung des generativen Zusammen­ hangs.« (Schües, C.: Philosophie des Geborenseins, Freiburg / München 2016 (erwei­ terte Neuausgabe), S. 475). Eva Pelkner hebt einerseits die Möglichkeit her, dass sich durch IVF der Kinderwunsch vieler Paare doch noch erfüllen kann. Andererseits sieht sie die Gefahr menschen­ züchterischer Absichten. (Pelkner, E.: Frauenbild und Fortpflanzungsmedizin in der neueren evangelischen Ethik. Defizit und neue Perspektiven, in: EvTh 61 (2001) Bei­ heft: Menschenwürde und biotechnischer Fortschritt im Horizont theologischer und sozi­ alethischer Erwägungen, S. 60–79). 1173 »Die Wahrscheinlichkeit (DIR 2003) beim Transfer von drei Embryonen bei einer 31-jährigen Frau liegt im Falle einer Schwangerschaft bei 29 % für eine Zwillings­ schwangerschaft und bei 6,3 % für eine Drillingsschwangerschaft. Bei einer 40-jährigen Frau beträgt die Wahrscheinlichkeit für eine Zwillingsschwangerschaft 13 % 1172

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ist nicht unproblematisch und mit hohen Risiken für Mutter und Kin­ der verbunden. Die Frauen haben nicht selten mit Schwangerschafts­ diabetes, Bluthochdruck, Blutungen und Krampfanfällen zu kämpfen. Mehrlinge werden meist zu früh geboren. Martina Lenzen-Schulte und Annette Queisser-Luft weisen auf die Gefahr frühkindlicher Schädigungen der Strukturen des Gehirns, die wir für einen reibungs­ losen Ablauf unserer Bewegungen benötigen, infolge einer Blutung hin. »Zerebralparesen kommen rund fünfmal häufiger bei Zwillingen und etwa 17–20fach häufiger bei Drillingen vor. […] Darüber hinaus muß man bei Frühgeborenen mit einer Vielzahl kognitiv-intellektu­ eller Beeinträchtigungen, Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu mani­ festen psychiatrischen Erkrankungen […] rechnen.«1174 Es wird daher u. a. der Vorschlag des Single Embryo Transfer gemacht, wie folgende Überlegung von Claudia Wiesemann zeigt: »Die Zahl der Drillingsschwangerschaften und die hohe Abortrate ließen sich […] voraussichtlich reduzieren, wenn eine größere Zahl von Eizellen befruchtet, im Reagenzglas auf ihre Entwicklungsfähigkeit hin begutachtet und schließlich nur eine oder höchstens zwei optimal entwickelte übertragen werden.«1175

Was Wiesemann hier für Deutschland vorschlägt, wird in ande­ ren europäischen Ländern wie z. B. Skandinavien praktiziert. Im Kommentar zur (Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion wird ebenfalls auf diese Möglichkeit verwiesen. Es wird dort argumentiert, dass eine längere Kultivierung der Embryonen und Prüfung nach morphologischen Kriterien der Frau zugutekomme und dem »Gesundheitsschutz der Kinder« diene, »da Mehrlingsschwan­ gerschaften insbesondere für Kinder (Frühgeborene), abgesehen von eventuellen familiären psychosozialen Problemen, schwere gesund­

sowie für eine Drillingsschwangerschaft 0,7 % beim Transfer von drei Embryo­ nen.« (Kommentar zur (Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Repro­ duktion, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 103, Heft 20, 19. Mai 2006, A 1398–1403, hier A 1401). 1174 Lenzen-Schulte, M. / Queisser-Luft, A.: Zum Konflikt zwischen Kindeswohl und elterlichem Wunschdenken: Gesundheitsrisiken bei assistierter Reproduktion, in: Hoffmann, T. S. / Schweidler, W. (Hrsg.): Normkultur vs. Nutzenkultur. Über kulturelle Kontexte von Bioethik und Biorecht, Berlin 2006, S. 311–338, hier S. 313 f. 1175 Wiesemann, C.: Assistierte Reproduktion und vorgeburtliche Diagnostik, in: Sturma, D. / Heinrichs, B. (Hrsg.): Handbuch Bioethik, Stuttgart /Weimar 2015, S. 199–208, hier S. 204.

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heitliche Schäden bewirken können«1176. Was hier wohlklingend formuliert ist, heißt im Klartext, es müsse besser selektiert werden.1177 Was mit dem dritten Embryo passieren soll, ob an eine Verwendung für Forschungszwecke oder Tötung gedacht ist, sagt Wiesemann, die IVF an anderer Stelle für einen »kaum noch strittigen Aspekt reproduktiver Autonomie«1178 bezeichnet, nicht. Beides wäre aber mit dem Gedanken der Würde des Embryos (und dem ESchG1179) nicht vereinbar.1180 Ethisch problematisch ist dieser Vorschlag, weil die Vernichtung eines Embryos vorsätzlich in Kauf genommen wird. Zu erwähnen ist in dem Zusammenhang auch, dass laut ESchG nicht klar ist, was mit »überzähligen« befruchteten Eizellen geschehen soll. Im Alltag sieht es so aus, dass diese vernichtet werden. Eine solche bewusst in Kauf genommene Vernichtung durch Paare, die sich eigentlich ein Kind wünschen, ist schon mehr als absurd.1181 Ganz 1176 Kommentar zur (Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Repro­ duktion, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 103, Heft 20, 19. Mai 2006, A 1398–1403, hier A 1401. 1177 Martina Lenzen-Schulte und Annette Queisser-Luft haben in dem Zusammen­ hang ein Problem mit dem Begriff »Selektion«. Sie verweisen darauf, dass sich auch bei einer natürlichen Zeugung nicht jeder Embryo einniste. Doch hier wird übersehen, dass es einen Unterschied macht, ob etwas auf natürlichem Wege im mütterlichen Organismus geschieht oder der Mensch nach bestimmten Kriterien selbst tätig wird. (Vgl. Lenzen-Schulte, M. / Queisser-Luft, A.: Zum Konflikt zwischen Kindeswohl und elterlichem Wunschdenken: Gesundheitsrisiken bei assistierter Reproduktion, in: Hoffmann, T. S. / Schweidler, W. (Hrsg.): Normkultur vs. Nutzenkultur. Über kulturelle Kontexte von Bioethik und Biorecht, Berlin 2006, S. 311–338, hier S. 318). 1178 Beier, K. / Wiesemann, C.: Reproduktive Autonomie in der liberalen Demokratie. Eine ethische Analyse, in: Wiesemann, C. / Simon, A. (Hrsg.): Patientenautonomie. Theoretische Grundlagen – Praktische Anwendungen, Münster 2013, S. 205–221, hier S. 209. 1179 Vgl. ESchG, § 1, Abs. 5. 1180 Sorgner plädiert für die »Selektion von befruchteten Eizellen sowohl nach der Blastomeren – als auch nach der Blastozystenbiopsie […], da diese Prozesse als analog der Partnerwahl zu Fortpflanzungszwecken angesehen werden können.« (Sorgner, S. L.: Transhumanismus. »Die gefährlichste Idee der Welt«!?, Freiburg 2016, S. 152) Doch dieser Vergleich trifft nicht zu, insofern bei der Wahl eines Partners bzw. einer Part­ nerin kein menschliches Lebewesen vernichtet wird. 1181 Aber auch wenn nur ein Embryo nach einer assistierten Reproduktion heran­ wächst, ist die Gefahr für Fehlbildungen und Erbkrankheiten deutlich höher als bei anderen Kindern. Nicht selten bringen Paare, die sich auf eine assistierte Reproduktion einlassen, genetische Schäden mit und sind schon älter. Nicht ausgeschlossen werden kann, dass einige Schäden auch auf IVF und ICSI zurückgehen. In der Literatur wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass Krankheiten wie das Angelman-Syndrom oder das Beckwith-Wiedemann-Syndrom, die mit schweren geistigen und körperli­

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richtig weist Wiesemann allerdings darauf hin, dass medizinische Körpertechniken, wie wir sie heute z. B. im Bereich der Reprodukti­ onsmedizin wie der Gentechnologie kennen, unser Verhältnis zum eigenen Leib verändern. »Durch Keimzellspende, künstliche Befruch­ tung und Ersatzmutterschaft […] werden neue Netzwerke körperli­ cher Beziehungen und menschlicher Verwandtschaft geschaffen.«1182 Eingriffe in embryonale Entwicklungsphasen, so Wiesemann, blieben nicht ohne Folgen für unser Verständnis von Elternschaft.1183 Hin­ sichtlich der Embryodebatte sieht sie ein Problem in der Ausblendung des leiblichen Kontextes: »die Frau und ihre Schwangerschaft werden allenfalls als ›Milieu‹ oder ›Umgebungsfaktor‹ wahrgenommen.«1184 Diesen Punkt sollte man stärker machen und die Dimension der Leiblichkeit mehr in die Debatte einbeziehen: im Hinblick auf den Umgang mit dem mütterlichen und väterlichen Leib wie auch mit der hieraus hervorgehenden Leibesfrucht. Bei einem selektiven Fetozid wird eine Mehrlingsreduktion durchgeführt. Ethisch problematisch ist dies, da es zu einer Tötung eines oder mehrerer Feten kommt. Es ist zudem anzunehmen, dass die Tötung eines gesunden Kindes nicht spurlos an dem Paar, das doch so gerne Eltern werden möchte, vorübergehen wird. Außerdem besteht die ernstzunehmende Gefahr, dass die gesamte Schwangerschaft infolge dieses Eingriffes beendet wird. Gleichwohl gibt es (z. B. im US-amerikanischen Bereich) Stimmen, die einen selektiven Fetozid auch bei Zwillingen anempfehlen. »Eine systematische Bewertung der bislang gesammelten Erkenntnisse kommt hingegen zu dem Ergebnis, daß die Vorteile eines solchen Vorgehens noch keinesfalls zweifelsfrei nachgewiesen sind, also man nicht unbedingt davon ausgehen darf, daß jene Kinder, für die ihre

chen Behinderungen einhergehen, mit der IVF in Verbindung stehen könnten. Siehe hierzu: Lenzen-Schulte, M. / Queisser-Luft, A.: Zum Konflikt zwischen Kindeswohl und elterlichem Wunschdenken: Gesundheitsrisiken bei assistierter Reproduktion, in: Hoffmann, T. S. / Schweidler, W. (Hrsg.): Normkultur vs. Nutzenkultur. Über kulturelle Kontexte von Bioethik und Biorecht, Berlin 2006, S. 311–338, hier S. 322 f. 1182 Wiesemann, C.: Von der Verantwortung, ein Kind zu bekommen. Eine Ethik der Elternschaft, München 2006, S. 9. 1183 Vgl. ebd. 1184 A. a. O., S. 14.

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Geschwister geopfert werden, auch tatsächlich gesünder auf die Welt kommen und eine bessere Langzeitprognose haben.«1185

In einer Situation, in der es auf den ersten Blick sonst keine natürliche Lösung gibt, kann gerade die Technik eine enorme Anziehungskraft entfalten. Die Möglichkeiten der modernen Medizin legen nicht selten die Annahme nahe, Leben sei machbar, sei beherrschbar, in den Griff zu bekommen. Die assistierte Reproduktion kann als problematisch betrachtet werden, da hier an die Stelle des leiblichen Liebesaktes etwas anderes tritt und eine Herrschaft der Technik über den Ursprung menschlichen Lebens errichtet wird. An die Stelle der Leiblichkeit, der Zeugung in vivo, die im Verborgenen geschieht, tritt mit Hilfe Dritter die Herstellung in vitro, die beobachtbar und so besser verfügbar ist. Die Unwägbarkeiten des Lebens, das Geborenwerden wie auch das Sterben, werden zunehmend einer Kontrolle unterzogen. Es ver­ wundert kaum, dass die gesellschaftspolitischen Debatten in Deutsch­ land zur Euthanasie wie zum Social Egg Freezing in denselben Zeit­ raum fallen. Das Werden von Menschen kann durch die Methode des Social Egg Freezing zeitlich wie räumlich auseinandergerissen werden: Ursprünglich für Krebspatientinnen gedacht, die sich die Möglichkeit erhalten wollten, nach ihrer Therapie noch ein Kind zu bekommen, haben inzwischen Konzerne wie Google und Facebook die Möglich­ keiten des Social Egg Freezing1186 entdeckt und ihren Mitarbeiterinnen nahegelegt. Frauen sollten erst einmal arbeiten und zu einem späteren Zeitpunkt Kinder bekommen, wozu aber schon einmal vorsorglich Eizellen auf Eis gelegt werden. Die Indikation ist in dem Fall also eine soziale (weshalb doch eigentlich schon kritisch zu hinterfragen wäre, ob nicht nach anderen Modellen Ausschau gehalten werden sollte, Beruf und Familienleben besser zu vereinbaren). Auch in der postme­ nopausalen Zeit soll es kein Ding der Unmöglichkeit sein, ein Kind zu bekommen. Technisch ist es möglich, Eizellen einzufrieren, ohne Lenzen-Schulte, M. / Queisser-Luft, A.: Zum Konflikt zwischen Kindeswohl und elterlichem Wunschdenken: Gesundheitsrisiken bei assistierter Reproduktion, in: Hoffmann, T. S. / Schweidler, W. (Hrsg.): Normkultur vs. Nutzenkultur. Über kulturelle Kontexte von Bioethik und Biorecht, Berlin 2006, S. 311–338, hier S. 316. 1186 Zum Social Egg Freezing verweise ich auf: Bozzarro, C.: Ein Kind ja, aber irgend­ wann … Überlegungen zum Einsatz von Egg- und Ovarian-Tissue Freezing, in: Eichinger, T. / Bozzarro, C. / Maio, G. (Hrsg.): Kinderwunsch und Reproduktionsme­ dizin. Ethische Herausforderungen der technisierten Fortpflanzung, Freiburg / München 2013, S. 233–249. 1185

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dass Kristallisationsschäden auftreten (Vitrifikation). Ganz sicher sein kann die Frau nicht, dass sie später einmal schwanger wird, ist die Wahrscheinlichkeitsrate einer Schwangerschaft und Lebendgeburt nach Egg Freezing deutlich geringer als auf natürlichem Wege. Denkbar ist es auch, dass ein Zwilling erst Jahre später geboren wird als sein Geschwisterkind, vielleicht sogar eine ganze Generation. Hier verschieben sich dann nicht nur zeitliche Prozesse, sondern auch natürliche Familienverhältnisse. Auch an Nebenwirkungen bei der Frau ist zu denken: u. a. die Zunahme des Körpergewichts, Stim­ mungsschwankungen sowie Zystenbildungen.1187 »Zu den Belastungen der Hormonstimulation kommen noch die Belas­ tungen der Eizellenpunktion, die meist in Vollnarkose erfolgen muss und schon deshalb nicht ohne Risiko ist. Hinzu kommt, dass eine Schwangerschaft in späteren Jahren auch mit erhöhten Komplikations­ raten einhergeht.«1188

Treffend scheint mir die Kritik von Uta Bittner und Oliver Müller. Die beiden schreiben: »Wenn es […] nicht gelingen sollte, Kinder in das eigene berufstätige Leben zu integrieren, dann ist das ein Problem der Lebenskonzeption insgesamt. Kinder sind ja nicht einfach nur ein disponibles Element der Lebensplanung oder ein zu erfüllendes ›Programm‹, sondern sie sollten Teil des Lebens sein – und diese Teilhabe auch selber so erfah­ ren. […] Frei ist nicht jemand, der möglichst viele Handlungsoptionen hat, sondern jemand, der mit den Bedingungen der Existenz souverän umgehen kann.«1189

Problematisch ist nicht nur die Erzeugung von Embryonen auf künst­ lichem Wege, sondern dass dies meist auch unter dem Vorbehalt geschieht, erstmal einen Test bestehen zu müssen, um leben zu dürfen. Von einem Qualitätscheck soll es also abhängen, ob der sich entwickelnde Mensch angenommen wird oder eben nicht, ob er vernichtet wird oder heranreifen soll.

1187 Vgl. Maio, G.: Medizin ohne Maß? Vom Diktat des Machbaren zu einer Ethik der Besonnenheit, Stuttgart 2014, S. 37. 1188 Ebd. 1189 Bittner, U. / Müller, O.: Technisierung der Lebensführung. Zur ethischen Legi­ timität des Einfrierens von Eizellen bei gesunden Frauen als Instrument der Famili­ enplanung, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 14, Heft 1, 2010, S. 23–46, hier S. 39.

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In den Debatten wird pragmatisch argumentiert, dass so eine Abtreibung vermieden werden könne – und damit auch psychische Belastungen für die Frau. Aber ist das überzeugend? Dieses pragma­ tische Argument scheint schon von der Voraussetzung auszugehen, dass es richtig ist, sich bei einem Kind mit Gendefekt für einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden. Die Beendigung seines Lebens wird vorgezogen. Die Diskussionen zur PID1190 machen eine eigenartige Situation deutlich: Wenn vorgeburtliches Leben von der Gunst der Eltern abhängt und bis zu einem festgelegten Zeitpunkt auch beendet wer­ den kann, ist es schon ein wenig befremdlich, warum ein Embryo in vivo noch besonders geschützt werden sollte. Gerade daher müsste deutlich gemacht werden, warum der Embryo keine Sache ist. Fraglich ist es außerdem, den Anfang des menschlichen Lebens von ökonomischen Interessen bestimmen zu lassen, wenn wir einerseits an die Paare denken, die bereit sind, Geld für die Herstellung des eigenen Nachwuchses zu bezahlen, und andererseits an eine Reproduktionsmedizinindustrie, in der es zum Serviceangebot der Ärzte gehört, Kinder als Ware herzustellen. Pro­ blematisch ist, wenn ein Kind als Geschäftsgegenstand gesehen wird. In der Literatur zur assistierten Reproduktion trifft man immer wieder auch auf das Argument, man könne so der Natur ein wenig auf 1190 Seit dem Jahr 2011 ist in Deutschland in besonders begründeten Fällen bei Paaren, die selbst Träger einer schweren Erbkrankheit sind, die Präimplantationsdiagnostik (PID) zugelassen. Bei der PID wird so vorgegangen, dass ein bis zwei Zellen abgesondert werden, um diese untersuchen zu können. Dies provoziert die Frage nach dem Status der entfernten Zellen. Haben wir es hier schon mit einem potentiell neuen Embryo zu tun? M. Len­ zen-Schulte und A. Queisser-Luft weisen darüber hinaus auf die verbleibenden Zellen hin: »Nicht allein die Erkenntnis, daß dann innerhalb der Zelle gleichsam die epige­ netische Reset-Taste gedrückt wird, macht eine Biopsie in dieser vulnerablen Phase problematisch. Auch die Tatsache, daß zu diesem Zeitpunkt schon wesentliche Asym­ metrien im Embryo angelegt sind, die für ein späteres Oben/Unten oder Rechts/ Links, also für die Achsenbildung im Körper, von eminenter Bedeutung sind, muß berücksichtigt werden.« (Lenzen-Schulte, M. / Queisser-Luft, A.: Zum Konflikt zwi­ schen Kindeswohl und elterlichem Wunschdenken: Gesundheitsrisiken bei assistier­ ter Reproduktion, in: Hoffmann, T. S. / Schweidler, W. (Hrsg.): Normkultur vs. Nut­ zenkultur. Über kulturelle Kontexte von Bioethik und Biorecht, Berlin 2006, S. 311–338, hier S. 330). – Ist der Mann mit dem HI-Virus infiziert, wird in IVF und PID eine Möglichkeit gesehen, das Kind vor einer Ansteckung zu bewahren. Eine ähnliche Ten­ denz ist auch bei Frauen mit dem HI-Virus zu beobachten, insofern heute auf medi­ kamentösem Wege eine Übertragung des Virus im Mutterleib minimiert werden kann.

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die Sprünge helfen, den »Abläufen der Natur dort [entgegentreten], wo sie den Menschen in seiner freien Entfaltung behindern«1191. Es ist für unsere Diskussion gewinnbringend, einen wichtigen Unterschied zu vergegenwärtigen: Das Zeugen ist etwas entscheidend anderes als das Herstellen und Machen von Kindern.1192 Menschen können etwas herstellen, etwas bilden und machen. Die assistierte Reproduktion kann in diesem Sinne verstanden werden als Herstellung eines Kin­ des. Zeugung und Empfängnis sind dagegen personale Vorgänge, in denen sich zwei Menschen einander hingeben. Wir können an dieser Stelle noch einmal auf die aristoteli­ sche Unterscheidung von poíhsiV und pr£xiV zu sprechen kom­ men.1193 Handeln und Herstellen sind auseinanderzuhalten. Aristo­ teles begründet dies damit, dass beim Handeln das Ziel in diesem selbst liegt, das Hervorbringen dagegen sein Ziel außerhalb seiner selbst hat.1194 Beim Herstellen dreht sich alles um das, was hergestellt werden soll. Wir können auch sagen, dass es hierbei nicht um das Herstellen geht. Im Hergestellten liegt das Ziel. Beim Handeln sieht das anders aus. Bei der pr£xiV liegt der Zweck in der Handlung selbst,

Beier, K. / Wiesemann, C.: Reproduktive Autonomie in der liberalen Demokratie. Eine ethische Analyse, in: Wiesemann, C. / Simon, A. (Hrsg.): Patientenautonomie. Theoretische Grundlagen, praktische Anwendungen, Münster 2013, S. 205–221, hier S. 219. 1192 Verwiesen sei auf hellsichtige Arbeiten von J. Habermas (Die Zukunft der mensch­ lichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a. M. 2001), R. Spae­ mann (Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene, in: Spaemann, R.: Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze II, Stuttgart 2011, S. 301–320; Gezeugt, nicht gemacht. Die verbrauchende Embryonenforschung ist ein Anschlag auf die Menschenwürde, in: Geyer, C. (Hrsg.): Biopolitik. Die Positionen, Frankfurt a. M. 2001, S. 41–50; Kommentar, in: Kongregation für die Glaubenslehre: Die Unantast­ barkeit des menschlichen Lebens. Zu ethischen Fragen der Biomedizin. Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre. Mit einem Kommentar von Robert Spaemann, Frei­ burg 1987, S. 67–95), O. O’Donovan (Begotten or made?, Oxford 1984) und M. Hofheinz (Gezeugt, nicht gemacht. In-vitro-Fertilisation in theologischer Perspektive, Münster 2008) zu dieser Thematik. 1193 Ersteres bezeichnet ein Tun, das darauf abzielt, etwas hervorzubringen und herzustellen bzw. etwas zu erreichen. Bei poietischen Vollzügen handelt es sich um technische Prozesse. Ein technisches Know-how ist wichtig, um etwas herzustellen. Dies kann zweckmäßig oder eben auch nicht zweckmäßig sein. Hiervon unterscheidet Aristoteles praktische Vollzüge. Für unsere Handlungen benötigen wir praktisches Wissen. Es ist verortet im Kontext unserer sozialen Bezüge. Mein und dein Handeln kann gut oder auch böse sein. 1194 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik VI 5, 1140 b. 1191

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während beim Hervorbringen das Ziel außerhalb dessen liegt.1195 pr£xiV geschieht um der Handlung selbst willen. Ob etwas zweckmä­ ßig ist, heißt noch nicht schon, dass es auch gut und sinnvoll ist. Wir können gute wie auch schlechte Zwecke verfolgen. Sinnfragen stehen im Horizont der Frage nach dem guten Leben. Das Bauen eines Hauses ist ein Beispiel für poíhsiV. Dagegen ist das Musizieren ein Beispiel für pr£xiV.1196 Insofern pr£xiV in sich zweckhaft ist, seinen Sinn in seinem Tätigsein selbst hat, und die poíhsiV auf andere, äußere Zwecke ausgerichtet ist, stehen diese Tätigkeitsweisen nicht auf derselben Stufe. Das Zeugen ist in dem Sinne pr£xiV, Handeln.1197 Dagegen könnte die assistierte Reproduk­ tion als ein Herstellen bezeichnet werden. Das Gemachte verdankt seine Existenz dem Können und Planen eines Menschen.1198 Ein Mensch entsteht dagegen, so das Argument des Stagiriten, durch die Natur. Das Entstehen des Menschen unterliegt – anders als das Gemachte – nicht einem Zweck, den ein anderer Mensch an ihn herangetragen hat, sondern ist in der Natur verortet, dem Menschen insofern also entzogen, nicht verfügbar. Nicht überhören sollten wir freilich auch, was Kant zu dieser Thematik zu sagen hat. Hiernach ist in den Blick zu nehmen, dass die menschliche Person stets eine besondere Stellung innehat, auch wenn sie »Ich noch nicht sprechen kann, weil [sie] es doch in Gedanken hat«, wie er beispielsweise in § 1 seiner Anthropologie in pragmatischer Hin­ sicht schreibt.1199 In § 28 der Rechtslehre seiner Metaphysik der Sitten bringt er es folgendermaßen auf den Punkt: »Denn da das Erzeugte eine Person ist, und es unmöglich ist, sich von der Erzeugung eines mit Freiheit begabten Wesens durch eine physische Operation einen Begriff zu machen: so ist es eine in prak­ tischer Hinsicht ganz richtige und auch nothwendige Idee, den Act der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herübergebracht haben; für welche That auf den Eltern nun auch eine

Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik VI 2, 1139 b 2–5; EN VI 4, 1140 a 1–7. Vgl. Aristoteles: Magna Moralia II 11, 1211b 30 f. 1197 Vgl. Aristoteles: Historia animalium V 2, 539 b 20. In EN VIII 14, 1162 19 und Hist. An. IX 1, 589 a 3 ist von teknopoiein die Rede. 1198 Vgl. Aristoteles: Protreptikos B10. 1199 Kant, I.: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: AA Bd. VII, S. 127. 1195

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Verbindlichkeit haftet, sie, so viel in ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen.«1200

Und weiter heißt es: »Sie können ihr Kind nicht gleichsam als ihr Gemächsel (denn ein solches kann kein mit Freiheit begabtes Wesen sein) und als ihr Eigenthum zerstören oder es auch nur dem Zufall überlassen, weil sie an ihm nicht bloß ein Weltwesen, sondern auch ein Weltbürger in einen Zustand herüber gezogen, der ihnen nun auch nach Rechtsbegriffen nicht gleichgültig sein kann.«1201

Eltern zeugen nicht etwas, eine Sache, zu der sich im Laufe weiterer Entwicklungsprozesse noch eine Person dazugesellen würde. Meine Eltern haben mich gezeugt. Sie haben weder ein Ding gezeugt noch einen Vorläufer von mir, dem ich später den Rang abgelaufen habe. Sie und ich konnten uns nicht aussuchen, ob wir geboren werden wollen, oder mit den Worten des Königsbergers: bei der Geburt wird »eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt«1202. Ich bin aus einem nicht objektivierbaren Anfang hervorgegangen. Unverfügbar ist der Mensch von Anfang an. Kant macht darauf aufmerksam, dass wir es von Anfang an mit einer Person zu tun haben, und Zeugen mit Verantwortung verbunden ist.1203 Mit der Zeugung fällt den Eltern Verantwortung zu. Kinder sind keine Gemächsel ihrer Eltern, würde dies doch ein Hindernis für ihre Berufung zur Freiheit bedeuten. Auch der Mensch, der noch nicht von seiner Vernunft Gebrauch machen kann, hat als unverfügbar zu gelten.1204 Menschen zeugen, was ihnen wesensgleich ist. Gezeugte sind Ebenbürtige. Zeugen gehört zu uns als Personen.1205 Kant, I.: Die Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 28, in: AA Bd. VI, S. 280 f. A. a. O., S. 281. 1202 Ebd. 1203 Personales Leben beginnt mit der Zeugung, weshalb diese eine rechtliche und moralische Dimension hat. Vgl. Kant, I.: Die Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 28, AA Bd. VI, S. 31. 1204 Kant geht in seinen Reflexionen von der Kontinuität des Menschseins aus: Der Mensch entwickelt sich als dieser Mensch, nicht zum Menschen. »Wenn man aus der Natur des erwachsenen Menschen auf dessen ewige Dauer schließen kann, so muß auch der neugeborene Mensch dies hoffen lassen. Also auch der Embryo.« (Kant, I.: Reflexion Nr. 4239, in: AA Bd. XVII, S. 473). 1205 Vgl. Spaemann, R.: Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene, in: Spae­ mann, R.: Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze II, Stuttgart 2011, S. 301–320. 1200

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»A being who is the ›maker‹ of any other being is alienated from that which he has made, transcending it by his will and acting as the law of its being. To speak of ›begetting‹ is to speak of quite another possibility than this: the possibility that one may form another being who will share one’s own nature, and with whom one will enjoy a fellowship based on radical equality.«1206

Eben jene Unterscheidung von Zeugen und Machen ist in einer Zeit zu plausibilisieren, in der Technik allgegenwärtig ist, und vieles vom Paradigma des Machens her versucht wird einzuordnen, eine »Matrix des Machens« sich auf nahezu alle menschlichen Bereiche ausdehnt. Oliver O’Donovan hält ganz richtig fest: »When every activity is understood as making, then every situation into which we act is seen as a raw material, waiting to have something made out of it. If there is no category in thought for an action which is not artifactual, then there is no restraint in action which can preserve phenomena which are not artificial.«1207

Zeugen oder Machen – dieser Unterschied hat Konsequenzen, wie wir miteinander umgehen, hat Folgen für uns als Freiheitswesen.1208 Robert Spaemann macht ein Problem der IVF darin aus, die Gleichheit der Menschen auszuhebeln: Alle Menschen seien insofern gleich, als dass sie durch Zeugung entstanden wären und dies keine Erfindung des Menschen sei.1209 Er betont den Unterschied zwischen einer O’Donovan, O.: Begotten or made?, Oxford 1984, S. 2. A. a. O., S. 3. 1208 »A medicine which differentiated sharply between interfering in a healthy body and curing a sick one […] preserved an understanding of freedom which respected the constraints of health.« (A. a. O., S. 6). 1209 Vgl. Spaemann, R.: Kommentar, in: Kongregation für die Glaubenslehre: Die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. Zu ethischen Fragen der Biomedizin. Instruk­ tion der Kongregation für die Glaubenslehre. Mit einem Kommentar von Robert Spae­ mann, Freiburg 1987, S. 67–95, hier S. 93. Spaemann nimmt Bezug auf die Aussage des Nicänischen Glaubensbekenntnisses, wonach der Sohn Gottes nicht gemacht, sondern gezeugt wurde. Eben dies könne auf jede menschenwürdige Entstehung übertragen werden, auch losgelöst vom christli­ chen Glauben, insofern das Zeugen eine ganz grundlegende Gleichheit zum Ausdruck bringe. (Vgl. Spaemann, R.: Gezeugt, nicht gemacht. Die verbrauchende Embryonen­ forschung ist ein Anschlag auf die Menschenwürde, in: Geyer, C. (Hrsg.): Biopolitik. Die Positionen, Frankfurt a. M. 2001, S. 41–50, hier S. 43) Marco Hofheinz, der selbst von einer theologischen Perspektive aus zu argumentieren versucht, findet dieses Argument problematisch, da es dem Nicaenum um die göttliche und nicht die uns vertraute menschliche Zeugung ginge (vgl. Hofheinz, M.: Gezeugt, 1206

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personalen Begegnung und einem technischen Herstellen. Er hält Folgendes fest: »Es geht […] nicht um eine Herabwertung der Sphäre des zweckratio­ nalen Machens gegenüber der Sphäre des mitmenschlichen Umgangs, der ›Interaktion‹. Aber alles Machen bleibt nur menschlich, wenn es eingebettet ist in den Lebensvollzug des Umgangs mit sich und anderen, der selbst nicht den Charakter zweckrationaler Manipula­ tion hat.«1210

Im Hinblick auf Kinder, die im Labor entstehen, will Christina Schües zwei mögliche Wege sehen, wie man mit ihnen umgehen könnte: 1.) Der erste Weg bestünde darin, die Herkunft unbeachtet sein zu lassen. 2.) Die zweite Lösung würde darin bestehen, dass die im Labor hergestellten Kinder keine Menschen wären, »was zur Folge hätte, dass es ›gemachte‹ Wesen gäbe, die biotechnologisch zur Gattung der Menschen gehören, aber aus sittlich-ethischen Gründen aus der Menschengemeinschaft ausgeschlossen würden«1211. Für 1.) spricht, dass hier im Blick ist, dass unabhängig von der Art der Entstehung – sei es durch Geschlechtsverkehr zweier Menschen, die sich lieben, durch Vergewaltigung, durch Klonierung oder eben im Labor – wir es ganz klar mit einem Menschen zu tun haben. Das heißt jedoch nicht, dass all diese Möglichkeiten moralisch gleichwertig und zu befürworten sind. Für 2.) spricht, dass hier ein Gespür vorhanden zu sein scheint, dass es einen Unterschied zwischen Zeugen und Herstellen von Kindern gibt. Beide Wege sind jedoch nicht wirklich überzeugend. Beginnen wir mit 2.): Wer biologisch zur Gattung des Menschen gehört, ist ein Mensch. Er ist als Mensch anzuerkennen. Nicht besondere Fähigkei­ ten und Leistungen sind ein hinreichendes Kriterium für den Schutz nicht gemacht. In-vitro-Fertilisation in theologischer Perspektive, Münster 2008, S. 14). Spaemann würde dem wohl entgegen, dass verschiedene anthropologische Aussagen, etwa wenn wir an den Personbegriff denken, durch theologisches Nachdenken erst einmal vorbereitet wurden (vgl. Spaemann, R.: Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene, in: Spaemann, R.: Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Auf­ sätze II, Stuttgart 2011, S. 301–320, hier S. 304). 1210 Spaemann, R.: Kommentar, in: Kongregation für die Glaubenslehre: Die Unan­ tastbarkeit des menschlichen Lebens. Zu ethischen Fragen der Biomedizin. Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre. Mit einem Kommentar von Robert Spaemann, Freiburg 1987, S. 67–95, hier S. 89. 1211 Schües, C.: Philosophie des Geborenseins, Freiburg / München 2016 (erweiterte Neuausgabe), S. 475.

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und die Unverfügbarkeit des Menschen. Es ist die Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie. Das gilt es freilich auch im Blick zu haben, wenn wir über 1.) sprechen. Im Hinblick darauf, dass Menschen Freiheitswesen sind, bleibt etwas unbeachtet: dass hier Freiheit auf dem Spiel steht, Menschen zur Ware gemacht werden – etwa dadurch, dass Kinder »bestellt« werden, wodurch die Hersteller rechenschafts­ pflichtig werden, warum es das Kind gibt und warum gerade so. Es hat Konsequenzen, wie Menschen miteinander umgehen, für ihre Beziehungen zueinander. Der Unterschied zwischen Gewachsenem und Gemachtem, zwischen »etwas« und »jemand«, wird vernebelt. Die Argumente haben wir im vorliegenden Kapitel diskutiert. Ich möchte noch einen dritten Weg vorschlagen: Es ist nicht gut für den Menschen, die leibliche Liebe durch eine Herrschaft der Technik zu ersetzen. In der leiblichen Liebe begegnen sich Mann und Frau. Diese leiblichen Akte sind in sich schön und sinnvoll, auch wenn kein Kind daraus entsteht oder eine Unfruchtbarkeit bestehen sollte. Bei der leiblichen Liebe geht es zunächst und vor allem um die sich begegnenden Partner, die sich einander schenken und hingeben, dadurch verwirklichen. Sie ist gegenseitige Vollendung durch vorbehaltlose Hingabe. Auch wenn sich ein Paar sehnlichst ein Kind wünscht, tritt dies im Liebesakt zurück, sind die beiden Partner aufeinander gerichtet und ist nicht das mögliche Kind Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit.1212 Es gibt in dem Moment nur Ich und Du. Ein Er oder Sie tritt erst später hinzu.1213 Ob aus der leiblichen Vereini­ gung von Mann und Frau tatsächlich ein Kind erwächst, entzieht sich ihnen, ist letztlich Geheimnis, ja Gabe. Eine Gabe wird nicht erkauft. Sie entzieht sich ökonomischer Gesetzmäßigkeiten, ist nicht das Ergebnis eines Kalküls, ist unbere­ chenbar, gratis. Es steht nicht bei uns, ob wir sie bekommen oder nicht. Sie wird empfangen, nicht gemacht. Sie kann auch nicht bestellt

Freilich kann es auch möglich sein, dass sich für zwei Menschen, die miteinander schlafen, alles nur noch um ein Kind dreht, dies die alles beherrschende Intention ist, was sowohl die leibliche Begegnung als auch das Kind selbst funktionalisieren würde. Zwei Menschen können inständig hoffen, ein Kind zu bekommen. Es ist etwas anderes, ein Wunschkind oder Produkt des sehnsüchtig-verzweifelten Wollens und Herstellens der Eltern zu sein. 1213 Vgl. O’Donovan, O.: Begotten or made?, Oxford 1984, S. 17; Spaemann, R.: Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene, in: Spaemann, R.: Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze II, Stuttgart 2011, S. 301–320, hier S. 303 f. 1212

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bzw. eingefordert werden.1214 Es gehört zum Charakter der Gabe, dass sie offen ist, nicht planbar, sondern spontan, nicht mit Interessen verknüpft ist. Wir können auch sagen: Sie ist unverfügbar. Der Voll­ zug der Gebung kann nicht durch ein Machen ersetzt werden. Das Ankommen eines Kindes wird gutgeheißen. Es braucht sich nicht zu rechtfertigen, dass es da ist. Es als Gabe zu sehen heißt, dass es einfach gut ist, dass es da ist. Dieses Gutsein wird nicht abhängig gemacht von eigenen Wertpräferenzen oder Wunschvorstellungen. Jenseits der elterlichen Mitwirkung wird es als etwas angenommen, das unbedingt ist. Durch die IVF kann eine gefährliche Veränderung dieser Sicht ein­ treten, worauf Giovanni Maio hinweist. »[M]an könnte dazu verleitet werden, zu denken, dass dieses Kind nicht einfach aus unverfügbaren Vorgaben zur Welt gekommen ist, sondern nur deswegen da ist, weil seine Eltern alle verfügbaren Mittel angewendet haben, um es entstehen zu lassen.«1215 Und weiter: »Wenn Menschen nicht gezeugt, sondern technisch hergestellt werden, dann übernehmen die ›Macher‹ gleichsam die ›Produktgarantie‹ und werden mit entsprechenden Anspruchsrechten konfrontiert. Ab dem Moment, da das Selbstverständlichste des Selbstverständlichen – näm­ lich dass ein Leben einfach da ist, ohne dass man nach seinem Zweck fragen kann – außer Kraft gesetzt wird, kann es keine Ruhe mehr geben, kein angstfreies Ankommen eines neuen Menschen. Denn selbst dann, wenn man Ja zu diesem Menschen sagte, könnte man alles falsch gemacht haben.«1216

Wir werden diesen Aspekt an späterer Stelle erneut aufgreifen und vertiefen. Mir scheint es ein Irrtum, Schicksal grundsätzlich ausmerzen zu wollen. Insofern plädiere ich dafür, Strategien zu entwickeln, hiermit umgehen zu lernen und es in die eigene Lebensplanung zu integrieren. Unsere Freiheit kann gerade darin zum Ausdruck kommen, etwas Gegebenes hinzunehmen. Im Hinblick auf persönliches Leid durch ungewollte Kinderlosigkeit ist es wichtig, so früh wie möglich Alter­ nativen in den Blick zu nehmen: Zu denken wäre hier an eine Adop­

1214 Hierzu: Maio, G. (Hrsg.): Ethik der Gabe. Humane Medizin zwischen Leistungser­ bringung und Sorge um den Anderen, Freiburg 2014. 1215 Maio, G.: Medizin ohne Maß? Vom Diktat des Machbaren zu einer Ethik der Besonnenheit, Stuttgart 2014, S. 23. 1216 A. a. O., S. 31.

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tion,1217 die besondere Pflege einer Patenschaft oder auch das Leben ganz ohne Kinder. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz versucht, Perspek­ tiven aufzuzeigen, und fragt, ob ungewollte Kinderlosigkeit nicht auch als Stellvertretungsauftrag an anderen Kindern verstanden und gelebt werden könnte.1218 Väterlichkeit und Mütterlichkeit könnten sich »in der Übernahme fremden, schwächeren Lebens entfalten«1219. Die Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau ist Anerken­ nungsgemeinschaft par exellence. In ihr zeigt sich, wie sich freie Wesen wechselseitig anerkennen.1220 Eigene Interessen werden gegenüber dem Anderen hintangestellt, die eigene Selbstständigkeit wird zurückgenommen. Dem steht andererseits gegenüber, dass sich jene Selbstständigkeit im Kampf um Anerkennung zur Geltung zu bringen versucht. Die liebenden Personen mögen sich als gegensatz­ lose Einheit finden: Beide dürfen sich von dem jeweils Anderen anerkannt wissen. Die eine Person vermag sich in der anderen Person selbst zu gewinnen. Anerkennen meint, durch Zurücknahme seiner Selbst dem Anderen Freiheit zu geben. Einseitig funktioniert das freilich nicht, sondern die Selbstbeschränkung muss wechselseitig sein. An eben jene Selbstbeschränkung der Liebenden wäre auch hier zu erinnern. Selbstinteressen sind zurückzustellen, so dass letztlich Freiheit wachsen kann.1221 Anerkenne ich jemanden als Vernunft- und Freiheitswesen, schließen sich bestimmte Verhaltensweisen, solche etwa, die den anderen als mein Machwerk, als bloßes Objekt, behan­ deln würden, aus. Ein adoptiertes Kind darf erfahren, so angenommen und geliebt zu werden, wie es ist. Es darf erfahren, dass es gut ist, dass es dieses Kind gibt. Weil es dieses Kind gibt, wird es geliebt. 1218 Vgl. Gerl-Falkovitz, H.-B.: Kinderlosigkeit. Als Schicksal annehmen?, in: Imago Hominis 24, 1 (2017), S. 61–69. 1219 A. a. O., S. 66. 1220 »Liebe heißt überhaupt das Bewußtsein meiner Einheit mit einem anderen, so daß ich für mich nicht isoliert bin, sondern mein Selbstbewußtsein nur als Aufgebung meines Fürsichseins gewinne und durch das Mich-Wissen. Als der Einheit meiner mit dem anderen und des anderen mit mir.« (Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke Bd. 7, hrsg. von E. Moldenhauer / K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1986, S. 307). 1221 Den ersten Schrei eines Neugeborenen deutet Kant als »seinen Anspruch auf Freiheit«. (Kant, I.: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: AA Bd. VII, 268) Geboren wird ein Mensch aus Fleisch und Blut, ein erlebendes Subjekt, das zur Freiheit bestimmt ist. Das weinende Kind erlebt, ohnmächtig und abhängig zu sein. Wir gehen mit ihm anders um als mit einem Tier oder etwas Gemachtem. Es hat einen Anspruch, als Freiheitswesen angenommen zu werden. 1217

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8.2 Möglichkeiten und Grenzen der Gentherapie

Es kann und sollte nicht darum gehen, auf »Biegen und Brechen« ein Kind zu bekommen, sondern dem Leiden der Paare aufrichtig zu begegnen und dies zu lindern zu versuchen. Gemeinsam mit Seel­ sorgern und Psychotherapeuten sollte nach Wegen gesucht werden, mit der eigenen Verzweiflung und Panik umzugehen, die Enge ihrer Perspektive (»Wir möchten auf jeden Fall ein eigenes Kind und sind bereit, dafür alles zu tun!«) in Freiheit und Weite zu wandeln.

8.2 Möglichkeiten und Grenzen der Gentherapie 8.2.1 Die Faszination der Gene Unser Wissen um verschiedene Gene, die für Krankheiten eine besondere Rolle spielen, wurde nicht zuletzt durch die Humange­ nomprojekte befördert – womit sich ein Weg aufgetan hat, aus der »Lesbarkeit« des Körpers entsprechende Folgen abzuleiten.1222 Leben vollzieht sich, um es mit Heidegger zu formulieren, in der Spannung von Geworfenheit und Entwurf: dem, was einem schicksalhaft in die Wiege gelegt ist, und wie das eigene Leben geplant und verwirklicht wird. Dieses Verhältnis verschiebt sich heute. Seit es möglich ist, für verschiedene Krankheiten eine genetische Ursache / Mitursache zu benennen, gibt es auch den Wunsch, diesbezüglich tätig werden zu können – wie auch eine neue Form von Belastung, wenn die entsprechenden therapeutischen Möglichkeiten noch fehlen sollten. »Will der Mensch angesichts des weggefallenen Widerstands [den die Natur dem Menschen entgegensetzte] nicht nach vorn fallen und stolpern, muss er sich an die Stelle der Natur selbst die Gren­ zen setzen.«1223 Das Ziel der Gentechnologie sieht Petra Gelhaus, »neben reinem Erkenntnisge­ winn [in der] technische[n] Anwendung des genetischen Codes« (Gelhaus, P.: Gen­ therapie und Weltanschauung. Ein Überblick über die gen-ethische Diskussion, Darm­ stadt 2006, S. 23). Gentherapie wird dann als »Anwendung der Gentechnologie« verstanden (a. a. O., S. 25). Zu der von mir verwendeten Metapher: Blumenberg, H.: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1986, S. 372–409. 1223 Honnefelder, L.: Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen? Die Herausforderung der Humangenomforschung – Eine Einführung, in: Honnefelder, L. / Propping, P. (Hrsg.): Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, Köln 2001, S. 9–25, hier S. 20. 1222

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In den Debatten zu neuen technologischen Entwicklungen kann man nicht selten den Verdacht hören, die Philosophie hinke der Entwicklung hinterher. Um es mit einem oft bemühten – aber nicht immer richtig verstandenen – Bild zu sagen: Die Eule der Minerva beginne ihren Flug erst, wenn es schon dunkel werde und das Tagesgeschehen erledigt sei. Doch täuschen wir uns nicht: Die Eule der Minerva kommt nicht zu spät. Sie fliegt in die Nachtschatten und Dämmerungen, in den Zwischenbereich von heute und morgen hinein und vermag klare Konturen zu sehen, wo es dunkel ist – und andere nichts oder nur schlecht sehen. Wenn Klarheiten verdrängt werden und Unsicherheiten auftreten, schlägt die Stunde der Philoso­ phie. Philosophische Kritik – Kritik kommt bekanntlich von krínein: unterscheiden – hat im Verborgenen mitschwingende Annahmen und Überzeugungen freizulegen. In diesem Sinne sollte es darum gehen, in den Dämmerungen und grauen Zwischenbereichen Konturen zu entdecken und schließlich Orientierung zu bieten. Das Wissen, das uns die genetische Forschung bereitstellt, ist Funktionswissen. Wir wissen z. B., dass dieses oder jenes Gen eine bestimmte Funktion übernimmt. Oder wir übertragen bestimmte Mechanismen von einer Tierart auf eine andere. Wissen um Funk­ tionszusammenhänge ist Herrschaftswissen. Mit Gadamer gespro­ chen: »Die Wissenschaft und ihre technische Anwendung haben zu einem großen Herrschaftswissen in großem Maßstab und an Grenzsituationen herangeführt, die sich schließlich verletzend gegen die Natur wenden.«1224 Der Ruf der Eule der Minerva erinnert uns demgegenüber an ein gerade heute so wichtiges Orientierungswissen und sittlich-praktisches Wissen.1225 Es geht darum, wie angesichts

1224 Gadamer, H.-G.: Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt a. M. 2010, S. 131. Von Herrschaftswissen ist, wie obiges Zitat zeigt, im Bereich der philosophischen Hermeneutik, der Phänomenologie wie auch bei Vertretern der Frankfurter Schule die Rede: Horkheimer, M.: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft: aus den Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende, Frankfurt a. M. 1985; Scheler grenzt Herr­ schaftswissen von Heils- und Bildungswissen ab. Vgl. Scheler, M.: Die Wissensformen und die Gesellschaft, Bonn 2008. 1225 Bereits Aristoteles weist auf die wichtige Herangehensweise hin, im Hinblick auf einen Gegenstand unterschiedliche Wissensarten auseinanderhalten zu können: Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik I 1, 1094 b 22–25; Metaphysik IV 4, 1006 a 5–8. Zu dieser Thematik siehe auch: Honnefelder, L. / Propping, P. (Hrsg.): Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, Köln 2001.

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des anwachsenden biotechnischen Verfügungswissens das Humane gewahrt werden kann. Im Horizont praktischer Vernunft sind Risiken abzuwägen. Wis­ sen ist gefragt: Zunächst einmal, ganz klar, müssen Fakten angeeignet werden. Es geht um Sachwissen. Dies allein genügt jedoch nicht. Es muss einhergehen mit einem sittlich-praktischen Wissen sowie einem Orientierungswissen. Neue Anwendungsperspektiven und Wege der Forschung müssen in einem größeren Horizont gesehen werden. Verschiedene Perspektiven – nicht nur naturwissenschaftli­ che – sondern auch politisch-kulturelle, religiöse und philosophische Dimensionen sind zu berücksichtigen. Es ist oftmals ein ganzer Strauß von Fragen, der mit neuen Technologien verbunden ist: Das beginnt bei der Frage, was überhaupt das Ziel sein soll. Steht ein therapeutisches Ziel im Vordergrund? Welche Auswirkungen kann diese Technologie haben: bezogen auf den betreffenden Menschen, auf andere Menschen, auf die Umwelt? Wir sehen schnell, dass es nicht weiterführt, wollten wir uns lediglich etwaigen Ängsten widmen. Ebenso, wenn sich alles insbesondere darum dreht, Akzeptanz für eine neue technologische Entwicklung zu schaffen oder zu fördern. Wer dies tut, macht den zweiten Schritt vor dem ersten: Zunächst einmal sollte ganz grundsätzlich erörtert werden, ob die neue technologische Entwicklung zu begrüßen und zu akzeptieren ist.

Wenn wir in diesem Kontext von »Orientierung« sprechen, geht es auch um die Frage, ob wir uns angesichts des rasanten Wandels durch Wissenschaft und Technik über­ haupt noch als Subjekte von Wissen begreifen können und wollen oder eher als Objekte von gesellschaftspolitischen Veränderungen. Die Leitfrage des Verfügungs­ wissens lautet: Was kann ich mit diesem oder jenem machen? Doch die technische Beherrschung von Mitteln bedeutet nicht schon verantwortungsbewusstes Handeln. Verfügungswissen ist partikular, objektbezogen. Demgegenüber hat Orientierungs­ wissen einen Selbstbezug: »Es ist seiner Natur nach reflexiv; man orientiert sich« (Beckmann, J. P.: Autonomie. Aktuelle Herausforderungen der Gesellschaft, Freiburg / München 2020, S. 72). Als »Anleitungswissen« erweist es sich als »universal und subjektbasiert« (ebd.). Orientierungswissen zielt darauf ab, angesichts der mannig­ fachen Weisen des Verfügbarmachenkönnens verantwortungsbewusstes Handeln im Horizont der Vernunft zu ermöglichen. »Nach einer Orientierung Ausschau zu halten heißt mithin zu fragen, wie der Einzelne wieder 1. zum Wissensträger werden kann und 2. zu einer kohärenten und 3. zu einer folgenverantwortlichen Urteilsfindung gelangen kann.« (A. a. O., S. 78).

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Im Hinblick auf Experimente sind Grundstandards einzuhal­ ten,1226 die etwa im Nürnberger Kodex und der Deklaration von Hel­ sinki festgehalten sind: An erster Stelle steht dabei, dass Experimente nicht gegen den Willen eines Patienten durchgeführt werden dürfen. Er muss freiwillig informiert zustimmen. Hinzu kommt, dass das Wohlergehen des Betroffenen gegenüber etwaigen Schädigungen zu überwiegen hat. Und drittens muss vorausgesetzt sein, dass hiermit wirklich ein medizinischer Fortschritt im Namen des allgemeinen Wohls zu erwarten ist.1227 Sachwissen und Orientierungswissen sollten kein getrenntes Leben voneinander führen. Aus dem Sachwissen folgt noch keine Antwort, wie wir leben wollen und was zu tun ist. Andererseits setzt Orientierung voraus, dass gewusst wird, worum es geht. Das eine hängt ohne das andere in der Luft. In der Beurteilung neuer technolo­ gischer Entwicklungen kann es nicht nur darum gehen, ökonomische oder auch psychologische Aspekte herauszugreifen. Grundlegende Aspekte wie die Würde des Menschen sind in die Reflexion einzu­ beziehen. Fragwürdige Verkürzungen – etwa eine Reduktion des Menschen auf seine Gene – sind tunlichst zu vermeiden. Während eine Genomanalyse das Gegebene analysiert,1228 wird Gentherapie ein Eingreifen genannt, das einen Defekt korrigieren 1226 Siehe hierzu auch: Jonas, H.: Humanexperimente, in: Sass, H.-M. (Hrsg.): Medi­ zin und Ethik, Stuttgart 1989, S. 232–253. 1227 Hatte Kant argumentiert, dass ein Mensch niemals bloß als Mittel zu behandeln sei, legt die Europäische Konvention über Menschenrechte und Biomedizin in diesem Sinne fest, dass dem Einzelnen stets »Vorrang gegenüber dem bloßen Interesse der Gesellschaft oder der Wissenschaft« zukommt (Europäische Konvention über Men­ schenrechte und Biomedizin bzw. Oviedo-Konvention, Art. 2). 1228 Eine krankheitsrelevante Mutation führt jedoch nicht in jedem Fall auch zu einer Krankheit. Durch dieses Wissen können etwa vorbereitende Maßnahmen getroffen, Pläne verändert werden. In manchen Fällen bezieht sich dieses Wissen auch auf andere Familienangehörige. Jan P. Beckmann weist darauf hin, dass ein präsymptomatischer Ansatz zunehmend an die Stelle eines symptomorientierten Ansatzes trete. Er gibt kritisch zu bedenken, dass der Mensch aufgrund der Genomanalyse zu einem »poten­ tiell Kranken« gemacht werde – »und zwar auch dann, wenn die Krankheit mögli­ cherweise nie manifest werden sollte«. (Beckmann, J. P.: Ethische Herausforderungen der modernen Medizin, Freiburg / München 2009, S. 149) Gegenüber einem sym­ ptombezogenen Wissen werde ein Mensch durch das genbasierte Wissen, bei dem etwaige Erkrankungsmöglichkeiten zu Tage treten können, zu einem »Gesunde[n] at a known risk« (Beckmann, J. P.: Die Verständigung auf ein gemeinsames Menschen­ bild ist unverzichtbar. Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Gesell­ schaft, in: Beer, W. / Platzer, K. (Hrsg.): »Technik ins Gerede bringen«. Der bioethische

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soll. Leitendes Ziel ist es, eine Krankheit zu verhindern bzw. auf diesem Wege zu heilen. Mutationen sollten korrigiert, Fehler im Genom behoben werden. In diesem Sinne soll Gentherapie eine Bekämpfung »an der Wurzel«, d. h. eine Kausaltherapie, sein. Heute spricht man in einem weiteren Sinne von Gentherapie: Sie »beinhaltet heute nicht nur die Korrektur eines krankheitsverursachenden Gens, sondern umfasst jeglichen Einsatz von DNA [oder RNA] zu heilen­ den oder gesunderhaltenden Zwecken.«1229 Dieser Einsatz von DNA kann 1.) regulierend / inaktivierend, 2.) einen Mangel behebend, 3.) hinzufügend / entfernend, 4.) austauschend sein.1230 Als Ziele können in Anschlag gebracht werden: a) Prävention, b) Therapie und g) Heilung.

und biopolitische Diskurs in Deutschland, Schwalbach 2004, S. 45–62, hier S. 50; Beckmann, J. P.: Autonomie. Aktuelle Herausforderungen der Gesellschaft, Freiburg / München 2020, S. 83). Jan P. Beckmann hat überzeugend auf das mit den neuen Diagnosemöglichkeiten ein­ hergehende veränderte Verständnis von Gesundheit und Krankheit hingewiesen. »Krankheit wird nicht mehr nur als abzuwehrender, sondern als möglicherweise von vornherein zu eliminierender Zustand begriffen, und Gesundheit nicht mehr als ein jederzeit gefährdeter, sondern als ein gleichsam zu garantierender Zustand betrach­ tet.« (Beckmann, J. P.: Die Verständigung auf ein gemeinsames Menschenbild ist unverzichtbar. Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft, in: Beer, W. / Platzer, K. (Hrsg.): »Technik ins Gerede bringen«. Der bioethische und bio­ politische Diskurs in Deutschland, Schwalbach 2004, S. 45–62, hier S. 55) Ergänzend kann man hier hinzufügen, dass hiermit freilich auch eine veränderte Sicht auf den Arztberuf einhergeht, der dafür Sorge tragen soll, dass der Mensch sich selbst durch­ sichtig wird und Gesundheit garantiert werden kann. Aus dem epistemischen Status, so Beckmann, könnten nicht einfach neue Handlungsoptionen geschlussfolgert wer­ den. (Vgl. Beckmann, J. P.: Autonomie. Aktuelle Herausforderungen der Gesellschaft, Freiburg / München 2020, S. 83) Der Genetiker Rudolf Hausmann weist auf einen Problemkomplex hin, der mit der Frage der Gendiagnostik und Gentherapie verbunden ist: »Wenn sich dann anhand genetischer Profile schon in Föten die Anfälligkeit für spätere Erkrankungen abschät­ zen lässt? Diabetes, Kreislaufstörungen, Krebs …, eine Glatze schon mit 40? Wird man potentiell Benachteiligte ausgrenzen, diskriminieren, z. B. in Arbeitsverträgen und Versicherungen, kurzweg einfach abtreiben, um diese Probleme gar nicht erst aufkommen zu lassen?« (Hausmann, R.: … und wollten versuchen, das Leben zu ver­ stehen … Betrachtungen zur Geschichte der Molekularbiologie, Darmstadt 1995, S. 209, zit. nach: Wuketits, F. M.: Bioethik. Eine kritische Einführung, München 2006, S. 68). 1229 Rehmann-Sutter, C.: Gentherapie, in: Sturma, D. / Heinrichs, B. (Hrsg.): Hand­ buch Bioethik, Stuttgart / Weimar 2015, S. 270–274, hier S. 270. 1230 Theoretisch kann er auch verbessernd sein. Aber dies wäre ein Ziel des Enhance­ ments.

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Biomedizinische Eingriffe müssen sich zuvor in Studien bewährt haben. Für die ethische Bewertung von Eingriffen ist a) die Ein­ griffstiefe bzw. der Zeitpunkt wie auch b) die leitende Intention zu berücksichtigen. Ad a) Es gibt Eingriffe, die reversibel sind. Die hiermit verbundenen Risiken sind hier meist geringer als bei ande­ ren Eingriffen. Auf einer anderen Ebene stehen solche Eingriffe an der genetischen Ausstattung des Menschen, die nicht rückgängig gemacht werden können. Und auf einer nochmals anderen Stufe stehen Eingriffe, die nicht rückgängig gemacht werden und nicht auf das einzelne Individuum beschränkt sind. Ad b) Ein ärztliches Han­ deln in therapeutischer Absicht ist etwas anderes als ein Tätigwerden in Enhancement-Absicht. Heute ist es medizintechnisch möglich, DNA bzw. RNA in die Körperzellen eines Menschen zu bringen. Eine solche Gentherapie wird vorwiegend bei a) monogenetischen Krankheiten durchgeführt. Sie bezieht sich aber auch auf b) Infektionskrankheiten (wie z. B. HIV), c) kardiovaskuläre und d) onkologische Krankheiten. Die Vor­ gehensweise sieht dabei meistens so aus, dass dem Patienten zunächst Körperzellen entnommen werden, in die dann in vitro DNA bzw. RNA transferiert wird, um diese schließlich dem Patienten zuzufügen mit dem Ziel, seine Krankheit zu behandeln. Auch eine Behandlung in vivo ist möglich. »Für eine Gentherapie ist es nicht nötig, dass das übertragene geneti­ sche Material in das Erbgut des Patienten eingebaut wird, auch wenn die Idealvorstellung wäre, dass ein ›defektes‹ Gen einfach ausgetauscht würde. Entscheidend ist in der Regel, dass das Produkt, welches vom übertragenen Gen kodiert wird, von der behandelten Zelle syntheti­ siert wird (›Expression‹).«1231

Die Gentherapie hat schon einige »Berg- und Talfahrten« hinter sich. Es gab Erfolgsmeldungen und solche, die sehr nachdenklich stimmen. Ende der 1960er Jahre formuliert Marshall Nirenberg, 1968 mit dem Nobelpreis für Medizin und Physiologie ausgezeichnet, die folgende hoffnungsvollen Worte, die als Startschuss für die heutige Genthera­ pie angesehen werden können. In einem Artikel für Science fragt er, wo die Forschung steht, und ob die Gesellschaft auf Entwicklungen aus dem Bereich der Genetik und Gentechnologie vorbereitet ist: Gelhaus, P.: Gentherapie und Weltanschauung. Ein Überblick über die gen-ethische Diskussion, Darmstadt 2006, S. 25.

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»The point which deserves special emphasis is that man may be able to program his own cells with synthetic information long before he will be able to assess adequately the long-term consequences of such alter­ ations, long before he will be able to formulate goals, and long before he can resolve the ethical and moral problems which will be raised.« Und dann heißt es: »When man becomes capable of instructing his own cells, he must refrain from doing so until he has sufficient wisdom to use this knowledge for the benefit of mankind.«1232

Spätestens seit den 1970er Jahren beflügelte die Vorstellung, man könne eine Therapie am Genom durchführen, nicht wenige Wissen­ schaftler und Betroffene. Im Jahre 1979 war es bei einer Maus gelun­ gen, genetische Defekte durch unbeschädigte Gene zu ersetzen.1233 1990 wurde in den USA erstmals ein Mädchen, kurz darauf in Italien ein Junge, mit Adenosin-Desaminase-Defizienz, einer seltenen Erb­ krankheit, und einer schweren Immundefizienz (SCID1234) genthera­ peutisch behandelt. Ex vivo wurden Stammzellen mit einem intakten Gen des fehlenden Enzyms versehen und dann den jungen Patienten erfolgreich zugefügt. In den Folgejahren gab es allerdings nicht wenige Rückschläge, auch Todesfälle.1235 Im Jahr 1999 wurden im Zuge eines gentherapeutischen Experimentes in die Leber des gerade erst Voll­ jährigen Jesse Gelsinger Adenoviren eingebracht, welche die gene­ tischen Information für die Synthese des Ornithin-Transcarbamy­ lase-Enzyms (OTC) trugen. Ist dieses Enzym nicht in ausreichender Menge im Körper vorhanden, kommt es zu gravierenden Problemen beim Harnstoffwechsel und sogar zum Tod. Bei Gelsinger kam es 1232 Nirenberg, M. W.: Will Society Be Prepared?, in: Science 157 (1967), Nummer 3789, S. 633. 1233 Vgl. Domasch, S. / Fehse, B.: Gentherapie in Deutschland. Eine Einführung, in: Fehse, B. / Domasch, S. (Hrsg.): Gentherapie in Deutschland. Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme. Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologie­ bericht (Herausgeberin der Reihe: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaf­ ten), Berlin 22011, S. 31–40, hier S. 31. 1234 Es gibt auch Behandlungen von SCID, die nicht auf die Gentherapie zurückgrei­ fen: etwa die Knochenmarkstransplantation. 1235 Vgl. Fehse, B. / Domasch, S. (Hrsg.): Gentherapie in Deutschland. Eine interdis­ ziplinäre Bestandsaufnahme. Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gen­ technologiebericht (Herausgeberin der Reihe: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften), Berlin 22011, S. 14 ff.; Graumann, S.: Die somatische Gentherapie in der Krise. Kritische Fragen an ein experimentelles Theoriekonzept, in: Rehmann-Sut­ ter, C. / Müller, H. (Hrsg.): Ethik und Gentherapie. Zum praktischen Diskurs um die molekulare Medizin, Tübingen 22003, S. 117–133.

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nach dem Eingriff zu einer Überreaktion des Immunsystems. Er starb an Multiorganversagen.1236 Graumann erläutert die besondere Tragik dieses Gentherapieexperimentes: »Viele der von dieser seltenen Krankheit betroffenen Neugeborenen sterben an einer Ammoniumvergiftung. Die überlebenden Betroffenen führen aber durch eine eiweißarme Diät und geeignete Medikamente ein relativ normales Leben. Der betreffende Proband hatte eine sehr milde Form der Krankheit und war durch Diät und medikamentöse Behandlung praktisch beschwerdefrei. […] Aber nicht nur deshalb, sondern auch weil Hinweise auf schwere Entzündungsreaktionen bei dieser Gentherapieform aus Tierversuchen und früheren klinischen Versuchen vorlagen, ist der Fall so tragisch.«1237

In Frankreich wurden im Jahr 2000 elf Kinder gentherapeutisch behandelt. Alles sah zunächst gut aus. Später verstarben zwei der Kinder an Leukämie, was Experten mit der Gentherapie in Verbin­ dung bringen. In Deutschland wurden 1994 die ersten gentherapeutischen Experimente genehmigt und durchgeführt. Seit der Jahrtausend­ wende gibt es Erfolge im Bereich der klinischen Anwendung. Derzeit können regelmäßig eine Reihe von Fortschritten vermeldet werden. Gentherapie wirft Fragen auf, die alle angehen – nicht nur Experten­ zirkel. Jürgen Hampel ist sicherlich recht zu geben, wenn er unter­ streicht, dass die Zukunft der Gentherapie ganz entscheidend an der Frage einer Unterstützung und Zustimmung durch die Gesellschaft hänge.1238 Eine breite gesellschaftliche Suche nach tragfähigen Ant­ worten auf jene Fragen, die durch Gentherapie aufgeworfen werden, Pluriperspektivität im besten Sinne des Wortes, wäre wünschenswert. Auf Dauer gesehen, werden die Möglichkeiten der Gentherapie und die Gentechnik insgesamt unser Verständnis von Kranksein und 1236 Vgl. Domasch, S. / Fehse, B.: Gentherapie in Deutschland. Eine Einführung, in: Fehse, B. / Domasch, S. (Hrsg.): Gentherapie in Deutschland. Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme. Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologie­ bericht (Herausgeberin der Reihe: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaf­ ten), Berlin 22011, S. 31–40, hier S. 32 f. 1237 Graumann, S.: Die somatische Gentherapie. Entwicklung und Anwendung aus ethischer Sicht, Tübingen / Basel 2000, S. 7. 1238 Vgl. Hampel, J.: Wahrnehmung und Bewertung der Gentherapie in der deutschen Bevölkerung, in: Fehse, B. / Domasch, S. (Hrsg.): Gentherapie in Deutschland. Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme. Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht (Herausgeberin der Reihe: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften), Berlin 22011, S. 227–255, hier S. 229.

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Gesundsein beeinflussen. Hiermit hängt dann auch eine veränderte Selbstwahrnehmung der Medizin als einer zunehmend auf Moleku­ larisierung resp. Genetifizierung orientierten Disziplin zusammen. Der Mensch ist mehr als seine Gene – und Medizin demnach auch mehr als Genetik. »Das Vorgegebene, das nicht Machbare, das einfachhin Seiende, das sind Vorstellungen, die in einer auf Funktionalität, Planbarkeit, Kontrollierbarkeit und Effizienz ausgerichteten Medizin gar keinen Platz haben. Eine Medizin, die so tut, als wäre sie die Meisterin der Krankheit, ignoriert die Tatsache, dass sie selbst auf viele Vorgaben angewiesen ist, damit ihr Heilauftrag auch glückt.«1239

Im Folgenden ist zwischen somatischer Gentherapie (somatic cell gene therapy) einerseits und einer Keimbahntherapie (germline cell gene therapy) andererseits zu unterscheiden.1240

8.2.2 Somatische Gentherapie Beginnen wir mit der somatischen Gentherapie! Ihr Ziel ist es, die Krankheit eines Menschen zu heilen.1241 Wenn in diesem Kontext von »somatisch« die Rede ist, wird unterstrichen, dass der Eingriff an Körperzellen erfolgt. Die somatische Gentherapie kommt bei bereits differenzierten Zellen (wie etwa Blutzellen) zum Einsatz. Methodisch wird sie ex vivo und in situ durchgeführt. Ex vivo bedeutet in unserem 1239 Maio, G.: Gefangen im Übermaß an Ansprüchen und Verheißungen. Zur Bedeu­ tung des Schicksals für das Denken der modernen Medizin, in: Maio, G. (Hrsg.): Abschaffung des Schicksals? Menschsein zwischen Gegebenheiten des Lebens und medi­ zin-technischer Gestaltbarkeit, Freiburg 32015, S. 10–48, hier S. 19. 1240 Seit den 1980er Jahren wird diesbezüglich eine Unterscheidung getroffen. 1241 Siehe hierzu: Deutscher Ethikrat: Zugriff auf das menschliche Erbgut. Neue Möglichkeiten und ihre ethische Beurteilung, Jahrestagung 2016, Simultanmitschrift) https://www.ethikrat.org/jahrestagungen/zugriff-auf-das-menschliche-erbg ut-neue-moeglichkeiten-und-ihre-ethische-beurteilung/?cookieLevel=not-s et&cHash=7ed20ea73e98dc7ee0fab4317d19d928 (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022); Fuchs, M.: Gentherapie, Bonn 2012; Fehse, B. / Domasch, S. (Hrsg.): Gentherapie in Deutschland. Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme. Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht (Herausgeberin der Reihe: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften), Berlin 22011; Graumann, S.: Die somatische Gentherapie, Tübingen 2000; Rehmann-Sutter, C. / Müller, H. (Hrsg.): Ethik und Gentherapie. Zum praktischen Diskurs um die molekulare Medizin, Tübingen 22003.

