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German Pages [240] Year 2009
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Gunther Wenz
Band 122
Vandenhoeck & Ruprecht
Katrin Dieckow
Gespräche zwischen Gott und Mensch Studien zur Sprache bei Kierkegaard
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56356-4
© 2009, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: b Hubert & Co, Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Vorwort
Im Wintersemester 2007/08 wurde diese Arbeit als Dissertation an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen angenommen. Ich danke meinem Doktorvater Herrn Prof. Ringleben und Frau Prof. Axt-Piscalar für die Gutachten. Letzterer habe ich auch zu danken, dass sie die Arbeit so zügig in die von ihr zusammen mit Gunther Wenz herausgegebene Reihe aufnahm. Finanziell möglich wurde die Veröffentlichung durch Druckkostenzuschüsse der Georg-Strecker-Stiftung, der Ev.luth. Landeskirche Hannovers und der VELKD. Sowohl für den Denker Kierkegaard als auch für das Nachdenken über Sprache spielt der Begriff des Zwischen eine zentrale Rolle. So passt es vielleicht zu dem Thema meiner Arbeit, dass sie in einer ganzen Reihe von Zwischenräumen gewachsen ist. Sie ist entstanden im Zwischenraum zwischen Vikariat und dem Berufseinstieg als Pastorin, in dem sich der direkte Blick auf theologische Praxis fruchtbar verbinden konnte mit intensivem theologischen Nachdenken in einem weiteren Rahmen. Ermutigt zum Denken im Zwischenraum hat mich mein Doktorvater Prof. Ringleben. Die Anregung, mein Interesse an Kierkegaard mit sprachtheoretischen Überlegungen zu verbinden, habe ich ihm zu verdanken. Die Aufmerksamkeit auf die Sprachlichkeit des Denkens zu richten, habe ich von ihm gelernt. Profitiert hat die Arbeit vom Gespräch zwischen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Die Skandinavisten in Göttingen machten mir das Dänische schmackhaft und ich erinnere gerne ein interdisziplinäres Kierkegaard Seminar in ihrem Fachbereich ebenso wie eine gemeinsame Reise nach Kopenhagen. Schließlich ist die Arbeit in den Zwischenräumen des Familienlebens entstanden und nun wird dieses Buch wohl ungefähr gleichzeitig mit der Geburt unseres zweiten Kindes erscheinen. Dass es möglich war, die Arbeit in all diesen Zwischenräumen wachsen zu lassen, dafür bin ich sehr dankbar. Soltau, im Oktober 2008
Katrin Dieckow
Inhalt
In einer Nussschale … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Einstimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.1 Kierkegaard als Sprachbeobachter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
1.2 Kierkegaard als Sprachliebhaber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Selbstgespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
2.1 Das Gespräch des Selbst in der Unschuld . . . . . . . . . . . . . . . .
32
2.2 Gesprächsdynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
2.3 Das Gespräch des Selbst in Sünde und Freiheit . . . . . . . . . . . .
54
2.4 Sprache der Angst: Verschlossenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
3. Reden und Schweigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
3.1 Mit Gott ins Gespräch kommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
3.2 Geschwätz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
3.3 Hören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
106
3.4 Verstehen und Missverstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125
3.5 Glauben lernen als Sprache lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
140
3.6 Gebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
157
4. Wort und Tat im Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
178
4.1 Das Wort zwischen Idealität und Realität . . . . . . . . . . . . . . . .
178
4.2 Wiederholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
190
4.3 Das Wort Gottes im Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
210
5. … auf dem Meer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Literatur und Verzeichnis der Schriften Kierkegaards . . . . . . . . . .
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7. Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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In einer Nussschale … Einleitung In einer Nussschale … Es ist nun ein großer Unterschied, ob ein Kriegsschiff oder eine Nußschale in See sticht, und der Unterschied ist äußerlich sichtbar. Mit dem Wort steht es anders. Das gleiche Wort kann eine noch größere Verschiedenheit bezeichnen, und doch ist das Wort das gleiche (XV, 342).
So beschreibt Kierkegaard anschaulich und präzis die Schwierigkeit, vor die alles Nachdenken über die Sprache gestellt ist. Worte sind mächtig und ohnmächtig, sie sind gefährlich, wo sie missbraucht werden, und lebensnotwendig, wo stärkende, heilsame Worte gesprochen werden. Diese Ambivalenzen sind äußerlich nicht sichtbar. Im Innern eines Menschen erweist sich, um was für ein Wort es sich handelt. Und auch da ist es nicht immer eindeutig, denn Kierkegaard weiß viele Geschichten davon zu erzählen, wie Menschen sich in ihrem Innern selbst täuschen. Ist es unter diesen Voraussetzungen nicht müßig, über die Unterschiede, die ein Wort in sich fassen kann, nachzudenken? Ich verstehe diese Schwierigkeit als einen Hinweis darauf, das Geheimnis der Worte in den Zusammenhängen zu suchen, in denen auch die grundsätzlichen Bestimmungen des Menschen zu suchen sind. Kierkegaard beschreibt das Selbst des Menschen als eines in Bewegung: hin- und her gerissen zwischen den Gegensätzen seines Selbst auf der Suche nach einer Einheit, die Freiheit ist. Ich möchte versuchen, diese Bewegung als eine sprachliche Bewegung darzustellen: als ein Gespräch des Menschen in sich selbst, mit sich selbst, mit Gott, mit seinem Nächsten, mit der Welt. Wenn die Struktur des Selbst mit der Sprache verknüpft wird, erklärt sich, warum sich die Widersprüche des Menschen ebenso in seiner Sprache spiegeln wie Freiheit und Glauben Ausdruck in der Sprache finden. Denn es ist ein sprachliches Geschehen, wenn der Mensch sich in Widersprüche seines Selbst verwickelt, wenn er sich im Missverständnis mit anderen befindet oder wenn er verzweifelt vor Gott verstummt. Ebenso ist es eine sprachliche Bewegung im Menschen, wenn er sich im Glauben zu Gott verhält, in Freiheit zu sich selbst verhält, in Liebe zu anderen Menschen verhält.1 ————— 1 Was ich mit sprachlicher Bewegung genau meine, muss die Durchführung der Arbeit klären. Deutlich ist aber schon hier, dass ich Sprache als das verstehe, in dem der Mensch seine vielfältigen Beziehungen lebt. Damit gehe ich von einem anderen Verständnis von Sprache aus als z.B. Autoren, die danach fragen, wie durch Sprache Wirklichkeit oder Wahrheit zum Ausdruck
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Einleitung
Ich begebe mich mit diesen Überlegungen in einen Zwischenraum zwischen Sprachtheorie und Subjektivitätstheorie. Ich möchte nicht mit einer grundsätzlichen Verhältnisbestimmung von Sprache und Subjektivität beginnen. Die Durchführung muss erweisen, was es austrägt, die subjektivitätstheoretischen Aussagen Kierkegaards in ein Gespräch mit Beobachtungen aus der Sprachtheorie zu bringen. Ich erhoffe mir davon in der einen Richtung, dass die Sprache zu einem konkreteren Verständnis dessen beiträgt, wie das Selbst bei Kierkegaard gedacht ist. In der anderen Richtung können Beobachtungen aus der Subjektivitätstheorie helfen, die vielen sprachlichen Phänomene zu verstehen, die Kierkegaard beschreibt und insofern über Arbeiten hinausgehen, die sich mit Sprache und Kommunikation bei Kierkegaard auf der Ebene der Phänomene z.B. als Beschreibung der Theorie indirekter Mitteilung beschäftigen.2 Sowenig ich das Verhältnis von Sprachtheorie und Subjektivitätstheorie hier im Vorhinein bestimmen will, sei doch zumindest gesagt, warum gerade Kierkegaard sich anbietet für Studien im Übergang von beiden. Kierkegaard selbst hat keine Sprachtheorie vorgelegt. Aber er ist ein Autor, der seiner Sprache große Aufmerksamkeit schenkt und sich an ungewöhnlich vielen stilistischen Varianten versucht. Von jemandem, der sich als Denker ebenso wie als Schriftsteller versteht, kann man lernen, was es heißt, sprachlich zu denken. Auch von der Seite der Subjektivitätstheorie her gibt es einen Grund, sich gerade auf Kierkegaard zu beziehen, wenn es um Fragen von Sprache und Selbst geht. Subjektivität ist bei Kierkegaard immer in leiblichseelischen Zusammenhängen gedacht. Die beiden großen Schriften, in denen er seine Bestimmungen des Selbst im Wesentlichen entwirft, beschäftigen ————— gebracht wird. Ein Versuch, von einem an der Wahrheitsfrage entwickelten Grundansatz her Kierkegaard zu verstehen, ist das Buch von NIENTIED, M., Kierkegaard und Wittgenstein „Hineintäuschen in das Wahre“, Berlin/New York 2003. Die Autorin geht davon aus, dass Sprache gerade in religiösen Zusammenhängen immer etwas sagen will, was letztlich nicht sagbar ist. Sprache kann nur auf etwas verweisen, und im Sinne des Verweischarakters interpretiert sie die indirekte Mitteilungsmethode Kierkegaards. Sprache gerät dabei mehr und mehr als Mittel zum Zweck lebenspraktischer Umsetzung in den Blick, während sie als Ausdruck eines Fürwahrhaltens (zu dem für die Autorin auch der Glaube zählt) nur scheitern kann. Von diesem Ansatz her, der Sprache nicht versteht als etwas, das Beziehung schafft, sondern eine Wahrheit zum Ausdruck bringen oder auf sie verweisen soll, kommt die Autorin zu grundlegend anderen Interpretationen der Texte Kierkegaards zur Sprache, insbesondere im Begriff Angst, als ich sie hier vorlege. Als ein Versuch der Interpretation von Kierkegaards Sprachverständnis, der an begrifflichem Denken orientiert ist, sei noch verwiesen auf die Studie von KÜHNHOLD, C., Der Begriff des Sprunges und der Weg des Sprachdenkens. Eine Einführung in Kierkegaard, Berlin/New York 1975. Kühnhold fragt nach Kierkegaards Bemühen um die richtigen Begriffe. Ihre sprachwissenschaftlichen Ableitungen Kierkegaard’scher Zentralbegriffe wie der des Sprunges wirken schematisch. Sie will die Wahrheit bei Kierkegaard begrifflich fassen, wird aber dessen wesentlich komplexerem Sprachverständnis damit nicht gerecht. 2 Eine Auswahl an Sekundärliteratur, die sich mit der indirekten Mitteilung beschäftigt, findet sich unten in Kapitel 4.3 FN 43.
In einer Nussschale …
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sich mit Angst und Verzweiflung. Beides sind Phänomene, die sich auf leiblicher wie auf seelischer Ebene zeigen. Die Sprache ist in ihrer Doppelheit von hörbarem Laut und innerer Bedeutung ebenfalls eine Instanz zwischen Leib und Seele, so dass es nahe liegt, sie in ein Verständnis des Selbst, das am Zusammenhang von Leib und Seele interessiert ist, einzubeziehen. Zwischen den großen Fragen nach Sprache und Selbst wäre ich ohne Beschränkung verloren gegangen. Deshalb ist diese Arbeit ganz von der Auslegung der Kierkegaard’schen Texte her entstanden. Hinweise auf Autoren, die mich mit ihren Gedanken über die Sprache oder das Selbst für die Interpretation der Texte angeregt haben, werden in den Fußnoten auftauchen. Sie sind nur Hinweise ohne Anspruch auf Vollständigkeit in der Auseinandersetzung mit den großen Themen der Sprachphilosophie und Subjektivitätstheorie. Methodisch bewege ich mich hin und her zwischen der Darstellung des reichen phänomenologischen Befunds zu sprachlichen Erscheinungen und der systematischen Durchdringung dessen, was bei Kierkegaard in und durch die Sprache geschieht. Als Theologin interessiert mich dabei besonders, was die Erscheinungen der Sünde in der Sprache wie z.B. Geschwätz oder Missverständnis mit dem zu tun haben, wie Kierkegaard die Sünde als verkehrte Bewegung des Selbst beschreibt und wie die Struktur des gläubigen Selbst mit der der Sprache im Vollzug des Glaubens zusammenhängt. Die drei Hauptkapitel sind alle so aufgebaut, dass zuerst größere Texte chronologisch ausgelegt werden. Im zweiten Kapitel sind das Passagen aus dem Begriff Angst. Das dritte Kapitel beginnt mit Furcht und Zittern und der Krankheit zum Tode, sowie einer Auslegung einer Erbaulichen Rede über einen Text der Bergpredigt über Lilien und Vögel. Im vierten Kapitel stammen die Texte, die ausführlich vorgestellt werden, aus dem Fragment über den Zweifel und der Wiederholung. Im Anschluss an diese Interpretationen füge ich in jedem Kapitel Überlegungen hinzu, die sich auf eine Zusammenstellung anderer Texte Kierkegaards aus verschiedenen weiteren Schriften beziehen. Ein Hinweis zur Textgrundlage sei noch angefügt. Ich zitiere Kierkegaard in der deutschen Übersetzung, die von E. Hirsch begonnen und von H. Gerdes fortgeführt wurde.3 Trotz vieler neuerer Ausgaben einzelner Schriften, bleibt dies die einzige Ausgabe, in der eine weitgehend vollständige Zusammenstellung der Kierkegaard’schen Texte auf Deutsch vorliegt. Die Belegstellen sind im laufenden Text meiner Arbeit in Klammern ein————— 3 KIERKEGAARD, S., Gesammelte Werke, 36 Abtlg. in 26 Bd. u. Registerbd., Hirsch, E./ Gerdes, H./Junghans, H.M. (Hg.), Düsseldorf/Köln 1951–1969. Zum Vergleich mit dem dänischen Originaltext habe ich – soweit bereits erschienen – herangezogen: Søren Kierkegaards Skrifter. Cappelörn, N./ Garff, J. /Knudsen, J./McKinnon, A. /Mortensen, F.H. (Hg.), Bd. 1–55. Kopenhagen: 1997ff.
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Einleitung
gefügt, wobei die römische Ziffer die entsprechende Abteilung der Hirsch’schen Gesamtausgabe bezeichnet, die arabische Ziffer die Seitenzahl des jeweiligen Bandes. Eine Zusammenstellung, in der die römischen Ziffern den Titeln der wichtigsten Schriften zugeordnet werden, ist dem Literaturverzeichnis beigefügt.4 Noch ein Wort zu meinem Umgang mit den Pseudonymen. Ich sehe sie als Personen, die ein Gespräch führen. Sie stehen für verschiedene Zugänge zu einem Thema und bringen Beobachtungen und Gedanken aus ihrer Perspektive ins Gespräch. Bei jeder Aussage eines Pseudonyms ist zu bedenken, wie die Eigenarten der Persönlichkeit zu dieser Aussage stehen. Dennoch tendiere ich dazu, dass alle pseudonymen Aussagen Beobachtungen und Überlegungen des einen Autors Kierkegaard sind, die nicht disparat nebeneinander stehen, sondern sich zu einem kohärenten Ganzen fügen. Kierkegaard ist es, der das Gespräch zwischen den Pseudonymen entwirft, und in ihren Redebeiträgen kommen verschiedene Seiten seiner eigenen Person zu Wort.5 So handelt es sich nicht nur um ein Gespräch fiktiver äußerer Personen, sondern auch um ein Gespräch im Innern eines Menschen. Deswegen ist in meiner Arbeit die Unterscheidung zwischen den Pseudonymen als Autoren und Kierkegaard als Autor nicht streng durchgeführt. Ich selber verstehe mich als Zuhörerin bei den Gesprächen, die in Kierkegaards Werk geführt werden: den Gesprächen zwischen den Pseudonymen, die über ihre Lebensanschauungen im Dialog sind, oder den Gesprächen zwischen den pseudonymen Schriften und den Reden, die oft das gleiche Thema haben. In seinen Schriften über sich selbst deutet Kierkegaard am Ende seines Schaffens seine schriftstellerische Tätigkeit als Gespräch mit Gott. So führt er eine Reihe von Gesprächen zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Gott vor. Beim Zuhören entdecke ich nicht nur die sprachliche Vielfalt dieser Gespräche, sondern auch Hinweise über die grundsätzliche Bedeutung einer Begegnung zwischen Gott und Mensch in der Sprache. Von diesen Entdeckungen soll meine Arbeit handeln. Bevor ich mit der Auslegung zentraler Texte zur Sprache bei Kierkegaard beginne, sei als Einstimmung vorangestellt ein Einführungskapitel dazu, was Kierkegaard über seine Beziehung zur Sprache preisgibt. ————— 4 Ich habe mich in meiner Arbeit an die neue deutsche Rechtschreibung gehalten, die Texte aber selbstverständlich so zitiert, wie ich sie in der Gesamtausgabe vorgefunden habe, also in alter Rechtschreibung. So ergibt sich die Merkwürdigkeit, dass innerhalb eines Satzes Missverständnis einmal mit ss, einmal mit ß geschrieben sein kann usw. 5 Vgl. zu einem Verständnis von Kierkegaards Werk als Gespräch die Einführung von Paulsen, die das Leben und Denken von Kierkegaard in drei Gesprächsgängen entfaltet. PAULSEN, A., Sören Kierkegaard. Deuter unserer Existenz, Hamburg 1955.
1. Einstimmungen Einstimmungen
1.1 Kierkegaard als Sprachbeobachter Kierkegaard als Sprachbeobachter Kierkegaard zieht oft sprachliche Phänomene z.B. aus der Grammatik heran, um einen Gedanken zu veranschaulichen. Wie Kierkegaard zu dem Sprachbeobachter wurde, als der er sich in diesen ‚Sprachvergleichen‘ erweist, kann man sich vielleicht anhand des folgenden Textes vorstellen, der einiges über Sprache und Weltwahrnehmung verrät. In der Fragment gebliebenen Aufzeichnung über den Zweifel erzählt Kierkegaard von Johannes Climacus als kleinem Jungen, der durch anschauliche Erzählungen des Vaters lernt, in seiner Einbildungskraft mehr zu erleben als durch äußere Erlebnisse (X, 113f). Durch die Erzählung, also in der Sprache, entsteht eine ganze Welt, an der der Junge seine Wahrnehmung schult. Seine Weltwahrnehmung vollzieht sich durch die Sprache, er hat die Welt als eine sprachliche Welt. In der Schule entdeckt er dann, dass die Struktur der Sprache den Strukturen der Weltwahrnehmung entspricht. So berichtet der junge Climacus vom Griechischlehrer, der die Grammatik auf „mehr philosophische Art“ vortrug: dieser erklärt zum Beispiel, dass der Akkusativ die Ausdehnung in Raum und Zeit sei und dass nicht die Präposition den Kasus regiere, sondern dass das Verhältnis es tue (X, 114). Der Junge ist fasziniert von diesen sprachlichen Beobachtungen, die ihn dazu inspirieren, Raum und Zeit neu wahrzunehmen und auf seinen Spaziergängen damit zu spielen, dass er beim Anblick weniger Grashalme in eine ganze Welt von ungeheurer Ausdehnung eintauchen kann und sie im nächsten Moment als leeren Raum empfinden kann (X, 114). Weiter lernt der Junge Dialektik kennen, wenn der Vater fiktive Dialoge entwirft. Er genießt es, zwischen Gegensätzen in Gedanken hin- und her zu springen. In der Schule entdeckt er dann die Entsprechung in der Grammatik: „er sah, wie ein einziges Wort einen ganzen Satz verwandeln konnte, wie ein Konjunktiv mitten in einem indikativischen Satze eine sinnverwandelnde Bedeutung über das Ganze werfen konnte“ (X, 115). So gehören in der Entwicklung von Johannes Climacus die Entdeckung der Welt und der Sprache unmittelbar zusammen. Auch als Philosophiestudent erweist sich Climacus als einer, der sehr aufmerksam auf die Sprache ist. Er beklagt, dass die Philosophie Sprachverwirrung anrichtet, trotz oder eben wegen all ihrer Bestimmungen, während für ihn lebendige Erfahrung der Sprache Ausgangspunkt des Philoso-
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Einstimmungen
phierens ist. Er nimmt die von der Philosophie vorgegeben Sätze über den Zweifel ganz genau auseinander und führt sie damit ad absurdum. Die Zweideutigkeit der Aussagen passt nicht zu der intendierten Eindeutigkeit der philosophischen Sätze. Eine Zweideutigkeit besteht darin, dass ein Satz das eine sagen und ein anderes meinen kann. Weitere Zweideutigkeiten entstehen, wenn nach dem Verhältnis des Gesagten zum Sprecher gefragt wird. Climacus entdeckt dabei, dass die Zweideutigkeit der Sprache mit der Zwiefältigkeit des menschlichen Bewusstseins zu tun hat. Die inhaltlichen Aussagen zur Struktur des Bewusstseins im Zusammenhang mit Sprache sind später genau zu interpretieren.1 Hier soll es bei dem Hinweis bleiben, dass Sprachbeobachtung Climacus zur Beobachtung des Menschen führt und er aus Erkenntnissen über die Sprache Erkenntnisse über die Struktur des Bewusstseins ableitet. Unabhängig davon, ob diese Texte Kierkegaards über die Erfahrungen des jungen Climacus autobiographisch zu deuten sind oder nicht, zeigt sich, dass Sprache und Weltwahrnehmung für Kierkegaard wesentlich zusammenhängen. Beobachtung der Sprache wird für ihn zu einer Beobachtung der Welt und besonders des Menschen. Das ist der Ausgangspunkt für die an verschiedensten Stellen seines Werkes eingestreuten Sprachvergleiche. Buchstaben, Silben, Satzbau, die Grammatik der Verben und vieles mehr können ihn zu diesen Vergleichen anregen. Viele Sprachvergleiche, in denen die Sprache Eigentümlichkeiten des menschlichen Selbst spiegelt, gibt es auf der Ebene der Buchstaben. Die zwei Gattungen der Buchstaben, Vokale und Konsonanten, dienen Kierkegaard mit ihren Eigenschaften oft zur Veranschaulichung. Weiblichkeit ist Sein für anderes, meint Kierkegaard, und als Vergleich dafür zieht er – neben dem Rätsel, der Charade und dem Geheimnis – den Vokal heran, der auch bloß für anderes ist (I, 467). Sein für anderes bedeutet, dass der Vokal für den Konsonanten da ist, der ohne den Vokal nicht auszusprechen ist.2 Die Zusammengehörigkeit von Konsonant und Vokal ist auch entscheidend für folgenden Vergleich: Der Ethiker bemerkt, dass Liebe und Pflicht wie eine Silbe sind, die aus Vokal und Konsonant besteht: Die Pflicht klingt in der Liebe stets mit an. Wenn Du sie abscheidest, so wie er getan, und das eine Teil zum ganzen machen willst, so bist Du in einem ständigen Selbstwiderspruch. Es ist, wie wenn einer in der Silbe „be“ b und e trennen will und nun kein e dabei haben will, sondern behauptet, b sei das Ganze. In dem Augenblick, wo er dies aussagt, spricht er ein e mit. Ebenso ist es mit der wahren Liebe, sie ist keine
————— 1 Vgl. das Kapitel 4.1. 2 Ganz stimmig ist dieser Vergleich nicht, denn es ist ja möglich, Vokale allein auszusprechen, während Konsonanten auf Vokale angewiesen sind. Vielleicht hat Kierkegaard diesen Vergleich vom Hebräischen her gedacht, wo die Konsonanten die Bedeutungsträger sind und die nachträglich hinzugefügten Vokale somit eher als Sein für anderes bezeichnet werden können.
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stumme, abstrakte Unaussprechlichkeit, sie ist aber auch keine weiche unhaltbare Unbestimmtheit. Sie ist ein artikulierter Laut, eine Silbe. Ist die Pflicht hart, nun wohl, so spricht die Liebe sie aus, sie verwirklicht sie und tut damit mehr als die Pflicht; ist die Liebe im Begriff, so weich zu werden, daß man sie nicht halten kann, so setzt die Pflicht ihr eine Grenze (II, 158).3
In ähnlicher Weise wird dieser Vergleich noch einmal aufgenommen in der Krankheit zum Tode, wo die Möglichkeit den Vokalen entspricht und die Notwendigkeit den Konsonanten: Wofern man das sich Verlaufen in Möglichkeit mit dem kindlichen Lallen der Vokale vergliche, heißt der Möglichkeit ermangeln gleichsam stumm sein. Das Notwendige ist wie lauter Konsonanten, aber um sie auszusprechen muß Möglichkeit her (XXIV, 34).
Wo die Möglichkeit und die Freiheit verweigert wird, handelt es sich um eine besondere Form der Angst: die Verschlossenheit.4 Die Verschlossenheit assoziiert Kierkegaard mit vielen Konsonanten. Da die Möglichkeit und damit die Vokale verweigert werden, führt Verschlossenheit folgerichtig ins Schweigen. Verschlossenheit mit dem Entschluss der Freiheitsverweigerung setzt dabei einen Reflektionsgrad voraus, der über die Unmittelbarkeit hinausgeht. Der Unterschied zwischen einem Verschlossenen und dem, der in der Unmittelbarkeit bleibt, wird wieder mit der Sprache verglichen: Alle Verschlossenheit gründet sich in einer dialektischen Verdoppelung, welche der Unmittelbarkeit schlechterdings nicht möglich ist. Die Sprache der Unmittelbarkeit ist ebenso wie die vokalreichen Sprachen leicht aussprechbar, die Sprache der Verschlossenheit ist allein im Schweigen eine Sprache, oder gleicht höchstens jenen Sprachen, welche 4, 6 Konsonanten vor einen Vokal setzen (XV, 455).
Entscheidend bei allen Vergleichen, in denen Vokale und Konsonanten eine Rolle spielen, ist, dass nur beide gemeinsam ausgesprochen werden können. ————— 3 Noch einmal – in seinem späteren Auftritt in den Stadien auf des Lebens Weg – beruft sich der Ethiker auf den Zusammenhang von Vokalen und Konsonanten. Er macht sich einmal wieder Gedanken über die Ehe, und weil es schon so viele vor ihm getan haben, behauptet der Gerichtsrat Wilhelm nicht, neue Entdeckungen vorzutragen. Vielmehr hält er fest, dass die Hauptgedanken die gleichen bleiben so wie die Konsonanten im hebräischen Text und man nicht nach Belieben neue Vokale einsetzen kann: „ich handle nicht nach dem Wort eines boshaften Spötters, der da gesagt hat: Liebe und Ehe hätten dieselben Konsonanten, der Unterschied liege in den Vokalen, und dieser sei genau der zwischen zwei Lesarten einer bekannten Stelle im 1. Buch Mose, allwo erzählt wird, Esau habe Jakob geküßt, und die gelehrten Juden (welche Esau diese Freundlichkeit nicht zutrauten, es aber auch nicht wagten, die Konsonanten zu verändern) lediglich die Punkte veränderten, so daß es nun hieß: Esau habe Jakob gebissen. Solch einen Einwand beantwortet man am besten mit einem Bäh …“ (XV, 101f). 4 Vgl. zum Phänomen der Verschlossenheit ausführlich die Kapitel 2.3 und 2.4.
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Sie werden so zur Anschauung dafür, wie bei Kierkegaard eine Synthese zu denken ist. Zwei auseinanderstrebende Buchstaben können beide nur zur Geltung kommen, wenn sie zusammen ausgesprochen werden und zu einer Silbe werden. Widersprüchliche Erfahrungen des Menschen wie Liebe und Pflicht, Notwendigkeit und Möglichkeit müssen im Leben zusammen gebracht werden. Sinn ergibt sich in der Sprache wie im menschlichen Leben da, wo Einzelnes zusammengefügt wird, weil „der Erfahrung unendliche Summe wie ein Haufe von lauter stummen Buchstaben sich um so weniger aussprechen läßt, je mehr sie anwächst“ (XXXI, 63). Nicht nur auf der Ebene der Buchstaben und Silben zeigen sich Parallelen zwischen der Sprache und der menschlichen Individualität. Auf die Ebene des Satzes begibt sich Kierkegaard, wenn er die Komplexität der Sprache vergleicht mit der Komplexität eines Menschen, die sich in der Reflektiertheit seiner Liebesbeziehung zeigt oder eben nicht zeigt: Es geht in geistigem Sinne mit der Individualität ebenso wie es im grammatischen Sinne mit dem Satze geht: ein Satz, der aus nichts als Subjekt und Prädikat besteht, ist leichter zu konstruieren als eine Periode mit Neben- und Zwischensätzen (XV, 314f).
Auch Schwächen der Persönlichkeit lassen sich mit der Sprache veranschaulichen: Zu einem Menschen, der nicht eindeutig zu einer Entscheidung und einer Handlung kommt, fällt Kierkegaard ein Partizipialsatz oder ein Infinitivsatz ein, bei dem das Subjekt hinzugedacht werden muss. Da können die Grammatiker sagen, dass sich das Subjekt aus dem Sinn ergeben müsse. Aber im Fall dieses Menschen, der nur halbherzig eine Entscheidung trifft und das wesentliche dem Zufall überlässt, fehlt eben dieser Sinn, meint Kierkegaard, so dass sich das Subjekt nicht mehr ausmachen lasse (XVII, 71). Die Vergleichbarkeit von Satzbau und menschlicher Existenz geht so weit, dass das Gelingen oder Nichtgelingen des eigenen Lebens mit einem fertigen oder unvollständigen Satz verglichen werden kann. Welch ein Trost, die Sprache auf seiner Seite zu haben, so sprechen zu dürfen wie ‚sie‘: ich habe ihn geliebt! Anders jedoch wenn mein Vordersatz unrichtig ist: dann gibt es nämlich keinen Schlußsatz. Aber hier ist überhaupt nicht die Rede von ein paar schäbigen Sätzen, die man zu einem Schlusse zusammenfügen will, sondern von dem Grauenvollsten von allem, einer ewigen Pein: einer persönlichen Existenz, die sich selber nicht zu einem klaren Schlusse zusammenzufassen vermag (XV, 244).