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Kontext, dass eine defekte Zelle eines Patienten durch ein normal funktionierendes Gen außerhalb des Körpers (nämlich im Labor) ersetzt wird. Zunächst werden dafür einige Zellen entnommen, an denen die entsprechenden Veränderungen durchgeführt werden, um sie schließlich wieder in den Körper einzubringen.1242 Da viele Kör­ pergewebe (wozu etwa unser Herz und Hirn gehören) nicht einfach entfernt werden können, bedarf es eines weiteren Verfahrens, bei dem eine Übertragung der Gene direkt im menschlichen Körper erfolgt. In situ kommt aus dem Lateinischen und meint lokal. »In the in situ method, the physician introduces the normal-functioning gene directly into the patient’s body at the site of the disease. Since it is not usually possible to precisely locate a disease site, this technique has been used only rarely.«1243 Weitere Entwicklungen werden in Rich­ tung von in vivo-Behandlung gehen: »The procedure would involve simply injecting viral vectors into the bloodstream, which would then carry the normal-functioning gene directly into the proper tissue. If this method of somatic cell gene therapy does become fully developed, it will be just as easy to get ›gene therapy‹ as it currently is to get a flu shot.«1244 Gentherapeutische Einsätze können je nach Art und Methode irreversibel oder zeitlich beschränkt sein. Derzeit stehen insbesondere Stammzellen sowie postmitotische Zellen im Fokus gentherapeutischer Ansätze. Um DNA an die gewünschten Stellen des Körpers zu bringen, benötigt man Transportvehikel, sog. Genfähren. Für diese Aufgabe werden häufig inaktivierte Viren, Liposome sowie synthetische Vek­ toren benutzt.1245 Die viralen Vektoren dürfen freilich keine Krankheit Zu denken ist etwa an Blut-, Haut- oder auch Leberzellen. Tong, R.: Feminist Approaches to Bioethics. Theoretical Reflections and Practical Applications, Oxford 1997, S. 227. 1244 Ebd. 1245 Näheres hierzu: Limberis, M. P.: Phoenix rising: gene therapy makes a comeback, in: Acta Biochim Biophys Sin 44 (2012), S. 632–640. Verschiedene physikalische, biologische und chemische Verfahren erläutert Gelhaus, P.: Gentherapie und Weltanschauung. Ein Überblick über die gen-ethische Diskussion, Darmstadt 2006, S. 51 f. Charles Coutelle legt dar, warum Viren als Genfähren so gefragt sind: »Die effektivsten Vektorsysteme leiten sich von Säugerviren ab. In ihrem Evolutionsprozess haben sie hocheffektive Mechanismen entwickelt, um in Säugerzellen einzudringen und deren zelluläre Prozesse für die Vermehrung und Weiterverarbeitung ihrer genetischen Information zu nutzen. Ziel der Vektorkonstruktion ist es, die Virusfunktion zu erhal­ ten, die für das effektive Eindringen in die Zellen verantwortlich sind, aber die Gene, 1242

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auslösen, weshalb man sie vor ihrem Einsatz inaktiviert. Ihr Risiko­ potential muss also so gering wie möglich sein. Die Nukleinsäure soll effizient übertragen werden und es soll zu einer adäquaten Genexpression kommen. Mit Hilfe der Genfähren bringt man eine DNA-Sequenz, in der die gewünschte Erbinformation vorhanden ist, in den Kern einer Zelle. »Zugleich übernehmen Kontrollelemente im Vektor, die entweder aus dem Ursprungsvirus stammen oder gezielt in den Vektor eingefügt wurden, die Regulation der Expression des Transgens in der Zielzelle.«1246 Dieses Vorgehen ist technisch alles andere als einfach. »Die Übertragung der DNA in die passenden Zellen nützt gar nichts, solange sie nicht tatsächlich in RNA transkribiert und diese anschlie­ ßend zum gewünschten Proteinprodukt translatiert wird. Wenn der virale Vektor so konstruiert ist, dass er sich selbst in eines der menschli­ chen Chromosomen integriert (in Gegensatz zu einem frei beweglichen DNA-Fragment), dann kommt der tatsächlichen Integrationsstelle eine entscheidende Bedeutung zu.«1247

Francis S. Collins veranschaulicht dies folgendermaßen: »Wie beim Einpflanzen eines Samenkorns, spielt die Verträglichkeit der Umgebung eine Rolle. Manchmal wird die neue DNA erfolgreich integriert, aber dann von den Nachbarsequenzen inaktiviert. Wird die DNA nicht in ein Chromosom integriert, besteht andererseits die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Laufe der Zeit durch die Zellteilungen ausgedünnt wird.«1248

Zunutze macht man sich die somatische Gentherapie z. B. bei Patien­ ten, die an Achromatopsie leiden, also farbenblind sind. Einen bunten die Virusvermehrung steuern und Pathogenität bewirken, zu eliminieren.« (Coutelle, C.: Intrauterine Gentherapie. Ein Konzept zur vorgeburtlichen Prävention genetisch bedingter Erkrankungen, in: Fehse, B. / Domasch, S. (Hrsg.): Gentherapie in Deutsch­ land. Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme. Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht (Herausgeberin der Reihe: Berlin-Brandenburgi­ sche Akademie der Wissenschaften), Berlin 22011, S. 127–150, hier S. 129). 1246 Fehse, B. / Baum, C. / Schmidt, M. / von Kalle, C.: Stand wissenschaftlicher und medizinischer Entwicklungen, in: Fehse, B. / Domasch, S. (Hrsg.): Gentherapie in Deutschland. Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme. Themenband der interdiszipli­ nären Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht (Herausgeberin der Reihe: Berlin-Branden­ burgische Akademie der Wissenschaften), Berlin 22011, S. 41–126, hier S. 57. 1247 Collins, F. S.: Meine Gene – mein Leben. Auf dem Weg zur personalisierten Medi­ zin, Heidelberg 2011, S. 301. 1248 Ebd.

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Blumenstrauß oder ein farbenfrohes Gemälde sehen sie anders als Normalsichtige. Für diese Patienten scheint es dank der Gentherapie eine deutliche Verbesserung ihrer Situation zu geben. In ihre Augen wird eine Genfähre mit RPE-65 gespritzt. Im Rahmen der sog. CAR-T-Therapie wird T-Zellen ein artifizi­ elles Gen hinzuzufügt, um eine tumorspezifische Reaktion des Orga­ nismus herbeizuführen. Das Ziel dabei ist Folgendes: Durch CAR, ein Proteinprodukt, wird die Suche und Zerstörung von Krebszellen eingeleitet. Dass sich hiermit Hoffnungen verbinden, liegt auf der Hand. Zum Einsatz kommen derartige Therapien etwa bei Leukämien sowie Lymphonen. Juliette Irmer benennt folgenden Vorteil der The­ rapie mit T-Zellen: »Krebszellen lernen im Laufe der Zeit, sich für das Immunsystem unsichtbar zu machen. CAR-T-Zellen enttarnen sie und machen sie wieder angreifbar.«1249 Nicht unerwähnt lässt sie, dass eine CAR-T-Therapie dazu führen kann, dass das Immunsystem eines Organismus komplett entgleist und der Tod eintritt. Besondere Aufmerksamkeit wird der Gentherapie durch Genome-Editing Verfahren zuteil. Diese ermöglichen es, gezielt menschliche wie tierische DNA zu verändern, um andere Eigenschaf­ ten herbeizuführen. Man greift auf jene molekularbiologische Vorge­ hensweise etwa in der Grundlagenforschung wie in der modernen Biotechnologie zurück.1250 Mit Genscheren kann man heute passgenauer an Genen arbei­ ten, es nicht dem Zufall überlassen, wo ein Korrekturgen letztlich lan­ det. Unterschiedliche Methoden werden als vielversprechend beur­ teilt. Mit CRISPR-Cas9 – das hier besonders zu erwähnen ist – ergeben sich eine Fülle von Anwendungsmöglichkeiten. Jennifer Doudna und Emanuelle Charpentier wurden im Jahr 2020 für ihre gefeierte Methode der Nobelpreis für Chemie zuer­ kannt. Schauen wir uns einmal die verschiedenen Bestandteile dieses auf den ersten Eindruck möglicherweise kompliziert auszusprechen­ den Namens an: zuerst also CRISPR. Es handelt sich hierbei um eine Abkürzung. Diese steht für Clustered regularly interspaced short 1249 Irmer, J.: Gentherapie. Zwischen Wunsch und Wirklichkeit, in: Spektrum Wis­ sen, 26. Febr. 2018, S. 6 https://www.spektrum.de/wissen/zwischen-wunsch-undwirklichkeit/1544517 (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 1250 Der Europäische Gerichtshof hat im Sommer 2018 entschieden, dass die neuen Editing-Methoden in den Bereich der Gentechnik fallen. Es gelten hier die Zulassungsund Kennzeichnungsvorschriften wie bei gentechnisch veränderten Organismen auch.

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palindromic repeats. Hierbei haben wir es mit Bakterienabschnitten zu tun.1251 Bei Cas9 handelt es sich um eine CAS-Nuklease, die aus einem Protein sowie einer Leit-RNA besteht. Bisher galt es als große Hürde, DNA zu schneiden bzw. ganz zielgenau verändern zu können. Mit CRISPR-Cas9 ist dies erheblich einfacher geworden. DNA-Bausteine können umgeschrieben, oder wie Experten auch sagen: »editiert« werden. Man spricht daher auch vom Genome-Editing. Alternativ ist auch von »Genomchirurgie« die Rede. Das Gewachsene war Vorbild für dieses innovative technische Verfahren: Abgeschaut hat man im Reich der Natur, genauer bei Bakterien. Diese sind in der Lage, auf Grundlage zuvor gespeicherter DNA-Fragmente »feindliche« Viren zu erkennen und auch abzuweh­ ren. Bei einem viralen Angriff auf Bakterien kommt es dazu, dass virale DNA in die DNA des entsprechenden Bakteriums eingebracht wird. Hiervon wird eine Kopie erstellt; man spricht in diesem Zusam­ menhang auch von einer Leit-DNA, welches den Weg für das Protein Cas9 bahnt. Kommt es zu einem erneuten viralen Angriff, schneidet Cas9 die DNA und macht jene Abschnitte unschädlich, die durch das Virus eingebracht wurden. Hieraus wurde ein molekularbiologisches Verfahren entwickelt, das sich als erfolgreich gezeigt hat. Es kann bei Bakterien, pflanzlichen, tierischen und eben menschlichen Zellen zum Einsatz kommen. Das Vorgehen sieht vereinfacht so aus: Im Genom ist jene Stelle zu finden, die einer Veränderung unterworfen werden soll. Man greift auf eine sogenannte Guide-RNA zurück, welche mit der Hilfreich ist folgende Definition der forschenden Pharma-Unternehmen, die ich mir hiermit zu eigen mache: »Im Prinzip handelt es sich hierbei um Fragmente viraler DNA, die auf natürlichem Wege in das Bakteriengenom integriert wurden. Werden diese in RNA übersetzt, binden die RNA-Fragmente viraler DNA, die auf natürlichem Wege in das Bakteriengenom integriert wurden. Werden diese in RNA übersetzt, binden die RNA-Fragmente an CAS (CRISPR associated)-Proteine. Bei Kontakt mit viraler DNA bzw. RNA, deren Sequenz komplementär zur RNA dieses Komplexes ist, bindet selbiger an die DNA bzw. RNA des Virus. Das CAS-Protein zerstört daraufhin das virale genetische Material; eine Vermehrung und Weiterverbreitung des Virus wird verhindert. Von besonderer Bedeutung ist das Cas-Protein 9 (Cas9), das die DNA-Doppelhelix aufschneidet. In Kombination mit einem synthetischen RNA-Molekül, einer sogenannten Guide-RNA, die beliebige Wunschsequenzen im Genom erkennt, kann diese ›DNA-Schere‹ an so ziemlich jede Stelle im Genom geführt werden, um dort einen Schnitt herbeizuführen.« https://www.vfa.de/embed /pos-somatische-gentherapie.pdf (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 1251

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DNA-Abfolge unserer Ziel-Sequenz übereinstimmt. Dort dockt sie an und schneidet die DNA. Das Cas9 Protein ist hier bei unserem Vorgehen mit der Guide-RNA verbunden. Die nächsten Schritte sehen vereinfacht dargestellt so aus, dass die durchtrennten Stellen wieder zusammengefügt werden. Es kön­ nen z. B. DNA-Fragmente ausgetauscht werden. Auch kann man neue Sequenzen einsetzen. Ein Ziel ist es auch, die Aktivität eines Gens zu blockieren. An einem Affen wurden erstmals im Jahr 2014 erfolgreich Ver­ änderungen mit Hilfe von CRISPR-Cas9 durchgeführt. Ein Jahr später konnte man an Parasiten Veränderungen durchführen. Und in China wurde bereits an menschlichen Embryonen CRISPR-Cas9 erprobt. Bei CRISPR-Cas9 haben wir es mit einer molekularbiologischen Verfahrensweise zu tun, die einen schnellen und zielgenauen Eingriff ermöglicht. Ein weiterer Vorteil wird darin ausgemacht, dass hier­ durch multiple Umgestaltungen ermöglicht werden.1252 Mit den Mul­ tiplex-Möglichkeiten steigt allerdings auch das Risiko, dass Neben­ wirkungen auftreten.1253 Diese Methode konfrontiert uns jedenfalls zweifellos mit der Frage, wer wir sind und gegenüber unseren Mit­ menschen sowie der gesamten Natur zu sein gedenken.1254 1252 Vogel, J.: Naturwissenschaftlicher Sachstand des Verfahrens, in: Deutscher Ethik­ rat: Zugriff auf das menschliche Erbgut. Neue Möglichkeiten und ihre ethische Beurtei­ lung, Jahrestagung 2016, Simultanmitschrift, S. 6–18, hier S. 9 https://www.ethikrat. org/jahrestagungen/zugriff-auf-das-menschliche-erbgut-neue-moeglichkeiten-un d-ihre-ethische-beurteilung/?cookieLevel=not-set&cHash=7ed20ea73e98dc7ee0fa b4317d19d928 (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 1253 Vgl. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften / Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht (Hrsg.): Genomchirurgie beim Menschen – Zur verantwortlichen Bewertung einer neuen Technologie, Berlin 2015, S. 13. 1254 Sigrid Graumann äußert Bedenken dahingehend, dass die Folgen eines Eingriffs erst viel später, möglicherweise erst beim erwachsenen Menschen, zutage treten wür­ den. Sie plädiert daher für Zurückhaltung im Hinblick auf genchirurgische Eingriffe am Menschen und dafür, eher die Tier- und Pflanzenzüchtung in den Blick zu nehmen. (Graumann, S.: Genchirurgie beim menschlichen Embryo: Verboten? Erlaubt? Gebo­ ten?, in: Deutscher Ethikrat: Zugriff auf das menschliche Erbgut. Neue Möglichkeiten und ihre ethische Beurteilung, Jahrestagung 2016, Simultanmitschrift, S. 49–54, hier S. 51. https://www.ethikrat.org/jahrestagungen/zugriff-auf-das-menschliche-erbg ut-neue-moeglichkeiten-und-ihre-ethische-beurteilung/?cookieLevel=not-set&cH ash=7ed20ea73e98dc7ee0fab4317d19d928 (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022)). – Es sei allerdings ein Fehler, davon auszugehen, dass dies ethisch unproblematisch sei. (Vgl. Publikumsdiskussion, in: Deutscher Ethikrat: Zugriff auf das menschliche Erbgut. Neue Möglichkeiten und ihre ethische Beurteilung, Jahrestagung 2016, Simul­

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Auf CRISPR-Cas9 greift man in der Grundlagenforschung ebenso wie im Bereich der Biotechnologie, der Medizin, Tier- und Pflanzenzüchtung zurück. Eine Überlegung geht dahin, Gene-Edit­ ing schon in der Petrischale zum Einsatz kommen zu lassen: Uner­ wünschte erbliche Anlagen könnten so einer Korrektur unterzogen werden, genetisch modifizierte Menschen geschaffen werden. Ein krankheitsrelevantes Gen könnte entfernt und durch ein anderes ersetzt werden. Eingefügt werden könnte ein entsprechendes Gen eines anderen Menschen – im Bereich des Denkbaren wäre es auch, dass auf eine andere Spezies zurückgegriffen würde. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde man auch auf PID zurückgreifen: um zu prüfen, ob der Eingriff erfolgreich war bzw. ob nicht Schäden entstanden sind. Mit Hilfe von CRISPR-Cas9 soll ein Weg gefunden werden, AIDS zu bekämpfen. Es gibt einige Menschen, die resistent gegen HIV sind. Ursache dafür ist, dass es im Gen für CCR5 zu einer Mutation gekommen ist. Dies will man sich dahingehend zunutze machen, das CCR5-Gen in Blutstammzellen zu inaktivieren. Man erhofft sich, dass es in Folge dazu kommt, das Immunsystem gegen HIV resistent zu machen.1255 Auch hat man bereits an einem CCR5-Gen mit Hilfe von CRISPR-Cas9 eine Veränderung derart durchführen

tanmitschrift, S. 62–69, hier S. 68) – Zum Gene-Editing gehört stets eine IVF, was auch noch einmal Probleme aufwirft, die wir im vorausgehenden Kapitel diskutiert haben: »Es ist bekannt, dass der Aufwand und die Erfolgsraten bei der IVF nicht sehr hoch sind. Wir haben baby-take-home Raten von 15 bis 20 Prozent. Wenn Sie dazu­ rechnen, dass die Effizienzrate vielleicht bei 20 Prozent liegt, dann haben wir eine Erfolgsrate von 4 Prozent. Das heißt, eine Frau müsste rechnerisch 25 IVF-Zyklen machen, um ein Baby per Geneditierung zur Welt zu bringen. Ich glaube nicht, dass das viele Frauen machen würden.« (Schneider, I.: Untergräbt die Niedrigschwelligkeit der neuen Verfahren grundlegende moralische Standards, in: Deutscher Ethikrat: Zugriff auf das menschliche Erbgut. Neue Möglichkeiten und ihre ethische Beurteilung, Jahrestagung 2016, Simultanmitschrift, S. 82–85, hier S. 85 https://www.ethikrat.or g/jahrestagungen/zugriff-auf-das-menschliche-erbgut-neue-moeglichkeiten-und-i hre-ethische-beurteilung/?cookieLevel=not-set&cHash=7ed20ea73e98dc7ee0fab4 317d19d928 (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022)). 1255 Die Gründe für die Resistenz sind allerdings nicht klar. Eine Möglichkeit wird darin ausgemacht, dass es schon einmal eine HIV-Pandemie gegeben hat. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass andere Infektionskrankheiten über dieselben Infekti­ onswege verlaufen sind. Vgl. Winnacker, E.-L.: Wie Moleküle miteinander reden, in: Honnefelder, L. / Propping, P. (Hrsg.): Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, Köln 2001, S. 62–69, hier S. 67.

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können, dass eine Infizierung mit HIV anschließend ausgeschlossen werden konnte.1256 Als Erfolg kann bereits verbucht werden, dass die mit einer Sichelzellenanämie einhergehende Genabweichung verändert wer­ den konnte. Auch im Hinblick auf die Bekämpfung von Erbkrankhei­ ten, Krebs wie auch zur Züchtung von Pflanzen und Tieren1257 erhofft man sich neue Behandlungsmöglichkeiten. In den Medien war von einer »Zauberschere«1258 die Rede. Auch trifft man auf die Rede von einem »genetische[n] Schweizer Messer«1259, das entsprechende Bereiche des Genoms treffsicher ent­ fernen kann. Aber auch die schönsten Zauberscheren und schärfsten Messer können einmal daneben schneiden: Fehlschnitte an der DNA können, wie man sich leicht vorstellen kann, eine Reihe von Neben­ wirkungen mit sich bringen. Auf zellulärer Ebene kann es zu unge­ wollten Veränderungen am Erbgut, der RNA wie auch den Proteinen kommen. Folgen für den Organismus, der in einem Wechselverkehr mit der Umwelt steht, sind möglich. Naturwissenschaftler sprechen von Off-Target- und On-Target-Effekten. Mit Off-Target-Effekten meinen sie, dass eine ungenaue Bindung der RNA zu Veränderungen der DNA führen könne, die so gar nicht gewollt seien. Werden unbe­ absichtigt DNA-Fragmente in die Zielsequenz eingeführt, die da gar nicht hinsollen, wird das als On-Target-Effekt bezeichnet. Es gibt also durchaus Fehlerquellen, ungewollte Veränderungen, die Konsequen­ zen für das gesamte lebendige Gesamtsystem haben können. Welche

Vgl. Leopoldina Nationale Akademie der Wissenschaften: Ethische und rechtliche Beurteilung des genome editing in der Forschung an humanen Zellen, Diskussion Nr. 10, März 2017, Halle 2017, S. 5. 1257 Beispielsweise können Rinder gegenüber Erkrankungen wie Rindertuberkulose resistenter gemacht werden. 1258 www.aek-mv.de/upload/file/presse/Zauberschere.pdf (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022); https://www.uni-muenster.de/news/view.php?cmdid=8635 (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 1259 Knoepfler, P.: Genmanipulierte Menschheit. Evolution selbst gemacht, Wiesbaden 2017, S. 11; CRISPR-Cas9 ähnelt laut Paul Knoepfler einem »ausgeklügelten Schwei­ zer Taschenmesser für DNA, mit einer Lupe (Genomscanner), einer Schere (um DNA zu schneiden) und einem Schreibstift, um neue DNA-Einheiten oder Basenpaare ein­ zutragen. […] Dieses Werkzeug weiß genau, wo im Genom es aktiv werden muss, nimmt dort Schritte vor und ›schreibt‹ einen neuen DNA-Code.« (A. a. O., S. 140). 1256

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Auswirkungen Off- und On-Target-Mutationen haben können, kann auch erst in kommenden Generationen zu Tage treten.1260 »Viele Erbkrankheiten beruhen auf relativ geringfügigen Mutationen, die zu schweren Erkrankungen oder zum Tod führen. So gibt es bei Chorea Huntington nur einige zusätzliche Kopien des wiederholt auftretenden DNA-Basentripletts CAG. Das bedeutet, dass schon ein winziger Fehler von CRISPR – vielleicht nur ein einzelnes DNABasenpaar, das an einer wichtigen Stelle im Genom sitzt – eine schwerwiegende Krankheit hervorrufen oder tödlich sein kann.«1261

Wir müssen uns auch bewusst machen, dass die DNA selbst ja nichts Starres ist, sondern in einem komplexen Wechselwirkungsverhältnis steht. Wenn wir also von Veränderungen am Erbgut sprechen, genügt es nicht, nur ein einzelnes Gen in den Blick zu nehmen. Dieses steht in einem Zusammenhang mit anderen Genen, verschiedene Komponenten innerhalb eines Zellsystems spielen stets zusammen. Aus dem Pflanzenreich wissen wir, dass sich hierdurch auch die Zusammensetzung der Inhaltsstoffe ändern kann, sie empfänglicher für Krankheiten werden können. Effekte, die gar nicht gewünscht sind, können sich einstellen, wenn sich der lebendige Pflanzenorganismus bestimmten äußeren Stressfaktoren ausgesetzt sieht: etwa Dürre oder dem Befall durch Schädlinge. Für unsere Überlegungen ist zu berücksichtigen, dass die durch somatische Gentherapie vorgenommenen Veränderungen nicht an die kommenden Generationen weitergegeben werden. Das ist ein gewichtiger Gesichtspunkt. Welche weiteren Aspekte sollten Arzt und Patient berücksichtigen? 1.) Gibt es eine tragfähige Alternative zu dieser Behandlungsform? Oder fallen Alternativen aus?; 2.) Recht­ fertigt der Krankheitsbefund den Eingriff?; und schließlich: 3.) In welchem Verhältnis stehen der erhoffte Nutzen und das mit dem Eingriff verbundene Risiko (z. B. genetische und / oder immunolo­ gische Nebenwirkungen)? Werden Risiken so gering wie möglich gehalten, minimiert? Ist der Eingriff – es wird ja ein fremdes Gen in eine eigene Körperzelle eingebracht – also verhältnismäßig? Hans J. Münk hält treffend fest: »Das Kriterium der Verhältnismäßigkeit der Nutzen-Schaden-Abwägung verlangt, daß zwischen Aufwendungen, 1260 Vgl. auch Deutscher Ethikrat: Eingriffe in die menschliche Keimbahn. Stellung­ nahme, 9. Mai 2019, Berlin 2019, S. 46. 1261 Knoepfler, P.: Genmanipulierte Menschheit. Evolution selbst gemacht, Wiesbaden 2017, S. 11.

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Zumutungen und Belastungen einerseits sowie dem erwartbaren Nutzen für das individuelle und das allgemeine Wohl andererseits eine vertretbare (zugunsten der positiven Aspekte sprechende) Rela­ tion besteht.«1262 In jedem Fall muss der Risikoaufklärung besondere Bedeutung zukommen. Gentherapeutische Einsätze sind mit dem Problem behaftet, dass sich Viren im Genom nicht immer so einfügen lassen, wie es gewünscht ist. Das kann ganz unerwartete und unerwünschte Wirkungen nach sich ziehen.1263 Die Zielgenauigkeit der Genfähren wie auch die mangelnde Vorhersagbarkeit von Genfunktion und -expression sind als problematisch anzusehen. Es kann dazu kommen, dass intakte Gene in ihrer Funktion gestört werden resp. ungewünscht Regulationen in Gang gesetzt werden, was dann wiederum uner­ wünschte Erkrankungen nach sich ziehen kann.1264 Und noch ein weiteres Problem ist zu nennen: Ein Genkonstrukt, das gezielt an einer Stelle des Körpers eingebracht wurde, kann sich ausbreiten auf den Gesamtorganismus – und somit dann doch zu Veränderungen an der Keimbahn führen. Dies wird unterschiedlich diskutiert.1265 Für Rehmann-Sutter ist hier kein unumstößlicher Ausschlussgrund gegeben. Auch im Rahmen einer radiologischen Behandlung könnten Folgen für die Keimzellen nicht ausgeschlossen werden.1266

1262 Münk, H. J.: Die somatische Gentherapie in der Diskussion. Ethischer Kommen­ tar zu zentralen Argumentationsmustern, in: JCSW 37 (1996), S. 163–181, hier S. 177. In diesem Sinne heißt es auch bei Peter Koslowski: »Die kategorische Anwendung aller technisch möglichen Mittel […] ohne Rücksicht auf Verhältnismäßigkeit der Mittel und Zustimmung des Patienten ist [… nämlich] ein Mißverständnis. Ärztliches Handeln wird mit technischem Handeln verwechselt.« (Koslowski, P.: Die Ordnung der Wirtschaft. Studien zur Praktischen Philosophie und Politischen Ökonomie, Tübin­ gen 1994, S. 373) Diese Position könne man, so Koslowski, »Monotechnismus« nen­ nen. 1263 Vgl. Selkirk, S. M.: Gene therapy in clinical medicine, in: Postgraduate Medical Journal 80 (2004), S. 560–570. 1264 Vgl. Graumann, S.: Die somatische Gentherapie in der Krise. Kritische Fragen an ein experimentelles Theoriekonzept, in: Rehmann-Sutter, C. / Müller, H. (Hrsg.): Ethik und Gentherapie. Zum praktischen Diskurs um die molekulare Medizin, Tübingen 2 2003, S. 117–133. 1265 Vgl. Rehmann-Sutter, C.: Keimbahnveränderungen in Nebenfolge?, in: Reh­ mann-Sutter, C. / Müller, H. (Hrsg.): Ethik und Gentherapie. Zum praktischen Diskurs um die molekulare Medizin, Tübingen 22003, S. 187–205. 1266 Vgl. Rehmann-Sutter, C.: Gentherapie, in: Sturma, D. / Heinrichs, B. (Hrsg.): Handbuch Bioethik, Stuttgart / Weimar 2015, S. 270–274, hier S. 273.

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In den ethischen Debatten wurde die Vorgehensweise der soma­ tischen Gentherapie mit einer Organtransplantation verglichen: So wie man ein krankes Organ durch ein Spenderorgan ersetze, könne man auch auf der Ebene des Genoms einen Austausch vornehmen.1267 Glücklich und treffend ist dieser Vergleich jedoch nicht, da eine Organtransplantation meist noch mit anderen schwierigen Proble­ men (etwa der Hirntoddiagnose) verknüpft ist. Zudem erfolgt bei einer Organtransplantation keine Veränderung des Erbguts, weshalb wir es hier nicht mit einem gentechnischen Eingriff zu tun haben. Zu fragen ist, welche Gene substituiert werden sollen und welche lieber nicht. Wer soll das festgelegen? Für wen steht ein solcher Eingriff offen und für wen nicht? In verschiedenen Debatten wurde diskutiert, ob und wenn ja wo eine Grenzziehung zum Enhancement möglich wäre.1268 Man könnte vielleicht sagen: Wenn die Zielvor­ stellung der involvierten Akteure davon geleitet ist, einen Zustand herzustellen, der dem »Normalen« entspricht, hätten wir es mit einem therapeutischen Projekt zu tun. Anders, wenn es darum gehen soll, einen Zustand herzustellen, der eben über das »Normale« hinaus­ geht. Dann wären wir im Bereich des Enhancements. Ehrlicherweise

1267 So z. B. die deutsche Benda-Kommission: Vgl. Bundesminister für Forschung und Technologie / Bundesminister der Justiz (Hrsg.): In-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie. Bericht der gemeinsamen Arbeitsgruppe des Bundesministers für For­ schung und Technologie und des Bundesministers der Justiz, München 1985, S. 44; Winnacker, E.-L. / Rendtorff, T. / Hepp, H. / Hofschneider, P. H. / Korff, W.: Gen­ technik: Eingriffe am Menschen. Ein Eskalationsmodell zur ethischen Bewertung, Mün­ chen 21997, S. 30; Birnbacher, D.: Genomanalyse und Gentherapie, in: Sass, H.-M. (Hrsg.): Medizin und Ethik, Stuttgart 1989, S. 212–231, hier S. 213 f. 1268 Die Enquête-Kommission Chancen und Risiken der Gentechnologie des Deutschen Bundestages formuliert bereits 1987 ganz klar: »Bei der somatischen Gentherapie kann der Übergang zum Missbrauch im Sinne einer Züchtung fließend sein.« (Zit. nach: Luchsinger, T. / Schmid, H.: Gentherapie aus juristischer Sicht. Schweizerische und internationale Tendenzen, in: Rehmann-Sutter, C. / Müller, H. (Hrsg.): Ethik und Gentherapie. Zum praktischen Diskurs um die molekulare Medizin, Tübingen / Basel 2 2003, S. 169–186, hier S. 173) Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften will an der Unterscheidung von Therapie und Enhancement festhalten, Überlegungen zum genetischen Enhancement seien aber derzeit unrealisitisch. Vgl. Fehse, B. / Domasch, S. (Hrsg.): Genthe­ rapie in Deutschland. Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme. Themenband der inter­ disziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht (Herausgeberin der Reihe: BerlinBrandenburgische Akademie der Wissenschaften), Berlin 22011, S. 23. Siehe hierzu auch: Graumann, S.: Die somatische Gentherapie. Entwicklung und Anwendung aus ethischer Sicht, Tübingen / Basel 2000, S. 231.

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müssen wir sagen, dass die Grenzen hier nicht leicht und eindeutig zu ziehen sind. Die Grenzen werden schwammig im Hinblick auf das, was in den Bereich Lifestyle fällt und was unter Krankheit. Die ein­ gangs erwähnten Grauzonen finden wir v. a. dort vor, wo ein Wunsch­ denken waltet, welche Merkmale ausgeprägt sein sollten und welche nicht, welche Kriterien dafür in Anschlag gebracht werden und was überhaupt Behinderung, Gesundheit, Krankheit ist.1269 Petra Gelhaus hat sich mit der Frage der Gentherapie inten­ siv auseinandergesetzt und insbesondere die verschiedenen weltan­ schaulichen Grundlagen beleuchtet, die in den bioethischen Debatten über Gentherapie eine Rolle spielen.1270 Sie selbst betont, dass bei einer Gentherapie nicht ein einzelnes bzw. mehrere Gene behandelt und therapiert würden, sondern ein Mensch. Dies scheint mir eine wichtige Sichtweise zu sein, den Patienten in seiner leib-seelischen Ganzheit und seinen sozialen Bezügen in den Blick zu nehmen. Einen Unterschied zur Gentechnologie im Allgemeinen sieht sie darin, dass es insbesondere um eine therapeutische Zielrichtung gehe.1271

8.2.3 Keimbahntherapie Wenden wir uns nun der Keimbahntherapie zu, deren Ziel es ist, eine auf einem Gendefekt beruhende Erbkrankheit zu heilen resp. dafür zu sorgen, dass diese nicht in die nächste Generation weiter­ gegeben wird.1272 Bei der Keimbahntherapie stehen hinsichtlich der Frage einer Weitergabe der vorgenommenen Veränderungen in die nächsten Generationen die Weichen anders als bei der somatischen 1269 Aus evolutionärer Sicht hat das Verständnis von Krankheit auch mit Umweltbe­ dingungen zu tun: So könnten Hämoglobinopathien (u.a. auch die Sichelzellenan­ ämie) »in der heterozygoten Variante zu verbesserten Überlebenschancen in Mala­ riagebieten führen« (Gelhaus, P.: Gentherapie und Weltanschauung. Ein Überblick über die gen-ethische Diskussion, Darmstadt 2006, S. 87). 1270 Gelhaus, P.: Gentherapie und Weltanschauung. Ein Überblick über die gen-ethische Diskussion, Darmstadt 2006. 1271 Vgl. a. a. O, S. 27. 1272 Zur Keimbahn werden die Vorgängerzellen der Keimzellen, die Keimzellen selbst sowie die frühen Zellen eines Embryos gezählt. Sie ist gleichsam das verbindende Band zwischen Vorgängergeneration und Nachfahren. Ein Keimbahneingriff bei der ersten Generation ist irreversibel. Bei den weiteren Generationen könnte man theore­ tisch nochmals Genome-Editing-Verfahren zum Einsatz bringen und versuchen, einen gegenteiligen Effekt zu erzielen.

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Gentherapie.1273 Hier geht es nicht mehr nur um den individuellen Träger einer Erbkrankheit. Eingriffe an Keimzellen, Zygoten oder weiteren embryonalen Entwicklungsphasen werden im Verlaufe der Entwicklung eines Embryos Bestandteil des Gesamtorganismus und weitervererbt; hiervon betroffen sind somit die nächsten Generatio­ nen. Ein solcher Eingriff zielt auf die Integrität eines sich im Werden befindenden menschlichen Organismus. Nach heutigem Kenntnis­ stand sind Eingriffe in die Keimbahn irreversibel. Seit den 1970er Jahren werden in Forschungslaboren trans­ gene Mäuse hergestellt. Dabei werden am Zellkern einer befruchte­ ten Eizelle die gewünschten Veränderungen vorgenommen. Diese wird dann einer Maus eingesetzt. Die verschiedenen Gene-EditingMethoden vergrößern den Spielraum einer passgenauen Keimbahn­ veränderung. Experimente an Pflanzen und Tieren wurden zum Teil mit dem gewünschten Effekt durchgeführt. Medizintechnisch ist es noch eine besondere Hürde, ein defektes Gen gezielt herauszuneh­ men und dann durch ein anderes zu ersetzen. Ein Fehler (oder auch irrtümlich bewusst vorgenommene Veränderungen) könnten erhebliche Konsequenzen für das Leben eines Lebewesens haben bzw. über die Keimbahn in die nächste Generation weitergegeben werden. Die zukünftigen Generationen können einem Eingriff nicht zustimmen – und es ist ja keineswegs klar, dass ein Eingriff in die Keimbahn nur Vorteile und nicht auch Nachteile mit sich bringt. Von einem informed consent, der Respektierung ihres Selbstbestimmungs­ rechtes, könnte nicht die Rede sein. Gerade auch ihr Wohl muss im Blick sein. Auch darf niemandem die Kenntnis seines Genoms aufgezwungen werden. Damit sind wir bei etwaigen Risiken. Diese können z. B. a) durch die zum Einsatz kommenden Methoden oder b) durch die transfe­ In den Debatten zur Keimbahntherapie findet man auch das Argument, die Betroffenen würden einem Eingriff in den frühesten Stadien im Nachhinein zustim­ men, wenn dadurch a) Eigenschaften ausgeschlossen werden könnten, die nicht von den Betroffenen gewünscht sein könnten und b) durch den Eingriff wünschenswerte Eigenschaften keine Veränderung erfahren. So z. B.: Birnbacher, D.: Genomanalyse und Gentherapie, in: Sass, H.-M. (Hrsg.): Medizin und Ethik, Stuttgart 1989, S. 212– 231, bes. S. 220; Irrgang, B.: Genethik, in: Nida-Rümelin, J. (Hrsg.): Angewandte Ethik, Stuttgart 1996, S. 510–551, bes. S. 547) Irrgang fragt, ob es nicht sogar eine ethische Verpflichtung geben könnte, genetische Erkrankungen auszumerzen – unter der Voraussetzung, eine Keimbahntherapie wäre »keineswegs riskanter« als die natürliche Empfängnis. (Vgl. Irrgang, B.: Einführung in die Bioethik, München 2005, S. 181). 1273

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rierten Gene selbst entstehen. Risiken gibt es a) für den Menschen, an dem der Eingriff vorgenommen wird und b) für die kommenden Generationen. Für alle Betroffenen sind die Risiken unverhältnismä­ ßig. Aus diesem Grund liegt es nahe, dass laut § 5 des ESchG ein Ein­ griff in die Keimbahn sowie der Versuch einer Keimbahntherapie ver­ boten ist. Nach Nr. 4, Abs. 1 jenes § 5 ESchG ist ein Eingriff an Keimzellen, die sich außerhalb des Körpers befinden und später auch nicht für einen Befruchtungsvorgang Verwendung finden sollen, nicht verboten. Forschung wird also nicht verunmöglicht. Die somatische Gentherapie fällt nicht unter das Verbot.1274 Dass Eingriffe in die 1274 Durch Reprogrammierung adulter Zellen können Stammzellen gewonnen wer­ den, welche ganz ähnliche Möglichkeiten der Entwicklung aufweisen, wie embryonale Stammzellen nach dem 8-Zellstadium. Man kann hierfür auf jede Körperzelle zurück­ greifen, aus der iPS-Zellen hergestellt werden können. Diskutiert wird darüber, ob auch künstlich hergestellte Keimzellen von dem o. g. Verbot erfasst würden. § 5 ESchG würde gemäß einer Argumentationslinie, der auch der Deutsche Ethikrat folgt, in diesem Falle nicht greifen. Die Begründung lautet demnach: Auf eine wirkliche Keimbahnzelle hat man dabei ja gar nicht zurückgegriffen, d.h. die Erbinformation von Keimbahnzellen nicht angetastet. Die künstlich erzeugte Keimbahnzelle wird kei­ ner genetischen Manipulation unterzogen. Eine Veränderung wurde ja an der iPSZelle durchgeführt. (Vgl. Deutscher Ethikrat: Eingriffe in die menschliche Keimbahn. Stellungnahme, 9. Mai 2019, Berlin 2019, S. 82; Kersten, J.: Regulierungsauftrag für den Staat im Bereich der Fortpflanzungsmedizin, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungs­ recht 37(17), 2018, S. 1248–1254) In diese Richtung argumentiert auch J. Taupitz: »Man kann durch induzierte pluripo­ tente Stammzellen [ips-Zellen] möglicherweise in Zukunft Keimzellen (Ei- und Samenzellen) herstellen. Wenn man eine Hautzelle aus meinem linken Arm nimmt, sie reprogrammiert und in weiteren Prozessen beispielsweise zu einer Samenzelle verwandelt, dann hat man eine künstliche Keimzelle hergestellt. Und wenn man nun eine solche künstliche Keimzelle aus dem einen Menschen herstellt, und eine künst­ liche Keimzelle aus einem anderen Menschen, dann ist das nicht vom Embryonen­ schutzgesetz verboten. Wenn für die Herstellung dieser Zelle keine Keim(bahn)zelle verwendet wurde, liegt keine künstliche Veränderung der Erbinformation einer menschlichen Keimbahnzelle oder einer (schon vorhandenen) Keimbahnzelle vor; man schafft diese Keimzellen künstlich.« (Taupitz, J.: Geltende Rechtslage, in: Deut­ scher Ethikrat: Zugriff auf das menschliche Erbgut. Neue Möglichkeiten und ihre ethische Beurteilung, Jahrestagung 2016, Simultanmitschrift, S. 21–30, hier S. 24 https://ww w.ethikrat.org/jahrestagungen/zugriff-auf-das-menschliche-erbgut-neue-moeglich keiten-und-ihre-ethische-beurteilung/?cookieLevel=not-set&cHash=7ed20ea73e9 8dc7ee0fab4317d19d928 (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022)). Es könnte auch argumentiert werden, dass eine solche »künstliche« Keimzelle einer natürlichen äquivalent wäre, und das Verbot hier also auch greifen würde. Dass es zur Herstellung von Hybrid- und Chimären menschlicher Embryonen (tech­ nisch) nicht mehr bedürfte, wäre allerdings kein Argument, um es nicht dennoch zu tun. Hierzu auch: Hillgruber, C.: Der manipulierte Embryo, in: Joerden, J. C. / Schur,

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Keimbahn abzulehnen sind, wird z. B. mehrfach auch in einem Posi­ tionspapier der forschenden Pharma-Unternehmen betont.1275 In den USA wurde 2017 im Rahmen einer IVF ein GenomeEditing durchgeführt, um eine MYBPC3-Mutation, ein Gen, das als Ursache für eine Kardiomyopathie, eine dominante Herzmuskeler­ krankung, angesehen wird, zu behandeln. Die Spermien stammten von einem Mann, der an dieser Herzerkrankung litt. Er ist auf regelmäßige Medikation sowie einen Defibrillator angewiesen. Das Forscherteam um Hong Ma zeigt sich zuversichtlich: »The efficiency, accuracy and safety of the approach presented suggest that it has potential to be used for the correction of heritable mutations in human embryos by complementing preimplantation genetic diagnosis.«1276 Der Eingriff mit Hilfe von CRISPR-Cas 9 in die Keimbahn erfolgte in vitro. Eine Mosaikbildung bei der Zellteilung (bei der ein Embryo sowohl mutierte als auch nicht-mutierte Zellen hat) konnte vermie­ den werden.1277 Auch die vorgeburtliche Behandlung und Prävention genetisch bedingter Erkrankungen wird erforscht.1278 Gelegentlich wird argu­ mentiert, dass die PID der »schonendere« Vorgang sei.1279 Da diese aber meist doch mit dem Ziel der Selektion vorgenommen wird, ist diese Sichtweise schon befremdlich. Die PID hat keine therapeutische Dimension. Die persönliche Auswahl tritt hier an die Stelle des J. C. (Hrsg.): Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 28: Themenschwerpunkt: Zur Mani­ pulation des Embryos – On Manipulation of the Human Embryo, mitherausgegeben von M. Rothhaar, Berlin 2020, S. 39–51. 1275 https://www.vfa.de/embed/pos-somatische-gentherapie.pdf (zuletzt eingese­ hen am 17. Aug. 2022). 1276 Ma, H.: Correction of pathogenic gene mutation in human embryos, in: Nature 548, 7668 (2017), S. 413–419. 1277 Eine mögliche Folge von Keimbahneingriffen an Embryonen können Mosaikbil­ dungen sein: Hierbei bezieht sich die molekulare Veränderung nicht auf alle Zellen eines Organismus. Insofern mit PID einzelne Zellen einer Untersuchung unterzogen werden, können durch sie Mosaikbildungen technisch nicht ausgeschlossen werden. 1278 Hierzu: Coutelle, C.: Intrauterine Gentherapie. Ein Konzept zur vorgeburtlichen Prävention genetisch bedingter Erkrankungen, in: Fehse, B. / Domasch, S. (Hrsg.): Gentherapie in Deutschland. Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme. Themenband der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht (Herausgeberin der Reihe: Ber­ lin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften), Berlin 22011, S. 127–150. 1279 So z. B. Hacker, J. / Rendtorff, T. / Cramer, P. / Hallek, M. / Hilpert, K. / Kupatt, C. / Lohse, M. / Müller, A. / Schroth, U. / Voigt, F. / Zichy, M.: Biomedizinische Eingriffe am Menschen. Ein Stufenmodell zur ethischen Bewertung von Gen- und Zell­ therapie, Berlin / New York 2009, S. 98.

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Schicksals; Leben wird hier erst einmal nach bestimmten Kriterien geprüft und gegebenenfalls »verworfen«. Was dies für eine Person bedeuten mag, die weiß, dass sie zunächst bestimmte Prüfungen bestehen musste und nicht bedingungslos angenommen wurde, kann hier nicht weiter diskutiert werden. Es besteht die kaum klein zu redende Gefahr, dass mit Keim­ bahneingriffen Menschen nach Maß und persönlichen Vorstellungen hergestellt werden können. Wenn zunächst nur eine Zulassung für »besonders schwere« Krankheiten erfolgen würde, wäre es eine Frage der Zeit, bis – möglicherweise mit einem Hinweis auf das Gerechtig­ keits- und Nichtdiskriminierungsargument – auch weitere, weniger schwere Krankheiten zugelassen werden würden. Die mit gentherapeutischen Verfahren verbundenen Möglich­ keiten des Eingreifens, der Veränderung und Manipulation bedeuten auch einen Zuwachs an Macht über Leib und Leben, an Macht über genetische Mechanismen, an Macht über Menschen. So kann die Debatte zu Keimbahneingriffen im Horizont der im ersten Gang ausführlich dargestellten Überlegungen Foucaults zur Biomacht gele­ sen werden: Sie hat individuelle und gesellschaftliche Dimensionen, bezieht sich auf den einzelnen Leib, die Steigerung seiner Gesundheit und Effizienz, sowie auf den gesellschaftlichen Kollektivkörper. Es geht um Kontrolle über Körper, Überwachung von Sexualität und Fortpflanzung. Insofern die Frage im Vordergrund steht, Leben zu sichern, müssen Personen einer bestimmten Norm entsprechen. In diesem Sinne wäre der Eingriff in die Keimbahn als Ausdruck einer »Normalisierungsgesellschaft« zu sehen.1280 »Biopower […] intends monitoring, control and increase of the physical efficiency of indi­ vidual bodies as well as the regulation of the population. […] The development of germ-line gene ›therapy‹ would undermine the right to make free decisions with respect to future parenthood.«1281 Aus feministischer Perspektive sei nach Rosemarie Tong folgen­ der Aspekt zu berücksichtigen: »[F]eminists […] worry that a variety of social, political, medical, and psychological forces will pressure 1280 Vgl. Foucault, M.: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a. M. 1983, S. 162. 1281 Graumann, S.: Germ-line »therapy«: Public opinions with regard to eugenics, in: Hildt, E. / Graumann, S. (Hrsg.): Genetics in Human Reproduction, Aldershot 1999, S. 175–184. http://www.imew.de/eng/publications/germ-line-gene-therapy/ (zuletzt eingese­ hen am 17. Aug. 2022).

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pregnant women to submit to surgeries or treatments even before they are perfected and made relatively riskfree.«1282 Keineswegs dürften Frauen zu etwas gezwungen werden, was sie nicht wollen. Dies ist nachvollziehbar. Dann aber gibt sie zu bedenken, »that its cost is likely to be high and that only relatively advantaged women (or couples) are able to afford it. Told that her embryo […] has a genetic disease or defect, an economically disadvantaged woman must choose either to end the [embryo’s] life or to carry it to term.«1283 Ist alles doch nur eine Frage des Preises? Die menschliche Person ist ein absoluter Wert und über jeden Preis erhaben. Sie ist unverfügbar, weshalb die hier genannte »Alternative« keine Alternative sein kann. In den Debatten zur Keimbahntherapie finden sich immer wie­ der auch Beiträge, die argumentieren, die genetische Ausstattung eines Menschen sei sakrosankt, weshalb man hier nicht tätig werden dürfe.1284 Andere Stimmen stellen dies in Frage. Die Natürlichkeit des Genoms ist für sie nicht unbedingt zu bewahren.1285 D. Birnba­ cher hält es für problematisch, der Naturwüchsigkeit eine normative Bedeutung zuzusprechen.1286 Er hebt auf die Risikobegrenzung ab. Viele mit Keimbahneingriffen verbundene Risiken seien schlichtweg nicht zu überschauen. Natürlichkeit setze keine Grenzen, allerdings könne »die Risikoanalyse einen Teil der Popularität des Natürlich­ keitsdenkens legitimieren«1287. Im Hinweis auf die Natürlichkeit 1282 Tong, R.: Feminist Approaches to Bioethics. Theoretical Reflections and Practical Applications, Oxford 1997, S. 239. 1283 A. a. O., S. 240. 1284 So z. B. die Position des Europäischen Parlamentes im Jahre 1982. Hiernach gebe es ein Recht auf »ein genetisches Erbe, in das nicht künstlich eingegriffen worden ist« (Zit. nach: Auner, N.: Gentechnik in der Humanmedizin: Ethische Aspekte, in: Imago Hominis III/Nr. 1 (1996), S. 37–50, hier S. 46). Oder auch in der »Allgemeinen Erklä­ rung über das menschliche Genom und die Menschenrechte« der UNESCO aus dem Jahre 1997. https://www.unesco.de/mediathek/dokumente/unesco/unesco-erklae rungen (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 1285 So z. B. Birnbacher, D.: Setzt »Natürlichkeit« der Genom-Editierung Grenzen?, in: Deutscher Ethikrat: Zugriff auf das menschliche Erbgut. Neue Möglichkeiten und ihre ethische Beurteilung, Jahrestagung 2016, Simultanmitschrift, S. 69–71, https://www. ethikrat.org/jahrestagungen/zugriff-auf-das-menschliche-erbgut-neue-moeglichke iten-und-ihre-ethische-beurteilung/?cookieLevel=not-set&cHash=7ed20ea73e98d c7ee0fab4317d19d928 (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 1286 Vgl. Birnbacher, D.: Genomanalyse und Gentherapie, in: Sass, H.-M. (Hrsg.): Medizin und Ethik, Stuttgart 1989, S. 212–231, hier S. 219. 1287 Birnbacher, D.: Setzt »Natürlichkeit« der Genom-Editierung Grenzen?, in: Deut­ scher Ethikrat: Zugriff auf das menschliche Erbgut. Neue Möglichkeiten und ihre ethische

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des Menschen und die Rolle des Zufalls kann aber eine tiefere Bedeutung ausgemacht werden. Unser Genom gehört zu uns als leiblich strukturierte Wesen. Wenn wir einander als Freiheits- und Würdewesen anerkennen, ist dies freilich auch auf unseren Leib bezogen. Es »kommt keiner Instanz eine Definitionshoheit über uner­ wünschte Merkmale des Menschseins zu, die durch die genetische Modellierung des Erbgutes späteren Generationen aufgezwungen werden sollen«1288. Wie sieht es mit dem Argument aus, dass etwas zu unterlassen ist, da es in der Natur nicht vorkommt? Die Natur selbst könne als Lehrerin dienen: Was diese mache, sei auch in der Forschung erlaubt. Was diese nicht tue, sollte auch nicht im Forschungslabor getan werden. Die Herstellung von Mensch-Tier-Mischwesen wäre somit eine unstatthafte Grenzüberschreitung. Anders z. B. bei der Frage des Gentransfers. Schauen wir uns zur Beantwortung dieser Frage zunächst einmal folgendes kleines Beispiel an. Situation 1: Zwei junge Männer gehen gemeinsam durch einen Wald. Ein heftiger Sturm kommt auf; von einem der Bäume löst sich ein Ast, der einem der beiden Männer auf den Kopf fällt und ihn erschlägt. Situation 2: Auch hier gehen zwei junge Männer miteinander durch den einen Wald. Nun aber ergreift einer einen kräftigen Ast, der auf der Erde liegt, und schleudert ihn dem anderen entgegen. Das Ergebnis ist dasselbe wie bei der ersten Situation: der zweite Mann ist umgehend tot, von einem Ast erschla­ gen. Spinnen wir die Situation 2 ein wenig weiter: Der junge Mann wird vor Gericht gestellt. Vor dem Richter gibt er zu Protokoll, er sei Beurteilung, Jahrestagung 2016, Simultanmitschrift, S. 69–71, hier S. 71, https://ww w.ethikrat.org/jahrestagungen/zugriff-auf-das-menschliche-erbgut-neue-moeglich keiten-und-ihre-ethische-beurteilung/?cookieLevel=not-set&cHash=7ed20ea73e9 8dc7ee0fab4317d19d928 (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). Birnbacher sagt: »Die Risiken, die Angehörigen späterer Generationen aus einer gen­ technischen Intervention erwachsen, können […] nicht durch die Einwilligung abge­ deckt sein, die die Eltern des primär Betroffenen zu dem Eingriff gegeben haben.« (Birnbacher, D.: Genomanalyse und Gentherapie, in: Sass, H.-M. (Hrsg.): Medizin und Ethik, Stuttgart 1989, S. 212–231, hier S. 217). 1288 Schockenhoff, E.: Setzt »Natürlichkeit« der Genom-Editierung Grenzen?, in: Deutscher Ethikrat: Zugriff auf das menschliche Erbgut. Neue Möglichkeiten und ihre ethische Beurteilung, Jahrestagung 2016, Simultanmitschrift, S. 71–75, hier S. 73, https://www.ethikrat.org/jahrestagungen/zugriff-auf-das-menschliche-erbgut-ne ue-moeglichkeiten-und-ihre-ethische-beurteilung/?cookieLevel=not-set&cHash=7 ed20ea73e98dc7ee0fab4317d19d928 (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022).

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gerechtfertigt, da die Natur schließlich auch so verfahre. Doch was läuft hier schief? Die Natur selbst ist nicht rechtfertigungsbedürftig. Das Herabfallen des Astes in Situation 1 ist ein Ereignis. In Situation 2 haben wir es mit einer Handlung zu tun, die kein Naturereignis ist. Handlungen können wir vollziehen oder unterlassen. Wir können auch andere zu Handlungen auffordern. Wir verfolgen Ziele, haben Intentionen. Handlungen sind gerade keine Ereignisse. Kommen wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: Wenn es auch in der Natur zu Genübertragungen kommt, heißt dies noch nicht, dass der Mensch dasselbe tun darf, wenn er im Labor Gene mani­ puliert. Ähnlich wie in Situation 1 und 2 das Ergebnis das gleiche ist, kann auch hier das Ergebnis gleich sein. Auch hier ist zwischen Naturgeschehen und dem Eingreifen des jeweiligen Gen-Ingenieurs zu unterscheiden.1289 Und auch die gut gemeinte Überzeugung, dass uns in der Natur etwas gegenübertrete, das eine sehr, sehr lange Entwicklungs­ geschichte hinter sich habe und insofern bewährt habe, trägt nur ein­ geschränkt. Evolutionär erfolgreich war es bei bestimmten Lebewesen Reinhard Löw sagt treffend: »Wer Gene manipuliert, macht nicht das gleiche wie die Natur; dadurch, daß er es macht, ist es gerade nicht das gleiche. Die Wirkung kann dieselbe sein wie bei einem Naturereignis, ja ›Wirkungen‹ kommen bei Handlungen immer über den Umweg eines Naturgeschehens zustande. Aber vor dem Begriff der Rechtfertigung unterscheidet sich ein Naturereignis von einer Handlung kategorial.« (Löw, R.: Leben aus dem Labor. Gentechnologie und Verantwortung – Biologie und Moral, München 1985, S. 140) Diskutiert wird, ob sich dieser Konflikt möglicherweise umgehen ließe: etwa dadurch, dass Embryonen mit einem automatischen »Entwicklungsstop« versehen würden oder an »embryoähnlichen« Strukturen gearbeitet würde, aus denen sich jedoch kein Mensch entwickeln könne. Unproblematisch ist dies jedoch keineswegs. Wir müssen uns nämlich eine Vorausetzung vergegenwärtigen, die jene »embryoähnlichen« Gebilde erfüllen müssten: Damit bestimmte Entwicklungen möglich sind resp. über­ haupt Erkenntnisse gewonnen werden können, müssen bestimmte Eigenschaften mit dem Embryo übereinstimmen. Je größer diese Übereinstimmung ist, je schwieriger wird die Sachlage. Der Bereich des technisch Möglichen scheint noch weitere Wege zu offerieren: »Beispielsweise lassen sich im Mausmodell mit dem Verfahren der tetraploiden Komplementierung durch die Fusionierung umprogrammierter adulter Stammzellen mit nicht entwicklungsfähigen Embryonen Entitäten gewinnen, die sich zu gesunden Mäusen weiterentwickeln können, ohne jemals die Stadien eines nor­ malen frühen Embryos durchlaufen zu haben.« (Deutscher Ethikrat: Eingriffe in die menschliche Keimbahn. Stellungnahme, 9. Mai 2019, Berlin 2019, S. 102) Fragen wir noch einmal, was es heißt, einen »Entwicklungsstop« einzubauen. Gemeint ist doch, dass der Embryo um die Möglichkeit beraubt wird, sich auf normalem Wege zu ent­ wickeln. Sie werden also geschädigt. Und das ist ethisch nicht unproblematisch. 1289

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etwa auch, den Partner nach dem Geschlechtsakt einfach aufzufressen. Wer aber wollte das? Bernhard Irrgang unterstreicht, dass auch durch Keimbahnthe­ rapie entstandene Individuen ganz normale leiblich verfasste Würde­ wesen seien.1290 Kritisch wäre m.E. zu hinterfragen, ob sich die so hergestellten Wesen tatsächlich als Autoren ihres Lebens begreifen könnten und das Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit nicht vielmehr bloß unter der Perspektive des Hergestelltseins betrachten würden. Eine durch Technik provozierte Überfremdung wäre nicht zweifelsfrei auszuschließen. Dies hätte enorme Folgen für das Selbstverständnis des betroffenen Menschen wie auch für das soziale Zusammenleben. Insofern wäre auch auf einige mit der Gentherapie zusammen­ hängende, meist aber nicht reflektierte, Grundüberzeugungen hinzu­ weisen: 1.) Dies wäre zum einen die Vorstellung, wonach alle physiologi­ schen Prozesse durch den Genotyp determiniert sind, der Phänotyp die Umsetzung des genetischen Programms darstellt und es eine Rangordnung zwischen Genotyp und Phänotyp gibt.1291 Genthera­ peutischen Ansätzen liegt die Vorstellung zugrunde, dass eine Verän­ derung im Genotyp umgehend eine Auswirkung auf den Phänotyp hat.1292 Es wird demnach also eine lineare Kausalität zwischen Genen und Merkmalsausbildung vorausgesetzt. Gegenüber der Vorstellung einer durchgängigen Determination der organismischen Prozesse wäre an die Komplexität genetischer und physiologischer Prozesse zu erinnern. Wir haben es hier mit einer Komplexität zu tun, die alle Ebenen des Organismus betrifft.1293 Greift man an einer Stelle des Organismus ein, ist nicht nur diese Stelle isoliert betroffen. Die Ver­ änderung wirkt sich auf den Organismus in seiner Ganzheit aus.1294

Vgl. Irrgang, B.: Einführung in die Bioethik, München 2005, S. 184 f. Vgl. hierzu: Graumann, S.: Die somatische Gentherapie. Entwicklung und Anwen­ dung aus ethischer Sicht, Tübingen / Basel 2000, S. 92 ff. 1292 Vgl. a. a. O., S. 94. 1293 »Die Eigenschaften eines Organismus ergeben sich aus dem komplexen Zusam­ menspiel von nichtgenetischen und genetischen Faktoren. Neue Eigenschaften und Qualitäten […] können auf verschiedenen System-›Schichten‹ entstehen. Das bedeu­ tet aber, dass die Risiken der Gentherapie genauso wenig vorhergesagt werden können wie erwünschte Effekte.« (A. a. O., S. 147). 1294 So argumentiert schon Kurt Goldstein in seiner Arbeit zum Organismus-Begriff: Goldstein, K.: Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen, Paderborn 2014, S. 171 ff. 1290

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Nicht nur Organismen in ihrer Ganzheit, sondern auch Zellen sind dynamisch. Hier sollte Erwähnung finden, dass etwa 98 Prozent der uns heute bekannten Krankheiten polygenetisch sind: nicht nur ein einzelnes Gen, sondern ein Zusammenwirken mehrerer Gene spielt hier eine Rolle. Auch Umwelteinflüsse, die Beziehungen zwi­ schen Organismen und ihrer Umwelt sind zu berücksichtigen. U. a. wäre an die Rolle epigenetischer Aktivitäten, die im Hinblick auf die Regulation resp. Fehlregulation der Genexpression stärker zu berücksichtigen wären als bisher, zu erinnern.1295 In diesem Sinne unterstreicht Sigrid Graumann die Komplexität genetischer Phäno­ mene sowie die Grenzen eines methodischen Reduktionismus inner­ halb der Genetik. Gegenüber der Sichtweise, wonach »Eigenschaften von Organismen […] im genetischen Programm ›festgeschrieben‹“ seien, weist sie auf »intra-, inter- und extrazellulär[e] Interaktionen des exprimierten Genoms [hin], ohne Hierarchien zwischen den verschiedenen Faktoren einziehen zu können.«1296 2.) Kommen wir zu einer weiteren Hintergrundannahme, die unreflektiert mitschwingt: Dies ist einerseits die von Gehlen ins allgemeine Bewusstsein gehobene Vorstellung, der Mensch sei ein Mängelwesen und andererseits die auf Descartes und La Mettrie zurückgehende Sicht, der Mensch sei eine Maschine, bei der defekte Teile ausgetauscht und durch andere ersetzt werden können. Wir haben es hier mit einer mechanistischen Vorstellung von Menschund Kranksein zu tun. »In der modernen Gesellschaft ist Gesundheit ein geradezu religiöser Wert.«1297 Kranksein wird insbesondere als biotechnologische Herausforderung aufgefasst. »Die Betonung des Machbaren und die Plädoyers für das Kontrollier­ bare, die Suche nach Wirkzusammenhängen sind zuweilen Ausdruck einer Flucht in die Kausalitäten, in die Zahlen, um sich nicht eingeste­ hen zu müssen, dass man gegen den Zufall, gegen die Spontaneität, gegen das Schicksal und letztlich gegen die Kontingenz des Lebens trotz alledem immer ein Stück machtlos bleiben wird.«1298

1295 Vgl. Graumann, S.: Die somatische Gentherapie. Entwicklung und Anwendung aus ethischer Sicht, Tübingen / Basel 2000, S. 118 f. 1296 A. a. O., S. 129. 1297 Körtner, U. H. J.: Leib und Leben. Bioethische Erkundungen zur Leiblichkeit des Menschen, Göttingen 2010, S. 41 f. 1298 Maio, G.: Gefangen im Übermaß an Ansprüchen und Verheißungen. Zur Bedeu­ tung des Schicksals für das Denken der modernen Medizin, in: Maio, G. (Hrsg.):

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Unter der Voraussetzung, dass Nebenwirkungen ausgeschlossen wer­ den könnten, wäre für Christoph Rehmann-Sutter ein Eingriff in die Keimbahn denkbar. Eine Pflicht, eine bestimmte Krankheit zu bekommen, so das Argument, gebe es nicht. Von einer Verletzung der Menschenwürde könne, wenn die genannte Voraussetzung erfüllt sei, nicht die Rede sein.1299 Bedenken sieht er, da eine Keimbahntherapie den Menschen technisiere und soziale Beziehungen verändere.1300 Auch Habermas argumentiert, dass Eingriffe in die Keimbahn aus therapeutischer Absicht rechtfertigbar seien, insofern diese von einem »mindestens kontrafaktisch zu unterstellenden Konsens der mögli­ cherweise Betroffenen selbst abhängig gemacht werden«1301. Eltern werden hier in therapeutischer Hinsicht tätig – nicht, um ihre Kinder zu designen. Allerdings steht der Beginn menschlichen Lebens hier im Horizont von Interessen und des Verfügens. Mit seiner Vermutung, dass der Druck, Keimbahntherapie ein­ zuführen, nicht von Staaten und Diktaturen, sondern von Paaren ausgehen wird, die den Wunsch hegen, die Chancen ihrer Kinder zu verbessern, um »effektiv innerhalb ihrer Gesellschaft zu funktio­ nieren«1302, hat Bernhard Irrgang wahrscheinlich recht. Seine Vermu­ tung wirft für mich die Frage auf, wen wir mit der Keimbahntherapie eigentlich behandeln: Keimbahnzellen oder von einer Erbkrankheit betroffene Paare, die sich leibliche Kinder wünschen? Angesichts der oben angesprochenen Probleme, die mit der modernen Reprodukti­ Abschaffung des Schicksals? Menschsein zwischen Gegebenheiten des Lebens und medi­ zin-technischer Gestaltbarkeit, Freiburg 32015, S. 10–48, hier S. 22. 1299 Vgl. Rehmann-Sutter, C.: Gentherapie, in: Sturma, D. / Heinrichs, B. (Hrsg.): Handbuch Bioethik, Stuttgart / Weimar 2015, S. 270–274, hier S. 273. Ähnlich argumentiert aus theologischer Perspektive: Schockenhoff, E.: Setzt »Natür­ lichkeit« der Genom-Editierung Grenzen?, in: Deutscher Ethikrat: Zugriff auf das menschliche Erbgut. Neue Möglichkeiten und ihre ethische Beurteilung, Jahrestagung 2016, Simultanmitschrift, S. 71–75, hier S. 73, https://www.ethikrat.org/jahrestagu ngen/zugriff-auf-das-menschliche-erbgut-neue-moeglichkeiten-und-ihre-ethischebeurteilung/?cookieLevel=not-set&cHash=7ed20ea73e98dc7ee0fab4317d19d928 (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022); vgl. Schockenhoff, E.: Ethik des Lebens. Grund­ lagen und neue Herausforderungen, Freiburg 22013, S. 442–445. 1300 Vgl. Rehmann-Sutter, C.: Politik der genetischen Identität. Gute und schlechte Gründe auf die Keimbahntherapie zu verzichten, in: Rehmann-Sutter, C. / Müller, H. (Hrsg.): Ethik und Gentherapie. Zum praktischen Diskurs um die molekulare Medizin, Tübingen 2003, S. 225–236. 1301 Habermas, J.: Replik auf Einwände, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50, 2 (2002), S. 283–298, hier S. 296. 1302 Irrgang, B.: Einführung in die Bioethik, München 2005, S. 179.

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onsmedizin verbunden sind, ist ganz grundsätzlich zu überlegen, ob nicht der Verzicht auf eigene Kinder resp. eine Adoption der bessere Weg wäre, als mit all den zur Verfügung stehenden techni­ schen Mitteln in den Bereich menschlicher Reproduktion, und damit auch Intimität, einzudringen. Es müsste darum gehen, von einer monogenetisch bedingten Krankheit betroffenen Paaren andere Wege aufzuzeigen als unbedingt ein leibliches Kind zu bekommen.1303 Mit einer Keimbahnintervention sind Risiken verbunden, die wir gar nicht überschauen können.1304 Um dies jedoch halbwegs ordentlich tun zu können, müsste man die Folgen bei Betroffenen und

1303 So auch C. Rehmann-Sutter: »Es geht darum, Eltern mit ungünstigen erblichen Konstellationen zu ermöglichen, genetisch eigene gesunde Kinder zu haben, ohne eine Keimzellenspende in Anspruch zu nehmen oder ohne Selektion der frühen Embryo­ nen. Was durch Keimbahntherapie geheilt wird, ist nicht primär die Erbkrankheit, sondern das Leiden aus dem unerfüllbaren Kinderwunsch der Eltern, für die Keim­ zellenspende oder Embryonenselektion keine wünschbare Option darstellt.« (Reh­ mann-Sutter, C.: Politik der genetischen Identität. Gute und schlechte Gründe auf Keimbahntherapie zu verzichten, in: Rehmann-Sutter, C. / Müller, H. (Hrsg.): Ethik und Gentherapie. Zum praktischen Diskurs um die molekulare Medizin, Tübingen 2003, S. 225–237, hier S. 233) Insofern reagiere Keimbahntherapie auf ein »Leiden an sozia­ len Diskriminierungen« (a. a. O., S. 234). 1304 Einige Risiken stellen sich wohlmöglich erst Generationen später heraus. Vgl. Jonas, H.: Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1987, S. 216. Der Deutsche Ethikrat hat im Mai 2019 eine Stellungnahme zu Eingriffen in die Keimbahn vorgelegt, (vgl. Deutscher Ethikrat: Eingriffe in die menschliche Keimbahn. Stellungnahme, 9. Mai 2019, Berlin 2019) nachdem er im September des Vorjahres zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte hierüber aufgerufen hatte. Er greift mit seinem eigenen Beitrag zu jener eingeforderten gesellschaftspolitischen Debatte die Frage auf, ob an einer kategorischen Ablehnung auch weiterhin festgehalten werden könne. Im November 2018 wurden – laut einer Meldung aus China – genetisch veränderte Zwillinge geboren, wobei im Vorfeld allgemein übliche Forschungsstandards unbe­ achtet blieben und es auch keine präklinischen Studien gab. Dies alles unterstreicht jedenfalls das Anliegen des Ethikrates, dass eine breite Debatte über Keimbahnein­ griffe notwendig ist. Langzeiteffekte seien bei Eingriffen in die Keimbahn ebenso wenig absehbar wie mit Eingriffen in die Keimbahn verbundenen Wechselwirkungen, wie der Deutsche Ethikrat festhält (vgl. a. a. O., S. 12). Die Keimbahn sei nicht per se sakrosankt, Eingriffe also nicht kategorisch auszuschließen. Eine hinreichende Sicher­ heit und Wirksamkeit sei eine unhintergehbare Voraussetzung. Zu fördern sei Grund­ lagenforschung ohne Rückgriff auf menschliche Embryonen, um mögliche Folgen und Auswirkungen von Keimbahneingriffen besser abschätzen zu können (vgl. a. a. O., S. 30).

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ihrem Nachwuchs in Testverfahren prüfen.1305 Studien mit frühen Embryonen und mit Menschen müssten durchgeführt werden. Dies aber verbietet sich. Menschen sind keine Versuchskaninchen.1306 Ein­ gangs erwähnte ich, dass in die Betrachtungen zu biotechnologischen Entwicklungen gerade der grundlegende Aspekt der Menschenwürde einzubeziehen ist: Andere Menschen würden zum bloßen Mittel fremder Interessen gemacht. Eine Welt ohne monogenetische Krank­ heiten ist zudem nicht zu haben ohne verbrauchende Embryonenver­ suche.1307 Die Unverfügbarkeit und Existenz von Menschen darf nicht zur Disposition gestellt werden. Die Vernichtung von Embryonen ist nicht in Kauf zu nehmen (z. B. bei der Gewinnung autologer ES-Zellen oder der Selektion im Rahmen eines Keimbahneingriffs). Auf Kosten anderer Menschen vergrößern wir gerade nicht unsere Autonomie und Freiheit; im Gegenteil. Es können keine Grundsätze in Stellung gebracht werden, welche als allgemeine praktische Gesetze für alle Vernunftwesen gelten können. Auch wären Experimente an Embryonen, von denen wir gar nicht wissen, wie sie später einmal ausgehen und man es schlicht drauf ankommen lassen würde, abzu­ Vgl. Kipke, R. / Rothhaar, M. / Hähnel, M.: Contra. Soll das sogenannte ›Gene editing‹ mittels CRISPR/Cas9-Technologie an menschlichen Embryonen erforscht werden?, in: Ethik in der Medizin 29 (2017), S. 249–252, hier S. 250. 1306 Bettina Schöne-Seifert zeigt sich beeindruckt, von den mit CRISPR-Cas9 in Ver­ bindung gebrachten scheinbar zum Greifen nahen Verbesserungen: Im Hinblick auf künstliche Befruchtungen würden sich neue Perspektiven auftun; auch sei mit neuen Therapien für Krankheiten zu rechnen, die bisher noch nicht gut genug erforscht seien. Sie beklagt, dass in Deutschland die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwe­ cken nicht erlaubt sei. Andere Staaten seien hier »im Vorteil«, so Schöne-Seifert. Wer jedoch so argumentiert, hat ethisch schon kapituliert. »Selbstredend werden wissen­ schaftliche Vorteile durch ethische Argumente übertrumpft«, so Schöne-Seifert. »Aber es gibt in dieser unendlichen Debatte keine vernünftig-zwingenden Argumente für die Schutzwürdigkeit sehr früher Embryonen.« (Schöne-Seifert, B.: »Russisches Rou­ lette« in der Genforschung am Menschen?, in: Ethik in der Medizin. Organ der Aka­ demie für Ethik in der Medizin, Bd. 31, Heft 1, März 2019, S. 1–5, hier S. 3) Die Schutz­ würdigkeit sollte ins Ermessen der Forscher und Geldgeber gestellt werden. Damit ist die Katze aus dem Sack. 1307 So auch: Honnefelder, L.: Zur ethischen Beurteilung der somatischen Genthe­ rapie, in: Der Internist 37 (1996), S. 382–386; Kress, H.: Keimbahnintervention. Ethisch, in: Korff, W. / Beck, L. / Mikat, P. (Hrsg.): Lexikon der Bioethik, Bd. 2, Gütersloh 1998, S. 352–354. Erstaunlicherweise wird dieser wichtige Aspekt in der Stellungnahme der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Genomchirurgie beim Menschen – Zur Verantwortlichen Bewertung einer neuen Technologie. Analyse der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht, Berlin 2015) gar nicht erwähnt. 1305

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8.2 Möglichkeiten und Grenzen der Gentherapie

lehnen.1308 Es kann hier auch nicht mit Forschungsfreiheit argumen­ tiert werden.1309 »Wer wissenschaftlich arbeitet, ist keiner amtlichen Wahrheitsdefinition unterworfen, aber doch nicht zum Zugriff auf Eigentum, Körper oder Persönlichkeitsrechte anderer […] berech­ tigt.«1310 Ein »abgestufter Würdeschutz«, von dem gelegentlich die Rede ist,1311 ist kein Schutz und widerspricht der Idee der Menschenwürde. 1308 »Zu den für die Erforschung von Keimbahneingriffen infrage kommenden expe­ rimentellen Ansätzen gehört die Forschung an tierischen und menschlichen Zellkul­ turen, aber auch an Versuchstieren, an embryoähnlichen Konstrukten und an frühen menschlichen Embryonen in vitro.« (Deutscher Ethikrat: Eingriffe in die menschliche Keimbahn. Stellungnahme, 9. Mai 2019, Berlin 2019, S. 10). 1309 Forschungsfreiheit ist in Deutschland verfassungsrechtlich gewährleistet: Wis­ senschaft, Forschung und Lehre sind gemäß GG Artikel 5 Abs. 3 Satz frei. Die histori­ schen Wurzeln dieses Grundrechts liegen in der 1848er Revolution. In Europa wird Forschungsfreiheit über Art. 13 Satz 1 EU-Grundrechtcharta geregelt. Inhaltlich geht es darum, Forschung frei betreiben zu dürfen, hieraus entsprechende Schlussfolge­ rungen zu ziehen und die Ergebnisse zu publizieren. Das Grundrecht findet seine Grenze in der durch Art 1 GG verbürgten Unantastbarkeit der Menschenwürde und dem Schutzauftrag des Staates. Bestehen Bedenken, dass sich Forschungsprojekte gegen die Würde des Menschen richten, sind diese zu unterbinden. Der Wissen­ schaftler im Labor genießt »alle Freiheit des Forschens, aber nicht des Bewirkens nachteiliger Folgen für Dritte.« (Hoffmann-Riem, W.: Enge oder weite Gewährungs­ gehalte der Grundrechte?, in: Bäuerle, M. / Hanebeck, A. / Hausotter, C. / Mayer, M. / Mohr, J. / Mors, M. / Preedy, K. / Wallrabenstein, A. (Hrsg.): Haben wir wirklich Recht? Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit, Baden-Baden 2004, S. 53–76, hier S. 65). 1310 Hase, F.: Freiheit ohne Grenzen?, in: Depenheuer, O. / Heintzen, M. / Jestaedt, M. / Axer, P. (Hrsg.): Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee, Heidelberg 2007, S. 549–560, hier S. 558. 1311 Vgl. Hacker, J. / Rendtorff, T. / Cramer, P. / Hallek, M. / Hilpert, K. / Kupatt, C. / Lohse, M. / Müller, A. / Schroth, U. / Voigt, F. / Zichy, M.: Biomedizinische Eingriffe am Menschen. Ein Stufenmodell zur ethischen Bewertung von Gen- und Zell­ therapie, Berlin / New York 2009, S. 85. Bernhard Rütsche schreibt zur Frage der Menschenwürde-Verletzung durch CRISPRCas9 Folgendes: »Während mit der Würde überzähliger Embryonen Lebewesen geschützt werden, die keinerlei Empfindungsfähigkeit oder Bewusstsein und damit keine eigenen Bedürfnisse haben, verteidigen Grundrechte von Personen wie die For­ schungsfreiheit elementare Interessen, deren Verletzung als Schmerz, Leiden oder sonst wie negativ erfahren wird. Aus einem unabhängigen moralischen Standpunkt wäre es nicht zu rechtfertigen, objektive, abstrakte Werte über das Empfinden vul­ nerabler Menschen zu stellen. Die Würde früher Embryonen darf nicht absolut gesetzt und generell der Forschungsfreiheit übergeordnet werden.« (Rütsche, B.: Pro: Soll das sogenannte »Gene Editing« mittels CRISPR-Cas9- Technologie an menschlichen Embryonen erforscht werden?, in: Ethik in der Medizin 29 (2017), S. 243–247, hier

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8. Menschen »machen«

Der Mensch muss dem Menschen »Zweck an sich selbst« sein, wie Kant betont.1312 Aufgrund der Selbstzwecklichkeit sind allen instru­ mentellen Zugriffen – und seien sie auf den ersten Blick noch so edel – Grenzen gesetzt. Wäre der Mensch nicht Selbstzweck, wäre ein Zweck denkbar, den Zwecksetzer selbst auszulöschen. »Ein Hasard­ spiel mit den Lebenschancen künftiger Generationen, dessen unab­ sehbare Auswirkungen irreversibel wären, lässt sich durch keinen denkbaren Nutzen rechtfertigen.«1313 Und so setzt die Eule der Minerva bereits zum Flug an.