Bei der verzweifelten Existenz, die sich selber nicht zu Ende sprechen kann, lässt sich daran denken, dass in der Bibel Gott derjenige ist, der in seinem Sohn nicht nur das Alpha ausspricht, sondern im Omega mit dem letzten Buchstaben des Alphabets sein Sprechen auch zu Ende bringt (Apk 21,6). Aber auch im Sprechen Gottes ist es so, dass der Sinn sich erst ergibt, wenn alles ausgesprochen ist. Die Vollendung des Satzes steht noch aus, und so wie diese Vollendung ihren Ort in der Eschatologie hat, kann auch die
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menschliche Existenz, die sich im Leben nicht zu Ende sprechen kann, von Gott am Ende zu einem Satz vervollständigt werden. Nicht nur der Satz, auch die einzelnen Wortarten werden Kierkegaard in verschiedenster Weise zur Anschauung für den Menschen. Die Verben sind so vielfältig wie die Menschen. Sokrates zum Beispiel stellt sich Kierkegaard vor wie ein unregelmäßiges Verb. Wenn jemand das Leben des Sokrates nach dem Paradigma des Staates konjugieren will, wo Sokrates’ Leben doch ganz und gar unregelmäßig war, dann ist das eine Vorstellung, die Kierkegaards Sinn für das Komische reizt (XXXI, 201). Kierkegaard ist von Sokrates fasziniert, weil er in ihm einen Einzelnen sieht, der sich vom Allgemeinen abhebt. Die Frage, wie sich das Einzelne zum Allgemeinen verhält, durchzieht Kierkegaards gesamtes Werk. Über diese Frage lässt sich aus zwei Gründen kaum unabhängig von der Sprache nachdenken: zum einen ist etwas Allgemeines nur in sprachlicher Begrifflichkeit überhaupt zugänglich, zum anderen ist die Komplexität des Verhältnisses von Einzelnem und Allgemeinem in der Sprache vorgegeben, weil in jeder sprachlichen Äußerung der Widerspruch steckt, dass ein Wort für etwas Allgemeines steht und doch als Wort ein Einzelnes ist: das Einzelne kann durch ein allgemeines Wort nicht als Einzelnes ausgedrückt werden, ebenso wie das Allgemeine durch ein einzelnes Wort nicht als Allgemeines zur Geltung kommt.5 Welche weit reichenden Folgen diese sprachphilosophische Grundeinsicht hat, ist hier in einleitenden Zusammenhängen noch nicht von Bedeutung. An dieser Stelle soll nur gezeigt werden, dass Kierkegaard ein grammatisches Phänomen, nämlich die Tatsache, dass es regelmäßige und unregelmäßige Verben gibt, dazu benutzt, das Verhältnis zwischen Allgemeinem und Einzelnem zu veranschaulichen: Es gibt in einer Sprache weit mehr zum Paradigma taugliche Verben als das eine, welches in der Grammatik als Paradigma aufgestellt wird; rein zufällig wird gerade dies aufgestellt, alle andern regelmäßigen Verben könnten es ebenso gut: ebenso auch mit den Menschen. Ein jeder Mensch kann, so er will, ein paradigmatischer Mensch werden, nicht dadurch, dass er sich seiner Zufälligkeit entkleidet; sondern dadurch, daß er in ihr bleibt und sie veredelt. Er veredelt sie aber dadurch, daß er sie wählt (II, 279).
Diese Worte können natürlich nur vom Ethiker stammen, der sicher die Paradigmentafeln so schätzt wie der Gerichtsrat seine Gesetzestexte. Er setzt das Allgemeine und das Einzelne in eine Beziehung, die für ihn darin besteht, dass das Einzelne alle Merkmale des Allgemeinen annimmt.6 Dass ————— 5 Das ist die Frage, die Hegel im §1 seiner Phänomenologie des Geistes stellt. Wie Kierkegaard sich diesen Text angeeignet und ihn weitergedacht hat, wird in Kapitel 4.1 dieser Arbeit dargestellt. 6 Wenige Seiten später fügt Kierkegaard zu der Frage, wie ein Einzelner die allgemeine Pflicht erfüllen kann, wieder eine Sprachbeobachtung ein, diesmal zu einer Redewendung: man
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man diese Beziehung auch anders – nämlich, dass das Einzelne außerhalb, in Widerspruch oder über dem Allgemeinen steht – bestimmen kann, führt Kierkegaard anhand des Ästhetikers und des Religiösen an anderer Stelle vor. Weil die Sprache – nicht nur auf grammatikalischer Ebene – Momente des Einzelnen und des Allgemeinen hat, eignet sie sich zum Vergleich mit dem Menschen. Dieser Vergleich geht auch hier wieder weit über einen Vergleich hinaus und weist auf eine Strukturparallele zwischen Sprache und menschlicher Existenz. Eine andere Eigenschaft der Paradigmen, nämlich dass es ihrer mehrere gibt, benutzt Kierkegaard in der Einübung im Christentum zu Vergleichszwecken. Dort dient das Paradigma als Vergleich zur Unterscheidung von Kategorien: Christus ist das Paradigma, nach dem die Jünger gebildet werden sollen. In der Situation der Gleichzeitigkeit konnte man sich leicht dessen vergewissern, ob die Jünger wirklich Christus gleichen, weil der Vergleichspunkt, das Paradigma, nämlich Christus, vor Augen stand. In der Gegenwart ist das schwieriger. Aber auch da sollte gelten, dass die Jünger nach dem Paradigma von Christus gebildet sind. Bei seinen Zeitgenossen kann Kierkegaard das nicht feststellen, und zeigt sich bei entsprechenden Behauptungen darüber so erstaunt, als wenn jemand behauptete, domus gehe nach dem Paradigma von mensa (XXVI, 102). Zu Sprachvergleichen bieten sich bei den Verben neben den Paradigmen besonders die verschiedenen Modi an. Kierkegaard erzählt von einem Lateinlehrer, der den Schüler fragt, warum in dem gerade gelesenen Vers die Konjunktion dum den Konjunktiv regiere. Der Schüler antwortet: weil es hier die Bedeutung von dummodo hat. „Richtig“, erwiderte der Lehrer, begann aber darauf zu erklären, man dürfe das Konjunktivische nicht rein äußerlich betrachten, so als ob es die Konjunktion als solche sei, welche den Konjunktiv regiere. Der Modus werde bestimmt durch das Innerliche, das Seelische, hier z.B. durch die Leidenschaft des Wünschens, das Sehnen der Ungeduld, das Bewegtsein der Seele in Erwartung (XV, 215).
Der Lehrer schildert dann lebendig die Intensität leidenschaftlichen Wartens und das könne nicht „konjunktivisch“, sondern nur „indikativisch“ gedacht werden. „Eigentlich dürfte die Sprache gar nicht erlauben, daß solch eine Leidenschaft durch einen Konjunktiv ausgedrückt wird“ (XV, 216), resümiert er. Aber da das Warten immer eine Unbestimmtheit hat, ist es dennoch „recht eigentlich konjunktivisch“. Ein Doppeltes wird in dieser kleinen Episode deutlich. Einmal ist zu bemerken, dass die Sprache innere ————— sage nicht, jemand tue die Pflicht, sondern er tue seine Pflicht, ebenso wie ich meine tue und du deine (II, 281). Die allgemeine Pflicht wird durch den Gebrauch nicht des allgemeinen bestimmten Artikels, sondern des persönlichen Pronomens an das Einzelne gebunden. Das dient als Veranschaulichung dafür, dass das Allgemeine seine Gültigkeit im Einzelnen erweist.
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Stimmungen widerspiegelt. Aber die Sprache dient auch der Interpretation dieser inneren Gefühlslagen, eben dass dem Warten der Indikativ eher angemessen ist als der Konjunktiv. Ein grammatischer Modus steht dabei für eine inhaltliche Aussage: das Warten wird dadurch bestimmt, dass es indikativisch zu verstehen ist. So kann durch einen bewussten Umgang mit der Sprache die eigene Wahrnehmung der Situation verändert werden. Sprache ist dabei etwas sehr Lebendiges: ihre formalen Strukturen verraten etwas über innere Zusammenhänge, aber dadurch, dass man die Sprache auch bewusst anders verwenden kann, ist eine Entwicklung des Menschen und eine Weiterentwicklung seiner Sprache möglich. Kierkegaard ist sehr achtsam damit, welcher Modus welcher Situation angemessen ist. Fest steht für ihm z.B., dass man Gott nicht im Konjunktiv lobpreisen kann, sondern nur im Indikativ (VI, 113) und dass wäre und hätte in der Predigt über die Situation der Gleichzeitigkeit hinwegtäuschen (XXVI, 243).7 Ebenso wie die Modi lassen sich auch Tempora zum Vergleich heranziehen, z.B. für verschiedene Formen der Verzweiflung in der Krankheit zum Tode: Der Jüngling verzweifelt über das Zukünftige, gleich einem Präsens in futuro; da ist etwas Zukünftiges, das er nicht auf sich nehmen will, mit diesem will er nicht er selbst sein. Der Ältere verzweifelt über das Vergangene gleich einem Präsens in präterito, welches nicht mehr und mehr Vergangenheit werden will – denn so verzweifelt ist er denn nicht, daß es ihm gelänge, es ganz zu vergessen (XXIV, 59).
Die Widersprüchlichkeiten des menschlichen Selbst, die einen Menschen verzweifeln lassen, spiegeln sich hier in der Möglichkeit der Sprache, Zeiten ineinander zu schieben. In der dänischen Sprache sind das Futur und der Imperativ gleich lautend. Dieses Sachverhalts bedient sich der Ethiker, um das Verhältnis von Liebe und Pflicht zu erklären. Die Liebe ist nicht nur eine bloße Hoffnung, die auf die Zukunft ausgerichtet ist, sie ist auch Pflicht, die Auftrag für die Gegenwart ist. Dies liegt so ineinander, wie im Dänischen die Futurform identisch mit dem Imperativ ist (II, 155). Auf die gleiche Eigenart der dänische Sprache weist Kierkegaard einige Seiten später noch einmal hin: „In der Pflicht ist den Liebenden eine ebene Bahn aufgetan, und daher kommt es, glaub ich, daß in der dänischen Sprache der Ausdruck für die Pflicht, nämlich ‚Du sollst‘, zugleich das Futurische bezeichnet, um damit das Geschichtliche anzudeuten“ (II, 159). Aus solchen Vergleichen spricht die ————— 7 Aus dem Spiel mit Konjunktiv und Indikativ kann Kierkegaard eine ganze Theorie über Poesie und Mythos umreißen: „Das Poetische ist ein hypothetischer Satz im Konjunktiv, das Mythische ist ein hypothetischer Satz im Indikativ“ (XXXI, 103). Damit steht das Mythische zwischen Konjunktiv und Indikativ, da in der Hypothese immer schon etwas Konjunktivisches liegt, das aber mythisch im Indikativ ausgedrückt wird und dadurch in eine Zweideutigkeit gerät.
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Einsicht, dass sich Lebenseinstellungen und Wertvorstellungen in sprachlichen Strukturen wieder finden.8 Neben den Verben zieht Kierkegaard auch andere Wortarten zu Sprachvergleichen heran. Adjektive mit ihrer Fähigkeit, Steigerungsformen zu bilden, eignen sich als Beispiel für die Ableitbarkeit von Verhältnissen. So heißt es in der Einübung im Christentum, dass die Dialektik und alle Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, dass Christus sowohl Mensch als auch Gott gewesen ist, verloren gehen, wenn Gottes Sein ein „schlichtunmittelbarer Superlativ zum Mensch Sein wird“ (XXVI, 98). Die Steigerungsform ist dem dialektischen Verhältnis von Gott und Mensch nicht angemessen. Wenige Seiten später ist davon die Rede, dass vom Christlichen keine direkte Linie zum Weltlichen gezogen werden darf, denn dabei geht das Ärgernis verloren und das Christliche löst sich im Weltlichen auf. So eine direkte Linie sieht Kierkegaard aber seine Zeitgenossen ziehen und vergleicht sie mit den Steigerungsformen in der Sprache: Wenn es hoch kommt, verhält sich das Christliche zum Weltlichen wie eine höhere Potenz […], jedoch, gerade heraus gesprochen, es ist ein durchaus regelmäßiger Komperativ, und der Positiv dazu lautet: die bürgerliche Rechtschaffenheit (XXVI, 107).
Neben den grammatischen Phänomenen können auch einzelne Worte Kierkegaard zu Betrachtungen über ein ganzes menschliches Leben anregen. In den Diapsalmata, den Fragmenten, die den ersten Teil von Entweder-Oder eröffnen, gibt es eine Sentenz darüber, wie Bedeutungsverschiedenheiten zu Sinnlosigkeit führen können: Mein Leben ist völlig sinnlos. Wenn ich seine verschiedenen Epochen betrachte, so geht es mit meinem Leben wie mit dem deutschen Worte „Schnur“ im Lexikon, welches einmal eine Kordel und sodann eine Schwiegermutter bedeutet. Es fehlte bloß, daß das Wort Schnur drittens ein Kamel bedeutete und viertens einen Staubbesen (I, 38).
Die Bedeutung der Sprache ist hier der Sinnlosigkeit preisgegeben. Aber nicht nur beim Übersetzen zwischen zwei Sprachen taucht das Problem der Bedeutungsverschiedenheit auf. Auch innerhalb einer Sprache kann ein ————— 8 In dieser Einstellung ist Kierkegaard Humboldt verbunden, bei dem sich der Gedanke, dass eine Sprache eine Weltsicht ist, wie ein roter Faden durch seine Aufsätze zieht. Vgl. dazu V.HUMBOLDT, W., Schriften zur Sprachphilosophie, Werke Bd. III, Flitner, A./Giel, K. (Hg.), Darmstadt 1963. Zu Sprache als Weltsicht z.B. 20, 64, 224. (Wenn ich im Folgenden auf Humboldt Bezug nehme, notiere ich nur Humboldt und die Seitenzahl und beziehe mich damit immer auf diesen Band der Schriften zur Sprachphilosophie.) Vielleicht hat Kierkegaard bei folgendem Satz aus den Stadien auf des Lebens Weg an Humboldt gedacht: „wofern du nicht Fähigkeit und Muße haben solltest, durch vieljährige Übung in fremden Sprachen in die Verschiedenheit der Volksinidvidualitäten einzudringen, so wie diese dem Forscher sich zeigen […]“ (XV, 93).
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Wort höchst verschiedene Nuancen haben. Immer wieder beschäftigt es Kierkegaard, dass ein Ausdruck der Sprache etwas existentiell höchst Bedeutsames ebenso bezeichnen kann wie eine Unwichtigkeit. In der Unwissenschaftlichen Nachschrift fällt ihm das am Wort sætte sammen auf: man kann es gebrauchen, um das „absolut Verschiedene zusammen zu setzen (wie die Vorstellung von Gott mit einem Ausflug in den Wildpark)“, und das gleiche Wort wird auch gebraucht, wo zwei im Spaß ihre Kräfte messen, also ihre Kräfte „zusammensetzen“, um sich gegenseitig zu foppen (XVI/2, 212). Solche Bedeutungsverschiebungen innerhalb eines Wortes können zum Indikator für eine ganze Lebenseinstellung werden. So sagt der Ethiker z.B. von sich, dass er, wenn er im Alltag die Worte Entweder-Oder gebrauche, ihm manchmal auffalle, wie sie von ganz gleichgültigen Dingen gebraucht werden und doch auf die unbedingte Ernsthaftigkeit der Entscheidung hinweisen: „sie legen dann ihre bescheidene Tracht ab, ich vergesse das Unbedeutende, das sie voneinander scheiden, sie treten vor mich hin, in aller ihrer Würde und ihrer Feiertracht“ (II, 168). Das Thema des Ethikers bricht an ganz alltäglichen Worten hervor. Der Ästhetiker A hingegen versteckt sich hinter einer Maske und hinter Rätseln, meint der Ethiker, und für ihn sei Entweder-Oder keine disjunktive Konjunktion, sondern die Teile gehören untrennlich zusammen und müssten folgerichtig als ein Wort geschrieben werden (II, 170). Auch sprachlich ganz unauffällige Phänomene kann Kierkegaard zu Sprachvergleichen heranziehen. Aus den Diapsalmata stammt folgende Sentenz über einen Strich und zwei Punkte hebräischer Vokalisation: Verkümmert bin ich wie ein Scheva, schwach und überhört wie ein Dagesch lene, in einer Stimmung wie ein Buchstabe, der auf dem Kopf steht […], überhaupt so reflektiert in mir selber wie nur je ein Pronomen reflexivum“ (I, 23).9
Auch das sprachlich so unauffällige Phänomen des Bindestrichs kann Kierkegaard zu einem ganzen Gleichnis ausführen. Es geht um die Situation, dass eine Liebe in die Brüche gegangen ist. Aber wirkliche Liebe hält an der Geliebten fest. Kierkegaard überlegt, wie er dieses bleibende Verhältnis der Liebe auch nach dem Bruch beschreiben kann. Und er tut es folgendermaßen: Denk dir ein zusammengesetztes Wort, das letzte Wort fehlt, da ist nur das erste Wort mit dem Bindestrich (denn der, welcher das Verhältnis bricht, kann doch den Bindestrich nicht mit sich nehmen, den Bindestrich behält der Liebende, ganz natürlich, auf seiner Seite), denk dir also von einem zusammengesetzten Wort das erste Wort und
————— 9 Neben den alten Sprache Hebräisch, Griechisch und Latein, neben dem Deutschen und natürlich seiner Muttersprache Dänisch zieht Kierkegaard übrigens auch einmal das Spanische zum Vergleich heran: jemand, der in dem, was er tut, gar nicht wirklich dabei ist, ist wie das kleine stumme s im Spanischen (II, 182).
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den Bindestrich, und denk dir nun, du wüßtest weiter gar nichts von dem Zusammenhang: was würdest du dann sagen? Du würdest sagen, das Wort sei nicht fertig, ihm fehle noch etwas (XIX, 337).
Der Liebende sagt nun ebenso, die Liebe sei noch nicht fertig. Er ist nicht auf den Bruch fixiert, der in der Vergangenheit liegt, sondern er bleibt, d.h. er ist auf die Zukunft ausgerichtet. Deshalb redet er von seiner Liebe nicht wie von einem Bruchstück, sondern wie von einem Satz, der noch nicht zu Ende ist (XIX, 337f). Zu dieser verschiedenen Betrachtungsweise gehört auch eine andere Bewertung des Schweigens: während der, der in die Vergangenheit und auf den Bruch schaut, sagt, er rede nicht mehr mit dem Menschen, sagt der weiterhin Liebende: „Ich bleibe; dergestalt sprechen wir dennoch miteinander, denn zum Gespräch gehört ja bisweilen auch das Schweigen“ (XIX, 338). Von solchen Sprachbeobachtungen her gelangt Kierkegaard bis zu theologischen Aussagen. Das mächtigste Wort, das je gesprochen wurde, ist das Wort Gottes, mit dem er die Schöpfung ins Leben rief. Dem stellt Kierkegaard als mächtigstes Wort eines Menschen gegenüber das Wort des Liebenden, der sagt, ich bleibe (XIX, 339). Solche inhaltlichen Aussagen weisen schon in spätere Kapitel dieser Arbeit voraus. Hier sei abschließend zum Thema Sprachbeobachtungen noch erwähnt, dass Kierkegaard gerne Etymologien nachspürt.10 So fragt er z.B., was Widerstand (dänisch: modstand) mit Mut (dänisch: mod) zu tun hat (XVIII, 124), oder was etwas Betrügerisches (bedragende) mit ziehen (drager) zu tun hat (XXVI, 149). Was Kierkegaard im Zusammenhang dieser Überlegungen zum Betrügerischen resümierend sagt, gilt sicher nicht nur von seinen etymologischen Ausführungen, sondern auch von allen anderen Sprachvergleichen: „Sag nicht, das seien spitzfindige Sprachbeobachtungen, alles andre eher als erbaulich, o glaub mir, es ist für einen Menschen sehr wichtig, daß seine Sprache genau sei und wahr; denn sodann ist es auch sein Denken“ (XXVI, 150).11 Warum Genauigkeit und Wahrheit in der Sprache für einen Menschen so wichtig sind, nicht nur für sein Denken, sondern auch für seine Erbauung, also seinen Glauben, ist im Laufe dieser Arbeit zu entwickeln. Zuerst seien aber zur weiteren Einstimmung noch ————— 10 In seiner Magisterarbeit bemerkt Kierkegaard, dass Begriffe wie Individuen ihre Geschichte haben (XXXI, 7). Danach kann man sein Interesse an Etymologien so verstehen, dass er dieser Geschichte nachspürt. 11 Zu dieser Genauigkeit des Sprechens und Denkens sei verwiesen auf Humboldts Einleitung zu seinem Aufsatz über den Dualis, in der er festhält, dass das Sprachstudium philosophischen Zweck hat, nämlich den, dass der Mensch sich über sich selbst klar wird (Humboldt, 115). Humboldt führt in seinen Sprachstudien beeindruckend vor, wie die Beschäftigung mit grammatischen Phänomenen zur Beschäftigung mit dem Menschen wird. So sieht er auch selbst seine Arbeit, wenn er sagt, dass die Aussagen über das Höchste einer Sprache, nämlich ihren Charakter, immer zugleich Aussagen über ihr Elementarstes, ihre Grammatik sind (z.B. Humboldt, 182).
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einige Gedanken zu Kierkegaard und seiner dänischen Muttersprache vorgestellt.
1.2 Kierkegaard als Sprachliebhaber Kierkegaard als Sprachliebhaber In seinen Texten lernt man Kierkegaard kennen nicht nur als klugen Sprachbeobachter, sondern auch als leidenschaftlichen Sprachliebhaber. Das lässt sich exemplarisch zeigen an einem Abschnitt aus dem Schlusswort der Stadien auf des Lebens Weg. Er ist eine Liebeserklärung an die dänische Muttersprache,12 aber es scheint noch um mehr als nur um die dänische Sprache zu gehen: es leuchtet Kierkegaard als ein Liebhaber hindurch, für den die Beziehung zur Sprache sein ganzes Selbstverständnis prägt. Der Text aus den Stadien beginnt damit, dass es Landsleute gibt, die die dänische Sprache nicht für fähig halten, schwierige Gedanken auszudrücken (XV, 519). Kierkegaard selbst trat schon früh den Beweis an, dass dies möglich ist: schon seine Magisterarbeit schrieb er – mit dem damals noch erforderlichen Dispens des Königs – in dänischer und nicht in lateinischer Sprache.13 Ebenso wie diejenigen, die die undankbare Meinung pflegen, dass das Dänische schwierige Gedanken nicht ausdrücken kann, wendet sich der Verfasser der Stadien dann gegen die, die für ihre Muttersprache eifern (XV, 519). Er denkt dabei sicher an die Kreise um Grundvig, die alle fremden, besonders deutschen Einflüsse auf ihre dänische Muttersprache fernhalten wollten. Er wirft ihnen vor, dass sie im Eifer des Bewahrens sich nicht mehr an ihrer Sprache freuen könnten. Der Eifer beim Verfechten der Unabhängigkeit deute schon darauf hin, dass man sich bereits abhängig fühle.14 Man streite über die Sprache, statt sich an ihrer „Ergötzlichkeit“ zu erquicken. Kierkegaard zeigt hier ein feines Gespür dafür, dass sich Sprache weiter entwickelt und nie in einem Zustand festgehalten werden kann. Er selbst beherrscht seine Sprache so souverän, dass er keine Angst vor ————— 12 Im Dänischen heißt Muttersprache modersmål, d.h. wörtlich das Maß, mit dem die Mutter misst. Das passt zu der im Abschnitt 1.1 erwähnten Grundeinstellung Kierkegaards, dass Sprache Weltanschauung prägt. 13 GARFF, J., Sören Kierkegaard. Biographie, München 2004. 232. Garff erklärt an dieser Stelle auch, dass Kierkegaard in seinem Gesuch an den König unterstrich, dass sein Thema eine freie und persönliche Darstellung notwenig mache. Seine Überlegungen zur Ironie konnten nur durch muttersprachliche Zwischentöne die nötige Finesse erhalten. 14 Diese psychologische Beobachtung äußert Kierkegaard oft im Zusammenhang von Angst und Freiheit: Wer sich von etwas abgrenzen muss, ist in negativer Weise genauso davon abhängig wie derjenige, der sich mit allen seinen Kräften daran festhält. Wie sich Freiheit und Angst im Umgang mit der Sprache äußern, wird in Kapitel 2 dieser Arbeit Thema sein.
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Überfremdung hat.15 Wer frei mit seiner Sprache umgeht, wird sie im Austausch mit anderen weiterentwickeln, ohne dabei das eigene zu verlieren.16 Seiner Muttersprache fühlt sich Kierkegaard so sehr verbunden, dass er sich glücklich schätzt, an eine Muttersprache gebunden zu sein „wie Adam an Eva“ (XV, 520). Adam konnte sich seine Frau nicht aussuchen, weil keine andere da war, ebenso wenig wie man sich seine Muttersprache aussuchen kann. Er fühle sich an seine Muttersprache gebunden, weil er nie eine andere Sprache sprechen gelernt habe, sagt der Verfasser der Stadien. Kierkegaard selber war durchaus des Lateinischen und Deutschen mächtig.17 Dennoch ist die Selbstverständlichkeit, mit der man die Muttersprache spricht, anders als der Umgang mit später gelernten Sprachen. Gerade für einen sprachlich sensiblen Menschen wie Kierkegaard ist es ein Unterschied, in einer fremden Sprache lesen und vielleicht auch disputieren zu können oder sie als Schriftsteller zu gebrauchen. Die Bindung an die Muttersprache jedenfalls bewahre ihn davor, „stolz und überheblich gegen sie zu tun“ (XV, 520). Was ihm als Muttersprache vorgegeben ist, will er nutzen, um seine Anliegen auszudrücken.18 ————— 15 Ein Blick in das Ordbog over Det Danske Sprog. 28 Bd., gegr. v. Dahnlerup, V., Det Danske Sprog- Og Litteraturselskab (Hg.), Kopenhagen 1919ff. – die dänische Entsprechung zum Grimm’schen Wörterbuch – gibt einen Eindruck davon, wie Kierkegaard den Reichtum seiner Sprache auszuschöpfen verstand. In fast jedem Eintrag ist sein Name zu finden, sein Wortschatz umfasste fast alle Möglichkeiten der dänischen Sprache. Viele Worte holte er damit aus der Vergessenheit und prägte vieles neu. 16 Vgl. dazu die Gedanken Humboldts zur Sprachentwicklung. Er zeichnet nach, wie sich in der historischen Entwicklung von Sprachen erst ein vollständiger organischer Bau bildet, dann Umänderungen durch fremde Beimischungen vorgenommen werden und gleichzeitig nach innen eine Sprache immer feiner ausgebildet wird (Humboldt, 5). 17 In der Wiederholung schildert er folgende Szene, die vielleicht etwas über seinen Umgang mit der deutschen Sprache verrät. Constantin Constantius ist in Berlin zu Besuch und hat gerade erfahren, dass sein Wirt geheiratet hat. „Ich wollte ihm Glück wünschen; da ich aber der deutschen Sprache nicht so mächtig bin, daß ich in ihr mich in aller Eile zu drehen und wenden wüsste, auch nicht die bei solchen Gelegenheiten üblichen Redensarten bereit hatte, so beschränkte ich mich auf eine pantomimische Bewegung. Ich legte die Hand aufs Herz und blickte ihn an, wobei zarte Teilnahme in meinem Angesicht zu lesen stand. Er drückte mir die Hand. Nachdem wir solchermaßen einander verstanden hatten, ging er dazu über, die ästhetische Giltigkeit der Ehe darzutun. Dies gelang ihm ausnehmend, gerade ebenso gut, wie es ihm das vorige Mal gelungen war, die Vollkommenheit der Junggesellen zu beweisen. Wenn ich Deutsch rede, bin ich der gefügigste Mensch von der Welt.“ (V, 25) Trotz der ironischen Brechung dieses Textes zeigt sich hier ein typischer Umgang mit einer fremden Sprache. 18 Kierkegaard empfand es als Ehre, in der dänischen Sprache zu schreiben. So jedenfalls sagt er es in der späten Schrift über seine Wirksamkeit als Schriftsteller, wo es heißt, ein Schriftsteller muss Liebe haben zu seiner Idee, zu seiner Sache und eben auch zu „der Sprache, die er als Schriftsteller zu schreiben die Ehre hat“ (XXXIII, 3). Ähnlich heißt es im Vorwort zu den zwei Reden beim Altargang am Freitag von 1851: Ich erlaube mir, „meine Schriften gleichsam dem Volk zu überreichen und anzubefehlen, dessen Sprache zu schreiben, ich die Ehre habe – eine Ehre, auf welche ich mit eines Sohnes Hingebung und in nahezu weiblicher Verliebtheit stolz bin
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Was folgt, liest sich wie eine Liebeserklärung an die dänische Sprache: ich bin auch dessen froh, dass ich an eine Muttersprache gebunden bin, welche reich an innerer Ursprünglichkeit ist, wo sie die Seele ausweitet und wollüstig im Ohre tönt mit ihrem süßen Klang; eine Muttersprache, welche nicht in dem schwierigen Gedanken sich verfangend stöhnt, und eben deshalb glaubt wohl der und jener, sie könne diesen nicht ausdrücken, weil sie die Schwierigkeit, indem sie sie ausdrückt, leicht macht; eine Muttersprache, welche nicht angestrengt keucht und ächzt, wenn sie vor dem Unaussprechlichen steht, sondern damit sich zu schaffen macht in Scherz und Ernst, bis es ausgesprochen ist; eine Sprache, welche nicht in der Ferne findet, was nahe liegt, oder unten in der Tiefe sucht, was gerade bei der Hand liegt, weil sie in einem glücklichen Verhältnis zu ihrem Gegenstande aus- und eingeht gleicht einer Elfe, und den Gegenstand an den Tag bringt, so wie ein Kind die glückliche Bemerkung, ohne es recht zu wissen; eine Sprache, die heftig und bewegt ist, jedes Mal, wenn der rechte Liebhaber es versteht, der Sprache weibliche Leidenschaft zu entflammen, selbstbewusst und sieghaft im Gedankenstreit, jedes Mal, wenn der rechte Herr und Gebieter sie anzuführen weiß, geschmeidig wie ein Ringer, jedes Mal, wenn der rechte Denker sie nicht loslässt und den Gedanken nicht loslässt; eine Sprache, welche, auch wenn sie an vereinzelter Stelle arm scheint, es doch nicht ist, sondern nur gering geachtet wie eine bescheidene Liebende, die doch den höchsten Wert hat und vor allem nicht verschandelt ist; eine Sprache, welche nicht ohne Ausdruck ist für das Große, das Entscheidende, das Auffallende, jedoch eine anmutige, eine zierliche, eine glückselige Vorliebe hat für den Zwischengedanken und den Nebenbegriff und das Beiwort, und das Flüstern der Stimmung, und das Raunen des Übergangs, und die Innigkeit der Beugung und die verborgene Üppigkeit des heimlichen Wohlseins; eine Sprache, welche Scherz fast besser versteht als Ernst: eine Muttersprache, welche ihre Kinder fesselt mit einer Fessel, welche „leicht zu tragen ist – ja, aber schwer zu brechen“. (XV, 520f).
Zuerst ist an diesem Zitat auffällig die Form der Liebeserklärung. Es fehlt nicht an erotischem Vokabular. Die Beziehung zur Muttersprache wurde schon vorher verglichen mit einer Partnerschaft, nämlich der von Adam und Eva. Jetzt ist es die dänische Sprache, der eine leidenschaftliche Liebeserklärung gemacht wird: Ihr Äußeres, nämlich ihr Klang, ebenso wie ihr Charakter und ihre besondere Ausdruckfähigkeit werden beschrieben in Worten, die auch ein Verliebter zur Beschreibung seiner Geliebten gebrauchen könnte.19 Man kann vermuten, dass hinter solch einer Liebeserklärung ————— – indem ich mich doch zugleich dessen getröste, sie werde keine Schande davon haben, daß ich sie geschrieben habe“ (XXVII, 20). 19 Auch der junge Johannes Climacus wird mit ähnlichem Vokabular in einer Liebesbeziehung zur Sprache beschrieben: „Verliebt war er, schwärmerisch verliebt – in den Gedanken oder richtiger in das Denken. […] Wenn dann sein Haupt sich gedankenvoll neigte gleich einer reifen Ähre, so war es nicht, weil er der Geliebten Stimme vernahm, sondern weil er lauschte auf der Gedanken heimliches Raunen; wenn sein Blick träumerisch war, so war es nicht, weil er ahnend ihr Bild gewahrte, sondern weil die Bewegung des Gedankens ihm sichtbar wurde. […]“ (X, 111).
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bei einem Schriftsteller, der – aus welchen Gründen auch immer – entschieden hatte, dass er nicht in einer Beziehung zu einer Frau leben konnte und wollte, mehr steckt, als ein literarisches Spiel. Vielleicht erlebt ein Schriftsteller, der tagaus, tagein mit der Sprache umgeht, sein Verhältnis zur Sprache wie eine Liebesbeziehung. Er kämpft mit der Sprache, muss an ihr und an sich arbeiten und müht sich, seine Gedanken mit ihr zu arrangieren, eben so wie es auch in einer Partnerschaft manchmal mühsam ist, sich auf einen gemeinsamen Alltag, eine gemeinsame Ausdrucksform zu verständigen. Aber vor allem erlebt Kierkegaard die Sprache als ungeheure Bereicherung, so wie auch eine Liebesbeziehung eine Bereicherung des eigenen Lebens ist. Die Sprache spielt ihm Ausdrücke zu, die seinen Gedanken neue Anstöße geben. Er kann sich ungemein freuen, über eine gelungene Formulierung, die er nicht als gemacht, sondern als geschenkt empfindet. Für die Vermutung, dass Kierkegaard seine Beziehung zur Sprache wie eine Partnerschaft erlebt, sprechen auch spätere Äußerungen Kierkegaards. Doch so wie aus der Verliebtheit eine Ehe wird, verändert sich im Laufe seines Lebens auch seine Beziehung zur Sprache. In den späten Schriften über sich selbst vergleicht er die Sprache immer noch mit der Geliebten, aber da kommen neben der Erotik auch Eigenschaften einer reiferen Liebe zum Ausdruck. Kierkegaard erzählt davon, wie er beim Schreiben Gehorsam gegenüber Gott lernen musste. Zuerst sehnt er sich nach dem, „was dem Gedanken seliger zu finden ist als dem Liebenden die Geliebte, den Ausdruck“ (XXXIII, 68). Aber in diesem Überschwang kann er nicht schreiben, sein Werk entsteht „nicht aus Leidenschaft des Dichters und Denkers, sondern aus der Gottesfurcht“ (XXXIII, 69). Er lernt Gehorsam, weil er in der Vielfalt der Gedanken und sprachlichen Möglichkeiten ohne ein Gegenüber verloren gehen würde: Ich habe „Gott jeden Tag nötig gehabt, um mich zu wehren wider den Reichtum der Gedanken“ (XXXIII, 69). Die ————— Die Liebesbeziehung zum Denken wird an dieser Stelle noch ausführlicher ausgekostet. An den gerade zitierten Sätzen ist aber schon deutlich, dass die Gedanken eine Stimme und ein Bild haben, die auf den jungen Climacus erotisch wirken wie der Körper einer Geliebten. Das Sichtbarwerden der Gedanken und das Raunen, dem er lauscht, stehen für die sprachliche Form des Gedankens. Die Sprache wird zum Körper der Gedanken und stimuliert so die Erotik der Liebesgeschichte des Denkens. Zur Liebesgeschichte des Denkens mit der Sprache vgl. auch folgendes Zitat von Humboldt: „alles höhere Sprechen ist ein Ringen mit dem Gedanken, in dem bald mehr die Kraft, bald die Sehnsucht fühlbar wird“ (Humboldt, 77). Auch an anderer Stelle äußert Humboldt, dass es die Sprache ist, in der Denken und Geist körperlich werden (Humboldt, 195). Humboldt legt die Sprache aber nicht auf die Sinnlichkeit fest, sondern fügt gleich hinzu, dass die Sprache nicht nur der Unkörperlichkeit des Geistes eine sinnliche Form gibt, sondern dass der begrenzte menschliche Gedanke sich in der Sprache in die Unendlichkeit ausdehnt. Auch Kierkegaard hat neben der sinnlich konkreten Dimension der Sprache dieses Ausweitende im Blick, vgl. zum Gedanken des Ausweitens Kapitel 2.3.
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geliebte Sprache wird ihm zur schmerzhaften Herausforderung, er weiß davon, wie er sich „allein in Gesellschaft der grauenvollsten Möglichkeiten, allein, beinahe mit der menschlichen Sprache als mir feind“ befand (XXXIII, 71). Er verliert sich in den Möglichkeiten, die ihm die Sprache eröffnet, und alles erscheint sinnlos, er kann sich anderen und sich selbst nicht mehr verständlich machen (XXXIII, 71). Die Sprache verliert ihr Eigenstes, nämlich zur Verständigung mit anderen und zur Klarheit über sich selbst zu verhelfen. Zu einer reifen Beziehung zur Sprache gehört diese Auseinandersetzung mit den Grenzen der Sprache. Gehorsam gegenüber Gott ist die Begrenzung der unendlichen Möglichkeiten der Sprache. Darüber wird in späteren Kapiteln noch genaueres zu sagen sein, wie menschliche Auseinandersetzung mit den Grenzen der Sprache ins Schweigen führt.20 Im Nachdenken über seinen Umgang als Schriftsteller mit der Sprache, resümiert Kierkegaard, dass er schließlich Rast findet im Trauen auf Gottes Mitwissen (XXXIII, 71). In seinem Alleinsein, in dem er seine Sprache verliert, weiß er doch, dass Gott da ist. Er hat ein Gegenüber, und so findet er auch seine Sprache wieder. So wie Kierkegaard in seinen Texten über die Ehe immer wieder betont, dass eine Ehe nur Bestand haben kann, wenn sich die Ehepartner bewusst sind, dass sie ihre Ehe vor Gott, also in seinem Mitwissen führen, so scheint es hier auch in der Beziehung zur Sprache zu sein: in der Auseinandersetzungen mit der Sprache und ihren Vieldeutigkeiten kann man nur zurückkehren zu einer Sprache, die zur wirklichen Verständigung im Leben beiträgt, wenn Gott als Gegenüber da ist. Aus der überschwänglichen Verliebtheit in die Sprache entwickelt sich im Schriftstellerleben eine reife Sprachbeziehung, die wie eine Ehe durch Krisen gegangen ist und ihre Kraft entwickelt aus einer Treue, die mit Selbstzurücknahme und Gehorsam verbunden ist.21 Neben der Form der Liebeserklärung ist aus obigem Zitat noch mehr herauszulesen über Kierkegaards Umgang mit Sprache, der seinen ganz persönlichen Stil als Schriftsteller prägt.22 Die Muttersprache eigne sich beson————— 20 Vgl. dazu das Kapitel 3 dieser Arbeit. 21 Die Liebesbeziehung Kierkegaards zur Sprache findet ihre Fortsetzung darin, dass Kierkegaard sich vorstellt, dass auch seine Bücher in einer Liebesbeziehung gelesen werden. Vgl. beispielhaft das Vorwort zu den drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845: „Nicht wissend von Zeit und Stunde wartet es [das Buch] in der Stille, daß jener rechte Leser kommen möge dem Bräutigam gleich und die Gelegenheit mit sich bringen. […] Die Bedeutung liegt in der Aneignung. Daher die freudige Hingebung des Buches.“ (XIV, 113). Der Hingebung des Buches folgt dann die Hingebung des Lesers. Auch der Leser geht hier eine Liebesbeziehung mit der Sprache ein, allerdings in diesem Fall mit der geschriebenen Sprache des Buches. 22 Zu Kierkegaards Stil aus rhetorischer Perspektive vgl. HAGEMANN, T., Reden und Existieren. Kierkegaards antipersuasive Rhetorik, Berlin/Wien 2001. Hagemann trägt viele Beobach-
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ders dazu, schwierige Gedanken leicht auszudrücken, sagt er. Dieser Satz passt zu einem Menschen wie Kierkegaard, der sich im wissenschaftlichen Diskurs der Theologie und Philosophie seiner Zeit auskennt, aber seine Beiträge zu diesem Diskurs nicht in streng wissenschaftlichen Texten liefert, sondern dazu Texte unterschiedlichster Gattungen schreibt, die sich verschiedenster Stilmittel bedienen, erzählerische Elemente haben, reich an Bildern und oft redundant sind. In dieser ungewöhnlichen Form zeigt sich sein Bemühen, das Schwierige leicht auszudrücken. Ob ihm dies gelingt, darüber ist hier nicht zu urteilen, fest steht aber, dass es wohl leichter fällt, sich nicht in Wissenschaftssprache zu verlieren, wenn man sich auf seine Muttersprache konzentriert. Wenig später in diesem Satz vergleicht Kierkegaard die dänische Sprache mit einer „bescheidenen Liebenden“ und sagt damit, dass das Dänische eine kleine Sprache ohne viel Bedeutung im wissenschaftlichen Diskurs ist. Aber gerade deswegen ist sie nicht so sehr in Gefahr der Formelhaftigkeit. Sie ist nicht „verschandelt“ wie das Deutsche, das zu dieser Zeit wahre Wortungetüme hervorbrachte bei der Suche nach treffenden Ausdrücken. Als sein Anliegen benennt Kierkegaard in dieser Liebeserklärung, Unaussprechliches auszusprechen. Dazu muss er an seiner Sprache arbeiten, „sich zu schaffen machen“, ständig „zwischen Scherz und Ernst hin- und herspielen“, ohne die Sprache dabei zu verbiegen, also zum „Keuchen und Ächzen“ zu bringen. Ein hoher Anspruch, aber auch ein faszinierendes Unterfangen, das Unaussprechliche in Scherz und Ernst zu umkreisen und auszusprechen. Das Umkreisen und Hin- und Herspielen zwischen Scherz und Ernst deuten die Methode indirekter Kommunikation an, die Kierkegaard für sich entwickelte.23 Weiter spricht er davon, die Sprache so aufzunehmen, wie sie bei der Hand liegt, Gedanken so zu sagen, wie sie ein Kind zufällig ausspricht. Solche Sätze verraten etwas von Kierkegaards Freude an aufgeschnappten Ausdrücken, an Redewendungen und zufälligen Formulierungen, die oft viel über eine Situation oder Person verraten. Unzählige Beispiele in Kierkegaards Texten, gerade auch den philosophischen, zeugen von dieser Freude und Beobachtungsgabe. Er spürt gerne Redewendungen nach, die im alltäglichen Leben gebraucht werden und auf tiefere Zusammenhänge menschlichen Lebens aufmerksam machen.24 Manchen Ausdruck für seine Gedanken schnappt Kierkegaard ganz buchstäblich auf der Straße auf, und ————— tungen zu Kierkegaards Stil zusammen, die er unter dem Leitgedanken vorträgt, dass Kierkegaard eine genuin christliche Rhetorik entwickelt habe. 23 Zur indirekten Kommunikation vgl. Kapitel 4.3. 24 Auch Humboldt macht deutlich, dass sich Wortspiele und Redewendungen in der Volkssprache erhalten und eben hier die Lebendigkeit und poetische Kraft einer Sprache zu finden sei, während Bildung eher das Geheimnis der Sprache durch Logik verstellt (Humboldt, 284–287).
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das passt zu der Haltung, dass er Sprache als Geschenk empfindet.25 Seine Muttersprache erinnert ihn daran, nicht in der Ferne zu suchen, sondern ganz bei sich zu bleiben. Als Geschenk bleibt die Sprache in aller Nähe, auf die sich Kierkegaard einlässt, immer auch ein Gegenüber, das sich ein Eigenleben zu bewahren scheint: mal ist sie „heftig bewegt“, dann „selbstbewusst“ oder „geschmeidig“. Diese Gleichzeitigkeit von vertrauter Nähe und selbstständigem Gegenüber spiegelt sich darin, dass die Sprache für Kierkegaard immer ambivalent bleibt als Grundlage seiner Identität und auch als ständige Infragestellung dieser. Seine Identität prägt sie, insofern sie als Muttersprache mit großer Selbstverständlichkeit gebraucht wird und ihm als solche geschenkt ist, ohne dass er sich darum bemühen musste. In dieser Selbstverständlichkeit ist Sprache sehr verlässlich.26 Auf die Kraft dieser seiner Sprache verlässt sich Kierkegaard als Schriftsteller und in seiner ganzen Identität. Gleichzeitig bleibt ihm die Sprache aber auch immer unverfügbar und fremd. Worte sind nicht immer eindeutig, selbst wenn man nicht in einer ————— 25 Anhand von folgendem Textabschnitt kann man sich vorstellen, wie Kierkegaard in Kopenhagen spazieren ging und sich daran freute, seine Sprache geschenkt zu bekommen: „Worüber man in Büchern vergebends Belehrung gesucht, darüber geht einem plötzlich ein Licht auf, wenn man ein Dienstmädchen mit einem anderen Dienstmädchen reden hört; einen Ausdruck, den man vergebens seinem eigenen Hirn hat abquälen wollen, vergebens in Wörterbüchern gesucht hat, selbst in den wissenschaftlichen, den hört man im Vorübergehen: ein Landwehrmann gebraucht ihn und lässt sich nichts davon träumen, wie reich er ist. Und gleich wie jemand, der in einem großen Walde dahingeht, sich des Ganzen verwundernd, zuweilen einen Zweig bricht, zuweilen ein Blatt pflückt, zuweilen nach einer Blume sich bückt, jetzt einem Vogelruf lauscht: ebenso geht man unter der Volksmenge, sich über der Sprache wunderbare Gabe verwundernd, pflückt jetzt den einen, jetzt den anderen Ausdruck im Vorübergehen, freut sich daran, und wird nicht so undankbar sein zu vergessen, wem man ihn dankt; ebenso geht man unter der Menschenmenge, gewahrt jetzt die Äußerung des Seelenzustandes, jetzt eines andern, lernt und lernt und wird nur umso lernbegieriger. So lässt man sich denn nicht von Büchern täuschen, als wäre das Menschliche so selten zu finden, so liest man auch nicht in Zeitungen davon; das Beste an der Äußerung, das Reizendste, der kleine psychologische Zug wird mitunter doch nicht aufbewahrt“ (XV, 519). Kierkegaard lässt sich inspirieren von der Sprache der Menschen um ihn herum. Hierin ist er sicher beeinflusst von den Romantikern seiner Zeit und vielleicht auch von der Einstellung Luthers, ‚dem Volk aufs Maul zu schauen‘. 26 Der Ethiker aus dem zweiten Teil von Entweder-Oder formuliert diese Verlässlichkeit von Sprache, wenn er sagt: Ich liebe meine Frau und meine Kinder, meine Arbeit und meinen Beruf und mein Vaterland. „Ich liebe meine Muttersprache, die meinen Gedanken entbindet, ich finde, daß ich in ihr alles vortrefflich ausdrücken kann, was überhaupt ich in der Welt sagen möchte“ (II, 346). Das klingt wie eine Zeugenaussage über die Verlässlichkeit des Lebens, die der Ethiker so schätzt. In seiner Aussage über die Sprache, in der er alles ausdrücken kann, wird aber auch deutlich, dass er nur einen Aspekt von Sprache sieht, ebenso wie seine Einstellung zum Leben nur einen Teil menschlichen Lebens erfassen kann. Der Ethiker ist nicht sensibel dafür, dass die Sprache oft zweideutig ist, dass sie Zwischentöne hat und dass es eben nicht immer möglich ist, seinen Gedanken so zielsicher, wie er es gerne hätte, in Sprache zu fassen. Die Schwierigkeit mit den Zweideutigkeiten des Lebens, die der Ethiker durch eindeutige Entscheidungen überwinden möchte, spiegelt sich auch in seiner Sprache.
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Einstimmungen
fremden Sprache sich verständigen muss. Entscheidende Aussagen liegen in den Zwischentönen. Auch davon ist in diesem Zitat die Rede, von den Zwischentönen, die Kierkegaards Stil so sehr prägen. Kierkegaard ist in seiner Sprache auf der Suche nach dem Großen, dem Entscheidenden. Aber er weiß genau, dass das Leben nicht eindeutig ist und deshalb auch die Sprache nicht. So schätzt er an seiner Sprache besonders die Zwischentöne und verborgene Stimmungen. Hier wird wieder klar, warum die Muttersprache so wichtig ist, denn diese Zwischentöne sind das allerschwierigste, das es in einer fremden Sprache zu lernen gibt.27 Ebenso wie in der Sprache liebt Kierkegaard auch in seinem Nachdenken über den Menschen die Übergänge und die Brüche, in denen das Große, Entscheidende sich findet. Man mag sagen, dass das Anliegen, zur Ursprünglichkeit der Sprache und damit zur Muttersprache zurückzugehen, nichts Ungewöhnliches in der Zeit der Romantik ist. Aber vielleicht stehen bei Kierkegaard hinter solchen Bekenntnissen zur dänischen Sprache auch sachliche Gründe. Er versteht sich selbst als einen Autor, der in seinem Nachdenken über den Menschen keine allgemeingültigen Sätze aufstellen will, die man nachsprechen kann, sondern der einzelne Menschen dazu bringen will, Wesentliches über sich selbst zu erkennen. Wo Menschen nach ihren innersten Bezügen gefragt sind, verfallen sie leicht in ihre Muttersprache oder anders formuliert: Der Mensch als Einzelner kann über seine Existenz nur in seiner Muttersprache reden. Exemplarisch deutlich ist dieser Zusammenhang zwischen Muttersprache und persönlicher Betroffenheit vielleicht bei dem in Kierkegaards Denken so prominenten Thema der Angst. Über die eigenen Ängste kann ein Mensch ehrlich nur nachdenken in einer sehr vertrauten Umgebung, und ————— 27 Kierkegaard gibt Beispiele dafür, zu welch komischen Situationen es kommen kann, wenn man der fremden Sprache nicht ganz mächtig ist. Dabei kommen Widersprüche der Sprache zutage, für die Kierkegaard sich interessiert. So erzählt er z.B. von einem dänischen Bauern, der bei einem Deutschen klopft, um ihn zu fragen, ob in seinem Haus jemand wohne, der Torf bestellt habe, dessen Namen er aber vergessen habe. Der Deutsche versteht ihn nicht und sagt nur, das sei ja wunderlich. Der Bauer ruft zufrieden aus, dass Wunderlich ja der Name war, den er vergessen habe. „So ist der Widerspruch der, daß der Deutsche und der Bauer nicht zusammen sprechen können, weil die Sprache ein Hindernis bildet, und der Bauer desungeachtet die Auskunft mit Hilfe der Sprache bekommt“ (XVI/2, 225). In gleichen Zusammenhang geht es noch einmal um die ungewollte Komik, die sich ergeben kann, wenn jemand sich in einer Fremdsprache ausdrückt: „Wenn ein deutsch-dänischer Pfarrer auf der Kanzel sagt: das Wort ward Speck (Fleisch), so ist das komisch. Das Komische besteht nicht bloß in dem allgemeinen Widerspruch, der entsteht, wenn einer eine fremde Sprache spricht, die er nicht kann, und durch das Wort eine ganz andere Wirkung hervorruft, als er beabsichtigt; sondern der Widerspruch wird dadurch verschärft, daß es ein Pfarrer ist, und daß er predigt, da Reden in bezug auf den Vortrag eines Pfarrers nur in besonderem Sinne gebraucht wird, und das wenigste, was man als ganz selbstverständlich annimmt, ist, daß er die Sprache sprechen kann. Außerdem streift der Widerspruch auch das ethische Gebiet: daß man unschuldig dazu kommen kann, sich einer Blasphemie schuldig zu machen“ (XVI/2, 227).
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zu der gehört auch und vor allem eine vertraute Sprache, und das ist die Muttersprache oder der Heimatdialekt. Das gilt für Kierkegaard als Autor genauso wie für den Leser seiner Bücher. Von daher ist es auch aus sachlichen Gründen konsequent, dass Kierkegaard die Muttersprache so hoch schätzt. Was sich bei der Angst im Innersten eines Menschen sprachlich ereignet, das genauer zu fassen, ist nach diesen Einstimmungen Aufgabe des folgenden Kapitels.
2. Selbstgespräche Selbstgespräche Das zweite Kapitel orientiert sich im Wesentlichen chronologisch am Text des Buches Der Begriff Angst. In einem ersten Teil geht es um das Sündenfallsgeschehen, das von Kierkegaard im ersten Kapitel seines Buches über die Angst als ein Gespräch im Menschen dargestellt wird. Dabei ist grundsätzlich nach dem Verhältnis von Geist und Sprache zu fragen. Der zweite Teil beschäftigt sich mit den mittleren Kapiteln des Begriffs Angst, in denen einzelne Aspekte zu Sprache und Geschichte Thema sind. Im folgenden Teil werden die Aussagen Kierkegaards aus dem vierten Kapitel des Begriffs Angst zur Verschlossenheit dargestellt. Dabei ist von besonderer Bedeutung die Aussage, dass Freiheit Kommunikation ist. In einem abschließenden Teil wird es noch einmal um das Phänomen der Verschlossenheit gehen, wie es sich anhand anderer Texte Kierkegaards, insbesondere der Leidensgeschichte des Quidam aus den Stadien auf des Lebens Weg darstellt. Seine Überschrift hat dieses Kapitel daher, dass Kierkegaard den Sündenfall als ein Selbstgespräch Adams bezeichnet. So wie es in dem Buch über die Angst um die Bewegungen der Sünde und der Freiheit geht, changiert das Selbstgespräch zwischen dem Gespräch, in dem ein Mensch verschlossen, gleichsam in einem Monolog, bei sich bleibt, und dem Gespräch des Selbst, in dem er sich als freies Selbst kommunikativ vollzieht.
2.1 Das Gespräch des Selbst in der Unschuld Das Gespräch des Selbst in der Unschuld Den Begriff Angst will Kierkegaard in seinem Buch von 1844 untersuchen. Vigilius Haufniensis, den Beobachter von Kopenhagen, lässt er von seinen Beobachtungen und Einsichten zum Phänomen der Angst berichten und diese zu einem Begriff entwickeln. Die Angst setzt Kierkegaard zwischen menschlicher Freiheit und Sünde an. Sowohl bei der Freiheit als auch bei der Sünde handelt es sich um eine Wirklichkeit, die aus nichts Vorausgehendem abzuleiten ist, beide kommen durch einen unableitbaren qualitativen Sprung zustande. Die Angst ist dabei eine „Zwischenbestimmung“, die den Sprung in die Freiheit oder die Sünde nicht erklären, aber doch von der Beschaffenheit des menschlichen Geistes her wahrscheinlich und verständlich gemacht werden kann. Der Begriff Angst kann also zweierlei verbinden, das sonst in Widerspruch zueinander gerät: das anthropologische The-
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ma menschlicher Freiheit und die theologische Lehre von der Sünde, insbesondere der Erbsünde.1 Dass die Angst ein Phänomen ‚zwischen‘ den Wirklichkeiten von Freiheit und Sünde ist, spiegelt sich auch darin, dass sich die Schrift über die Angst zwischen wissenschaftlichen Disziplinen bewegt: sie nähert sich mit psychologischem Blick2 einem theologischen Thema, ist eine – wie der Untertitel der Schrift heißt – „psychologisch-andeutende Überlegung in Richtung auf das dogmatische Problem der Erbsünde“. Das erste Kapitel des Buches stellt die Frage nach dem Ursprung der Sünde und ist im Wesentlichen eine Auslegung der Sündenfallsgeschichte, wie sie im Buch Genesis erzählt wird. Je einen Paragraphen widmet Kierkegaard den Begriffen Erbsünde, erste Sünde, Unschuld und Sündenfall. Dabei handelt es sich jeweils um Abgrenzungen von Deutungen der Erbsündenlehre, die er für falsch hält: So darf Adam nicht außerhalb des Geschichtsverhältnisses gesehen werden (§1), noch darf seine Sünde eine andere sein als die der nachfolgenden Generationen (§2), noch darf Unschuld als aufzuhebende Unmittelbarkeit verstanden werden (§3), noch kann der Sündenfall durch die Konkupiszenz erklärt werden (§4). Dann führt er schließlich im §5 den Begriff Angst ein und stellt damit seine eigene Interpretation des Sündenfalls vor, die er im abschließenden §6 noch einmal ausdrücklich auf die Erbsündenlehre bezieht. Die Unschuld ist zugleich Angst – das ist die Behauptung Kierkegaards – und die Angst potenziert sich immer weiter, bis sie sich zu dem Zustand zuspitzt, in dem es zum Sprung in die Sünde kommt. Diese Bewegung der Angst, durch die es zum Sündenfall kommt, gilt es im folgenden genauer zu beschreiben. Sie soll als ein sprachliches Geschehen in den Blick genommen werden. Diese Perspektive hat ihren Ansatzpunkt darin, dass Kierkegaard sich in seinem Text verschiedentlich darüber Gedanken macht, wer in der Sündenfallsgeschichte mit wem spricht und welchen Status Reden und Verstehen dabei jeweils haben. Den §5 beschließt Kierkegaard mit folgendem Absatz: Ich habe mich hier gegen Ende an die biblische Erzählung gehalten. Ich habe das Verbot und die strafende Stimme von außen her kommen lassen. Dies hat natürlich
————— 1 Die Zusammengehörigkeit dieser beiden ist eine Besonderheit theologischen Nachdenkens in der Neuzeit. Vgl. den Literaturbericht zum Begriff Angst, der die neueren Veröffentlichungen schwerpunktmäßig diesen beiden Gesichtspunkten zuordnet (LINCOLN, U., Literaturbericht: Der Begriff Angst in der deutschsprachigen Kierkegaard Forschung, in: Kierkegaard Studies Yearbook 2001, Berlin/New York 2001. 295–312.). Zum Ineinander von Freiheit und Sünde in subjektivitätstheoretischer Perspektive vgl. AXT-PISCALAR, C., Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünder bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher, Tübingen 1996. 2 Heute versteht sich Psychologie als empirische Wissenschaft. Kierkegaard hingegen leitet seine psychologischen Beobachtungen aus seinen Bestimmungen des Menschseins her.