8.3 Enhancement: Die Natur durch Technik verbessern? 8.3.1 Therapie und Enhancement: Eine Klärung Sich anzustrengen, um »schneller, höher, besser« zu sein, genügt vielen heutzutage nicht mehr. Es gibt eine Reihe von Bestrebungen, die darauf abzielen, die Leiblichkeit umzugestalten und dem Gewach­ senen durch Technik auf die Sprünge zu helfen. Diese Bewegung einer technischen Verbesserung des Menschen wird Human Enhance­ ment genannt. Verschiedene ökonomische und soziale Bedürfnisse spielen hier gewiss eine Rolle. Es handelt sich um einen medizinisch nicht indizierten korrigierenden Eingriff in der Absicht, eine Verbes­ serung herbeizuführen.1314 S. 244) Im Vordergrund stehen hier ganz offensichtlich utilitaristische Erwägungen: Leitschnur ist das, was nützlich zu sein verspricht. Da können Einzelne auf der Strecke bleiben. Eine solche Argumentation hat sich leider auch in die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates eingeschlichen. »Aus Sicht der Solidargemeinschaft könnte es einerseits gute Gründe geben, Keimbahneingriffe für Mitglieder mit einer genetischen Mutation, die zu Mukoviszidose führt, zu unterstützen oder sogar zu fordern, sei es als Hilfsangebot oder mit dem Ziel, die Kosten für die gesamte Solidargemeinschaft zu senken.« (Deutscher Ethikrat: Eingriffe in die menschliche Keimbahn. Stellung­ nahme, 9. Mai 2019, Berlin 2019, S. 24) Ökonomische Fragen abzuwägen, ist freilich nachvollziehbar. Doch das Leben von Menschen darf nicht zur Disposition gestellt werden, auch nicht, wenn dadurch einer größeren Gruppe medizinisch geholfen wer­ den kann. 1312 Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA Bd. IV, S. 429. 1313 Schockenhoff, E.: Ethik des Lebens. Grundlagen und neue Herausforderungen, Freiburg 22013, S. 442. 1314 Vgl. Juengst, E. T.: What Does Enhancement Mean?, in: Parens, E. (Hrsg.): Enhancing Human Traits. Ethical and Social Implications, Washington 1998, S. 29–47,

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8.3 Enhancement: Die Natur durch Technik verbessern?

Angenommen, jemand erkrankt. Von Heilung würden wir dann sprechen, wenn die Gesundheit wiederhergestellt würde, also die damit verbundenen Einschränkungen und Defizite aufgehoben wür­ den. Dreh- und Angelpunkt, der richtungsgebende Maßstab, ist in dem Fall der gesunde Mensch. »Medicus curat, natura sanat«, sagen wir. Zweck ärztlichen Tuns ist klarerweise die Gesundheit. Um diese geht es. Wenn wir hier von Zweck sprechen, unterscheidet sich dieser freilich von der Herstellung irgendwelcher Artefakte. Ein solcher ist uns nämlich mit unserer leiblichen Gestalt quasi in die Wiege gelegt. Das therapeutische Wirken eines Arztes ist keineswegs ein Herstellen wie es bei Dingen der Fall ist. Wenn alles wie gewünscht verläuft, kann durch einen therapeutischen Eingriff des Arztes im Idealfall Gesundheit wiederhergestellt werden.1315 Seine therapeuti­ schen Maßnahmen wirken unterstützend. Der Aquinate sagt dies wie folgt: »Medicus in sanatione est minister naturae, quae principaliter operatur, confortando naturam et apponendo medicinas, quibus velut instrumentis natura utitur ad sanationem.«1316 Der Arzt ist demnach »minister«, Diener der Natur. Er kräftigt die Natur, verabreicht Medi­ zin, die diese nutzt. Dies ist sein Aufgabenbereich, damit die Natur das ihrige tun kann. Gesundheit ist nichts, was in Gänze als machbar angesehen werden sollte.1317 Es geht Arzt und Patient darum, dass das

hier S. 29; Kipke, R.: Besser werden. Eine ethische Untersuchung zu Selbstformung und Neuro-Enhancement, Paderborn 2011, S. 29–35. 1315 Wenn wir von Therapie sprechen, meinen wir die Behandlung einer Krankheit, nicht ihre Diagnose. Dass ein therapeutischer Zweck verfolgt wird, heißt allerdings nicht, dass alle Wege dorthin per se richtig sind. 1316 Thomas von Aquin: De veritate, qu. 11, a 1. Formulieren wir diesen thomasischen Gedanken noch einmal anders: Damit ein Mensch gesunden kann, sind mehrere Ursachen in den Blick zu nehmen: So kann eine Erkrankung z. B. durch Viren resp. Bakterien ausgelöst sein (causa efficiens) oder auf eine genetische Mutation zurückzuführen sein (causa materialis). Stets ist auch das Erleben des Patienten, seine geistig-seelischen Prozesse, von Belang (causa formalis, finalis). Wenn ein Mensch erkrankt, sind körperliche wie seelische Aspekte zu berücksichtigen. 1317 Gadamer formuliert diesen Gedanken folgendermaßen: »Die ärztliche Wissen­ schaft ist die eine, die am Ende überhaupt nichts herstellt, sondern ausdrücklich mit der wunderbaren Fähigkeit des Lebens rechnen muß, sich selber wiederherzustellen und sich in sich selbst wieder einzuspielen.« (Gadamer, H.-G.: Über die Verborgenheit der Gesundheit. Aufsätze und Vorträge, Frankfurt a. M. 2010, S. 118).

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8. Menschen »machen«

»normale Leben« wieder stattfinden kann: sie z. B. wieder das Bett verlassen können und zur Arbeit fahren können.1318 Nicht die Novität ist ein Kriterium, um Therapie und Enhance­ ment voneinander abzugrenzen, insofern gerade auch im therapeu­ tischen Bereich immer wieder ganz neue Methoden zum Einsatz kommen, die helfen, dass Menschen gesunden können. Und auch im therapeutischen Kontext geht es darum, einen Zustand zu beheben, der als ungut und verbesserungswürdig empfunden wird. Beim Enhancement handelt es sich um ein nicht krankheitsbe­ zogenes biotechnisches Eingreifen am Menschen, welches auf eine Verbesserung, nicht auf Heilung resp. Prävention, hinzielt.1319 Roland Kipke macht daher darauf aufmerksam, dass der Unterschied von Therapie und Enhancement in der vorhandenen oder nicht vorhande­ nen Bezugnahme zu einer Krankheit besteht.1320 Wenn jede Anstren­ gung, die dazu diene, das Wohlbefinden zu heben, als Therapie titu­ liert werde, erledige sich die Frage nach Enhancement. Ähnlich sehe dies aus, wenn Krankheit ausschließlich von subjektivem Empfinden abhängig gemacht werde: »dann ist potentiell jeder Zustand eine Krankheit und demzufolge jede verbessernde Maßnahme eine Thera­ pie«1321. 1318 Zur Unterscheidung von Therapie und Enhancement auch: Lenk, C.: Therapie und Enhancement. Ziele und Grenzen der modernen Medizin, Münster 2002; Sparrow, R.: Better than Men? Sex and the Therapy / Enhancement Distinction, in: Kennedy Insti­ tute of Ethics Journal 20 (2), 2010, S. 115–144. Zur Bedeutung des Krankheitsbegriffs sei verwiesen auf: Lanzerath, D.: Krankheit und ärztliches Handeln: zur Funktion des Krankheitsbegriffs in der medizinischen Ethik, Freiburg 2000; Lanzerath, D.: Krankheitsbegriff, Anthropotechnik und die Grenzen ärztlichen Handelns, in: Maio, G. / Clausen, J. / Müller, O. (Hrsg.): Mensch ohne Maß? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der biomedizinischen Ethik, Freiburg / München 2008, S. 154–175. 1319 Vgl. Fuchs, M. / Lanzerath, D.: Wachstumshormontherapie in der Pädiatrie. Die Einschätzung des Kleinwuchses und die Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement. Einführung in ein Forschungsprojekt, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, 7 (2002), S. 279–281, hier S. 279; Fuchs, M.: Enhancement, in: Korff, W. (Hrsg.): Lexikon der Bioethik, Bd. 1, Gütersloh 2000, S. 604 f. 1320 Kipke, R.: Besser werden. Eine ethische Untersuchung zu Selbstformung und NeuroEnhancement, Paderborn 2011, S. 31; vgl. Kipke, R.: Die Funktion des Krankheitsbe­ griffs in der Enhancement-Debatte, in: Rothhaar, M. / Frewer, A. (Hrsg.): Das Gesunde, das Kranke und die Medizinethik. Moralische Implikationen des Krankheits­ begriffs, Stuttgart 2012, S. 149–165. 1321 Kipke, R.: Besser werden. Eine ethische Untersuchung zu Selbstformung und NeuroEnhancement, Paderborn 2011, S. 32.

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8.3 Enhancement: Die Natur durch Technik verbessern?

Anders verhält es sich, wenn wir Krankheit als Störung der Funktionen eines Organismus verstehen, der dadurch eingeschränkt, leidend oder sogar gefährdet ist. Sofern gattungstypische Merkmale gemindert sind, kann demnach von einer Krankheit gesprochen wer­ den. Vor dieser Hintergrundfolie ist Enhancement etwas, was über das übliche Maß der Lebensfunktionen eines Organismus hinausragt. An der Unterscheidung von Therapie und Enhancement wird festgehal­ ten.1322 Werden Substanzen eingenommen, um die Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit im Sport zu erhalten bzw. merkbar anzuheben,

Für die WHO besteht Gesundheit bekanntlich in einem Zustand »völligen psychi­ schen, physischen und sozialen Wohlbefindens«; umgehend wird dieser Definition hinzugefügt: explizit nicht nur als »das Freisein von Krankheiten und Gebrechen«. (WHO (World Health Organization): Preamble to the Constitution of the World Health Organization, 1946, https://www.who.int/about/governance/constitution (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022)) Hierhinter steckt ein sehr anspruchsvolles politisches Denken, welches die Unterscheidung von Therapie und Enhancement verblassen lässt. Was nicht in die Kategorie eines vollkommenen Wohlbefindens (in leib-seelischer wie sozialer Hinsicht) fällt, kann als Krankheit definiert werden. Da dies eine ganze Menge sein kann, scheint die Definition nicht wirklich weiterzuführen. Wenn Gesundheit in diesem Sinne zu einem höchsten Wert stilisiert wird, fällt es in den Kompetenz- und Verantwortungsbereich des Arztes, für ein gutes und gelingendes Leben zu sorgen. »Der erweiterte Gesundheitsbegriff, der den Arzt scheinbar allzu­ ständig macht, nimmt ihm in Wirklichkeit seine besondere Zuständigkeit und macht ihn zum Funktionär einer öffentlich verwalteten ›Glückseligkeit‹. Die relative Auto­ nomie der Sachbereiche aber ist es, die dem Begriff der Mündigkeit und Freiheit erst einen Inhalt gibt.« (Spaemann, R.: Die totale Gesundheit, in: Spaemann, R.: Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 22002, S. 332–335, hier S. 335) Wahrscheinlich hat die WHO in ihrer Gründungsphase – zwei Weltkriege vor Augen – diese Fragen noch nicht im Blick gehabt. Jenes hier angesprochene Recht auf Gesundheit scheint inzwischen jedoch zu einer Verpflichtung geworden zu sein. Argwöhnisch betrachtet wird all das, was von der Norm abweicht. Hierzu auch: Knaup, M.: The Corona Crisis: Attempt at a Philosophical Orientation, in: JAHR. European Journal of Bioethics, 2 (2021). 1322 Gegen diese Sichtweise wird, so Alexander Naumenko-Kühne, ins Feld geführt, dass subjektive Belange nicht wirklich zum Tragen kommen: So können zwar statis­ tische Normabweichungen vorliegen, der entsprechende Mensch sich aber kernge­ sund fühlen. »Die Kritikpunkte am biostatischen Gesundheitsbegriff sind grundsätz­ lich berechtigt […], für die Definition des Human Enhancement dagegen nachrangig. Die zunächst angemahnte Vernachlässigung der Subjektivität erfolgt zum Zweck der Wertneutralität methodisch und ist als nicht-normative Prämisse zulässig.« (Nau­ menko-Kühne, A.: Projekt und Problematik einer »Perfektionierung« des Menschen. Aspekte des »Human Enhancement« zwischen Philosophie und Technokratie, Aachen 2018, S. 19).

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8. Menschen »machen«

sprechen wir von Doping. Die Leistungen der Sportler sollen dem entsprechen, was sie von sich gewohnt sind, oder andere von ihnen erwarten – wobei nicht selten erhebliche gesundheitliche Schädigun­ gen in Kauf genommen werden. Möglicherweise wollen die Sportler ihre Leistungen weiter steigern, um noch besser und schneller zu sein als andere. Alles geschieht »in einem Maße, dass die dadurch erreichte Leistung im Rahmen des Spektrums der üblichen menschlichen Leis­ tungen noch als ›normal‹ vorstellbar erscheint«1323. 1323 Grunwald, A.: Technikzukünfte als Medium von Zukunftsdebatten und Technik­ gestaltung. Karlsruher Studien Technik und Kultur, Karlsruhe 2012, S. 145. Die Möglichkeiten modernen Dopings sind zahlreich. Sie reichen von A wie Anabolika über G wie Gendoping bis W wie Wachstumshormone. Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass, wie sehr man sich auch bemüht, Doping zu diskreditieren und aufzuspüren, neue Methoden in den Himmel sprießen. Schätzungsweise greifen 20 Prozent der Freizeitsportler zu Dopingmaßnahmen (vgl. Dickhuth, H.-H.: Mög­ lichkeiten und Grenzen der Leistungssteigerung im Sport, in: Maio, G. / Clausen, J. / Müller, O. (Hrsg.): Mensch ohne Maß? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der biomedizinischen Ethik, Freiburg / München 2008, S. 260–270, hier S. 267). Dabei ist es keineswegs eine Erfindung unserer Tage, durch leistungsstärkende Hilfsmittel den eigenen Kräften nachzuhelfen. In der Antike galt z. B. eine bestimmte Pilzart als förderlich für die eigene Leistung. Nach Peter Wehling haben eine »Ver­ wissenschaftlichung, Ökonomisierung, Politisierung, Medialisierung, Professionali­ sierung und Globalisierung des Sports« (Wehling, P.: Schneller, höher, stärker – mit künstlichen Muskelpaketen. Doping im Sport als Entgrenzung von ›Natur‹ und ›Gesellschaft‹, in: Karafyllis, N. C. (Hrsg.): Biofakte. Versuch über den Menschen zwi­ schen Artefakt und Lebewesen, Paderborn 2003, S. 85–100, hier S. 88) zur Brisanz des Dopings in modernen Gesellschaften geführt. Ebene jene Tendenzen hätten aufein­ ander eingewirkt, sich gegenseitig verstärkt und eine eigene Dynamik entfaltet. Er fasst sehr schön zusammen, worum es geht: Der Sport »sieht sich einerseits institu­ tionell gezwungen, immer wieder das ›Natürliche‹ vom ›Künstlichen‹ zu trennen und stößt dabei beständig auf gegenläufige Praktiken, die darauf zielen, diese Unterschei­ dung zu verwischen und das ›technisch Gemachte‹ als das ›natürlich Gewachsene‹ zu tarnen.« (A. a. O., S. 87). Helga Nowotny und Giuseppe Testa sind im Hinblick auf die Frage des Sportdopings der Ansicht, hier werde »im Namen einer fiktiven Natürlichkeit sowie einer fiktiven Gleichheit eine letzten Endes illusionäre Reinigung des (natürlichen) Lebens ange­ strebt« (Nowotny, H. / Testa, G.: Die gläsernen Gene. Die Erfindung des Individuums im molekularen Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009, S. 28). Die Unterscheidung zwischen Gewachsenem und Gemachtem halten sie nicht für angemessen. Trainingspläne, Diä­ ten und die moderne Ausrüstung der Sportler sei alles andere als »natürlich« (vgl. a. a. O., S. 33). Während Sportverbände darauf bedacht seien, eine »fiktive Grenze« zwischen dem natürlichen Körper und künstlich manipulierten aufrechtzuerhalten, würde diese Grenzziehung durch die Möglichkeit genetischen Dopings unterlaufen. Wehling argumentiert, eine offizielle Freigabe des Dopings würde eigentlich auch keine Veränderung gegenüber der bestehenden Praxis bedeuten: »Eine kontrollierte,

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8.3 Enhancement: Die Natur durch Technik verbessern?

Mit »Enhancement« sind auch solche Bestrebungen gemeint, die über das Normalmaß hinauszielen. Also: Es geht hier – anders als beim Heilen und beim Doping – darum, die Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit weit über das Maß eines gesunden Menschen und das, was wir als »normale« menschliche Befähigung einstufen würden, anzuheben.1324 Gemeint ist ein Optimierungsprozess, der »an dem Ausgangspunkt des gesunden Menschen unter optimalen Bedingungen orientiert [ist] und [der] über dessen Fähigkeiten hinaus führen soll, je bezogen auf ein spezifisches Kriterium der Verbesse­ rung«1325. Lee Silver, vom Fach Molekularbiologe, hat diesbezüglich auch schon sehr – sagen wir: optimistische – Vorstellungen, was durch das Enhancement in Zukunft alles möglich sein könnte: z. B. magnetische Strahlung wahrzunehmen oder auch Infrarotlicht zu sehen.1326 Ganz allgemein: Es geht keineswegs – wie bei therapeu­ d.h. an bestimmte Regeln und Grenzen gebundene Freigabe […] würde im Vergleich zur jetzigen Situation keine wesentliche Veränderung bedeuten. Statt des Dopingver­ bots (das ja bereits jetzt keine absoluten ›Null-Grenzen‹ vorsieht), müßte dann mit vergleichbarem Aufwand die Einhaltung der begrenzenden Regeln kontrolliert wer­ den.« (Wehling, P.: Schneller, höher, stärker – mit künstlichen Muskelpaketen. Doping im Sport als Entgrenzung von ›Natur‹ und ›Gesellschaft‹, in: Karafyllis, N. C. (Hrsg.): Biofakte. Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen, Pader­ born 2003, S. 85–100, hier S. 98) Doping kann erhebliche gesundheitliche Folgen haben: z. B. die Verringerung der Fruchtbarkeit. Die Leberfunktionen können sich durch die Einnahme von Doping­ mitteln verschlechtern, die Cholesterinwerte steigen und Akne kann auftreten. Foddy und Savulescu nennen noch weitere Nebenfolgen: »gesteigerte Aggressivität, Herz­ kammerhypertrophie, […] Vermännlichung bei Frauen, Hodenatrophie und Gynä­ komastie bei Männern, erhöhtes Prostata-Risiko«. (A. a. O., S. 94) Darüber hinaus auch ein gesteigertes Risiko, einen Schlaganfall oder Herzinfarkt zu bekommen. Neben dieser eindeutigen Schädlichkeit für Leib und Leben, die doch Ausdruck einer Fremdbestimmung ist, ist auch vor Augen zu führen, dass der Einsatz von Doping mit dem Ziel zu betrügen, alles andere als unproblematisch ist. Noch problematischer ist es jedoch, wenn der Sportler vielleicht noch nicht einmal Kenntnis darüber hat, dass er gedopt ist. 1324 Vgl. Grunwald, A.: Technikzukünfte als Medium von Zukunftsdebatten und Tech­ nikgestaltung. Karlsruher Studien Technik und Kultur, Karlsruhe 2012, S. 145; Fuchs, M. / Lanzerath, D. / Hillebrand, I. / Runkel, T. / Balcerak, M. / Schmitz, B.: Enhancement. Die ethische Diskussion über biomedizinische Verbesserungen des Men­ schen, Bonn 2002, S. 15. 1325 Grunwald, A.: Technikzukünfte als Medium von Zukunftsdebatten und Technikge­ staltung. Karlsruher Studien Technik und Kultur, Karlsruhe 2012, S. 144 f. 1326 Vgl. Silver, L. M.: Das geklonte Paradies, München 1998, S. 314 f. Dass es zudem im Leben gerade nicht nur um das besondere »Scharfsehen« für das dieses »Infrarotsehen« ja auch steht, gehen kann, dieses ziemlich einseitig sein und

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8. Menschen »machen«

tischen Maßnahmen – darum, die Gesundheit eines Menschen zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Gemeint sind Eingriffe, die den Menschen jenseits dessen zu optimieren beabsichtigen.1327 Zur Kernkompetenz der Medizin gehören allen voran das Dia­ gnostizieren von Krankheiten, das Therapieren, die Prävention und die Palliation. Enhancement-Einsätze haben Konsequenzen für das Arzt-Patientenverhältnis, wenn der Arzt vor allem als Dienstleis­ ter gesehen wird und Medizin zu einer bloß wunscherfüllenden Dienstleistung wird. Aus dem Patienten wird ein Kunde. »Es ist hier der soziale Rahmen der Leistungsgesellschaft, der das Gute definiert«1328, so Maio. Und weiter: »Daher hat man mit der Etikettie­ rung der leistungssteigernden Mittel als Optimierungsmittel bereits stillschweigend vorausgesetzt, dass nicht nur diese Mittel, sondern auch das Ziel des schnellen Funktionierens ein gutes Ziel für den Menschen ist.«1329 Maio weist in diesem Zusammenhang ganz richtig darauf hin, dass ein ökonomisches Effizienz-Denken und die Überzeugung, Erlö­ sung könne (nur) hier auf Erden gefunden werden, eine nicht geringe Rolle spielen: Immer mehr anhäufen, immer besser und effizienter werden. »Je mehr allein das Gewinnen des Wettbewerbs zu dem wird, was wir erstreben, desto mehr opfern wir nicht weniger als unsere eigene Identität – und entfremden uns von uns selbst. Wir wollen gewinnen und vergessen dabei, wir selbst zu sein.«1330 Der Weg zum »neuen Menschen« ist beim Enhancement nicht durch Götter verbürgt, noch führt er über Bildung. Auch Reformen und Revolutionen werden nicht als notwendig erachtet, sondern insbesondere technologische Innovationen. Der Enhancement-Traum

vielmehr der unscharfe Blick angemessen sein kann, wird literarisch von Peter Handke sehr schön in Versuch über die Müdigkeit, Frankfurt a. M. 1992 gezeigt. 1327 Nach Ruth Chadwick bestehe ein moralisch zulässiges Enhancement darin, beste­ hende soziale Ungleichheiten zu reduzieren bzw. diese nicht weiter zu verstärken. Die Unterscheidung zwischen therapeutischen Maßnahmen einerseits und Enhancement andererseits hält sie gemessen an diesem Ziel für weniger wichtig (Chadwick, R.: Therapy, Enhancement and Improvement, in: Gordijn, B. / Chadwick, R. (Hrsg.): Medical Enhancement and Posthumanity, New York 2008, S. 25–37). 1328 Maio, G.: Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin. Ein Lehrbuch, Stuttgart 2012, S. 326. 1329 Ebd. 1330 Maio, G.: Medizin ohne Maß? Vom Diktat des Machbaren zu einer Ethik der Besonnenheit, Stuttgart 2014, S. 84.

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8.3 Enhancement: Die Natur durch Technik verbessern?

vom neuen Menschen beansprucht universelle Geltung, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit und Nationalität.1331 Hatte Foucault noch davon gesprochen, dass eine auf das Leben abzielende Macht eine »Normalisierungsgesellschaft« zur Folge habe,1332 wird nun das Normale selbst als suboptimal empfunden. Als neue soziale Norm wird hier ausgegeben, Normalitäten zu über­ schreiten.1333 Der englische Begriff Enhancement, um den es hier geht, wird meist mit »Verbesserung« übersetzt. Oder »Steigerung«, was dann ebenso wie die »Verbesserung« eine Veränderung leiblicher wie men­ taler Eigenschaften »zum Positiven« bedeuten soll. Also: In dem Begriff selbst schwingt immer schon eine Selbstverständlichkeit mit, hier sei etwas Gutes gemeint. Es stellen sich unweigerlich einige Fragen: Ist das wirklich so? Ist das, was hier mit »Verbesserung« gemeint ist, tatsächlich eine »Verbesserung« hin zum Guten? Was ist der Maßstab dafür? Und wer ist zu verbessern? Und wer legt das wiederum fest? Was bedeutet dies eigentlich für unsere Einstellung zum Gegebenen?

8.3.2 Auf dem Weg zum perfekten Menschen? Günther Pöltner hat darauf aufmerksam gemacht, dass den Stellung­ nahmen zum Enhancement nicht selten Überlegungen wie diese zugrunde liegen: Möchte ich A, muss ich B wählen (Steigerung der physischen resp. mentalen Kapazitäten). Doch die Frage, warum ich A möchte, kann ich nicht einfach mit B beantworten. »Zwecke lassen sich nicht mit Zweckmäßigkeitsargumenten rechtfer­ tigen. Wer wissen will, warum A verwirklicht werden soll, fragt, ob der Zweck, dessen Verwirklichung B dient, es wert ist, erstrebt zu werden. Er fragt nach der Sinnhaftigkeit von A. Ob aber A sinnvoll ist, hängt 1331 Zur Kategorie des Utopischen im Kontext der Enhancement-Debatten aus sozio­ logischer Sicht vgl.: Dickel, S.: Enhancement-Utopien. Soziologische Analysen zur Konstruktion des Neuen Menschen, Baden-Baden 2011. 1332 Vgl. Foucault, M.: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a. M. 1983, S. 139. 1333 Dies wird als ganz selbstverständlicher Prozess dargestellt: Sorgner beispiels­ weise geht davon aus, dass Enhancement-Technologien in Zukunft noch weit mehr nachgefragt werden als heute. (Vgl. Sorgner, S. L.: Transhumanismus. »Die gefähr­ lichste Idee der Welt«!?, Freiburg 2016, S. 26 f.).

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davon ab, ob A Moment eines gelingenden Lebens ist – ob wir im Ernst so, nämlich auf die Weise von A, leben wollen.«1334

Dies soll an drei Beispielen diskutiert werden: a) Durch Enhancement könnten und sollten emotionale Fähig­ keiten des Menschen verändert werden. Stefan L. Sorgner bemüht folgenden Vergleich: Im Kleinkindalter wisse kein Mensch, was romantische Liebe bedeute, was sich ab dem Teenageralter ändere. Enhancement-Technologien würden es in vergleichbarer Weise ermöglichen, das Spektrum menschlicher Gefühle zu erweitern, neue Gefühle hinzuzugewinnen und einige Gefühle zu verstärken.1335 Von »neuen Horizonten« ist die Rede. Matthis Synofzik, ein Befürworter von Enhancement mittels Psychopharmaka, legt folgende Überlegungen vor: »Wenn Psychopharmaka erwiesenermaßen effektiv und nebenwir­ kungsarm sind und von einer Person aus wohlüberlegten Gründen heraus erwünscht werden, dann wird man sie wohl nicht verbieten können – man sollte sie auch gar nicht verbieten: Sie könnten von großem individuellem und gesellschaftlichem Nutzen sein – von Schulkindern, die sich besser konzentrieren können, über Piloten, die aufmerksamer sind, bis hin zu Rentnern, die nicht allzu schnell ihre Gedächtnisleistungen aufgeben müssen.«1336

Ein Schlüsselwort fällt unmittelbar auf: Nutzen. Nicht die Frage nach dem, was gut sein könnte, sondern wo am meisten Nutzen zu erwarten wäre, interessiert hier. Es wird unterstellt, dass es ein Gewinn wäre, Schülern, Rentnern und Piloten mittels Psychopharmaka auf die Sprünge zu helfen und – dies sollte nicht übersehen werden – die üblichen mentalen Lebensäußerungen suboptimal seien. Bei unserem ersten Beispiel geht es darum, dass künstlich ein Gefühl hergestellt wird, das mit der Realität vielleicht nur wenig oder gar nichts mehr zu tun hat, was dann eben problematisch für die betreffende Person ist resp. werden kann. Ein Student, der eine 1334 Pöltner, G.: Sorge um den Leib – Verfügen über den Körper, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 54 (2008), S. 3–11, hier S. 9. 1335 Vgl. Sorgner, S. L.: Transhumanismus. »Die gefährlichste Idee der Welt«!?, Frei­ burg 2016, S. 36 f. 1336 Synofzik, M.: Psychopharmakologisches Enhancement. Ethische Kriterien jen­ seits der Treatment-Enhancement-Unterscheidung, in: Schöne-Seifert, B. / Ach, J. S. / Opolka, U. / Talbot, D. (Hrsg.): Neuro-Enhancement. Ethik vor neuen Herausfor­ derungen, Paderborn 2009, S. 49–68, hier S. 66.

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Prüfung abgelegt hat, erhält die Nachricht, diese bestanden zu haben. Verständlicherweise freut er sich darüber. Er hatte dafür viel gelernt und in der Prüfung Aufgaben bekommen, die er gut und umfas­ send bearbeiten konnte. Sein Erleben ist ein Widerhall der äußeren Ereignisse. Die Resonanz ist stimmig. Nun lassen Sie uns an einen Studenten denken, der zwar auch viel gelernt hat, mit den Fragen und der Prüfungssituation aber nicht wirklich zurechtkam und daher die Prüfung leider nicht bestanden hat. Er greift in dieser Situation zu einem Enhancement-Präparat, das seine Stimmung erfolgreich aufheitert. Auch er freut sich nun; gleichwohl hat sich die Freude auf anderem Wege eingestellt. Es geht nicht darum, diese Freude als künstlich abzutun, während die erste natürlich sei, sondern darum, dass hier die Resonanz gestört ist. Die ursprüngliche Situation – die nicht bestandene Prüfung – wird dadurch nicht gelöst, sondern eher verschärft. Unser Freiheitsradius wird durch solch ein Präparat auch nicht größer, sondern eher kleiner. Spaemann hat folgendes Szenario entwickelt, das wir hier auf­ greifen können, da es gut zu unserem Beispiel passt. Angenommen, ein Mediziner würde einen Eingriff am Gehirn eines Mitmenschen vornehmen, verschiedene Drähte verlegen, durch die Stromimpulse fließen können – mit der Folge, dass sich ein Hochgefühl einstellt: ein »Zustand intensivsten Wohlbehagens bis hin zur Euphorie«1337, wie Spaemann ausführt. Würden wir sagen, dass sein Leben gelingt? Auch dann, wenn dieser Zustand bis ins hohe Alter anhält und von angenehmen Vorstellungen begleitet ist? Spaemann meldet Zweifel an: »Wenn das Leben eines vernünftigen Wesens gelungen sein soll, muß es etwas mit Wahrheit zu tun haben.«1338 In den Debatten über Human Enhancement wird darauf hinge­ wiesen, dass pharmakologische Eingriffe zur »Verbesserung« der Stimmung1339 nicht zuletzt dazu führen können, sich im konkreten Alltag nicht mehr adäquat zurecht zu finden und erprobte soziale 1337 Spaemann, E.: Die Zweideutigkeit des Glücks, in: Spaemann, R.: Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 22002, S. 95–107, hier S. 100. 1338 Ebd. 1339 Bei den pharmakologischen Präparaten werden vier unterschiedliche Arten von Wirkstoffen auseinandergehalten: Antidementiva, Antidepressiva, Betablocker und Stimulanzien. Vgl. z. B. DAK: DAK-Gesundheitsreport 2009. Analysen der Arbeitsun­ fähigkeitsdaten. Schwerpunktthema Doping am Arbeitsplatz, S. 45 ff. https://www.ig es.com/e6/e1621/e10211/e6061/e6064/e6199/e9682/e9684/attr_objs9687/DA K_Gesundheitsreport_2009_ger.pdf (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022).

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Handlungsstrategien verkümmern zu lassen. Es scheint auf den ersten Blick einfacher, eine entsprechende Substanz zu schlucken, als nach wirklichen Lösungsstrategien Ausschau zu halten. Und wer legt eigentlich fest, welcher Bewusstseinszustand gut und welcher in Zukunft dann eben nicht mehr erwünscht ist? Und müsste man dann nicht nach der gleichen Logik auch auf die Gedichte Paul Celans, die Bilder Vincent van Goghs und das religionsphilosophische Denken Romano Guardinis verzichten?1340 Menschliches Verhalten hat zudem, wie das President’s Council on Bioethics festhält, »so viele miteinander verschlungene Wurzeln – angeborene biologische Faktoren, Umwelteinflüsse, besondere Erfahrungen, Gewohnheiten, Überzeugungen, Stimmungen, usw. – dass es selten möglich ist, die genaue Quelle eines bestimmten ›unangepassten‹ Verhaltens auszumachen«1341. Unser Verhalten ist vielschichtig – und kann nicht einfach durch eine Pille »handhabbar« gemacht werden. Menschen benötigen Anerkennung, Wärme und Zuneigung – wohl gerade dann, wenn ihr Verhalten als abweichend erlebt wird. »Gerade bei Kindern«, so heißt es in dem genannten Dokument weiter, »kann es sich als schwierig erweisen, zwischen vorübergehendem Fehlverhalten, das sich im Laufe der Zeit verwächst, und lang dauernden oder bleibenden Auffälligkeiten zu unterscheiden, die sich nur medikamentös behan­ deln lassen.«1342 Eine Veränderung der emotionalen und auch kognitiven Fähig­ keiten ist keine Versicherung dafür, dass menschliches Leben glückt. Den Befürwortern von Enhancement gelingt es, ein zentrales mensch­ liches Anliegen immer wieder in den Fokus zu stellen: den Wunsch glücklich zu sein. Hierin ist es gewiss auch begründet, warum Enhancement so beliebt ist und verschiedene Maßnahmen mit gro­ Auch in Krisen kann eine Chance liegen. Dass eine seelische Krise zu einer besonderen Wende im Leben eines Menschen werden kann, hebt Hegel hervor: »Jeder Mensch hat wohl überhaupt einen solchen Wendungspunkt im Leben, den nächtlichen Punkt der Kontraktion seines Wesens, durch dessen Enge er hindurchgezwängt und zur Sicherheit seiner selbst befestigt und vergewissert wird, zur Sicherheit des gewöhnlichen Alltagslebens, und wenn er sich bereits unfähig gemacht hat, von dem­ selben ausgefüllt zu werden, zur Sicherheit einer innern edlern Existenz.« (Hegel, G. W. F.: Brief an Carl Joseph Hieronymus Windischmann vom 27.5.1810, in: Hegel, G. W. F.: Briefe von und an Hegel, Bd. 1, Hamburg 1969, S. 314). 1341 President’s Council on Bioethics: Bessere Kinder – Enhancement mit psychotropen Medikamenten, in: Schöne-Seifert, B. / Talbot, D. (Hrsg.): Enhancement – Die ethische Debatte, Paderborn 2009, S. 319–344, hier S. 333 f. 1342 A. a. O., S. 334. 1340

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ßem Interesse verfolgt werden. Menschen wollen, dass sie glück­ lich sind. Ein glückendes Leben ist jedoch kein »Projekt«, kein Machwerk. Glück ist mehr als Bedürfnisbefriedigung, keine »Wohlfühloase« bzw. mit einem zeitweiligen Zustand gesteigerten Wohlbefindens einfach gleichzusetzen. Dies zu meinen, führt wohl dazu, zu dem einen oder anderen Mittelchen zu greifen. Glück lässt sich nicht einfach vergegenständlichen und entzieht sich der Logik des »Schneller, Höher, Weiter«. Das Versprechen, durch Enhancement glücklich zu werden, ist äußerst fraglich. Ein glückendes Leben im Horizont von Sinnstiftung ist seitens des Enhancements nicht zu erwarten. Ein solches muss von innen wachsen, ist sich selbst verdankt. Glück ist nicht statisch, sondern hat mit der Tätigkeit des Menschen zu tun, der seine Möglichkeiten zu verwirklichen sucht. Glück kann nicht »hergestellt« werden.1343 Es stellt sich nicht aufgrund eines mathematischen Kalküls ein. Und es ist keineswegs synonym mit Gesundheit, besonderer Leistungsfähigkeit, bestimm­ ten Schönheitsidealen und Reichtum. Es ist nicht die Summe von Glücksgütern. Auch wenn es simpel klingt, scheint doch daran erin­ nert werden zu müssen: Es geht im Leben eben nicht nur um Schule, beruflichen Erfolg und ein »richtiges« Funktionieren. »Ein glückliches Leben […] ist weder ›technisch herstellbar‹ (etwa unter Mitwirkung eines Experten für glückliche Lebensformen), noch ist die Frage nach einem glücklichen Leben als ›technische‹ Frage über­ haupt formulierbar (etwa im Sinne der Frage: wie viele Glückseinheiten machen ein glückliches Leben?).«1344

Entgegen Vorschlägen, das Glück mit Hilfe von »Glückspillen« zu suchen, könnte möglicherweise ein an Aristoteles anknüpfendes 1343 In seinem meisterhaftem und breit rezipiertem Roman Brave new world stellt uns Aldous Huxely eine Weltregierung vor Augen, die den Alltag der Menschen bis ins Kleinste hinein regelt. Selbst über die Fortpflanzung der Menschen bestimmt sie. Während die sogenannten »Alpha-Menschen« mit Intelligenz ausgestattet sind, füh­ ren andere Menschen ein eher bescheideneres Leben und üben einfache Tätigkeiten aus, was auch so bleiben soll. Jedenfalls heißt es über die Bewohner dieser schönen, neuen Welt, sie seien glücklich. Durch »Soma«, eine Droge, wird nachgeholfen, wenn dies einmal anders sein sollte. (Huxley, A.: Schöne neue Welt, Frankfurt a. M. 2003, S. 217 f.) Mit Grenzfragen verbundene Ängste kennen diese »Untoten« ebenso wenig wie ein »Leben in Fülle«. 1344 Mittelstraß, J.: Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwor­ tung, Frankfurt a. M. 1992, S. 34.

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Verständnis von glückendem Leben und Glück weiterhelfen. Glück realisiert sich hiernach in Freundschaft und Liebe, in tugendhaftem Verhalten,1345 im Finden des richtigen Maßes. Besonnenheit, Klug­ heit, Maßhaltenkönnen sind hier gefragt. Ein solches Glück hat einen Bezug zur konkreten Lebenswelt und ist nicht künstlich hervorge­ rufen, während ein Neuroenhancer letztlich ein Selbstbetrug, eine Illusion des Glücklichseins, wäre. Glück hat für Aristoteles einen konkreten »Sitz im Leben«.1346 Ebendieser fehlt bei den »Glückspräparaten«, die eher wohl dazu führen können, dass man einen konkreten Bezug zur Welt verliert als gewinnt. Aristoteles weiß: »Wir alle bemühen uns lieber um das, was leichter ist.«1347 Insofern mag in der »Glückspille« tatsächlich eine Versuchung bestehen. Für das Lebensglück, so würde Aristoteles jedenfalls nahelegen, wäre nicht nach »Glückspillen« zu greifen, sondern sich um eine gute Seelenverfassung zu bemühen.1348 Er würde raten, zu philosophieren,1349 sich der Frage nach der Wahrheit des eigenen Lebens zu stellen.1350 »Das Individuum muss sich […] aus Klugheitsgründen fragen, ob es sich durch die Leichtigkeit, mit der es seine Stimmungslage künstlich zu regulieren vermag, nicht um Tiefendimensionen seiner Zufrieden­ heit mit sich selbst und mit seinem Leben bringt, die in der Regel erst dann erreichbar sind, wenn Zufriedenheit und Glück an Sinnüber­ zeugungen gebunden sind, d. h. an die Überzeugung, dass das eigene

1345 Glück ist hiernach nicht der »Preis« für ein tugendhaftes Verhalten, sondern realisiert sich im tugendhaften Leben. 1346 »Glücklich wird man nicht, man merkt, daß man es ist oder daß man es war. Und eben dieses Merken ist dann das Glücklichsein. Glück ist eine Sache der Aufmerk­ samkeit. Vieles steht solcher Aufmerksamkeit im Wege. Körperlicher Schmerz, Sor­ gen, sogar Vergnügen können sie verhindern. Es gibt Augenblicke erhöhter Aufmerk­ samkeit, in denen das Leben sich zu einem Ganzen sammelt, und für die dann Wittgensteins Satz gilt: ›Nur wer nicht in der Zeit, sondern in der Gegenwart lebt, ist glücklich.‹ Die These des Aristoteles, daß nur das Leben als Ganzes glücklich heißen kann, und die Erfahrung, daß es nur selten glückliche Augenblicke gibt, stimmen so zusammen. Die glücklichen Augenblicke sind die, in denen das Leben zu einem Gan­ zen wird.« (Spaemann, R.: Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben, Bien, G. (Hrsg.): Die Frage nach dem Glück, Stuttgart Bad-Cannstatt 1978, S. 1–19, hier S. 18). 1347 Vgl. Aristoteles: Protreptikos B31. 1348 Vgl. a. a. O., B1. 1349 Vgl. a. a. O., B22. 1350 Vgl. a. a. O., B65, B85.

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Erleben nicht nur sensorisch angenehm, sondern auch sinnvoll und angemessen ist.«1351

Was das rechte Maß ist, steht nicht einfach in den Sternen noch kann es von staatlicher Seite vorgegeben werden. Erforderlich wären auf jeden Fall Kommunikationsprozesse der an diesen Fragen Beteiligten. Ein tugendhafter Arzt würde sich im Hinblick auf eine mögliche Enhancement-Unterstützung selbstkritisch die Frage stellen, ob bei dem, was er tut, auch tatsächlich das Gute im Blick ist. Oder geht es ihm eigentlich doch um etwas anderes? Tugendhafte Ärzte würden im Blick haben, die Extreme zu vermeiden und einen Mittelweg einzu­ schlagen: Das kann bedeuten, sich durchaus auch ›mutig‹ und ›tapfer‹ zu entscheiden, »Kundenwünschen« nicht weiter nachzugehen.1352 Ebenso könnte der Patient fragen, was tatsächlich angemessen ist und worin ein qualitativ gutes Leben bestehen könnte. Er könnte nach einem richtigen Maß fragen. »Being virtuous means being called to take responsibility: for oneself, for others. No great heroic deeds are necessary for this; there is no need to sail around the globe or to descend to the nether world. Virtue must be practiced in everyday life. The focus of every virtue ethics is not some abstract directive for action. The center of any virtue ethics is the human being. And that is the target direction of a person-centered healthcare.«1353

Hinzu kommt, dass wer zu solchen Stimmungsaufhellern greift, sich selbst in Abhängigkeiten begibt und heteronom bestimmt wird. Stattdessen sollte doch eher überlegt werden, wie die menschliche Person ihre Freiheit, die Gabe und Aufgabe zugleich ist, in angemes­ sener Weise realisieren kann. Es kann auch geboten sein, sich vom Wunsch, glücklich zu sein, zu verabschieden, und so zu »Selbstzufrie­ denheit« zu kommen, was etwas anderes meint, als unsere Neigungen befriedigt zu wissen wollen. 1354 Gemeint ist vielmehr eine »Lust aus

Birnbacher, D.: Natürlichkeit, Berlin / New York 2006, S. 113. Siehe hierzu auch: Knaup, M.: Virtues: Foundations For Medical Ethics?, in: European Journal for Person Centered Healthcare 2015, Vol. 3, Issue 1, S. 108–112. 1353 A. a. O., S. 112. 1354 Vgl.: Kant, I.: Kritik der praktischen Vernunft, in: AA Bd. V, S. 117 f.; Kant, I.: Handschriftlicher Nachlaß: Reflexionen zur Moralphilosophie, in: AA Bd. XIX, S. 277– 281. 1351

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dem Bewustseyn seiner Selbstmacht zufrieden zu sein«1355. Selbst­ zufriedenheit kann nicht an äußeren Dingen festgemacht werden; dies führt nicht weiter, und erst recht nicht zu größerer Freiheit.1356 Eine wirkliche Verbesserung der Situation des Menschen würde – mit Kant gesprochen – darin bestehen, von der eigenen Freiheit Gebrauch zu machen und autonom zu handeln.1357 Wirkliche Freiheit unterstellt sich, so der Königsberger, einem Gesetz. Es müsse letztlich darum gehen, der eigenen Freiheit zu entsprechen. So könne sich eine Übereinstimmung mit der eigenen Person einstellen, was freilich nicht unbedingt mit dem eigenen Begehren deckungsgleich sein muss. Die Frage ist auch, ob derjenige, der beim ersten Gegenwind zu einem Stimmungsaufheller greift, auch genauso gut einen »Sturm« des Lebens besteht wie der, der es eingeübt hat, aus eigener Kraft und mit der notwendigen Unterstützung von Freunden Krisensituationen zu überstehen.1358 Eine solche Person würde sich gewissen Neigungen unterwerfen, aber ihr Leben nicht freiheitlich gestalten. Wenden wir es noch einmal anders: Inwiefern kann ich mir noch tatsächlich etwas anrechnen, wenn ich diese besondere Leistung doch letztlich einem Enhancement-Einsatz verdanke? Übersehen wird auch, dass das mentale Leben einer Person nicht auf zerebrale Abläufe verkürzt werden kann, auf die dann pharmakologisch eingewirkt werden kann. Vielmehr spielen auch soziale, politische, kulturelle wie religiöse Aspekte eine Rolle. Zu meinen, eine Pille sei »die« Antwort auf die Lebensnöte eines Menschen, wird seinem Gegenüber wohl nicht gerecht. Stephan Schleim ist zuzustimmen, dass hier Vorsicht schon deshalb geboten ist, »weil viele der Wirkstoffe in das Gleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn eingreifen, zum Beispiel durch Verhinderung der DopaminWiederaufnahme. Das kann Patienten mit Motivationsstörungen oder Depressionen zwar helfen, sofern deren Probleme aus einem gesenkten Dopaminspiegel im Gehirn resultieren. Zu viel des Botenstoffs erhöht 1355 Kant, I.: Handschriftlicher Nachlaß: Reflexionen zur Moralphilosophie, in: AA Bd. XIX, S. 276. 1356 Vgl. a. a. O, S. 111. 1357 Vgl. a. a. O., S. 278. 1358 Daher ist zu überlegen, »inwiefern eine Anstrengung für den Menschen mögli­ cherweise von Nutzen sein könnte, weil er durch diese Anstrengung etwas hinzulernt, weil er dadurch erst das Gefühl bekommt, selbst Produzent einer Leistung gewesen zu sein, weil er sich durch diese Anstrengung erst selbst erkennt.« (Maio, G.: Mittel­ punkt Mensch: Ethik in der Medizin. Ein Lehrbuch, Stuttgart 2012, S. 327).

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aber die Gefahr psychotischer Symptome. Umgekehrt kann eine Sen­ kung des Dopaminspiegels zu motorischen Störungen führen, wie sie von der neurodegenerativen Parkinson-Erkrankung bekannt sind.«1359

b) Kommen wir zum zweiten Beispiel: Konzentrationsschwächen sollen behoben, kognitive Fähigkeiten deutlich optimiert werden.1360 Mit Hilfe von Enhancement könnten unsere Gedächtnisleistungen deutlich verbessert werden.1361 »Nehmen Sie einmal an, jemand habe Minderwertigkeitsge­ fühle, weil er in der Folge einer leichten nicht krankhaften Konzentra­ tionsschwäche hinter seinen geistigen Möglichkeiten zurückbleibt. Würde ihm ein NEP [gemeint ist ein Neuroenhancer] zu größeren Erfolgserlebnissen bei der Bewältigung kognitiver Aufgaben verhel­ fen und auf diese Weise sein Selbstbewußtsein stabilisieren, so könnte man diese pharmazeutisch unterstützte Persönlichkeitsveränderung kaum anders als positiv bewerten.«1362 Sollte man der negativen Einstellung zu sich selbst nicht anders begegnen als mit Neuroenhancern? Der Geringschätzung seiner eige­ 1359 Schleim, S.: Dragee zum Glück?, in: Könneker, C. (Hrsg.): Wer erklärt den Men­ schen? Hirnforscher, Psychologen und Philosophen im Dialog, Frankfurt a. M. 22007, S. 222–228, hier S. 226. Mit Hilfe von Enhancement-Methoden könne man, so wird diskutiert, »Emotionen zur Förderung des guten Lebens« als auch solche zur »Förderung der Moralität« ver­ bessern. (Vgl. Sorgner, S. L.: Transhumanismus. »Die gefährlichste Idee der Welt«!?, Freiburg 2016, S. 46) Sorgner hat hinsichtlich einer »Förderung des guten Lebens« keineswegs das Gute, Tugenden und Normen im Blick, sondern eine Weise der Selbst­ zufriedenheit. 1360 Arthur L. Caplan fragt z. B.: »[I]st es wirklich so furchtbar, wenn Mittel, die man zur Behandlung der Alzheimerschen Krankheit oder des AufmerksamkeitsdefizitSyndroms (ADS) einsetzt, auch zur Verbesserung eines völlig normalen Gedächtnis­ ses verwendet werden können?« Er selbst verneint diese Frage und spricht sich für psychopharmakologisches Enhancement aus. (Caplan, A. L.: Ist besser das Beste? Ein renommierter Ethiker plädiert für Enhancement des Gehirns, in: Schöne-Seifert, B. / Talbot, D. (Hrsg.): Enhancement. Die ethische Debatte, Paderborn 2009, S. 165– 168, hier S. 166) Es gehöre, so sein Argument, »zum Kern des Menschen, die Welt und sich selbst zu verbessern.« (A. a. O., S. 167). 1361 Knoepffler, N.: Ein Strukturmodell genetischen Enhancements des Menschen, in: Knoepffler, N. / Savulescu, J. (Hrsg.): Der neue Mensch? Enhancement und Genetik, Freiburg 2009, S. 277–296, hier S. 292. 1362 Galert, T. / Bublitz, C. / Heuser, I. / Merkel, R. / Repantis, D. / Schöne-Seifert, B. / Talbot, D.: Das optimierte Gehirn. Ein Memorandum sieben führender Experten, in: Gehirn und Geist 11(2009), Online: S. 1–12, hier S. 3. https://www.spektrum.de/ sixcms/media.php/976/Gehirn_und_Geist_Memorandum.pdf (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022).

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nen Person nicht etwas anderes entgegenstellen? In diesem Sinn könnte es hilfreich sein, das eigene Leistungsstreben zu hinterfragen, mit eigenen Schwächen umzugehen und sich selbst und andere mit »Ecken und Kanten« anzunehmen lernen. Ein anderer Mensch wäre demnach nicht noch darin zu bestärken, nicht gut genug zu sein, son­ dern den Blick auf das zu lenken, was ihn – ungeachtet vermeintlicher oder wirklicher Unzulänglichkeiten in einer Leistungsgesellschaft – liebenswert macht. Weiterführend kann professionelle psychologi­ sche Hilfe sein. Jenseits von Effizienz und Kontrolle gibt es unglaub­ lich viel, was das Leben schön und sinnvoll erscheinen lässt.1363 Wer die genannte Frage, ob Verbesserungen der Gedächtnis­ leistung durch Enhancement zu wünschen wären, mit »ja« beantwor­ ten möchte, sollte sich die Frage stellen, ob es nicht einfach gut ist, Sachen auch wieder zu vergessen. Oder wie Gadamer formuliert: es einen »Segen des Vergessenkönnens«1364 gibt. Wir wären nämlich ständig mit »Altlasten« aus der Vergangenheit beschäftigt, könnten wir nicht vergessen. Die Quantität der Erinnerungen könnte ein Hindernis sein, sich Neuem zu öffnen.1365 1363 Roland Kipke ist in seiner Analyse deutlich: »Ungeachtet der jeweiligen Ziele und einzelnen Mittel besteht das Wesen der Selbstveränderung durch Neuro-Enhan­ cer in einem passiven An-sich-geschehen-Lassen, bei dem für die Aktivität der Selbst­ steuerung, für diesen aktiv gestaltenden Umgang mit sich selbst, dieses Sich-selbstin-die-Hand-Nehmen kein Anlass besteht. Bei Neuro-Enhancement wird kein unerwünschter Handlungsimpuls aktiv gebremst, keine Fähigkeit gegen Widerstände errungen, kein Willen energisch geübt. Selbststeuerung ist nicht gefordert und wird nicht gefördert. Daher lässt sich mit guten Gründen sagen: Ein wesentliches Element von Willensfreiheit erfährt durch Neuro-Enhancement keine Stärkung.« (Kipke, R.: Besser werden. Eine ethische Untersuchung zu Selbstformung und Neuro-Enhancement, Paderborn 2011, S. 248). 1364 Zit. nach: Habermas, J.: Autopoetische Selbsttransformationen der Menschen­ gattung? Rede aus Anlass der Verleihung des Viktor-Frankl-Preises und des ErwinChargaff-Preises am 23. Mai 2012, in: Habermas, J. / Ehalt, H. C. / Körtner, U. H. J. / Kampits, P.: Biologie und Biotechnologie – Diskurse über eine Optimierung des Menschen, Wien 2014, S. 27–37, hier S. 32. 1365 Michael J. Sandel hält dieses Argument nicht für ganz überzeugend. Sein Hinweis unterstreicht jedenfalls noch einmal die Fraglichkeit derartiger Enhancement-Bestre­ bungen: »Für die Pharmafirmen bedeutet der Wunsch zu vergessen, jedoch kein Hin­ dernis gegen das Gedächtnis-Geschäft, sondern ein weiteres Marktsegment. Dieje­ nigen, die die Wirkung traumatischer oder schmerzhafter Erinnerungen abstumpfen wollen, können vielleicht bald ein Medikament einnehmen, das schreckliche Ereig­ nisse davon abhält, sich allzu tief ins Gedächtnis einzubrennen.« (Sandel, M. J.: Plä­ doyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas, Berlin 22008, S. 35 f.).

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In diesem Kontext gilt es ebenfalls zu bedenken, dass eine Ver­ besserung an einer Stelle durchaus zu einer Gesamtverschlechterung führen kann. Wird etwa das Langzeitgedächtnis verbessert, kann dies für das Arbeitsgedächtnis negative Folgen haben. Auch die Fähigkeit, sich neue Dinge anzueignen und zu lernen, kann durch pharmako­ logisches Einwirken auf das Langzeitgedächtnis eingeschränkt wer­ den.1366 Enhancement als »Verbesserung« des Menschen jenseits des normalen, gesunden Zustands ist keineswegs so wünschenswert, wie schnell suggeriert wird: für den Einzelnen nicht und auch nicht für seine Mitmenschen. »Wir könnten zum Beispiel keinen Grund haben, ein Enhancement unserer Schweißdrüsen positiv zu beurteilen, das deren Fähigkeit erhöht, Schweiß als Reaktion auf Hitzereize zu produ­ zieren.«1367 c) Und noch ein drittes Beispiel. Nach der Glückspille und einem Enhancement kognitiver Fähigkeiten wenden wir uns nun der Frage zu, inwieweit beim Wachstum »nachgeholfen« werden könnte: Denken wir an ein Kind, das gerne einmal ein berühmter Basketballspieler werden würde. Wäre es vertretbar, hier ein Wachs­ tumshormon zu verabreichen, damit der Junge einmal seinen Traum erfüllen kann? Oder denken wir an ein Mädchen, das kleiner ist als ihre Schulkameradinnen und manchmal gehänselt wird. Sollte man ihr ein Wachstumshormon geben, damit die Hänseleien ein Ende haben? Wir könnten uns auch vorstellen, dass es ein weiteres Mäd­ chen gibt, das ein ähnliches Problem mit den Hänseleien wegen ihrer Körpergröße hat wie Mädchen 1. Mädchen 1 hat sehr kleine Eltern und wird wohl nicht mehr viel an Körpergröße zulegen. Bei Mädchen 2 ist ein Wachstumsdefizit festgestellt worden. Wenn man nicht pharmakologisch eingreift, wird sie nicht größer werden als Mädchen 1, das »nur« kleine Eltern hat. Soll man bei Mädchen 1 eingreifen und ihre Körpergröße verändern? Und wie sieht es bei Mädchen 2 1366 Vgl. Metzinger, T.: Zehn Jahre Neuroethik des pharmazeutischen kognitiven Enhancements. Aktuelle Handlungsrichtlinien für die Praxis, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.): Dossier Bioethik (2013), S. 2. http://www.bpb.de/gesellschaft/umwelt/bioethik/160497/neuroethik-des-p harmazeutischen-kognitiven-enhancements?p=all (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 1367 Bostrom, N. / Sandberg, A.: Die Weisheit der Natur: Eine Evolutionäre Heuristik für Enhancement am Menschen, in: Knoepffler, N. / Savulescu, J. (Hrsg.): Der neue Mensch? Enhancement und Genetik, Freiburg 2009, S. 83–126, hier S. 86.

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aus? Soll man hier tätig werden und einen pharmakologischen Eingriff empfehlen? Was sind in diesem Fall die Bewertungsmaßstäbe? Die Körpergröße des Mädchens ohne medizinische Interventionen wäre in einigen Ländern der Erde durchaus normal. Bei Mädchen 1 könnte man argumentieren, dass es sich um Enhancement handle, sie ihre Körpergröße verbessern wolle, weil sie in der Schule gemobbt wird. Bei Mädchen 2, das genauso groß ist wie Mädchen 1, könnte argumentiert werden, dass es sich hier um eine therapeutische Zielsetzung handle, da sie ja ein Wachstumsdefizit hat. Nun könnten Autoren, die ganz grundsätzlich EnhancementBestrebungen offen gegenüber sind, darauf hinweisen, dass beide Mädchen ja die gleiche Körpergröße und ähnliche soziale Konflikte kennen, weshalb es nicht nachvollziehbar sei, einen therapeutischen Eingriff durchzuführen (und diesen dann über die Allgemeinheit zu finanzieren), während der Enhancement-Einsatz abgelehnt würde. Es ist nicht einfach zu beantworten. Fragen wie diese stellen sich: Welche Formen von Fremdbestimmung sind hier möglicherweise wirksam? Ist es angemessen und der richtige Weg, psychologische bzw. soziale Probleme durch Medizintechnik zu lösen? Auch könnte man die Frage diskutieren, warum es eigentlich wünschenswert sein soll, dass Menschen eine einheitliche Körpergröße haben, welche (Schönheits-) Ideale mitbestimmend am Werke sein könnten, und ob Autonomie sich nicht gerade darin zeigen könnte, wenn man sich und die Gege­ benheiten des eigenen Lebens bejaht, anstatt gewissen Idealvorstel­ lungen nachzujagen. Zu diskutieren wäre in dem Zusammenhang aber auch, wie die Selbstbestimmung der Mädchen geachtet werden kann, und welche Risiken durch einen Eingriff entstehen könnten.1368 Für einige Aufmerksamkeit hat gesorgt, dass das Wachstums­ hormon Somatropin ab Ende der 1980er Jahre in den Vereinigten Staaten von Amerika in zahlreichen Fällen gegen Minderwüchsigkeit zum Einsatz gekommen ist. Die Erfolge hierbei waren sehr überschau­ Was wäre, wenn jemand auf die Idee käme, für alle Menschen eine Einheitsgröße festzulegen? Aus evolutionsbiologischer Perspektive weist Franz W. Wuketits darauf hin, dass Vielfalt wichtig ist und eine genormte Größe des Menschen nicht unbedingt von Vorteil für die Menschheitsfamilie sein müsste: »Es sind ökologische Bedingun­ gen denkbar, unter denen gerade ›die Kleinen‹ Anpassungsvorteile haben. Wenn es sie aber nicht mehr gibt – dann wäre Homo sapiens als Ganzes zum Aussterben ver­ urteilt. Freuen wir uns also, dass wir nicht alle gleich groß sind, dass es unter uns sowohl ›Riesen‹ als auch ›Zwerge‹ gibt!« (Wuketits, F. M.: Bioethik. Eine kritische Einführung, München 2006, S. 66 f.). 1368

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bar, während neue Nebenwirkungen auftraten. Es wurden dabei, wie Otto Speck unterstreicht, neue »Kranke« erfunden. »Eltern und Fachleute befanden diese einfach als zu klein. Geschaffen wurde damit ein neues Diskriminierungskriterium.«1369 Die Meinungen gehen durchaus auseinander, ob eine Wachs­ tumshormontherapie eine Therapie oder eine Verbesserung im Sinne eines Enhancements darstellt. »Im Zusammenhang damit steht die Frage, welche ätiologischen, auxologischen bzw. psychosozialen Para­ meter für eine bestimmte Zuschreibung des Status von Kleinwuchs und damit zusammenhängend für oder gegen die Behandlung spre­ chen.«1370 Was ist, wenn der Eingriff nicht anschlägt oder nur wenig Aussicht auf Erfolg hat? Wie wird der Ist-Zustand dann beurteilt und was bedeutet dies für den Umgang mit sich selbst? Stehen ein paar Zentimeter mehr Körpergröße auch für mehr Lebensqualität? Wünschenswert wäre es in jedem Fall, wenn beide Mädchen sich geliebt und angenommen fühlen dürften, so wie sie sind. Ob dies im Einzelfall gelingt, hängt freilich auch von anderen Menschen ab. Manches lässt sich im Leben aber nicht ändern – auch von anderen Menschen nicht. Das Unverfügliche gilt es in dieser Situation nicht zu bekämpfen, sondern zu bewältigen. Ersteres ist aussichtslos und birgt in sich die Gefahr, dass dies zu einer Entzweiung mit sich führt, Leben nicht gelingen kann. Und grundsätzlich wäre es wohl auch zu begrüßen, wenn beide Mädchen eine positive Einstellung zu sich selbst und zu ihrem Leib entwickeln könnten, die dann den Radius ihrer Freiheit und Zufriedenheit mit dem eigenen Leben deutlich Speck, O.: Soll der Mensch biotechnisch machbar werden? Eugenik, Behinderung und Pädagogik, München / Basel 2005, S. 78. Zur Thematik siehe auch: Fuchs, M.: Die Einschätzung des Kleinwuchses als Streitfall im Recht und die medizinische Debatte um Therapie und Enhancement (Verbesse­ rung), in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, 7 (2002), S. 283–293; Fuchs, M. / Lanzerath, D.: Wachstumshormontherapie in der Pädiatrie. Die Einschätzung des Kleinwuchses und die Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement. Einfüh­ rung in ein Forschungsprojekt, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, 7 (2002), S. 279–281; Fuchs, M. / Lanzerath, D.: Wachstumshormontherapie bei Kindern ohne Wachstumshormonmangel: Therapie – Enhancement – Futile care. Bericht über den Abschluss eines DFG-Projekts, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, 10 (2005), S. 355–376. 1370 Fuchs, M. / Lanzerath, D.: Wachstumshormontherapie bei Kindern ohne Wachs­ tumshormonmangel: Therapie – Enhancement – Futile care. Bericht über den Abschluss eines DFG-Projekts, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, 10 (2005), S. 355–376, hier S. 359. 1369

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erweitern wird. Es müsste darum gehen, Menschen dabei zu helfen, das Leben nicht mehr als leer und farblos zu erleben. Optionen und Ressourcen sind nicht das einzige, was im Leben tatsächlich zählt. Ein Wille, der durch Neigungen oder Vorlieben bestimmt wird, ist nicht als autonom zu bezeichnen. Aus Stageira würden wir in diesem Sinne den Rat hören, dass es wichtig ist, mit sich befreundet zu sein,1371 aus Königsberg den Hinweis auf die »Selbstschätzung«1372 und »Achtung für sich selbst«1373, aus Meßkirch den alten Rat der Gelassenheit,1374 was ja nicht ein resignatives Nichtstun meint, sondern die Annahme eigener Grenzen. Eine Entscheidung für eine Wachstumshormontherapie muss jedenfalls dem Wohl des Kindes verpflichtet sein, wozu eben auch die Berücksichtigung der psychosozialen Ebene zählt. Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass durch derartige Eingriffe auch menschli­ ches Leid gemindert werden kann. Es stellt sich aber auch die Frage, ob und inwiefern die angedachten Eingriffe für sich in Anspruch nehmen können, Manifestation einer autonomen Entscheidung zu sein. Manchmal kann es sein, dass ein Therapeut besser weiterhelfen kann als ein Eingriff in den Körper. Deutlich wird hier auf jeden Fall, wie wichtig es ist, mit dem Erleben der eigenen Grenzen und Unzulänglichkeiten umgehen zu lernen. Die eigene Fragilität sollte angenommen werden können, um sich nicht selbst fremd zu werden. Freiheit kann sich gerade darin zeigen, Gegebenes anzunehmen. Den Menschen zu »verbessern«, »perfekter« zu machen, wird – wie die geschilderten Beispiele deutlich gemacht haben – auf verschiedenen Wegen versucht. Anvisiert wird eine Optimierung der Leiblichkeit, eine Leistungssteigerung der mentalen Lebensäußerun­ gen und des emotionalen Bereichs einer Person. Zu welch eigenarti­ gen Auffassungen die Optimierungsstrategien führen können, zeigt das folgende Zitat. Menschsein wird in einem Atemzug mit einem Auto verglichen:

Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik VIII und IX. Vgl. z. B. Kant, I.: Kritik der praktischen Vernunft, in: AA Bd. V, S. 73, 79; Kant, I.: Die Metaphysik der Sitten, in: AA Bd. VI, S. 459, 462. 1373 Vgl. Kant, I.: Die Metaphysik der Sitten, in: AA Bd. VI, S. 399. 1374 Vgl. Heidegger, M.: Gelassenheit. Zum 125. Geburtstag von Martin Heidegger, Heideggers Meßkircher Rede von 1955, mit Interpretationen von A. Denker und H. Zaborowski, Freiburg / München 22015. 1371

1372

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»Enhancing psychological function by brain intervention is in some ways like improving car’s performance by making adjustments to the engine. In both cases the goal is to improve function, and to the extent that we succeed without compromising safety, freedom of choice or fairness we can view the result as good.«1375

Birnbacher macht darauf aufmerksam, dass es beim Enhancement oft­ mals auch um den Wunsch geht, ein anderer Mensch zu sein, »unter Zuhilfenahme künstlicher Mittel anders zu sein, eine neue Identität anzunehmen, mit seinen individuellen Möglichkeiten zu experimen­ tieren.«1376 Um die Ziele zu verwirklichen, stehen Pharmaka, chirurgische Eingriffe und Veränderungen auf genetischer Ebene auf der Enhance­ ment-Agenda. Dem Gewachsenen soll der Stempel des Gemachten aufgedrückt, Kontingenz und Zufälligkeit weitestgehend getilgt wer­ den.1377 Befürworter von Enhancement argumentieren, die Unter­ schiede zwischen dem Gewachsenem und dem Gemachten hätten auf Dauer keinen Bestand bzw. seien bereits aufgehoben. Autoren, die Enhancement eher kritisch sehen, weisen in ihren Arbeiten insbesondere darauf hin, dass weniger Technik »mehr« sein kann, Enhancement eine Bedrohung für den Menschen in seinen naturhaf­ ten Bezügen darstelle. Der Leib wird hier in ökonomischer Sicht als Kapitalanlage gesehen, als Ressource zur Verbesserung eigener Leistungen. Er soll effizienter eingesetzt werden können. Diese Form der Instrumenta­ lisierung führt dazu, dass der eigene Leib zu einer ehrgeizig zu bearbeitenden Gestaltungsebene wird, zu einem fremden Ding – mit 1375 Farah, M. J. / Illes, J. / Cook-Deegan, R. / Gardner, H. / Kandel, E. / King, P. / Parens, E. / Sahakian, B. / Wolpe, P. R.: Neurocognitive Enhancement: What Can We Do and What Should We do?, in: Nature Reviews Neuroscience 5 (2004), S. 421– 425, hier S. 423. 1376 Birnbacher, D.: Natürlichkeit, Berlin 2006, S. 111. 1377 Auch über die Möglichkeiten und Grenzen eines Enhancements von Tieren wird inzwischen nachgedacht. Auch sie sollen »verbessert«, verändert werden. Insbe­ sondere geht es in den Debatten um genetisches Enhancement mit dem Ziel, die Leistungen der Tiere effizienter zu machen resp. neue Eigenschaften zu erzeugen, die die Tiere resistenter gegen Krankheiten machen sollen. Auch um die Modifizierung von Tiermodellen geht es mit dem Ziel die Aussagen aus Tierversuchen belastbarer zu machen. Siehe hierzu: Ferrari, A. A. / Coenen, C. / Grunwald, A. / Sauter, A.: Animal Enhancement. Neue technische Möglichkeiten und ethische Fragen, hrsg. von Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH) und Ariane Willemsen, Bern 2010.