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manchen Denker geplagt. Es ist doch nur eine Schwierigkeit, über die man lächeln darf. Die Unschuld kann ja gut und gern reden; insofern besitzt sie mit der Sprache den Ausdruck für alles Geistige. Insofern braucht man nur anzunehmen, daß Adam mit sich selbst gesprochen habe. Das Unvollkommene an der Erzählung, daß ein anderer zu Adam über das spricht, was dieser nicht versteht, fällt dann fort. Daraus daß Adam hat sprechen können, folgt ja in tieferem Sinne nicht, daß er das Gesagte habe verstehen können. Vor allem gilt dies vom Unterschied zwischen Gut und Böse, welcher freilich in der Sprache ist, aber allein für die Freiheit ist. Die Unschuld kann diesen Unterschied gut und gern aussagen, aber der Unterschied ist nicht für sie, und hat für sie lediglich die Bedeutung, die wir im Vorhergehenden dargetan haben (XI, 43f).
Wenige Seiten später als Kommentar dazu, dass Gott mit dem Verbot etwas gesagt hat, was Adam nicht verstehen konnte, weiter: Das Unvollkommene an der Erzählung, wie denn einer darauf verfallen solle, etwas zu Adam zu sagen, das dieser wesentlich nicht verstehen kann, fällt dahin, wenn wir bedenken, daß der Redende die Sprache ist, und daß es mithin Adam selber ist, der da redet (XI, 45f).
In diesen Abschnitten ist zuerst einmal deutlich, dass Kierkegaard die Sündenfallsgeschichte als ein Geschehen im Menschen auslegt: Adam hört nicht Stimmen von außen, sondern redet mit sich selbst.3 Dieses Sprechen mit sich selbst scheint nun aber nicht einfach ein Selbstgespräch zu sein, in dem Assoziationen von Verschrobenheit bis hin zu krankhafter Selbstbezogenheit mitschwingen. Zuerst einmal ist damit ausgesagt, dass die Ursache für den Sündenfall nicht außerhalb von Adam zu suchen ist, sondern aus ihm selbst kommt. Mit dem Verständnis vom Ursprung des Sündenfalls als Gespräch ist weiter ausgesagt, dass es in Adam zwei Seiten gibt, die jeweils ihre eigene Stimme haben. Nur wo zwei sich gegenüber sind, kann es zu einem Gespräch kommen. Das Selbstgespräch verweist also auf eine Voraussetzung menschlicher Freiheit: das Selbst des Menschen ist so angelegt, dass sich aus ihm selbst heraus etwas entwickeln kann. Diese Dynamik der Freiheit, die in einem Selbstunterschied des Menschen ihre Begründung hat, ist als ein Gespräch – ein Selbstgespräch in positivem Sinne als Ausdruck ————— 3 Im §6 formuliert Kierkegaard das noch einmal so: „Der Mythos läßt im Äußerlichen geschehen, was innerlich ist“ (XI, 45). Zum Verständnis von Mythos und Selbstgespräch vgl. PYPER, H.S., Adam’s Angest: The Language of Myth and the Myth of Language, in: Kierkegaard Studies Yearbook 2001, Berlin/New York 2001. 78–95. Pyper zeigt, wie im Mythos konjunktivisches und indikativisches Sprechen ineinander liegen und verbindet das mit der auch von Kierkegaard gebrauchten Spiegelmetaphorik. Sowohl der Mythos als auch Kierkegaards Text selbst kann sie so verstehen als einen Spiegel, in dem der Leser sich selbst reflektiert: er kann weder rein objektiv, also indikativisch, verstanden werden, noch rein poetisch, also konjunktivisch, gelesen werden. Vielmehr sieht sich der Leser konfrontiert mit sich selbst in einem Gespräch, nämlich einer Aussage und einer Gegenaussage, die ihn in eine Situation bringen, in der er an diesem Widerspruch verzweifelt oder den Widerspruch im Glauben zusammenhalten kann.
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der menschlichen Möglichkeit zur Freiheit – beschrieben. Um dieses Selbstgespräch genauer zu verstehen, muss erklärt werden, was sich an Fragen zur Sprache aus den eben zitierten Abschnitten ergibt: Warum kann die Unschuld sprechen? Inwiefern ist die Sprache Ausdruck alles Geistigen? Wie ist es zu interpretieren, dass Adam das, was er sagt, nicht verstehen kann? Was hat der Unterschied zwischen Gut und Böse mit Sprache und Freiheit zu tun? Was bedeutet der Satz, dass der Redende die Sprache ist? Ich beginne mit dem Zusammenhang von Geist und Sprache, der erklärt, warum bei Kierkegaard der Mensch auch im Zustand der Unschuld Sprache hat. Kierkegaard stellt den Menschen im Begriff Angst als eine leiblichseelische Synthese vor, die ihre Einheit im Geist findet. Der Mensch ist zwiefältig und soll sich durch ein Drittes, den Geist, als Einheit vollziehen. Die unmittelbare leiblich-seelische Verfassung nennt Kierkegaard Unschuld. Da, wo diese unmittelbare Verfassung als Geist neu vollzogen wird, ist Freiheit, und da, wo der Geist die Synthese verfehlt, ist Sünde. Die Frage ist, warum der Geist die Synthese, die er in Freiheit setzen soll, verfehlt. Es ist der entscheidende Gedanke des Buches, dass Kierkegaard die Angst einführt als dasjenige, was die Bewegung des Geistes, der in Freiheit die Synthese setzen soll, entscheidend stört und damit die Sünde setzt. Die dreifältige Struktur des Menschen ist von Anfang an vorgegeben. Der Geist kommt nicht als ein Drittes nachträglich zur Zweiheit von Leib und Seele hinzu, sondern ist immer schon als Bestimmung da, die es für den Menschen zu ergreifen gilt. Für Kierkegaard ist diese Bestimmung zum Geist der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Tier. So sagt er, dass der Mensch auch im Zustand der Unschuld niemals nur Tier ist, denn der Geist ist immer gegenwärtig, wenn auch als unmittelbar, als träumend (XI, 42).4 Die Angst selbst steht dafür, dass der Mensch von Anfang an ein geistbestimmtes Wesen ist, denn man „wird darum beim Tier Angst nicht finden, eben weil es in seiner Natürlichkeit nicht als Geist bestimmt ist“ (XI, 40).5 Bis hierher ist nur gesagt, dass im Menschen von Anfang an Geist ————— 4 Bezug nehmend auf die Herder’sche Aussage, dass der Mensch auch als Tier schon Sprache habe, ließe sich hier sagen: auch als Tier hat der Mensch schon Geist, und es wird sich im Folgenden zeigen, dass das auch für Kierkegaard heißt, dass er mit dem Geist Sprache habe (Vgl. HERDER, J.G., Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: Suphan, B. (Hg.), Herders Sämtliche Werke, Bd. 5, Berlin 1891. 1–147). 5 Zum Unterschied von Mensch und Tier vgl. auch folgende Belege: Gleich zu Beginn der Krankheit zum Tode stellt Kierkegaard fest, dass die Möglichkeit der Krankheit, also der Verzweiflung, der entscheidende Vorzug des Menschen vor dem Tier ist, „und dieser Vorzug zeichnet ihn auf ganz andere Weise aus als der aufrechte Gang; denn sie deutet hin auf das unendliche Aufgerichtetsein oder die unendliche Erhabenheit, daß er Geist ist“ (XXIV, 10). Möglichkeit hat, wie im folgenden gleich zu zeigen sein wird, entscheidend mit Sprache zu tun und so erwähnt
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gegenwärtig ist. Kierkegaard geht nun davon aus, dass der Mensch ebenso von Anfang an Sprache hat, und das ist der Grund, warum er in obigem Zitat davon sprechen kann, dass die Unschuld redet. Dass er wie selbstverständlich davon ausgeht, zeigt sich z.B. an den zwei folgenden Bemerkungen. Als es darum geht, dass der gerade erschaffene Adam den Tieren Namen gibt, fügt Kierkegaard in Klammern hinzu: „hier ist mithin schon Sprache, obschon auf eine ähnlich unvollkommene Art, wie die Kinder sie lernen, wenn sie an der Wandtafel ein Tier erkennen“ (XI, 44). Was die Unvollkommenheit der Sprache im Zustand der Unschuld ausmacht, wird später erklärt werden. Wichtig ist hier zuerst, dass Kierkegaard für den Gedankengang im Begriff Angst davon ausgeht, dass die Sprache von Beginn an da ist. Ebenso äußert er sich einige Seiten später in einer Fußnote (XI, 46): Er merkt dort an, dass er sich nicht dazu äußern wolle, wie der Mensch die Sprache gelernt habe, denn das gehöre nicht zum Thema seiner Schrift. Aber immerhin stellt er doch klar, dass er davon ausgeht, dass der Mensch nicht Erfinder der Sprache sei. D.h. also, dass ebenso wie der Geist auch die Sprachlichkeit im Menschen von Anfang an angelegt ist und nicht als ein Späteres hinzukommt.6 Zu beobachten ist dabei, dass die Sprache mit der Freiheit und der Sünde die dialektische Struktur teilt, dass sie dem Menschen vorgegeben ist, aber doch von ihm in gewissem Sinne erfunden werden muss, wie hier beim Benennen.7 Wie der Geist ist die Sprache im Menschen von Anfang an als Bestimmung da, und in dem Ausdruck Bestimmung liegt eben diese Doppelheit, dass sie schon ganz angelegt ist, aber doch realisiert werden muss. Diese Bestimmung des Menschen zum Geist und zur Sprache ist nun aber nicht so zu denken, dass dies zwei unabhängig voneinander vorzustellende Bestimmungen wären. Vielmehr gehören beide wesentlich zusammen, denn, so formuliert Kierkegaard in dem oben zitierten Schlussabschnitt des §5: Der Geist findet seinen Ausdruck in der Sprache (XI, 44). ————— Kierkegaard später in der Krankheit zum Tode noch einmal das Mögliche, das sich in der Sprache zeigt, als Unterschied zum Tier: „Daß Gottes Wille das Mögliche ist, es macht, daß ich beten kann; ist er bloß das Notwendige, so ist der Mensch wesentlich ebenso ohne Rede wie das Tier“ (XXIV, 38). Schließlich ist noch diese Textstelle zu nennen: „der Mensch zeichnet sich vor den andern Tierarten nicht allein durch die Vorzüge aus, die man gewöhnlich nennt, sondern qualitativ dadurch, daß das Individuum, der Einzelne, mehr ist als die Art. Und diese Bestimmung ist wiederum dialektisch, bedeutet, daß der Einzelne Sünder ist, aber dann wieder daß es die Vollkommenheit ist, der Einzelne zu sein“ (XXIV, 122). 6 Ebenso äußert Kierkegaard sich später noch einmal in einer Erbaulichen Rede: Gott „ist noch immer selbst der erste Erfinder der Sprache und einzige Inhaber des Segens“ (XIII, 105). Hirsch merkt an dieser Stelle an, dass Kierkegaard die Theorie vom göttlichen Ursprung der Sprache wohl von Hamann übernommen hat. Zur Beziehung von Kierkegaard und Hamann vgl. unten in Kapitel 3.4 die FN 52 und 58. 7 Diese Dialektik ist auch bei Humboldt benannt: „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache, um aber die Sprache zu erfinden, müßte er schon Mensch sein“ (Humboldt, 11).
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Man kann vielleicht deutlicher sagen: die Bewegung, die der Geist vollzieht, um die Synthese von Leib und Seele zu setzen, ist eine sprachliche Bewegung. Der Geist äußert sich in diesem Gespräch in Adam: er findet seinen Ausdruck darin, dass Adam dieses Gespräch führt, in dem der Mensch sich in Sünde und Freiheit setzt.8 Um diese Interpretation, dass die Bewegung des Geistes ein sprachlicher Vollzug ist, weiter auszuführen, lässt sich eine Textstelle heranziehen, in der Kierkegaard den träumenden Geist im Vergleich zum wachen Geist beschreibt: „Wach ist der Unterschied zwischen mir selbst und meinem Andern gesetzt, schlafend ist er suspendiert, träumend ist er ein angedeutetes Nichts“ (XI, 40). Dieser Satz macht eine Aussage über den Unterschied zwischen dem wachen und dem träumenden Geist. Dabei sagt er aber zuerst etwas aus über die Bewegung des Geistes überhaupt: Der Geist hat es zu tun mit dem Unterschied zwischen mir selbst und meinem Andern. Wie kann sich der Mensch als ein Ich und sein Andres wahrnehmen? Dazu muss er sich von sich distanzieren können. Solche Distanz verschafft der Mensch sich durch Sprache. Er kann sich durch Sprache selbst beschreiben und festlegen. Sobald dieses Ich in Worte gefasst ist, kann der Mensch es als ein ————— 8 Viele Belegstellen dafür, dass Sprache und Geist für Kierkegaard zusammengehören, gibt es in dem Aufsatz Die unmittelbaren erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische, der in Entweder-Oder gleich nach den einleitenden Diapsalmata zu finden ist. Das Thema dieses Textes, in dessen Mittelpunkt die Figur des Don Juan und besonders Mozarts Oper Don Giovanni steht, ist u.a. das Verhältnis von Musik und Sprache. Das ist ein großes Thema, das über den Kontext meiner Überlegungen hier weit hinausführt (vgl. aus der Fülle der Sekundärliteratur zu Kierkegaards Musikauffassung als zwei exemplarische Beiträge HOFFMANN-AXTHELM, M., Kierkegaards Verhältnis zur Musik, in: Kierkegaardiana 21, Kopenhagen 2000. 78–91 und GRAGE, J., Durch Musik zur Erkenntnis kommen? Kierkegaards ironische Musikästhetik, in: Kierkegaard Studies Yearbook 2005, Berlin/New York 2005. 418–439.). Ich belasse es dabei, einige Belegstellen zu nennen, in denen der Zusammenhang von Geist und Sprache besonders deutlich ist. „Erst indem der Geist gesetzt ist, ist die Sprache in ihre Rechte eingesetzt“ (I, 70). „Die Sprache ist, als Medium betrachtet, das schlechthin geistig bestimmte Medium, sie ist daher das eigentliche Medium der Idee“ (I, 71). „In der Sprache liegt die Reflexion, und daher vermag die Sprache das Unmittelbare nicht auszusagen“ (I, 74). Sobald das Selbst auf sich selbst reflektiert, sich also von sich unterscheidet und sich von außen betrachtet, bedient es sich der Sprache. Das Unmittelbare hingegen lässt sich nur durch Musik ausdrücken, so Kierkegaard. Musik ist dabei ein auf den Geist hin angelegtes Medium, das aber noch nicht wirklich vom Geist bestimmt ist. Es entspricht hier vielleicht dem träumenden Geist. Wo es um den Geist geht, bewegt man sich immer im Bereich der Sprache. Kierkegaard sagt das noch einmal deutlich im Zusammenhang seiner Beobachtung, dass in strenger Frömmigkeit die Musik wegen ihrer Sinnlichkeit oft abgelehnt wird. „Der religiöse Eifer aber will das Geistige ausgedrückt haben, darum fordert er die Sprache, welche des Geistes eigentliches Medium ist, und verwirft die Musik, welche ihm ein sinnliches Medium ist und insofern stets ein unvollkommenes Medium, um den Geist darin auszudrücken“ (I, 77). Dass er das im Folgenden sehr kritisch sieht und festhält, dass Sprache ebenso verwirren kann wie Musik, ändert nichts daran, dass Sprache und Geist grundsätzlich zusammengehören. Vgl. dazu auch in Kapitel 3.6 zum Gebet das Festhalten Kierkegaards daran, dass der Geist die Sprachlichkeit des Gebets garantiert.
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Gegenüber wie von außen betrachten. Sein Ich wird ihm zu seinem Andern. Durch Sprache kann nun ebenso das Andere seines Ich ausgedrückt werden. Damit ist der Unterschied gesetzt. Sprache hat hier eine trennende, umgrenzende und identitätsschaffende Funktion. Das Ich und sein Anderes stehen aber nicht beziehungslos nebeneinander. Das Ich, das in einer sprachlichen Form erfasst und damit definiert ist, tritt mir gegenüber, und ich muss mich zu ihm verhalten. Sobald das Ich und sein Anderes in Beziehung geraten, bleibt es nicht bei der einmal formulierten Form. Sie verändert sich mit dem Verhältnis, mit dem Gespräch zwischen dem Ich und dem Andern des Ich. So ist Sprache nicht nur das, was abgrenzt und definiert, sondern auch das, was neu in Zusammenhang bringt und dadurch Veränderung schafft, wo die Verbindung mit einem Andern neue Bedeutung ergibt. Der Geist vollzieht in einem positiv verstandenen Selbstgespräch eine Bewegung, in der er erst trennend den Unterschied zwischen mir und meinem Andern setzt und sie dabei doch verbindend zu einem Ich zusammenhalten muss. Die Bewegung des unterscheidenden Trennens und neu in Beziehung setzenden Verbindens wurde hier schon als eine sprachliche Bewegung, als ein Gespräch beschrieben. Dass die Bewegung des Geistes sich so einfach in eine Bewegung der Sprache übertragen lässt, erklärt sich daher, dass Trennen und Verbinden Grundfunktionen von Sprache sind. Das zeigt sich schon an ihren äußersten Seiten, der Lautbildung und der Grammatik. Laute müssen klar abgegrenzt werden, damit sie wieder erkennbar sind und zu Sprache werden können. Nur die besondere Beschaffenheit des menschlichen Stimmapparates erlaubt so differenzierte Artikulation, wie die menschliche Sprache sie voraussetzt. Die abgegrenzten Laute müssen aber ständig neu zusammengesetzt werden, damit sich aus ihren Kombinationen Sinn ergibt. Ebenso ist die Struktur auf grammatikalischer Ebene: Einzelne Worte werden von der Grammatik in ihren Formen streng festgelegt und abgegrenzt und dann von der Syntax in neuen Zusammenhang gebracht. Die trennende und verbindende Funktion von Sprache zeigt sich auf weiteren Ebenen der Sprache. Sobald ein Gegenstand oder ein lebendiges Wesen einen Namen bekommt, schiebt sich ein Wort zwischen mich und das Gegenüber, dessen Gegenwart ich bis dahin nur durch unmittelbare Sinneswahrnehmung erfassen konnte. Das Wort trennt mich von der Unmittelbarkeit des Gegenübers. Aber es ist auch in der Lage, mich ganz neu mit ihm zu verbinden, indem ich durch Aussprechen des Namens das Gegenüber auch da präsent machen kann, wo es unmittelbar gar nicht gegenwärtig ist. Sprache kann unterscheidend durchdringen und neu in Zusammenhang setzen und ist in diesen beiden Bewegungen auch Bedingung des Denkens. Alles Denken muss immer die analytische Seite haben, die Sachverhalte in ihre Bestandteile aufspaltet, und die synthetische Seite, die Phänomene in größere Zusammenhänge einordnet.
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Diese Andeutungen sollen genügen, um die Bewegung des Trennens und Verbindens als eine wesentlich sprachliche zu bestimmen.9 Diese Struktur von Trennen und Verbinden liegt auch bei der Synthese vor, als die Kierkegaard den Menschen bestimmt hat. „In dem Augenblick, da der Geist sich selbst setzt, setzt er die Synthesis, um aber die Synthesis zu setzen, muß er sie zuerst unterscheidend durchdringen“ (XI, 47). Der Geist durchdringt die Synthesis unterscheidend, setzt sie dann neu und verwirklicht sich dadurch als Geist. Der Mensch ist bestimmt zum Geist, hieß es oben, d.h. er ist bestimmt dazu, den Unterschied in sich selbst auszudrücken und sich zu ihm zu verhalten. Wenn dieser Selbstunterschied und das Zusammenhalten des Unterschieds in der Synthese in der Sprache geschehen, dann heißt Bestimmtsein zum Geist auch Bestimmtsein zur Sprache. Je mehr ein Mensch sich auf die Unterschiede einlässt, sie sprachlich zum Ausdruck bringt und sie zu einer Synthese zusammensetzt, desto näher kommt er seinem Geist-Sein. Von Anfang an ist der Mensch geistbestimmt, heißt also, dass von Anfang an der Mensch sprachlich existiert, indem er sich selbst unterscheidend durchdringt und sich neu zu setzen versucht. Die Sprache ist Ausdruck für alles Geistige, setzt Kierkegaard voraus, und insofern der Mensch von Anfang an – also in der Unschuld – geistbestimmt ist, hat er von Anfang an Sprache, oder – um es in der metaphorischen Ausdruckweise des Textes im Begriff Angst zu sagen: die Unschuld redet.10 Doch mit dem Geist, der die Synthesis unterscheidend durchdringt und sie damit neu setzt, bin ich schon vorausgeeilt. Wo der Geist sich so selbst setzt, ist er nicht mehr der träumende Geist, sondern hat bereits wach den Unterschied zwischen mir und meinem Andern gesetzt. Jetzt ist zurückzukommen auf den träumenden Geist. Den Satz, dass der Geist mit der Spra————— 9 Auch Humboldt spricht gleich zu Beginn seines Aufsatzes über das vergleichende Sprachstudium über die trennende und verbindende Funktion von Sprache: der Mensch teilt im Reden durch Worte und Artikulation auf und setzt durch Rede und Denken zusammen (Humboldt, 3). Weiter führt Humboldt aus, wie in der Sprachentwicklung trennendes Handeln bei der Bildung eines Begriffs zusammengehört mit der neuen Einheit, die entsteht, wenn eine Sprache diesen Begriff hat (Humboldt, 16). Humboldt betont dabei, dass es sich bei der Bewegung von Trennen und Zusammensetzen niemals nur um ein technisches Verfahren, sondern immer um ein schöpferisches Vermögen handelt (z.B. Humboldt, 494). Auch Humboldt geht dabei davon aus, dass Trennen und Zusammensetzen nicht nur die Bewegung der Sprache charakterisiert, sondern ebenso die Bewegung des Geistes: der Geist zerlegt in Einzelteile, die das Bestreben haben, sich zu neuem Ganzen zusammenzusetzen (Humboldt, 192). Das hat seine Begründung darin, dass Humboldt Sprache als einen Prozess des Geistes versteht (Humboldt, 191). 10 Dass Kierkegaard Sprache und Geist eng zusammen denkt, könnte seinen Grund haben in seiner Beschäftigung mit Hegel. Für Hegel ist die Sprache das Dasein des Geistes (HEGEL, G.W.F., Phänomenologie des Geistes, Hoffmeister, J. (Hg.), Hamburg 61952. 458.). Wie dieser Satz zu verstehen ist und wo Verbindungen zwischen Hegel und Kierkegaard sind, kann in diesem Rahmen nicht ausgeführt werden, aber auf die Nähe der beiden an diesem Punkt sollte doch zumindest verwiesen sein.
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che den Ausdruck für alles Geistige besitzt, kann man auch so verstehen, dass der Geist diesen Ausdruck nur potentiell besitzt, also die Möglichkeiten der Sprache als träumender Geist nicht ausschöpft. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass die Sprache mehr ist als der Sprecher im Augenblick realisiert. Dem muss jetzt nachgegangen werden, um die beiden schon oben zitierten Sätze zu erklären, dass der Redende die Sprache ist und dass Adam das, was er selbst sagt, nicht verstehen kann. Die Ausgangssituation, um den Begriff der Angst einzuführen, war, dass in Unschuld Leib und Seele eine Einheit sind und der Geist dabei träumt. Der Geist schläft nicht, sondern er träumt. Kierkegaard könnte an dieser Stelle auch sagen, dass der Geist nur indirekt gegenwärtig ist, stattdessen redet er vom Träumen. Träume sind voller Bilder und Stimmen, auch wenn sie dem wachen Menschen nicht unmittelbar zugänglich sind. Mit dem Träumen wird gegenüber dem theoretischen Ausdruck von indirekter Gegenwärtigkeit des Geistes sehr anschaulich, dass es auch da, wo der Mensch Sprache nicht aktuell realisiert, bereits um ein durch und durch sprachliches Geschehen geht. Der Geist entwickelt träumend aus sich heraus, wie es wäre, wenn er die Einheit von Leib und Seele neu setzen würde. Ein angedeutetes Nichts nennt Kierkegaard diesen Traum (XI, 40). Die Andeutung ist eine Möglichkeit, die der Geist entwickelt. Sie ist aber ein Nichts, weil sie keine Wirklichkeit hat, sondern nur geahnt, geträumt ist. Die Möglichkeit kann nicht einfach in Wirklichkeit übergehen. Zwischen beiden steht die Angst. Der Geist hat die Möglichkeit der Freiheit, die Möglichkeit zu können, nämlich die Synthese von Leib und Seele in Freiheit setzen zu können. Aber ohne Wirklichkeit bleibt die Möglichkeit ein Nichts. Sie ist ganz unbestimmt, die Angst ist im Gegensatz zur Furcht gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie sich auf keinen bestimmten Gegenstand, sondern ein Nichts richtet (XI, 40). Der unschuldige Mensch weiß noch nichts von dem Zustand, der mit der Freiheit eintreten wird, denn die reine Möglichkeit ist Nichts. Insofern ist der Zustand der Unschuld identisch mit Unwissenheit (XI, 39 u.ö.). Das Nichts steht zwischen der Möglichkeit und dem Vollzug der Freiheit in Wirklichkeit und verhindert, dass die Möglichkeit zur Wirklichkeit wird. Kierkegaard nennt die Angst „gefesselte Freiheit“ (XI, 48), die eine Zwischenbestimmung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit ist: die Freiheit, die reine Möglichkeit ist, starrt ins Nichts, fesselt sich dabei selbst und kann deshalb aus Angst nicht einfach sich als Wirklichkeit ergreifen. Dies wird Kierkegaard später in seiner Schrift am Phänomen des Schwindels veranschaulichen. Hier ist jetzt zuerst genauer zu fragen, was beim Träumen des Geistes geschieht. Der träumende Geist spielt mit der Möglichkeit. Wie kann Möglichkeit entstehen? Im Gegensatz zur Wirklichkeit, die sich in Sinneswahrnehmun-
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gen manifestiert, ist Möglichkeit nur sprachlich vorstellbar. Nur Sprache ermöglicht es, eine zukünftige Wirklichkeit in einem sprachlichen Ausdruck in der Gegenwart als Möglichkeit vorzustellen. Die Bewegung in die Möglichkeit hinein, die für den Geist zur Bewegung der Angst wird, muss also eine sprachliche sein.11 Aus einer Möglichkeit lässt sich rein sprachlich die nächste Möglichkeit ableiten, ohne damit der Wirklichkeit näher zu kommen. Genau dies tut der Geist, wenn er in Angst ist, die nämlich, „die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit“ (XI, 40) ist. Die Möglichkeit der Möglichkeit, diese verdoppelte Formulierung steht nicht nur für die Unbestimmtheit des Träumens, sondern auch für die Sprachlichkeit des Geschehens der Angst, in dem aus einer Möglichkeit die nächste Möglichkeit abgeleitet wird. Dass Träumen in dieser Weise ein sprachliches Geschehen ist, scheint unpassend, wo man mit Träumen Traumbilder und den Zugang zu Bereichen der Persönlichkeit, die ihren Ausdruck gerade nicht in der Sprache finden, assoziiert. Wenn man aber das Träumen wie Kierkegaard ganz von der – nur in der Sprache gegebenen – Möglichkeit her denkt, kann nur ein sprechender Mensch träumen. Kierkegaards Rede von der Möglichkeit präzisierend kann man ergänzen, dass Träume Zugang zu Zukunft, Vergangenheit und fernen Orten ermöglichen, und diese Unabhängigkeit von Raum und Zeit ist dem Menschen nur als einem sprechenden Menschen möglich. Sprache in dieser grundlegenden Weise verstanden als Fähigkeit des Menschen, sich durch die Möglichkeit von sich selbst zu unterscheiden, geht weit über das hinaus, was ein Mensch tatsächlich sprachlich artikuliert. Wenn Sprache in diesem Sinne mehr ist als das, was der Mensch sprechend realisiert, ist es auch kein Widerspruch, dass das sprachliche Geschehen des Träumens sich vornehmlich in Bildern vollzieht. Die Bilder stehen dabei vielleicht gerade für das, was sprachlich ist, aber noch nicht bewusst ausgesprochen ist. Beim Träumen scheint der Geist zu seinem Ausdruck in der Sprache dasselbe Verhältnis zu haben wie Adam zu seiner Unschuld: er ist noch nicht wirklich zu sich selbst gekommen. Dem Zustand des Geistes entspricht sein Ausdruck in der Sprache: wo der Geist ein träumender ist, ist auch die Sprache „träumend“. So lässt sich Kierkegaards Satz verstehen, dass der Redende die Sprache sei (XI, 46): wo der Redende in Unschuld ein Träumender ist, entspricht dem auch seine Sprache, sie ist eine träumende Sprache, die ganz auf die Möglichkeit gerichtet ist. Was ich hier als träumende Sprache bezeichne, wird das sein, was Kierkegaard, wie oben schon ————— 11 Zur Bewegung der Sprache in die Möglichkeit vgl. auch die Aussage Humboldts, dass die Sprache niemals ein Mittel ist, um schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern auch um Unbekanntes zu entdecken (Humboldt, 20). Solch eine Entdeckung von Unbekanntem, das noch gar nicht der Wirklichkeit angehört, entspricht dem, was Kierkegaard als Möglichkeit beschreibt.
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erwähnt, als unvollkommene Sprache bezeichnet. Er verglich die unvollkommene Sprache mit dem Sprachgebrauch von Kindern, die Tiere an der Wandtafel benennen (XI, 44). Da geht es um einen fehlenden Bezug zur Wirklichkeit: Die Kinder können den gelernten Namen sagen, aber sie sind nicht in der Lage, ihn auf das Tier, das ihnen außerhalb des Klassenzimmers begegnen kann, also auf die Wirklichkeit, zu übertragen. Weiteres Kennzeichen solcher träumender Sprache wird sein, dass sie den Unterschied zwischen Gut und Böse zwar aussprechen, aber nicht verstehen kann. Was es mit dieser Behauptung Kierkegaards auf sich hat, ist gleich zu klären. Vorher ist aber noch zu betrachten, wie Kierkegaard die Angst genauer versteht und ob sich auch darin zeigen lässt, dass die Bewegung des Geistes, die zu Angst wird, als sprachlicher Vollzug aufgefasst werden kann. Kierkegaard definiert die Angst prägnant als sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie (XI, 40). Dieser Ausdruck soll erklären, warum der Geist nicht von der Möglichkeit der Freiheit zur Wirklichkeit der Freiheit kommt, sondern vor dem Nichts erschrickt und als gefesselte Freiheit endet. Wenn der Geist träumend die Möglichkeit der Freiheit entwickelt, fühlt er sich davon gleichzeitig angezogen und abgestoßen. Das Hin- und Hergerissensein zwischen Begehren und Liebe zur Freiheit einerseits und Furcht vor ihr andererseits macht die Bewegung des unschuldigen Geistes aus. Man kann sich vorstellen, dass sich das widersprüchliche Hin und Her zwischen Sympathie und Antipathie als ein Dialog im Menschen vollzieht: wie von zwei Stimmen wird er durch die Freiheit gelockt und gewarnt, angezogen und abgestoßen. So beginnt die Bewegung der Angst, die Kierkegaard als ein Selbstgespräch in Adam interpretiert. Sympathie und Antipathie sind dabei aber kein einfaches Gegensatzverhältnis, sondern sie überkreuzen sich gewissermaßen, indem die Sympathie antipathetisch ist und die Antipathie sympathetisch. Jeder Pol trägt schon sein Gegenteil in sich und schlägt ständig ins andere um. In einem Gespräch oder Dialog in Adam können sich nur Sympathie und Antipathie gegenüberstehen. Das doppelte Gegensatzverhältnis weist über den Dialog hinaus auf eine andere Fähigkeit der Sprache. Sprache kann in einem zusammengehörigen Ausdruck einen Widerspruch fassen. Kierkegaard selbst erwähnt die süße Angst (XI, 40). Als Pendant müsste man ihr die beängstigende Verlockung gegenüberstellen, damit die beiden als sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie in einen Dialog eintreten könnten. Dialektische Zweideutigkeit nennt Kierkegaard das. Die Sprache wird dieser Dialektik gerecht, indem sie beides kann: sie kann ein Wort und sein Gegenteil zu einem einzigen Ausdruck zusammenfassen, und sie kann weiter die darin sich zeigende Spannung umwandeln in einen Dialog, in dem dann das bisher nur mitschwingende Gegenteil zur Hauptaussage wird,
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in der dann wiederum das dazu gehörende Gegenteil mit ausgedrückt ist. Vielleicht kann man in diesem Sinne ganz wörtlich nehmen, dass Kierkegaard immer wieder betont, dass die Angst ein dialektisches Phänomen ist, denn im Wortsinn genommen handelt es sich bei der Dialektik um nichts anderes als ein Gespräch. Dafür, dass die Angst, die sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie ist, als ein sprachliches Dialoggeschehen interpretiert werden kann, spricht auch die nächste Beobachtung Kierkegaards zur dialektischen Zweideutigkeit der Angst (XI, 41): Die Angst ist zum einen wie eine fremde Macht, die den Unschuldigen packt, so dass er selber eigentlich nicht für schuldig erklärt werden kann, solange er sich nur fürchtete – da er in dem Sich-Fürchten seine Angst aber gleichzeitig liebt, versinkt er selber in die Angst, er lässt sich nicht nur von außen packen und ist damit doch schuldig geworden. Dieses Ineinander von fremder, objektiver Macht, die doch ihren Ursprung nur in einem selber hat, wird Kierkegaard später in seinem Buch mit dem Gefühl des Schwindels veranschaulichen. Diese Struktur teilt die Angst mit der Sprache: Auch in einem Wort kann einem das Eigenste wie ein objektives Fremdes gegenübertreten, und ein Wort, das mir als Äußeres begegnet, kann zu meinem Innersten werden. Diese Spannung des Selbstunterschieds liegt in der Struktur der Sprache wie in der Struktur des Selbst. Diese Spannung ist eine Dynamik, die Sprache immer in Bewegung sein lässt und die nicht zulässt, dass der Mensch in der Unschuld verharrt, sondern er sich aus sich heraus entwickelt. Diese Entwicklung des Selbst beschreibt Kierkegaard als Angst, und diese Angst vollzieht sich als ein Gespräch im Menschen Seine Überlegungen zur Angst präzisiert Kierkegaard, indem er eine Entwicklung der Angst in mehreren Stufen nachzeichnet. Diese Entwicklung ist keine gerade Linie, die zum Sündenfall führt, aber es ist eine Zuspitzung der Angst, die in die Situation führt, in der es dann zum Sprung kommt. Der Angelpunkt des Ganzen ist, dass die Angst sichtbar werde (XI, 41), so beginnt das, was Kierkegaard die Zuspitzung nennt, nachdem er die Angst als sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie definiert hat. Was wird da sichtbar? Es soll sichtbar werden, wie sich der Geist zu sich selbst und zu seiner Bedingung verhält. Er ist einerseits das, was die Einheit von Leib und Seele stört, und andererseits das, was sie begründet und bedingt. Diese Zweideutigkeit kennzeichnet das Verhältnis des Geistes zu sich selbst: er kann sich nicht loswerden, weil der Mensch ein geistbestimmtes Wesen ist, aber er kann sich auch nicht ergreifen, weil die Freiheit für ihn ein Nichts ist, d.h. weil er unwissend ist. Diese Zweideutigkeit von Lieben und Fürchten ist Angst, und so stellt Kierkegaard auch hier fest: „Er [der Geist] verhält sich als Angst“ (XI, 42). Die Angst ist die widersprüchliche
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Selbstbezüglichkeit des Geistes. Das, was sichtbar werden soll, ist die Bewegung des Geistes als Angst. Wenn diese Bewegung, wie aus den vorhergehenden Überlegungen sich ergeben hat, eine sprachliche Bewegung ist, müsste man dann nicht eher sagen, die Angst solle hörbar werden? Wird sie nicht hörbar in dem Gespräch, das Adam mit sich selbst führt? So kann man es vermuten, wenn man gleich darauf liest, dass das Sichtbarwerden geschieht, indem sich die Unwissenheit in einem Wort sammelt und die Angst sich in diesem Wort spiegelt. Das Sichtbarwerden im Wort ist also ein Hörbarwerden im Dialog. In der Genesiserzählung hört Adam das Wort des Verbots, dass er nicht vom Baum der Erkenntnis essen solle. Dieses Wort nimmt die Stelle des Nichts ein: anstelle des Nichts ist da nun ein rätselhaftes Wort (XI, 42). Zu dieser Aussage Kierkegaards muss man zwei Fragen stellen: einmal muss erklärt werden, wie das Nichts zu einem Wort wird, und weiter ist zu fragen, warum dieses Wort ein rätselhaftes, d.h. für Adam nicht verständliches ist. Als Adam das Verbot hört, ist er immer noch unschuldig und unwissend, wie Kierkegaard betont. Dennoch spitzt sich die Angst mit dem Wort zu und die Begründung dafür ist folgende: „Was an der Unschuld vorübergestreift ist als das Nichts der Angst, das ist nun in ihn selbst hineingetreten“ (XI, 43). Es handelt sich weiterhin um ein Nichts, um die Möglichkeit zu können. Aber dieses Nichts ist nun nicht mehr außen, sondern innen. Hier scheint der Übergang von einem Traumbild, das in gewisser Weise auch schon sprachlich war, zu einem konkreten Wort zu sein. Was als Bild noch nicht realisierte Sprache war und deshalb äußerlich blieb, wird zu einem Wort, das in einem sinnlich wahrnehmbaren Laut konkrete Form annimmt. Dieses Wort, selbst wenn es zuerst von außen kommt, wird, sobald Adam es für sich nachspricht, zu etwas, das aus ihm selbst kommt und deshalb in ihm selber ist. Diese Innerlichkeit des Wortes ist die Zuspitzung der Angst auf dieser Stufe. Deshalb wertet Kierkegaard sie als „eine höhere Form von Unwissenheit, als ein höherer Ausdruck von Angst, weil es in einem höheren Sinne ist und nicht ist, weil er in einem höheren Sinne es liebt und flieht“ (XI, 43). Die sprachliche Bewegung, die der Ausdruck für den Selbstunterschied des Menschen ist, vollzieht sich insofern noch träumend, als Adam das Wort des Verbots nicht versteht. Aber sie ist konkret geworden, indem die Sprache jetzt ihre sinnlich wahrnehmbare Seite im Laut realisiert hat. Wenn man an Kierkegaards Ausgangsvoraussetzung denkt, dass der Mensch eine Synthese aus Leib und Seele ist, die im Geist gesetzt wird, kann man die Zuspitzung der Angst von daher verstehen: Das Wort in seiner Sinnlichkeit wird von Adam mit seinem Ohr, seinem Leib aufgenommen. Dass er das Wort nicht versteht, verweist ihn an den Unterschied zwischen seinem Leib und seiner Seele. Der Unterschied in ihm selbst wird vertieft, und das ist gleichbedeutend mit einer Zuspitzung der Angst.
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Das Nichts, das sich zu einem Wort verdichtet, hat dabei eine eigene sprachliche Erscheinung. Dem Nichts entspricht in der Sprache die Negation. Das ist schon in der biblischen Geschichte so, denn mit dem Wort des Verbots taucht in der Bibel zum ersten Mal eine Negation auf. Vorher gab es nur wirkmächtige Worte, also vor allem das Sprechen Gottes, der mit seinen Worten die Schöpfung ins Leben rief und sie segnete. Aber auch das Sprechen des Menschen war bisher von ebensolcher Eindeutigkeit, wenn er den Tieren Namen gab und sie so hießen. Nun gibt es mit dem Verbot die erste Negation und zusammen mit der Rede der Schlange, die eine Frage stellt, hat die Sprache ihre Eindeutigkeit und Wirkmächtigkeit verloren. In der Negation und der Frage kommt zum ersten Mal die Möglichkeit zur Sprache, dass es auch anders sein könnte. Es steht die Möglichkeit im Raum, dass es etwas Anderes gibt. Indem Adam das Wort hört, lässt er es in sich hinein und entdeckt an dem Wort, dass dieses Andere ein Teil seines Selbst sein könnte. Mit der sprachlichen Form der Negation bricht der Selbstunterschied in Adam sprachlich auf, und das Gespräch in ihm hat eine neue, konkretere Stufe erreicht.12 Trotz dieser Zuspitzung bleibt es dabei, dass das Wort rätselhaft ist, weil Adam es in seiner Bedeutung nicht verstehen kann. Das, was er daran nicht verstehen kann, ist die Unterscheidung von Gut und Böse, erläutert Kierkegaard. Im Wort des Verbots wird von dieser Fähigkeit der Unterscheidung gesprochen, aber sie stellt sich erst mit dem Genuss der verbotenen Frucht ein. Kierkegaard lässt das Argument, dass das Verbot die Lust wecke, nicht gelten, denn das setze voraus, dass Adam ein Wissen von der Freiheit hätte. Kierkegaard hingegen hält unbedingt fest, dass Adam unwissend ist, d.h. kein Wissen davon hat, wie die Wirklichkeit der Freiheit ist. Was Kierkegaard hier mit Verstehen und Nichtverstehen meint, muss mit der Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit zu tun haben. Kierkegaard sagt über den Unterschied von Gut und Böse, dass er „freilich in der Sprache ist, aber allein für die Freiheit ist“ (XI, 44). Ich verstehe das so, dass Gut hier bedeutet, dass der Geist die Synthesis von Leib und Seele in guter Weise setzt, während das Böse die verfehlte Synthesis ist, in der der Zusammenhang von Leib und Seele zerbricht. Erst wo die Synthese vom Geist gesetzt ist, kann die „gute“ Synthese von der zerbrochenen „bösen“ Synthese unterschieden werden. Insofern ist der Unterschied erst für die Freiheit wirklich da. Der Geist sieht aber schon träumend die Möglichkeit der Synthese. Durch Sprache kann er die Möglichkeit beschreiben, auch wenn sie ————— 12 Wie die Negation Sprache und Denken in Bewegung bringt, dazu vgl. auch Kierkegaards frühe Überlegungen zum Nichts, die er im Begriff Ironie anhand der Person des Sokrates entwikkelt. In dieser Schrift spricht er davon, dass das Negative des Denkens ewige Unruhe ist, das vom Gedanken nicht festgehalten werden kann, weil es das den Gedanken vorantreibende ist (XXXI, 107).
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noch nicht Wirklichkeit ist. Insofern ist der Unterschied in der Sprache, aber das „tiefere Verstehen“ stellt sich erst mit der Wirklichkeit ein.13 Fest steht, dass in der Angst auf jeden Fall Sprache da ist und zwar Sprache, in der ihre Charakteristika des Trennens und Verbindens angelegt sind, denn sie beschreibt den Unterschied und die Möglichkeit der Synthese. Sie ist aber insofern träumende Sprache, als sie das nur in der Möglichkeit tut, und deshalb eine defiziente Sprache, weil sie nur den Modus der Möglichkeit kennt. Den Modus der Wirklichkeit muss sie noch realisieren, und die Richtung dahin ist vorgegeben, indem das Wort hörbar wird. Dem Wort des Verbots folgt in der biblischen Geschichte ein Wort der Strafe, und an ihm erläutert Kierkegaard die nächste Stufe der Zuspitzung der Angst.14 Auch das Wort der Strafe, also die Todesdrohung, kann Adam nicht verstehen. Weil er unwissend über den Tod ist, hat das Wort keine abschreckende Wirkung. Es löst aber Entsetzen aus. Kierkegaard fügt hier die Beobachtung ein, dass ein Tier das Bedrohliche einer Stimmung spüren kann, dass es „den mimischen Ausdruck und die Bewegung in des Redenden Stimme verstehen“ kann, ohne das Wort zu verstehen (XI, 43). Er fügt aber gleich an, dass das nur bedingt damit vergleichbar ist, dass Adam das Entsetzliche in Gottes Strafwort fassen kann, auch wenn er keine Vorstellung von Strafe und Tod hat. Aus dem Vorhergehenden kann man erläutern: das gefühlsmäßige Erfassen einer Stimmung beim Tier ist eine Sinneswahrnehmung, die noch keine sprachliche Bewegung ist. Adam hingegen nimmt das Wort als ein sprachliches Wort auf, auch wenn sein träumender Geist es nicht wirklich verstehen kann, solange er träumt. Das Wort vom Tod verweist Adam an sein Anderes, es spricht von der Möglichkeit, dass Adam auch nicht sein könnte. Den Unterschied zwischen seinem Sein und seinem ————— 13 Dass wirkliches Verstehen sich da ereignet, wo Wort und Tat und damit auch Wirklichkeit und Möglichkeit zusammen kommen, macht Kierkegaard in anderen Texten explizit zum Thema. Vgl. dazu unten die Kapitel 4.1 und 4.2. 14 Zum Wort des Verbots und der Strafe vgl. auch PATTISON, G., The most dangerous of gifts or ‚What did language say to Adam?‘, in: Kierkegaard Studies Yearbook 2001, Berlin/New York 2001. 220–233. Pattison kommt in seinem Aufsatz zu dem Ergebnis, dass Verbot und Strafe daraus entstehen, dass der Geist, dessen Ausdruck die Sprache ist, sich selbst begrenzen muss (232). Er begründet dies nicht aus der Struktur des Geistes, sondern ethisch: Sprache – bei ihm verstanden als Repräsentation der äußeren Welt – entfremdet den Menschen von der Welterfahrung und lässt sich ihn in der Bedeutungsvielfalt verlieren, wenn der Mensch nicht Verantwortung dafür übernimmt, dass seine Sprache bedeutungsvoll und damit auf die Welt und seine Existenz bezogen bleibt. Warum Pattison für diese Begründung den Geist einführen muss, bleibt fraglich. Was Pattison als Grenze des Geistes versteht, ist bei Kierkegaard das Nichts. Das Nichts ist bei Kierkegaard aber Teil des Geistbegriffs, der sich dadurch auszeichnet, dass der Geist sich selbst und sein Gegenteil zu einer neuen Einheit verbinden kann. Kierkegaard denkt immer in dieser dreiteiligen Struktur – der natürlich ein zweiteiliges Gegensatzverhältnis zugrunde liegt –, während Pattison sowohl über die Sprache als auch über den Menschen als auch über den Geist immer nur als ‚twofold‘ nachdenkt.
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Nichtsein, zwischen seiner Selbstverwirklichung und seinem Selbstverlust kann Adam benennen. Beide Seiten in ihm reden miteinander, aber sie sind noch nicht voneinander getrennt und noch nicht neu zusammengesetzt. Aber die Möglichkeit der Trennung löst Entsetzen aus, daraus entspinnt sich das Gespräch der Angst weiter, Adam ist im Gespräch mehr und mehr hin- und hergerissen, ohne dass die Trennung schon vollzogen wäre. Diese Vertiefung in die Angst ist eine sprachliche Bewegung, denn dass Adam das Wort in einer sprachlichen Weise aufnimmt, zeigt sich an der Aussage, auf die es Kierkegaard zu dem Strafwort nach dem Nebengedanken über das Entsetzen der Tiere ankommt: „Die unendliche Möglichkeit zu können, die durch das Verbot geweckt wurde, rückt jetzt dadurch näher, dass diese Möglichkeit eine Möglichkeit als ihre Folge aufzeigt“ (XI, 43). In der Sprache kann aus einer Möglichkeit die nächste Möglichkeit als Folge abgeleitet werden, ohne dass die Folge damit Wirklichkeit würde. Die Sprache begibt sich weiter in den Modus der Möglichkeit hinein und bleibt damit in der Angst. Die Angst erscheint jetzt mehr und mehr als ein leeres Selbstgespräch. Der Sprung steht bevor, in der in der Sprache und im Selbst der Unterschied nicht nur benannt, sondern auch gesetzt wird. Dann wird sich das Selbst in diesem Unterschied in Sünde verlieren oder in Freiheit ein positives Selbstgespräch führen, in dem ein Selbst sich entwickelt und seine Unterschiede in einer Synthese zusammenhalten kann. Aber im ersten Kapitel seines Buches bleibt Kierkegaard noch vor diesem Sprung, und dort hält seine Interpretation, dass die Geschichte vom Sündenfall sich als ein (wenn auch in gewisser Weise defizientes) Gespräch in Adam vollzieht, bis zum Schluss durch. Auch die Versuchung durch die Schlange, die den letzten Teil der biblischen Erzählung bildet, interpretiert er in diesem Sinn. Er fragt, ob die Schlange die Verführerin sei. Seine Antwort darauf bleibt sehr vage: er sagt nur, dass er mit der Schlange keinen bestimmten Gedanken verbinden wolle (XI, 46).15 Die eigentliche Aussage, ————— 15 Hirsch erklärt in einer Anmerkung zu seiner Übersetzung, dass die Umdeutung des göttlichen Verbots und der göttlichen Strafsetzung in ein Selbstgespräch Adams folgerichtig fordere, dass man die Schlange als sinnbildliche Vergegenständlichung der Sprache umdeutet. Er weist anhand eines nachträglich gestrichenen Satzes im Entwurf zu dieser Schrift nach, dass Kierkegaard dies auch überlegt hat. Für den Hintergrund dieses Zusammenhangs von Schlange und Sprache, den Kierkegaard erst herstellt und dann wieder tilgt vgl. zwei Vorschläge: Hirsch verweist in den Anmerkungen zu seiner Übersetzung an dieser Stelle darauf, dass Hamann vom „Schlangenbetrug der Sprache“ gesprochen hat. Bei ihm könnte Kierkegaard diesen Zusammenhang gelesen haben. Eine andere Interpretation findet sich bei Pyper. Sie stellt die These auf, dass der gleich darauf ausdrücklich zitierte Jakobusbrief im Hintergrund des Kierkegaard’schen Textes steht. Betrug und Täuschung in und mit der Sprache sind für sie ein Leitmotiv des Jakobusbriefes, und sie vermutet, dass Kierkegaard den Zusammenhang von Schlange und Sprache aus seiner Lektüre der Epistel hat. (PYPER, H.S., Adam’s Angest: The Language of Myth and the Myth of Language, in: Kierkegaard Studies Yearbook 2001, Berlin/New York 2001. 78–95.)
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auf die es ihm ankommt, ist, dass die Versuchung nicht von außen kommen kann. Er führt dazu den Vers aus dem Jakobusbrief an, dass Gott niemanden versuche, sondern jeder nur von sich selbst versucht werde.16 Er folgert daraus, dass die Schlange nicht von Gott kommen kann, aber auch nicht von außen kommen kann, um sich in das Verhältnis von Gott und Mensch einzumischen. Die Versuchung muss im Menschen selber liegen. Ohne dass man die Sprache vergegenständlicht und mit der Schlange identifiziert, kann man bemerken, dass die Sprache dem entspricht, was für Kierkegaard wesentlich die Versuchung ausmacht: nämlich, dass sie aus dem Innern des Menschen kommt und dennoch als äußere Versuchung erlebt wird. Die Sprache ist der Ausdruck für dieses Ineinander von Innen und Außen: auch das Wort, dass im Innern entsteht, kann einem gegenübertreten als etwas, das so fremd ist, dass es einen verführen kann und man dabei vergisst, dass er aus einem selber kommt.17 Die Angst vollzieht sich also bis zum Schluss als Gespräch in Adam. Der qualitative Sprung in die Sünde kann aber dadurch nicht erklärt werden. Kierkegaard umreißt im §6 noch die Folgen des Sündenfalls: die Sünde ist gesetzt und das Geschlechtliche. Ein Widerspruch ist gesetzt. Aufgabe ist, ihn zu lösen, und damit beginnt Geschichte. Wie sich die Angst als Folge der Sünde im weiteren Verlauf der Geschichte zeigt, ist Thema des restlichen Buches. Die hier begonnene Lektüre des Textes mit Aufmerksamkeit auf den Sündenfall als Sprachgeschehen muss also fortgeführt werden mit der Frage, welche Erscheinungsformen die Angst im Verlauf der Geschichte in der Sprache haben wird. Das erste Kapitel endet damit, dass der Psychologe als Autor noch einmal auf den Status seiner Interpretation hinweist. Es handelt sich nicht um eine wissenschaftliche Erklärung des Phänomens Sünde. Diese kann nicht allgemeingültig erfasst werden, sondern: „wie die Sünde in die Welt gekommen ist, das versteht ein jeder Mensch einzig und allein aus sich selbst“ (XI, 49). Der Psychologe kann allenfalls bei der eigenen Entdeckung behilf————— 16 Wie sehr sich Kierkegaard mit diesem Satz aus Jak 1, 13f beschäftigte, wird daran deutlich, dass er sich in mehreren Erbaulichen Reden mit ihm auseinandersetzt. Auf viele interessante Zusammenhänge zwischen dem Jakobusbrief und dem Begriff Angst macht Pyper in ihrem Aufsatz aufmerksam. (PYPER, H.S., Adam’s Angest: The Language of Myth and the Myth of Language, in: Kierkegaard Studies Yearbook 2001, Berlin/New York 2001. 78–95.) 17 Auf diese Zwischenstellung der Sprache zwischen Außen und Innen, zwischen Subjektivität und Objektivität hat Humboldt immer wieder aufmerksam gemacht. Er beschreibt, wie durch Sprache ein subjektiver Sinneseindruck objektiv wird, aber zugleich der Subjektivität nicht entzogen wird. Diese Bewegung des Zurückkehrens des Gedankens als Objekt ist für Humboldt die Ermöglichung der Weiterentwicklung im Denken (Humboldt, 429). Humboldt verweist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass die Gleichzeitigkeit von Subjektivität, nämlich dass die Sprache zur Seele des Menschen gehört, und Objektivität, nämlich dass sie ihr fremd ist, der menschlichen Natur entspricht (Humboldt, 438).
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lich sein. Was sich in Adam als ein Gespräch vollzog, vollzieht sich also auch in jedem anderen Menschen als ein Gespräch. Gemeinsam ist Adam und allen anderen Menschen dabei die Bestimmung zur Sprache. Aber da jeder Mensch letztlich seine eigene Sprache hat, wird das Gespräch in jedem Menschen seinen eigenen Verlauf nehmen. Der Autor des Begriff Angst lenkt im Gespräch mit seinem Leser nur die Aufmerksamkeit darauf, dass wir dazu bestimmt sind, in einem positiv verstandenen Selbstgespräch unsere Freiheit zu entwickeln. Und er wird in den nächsten Kapiteln des Buches seine Leser begleiten bei ihren Entdeckungen, wie sie sich in der Sprache der Angst zu sich, zu ihren Mitmenschen und zu Gott verhalten, aber auch darin, wie sich in der Sprache der Angst eine Sprache des Glaubens entwickeln kann. Aber bevor hier die Gedanken Kierkegaards zu Freiheit und Kommunikation aus dem 4. Kapitel des Begriff Angst interpretiert werden, sollen in einem „Zwischenteil“ noch einige Aspekte aus den mittleren Kapiteln des Begriff Angst zu Sprache und Geschichte sowie zur Sprache in ihrer Zweideutigkeit herausgegriffen werden.
2.2 Gesprächsdynamik Gesprächsdynamik Die Sünde entwickelt sich in der Geschichte, und das Gespräch des Selbst bekommt dabei eine Dynamik, die jetzt in den Blick zu nehmen ist. Das zweite Kapitel des Begriff Angst behandelt, wie die Angst sich im Fortschreiten der Erbsünde auswirkt. Aus dem vorigen Kapitel steht fest, dass jeder Einzelne selbst die Sünde setzt. Dennoch gibt es einen Sündenzusammenhang zwischen den Generationen. Der Einzelne ist er selbst und zugleich das Geschlecht (XI, 25) – diese dialektische Bestimmung des Menschen machte Kierkegaard schon im ersten Kapitel zur Voraussetzung aller Überlegungen zur Erbsünde. So kann er die Ursprünglichkeit der Sünde festhalten, in die jeder durch einen qualitativen Sprung gerät, und gleichzeitig die Kontinuität in der Geschichte, in der die Sünde quantitativ anwächst. Im zweiten Kapitel erklärt er nun, wie die Angst dieser Dialektik entspricht. Auch sie hat dementsprechend zwei Formen: Die Angst, in welcher das Individuum durch den qualitativen Sprung die Sünde setzt und die Angst, welche mit der Sünde hineingekommen ist und hineinkommt, und insofern auch quantitativ in die Welt kommt, jedes Mal, wenn ein Individuum die Sünde setzt (XI, 53).