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existenziellen Konsequenzen. Die eigene Stimme des Leibes wird übertönt, auf das, was er zusagen hat, gerade nicht gehört, seine Unverfügbarkeit nicht respektiert. Ich kann freilich nicht so tief wie ein Wal tauchen, so schnell wie ein Gepard rennen und auch nicht fliegen wie ein Spatz. Und freilich habe ich auch keine »Adleraugen«. Von einer Fehlerhaftigkeit, einem biologischen Mangel, können wir nicht sprechen, da die genannten Fähigkeiten normalerweise nicht zu uns Menschen gehören. Könnten wir also normalerweise so tief wie ein Wal tauchen, so schnell wie ein Gepard rennen oder wie ein Spatz fliegen, und könnten dies, aus welchen Gründen auch immer, nun nicht mehr, dann ließe sich von einem Mangel sprechen. »Was Menschen normalerweise können, ist, wie Aristoteles sagt, dasjenige, was meistens gekonnt wird und daher rechtens für arttypisch gelten kann. Was für den Menschen nicht art­ typisch ist – z. B. 130 km/h laufen – ist keine Mangelerscheinung und also auch kein sinnvoller Gegenstand eines Behebungsversuchs.«1378 Entscheidend ist oftmals, mit welcher Intention ein Eingriff vor­ genommen wird: So kann ein und dasselbe Medikament eine ganz andere Bedeutung bekommen: für den einen ist es ein Heilmittel, um eine Krankheit zu lindern. Für den anderen ist es ein Lifestyle-Mittel, das – auch bei fehlender Indikation – eingesetzt werden soll, um körperliche oder geistige Leistungen und Eigenschaften zu heben.

8.3.3 Menschenpark statt Garten des Menschlichen? Nach Ansicht von Peter Sloterdijk ist es ein Signum unserer Zeit, dass die »Gewöhnungen des humanistischen Scheins« nicht mehr trügen.1379 Er charakterisiert dies so: Das »am meisten ins Auge springende Merkmal der aktuellen Weltsituation ist gerade, dass die Technikkultur einen neuen Aggregatzustand von Sprache und Schrift hervorbringt, der mit deren traditionellen Auslegungen durch die Religion, die Metaphysik und den Humanismus kaum noch etwas 1378 Pöltner, G.: Sorge um den Leib – Verfügen über den Körper, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 54 (2008), S. 3–11, hier S. 9. 1379 Sloterdijk, P.: Der operable Mensch. Anmerkungen zur ethischen Situation der Gen-Technologie, in: Stiftung Deutsches Hygiene-Museum / Deutsche Behinderten­ hilfe – Aktion Mensch e.V. (Hrsg.): Der imperfekte Mensch. Vom Recht auf Unvoll­ kommenheit, Ostfildern-Ruit 2001, S. 97–114, hier S. 97.

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gemeinsam hat«1380. Dem Humanismus sei es, so Sloterdijk, vor allem um die Zähmung des Menschen durch Lektüre, ein »Enga­ gement für die Zurückholung des Menschen aus der Barbarei«1381 gegangen. Doch dieser Humanismus sei gescheitert und an ein Ende gekommen.1382 Er selbst sieht die Zeit für eine »anthropotechnische Wende gekommen«.1383 Den Begriff der »Anthropotechnik« versteht er dabei zunächst einmal weit: Er hat unterschiedliche Übungsverfahren, die sich auf den mentalen wie physischen Bereich des Menschen bezie­ hen, im Sinn, »mit denen die Menschen verschiedenster Kulturen versucht haben, ihren kosmischen und sozialen Immunstatus ange­ sichts von vagen Lebensrisiken und akuten Todesgewißheiten zu opti­ mieren«1384. Eine anthropotechnische Grundregel gehe davon aus, dass autoplastische Handlungen auf den Handelnden selbst zurück­ wirken.1385 »Der Weg ins Zeitalter der Herstellung, die in der Herstellung des Herstellers kulminiert, ist lange vor dem 20. Jahrhundert betreten worden«1386, wie Sloterdijk meint. Die gegenwärtig lebenden Men­ schen bezeichnet er als »ungeduldig gewordene Selbst- und Men­ schenbildner«1387, womit schon anklingt, dass es andere Strategien gibt, auf jene Ungeduld zu reagieren als z. B. Askese oder Studium.

Ebd. Sloterdijk, P.: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 16. In Deutschland hat Peter Sloterdijk 1999 mit seiner Rede Regeln für den Menschenpark eine große Kontroverse ausgelöst. Was an diesem öffentlich geführten Streit echt und was Inszenierung war, soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Eine Übersicht über zahlreiche Zeitungsartikel findet sich in: Nennen, H.-U.: Philosophie in Echtzeit. Die Sloterdijk-Debatte: Chronik einer Inszenierung. Über Metaphernfolgenabschätzung, die Kunst des Zuschauers und die Pathologie der Diskurse, Würzburg 2003, S. 619–636. 1382 »Wer heute nach der Zukunft von Humanität und Humanisierungsmedien fragt, will im Grunde wissen, ob Hoffnung besteht, der aktuellen Verwilderungstendenzen beim Menschen Herr zu werden.« (Sloterdijk, P.: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 16). 1383 Vgl. Sloterdijk, P.: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 32016. 1384 A. a. O., S. 23. 1385 Vgl. a. a. O., S. 501. 1386 A. a. O., S. 495. 1387 A. a. O., S. 496. 1380 1381

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Er sieht eine wichtige Aufgabe darin, verstärkt über die herauf­ dämmernden Biotechnologien zu reflektieren: Regeln für den Men­ schenpark – so der Titel jener Arbeit, die eine kontrovers geführte Debatte hervorgerufen hat – müssten formuliert werden. Folgen­ schwer sind die in dem Zusammenhang von Sloterdijk aufgeworfenen Fragen, ob man der »Domestikation des Menschen« durch gentechno­ logische Eingriffe gerecht werden könne: »Ob aber die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungseigenschaften führen wird – ob eine künftige Anthropotechnologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung vor­ dringt; ob die Menschheit gattungsweit eine Umstellung vom Gebur­ tenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen Selektion wird vollziehen können – dies sind die Fragen, in denen sich, wie auch immer verschwommen und nicht geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt.«1388

Insofern Technik die Entwicklung des Menschen begünstigt habe, sei es auch nicht abwegig und inhuman, mit ihrer Unterstützung in die Natur des Menschen einzugreifen. Technik versteht Sloterdijk in die­ sem Sinne als »das eigentlich Menschen-Gebende«1389. Hieraus fol­ gert er, dass es dem Menschen entspreche, sich Manipulationen und weiteren technischen Hervorbringungen auszusetzen. Es sei nichts dem Menschen Fremdes, sich »autotechnisch [zu] verändern«1390. Es 1388 Sloterdijk, P.: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 46. 1389 Sloterdijk, P.: Der operable Mensch. Anmerkungen zur ethischen Situation der Gen-Technologie, in: Stiftung Deutsches Hygiene-Museum / Deutsche Behinderten­ hilfe – Aktion Mensch e.V. (Hrsg.): Der imperfekte Mensch. Vom Recht auf Unvoll­ kommenheit, Ostfildern-Ruit 2001, S. 97–114, hier S. 107. »Anthropotechnik bezeichnet nichts anderes, als daß noch kein homo sapiens vom Himmel gefallen ist, man mithin diese Kreatur [den Menschen] nur durch technogene Effekte bekommt, die auf ihre eigene evolutionäre Drift zurückwirken.« (Sloterdijk, P.: Nach Gott, Berlin 2017, S. 216) Eugenik als »Kunst der Wohlgeborenheit«, sei, so Sloterdijk, »das legitimste Kind der Aufklärung hinsichtlich der Frage, was geschieht, wenn Menschen bei hellem Tag vor das Fortpflanzungsproblem gestellt werden« (a. a. O., S. 226). 1390 Sloterdijk, P.: Der operable Mensch. Anmerkungen zur ethischen Situation der Gen-Technologie, in: Stiftung Deutsches Hygiene-Museum / Deutsche Behinderten­ hilfe – Aktion Mensch e.V. (Hrsg.): Der imperfekte Mensch. Vom Recht auf Unvoll­ kommenheit, Ostfildern-Ruit 2001, S. 97–114, hier S. 107; vgl. auch Sloterdijk, P.: Das Menschentreibhaus. Stichworte zur historischen und prophetischen Anthropologie, Weimar 2001, S. 51.

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gehe um eine technikbasierte »Erfolgsbeschleunigung«1391. Ängste vor gentherapeutischen Eingriffen weist er zurück. Es handle sich letztlich um nicht weiter begründete Schreckensvorstellungen.1392 Dabei müsse klar sein, dass ein solches Tätigwerden »auf einer so hohen Ebene von Einsicht in die biologische und soziale ›Natur‹ des Menschen geschehen, dass sie als authentische, kluge und gewin­ nende Koproduktionen mit dem evolutionären Potential wirksam werden können«1393. Doch wie sollen die Kriterien für die Verbesse­ rung des Menschen aussehen? Welche Folgen hat es, unsere Nach­ kommen als unser Machwerk anzusehen? Ja dürfen wir derartige Entscheidungen überhaupt über zukünftige Generationen treffen? Robert Ranisch und Julian Savulescu vertreten die Ansicht, dass es nicht nur erlaubt sein sollte, sich oder seinen Nachwuchs einem Enhancement-Eingriff zu unterziehen. Es bestehe dazu sogar eine Verpflichtung.1394 Es gebe »moral reasons to aim to have the most advantaged children«1395. Das würde das Glück von Eltern und Kindern um ein Vielfaches steigern: »[W]e have reasons to prefer embryos with abilities rather than disabilities.«1396 Diese Überlegun­ gen stehen in utilitaristischer Tradition, was folgendes Zitat von John Stuart Mill sehr klar zum Ausdruck bringt. Er schreibt: »Die Pflicht des Menschen bezüglich seiner eigenen Natur ist dieselbe wie seine Pflicht bezüglich der Natur aller übrigen Dinge, nämlich nicht, ihr zu folgen, sondern sie zu verbessern.«1397 Ranisch und Savulescu geht es darum, für »genetische Verbes­ serungen« zu argumentieren. Es sei richtig, alles daran zu setzen, den Nachwuchs mit den bestmöglichen Genen auszustatten. Das 1391 Sloterdijk, P.: Der operable Mensch. Anmerkungen zur ethischen Situation der Gen-Technologie, in: Stiftung Deutsches Hygiene-Museum / Deutsche Behinderten­ hilfe – Aktion Mensch e.V. (Hrsg.): Der imperfekte Mensch. Vom Recht auf Unvoll­ kommenheit, Ostfildern-Ruit 2001, S. 97–114, hier S. 109. 1392 Vgl. a. a. O., S. 105. 1393 A. a. O., S. 107. 1394 Vgl. Ranisch, R. / Savulescu, J.: Ethik und Enhancement, in: Knoepffler, N. / Savulescu, J. (Hrsg.): Der neue Mensch? Enhancement und Genetik, Freiburg 2009, S. 21–53, hier S. 22. 1395 Savulescu, J. / Kahane, G.: The moral obligation to create children with the best Chance of the best life, in: Bioethics 23 (5), 2009, S. 274–290, hier S. 288. 1396 Savulescu, J.: In defence of Procreative Beneficence, in: Journal of Medical Ethics 33 (2007), S. 284–288, hier S. 284. 1397 Mill, J. S.: Natur, in: Mill, J. S.: Drei Essays über Religion, Stuttgart 1984, S. 9–62, hier S. 53.

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bedeutet im Klartext: Paare sollten selbstverständlich selektieren, um hinsichtlich der genetischen Mitgift das bestmögliche Kind zu bekommen.1398 Eine Abgrenzung von Enhancement-Eingriffen zu Formen der Therapie finden sie nicht nachvollziehbar. Bei der Behe­ bung altersbedingter Impotenz oder Sehschwäche sei die Unterschei­ dung, ob es sich um eine Therapiemaßnahme oder um Enhancement handelt, hinfällig.1399 Beide verbinden mit Enhancement-Einsätzen das Ziel, »die Chancen eines Menschen auf ein gutes Leben zu erhöhen«1400. Im Hinblick auf die Rede von »Verbesserungen« sei auch zu berücksichtigen, dass diese erst nach einem Eingriff festge­ stellt werden könnten. Nicht in jedem Fall sei eine Verbesserung auszumachen. Nicht jeder Eingriff gelinge – wie bei therapeutischen Ansätzen auch.1401 Von einer Verbesserung »in einem abstrakten Sinne«1402 ließe sich schon bei Verfahren wie PND und PID sprechen: »Ein Embryo, der nach einer Präimplantationsdiagnostik anhand gewünschter Kriterien selektiert, implantiert und ausgetragen wurde, ist nicht selbst verbessert. Von einer Verbesserung lässt sich hier nur in einem abstrakten Sinn, in Bezug auf den allgemeinen Genpool oder im

Savulescu, J.: Procreative Beneficence: Why We Should Select The Best Children, in: Bioethics Vol 15, Number 5/6 2001, S. 413–426. 1399 Ich bin der Ansicht, dass es sich in beiden Fällen eindeutig um Therapiemaß­ nahmen handelt. Es geht ja darum, die Sehfunktion wiederherzustellen bzw. dem Menschen in seinem Sexualleben zu helfen. Und es geht nicht darum, dass jemand einen »Röntgenblick« bekommt oder 12 Stunden hintereinander mit seinem Partner Geschlechtsverkehr haben kann. Probleme beim Sehen wie beim Beischlaf sollten beseitigt werden. Die Intention der Behauptung von Ranisch und Savulescu liegt jedenfalls auf der Hand: Es ist damit zu rechnen, dass Therapiemaßnahmen in der Gesellschaft große Zustimmung erhalten und als gut und begrüßenswert eingestuft werden. Wenn es ihrer Ansicht nach keinen Unterschied zwischen therapeutischen Eingriffen und Enhancement-Eingriffen gibt, würden beide in einem positiven Licht stehen. Und wenn es – vom Hippokratischen Eid bis in unsere Tage – eine klare Verpflichtung des Mediziners gibt, zu helfen und zu heilen, und es zwischen ärztlichen Therapiemaß­ nahmen und Enhancement-Eingriffen keinen Unterschied gibt, könnte man auch im Hinblick auf Enhancement von einer Pflicht sprechen, den Menschen zu verbessern. 1400 Ranisch, R. / Savulescu, J.: Ethik und Enhancement, in: Knoepffler, N. / Savu­ lescu, J. (Hrsg.): Der neue Mensch? Enhancement und Genetik, Freiburg 2009, S. 21– 53, hier S. 24. 1401 Vgl. a. a. O., S. 25. 1402 A. a. O., S. 28. 1398

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Vergleich zu anderen möglichen Nachkommen sprechen. Wir [verste­ hen] Selektionsverfahren auch als Formen von Enhancement.«1403

Verbesserung steht hier also für Töten und das Selektieren von Men­ schen.1404 Die beiden Autoren präsentieren folgendes Gedankenexperi­ ment: Zunächst einmal sei ein Elternpaar mit einem Kind vorzustel­ len, welches beeindruckende intellektuelle Fähigkeiten habe. Dieses Kind benötigt einfache und kostengünstige Nahrungsmittel, um diese Begabung aufrecht erhalten zu können. Da die Eltern dem Kind jene Lebensmittel nicht anbieten, verliert es seine intellektuellen Vorzüge wieder. Es sei außerdem an ein zweites Elternpaar zu denken. Deren Kind falle allerdings nicht durch eine außergewöhnliche intellektuelle Begabung auf, sondern sei eher »normal« begabt. Dasselbe Nah­ rungsmittel wie in Fall 1 könnte bei diesem Kind eine Veränderung bewirken: und zwar so, Sie ahnen es schon, dass sich aus dem nor­ mal begabten Kind ein Kind mit außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten entwickelt. Doch diese Eltern verhalten sich ähnlich wie Ebd. Leben steht heute nicht selten auf dem Prüfstand. Die Methoden, Genabwei­ chungen zu erkennen, werden immer ausgefeilter. Mit Hilfe von Amniozentese, einer Untersuchung des Fruchtwassers, und Chorionzottenbiopsie, einer Prüfung der Zot­ tenhaut der Plazenta, ist es schon länger möglich, bestimmte Genabweichungen auf­ zuspüren. In diesem Zusammenhang ist auch die Polkörperbiopsie zu erwähnen. Vor und nach dem Befruchtungsvorgang gibt die Eizelle Polkörperchen ab, die einer genauen Untersuchung unterzogen werden. »Darin sind je ein halber Satz des müt­ terlichen Genoms, entstanden aus der 1. und 2. Reifeteilung. Die Polkörperchen ent­ halten spiegelbildlich, was in der Eizelle verblieben ist. Haben sie ein Chromosom zu wenig, weiß man, daß in der Eizelle eine Trisomie entstanden ist.« (Lenzen-Schulte, M. / Queisser-Luft, A.: Zum Konflikt zwischen Kindeswohl und elterlichem Wunsch­ denken: Gesundheitsrisiken bei assistierter Reproduktion, in: Hoffmann, T. S. / Schweidler, W. (Hrsg.): Normkultur vs. Nutzenkultur. Über kulturelle Kontexte von Bioethik und Biorecht, Berlin 2006, S. 311–338, hier S. 326) Relativ neu ist der Prae­ natest. Leben findet nur unter Vorbehalt statt. Überaus bedenklich ist es, dass heute ein sozialer Druck auf Eltern ausgeübt wird, kein Kind mit einer Behinderung zu bekommen. Hinzuweisen ist darauf, dass jeder von uns gewisse Risikofaktoren in seinem Erbgut mit sich trägt, wie Otto Speck im Anschluss an den Humangenetiker Wolfram Henn betont. (Vgl. Henn, W.: Warum Frauen nicht schwach, Schwarze nicht dumm und Behinderte nicht arm dran sind. Der Mythos von den guten Genen, Freiburg 2004, S. 147) »Das bedeutet, dass es eine generelle ›Erbgesundheit‹ gar nicht geben kann. Man brauche nur genügend Gene durchzusequenzieren, um jedem Menschen nachzuweisen, dass er irgendwelche Defekte in sich trägt.« (Speck, O.: Soll der Mensch biotechnisch machbar werden? Eugenik, Behinderung und Pädagogik, München / Basel 2005, S. 119). 1403

1404

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die Eltern von Kind 1: Das entsprechende »Supernahrungsmittel« kommt bei der Familie nicht auf den Tisch. Das Kind bleibt demnach normal begabt und entwickelt keine außergewöhnlichen intellektuel­ len Fähigkeiten. Dies sei bedauerlich, da die Eltern ja die Möglichkeit gehabt hätten, mit einfachen Mitteln ihr Kind »besser« zu machen. Daher sei die Untätigkeit der beiden Elternpaare nicht nachvollzieh­ bar und falsch. Nun aber folgt ein bemerkenswerter Schritt von den »Supernahrungsmitteln«, die eventuell noch an die Comicfigur Popeye erinnern, aber sonst mit der Realität nicht viel zu tun haben, zu Eingriffen in die Genetik. So heißt es ganz selbstverständlich: »Wenn wir nun in dem Gedankenexperiment ›Nahrungsergänzungs­ mittel‹ durch ›medizinische Eingriffe‹ ersetzten, scheint dies nichts an der ethischen Bewertung zu ändern. Unter den beschriebenen Bedingungen hätten die Eltern die Pflicht, ihr Kind zu verbessern.«1405 Und weiter: »Können wir […] die Biologie unserer Kinder positiv beeinflussen, tragen wir die Verantwortung für absehbare Folgen einer Unterlassung.«1406 Nach Ansicht der beiden Autoren sei es unerheblich, ob wir von Lebensmitteln oder medizinischen Eingriffen sprechen.1407 Insofern Verbesserungen durch Erziehung, Ausbildung und gute Ernährung allgemein akzeptiert seien, seien auch medizinische Eingriffe zur Ver­ besserung zu begrüßen. Genetisches Enhancement und Erziehung, so ein nicht seltenes Argument, das man häufiger in Debatten zum

1405 Ranisch, R. / Savulescu, J.: Ethik und Enhancement, in: Knoepffler, N. / Savu­ lescu, J. (Hrsg.): Der neue Mensch? Enhancement und Genetik, Freiburg 2009, S. 21– 53, hier S. 30. 1406 A. a. O., S. 31. 1407 Vgl. ebd. In den Debatten über Enhancement begegnet auch immer wieder das Argument, Menschen hätten immer schon versucht, ihre Leistungsfähigkeit zu heben. Dan W. Brock versteht auch Erziehung, (Musik-) Unterricht und Sportcamps für Kinder als Enhancement (Brock, D. W.: Enhancement menschlicher Fähigkeiten: Anmerkungen für Gesetzgeber, in: Schöne-Seifert, B. / Talbot, D. (Hrsg.): Enhancement. Die ethische Debatte, Paderborn 2009, S. 47–71, hier S. 47 f.). Die Konsequenzen liegen dann auf der Hand: »Elementare Schulbildung bewirkt [die Erweiterung und Stärkung mensch­ licher Fähigkeiten], und dieselbe Wirkung könnten in Zukunft auch psychopharma­ kologische oder genetische Eingriffe haben, die z. B. allgemein die Gedächtnisleistung verbessern.« (A. a. O., S. 55) Genetische Eingriffe sieht er – anders als Habermas – unter dem Gesichtspunkt des Wettbewerbsvorteils, der dadurch geschaffen werde. (Vgl. a. a. O., S. 60) Durch Enhancement stellten sich Fairnessprobleme, wenn diese Techniken nicht allen Menschen offen stünden.

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Enhancement hört, seien »strukturanaloge Prozesse«.1408 Zwar kann erzieherisches Fehlverhalten lebenslang nachwirken, doch grundsätz­ lich können wir uns zu unseren Erziehern wie zu unserer Erziehung noch einmal verhalten.1409 Man kann etwas gegen seine Erziehung unternehmen.1410 Von einem genetischen Eingriff dagegen kann man sich nicht so einfach losmachen wie das bei Erziehungsfragen (oder eben bei Fragen der Ernährung) der Fall ist. Dass man untätig bleiben und nicht in das Erbgut eines Embryos eingreifen sollte, kann auch James Hughes nicht nachvollziehen. Die moderne Biomedizin und zur Verfügung stehende EnhancementMöglichkeiten würden nicht nur unser Leben bereichern, es gäbe auch ein Recht, hierauf zurückzugreifen, um besser Kontrolle über die Entwicklung ausüben zu können. »But to ensure these benefits we need to democratically regulate these technologies and make them equally available in free societies.«1411 Neue Formen der Bio­ technologie und neue Weisen Demokratie zu leben, würden uns freier und gleicher machen.1412 Demokratische Gesellschaften müss­ ten die Kontrolle, Regulierung und gleichberechtige Zugangswege zu neuen Technologien gewährleisten. Seine Begründung dafür ist recht simpel: Menschen seien schlichtweg zufriedener und glücklicher, wenn sie Kontrolle über soziale und natürliche Prozesse ausüben könnten.1413 Die Möglichkeit, Designer-Babies herzustellen, würde eine Stärkung der Familien bedeuten. Und so würde den Kindern vermittelt, gewünscht zu sein – eben mit all ihren Eigenschaften.1414 Wenn man ja sonst auch den Partner wählen könne, mit dem man ein Kind in die Welt setzt, warum dann nicht auch sogar jene Eigenschaf­ ten des Kindes selbst?1415 Zugespitzt sagt er: »That is akin to insisting 1408 Vgl. Sorgner, S. L.: Transhumanismus. »Die gefährlichste Idee der Welt«!?, Frei­ burg 2016, S. 176; Sorgner, S. L.: Übermensch. Plädoyer für einen Nietzscheanischen Transhumanismus, Basel 2019, S. 8. 1409 So z. B. Habermas, J.: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a. M. 2001, S. 107. Siehe hierzu auch: Habermas, J.: Replik auf Einwände, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002), S. 283–298. 1410 Vgl. Habermas, J.: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a. M. 2001, S. 100. 1411 Hughes, J.: Citizen Cyborg. Why Democratic Societies Must Respond to the Redesigned Human of the Future, o. O. 2004 (Westview Press), S. XII. 1412 Ebd. 1413 Vgl. a. a. O., S. XVIII, 3. 1414 Vgl. a. a. O., S. 134. 1415 Vgl. a. a. O., S. 138.

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parents not to paint their house, or plant a garden, or protect their trees from pests, because their children have a right to inherit the family property as is.«1416 Es ist klar, worauf er hinauswill: Eltern geben ihren Kindern ja auch andere Vorgaben mit fürs Leben, weshalb doch nichts dagegen spräche, diese Vorgaben selbst noch besser zu regulieren. Dies bedeute schließlich Freiheit und Autonomie. Doch Freiwilligkeit kann sehr schnell in Zwang umschlagen. Jemand, der nicht therapiert ist bzw. sich nicht therapieren lassen möchte oder schlichtweg noch gar nicht weiß, ob er dies selbst möchte, könnte von anderen Menschen gedrängt werden, bestimmte gentech­ nische Maßnahmen an sich durchführen zu lassen. Ganz ähnlich, wie bereits der Pränataltest eine »Sogwirkung« ausübt und von sehr vielen Menschen als völlig bedenkenloser Teil einer Schwangerenvorsorge­ untersuchung in Anspruch genommen wird.1417 Ranisch und Savulescu lehnen es »in Übereinstimmung mit den Prinzipien der liberalen Eugenik«1418 ab, dass der Staat die Eltern zu Verbesserungsmaßnahmen verpflichtet. Vielmehr handle es sich um eine »ethische, nicht um eine rechtliche Verpflichtung«1419, womit Ethik zu einem Feigenblatt für eugenische Maßnahmen und Enhancement-Einsätze mutiert. Frühere eugenische Absichten seien verwerflich, da hier ein staatlicher Zwang der Bevölkerungspolitik im Hintergrund stehe.1420 Hiervon unterscheide sich eine liberale A. a. O., S. 150. Haker, H.: Eine neue Ethik der Elternschaft, in: Herder Korrespondenz 71 (2017) Spezial 1, S. 48–51. 1418 Ranisch, R. / Savulescu, J.: Ethik und Enhancement, in: Knoepffler, N. / Savu­ lescu, J. (Hrsg.): Der neue Mensch? Enhancement und Genetik, Freiburg 2009, S. 21– 53, hier S. 36. 1419 Ebd. 1420 Ähnlich argumentiert auch Robert Nozick. Er lehnt die Möglichkeit einer staat­ lichen Kontrolle ab und schlägt ein »Supermarkt-System« vor, in dem man sich nach Wunsch und Belieben bedienen könne und welches keine zentrale Instanz habe, die entscheidet, in welche Richtung Enhancement-Eingriffe vorzunehmen seien (oder auch nicht). (Vgl. Nozick, R.: Anarchy, state, and utopia, New York 1974, S. 315) Gegenüber der Frage, ob hier grundsätzlich neue bioethische Herausforderungen ins Haus stehen, scheinen hier v. a. Fragen distributiver Gerechtigkeit im Vordergrund zu stehen. Bernward Gesang unterscheidet in dem Zusammenhang ein zentrales und ein dezen­ trales Enhancement (Gesang, B.: Enhancement und Gerechtigkeit, in: Sorgner, S. L. / Birx, H. J. / Knoepffler, N. (Hrsg.): Eugenik und die Zukunft, Freiburg / München 2006, S. 127–149, hier S. 128). Mit ersterem ist ein Programm gemeint, bei dem die Initiative beim Staat liegt. Als Beispiel nennt er die nationalsozialistische Eugenik. 1416 1417

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Eugenik.1421 »Kein staatliches Programm«, sondern die »autonome Entscheidung« der Eltern bzw. der Betroffenen selbst rechtfertige eugenische Eingriffe. Während mit Autonomie bei Kant noch die Fähigkeit gemeint war, sich am Sittengesetz zu orientieren, es ihm um Freiheitsver­ wirklichung geht, soll hier eine Begründung für Enhancement-Ein­ sätze und eugenische Maßnahmen gefunden werden – nicht nur eine Pervertierung des Autonomiebegriffs. Eine perfide Verwendung des Autonomie-Begriffs hatten wir ja schon im Rahmen der Aus­ führungen zur Reproduktionsmedizin beobachten können. »Missver­ ständnisse entstehen […], wenn der Grundsinn von Autonomie als material vernünftiger Selbstgesetzgebung im Handeln gegen eine Fokussierung formaler Selbstbestimmung getauscht oder gar mit bloßer Willkürentscheidung verwechselt wird.«1422 Der kategorische Imperativ ist gerade nicht auf den Interessen Einzelner gegründet. Dagegen liege die Initiative beim dezentralen Enhancement, so Gesang, entweder beim Betreffenden selbst oder bei dessen Eltern. Diese Person(en) entscheiden, ob eine »Verbesserung« in Frage komme und welche Eigenschaft gesteigert werden solle. (A. a. O., S. 128 f.) Es wäre denkbar, »dass der Staat sich völlig passiv verhält und dem Markt seinen Lauf lässt, was ich marktliberales Enhancement nenne.« (A. a. O., S. 128) Gibt es gewisse Fördermaßnahmen des dezentralen Enhancements durch den Staat, könne man von einem sozialdemokratischen Enhancement sprechen. (A. a. O., S. 128 f.) Bei dieser – durchaus plausiblen – Unterscheidung sollte jedoch nicht über­ sehen werden, dass ein dezentrales Enhancement, das von der zu verbessernden Per­ son selbst oder deren Eltern ausgeht, nicht automatisch gut ist, nur weil ein staatliches, also zentrales Enhancement, als schlecht angesehen wird. 1421 »Negative Eugenik« meint, dass Träger von (Erb-) Krankheiten daran gehindert werden, sich fortzupflanzen. In Frage gestellt wird hier das Recht auf Nachkommen­ schaft. Ziel ist hier nicht Enhancement, die qualitative Verbesserung der genetischen Ausstattung. »Positive Eugenik« meint die gezielte Veränderung (»Verbesserung«) des Erbgutes. Als Kennzeichen einer »liberalen« Eugenik wird geltend gemacht, dass die Entscheidung hierfür von den Eltern ausgeht – und nicht von der staatlichen Gewalt. Der Begriff Eugenik meint »gut Erzeugtes« (εὖ = gut; γένος = Erzeugen­ des, Erzeugtes). 1422 Hoffmann, T. S.: Zum Verhältnis von Autonomie, Selbstbestimmung und Will­ kürentscheidung, in: Imago Hominis, Bd. 23, Heft 4 (2016): Autonomie und Bezie­ hung, S. 189–198, hier S. 189. Zum Autonomie-Begriff im bioethischen Kontext sei in diesem Zusammenhang auch verwiesen auf: Baumann-Hölzle, R.: Autonomie und Freiheit in der Medizin-Ethik. Immanuel Kant und Karl Barth, Freiburg 1999. Die Bedeutung Kants für moderne bioethische Debatten wird schön herausgearbeitet in: Hoffmann, T. S.: Zur Aktualität Kants für die Bioethik, in: Synthesis philosophica 39 (2005), S. 151–163; Baumanns, P.: Kant und die Bioethik, Würzburg 2004.

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Autonom zu sein heißt demnach, sich an allgemeinen moralischen Gesetzen orientieren zu können. Autonomie ist der »Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur«1423. Es ist nicht eine beliebige Willensäußerung gemeint. Eine solche könnte auch ganz kontingent und irrational sein – ungeachtet aller formalen Freiheit. Autonomie zielt ab auf eine Selbstbesinnung der Vernunft hinsichtlich dessen, was als allgemeinheitsfähig gelten kann. Wenn Kant von autonomen Entscheidungen spricht, hat er solche vor Augen, die dem Anspruch gerecht werden, der Selbsterhaltung der Vernunft und der Freiheit zu entsprechen. Mit Kant könnte man hier daher einwenden, dass Freiheit gerade nicht gefördert wird. Derartige Enhancement-Einsätze können vielmehr Ausdruck einer regellosen Willkürfreiheit sein. Insofern wäre das Ansinnen der Eltern hete­ ronom, fremdbestimmt. »[S]elbstbestimmt kann das kalkulierende Handeln des Utilitaristen sein, der sich eine Fülle unmittelbarer Wünsche verbietet, ›autonom‹ ist dagegen die alleine die vernünftige Willensbestimmung im Sinne einer nicht den Nutzen, sondern sich selbst affirmierenden Freiheit.«1424 Bei Habermas klingt das so: »Aus dem Kantischen Gebot, die gleiche Autonomie eines jeden zu achten, lassen sich«, so Habermas, »plausible Argumente gegen die Zulässig­ keit einer zu eugenischen Zwecken vorgenommenen vorgeburtlichen Programmierung von Erbanlagen gewinnen.«1425 Nicht selten trifft man in diesen Debatten auf das Argument, wenn man selbst bestimmte technologische Möglichkeiten nicht ver­ wirklichte, würden es andere übernehmen. Also: Wenn man selbst Gesetze gegen das Klonen von Menschen, gegen eine vorgeburtliche Selektion oder Möglichkeiten des Enhancements erlasse, würden andere Länder mit weniger strengen Gesetzen das Heft schon in die Hand nehmen, die Forschung diesbezüglich vorantreiben und dafür Sorge tragen, dass die Interessen umgesetzt werden. Im Zuge einer weltweiten Konkurrenz könne man also gar nicht anders, als selbst diese Möglichkeiten zu verwirklichen. Dahinter stehen ganz unver­ hüllt ökonomische Verwertungsinteressen. Wer so argumentiert, ist Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA Bd. IV, S. 436. Hoffmann, T. S.: Zum Verhältnis von Autonomie, Selbstbestimmung und Will­ kürentscheidung, in: Imago Hominis, Bd. 23, Heft 4 (2016): Autonomie und Bezie­ hung, S. 189–198, hier S. 193. 1425 Habermas, J.: Vorwort, in: Sandel, M. J.: Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas, Berlin 2 2008, S. 7–14, hier S. 11. 1423

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eher ein Getriebener als jemand, der sich Autonomie auf die Fahnen schreiben könnte. Möglicherweise ist es auch ein versteckter Versuch, auf diesem Wege den eigenen Interessen des Verfügenwollens zum Durchbruch zu verhelfen. Überzeugend ist es in jedem Fall nicht. Freilich gibt es hier und dort Institutionen und Personen, die bereit sind, sich über Regeln und Gesetze hinwegzusetzen. Im Hinblick auf die Weltgemeinschaft fallen uns rasch bestimmt auch Länder ein, in denen es Gesetze, die eine biotechnologische Verfügbarmachung des Menschen verbieten, nicht gibt. Nicht nur jeder Tatort-Zuschauer weiß, dass es im Alltag immer wieder vorkommt, dass Täter unge­ schoren davonkommen. Dies ist aber kein Argument dafür, dass ihre Tat gut ist. Ein Mord ist in sich schlecht, wie schon der Stagirite argumentiert. Ein rechtes Maß ist hier nicht möglich.1426 Insofern sind auch Stimmen zurückzuweisen, die nicht müde werden, darauf hinzuweisen, wir bräuchten es erst gar nicht zu versuchen, bestimmten Entwicklungen Grenzen zu setzen, Kontrol­ len einzuführen.

8.3.4 Der Menschenpark nimmt Gestalt an »Der Mythos der Machbarkeit hat […] nicht die spontane Ankunft eines individuellen Menschen im Blick, dem Mythos der Machbarkeit ist die spontane Individualität vielmehr verdächtig – der Mythos der Machbarkeit macht sich nur zu schaffen mit dem ihm schon Bekannten, dem Reprodukt, der Wiederauflage des wissenschaftlich schon Begrif­ fenen. […] Herstellbar ist nur der aus Vergangenheit bestimmbare Mensch als ein Reprodukt des schon Vorhandenen. Der Mensch als Zukunftswesen, als ein immer Neuwerdender ist der Mentalität der Manipulatoren nicht nur unbequem, er ist unkalkulierbar und deshalb im Schema des Sicherheitskomplexes undenkbar.«1427

In einer öffentlichen Stellungnahme haben sich 31 namhafte Personen – unter ihnen z. B. Francis Crick, Richard Dawkins und Edward O. Wilson – deutlich für das Klonen von Menschen ausgesprochen. In ihrem Manifest heißt es: Aristoteles: Nikomachische Ethik II 6, 1107 a 10 ff. Petersen, P.: Von der Familienplanung zur Kinderankunft. Ein Paradigmenwech­ sel ist notwendig, in: Wagner, H. (Hrsg.): Medizin – Momente der Veränderung, Ber­ lin / Heidelberg 1989, S. 249–262, S. 255. 1426

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»We see no inherent ethical dilemmas in cloning non-human higher animals. Nor is it clear to us that future developments in cloning human tissues or even cloning human beings will create moral predicaments beyond the capacity of human reason to resolve. The moral issues raised by cloning are neither larger nor more profound than the ques­ tions human beings have already faced in regards to such technologies as nuclear energy, recombinant DNA, and computer encryption. They are simply new. Historically, the Luddite option, which seeks to turn back the clock and limit or prohibit the application of already existing technologies, has never proven realistic or productive. The potential benefits of cloning may be so immense that it would be a tragedy if ancient theological scruples should lead to a Luddite rejection of cloning. We call for continued, responsible development of cloning technologies, and for a broad-based commitment to ensuring that traditionalist and obscurantist views do not irrelevantly obstruct beneficial scien­ tific developments.«1428

1428 Cloning Humans. Declaration in Defense of Cloning and the Integrity of Scien­ tific Research https://secularhumanism.org/1997/06/declaration-in-defense -of-cloning-and-the-integrity-of-scientific-research/ (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022).

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Die Manifest-Autoren sprechen sich für das Klonen1429 von Menschen aus. Versprochen werden »benefits«, die mit dieser Technik der Men­ schen-Herstellung einhergehen würden.1430 Problematisch ist, dass ein Klon nicht um seiner selbst willen erzeugt wird. In ihm soll ein Mensch, den man für besonders hält, weiterleben. Denkbar ist auch, dass der Klon als Ersatzteillager für andere Menschen dienen soll. In seinem Essayband Die Austreibung des Anderen erläutert Byung-Chul Han, dass er ein Kennzeichen unserer Tage darin meine ausmachen zu können, dass die Andersheit zunehmend durch das Gleiche ersetzt werde. Vom »Terror des Glei­ chen« ist die Rede, womit er hervorheben möchte, dass der Andere als Anderer verschwinde. »Der Andere als Geheimnis, der Andere als Verführung, der Andere als Eros, der Andere als Begehren, der Andere als Hölle, der Andere als Schmerz verschwindet«1431, wie wir dort lesen können. Und weiter: »Die Negativität des Anderen

Wenn vom »Klonen« bzw. »Klonieren« die Rede ist, ist damit gemeint, dass die genetisch identische Kopie eines Lebewesens erzeugt wird. Nicht zuletzt das Klonschaf Dolly hat Debatten darüber ausgelöst, dass auch der geklonte Mensch in greifbare Nähe rücke, der Mensch sich nun selbst schaffe. § 6 des ESchG verbietet das Klonen von Menschen ausdrücklich. Bakterien vermehren sich ungeschlechtlich: Sie erzeugen Klone. Doch dies ist kein Argument dafür, auch die Klonierung des Menschen zu erlauben, was Habermas schön auf den Punkt bringt: »Die Biologie kann uns moralische Überlegungen nicht abneh­ men. Und die Bioethik sollte uns nicht auf biologistische Abwege bringen.« (Haber­ mas, J.: Die postnationale Konstellation, Frankfurt a. M. 62013, S. 249) In biotechnischer Hinsicht können wir drei unterschiedliche Klonverfahren auseinan­ derhalten: Die erste Methode wurde beim erwähnten Klonschaf Dolly eingesetzt. Man hat dabei den Kern einer somatischen Zelle – in dem Fall war es eine Euterzelle – in eine entkernte (und von DNA befreiter) Eizelle transferiert. Zweitens ist das so genannte Embryonensplitting zu nennen: Dies bedeutet, einen Embryo in mehrere Einzelwesen zu unterteilen (»splitten«). Drittens die Reizung einer unbefruchteten Eizelle mit dem Ziel, dass sie schließlich beginnt, sich zu teilen und zu einem Lebewe­ sen heranzureifen. Letzteres ist aus dem Tierreich z. B. bei einigen Fischen bekannt. Die häufig gemachte Unterscheidung zwischen therapeutischem und reproduktivem Klonen ist insofern irreführend, als mit dem Begriff »Therapie« positive Aspekte verbunden werden. Da bei diesem Vorgang aber Embryonen vernichtet werden, ist es fraglich, hier von Therapie zu sprechen, obgleich es darum geht, z. B. Körpergewebe zu Transplantationszwecken, d.h. mit der Absicht zu heilen, herzustellen. 1430 So wird u.a. im Klonen etwa eine Möglichkeit erblickt, dass unfruchtbare oder homosexuelle Menschen eigene Kinder bekommen können. 1431 Han, B.-C.: Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kom­ munikation heute, Frankfurt a. M. 2016, S. 7. 1429

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weicht heute der Positivität des Gleichen.«1432 Han bezieht dies auf verschiedene moderne Lebensbereiche und unsere Art, miteinander zu kommunizieren. Und in der Tat scheint es heute eine wirkmächtige Tendenz zu geben, alles berechenbar, austauschbar, vergleichbar und insofern gleich zu machen. Jede Negativität werde versucht, aus dem Wege zu schaffen. Der Versuch, den Anderen auszutreiben, münde letztlich in einen Akt der Selbstzerstörung: »Ein System, das die Negativität des Anderen ablehnt, entwickelt auto­ destruktive Züge. Die Gewalt des Gleichen ist aufgrund ihrer Positivität unsichtbar. Die Wucherung des Gleichen gibt sich als Wachstum. Ab einem bestimmten Punkt ist aber die Produktion nicht mehr produktiv, sondern destruktiv, die Information nicht mehr informativ, sondern deformativ, die Kommunikation nicht mehr kommunikativ, sondern bloß kumulativ.«1433

Han spricht von einer mit der Austreibung des Anderen einher­ gehenden Entfremdung von sich selbst und den hiermit verbunde­ nen Gefahren: »Diese Selbstentfremdung findet gerade im Zuge der Selbstoptimie­ rung und Selbstverwirklichung statt. In dem Moment, in dem das Leistungssubjekt sich selbst, etwa seinen eigenen Körper, als ein zu optimierendes Funktionsobjekt wahrnimmt, entfremdet es sich sukzessiv von ihm. Diese Selbstentfremdung schreitet aufgrund der fehlenden Negativität unbemerkt fort. Nicht nur die Selbstausbeutung, sondern auch die Selbstentfremdung, die sich pathologisch als Störung des Körperschemas äußert, wirkt selbstzerstörerisch.«1434

Die Überlegungen von Han leuchten schnell ein, sind es gerade doch der Andere wie auch die Natur und der Leib, die einem letztlich im Wege stehen, die Welt ganz nach eigenem Gutdünken zu verändern. Der Antrieb, Andersheit zu beseitigen, beruht so gesehen auf der Erfahrung der Grenzen des Machbaren. Hans Überlegungen zur Aus­ treibung des Anderen können m.E. auch auf genetisches Enhancement und die Frage des Klonens von Menschen übertragen werden: Die Andersheit des Anderen soll nicht weiter ertragen, sondern durch das

1432 1433 1434

Ebd. A. a. O., S. 7 f. A. a. O., S. 54 f.

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Gleiche ersetzt werden.1435 Das Gesicht des Anderen darf nicht sein: Es soll durch das eigene ersetzt werden. Ich hatte im ersten Gang dargestellt, dass wir in Anerkennungs­ verhältnissen leben, woran ich nun anknüpfen möchte. Diese Wech­ selseitigkeit der Anerkennungsverhältnisse gerät durch das Klonieren wie durch die liberale Eugenik aus dem Lot. Und in der Tat: Gelingende Anerkennung besteht ja gerade darin, den anderen als ihn selbst frei zu geben, was hier jedoch verweigert wird. Die Erbsubstanz soll nicht mehr einem unkontrollierten, kontigenten Umstand geschuldet sein. Sie wird zum Machwerk des Menschen, der damit in den Bereich dessen eingreift, was bislang als unverfügbar galt. Beim Klonen wird die Einzigartigkeit des Anderen in Abrede gestellt. Der Klon hat nicht Vater und Mutter, deren Zusammenwirken eine neue Zukunft eröffnet, sondern stammt nur von einem Menschen ab.1436 Habermas sagt dies so: »Keine Person darf über eine andere so verfügen und deren Hand­ lungsmöglichkeiten in der Weise kontrollieren, daß die abhängige Person eines wesentlichen Stücks ihrer Freiheit beraubt wird. Diese

»[G]enetische, nanobiotische und pharmakologische Manipulation ist das, was Heidegger als einspringend-beherrschende Sorge ablehnt, weil durch sie der Mensch Gefahr läuft, in seiner uneigentlichen Seinsweise verhaftet zu bleiben und damit letztlich zu verfehlen, was er ist.« (Naumenko-Kühne, A.: Projekt und Problematik einer »Perfektionierung« des Menschen. Aspekte des »Human Enhancement« zwischen Philosophie und Technokratie, Aachen 2018, S. 256). 1436 Die Bedeutung der sexuellen Fortpflanzung wird in evolutionsbiologischer Per­ spektive darin gesehen, dass es zu einer Vermischung väterlichen und mütterlichen Erbgutes kommt und die Nachkommen dadurch eine ganz eigene Zusammensetzung ihres Erbgutes erhalten. Diese Durchmischung macht es möglich, dass Gendefekte durch ein zweites Genom ausgeglichen werden können. Von großer Bedeutung ist sie auch hinsichtlich einer Abwehr von Krankheitserregern und Parasiten. »Diese haben sehr viel kürzere Generationenfolgen als ihre Wirte, dadurch können sie sich unter dem Einfluss der natürlichen Auslese schneller verändern. Da die vielzelligen Tiere und Pflanzen keine Chance haben, an diesem Punkt mitzuhalten, müssen sie eine andere Strategie einschlagen: Wenn in einer Population ständig genetisch unter­ schiedliche Individuen entstehen, dann erhöht sich die Chance, dass zumindest einige von ihnen den veränderten Krankheitserregern etwas entgegensetzen können.« (Jun­ ker, T.: Evolution. Die 101 wichtigsten Fragen, München 2011, S. 66; vgl. auch Reichholf, J. H.: Was stimmt? Evolution. Die wichtigsten Antworten, Freiburg 2007, S. 74) So gesehen wäre das Klonen von Menschen nicht nur ein evolutionärer Rückschritt, son­ dern dadurch, dass es nicht zu einem Crossing-over, zu einer Durchmischung väterli­ chen und mütterlichen Erbgutes kommt, auch eine nicht zu leugnende Gefahr. 1435

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Bedingung wird verletzt, wenn einer über das genetische Programm eines andern entscheidet.«1437

In den Bereich des Unverfügbaren einzugreifen, bedeute dessen Ein­ zigartigkeit zu verletzen, stelle eine »Anmaßung«, ja »Knechtung« dar.1438 Das moralische Selbstverständnis des geklonten Menschen wie auch dessen, der seine Anlagen meint narzisstisch klonen zu müssen, bleibt davon nicht unberührt.1439 Das Leben des geklonten Menschen, die Gegebenheiten seiner Geburt, wäre laut Habermas nicht mehr unverfügbar, sondern ver­ fügbar und nicht mehr vor dem Zugriff anderer bewahrt.1440 Mit Spaemann kann man es so auf den Punkt bringen: »[D]ie Form der Anerkennung vernünftiger Wesen kann nur die des Respektes

Habermas, J.: Die postnationale Konstellation, Frankfurt a. M. 62013, S. 244. Vgl. ebd. 1439 Mit Jonas gesprochen: »[D]er Wunsch ist überhaupt naiv mit der Annahme, daß mehr als einer von jedem wirklich zum besten der Menschheit wäre, geschweige denn zum besten der Mozarts und Einsteins dieser Welt – allgemein mit der Annahme, daß, wenn etwas gut ist, mehr davon besser wäre.« (Jonas, H.: Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1987, S. 186). Zur Klonierungsproblematik siehe auch: Hoffmann, T. S.: Primordial Ownership ver­ sus Dispossession of the Body. A Contribution to the Problem of Cloning from the Perspective of Classical European Philosophy of Law, in: Roetz, H. (Hrsg.): Cross Cul­ tural Issues in Bioethics: The Example Of Human Cloning, Amsterdam 2005, S. 387– 407. 1440 Daher argumentiert auch Jonas, dass der Klon durch die Klonierung seiner Frei­ heit beraubt werde. Seine Zukunft sei dadurch bereits vorgezeichnet, vorherbestimmt. (Jonas, H.: Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1987, S. 162–203) Er sei vor allem der Nachfolger des Originals (während Haber­ mas sogar von dessen »Sklaven« spricht. (Habermas, J.: Die postnationale Konstella­ tion, Frankfurt a. M. 62013, S. 243–247) Als solcher habe er ungewolltes und schäd­ liches Interesse seine Zukunft betreffend, weshalb Jonas für ein Recht auf Nichtwissen plädiert. Jedem Menschen stehe es zu, »seinen eigenen Weg zu finden und eine Über­ raschung für sich selbst zu sein.« (Jonas, H.: Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1987, S. 187) Spaemann beurteilt dies ganz ähnlich. Er spricht von einem »Menschenrecht auf Zukunft« und befürchtet, das Klonieren von Menschen hätte eine biologische Plan­ wirtschaft zur Folge. Offenheit der Zukunft sei für den geklonten Menschen gerade nicht gegeben. »Eine Therapie aber, die darauf zielte, ihn vom Bild des [Älteren] unabhängig zu machen, würde das Klonen ad absurdum führen. Denn dessen Sinn war es ja gerade, eine Kopie herzustellen.« (Spaemann, R.: Das Menschenrecht auf Zukunft, in: Die Welt, 03. Febr. 1999, http://www.welt.de/print-welt/article56566 4/Das-Menschenrecht-auf-Zukunft.html (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 1437

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vor ihrer Natur sein, vor ihrem Körper, ihrer Sexualität, ihrer Spra­ che.«1441 Habermas ist überzeugt: Es sei einer Person keineswegs gleich­ gültig, wie sie zu ihren Erbanlagen gelangt sei. »Es macht […] einen Unterschied, ob wir die genetische Ausstattung als Ergebnis eines Zufallsprozesses der Natur oder als Teil eines ›verborgenen Plans‹ oder religiös als Gnade, als Bestimmung Gottes begreifen. Solche Interpretationen prägen das Bewußtsein von Freiheit, mit dem Personen ihre alltäglichen Handlungen ausführen.«1442

Er befürchtet, dass es bei Fragen des Klonierens wie der liberalen Eugenik zunächst zwar gesellschaftliches Unbehagen gäbe, aber eine nicht zu unterschätzende Gefahr darin zu sehen sei, dass sich die Interessen der beteiligten Forschenden wie des ökonomischen Erfolgs gegenüber moralischen Bedenken als stärker und durchsetzungsfähi­ ger erweisen könnten.1443 Gentechnische Eingriffe verwirrten seiner Ansicht nach »die intuitive Unterscheidung zwischen Gewachsenem und Gemachtem, Subjektivem und Objektivem – bis hinein in den Selbstbezug der

1441 Spaemann, R.: Das Natürliche und das Vernünftige, in: Schwemmer, O. (Hrsg.): Über Natur. Philosophische Beiträge zum Naturverständnis, Frankfurt a. M. 21991, S. 149–164, hier S. 163. 1442 Habermas, J.: Die postnationale Konstellation, Frankfurt a. M. 62013, S. 254. 1443 Vgl. a. a. O., S. 243. Erste Überlegungen von mir zu diesem Themenkomplex finden sich hier: Knaup, M.: Natürlich »natürlich«? Zur Frage der Umgestaltung und Neuschöpfung des Natürli­ chen, in: Langthaler, R. / Hofer, M. (Hrsg.): Wiener Jahrbuch für Philosophie XLVII/ 2015: Naturphilosophie. Traditionelle Themen und gegenwärtige Herausforderungen, Wien 2016, S. 100–116; Redefining and Recreating the Natural, in: Hoffmann, T. S. / Kaneva, V. (Hrsg.): Philosophy and Life Sciences in Dialogue. Theoretical and Prac­ tical Questions, Sofia 2019, S. 86–101. Ich greife in der vorliegenden Arbeit auch auf Überlegungen und Formulierungen dieser Vorstudie zurück.

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Person zu ihrer leiblichen Existenz«1444. Die Perspektive des Herge­ stelltseins bestimme den eigenen Leib, die eigene Existenz.1445 »Die Teilnehmerperspektive des ›erlebten Lebens‹ stößt in dem Maße, wie sich dem eugenisch manipulierten Heranwachsenden sein Leib auch als etwas Gemachtes enthüllt, mit der vergegenständlichenden Perspektive von Herstellern und Bastlern zusammen. Denn mit der Entscheidung über sein genetisches Programm haben die Eltern Absichten verbunden, die sich später in Erwartungen an das Kind verwandeln, ohne jedoch dem Adressaten die Möglichkeit zu einer revidierenden Stellungnahme einzuräumen.«1446

Die Eltern entscheiden nach eigenen Vorstellungen. Sie tun dies – und hier würde Kant Habermas wohl zustimmen – »als verfügten sie über eine Sache«1447. Von einem Enhancement bzw. eugenischen Eingriff 1444 Habermas, J.: Das Gewachsene und das Gemachte, in: Schöne-Seifert, B. / Talbot, D. (Hrsg.): Enhancement. Die ethische Debatte, Paderborn 2009, S. 297–304, hier S. 299. Kristian Köchy hinterfragt die Habermas‘sche Gegenüberstellung von Gewachsenem und Gemachtem. Dessen Annahme, durch die Möglichkeiten der Gentechnologie würden sich diese Kategorien entdifferenzieren, bringe nach Köchy durchaus ein Cha­ rakteristikum der Gentechnologie zum Ausdruck. Es sei jedoch nicht nur für die Gen­ technologie der Fall, sondern es sei ein Merkmal neuzeitlicher (Natur-)Wissenschaft insgesamt, in das Gewachsene einzugreifen. »Die kategoriale Unterscheidung, die Aristoteles zwischen physis und techne vornimmt, und die mit dieser Disjunktion ein­ hergehende Anerkennung eines selbst bestimmten Status der Natur, ist spätestens seit den Ansätzen eines Galilei, Boyle oder Bacon gefallen. Seit dieser Zeit«, so Köchy, »gilt der aktive Eingriff als einzig legitimes Verfahren der Naturwissenschaft.« (Köchy, K.: Gentechnische Manipulation und die Naturwüchsigkeit des Menschen: Bemer­ kungen zu Habermas, in: Sorgner, S. L. / Birx, H. J. / Knoepffler, N. (Hrsg.): Eugenik und die Zukunft, Freiburg / München 2006, S. 71–84, hier S. 73 f.) Köchy bestreitet nicht, dass durch die Gentechnologie eine neue Qualität erreicht sei. Es sei nämlich der Technik möglich, »auch das elementare Niveau des Lebensgeschehens [zu ergrei­ fen].« (A. a. O., S. 74) Das war zuvor nicht im Bereich des Möglichen. Wenn man wirklich etwas Neues schaffen und nicht in etwas bereits Vorhandenes eingreifen könnte, so Köchy, sei wirklich ein radikaler Schritt naturwissenschaftlicher Forschung vollzogen. Habermas gehe es jedoch bei den Kategorien von Gewachsenem und Gemachtem nicht um die Synthetische Biologie, sondern »nur« um die Veränderung natürlicher Strukturen durch die Gentechnologie. 1445 Vgl. Habermas, J.: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik, Frankfurt a. M. 2001, S. 94. 1446 Habermas, J.: Das Gewachsene und das Gemachte, in: Schöne-Seifert, B. / Talbot, D. (Hrsg.): Enhancement. Die ethische Debatte, Paderborn 2009, S. 297–304, hier S. 302. 1447 Ebd.

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hebe sich, so Habermas, deutlich ein gentherapeutisches Verfahren ab, das darauf abzielt, das Leben zu erhalten und Übel zu vermei­ den.1448 Entscheidend sei hier die Absicht, heilend und vorsorgend zu wirken. Man dürfe annehmen, dass dies im Sinne des Heranwach­ senden sei. Die Einstellung des Arztes, der gentherapeutisch tätig werde, unterscheide sich daher von der eines technischen Enhance­ ment-Eingriffs: »Der intervenierende Humangenetiker braucht den Embryo, solange er sich als Arzt versteht, nicht in der objektivieren­ den Einstellung des Technikers wie eine Sache zu betrachten, die her­ gestellt, repariert oder in eine erwünschte Richtung gelenkt wird.«1449 Wer geheilt worden sei, könne sich zu einem solchen Einsatz in ganz anderer Weise verhalten als zu einer Tätigkeit, bei der klar sei, dass dabei die eigene genetische Konstitution festgelegt worden sei.1450 Befürworter von Enhancement und eugenischen Eingriffen müssten sich, so Habermas, fragen lassen, »ob unter Umständen die wahrgenommene Entdifferenzierung zwischen Gewachsenem und Gemachtem, Subjektivem und Objektivem Folgen haben könnte für die autonome Lebensführung und das moralische Selbstverständnis der programmierten Person selbst.«1451 Bisher war es so, dass die genetische Ausstattung dem Zugriff anderer Menschen entzogen blieb. Die Ebenbürtigkeit der Menschen sei nun aber in Gefahr. Es komme zu einer Verfügung, »die wie es bisher schien, nur über Sachen, nicht über Personen ausgeübt werden dürfte«1452. Folgen für das Beziehungsleben, insbesondere das Eltern-Kind-Verhältnis, seien zu erwarten. »Mit der irreversiblen Entscheidung, die eine Person über die ›natür­ liche‹ Ausstattung einer anderen Person trifft, entsteht eine bisher Vgl. ebd. A. a. O., S. 303. 1450 Ebd. 1451 A. a. O., S. 303 f. 1452 Habermas, J.: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik, Frankfurt a. M. 2001, S. 30. Nicht selten wird Gegnern der liberalen Eugenik entgegenhalten, sie würden einen genetischen Determinismus verteidigen. Nach Habermas greift diese Kritik jedoch nicht, denn »unabhängig davon, wie weit eine genetische Programmierung die Eigen­ schaften, Dispositionen und Fähigkeiten der künftigen Person tatsächlich festlegt und deren Verhalten tatsächlich determiniert, könnte die spätere Kenntnis des Umstandes in die Selbstbeziehung der betroffenen Person zu ihrer leiblichen und seelischen Exis­ tenz eingreifen« (A. a. O., S. 94). 1448

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unbekannte interpersonale Beziehung. Diese Beziehung neuen Typs verletzt unser moralisches Empfinden, weil sie in den rechtlich insti­ tutionalisierten Anerkennungsverhältnissen moderner Gesellschaften einen Fremdkörper bildet.«1453

Die Kinder können ihren als Designer tätig gewordenen Eltern stets den Vorwurf machen, eigenmächtig über die unerwünschte Konstitu­ tion entschieden zu haben. Anselm Winfried Müller beurteilt diesen Aspekt anders. Eine Klage über die eigene genetische Ausstattung hält er nicht für statthaft, da der entsprechende Mensch ohne diese Konstitution nun mal nicht existieren würde.1454 »Insoweit die Freiheit eines Menschen durch absichtsvolle Programmierung seiner geneti­ schen Anlagen eingeschränkt ist, insoweit ist sie auch, und prinzipiell im selben Umfang, durch zufällige Entstehung solcher Anlagen einge­ schränkt,“ so Müller. Doch: Es besteht moralisch ein Unterschied, ob etwas durch das Handeln und Eingreifen des Menschen oder durch natürliche Vorgänge zustande kommt. Woher wissen Eltern eigent­ lich, welches die zu begrüßenden und welches die zu verhindernden Eigenschaften wären? Warum wollen sie eher eine genetische Mitgift für diese und nicht für jene Begabung?1455 Es seien, so Habermas, stets A. a. O., S. 30. Ähnlich Thomas Sören Hoffmann: Auch wenn wir es im Fall eines Embryos, der in vitro entstanden ist, oder einer totipotenten Stammzelle mit einem poietischen Ergeb­ nis zu tun haben, haben wir hier doch darüber hinaus eine leiblich strukturierte Frei­ heitsinstanz vor uns. Embryonen sind »auch wenn sie durch Fortpflanzungstechniken mitkonstruiert sind, als Embryonen doch eben auch Instanzen menschlicher Leiblich­ keit, insoweit physische Instanzen von Selbstzwecklichkeit, die sich praktisch zu ent­ falten hat, und darin in reflexiver Identität auf den Handelnden, sein praktisches Selbstverständnis und eine im normativen Sinne menschlich sein wollende mensch­ liche Praxis bezogen. Embryonen sind […] in eine personale – die eigene wie fremde – Biographien einbeziehende Perspektive gestellt, sind insoweit auf Selbstbestim­ mung hin angelegte Freiheitsinstanzen, die nicht aufgehoben werden können, ohne damit die personale Identität des Aufhebenden selbst zu tangieren.« (Hoffmann, T. S.: Der manipulierbare Embryo: Philosophische Grundaspekte einer aktuellen Debatte, in: Joerden, J. C. / Schur, J. C. (Hrsg.): Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 28: Themenschwerpunkt: Zur Manipulation des Embryos – On Manipulation of the Human Embryo, mitherausgegeben von M. Rothhaar, Berlin 2020, S. 13–26, hier S. 22). 1454 Vgl. Müller, A. W.: »Lasst uns Menschen machen!« Ansprüche der Gentechnik – Einspruch der Vernunft, Stuttgart 2004, S. 79. 1455 »Diese Situation wirft die Frage auf, ob wir überhaupt die Verantwortung für die Verteilung von natürlichen Ressourcen und damit für den Spielraum übernehmen können, innerhalb dessen eine andere Person einmal ihre eigene Lebenskonzeption 1453

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subjektive Vorlieben und Standards am Werke. Auch wenn es darum gehe, Kindern eine höhere Intelligenz mitgeben zu wollen, sei das, was gut gemeint ist, nicht automatisch gut. Es sei gar nicht zu sehen, wie sich diese Begabung auf den Charakter des Menschen auswirkt. »Eltern können nicht einmal wissen, ob eine leichtere körperliche Behinderung ihrem Kinde nicht am Ende zum Vorteil ausschlagen wird«1456, so Habermas. Kritisiert wird Habermas u. a. von Birnbacher1457 und Ger­ hardt.1458 Birnbacher unterscheidet im Bereich des Natürlichen zwi­ schen einer genetischen Natürlichkeit und einer qualitativen Natür­ lichkeit. Erstere bezieht sich auf die Entstehungsweise. Was einen natürlichen Ursprung habe, sei demnach natürlich im genetischen Sinne. Mit der Redeweise von einer qualitativen Natürlichkeit ist die Weise gemeint, in der sich uns etwas darbietet, die aktuelle Beschaffenheit von etwas. Es kann charakterisiert werden als das, »was sich von dem in der gewordenen Natur Vorzufindenden nicht unterscheidet«1459. Die Frage, wie etwas entstanden ist, wird bei der Zuordnung von etwas als qualitativ natürlich ausgeblendet. Die Entstehungsweise ist hier nicht von Belang. Was ebenso auch auf natürlichem Wege entstehen könnte, gilt ihm als natürlich im qua­ litativen Sinne. Hinsichtlich der Entstehungsweise kann etwas ein Machwerk sein, sich einer technischen Herstellung verdanken, aber dennoch im qualitativen Sinne natürlich sein. Während andererseits, das, was einen natürlichen Ursprung habe, nicht im qualitativen Sinne künstlich sein könne.1460 Klonen sei, so beteuert Birnbacher, »alles andere als moralisch unschuldig«1461. Er will allerdings kein Problem für die Freiheit eines Klonmenschen sehen, wenn seine genetische Konstitution vorherbe­ entwickeln und verfolgen will.« (Habermas, J.: Replik auf Einwände, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 50 (2002) 2, S. 283–298, hier S. 288). 1456 A. a. O., S. 289. 1457 Vgl. Birnbacher, D.: Natürlichkeit, Berlin 2006, S. 138–190. 1458 Vgl. Gerhardt, V.: Die angeborene Würde des Menschen. Aufsätze zur Biopolitik, Berlin 2004, S. 61–82. 1459 Birnbacher, D.: Natürlichkeit, Berlin 2006, S. 8. 1460 Auf diese Unterscheidung wird im Anschluss an Birnbacher auch im Kontext der Synthetischen Biologie zurückgegriffen. Ein künstlicher Organismus sei in qualitati­ ver Hinsicht »natürlich«. Vgl. Boldt, J. / Müller, O. / Maio, G.: Synthetische Biologie. Eine ethisch-philosophische Analyse, Bern: Bundesamt für Bauten und Logistik 2009, S. 57–59. 1461 Birnbacher, D.: Natürlichkeit, Berlin 2006, S. 157.

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stimmt wurde. Problematisch für dessen Freiheit könne allenfalls eine genetisch bedingte Erkrankung sein, deren Wahrscheinlichkeit bei der Kopie nicht größer sei als beim Original. »Die Tatsache, dass das Genom des Klonkindes nicht das Ergebnis einer Zufallsverteilung, sondern einer gezielten Wahl ist, berechtigt jedenfalls nicht zu der Annahme, dass das Klonkind in seiner Entwicklung weniger frei ist als ein normal gezeugtes Kind.«1462 Auch bei Kindern, die durch Geschlechtsverkehr von Mann und Frau entstanden seien, würde, so Birnbacher, das Genom feststehen, und damit nicht eine Bedrohung für die Freiheit darstellen.1463 Volker Gerhardt meint, dass die Unterscheidung von Gewach­ senem und Gemachtem gerade im Hinblick auf Ethik und Politik, Technik und Kultur von erheblicher Bedeutung sei.1464 Letztlich aber sei diese Unterscheidung jedoch »so richtig wie überflüssig«1465. Er holt weit aus, erzählt von seinem Vater, der im Krieg geblieben ist, von der Flucht seiner Mutter von Frankfurt / Oder in den Westen. »Es wäre mir trotz Krieg und Flucht und einer vaterlosen Jugend nie in den Sinn gekommen, meinen Eltern einen Vorwurf daraus zu machen, dass sie mich ausgerechnet in diesem Tiefpunkt der Weltgeschichte ins Leben schicken mussten«, so der Philosoph in der Rückschau auf sein eigenes Leben. Was er mit dieser persönlichen Geschichte bezweckt, wird schon kurz darauf klar: »Die Wirklichkeit, wie immer man sie findet und was immer man aus ihr macht, hat man notwendig gerade so anzunehmen, wie sie angetroffen wird.«1466 So liegt dann auch folgende Schlussfolgerung für ihn nahe: Insofern er selbst nie seinen Eltern einen Vorwurf für die äußeren Umstände gemacht habe, erwartet er dies auch nicht von gentechnisch veränderten Kindern an ihre Eltern. »Gemacht« zu sein im Unterschied zum Gewachsensein, tauge nicht zum »Kainszeichen der menschlichen Zukunft«1467, wobei Gerhardt hier übersieht, dass das Kainsmal biblisch gesehen ein Schutzzeichen ist, kein Schandmal, wie er zu unterstellen scheint. Gerhardt meint, sich auf Kant berufen zu können, um für einen A. a. O., S. 158. Vgl. ebd. 1464 Vgl. Gerhardt, V.: Die Stellung des Menschen in der Natur, in: Gerhardt, V. / Schulte, D. (Hrsg.): Faszination Leben, München 2010, S. 163–182, hier S. 167. 1465 Gerhardt, V.: Die angeborene Würde des Menschen. Aufsätze zur Biopolitik, Berlin 2004, S. 55. 1466 A. a. O., S. 62 f. 1467 A. a. O., S. 63. 1462

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Vorrang des Machens gegenüber dem Gegebenen zu argumentieren: Kant habe, so Gerhardt, »das ›Gegebene‹ der Sinnesdaten vom ›Gemachten‹ des eigenen Verstandes [unterschieden]«1468. Es sei damit offenkundig, dass sich bei Kant das »Interesse der Theorie auf das ›Gemachte‹ zu konzentrieren hat. Denn im ›Gemachten‹ ist der Mensch seinen eigenen Leistungen auf der Spur.«1469 Doch Kant wäre wohl recht erstaunt, den Verstand als ein Machwerk des Menschen zu begreifen und einen Rangstreit zwischen Verstand und Sinnlichkeit anzunehmen.1470 In Erinnerung zu rufen ist auch, was wir im vorausgehenden Kapitel im Anschluss an Kant zum Zeugen dargelegt haben. Die Position von Habermas stehe in Widerspruch zu dessen Diskurstheorie und sei ein Verrat an der »Präferenz für das Machen«, am »Primat der Praxis«.1471 Gerhardt macht gegenüber Habermas den Gedanken stark, dass jedes Leben von Neuem anfange. »In allem, was der Mensch als das eigene Leben begreift, geht er von eben dem aus, was immer er als gegeben und geworden vorgefunden hat. Und was er nicht ändern kann, nimmt er auch auf Dauer hin.«1472 Ein Kind würde einen genchirurgischen Eingriff seiner Eltern ebenso als gegebene Realität anerkennen wie auch die sonstige elterliche Mitgift: sei es der Beruf des Vaters oder dessen Tod im Krieg.1473 Und dies bedeute, dass beispielsweise eben auch ein gentechnisch veränderter Mensch – im Extremfall gar ein geklonter Mensch – ein autonomer Autor seines eigenen Lebens sein könne.1474 Gerhardt hält den Einwand Habermas‘, dass durch die beschriebenen gentechnischen Eingriffe das Beziehungsgefüge zwischen den Generationen aus dem Lot gerate, für übertrieben. »Die angeblich vor uns liegende Wasserscheide zwischen

A. a. O., S. 67. Ebd. 1470 Vgl. Kant, I.: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: AA Bd. VII, S. 196. 1471 Vgl. Gerhardt, V.: Die angeborene Würde des Menschen. Aufsätze zur Biopolitik, Berlin 2004, S. 68 f. 1472 A. a. O., S. 74. 1473 Vgl. a. a. O., S. 75. 1474 Er vertritt eine naturalistische Position: Seit der Vorgang der Kernverschmelzung »im Labor verfügbar ist, können wir ihn nur noch als ein physisches Geschehen bezeichnen – und als nichts sonst.« (Gerhardt, V.: Der Mensch wird geboren. Kleine Apologie der Geburt, München 2001, S. 24) Man darf jedoch annehmen, dass Zeugung – auch da, wo sie nicht erwünscht ist – eine soziale Dimension hat. 1468

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dem Gewordenen und Gemachten werden wir also auch nach einem weiteren steilen Anstieg der Geschichte nicht finden.«1475 Mir scheint, dass die Kritik nicht wirklich die Stoßrichtung der Habermas’schen Argumentation erfasst hat. Dass dessen Aus­ führungen im Widerspruch zur Diskurstheorie stünden, sehe ich nicht, insofern Habermas vielmehr befürchtet, dass durch derartige gentechnologische Eingriffe Menschen sich eben nicht mehr einfach als Freie und Gleiche in der Gesellschaft begreifen können. Sie seien nicht ebenbürtig, sondern in ihrem Sosein Gemachte, die sich den subjektiven Präferenzen anderer verdanken.1476 Er wendet sich gegen eine totale Instrumentalisierung des Menschen, die den Verlust von Freiheit bedeutet.1477 Anders gewendet: Ihr Anfang stehe schon unter Gerhardt, V.: Die angeborene Würde des Menschen. Aufsätze zur Biopolitik, Berlin 2004, S. 77. 1476 Insofern greift auch nicht die Kritik von Anselm Winfried Müller, der Habermas vorhält, er interessiere sich lediglich für die Perspektive der Erzeugten. Vgl. Müller, A. W.: »Lasst uns Menschen machen!« Ansprüche der Gentechnik – Einspruch der Ver­ nunft, Stuttgart 2004, S. 77, 81. 1477 Das Argument der Instrumentalisierung hält D. Birnbacher nicht für überzeu­ gend: Schließlich würde diese erst einsetzen, wenn das Kind das Licht der Welt erblickt hat. (Vgl. Birnbacher, D.: Natürlichkeit, Berlin 2006, S. 158 f.) Nicht nur Kant wäre wohl irritiert über diesen Hinweis, da doch schon der Wunsch zur genetischen Ver­ doppelung eines Menschen aus einer bestimmten Absicht der Instrumentalisierung erfolgt. Einen Menschen wegen bestimmter genetischer Eigenschaften herzustellen, steht konträr dazu, dass jeder von uns stets ein Zweck und nie nur Mittel sein soll. Und an anderer Stelle argumentiert derselbe Autor, dass er es gut nachvollziehen könne, »ein Kind zu einem bestimmten Zweck zu zeugen, z. B. zu dem Zweck, einem bereits vorhandenen Kind ein Geschwister zu verschaffen, für das eigene Alter zu vorzusorgen, einen Erben für das Familienunternehmen zu haben, gesellschaftlichen Erwartungen zu genügen oder die Einsamkeit zu zweit zu bekämpfen.« (Birnbacher, D.: Ansichten eines Klons, in: Ach, J. S. / Brudermüller, G. / Runtenberg, C. (Hrsg.): Hello Dolly? Über das Klonen, Frankfurt a. M. 1998, S. 46–71, hier S. 63) Doch bei genauerer Betrachtung hinkt der Vergleich, geht es den Erzeugern doch ganz genau um dieses spezielle Kind, nicht grundsätzlich um den Wunsch, ein Kind zu bekommen. In einem Interview der deutschen Wochenzeitung Die Zeit mit dem britischen Philo­ sophen Philip Kitcher zum Thema Klonen sprach sich dieser für die Klonierung von Menschen aus, wenn damit Leben gerettet werden könne: »Etwa wenn der einzige Sohn einer Familie eine Nierentransplantation benötigt und weder Eltern noch Ver­ wandte in der Lage sind, diese zu spenden. Ein geklonter Bruder könnte in so einem Fall zum Lebensretter werden.« (Kitcher, P.: Jeden gibt’s nur einmal, in: Die Zeit, 15. Jan. 1998, S. 34) Die Interessen liegen hier offen zu Tage. Doch es stellen sich gleich mehrere Fragen: 1.) Warum ist es kein Problem, einen Menschen einzig und allein herzustellen um bestimmter Eigenschaften / Organe willen? 2.) Wer garantiert, dass der geklonte Junge nicht auch einmal erkrankt und eine neue Niere benötigt? Und wie 1475

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anderen Vorzeichen als bei anderen Menschen. Die normative Gleich­ stellung von Rechtspersonen würde ausgehebelt.1478 »Der Heranwachsende läuft Gefahr, gleichzeitig mit dem Bewusstsein der Kontingenz seiner naturwüchsigen Herkunft eine mentale Voraus­ setzung für den Zugang zu einem Status einzubüßen, durch den er als Rechtsperson erst in den tatsächlichen Genuss gleicher Rechte gelangen kann.«1479

Den Unterschied zwischen Gewachsenem und Gemachtem einebnen zu wollen, würde nach Habermas bedeuten, irreversibel in die Ent­ wicklung eines Menschen einzugreifen.1480 Es ist m.E. nicht ganz ausgeschlossen, dass sich das Verhältnis der Eltern zu ihrem Nachwuchs in eine ähnliche Richtung entwickeln kann, als wäre es ganz normal empfangen worden, wobei freilich nicht nur eine Änderung der Haltung der Designer-Eltern unerlässlich ist. »Gerade wenn sich das Kind nicht positiv entwickelt, die Erwartungen der Eltern enttäuscht, zu einer Belastung wird oder sogar etwa von Geburt auf behindert ist, kann es zu einem Frustrationserlebnis werden. Falls die die I.v.F.-Entscheidung prägende Einstellung beibe­ halten wird, so wird sie gerade dann ihre Inhumanität entwickeln: Denn so ein Kind hatten die Eltern ja wohl nicht gewünscht.«1481 An Liebe als Form der Anerkennung ist hier zu erinnern. Und Liebe ist nicht an Bedingungen geknüpft. Michael J. Sandel kommen­ tiert in diesem Sinne die Habermas’sche Argumentation: »Das Bestreben, Kontingenz zu eliminieren und das Geheimnis der Geburt zu beherrschen, erniedrigt die entwerfenden Eltern und ver­ dirbt die Elternschaft als soziale Praxis, die vom Standard vorausset­ geht es dann weiter? Wird der Klon dann auch geklont? Und 3.) Muss der geklonte Junge gar nicht um Erlaubnis gebeten werden, dass er der Organtransplantation zustimmt? 1478 Vgl. Habermas, J.: Die postnationale Konstellation, Frankfurt a. M. 62013, S. 256. 1479 Habermas, J.: Replik auf Einwände, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 50 (2002) 2, S. 283–298, hier S. 285. 1480 Im Hinblick auf Kant ist es allerdings befremdlich, dass Habermas einerseits von einer »Würde des menschlichen Lebens« spricht (womit er den sich entwickelnden Embryo meint) und andererseits von der Würde eines geborenen Menschen. (Haber­ mas, J.: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik, Frankfurt a. M. 2001, S. 67). 1481 Rhonheimer, M.: Zur Begründung sittlicher Normen aus der Natur, in: Bonelli, J. (Hrsg.): Der Mensch als Mitte und Maßstab der Medizin, Wien 1992, S. 49–94, hier S. 86.