Wenn sich die obige Beobachtung, dass Angst sich als ein sprachliches Geschehen vollzieht, bewähren soll, muss es in der Sprache eine Entsprechung dazu geben, dass die Angst im Einzelnen entsteht und doch im Laufe der Generationen anwächst. Dass der Mensch ein Einzelner und zugleich
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das ganze Geschlecht ist, lässt sich auch an seiner Sprache ablesen: Jeder Mensch hat seine eigene Sprache, die sehr individuell geprägt ist – aber ebenso teilt er seine Sprache mit den Menschen seiner Generation, sonst wäre sie nicht mehr Sprache, die der Verständigung dienen könnte. Wie bei der Sünde kann und muss das Individuelle hier dialektisch auf das Überindividuelle bezogen sein. Weiter muss jeder Mensch Sprache selber lernen, so wie er nur als er selbst die Angst durchleben kann, in der er dann die Sünde setzt. Er ist aber mit seiner Sprache in die Entwicklung der Sprache hineingestellt und übernimmt vieles, was ihm mit dem Erbe seiner Sprache überliefert wird. Kierkegaard beschreibt den qualitativen Zuwachs der Angst im Laufe der Geschichte damit, dass die Angst reflektierter wird (XI, 51). Eine Sprache, die ihre Ausdrucksmöglichkeiten weit entwickelt hat, kann mehr Möglichkeiten aus sich heraus entwickeln und deshalb auch tiefer in die Angst eindringen. Die höhere Reflektiertheit der Angst scheint mit einer höheren Reflektiertheit der Sprache einherzugehen. So wie die Angst im Laufe der Geschichte qualitativ anwächst, wächst auch der Sprachschatz der Menschheit im Laufe der Geschichte – auch wenn es in beiden Fällen ein Anwachsen mit Rückfällen sein kann.18 Dass sich die Sünde als Angst in der Geschichte weiterentwickelt, fügt sich auf jeden Fall gut dazu, dass man sich die Angst als ein Gespräch im Menschen vorstellen kann. Denn ein Gespräch hat wie jedes Wortgeschehen immer schon eine geschichtliche Dimension, weil es sich in der Zeit abspielt. 19 Im zweiten Kapitel finden sich neben der Dialektik zwischen dem Einzelnen und der Generationenfolge, in die er eingebunden ist, weitere dialektische Bestimmungen des Menschen. Es soll kurz bemerkt werden, dass auch sie Entsprechungen in der Sprache haben. So beschreibt Kierkegaard das Selbst als den Widerspruch zwischen Allgemeinem und Einzelnen (XI, 79). Diese Spannung hat auch die Sprache, die allgemeine Ausdrücke benutzt und damit doch Einzelnes bezeichnet und in der anderen Richtung, dass sie von Einzelnen gesprochen wird und zugleich etwas Allgemeines ————— 18 Als eine Bestimmung des Begriffs der Erbsünde mit Blick auf die Sprache vgl. KLEFFMANN, T., Die Erbsündenlehre in sprachtheologischem Horizont, Tübingen 1994. Kleffmann bestimmt Erbsünde als wesentliche allgemeine Verkehrung der menschlichen Identität. Wo der Mensch sich aus sich selbst versteht und seine Identität nicht als vermittelt durch das Wort Gott versteht, gerät er in Widerspruch zu seiner von Gott gesetzten Identität. Die Begriffe der Identität werden in der Kommunikation, in der Spracherwerb stattfindet, von einer Generation an die nächste weitergegeben. 19 Vgl. dazu die Auffassung Kierkegaards, dass Geschichtliches immer an das Medium Sprache gebunden ist. Er äußert das im Zusammenhang von Überlegungen zur Musik, die zwar auch im Gegensatz zu anderen Künsten wie Baukunst oder Malerei ein zeitliches Element hat. Aber Kierkegaard versteht diese zeitliche Dimension nur als eine uneigentliche, d.h. nicht geschichtliche (I, 60). Die Musik ist bei Kierkegaard immer Ausdruck für eine unmittelbare Einheit. Der Geist setzt durch die trennende Kraft in der Sprache einen Unterschied, und dadurch entsteht die Bewegung, die zu Geschichte wird.
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ist.20 Einen breiteren Raum nimmt im zweiten Kapitel der Widerspruch zwischen Sinnlichkeit und Geist ein. Der Schwindel der Freiheit, der den Menschen in die Angst stürzen lässt, zeigt sich genau da, wo der Mensch, der ein endliches Sinnenwesen ist, sich gleichzeitig als zur unendlichen Möglichkeit im Geist bestimmt erfährt. Die äußerste Form der Sinnlichkeit ist die Geschlechtlichkeit, und so gipfelt diese Dialektik des Menschen im Widerspruch zwischen Genus und Geist (XI, 69). Bei Kierkegaard schließen sich Überlegungen zur Scham und zur Erotik an. Dem soll hier nicht nachgegangen werden, sondern nur darauf verwiesen werden, dass auch die Sprache eine äußere, sinnliche Form hat, nämlich ihren als Schwingung wahrnehmbaren Laut. Die äußere Form der Sprache kann zu ihrem inhaltlichen Gehalt ebenso in Widerspruch geraten wie die Sinnlichkeit zum Geist. Die Sinnlichkeit ist nicht die Sündigkeit (XI, 58 u.ö.), sondern wird erst in Angst dazu. Die äußere Form der Sprache muss nicht zu Missverständnissen führen, sondern wird erst in Angst widersprüchlich.21 Das Phänomen ist überall zu beobachten: Wer Angst hat, ist schnell zu Unehrlichkeit bereit, hat falsche Ausreden parat oder erfindet Lügengeschichten. Die Angst führt zu einem Gebrauch von Sprache, in dem die Sprache zu einem Schein ihrer selbst wird. Die Angst kann sich dabei nicht nur dieser inneren Seite der Sprache bemächtigen, sondern ebenso der äußeren leiblichen Seite: sie kann dem, der etwas sagen will, die Kehle zuschnüren oder seine Stimme zittern lassen. Die Angst als Bewegung des Geistes zwischen Leib und Seele zeigt sich also auch in der Sprache zwischen Leib und Seele. 22 ————— 20 Kierkegaard thematisiert diese Spannung in der Begrifflichkeit von Idealität und Realität in seinem Fragment über den Zweifel. Die damit zusammenhängenden Fragen, die auch auf den Begriff der Wiederholung zu beziehen sind, werden in Kapitel 4.1 dieser Arbeit dargestellt. Hier sei nur kurz darauf verwiesen, dass sich auch bei Humboldt viele Überlegungen dazu finden, dass die Sprache zwischen Objektivität und Subjektivität liegt. So spricht er davon, dass objektive Wahrheit nur zugänglich ist in der subjektiven Individualität eigener Sprache (Humboldt, 20). Es gibt verschiedene Sprachen, aus der sich die Ganzheit der Sprache zusammensetzt; diese Ganzheit ist aber nie anders als in ihrer einzelnen Ausprägung zu haben (Humboldt, 24). Dieses Charakteristikum der Sprache, dass das allgemeine Ideal in der individuellen Erscheinungsform eingeschlossen ist, sieht Humboldt als Parallele zum Menschen (Humboldt, 24). Ebenso wie der Mensch ist der Begriff Sprache immer eine Abstraktion, denn Sprache gibt es nur als je Besondere (Humboldt, 295). 21 Zu Missverständnis und Geschwätz als Erscheinungsformen der Sünde, in denen die sinnliche und die geistliche Seite der Sprache in Konflikt geraten vgl. die Kapitel 3.4 und 3.2. 22 Über die leibliche und räumliche Dimension der Sprache kann man auch mit Bezug auf den Text Kierkegaards nachdenken. So macht Harrits (HARRITS, F., Bewegungen und Figuren des Denkens in Der Begriff Angst, in: Kierkegaard Studies Yearbook 2001, Berlin/New York 2001. 247–267) auf die körperliche und räumliche Metaphorik des Textes aufmerksam. Er verfolgt etymologisch zurück, wie das Wort Angst aus Enge, also einem räumlichen Ausdruck, sich entwickelt hat. Er verweist darauf, dass sowohl Angst als auch Reue Ausdruck körperlicher Erfahrungen waren, bevor sie Begriffe für Psychisches oder Geistiges wurden. Er weist hin auf die Räumlichkeit der Rede vom Eingeschlossensein und Offen- bzw. Offenbarwerden und die häufige
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Das dritte Kapitel des Begriff Angst handelt von der Angst als Folge derjenigen Sünde, welche das Ausbleiben des Sündenbewusstseins ist. Die Sünde ist also im Bewusstsein nicht als Sünde erkannt, und doch diagnostiziert Kierkegaard sie als Angst. Er beginnt dieses Kapitel mit Überlegungen zu Zeitlichkeit und Ewigkeit und erläutert die Kategorie des Augenblicks. Dann folgen drei Konkretionen: die Angst der Geistlosigkeit, die Angst bestimmt in Richtung auf Schicksal und die Angst bestimmt in Richtung auf Schuld. Bei allen dreien kann man beobachten, wie mit der Zweideutigkeit der Angst die Zweideutigkeit von Sprache einhergeht. „Heidentum innerhalb des Christentums“ (XI, 96 u.ö.) – diesen Ausdruck benutzt Kierkegaard für diejenigen, die Kirche und Theologie seiner Zeit bestimmen, und bei ihnen findet er die Angst der Geistlosigkeit. Geistlosigkeit erkennt Kierkegaard in der Sprache daran, dass Aussagen des Geistes zu Spaß und Phrase werden können, dass Wahrheit zu Gerücht und Klatsch werden kann (XI, 96).23 Er erklärt das Phänomen so, dass „die Geistlosigkeit zu Geist ein Verhältnis hat, das Nichts ist“ (XI, 96). Die Geistlosigkeit beansprucht für sich Geist und hat damit ein Verhältnis zu ihm. Sie ist dem Geist aber nicht angemessen, und deshalb ist das Verhältnis Nichts. Sie ist auf Geist bezogen und ergreift ihn doch nicht. Dieses Verhältnis, das ein Nichts ist, ist das Lieben und Fürchten der Angst, die Bewegung der sympathetischen Antipathie und antipathetischen Sympathie. Deshalb ist die Geistlosigkeit Angst, wenn auch versteckt und vermummt, weil sie sich dessen nicht bewusst ist (XI, 98). Die Angst zeigt sich in der Sprache daran, dass der sprachliche Ausdruck nicht der Bedeutung entspricht. Man könnte auch sagen, das Wort steht in einem Verhältnis zu seiner Bedeutung, das ein Nichts ist. Wo Rede als Spaß oder Gerücht verstanden wird, ist dieses zweideutige Verhältnis schon durchschaut. Innerhalb der Geistlosigkeit ist die Rede aber ernst gemeint, ebenso wie die Angst versteckt ist und die Sünde nicht im Bewusstsein. ————— Rede vom Gefängnis. Er stellt fest, dass Angst, Freiheit, Unschuld und viele andere im Text häufig als Personifikationen auftreten, dass sie Verkörperungen dieser eigentlich geistigen Zustände sind und damit räumlich werden. Er leitet das Plötzliche aus einem alten Verbum der Bedeutung „stürzen, fallen“ her und überführt es so aus einer zeitlichen Dimension in eine räumliche. Dazu passt dann der Sprung des Mephistopheles. Auch sonst beobachtet er, wie Zeiterfahrungen ins Räumliche überführt werden, so z.B. der Augenblick in den Sprung. Harrits verfolgt in seinen Ausführungen die Frage, wie psychische und geistige Erfahrungen versprachlicht werden und vertritt die Auffassung, dass das nur möglich sei, indem zur Veranschaulichung auf den Körper und den Raum zurückgegriffen werde. Harrits’ Zusammenstellung zu Leiblichkeit und Räumlichkeit im Text ist interessant, es bleibt aber fraglich, ob es dabei wirklich nur um Veranschaulichung und Konkretion geht oder ob sich darin nicht vielmehr zeigt, dass der Leib unabdingbarer Teil der Synthese ist, die es im Geist zu setzen gilt. Wenn die Sprache mit ihrer leiblichen Seite wie der Stimme, der Atmung oder dem Gehör teil der Synthese ist, dann geht es nicht nur um Veranschaulichungen, sondern um Strukturparallelen zwischen Sprache und Menschsein. 23 Vgl. das Kapitel zu Geschwätz 3.2.
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Die Geistlosigkeit kann ganz und gar das Gleiche sagen, was der reichste Geist gesagt hat, nur sagt sie es nicht in Kraft des Geistes. Als geistlos bestimmt ist der Mensch eine Sprechmaschine geworden, und es steht dem nichts im Wege, daß er ebenso gut einen philosophischen Schwulst auswendig lernen kann wie ein Glaubensbekenntnis und ein politisches Rezitativ (XI, 97).
Sprachliche Form und Bedeutung fallen auseinander, der Ausdruck des Geistes entspricht nicht mehr dem Gehalt des Geistes. Man muss unterscheiden können zwischen dem, was man versteht, und dem, was man nicht versteht, und dabei immer bedenken, dass der geistloseste Mensch wortwörtlich das Gleiche sagen kann, warnt Kierkegaard. Der Unterschied kann sich nur in einem selbst erweisen: „Es gibt nur einen Beweis des Geistes, das ist der Erweis des Geistes in einem selbst“ (XI, 97). Die Sprache als Ausdruck alles Geistigen bewegt sich in einem entsprechenden Zirkel: Die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks erschließt sich nur in der Sprache, wir können nicht hinter die Sprache zurück. Die nächste Bestimmung der Angst, die sich ihrer als Angst nicht bewusst ist, nimmt Kierkegaard mit Bezug auf das Schicksal vor. Dies ist für ihn die Form der Angst, die die Antike charakterisiert. Wiederum entsteht die Angst im Gegenüber zu einem Nichts. Das Nichts ist in diesem Fall das Schicksal (XI, 99). Das Nichts ist wie immer zweideutig, es hat eine Notwendigkeit, weil das Schicksal ja nicht zu beeinflussen ist, und es ist doch eine Zufälligkeit, weil das Schicksal keinem erkennbaren Schema folgt. Das Schicksal findet seine sprachliche Form im Orakelspruch. Dieser ist zweideutig, wie das Schicksal auch. Aber das eigentlich Tragische liegt nicht in der Zweideutigkeit des Spruchs, sondern im zweideutigen Verhältnis der Menschen zu ihm: Er fürchtet den Schicksalsspruch, weil er weiß, dass er zufällig ist, und er liebt ihn so sehr, dass er es nicht lassen kann, das Orakel zu befragen. Wieder überkreuzen sich Antipathie und Sympathie und erweisen damit den Umgang mit dem Orakel als Angst. Dieser angstvolle zweideutige Umgang mit dem Orakel schlägt sich sprachlich darin nieder, dass der Spruch in alle belieben Richtungen interpretiert werden kann. Auch in der Angst, die in Richtung auf Schuld bestimmt ist und die Kierkegaard schwerpunktmäßig dem Judentum zuordnet, findet sich Zweideutigkeit, die Angst ist. Der Mensch starrt auf seine Schuld, er fürchtet sie, aber kann sich nicht in Reue und Versöhnung von ihr lösen. Durch ein Opfer soll die Schuld aufgehoben werden. Aber dadurch wird kein wirkliches Verhältnis zur Schuld gesetzt. Es bleibt beim Angstverhältnis in all seiner Zweideutigkeit, und diese Unsicherheit führt dazu, dass das Opfer regelmäßig wiederholt werden muss (XI, 106). Dem Opfer entspricht in diesem Abschnitt des Kierkegaardschen Textes keine sprachliche Ausdrucksform. Aber aus anderen Texten – insbesondere Furcht und Zittern –
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ist belegt, dass Opfer für ihn mit Schweigen verbunden ist. Der Zweideutigkeit dieser Form der Angst entspricht dann, dass in dem Verhältnis von Reden und Schweigen eine Fülle von Zweideutigkeiten liegen. Im dritten Kapitel des Buches Der Begriff Angst hält Kierkegaard immer wieder fest: die Angst bewegt sich immer in einem ‚Zwischen‘ – zwischen fürchten und lieben, zwischen schuldig und unschuldig. Kierkegaard will mit seinen Beobachtungen auf die „Zwischenbestimmungen“ aufmerksam machen, ohne die, wie er meint, der Mensch nicht zu verstehen sei: denn er ist als Einzelner immer verwoben mit anderen, er ist unabhängig und doch geprägt von seinem Umfeld (XI, 76). Diesem Verhältnis wird man nur durch ‚Zwischenbestimmungen‘, also durch eine – wie er es nennt – dialektische Bestimmung des Menschen gerecht. Die Erscheinungsformen der Angst, die Kierkegaard in diesem Kapitel beschreibt, verweisen darauf, dass sich die Zweideutigkeit, die sich aus diesen Zwischenbestimmungen ergibt, auch in der Sprache niederschlägt: Die Form des Wortes kann zu seinem Inhalt in tragischen oder komischen Widerspruch geraten. Eine sprachliche Äußerung kann beliebig interpretiert werden und dadurch in eine Fülle von Missverständnissen führen. Darin, dass die Sprache Reden und Schweigen als ihre zwei Seiten hat, wird immer eine Zweideutigkeit liegen. Die Zweideutigkeiten, zwischen denen die Angst entsteht, gehen mit der Zweideutigkeit der Sprache einher. So ist auch die Sprache, die eine ungeheure Wirkmächtigkeit hat und doch seltsam ungreifbar bleibt, nur durch ‚Zwischenbestimmungen‘, also eine dialektische Betrachtung zu erfassen. Aus dieser dialektischen Bestimmung des Menschen und der Sprache entwickelt sich eine Dynamik, die das Gespräch des Menschen in sich selbst freisetzt.
2.3 Das Gespräch des Selbst in Sünde und Freiheit Das Gespräch des Selbst in Sünde und Freiheit Das vierte Kapitel handelt von der „Angst der Sünde oder Angst als Folge der Sünde in dem Einzelnen“. Nach den geschichtlichen Betrachtungen der mittleren Kapitel nimmt Kierkegaard nun noch einmal den Einzelnen genauer in den Blick. Sowohl Adam als auch jeder spätere Einzelne haben die Sünde gesetzt. Wo jetzt Unfreiheit ist, muss festgehalten werden, dass der Mensch in Freiheit sich in diese Unfreiheit begeben hat. Damit ist die Situation eine grundlegend andere als die der Unschuld. Die Freiheit bleibt aber auf jeden Fall auch nach der erstmals gesetzten Sünde als Möglichkeit immer erhalten. Und insofern gilt auch hier, was Kierkegaard für den Zustand der Unschuld in den ersten Kapiteln herleitete: die Freiheit als Möglichkeit löst Angst aus. Nur hat die Angst jetzt andere Erscheinungsformen,
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und die untersucht Kierkegaard in diesem Kapitel. Dazu unterscheidet er die Angst vor dem Bösen und die Angst vor dem Guten, die er das Dämonische nennt. Die Angst vor dem Bösen (§1) ist fixiert auf die geschehene Sünde. Egal ob diese verleugnet wird (§1a), oder ob die Angst vor der Möglichkeit erneut zu sündigen, den Menschen in der Sünde festhält, obwohl er sie gerade vermeiden will (§1b), oder ob die Sünde in Reue ständig vor Augen gehalten wird, aber niemals überwunden werden kann (§1c) – es gilt für diese Angst immer, dass sie ein unfreies Verhältnis zum Bösen ist und deshalb Sündenknechtschaft ist (XI, 123). Die Angst vor dem Guten hingegen ist ein unfreies Verhältnis zum Guten. Dieser Abschnitt über die Angst vor dem Guten (das Dämonische) muss nun besonders interessieren, weil hierin das Phänomen der Verschlossenheit entfaltet wird, das für Überlegungen zur Sprache wichtig ist. Das Dämonische, das als Verschlossenheit erscheint, ist für Kierkegaard also die Angst vor dem Guten, d.h. ein unfreies Verhältnis zum Guten. Was bedeutet hier das Gute? Kierkegaard sagt dazu: Das Gute ist nicht Gegenstand der Freiheit, der gewählt werden kann, sondern es ist die Freiheit, wo sie vollzogen wird (XI, 114). Kierkegaard bezeichnet Freiheit als Vollzug, als Handlung und grenzt sich ab gegen ein Verständnis von Freiheit, das sie als Gedanken, als eine Reflexion fassen will. Als Handlung muss der Vollzug der Synthese verstanden werden, durch die der Mensch sich als Selbst setzen muss.24 Dieses in Freiheit zu vollziehen, heißt, sich in guter Weise zu sich selbst zu verhalten. Wo das geschieht, ist Freiheit identisch mit dem Guten. Die Angst vor dem Guten ist dann die Angst davor, die Synthese des Selbst frei in guter Weise neu zu setzen. Wie nebenbei erwähnt Kierkegaard Erlösung und verortet seine Überlegungen damit in der Theologie: Das Gute bezeichnet er als „Wiederherstellung der Freiheit, Erlösung, Errettung“ (XI, 123). Erlösung ist dann die Handlung, in der das Selbst sich in Freiheit neu als Synthese setzt. Das ist immer möglich. Deshalb definiert Kierkegaard das Dämonische als einen Zustand (XI, 116, 118, 127) und will damit festhalten, dass in jedem Moment die Synthese in Freiheit gesetzt werden kann. Mit der Charakterisierung als Zustand ist ausgeschlossen, dass es sich beim Dämonischen um eine Verschreibung an das Böse handelt. Der Mensch ist als Dämonischer nicht durch und durch böse, er kann in jedem Moment sich in Freiheit zum Guten verhalten. Wenn er allerdings freiwillig die Unfreiheit gewählt hat, hält er meist beharrlich ————— 24 Dass Kierkegaard den Vollzug der Synthese bzw. das Setzen des Selbst im Selbstbewusstsein als Handlung verstanden wissen will, formuliert er später in diesen Kapitel noch einmal: Das Selbstbewusstsein ist nicht Betrachtung, denn es gibt nichts Abgeschlossenes zu betrachten. Das Selbst ist immer im Werden und insofern ist alles Selbstbewusstsein Handlung (XI, 149).
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daran fest. Er will sich nicht helfen lassen. Er zieht sich in dämonische Verschlossenheit zurück.25 Das Phänomen der Verschlossenheit ist eine widersprüchliche Erscheinung. Der Verschlossene verweigert sich jedem Verhältnis nach außen, er schließt sich ein. Indirekt hat er aber doch ein Verhältnis, denn er kann sich nicht dagegen verwehren, wenn von außen Kontakt zu ihm aufgenommen wird. Das, was von außen an ihn herantritt, bezeichnet Kierkegaard als die Berührung der Freiheit (XI, 127). Es ist die Möglichkeit, sich selbst in Freiheit neu zu setzten, die dem Verschlossenen immer offen steht. Die Freiheit bricht das Verhältnis zu dem Verschlossenen nie ab. Der Verschlossene jedoch verweigert sich und kann doch die Berührung durch diese Möglichkeit nicht vermeiden. Das ist die widersprüchliche Situation ————— 25 In Entweder – Oder führt Kierkegaard aus, dass das Dämonische seinen Ausdruck im Musikalischen findet. Das zwiespältige Verhältnis des Dämonischen zur Freiheit hat dort eine Entsprechung in einem ebenso zwiespältigen Verhältnis der Musik zum Geist. Alles, was geistig bestimmt ist, muss seinen Ausdruck in der Sprache finden (vgl. zu Geist und Sprache im Aufsatz über die Musik oben FN 40). Das Unmittelbare kann in Musik ausgedrückt werden, aber wenn es in den Bereich des Geistigen fällt, ist die Musik nur wie ein Vorspiel, das in die Sprache hin aufgehoben wird. „Ist das Unmittelbare, geistig bestimmt, dagegen so bestimmt, daß es aus dem Geiste herausfällt, so hat die Musik an ihm ihren absoluten Gegenstand“ (I, 75). Hier ist die widersprüchliche Beziehung zum Geist ausgedrückt: es fällt aus dem Geist heraus, ist aber dennoch geistig bestimmt. Das ist wie der Bezug der Angst auf die Freiheit: sie grenzt sich von der Freiheit aus, ist aber dennoch von ihr bestimmt, insofern sie sich der Forderung der Freiheit oder der Berührung der Freiheit von außen nicht entziehen kann. Von dieser Beziehung der Musik zum Geist kommt Kierkegaard zur Hauptaussage seines Aufsatzes, dass die sinnliche Genialität der absolute Gegenstand der Musik ist (I, 75 u.ö.). Die sinnliche Genialität z.B. des Don Juan ist für Kierkegaard eine Form des Dämonischen. Don Juan steht für Leidenschaft, Lust, Rausch und Taumel. Sprache, Gedanken und Reflexion haben dabei keinen Ort oder wie Kierkegaard damit gleichsetzt: der Geist will damit nichts zu tun haben (I, 96). Die Sinnlichkeit des Don Juan ist das Dämonische, das nur in der Musik ausgedrückt werden kann. Es tritt in Gegensatz zum Geist, dessen Medium die Sprache ist. Die Musik ist der Sprache am nächsten, aber sie ist nicht wirklich vom Geist durchdrungen. Sie ist nicht geistig bestimmt, aber ist das Ausdrucksmittel für das, was vom Geist ausgeschlossen ist (I, 70f.). So wie das Dämonische einen Bezug zum Religiösen hat, obwohl es gerade von ihm ausgeschlossen ist, so ist die Musik der Sprache zugeordnet, obwohl sie gerade etwas anderes ist. Die enge Verwandtschaft von Musik und Sprache ist darin begründet, dass sich beide, einmal positiv, einmal negativ auf den Geist beziehen. Die Musik umgrenzt das Reich der Sprache, sagt Kierkegaard und führt das sehr anschaulich aus: in der einen Richtung kann Sprache immer musikalischer werden, das beginnt damit, dass Prosa im Vortrag und in der Rhetorik Musikalisches nutzt, und steigert sich in der Poesie bis dahin, dass sich das Musikalische so weit entfaltet, dass die Sprache aufhört und alles Musik wird; in der anderen Richtung kann man zurückgehen von begrifflich durchstrukturierter Sprache zu Interjektionen zu Kinderlallen, in dem die Grenze zwischen Sprache und Musik zu hören ist (I, 73). In Form von zwei Fragen sei eine Richtung angedeutet, in der das Verhältnis von Sprache und Musik interpretiert werden könnte. Verliert sich die Musik ganz in der Möglichkeit, die bei Kierkegaard der Ewigkeit zugeordnet ist, während die Sprache auf die Wirklichkeit bezogen bleiben muss, deshalb umgrenzter ist als die Musik, aber nur deswegen das Ewige im Zeitlichen zur Sprache bringen kann? Bildet die Musik zur Sprache so wie die dämonische Angst zum Glauben bildet?
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des unfreiwillig Offenbarwerdens: Die Möglichkeit der Freiheit führt zum Offenbarwerden, d.h. zum Aufbrechen der Verschlossenheit; da der Verschlossene sich dem aber verweigert, geschieht dies unfreiwillig. Kierkegaard verdeutlicht diese Widersprüchlichkeit an der Redewendung: jemand wolle nicht mit der Sprache herausgehen (XI, 128).26 In dieser Redewendung steckt einmal das Moment der Verweigerung im ‚er will nicht‘. Darin steckt aber auch das Offenbarwerden, nämlich in dem Wort ‚herausgehen‘. Herausgehen heißt, dass der Dämonische aus seiner Verschlossenheit herausgeht. Interessant ist, dass es sich um ein Herausgehen mit der Sprache handelt. Das unfreiwillige Offenbarwerden geschieht durch Sprache. So ist es auch in den Beispielen, die Kierkegaard für das unfreiwillige Offenbarwerden anführt (XI, 128f). Da sind einmal die Dämonen aus dem Neuen Testament. Sie weisen Christus von sich aus Angst vor dem Guten, das ihnen in der Gestalt Christi gegenübertritt. Sie wollen nichts mit ihm zu tun haben, verweigern die Kommunikation, aber dabei kommunizieren sie bereits unfreiwillig. Sie offenbaren mit ihrer Abwehr ihre Angst. Das ist nur ein indirektes Verhältnis, aber es ist bereits eine Form von Kommunikation, und so bewegen sich schon ein wenig aus ihrer Verschlossenheit heraus. Als weiteres Beispiel beschreibt Kierkegaard einen Verbrecher, der nicht mit der Sprache herausgeht, weil er sich durch das Geständnis mit Forderungen der Gerechtigkeit und der Strafe auseinandersetzen müsste. Konfrontiert mit der Forderung der Gerechtigkeit, hier in Person des Richters, kann er der Kommunikation damit aber nicht ausweichen, wird sich also unfreiwillig offenbaren. Kommunikation geschieht also unabhängig davon, ob sie freiwillig oder unfreiwillig ist, ob es sich um ein direktes oder indirektes Verhältnis handelt. Darin zeigt sich, dass Sprache, auch wenn die inhaltliche Aussage Abwehr ist, bereits an sich ein Herausgehen ist. In der Redewendung von demjenigen, der nicht mit der Sprache herausgehen will, ist schon enthalten, dass das Offenbarwerden, also das Herausgehen aus der Verschlossenheit, durch Sprache geschieht. In den Ausführungen über die Verschlossenheit als das unfreiwillig Offenbare finden sich weitere Aussagen, die dies bestärken, dass nämlich das Aufbrechen der Verschlossenheit und damit die Einsetzung der Freiheit ein sprachliches Geschehen ist: „Die Sprache, das Wort ist das Befreiende“ (XI, 128) ist da zu lesen, oder „Freiheit ist immerfort ‚kommunizierend‘ …, die Unfreiheit wird immer mehr verschlossen und will keine Kommunikation“ (XI, 128), und „In der Sprache liegt nämlich die Kommunikation“ (XI, 128). Was ————— 26 Im Dänischen (han vil ikke rykke ud med Sproget), also wörtlich ‚ausrücken‘, ist besser als in der deutschen Übersetzung zu hören, dass beim Herausgehen ein Widerstand zu durchbrechen ist.
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meint hier Kommunikation, und wie ist Sprache befreiend? Das sind die Fragen, die die folgende Auslegung des Kapitels leiten.27 Befreiung ist für Kierkegaard eine Bewegung der Ausweitung, die im Gegensatz steht zu einer Bewegung der Verengung, die zu Verschlossenheit führt. Er beschreibt Freiheit mehrmals in diesem Kapitel als das Ausweitende (XI, 128: „Freiheit ist eben das Ausweitende“, auch XI, 139): ein Mensch kann ausgeweitet sein in Freiheit, im Guten, in einer großen Idee. Ausgeweitetsein ist die Gegenbewegung zum Verschlossensein. Wo ein Mensch ausgeweitet ist, öffnet er sich in alle Richtungen, während der Verschlossene sich immer mehr in sich zusammenzieht, sich gegen alles von außen Kommende abschottet. Wo ein Mensch sich öffnet, sich ausweitet, wird er befreit. Wo er sich verschließt, setzt er sich selbst gefangen. Die Bewegung der Ausweitung ist eine Befreiung, ist die Freiheit. 28 Wenn Kier————— 27 Der Begriff Kommunikation soll hier im Zusammenhang der Entwicklung des Selbst interpretiert werden. Dieser Begriff verdient eigene Aufmerksamkeit, und es überzeugt nicht, wenn zum Stichwort Kommunikation bei Kierkegaard gleich auf die Theorie der indirekten Mitteilung eingegangen wird, so wie es z.B. Bejerholm in seinem Artikel über Kommunikation tut (BEJERHOLM, L., Communication, in: Thulstrup, M. (Hg.), Concepts and Alternatives in Kierkegaard, Kierkegaardiana 3, Kopenhagen 1980. 52–59). Bejerholm beginnt seinen Artikel mit der Feststellung, dass der Gebrauch des Wortes Kommunikation bei Kierkegaard im Begriff Angst vage sei und sich mit anderen Begriffen wie Verhältnis, Berührung oder Gemeinschaft überschneide und geht dann sofort über zu einer Darstellung der Theorie der indirekten Mittelung. Um solche Ungenauigkeiten zu vermeiden, ist eine systematische Unterscheidung von Mitteilung und Kommunikation bei Kierkegaard sinnvoll, wie sie Wilke in seinen Studien vorschlägt und durchführt (WILKE, M., Die Kierkegaard-Rezeption Emanuel Hirschs. Eine Studie über die Voraussetzungen der Kommunikation christlicher Wahrheit, Tübingen 2005). 28 Die Rede vom Weitwerden ist bei Kierkegaard eine häufig gebrauchte. Einige Beispiele seien zitiert. In einer Erbaulichen Rede spricht Kierkegaard davon, „daß Hiobs Seele nicht zusammengepreßt ward in des Leides stummer Unterwerfung, sondern daß sein Herz zuerst weit ward in Dankbarkeit“ (VII, 12). Ähnlich ist die Beschreibung in einer anderen Rede, wo es darum geht, dass es gut für den Menschen ist, den täglichen Kreislauf von Sorge und Freude zu unterbrechen, denn dann weitet sich die Seele des Menschen aus hin auf Größeres als Sorge. Die Seele bleibt dann nicht in Selbstbekümmerung und Selbstbeschäftigung stehen, sondern wird durch Betrachtung bewegt (VIII, 120f.). Da ist das Weitwerden der Punkt, an dem der Mensch von sich selber und seinen Sorgen läßt und sich Gott anvertraut. Das Weitwerden kann am besten in der Stille geschehen: „Die Lippe ist geschlossen und allein das Herz tut sich weit auf. … da, wo alles schweigt, wo keiner ausspricht und nennt, was da im Innern vorgeht, wo Stille um einen Menschen herumwächst, da kann er bei Gott sein im Verborgenen“ (XIII, 80). Schließlich sei noch eine Stelle benannt, an der das Weitwerden passend zu den Gedanken im Begriff Angst mit der Möglichkeit verbunden ist. Wie es für den Leidenden eine Linderung ist, sich im Vertrauen einem Freund zu öffnen, so ist auch die Erlösung durch die Entscheidung des Ewigen, die, dass der Leidende, während der Zwang der Notwendigkeit gleichsam das Herz zusammenpressen will, sich dem Ewigen öffnet und ewig darin einwilligt, alles leiden zu wollen (XVIII, 126). Die Notwendigkeit ist das, was zusammenpresst, während die Möglichkeit, die mit dem Glauben verbunden ist, den Menschen weit werden lässt. Mit dem Weitwerden knüpft Kierkegaard an ein Motiv in biblischer Tradition an. Jesaja z.B. stellt sich die Herrlichkeit so vor: „Dann wirst du deine Lust sehen und vor Freude strahlen, und
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Kierkegaard Sprache als das Befreiende bezeichnet, bedeutet das, dass sich in ihr die Ausweitung vollzieht. Es ist zu bemerken, dass der räumliche Begriff der Ausweitung ganz in die Nähe der Kommunikation rückt. Hirsch übersetzt in seinem Text dieses Kapitels Kommunikation oft mit Berührung der Freiheit und setzt ‚kommunizieren‘ in Klammern. Berührung ist eine Bewegung im Raum und erinnert daran, dass der sprachliche Sinn von Kommunikation seinen Ursprung in der Bedeutung des Gemeinschaft Habens hat. Diese Nähe von Raum und Sprache hat ihren Grund darin, dass Sprache selbst eine räumliche Dimension hat: durch Sprache kann sich ein Mensch von sich und seiner Welt distanzieren, und zugleich kann er durch Sprache mit dem, was ihm äußerlich ist oder sogar räumlich weit entfernt, eine innige Beziehung eingehen. Wie die räumliche Bewegung der Ausweitung mit der sprachlichen der Kommunikation korrespondiert, kann man in diesem Kapitel gut beobachten. Dabei lässt sich das Ausgeweitetsein vom Text her in drei Richtungen differenzieren: ein Mensch kann sich tieferen Dimensionen seines Selbst öffnen und wird dann gleichsam in seine eigene Tiefe ausgeweitet; er kann sich ausweiten auf ein Göttliches hin; und schließlich kann er sich ausweiten hin zu anderen Menschen. Diese Bewegung der Ausweitung vollzieht sich als Kommunikation, genauer als Kommunikation mit sich selbst, mit Gott, mit den Nächsten. Mit Blick auf diese drei Richtungen des Ausgeweitetseins soll jetzt vom Text her genauer beschrieben werden, worin Kommunikation und das Befreiende der Sprache besteht. Das wird jeweils verdeutlicht in der Gegenbewegung des Verschlossenseins. Zuerst zur Ausweitung des eigenen Selbst. Freiheit ist für Kierkegaard fest verbunden mit Offenbarwerden. Er merkt an, dass er es auch Durchsichtigwerden nennen könnte (XI, 131).29 Wo ein Mensch etwas offenbart, macht er es durchsichtig. Hier beschreibt die räumliche Ausdrucksweise sehr konkret ein Kommunikationsgeschehen. Der Verschlossene mauert etwas ein und verstellt sich damit den Blick. Wenn dagegen etwas durchsichtig wird, eröffnen sich neue Perspektiven. Der Gegenstand, der durchsichtig wird, kann in neuem Zusammenhang gesehen werden. Der Blick kann weiter werden, gewissermaßen durch den Gegenstand hindurch. Dieser weite Blick konfrontiert den Menschen – in einer Weiterführung der räum————— dein Herz wird erbeben und weit werden, … (Jes 60,5). Ein anderes Beispiel ist Psalm 31, in dem es auch um Angst geht. Die Erlösung aus Bedrängnis ist dort beschrieben in dem Satz: Du stellst meine Füße auf weiten Raum. In diesem Psalm ist Gott die Burg und die feste Stadt, und diese Bilder entsprechen dem, was Kierkegaard die Verschlossenheit im Göttlichen nennt. 29 Vielleicht verweist Kierkegaard damit schon auf seine spätere Formulierung vom Selbst, das sich durchsichtig gründet im Göttlichen. Das ist in der Krankheit zum Tode seine Formel für den Glauben.
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lichen Ausdrucksweise gesprochen – mit der Frage, was ihn trägt. Die Weite, die dem Menschen durch all seine Möglichkeiten offen steht, verweist in die großen Zusammenhänge seines Lebens. Wo ein Mensch sich einschließt, verstellt er sich den Blick auf die tiefere Dimension seines Lebens. Wo er sich offenbart, kann er sich selbst durchsichtig werden.30 Kierkegaard hat eine Begründung dafür, dass er Durchsichtigwerden als Synonym für Offenbarwerden gebraucht: das Durchsichtigwerden bringt besser zum Ausdruck, dass es sich um ein innerliches Geschehen, also um eine Bewegung des Selbst handelt. Nachdem er klargestellt hat, dass es sich beim Offenbarwerden nie nur um etwas Äußerliches handeln kann, hält er dann aber an der Rede vom Offenbarwerden fest. Vielleicht hat das damit zu tun, dass das Durchsichtigwerden sich eindeutig auf das Sehen bezieht, während das Offenbarwerden trotz der ursprünglich räumlichen Bedeutung enger mit Hören bzw. Sprechen verknüpft ist, und das Sprechen ist es ja, um das es Kierkegaard hier zu tun ist: jemand kommt mit der Sprache heraus, er offenbart sich. Beim Offenbarwerden geht es zum einen ganz äußerlich um das Aussprechen. Das breit ausgeführte Beispiel des Verbrechers beim Verhör steht für diese äußerlichste Form des Offenbarwerdens: das Geständnis (XI, 129). Weiter kann das Aussprechen die Wirkung eines Zauberwortes haben (XI, 131). Kierkegaard scheint hier an Bedrängnisse zu denken, die in ihrer Unbestimmtheit Menschen ängstigen. Wo der eigentliche Grund der eigenen Verunsicherung benannt ist, verlieren sie oft schon viel von ihrem Schrecken.31 Auch die Nennung des Namens hat eine ähnliche Funktion. Das ist als Märchenmotiv ebenso bekannt wie als psychologische Beobachtung: sobald etwas beim Namen genannt wird, kann es zu einem Gegner oder Verbündeten werden, zu dem man sich bewusst verhalten kann und der so bekämpft und überwunden, oder als Stärkung der eigenen Kräfte eingesetzt werden kann. Zur Nennung des Namens erwähnt Kierkegaard auch den Schlafwandler, der erwacht, wenn er beim Namen gerufen wird (XI, 131). Vielleicht verweist der Schlafwandler auf den schlafendträumenden Geist in der Unschuld. Der träumende Geist konnte den Unterschied des Selbst und seines anderen, also die Momente der Synthese, die ————— 30 Dieses sich selbst Durchsichtigwerden verweist eindeutig in religiöse Zusammenhänge. In einem Text aus den Stadien auf des Lebens Weg, in dem es um den Umgang mit einem Vergebungswort geht, heißt es, dass Sündenvergebung bedeute, sich dermaßen durchsichtig zu werden, dass man weiß, man existiere an keinem Punkt in Kraft der Unmittelbarkeit (XV, 513). Hier geht es um eine große Weite, die an nichts Unmittelbares gebunden ist. Der Mensch wird durch die Vergebung in die Weite seiner Freiheit gesetzt. 31 In diesem Sinne kann man auch den Titel der Schrift lesen: das dänische ‚begrebet‘ kann auch als Adjektiv zu ‚angest‘ verstanden werden und dann handelt das Buch von der begriffenen Angst, wäre also ein Versuch, Angst auszusprechen, zu analysieren und damit den ersten Schritt zur Befreiung zu tun.
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der Mensch ist, nur andeuten und ahnen, aber nicht präzis beim Namen nennen. Wo der Geist unterscheidend durchdringt und die Synthese neu zu setzen versucht, ist er mit der Sprache herausgekommen. Er ist offenbar geworden als Sünde oder als Freiheit. Zum Offenbarwerden gehören für Kierkegaard schließlich auch religiöse Vollzüge, die den Zusammenhang der Beichte anklingen lassen. Er denkt dabei sicher nicht nur an die ritualisierte Beichtsituation, wo es auch um das hörbare Aussprechen geht. Das Offenbarwerden kann sich auch ganz im Gewissen vollziehen.32 In jedem Fall geht es darum, wie man sich zu seiner Sünde verhält. Der Verschlossene grenzt die Sünde aus, schließt sie ein, versteckt sie und hält sie damit gerade fest. Die andere Möglichkeit ist, die Sünde ‚in Freiheit auf sich zu nehmen‘, sie ‚in Freiheit zu durchdringen‘, wie Kierkegaard sich ausdrückt (XI, 133). Damit meint er, dass die Sünde im Offenbarwerden durch das Aussprechen zu einem Gegenüber wird, zu dem dann ein neues Verhältnis möglich wird. Das Andere des eigenen Selbst, das einem fremd ist, wird benannt und kann so in das eigene Selbst integriert werden. Im Anschluss an die Überlegungen zum 1.Kapitel des Begriffs Angst kann man auch sagen: es entwickelt sich ein Gespräch im Menschen. In einem Gespräch der Angst wird eine Äußerung des Menschen festgehalten, Erwiderungen werden abgelehnt und es ist kein Gespräch mehr möglich. In der Freiheit geht es um einen echten Austausch. Auch die Sünde hat in einem solchen Gespräch ihren Platz. Sie wird offenbar, indem sie ausgesprochen wird. Das eröffnet die Möglichkeit, dass sie im Gespräch durchsichtig, d.h. in einen Zusammenhang gestellt wird. Wo Sünde in Freiheit durchdrungen und damit verwandelt wird, geht es schon um mehr als ein Durchsichtigwerden des eigenen Selbst, um mehr als Kommunikation mit sich selbst. Da geht es um das, was Kierkegaard als Erlösung und Versöhnung bezeichnet. Das ist die religiöse Dimension des Ausgeweitetseins in Freiheit, die im Begriff der Kommunikation mitgedacht ist. Wie nebenbei erwähnt Kierkegaard, dass er Kommunikation auch explizit religiös verstanden wissen will (XI, 128). Kommunikation in dieser religiösen Bedeutungsdimension beginnt da, wo ein Mensch seine Sünde durchdringt, sie offenbar macht durch Aussprechen in einer Beichtsituation oder in seinem Gewissen. Zur Kommunikation gehört dann wesentlich die Verwandlung der Sünde, die Versöhnung. Das Offenbarwerden ist nur der erste Schritt. Die Verwandlung geschieht, wo das Aussprechen der Sünde ————— 32 Das Gewissen ist es, das die Verschlossenheit entriegelt, schreibt Kierkegaard in einer Erbaulichen Rede (XIII, 60). Kein Gedanke kann so versteckt werden, dass er nicht vor dem Gewissen hervorkommen müsste. Dabei geschieht also etwas ähnliches wie bei dem Verbrecher, der vor dem schweigenden Richter sitzt und irgendwann gesteht.
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nicht das letzte Wort ist, sondern ein Mensch ein Vergebungswort hört. Er nimmt dieses Wort an und spricht es für sich nach und sein Selbst ist ein lebendiges Selbst, das sich in einem Gespräch entwickelt: das Selbst kann sein Anderes, das ihm fremd ist, in Freiheit integrieren. Diese Freiheit kommt ihm von außen zu: Ein Gegenüber spricht zu ihm und ermöglicht so das freie Selbstgespräch des Menschen. Diese Aussagen greifen weit voraus in spätere Schriften Kierkegaards und sind deswegen auch an späterer Stelle genauer zu thematisieren.33 Erwähnt werden muss aber noch, dass da, wo das Wort Kommunikation explizit religiös verstanden werden soll, an das Abendmahl zu denken ist. Im Abendmahl wird die Sünde in einen neuen Zusammenhang gesetzt und geht aus dieser Kommunikation in einer neuen Bedeutung hervor. Das Vergebungswort ist dabei nicht nur ein gesprochenes Wort, sondern seine sinnlich vernehmbare Seite wird verstärkt durch die sinnlich wahrnehmbaren Elemente des Sakraments. Das erinnert daran, dass das Gespräch im Menschen, in dem sein Selbst sich entwickelt, nicht allein von seiner Seele ausgeht, sondern ein Gespräch zwischen Leib und Seele ist. Dabei kann einem Menschen der Leib genauso fremd werden wie die Seele, die Verkehrung der Sünde ist ein Missverhältnis oder besser Missverständnis zwischen beiden. Noch deutlicher als beim sich offenbarenden Aussprechen im Gewissen kommt im Abendmahl die Freiheit von außen: das Wort des Sakraments eröffnet dem Menschen eine Weite, in der er für Gott geöffnet ist und den in Angst abgerissenen Faden seines Selbstgesprächs wieder aufnehmen kann, um ein Selbst zu werden, das sich durchsichtig in Gott gründet. Zur Ausweitung in Freiheit auf ein Göttliches hin ist noch hinzuzufügen, dass diese innere Weite nicht unbedingt dem korrespondiert, wie offen ein Mensch äußerlich wirkt. Ausgeweitet auf ein Göttliches hin sind für Kierkegaard auch Menschen, die verschlossen in einer großen Idee oder verschlossen im Guten sind. Verschlossenheit will Kierkegaard dabei nicht so verstanden wissen, wie es im Allgemeinen gebraucht wird, also als Beschreibung eines verschwiegenen, wortkargen, in sich zurückgezogenen Menschen (XI, 127). Bei Charakteren aus Shakespeares Dramen z.B. findet er solche verschlossenen Personen, bei denen die Zeit erweist, dass ihre Verschlossenheit im Bunde mit dem Guten war. Sie waren verschlossen in einer großen Idee, ihre Verschlossenheit nach außen erweist sich als ein Ausgeweitetsein in Freiheit in ihrer Idee (XI, 127f). Später nennt Kierkegaard diese Verschlossenheit ‚erhabene Verschlossenheit‘ (XI, 130). Wer im Guten verschlossen ist, wird weit im Göttlichen. So stellt sich ————— 33 Vgl. dazu das Kapitel 3, insbesondere die Abschnitte zum Hören (3.3), zum Übersetzen (3.5) und zum Gebet (3.6).
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Kierkegaard Sokrates vor. Dessen Ironie ist eine Form der Verschlossenheit: „Er hob damit an, sich gegen die Menschen zu verschließen, sich mit sich selbst einzuschließen, um weit zu werden in dem Göttlichen“ (XI, 139).34 Auch der Fromme aus Mt 6 klingt an, der sich in seine Kammer zurückzieht, um zu beten. Er schließt sich gegen andere Menschen ab, um mit sich allein zu sein. Aber er schließt sich nicht selber ein, wie der Verschlossene, sondern er wird weit im Göttlichen. Hier klingt wieder die Thematik späterer Schriften z.B. der Krankheit zum Tode an: wer sich mit sich selbst einschließt, sich selbst setzen will, begibt sich in Verzweiflung, während das wahre Selbst sich vom Göttlichen her empfängt. Deutlich ist jedenfalls, dass diese erhabene Verschlossenheit sich von der Verständigung über das eigene Selbst hin ausweitet zur Kommunikation mit dem Göttlichen. Kommunikation mit sich selbst und mit dem Göttlichen hängen hier so eng zusammen, dass der Umgang mit anderen Menschen die Konzentration auf diese Kommunikation stören kann. Das bedeutet aber nicht, dass Kommunikation nicht auch in zwischenmenschlichen Beziehungen eine Bedeutung als Ausdruck der Freiheit hat. Kommunikative Freiheit bzw. ihre angstvolle Verweigerung in Verschlossenheit prägen entscheidend die Kommunikation mit den Mitmenschen.35 So bedeutet kommunizieren für Kierkegaard ausdrücklich: nicht allein mit sich selbst in Gemeinschaft stehen bzw. kommunizieren (XI, 135). Ausgeweitetwerden bekommt hier die Richtung ————— 34 So charakterisiert Kierkegaard schon im Begriff Ironie den Standpunkt des Sokrates: die Subjektivität quillt nicht in ihrem Reichtum hervor, sondern verschließt sich vorher in Ironie (XXXI, 158). 35 Vgl. dazu CATTEPOEL, J., Dämonie und Gesellschaft. Søren Kierkegaard als Sozialkritiker und Kommunikationstheoretiker, Freiburg i.Br./München 1992. Cattepoel definiert das Dämonische als eine zerstörerische Beziehung zu den Mitmenschen und sieht das als Ansatzpunkt einer Gesellschaftsphilosophie bei Kierkegaard. So sehr Cattepoels These zuzustimmen ist, dass Kierkegaard ein Kritiker menschlicher Kommunikationsformen ist (z.B. 285) und damit auch ein Kommunikationstheoretiker, so wenig überzeugend ist seine Durchführung. Er interpretiert, dass es sich – egal ob in der Beziehung zwischen einer dämonischen Persönlichkeit und seinem Opfer oder in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen zwischen Institutionen/Ideologien und der Menge – um einen widersprüchlichen, in sich gebrochenen Dialog handelt, der eine Pervertierung von Macht darstellt. Die widersprüchlichen Kommunikationsformen, die Cattepoel in ihren zerstörerischen sozialen Auswirkungen ausführlich beschreibt, sind gut nachzuvollziehen. Die Frage der Macht jedoch ist m.E. an Kierkegaard herangetragen, ohne einen Ansatzpunkt in Kierkegaards Texten zu haben, ebenso die Perspektive der Opfer, die bei Cattepoel breiten Raum einnimmt, bei Kierkegaard dagegen gar nicht von Interesse ist. Beide Fehlinterpretationen scheinen damit zusammenzuhängen, dass Cattepoel außer acht lässt, dass Kommunikation bei Kierkegaard vom Selbst- und Gottesverhältnis her gedacht ist und erst von dort aus Wirkung auf die zwischenmenschliche und gesellschaftliche Kommunikation hat. Dieser Mangel zeigt sich besonders deutlich in seinem Kapitel mit den theoretischen Erörterungen zum Begriff des Dämonischen, das weitgehend eine Aneinanderreihung von Zitaten ist, die uninterpretiert bleiben.
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auf den Nächsten, den Mitmenschen hin. Kommunikation als Gemeinschaft mit anderen führt Kierkegaard nicht weiter aus. Aber an dem Verschlossenen und seinem Verhältnis zu seinen Mitmenschen zeigt sich doch recht deutlich, wie im Gegensatz dazu Gemeinschaft in freier Kommunikation vorzustellen ist.36 Der Verschlossene ist für andere daran erkennbar, dass er unfreiwillig offenbar wird. Er verrät sich durch Worte, Blicke, Gesten, Eitelkeiten, Krankheiten. Verschiedenste Taktiken beobachtet Kierkegaard: der Verschlossene kann sich offensiv gegen das Offenbarwerden sträuben, er kann sich willig dem Offenbarwerden fügen und sich erst im letzten Moment widersetzen und damit alle anderen täuschen (XI, 135f). Der Verschlossene erscheint seinen Mitmenschen unberechenbar. Wo ihn an einem empfindlichen Punkt die Freiheit unerwartet berührt, werden heftige Abwehrreaktionen ausgelöst. Kierkegaard fasst diese Unberechenbarkeit als das Plötzliche zusammen (XI, 134–136). Den Zusammenhang und die Kontinuität, die durch Sprache möglich werden, gibt es hier nicht. Es handelt sich um einen Scheinzusammenhang, der wie bei einem Kreisel oder einem Schwindel nur auf sich selbst bezogen ist, aber keinen Zusammenhang mit einem anderen haben kann (XI, 134).37 Dem Plötzlichen, das sich auf die Form bezieht, entspricht mit Bezug auf den Inhalt das Langweilige (XI, 137). Der Scheinzusammenhang nur in sich selbst ist inhaltsleer und deshalb langweilig. Wenn Kierkegaard die Verschlossenheit als das Plötzliche und das Langweilige beschreibt, fügt sich das gut in die Vorstellung des Gesprächs: das Plötzliche verhindert eine wirklichen Austausch, in Langeweile löst sich das Gespräch schließlich auf. In einem echten Gespräch hingegen werden die Widersprüche des eigenen Selbst und im Gegenüber zu anderen nicht in Angst verschleiert, sondern sie können in ihrer Spannung erhalten bleiben. Der Zusammenhang ist dadurch gegeben, dass sie im Gespräch bleiben, und das ist die Voraussetzung dafür, dass eine in sich dialektische Einheit möglich wird. Wo wirklich kommuniziert wird, öffnet sich ein Mensch für den anderen. Die kommunikative Freiheit in sich selbst konkretisiert sich in intersubjektiv realisierter Freiheit.38 ————— 36 Einige hermeneutische Überlegungen zu einem solchen Vorgehen anhand von Kierkegaards Beschreibungen eines verfehlten Selbstverhältnisses auch herauszuarbeiten, was damit über ein gesundes Selbstverhältnis gesagt ist, finden sich bei TIETZ, C., Freiheit zu sich selbst. Entfaltung eines christlichen Begriffs von Selbstannahme, Göttingen 2005. 25–33. 37 In der Krankheit zum Tode führt Kierkegaard diesen Gedanken noch weiter. Er erklärt, dass Menschen selten einen Zusammenhang und Kontinuität im Verhältnis zu ihrem Bewusstsein besitzen. Dort bestimmt er dann Ewigkeit als wesentliche Kontinuität. Die Ewigkeit verlange Kontinuität vom Menschen, er soll sich seiner bewusst sein und Glauben haben (XXIV, 105). So ist die Kontinuität Merkmal des Glaubens, was sich gut daran anschließt, dass das Plötzliche eine Form der Angst ist und damit Gegenteil des Glaubens. 38 Kierkegaard äußert sich dazu in späteren Schriften, z.B. in der Liebe Tun. Vgl. dazu LINCOLN, U., Äußerung. Studien zum Handlungsbegriff in Søren Kierkegaards Die Taten der
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Sprache befreit und weitet damit einen Menschen in Freiheit aus. Aus den bisherigen Überlegungen lässt sich zusammenfassend Kommunikation als folgende Bewegung beschreiben: Zuerst kann durch Aussprechen etwas nach außen dargestellt werden, so dass dem Menschen ermöglicht wird, sich dazu zu verhalten. Damit wird es offenbar, und das ist die Voraussetzung dazu, es in Freiheit zu durchdringen. Weiter heißt Kommunikation, dass Sprache den Zusammenhang ermöglicht. Die Sünde wird nicht abgekapselt, sondern der Widerspruch kann zusammengehalten und so ausgehalten werden. Durch Sprache und Kommunikation wird dann etwas in Bewegung gesetzt, ein neuer Zusammenhang kann hergestellt werden, eine Veränderung geschieht, die als Versöhnung erlebt wird. Durch befreiende Sprache kommt etwas verändert zurück. Der Gegensatz zu dieser Bewegung ist die Sprache der Verschlossenheit: es ist der Monolog, der immer bei sich selber bleibt (XI, 132). Das, was im – so verstandenen – Monolog ausgesprochen wird, tritt dem Verschlossenen noch nicht einmal wirklich gegenüber, sondern bleibt bei sich selbst und kann dann auch nicht verändert zurückkommen, sondern es muss alles so bleiben, wie es ist.39 Kierkegaard bezeichnet den Verschlossenen als leere Abstraktion (XI, 128). Der sprachliche Vorgang einer Abstraktion wird zum Vergleich für den Verschlossenen. Abstrahiert wird dabei in dreifacher Weise: Der Verschlossene abstrahiert vom Gegenstand, denn er schließt sich nicht mit etwas ein, er abstrahiert vom Gesprächspartner, denn er führt einen Monolog, und er abstrahiert von sich selbst als Sprecher, denn es fehlt ihm an Innerlichkeit und Gewissheit. Das ist eine Abstraktion von den drei wesentlichen Dimensionen der Sprache. Es zeigt sich in den Überlegungen Kierkegaards immer wieder, wie schwierig es ist, Freiheit als Kommunikation zu verstehen, weil sich wahre Kommunikation so schwer von allen sprachlichen Äußerungen der Unfreiheit ————— Liebe, Berlin/New York 2000. Lincoln arbeitet auch heraus, dass Kierkegaards Handlungsbegriff sprachlich gedacht ist. Die Forderung des Liebesgebots hat ebenso sprachliche Gestalt wie der Anspruch des Anderen und die Reaktion des Handelnden. Ein differenziertes Sprachgeschehen, das Lincoln schöpferische Sprache nennt, ist nötig, damit die Nächstenliebe weder sich in romantischer Spontaneität verliert noch sich in bürgerlicher Pflichterfüllung erschöpft. Die Fähigkeit des Selbst, lieben zu können, sucht nach Äußerung. Die Sprache ist dabei das Medium, in der Liebe leibhaft bestimmt sein kann, aber sich gleichzeitig ihre kreative Unbestimmtheit erhalten kann. 39 Als ein Verschlossener in diesem Sinne muss wohl derjenige gelten, der in EntwederOder von sich sagt: „Ich habe nur einen Freund, das ist Echo. Und warum ist es mein, mein Freund? weil ich meine Traurigkeit liebe und die nimmt es mir nicht. Ich habe nur eine Vertraute, es ist die nächtliche Stille, und warum ist sie meine vertraute? Weil sie stumm ist“ (I, 36). Hier kann man sehen, wie nahe der Monolog und die Stille beisammen liegen. Man kann aber auch sehen, dass der Verschlossene sich in seinem Monolog wohl fühlt. Hier gilt wohl das Wort von der süßen Angst.