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zungsloser Liebe bestimmt ist – unabhängig von der Wirkung auf die Autonomie des Kindes.«1482

Problematisch sei seiner Ansicht nach vor allem eine Haltung des Hochmuts, die er bei Eltern von designten Kindern ausmachen will: nämlich der »Anspruch, das Geheimnis des Geborenwerdens zu beherrschen«1483. Durch eine solche Haltung des Machens und Gestaltens von Kindern ginge eine Haltung der Ehrfurcht, der Demut, verloren. Diese Haltung ist, so wiederum Habermas, »für ein zivili­ siertes Zusammenleben unverzichtbar«1484. In deutschen wie internationalen bioethischen Publikationen wird im Rahmen der bioethischen Auseinandersetzung mit Über­ legungen zu Enhancement auch die Frage der Gerechtigkeit ins Spiel gebracht. Es wird beispielsweise darüber diskutiert, dass es wünschenswert wäre, wenn es eine »genetische Chancengleichheit« für alle Menschen geben würde. Befürchtet werden auch Konflikte zwischen optimierten und nicht-optimierten Menschen: Es könnte zu handfesten Problemen zwischen optimierten und nicht-optimier­ ten Menschen kommen.1485 Und auch in einem anderen Sinne sei eine Zwei-Klassen-Gesellschaft zu befürchten. Bestimmte Enhance­ ment-Möglichkeiten stünden nur reichen und eh schon privilegierten Menschen offen.1486 Hier kann sich auch das einstellen, was Peter Koslowski einmal das »Restaurantrechnungs-Problem« genannt hat:1487 Beschließt eine Gruppe, die Rechnung für ein Essen gemeinsam zu begleichen, so sei 1482 Sandel, M. J.: Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas, Berlin 22008, S. 102 f. 1483 A. a. O., S. 68. 1484 Habermas, J.: Vorwort, in: Sandel, M. J.: Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas, Berlin 2 2008, S. 7–14, hier S. 12. 1485 Vgl. z. B. Grunwald, A.: Technikzukünfte als Medium von Zukunftsdebatten und Technikgestaltung. Karlsruher Studien Technik und Kultur, Karlsruhe 2012, S. 150. Ähnlich die Position von B. Gesang: »Mit Verbesserten konkurrieren kann ein unver­ änderter Mensch vielleicht überhaupt nicht mehr.« (Gesang, B.: Perfektionierung des Menschen, Berlin / New York 2007, S. 9). 1486 »So würde zu den heute bekannten Ungleichheiten eine weitere drastische hin­ zukommen und dort, wo eine große Gerechtigkeitslücke entstünde, wäre der soziale Frieden erneut in Gefahr.« (Gesang, B.: Enhancement und Gerechtigkeit, in: Sorgner, S. L. / Birx, H. J. / Knoepffler, N. (Hrsg.): Eugenik und Zukunft, Freiburg / München 2006, S. 127–149, hier S. 133). 1487 Vgl. Koslowski, P.: Die Ordnung der Wirtschaft. Studien zur Praktischen Philoso­ phie und Politischen Ökonomie, Tübingen 1994, S. 375.

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der Konsum der einzelnen regelmäßig höher als bei einer Einzelrech­ nung. Vergleichbar sei dies, so Koslowski, auch mit medizinischen Leistungen in einem Pflichtversicherungssystem. Unschwer lässt sich dieser Gedanke auf Enhancement-Angebote übertragen. Wäre eine Gesellschaft, in der es keine Erbkrankheiten gäbe und alle sich derselben Begabungen erfreuten, tatsächlich gerechter? »[A]uch wenn die Natur die einen mit den größten Talenten ausstat­ tet, während sie die anderen behindert oder eingeschränkt zur Welt kommen läßt, so verfährt doch die Natur nicht ›willkürlich‹. Das könnte sie nur, wenn ihr alternativ bewußte Zuteilungsregeln zur Verfügung stünden.«1488

Ein »Egalisierungstotalitarismus« scheint jedenfalls keine Option zu sein. Das Prinzip der Chancengleichheit darf nicht überdehnt werden.1489 Gegenüber anderen Menschen strahlt die neu gewonnene Fähigkeit nur so lange heller, als jene nicht auch zum Enhancement greifen. Wenn also alle sich einem Enhancement unterziehen, schwin­ det der Wettbewerbsvorteil und es muss nach neuen Möglichkeiten gesucht werden, perfekter zu werden. Wenn jeder vom Enhancement Gebrauch macht, sind dann letztlich doch wieder alle auf einer Stufe angelangt.

8.3.5 Vertauschte Köpfe? Kopftransplantationen als Beispiel für ein besonders extremes Enhancement Im Folgenden möchte ich noch die Frage möglicher Kopftransplan­ tationen als Beispiel für ein ins Extreme weitergedachtes Enhance­ ment diskutieren.1490 In der Philosophie erfreuen sich Gedankenexperimente einer großen Beliebtheit. Beispielsweise wird darüber nachgedacht, welche 1488 Busche, H.: Verteilungsgerechtigkeit, in: Hoffmann, T. S. (Hrsg.): Grundbegriffe des Praktischen, Freiburg / München 2014, S. 48–71, hier S. 65. 1489 Vgl. a. a. O., S. 65 f. 1490 Ich greife hierzu inhaltlich auf verschiedene Vorträge über S. Canavero und die Frage nach einer möglichen Kopftransplantation zurück, die ich am 17. Mai 2016 im Rahmen der 15th Lošinj Days of Bioethics in Mali Lošinj, am 23. Juni 2016 in Tutzing im Rahmen der von der FernUniversität in Hagen organisierten Bioethik-Sommer­ schule sowie am 19. Oktober 2017 an der FernUniversität in Hagen im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Forum philosophicum« gehalten habe.

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Folgen es hätte, wenn peu à peu ein Körperglied durch ein anderes ersetzt würde: z. B. ein Finger oder auch ein Arm durch einen anderen Finger oder Arm. Ich wäre wohl noch derselbe wie gestern, wenn ich einen anderen Arm bekäme. Wir können diese Überlegungen unschwer fortsetzen: Welche Folgen würde es denn mit sich brin­ gen, würde mein Leib ausgetauscht? Wo wäre dann mein Ich? Im »ursprünglichen« oder doch im »neuen« Leib? Und in noch etwas anderer Form, wenn darüber nachgedacht wird, dass eine Hirnhemi­ sphäre in einen anderen Leib verpflanzt würde, der selbst kein Gehirn mehr hat. Die andere Hirnhemisphäre würde im ursprünglichen Leib verbleiben. Wäre damit zu rechnen, dass sich die menschliche Person unter diesen Bedingungen verdoppeln würde?1491 Der Titel dieses Kapitels spielt an auf eine lesenswerte Erzählung aus dem Jahr 1940: Die vertauschten Köpfe. Eine indische Legende des deutschen Literatur-Nobelpreisträgers Thomas Mann.1492 Uns begegnen hier zwei Männer, Nanda und Schridaman, die ein Problem haben: Sie werden nicht nur enthauptet – was schon schlimm genug wäre. Schridamans Frau hat nach dem Eingreifen einer Göttin die Köpfe auf die falschen Körper gesetzt. Nun steht die Frage im Raum, mit wem wir es da eigentlich zu tun haben.1493 Hans Jonas bringt es schon richtig auf den Punkt: 1491 Derartige Gedankenexperimente finden sich sowohl in Publikationen, die sich der analytischen als auch der phänomenologischen Tradition verbunden wissen. Stell­ vertretend sei verwiesen auf: Runggaldier, E.: Die Fortdauer (Identität) des Ich durch die Zeit, in: Rager, G. (Hrsg.): Ich und mein Gehirn. Persönliches Erleben, verantwort­ liches Handeln und objektive Wissenschaft, Freiburg 2000, S. 161–200, hier S. 184 ff.; Röttgers, K.: »Oben ohne« – Denken ohne Kopf, in: Röttgers, K. / SchmitzEmans, M. (Hrsg.): Oben und Unten: Oberflächen und Tiefen, Reihe Philosophischliterarische Reflexionen, Bd. 15, Essen 2013, S. 19–29; Seifert, J.: Das Leib-Seele-Prob­ lem und die gegenwärtige philosophische Diskussion. Eine systematisch-kritische Analyse, Darmstadt 21989, S. 241 ff. 1492 Mann, T.: Die vertauschten Köpfe. Eine indische Legende, in: Mann, T.: Die Erzäh­ lungen, Frankfurt a. M. 2005, S. 744–837. 1493 Wenn wir Planungen für morgen anstellen oder uns an vergangene Tage erin­ nern, gehen wir davon aus, dass wir dieselben bleiben. Wir sind morgen keine anderen und wenn wir in einem Fotoalbum blättern, tun wir dies in der Überzeugung, dass wir es sind, die im ersten Urlaub am Meer mit den Eltern eine Sandburg gebaut haben und nicht eine andere Person – auch wenn sich äußerlich einige Veränderungen eingestellt haben mögen, und wir uns selbst vielleicht gar nicht mehr an diesen Urlaub erinnern können. Die Aussagen zum Zeitpunkt t1 und zum Zeitpunkt t2 beziehen sich auf dieselbe Person. Philosophen nennen diese Vorstellung, dass wir über die Zeit hinweg mit uns selbst identisch bleiben, diachrone Identität.

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»Die ›Machbarkeiten‹, die zumal die neuartigsten und ehrgeizigsten dieser Ziele und Wege anbieten und die besonders den Anfang und das Ende unseres Daseins […] betreffen, rühren an letzte Fragen unseres Menschseins: an den Begriff des ›bonum humanum‹, den Sinn von Leben und Tod, die Würde der Person, die Integrität des Menschenbildes (religiös: der ›imago dei‹).«1494

An Aktualität hat diese Frage nicht zuletzt durch die medienwirksa­ men Auftritte des italienischen Mediziners Sergio Canavero gewon­ nen, der beabsichtigt, in absehbarer Zeit eine Kopftransplantation durchführen zu wollen. Im Rahmen einer Konferenz der American Academy of Neurological and Orthopaedic Surgeons in Annapolis im Jahr 2014 hat er seine Pläne vorgestellt.1495 Das mediale Interesse an dieser Meldung war – wie zu erwarten – groß, wohl auch, weil hier ein Tabu angetastet wird. »If society doesn’t want it, I won’t do it. But if people don’t want it, in the US or Europe, that doesn’t mean it won’t be done somewhere else«1496, wie ihn der Guardian zitiert. Präsentiert wurde der Öffentlichkeit auch schon ein Patient, der bereit wäre, seinen Kopf transplantieren zu lassen. Er leidet an Spinaler Muskelatrophie, einer nicht heilbaren Erkrankung namens Werdnig-Hoffmann-Krankheit. Es kommt dabei zum Absterben der Nervenzellen im Rückenmark. Viele seiner Muskeln kann er nicht bewegen und die, die er noch bewegen kann, bilden sich zurück. Er wird immer schwächer, sitzt im Rollstuhl und kann kaum noch etwas heben. Die Operation sollte urspünglich bis spätestens 2017 aller wahrscheinlichkeit nach in China durchgeführt werden. Die chinesischen Gesundheitsbehörden haben im November 2017 eine Kopftransplantation untersagt.

1494 Jonas, H.: Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frank­ furt a. M. 1987, S. 12. 1495 Siehe hierzu seine beiden Texte: Canavero, S.: HEAVEN: The head anastomosis venture Project outline for the first human head transplantation with spinal linkage (GEMINI), in: Surgical Neurology International 2013; 4 (Suppl 1), S. 335–342; Cana­ vero, S.: The »Gemini« spinal cord fusion protocol: Reloaded, in: Surgical Neurology International 2015; 6: 18. (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4322 377/). 1496 Zit. nach. Sample, I.: First full body transplant is two years away, surgeon claims, in: The Guardian, 25. Febr. 2015. http://www.theguardian.com/society/2015/feb/2 5/first-full-body-transplant-two-years-away-surgeon-claim (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022).

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Schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts wurden in der medi­ zinischen Forschung Experimente durchgeführt, die Gehirne von Kaninchen und Hunden zu entnehmen und die Funktionen außerhalb des tierischen Körpers aufrecht zu erhalten. Im Jahr 1950 transplan­ tierte der russische Wissenschaftler Vladimir Demikhov den Kopf und das Vorderteil eines Welpen auf das Genick eines anderen Hundes. Die Operation schien geglückt: Beide Köpfe bellten und fraßen. Das war dem US-amerikanischen Forscher Charles Guthrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei seinen Experimenten, einen Hundekopf auf einen anderen Hund zu operieren, noch nicht gelungen. »The arteries were grafted together such that the blood of the intact dog flowed through the head of the decapitated dog and then back into the intact dog’s neck, where it proceeded to the brain and back into circulation.«1497 Nach 23 Tagen verendete die zweiköpfige Kreatur. Im Frühjahr 1970 wurde erstmals der Kopf eines Rhesusäffchens auf den Körper eines anderen Äffchens gesetzt.1498 Die Nervenbahnen hatte man bei diesen Eingriffen nicht miteinander verbunden. Das stellte sich schnell als ein Problem heraus. Das Äffchen konnte sich nämlich nicht bewegen. Und man musste auf eine künstliche Beatmung des Tieres zurückgreifen. Der Affe überlebte die Interven­ tion acht Tage.1499 Durchgeführt wurden diese Experimente durch den US-amerikanischen Neurochirurgen Robert J. White, der an die Arbeiten von Demikhov anknüpfen konnte und auf den sich Canavero auch bezieht.1500 Rückblickend auf seine Experimente hält White, der sogar in die Päpstliche Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde, fest: »What has been accomplished in the animal model – prolonged hypothermic preservation and cephalic transplantation, is fully accom­ plishable in the human sphere. Whether such dramatic procedures will ever be justified in the human area must wait not only upon the continued advance of medical science but more appropriately the moral and social justification of such procedural undertakings.«1501 Canavero, S.: Head Transplantation and the Quest for Immortality, Warschau 2014, S. 99. 1498 Vgl. a. a. O., S. 19. 1499 Vgl. Canavero, S.: HEAVEN: The head anastomosis venture Project outline for the first human head transplantation with spinal linkage (GEMINI), in: Surgical Neu­ rology International 2013; 4 (Suppl 1), S. 335–342, hier S. 335. 1500 Vgl. a. a. O., hier S. 335. 1501 Ebd. 1497

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In China ist dem Neurochirurgen Ren Xiaoping im Jahr 2013 die Transplantation bei Mäusen geglückt, woran Canavero anknüpfen möchte. Doch von Xiaopings Labormäuschen hat keines einen Tag lang überlebt und ist nach zehn Stunden verendet. Bei den Tieren konnte das Rückenmark nicht miteinander vereint werden. Canavero würde zunächst den Körper eines Hirntoten und den seines Patienten runterkühlen. So sollte es seiner Ansicht nach gelin­ gen, ein Zellsterben durch Sauerstoffmangel aufzuhalten. Mögliche Hirnschäden, die durch einen Mangel an Sauerstoff auftreten, will Canavero durch Senkung der Temperatur des Schädels von 37 Grad auf 12 bis 15 Grad verhindern. »Mammals can be sustained without blood flow for 1 hour at most when cooled to the accepted safe lower limit of 12–15 0C. At a temperature of 15 0C, the cerebral metabolic rate in man is 10 % of normal.«1502 Es gibt jedoch die begründete Annahme, dass das Gehirn auf­ grund des Sauerstoffmangels Schaden nehmen könnte. Ein Schlagan­ fall oder auch der Tod wären eine nicht unwahrscheinliche Folge. Mit starken Abwehrreaktionen des Körpers gegenüber dem Kopf ist zudem zu rechnen, sollte die Operation gelingen. Dieses Problem ist auch aus dem Bereich der Organtransplantation bekannt. Man begegnet ihm medikamentös. Es ist demnach nicht ganz von der Hand zu weisen, dass dieses Problem prinzipiell lösbar ist. Wie die Durchblutung des Kopfes gewährleistet und anschlie­ ßend beide Blutkreisläufe zusammengefügt werden können, stellt eine Hürde dar. Auch die Durchtrennung der Wirbelsäule ist ein gro­ ßes Problem, und wie später die Kontrolle der Gliedmaßen erfolgen soll, ist nicht zu sehen. Aus medizinischer Sicht ist es eine Heraus­ forderung, wie die unterbrochenen Nerven des Rückenmarks wieder miteinander in Verbindung gebracht werden.1503 Das bestreitet auch Canavero nicht: »The greatest technical hurdle to such endeavor is of course the reconnection of the donor (D)›s and the recipient (R)›s spinal cords.«1504

A. a. O., S. 336. Vgl. Stier, M.: Ethische Probleme in der Neuromedizin. Identität und Autonomie in Forschung, Diagnostik und Therapie, Frankfurt a. M. / New York 2006, S. 305. 1504 Canavero, S.: HEAVEN: The head anastomosis venture Project outline for the first human head transplantation with spinal linkage (GEMINI), in: Surgical Neurology International 2013; 4 (Suppl 1), S. 335–342, hier S. 335. 1502

1503

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Es liegt nahe, davon auszugehen, dass der Patient – eben auf­ grund einer Trennung im Rückenmark – bewegungsunfähig sein wird. Wie die Affen aus dem Forschungslabor von Robert J. White. Für todkranke Patienten fiele das seiner Ansicht nach nicht weiter ins Gewicht.1505 Richard Borgens vom Center for Paralysis Research at Purdue University in Indiana (USA), gibt in Richtung Canavero Folgendes zu bedenken: »There is no evidence that the connectivity of cord and brain would lead to useful sentient or motor function following head transplantation.«1506 Damit nach der Kopftransplantation doch Bewegungen wieder möglich sein können, müssten laut Canavero wenigstens zehn bis zwanzig Prozent der Nervenfasern miteinander verbunden werden. Er beabsichtigt, das Rückenmark so wenig wie möglich zu verletzen und spricht von einer Flüssigkeit namens Polyethylenglykol (PEG),1507 die das Nervengewebe miteinander verbinden und verwachsen lassen soll. »It is based on the concept of biological fusion, which occurs both naturally (e.g., in myoblasts) and artificially (e.g. hybridoma cells): Up to 10 % of severed axons in some invertebrates can undergo spon­ taneous fusion with their separate distal segments.«1508 In einem Tierexperiment mit querschnittsgelähmten Ratten konnte im Jahr 2014 gezeigt werden, dass es gelingen kann, Ner­ venfasern wieder zum Wachsen anzuregen. Gleichwohl sind eben jene Nervenfasern nicht wieder zusammengewachsen. »The axon growth effect was already visible at 1 week post-treatment, grew in time steadily and was long-lasting: the rats recovered physiologic locomotion.«1509 Es gibt in methodischer Hinsicht deutliche Gren­ zen: »Eine Wunderflüssigkeit ist PEG keineswegs. Sie lässt nicht 1505 White, R.: Body Politics. Interview with R. J. White, in: New Scientist 164 (1999), S. 48–51. 1506 Zit. nach Sample, I.: First full body transplant is two years away, surgeon claims, in: The Guardian, 25. Febr. 2015. http://www.theguardian.com/society/2015/feb/2 5/first-full-body-transplant-two-years-away-surgeon-claim (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 1507 Hierzu: Borgens, R. B.: Cellular engineering: molecular repair of membranes to rescue cells of the damaged nervous system, in: Neurosurgery 2001, Aug, 49 (2), S. 370–378. 1508 Canavero, S.: The »Gemini« spinal cord fusion protocol: Reloaded, in: Surgical Neurology International 2015; 6: 18. (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/P MC4322377/). 1509 Canavero, S.: Head Transplantation and the Quest for Immortality, Warschau 2014, S. 41.

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zusammenwachsen, was zusammengehört. Ließen sich durchtrennte Nervenstränge so einfach reparieren, könnten Querschnittsgelähmte nach chirurgischen Eingriffen wieder gehen.«1510 Hans Werner Müller vom Neurologischen Institut der Universität Düsseldorf, auf den die PEG-Methode zurückgeht,1511 beurteilt das Vorhaben Canaveros äußerst skeptisch.1512 Was Canavero plane, sei eine »Fehlinterpretation« dessen, was PEG tatsächlich zu leisten vermöge. PEG sei ein Füllstoff, eine »Matrix«, um Lücken zu füllen. Es sei für ihn nicht vorstellbar, dass mit PEG das Rückenmark zusam­ menwachse. Befremdlich ist in dem Zusammenhang, dass der Turiner die Enden des Rückenmarks mit Spaghetti vergleicht. Die Wirkung von PEG sei dem Wasser vergleichbar, das trockene Spaghetti zusammen­ kleben lasse. »You cut the spaghetto, you apply PEG, and boom.«1513 Doch wir haben es hier nicht mit einem Kochrezept zu tun, sondern einem geplanten operativen Eingriff, der 36 Stunden dauern, ca. 10 Millionen Euro und das Leben von zwei Menschen kosten kann. »We must go to the moon to test who we are, to test our skills, to test our confidence, to see what kind of men we are«1514, so Canavero hoffnungsvoll. Verwirklicht werden soll das Projekt in China oder den USA. Canavero will neue Welten erschließen, Grenzen hinter sich lassen. So verweist er etwa auf die Anfänge der Raumfahrt, um die Größe seines Projektes hervorzuheben.1515 Auffällig ist zunächst einmal die Vorstellung, es sei ausschließ­ lich das Bewusstsein, das uns als Person ausmacht. Ende des 17. Jahrhunderts findet sich diese Ansicht bei John Locke. Dieser kann 1510 Gerhard, S.: Kopf kühlen, abtrennen, auf neuen Hals setzen, in: Zeit Online, 17. Juni 2015. http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2015-06/transplantation-k opf-arzt-canavero (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 1511 Siehe hierzu auch: Estrada, V. / Brazda, N. / Schmitz, C. / Heller, S. / Blazyca, H. / Martini, R. / Müller, H. W.: Long-lasting significant functional improvement in chronic sever spinal cord injury following scar resection and polyethylene glycole implantation, in: Neurobiology of Disease 67 (2014), S. 165–179. 1512 Mir gegenüber in einem sehr freundlichen Telefongespräch und einer Mail vom 09. Mai 2016. 1513 Zit. nach: Thielman, S.: Surgeon promising first human head transplant makes pitch to US doctors, in: The Guardian, 13. Juni 2015, https://www.theguardian.com/s cience/2015/jun/13/neurosurgeon-first-head-transplant-america-sergio-canavero (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 1514 Ebd. 1515 Vgl. z. B. Canavero, S.: Head Transplantation and the Quest for Immortality, Warschau 2014, S. 5.

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sich vorstellen, dass tagsüber eine andere Person im Leib wirksam ist als in der Nacht. Locke trägt in Buch II seines insgesamt vier Bücher umfassenden Werkes Versuch über den menschlichen Verstand folgende Überlegung vor: »Nehmen wir an, wir könnten uns zwei Arten von Bewußtsein vorstel­ len, die selbständig und unübertragbar in ein und demselben Körper wirksam wären – die eine immer bei Tage, die andere bei Nacht –, und umgekehrt ein und dasselbe Bewußtsein, das abwechselnd auf zwei verschiedene Körper einwirkte. Ich frage im ersten Fall: Sind nicht der Mensch bei Tag und der Mensch bei Nacht ebensogut zwei selbständige Personen, wie es Sokrates und Plato sind? Im zweiten Fall frage ich: Handelt es sich dabei nicht um eine Person in zwei verschiedenen Körpern, ebenso wie ein Mensch in zwei verschiedenen Anzügen derselbe Mensch ist? Es liegt klar zutage, daß die Identität der Person in jedem Fall durch das Bewußtsein bestimmt werden würde.«1516

Für Locke ist klar, dass es das Bewusstsein ist, das die Identität der menschlichen Person bestimmt.1517 Und so kommt er dann zu folgendem Schluss: In einem Körper könnten demnach sogar zwei verschiedene Personen sein: tagsüber Person 1 und in der Nacht Person 2. Beide wechseln sich ab. Weiterhin könnte, so Locke, ein und dasselbe Bewusstsein in verschiedenen Körpern aktiv sein, diesen wie ein Kleidungsstück ablegen. Aber damit nicht genug. Seine Überlegungen gehen noch weiter: »Nehmen wir an, die Seele eines Fürsten, die das Bewußtsein des vergangenen Lebens des Fürsten mit sich führt, träte in den Körper eines Schusters ein und beseelte ihn, sobald dessen eigene Seele ihn verlassen hätte. Jeder sieht ein, daß der Schuster dann dieselbe Person sein würde wie der Fürst und nur für dessen Taten verantwortlich. Aber wer«1518,

so Locke weiter, »würde sagen, es sei ein und derselbe Mensch? Auch der Körper gehört also mit zum Begriff des Menschen. Ja, ich vermute, in diesem Fall würde der Körper nach jedermanns Ansicht über den Menschen entscheiden. Denn die Seele würde trotz all ihrer fürstlichen Gedanken Locke, J.: Über den menschlichen Verstand, Hamburg 32000, Bd. II: Über die Ideen, Kap. 27, S. 432 f. 1517 Vgl. beispielsweise a. a. O., S. 421, 424, 429, 433. 1518 A. a. O., S. 426. 1516

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keinen andern Menschen aus ihm machen. Vielmehr würde jener Mensch für jeden, derselbe Schuster sein. Ich weiß wohl, daß man im gewöhnlichen Sprachgebrauch unter ›derselben Person‹ und ›dem­ selben Menschen‹ ein und dasselbe Ding versteht. Freilich steht es jedem allezeit frei, zu sprechen, wie es ihm gefällt; er kann beliebige artikulierte Laute auf beliebige Ideen anwenden und sie verändern, so oft es ihm paßt. Wenn wir jedoch untersuchen wollen, was die Identität eines Geistes, eines Menschen oder einer Person begründet, müssen wir in unserem Verstand die Ideen von Geist, Mensch und Person festlegen.«1519

Für Locke sind Menschen nicht qua ihres Menschseins auch Perso­ nen.1520 Für ihn gibt es (erstmalig in der Philosophiegeschichte!) nur eine kontingente Verknüpfung zwischen Menschsein und Personsein: und zwar dann, wenn jene Eigenschaften, die für ihn unser Person­ sein1521 ausmachen – wie Überlegung, Erinnerung, Bewusstsein – zu den Eigenschaften des Menschseins hinzukommen. Der Körper zeigt an, dass wir es mit einem Menschen zu tun haben. Ob jemand darüber hinaus auch eine Person ist und wer jemand ist, hängt für ihn am Bewusstsein. »[A]lles, was das Bewußtsein gegenwärtiger und vergangener Handlungen besitzt, [ist] dieselbe Person.«1522 Das heißt: Wer sich nicht mehr an seine Vergangenheit erinnern kann, hört auf, diese Person zu sein. Wenn Locke von der Seele spricht, hat dies einen völlig anderen Klang und eine andere Bedeutung als noch bei Aristoteles, welcher die Frage, wie menschliche Identität begründet werden kann, mit einem Verweis auf eine substanzielle Form beantwortet. Im Hinblick auf Sita, Schridamans Frau, wäre dies ihr ganz individuelles Menschsein. Sie ist demnach mit sich selbst identisch, wenn sie dieselbe substanzielle Form hat. Zwar mag die Zeit nicht spurlos an einem Menschen vor­ übergehen, doch bleibt er derselbe. Die ἐντελέχεια integriert auch jene Phasen, in denen wir nicht, noch nicht oder nicht mehr zu bewussten Erinnerungen in der Lage sind. Nach Aristoteles ist der Mensch weder seine Seele noch sein Leib. Er ist auch nicht sein Gehirn, sondern die Seinseinheit aus Leib und Seele. Der Seele ist es wesentlich, mit dem Leib vereint zu sein. Der Mensch ist durchseelter Leib.

1519 1520 1521 1522

A. a. O., S. 427. Vgl. a. a. O., S. 416. Vgl. a. a. O., S. 419. A. a. O., S. 427.

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Locke geht es nicht um die vitalen Vermögen der Seele. Aus Gewohnheit denken die Leute, es sei der Schuster, selbst wenn er ganz fürstliche Gedanken hat. Letztlich ist der Leib – wie die zitierten Über­ legungen zeigen – irrelevant, wenn es um die Frage geht, wer jemand ist. In diesen Spuren bewegen sich auch die Befürworter der geplan­ ten Kopftransplantation, was deutlich wird, wenn wir den Begriff »Schuster« durch »hirntoten Patienten« und den Begriff »Fürst« durch »Kopf-OP-Patient« ersetzen. Es stellt sich die Frage, was geschehen soll, wenn bei eben diesem operativen Eingriff die Kontinuität des Bewusstseins verloren gehen sollte. Was darf mit Patienten gemacht werden, wenn die Einheit des Bewusstseins zerstört ist? Und mit wem haben wir es dann zu tun? Dem Kopftransplantationsprojekt liegt eine enzephalozentrische Sicht zugrunde: Das Gehirn wird hiernach als hinreichendes Krite­ rium für Bewusstsein und damit Personsein angesehen. »[Y]ou ARE the neurons«1523, wie Canavero sagt und damit einen mereologischen Fehlschluss begeht, d. h. einen wichtigen und notwendigen Teilas­ pekt des Menschen – wie eben die neuronale Ebene – mit dem Menschen in seiner lebendigen Ganzheit vertauscht. Ein notwendiges und wichtiges Organ wird mit der ganzen Person identifiziert. Das Organ unter unserer Schädeldecke soll hiernach personales Leben ausmachen. Doch was macht uns so sicher, dass ausschließlich das transplantierte Gehirn die Identität des Menschen ausmacht, der eine solche Kopftransplantation überlebt? Sind wir denn selbst nur ein Neuronenflimmern? »Die Gehirnwäsche war offenbar nur in ihrer übertragenen Bedeutung gefürchtet und nicht in ihrer medizini­ schen Konkretion.«1524 Warum sollte also nur dem Gehirn die Aufgabe zufallen, das Personsein des Patienten, der bereit wäre für die OP, zu konstituieren. Und warum soll denn nun ausschließlich das Zerebrum mit dem Leben und der Identität des vormaligen Patienten verbunden sein? Wenn wir im Alltag von Personen sprechen, meinen wir damit gerade nicht eines unserer Organe, auch nicht unser Gehirn. Gemeint sind lebendige Menschen.

1523 Canavero, S.: Immortal. Why Consciousness is NOT in the brain, Breslau 2014, S. 16. 1524 Linke, D. B.: Hirnverpflanzung. Die erste Unsterblichkeit auf Erden, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 51.

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Im Hinblick auf die Vorstellung, dass Bewusstsein etwas sei, dass wir »in unseren Köpfen« verorten könnten, gilt es sich bewusst zu machen, dass alle »Bewusstseinstätigkeiten wie Wahrnehmen, Den­ ken oder Handeln […] keineswegs nur auf neuronalen Aktivierungen im Neocortex, sondern ebenso auf den kontinuierlichen vitalen und affektiven Regulationsprozessen [beruhen], die den ganzen Orga­ nismus und seinen aktuellen Zustand einbeziehen.«1525 Bewusste und freilich auch unbewusste Lebensäußerungen – die zahlenmäßig überwiegen – sind nicht einfach ein »Kopfprodukt«, sondern gehören zur lebendigen organismischen Ganzheit, gehören zu unserer Leben­ digkeit. Unsere bewussten mentalen Lebensäußerungen haben ein lebendiges Zusammenspiel von Gehirn und Gesamtorganismus zur Voraussetzung.1526 Eine wichtige Rolle kommt dabei Hirnstrukturen zu, die tief im Inneren unseres Gehirns zu finden sind. Diese stehen in Beziehung mit dem gesamten Organismus, der in seine Umwelt eingebettet ist. Gehirn und Organismus stehen in einer lebendigen Wechselbeziehung. »Nerven übertragen Impulse vom Gehirn zum Körper und vom Körper zum Gehirn. Das Gehirn und der Körper sind auch chemisch miteinander verbunden, durch Stoffe wie Hormone, die in der Blutbahn zirkulieren.«1527 Wenn der Leib unser Medium der Welterschließung ist, wie wir im ersten Gang argumentiert haben, sich unsere Biographie in ihn einschreibt, dann könnte es gerade auch der integral erhaltene Leib sein, dem hier eine besondere Bedeutung zukommt. Ganz selbstver­ ständlich ist hier jedoch die Rede davon, dass ein Kopf transplantiert werden soll. Aber es soll doch ein Leib, bei dem die Lebensfunktionen noch erhalten sind, für diese Operation herangezogen werden. Inso­ fern könnte man auch von einer Leib-Transplantation sprechen. Der Leib des Spenders wird jedoch als Maschine gesehen, bei der nicht nur wie bei einer Organtransplantation defekte Teile durch andere ersetzt werden können, sondern die als Ganze ausgetauscht und von der Biographie und Identität der Person abgeschnitten werden kann. Das Gehirn wird dem Körper dualistisch gegenübergestellt bzw. Menschsein physikalistisch auf Gehirn und Geist verkürzt. Fuchs, T.: Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische Essays, BadenBaden 2008, S. 360. 1526 Vgl. Damasio, A.: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, Berlin 62006, S. 107. 1527 A. a. O., S. 391. 1525

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Das deutsche Transplantationsgesetz (TPG), das am 1. Dez. 1997 in Kraft getreten ist, regelt die »Spende, Entnahme, Vermittlung und Übertragung von Organen und Geweben«. Von der Spende eines ganzen Leibes ist dort nicht die Rede. Ganz ähnlich sieht es in den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus. Die Spende des gesamten Leibes wäre jedenfalls etwas anderes als eine Multi-Organspende. Dass in diesem Fall eine umfängliche Aufklärung und Zustimmung hierzu vorausgehen müsste, wäre eine ethische Minimalanforderung. Eine solche Operation und Transplan­ tation wäre nicht nur auf jeden Fall zu unterlassen, wenn der Spender diese ausdrücklich abgelehnt hat. Er müsste, akzeptiert man das Hirntodkriterium, diese Form der Spende – und nicht nur die Spende einzelner Organe – mindestens ausdrücklich befürwortet haben. Damit überhaupt die Spende eines Leibes in Frage kommt, ist seinerseits eine Hirntodfeststellung nötig. Doch die Hirntoddefini­ tion ist keineswegs unproblematisch, was eigentlich schon deutlich werden müsste, wenn Canavero davon spricht, dass der Spender ein »brain dead patient«1528 ist: Wie kann jemand tot und gleichzeitig Patient sein? Bei einem Hirntoten sind, so der Hinweis von Detlef B. Linke, mindestens noch 97 Prozent des Organismus lebendig.1529 Seine Organe und sein Leib sind gerade deshalb von Interesse, da der Organismus noch nicht zusammengebrochen ist und noch Lebensäußerungen zeigt. Er ist noch lebendig. Hatte die Harvard Medical School im Jahr 1968 noch erklärt, Patienten im Coma depassé seien keine Patienten mehr, sondern Tote,1530 was dann grünes Licht für die Organtransplantation bedeu­ tete, stellten einige Wissenschaftler eben jener Harvard Medical School im Jahre 2008, d. h. 40 Jahre nach ihrer Umdefinition des Todes, klar, dass Hirntote nicht tot sind – was dennoch für sie kein Canavero, S.: HEAVEN: The head anastomosis venture Project outline for the first human head transplantation with spinal linkage (GEMINI), in: Surgical Neurology International 2013; 4 (Suppl 1), S. 335–342, hier S. 340. 1529 Vgl. Linke, D. B.: Hirnverpflanzung. Die erste Unsterblichkeit auf Erden, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 120. 1530 Zeitnah geben die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie (Kommission für Reani­ mation und Organtransplantation der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1968) und andere Fachgesellschaften in Deutschland vergleichbare Stellungnahmen und Beur­ teilungen heraus. Hierzu: Wiesemann, C.: Notwendigkeit und Kontingenz. Zur Geschichte der ersten Hirntod-Definition der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie von 1968, in: Schlich, T. / Wiesemann, C. (Hrsg.): Hirntod. Zur Kulturgeschichte der Todes­ feststellung, Frankfurt a. M. 2001, S. 209–235. 1528

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hinreichender Grund zu sein scheint, auf die Organentnahme zu verzichten. In diesem Zusammenhang war dann auch vom »justified killing«, einem gerechtfertigten Töten also, die Rede. Auch für Peter Singer, der bekanntlich sehr kontroverse Diskussionen ausgelöst hat, ist klar, »dass Hirntote nicht wirklich tot sind«1531. Jedenfalls muss die Hirntoddiagnose, die ja Voraussetzung für eine Organentnahme wie auch für die Spende eines ganzen Leibes ist, aus naturwissenschaftli­ chen und philosophischen Gründen als äußerst fragwürdig angesehen werden.1532 Solange noch nicht sämtliche Vitalfunktionen erloschen sind, haben wir es noch mit einem Leib zu tun. Und diesen gilt es zu achten. In der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten schreibt Kant, dass die Hergabe eines Organs, die eigene Verstümmelung, ein »partiale[r] Selbstmor[d]«1533 sei. Die Hergabe des eigenen Leibes wäre so gesehen erst recht abzulehnen. Und wenn Hans Jonas davon spricht, dass es »kein absoluteres Recht […] als das eines Menschen auf seinen Körper [gibt] und […] niemand das Recht auf ein Organ eines anderen Menschen«1534 hat, dann wäre dies im Hinblick auf die Planungen von Sergio Canavero so umzuformulieren: Es gibt kein absoluteres Recht als das eines Menschen auf seinen Körper und niemand hat das Recht auf den Leib oder ein Organ dieses Leibes eines anderen Menschen. Ich kann nicht wollen, dass eine solche Spende zu einem allgemeinen Gesetz werden kann. Der zu transplantierende Leib wird ausschließlich in objektivierender, instrumentalisierender und ausbeuterischer Hinsicht betrachtet, was ethisch verwerflich ist. Doch lassen wir uns einmal auf den Gedanken ein, das Vorhaben gelinge und der Patient hätte einen neuen Leib. Was wäre, wenn er sich nicht an die Situation vor der Operation erinnern könnte? Wäre er dann eine ganz andere, möglicherweise sogar neue Person? Und wenn er sich erinnert, hat er dann die Gedächtnisinhalte des Patienten, Singer, P.: Leben und Tod: der Zusammenbruch der traditionellen Ethik, Erlangen 1998, S. 40. 1532 Hierzu: Knaup, M.: Leib und Seele oder mind and brain? Zu einem Paradigmen­ wechsel im Menschenbild der Moderne, Freiburg 2012, S. 462–480. 1533 Kant, I.: Die Metaphysik der Sitten, in: AA Bd. VI, S. 423. 1534 Jonas, H.: Erinnerungen, Frankfurt a. M. 2005, S. 317. »Der Patient muss unbedingt sicher sein, dass sein Arzt nicht sein Henker wird und keine Definition ihn ermächtigt, es je zu werden. Sein Recht zu dieser Sicherheit ist unbedingt; und ebenso unbedingt ist sein Recht auf seinen eigenen Leib mit allen seinen Organen. Unbedingte Achtung dieses Rechts verletzt keines anderen Recht. Denn niemand hat ein Recht auf eines anderen Leib.« (Jonas, H.: Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1987, S. 223). 1531

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der sich zur Operation bereit erklärt, »geerbt«? Versicherungen oder Altersversorgungen müssten dann als eine Form von Nächstenliebe angesehen werden oder gar unsinnig sein, wenn keine Identität mehr besteht. Wenn nun ein Kind gezeugt würde, wer wäre eigentlich der Vater? Der Besitzer des Kopfes oder aber derjenige, der die Spermien liefert? Schließlich werden – wie es in unserer indischen Legende heißt – mit dem Leib »Kinder gezeugt und nicht mit dem Kopf«1535. Canavero macht sich darüber Gedanken und schreibt: Das Erzeug­ nis »would carry the mind of the recipient but, should he or she reproduce, the offspring would carry the genetic inheritance of the donor«1536. Canavero, der die Erzählung von Thomas Mann kennt und sich auch darauf bezieht,1537 sieht die Frage der Vaterschaft so, dass man die Person, die im Kopf wie ein kleiner Homunkulus sitzt, küssen kann, während man gleichzeitig mit dem Leib einer anderen Person schläft und Kinder zeugt. Wird hier ein Toter Vater? Wer wäre unterhaltspflichtig: derjenige, der seinen Kopf verloren hat oder der ihn noch hat? Und wie kann das Recht des Kindes auf seinen Vater hier Anwendung finden? Welche Einstellungen und Verhaltensweisen schon die Aussicht auf ein Spenderorgan annehmen kann, auf das niemand einen Anspruch hat, zeigt folgender Bericht ganz gut: »Eine meiner Patientinnen träumte, sie stürze sich auf einen nackten Menschen, beiße ihm mit großen Zähnen den Brustkorb auf und fresse sein Herz und seine Lunge mit einer nie gekannten Gier. Sie war beschämt und irritiert, als sie erwachte, und trotzdem fiel ihr eine Entsprechung in ihrem Alltag ein, die ihr Probleme machte und die ich nicht selten auch bei anderen Patienten erlebt habe: der intensive Wunsch, ein anderer möge für sie sterben und ihr seine Organe überlassen. Manchmal schien es so, als treibe die Not, die Angst vor dem Sterben die Patienten rigoros dazu, sich den Tod eines anderen Menschen zu wünschen, um selber leben zu können. Bei Glatteis und Nebel lauschten sie angespannt auf die Sirene des Unfallwagens oder 1535 Mann, T.: Die vertauschten Köpfe. Eine indische Legende, in: Mann, T.: Die Erzäh­ lungen, Frankfurt a. M. 2005, S. 802. 1536 Canavero, S.: HEAVEN: The head anastomosis venture Project outline for the first human head transplantation with spinal linkage (GEMINI), in: Surgical Neurology International 2013; 4 (Suppl 1), S. 335–342, hier S. 342. 1537 Ebd.

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auf das Geräusch des landenden Hubschraubers. Sie warteten auf sol­ ches Wetter und sie schämten sich, sobald es ihnen bewusst wurde.«1538

Wie muss man sich den Wunsch auf den Leib eines anderen Menschen vorstellen? Wie gestaltet sich die ganz alltägliche Begegnung mit anderen Menschen? Wird dann der Wunsch beherrschend werden, sich den Leib des Gegenübers anzueignen, weshalb man ihm zwar den Ausfall des Gehirns, aber ansonsten weiterhin Gesundheit, sportliche Fitness und gute Ernährung wünscht? Welche psychischen Folgen kann ein solcher Eingriff mit sich bringen, wenn Leib und Kopf eigentlich nicht zusammengehören? Wie ist damit umzugehen? Mit welchen psychischen Folgen wäre ein so tiefgreifender Eingriff möglicherweise verbunden? Von Menschen, die ein Organ empfangen haben, wissen wir, dass sie oft lang brau­ chen, um das fremde Organ akzeptieren zu können. Und auch an die Angehörigen ist hier zu denken: Wie mag es einem Menschen gehen, der weiß, dass der Leib eines geliebten Menschen »umfunktioniert« wurde? Ist der geliebte Mensch vielleicht doch noch nicht tot? Welche Bedeutung hat hier noch das Prinzip des Nichtschadens? Ist das Risiko des Todes genügend im Blick? Geht es dem Arzt darum, Maß zu halten? Oder schwingt hier nicht die Vorstellung mit, alles sei machbar, jede Krankheit sei besiegbar, Behinderung überwindbar? Wird der (möglicherweise leicht beeinflussbare?) Patient nur zu subjektäußeren Zwecken benutzt? Ist die Zustimmung des Patienten tatsächlich Ausdruck von Freiheit und Autonomie, oder ist er viel­ leicht in den Strudel eines technischen Machbarkeitsdenkens geraten? Ist ihm die eigene Person ein Machwerk, ein Experimentierfeld? Stimmen bei all dem also wirklich Nutzen und Risiken? Zweifel stellen sich ein, ob hierbei der Heilauftrag und therapeutische Absich­ ten, ja eine gesteigerte Lebensqualität der Patienten im Vordergrund stehen oder nicht doch eine immer stärker werdende Einstellung, das Leben zu kontrollieren und zu regulieren. Ob die Kopftransplantation daher überhaupt als »Therapie« verstanden werden kann, ist fraglich. Vielmehr erscheint sie als Ausdruck eines Denkens, die Natur zu überlisten, zu überwinden. Ökonomische Interessen spielen eine nicht unbedeutende Rolle. Wellendorf, E.: Der Zweck heiligt die Mittel? Erfahrungen aus der Arbeit mit Organempfängern, in: Hoff, J. / in der Schmitten, J. (Hrsg.): Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und »Hirntod«-Kriterium, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 385– 396, hier S. 390.

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Es spielen wohl auch pseudo-religiöse Vorstellungen eine Rolle, sich so ein Stück unsterblich zu machen: Dies ist nicht nur im Hinblick auf den zu erwartenden Ruhm gemeint, sondern auch ganz konkret hinsichtlich eines Wunsches, dass es über dieses endliche Leben hinaus doch weitergehen möge, die Hoffnung, nicht dem Tod anheim zu fallen und diesen zu überdauern: Der gebrechliche, kranke, alternde, kontingente Leib soll durch einen neuen ausge­ tauscht werden; der Tod soll überlistet, neue Jugend gegeben werden. Versprochen wird hier eine rein immanente Form von Heil(-ung) und Erlösung. Es verwundert jedenfalls nicht, dass Canavero sein Projekt HEAVEN (für: HEad Anatomosis VENture) genannt hat.1539 Das Gehirn soll den Leib loswerden, um auf einem anderen Corpus dann weiter zu leben. Der Corpus ist austauschbar, ersetzbar.1540 Eine neue Form von Leibfeindlichkeit, ein irritierender Wunsch nach Per­ fektion.1541 Und es geht wohl auch darum, einen neuen Menschen zu machen, nach Unsterblichkeit zu streben.1542 Dass es Canavero um diese Frage geht, unterstreicht beispielsweise auch sein Buchtitel Head Transplantation and the Quest for Immortality. Er weist auf die Überlegungen aus dem Bereich des Posthumanismus hin, in absehbarer Zukunft den menschlichen Leib durch ein technisches Konstrukt, einen Roboter, einen Computer zu ersetzen. Für Canavero ist klar: »The goal is the same: life extension.«1543 Und auch: »[T]he race is on to make you physically immortal.«1544 Nicht nur des kranken Canavero, S.: HEAVEN: The head anastomosis venture Project outline for the first human head transplantation with spinal linkage (GEMINI), in: Surgical Neurology International 2013; 4 (Suppl 1), S. 335–342. 1540 Siehe hierzu auch: Linke, D. B.: Hirnverpflanzung. Die erste Unsterblichkeit auf Erden, Reinbek bei Hamburg 1996. 1541 Auf jenes Phänomen macht bereits G. Anders aufmerksam. Verschiedene Opti­ mierungsstrategien des Menschen führt er auf eine bedenkliche Leibfeindlichkeit zurück: »Wer weiß, ob nicht in der Bereitschaft, mit der sich die Urenkel der Puritaner heute dieser masochistischen Verwandlung des Leibes widmen, ihnen selbst unkennt­ lich gewordene und in der heutigen Welt auf andere Weise nicht mehr verwendbare Energie-Reste puritanischen Leibhasses heimlich mit am Werke sind.« (Anders, G.: Die Antiquiertheit des Menschen 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 51980, S. 38). 1542 Vgl. Linke, D. B.: Hirnverpflanzung. Die erste Unsterblichkeit auf Erden, Reinbek bei Hamburg 1996. 1543 Canavero, S.: Head Transplantation and the Quest for Immortality, Warschau 2014, S. 10. 1544 Ebd. 1539

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8.3 Enhancement: Die Natur durch Technik verbessern?

und behinderten Leibes könnte man sich durch die Kopftransplan­ tation entledigen. Auch der alternde Leib könne so ausgetauscht werden.1545 Fragen, die den Bereich von Transsexualität und Gender berühren,1546 könnten ebenfalls so gelöst werden: Der Kopf bekommt einen neuen Leib. Seine geplante Kopftransplantation begreift Cana­ vero als extreme Form von Hirn-Enhancement.1547 Robert J. White erwähnt in einem Interview mit der Süddeut­ schen Zeitung, dass er Dr. Frankenstein besonders möge.1548 Die Fran­ kenstein-Erzählung würde nun zu einer wissenschaftlichen Realität des 21. Jahrhunderts.1549 Und auch Canavero kommt immer wieder auf die Frankenstein-Erzählung von Mary Shelley zu sprechen. So sind beispielsweise in seinem Buch Head Transplantation and the Quest for Immortality den einzelnen Kapiteln immer wieder ausge­ wählte Zitate des im Jahr 1818 erstmals veröffentlichten Romans vorangestellt.1550 Er zitiert beispielsweise auch folgende Stelle aus Shelleys Roman: »Life and death appeared to me ideal bounds, which I should first break through, and pour a torrent of light into our dark world. A new species would bless me as its creator and source; many happy and excellent natures would owe their being to me…«1551. Doch die Botschaft Viktor Frankensteins scheinen White und er überhört, den Roman möglicherweise gar nicht zu Ende gelesen zu haben, ist der Roman Shelleys doch eine deutliche Warnung vor einer entgrenzten Um eben jene Unsterblichkeit zu ermöglichen, verweist Canavero auch auf die Möglichkeiten der Klonierung: »When human cloning becomes efficient and expedi­ tious sometime in this century, you will have your head (along with your personality and memories) removed from your aging body and attached to your beheaded clone body.« (Ebd.) Ein potentieller Klon scheint für ihn nichts anderes als ein Organ- bzw. Leib-Austauschlager zu sein. Die Frage nach Selbstzwecklichkeit, Persönlichkeit und Würde des geklonten Menschen stellt sich für Canavero nicht. 1545 Vgl. a. a. O., S. 67, 73. 1546 Vgl. a. a. O., S. 99. 1547 Vgl. a. a. O., S. 95. 1548 White, R.: »Köpfe vertauschen«. Interview mit Robert J. White, in: Süddeutsche Zeitung, 25. Aug. 2000. 1549 S. Canavero nimmt auf R. White Bezug: Vgl. Canavero, S.: HEAVEN: The head anastomosis venture Project outline for the first human head transplantation with spinal linkage (GEMINI), in: Surgical Neurology International 2013; 4 (Suppl 1): S. 335–342, hier S. 335. 1550 Vgl. Canavero, S.: Head Transplantation and the Quest for Immortality, Warschau 2014, S. 5, 9, 43. 1551 Zit. nach: Canavero, S.: Head Transplantation and the Quest for Immortality, Warschau 2014, S. 9.

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8. Menschen »machen«

Vernunft und ihren tödlichen Konsequenzen. Die Erzählung Mary Shelleys sollte uns also vielmehr daran erinnern, die Konsequenzen unseres Handelns, Forschens und Erfindens in den Blick zu nehmen. Das Vorhaben, in Zukunft Kopftransplantationen durchzufüh­ ren, kann als Ausdruck eines entfesselten technischen Könnens interpretiert werden: keine (medizinisch-technische) Möglichkeit soll ungenutzt bleiben, Bedingtheiten nicht anerkannt werden. Es geht um ein Gespür dafür, wo Grenzen sind. Da, wo die Integrität des Men­ schenbildes auf dem Spiel steht, beginnt das Zuweit. Einer Lebenshal­ tung, alles Machbare auch machen zu wollen, wäre wohl entgegen zu setzen, die Endlichkeit des Lebens neu bedenken zu wollen. Mit Hans Jonas gesprochen: »Ehrfurcht und Schaudern sind wieder zu lernen, daß sie uns vor Irrwegen unserer Macht schützen.«1552

8.3.6 Fazit Im Kontext der Enhancement-Bestrebungen sind Ideen wirksam, die das Leben als Projekt verstehen, welches gemacht, gestaltet werden müsse.1553 Angewiesensein auf andere, Gebrechlichkeit wird unter diesen Vorzeichen als etwas verstanden, das so vermieden werden muss, wie der Teufel das Weihwasser meidet. Krankheit in diesem Sinne ist dann etwas, was als von Menschenhand abhängig vorgestellt wird. Es gilt sie vorherzusehen und zu bekämpfen. Zu ihr in ein gutes Verhältnis zu treten, ja sie anzunehmen, scheidet in dieser Perspektive aus.1554 Jonas, H.: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979, S. 392. 1553 Vgl. Sandel, M. J.: Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas, Berlin 22008, S. 48, 67; Maio, G.: Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin. Ein Lehrbuch, Stuttgart 2012, S. 332; Maio, G.: Medizin ohne Maß? Vom Diktat des Machbaren zu einer Ethik der Besonnenheit, Stuttgart 2014, S. 95; Maio, G.: Medizin und Menschenbild. Eine Kritik anthropolo­ gischer Leitbilder der modernen Medizin, in: Maio, G. / Clausen, J. / Müller, O. (Hrsg.): Mensch ohne Maß? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der biomedizinischen Ethik, Freiburg / München 2008, S. 215–229, bes. S. 222–225. 1554 Vgl. Maio, G.: Medizin und Menschenbild. Eine Kritik anthropologischer Leit­ bilder der modernen Medizin, in: Maio, G. / Clausen, J. / Müller, O. (Hrsg.): Mensch ohne Maß? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der biomedizini­ schen Ethik, Freiburg / München 2008, S. 215–229, hier S. 222. 1552

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8.4 Mensch-Maschine-Entgrenzungen: Über Cyborgs

Menschen sollten nicht, wie Cornelius Borck prägnant formu­ liert, zu »Lebensoptimierungssklaven ihrer selbst«1555 werden. Es gilt sich in Erinnerung zu rufen, dass es noch ganz andere Formen gibt, mit Leid, Hilflosigkeit und den existenziellen Nöten kranker Menschen umzugehen, als diesem ausschließlich technisch zu begegnen.1556 Leben ist nicht nur lebens- und liebenswert, wenn wir effizient das tun können, was wir wollen. Enhancement-Vorhaben sind an die Begrenztheit des Menschen zu erinnern. Sie wären daran zu erinnern, dass der Mensch nicht maßlos über seinen Leib verfügen kann. Wirkliche Annahme seiner selbst und Anerkennung des Ande­ ren kann nicht abhängig davon sein, ob erst einmal verschiedene Optimierungsprogramme durchlaufen werden. Annahme und Aner­ kennung müssen unbedingt gelten.

8.4 Mensch-Maschine-Entgrenzungen: Über Cyborgs 8.4.1 Mischwesen aus Mensch und Maschine Mensch-Maschine-Mischwesen begegnen uns in Literatur und Fil­ men, die in das Genre Science-Fiction fallen. Die Beispiele sind zahlreich. Sie changieren facettenreich zwischen Gewachsenem und Gemachtem. Denken Sie an den Film RoboCop aus dem Jahr 1987, der 2014 neu verfilmt wurde: Der Polizist Alex Murphy wird bei einem Diensteinsatz in gravierendem Umfang verletzt, weshalb sein Körper durch einen anderen ausgetauscht wird. Er zeichnet sich durch einen erstaunlichen Zuwachs an physischer Macht aus und soll als Cyborg 1555 Borck, C.: Schiffbruch auf dem Datenozean medizinischer Information. Die Prä­ zisionsmedizin der Zukunft, die Effizienz der modernen Medizin und das vergessene Können Heilkundiger, in: Ringkamp, D. / Wittwer, H. (Hrsg.): Was ist Medizin? Der Begriff der Medizin und seine ethischen Implikationen, Freiburg / München 2018, S. 57–77, hier S. 67. 1556 Zu diesem sensiblen Thema der Erweckung der Existenz durch Krankheit und Leiden sei verwiesen auf Jaspers, K.: Philosophie, Bd. II: Existenzerhellung, Berlin 1932, S. 230 ff.; Engelhardt, D. v.: Mit der Krankheit leben: Grundlagen und Perspektiven der Copingstrukturen des Patienten, Heidelberg 1986. Erinnert sei in dem Zusammenhang daran, dass im Mittelalter auch von einer »infir­ mitas salubris«, einer heilbringenden Krankheit, sowie einer »sanitas perniciosa«, also einer gefahrvollen Gesundheit, die Rede sein kann. Vgl. Engelhardt, von, D.: Krank­ heit, Schmerz und Lebenskunst. Eine Kulturgeschichte der Körpererfahrung, München 1999, S. 42.

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8. Menschen »machen«

Mensch und Technik verbinden, um Kriminelle besser bekämpfen zu können. Zu Bekanntheit haben es auch Darth Vader aus Star Wars und die Borg aus Star Trek gebracht. Aber nicht nur hier und in Filmen wie Blade Runner, sondern auch in der Medizin, wo künstliche Gliedmaßen, Herz- und Hirnschrittmacher, Implantate sowie Exound Endoprothesen zum Alltag gehören, und in der Bioethik ist von Cyborgs die Rede. In dem Begriff Cyborg steckt zum einen »cybernetic«, zum anderen »organism«. Gemeint ist damit ein Mensch-Maschinewesen, das in der Lage ist, sich selbst zu regulieren. Während ein Roboter aus­ schließlich aus nichtbiologischen Teilen besteht,1557 haben wir es bei einem Cyborg mit einem Mischwesen aus menschlichen organischen und technischen Anteilen zu tun. In Heidegger-Diktion: Das Gestell und das Gestellte sind verschmolzen. Kant hatte darüber nachgedacht, wie der Körper eines Außer­ irdischen beschaffen sein müsste, um in den Weiten des Alls zu überleben: anders als der unsrige, viel flüchtiger, wie er meint. »Das Verderben und der Tod können diesen trefflichen Geschöpfen nicht so viel, als uns niedrigen Naturen anhaben.«1558 Im 20. Jahrhundert werden erstmals Raketen in die Weiten des Alls geschickt und die Frage diskutiert, welche Leistungen der menschliche Körper erfüllen müsste, um optimal unter den neuen Bedingungen bestehen zu kön­ nen. Wie können die Funktionen menschlicher Organe ausgeweitet und hinsichtlich der neuen Bedingungen optimiert werden? Wie ist

Roboter (von tschechisch robota für Fronarbeit) werden heute als »Diener« des Menschen eingesetzt. Sie übernehmen verschiedene Tätigkeiten, die sonst der Mensch ausführen müsste. Besonders verbreitet sind Fabrikroboter. Ihre Tätigkeiten, auf die sie programmiert sind, vermögen Roboter heutzutage weitgehend selbstständig auszuüben. Roboter sind auch keine rein virtuellen Computernetzwerke, sondern haben einen physischen Körper, der sich von einem Organismus unterscheidet. Die Beziehung zwischen Mensch und Roboter kann – ganz grob gesagt – als asym­ metrisch, symmetrisch oder auch als symbiotisch verstanden werden. In die erste Gruppe fallen sowohl Deutungsansätze, die den Roboter als Werkzeug des Menschen betrachten als auch solche, die in ihnen die überlegenen Erben des Menschen erkennen wollen. Ansätze, die die Zusammenarbeit betonen und Dimensionen wie »Freund­ schaft« hier ins Spiel bringen, fallen in die zweite Gruppe. In die erste Gruppe können solche Ansätze eingeordnet werden, die die Verbindung von Mensch und Maschine zu neuartigen Mischwesen betonen. 1558 Kant, I.: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes, nach New­ tonischen Grundsätzen abgehandelt, in: AA Bd. I, S. 362. 1557

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8.4 Mensch-Maschine-Entgrenzungen: Über Cyborgs

eine Anpassung des menschlichen Organismus an ein Leben im All möglich? Im Dunstkreis derartiger Überlegungen taucht der Begriff »Cyborg« erstmals in den 1960er Jahren auf, als darüber nachgedacht wird, wie der Mensch für ein Leben außerhalb unseres Planeten Erde angepasst werden kann. Besonders im Fokus sind in diesen Debatten Veränderungen der Atmungs- und Verdauungsorgane, aber auch der mentalen Verfassung von Astronauten, längere und damit oftmals einsame Reise besser zu überstehen.1559 Technische Probleme sollten automatisch geregelt werden, um dem Menschen einen größeren Frei­ heitsraum zu eröffnen. Auch in diesem Kontext begegnet das Motiv, Evolution solle den menschlichen Bedürfnissen entsprechend selbst gestaltet werden. Mit Hannah Arendt gesprochen, scheint hier zudem ein Bestreben leitend, »dem Gefängnis der Erde« zu entkommen.1560 Über den zukünftigen Menschen ist bei ihr Folgendes zu lesen: »Dieser zukünftige Mensch, von dem die Naturwissenschaften mei­ nen, er werde in nicht mehr als hundert Jahren die Erde bevölkern, dürfte, wenn er wirklich entstehen sollte, seine Existenz der Rebellion des Menschen gegen sein eigenes Dasein verdanken, nämlich gegen das, was ihm bei der Geburt als freie Gabe geschenkt war und was er nun gleichsam umzutauschen wünscht gegen Bedingungen, die er selbst schafft. Daß solch ein Umtausch im Bereich des Möglichen liegt, daran haben wir keinerlei Grund zu zweifeln, sowie wir ja auch leider keinen Grund haben, daran zu zweifeln, daß wir imstande sind, alles organische Leben auf der Erde zu vernichten.«1561

Der eingangs erwähnte RoboCop wurde nicht gefragt, ob er die Umwandlung wünscht. Er konnte nicht zustimmen. Gerade das wäre aber, etwa für die Weltraum-Cyborgs, grundlegend, schwebt die Gefahr der Instrumentalisierung doch über der Cyborgisierung. 1559 Vgl. Clynes, M. E. / Kline, N. S.: Der Cyborg und der Weltraum, in: Bruns, K. / Reichert, R. (Hrsg.): Reader neue Medien. Texte zur digitalen Kultur und Kommu­ nikation, Bielefeld 2007, S. 467–475, bes. S. 469. »Um den Anforderungen einer außerirdischen Umwelt zu begegnen, macht es mehr Sinn, die menschlichen Körperfunktionen zu verändern, als eine irdische Umwelt im Weltraum zu erzeugen. Eine Möglichkeit, den menschlichen Körper an die Erforder­ nisse der bemannten Raumfahrt anzupassen, sind Systeme künstlicher Organismen, welche die unbewussten Selbstregulationsprozesse des Menschen erweitern.« (A. a. O., S. 467). 1560 Vgl. Arendt, H.: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München / Zürich 62007, S. 9. 1561 A. a. O., S. 9 f.

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Im Hinblick auf das Nichtschadensprinzip wären Eingriffe, die sich schädigend auswirken, zu unterlassen.1562 Leitend ist auch hier die Vorstellung des Menschen als Mängelwesen. Dass Menschen im Alltag auf Technik zurückgreifen, macht sie noch nicht zu Cyborgs. Üblicherweise geht die Veränderung hin zu einem Cyborg-Mischwesen vom menschlichen Organismus aus. Wir haben es also mit einem hybriden Menschen zu tun. Schauen wir einmal auf die Frage der Verschmelzung, der Integration von Technik im Organismus. Eine Streitfrage ist, wie hoch der technische Anteil in einem Organismus sein muss, damit wir von einem Cyborg sprechen können. In der Literatur findet sich der Hinweis, Cyborgs würden in erheblicher Weise aus biotischem Gewebe bestehen.1563 Doch es ist nicht ganz klar, was hiermit genau gemeint sein soll. Wie viel oder wie wenig genügt letztlich, um vom Menschen zu sprechen? »Offensichtlich«, so Dieter Birnbacher, »ist ein rein quantitatives Kriterium, das besagt, ein wie großer Teil eines zusammengesetzten Quasi-Organismus aus menschlichen Teilen bestehen muss, um als menschlich zu gelten, nicht adäquat.«1564 Robert Spaemann hat ein genealogisches Argument in die Debatte eingebracht. „›Menschheit‹ ist nicht, wie ›Tierheit‹ nur ein abstrakter Begriff zur Bezeichnung einer Gruppe, sondern ist zugleich der Name einer konkreten Perso­ nengemeinschaft, der jemand nicht angehört, aufgrund bestimmter faktisch feststellbarer Eigenschaften, sondern aufgrund des genealo­ gischen Zusammenhangs mit der ›Menschheitsfamilie‹.«1565

1562 Vgl. Beauchamp, T. L. / Childress, J. F.: Principles of Biomedical Ethics, Oxford 72012. Das Nichtschadensprinzip ist bereits in allen wichtigen ärztlichen Standesethiken der Antike festgeschrieben. In der Deklaration von Helsinki heißt es: »It is the duty of physicians who are involved in medical research to protect the life, health, dignity, integrity, right to self-determination, privacy, and confidentiality of personal infor­ mation of research subjects.« (Deklaration von Helsinki, Art. 9). – WMA: Declaration of Helsiniki – Ethical Principles for Medical Research involving Human Subjects, Helsinki 1964, https://www.wma.net/policies-post/wma-declaration-of-helsinki-e thical-principles-for-medical-research-involving-human-subjects/ (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 1563 Vgl. Birnbacher, D.: Natürlichkeit, Berlin / New York 2006, S. 174. 1564 A. a. O., S. 176. 1565 Spaemann, R.: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹, Stuttgart 1996, S. 177.

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8.4 Mensch-Maschine-Entgrenzungen: Über Cyborgs

Ist jemand, bei dem nicht nur eine, sondern 10 Teilersetzungen im Organismus durchgeführt wurden, noch ein Mensch? Und 100, 1000 oder noch mehr? Treffend scheint mir folgende Feststellung Bernhard Irrgangs zu sein: »Wird ein Mensch Zug um Zug durch Prothesen, künstliche Organe und kosmetische Chirurgie ergänzt und ersetzt, so wird er nicht zum künstlichen Menschen, zu einem Androiden oder Roboter, sondern er wird sterben, weil das Gesamtsystem zusammenbricht. Das Gedan­ kenexperiment führt zu dem Ergebnis, dass es theoretisch ein weites Übergangsfeld zwischen Mensch und Roboter gibt, relevant aber ist die Frage, inwieweit dieser Prozess technisch durchführbar ist. Das Gelingen dieses Prozesses hängt nicht nur vom technischen Geschick ab, sondern vor allem von der Aufrechterhaltung der Lebensfunktion des Menschen, bei dem Teil um Teil ersetzt wird.«1566

Für Andy Clark ist die Integration von Technik und Werkzeug im menschlichen Organismus ganz selbstverständlich: »It is our basic human nature to annex, exploit, and incorporate nonbiological stuff deep into our mental profiles.«1567 Unser Dasein sei derart stark von Technik beeinflusst, dass für ihn all jene, die eine Brille oder ein Hörgerät tragen, Cyborgs sind.1568 Darüber kann man schmunzeln, weiterführend scheint eine solche Einordnung aber nicht zu sein. In verschiedenen Arbeiten, die sich mit der Cyborg-Thematik beschäfti­ gen, wird im Hinblick auf die Frage, was bzw. wer denn ein Cyborg sei, auf den Aspekt der Invasivität und den Grad der Verschmelzung Ich sehe (noch) nicht, wo der kritische Einwand Birnbachers sein fundamentum in re hat, Spaemanns Argument unterstelle, zu einem bestimmten Zeitpunkt müsste die Menge der existierenden Wesen der Gattung G feststehen und es sei gar nicht sicher, ob man die Nachkommen des Menschen zur menschlichen Gattung zu rechnen hat. (Vgl. Birnbacher, D.: Natürlichkeit, Berlin / New York 2006, S. 177). 1566 Irrgang, B.: Posthumanes Menschsein? Künstliche Intelligenz, Cyberspace, Roboter, Cyborgs und Designer-Menschen – Anthropologie des künstlichen Menschen im 21. Jahrhundert, Stuttgart 2005, S. 186. 1567 Clark, A.: Natural-born Cyborgs. Minds, Technologies, and the Future of Human Intelligence, New York / Oxford 2003, S. 198. 1568 Vgl. a. a. O. Ganz ähnlich: Barbrook, R.: Der heilige Cyborg, in: Bruns, K. / Reichert, R. (Hrsg.): Reader Neue Medien. Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation, Bielefeld 2007, S. 483–491, hier S. 488. Für Sorgner sind Menschen immer schon Cyborgs, kybernetische Organismen. For­ men der Steuerung gebe es bereits mit der Erziehung von Kindern. (Vgl. Sorgner, S. L.: Schöner neuer Mensch, Berlin 2018, S. 26 f.).

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von Natur und Technik hingewiesen.1569 Hiernach wäre ein Mensch mit einem Cochlea-Implantat mehr Cyborg als jemand mit einem Freestyle-libre-Chip mit implantierbaren Glukosesensoren, der es einem Diabetiker ermöglicht, nicht erst eine blutige Messung durch­ zuführen, um seinen Blutzucker zu kontrollieren. Auch die Frage, ob (und wie weit möglicherweise) die Verbindung von Technik und Orga­ nismus Einfluss auf die Autonomie von Menschen habe, kann ein Kriterium sein, um die Cyborg-Technologie besser einzuordnen.1570 Andere wiederum legen den Akzent auf die Verbindung von Technik und Hirnstrukturen.1571 Demnach würden künstliche Bauchspeichel­ drüsen, Insulinpumpen und die erwähnten Freestyle-libre-Geräte für Diabetiker wie auch Herzschrittmacher und Kunstherzen aus der Definition herausfallen. Das würde auch für den Einsatz der oben diskutierten Nanoroboter gelten. In klassischen Texten zur Anthropologie werden Gemeinsamkei­ ten und Unterschiede zur Tierheit herausgestellt und Abgrenzungen zur Gottheit vorgenommen. Die Auseinandersetzung mit Cyborgs wirft ebenfalls die Frage nach dem Humanen auf und danach, was wir noch dem Humanen zurechnen wollen: Wo wollen wir eine Grenze ziehen zwischen Mensch und Maschine? Und wohin führen uns diese Entwicklungen? Insofern ist der Cyborg-Begriff ein Grenzbegriff unseres Selbstverständnisses, wer wir sind und zu sein gedenken. So betrachtet verwundert es, dass in verschiedenen anthropologischen Handbüchern kein Eintrag zur Cyborg-Thematik zu finden ist.1572 Während schon in klassischen Texten der Antike von künstlichen Menschen die Rede ist, denken wir beispielsweise an den 18. Gesang von Homers Ilias, wo künstliche Dienerinnen für die menschlichen Originale hergestellt werden (Macht und Nützlichkeitsstreben klin­ gen hier an),1573 oder auch an Pygmalion, der in Ovids Metamorpho­

1569 Vgl. Heilinger, J. C. / Müller, O.: Der Cyborg und die Frage nach dem Menschen. Kritische Überlegungen zum »homo arte emendatus et correctus«, in: Honnefelder, L. / Sturma, D. (Hrsg.): Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 12, Berlin 2007, S. 21–44, hier S. 29. 1570 Vgl. a. a. O., S. 31. 1571 Vgl. z. B. Zoglauer, T.: Der Mensch als Cyborg? Philosophische Probleme der Neuroprothetik, in: Universitas 58 (2003), S. 1267–1278. 1572 Vgl. z. B. Bohlken, E. / Thies, C. (Hrsg.): Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik, Stuttgart / Weimar 2009. 1573 Vgl. Homer: Ilias XVIII, 373 ff. und 417 f.

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8.4 Mensch-Maschine-Entgrenzungen: Über Cyborgs

sen eine künstliche Frau fabriziert, die täuschend echt aussieht,1574 der Erfinderdrang klingt hier an, werden Mensch-Maschine-Mischwesen im Zuge einer um sich greifenden Technisierung der Gesellschaft und der hiermit verbundenen Drohung einer zunehmenden Entmenschli­ chung zum Thema. Cyborgs können als Suche des Menschen nach seiner Identität gelesen werden. Im Cyborg-Handbook werden vier Arten der Cyborg-Technologie auseinandergehalten: 1.) die Wiederherstellung verloren gegangener organismischer Funktionen, indem Organe und Gliedmaßen ersetzt werden (»restorative«); 2.) die Wiederherstellung verloren gegange­ ner Normalität (»normalizing«); 3.) die Schöpfung posthumaner Wesen, die sich von Menschen, wie wir sie kennen, unterscheiden (»reconfiguring«); 4.) die Verbesserung und Steigerung menschlicher Fähigkeiten und Lebensäußerungen (»enhancing«).1575 Hierbei gilt es sich vor Augen zu stellen, dass die Grenzen zwischen diesen unterschiedlichen Aspekten verschwimmend sind: Rein quantitativ gesehen dürfte es am meisten Cyborgs der ersten Art geben, denken wir etwa an Menschen mit einer Prothese. Anders als noch in früheren Zeiten, wo Prothesen die biologische Funktion nicht einmal annähernd erreichen konnten, können heute künstliche Gliedmaßen die natürlichen in ihrer Leistung weit übertreffen. Ein weltweit bekanntes Beispiel wäre hier z. B. der südafrikanische Sprin­ ter Oscar Pistorius, der mit seinen Unterschenkelprothesen überaus erfolgreich an internationalen Laufwettbewerben teilnehmen konnte. Es gibt einen therapeutischen Zweck der Beinprothesen (1) und er überschreitet damit auch die übliche Körperausstattung (4). Einerseits kann er mit seinen Prothesen besonders schnell laufen; andererseits sollten wir auch klar sagen, dass er mit seinen Prothesen vieles eben nicht kann. Das Überschreiten gilt nur für einige Aspekte. In feministischen Kontexten wird auf Cyborgs Bezug genommen, um Geschlechterrollen in Frage zu stellen. Die feministische Natur­ wissenschaftshistorikerin Donna Haraway rekurriert auf die CyborgThematik, um ihre Version einer feministischen Theorie zu verorten. Insbesondere legt sie den Fokus darauf, dass sich Cyborgs als MenschVgl. Ovid: Metamorphosen X, 243–297. »Oft legt er [Pygmalion] prüfend die Hände an das Geschöpf, ob es Fleisch und Blut sei oder Elfenbein, und will immer noch nicht wahrhaben, daß es nur Elfenbein ist.« (Ovid: Metamorphosen X, 254 f.). 1575 Vgl. Hables Gray, C. (Hrsg.): The Cyborg Handbook, New York 1995, S. 3. 1574

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8. Menschen »machen«

Maschine-Mischwesen einer klaren Zuordnung und Grenzbestim­ mung entzögen. Der Cyborg sei ein Synonym für überschrittene und in Frage gestellte Grenzen. Die Entwicklung von Cyborgs stehe für die Verwischung bestehender Grenzen zwischen Mann- und Frau­ sein, Mensch und Tier, Gewachsenem und Gemachtem.1576 Cyborgs »unterhöhlen die Gewißheit der Bestimmung dessen, was als Natur […] betrachtet werden kann«1577. Alte Rollenzuschreibungen würden aufgehoben, wie Haraway meint, individuelle Entfaltungsmöglichkei­ ten zunehmen. Der Leib wird ihr zum bloßen Konstrukt.1578 Der Kanadier Steve Mann bezeichnet sich selbst als ersten Cyborg.1579 Er forscht und lehrt in Toronto. »Die Leute finden mich eigenartig«, so der Informatiker und Erfinder. »Sie halten es für son­ derbar, dass ich während des größten Teiles meiner wachen Stunden Computer, die in meine Kleidung eingenäht sind, mit mir herum­ schleppe, dass ich dauerhaft mit dem Internet verbunden bin und dass ich Tag und Nacht eine Datenbrille auf der Nase habe.«1580 Jene Datenbrille, von der er spricht, ist mit seinem Gehirn und dem Inter­ net verbunden: »Ich sehe die Welt in Form von Bildern, die auf meine Netzhaut projiziert werden, kontrolliert durch mehrere Computer. Ich lebe in einer videografischen Welt, als wäre mein gesamtes Leben eine Fernseh-Show.«1581 Zu erwähnen ist auch Neil Harbisson, der eine mit Vgl. Haraway, D.: Ein Manifest für Cyborgs, in: Haraway, D.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M. / New York 1995, S. 33–72, hier S. 35, 37, 51. 1577 A. a. O., S. 38. Letztlich geht es ihr darum, Natur neu zu erfinden (vgl. hierzu auch List, E.: Vom Darstellen zum Herstellen. Eine Kulturgeschichte der Naturwissenschaften, Weilerswist 2007, S. 225). 1578 Die Selbsttechnisierung von Menschen können wir auch im Lichte der Biopolitik Foucaults betrachten: Cyborgisierung wäre demnach ein Ausdruck der Sorge um das Leben. Im Fokus wären das Leben der Bevölkerung wie auch von Individuen. Der Biomacht geht es um Lebenssteigerung: etwa der Gesundheit von Menschen. 1579 Mann, S.: Cyborg: Digital Destiny and Human Possibility in the Age of the Wearable Computer, München 2001. 1580 Zit. nach: http://hochschulanzeiger.faz.net/magazin/studium/ein-kanad ischer-professor-wird-zum-cyborg-13062291.html (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 1581 Ebd. Der Informatiker Eric Schmidt, bis 2015 Executive Chairman von Google, ist überzeugt: »There will be so many IP addresses, so many devices, sensors, things that you are wearing, things that you are interacting with that you won’t even sense it […]. It will be part of your presence all the time.« Medici Scolaro, C.: Why Google’s Eric 1576

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8.4 Mensch-Maschine-Entgrenzungen: Über Cyborgs

seiner Kopfdecke verbundene Antennenvorrichtung trägt, die es ihm ermöglicht, Farben zu hören.1582 Ende der 1990er Jahre ließ sich Kevin Warwick einen Funksignal­ verstärker implantieren. Auf einen Lichtschalter brauchte er nicht mehr zu drücken, um Licht anzuschalten. Auch Türen öffneten sich, ohne dass er einen Griff betätigen musste.1583 Heutzutage kann man über einen amerikanischen Anbieter im Internet Mikrochips beziehen, die in den Körper eingesetzt werden können. Das Heben der Hand genügt dann, dass sich der Kühlschrank öffnet oder das Gara­ gentor schließt. Eine therapeutische Dimension hat der Mikrochip ganz offensichtlich nicht. Stefan Sorgner bringt weitere Gestensteue­ rungssysteme ins Spiel: »Ein in den Körper integriertes System könnte auf diese Weise bedient werden, so dass kein Wischen über Geräte­ oberflächen und keine externe Maus mehr benötigt werden.«1584 An weitere zukunftsträchtige Anwendungsperspektiven wäre zu denken: Etwa ein Sensor für alte, alleinstehende Menschen. Kommt es zu einem Funktionsausfall oder einer ernst zu nehmenden Störung der Körperfunktionen, könnte über diesen Sensor direkt ein Notruf zu einem Pflegedienst abgesetzt werden. Eine Lösungsstrategie gegen Einsamkeit? Was, wenn es einen Chip gäbe, der es von einem auf den anderen Tag ermöglichte, Klavier zu spielen oder eine Fremdsprache zu beherrschen? Wäre das wünschenswert und eine Option, wie zukünftig Bildung aussehen könnte? Wohl nicht. Vernunftwerdung ist ein Prozess des Wachsens und Reifens, der Bildung braucht. Hierzu gehört es, den eigenen Standpunkt und die eigenen Interessen zu relativieren und von einem anderen Standpunkt aus zu betrachten lernen, der aber auch nicht einfach übernommen wird. Man nimmt Abstand, um sich etwas selbst aneignen zu können. Bildung wird nicht einfach bloß wie gleichsam durch den Aufdruck eines Stempels hervorgebracht. Anders gesagt: Bildung ist es, die eben auch Distanz zur eigenen Natur ermöglicht. Man muss sich in ein Verhältnis Schmidt says the ›Internet will disappear‹, 23. Jan. 2015, https://www.cnbc.com/201 5/01/23/why-googles-eric-schmidt-says-the-internet-will-disappear.html (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 1582 Vgl. Pearlman, E.: I, cyborg, in: PAJ: A Journal of Performance and Art 37, 2 (2015), S. 84–90. 1583 Vgl. Irrgang, B.: Posthumanes Menschsein? Künstliche Intelligenz, Cyberspace, Roboter, Cyborgs und Designer-Menschen – Anthropologie des künstlichen Menschen im 21. Jahrhundert, Stuttgart 2005, S. 179. 1584 Sorgner, S. L.: Schöner neuer Mensch, Berlin 2018, S. 32 f.

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zu sich selbst setzen lernen. Bildung meint, sich etwas Gegebenes anzueignen. Allgemeine Vorgaben werden als eigene angenommen. Das ist ein Prozess; wir können auch sagen: eine Formung von Indi­ viduen. Das geht nicht per Knopfdruck, sondern ist mit physischer und geistiger Arbeit verbunden. Das Erlernen einer Sprache, um bei unserem Beispiel zu bleiben, muss erst reifen. Subjektivität muss sich bilden können.1585

8.4.2 Implantation von Technik im Hirn Auch im menschlichen Gehirn kommt es zunehmend zur Implanta­ tion von Technik. Leitend ist hier v. a. die Überzeugung, therapeutisch tätig zu sein. Sowohl invasive als auch nichtinvasive Möglichkeiten ergeben sich hier. Ganz grob kann man zudem unterscheiden zwi­ schen Systemen, bei denen eine Übertragung elektrischer Impulse vom Gerät in Richtung Nervensystem stattfindet, die stimulierend wirken, und solchen, die Impulse in die entgegengesetzte Richtung leiten. Letzteres ist beispielsweise für die Steuerung von Greifprothe­ sen von Belang. Stimulierende Systeme sind – anders als ableitende Systeme – schon heute Routine im medizinischen Bereich. Nichtinvasive Einsätze von Neurotechnologien werden in der Literatur als Brain-Computer-Interfaces bezeichnet; invasive als Brain-Machine-Interfaces. Bei der ersten Form einer MenschMaschine-Schnittstelle werden Gehirntätigkeiten an der Kopfober­ fläche erfasst, um diese dann in Steuerkommandos weiterzugeben. Schwerbehinderten Menschen soll so geholfen werden. Ein Beispiel wären Buchstabierhilfen. Grundsätzlich denkbar wären auch noch weitere Anwendungen. Ein technisches Problem, das sich hier stellt, besteht darin, dass die Ableitungen nicht immer besonders exakt erfasst werden können und räumlich nicht gut aufgelöst sind. Diese Hürde besteht bei der zweiten Form der Hirn-Maschine-Schnittstelle Und wenn wir von Bildung sprechen, ist zu erinnern, dass diese in interpersonale Beziehungen eingebettet ist und insofern stets auch ein Wechselspiel von Freiheit und Zwang darstellt. Sie erfolgt um der Freiheit willen. Im Bild gesprochen, das der Päd­ agogik Kants entnommen ist: »Ein Baum […], der auf dem Felde allein steht, wächst krumm und breitet seine Äste weit aus; ein Baum hingegen, der mitten im Wald steht, wächst, weil die Bäume neben ihm widerstehen, gerade auf.« (Kant, I.: Pädagogik, in: AA Bd. IX, S. 448). 1585

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so nicht, weshalb hier auch komplexere Anwendungsmöglichkeiten wie Gliedmaßenprothesen denkbar sind.1586 Die heutige Medizintechnik ermöglicht es, mit Hilfe so genann­ ter Neuro-Prothesen nicht mehr voll funktionsfähige Neuronen elek­ trisch zu stimulieren. »Neuroprothesen zielen […] auf eine echte Rekonstruktion der Funk­ tion, indem sie mit Teilen des Nervensystems über eine geeignete Schnittstelle – einem so genannten Neuro-Interface – in direkte Wechselwirkung treten. Die Schnittstelle kann in der Peripherie des Nervensystems liegen, zum Beispiel an sensorischen Nervenbahnen, welche die neuronale Erregung von Auge oder Ohr zum Gehirn leiten […] oder aber […] im Gehirn«1587.

Es wird versucht, ausgefallene Nerventätigkeiten wieder in Gang zu bringen bzw. durch die Stimulation der nächsten Verarbeitungs­ ebene den Ausfall von Neuronen zu überbrücken. Diese technischen Innovationen haben insbesondere für Parkinson-Patienten eine nicht geringe Bedeutung. Es ist nämlich durch den Einsatz von Neuropro­ thesen möglich, die für diese Krankheit typischen, unkontrollierten Bewegungen einzudämmen. Bei querschnittsgelähmten Patienten können gewisse Grundfunktionen des Körpers reaktiviert werden. Auch die Innenohrtaubheit wird so von Medizinern bekämpft. Durch den Einsatz von Elektroden ist es möglich, Laute auf den Hörnerv zu übertragen: »Dabei wandelt ein Computerchip die von einem Mikro­ fon aufgezeichneten Laute in elektrische Signale um und reizt über ein in die Innenohrschnecke (Cochlea) implantiertes Elektrodensystem den Hörnerv.«1588 Zum Einsatz kommt die tiefe Hirnstimulation auch bei Zwangsstörungen und besonders schweren Formen von Depressionen, die mit einer Überaktivität des limbischen Systems in Verbindung gebracht werden. Der Hirnstimulator wird immer wieder mit einer Prothese verglichen. Er sorge dafür, dass die gestörten Hirn­ prozesse wieder in ein gewisses Gleichgewicht gebracht werden.1589 1586 Vgl. Kehl, C. / Coenen, C.: Technologien und Visionen der Mensch-MaschineEntgrenzung. Sachstandsbericht zum TA-Projekt ›Mensch-Maschine-Entgrenzungen: zwischen künstlicher Intelligenz und Human Enhancement (Büro für TechnikfolgenAbschätzung beim Deutschen Bundestag, TAB-Arbeitsbericht Nr. 167), Berlin 2016. 1587 Ohl, F. W. / Scheich, H.: Neuroprothetik: Hightech im Gehirn, in: Gehirn & Geist 10 (2006), S. 64–67, hier S. 65. 1588 A. a. O., S. 66. 1589 Vgl. Christen, M. / Mayberg H.: Interview: Den Betroffenen mehr Selbstbe­ stimmung geben, in: Heilinger, J.-C. / Christen, M. (Hrsg.): Über menschliches. Bio­

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Der Einsatz von Neuroprothesen würde nach Henning Scheich mit »der Illusion aufräumen«, technische Errungenschaften wären nicht in der Lage, bestimmte Funktionen des Gehirns zu überneh­ men.1590 Die hier zum Einsatz kommenden Produkte sind allerdings Fremdkörper, die als solche eben auch in unerwünschter Weise auf den Patienten einwirken können. »Der Erfolg der Therapie hängt einerseits wesentlich von der präzisen Platzierung der Elektroden in der Zielregion ab, die je nach Indikation verschieden ist. […] Die Stimulationswirkungen hängen andererseits zentral von den verabreichten Stimulationsparametern ab, die post­ operativ oftmals in einem langwierigen Prozess feinjustiert werden müssen, um sie der individuellen Symptomatik des Patienten anzupas­ sen.«1591

Beim Einsatz kann es zu Hirnblutungen kommen. Ein erhebliches Problem stellen mögliche psychische Nebenwirkungen dar. Sprech­ störungen, Depressionen, manische und aggressive Stimmungen und Beeinträchtigungen der Gedächtnisleistungen können sich einstellen. Was sagen Betroffene? Der Soziologe Helmut Dubiel gewährt in seinem sehr persönlichen und berührenden Buch Tief im Hirn einen Einblick in das Leben mit Parkinson.1592 Mit nur 46 Jahren erkrankte er an Parkinson. In seinen Kopf wurde eine Sonde implantiert, die er selbst über eine Fernbedienung steuern kann. Hirnschrittmacher seien »problematisch wegen des großen Missverhältnisses zwischen der ›Invasivität‹, der Eindringtiefe in die ultrakomplexe Struktur des Hirns und der weitgehenden Unklarheit, wie genau eigentlich die Wirkungsweise der vorliegenden Interaktion von Mensch und Maschine ist.«1593 Dubiel schildert sein Verhältnis zum Hirnschritt­ macher, erläutert, warum er diesen immer wieder auch abstellt, und wie er ihn schließlich akzeptiert. War das Gerät eingeschaltet, traten technische Verbesserung des Menschen zur Überwindung von Leiden und Tod?, Biel / Bienne 2010, S. 69–82. 1590 Scheich, H. / Beckermann, A.: Jeder muss sein Gehirn selbst in die Hand nehmen, in: Könneker, C. (Hrsg.): Wer erklärt den Menschen? Hirnforscher, Psychologen und Philosophen im Dialog, Frankfurt a. M. 22007, S. 98–107, hier S. 104 f. 1591 Kehl, C. / Coenen, C.: Technologien und Visionen der Mensch-Maschine-Entgren­ zung. Sachstandsbericht zum TA-Projekt ›Mensch-Maschine-Entgrenzungen: zwischen künstlicher Intelligenz und Human Enhancement (Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag, TAB-Arbeitsbericht Nr. 167), Berlin 2016, S. 275. 1592 Vgl. Dubiel, H.: Tief im Hirn. Mein Leben mit Parkinson, München 2008. 1593 A. a. O., S. 116 f.

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Sprachstörungen auf; war es ausgeschaltet, hatten ihn Depressionen im Griff.1594 Heute beabsichtigt auch das Projekt des Virtual Embodiment and Robotic Re-Embodiment, Ichgefühl und technischen Körper mit­ einander zu verknüpfen, so dass gelähmte Menschen mit Hilfe eines künstlichen Körperteils resp. Körpers wieder zu größerer Bewegung verholfen werden kann. Eine wichtige Rolle spielt hier die Illusion, der künstliche Körper sei der eigene, so dass dieser bewegt werden kann und der eigenen Kontrolle untersteht.1595 Für behinderte Menschen kann diese Technik ohne Zweifel eine große Hilfe sein. Wie sieht es aber mit den Schattenseiten aus? Was ist, wenn die Impulskontrolle misslingt? Können Manipulationen ausgeschlossen werden? Wäre eine militärische Nutzung denkbar, die Menschen so zu besseren »Kampfmaschinen« macht, die besonders hart kämpfen?1596

8.4.3 Fazit Mensch-Maschine-Mischwesen sehen sich ständig mit »inneren Technikfolgen konfrontiert, da sich Schnittstellenprobleme nicht ver­ meiden lassen und die Anbindung an außerkörperliche Wissensund Kontrollinstitutionen für diese Technologien charakteristisch ist«1597. Es besteht eine nicht geringe Gefahr, im menschlichen Orga­ nismus vor allem einen Störfaktor und eine Fehlerquelle auszuma­ chen und durch überzogenes Optimierungsstreben, Freiheitsräume einzuschränken und überall Kontrollen zu errichten. Im Hintergrund schwingt ein ambitioniertes Produktivitätsdenken mit. 1594 Ausgehend vom Grundsatz primum non nocere werden Risiken und Nebenwir­ kungen abzuwägen sein. Gemeinsam ist zu erörtern, ob durch den Eingriff ein größerer Schaden neben der bereits bestehenden Krankheit entsteht und wie die Lebensqualität des Patienten gefördert werden könnte (Salus aegroti suprema lex.). 1595 Vgl. https://intranet.it.pt/ckfinder/userfiles/files/VERE.pdf (zuletzt eingese­ hen am 17. Aug. 2022). 1596 Das Interesse an der Verbindung von Mensch und Maschine zu militärischen Zwecken ist groß. »A huge part of the cyborg family tree is profoundly militarized. « (Hables Gray, C. (Hrsg.): The Cyborg Handbook, New York 1995, S. 8). 1597 Spreen, D.: Cyborgs. Menschliche Cyborgs und reflexive Moderne. Vom Jupiter zum Mars zur Erde – bis ins Innere des Körpers, in: Bröckling, U. / Paul, A. T. (Hrsg.): Vernunft – Entwicklung – Leben. Schlüsselbegriffe der Moderne, München 2004, S. 317–346, hier S. 343.

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Vulnerabilität wird ausschließlich negativ gesehen, was doch etwas einseitig zu sein scheint. Nicht im Blick ist, dass Kranksein auch eine positive und sinnstiftende Bedeutung haben könnte, und die Bejahung einer Krankheitssituation zur Gesundung einer Person an Leib und Seele beitragen kann. »Hinter den Hoffnungen und Visionen, die die Anstrengungen zur Überwindung von Krankheiten leiten, steht oft mehr oder weniger explizit die Vorstellung von einem menschlichen Leben ohne die Not, Kontingenzerfahrungen überhaupt aushalten und verarbeiten zu müssen.«1598 Sagen wir es noch einmal anders: Verwundbarkeit gehört zu den Grundkonstanten des Lebendigen. Menschen, die sich für andere einsetzen, einander lieben, machen sich angreifbar und verwundbar. Hierauf verzichten zu wollen, wäre überaus trostlos. Eine ungebremste Technisierung wäre auf Dauer gesehen ein Nachteil für den Menschen, denn »nichts würde die menschliche Seite mehr ›hart machen‹, wenn jede Schwäche durch Maschinen ersetzt würde«1599. Der Technik wird hier eine Orientierung zugesprochen, die sie selbst gar nicht leisten kann. Erinnern wir uns noch einmal an Günther Anders und seine kritische Analyse, dass der Mensch mit der Perfektibilität seiner Machwerke nicht Schritt halten kann: Demnach wird der Leib durch das Machwerk festgelegt. Das Gerät hat eine Oberherrschaft über den Leib. »Es ist also dieser Kampf gegen das Schicksal, der medizinische und soziale Utopien trotz allem verbindet. Das Vermögen, verloren gegan­ gene Teile zu ersetzen, ist im menschlichen Körper geringer als bei niederen Tieren, dafür wird erst im Menschen das utopische Vermögen zu bisher nie Besessenem wirksam. Es ist unwahrscheinlich, daß diese dem Menschen so wesentliche Kraft, die Kraft des Überschreitens und Neubildens, an seinem Leib stillsteht.«1600

1598 Gethmann, C. F. / Gerok, W. / Helmchen, H. / Henke, K.-D. / Mittelstraß, J. / Schmidt-Aßmann, E. / Stock, G. / Taupitz, J. / Thiele, F.: Gesundheit nach Maß? Eine transdisziplinäre Studie zu den Grundlagen eines dauerhaften Gesundheitssys­ tems, Berlin 2005, S. 10. 1599 Koslowski, P.: Mensch-Maschine-Hybride: Dinge, die sprechen, und Maschinen, die unsere Brüder werden, in: Hubig, C. / Koslowski, P. (Hrsg.): Maschinen, die unsere Brüder werden: Mensch-Maschine-Interaktion in hybriden Systemen, München 2008, S. 191–202, hier S. 200 f. 1600 Bloch, E.: Prinzip Hoffnung, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1959, S. 541.

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So schreibt Ernst Bloch Ende der 1950er Jahre in Prinzip Hoffnung. Inzwischen geht es nicht mehr nur darum, verloren gegangene Teile und Funktionen im menschlichen Körper zu ersetzen, sondern den Leib selbst, das Gewachsene durch das Gemachte. Zum Reigen jener Theorien, die sich gegenwärtig anschicken, die Möglichkeiten des Menschen deutlich zu erweitern und die »Grenzen des Menschen zu sprengen«, gehört der schon genannte Posthumanismus. In diesem Kontext werden Cyborgs als Zwischen­ stufe zwischen dem »alten«, »herkömmlichen« Menschen und einem »posthumanen« Menschsein verstanden. Hiermit wollen wir uns im folgenden Kapitel auseinandersetzen.

8.5 Posthumanismus: Die Natur durch Technik überwinden? 8.5.1 Eine Welt ohne Technik? Mag es eine menschliche Welt geben, die ohne Technik auskommt und Maschinen abschafft? Samuel Butler greift diese Frage literarisch in seinem Roman EREWHON aus dem Jahre 1872 auf. 1601 Der Roman wurde zu einem großen Publikumserfolg. Ein junger Schafhirte, George Hoggs, macht sich auf, eine ferne Region jenseits der Berge zu erkunden. Nach seiner Wanderschaft kommt er in eine fruchtbare Gegend. Bei seiner Ankunft wird er festgenommen. Dass er eine Uhr am Arm trägt, sorgt offenkundig für Missfallen.1602 Der Erzähler erkennt allmählich, dass in Erewhon andere Wertmaßstäbe gelten: So wird beispielsweise Krankheit mit persönlicher Schuld in Verbin­ dung gebracht und als Verbrechen eingestuft. In Erewhon gibt es »Hochschulen der Unvernunft«, deren Ziel – womit sie als Vorläufer der Bologna-Reformen gelten könnten – darin besteht, das Denken gerade nicht zu fördern, sondern die Mittelmäßigkeit. Geschildert werden Bewohner, die miteinander vereinbaren, lediglich auf ganz einfache Technik zurückgreifen zu wollen. Unschwer kann man sich vorstellen, dass dies einschneidende Konse­ quenzen für die Erewhonianer und für ihr Leben hat. Vorhandene 1601 Butler, S.: EREWHON oder Jenseits der Berge, hrsg. von H. M. Enzensberger, Frankfurt a. M. 1994. 1602 Vgl. a. a. O., S. 79.

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Maschinen werden nicht mehr nur nicht benutzt, sondern zerstört. Vorhandenes technisches Wissen soll vergessen gemacht werden. Der Erzähler erwähnt eine Abhandlung über die Maschinen, aus dem er längere Passagen »zitiert«. Maschinen wird hier ein ähnliches Entwicklungspotential zugebilligt wie Organismen auch. »Daß Maschinen heute wenig Bewußtsein besitzen«, so heißt es beispielsweise in diesem ominösen Buch, »bietet keine Gewähr dafür, daß sie ein solches letzten Endes nicht doch entwickeln.«1603 Die Abhandlung, eine »Kampfschrift«1604, wie der Erzähler sagt, stellt in Aussicht, dass Maschinen ein »Eigenleben«1605 entwickeln. Auf Dauer würden Maschinen sogar Menschen überflügeln, eine Vorstel­ lung, die aktuell in posthumanistischen Debatten wiederauftaucht. Aus Dienern würden selbst Herren werden: »Sie dienen, um zu beherrschen.«1606 Maschinen seien dazu bestimmt, »das Menschen­ geschlecht zu verdrängen«1607.

8.5.2 Abschied von der Natur Erklärtes Ziel des Posthumanismus ist es, mit Francis Bacon gespro­ chen, die »Grenzen der menschlichen Macht soweit auszudehnen, um alle möglichen Dinge zu bewirken«1608. Insofern die Zukunft ausschließlich in der Technik ausgemacht wird, wird ein Abschied von der Natur, wie wir sie kennen, verkündet.1609 Natur wird in diesem Zusammenhang vor allem damit in Verbindung gebracht, limitativ zu sein. Jene Grenzen sollen überschritten, überboten, Natur verabschiedet werden.1610 Das Sterben von Tieren und Pflanzen, der A. a. O., S. 267. A. a. O., S. 305. 1605 A. a. O., S. 285. 1606 A. a. O., S. 281. 1607 A. a. O., S. 99. 1608 Bacon, F.: Neu-Atlantis, Stuttgart 2013, S. 43. 1609 Vgl. z. B. das gleichnamige Buch von Bohnke, B.-A.: Abschied von der Natur. Die Zukunft des Lebens ist Technik, Düsseldorf 1997. 1610 »Ein fortgeschrittenes Ziel ist es, sich prinzipiell von den Begrenzungen unseres Körpers zu emanzipieren: seine Leistungsfähigkeit zu erhöhen, von Natur aus man­ gelhafte Organe gentechnisch zu modifizieren oder durch technisch-elektronische Systeme zu ergänzen bzw. zu ersetzen, vor allem sich von Krankheiten und irgend­ wann womöglich auch vom Alterungsprozeß und vom Tod zu befreien.« (A. a. O., S. 117). 1603

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Untergang von Landschaften und Gewässern sei nicht mehr aufzuhal­ ten. Gleichwohl müsse dies nicht das Ende des Menschen bedeuten, wie etwa Ben-Alexander Bohnke meint. Einem Weiterleben des Menschen stünde nichts im Wege. Der Mensch könne mit der Natur zugrunde gehen oder sich von ihr unabhängig machen. »Deshalb«, so Bohnke, »halte ich es gerade für falsch, wenn überall gefordert wird, wir sollten die Umwelt mehr schützen und die Technik stärker beschränken.«1611 Das Gewachsene solle auf Dauer gesehen vollstän­ dig ersetzt werden durch die Technik; die Natur könnte und sollte nicht gerettet werden. Sie sei ein »Auslaufmodell«1612. Der Mensch solle aus der Natur herausgelöst werden: »Wir Menschen können leben, auch wenn die Natur stirbt.«1613 Es gehe um ein »naturfreies, naturbefreites Leben«1614. Die Antwort auf die drängenden Fragen der Zeit sei eine »Techno-Evolution«, welche die natürliche Evolution ersetzen solle.1615 »Es genügt nicht, daß wir uns von der äußeren Natur loslösen. In einem zweiten Schritt haben wir uns auch von unserer inneren Natur, der Natur in uns zu emanzipieren. Der Mensch muß sein natürliches Erbe an tierischen Verhaltensweisen, vor allem irrationale Aggressionen und Ängste überwinden.«1616 Dies bedeute auch eine Veränderung der menschlichen Konstitution, um so eine post-biologische Welt anvisieren zu können. Wichtig sei ein Bewusst­ seinswandel: weg von der Natur, hin zur Technik, wobei damit keine Naturfeindlichkeit gemeint sei: »Man erweist der – todkranken – Natur sogar mehr Achtung, wenn man sie in Ruhe sterben läßt, anstatt daß man versucht, sie mit Gewalt am Leben zu halten.«1617 Um Abschied geht es auch in einem Brief, den Max More verfasst hat. Gerichtet ist der Brief nicht an eine Person aus Fleisch und Blut, nicht an einen Freund, sondern – Sie ahnen es schon – an »Mutter Natur«.1618 Wir müssten dankbar gegenüber der Natur dafür sein, was aus uns geworden sei. Gleichwohl dürfe nicht unerwähnt A. a. O., S. 7. Ebd. 1613 A. a. O., S. 8. 1614 A. a. O., S. 15. 1615 A. a. O., S. 9. 1616 A. a. O., S. 10. 1617 A. a. O., S. 11. 1618 More, M.: A Letter To Mother Nature, in: More, M. / Vita-More, N. (Hrsg.): The Transhumanist Reader: Classical And Contemporary Essays On The Science, Technology, and Philosophy Of The Human Future, Chichester / West Sussex 2013, S. 449 f. 1611

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bleiben, dass nicht alles glatt gelaufen sei, »Mutter Natur« eben auch »a poor job with the human condition«1619 vollbracht habe. Schließlich seien Menschen verletzbar (»vulnerable«), anfällig für Krankheiten und unterschiedliche Beeinträchtigungen. Das Gedächtnis sei leider begrenzt, es gebe zahlreiche physische Schwächen. Eine Betriebsan­ leitung für die eigene Konstitution habe der Mensch nicht an die Hand bekommen. Die Zeit sei nun aber reif, Änderungen zu vollziehen. Diese sollten so aussehen: Es müsse darum gehen, nicht mehr »Skla­ ven der eigenen Gene« zu sein, Intelligenz deutlich zu verbessern, den Wahrnehmungsbereich zu vergrößern, das Hirn durch ein »MetaHirn« zu ergänzen, Altern und Tod nicht mehr hinzunehmen. Kurzum: aus einer humanen eine posthumane Existenz zu machen.1620

8.5.3 Aufbruch ins postbiologische Zeitalter Durch das Präfix »Post« im Begriff »Posthumanismus« wird die Erwartung historisch tiefgreifender Veränderungen unterstrichen.1621 So ist in einem Manifest Folgendes zu lesen: »It is now clear that humans are no longer the most important things in the universe. This is something the humanists have yet to accept. […] In the posthuman era many beliefs become redundant — not least the belief in human beings. […] In the posthuman era, machines will no longer be machines.«1622 A. a. O., S. 449. Vgl. a. a. O., S. 450. 1621 Zum Thema Posthumanismus siehe auch: Herbrechter, S.: Posthumanismus. Eine kritische Einführung, Darmstadt 2009; Hering, N. / von Schubert, H. (Hrsg.): Cyber Age. Mensch und Cybertechnologie in den Herausforderungen und Konflikten des 21. Jahrhunderts, Köln 2012; Krüger, O.: Virtualität und Unsterblichkeit. Die Visionen des Posthumanismus, Freiburg 2004; Irrgang, B.: Posthumanes Menschsein? Künstliche Intelligenz, Cyberspace, Roboter, Cyborgs und Designer-Menschen – Anthropologie des künstlichen Menschen im 21. Jahrhundert, Stuttgart 2005; Kurzweil, R.: Homo s@piens. Leben im 21. Jahrhundert. Was bleibt vom Menschen?, München 42001; Moravec, H.: Computer übernehmen die Macht. Vom Siegeszug der Künstlichen Intelligenz, Hamburg 1999; Moravec, H.: Mind children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz, Hamburg 1990. 1622 Pepperell, R.: The Posthuman Manifesto, in: Kritikos, Vol. 2, Febr. 2005, http:// intertheory.org/pepperell.htm (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 1619

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In einem anderen Manifest ist von einem moralischen Recht die Rede, leibliche wie mentale Grenzen mit Hilfe von Technik hinter sich zu lassen. »We seek personal growth beyond our current biological limi­ tations.«1623 Das »Post« im Begriff Posthumanismus soll ferner suggerieren, dass die uns bekannten Gattungsgrenzen des Menschen an ein Ende gekommen und daher zu überwinden seien. Es lässt sich als Hinweis darauf lesen, was nach dem Menschen komme: Posthumane sollen nach Auskunft führender Vertreter des Posthumanismus Eigenschaf­ ten aufweisen, die weit über die der heute lebenden Menschen hin­ ausragen. Man trifft aber auch auf die Vorstellung, die biologische Existenz durch eine digitale auszutauschen. Die oben angesprochene »neue Zivilisation« sollen Roboter, künstliche Intelligenzen, Posthu­ mane sein, die den Menschen ablösen werden. Oliver Krüger weist in seiner Studie über den Posthumanismus darauf hin, dass der Begriff posthumian im Sinne eines zukünftig Kommenden bei Thomas Blount in seiner Glossographia aus dem Jahr 1656 auftaucht. Der Begriff posthumanist begegne, so Krüger, 1977 bei dem US-amerikanischen Kulturtheoretiker Ihab Hassan zum ersten Mal im Sinne einer Überwindung des Menschen und kurze Zeit später, nämlich 1979, werde mit dem Begriff post-human in der Novelle Schismatrix von Bruce Sterling eine nachmenschliche Existenzweise bezeichnet.1624

8.5.4 Vom Kampf gegen den Drachen: Bostrom Bostrom zählt zu den Protagonisten der posthumanistischen Szene. Der heute in Oxford tätige Wissenschaftler hat 1998 die World Trans­ humanist Association gegründet (gemeinsam mit David Pearce), sechs Jahre später, 2004, das Institute for Ethics and Emerging Technologies (gemeinsam mit James Hughes).1625 Bostrom hebt immer wieder 1623 WTA: Transhumanist Declaration: https://hpluspedia.org/wiki/Transhumanis t_Declaration (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 1624 Vgl. Krüger, O.: Virtualität und Unsterblichkeit. Die Visionen des Posthumanis­ mus, Freiburg 2004, S. 107. 1625 WTA: Institute for Ethics and Emerging Technologies, http://ieet.org/index.php/IEET/more/pearce20140920 (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022).

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hervor, dass es gut und lohnend sei, posthuman zu werden. Ihm geht es insbesondere um eine extreme Veränderung mentaler, emotionaler und physischer Möglichkeiten des Menschen. »You have just cele­ brated your 170th birthday and you feel stronger than ever. Each day is a joy. You have invented entirely new art forms, which exploit the new kinds of cognitive capacities and sensibilities you have developed. «1626 Die in Aussicht gestellte Erweiterung der Lebensspanne stellt Bostrom äußerst positiv dar: Sie würde mit neuartigen Gedanken und Erfahrungen einhergehen. Genau vorstellen könne man sie sich gegenwärtig noch nicht, da heute unsere mentalen Kapazitäten doch noch arg beschränkt seien. Die Vorzüge einer längeren Lebenszeit würden u. a. auch darin bestehen, in intellektueller Hinsicht wachsen zu können. Ganz interessant ist in dem Zusammenhang eine in einer Zeitschrift für Medizinethik publizierte Fabel Bostroms:1627 Erzählt wird von einem Drachen, von dem eine Bedrohung ausgehe. Er verschlingt täglich unzählige Menschen und steht somit für Bedro­ hungen menschlichen Lebens wie Krankheit, Leid und Tod. Diesem Drachen, so die Stoßrichtung der Fabel, müsse es an den Kragen gehen: Krankheit und Tod gelte es auszumerzen. In der Fabel tre­ ten auch einige Geistliche auf, die versuchen, den Menschen das Positive der Bedrohung durch den Drachen zu vermitteln: So würde er beispielsweise für die Regulierung der Bevölkerungszahl sorgen, weshalb auch nicht mehr der Versuch unternommen werden solle, den Drachen zu töten. Jene Geistlichen würden ein Leben nach dem Tod versprechen, um die Menschen, so Bostrom, zu beruhigen. Reli­ gion sei hier bloß Vertröstung auf ein Jenseits, Projektion. Insofern Religion in den Augen Bostroms versage, wird der Leser – wie ich sagen möchte – aufgefordert, in die Rolle eines Drachenbekämpfers zu schlüpfen, um Krankheit und Tod zu verbannen – womit Erlösung im Hier und Jetzt greifbar werde. Die Vollendung der biologischen Art stehe noch aus. In Das Prinzip Hoffnung formuliert Ernst Bloch, wie aus seiner Sicht die zwei Lieblingswünsche der meisten Menschen aussehen: 1626 Bostrom, N.: Why I Want to be a Posthuman when I Grow Up, in: Gordijn, B. / Chadwick, R. (Hrsg.): Medical Enhancement and Posthumanity, New York 2008, S. 107–135, hier S. 112. 1627 Vgl. Bostrom, N.: The Fable of the Dragon-Tyrant, in: Journal of Medical Ethics, Nr. 31 (2005), S. 273–277.

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ein langes Leben zu führen und dabei jung zu bleiben. Ergänzend fügt er hinzu: »beides nicht auf schmerzlichen Umwegen, sondern über­ rumpelnd, märchenhaft zu erlangen.«1628 Der Posthumanismus ver­ mag es, wie die Drachen-Erzählung deutlich macht, diese durchaus verständlichen Wünsche des Menschen anzusprechen und »märchen­ hafte« Perspektiven in Aussicht zu stellen. Wer wollte das nicht – und sich v. a. auch selbst nach eigenen Vorstellungen gestalten und ver­ ändern zu können? Philosophie muss es demgegenüber darum gehen, »Grenzen zu kennen«1629.

8.5.5 Herrschaft der Maschinen: Moravec Moravec gehört wie Bostrom und Kurzweil zu den Protagonisten der Posthumanismus-Bewegung. Seine Publikationen zum Posthu­ manismus, insbesondere seine Arbeiten Mind children1630 und Robot. Mere Machine to Transcendent Mind1631 sind viel beachtet und rezi­ piert worden. An verschiedenen Stellen hebt Moravec »Leistungsfähigkeit« und »Komplexität« moderner technischer Errungenschaften hervor. An einigen Stellen wird im Hinblick auf Computer von Riesenge­ hirnen gesprochen, um die besondere Leistungsfähigkeit einerseits, andererseits die Nähe zu uns Menschen herauszustellen.1632 Heute sei es bereits so, dass eine Maschinengeneration die nächste »her­ vorbringe«.1633 Es sei schon eine »Tatsache, dass sich Maschinen in zunehmendem Maße selbst konstruieren, überwachen und repa­

Bloch, E.: Prinzip Hoffnung, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1959, S. 527. Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft, B 755. 1630 Moravec, H.: Mind children. The Future of Robot and Human Intelligence, Harvard 1988; deutsch: Mind children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz, Hamburg 1990. 1631 Moravec, H.: Robot. Mere Machine to Transcendent Mind, Oxford 1998; deutsch: Computer übernehmen die Macht. Vom Siegeszug der Künstlichen Intelligenz, Ham­ burg 1999. 1632 Moravec, H.: Computer übernehmen die Macht. Vom Siegeszug der Künstlichen Intelligenz, Hamburg 1999, S. 40; Moravec, H.: Mind children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz, Hamburg 1990, S. 19. 1633 Moravec, H.: Computer übernehmen die Macht. Vom Siegeszug der Künstlichen Intelligenz, Hamburg 1999, S. 12. 1628

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rieren«1634. Die menschlichen Konstrukteure werden in dem Zusam­ menhang nicht erwähnt. Im Anschluss an die Meme-Theorie Richard Dawkins1635 spricht er davon, dass Ensembles von Verhaltensregeln an die jeweils nach­ folgenden Generationen weitergegeben werden. Vergleichbar den biologischen Genen würden sie mutieren und konkurrieren: nur weitaus schneller. Die hier beschriebene Beziehung zwischen Mensch und Maschine ist offenkundig asymmetrisch: allerdings nicht in dem Sinne, dass der Roboter als Werkzeug des Menschen gesehen wird, sondern als dem Menschen überlegen, als Erbe. Die Robotik werde, so ist sich Moravec sicher, »in groben Zügen die Evolution des biologischen Geistes wiederholen«1636. Ähnlich wie bei den Diskussionen um die Erzeugnisse Synthetischer Biologie, ist auch hier die Rede davon, die Evolution und den Baum des Lebens zu erweitern: Eine Evolution hin zum Robo sapiens bzw. zur Machina sapiens. Man könne von einer Evolution von reinen Befehlsempfängern hin zu autonomen Wesen sprechen.1637 1634 A. a. O., S. 13; vgl. Moravec, H.: Mind children. Der Wettlauf zwischen menschli­ cher und künstlicher Intelligenz, Hamburg 1990, S. 13. 1635 Vgl. Dawkins, R.: Das egoistische Gen, Berlin / Heidelberg / New York 1978; Dawkins, R.: Der blinde Uhrmacher. Warum die Erkenntnisse der Evolutionstheorie zeigen, daß das Universum nicht durch Design entstanden ist, München 52013, S. 186. 1636 Moravec, H.: Computer übernehmen die Macht. Vom Siegeszug der Künstlichen Intelligenz, Hamburg 1999, S. 45. 1637 Autonomie meint hier nicht den Vorzug der menschlichen Person, moralisch handeln zu können. Wenn im Kontext posthumanistischer Debatten der Begriff »Autonomie« begegnet, dann wird meistens abgehoben darauf, dass etwas 1.) automa­ tisch abläuft, 2.) ohne Energiezufügung von außen auskommt, 3.) hinsichtlich der ablaufenden Prozesse nicht von Umweltfaktoren abhängig ist, 4.) auf äußere Prozesse jedoch reagieren kann, 5.) beweglich und 6.) meist opak ist. Ausführlich zum Begriff von »Autonomie« im Kontext technischer Diskurse: Gott­ schalk-Mazouz, N.: »Autonomie« und Autonomie »autonomer Systeme«. XXI. Deut­ scher Kongress für Philosophie: Lebenswelt und Wissenschaft, bes. S. 4 http://www.d gphil2008.de/fileadmin/download/Sektionsbeitraege/07_Gottschalk-Mazouz.pdf (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022); Gransche, B. / Shala, E. / Hubig, C. / Alp­ sancar, S. / Harrach, S.: Wandel von Autonomie und Kontrolle durch neue MenschTechnik-Interaktionen. Grundsatzfragen autonomieorientierter Mensch-Technik-Ver­ hältnisse, Stuttgart 2014, bes. S. 20. Auch in Publikationen zur sog. »Maschinenethik« wird darüber nachgedacht, ob und inwiefern Maschinen moralische Entscheidungen treffen könnten. (Vgl. Misselhorn, C.: Maschinenethik, Stuttgart 2018) Dies allerdings setzt Subjekte voraus, die ihre Handlungsgründe tatsächlich auch reflektieren können, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden in der Lage sind, und als Wesen der Freiheit selbstgesetzgebend sein

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Aber nicht nur von einem qualitativ gehaltvollen AutonomieBegriff im Sinne Kants ist man hier weit entfernt, sondern auch von Nietzsche, zu dem direkt oder indirekt immer wieder eine Brücke geschlagen wird. So etwa wenn geschildert wird, Posthumane seien »absolut übermenschlich«1638. Dachte Nietzsche noch an Bildung und Erziehung, ist fortan der Techniker gefragt. Nietzsche selbst sieht durchaus die verschiedenen Gesichter der Technik: Maschinen könnten seiner Auskunft nach zu ungeahnten Leistungen verhelfen, Energien freisetzen, Neues zuwege bringen; was mit ihnen verrichtet werde wie auch der Prozess des Verrichtens selbst könnte »unpersönlich«1639 werden, den Menschen demütigen. Daher könne der Mensch ihnen gegenüber nicht gleichgültig bleiben, gegebenenfalls seien Gegenreaktionen erforderlich oder gar ihre Zer­ störung.1640 können. Hinter einer Maschine, die ein Programm ausführt, steht ein Mensch, der diese Maschine erdacht und sie programmiert hat. Maschinen handeln nicht, worin eine Gemeinsamkeit mit Tieren besteht. Handeln können nur Personen, die auch Handlungsgründe reflektieren und vernünftig abwägen können. Maschinen verfügen weder über Selbstbewusstsein noch Selbstreflexion und Willensfreiheit. Eine Geld­ maschine, die einem Bankkunden den korrekten Geldbetrag rausgibt und zuvor noch prüft, ob überhaupt noch Geld auf seinem Konto verfügbar ist, ist nicht »autonom« und auch nicht »tugendhaft«, wie sogar behauptet wird. (Vgl. a. a. O., S. 71). 1638 Vgl. Moravec, H.: Computer übernehmen die Macht. Vom Siegeszug der Künstli­ chen Intelligenz, Hamburg 1999, S. 168. So beruft sich beispielsweise auch Stefan L. Sorgner auf Nietzsche als Vorläufer post­ humanistischer Überlegungen. (Vgl. Sorgner, S. L.: Transhumanismus. »Die gefähr­ lichste Idee der Welt«!?, Freiburg 2016, S. 111–139) Die Übereinstimmungen zwischen Nietzsches Übermenschen einerseits und dem Posthumanen andererseits seien »frappierend« (a. a. O., S. 111). Dies macht er daran fest, dass auf beiden Seiten Werte und Natur als im Wandel begriffen würden (a. a. O., S. 113). Für Sorgner liegt auf der Hand, dass wir uns »auf dem Weg zum Übermenschen« befänden (vgl. Sorgner, S. L.: Übermensch. Plädoyer für einen Nietz­ scheanischen Transhumanismus, Basel 2019, S. 7). Dafür wird folgendes Gebot ins Feld geführt: »Wollen wir nicht aussterben, werden wir uns weiterentwickeln müssen.« (Ebd.) Die Zeit des Homo sapiens sei zu Ende; er werde vom technisch aufgerüsteten Übermenschen abgelöst. Während Nietzsche ein hervorragender Analysierer des Nihilismus ist, den es zu überwinden gelte, geht es Sorgner darum, diesen als Errun­ genschaft zu deuten: »Der Nihilismus ist nicht beklagenswert, vielmehr sollte er gefeiert werden.« (A. a. O., S. 91). Nietzsche, F.: Menschliches, Allzumenschliches; Zweiter Band, in: Nietzsche, F.: Werke in drei Bänden, hrsg. von K. Schlechta, Bd. 1, Darmstadt 1997, S. 737–1008, hier S. 990. 1639 Ebd. 1640 Vgl. a. a. O., S. 893.

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Nietzsche geht es darum, dass jene, die von der Natur »abge­ schnitten [sind, …] in einen Zustand der Ausdörrung, der Leere, der Abstumpfung, in ein enges und verkümmertes Leben, in Egoismus und Feigheit«1641 geraten. Nietzsche würde – in dem Punkt Aristo­ teles und Kant ähnlich – zudem auch nicht behaupten, dass eine umfassende wissenschaftliche Erkenntnis des Lebendigen im Bereich des Möglichen liegt. Sein Begriff des Lebens ist metaphysisch voraus­ setzungsvoll. In Zur Genealogie der Moral warnt der aufmerksame Beobachter und Analytiker des Nihilismus vor jeglicher Hybris: »Hybris ist heute unsere ganze Stellung zur Natur, unsere Natur Vergewaltigung mit Hilfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit; […] Hybris ist unsere Stel­ lung zu uns, denn wir experimentieren mit uns, wie wir es uns mit keinem Tiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf: was liegt uns noch am ›Heil‹ der Seele.«1642

Und an anderer Stelle: »Den Verächtern des Leibes will ich mein Wort sagen. Nicht umlernen und umlehren sollen sie mir, sondern nur ihrem eignen Leibe Lebewohl sagen – und also stumm werden«, schreibt Nietzsche in Also sprach Zarathustra. Das Kapitel trägt die Überschrift Von den Verächtern des Leibes, was im Hinblick auf posthu­ manistische Projekte eine ganz besondere Strahlkraft hat.1643 Der Leib ist nach Nietzsche gerade nicht minderwertig, sondern Zentrum der Weltorientierung. Im Nachlass spricht er davon, den »Ausgangspunkt vom Leibe«1644 zu nehmen, sich am »Leitfaden des Leibes«1645 zu orientieren. Einen Vorzug des Menschen sieht er gerade darin, »kein Automat zu sein«1646. Er ist auch hinsichtlich gewisser mechanisti­

1641 Taylor, C.: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. 82012, S. 772. 1642 Nietzsche, F.: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: Nietzsche, F.: Werke in drei Bänden, hrsg. von K. Schlechta, Bd. 2, Darmstadt 1997, S. 737–900, hier S. 854. 1643 Nietzsche, F.: Also sprach Zarathustra, in: Nietzsche, F.: Werke in drei Bänden, hrsg. von K. Schlechta, Bd. 2, Darmstadt 1997, S. 275–561, hier S. 300. 1644 Nietzsche, F.: Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre, in: Nietzsche, F.: Werke in drei Bänden, hrsg. von K. Schlechta, Bd. 3, Darmstadt 1997, S. 415–925, hier S. 475. 1645 A. a. O., S. 453. 1646 A. a. O., S. 584.

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scher Verkürzungen wünschenswert klar: »Die Mechanistik kann nur Vorgänge beschreiben, nicht erklären.«1647 Doch zurück zu Moravec und seiner Sicht auf die Zukunft: Ein Roboter der vierten Generation werde befähigt sein, seine »Nachfol­ ger selbst zu konstruieren«1648. Aus Fortpflanzung wird maschinelle Konstruktion. Verbunden hiermit ist, dass dieser Generation von Robotern auch ein Innenleben, Gefühle, und ein Gewahrsein der eigenen Existenz, zugesprochen werden müsse.1649 Für Gefahrenmo­ mente, in denen sich Roboter so verhalten würden, wie wir es sonst als Angst bezeichnen, gebe es passende Reaktionsprogramme, die dem Roboter ein »zielstrebiges« Verhalten ermöglichen.1650 Ein survival of the fittest wird auch für die Entwicklung der Roboter behauptet: »Um im Wettkampf des Lebens erfolgreich bestehen zu können, werden sich Roboter wie Tiere, immer an der Grenze des Möglichen bewegen und häufig auf einer zu schmalen Informationsbasis han­ deln.«1651 Sexualität werde im Hinblick auf diese Robotergeneration nicht mehr benötigt, vergleichbar etwa den Arbeitsbienen. Während Roboter doch zu Gefühlen fähig sein sollten, sei es nicht nötig, Robotern »sexuelle Verhaltensweisen oder Empfindungen einzupro­ grammieren«1652. Mit diesen Robotern sei es möglich, »menschliche Gesellschaften im Prinzip auch ohne uns am Leben zu erhalten«1653. Was an diesen Gesellschaften dann noch »menschlich« wäre, was überhaupt ihr Sinn sein könnte, sagt Moravec nicht. Im Interesse daran, dass die menschliche Kultur bestehen bleibe, führe kein Weg an dieser Entwicklung vorbei.1654 Jedenfalls sei mit diesen Robotern eine Entwicklungsstufe erreicht, in der Kultur und Technik sich gänzlich von Biologie und Natur trennen. Natur sei quantitativ erfassbar: eine Natur ohne Qualitäten; eine Natur, in der nichts an sich Werthaftes

A. a. O., S. 504. Moravec, H.: Computer übernehmen die Macht. Vom Siegeszug der Künstlichen Intelligenz, Hamburg 1999, S. 171. 1649 Vgl. a. a. O., S. 171 f. 1650 Vgl. a. a. O., S. 181. 1651 A. a. O., S. 180. 1652 A. a. O., S. 184. 1653 A. a. O., S. 194. 1654 Vgl. Moravec, H.: Mind children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künst­ licher Intelligenz, Hamburg 1990, S. 141. 1647

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vorkommen darf; eine Natur gedacht als wartungsfreie, selbsttätig arbeitende Maschine.1655 »Postbiologisch«, und »übernatürlich« soll die Zukunft sein.1656 Damit stünde ein »interessanter Machtwechsel« an: Maschinen, unsere »Geschöpfe«, würden die Gesetze und den normalen Lauf der Evolution hinter sich lassen.1657 »Intelligente Maschinen, die uns entwachsen, unsere Fertigkeiten erlernen und sich schließlich unsere Ziele und Werte zu eigen machen, werden unsere Mind Children sein, Kinder unseres Geistes.«1658 Insofern lautet der deutsche Untertitel seines Buches Mind children »Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz«. Moravec sieht einen Konkurrenzkampf zwischen Mensch und Maschine heraufziehen. Von einer »geneti­ schen Wachablösung« ist die Rede, was insofern verwundert, als die Roboter ja nicht mehr auf eine biologische Grundlage, auf Natur, angewiesen sein sollen und die Gene, wie der lebendige Mensch aus Fleisch und Blut in eklatanter Weise an Bedeutung verlieren sollen.1659 Der Konkurrenzkampf zwischen natürlichen und künstli­ chen Wesen bestehe darin, dass sie eine gemeinsame »ökologische Nische« besetzen.1660 Moravec hält es für eine durchaus realistische Möglichkeit, den gebrechlichen und sterblichen Leib durch eine wohl konstruierte 1655 Vgl. Moravec, H.: Computer übernehmen die Macht. Vom Siegeszug der Künstli­ chen Intelligenz, Hamburg 1999, S. 196. 1656 Moravec, H.: Mind children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz, Hamburg 1990, S. 9. 1657 Vgl. a. a. O., S. 9, 28. 1658 Moravec, H.: Computer übernehmen die Macht. Vom Siegeszug der Künstlichen Intelligenz, Hamburg 1999, S. 195. 1659 Vgl. Moravec, H.: Mind children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künst­ licher Intelligenz, Hamburg 1990, S. 13. 1660 Vgl. a. a. O., S. 140. Und an anderer Stelle schreibt er: »Mit wachsender Leistungsfähigkeit der Maschinen werden wirtschaftliche Gesichtspunkte dazu führen, daß sich das Zahlenverhältnis Mensch/Maschine immer stärker zugunsten der Maschine verschiebt. Das muß nicht unbedingt bedeuten, daß die Zahl der Menschen in diesem Stadium geringer wird. Die Maschinen können sich auch einfach rascher vermehren und mit jeder neuen Generation noch leistungsfähiger werden.« (A. a. O., S. 142 f.) Der Posthumanist Frank Tipler schreibt angesichts derartiger Konkurrenzvorstellun­ gen zwischen Mensch und künstlicher Intelligenz: »Selbst wenn wir eine solche Maschine konstruieren könnten, sollten wir dies besser nicht tun, da sie sich gegen uns, ihre Schöpfer, wenden würde.« (Tipler, F.: Die Physik der Unsterblichkeit. Moderne Kosmologie, Gott und die Auferstehung der Toten, München 41999, S. 45).

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Maschine zu ersetzen und sämtliche mentalen Lebensäußerungen des Menschen computertechnisch abzuspeichern und einem Roboter ein­ zuspeisen.1661 »Ein Materietransmitter könnte ein Objekt abtasten, jedes seiner Atome oder Moleküle nacheinander orten und sie möglicherweise ent­ fernen. Die Identität der Atome würde an einen Empfänger übertragen werden, wo das Gerät in der gleichen Reihenfolge ein Duplikat des Ori­ ginalobjekts aus einem örtlichen Atomvorrat zusammensetzte.«1662

In logischer Hinsicht stellt sich jedenfalls die Frage, was die Kopie eigentlich mit dem Original zu tun hat. »Obgleich die intellektuellen Kräfte und sozialen Gewohnheiten des Menschen von der größten Bedeutung für ihn sind, so dürfen wir doch die Bedeutung seines kör­ perlichen Zustandes […] nicht unterschätzen.«1663 So hatte Darwin argumentiert. Und im ersten Gang hatten wir begründet, warum Indi­ vidualität eben nicht nur an mentalen Lebensäußerungen festgemacht werden kann. Moravec spekuliert darüber, dass sich die Nachfolger des Men­ schen in einer postbiologischen Welt Raum und Zeit unterwerfen.1664 Damit hätten sie auf jeden Fall quasigöttliche Qualitäten. Der Unter­ schied zwischen Sterblichen und Unsterblichen solle aufgehoben, der Tod beseitigt werden. Rémi Brague legt in seinem lesenswerten Essay über Europa nahe, die aus dem Schatz des Christentums kommende Bestimmung von Gnade und Natur – Gratia non tollit sed perficit naturam – auch einmal im Hinblick auf die Technik anzuwenden. Wir können dies hier auch im Hinblick auf den Posthumanismus tun. Für Brague ist klar, dass es weder um eine Verklärung noch um eine Dämonisierung der Natur gehen kann. Das Gewachsene könne durch das Gemachte ver­ vollkommnet werden. Wir kennen diesen Gedanken von Aristoteles. Brague macht auf einen wichtigen Aspekt aufmerksam: »[D]ies darf

1661 Vgl. Moravec, H.: Computer übernehmen die Macht. Vom Siegeszug der Künstli­ chen Intelligenz, Hamburg 1999, S. 122; Moravec, H.: Mind children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz, Hamburg 1990, S. 152. 1662 Moravec, H.: Mind children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz, Hamburg 1990, S. 164. 1663 Darwin, C.: Die Abstammung des Menschen, übersetzt von H. Schmidt, mit einer Einführung von C. Vogel, Stuttgart 2002, S. 56. 1664 Vgl. Moravec, H.: Mind children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künst­ licher Intelligenz, Hamburg 1990, S. 202.

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nicht zur Beseitigung dessen führen, worin die Natur ihre Vollendung erreicht: dem menschlichen Körper als Ort der Inkarnation und Träger der Person.«1665 Doch gerade dieser menschliche Leib, der unsere Natur ist, ist für Posthumanisten das zu Überwindende. Erinnern wir uns noch einmal an den Roman Homo faber von Max Frisch. Walter Faber träumt dort davon, dass die Technik Natur verbessern und ersetzen könne. Anders als ein Roboter bestünde der Mensch aus ver­ fehltem Material. »Die Primitiven versuchten den Tod zu annullieren, indem sie den Menschenleib abbilden – wir, indem wir den Men­ schenleib ersetzen.«1666 Er greift dies später noch einmal auf und bekräftigt: »Überhaupt der ganze Mensch! – als Konstruktion mög­ lich, aber das Material ist verfehlt: Fleisch ist kein Material, sondern ein Fluch.«1667 Der Traum scheint hier weitergeträumt zu werden. Was Frisch im Hinblick auf die Figur des Homo faber in einem Interview im Jahr 1959 einmal festhielt, scheint nichts an Aktualität eingebüßt zu haben: »[D]as Leben ist ihm fremd, weil er ohne den Tod zu leben versucht.«1668

8.5.6 Singularity: Kurzweils posthumanistische Ideen In seinem Buch The Singularity is near hebt Ray Kurzweil immer wie­ der jene Veränderungen heraus, die seiner Ansicht nach bevorstehen. »What, then, is the Singularity? It’s a future period during which the pace of technological change will be so rapid, its impact so deep, that human life will be irreversibly transformed.«1669 Schon der Untertitel jenes Buches ist bezeichnend: When Humans Transcend Biology.1670 Hiermit ist sein zentrales Anliegen angesprochen. 1665 Brague, R.: Europa – seine Kultur, seine Barbarei. Exzentrische Identität und römi­ sche Sekundarität, Heidelberg 22012, S. 208. 1666 Frisch, M.: Homo faber. Ein Bericht, Frankfurt a. M. 1977, S. 77. 1667 A. a. O., S. 171. 1668 Frisch, M.: Jede Zeit hat ihre ideologischen Klischees, in: Frisch, M.: »Wie Sie mir auf den Leib rücken!« Interviews und Gespräche, Berlin 2017, S. 23–29, hier S. 28. 1669 Kurzweil, R.: The Singularity Is Near. When Humans Transcend Biology, New York 2005, S. 7. 1670 Vgl. Kurzweil, R.: The Singularity Is Near. When Humans Transcend Biology, New York 2005. Das Thema greift er auch schon vorher in anderen Publikationen auf. »In The Age of spiritual Machines (ASM), which I wrote in 1998, I sought to articulate the nature of human life as it would exist past the point when machine and human cognition blurred.

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Die Zukunftsvision Kurzweils ist postbiologisch. Wenn er von Singularity spricht, meint er damit eine aus der Verbindung von Computer-Technologie und Mensch hervorgehende Menschheit 2.0, eine andere, neue Menschheit, als wir sie heute kennen. Er hat ein neues Zeitalter vor Augen. Leben versteht er als digitale Informa­ tionsverarbeitung. Beschränkungen der Natur sollen überwunden werden, Singularity im gesamten Universum anzutreffen sein. »Singularity« steht für die Überzeugung, Maschinen könnten irgendwann Menschen an Intelligenz in erheblicher Weise übertref­ fen. Dies ist verbunden mit der Überzeugung, irgendwann wären Maschinen befähigt, dem Menschen weit überlegene, intelligente Maschinen hervorzubringen. Kurzweil zeichnet die Abfolge unterschiedlicher Epochen in der Erd- und Menschheitsgeschichte nach.1671 Die erste Epoche sei jene der Physik und Chemie, auf welche jene der Biologie und DNA folge. Es folgt darauf die Entwicklung von Gehirnen und schließlich das Auftreten von Technik. Menschliche Intelligenz und Technik würden in Zukunft miteinander verschmelzen. Es erinnert freilich an den Optimismus eines Francis Bacon, der dazu aufforderte, die Natur zu studieren, um die eigene Macht­ fülle zu steigern. Gelänge es, so hatte dieser argumentiert, auf die Natur geduldig zu hören, werde der Mensch in die Lage versetzt, die Natur nach dem eigenen Willen dienstbar zu machen, sie zu zwingen. »Natura enim non nisi parendo vincitur: et quod in con­ templatione instar causae est, id in operatione instar regulae est«, wie dieser beispielsweise im dritten Aphorismus des ersten Teils seines Novum Organum Scientiarium erläutert. Bei Kurzweil liest sich das so: »[B]iology will never be able to match what we will be able to engineer once we fully understand biology’s principles of operation.«1672 Im Hinblick auf Natur und Lebendiges betont er vor allem Grenzen: »Biology has inherent limitations. For example, every living organism must be built from proteins that are folded from one-dimen­ sional strings of amino acids. Protein-based mechanisms are lacking

Indeed, I’ve seen this epoch as an increasingly intimate collaboration between our biological heritage and a future that transcends biology.« (A. a. O., S. 3). 1671 Vgl. a. a. O., S. 14 ff. 1672 A. a. O., S. 206.

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in strength and speed.«1673 Doch dies müsse nicht so sein; natürliche Grenzen könnten überwunden werden. »We will be able to reengineer all of the organs and systems in our biological bodies and brains to be vastly more capable.«1674 Biotechnologie ermögliche es, natürliche »Mängel« zu korrigieren: »Biotechnology will extend biology and correct its obvious flaws.«1675 A. a. O., S. 27. Ebd. 1675 A. a. O., S. 323. Auch ewiges Leben wird versprochen: »We will be able to live as long as we want.« (A. a. O, S. 9) Kurzweil geht auch auf die Vorstellung des Mind Uploadings ein. Er schreibt dazu: »Uploading a human brain means scanning all of its salient details and then reinstantiating those details into a suitably powerful computational substrate. This process would capture a person’s entire personality, memory, skills, and history. « (A. a. O., S. 198 f.) Der Leib ist in dieser Perspektive lediglich eine dematerialisier­ bare Größe, nichts, was mit geistigen Prozessen der Person in Verbindung stünde. Er kann einfach ersetzt werden. In der so erschaffenen schönen neuen Welt könne sowohl über den neuen Körper als auch über unbewusste Lebensäußerungen vollständig Kontrolle ausgeübt werden. Erste Überlegungen in Richtung Mind Uploading finden sich schon in einem Aufsatz von John D. Bernal aus dem Jahr 1929 (Bernal, J. D.: The World, the Flesh & the Devil. An Enquiry into the Future of the Three Enemies of the Rational Soul, o. A. 1929). In dem Aufsatz begegnet eine stark enzephalozentrische Sicht, die dem Gehirn eine Sonderrolle zuschreibt: Man müsse nur dafür Sorge tragen, dass es mit Blut versorgt werde; Nerven könne man auch mit einer Maschine verbinden. »[T]he brain thus connected up continues an existence, purely mental and with very different delights from those of the body, but even now perhaps preferable to complete extinction.« (A. a. O., S. 15) Die einzelnen Hirne ließen sich auch noch miteinander vernetzen zu einer überindividuellen Größe, welche auch dann erhalten bliebe, wenn einzelne Gehirne irgendwann einmal abstürben. Die Evolution könne man so auf neue Bahnen bringen: »Normal man is an evolutionary dead end; mechanical man, apparently a break in organic evolution, is actually more in the true tradition of a further evolution. « (A. a. O., S. 19) Auch die Kontrollmöglichkeiten werden benannt: »The new life would be more plastic, more directly controllable and at the same time more variable and more permanent than that produced by the triumphant opportunism of nature.« (A. a. O., S. 21) Die Vision wird auch noch in die Weiten des Weltalls ausgedehnt: Diese neue Form der Menschheit würde irgendwann die Erde verlassen und ins Uni­ versum aufbrechen. – Mark O’Connell will Verbindungslinien zwischen den Über­ zeugungen, die dem Mind Uploading zugrunde liegen, und antiken gnostischen Vor­ stellungen ausmachen. Ein Aspekt ist demnach z. B., dass die Sicht auf die materielle Welt sehr negativ ist und der Geist unser eigentliches Menschsein ausmache. (O’Con­ nell, M.: Unsterblich sein. Reise in die Zukunft des Menschen, München 2017, S. 83 ff.) Ein Übel wird in der Verkörperung ausgemacht, die es zu überwinden gelte. Dies ist für einige Auserwählte durch die Vervollkommnung ihres Wissens möglich. Abgese­ hen davon, dass im Kontext posthumanistischer Publikationen zumeist christologi­ 1673

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»Wir machen uns ein falsches Bild, wenn wir eine komplizierte Maschine als ein Einzelwesen betrachten; in Wirklichkeit ist sie eher wie eine Stadt oder Gesellschaft, deren Glieder alle artgemäß erzeugt wurden«1676, wie die Romanfigur George Hoggs in Butlers Roman EREWHON aus dem »Buch der Maschinen« zitiert, das wir zu Beginn des Kapitels erwähnten. Jene Idee des Zusammenschlusses von Maschinen zu einer übermächtigen »Gesellschaft« ist in Kurz­ weils Vorstellung von »Singularity« präsent. »The Singularity will represent the culmination of the merger of our biological thinking and existence with our technology, resulting in a world that is still human but that transcends our biological roots. There will be no distinction, post-Singularity, between human and machine or between physical and virtual reality.«1677

Die von Kurzweil immer wieder ins Spiel gebrachte These der Singula­ rität dürfte wohl von Irving J. Good beeinflusst worden sein. Mitte der 1960er Jahre denkt der Mathematiker über Formen der Künstlichen Intelligenz nach. Es sei möglich, Künstliche Intelligenz herzustellen, die uns Menschen überlegen sei, was eine Dynamik auslöse: Aus der Anfangs-KI entstehe eine, die der ersten überlegen sei, diese setzte sich in einer noch überlegeneren Form fort und so weiter. Kurzweil zeigt sich überzeugt: »Unsere primäre Strategie sollte […] sein, dass künftige nichtbiologische Intelligenz unsere Werte reflektiert: Freiheit, Toleranz und Respekt vor Wissen und Viel­ falt.«1678 Aber was meint er, wenn er von »Freiheit« spricht? Ist Willkürfreiheit gemeint oder eine, die nach dem Guten Ausschau hält und sich an dieses zu binden bereit ist? Und in welcher Weise spricht sche und trinitarische Bezüge fehlen und Speichermedien bekanntlich keine lange Haltbarkeit aufweisen, würde das Erzeugnis eines Mind uploading nicht in eine Unzeitlichkeit eintreten. Das Übersichhinausschreiten geschieht hier nicht in Aus­ einandersetzung mit anderen Menschen, der Natur und dem Göttlichen. Der Mensch öffnet sich nicht für etwas, das ihn übersteigt. Nach christlicher Vorstellung wird kein Heil am Leib vorbei in Aussicht gestellt. Siehe hierzu auch meinen Beitrag: Knaup, M.: Mind Uploading? Eine philosophische Kritik, in: Willmann, T. A. / El Maleq, A. (Hrsg.): Sterben 2.0. (Trans-)Humanistische Perspektiven zwischen Cyberspace, Mind Uploading und Kryonik, Berlin 2022, S. 175– 194. 1676 Butler, S.: EREWHON oder Jenseits der Berge, hrsg. von H. M. Enzensberger, Frankfurt a. M. 1994, S. 289. 1677 Kurzweil, R.: The Singularity Is Near. When Humans Transcend Biology, New York 2005, S. 9. 1678 Kurzweil, R.: Menschheit 2.0. Die Singularität naht, Berlin 22014, S. 438.

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er hier überhaupt von »Reflexion«? Die hier in den Raum gestellten Begriffe bleiben unklar. Posthumanisten verorten sich selbst in der Tradition der Aufklä­ rung. Die Betonung der Bedeutung von Freiheit und Wissenschaft findet sich daher immer wieder in den einschlägigen Publikationen. Wir haben es hier aber mit einem Vulgärverständnis von Aufklärung zu tun. Kant etwa geht es um eine Vernunft, die ihr Wirken in Anerkennung der Würde der Vernunftwesen entfaltet. Bei den Post­ humanisten jedoch scheint die Vernunft nicht mehr viel mit dem Unverfügbaren zu tun zu haben. Ihre »Vernunft« ist keine, indem sie sich nicht durch sich selbst gebundene Sittlichkeit eingeschränkt wissen will. In wortreichen Bekenntnissen wird zwar die »Menschen­ würde« immer wieder gelobt, doch die in Aussicht gestellten experi­ mentellen Eingriffe und eugenischen Maßnahmen zeigen, dass es dort um ihre Erhaltung nicht gut bestellt ist. Posthumanisten heben besonders den angeblichen Freiheitscharakter ihrer Überlegungen hervor. Es gehe schließlich darum, die Zukunft in die Hand zu nehmen. Allerdings kann und darf nicht übersehen werden, dass dies alles auf eine Selbstaufhebung des Menschen und allem, was zum Menschsein gehört, hinausläuft. Freiheit kann nicht wollen, dass es sie nicht gibt. Prägnant bringt es Oliver Müller auf den Punkt, wenn er schreibt: »Die Schriften der [Posthumanisten] lesen sich wie tiefenpsychologi­ sche Protokolle des auf der Couch liegenden Homo faber, der von seinen Träumen erzählt. Mehr noch: Das vehemente Hinter-sich-las­ sen-Wollen des unzulänglichen menschlichen Seins erinnert durchaus an den Freudschen Todestrieb.«1679

8.5.7 Fazit In früheren Zeiten war es ein wichtiges Anliegen, dass der Mensch nach bestimmten Vorstellungen, ethischen, religiösen, humanisti­ schen, ästhetischen, geformt wird. Foucault hatte das »Technologien des Selbst«1680 genannt. Im Kontext der Posthumanismus-Debatten Müller, O.: Zwischen Mensch und Maschine. Vom Glück und Unglück des Homo faber, Berlin 2010, S. 132. 1680 Foucault, M. / Martin, R. / Martin, L. H. / Paden, W. E. / Rothwell, K. S. / Gutman, H. / Hutton, P. H.: Technologien des Selbst, Frankfurt a. M. 1993.

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8.5 Posthumanismus: Die Natur durch Technik überwinden?

ist aber eine andere Dimension erreicht: Es geht um einen neuen Menschen, ein posthumanes Menschsein. Das blinde Vertrauen in all die Heilsversprechungen der Posthu­ manisten sowie die schroffe Absage an all das, was uns als Menschen ausmacht, ist schon mehr als erstaunlich: unsere leibliche Gegeben­ heit und damit auch unsere Verwundbarkeit, Mortalität wie unser Bewusstsein. Das, was Sie und mich ausmacht, wird vor allem in der Poiesis, nicht in der Praxis, gesehen. Gernot Böhme argumentiert, dass eine »technische Erweite­ rung« eine »technologische Entmündigung« darstelle: »Der Adressat dieser Menschenverbesserung ist der schon beschädigte Mensch, der Mensch, der Selbstkultivierung und Selbstsorge gar nicht kennt oder zu träge ist, ›sich selbst zu bemühen‹, wie Kant schon vom Menschen selbstverschuldeter Unmündigkeit feststellte.«1681 Problematisch sei ein funktionalistisches Selbstverständnis und ein besinnungsloser Glaube an Konsumsteigerung und Technikentwicklung: »Vor aller möglichen Verbesserung des Menschen muss es darum gehen, sich im Mensch-sein einzurichten, zu erkunden und zu leben, was zum Mensch-sein gehört und die Möglichkeiten zu entwickeln, die im Mensch-sein liegen.«1682 Natur lässt sich wohl nicht so einfach durch eine konstruierte Welt ersetzen, wie Posthumanisten sich das wünschen. Das »pralle Leben« ist bunter als bloße Simulation. »Wir können zwar neue und virtuelle Umwelten erfinden und in Maschinen darstellen, nicht aber unseren eigenen Leib. Wir können andere Menschen als Körper simulieren, aber nicht als Leib. Denn den Vollzug selbst von Subjek­ tivität und damit von Leiblichkeit kann man nicht simulieren.«1683 Natur ist keine bloße Gegenwelt, die es zu überwinden gilt, sondern Ermöglichungsbedingung für Leib und Leben. Posthumanistische Böhme, G.: Gut Mensch sein. Eine Proto-Ethik, in: Müller, O. / Maio, G. (Hrsg.): Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspekti­ ven, Göttingen 2015, S. 256–272, hier S. 268. 1682 A. a. O., S. 269. In der Technisierung unseres Leibes sieht Böhme eine große Gefahr für den Menschen und formuliert folgende »Maxime des souveränen Menschen«: »Leben und sterben lernen und, um Mensch zu sein, sich weigern, Maschine zu sein.« (Böhme, G.: Über die Natur des Menschen, in: Seubold, G. (Hrsg.): Die Zukunft des Menschen. Philoso­ phische Ausblicke, Bonn 1999, S. 41–57, hier S. 57). 1683 Irrgang, B.: Posthumanes Menschsein? Künstliche Intelligenz, Cyberspace, Roboter, Cyborgs und Designer-Menschen – Anthropologie des künstlichen Menschen im 21. Jahrhundert, Stuttgart 2005, S. 76. 1681

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Projekte, ließen sie sich denn in die Tat umsetzen, würden eine Gefahr für die Integrität der Gattung Mensch bedeuten. Leben wird unter posthumanistischen Vorzeichen zu einem mit technischen Mitteln hergestellten Machwerk. »Bisweilen sieht es so aus, als rase das neuzeitliche Menschentum auf dieses Ziel los: daß der Mensch sich selbst technisch herstelle; gelingt dies, dann hat der Mensch sich selbst, d. h. sein Wesen als Subjektivität in die Luft gesprengt, in die Luft, in der das schlechthin Sinnlose als der einzige ›Sinn‹ gilt und die Aufrechterhaltung dieser Geltung als die menschliche ›Herrschaft‹ über den Erdkreis erscheint.«1684

Halten wir fest: Der Posthumanismus stellt die alte Frage, was Natur und Menschsein letztlich sind. Genau gesagt, wird diese Frage so gedreht, ob wir in Zukunft die bisherige Natur und den bisherigen Menschen wirklich brauchen. »Nein«, ist hierzu aus den Reihen überzeugter Posthumanisten zu hören. »Nein« deshalb, weil die Unterscheidung zwischen dem Gewachsenen und Gemachten einge­ ebnet werden soll. Damit verschwimmen dann auch die Grenzen von Freiheit und Fremdsteuerung. Eine menschliche Welt ohne Technik gibt es wohl nicht. Wir können an den eingangs zu diesem Kapitel erwähnten Roman EREW­ HON erinnern, dessen Titel ein Anagramm ist, wenn wir ihn rück­ wärts lesen: Eine solche menschliche Welt ist nirgends, nowhere. Wir sollten uns nicht zu Sklaven unserer Maschinen machen, was unwürdig für uns als Freiheits- und Vernunftwesen ist. Es gilt, Technik sinnvoll zu gebrauchen und Natur zu gestalten, nicht aber die Welt gänzlich zu entzaubern zu versuchen.

8.6 Chimbrids und die Frage der Überwindung von Artgrenzen 8.6.1 Rätselhaft-phantasievolle Vorstellungen von Mensch-TierMischwesen Von Mischwesen ist bekanntlich schon in der griechischen Mytholo­ gie die Rede. Malerisch erzählt wird dort von Wesen, die aus zwei oder 1684 Heidegger, M.: Vom Wesen und Begriff der φύσις. Aristoteles‘ Physik B, 1, in: Heidegger, M.: Wegmarken, Frankfurt a. M. 2013, S. 239–301, hier S. 257.

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8.6 Chimbrids und die Frage der Überwindung von Artgrenzen

mehr unterschiedlichen Körpern zusammengesetzt sind und dennoch eine organismische Einheit darstellen. Der Thronsaal in Knossos auf der sonnenverwöhnten Insel Kreta wurde mit löwenartigen Wesen geschmückt, welche Vogelköpfe haben. Und wenn wir schon an Kreta denken, dann freilich auch an Minotauros, der einen Menschenleib hatte, auf dem ein Stierkopf saß. Seine Mutter Pasiphae, Gattin des Königs von Kreta, hatte sich in einen Stier verliebt. Konflikte sind an der Stelle schon vorprogrammiert, da jener Stier eigentlich Poseidon hätte geopfert werden sollen. Um ihr zu helfen, entwickelte Daidalos, ein Tüftler und Erfinder, eine artifizielle Kuh, in die Pasiphae herabsteigen und sich so dem Stier hingeben konnte, woraus dann Minotauros entstand. Wir können an dieser Stelle auch an Echidna erinnern, »halb Mädchen mit lebhaften Augen und schönen Wangen, halb Untier, greuliche, riesige Schlange«1685, die gemeinsam mit Typhon eine illustre Nachkommenschaft hervorbringt: etwa die von Homer wie Hesiod erwähnte Chimäre aus Löwe, Ziege und Schlange im Bellerophon-Mythos.1686 Natürlich können wir an die Kentauren denken: Wesen aus Pferdeleib und dem Oberkörper eines Mannes. Sie haben die europäische Kunstgeschichte nachhaltig inspiriert. Und über Kekrop, den Urkönig der Stadt Athen, heißt es bei Apollodor, er sei ein Wesen aus Mensch und Drache gewesen, aus der Erde geboren, ohne leibliche Eltern.1687 Bei Empedokles lesen wir von Kühen »mit unzähligen Händen«1688 bzw. von Wesen »mit dem Rumpf eines Rin­ des, aber dem Antlitz eines Menschen«1689. Schließlich sei wenigstens auch noch Skylla erwähnt, die eine große Gefahr für Odysseus war, und die der erwähnte Apollodor als eine Frauengestalt beschreibt, aus deren Leib gleich sechs Hundeköpfe herausragen.1690 Der Stoff setzt sich fort. Unter den rätselhaft-phantasievollen Bildern, die uns Hieronymus Bosch vor über 500 Jahren hinterlassen hat, gibt es welche, die Tiere zeigen, denen menschliche Extremitäten entwachsen. Auch in der jüngeren Kunstgeschichte sind Mischwesen aus Mensch und Tier ein Thema. So sei hier pars pro toto an das Bild L’invention collective von René Magritte aus dem Jahr 1934 erinnert: 1685 1686 1687 1688 1689 1690

Hesiod: Theogonie / Vom Ursprung der Götter, 298–299. A. a. O., 325. Apollodor: Götter- und Heldensagen, 3,177. Empedokles: Fragm. 60. Empedokles: Fragm. 61. Hierzu auch: Homer: Odyssee XII, 85–96 und Vergil: Aeneis 3, 426–428.

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Die Wogen des Meeres haben ein Wesen an den Strand gespült, dessen Unterkörper von einer Frau, der Oberkörper aber von einem Fisch ist.1691 Und man wird auch kaum verwundert sein, in Dantes La Com­ media auf Chimären zu treffen. So ist in seinem Inferno von einem Wesen die Rede, dass einen spitzen Schweif hat. »La faccia sua era faccia d‘uom giusto, tanto benigna avea di fuor la pelle, e d‘un serpente tutto l’altro fusto«1692. Mischwesen begegnen immer wieder in der Literatur, welche bekanntlich reale Szenerien vorwegzunehmen in der Lage ist. Ende des 19. Jahrhunderts legt H.G. Wells mit seinem Roman Die Insel des Dr. Moreau (Original: The Island of Dr. Moreau) ein nach wie vor unterhaltsames Buch vor: Ein Schiffbrüchiger, Charles Edward Prendick, landet auf einer abgelegenen Insel jenseits der üblichen Schiffsrouten, wo ein Wissenschaftler, Dr. Moreau, ehrgeizig Chimä­ ren herstellt: »[E]in jedes [hatte] etwas Fremdartiges an sich; in jedem hatte Moreau ein oder mehrere Tiere miteinander verschmolzen; eins war vielleicht hauptsächlich bärenartig, ein anderes katzenar­ tig, ein drittes stierartig, aber jedes war mit anderen Geschöpfen gemischt.«1693 Zu den von Moreau erdachten Geschöpfen, die sich auf der Insel tummeln, gehören u. a. ein Wolfbär, ein Hyänenschwein, ein Wesen aus Ziege und Affe, aber auch Tiermenschen wurden von Moreau hergestellt wie z. B. ein Leopardenmensch, ein Bernhardiner­ hundmensch, ein Affenmensch und Stiermenschen. Zu denken wäre auch an den Bilderroman Une semaine de bonté von Max Ernst aus dem Jahre 1934, in dem man in Bildtafeln auf zahlreiche unheimlich anmutende Mischwesen trifft.1694 Und zu Beginn des 16. Jahrhunderts gibt es amerikanische Landkarten, auf denen Wesen zu sehen sind, die aus einem Menschenleib und einem Hundekopf zusammengesetzt sind.1695 Das Fremde wird hier anschaulich. 1691 Vgl. Umland, A. (Hrsg.): Magritte. Das Geheimnis des Gewöhnlichen. 1926– 1938, München 2013, S. 174. 1692 Dante Alighieri: La Commedia / Die göttliche Komödie, I: Inferno / Hölle, Italie­ nisch / Deutsch, in Prosa übersetzt und kommentiert von H. Köhler, Stuttgart 2012, Canto XVII, 10, S. 252. 1693 Wells, H. G.: Die Insel des Dr. Moreau, München / Wien 1992, S. 172. 1694 Hierzu: Spies, W.: Max Ernst Collagen. Inventar und Widerspruch. Ausstellungs­ katalog Max Ernst – Die Welt der Collage, Köln 1988, S. 195. 1695 Vgl. Leroi-Gourhan, A.: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a. M. 1980, S. 15.

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Die unterschiedlichen Gestalten von Mischwesen können als Ausdruck der Frage nach der eigenen Identität gesehen werden. Hier schwingt die Frage mit, was den Menschen im Kern ausmacht, was seine Identität stiftet. Sie stehen für das, was fremd und unbekannt ist. Sie sind verdichtete Versuche, das Fremde zu fassen.

8.6.2 Biotechnologische Konkretionen Im Kontext moderner Biomedizin sind mit dem Begriff »Chimäre« biologische Entitäten gemeint, deren Zellen von wenigstens zwei verschiedenen Zygoten stammen, also über verschiedenes Erbgut verfügen. Die Zellen können hier ebenso von einer gemeinsamen wie auch von unterschiedlichen Arten stammen. Erstere nennt man in der Literatur üblicherweise intraspezifische bzw. Intraspezies-Chimä­ ren, letztere dann interspezifische Chimären und Interspezies-Chi­ mären.1696 Eine Vermischung des genetischen Materials erfolgt nicht; das Chimärengenom ist kein Mischgenom. In der Folgegeneration taucht entweder die eine oder die andere Zelllinie auf. Also: Es gibt bei Chimären einen Grundorganismus, der auch fremdes biologisches Material aufweist. Zu denken wäre etwa an eine menschliche Person, die nach einem biotechnologischen Eingriff tierische Zellen in sich trägt, bzw. an ein Tier, in welches menschliche Zellen implantiert wur­ den. Mit dem Begriff »Hybrid« wird ein Wesen bezeichnet, das Merk­ male ursprünglich verschiedener Arten oder Klassen in sich vereinigt. Es ist das Ergebnis einer Kreuzung.1697 Ein Beispiel wäre das Maultier 1696 Bei Rindern kommt es nicht selten zur Chimärenbildung bei zweieiigen Zwillin­ gen. Hierbei vermischen sich Blut und Blutzellen der heranwachsenden Feten. 1697 Nicht ganz weiterführend erscheint mir die Definition, die der Deutsche Ethikrat vorgelegt hat. Hiernach sei ein Hybridwesen ein Organismus, der aus »der Vereini­ gung von Ei- und Samenzelle entsteht, so dass alle seine späteren Zellen die gleiche genetisch gemischte Zusammensetzung haben« (Deutscher Ethikrat: Mensch-TierMischwesen in der Forschung. Stellungnahme, Berlin 2011, S. 12). Wir sehen schnell, wo es hakt: Jedes Kind wäre demnach ein Hybrid. Fraglich ist z. B. auch folgende Definition einer Chimäre, die sich in einer juristischen Arbeit findet: »Eine Chimäre ist ein Organismus, bei dem Zellen mehrerer, genetisch verschiedener Lebewesen unterschiedlicher Arten nebeneinander in ein und demsel­ ben Körper gegenwärtig sind.« (Lackermair, M.: Hybride und Chimären. Die Forschung an Mensch-Tier-Mischwesen aus verfassungsrechtlicher Sicht, Tübingen 2017, S. 23) Wenn wir ganz streng wären, könnte auch ein Mensch, der gerade in einem japani­

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als eine Verbindung von Pferdestute und Eselhengst. Es verfügt nicht über unterschiedliche Genotypen. Auf das Maultier treffen wir übrigens auch schon bei Aristoteles. Er ist sich dessen bewusst, dass es keine Nachkommen hervorzubrin­ gen vermag.1698 Unser Maultier stammt demnach nicht von Eltern ab, die ebenfalls Maultiere wären. Es handelt sich, wie erwähnt, eben um Pferd und Esel. In Metaphysik VII 8 argumentiert Aristoteles, dass jene Gattung, die Pferd und Esel verbinden würde, keinen Namen habe. Sie würde allerdings beide umfassen. Der Maulesel zeugt keinen weiteren Maulesel – so wie ein Bär einen Bären zeugt und ein Mensch einen Menschen. Bei der Zeugung, so hatte Aristoteles argu­ mentiert, wird die Existenz artgleicher und entwickelter Lebewesen vorausgesetzt. Normalerweise seien also Erzeugendes und Erzeugtes gleichartig.1699 Unserem Maulesel geht, in aristotelischer Diktion gesprochen, nichts Verwirklichtes derselben Art voraus, wohl aber insofern er dieser »anderen« Gattung zugehört. Ludger Jansen spricht hier von den »Pferdeartigen« und hebt ganz richtig hervor, »daß die These von der zeitlichen Priorität der Verwirklichung bezüg­ lich des der Art nach Identischen nicht so uneingeschränkt gültig ist […]. Bei der Entstehung oder Veränderung soll es einen Begriff geben, für den die Prioritätsthese gilt, aber sie muß nicht für alle Begriffe gelten, unter die das Entstandene fällt. Bezüglich vieler Eigen­ schaften sind also Variationen möglich, und das Maulesel-Beispiel zeigt, daß diese Variationen selbst in der Kategorie der Substanz vorkommen können.«1700

Wenn wir von Hybriden sprechen, dann wäre auch an den so genann­ ten Liger zu denken, den man in manchen Zoos antreffen kann:

schen Restaurant Sushi gegessen hat, in diesem Sinne als Chimäre bezeichnet werden. Ebenso ein Mensch, der sich auf einer Reise in entfernte Länder, wo die Hygienebe­ dingungen fraglich sind, eine Parasiteninfektion zugezogen hat. 1698 Vgl. Aristoteles: De generatione animalium II 7, 746 b 12–20 und II 8. 1699 »[D]as gilt nicht nur für Naturdinge, sondern auch für die [Artefakte], denn der Begriff des Hauses im Denken des Baumeisters und das wirkliche Haus sind der Art nach, das heißt begrifflich ein und dasselbe.« (Oehler, K.: Ein Mensch zeugt einen Menschen. Über den Mißbrauch der Sprachanalyse in der Aristotelesforschung, Frank­ furt a. M. 1963, S. 45). 1700 Jansen, L.: Aristoteles und das Problem des Neuen: Wie kreativ sind Veränderungs­ prinzipien?, https://www.ruhr-uni-bochum.de/phth/jansen/Texte/das_neue.pdf, zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022.

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8.6 Chimbrids und die Frage der Überwindung von Artgrenzen

also eine Verbindung aus Löwe und Tiger.1701 Wenn von »Chim­ brids« die Rede ist, sollen damit sowohl Chimären als auch Hybride gemeint sein.1702 Im Folgenden soll es um eine ethische Auseinan­ dersetzung mit der Herstellung von Chimbrids bzw. Mensch-TierMischwesen gehen.1703 »Der moderne Gentechniker kann […] prinzipiell Gene von jedem Organismus nehmen und auf einen anderen Organismus übertragen: Pilzgene in Pflanzen einsetzen, Mausgene in Bakterien, Menschengene in Schafe«1704, so Ian Wilmut. Mischwesen aus Tier und Mensch werden heute im Zuge moder­ ner Stammzellforschung und Gentechnik geschaffen. Ein immer wieder zu vernehmendes Ziel ist (auch hier) der Wunsch, die medi­ zinische Forschung voranzutreiben. Es wird daher beispielsweise beabsichtigt, die frühe Embryonalentwicklung resp. die Stammzellen ausgiebiger zu erforschen. Neue Möglichkeiten für die Gewinnung

1701 »Hybridisierungen zwischen Löwenmüttern und Tigervätern führen zu Ligern, deren Größe die der beiden Elternteile übersteigt. Die Tigermütter führen dagegen zu den wesentlich kleineren Tigons oder Töwen. Von dieser Prägung sind im Wesentlichen Stoffwechsel- und Wachstumsgene betroffen, was auf ihre evolutionäre Funktion ver­ weist: Während die väterliche Prägung das Wachstum fördert, um die Überlebens­ chance der Nachkommen, somit den Fortbestand der eigenen Gene, zu erhöhen, kon­ kurriert der mütterliche Organismus während der Schwangerschaft mit den Nachkommen um wichtige Ressourcen wie Nahrung. Die mütterliche Prägung der Gene wirkt daher beschränkend auf das fetale Wachstum. Da die genomische Prägung wichtige Funktionen erfüllt, führen Fehlprägungen zu Krankheiten.« (Schuol, S.: Das regulierte Gen. Implikationen der Epigenetik für Biophilosophie und Bioethik, Frei­ burg / München 2017, S. 283). 1702 Ich greife bei dieser kreativen Wortschöpfung auf den Vorschlag von Taupitz, J. / Weschka, J.: CHIMBRIDS – Chimeras and Hybrids in Comparative European and International Research: Scientific, Ethical, Philosophical and Legal Aspects, Berlin / Heidelberg 2009, S. 61–79 sowie Düwell, M.: Chimären und Hybride, in: Sturma, D. / Heinrichs, B. (Hrsg.): Handbuch Bioethik, Stuttgart 2015, S. 226–230 zurück. 1703 Strenggenommen sind auch Menschen, die z. B. ein Organ transplantiert bekom­ men haben, menschliche Chimären, da ihre Körper aus den Zellen von zwei (oder mehr) genetisch verschiedenen Menschen bestehen: denjenigen des bzw. der Spender sowie des Empfängers. Auch an Parkinsonpatienten, in deren Gehirn zerebrale Struk­ turen eines Embryos eingepflanzt wurden, sowie an Frauen, die nach der Gestation noch genetisches Zellmaterial ihres Kindes in sich tragen, wäre hier zu denken. Die Frage der Mensch-Mensch-Chimären soll hier jedoch nicht weiter vertieft werden. 1704 Wilmut, I. / Cambell, K. / Tudge, C.: Dolly. Der Aufbruch ins biotechnische Zeit­ alter, München 2002, S. 27.

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pluripotenter embryonaler Stammzellen sollen aufgetan werden.1705 Denkbar ist es etwa dadurch, dass menschliche und tierische Keimzel­ len verschmolzen werden. Das Resultat ist die Entstehung einer neuen Art. In Zeiten einiger handfester Skandale im Bereich der Trans­ plantationsmedizin und einer rückgängigen Bereitschaft, Organe zu spenden, rücken auch die Möglichkeiten der Xenotransplantation in den Blick,1706 also die Transplantation von Geweben und Organen artfremder Arten in den menschlichen Organismus.1707 So wurden z. B. bereits voll entwickelte Organe wie die Niere auf experimen­ teller Basis von Kaninchen, Schweinen, Ziegen, und Schimpansen

Neue Fragen tauchen am Horizont durch den Umstand auf, dass Stammzellen Musterbildungsprozesse initiieren können: Embryoide unterschiedlicher Komplexität können demnach aus pluripotenten Stammzellen hergestellt werden (vgl. hierzu: Denker, H.-W.: Embryonen, Embryoide, Gastrulide … Ethische Aspekte zur Selbstorganisation und zum Engineering von Stammzellkolonien und Embryonen, in: Rothhaar, M. / Hähnel, M. / Kipke, R. (Hrsg.): Der manipulierte Embryo. Potentiali­ täts- und Speziesargumente auf dem Prüfstand, Münster 2018, S. 15–47). Bei Zebra­ fischen konnte gezeigt werden, dass es möglich ist, aus pluripotenten Zellen synthe­ tische Embryonen herzustellen, die selbst entwicklungsfähig sind. Es ist naheliegend, dass dies auch bei Säugetieren möglich sein könnte. Die Folgen wären freilich enorm: »The research will have dramatic impact on the future use of stem cells to better the human condition, providing a framework for future studies in the field of regenerative medicine aimed at constructing tissues and organs from populations of cultured pluripotent cells.« (Barney, J.: U. Va. Smashes Barrier to Growing Organs from Stem Cells, in: UVA Today: University of Virginia, https://news.virginia.edu/c ontent/uva-smashes-barrier-growing-organs-stem-cells (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022)). Die Rede ist von synthetischen Embryonen: »SHEEF«, wobei die Abkürzung für »Synthetic Human Entities with Embryo-like Features« steht. Hierzu: Denker, H.-W.: Stem cell terminology and ›synthetic‹ embryos: a new debate on totipotency, omnipo­ tency, and pluripotency and how it relates to recent experimental data, in: Cells Tissues Organs 199 (2015), S. 221–227; Pera, M. F. / de Wert, G. / Dondrop, W. / LovellBadge, R. / Mummery, C. L. / Munsie, M. / Tam, P. P.: What if stem cells turn into embryos in a dish?, in: Nature Methods 12 (2015), S. 917–919; Aach, J. / Lunshof, J. / Iyer, E. / Church, G. M.: Addressing the ethical issues raised by synthetic human entities with embryo-like features, in: eLIFE 6 (2017), S. 20674. 1706 Vgl. Düwell, M.: Chimären und Hybride, in: Sturma, D. / Heinrichs, B. (Hrsg.): Handbuch Bioethik, Stuttgart 2015, S. 226–230, hier S. 226. 1707 Mit dem Ziel einer möglichen Gewinnung von Xenotransplantaten werden menschliche Stammzellen in Embryonen von Tieren eingebracht. Inwiefern dieser Eingriff zu einer Vermenschlichung der betroffenen Tiere führen kann, ist umstritten. Verständlich ist einerseits die Suche nach geeigneten Spenderorganen. Kritische Einwände beziehen sich auf die Schaffung neuartiger Mischwesen und die hiermit verbundene Gefährdung menschlicher Identität. 1705

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auf den Menschen übertragen.1708 In technischer Hinsicht denkbar wäre es auch, biologisches Material vom Tier in den menschlichen Organismus zu implementieren, um seine Funktionen, Leistungen und Möglichkeiten deutlich zu steigern.1709 Die Bildung von Mensch-Tier-Mischwesen geschieht auf ganz unterschiedlichen Wegen: etwa dadurch, dass Gene, Zellen oder Körpergewebe auf eine andere Art übertragen werden, wodurch Mischwesen entstehen. Die Erzeugnisse können zytoplasmatische Hybride (Zybride), transgene Tiere oder auch Hirnchimären sein. Ich möchte erläutern, was jeweils darunter verstanden wird und was aus philosophischer Sicht hierzu zu sagen ist.1710

8.6.3 Transgene Organismen Werden menschliche Gene auf Tiere hin übertragen, ist von transge­ nen Tieren die Rede. Sie haben (durch horizontalen Gentransfer) das Erbgut einer anderen Art erhalten.1711 In der Forschung greift man Vgl. The Danish Council of Ethics: Man or Mouse? Ethical aspects of chimaera research, o. O. 2007, S. 19. https://www.etiskraad.dk/~/media/Etisk-Raad/en/Pu blications/Man-or-Mouse-2008.pdf?la=da (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022). 1709 »Ein bezüglich der Bekämpfung des Alterns vielversprechender Forschungsan­ satz ist die Schaffung von Mensch-Tier-Hybriden. 2017 ist im Salk Institute for Bio­ logical Studies in Kalifornien eine Mensch-Schwein-Chimäre entstanden, deren Ent­ wicklung erst nach 28 Tagen abgebrochen wurde. Es ist nicht nur so, dass auf diese Weise möglicherweise Organe geschaffen werden können, bei denen die Wahrschein­ lichkeit der Abstoßung beim Empfänger gering ist, sondern auch die Möglichkeit der Übertragung und Integration von nicht menschlichen Genen auf den Menschen könnte mittels dieser Forschung realisiert werden. Zahlreiche Eigenschaften von nicht menschlichen Tieren könnten durchaus im menschlichen Interesse sein.« (Sorgner, S. L.: Übermensch. Plädoyer für einen Nietzscheanischen Transhumanismus, Basel 2019, S. 25). 1710 Es ist Marcus Düwell zuzustimmen, wenn er konstatiert: »Eine Schwierigkeit bei der ethischen Diskussion dieses Themas besteht darin, dass es sich um ganz unter­ schiedliche Formen der Forschung handeln kann, die sich sowohl hinsichtlich des Ausmaßes der artübergreifenden Übertragung von biologischem Material als auch von der Zielsetzung der Forschung unterscheiden.« (Düwell, M.: Chimären und Hybride, in: Sturma, D. / Heinrichs, B. (Hrsg.): Handbuch Bioethik, Stuttgart 2015, S. 226–230, hier S. 226). 1711 Die moderne Gentechnik macht es möglich, auch transgene Pflanzen herzustel­ len. Der Zusatz transgen verweist dabei darauf, dass ihr Genom Anteile verschiedener Spezies aufweist. In diesem Zusammenhang ist z. B. auch von »Patchworkorganis­ men« (Ingensiep, H. W.: Pflanzenchimären als klassische und moderne Biofakte, in: 1708

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meistens auf Mäuse und Ratten zurück. Im Rahmen unserer Ausfüh­ rungen zur Synthetischen Biologie war davon die Rede, dass Tiere geschaffen werden, in deren Genom synthetische DNA eingebaut wird. Auch diese Tiere kann man als transgene Tiere bezeichnen, insofern in ihr Erbgut fremdes (in dem Fall künstlich hergestelltes) eingebracht wurde. Im Jahr 1997 hat man erstmalig ein vollständiges menschli­ ches Chromosom auf eine Maus übertragen.1712 Gene, die mit einer bestimmten Krankheit in Verbindung gebracht werden, werden auf diese Tiere hin übertragen. Man erhofft sich, auf diese Weise Krank­ heiten besser erforschen zu können, wenn ein transgenes Tier ähnli­ che Krankheitsmerkmale aufweist wie ein Mensch. Dirk Lanzerath verweist auch auf wirksame ökonomische Interessen und Zusammen­ hänge: »In der Pflanzen- und Tierzucht erhofft man, durch transgene Organismen deren Qualität und Erträge zu verbessern (Optimie­ rung von Speicherproteinen, Herbizidresistenz, Krankheitsresistenz, Resistenz gegen Schädlinge u. a.).«1713 Wir können hier nochmals das Argument aufgreifen, wonach Organismen in der langen Entwicklungsgeschichte des Lebendigen nicht einem passiven Veränderungsprozess unterlagen, sondern mit der Umwelt in Interaktion standen und diese ebenfalls strukturiert und verändert haben. Beide Seiten wurden und werden durch das

Karafyllis, N. C. (Hrsg.): Biofakte. Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen, Paderborn 2003, S. 155 – 177, hier S. 155) die Rede. Laut D. Lanzerath sind die Risiken bei transgenen Pflanzen (physiologische Nebenfolgen, ökologische Risiken, mikroevolutionäre Folgen) real, aber kaum höher als in der konventionellen Pflanzenzucht. (Lanzerath, D.: Chimäre-Hybride, in: Korff, W. / Beck, L. / Mikat, P. (Hrsg.): Lexikon der Bioethik, Bd. 1, Gütersloh 2000, S. 434–438, hier S. 437) Die Frage nach transgenen Pflanzen soll hier nicht weiter verfolgt werden. 1712 Hierzu: Tomizuka, K. / Yoshida, H. / Uejima, H. / Kugoh, H. / Sato, K. / Ohguma, A. / Hayasaka, M. / Hanaoka, K. / Oshimura, M. / Ishida, I.: Functional expression and germline transmission of a human chromosome fragment in chimaeric mice, in: Nature Genetics, 16 (2), S. 133–143. 1713 Lanzerath, D.: Chimäre-Hybride, in: Korff, W. / Beck, L. / Mikat, P. (Hrsg.): Lexikon der Bioethik, Bd. 1, Gütersloh 2000, S. 434–438, hier S. 436. A. Rigos berichtet 1997 anlässlich der erfolgreichen Übertragung eines vollständigen menschlichen Chromosoms auf Mäuse über Ishida und sein Team: »Die Herstellung von Antikörpern gilt als höchst profitträchtig. So steht denn auch die Hälfte von Ishi­ das Forscherteam im Dienst des Kirin-Konzerns, der sich neben der Bierbrauerei zunehmend der Pharmaproduktion widmet.« (Rigos, A.: Chimären aus Fernost, in: Der Spiegel, 24, 9. Juni 1997, S. 214–215, hier S. 214).

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Beziehungsgefüge nachhaltig geprägt und verändert.1714 Im Labor des Homo faber können daher die Risiken von transgenen Organismen in der Umwelt nicht in angemessener Weise erfasst werden. In das Genom einen fremden Abschnitt einzubringen, kann weitreichende Folgen mit sich bringen. Ein Genom ist, wie inzwischen klar sein sollte, nicht einfach ein »Baukasten«, in dem die Nukleo­ tide statisch angereiht sind. Übersehen werden sollte nicht die im ersten Gang hervorgehobene Dynamik: Selbstorganisation findet statt. Einzelne Gene können aktiviert oder auch inaktiviert werden. Aus Nonsense-DNA kann sense-DNA werden und vice versa.1715 Renate und Gernot Falkner weisen darauf hin, dass sich die Stoffwechselprozesse bei transgenen Tieren stark von denen des Wildtyps unterscheiden. »Aus diesem Grund ist auch der Versuch, die Funktion eines ›Gens‹ dadurch herauszufinden, dass man Nukleotidsequenzen eliminiert, (d. h. eine ›Knock-out Mutante‹ erzeugt) höchst problematisch. Eine kausale Analyse ist durch einen derartigen Eingriff deshalb nicht mög­ lich, weil man bei metabolischen Netzwerken Ursache und Wirkung nicht unterscheiden kann.«1716

Es kommen auch Tiere zum Einsatz, die uns verwandtschaftlich näher stehen als kleine Nager: so etwa erstmals im Jahr 1998 ein Affe, 2008 dann mit der Begründung, die schreckliche Huntington-Krankheit1717 Vgl. List, E.: Ethik des Lebendigen, Weilerswist 2009, S. 14. Vgl. Karafyllis, N. C.: Grüne Gentechnik: Pflanzen im Kontext von Biotechnologie und Bioökonomie, in: Kirchhoff, T. / Karafyllis, N. C. (Hrsg.): Naturphilosophie. Ein Lehr- und Studienbuch, Tübingen 2017, S. 281–291, hier S. 285. 1716 Falkner, G. G. / Falkner, R. A.: Die Selbstgestaltung der Lebewesen in Erfahrungs­ akten. Eine prozessbiologisch-ökologische Theorie der Organismen, Freiburg / München 2020, S. 187. 1717 Vgl. Yang, S.-H. / Cheng, P.-H. / Banta, H. / Piotrowska-Nitsche, K. / Yang, J.J. / Cheng, E. C. H. / Snyder, B. / Larkin, K. / Liu, J. / Orkin, J. / Fang, Z.-H. / Smith, Y. / Bachevalier, J. / Zola, S. M. / Li, S.-H. / Li, X.-J. / Chan, A. W. S.: Towards a transgenic model of Huntington’s disease in a non-human primate, in: Nature, 453, 2008, S. 921–924. Die vorgenommenen Genveränderungen bei transgenen Primaten werden in die nächste Generation weitervererbt, was man sich zur Erforschung von Krankheiten zu Nutze machen möchte. Vgl. Chan, A. W.: Transgenic primate research paves the path to a better animal model: are we a step closer to curing inherited human genetic dis­ orders?, in: Journal of Molecular Cell Biology 1 (1), 2009, S. 13 f.; Sasaki, E. / Suemizu, H. / Shimada, A. / Hanazawa, K. / Oiwa, R. / Kamioka, M. / Tomioka, I. / Sotomaru, Y. / Hirakawa, R. / Eto, T. / Shiozawa, S. / Maeda, T. / Ito, M. / Ito, R. / Kito, C. / 1714 1715

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oder auch die Entstehung unseres Sprachvermögens besser erforschen zu können.1718 Gerade die Tatsache der engen Verwandtschaft von Menschen und Primaten wird als Argument für Mensch-Tier-Mischwesen in die Waagschale zu legen versucht: »Great apes are of special interest because their relatively large craniums and long brain devel­ opment time seem more conducive to the development of humanlike brains than in the case of laboratory animals.«1719 Für Wolf-Michael Catenhusen scheint klar zu sein, dass sich keine »weitergehende[n] Fragen des Tierschutzes«1720 stellen. Aber ist das wirklich so sicher? Und welche möglichen Bedenken gibt es bei der Erzeugung transgener Primaten? Wir werden darauf zurückkommen!

8.6.4 Zytoplasmatische Hybride Wenden wir uns nun den zytoplasmatischen Hybriden zu und erin­ nern uns dafür zunächst einmal an das Jahr 1997, in dem das Klonschaf Dolly das Licht der Welt erblickte. Hierbei hatte man einen Zellkern aus den Euterzellen in eine entkernte Eizelle transferiert. Aus 277 Eizellen entstanden 29 Embryonen, von denen schließlich »Dolly« überlebte.1721 Bei der Erzeugung zytoplasmatischer Hybride geht man auch so vor, dass man zunächst eine Eizelle entkernt. Man greift in diesem Fall auf die Eizellen von Kühen zurück, in die dann der

Yagihashi, C. / Kawai, K. / Miyoshi, H. / Tanioka, Y. / Tamaoki, N. / Habu, S. / Okano, H. / Nomura, T.: Generation of transgenic non-human primates with germline transmission, in: Nature 459 (2009), S. 523–528. 1718 Vgl. Degrazia, D.: Human-animal chimeras: Human dignity, moral status, and species prejudice, in: Metaphilosophy 38 (2007), S. 309–329. 1719 A. a. O., hier S. 310. 1720 Catenhusen, W.-M.: Tiere und Mensch-Tier-Mischwesen in der Forschung, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte, 62. Jahr­ gang, 8–9/2012, 20. Febr. 2012: Mensch und Tier, S. 47–53, hier S. 48. 1721 Inzwischen hat man Klonierungstechniken auch an Primaten weiterentwickelt, was aufgrund der verwandtschaftlichen Nähe – in genetischer und physiologischer Hinsicht – zum Menschen ethische Fragen aufwirft. Besonderes Augenmerk bei der Forschung mit Tieren müsste auf die genetische Nähe zum Menschen gelegt werden, wie grundsätzlich auch im »Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere« (Dok. Nr. 2008/0211, hier S. 4) nahegelegt wird. Dies kann hier aber nicht weiter vertieft werden.

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Zellkern eines Menschen übertragen wird.1722 Die dabei entstehende Zelle verfügt nicht nur über ein fast vollständiges menschliches Genom, sondern vermag sich auch weiter zu entwickeln. Ähnlich wie bei Dolly die Mitochondrien von den Eizellen mit übernommen wurden (also nicht vom Spendertier stammten), werden auch in diesem Fall die Mitochondrien von den Rinderzellen beigesteuert. Dass man auf die Zellen von Tieren zurückgreift, wird v. a. damit begründet, dass die Gewinnung von Eizellen bei Frauen mit Aufwand und Risiken verbunden ist: etwa durch Hormongabe, durch Supero­ vulation und einen (operativen) Eingriff (»such egg cells are more

1722 Hierüber berichten im Jahr 2006: Illmensee, K. / Levanduski, M. / Panayiotis, M. / Zavos, E. S.: Evaluation of the embryonic preimplantation potential of human adult somatic cells via an embryo interspecies bioassay using bovine oocytes, in: Fertilility and Sterility, 85, Suppl. 1 (2006), S. 1248–1260. Erlaubt sind solche Eingriffe heute z. B. in Großbritannien. Drei Jahre zuvor hat man diese Technik erfolgreich mit entkernten Kaninchenzellen bis zum Blastozystenstadium durchgeführt. Es konnten pluripotente Stammzellen entnommen werden: Vgl. Chen, Y. / Xu He, Z. / Liu, A. / Wang, K. / Wei Mao, W. / Xin Chu, J. / Lu, Y. / Fu Fang, Z. / Tang Shi, Y. / Zhang Yang, Q. / Yuan Chen, D. / Kang Wang, M. / Song Li, J. / Liang Huang, S. / Yin Kong, X. / Zhou Shi, Y. / Qiang Wang, Z. / Hui Xia, J. / Gao Long, Z. / Gang Xue, Z. / Xiang Ding, W. / Zhen Sheng, H.: Embryonic stem cells generated by nuclear transfer of human somatic nuclei into rabbit oocytes, in: Cell Research, 13 (2003), S. 251–264; The Danish Council of Ethics: Man or Mouse? Ethical aspects of chimaera research, o. O. 2007, S. 13.

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readily accessible«1723).1724 Rein mathematisch macht das Erbgut in den Mitochondrien etwa 0,1 Prozent aus. Über 99 Prozent sind 1723 The Danish Council of Ethics: Man or Mouse? Ethical aspects of chimaera research, o. O. 2007, S. 13. In seiner Stellungnahme Chimeras and Hybrids With Specific Attention To Cytoplasmic Hybrids vom 26. Juni 2009 (https://bioetica.governo.it/media/3291/p84_2009_c himeras-and-hybrids_en.pdf (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022)) hält das Nationale Bioethik-Komitee Italiens (NBC) fest, dass einige Mitglieder auf die unge­ klärte Identität der Mischwesen aufmerksam gemacht haben, weshalb sie die Schaf­ fung von zytoplasmatischen Hybriden durch die Klonmethode als ethisch problema­ tisch ansehen, während eine andere Gruppe von Mitgliedern des Ethikrates, die nicht von der absoluten Schutzwürdigkeit des menschlichen Embryos von Anfang an aus­ gehen, keine grundsätzlichen Bedenken ausmachen, derartige Mischwesen zu schaf­ fen (a. a. O., S. 2). Mit der Frage nach dem Status der Mischwesen steht auch wieder die Frage des Schutzund Würdestatus des menschlichen Embryos vor der Tür. »The recognition of human supremacy on other living beings is not a speciesist anthropocentric prejudice, but the acknowledgment of the importance of man not only because of his peculiar genetic characteristics, but also because of the potential and natural abilities he has developed, during the history of his evolution, amongst which language, moral intelligence and the discrimination between right and wrong, free will or cultural elaboration, and other characteristics.« (A. a. O., S. 16 f.) Der italienische Bioethikrat schlägt vor, auch solche Entitäten als menschliche Embryo­ nen zu verstehen, die DNA vom Menschen und einer anderen Spezies aufweisen (vgl. Presidenza del Coniglio Ministri (National Bioethics Committee): Chimeras And Hybrids With Specific Attention To Cytoplasmic Hybrids, 26th of June 2009, https:// bioetica.governo.it/media/3291/p84_2009_chimeras-and-hybrids_en.pdf (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022), S. 21)). 1724 Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist es auch nicht, einen ökonomischen Anreiz für Frauen aus armen Ländern zu schaffen, ihre Eizellen herzugeben, da dies eine moderne Form der Ausbeutung der Frauen wäre. Auch die Motivation, die Forschung voranzubringen und deshalb Eizellen zu spenden, wäre insofern aus ethischer Per­ spektive kritisch zu sehen, da hier a) eine Gefahr für die Frauen besteht und b) sich die Probleme des Umgangs mit embryonalen Stammzellen stellen. M. Bobbert führt neben diesen Punkten noch einen weiteren Aspekt an. Sie sieht es kritisch, »Frauen, die sich wegen ungewollter Kinderlosigkeit einer IVF-Behandlung unterziehen, gleichzeitig die Teilnahme an einem Eizellspendeprogramm nahezulegen. Zum einen muss die Hormonstimulation dann höher ausfallen oder nochmals erfolgen, um zusätzliche Eizellen zu erzeugen. Zum anderen ist aus der psychologischen und ethi­ schen Literatur zur Forschung am Menschen hinreichend bekannt, wie problematisch es ist, im Behandlungskontext eine freiwillige und informierte Zustimmung zu gewährleisten, weil viele Patient(inn)en sich psychisch vom Wohlwollen der behan­ delnden Ärzte abhängig fühlen.« (Bobbert, M.: Was macht Menschsein aus, wenn Biotechniken die Spezies verändern? Ethische Fragen der Forschung mit embryonalen Stammzellen, alternativen Klonverfahren und Chimären, in: Ethica 15 (2007), 1, S. 7–49, hier S. 10 f.).

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menschliches Erbgut. Während in der Synthetischen Biologie die Frage von Bedeutung ist, wie viele Gene überhaupt nötig sind, damit Leben möglich ist, ist hier die Frage von Belang, ob menschliches und tierisches Genmaterial vermischt werden dürfen und wenn ja, wie hoch der jeweilige Anteil sein darf, um das so entstehende Wesen zu bestimmen. Ziel dieses Forschungsfeldes ist es, menschliche Stammzelllinien herzustellen. Man kann in dem Zusammenhang u. a. auch auf das Argument stoßen, so die Probleme verbrauchender Embryonenfor­ schung meiden zu können. Man kann freilich so argumentieren, wenn man bereit ist, die mit diesem Forschungszweig verbundenen Probleme auszublenden. Aufgrund der mitochondrialen DNA lässt sich zudem wohl nicht mit Sicherheit sagen, ob diese embryonalen Stammzellen auch tatsächlich für therapeutische Zwecke verwendet werden könnten. In ethischer Hinsicht ist besonderer Fokus darauf zu legen, dass bei der Herstellung von Mensch-Tier-Mischwesen embryonales Gewebe und Stammzellen (adulte wie embryonale) Verwendung finden können. »Es steht zu vermuten, dass insbesondere dann, wenn Eizellen, embryonale Stammzellen oder anderes embryonales Gewebe beteiligt sind, unkontrollierbare Effekte der Genfusion oder des Gentransfers auf verschiedenen Ebenen stattfinden können, also auf der Ebene der Körperzellen, Stammzellen oder sogar der primordialen Keimzellen. Wohl wurden Eingriffe in die Keimbahn beim Menschen internatio­ nal geächtet und bislang nicht entwickelt. Durch Chimären- und Hybridexperimente könnten jedoch auf technischem Weg nicht nur neuartige Fusionen zwischen Mensch und Tier entstehen, sondern auch unerwünschte Keimbahneffekte auftreten.«1725

In den Debatten hierzu wird u. a. auch das Argument eingebracht, dass, wenn die so erzeugten Mensch-Tier-Mischwesen gar nicht über die ersten Stadien hinaus lebensfähig sein sollten, diese Unter­ nehmungen auf einer ähnlichen Ebene anzusiedeln wären wie die Versuche mit anderen Zellkulturen. Es ist jedoch nicht bekannt, ob sich diese Wesen weiter entwickeln können.1726 In Großbritannien, A. a. O., S. 35 f. Einerseits liegt eine Studie vor, wonach eine Entwicklung bis zum Blastozysten­ stadium stattgefunden hat und die entscheidenden Stammzellgene auch aktiviert wurden (Li, F. / Quanjun, Z.: Activation of human embryonic gene expression in cytoplasmic hybrid embryos constructed between bovine oocytes and human fibro1725

1726

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wo seit dem Jahr 2007 die Herstellung von Mensch-Tier-Mischwesen aus menschlichen und tierischen Zellen gesetzlich erlaubt ist, müssen solche Mensch-Tier-Mischwesen nach 14 Tagen vernichtet werden. Dass Mensch-Tier-Mischwesen überlebensfähig sein könnten, ist durchaus im Bereich des Möglichen. Es fällt auf, dass die Mischwesen eine Entwicklungsdynamik aufweisen und aus naturwissenschaftli­ cher Perspektive sprechen gute Gründe dafür, dass die Chancen, dass ein solches Mischwesen weiter wachsen und sich entwickeln kann, umso größer sind, je näher der Verwandtschaftsgrad zwischen Mensch und Tier ist. Aus ethischer Perspektive wäre gerade hier einzuhaken und der Unterschied von Mensch und Tier in Anschlag zu bringen.1727 Unterschiedlich diskutiert wird in den Debatten insbesondere die Frage, welchen Status1728 die so erzeugten Wesen haben:1729 Es wird diskutiert, ob es sich um Menschen handelt, da sie fast ausschließlich über menschliches Erbgut verfügen. Dies würde die Konsequenz mit sich bringen, den Menschen auch als Menschen anzuerkennen. Oder handelt es um ein Machwerk, dem – anders als Menschen – keine Würde zukommt? Fallen diese Wesen nicht unter den menschlichen Lebensschutz, da sie ja (aufgrund der Mitochondrien) auch über das Erbgut von Kühen verfügen, die sonst auf den Tellern und in den Mägen vieler Menschen landen? Und ganz grundsätzlich: Darf man all das tun, was man (technisch) kann? Fällt die Antwort so aus, dass es (schon rein mathematisch betrachtet) ein Mensch ist, wäre es absurd, hier Würde in Abrede zu stellen. Sowohl die individuelle als auch Gattungswürde der Menschheit ist zu achten, weshalb solche artüberschreitenden Unternehmungen abzulehnen wären. blasts, in: Cloning and Stem Cells 10 (3), 2008, S. 297–306), andererseits eine Studie, die ein Jahr später in der gleichen Zeitschrift veröffentlicht wurde, wonach entschei­ dende Gene für die Entwicklung der Stammzellen gerade nicht aktiviert wurden. (Chung, Y.: Reprogramming of human somatic cells using human and animal oocytes, in: Cloning and Stem Cells, 11 (2), S. 213–223). 1727 Vgl. auch Schockenhoff, E.: Ethik des Lebens. Grundlagen und neue Herausforde­ rungen, Freiburg 22013, S. 477. 1728 Der Bezug auf einen moralischen Status kann insofern kritisch gesehen werden, als hier im Hintergrund immer eine Gefahr mitzuschwingen scheint, bestimmte Eigenschaften ausmachen zu müssen, die gegeben sein müssen. 1729 Diese Frage scheint für den dänischen Ethikrat recht einfach beantwortbar zu sein: »In the case of a human-animal chimaera it involves an animal contains human cells or a human that contains animal cells.« (The Danish Council of Ethics: Man or Mouse? Ethical aspects of chimaera research, o. O. 2007, S. 4).

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Fällt die Antwort dagegen so aus, dass der moralische Status nicht auf derselben Stufe zu verorten wäre wie der eines Menschen, wären bestimmte Eingriffe einfacher möglich. Düwell formuliert es so: »Wird etwa der menschliche Embryo als ein Wesen angesehen, das aus der Verschmelzung einer menschlichen Ei- und Samenzelle her­ vorgeht, so wäre etwa eine Zygote, die aus der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle hervorgeht, von denen zumindest ein Teil nicht menschlicher Herkunft ist, nicht als menschlicher Embryo anzusehen, mit allen damit verbundenen Rechtsfolgen.«1730

So gesehen, stünden eigentlich Tür und Tor offen für die Erzeugung von Chimären. Auf verfassungsmäßig garantierte Grundrechte wie z. B. jenes auf Leben und körperliche Unversehrtheit1731 könnte nicht Bezug genommen werden, gelten diese Grundrechte doch nur für Menschen. Wir können diesen Punkt auch von einer anderen Seite betrachten und argumentieren, ob nicht von der Erzeugung eines Mensch-Tier-Mischwesens gerade schon deshalb Abstand genom­ men werden müsste, um die individuelle Würde eines menschlichen Wesens (geschweige denn die Gattungswürde der Menschheit) nicht aufs Spiel zu setzen. Müssten hier also nicht schon deshalb Vorsichts­ gründe wirksam gemacht werden? Es kann mit guten Gründen argumentiert werden, dass es sich hier um menschliche Lebewesen handelt, die mit tierischen Kompo­ nenten verunreinigt sind.1732 Der Zellkern enthält das Erbgut. Und es ist jener Nukleus, der den Phänotyp bestimmt.1733 Es handelt sich also um einen Menschen. Wir müssten dieses Lebewesen demnach auch in moralischer und rechtlicher Perspektive wie andere Menschen behandeln: Ihm käme Würde zu, weshalb aus ethischer Perspektive die Herstellung und Verzweckung in aller Deutlichkeit abzulehnen wäre.1734 Die verschiedenen Probleme, die sich für eine Frau bei der Düwell, M.: Chimären und Hybride, in: Sturma, D. / Heinrichs, B. (Hrsg.): Handbuch Bioethik, Stuttgart 2015, S. 226–230, hier S. 227. 1731 GG Art. 2 Abs. 1. 1732 Anders sieht die Situation aus bei der Verschmelzung tierischer und menschlicher Keimzellen. Hier entsteht ein ganz neues Wesen. 1733 Vgl. Jaenisch, R.: Die Biologie des Kerntransfers und das Potential geklonter embryonaler Stammzellen: Implikationen für die Transplantationstherapie, in: Hon­ nefelder, L. / Lanzerath, D. (Hrsg.): Klonen in biomedizinischer Forschung und Repro­ duktion, Bonn 2003, S. 221–249, hier S. 233. 1734 Vgl. auch Beck, M.: Mensch-Tier-Wesen. Zur ethischen Problematik von Hybriden, Chimären, Parthenoten, Paderborn / München / Wien / Zürich 2009, S. 279. 1730

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Eizellspende stellen, wurden erwähnt. Hingewiesen sei dennoch auf den umgekehrten Fall: Wäre der Zellkern von einem Tier, die Eizelle von einer Frau, handelte es sich um ein Tier. Insofern eine menschliche Eizelle dafür verwendet wird, ein Tier herzustellen, kann mit Kant argumentiert werden, dass die Würde der Menschheit durch ein solches Projekt verletzt würde, weshalb auch derartige Forschungen klar abzulehnen wären.1735 Von Belang ist hierbei, ob eine Bedrohung des Lebens resp. der leiblichen Unversehrtheit besteht. Insofern nicht klar ist, welchen Status eine solche Chimäre aus Mensch und Primat hätte, sollte man hiervon tunlichst die Finger lassen, da sie mit dem Gedanken der Menschenwürde nicht vereinbar sind. Über etwaige Mischwesen kann man nicht wie über Sachen verfügen, weil dies zum einen Folgen hat für diese Wesen selbst wie auch für die Durchführen­ den.1736 Es könnte argumentiert werden, dass es aufgrund der Dignität des Menschen von vorneherein keine Option sein darf, sein biolo­ gisches Material mit tierischem in Verbindung zu bringen, um ein Mensch-Tier-Mischwesen zu erzeugen. Der kritische Blick bezöge sich demnach nicht erst auf das Produkt, sondern schon darauf, womit überhaupt die entsprechende Forschung betrieben wird. Da menschliche Gene an der Entstehung dieses Wesens beteiligt sind und sogar ein deutliches Übergewicht haben, können wir eben nicht einfach darüber hinweggehen, dass es sich hier um ein Mitglied unserer Art handeln könnte. Eberhard Schockenhoff stellt einen über­ zeugenden Vergleich mit der Erzeugung von defekten resp. abnormen menschlichen Embryonen her:

Vgl. a. a. O., S. 281. Für Befürworter steht das pure Nützlichkeitsprinzip im Vordergrund; unterstrichen wird der Gesamtnutzen. Der Einzelne erscheint dabei immer unwichtiger: »[C]oncerns about human dignity prove insignificant.« (Degrazia, D.: Human-animal chimeras: Human dignity, moral status, and species prejudice, in: Metaphilosophy 38 (2007), S. 309–329, hier S. 309). 1736 Die Frage nach dem Status dieser Mischwesen ist auch als eine Frage der Aner­ kennung zu lesen: Haben wir es hier mit menschlichen Subjekten zu tun, mit Wesen, die uns gleich sind? Vgl. hierzu: Dederer, H. G.: Der manipulierte Embryo: Konse­ quenzen für das Recht. Grundlegungen und Vorschlag für eine neue Embryodefinition im Recht, in: Joerden, J. C. / Schur, J. C. (Hrsg.): Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 28: Themenschwerpunkt: Zur Manipulation des Embryos – On Manipulation of the Human Embryo, mitherausgegeben von M. Rothhaar, Berlin 2020, S. 53–81, bes. S. 64 f. 1735

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»Dieses menschliche Wesen wäre allerdings durch den Vorgang seiner Erzeugung, nämlich durch die Vermischung mit tierischem Erbgut, in monströser Weise beschädigt, so dass wir von der absichtlichen Erzeugung eines defekten menschlichen Embryos sprechen müssten. Dieser wäre nicht nur in seiner genetischen Ausstattung manipuliert, sondern auch des elterlichen Schutzes beraubt, auf den jedes mensch­ liche Wesen einen moralischen Anspruch besitzt.«1737

Da der Status problematisch ist, müsste aus ethischer Perspektive von der Erzeugung dieser Wesen Abstand genommen werden.1738 Diese Bedenken können auch nicht dadurch umschifft werden, dass z. B. Gene eingebaut werden, welche weitere Wachstumsprozesse verunmöglichen. In technischer Hinsicht ist es möglich, den Zellkern zu manipulieren, etwa so, dass eine Entwicklung von Trophoblasten und Trophectoderm verhindert wird, eine Placenta sich gar nicht erst ausbildet. Es findet also eine Blockierung des üblichen Entwicklungs­ gangs statt. Auch ein solches Unternehmen wäre zurückzuweisen, da die Embryonen »ihrer Identität (da diese ja nicht mehr eindeutig bestimmt werden kann) und Integrität (da ihre Entwicklungsfähigkeit künstlich begrenzt wird) beraubt würden«1739. Durch das nichtmenschliche biologische Material können tieri­ sche Krankheitserreger in die Zelle geraten. Dies stellt eine ernstzu­ nehmende Gefahr dar. Zudem stellt sich aus Forscherperspektive die Frage, warum auf »verunreinigte Zellen« zurückgegriffen werden sollte, wenn doch auch die Möglichkeit besteht, diese »in Reinform« zu bekommen – ungeachtet der damit wiederum verbundenen ethi­ schen Probleme. Matthias Beck fragt, ob ein solcher Organismus überhaupt für die Forschung zu Versuchszwecken sinnvoll verwendet werden kann, insofern es sich ja nicht um einen Organismus handle, der eine Krankheit aufweise, sondern um einen von Grund auf geschädigten Organismus. Er gibt zu bedenken, dass »Arzneimittel […] in einem von Grund auf geschädigten Organismus anders als in einem eigentlich gesunden [reagieren], der dann einzelne Krankhei­ ten hat«1740. Eben durch die tierische Eizelle, so seine Kritik, geschehe

1737 Schockenhoff, E.: Ethik des Lebens. Grundlagen und neue Herausforderungen, Freiburg 22013, S. 477. 1738 Vgl. ebd. 1739 A. a. O., S. 478. 1740 Beck, M.: Mensch-Tier-Wesen. Zur ethischen Problematik von Hybriden, Chimä­ ren, Parthenoten, Paderborn / München / Wien / Zürich 2009, S. 90.

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die Entwicklung in unvollkommenerer Weise als es sonst geschehen würde – was allerdings kein Plädoyer dafür ist, auf menschliche Eizel­ len zu Forschungszwecken zurückzugreifen. »Man enthält diesem Wesen etwas vor, was es eigentlich zu seiner Entwicklung hätte haben können.«1741 Das Wesen, das entsteht, ist – wie bei anderen Klonver­ fahren auch – von Anfang an in seiner Integrität beeinträchtigt und gestört. Darüber hinaus vermag die tierische Eizelle den Zellkern nicht in angemessener Weise zu reprogrammieren. Die tierische Eizelle weist offensichtlich auch ein Reprogrammierungspotential auf, doch ist dies nicht so groß wie das einer menschlichen Eizelle, wie Matthias Beck festhält. Dieses Potential »scheint auszureichen, um die in der ausdifferenzierten Zelle abge­ schalteten Gene im Zuge des schon geschilderten Reprogrammie­ rungsprozesses wieder anzuschalten (zu aktivieren). Aber die Schä­ den scheinen höher zu sein als bei Mensch-Mensch-Klonen, da die Mensch-Tier Hybride offensichtlich bald absterben. Offensichtlich hat die tierische Eizelle ein schlechteres Potential zur Reprogrammierung als die menschliche. Neueste Erkenntnisse zeigen, dass 2400–2950 Gene falsch geschaltet sind.«1742

8.6.5 Hirnchimären Schließlich ist in dem Kontext auch noch die Erzeugung von Hirnchi­ mären zu nennen. In diesen Fällen werden Zellen eines Menschen auf Tiere übertragen. Bei der Umsetzung wird auch auf Stammzellen zurückgegriffen. Das in Aussicht gestellte Ziel ist auch hier wieder, die Der italienische Bioethikrat hält in diesem Sinne Folgendes fest: »Even hypothesising that embryonic stem cells could be removed from cybrids and that they had no anoma­ lies, they would not have any therapeutic relevance for man, because of their con­ tamination with animal material. In the same way, they would have limited or no relevance in the study of illnesses, because the results would be extremely difficult to interpret, as it would be an unknown cellular model.« (Presidenza del Coniglio Min­ istri (National Bioethics Committee): Chimeras And Hybrids With Specific Attention To Cytoplasmic Hybrids, 26th of June 2009, https://bioetica.governo.it/media/3291/ p84_2009_chimeras-and-hybrids_en.pdf (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022), S. 16 f.). 1741 Beck, M.: Mensch-Tier-Wesen. Zur ethischen Problematik von Hybriden, Chimä­ ren, Parthenoten, Paderborn / München / Wien / Zürich 2009, S. 132. 1742 A. a. O., S. 87.

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Medizin voranzubringen und schlimme Krankheiten wie Alzheimer oder auch Parkinson besser behandeln zu können. »For example, in 2001, Ourednik et al. injected stem cells from a 15-week-old human fetus that had already specialized into brain stem cells, into the brain of 12 to 13-week-old primate fetuses […]. When the simian fetuses were examined after 16–17 weeks, the human cells had spread to large parts of the brain and developed into different types of brain cell. The researchers estimated that there were up to 100,000 or so cells of human origin per monkey brain.«1743

Im Jahr 2003 hat eine Forschergruppe um Irving Weissmann neuro­ nale Stammzellen in ein Mäusehirn eingebracht. Jene Forschergruppe hält es auch für vertretbar, Mäusehirne vollständig durch mensch­ liche Zellen zu ersetzen.1744 Oder, um noch ein weiteres Beispiel anzuführen, wurden bei einem Affen pluripotente neuronale Stamm­ zellen, die aus einem menschlichen Fetus gewonnen wurden, in das Gehirn implantiert, welches vorher so manipuliert wurde, dass die Dopaminproduktion nicht aufrecht erhalten werden konnte. Nach ein paar Wochen konnte festgestellt werden, dass die implantierten Zellen diese ausgefallene Funktion übernommen hatten und für die Dopaminproduktion gesorgt haben.1745 Welche Folgen hat es, wenn menschliche Nervenzellen in die Gehirne von Tieren implementiert werden? In einer von der Bundes­ zentrale für politische Bildung verantworteten Broschüre aus dem Jahr 2012 heißt es, dass im »vergleichsweise sehr kleinen Hirn von Nagetieren […] alles dagegen [spricht], dass menschlich geprägte Nervennetzwerke räumlich entstehen können«1746. Man hätte aller­ dings auch darauf aufmerksam machen können, dass sich die Laute und das Fiepsen der Mäuse durchaus markant veränderten, nachdem ihnen das Gen FoxP2, das wir als wichtig ansehen, um Sprache zu

1743 The Danish Council of Ethics: Man or Mouse? Ethical aspects of chimaera research, o. O. 2007, S. 15. 1744 Vgl. a. a. O., S. 17 f. 1745 Der Affe entwickelte einen Gehirntumor, was in der Presse und im Deutschen Bundestag zu Diskussionen führte. Vgl. Schwägerl, C.: Die Göttinger Chimäre, in: FAZ, Nr. 102, 02. Mai 2005, S. 34. 1746 Catenhusen, W.-M.: Tiere und Mensch-Tier-Mischwesen in der Forschung, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte, 62. Jahr­ gang, 8–9/2012, 20. Febr. 2012: Mensch und Tier, S. 47–53, hier S. 49.

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erlernen, eingebaut wurde.1747 Auch die neuronalen Strukturen dieser kleinen Nager hatten sich verändert.1748 »Although these mice are generally healthy, they have qualitatively different ultrasonic vocal­ izations, decreased exploratory behavior and decreased dopamine concentrations in the brain suggesting that the humanized Foxp2 allele affects basal ganglia.«1749 Nicht abwegig ist es, dass in Zukunft die Forschung an Prima­ ten und die Erzeugung von Hirnchimären bei unseren »haarigen Verwandten« näher in den Blickpunkt rückt.1750 »Wenn es zur Aus­ bildung einer Hirnchimäre mit tierischen und menschlichen Hirnan­ teilen käme, dann wäre eine Annäherung der sich entwickelnden Hirnfunktionen vom tierischen an das menschliche Verhalten nicht unwahrscheinlich.«1751 Ähnlich M. Beck: »Affenembryone könnten durch die Implantation von menschlichen Gehirnzellen womöglich etwas intelligenter gemacht werden.«1752 Alles keine bloße Zukunfts­ musik: Im März 2019 berichteten chinesische Wissenschaftler, Maka­ ken mit menschlichen Genen modifiziert zu haben, was eine Leis­ tungssteigerung des Kurzzeitgedächtnisses der Tiere zur Folge gehabt hätte. Insofern Primaten uns verwandtschaftlich näherstehen als andere Tiere, ist dieser Forschungsbereich besonders sensibel. Sie stehen uns in genetischer und morphologischer Sicht nahe, zeigen in ihrer Mimik und ihren Lauten ein Schmerzverhalten, das unserem nicht unähnlich ist. Es ist ethisch problematisch, Tiere nur als Objekt menschlicher Nutzung zu sehen. Die Verdinglichung des Tieres lässt den Menschen auf Dauer nicht unberührt und macht ihn nicht größer, sondern kleiner. 1747 Zur Rolle von FoxP2 siehe: Newbury, D. F. / Monaco, A. P.: Genetic advances in the study of speech and language disorders, in: Neuron, 68/2, 2010, S. 309–320. 1748 Vgl. Enard, W. et al.: A Humanized Version of Foxp2 Affects Cortico-Basal Gan­ glia Circuits in Mice, in: Cell, 137 (5), 2009, S. 961–976. 1749 A. a. O., S. 962. 1750 Vorstellbar wäre es wohl auch, dass Forscher auf die Idee kommen, Zellen von Affen in das Gehirn eines Menschen einzubringen. Derartige Forschungsprojekte sind jedoch nicht bekannt. Denkbar ist auch die Implantation von Zellen eines Affen in einen menschlichen Embryo. Es ist im Bereich des Möglichen, dass das entstehende Lebewesen einige Eigenschaften aufweisen würde, die wir in der Ausprägung so nicht beim Menschen kennen. Doch eine Veränderung von Eigenschaften machte ihn nicht zum Tier. Er würde zur Gemeinschaft der Menschen gehören. 1751 Deutscher Ethikrat: Mensch-Tier-Mischwesen. Stellungnahme, Berlin 2011, S. 112. 1752 Beck, M.: Mensch-Tier-Wesen. Zur ethischen Problematik von Hybriden, Chimä­ ren, Parthenoten, Paderborn / München / Wien / Zürich 2009, S. 92.

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8.6 Chimbrids und die Frage der Überwindung von Artgrenzen

Insofern dem Gehirn im tierischen wie menschlichen Organis­ mus eine besondere Rolle beigemessen wird, um zu bestimmten Lebensäußerungen in der Lage zu sein, kann man auch argumentie­ ren, dass es nicht einerlei ist, wohin transplantiert wird, also z. B. in welches Organ eines tierischen Organismus denn nun Zellen eines Menschen eingefügt werden. Auch die oben angesprochene Frage der Verwandtschaft fällt ins Gewicht. Affen stehen uns näher als Nager. Insofern wäre die Transplantation menschlicher Zellen in das Enze­ phalon eines Affen auf einer anderen Ebene als etwa bei Nagern. Und freilich auch wann transplantiert ist, ist von Bedeutung. Findet der Eingriff schon bei einem Embryo statt, können wir nämlich in begrün­ deter Weise davon ausgehen, dass sich die implantierten Zellen in den Gesamtorganismus integrieren werden.

8.6.6 Chimbrids im Horizont praktischer Vernunft Die unterschiedlichen Verfahrensweisen, Mensch-Tier-Mischwesen herzustellen, fordern uns zu einer Antwort heraus, wie wir mit diesen Wesen umgehen sollten. Über die Frage der individuellen und gattungsbezogenen Menschenwürde haben wir schon etwas gesagt, als es um die Wiederauferstehung der Neandertaler ging. Und für die Beziehung von Menschen zu Tieren gilt ganz grundsätzlich: Vernunftwesen, die autonom und frei sein können, kann es nicht einerlei sein, wie man mit Tieren umgeht: Ihnen ist mit Achtung und Ehrfurcht zu begegnen. »Solange wir die Rede von Menschenwürde nur als eine Redensart ansehen, mit der die Mitglieder der Spezies homo sapiens ihre Art­ genossenschaft absichern, solange hat diese Rede keinen eigentlich normativen Sinn. […] Wenn ›Menschenwürde‹ dagegen etwas meint, was den Menschen ›objektiv‹ auszeichnet, dann kann sie nur die Fähigkeit des Menschen meinen, Ehrfurcht zu haben vor dem, was über ihm, was neben ihm und was unter ihm ist (Goethe). Dann aber macht es gerade die Menschenwürde aus, im Umgang mit der Wirklichkeit deren eigenem Wesen Rechnung zu tragen.«1753 1753 Spaemann, R.: Tierschutz und Menschenwürde, in: Spaemann, R.: Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001, S. 467–476, hier S. 472. In diesem Sinne formuliert Walter Schweidler ganz prägnant: »[W]eil nur Menschen sich voreinander rechtfertigen können, müssen sie für alles Verantwortung überneh­

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Kritisch wird zu fragen sein, ob Leid und Schmerz der Tiere hinsicht­ lich des Ziels zu vertreten sind.1754 In den Fokus zu rücken wäre nicht nur, welches biologische Material verwendet wurde, sondern auch, welche Lebensform, welche Eigenschaften und Fähigkeiten, das so fabrizierte Geschöpf aufweist. Ein einzelnes Gen, das in eine Maus verpflanzt wird, ist nicht Träger von Menschenwürde, wohl aber die menschliche Person. Dies wird getan, um die Erforschung von Krankheiten voranzutreiben. Berücksichtigt werden muss, dass dem Tier nicht über Gebühr Schaden und Schmerzen zugefügt werden dürfte. Zu berücksichtigen wäre auch hier wieder, wann und wohin transplantiert würde. »Ethisch unbedenklich ist es […] z. B., wenn ein menschliches ›Insulin-Gen‹ in ein Bakterium implantiert wird, das dann Insulin produziert.«1755 Ein Tier wie die erwähnte Labormaus ist freilich nicht sprachlich artikulationsfähig. Eine kommunikative Beteiligung an der Begrün­ dung moralischer Normen dürfen wir insofern natürlich ausschließen. Pflichten kann das Mäuschen nicht übernehmen. Eine Geringschät­ zung folgt daraus jedoch nicht, weil es eine Maus ist. Der Königsberger würde von Pflichten (nicht gegen, sondern) »in Ansehung« nicht vernunftbegabter Lebewesen sprechen. Begründet würde dies mit dem »Mitgefühl an ihrem Leiden«1756. Eine Behand­ lung, unter der die Tiere zu leiden hätten, bliebe nicht ohne Folgen für den Menschen selbst, würde dies nämlich die Gefahr in sich bergen, dass der Mensch selbst verroht, er hinsichtlich seines Mitgefühls abstumpft. Letztlich wäre die »Ansehung« gegenüber diesen Tieren, heute würden wir wohl von einer artgerechten Behandlung sprechen, eine Pflicht gegenüber sich selbst.1757 Ein Lebewesen, wie z. B. ein Mäuschen, sucht sein ihm eigenes Gut, ist auf Erfüllung aus. Es hat eine innere Struktur, die zur Entfaltung gebracht werden soll. Das Mäuschen stellt ein geeintes men, was aus ihrem Handeln für nichtmenschliche Wesen folgt.« (Schweidler, W.: Kleine Einführung in die Angewandte Ethik, Wiesbaden 2018, S. 153). 1754 Vgl. auch TierSchG, § 7, Abs. 3. 1755 Vgl. auch Beck, M.: Mensch-Tier-Wesen. Zur ethischen Problematik von Hybriden, Chimären, Parthenoten, Paderborn / München / Wien / Zürich 2009, S. 286. Es findet in diesem Fall eine Überschreitung der Gattungsgrenzen vom Menschen auf Bakterien statt, die es ermöglicht, Tiere, die uns verwandtschaftlich näherstehen (z. B. Schweine), zu schützen. Die Zwecke sind hier eindeutig therapeutisch. 1756 Vgl. Kant, I.: Die Metaphysik der Sitten, in: AA Bd. VI, S. 443. 1757 Vgl. ebd.

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8.6 Chimbrids und die Frage der Überwindung von Artgrenzen

Ganzes, eine Integrität dar. »Verletzungen, die der Mensch dem Tier zufügen kann, berühren nicht so etwas wie eine personale Identität – sie greifen unmittelbar dessen seelisch-körperliche Integrität an.«1758 Die Herstellung einer Maus, deren Fiepsen und Sozialverhalten durch den Einbau eines menschlichen Gens nicht mehr dem einer Maus entspräche, oder der auf dem Rücken ein Ohr wächst, weshalb sie nicht mehr in einem unterirdischen Tunnel leben kann und von Artgenossen gemieden wird, wäre abzulehnen, da es zur Natur der Maus gehört, nun einmal so zu fiepsen und sich zu Artgenossen zu verhalten, wie es Mäuse tun.1759 Es entspräche nicht einer mausge­ mäßen Lebensweise. Und ein Affe, der menschliche Verhaltenszüge zeigt, weil eine Manipulation an seinem Gehirn oder seinen Genen vorgenommen wurde, wäre nicht mehr typisch äffisch. Die typische Lebensform könnte durch einen solchen Eingriff nicht vollzogen werden. Aufgrund der Veränderungen könnten sie nicht so wachsen und gedeihen wie es den Angehörigen ihrer Art sonst möglich ist. Ist es ethisch vertretbar, dass immer wieder Art- und Gattungs­ grenzen übertreten werden? Insofern die manipulierte Maus die Grenze zwischen Mensch und Tier verletzt, können wir hier auch von einem Untier, einem Monstrum sprechen.1760 In seiner Missgestalt verweist es auf ein überschrittenes Maß. Das integrale Gefüge des Mäuschens wird durch den Eingriff in erheblichem Maße gestört. Die Integrität dieses kleinen Säugetiers wird gestört. Eine »Qualzüchtung« ist in Deutschland laut Tierschutzgesetz verboten.1761 Ohne »vernünftigen Grund« darf Tieren keine Schmer­ zen, Leiden und Schäden zugefügt werden.1762 Und nach Artikel 20a GG wird ein sittlich verantwortlicher Umgang mit Tieren eingefor­ dert. § 7 des Embryonenschutzgesetzes regelt in Deutschland die Frage der Chimären- und Hybridbildung. Es untersagt die Erzeugung Habermas, J.: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991, S. 226. Hiermit wird eine Dimension angesprochen, die über die Sichtweise hinausgeht, dass ja niemand auf den Gedanken käme, »dass die bloße Ohrmuschel ein Träger von Rechten (noch gar von Pflichten) sein könnte, dessen Rechte bei einem solchen Vor­ gehen verletzt würden« (Joerden, J. C.: Menschenwürde und Chimären- und Hybrid­ bildung, in: Joerden, J. C. / Hilgendorf, E. / Thiele, F. (Hrsg.): Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin 2013, S. 1033–1044, hier S. 1035). 1760 Zum Begriff des Monsters in philosophischer und kulturgeschichtlicher Hinsicht: Röttgers, K. / Schmitz-Emans, M.: Monster, Reihe Philosophisch-literarische Reflexio­ nen, Bd. 12, Essen 2010. 1761 TierSchG, § 11b. 1762 TierSchG, § 1. 1758

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intraspezifischer wie interspezifischer Chimären aus menschlichen Embryonen wie die interspezifische Hybridbildung: Nach Absatz 1, Nr. 1 ist die Fusion eines menschlichen Embryos mit einem tierischen Embryo (Absatz 1) verboten.1763 Der folgende Abschnitt (Nr. 2) ver­ bietet die Hinzufügung von Zellen mit anderen Erbinformationen zu den Zellen eines Embryos, der sich damit weiterentwickeln kann. 1763 Der ehemalige Direktor des Yerkes Primate Center, Geoffrey Bourne, hält in den 1970er Jahren Folgendes fest: »There seems to be very little physiological reason why artificial insemination could not be used between man and the apes with a possibility that a viable child might be reproduced. […] And it is surprising that this type of hybridization has not in fact already taken place.« (Bourne, G.: The Ape People, New York 1971, S. 261 f., zit. nach Rossiianov, K.: Beyond species: Il’ya Ivanov and his experiments on crossbreeding humans with anthropoid apes, in: Science in Context, 15 (2), 2002, S. 277–316, hier S. 277 f.) Doch in den 1920er Jahren wurde schon vom russischen Wissenschaftler Ivanov versucht, Mischwesen aus Menschen und Men­ schenaffen durch künstliche Besamung herzustellen. Seine Intention war es, den von Darwin betonten nahen Verwandtschaftsgrad experimentell zu untermauern. Zunächst scheiterten seine Unternehmungen daran, dass er für seine Versuche zwar eine Frau, aber keine Affen hatte. Die Versuche, Schimpansenweibchen mit mensch­ lichem Sperma künstlich zu befruchten, gelangen ihm nicht. (Vgl. Rossiianov, K.: Beyond species: Il’ya Ivanov and his experiments on crossbreeding humans with anthropoid apes, in: Science in Context, 15 (2), 2002, S. 277–316) Der Beitrag von Kirill Rossiianov über die Arbeit Ivanovs endet mit folgenden rhetorischen Fra­ gen: »Should we continue to view the borders between species as ›given‹ and therefore preserve them as important conventions? Shall we assume that these borders have independent moral value?« (A. a. O., S. 311) Die Verschmelzung menschlicher und tierischer Keimzellen zu einem Mensch-TierMischwesen ist auch in China und Korea untersagt. Durch Klonverfahren und Zell­ kerntransfer dürfen derartige Wesen jedoch hergestellt werden. (Vgl. Beck, M.: Mensch-Tier-Wesen. Zur ethischen Problematik von Hybriden, Chimären, Parthenoten, Paderborn / München / Wien / Zürich 2009, S. 88, 91) Juan Carlos Izpisula Belmonte und sein Team vom Salk Institute for Biological Studies in La Jolla (Kalifornien) haben 2019 Mensch-Affen-Mischwesen erschaffen. Gentech­ nisch veränderten Embryonen von Makaken, bei denen zuvor Gene für Organbil­ dungen deaktiviert wurden, wurden hierzu pluripotente menschliche Stammmzellen hinzugefügt. Die so entstandenen 132 Chimärenwesen waren grundsätzlich entwick­ lungsfähig; menschliche und tierische Zellen beeinflussten sich wechselseitig. Nach einer Versuchsdauer von 10 Tagen lebten noch 103, nach knapp drei Wochen, an Tag 19 der Studie, waren es noch drei Chimären. Im Hinblick auf die Gewinnung möglicher Xenotransplantate will man so das Überleben menschlicher Zellen im tierischen Organismus verbessern. (Vgl. Tan, T. / Wu, J. / Si, C. / Ji, W. / Niu,Y. / Belmonte, J. C.: Chimeric contribution of human extended pluripotent stem cells to monkey embryos ex vivo, in: Cell, Vol. 184, Issue 8, 15. April 2021: https://www.cell.com/cell/fulltext/S0092-8674(21)00305-6?utm_source=EA (zuletzt eingesehen am 17. Aug. 2022).

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8.6 Chimbrids und die Frage der Überwindung von Artgrenzen

Verboten ist nach Absatz 1, Nr. 3 die Befruchtung einer tierischen Eizelle durch eine menschliche Samenzelle und vice versa die Befruch­ tung einer menschlichen Eizelle mit dem Spermium eines Tieres, wobei hier von der Erzeugung eines »differenzierungsfähigen Embryos« die Rede ist. Verboten ist ferner, einen auf diese Weise ent­ standenen Embryo in eine Frau oder ein Tier zu übertragen sowie einen menschlichen Embryo in ein Tier zu transferieren (Absatz 2). Eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren bzw. eine Geldstrafe wird ange­ droht. Schon der Versuch ist strafbar.1764 Da die menschliche Phan­ tasie bekanntlich groß ist, hat der Deutsche Ethikrat vernünftigerweise 1764 Ausgeschlossen ist nach § 7 ESchG demnach nicht a) eine Herstellung von Misch­ wesen aus unterschiedlichen Tierarten sowie b) die Herstellung von Mensch-TierMischwesen, die nicht auf menschliche Embryonen zurückgreift. Option b ist tech­ nisch möglich a) mittels synthetischer Embryonen, b) durch das Einbringen (menschlicher) iPS-Zellen in einen Tierembryo, g) die »Dolly-Methode«, also soma­ tischen Zellkerntransfer, wobei ein menschlicher Zellkern in die entkernte Eizelle eines Tieres eingebracht wird, sowie d) durch das Einbringen menschlichen Erbgutes in einen Tierembryo. Zu a) heißt es im instruktiven Sachstandsbericht von Martin Hähnel und Roland Kipke, auf den ich hier zurückgreife: »2018 hat eine niederländische Forschergruppe die Ergebnisse einer Studie veröffentlicht, bei der sie eine Art synthetischer Embryo­ nen hergestellt ha[t]. […] [A]uch wenn es sich bei der publizierten Studie noch nicht um eine cross-species-Anwendung handelt (sondern nur um Stammzellen der Maus), scheint diese denkbar und würde insofern nicht unter das ESchG fallen, als es sich nicht um einen Embryo handeln würde, der aus einer ›Kernverschmelzung‹ hervor­ geht (§ 8 ESchG).« (Hähnel, M. / Kipke, R.: Sachstand zur Manipulierbarkeit des menschlichen Embryos hinsichtlich seiner Spezieszugehörigkeit und Entwicklungs­ fähigkeit, in: Joerden, J. C. / Schur, J. C. (Hrsg.): Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 28: Themenschwerpunkt: Zur Manipulation des Embryos – On Manipulation of the Human Embryo, mitherausgegeben von M. Rothhaar, Berlin 2020, S. 5–12, hier S. 7) Kommen wir zu: b) Mit Hilfe einer tetraploiden Embryokomplementierung können iPS-Zellen zu biologischen Einheiten verändert werden, die sich zu vollständigen Organismen entwickeln können. Es ist nicht gänzlich ausgeschlossen, dass dies tech­ nisch auch beim Menschen funktionieren könnte. Könnte gezeigt werden, dass iPSZellen tatsächlich totipotent sind, wäre mit ihnen ähnlich umzugehen wie mit mensch­ lichen Stammzellen. (Hierzu: Kang, L. / Wang, J. / Zhang, Y. / Kou, Z. / Gao, S.: iPS Cells Can Support Full-Term Development of Tetraploid Blastocyst-Complemented Embryos, in: Cell Stem Cell 5 (2), 2009, S. 135–138) Kommen wir zum Zellkerntransfer: g) Die Dolly-Methode kann technisch erfolgreich eingesetzt werden, was auch bereits geschieht. Somatische Zellen lassen sich auf diesem Wege reprogrammieren. Und schließlich noch Weg d). Die Herstellung transgener Organismen wird bereits vielfach verfolgt und durch CRISPR-Cas9 aller Wahrscheinlichkeit nach noch weit effizienter und präziser. Im Fokus ist hier gewiss die Übertragung einzelner Gene. Es stellt sich jedenfalls in diesem Zusammenhang die interessante Frage, ab welcher

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empfohlen, den § 7 ESchG um drei Verbote zu ergänzen: um das Ver­ bot, den Embryo eines Tieres in die Gebärmutter einer Frau zu über­ tragen, das Verbot, tierisches Erbgut in die menschliche Keimbahn einzubringen und das Verbot von Methoden, die darauf abzielen, menschliche Geschlechtszellen im Tier bilden zu können.1765 Weder menschlichen Zellen noch deren Zellkernen kommt Würde zu, sondern dem Menschen. Aus diesem Grund wäre es mög­ lich, menschliche Zellen und Zellkerne für die Entstehung von Misch­ wesen heranzuziehen, ohne dass es zu einer Würdeverletzung käme. Sowohl tierische Embryonen, denen menschliches Erbgut imple­ mentiert wurde bzw. denen induzierte pluripotente Stammzellen (iPSZ) injiziert wurden, sind gemäß § 8 Abs. 1 ESchG und § 3 Nr. 4 StZG keine menschlichen Embryonen. Das gilt ebenso für eine durch Zellkerntransfer hergestellte Entität aus tierischer Zygote und huma­ nem Zellkern sowie für eine biologische Entität, die aus vom Men­ schen stammenden Trophoblast- und Embryoblast-Stammzellen her­ gestellt wurden.1766 »Das späte 21. Jahrhundert wird Gesellschaften kennen, in denen Menschen und Mensch-Tier-Hybride konstruiert werden, in der es zur vermehrten Verwendung von Gentechnik, von Nanotechnologie und Informationstechnologie kommt.«1767 So Bernhard Irrgang. Und weiter schreibt er: »Manche Gesellschaften werden diesen Übergang zu einer posthumanen Diversität so lang wie möglich hinauszögern, indem sie einer rigiden biofundamentalistischen Anschauung des­ sen, was menschlich ist und was einen Bürger auszumachen hat, anhängen.«1768 Auffällig ist, wie Begriffe hier besetzt werden: Wer die genannten Entwicklungen – hier mit dem positiven Zauberwort »Diversität« verbunden – kritisch betrachtet, wird als »rigide« und »biofundamentalistisch« abgetan. Weiterführend im Sinne eines ech­ Menge des zu übertragenden humanen Erbgutes auch von einer typisch menschlichen Entwicklung auszugehen wäre. 1765 Vgl. Deutscher Ethikrat: Mensch-Tier-Mischwesen. Stellungnahme, Berlin 2011, S. 120. Nicht verboten ist es z. B., unter Beteiligung menschlichen Erbgutes transgene Orga­ nismen zu erzeugen, die im Bereich der Pharmaindustrie Verwendung finden. 1766 Hierzu: Joerden, J. C. / Schur, J. C. (Hrsg.): Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 28: Themenschwerpunkt: Zur Manipulation des Embryos – On Manipulation of the Human Embryo, mitherausgegeben von M. Rothhaar, Berlin 2020. 1767 Irrgang, B.: Einführung in die Bioethik, München 2005, S. 184. 1768 Ebd.

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8.6 Chimbrids und die Frage der Überwindung von Artgrenzen

ten Diskurses und einer an Menschenwürde ausgerichteten Bioethik dürfte dies nicht sein. Es ist für uns im Alltag wichtig, Menschen als Menschen anzu­ erkennen, während wir Tieren als nichtmenschlichen Organismen begegnen.1769 Wir wissen um die Verwandtschaft aller Lebendigen, aber eben auch um das Spezificum des Menschen. Indem wir um die tierische Natur wissen, sind wir darüber hinaus.1770 Es ist bedeutend für uns, dass es Abgrenzungen zu anderen Lebewesen gibt, die aus der Vernunft- und Sprachfähigkeit erwachsen: In Recht und Moral, in Politik und Religion ist dieser Unterschied wichtig und auch im ganz alltäglichen Leben benötigen wir klare Orientierungen und wollen nicht ständig fragen, was denn dieses oder jenes letztlich ist.1771

8.6.7 Fazit Mit der Schaffung von Mensch-Tier-Mischwesen wird ein soziales und kulturelles Tabu angetastet.1772 Unser Selbstverständnis als Wür­ Dass man Menschen und Tiere (resp. Menschen und Maschinen) unterscheidet, hält Donna Haraway dagegen für gänzlich überholt. Sie will diese Unterscheidungen durch hybride Konzepte ersetzt sehen. (Vgl. Haraway, D.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M. / New York 1995) »Körper werden demnach nicht geboren; sie werden gemacht. […] Körper [sind] im späten 20. Jahr­ hundert vollständig denaturalisiert. […] Man wird nicht als Organismus geboren, Organismen werden gemacht; sie sind weltverändernde Konstrukte.« (Haraway, D.: Die Biopolitik postmoderner Körper. Konstitutionen des Selbst im Diskurs des Immunsystems, in: Folkers, A. / Lemke, T. (Hrsg.): Biopolitik. Ein Reader, Berlin 2014, S. 134–188, hier S. 147). 1770 Vgl. auch Hegel, G. F. W.: Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke Bd. 13, hrsg. von E. Moldenhauer / K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1986, S. 112. 1771 »Dazu gehört etwa, dass wir nicht mühsam darüber nachdenken, ob ein Wesen, das uns auf der Straße begegnet, wohl zu jenen Entitäten zählt, denen wir moralischen Respekt schulden. Vielmehr behandeln wir Menschen, die uns äußerlich als Menschen erscheinen, mit Respekt. Wäre die Welt mit Chimären bevölkert, wäre das eindeutig schwieriger.« (Düwell, M.: Bioethik. Methoden, Theorien und Bereiche, Stuttgart/ Weimar 2008, S. 117) Düwell fasst daher zusammen: »Es ist keine irrationale Moder­ nitätsverweigerung, die natürliche Lebenswelt als wertvoll anzusehen.« (A. a. O., S. 117). 1772 Es gibt jedenfalls auch Ethiker, die Geschöpfe aus Mensch und Affe für wün­ schenswert erachten. Begründet wird dies meist mit dem Hinweis, auf diese Weise mehr über den Menschen und die Entwicklung der Sprache zu lernen. Individuelle Schäden würden gegenüber dem Gesamtnutzen nicht besonders ins Gewicht fallen. 1769

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dewesen wird davon berührt. In unterschiedlichen Publikationen wird auf den Zeitpunkt und die Ebene hingewiesen, wann und wo einer solcher Eingriff erfolgt, worauf ich weiter oben ebenfalls zurückgegrif­ fen habe: Es sei zu unterscheiden, ob der Eingriff bei ungeborenen oder bereits geborenen Tieren stattfinde und auf welcher Ebene (Zellen, Organe) und damit mit welcher Reichweite. Ein Eingriff auf embryonaler Ebene, bei dem möglicherweise auch noch ein Eingriff in die Keimbahn erfolgt, ist anders zu sehen und zu beurteilen als ein Eingriff auf somatischer Ebene. »Im Frühstadium der Embryonal­ entwicklung, vor Ausbildung der Organanlagen kann das Implantat (Gen, Chromosom oder Stammzelle) den gesamten Organismus einschließlich Keimbahn und Gehirn beeinflussen, ja dominierend gestalten.«1773 Und der Dänische Ethikrat hält fest: »In most instances, transplanting cells after birth does not give transplanted cells an opportunity to develop, spread and differentiate to the same extent as when transplanting to an embryo or fetus.«1774 Im Embryonalsta­ dium ist das Immunsystem noch nicht ausgeprägt. Wird zu diesem frühen Zeitpunkt fremdes Zellmaterial implementiert, kann dieses in den weiteren Entwicklungsgang des Gesamtorganismus eingebunden werden, da es nicht als fremd eingestuft wird. Die Eingriffstiefe wäre daher weitaus tiefer als bei einem erwachsenen Menschen, dem z. B. eine Bauchspeicheldrüse oder Herzklappe aus einem tierischen Organismus eingesetzt würde. Anders als ein erwachsener Mensch könnte ein Embryo einem solchen Eingriff nicht zustimmen. Es hätte Folgen für unsere gegenseitige Anerkennung. Zu erinnern wäre freilich auch daran, dass Wohltun wie auch das Vermindern von Leiden und Schadensvermeidung zu den Selbstverständlichkeiten der Medizinethik gehören.1775 Auch dürfen wir noch einmal die Praxis-Poiesis-Unterscheidung ins Spiel bringen, die wir bereits im Kapitel zur modernen Reproduktionsmedizin aufgegriffen hatten. Es muss ausgeschlossen sein, dass der Mensch zum Gemächsel wird. Gegenüber Bildern dichterisch-mythologischer Phantasie wäre der Catenhusen, W.-M.: Tiere und Mensch-Tier-Mischwesen in der Forschung, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte, 62. Jahrgang, 8–9/2012, 20. Febr. 2012: Mensch und Tier, S. 47–53, hier S. 52. 1774 The Danish Council of Ethics: Man or Mouse? Ethical aspects of chimaera research, 2007, S. 12; vgl. auch Deutscher Ethikrat: Mensch-Tier-Mischwesen. Stel­ lungnahme, Berlin 2011, S. 80 f. 1775 Prominent z. B. entfaltet bei: Beauchamp, T. L. / Childress, J. F.: Principles of Biomedical Ethics, Oxford 72012. 1773

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8.6 Chimbrids und die Frage der Überwindung von Artgrenzen

praktischen Vernunft der Vorzug zu geben. Durch die Möglichkeit, Mensch-Tier-Mischwesen zu züchten, steht die Gefahr im Raum, die Einheit der Menschheit zu zerstören. »Der menschliche Zustand ruft dauernd nach Verbesserung. Versuchen wir zu helfen. Versuchen wir zu verhüten, zu lindern und zu heilen. Aber versuchen wir nicht, an der Wurzel unseres Daseins, am Ursitz seines Geheimnisses, Schöpfer zu sein.«1776

Jonas, H.: Technik, Medizin, Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1987, S. 218.

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Schluss

Wir sind am Ende der vorliegenden Studie angelangt und wollen nun auf den zurückgelegten Denkweg zurückschauen und ein Fazit ziehen. Die hier verhandelte Frage nach dem Gewachsenen und Gemach­ ten betrifft unsere Sicht auf uns selbst, unser Zusammenleben mit anderen wie auch das Unverfügbare, welches uns als Leben, als Natur, gegeben ist. Die Unterscheidung von Gewachsenem und Gemachtem ist eine der ersten, die unsere Kinder lernen. Sie hilft uns, uns über unser Leben zu verständigen. Wir setzen sie in Ethik ebenso wie in Politik voraus. Das Gewachsene und das Gemachte sind wechselseitig aufeinander bezogen. Die Machwerke des Menschen sind nicht denk­ bar ohne Natur, umschließt die Natur jene doch. Andererseits ist es die Praxis des Menschen, die Natur erschließt. Unsere Denkbewegung hatte ihren Ausgang genommen bei den Plastikbäumen, die seinerzeit in Los Angeles für Aufmerksam­ keit gesorgt haben und für die Differenz zwischen Gewachsenem und Gemachtem sensibilisiert haben: Während der Plastikbaum ein Machwerk aus verschiedenen Teilen ist und man seine Einheit auch auflösen kann, um sie zu einem späteren Zeitpunkt oder an einem anderen Ort zu reaktualisieren, können Organismen ihre Existenz nicht unterbrechen. Das Wirken der einzelnen Komponenten erklärt sich erst vom Ganzen her. Von sich aus erhalten und entwickeln sie sich und beziehen dabei die verschiedenen organischen Aktivitäten mit ein.1777 Aus den verschiedenen Umwelteinflüssen kann die Funktions­ weise eines Organismus nicht deduziert werden. Organismen passen sich an ihre Umwelt an und sie verändern und prägen diese. Organis­ men weisen so eine gewisse innere Selbstständigkeit auf, die größer ist, je komplexer die Organismen sind. Leben, so sagten wir, ist 1777 Um einen Plastikbaum als Plastikbaum zu identifizieren und nicht als ungewöhn­ lichen Gegenstand, um daran seine Aggressionen loszuwerden, oder als Nistplatz für Küchenschaben, ist ein Bewusstsein anzunehmen, welches weiß, zu welchem Zweck das Gemachte hergestellt wurde.

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nichts Starres, sondern stets in Selbstbewegung, im Prozess. Bäume wachsen von selbst, während wir Plastikbäume herstellen. Natur ist nicht nur etwas, das wir äußerlich erfahren, sondern etwas, das mit uns selbst zu tun hat, was uns gegeben ist und uns geschieht. Der Leib ist uns gegeben und nicht gemacht. Er besteht aus demselben Stoff wie die Natur, zu der wir gehören. Durch Wahrnehmung bleibt sie uns daher auch nicht unzugänglich. Der Leib ist Wesensausdruck der menschlichen Person und insofern eine normative Instanz. Während man ein Werkzeug oder eine Maschine zur Seite legen kann, gilt das für den Leib gerade nicht. Er ist Medium unseres Freiseins, Anerkennungsgrenze gegenüber anderen Personen. Der Blick auf unser eigenes leibliches Natursein lässt uns beispielsweise im Embryo etwas anderes sehen als einen bloßen Zell­ klumpen. In den Forschungslaboren wird versucht, den Geheimnissen der Natur auf die Spur zu kommen. Mit Experimenten, Modellen und Protokollen rückt man der Natur näher. Im Labor haben wir es nicht mit »dem« Gewachsenen zu tun, sondern einer methodisch konstituierten Gegenständlichkeit, mit einer Natur, die berechenbar und planbar geworden ist, einer Natur im Horizont der Machbarkeit, die verändert und in den Dienst genommen werden kann. Natur wird hier im Hinblick auf Gesetzmäßigkeiten untersucht, was erfolgreich ist. Andere Dimensionen bleiben jedoch (schon aus systematischen Gründen) außen vor. Es ist eine festgestellte Natur, aus der Lebendig­ keit getilgt und die unserer Erkenntnis anverwandelt wurde. Jenseits von Inventarisieren und wissenschaftlichem Erkennen, jenseits aller Versuche, Natur zu vergegenständlichen, gibt es noch eine aus sich heraus tätige Natur, die selbstbewegt und in sich zielhaft ist. Eine mechanische Naturbetrachtung hat in gewissen Grenzen ihre Berechtigung: Deutlich wird dies, wenn wir etwa an die ver­ schiedenen medizinischen Entwicklungen denken, die sich u. a. auch einer Verobjektivierung des menschlichen Körpers verdanken und die Beschwörungen von Medizinmännern zum Wohle des Menschen lange hinter sich gelassen haben und zahlreiche Krankheiten heute therapieren und das Wohlergehen der Menschen heben können. Um lebendige Prozesse zu beschreiben, genügt das Methoden­ spektrum der Physik nicht. Es wurde argumentiert, dass eine physika­ listisch-reduktionistische Zugangsweise zum Phänomenbereich des Lebendigen erhebliche Defizite aufweist, etwa wenn wir an unser

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Verständnis von uns selbst, unser qualitatives Erleben, unsere All­ tagswelt und unsere wissenschaftlichen Erklärungen denken. Insofern wir selbst lebendig sind, wissen wir schon, was Leben ist. So betrachtet, müsste das Ich denke wie auch das Ich bin leib­ lich-lebendig alle unsere Vorstellungen begleiten können. Aufgrund unserer eigenen Erfahrung als Organismen können Organismen eben nicht nur mit kausal-mechanischen Gesetzen erklärt werden. Wir hatten herausgearbeitet, dass sogar Einzeller und Tiere ein rudimentäres Selbstgefühl haben. Sie haben Bedürfnisse, die sie verfolgen. In jenen Situationen, die sie als angenehm oder auch als zu vermeiden empfinden, in den Momenten der Befriedigung, in denen sie sich Stoffe einverleiben, sind sie sich ihrer selbst gewiss. Die Selbsthaftigkeit der Organismen spricht gegen eine unbesehene Verdinglichung: Wenn Organismen durch gewisse Eigeninteressen und subjektives Erleben ausgezeichnet sind, haben es Forscher nicht einfach mit wertindifferentem Stoff zu tun, mit dem beliebig alles gemacht werden kann. Von naturwissenschaftlicher Seite hört man nicht selten, ihre Arbeit würde zu einer Neuentdeckung des Lebendigen beitragen. Und in der Tat: Seit es z. B. möglich ist, Zellen sichtbar zu machen, ist ein Bewusstsein gewachsen, dass wir es hierbei mit den Grundakkorden des Lebens zu tun haben.1778 Angesichts der vielfach beschworenen Aussage, es ginge darum, die Evolution selbst zu steuern, kann man sich allerdings auch des Eindrucks nicht erwehren, es ginge schon längst um eine »Eroberung« des Organismischen, wobei der Mensch durch den eigenen Ehrgeiz, die Natur zu beherrschen, unterjocht wird. Entwicklungen im Bereich moderner Biotechnologien wurden daher auch als neue Form der Biomacht gedeutet: als Techniken, die Körper und Sexualität unterwerfen und die Bevölkerung kontrollieren. Nicht selten wird der Eindruck erweckt, das Rätsel der Lebensphänomene lösen zu können. Argumentiert wurde gegen Ansätze, das Lebendige ausschließlich aus der Perspektive des Herstellungshandelns sehen zu wollen. Leben und Natur können wir nicht substituieren. Insofern der Mensch ein Freiheitswesen ist, ist er gestaltend tätig. Er bedarf der Technik, um sich als Freiheitswesen zu erfahren und zu verwirklichen. 1778 Zellen und Gene können ihre Funktionen nur innerhalb eines Organismus ausüben, zu dem sie gehören. Auch hat das Wissen zugenommen, welche organischen Bedingungen für bestimmte Lebensäußerungen gegeben sein müssen.

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Der Bezug zur eigenen Humanität würde wohl verschwinden, fehlte diese Erfahrung. So betrachtet soll und muss er die innere und äußere Natur manipulieren. Steht aber die freie, leiblich-gebundene Subjektivität von Freiheit und Selbstbewusstsein auf dem Spiel, wird diese bedroht oder gar abgeschafft, ist die Manipulation unsittlich. Diskutiert wurde, ob der Mensch Subjekt der technischen Ent­ wicklung ist oder die Technik nicht vielmehr das Heft in der Hand hat. Vorgestellt wurden Überlegungen, die von einer Dynamik moderner Technik ausgehen. Technik beeinflusse verschiedene Entwicklungen in der Gesellschaft, aber nicht vice versa. Andere Positionen wollten in der Technik eine gestaltbare und von verschiedenen Faktoren beeinflussbare Größe sehen. Diese Überlegungen aufgreifend haben wir argumentiert, dass Technik nicht abgeschottet ist vom Menschen. Technik wirkt auf den Menschen, Gesellschaften und die Natur. Gleichwohl wird sie auch beeinflusst von diesen. Der Mensch ist Subjekt der Technik und auch deren Objekt. Sie ist seiner Hände Werk. Es sind aber auch seine Erzeugnisse, die ihn formen. Der Mensch hat sich mit Hilfe der Technik dahin entwickelt, wo er heute steht. Insofern werden Freiheitsräume durch Technik eröff­ net: von einer Abhängigkeit von natürlichen Vorgaben und Prozessen, zur Gestaltung des Lebens. Das Verfügen über Dinge, Lebewesen, Zeit und Raum wirkt aber auch auf den Menschen zurück. Technik vermag den Menschen fremd zu bestimmen, ihn unfrei machen. Beides gehört zusammen und macht nochmals deutlich, dass zu unserem Freisein und unserem Gebrauch von Technik gehört, Verant­ wortung zu übernehmen. Es wurde immer wieder darauf aufmerksam gemacht, Orientierungswissen gegenüber einem Verfügungswissen einzubeziehen, was Perspektiven eröffnen und Freiheitsräume weiten kann. Das Know-how alleine führt zu einer bedenklichen Macht der Heutigen gegenüber kommenden Generationen. Heute gibt es eine Reihe von technischen Wirklichkeiten, für die es kein Vorbild im Bereich des Gewachsenen gibt. Auch von einer zunehmenden Nähe von Gewachsenem und Gemachtem können wir sprechen. Hieß es bei Aristoteles, dass Technik Natur nachei­ fere,1779 so gibt es auch heute Ansätze, die das Gewachsene zum Vor­ bild nehmen und natürliche Strukturen und Prozesse nachzuahmen versuchen. Biotechnologien verstehen sich auch als Nachahmung 1779

Vgl. Aristoteles: Physik II 8, 199 a 15 ff.

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der Natur. Das Gewachsene hat als Orientierungsinstanz keines­ wegs ausgedient. Darüber hinausgehend beabsichtigen Biotechnologien, Natur zu verändern. Die Synthetische Biologie schickt sich an, neuartige Lebensformen zu entwickeln, die es so in der Natur nicht gibt. Wir haben hier Top down-Ansätze, deren Gestaltungen von bereits exis­ tierenden Organismen ausgehen, von Bottom up-Ansätzen abgeho­ ben, bei denen biochemische Einheiten zu neuen Kreationen zusam­ mengesetzt werden. Menschliches Herstellen und organismische Selbstgestaltung werden in den Laboren der Synthetischen Biologie auf bisher nicht dagewesene Weise verknüpft. Deutlich gemacht werden konnte der Wandel, in dem sich die Biologie heute befindet. Es gibt nicht nur eine Tendenz der Schwer­ punktverlagerung vom makro- zum mikrophysikalischen Bereich, sondern auch von einer beschreibenden Wissenschaft hin zu einem synthetisch-konstruktiven Verständnis: Um zu verstehen, baut man zusammen und kombiniert verschiedene Komponenten miteinander. Die Erzeugnisse, die in den verschiedenen Forschungslaboren entste­ hen, können Eigenschaften und Funktionen aufweisen, die aus den Einzelbestandteilen so nicht vorhersagbar sind. Komplexität in der Natur wird nicht mehr nur beschrieben, sondern zu reduzieren ver­ sucht, um lebensfähige biologische Einheiten bottom-up herzustellen. Andererseits wird versucht, die Komplexität natürlicher Prozesse nachzuahmen und zu überbieten. In die Biologie ziehen ingenieurs­ wissenschaftliche und technische Betrachtungsweisen ein. Wir hatten analysiert, dass Natur in diesem Kontext gleichsam als modularisierte Bausteine, die beliebig neu mit anderen Bausteinen kombiniert werden können, gesehen wird. Homo faber und Homo oeconomicus verstehen sich auf die neuen Möglichkeiten, Natur neu zu gestalten, vermeintlich besser zu machen, als gehabt. Leben gilt als konstruierbar: im Ganzen oder im Hinblick auf einzelne Komponenten. Das Buch des Lebens, von dem Denker wie Augusti­ nus und Galilei sprachen, wird heute nicht nur zu lesen, sondern umzuschreiben versucht. Auch an der Fähigkeit der Selbstorganisation des Organismi­ schen orientiert man sich in dem Zusammenhang: Selbstorganisati­ onsprozesse des Lebendigen werden in die Konstruktionsprozesse innerhalb der Labore der Synthetischen Biologie zu integrieren ver­ sucht. Synthese hat hier einerseits die Bedeutung, etwas zu schaffen, was es so noch nicht in der Natur gibt, andererseits etwas herzustellen,

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was an der Natur Maß nimmt, sich hieran orientiert und ihr möglichst ähnlich sein will. Es wird z. B. in Aussicht gestellt, Schadstoffe mittels synthe­ tischer hergestellter Mikroorganismen aufzuspüren und auch abzu­ bauen. Hiervon werden wir in Zukunft vermutlich noch Manches hören. Kritisch hinterfragt hatten wir die mit der Synthetischen Biologie gegebene Eingriffstiefe. Bäume kann und darf man nicht einfach durch Plastikbäume ersetzen. Und auch im Hinblick auf syn­ thetische Entitäten wird man Vorbehalte anmelden dürfen, insofern die hiermit verbundenen Risiken gar nicht absehbar sind, die sich einstellen, wenn diese in die Natur gelangen, an die Stelle anderer Organismen treten oder sich mit diesen vermischen. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die so entstehenden Entitäten ungeahnte und schwer kontrollierbare Wirkweisen hervorbringen. Grenzen und ethische Herausforderungen der Umgestaltung haben wir im Hinblick auf Enhancement-Ansätze sowie des Posthu­ manismus diskutiert. Auch die Problematik von Keimbahntherapien, die technisch durch CRISPR-Cas9 in Zukunft noch weit einfacher sein werden, wurde reflektiert.1780 Je schwerwiegender ein Eingriff für den betroffenen Organismus ist, je strenger ist er zu bewerten. Und ein Eingriff ist umso gravieren­ der, je mehr davon die Integrität des Organismus berührt ist bzw. je komplexer die Lebensäußerungen eines Organismus sind. Das, was Generationen vor uns einmal »Schicksal« nannten, ist in den Bereich des Machbaren gerückt. Wir haben gesehen, dass neue Machbarkeiten neue Probleme aufwerfen und uns herausfordern. Im Kontext moderner Medizin ist das Machbarkeitsdenken weit verbrei­ tet: Leben selbst wird machbar, Sterben auch. Und es liegt nahe, dass in diesem Zusammenhang Krankheit nicht primär als existentielle Erfahrung gedeutet wird, etwas das mich als Individuum betrifft, sondern als etwas, das ein Machsal geworden ist, wobei oftmals genug nebulös ist, was Ziel und Maßstab für das Machen sein soll.

1780 Im Hinblick auf mögliche Nebenwirkungen wie auch die Präzision des ent­ sprechenden Eingriffs wurden Bedenken formuliert. Folgen und Beeinträchtigungen können nicht nur diesen einen Menschen, sondern weitere Generationen betreffen. Ein Eingriff in die genetische Ausstattung des Menschen mit therapeutischem Ziel wurde von einem Design-Eingriff abgehoben. Insofern jede und jeder ein Selbstzweck ist, verbietet es sich, einen neuen, vermeintlich besseren Menschen zu schaffen, dessen Existenz von den Interessen und Vorstellungen des Machers bestimmt wäre.

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Das Machbare ist nicht schon das Gebotene. Die Grenzen der Machbarkeit sind wieder in den Blick zu nehmen und im eignen Lebensrhythmus zu implementieren. Es kann gerade ein Ausdruck von Freiheit sein, sich um ein gutes Verhältnis zum Gegebenen zu bemühen. Technische Imperative sind keine kategorischen. Zudem haben wir uns mit Übergangsbereichen zwischen Gewachsenem und Gemachten, mit Mischzuständen und Mischwe­ sen beschäftigt, in denen Grenzen diffus werden. Von jenen Über­ gangsbereichen gibt es heutzutage immer mehr. Wir haben es mit Phänomenen zu tun, die einen technischen und natürlichen Anteil haben. Gewachsenes und Gemachtes greifen hier ineinander, was ein weiterer Grund ist, diese Begriffe weiterhin zu verwenden. Brisant sind die hiermit verbundenen Fragen, da die Eindringtiefe der Technik in den Bereich der Natur immer tiefer wird, keinesfalls immer sichtbar ist und für die nächsten Generationen zahlreiche Folgen haben kön­ nen. Auch mit Optimisten besonderer Art haben wir uns beschäftigt: So gibt es Hoffnungen und Bestrebungen, ausgestorbene Arten wie­ der zum Leben zu erwecken. Um das Genom kartieren zu können, begibt man sich auf die Suche nach genügend Gewebemasse. Mit Hilfe verschiedener (Klon-)Verfahren sollen daraus Organismen, die schon längst die Bühne des Lebens verlassen haben, neu entstehen. Technisch möglich scheinen andererseits auch Projekte, menschliche iPS-Zellen in tierische Embryonen einzubringen. In beiden Fällen gilt: Sollte eines Tages eine neue Spezies hergestellt werden können, zu der Personalität gehört, wären ihre Angehörigen in allen Phasen ihrer Existenz zu schützen. Thematisiert wurde auch das Bestreben, die Natur zu verabschie­ den, den Menschen aus der Natur gänzlich herauszulösen. Ansätze, welche die Natur vollständig kontrollieren oder gar überwinden wollen, sehen sich der Eigendynamik der Natur und der Komplexität ihrer Wirkungen gegenüber. Sinnleere und Existenzangst begleiten vielfach die Vorstellung, alles müsse technisch in den Griff zu bekom­ men sein. Das Paradigma, alles technisch lösen zu können, kann die eigentlichen Fragen des Lebens nicht beantworten. Mit Optimie­ rungslogik wird man Sinn nicht herstellen können. Positionen, die davon ausgehen, unser Leben ließe sich allein auf Technik gründen und Natur könne überwunden werden, haben die innere wie äußere Abhängigkeit von der Natur nicht im Blick. Allein schon aus Pflicht gegen sich selbst darf der Mensch sich nicht

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das nehmen, was er zum Leben benötigt. Anders gewendet: Vernunft braucht Natur. Auch Positionen, die Natur verklären, führen nicht weiter. Gewachsenes und Gemachtes sind keine Alternativen. Beide gehören auch gerade dann zusammen, wenn es darum geht, Natur und die »Permanenz echten menschlichen Lebens« zu erhalten. Es wurde immer wieder deutlich gemacht, dass nicht die Frage, wie diese oder jene biotechnologische resp. medizinische Frage ver­ mittelbar sein könnte, leitend sein darf. Ausschlaggebend muss viel­ mehr sein, wie angesichts mannigfacher technischer Möglichkeiten Humanität gewahrt werden kann. Es gilt, sich nicht am Machbarkeits­ denken zu orientieren, sondern an dem, was das Wohl, die Würde und die Freiheit des Menschen wahrt. Unsere Beziehung zu anderen ist dann ethisch zu legitimieren, wenn sie wesentlich praktisch ist, hier also nicht ein poietisches Verfügen waltet. Die poietische Perspektive des Homo faber sieht im Anderen stets nur ein Objekt, auf das dann in irgendeiner Weise einseitig einzuwirken ist, während eine praktische Perspektive den Anderen als leibliches Du versteht und die Beziehung auf wechselsei­ tiger Anerkennung gegründet sein lässt. Nimmt der Mensch davon Abstand, lediglich eigene Interessen umzusetzen, vermag sich sein Horizont zu erweitern. Die Entstehung eines Menschen muss sich demnach der Praxis verdanken, nicht einem poietischen Tätigwerden, was im Hinblick auf Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin, des Klonens, des Ein­ griffs in die Keimbahn wie auch des Enhancements diskutiert wurde. Eingriffe in die Integrität von Leib und Leben sind gut, wenn sie therapeutische Dimension haben, den Menschen zu heilen versuchen. Die Selbstbestimmung des Betroffenen gilt es notwendig (nicht hin­ reichend) zu achten. Problematisch wird es, wenn alles nur noch durch die Brille des Homo faber gesehen wird, alles auf Effizienz hin bedacht wird und Unverfügbarkeiten nicht mehr anerkannt werden, es vor allem um den Menschen als gemachtes und machbares Wesen geht. Durch die Eingriffe des Technikers, der den anderen Menschen auf dessen gene­ tische Qualität prüft, ihn manipuliert und sogar zu einem Objekt des Warenverkehrs macht, werden Anerkennungsverhältnisse gestört. Ein Kind wird so zu einem Gemächsel. Aus dem Gewachsenen lässt sich nicht einfach ein Verbot ablei­ ten, etwa welche künstlichen Eingriffe in das Erbgut untersagt sein sollen. Im Zuge unserer Überlegungen zum Enhancement haben wir

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jedoch argumentiert, dass die Realisierung der eigenen Freiheit an die eigenen natürlichen Vorgaben gebunden ist, die für den Zugriff von Designern unverfügbar bleiben müssen. Die Naturwüchsigkeit erweist sich als freiheitsbewahrender als der manipulierende Eingriff Dritter, was therapeutische Eingriffe nicht ausschließt. Es wurde deut­ lich gemacht, dass durch Genome Editing auch unerwünschte Folgen auftreten können und zu diskutieren ist, ob diese verhältnismäßig und insofern zu verantworten sind. Leben und Natur sind als Grundlage von Freiheit und Vernunft, Vernunft und Freiheit als Wirklichkeit des Lebens und der Natur neu zu entdecken. Natur ist in dem Sinne Voraussetzung von Freiheit und Vernunft. Frei ist der Mensch dann, wenn er auch der Natur Raum lässt, sich zu entfalten. Dies ist nicht im Blick des Homo faber, aber des Homo hortulanus, des Gärtners. Und so können wir am Ende unserer Überlegungen noch einmal an den Ort zurückkehren, wo unsere Überlegungen begonnen hatten: den Garten, der so elementar wichtig ist, Ort wirklichen Wohnens auf der Erde. In der Bearbeitung des Gartens erfährt der Mensch sich als frei. Es macht einen Unterschied, ob wir Natur beherrschen oder als das eigene Andere durchdringen und in den Dienst nehmen wollen. Der Gärtner ist kein Newton des Grashalms und auch nicht in der Lage, das, was wächst und gedeiht, vollumfänglich erklären zu können. Er nutzt die Natur, setzt sich von ihr ab, erwehrt sich ihrer Kräfte, wozu er auf verschiedene Techniken zurückgreift. Es ist jedoch nicht der Machenseifer, der ihn antreibt. Die Haltung des Gärtners unterscheidet sich von der des Homo faber wie des Homo oeconomicus: Es ist nämlich eine Haltung, welche der Integrität der Organismen und ihrer Selbstgestaltung verpflichtet ist. Sie anerkennt in anderen Lebewesen uns verwandte. Der Homo hortulanus ist jemand, dem es um das Lebendige geht, das Wohlergehen seines Gartens und nicht Machbarkeit und Effizienz stehen für ihn ganz oben. Die Aufmerksamkeit des Homo hortulanus gilt dem Gewachsenen, das mit eigener Stimme sprechen darf, und nicht als bloße Ressource wahrgenommen wird. Der Homo hortulanus ist kein Gegenspieler der Natur, gleich­ wohl er ihr gegenübersteht. Insofern er das Gewachsene als Eigenwert wahrnimmt, vermag er sich selbst als Teil der Natur verstehen. Der Homo hortulanus versteht seinen Garten als Prozess und bejaht die damit zusammenhängenden Veränderungen. Die Bedürfnisse der ihn umgebenden Lebensformen wägt er ab und bezieht sie in seine Überlegungen und Handlungen ein. Der Garten ist eine Lebens­

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gemeinschaft, deren einzelne Glieder nach Selbsterhaltung und Ent­ faltung streben; Natur ist hier das auch den Gärtner Umgreifende und Bedingende sowie das durch seine Hand Geformte, für das er Sorge trägt. Der Garten kann als etwas erfahren werden, das sinnvoll ist, das Resonanzraum ist: Gärtner und Gewachsenes sind hier im Gleich­ klang, nicht entfremdet. Die eigene Natur und die ihn umgebende werden als Einheit erfasst. Insofern er dem Gewachsenen Raum gibt, sich zu zeigen, und Freiheit eröffnet, verengende Perspektivierungen zu unterlaufen, kann der Homo hortulanus zu sich finden. »Wir sind aus einem Garten Eden ausgewiesen worden, weil wir alles zu genau wissen wollten. Das hat uns freigesetzt, uns Land und Meer untertan zu machen. Wenn es uns nicht gelingt, die endlich unterworfene Erde als unseren Garten zu behandeln, […] so droht mit der Zerstörung der Natur uns dann auch noch die Ausweisung aus ihr.«1781

1781 Markl, H.: Natur als Kulturaufgabe. Über die Beziehung des Menschen zur leben­ digen Natur, Stuttgart 1986, S. 373.

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Sachregister

Anerkennung 153-157, 223, 284, 345, 348, 366, 380, 406, 424, 451 f., 454, 456, 459, 461, 481, 512, 530, 542, 546, 552 f. Autonomie 21, 135, 261, 332, 345, 363 ff., 368, 412, 428, 432, 434, 444 ff., 455, 459, 462, 477, 486, 502 f., 535 Autopoiesis 103 Bewegung 30, 34 f., 37 f., 40-45, 54 ff., 58, 61, 70, 84 f., 91, 104 f., 118, 122 f., 139, 146, 149 f., 155, 169, 171, 173, 178, 187, 193, 198, 201, 288, 331, 347, 360, 367, 391, 502 Bewusstsein 51 f., 129, 144, 147, 150, 156, 184, 186 f., 189, 286, 342, 347, 424, 469 ff., 477, 483, 503, 510, 513, 545, 548 Bildung 138, 153, 295, 420, 489 f., 503 Bio-Art / Transgenic Art 311-314 Biobanken 231 f. Biobricks 273, 281, 291, 312, 319, 327 Bioethik 21, 127, 363 f., 400, 444 f., 449, 462 f., 482, 526, 532, 541 Biofakte 114 f. Biologie –

Do-It-Yourself-Biology 283 f.



Entwicklungsb. 62, 74, 90, 372, 409



Evolutionsb. 141, 326, 432, 451



Exob. 83



Mikrob. 111



Molekularb. 111 f., 125, 130, 141, 271, 392 ff., 419



Soziob. 128, 131



Synthetische B. 11, 28, 109, 111, 116, 171, 173, 239, 264, 267-353, 454, 457, 502, 520, 522, 527, 539, 549 f.



Systemb. 74, 269 ff., 276

615 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Sachregister



Theoretische B. 56, 91



Xenob. 276-278, 350



Zellb. 66, 305

Biomacht / Biopolitik 225-232, 404, 488, 547 Bionik 171, 253 Biophilosophie 92, 104 ff., 122, 297 Biosafety 327, 337 Biosecurity 327, 337 Biotechnologie 19, 40, 200, 206, 208, 212, 223, 242, 246, 256, 272, 297, 307, 309, 311 f., 315, 324, 343, 355 f., 377, 392, 395, 409, 412, 438, 443, 447, 510, 517, 547 ff., 552 Chassis-Technik 272, 320 Chimäre 402, 514-543 Code –

genetischer C. 64, 71, 80, 230, 273, 277, 294, 298, 300 f., 349, 381, 396

CRISPR-Cas9 392 ff., 397, 403, 413, 539, 550 Cyborg 115, 179, 188, 330 f., 481-495 Digitalisierung, digital 133, 182, 187 f., 215, 230, 275 f., 297 ff., 317, 349, 499, 509 Doping 418 f. Eingriffstiefe 224, 261, 271, 331, 350 f., 386, 542, 550 Embryo –

menschlicher E. 53, 62, 358 f., 369, 371 f., 375 f., 394, 400 ff., 405 ff., 411 ff., 439 f., 443, 449, 455 f., 461, 519, 526 f., 529 ff., 535, 539, 542, 546



tierischer E. 520, 524, 534, 538 f., 551



Embryonenschutzgesetz 344, 361 ff., 366 ff., 537 ff.

Emergenz 288 Enhancement 204, 255, 261, 294, 308, 385 f., 399, 414-481, 550, 552 Entelechie 42, 61, 93 f. (siehe auch Seele) Entfremdung 151, 179-184, 193, 214, 365, 420, 450, 554 Entropie 89, 104 Epigenese 74 f., 372, 409

616 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Sachregister

Ethik 205, 321 f., 331, 353, 444, 458, 484, 545 Evolution / Geschichte des Lebendigen 52, 57, 63, 68, 70, 72, 80 f., 84, 86, 88, 104, 106, 128, 132, 135, 137 f., 140 f., 268 f., 293, 295 ff., 305 f., 324, 326 ff., 345, 390, 400, 407, 432, 438 f., 451, 483, 497, 502, 506, 519, 522, 526, 547 Experiment 66, 76 ff., 82, 96, 105, 109 f., 121-126, 132 f., 153, 173 f., 177, 260, 272, 285, 289, 291, 301, 362, 384, 387 f., 398, 401, 412 f., 466, 468, 477, 512, 520, 527, 538, 546 Form / Stoff / Materie 11, 19, 33 ff., 37, 39 f., 43, 47, 55 f., 58, 66, 77, 80 f., 87, 93, 96, 98, 102 f., 105, 109, 139, 144, 168, 170 f., 179, 254, 263, 288, 415, 471, 546 f. Forschungsfreiheit 307, 309, 337, 413 Freiheit 20 f., 31, 61, 103 f., 136, 154-157, 160, 177, 179, 188, 192, 196, 201 ff., 213, 222, 229, 259, 293, 314, 345, 347, 374 ff., 378, 380, 406, 412, 417, 423, 427 f., 433 f., 444 ff., 451 f., 456 ff., 460, 477, 483, 490, 493, 502, 511 f., 514, 547 ff. Gehirn –

Brain-Computer-Interfaces 490



Brain-Machine-Interfaces 490



G. 27, 44 f., 57, 84, 113, 134, 136, 260, 300, 308, 331, 341 f., 347, 367, 423, 428, 435, 464, 466 f., 471 ff., 477 f., 488, 490 ff., 501, 509 f., 519, 524, 533 ff., 537, 542



Neuroprothesen 491 f.

Geist 35, 37, 55, 94, 97, 145, 152, 161, 169, 172, 174, 179, 185, 198, 201, 286, 344, 415, 436, 471, 473, 510 Gelassenheit 215, 434 Gen –

egoistisches G. 134



G.-Determinismus 75, 135, 273, 286, 295, 408, 455



Genetik 66, 73 ff., 111, 130, 133, 138, 229, 300, 386, 389, 409, 442



Genexpression 139, 292, 323, 391, 409



Genom 63, 71 f., 134, 136, 272 ff., 294, 300, 305, 312, 317, 321, 328, 332 f., 339, 341, 344, 348 ff., 384 f., 387, 393, 396 ff., 401, 403, 405 f., 409, 441, 451, 458, 517, 519, 521 ff., 525, 551, 553



Genomsequenzierungsprojekt 297 f., 338, 344, 349, 441

617 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Sachregister



Genregulation 75, 391, 398, 409



Gentechnologie 75, 108 f., 190, 269 ff., 281, 321, 327, 331, 350 f., 369, 381, 386, 388, 400, 454, 459 f., 519, 521, 540

– –

Gentherapie: G. (allgemein) 381-389, 439, 455



Somatische G. 389-400



Keimbahntherapie 400-414

Gerechtigkeit 120, 245, 313, 327, 364, 404, 444, 462 f. Glück / Glückseligkeit 20, 127, 164, 179, 417, 424 ff., 443 Heteronomie 348, 427, 446 Homo creator 291, 317 Homo erectus 159, 342 Homo faber 219-223, 244, 254, 263, 291, 314, 320, 357, 508, 512, 523, 549, 552 f. Homo habilis 159 Homo hortulanus 30 f., 222, 323, 553 f. Homo neanderthalensis 341-350 Homo noumenon 146 Homo oeconomicus 222 f., 227, 244, 326, 357, 549, 553 Homo phaenomenon 146 Homo plagiator 317 Homo rudolfensis 159 Homo sacer 226 Homo sapiens sapiens 65, 159, 343, 432, 438, 503, 535 Hyperzyklus 80 f. iGEM 281 f., 287 Imperativ, kategorischer 335, 445, 551 Instrumentalisierung 58, 145, 157, 202, 232, 254, 347, 435, 460, 475, 483 Klon, Klonen 112, 230, 256, 339, 344, 360, 377, 446-463, 479, 524, 526, 529, 532, 538, 551 f. Kontingenz 21, 147, 262, 409, 435, 461, 478, 494 Kopftransplantation 463-480 Kosmologie / Kosmos 32, 37 ff., 64, 68, 84, 127, 170, 174, 264

618 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Sachregister

Kultur 30 f., 40, 47, 51, 70, 134 f., 153, 160, 162, 176, 187, 190, 201, 204, 210, 221, 231, 244 f., 247, 286, 315, 323 f., 341, 345, 350, 383, 436 f., 458, 505, 537, 541 Leben / Lebendiges 20 f., 28, 30 f., 34 ff., 37 f., 39, 41, 43 f., 45 f., 51-92, 92-108, 108-116, 117-141, 143-153, 169 f., 176, 178 f., 186 f., 197, 199, 210, 220, 222, 225-232, 284-306, 356, 370, 381, 404, 417, 425 f., 428, 433, 441, 459, 461, 472, 478, 480 f., 508 ff., 513, 537, 541, 545 ff. Lebenswissenschaften 20, 235, 311, 322 Leib 21, 58, 94, 116, 143-151, 155-158, 186, 204, 210, 227, 232, 261 f., 347, 362, 369 f., 378, 406, 408, 414, 435 f., 454, 456, 464, 471, 473 ff., 477 ff., 481, 488, 494, 504, 508, 510 f., 513, 546 f., 552 Leihmutterschaft 344, 357 f., 365 Liebe 34, 138, 150, 164, 370, 378, 380, 422, 426, 461 f., 494 Maschinenebenbildlichkeit des Lebendigen –

Automaten 177 f.



Computer als Metapher 292 ff., 297 f.



Ordnung der Welt als Uhr 99, 173

Mechanizismus 34, 77, 92, 96, 98, 100, 106, 174, 176, 178 f., 189, 254, 295, 297, 351, 409, 504 f., 546 f. Medizin –

Biom. 384, 386, 395, 443, 517



hippokratische M. 36, 440



M. als Heilkunst 36, 262, 389, 415

– –

Medizinische Diagnose 258, 279, 384, 420 Medizinische Forschung 228, 231 f., 466, 519, 532 f.



M.-Technik 260, 401, 432, 480, 491, 552



Nanom. 246, 250 f., 257-263



Reproduktionsm. 202, 355-381, 410 f., 445, 542, 552



Transplantationsm. 399, 461, 467, 473 f., 520



Wunschm. 358, 420, 435

Menschenwürde 157, 172, 307, 332, 335 ff., 344 ff., 368, 384, 410, 412 f., 461, 479, 530, 535 f., 541 Minimalgenom 272 f., 350 Modularisierung 212, 227, 270, 273, 290 f., 330, 549

619 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Sachregister

Mutation 72, 275, 325, 384 f., 395, 397, 403, 414 f. Mythos / Mythen 33, 161, 163-165, 241, 313, 447, 514 f., 542 Nachahmung / imitatio 28, 77, 134, 164, 165-167, 167-174, 186, 204, 252 ff., 312, 548 f. Nanotechnologie 11, 237-265, 269, 271, 540 Natur –

Begriffe der N. 32-39, 39-45, 46-49, 92 ff., 96 ff., 109, 179 ff., 204 ff.



Buch der N. 101, 168, 170, 301 ff.



N.beherrschung 19, 175, 213, 220, 289, 299, 547



Natura naturans / natura naturata 124, 169 f.



N.philosophie 81, 93 f., 95, 109 f., 164, 175

– –

N.schutz 265, 340 N.verhältnis 19, 25, 29 ff., 46, 113, 143 ff., 149, 159 ff., 167, 174, 177, 184, 186 ff., 197 f., 222, 251 ff., 298, 496 ff., 546



N.verständnis 28, 47, 97, 254, 306, 316



N.wissenschaft 49, 65, 76 f., 81 f., 90, 97, 110 f., 119 ff., 123 f., 126 ff., 132 f., 174 ff., 198, 212, 244, 267, 269, 383, 454, 475, 483, 528, 547



N.zweck 98, 129

Nichtwissen 258 f., 452 Organismus –

Minimalo. 272 f., 350



Modello. 121-126, 294, 407, 435, 546



O. 37 f., 40, 45, 52 ff., 57, 59 ff., 65, 68 ff., 72, 74 f., 78, 82, 84, 86 ff., 89, 91, 92-108, 115, 119 f., 122 ff., 131, 135 ff., 148, 152, 161, 169, 178, 186 f., 251 f., 254, 260, 264 f., 268, 271, 273, 281, 286, 292 f., 300, 304, 316, 321, 323 f., 328, 333, 336 f., 349, 356, 392, 397, 401, 403, 408 f., 417, 457, 473 f., 482 ff., 493, 517, 519, 521, 539, 541 f., 545, 547, 549 f.



Protoo. 271, 304, 332, 350 f



transgener O. 311, 391, 401, 521-524, 539 f.

– –

Reziprozität des Organischen 99 ff. Xenoo. 277

Organprojektion 184-188

620 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Sachregister

Panspermie 82-84 Person / Personalität 30 f., 47, 101, 103, 118, 131, 134, 145, 150 ff., 157, 161, 164, 169, 221, 223 ff., 262, 320, 344, 347 f., 359, 373-377, 380, 404 f., 413, 422, 434, 445, 451, 453-456, 461, 464 f., 469, 479, 490, 494, 497, 499, 502 f., 508, 510, 517, 536 f., 546, 551 Pflanze 30, 32 f., 35 f., 41, 43, 45 f., 53 ff., 58, 60, 62, 69, 76, 89, 94, 114, 116 f., 119, 130, 159, 162, 170, 179, 184, 216, 225, 265, 278, 284, 324, 334, 336, 393-397, 401, 451, 496, 519, 521 f. Physik 56, 65 ff., 81, 96, 98, 110 f., 127-133, 178, 180, 223, 229, 239 ff., 246, 300, 390, 509, 546, 549 Physikalismus 127-133, 140 f., 151, 285, 473, 546 Poiesis 154, 165, 221, 283, 373 ff., 456, 513, 542, 552 Posthumanismus 173, 178, 204, 478, 487, 495-514, 540, 550 Praxis 20, 123, 136, 154, 221, 283, 373 ff., 459, 461, 513, 542, 545, 552 Protozelle 271, 304, 350 f. Prozess / Prozessualität 19, 31 f., 35 f., 40 f., 44 f., 55, 62, 70, 80 f., 89 f., 93, 95, 102, 104-108, 109, 113 ff., 117 f., 120, 122 f., 126, 130, 139 ff., 145, 152, 161 f., 166 f., 169 ff., 175, 178 f., 223 ff., 228, 230, 237 f., 249 f., 252 f., 254 ff., 274, 276, 279, 285, 297, 306, 313, 317, 326, 351, 390, 402, 408, 415, 443, 453, 473, 483, 502, 523, 531 f., 546, 548 f., 553 Reduktionismus 21, 103, 141, 384, 409, 546 Reizempfindlichkeit 56 f., 59, 87 f. Roboter / Robotik 104, 178, 240, 252, 259, 262, 322, 349, 478, 482, 485 f., 499, 501 ff. Schicksal 127, 155, 219, 356 f., 379, 381, 389, 404, 409, 494, 550 Seele 34 f., 37 f., 54 f., 81, 92 ff., 117, 151, 156, 174, 195, 261 f., 288, 400, 415, 417, 424, 455, 470 ff., 494, 504, 537 (siehe auch Entelechie) Selbsterhaltung 54, 87 f., 89, 100, 156, 446, 554 Selbstgestaltung / Selbstorganisation 52, 80 ff., 86 f., 91, 99, 102-108, 152, 251, 288, 304, 306, 323, 327, 523, 549, 553 Selbstverhältnis / Selbstverständnis 20, 193, 306, 408, 452, 455 f., 486, 513, 541 Stammzellen 251, 298, 339, 344, 387, 390, 395, 402, 407, 456, 519 f., 525 ff., 532 f., 539 f., 542 Status, moralischer 114, 155, 179, 332 ff., 347, 372, 526, 528 ff.

621 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Sachregister

Stoffwechsel 28, 45, 59, 63, 88 f., 102 f., 105 ff., 123, 131, 170, 253, 279, 281, 312 f., 387, 519, 523 Subjekt / Subjektivität 45, 61, 103, 114, 117 f., 121, 131, 134, 136, 149, 153, 155, 157, 174, 179, 193 f., 198, 215-218, 222, 227, 325, 345, 347, 380, 383, 416 f., 453, 455, 477, 490, 502, 513 f., 530, 547 f. Synthetische Biologie (siehe Biologie) Synthetische Chemie 281, 290 Technik 11, 19, 21, 30, 40, 47 ff., 110, 113 ff., 124, 130 f., 159-218, 219-224, 235, 237, 243 ff., 255 f., 260, 262 f., 269 ff., 280, 282, 284, 289, 291 f., 303, 305 f., 308, 311 f., 314, 320, 325, 337, 352, 356 f., 359, 361, 370, 378, 383, 408, 414 ff., 435 ff., 438 f., 442, 449, 454, 482, 484 ff., 490 f., 493 f., 495 ff., 503 ff., 507 ff., 513 f., 527 f., 531, 547 ff., 551 ff. Technikfolgenabschätzung 126, 246, 278, 331, 493 Teleologie 35, 37, 55, 98, 100, 138, 169 Therapie 190, 244, 250, 255, 258 ff., 334, 365, 370, 381-389, 389-400, 400-414, 414-436, 439 f., 444, 449, 452, 455, 477, 487, 489 f., 492, 527, 532, 536, 546, 550, 552 f. Tier 33, 35, 41, 43, 45 f., 52 ff., 58, 60 ff., 69, 76, 84, 86, 93 f., 99, 105, 114 ff., 117, 119, 129 f., 137, 159 f., 162 f., 170 f., 175, 179 f., 195 f., 216, 220 f., 225, 229, 260, 279, 310, 312, 314, 323 f., 329, 333 f., 338, 340, 342, 356, 380, 382, 388, 392 ff., 401, 406, 413, 435, 449, 451, 466 ff., 484, 486, 488, 494, 496 f., 503 ff., 514-543 Tod 34, 45, 88-92, 102, 122, 127, 144, 161, 206, 226 ff., 264, 342, 387, 392, 397, 459, 465, 467, 474, 476 ff., 480, 482, 498, 500, 507 f., 512 Umwelt 31, 58 ff., 69, 72, 74 f., 81, 86, 88 ff., 96, 101, 103, 105 ff., 135, 138, 148, 153, 162 f., 193, 195, 197, 217, 245 f., 264 f., 273, 296, 305, 321 f., 327, 333 f., 335, 337, 350, 353, 383, 396, 400, 409, 424, 473, 483, 497, 502, 513, 522 f., 545 Unverfügbarkeit 146, 151, 155, 157, 169, 175 f., 224, 228, 345, 347, 356, 361, 375, 378 f., 405, 412, 451 f., 545, 553 Ursache 33 ff., 37, 39 f., 42, 55, 90, 99 f., 105, 175, 251, 301, 356, 381, 385, 395, 403, 415, 523 Urteilskraft 97 f., 101 Urzeugung 54, 77, 82 Utilitarismus 414, 439, 446 Verantwortung 103, 109, 167, 199, 201, 222, 278, 315, 318, 321, 331, 333, 364, 375, 383, 417, 442, 456, 470, 535, 537, 548, 553

622 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

Sachregister

Vernunft 20, 31, 38, 44, 46, 96 ff., 101, 103, 132, 136, 143, 146, 153 ff., 157, 164, 169 ff., 173, 177, 195, 201, 220 f., 313, 321, 323, 336, 346, 348, 375, 380, 383, 412, 423, 445 f., 452, 480, 489, 503, 512, 514, 535 f., 541, 543, 552 f. XNA 277 Zeugung 355-381, 459, 518 Zufall 85, 104, 127, 220, 293, 296, 303, 326, 392, 406, 409, 435, 453, 456, 458 Zweck an sich 348, 414 Zweckmäßigkeit 81, 98, 100 f., 104 f., 137 f., 179

623 https://doi.org/10.5771/9783495998656 .

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