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unterscheiden lässt. In diesem Kapitel über das Dämonische ist das Kriterium für die Unterscheidung zwischen Dämonischem und Freiheit – und damit auch zwischen der Sprache der Verschlossenheit und freier Kommunikation – für Kierkegaard die Innerlichkeit und Gewissheit: „Die Gewißheit, die Innerlichkeit, die allein handelnd erlangt wird und allein in der Handlung ist, entscheidet, ob das Individuum dämonisch ist oder nicht“ (XI, 144). Kierkegaard entwirft ein Schema von Aktivität und Passivität, mit der er das Ausbleiben der Innerlichkeit erfassen kann. Aberglauben und Unglauben, Heuchelei und Ärgernis, Stolz und Feigheit dienen dazu, sein Schema zu veranschaulichen. Hier seien als Beispiele der Freidenker und der Orthodoxe herausgegriffen, weil man bei ihnen ihr unfreies Verhältnis zu ihrem religiösen Bewusstsein gut an ihrem Umgang mit der Sprache ablesen kann. Der eine klammert sich an äußere Worte, Rituale und an den Wortlaut der Überlieferung. Die Innerlichkeit einer lebendigen Gottesbeziehung, die eigentlich sein Anliegen ist, geht verloren. Seine Sprache wird zu Formeln, sie erstarrt in ihrer Klang- oder Schriftform, der Sinn der Sprache, das Hinweisende darin, die Aneignung des Gehalts gehen verloren. Umgekehrt der Freidenker, für den alle äußere Form keine Verbindlichkeit hat. Leicht wird bei ihm alle Rede zu Spott, er traut der Sprache nicht mehr zu, dass sie Wahrheitsgehalte aussagen kann. Dadurch erweisen sich die beiden als Dämonische, denn es fehlt nicht am Inhalt, also hier dem Religiösen, mit dem sie sich ja beschäftigen, sondern sie haben Angst vor dem Inhalt. Es ist also ein Verhältnis, aber wieder ein unfreiwilliges, indirektes Verhältnis, das so charakteristisch für das Dämonische ist. Der Angst vor dem Inhalt besteht darin, den Inhalt auf sich selbst zu beziehen: Eine Rede verstehen ist eines, das Hinweisende darin verstehen ist ein anderes; verstehen, was man selber sagt, ist eines, sich selbst verstehen in dem Gesagten, ist ein anderes. Je konkreter der Bewusstseinsinhalt ist, desto konkreter wird das Verständnis, und sobald dieses im Verhältnis zum Bewusstsein ausbleibt, haben wir eine Erscheinung der Unfreiheit, die sich wider die Freiheit verschließen will (XI, 148).
Dies ist ein paralleler Gedanke zu der Unterscheidung von Gut und Böse im ersten Kapitel. Dort konnte auch der Unterschied in der Sprache sein, bevor er in Freiheit verstanden wurde. Hier kann die Rede von Religion sein, aber verstanden ist sie erst da, wo sie vollzogen wird. Die Bewegung der Freiheit in der Religion spiegelt sich also in der Sprache: Freiheit ist weder abstrakte Freiheit wie beim Freidenker noch Unfreiheit wie beim Orthodoxen, sondern ein lebendiger Vollzug, der religiöse Formen und ihre Inhalte im eigenen Leben umsetzt. Dem entspricht eine lebendige Sprache, die weder am äußeren Wortlaut festhält noch die Festlegung in sprachliche Formen scheut, sondern in Kommunikation mit sich selbst, dem Göttlichen und
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anderen Menschen die Bewegung der Freiheit immer neu zum Ausdruck bringt.40 Zur Bestimmung der Freiheit als Kommunikation ist noch ein Gedanke hinzuzufügen, der schon in das nächste Kapitel hinüberführt: Wie verhält sich diese Kommunikation zu Reden und Schweigen? Es fällt auf, dass die Freiheit nicht vordergründig in Worten kommuniziert. Das wird klar an den schon erwähnten Dämonen im Neuen Testament und dem verstockten Verbrecher, der dem Richter gegenübersitzt. Die Freiheit, die in den beiden Beispielen die Unfreiheit von außen berührt, ist zunächst schweigend: sowohl Christus als auch der Richter schweigen. Die befreienden Worte müssen vom Verschlossenen kommen. Die Freiheit kann nicht von außen eingesetzt werden, dann wäre sie keine Freiheit mehr. Nur der Verschlossene selbst kann seine Unfreiheit aufbrechen. Dabei ist das Schweigen des Gegenübers aber sehr wesentlich. Im Beispiel vom Verbrecher, der dem schweigenden Richter gegenübersitzt, der auf das Geständnis wartet, stellt Kierkegaard fest, dass dies nicht in einsamer Haft funktioniert, sondern nur in Konfrontation mit dem Schweigen des Richters.41 ————— 40 Freiheit ist keine abstrakte Freiheit von etwas, sondern eine konkrete Freiheit zu etwas, also die Freiheit, eine Bindung einzugehen. Eben dies spiegelt sich in der Sprache, wie Kierkegaard schon in der frühen Schrift über die Ironie erläutert: Ein Sprecher ist in seiner Aussage gebunden, d.h. er ist positiv frei in ihr und hinsichtlich seiner selbst gebunden, kann sich von dem Gesagten nicht losmachen. In der Ironie hingegen ist das Subjekt negativ frei, d.h. wenn die Aussage das Gegenteil meiner Meinung ist, bin ich frei auf andere und auf mich selbst (XXXI, 251). 41 Wo es nicht das Schweigen ist, sind es Andeutungen, die im Umgang mit Verschlossenen entscheidende Wirkung haben. „Eine zufällige Bemerkung kann am allermeisten stören. Wenn man mit seinen Berechnungen alles umspannt hält, kann da plötzlich eine Bemerkung fallen, die nahe an das Entscheidende rührt, ohne es zu ahnen“ (XV, 394). Das ist so eine Situation, in der ein Verschlossener unberechenbar wird, in der das Plötzliche hervortritt. Wo alle Berechnungen scheitern, fühlt er sich plötzlich mit der Wahrheit konfrontiert. Dann wird sich zeigen, ob seine Verschlossenheit stark genug ist, das abzuwehren. Kierkegaard weiß, dass man im Umgang mit einem Verschlossenen verloren hat, wenn man auf ihn eindringt. Man darf ihn, ähnlich wie bei einem Gichtkranken, der Angst vor Zug hat, anrühren mit einer zufälligen leichten Andeutung, die man nicht weiter verfolgt. Man beobachtet ihn dann, „wenn er sich zufällig einmal ein bisschen Luft gemacht hat. […]. Er bereut, daß er etwas gesagt hat, er will den Eindruck verwischen, man schweigt, nun wird er mißtrauisch gegen sich selbst, , daß es ihm nicht gelungen ist, er will einen Gesprächübergang machen, das mißlingt, wenn nicht auf andre Weise, so durch seinen Eifer im Verbergenwollen. […] die Kunst ist, ein bißchen davon zu sprechen (denn daß man ganz und gar schweigt, das wäre unklug) und also eine verzehrende Leidenschaft am Zügel der Unterhaltung so schmiegsam zu halten, daß man gleich einem Reiter sie mit einem Seidenfaden lenken […] kann“ (XV, 229f). Wieder muss das entscheidende Wort vom Verschlossenen selbst kommen. Andeutungen können dem Verschlossenen helfen, aber sie können auch die gegenteilige Wirkung haben. Das zeigt sich nicht nur im Leiden des Quidam, der sich wegen einer Andeutung des Mädchens selbst als Mörder anklagt, sondern auch eine kleinen Geschichte, die Kierkegaard in einem Essay über die Möglichkeit berichtet (XV, 292–305). Er erzählt dort von einem Mann, der ein Buchhalter und Kinderwohltäter ist. Er verfolgt die Möglichkeit, dass er vielleicht einmal ein Kind gezeugt
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Die Beobachtung, dass die Freiheit kommunizierend ist, dass die eigentlich befreienden Worte aber vom Verschlossenen selbst kommen müssen, steht sicher in Beziehung zu Kierkegaards Methode der ‚indirekten Mitteilung‘: Er selber will mit seinen Schriften auf die Kommunikation der Freiheit aufmerksam machen, aber den eigentlichen Vollzug der Freiheit kann nur der Leser selbst vornehmen. Zwischen dem Reden der Angst, das letztendlich ins verbissene Schweigen führt, und dem befreienden Reden liegt ein Schweigen, das den befreienden Worte Raum gibt.42 Diese Schnittstelle des Schweigens, das wirkliche Kommunikation ermöglicht, ist im nächsten Kapitel anhand anderer Schriften Kierkegaards in den Blick zu nehmen. Hier sei abschließend noch darauf hingewiesen, dass im Begriff Angst sehr deutlich herausgearbeitet ist, dass Schweigenkönnen mit der Tiefe des Bewusstseins zu tun hat: Je mehr das Bewusstsein in einem Menschen ausgeprägt ist, desto mehr vermag er zu schweigen. Das gilt für denjenigen, der sich im Guten verschließt und deshalb schweigt: „Je bestimmter […] das Gewissen in einem Menschen entwickelt ist, desto mehr ist er ausgeweitet, ob er sich im Übrigen gleich abschließt von der ganzen Welt“ (XI, 139). Das gilt aber ebenso für den dämonisch Schweigenden, der umso beharrlicher schweigt, je größer seine Angst ist. Umgekehrt stellt Kierkegaard fest, dass untergeordnete Menschennaturen in Unschuld daran gewöhnt sind, ihr Herz auf der Zunge zu tragen (XI, 129). Durch das Schweigen kann Macht auf andere ausgeübt werden. Ein Verschlossener kann ————— hat, mit leidenschaftlicher Forschung und diese Möglichkeit brütet in seinem Schweigen und brachte die Züge seines Gesichtes in Bewegung, wenn er ein Kind sah. Irgendwann macht ein Vetter einen dummen Spruch, nämlich dass niemand wisse, wie viele Kinder man in die Welt gesetzt habe. Das Schweigen des Verschlossenen und der Witz des Offenherzigen prallen hier aufeinander. Der Verstand hält es nicht mehr aus, der Mann wird wahnsinnig. Das fatale Ende der Geschichte zeigt, dass Offenheit nicht immer die Berührung der Freiheit ist. Vielleicht hat es damit zu tun, dass ein Mensch einem anderen nie so nahe sein kann, dass er ihn wirklich in dem Sinne berühren kann, wie Kierkegaard von der Berührung der Freiheit redet. Menschen können in seelsorgerlicher Weise Andeutungen machen. Die Berührung der Freiheit kann letztlich nur durch Gott geschehen. 42 Dass Kierkegaard immer wieder darauf zurückkommt, wie Worte die Verschlossenheit aufbrechen können, hat vielleicht auch einen biographischen Grund. In der Osterwoche 1838 erlebt er, was er in seinem Tagbuch folgendermaßen festhält: „Es gibt eine unbeschreibliche Freude, die uns ebenso unerklärbar durchglüht, wie des Apostels Ausbruch unbegründet hervorbricht: „Freuet euch, und abermals sage ich: Freuet euch.“ – Nicht eine Freude über dies oder jenes, sondern der Seele vollgültiger Ausruf „mit Zung’ und Mund und aus Herzens Grund“: „Ich freue mich an meiner Freude, aus, in mit, bei, an, durch und mit meiner Freude“ – ein himmlischer Kehrreim, der gleichsam plötzlich unseren übrigen Gesang abschneidet; eine Freude, die gleich einem Windhauch kühlt und erfrischt, ein Stoß des Passats, der vom Hain Mamre zu den ewigen Hütten weht“ (Tagebuchaufzeichnung vom 19. Mai 1838 zitiert nach KIERKEGAARD, S., Die Tagebücher, Gerdes, H. (Hg.), 5 Bd. Düsseldorf/Köln: 1980.). In diesem Ausbruch in die Freude scheint es um genau solches Aufbrechen der Verschlossenheit in die Sprache hinein zu gehen. Durch die Metaphorik des Windes ist in dieser Aufzeichnung sehr deutlich, dass Kierkegaard das Aufbrechen in die Sprache als ein Wirken des Geistes versteht.
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ungeheure Macht über andere Menschen haben, bis dahin, dass sie „zuletzt betteln und jammern bloß um ein einziges Wort, welches die Stille durchbreche“ (XI, 129). Der Dämon des Schweigens kann gebrochen werden durch einen höheren Dämon, also eine Unfreiheit, die mit mehr Kraft und höherem Bewusstsein an ihrer Unfreiheit festhält. Endgültig gebrochen werden kann er aber nur durch das Schweigen des Guten, denn nur dieses vermag „schlechthin zu schweigen“ (XI, 129). Dieses schlechthinnige Schweigen ist das Schweigen aus dem der Mensch dann mit der Sprache herausgehen kann, herausgehen in seine Freiheit. Einen kurzen Ausblick in diese Freiheit gibt Kierkegaard in seinem abschließenden Kapitel des Begriff Angst. „Angst als das kraft des Glaubens Erlösende“ ist das fünfte Kapitel überschrieben, mit dem der Psychologe sein Thema an den Dogmatiker weitergibt. Die Angst bildet zum Glauben, indem sie zur Möglichkeit erzieht, die alle Endlichkeiten aufzehrt. Die Angst verliert sich in der Möglichkeit, der Glaube dagegen bezieht die Möglichkeit auf die Endlichkeit. Er nimmt die Unendlichkeit damit vorweg, indem er dessen gewiss ist, dass alles möglich ist, auch im Endlichen. Nur der Glaube kann die Angst aufheben. Je mehr Möglichkeit in der Angst eingeübt wird, desto tiefer ist der Glaube. Der Glaube ist am Ende des Buches nur angedeutet. Um mehr darüber zu erfahren, muss man sich in späteren Schriften Kierkegaards umsehen. Der Begriff Angst beschreibt die Bewegungen im Menschen, durch die er in den Glauben hineinkommen kann. Bedeutsam ist dabei, dass Angst bei Kierkegaard niemals nur negativ verstanden ist als Störung der Freiheit, sondern zugleich auch positiv das ist, was Freiheit erst erfahren lässt. Dieser unauflösliche Zusammenhang von Angst und Freiheit hat mit der Bewegung des Geistes zu tun, der erst trennend unterscheidet und dann neu zusammensetzt. Die Bewegung des Geistes vollzieht sich im Menschen als eine sprachliche Bewegung: der Mensch tritt in der Sprache aus sich heraus und findet in der Sprache zu sich zurück. Der Glaube ist eine differenziere Einheit, und die kann erst erreicht werden, wenn das Andere des eigenen Selbst wahrgenommen wurde. Die Auseinandersetzung mit dem Widerspruch im Selbst ist die Angst. Ohne die Entdeckung des Anderen kann es keinen Glauben geben. Die Auseinandersetzung mit dem Anderen des Selbst trägt der Mensch aus in einem Selbstgespräch. Sprachlich lotet er Möglichkeiten aus. In einem inneren Dialog spielt er die Zweideutigkeiten seines Selbst hin und her, bis er daran zerbricht und schweigt. Wie er im Glauben dann neu zur Sprache findet, ist Thema des Kapitels über Reden und Schweigen. Wie in der Sprache die Möglichkeit auf die Wirklichkeit bezogen werden muss, wird hier im vierten Kapitel bedacht. Jetzt ging es darum zu zeigen, dass der Mensch Angst haben kann nur als ein sprachliches Wesen. Wo die
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Angst das kraft des Glaubens Erlösende ist, kann man sagen, dass die Sprache der Angst zur Sprache des Glaubens bildet. Bevor es um die Sprache des Glaubens geht, die auf einem Weg vom Reden über das Schweigen hin zu neuem Reden erreicht wird, möchte ist noch einen Moment bei der Sprache der Angst bleiben. Nicht nur im Begriff Angst schildert Kierkegaard eine Fülle von sprachlichen Äußerungen der Angst. Auch in andern Schriften nimmt die Sprache der Angst großen Raum ein. So seien als Anhang zu diesem Kapitel über den Begriff Angst noch einige Überlegungen zum Phänomen der Verschlossenheit angefügt.
2.4 Sprache der Angst: Verschlossenheit Sprache der Angst: Verschlossenheit Das Phänomen der Verschlossenheit beschäftigt Kierkegaard nicht nur im Begriff Angst. Eine besonders ausführliche Darstellung eines Verschlossenen43 ist die Erzählung „Schuldig? – Nicht Schuldig?“, die den dritten Teil des Buches Stadien auf des Lebens Wege bildet. Einige Gesichtspunkte aus diesem Text sollen noch vorgestellt werden. Einerseits ist dieser Text eine Veranschaulichung der Verschlossenheit, wie sie anhand des Begriffs Angst entwickelt wurde, und man kann in dieser Geschichte des Quidam fragen, ob auch er die Bewegung der Angst als eine sprachliche Bewegung erlebt. Andererseits ist der Text aus den Stadien interessant, weil Kierkegaard darin deutlicher als vorher herausarbeitet, dass die Verschlossenheit in verschiedenster Weise mit dem Religiösen verbunden ist.44 Die Verschlossenheit als Grenzerscheinung zum Religiösen hin ist somit auch Übergang zu den Überlegungen des nächsten Kapitels über den Zusammenhang von Reden und Schweigen. ————— 43 Einen Überblick über weitere Personen, die Kierkegaard als dämonisch portraitiert, gibt Cattepoel in seinem 2.Kapitel (CATTEPOEL, J., Dämonie und Gesellschaft. Søren Kierkegaard als Sozialkritiker und Kommunikationstheoretiker, Freiburg i.Br./München 1992. 121–185). Er stellt auch kleine Personen wie z.B. Don Juan, den Modehändler, den Mystiker oder Nero vor. Allerdings fehlen auch bei ihm dämonische Figuren, so z.B. der Wassermann aus Furcht und Zittern oder der in verschiedenen Büchern vorkommende Faust. 44 Frater Taciturnus ordnet Quidam ein, dass er dämonisch ist in Richtung auf das Religiöse zu (XV, 423). Auch Quidam selbst ist sich darüber bewusst, dass die Verschlossenheit eine Erscheinung ist, die zum Dämonischen oder zum Göttlichen gehören kann: „Verschlossenheit […] ist eine rein formelle Bestimmung und vermag daher gleich gut dem Guten und dem Bösen als Form zu dienen. […] Dämonisch ist jeder Mensch, welcher einzig und allein durch und in sich selber ohne irgend eine vermittelnde Bestimmung (hier liegt das Schweigen gegen alle anderen) in einem Verhältnis zur Idee steht; ist die Idee Gott, ist er religiös, ist die Idee das Böse, ist er dämonisch im strengeren Sinne“ (XV, 243). Quidam ist so portraitiert, dass noch nicht entschieden ist, ob er in seiner Verschlossenheit religiös wird oder dämonisch in strengerem Sinne. Es macht seine Person so interessant, dass er sich auf der Grenze zum Religiösen bewegt.
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Bei der Erzählung handelt sich um die Leidensgeschichte des Quidam, die in Tagebuchform geschrieben ist. Diese wird eingeleitet und anschließend kommentiert von einem gewissen Frater Taciturnus, der die unglückliche Liebesgeschichte des Quidam als psychologisches Experiment vorführt. Die Tagebuchaufzeichnungen des Quidam sind zweigeteilt, es gibt morgendliche Aufzeichnungen, in denen er seine Liebesgeschichte mit dem Abstand von genau einem Jahr erzählt, und mitternächtliche Aufzeichnungen, in denen er sein gegenwärtiges Ringen um die Schuldfrage in Worte fasst. Es geht dabei um eine Beziehung, in der Quidam sich erst verlobt, dann die Verlobung wieder lösen will und sich dabei in die Frage verwickelt, ob er sich durch sein Handeln an dem Mädchen, das er ja eigentlich weiter liebt, schuldig macht. Als Grund für seine Unfähigkeit zur Ehe nennt er seine Verschlossenheit: „Unser Verhältnis kann keine Ehe werden. Weshalb nicht? Weil ich verschlossen bin in meiner Schwermut“ (XV, 376f.). Die Schwierigkeit besteht darin, dass seine Verlobte seiner Meinung nach seine Schwermut nicht verstehen kann. Da er überzeugt davon ist, dass das Eheversprechen gegenseitiges Verstehen verlangt, das er in dieser Verbindung nicht gegeben sieht (z.B. XV, 398), hält er die Ehe nicht für möglich.45 Diese Schwierigkeit kann er ihr aber nicht erklären. Dazu kommt noch der merkwürdige Zusammenhang, dass er diese Ehe nicht eingehen will, aber dennoch an seiner Liebe zu der Frau festhalten will. Beides kann sie nicht verstehen, deshalb hält er es für besser, wenn sie daran glaubt, dass er ein Betrüger ist (z.B. XV, 406).46 Für ihn selber bedeutet diese widersprüchliche Situation, dass er sich in seiner Verschlossenheit verbergen muss. Er ist dabei ständig in Gefahr, sich unfreiwillig zu offenbaren,47 denn eigentlich will er ihr ja treu sein. Gleichzeitig fühlt er sich in der Verantwortung, sie ————— 45 Diese Einstellung teilt Quidam übrigens mit dem Ethiker. Dieser macht sich Gedanken, ob es eine Verschlossenheit geben kann, die nicht von der Liebe entriegelt werden kann (II, 124). Diese Frage lässt er offen, bleibt aber dabei, dass jemand, der ein unsagbares Geheimnis hat, nicht heiraten soll, da an dem Nichtverstehen in einem bestimmten Punkt die Ehe nur scheitern kann. Zur Ehe gehört, sich klar und deutlich zu verstehen (II, 123). Der Ethiker vertritt die Ansicht, dass Offenbarsein das Lebensprinzip der Liebe ist. Dabei geht es für ihn um Offenherzigkeit und Aufrichtigkeit im Familienleben. Er beschreibt, wie viel Mut dazugehört, sich so zu zeigen, wie man in Wahrheit ist und wie viel einfacher es ist, sich durch kleine Heimlichkeiten von Demütigungen loszukaufen. Zuwachs eigener Größe wird dann durch Verschlossenheit erkauft (II, 111). Dies scheint genau die Vorstellung von Ehe zu sein, an der Quidam scheitert. 46 Die Ähnlichkeiten mit Kierkegaards eigener Verlobungsgeschichte sind nicht zu übersehen. Die biographischen Zusammenhänge tragen hier aber nichts zur Sache bei. 47 Ihre Hingabe ist es, die es ihm am schwersten macht, an seiner Verschlossenheit festzuhalten: „Ihre Hingabe jedoch wird eine Forderung, welche mein Wesen um und um kehrt“ (XV, 330). Das Gute lockt den Verschlossenen aus seiner Verschlossenheit heraus, hieß es im Begriff Angst. Hier ist das Gute die Bereitschaft seiner Geliebten, sich hinzugeben. Nicht nur in dieser Hinsicht des unfreiwillig Offenbarwerdens ist die Leidensgeschichte des Quidam eng an den Begriff Angst angebunden. Auch die aus dem Begriff Angst vertraute Gefängnismetaphorik taucht
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nicht unglücklich zu machen, kann dieser Verantwortung aber nicht gerecht werden und verwickelt sich deshalb in Schuldgefühle. Schon in dieser kurzen Charakterisierung der Situation wird deutlich, dass es um Widersprüche geht, die sich als Widersprüche in der Sprache zeigen: der Verlässlichkeit des Eheversprechens, an dem Quidam seine Worte der Liebe misst, stehen die unverbindlichen Worte desjenigen gegenüber, der den Betrüger spielt. Quidam steht zwischen den beiden Seiten der Sprache, der wirkmächtigen Sprache, die ganz ihm selbst und seiner Liebe entsprechen würde, der er aber nicht gerecht wird, und der sinnentleerten Sprache, hinter der er sich versteckt, an der er aber leidet. Das Hin und Her zwischen den Sprachen kennzeichnet seine Situation als eine der Angst. Ebenso ist er hin- und her gerissen zwischen Reden und Schweigen. Gemessen an seinem eigenen Anspruch an die Sprache müsste er schweigen, stattdessen verliert er sich immer mehr in die Sprache der Angst. Er verbirgt seine Verschlossenheit nach außen mit großer Beredsamkeit, wie man anhand der morgendlichen Aufzeichnungen sich vorstellen kann. Auch nach innen schweigt er nicht, sondern vertieft sich in lange Monologe, wovon vor allem die nächtlichen Aufzeichnungen Zeugnis geben. Bei der kunstfertigen Rede nach außen, die dem Verstecken der Verschlossenheit dient, handelt es sich um Betrug, das ist Quidam sehr bewusst und macht einen Teil seines Leidens aus. Auch in den Monologen erlebt er die Sprache nicht als befreiend. Es handelt sich also in beiden Fällen um eine Sprache, die Ausdruck der Angst ist. Das Nichts und die Möglichkeit sind Stichworte, die sich durch die Texte Quidams ziehen und sie damit anschließen an Kierkegaards frühere Überlegungen zur Angst. An diesen beiden Stichworten lässt sich darstellen, wie Quidam seine Angst als sprachliche Bewegung zwischen Reden und Schweigen erlebt. Quidams Gedanken kreisen ständig um die Möglichkeit,48 und an seinen Beschreibungen davon kann man zeigen, dass es sich um ein sprachliches Geschehen handelt, wenn Quidam sich in die Möglichkeit vertieft. Da geht es z.B. um das, was sich Quidam ausmalt, als er seine Verlobte nur noch zufällig trifft und daraus abzuleiten versucht, wie es ihr geht. Er hat nur eine halbe Minute zum Sehen, wenn er sie irgendwo trifft. Was er wahrgenom————— wieder auf. Quidam fühlt sich wie ein Gefangener, und das Missverstehen der anderen vergleicht er mit Eisenstäben vor seinem Fenster (XV, 373). 48 So sagt Quidam von sich: „Was ich in meinem Innersten erlebt, daß ich auf der äußersten Spitze der Möglichkeit gestanden […]“ (XV, 349). Quidam bezeichnet seine Schwermut als Krankheit, deren Speise die Möglichkeit ist (XV, 415). Und er sagt von sich, dass er seine Geliebte unglücklich gemacht hat „in der Möglichkeit, so nämlich, daß ich einen Mord auf meinem Gewissen habe ihrer Aussage zufolge und in Kraft des Möglichen“ (XV, 418). Als weitere Belege, in denen Quidam über die Möglichkeit spricht vgl. XV 237, 239, 240, 258, 278, 337, 399, 404.
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men hat, beschäftigt ihn dann über Stunden, und jedes Detail malt er aus (XV, 356). Noch mehr als das, was er gesehen hat, beschäftigen ihn Andeutungen von ihr, z.B. dass sie eine Stellung auf dem Lande annehmen wolle. Was da geschieht, wenn er eine Möglichkeit weiter und weiter ausmalt und versucht, der Andeutung einen Sinn abzugewinnen, vergleicht Quidam mit dem Entstehen von Sprache, wo sie einem nicht zufällt, sondern mühsam nach vorgegebenen Regeln gebildet wird. Er kommt sich, so versucht er zu verdeutlichen, vor wie ein ABC-Schütze, der sich in einer Aufgabe im muttersprachlichen Unterricht übt, nämlich zu einem gegebenen Wort einen Satz zu finden (XV, 269). Einen Satz zu finden, steht dafür, einen Sinn zu finden. Quidam erlebt diese Situation, in der er sich in eine Möglichkeit vertieft, als ein Ringen gleichermaßen nach Sprache und nach Sinn. Ebenso wie es fraglich ist, ob man durch Stilübungen, wie Quidam seine Gedanken nennt, jemals eine Sprache wirklich lernen wird, bleibt Quidam in seiner Reflexion bei einem gekünstelten Stil. Es handelt sich nicht um eine Sprache, mit der er frei umgehen kann, sondern die ängstlich nach Regeln gebildet ist. Aber auch wenn es sich um eine Sprache der Angst handelt, ändert das nichts daran, dass das Spielen mit der Möglichkeit bei Quidam eindeutig ein sprachliches Geschehen ist.49 Die Möglichkeit ist es, die ihn von der Wirklichkeit fernhält, und er sagt von sich, dass er sich im „Abstand der Möglichkeit“ glücklicher fühlt (XV, 216). Dieser Abstand ist der Schutz, hinter dem er seine Verschlossenheit verbirgt. Der Abstand der Möglichkeit stellt sich heraus als etwas, das er wie seine Verschlossenheit ängstlich und mit großer Anstrengung festhalten muss. „Niemand fürchte ich doch so wie mich selbst: weh mir, falls ich entdeckte, es sei da auch nur ein trügerisches Wort in meinem Munde gewesen, ein einziges Wort, mit dem ich versucht hätte, sie zu überreden“ (XV, 218). Er fürchtet sich selbst, weil er sich mit seinem Entschluss zur Verschlossenheit eine ungeheure Verantwortung aufgebürdet hat, von der er sich nicht sicher ist, ob er sie tragen kann. Angst scheint er also zu haben vor falschen Worten, Worten nämlich, die ihn aus dem Abstand der Möglichkeit herausbringen würden. Was Quidam als Überreden ansieht, wäre ein Schritt in die Wirklichkeit, den er vermeiden will. So kommt es, dass eigentlich gar nichts geschieht: es gibt „keine Handlung, es geschieht nichts, im Sichtbaren und Äußerlichen geschieht nichts, und meine ganze ————— 49 Neben dieser Beschreibung als sprachliches Geschehen kommt bei Quidam auch das aus dem Begriff Angst bekannte Bild des Schwindels wieder vor. Folgendermaßen beschreibt Quidam, wie er sich vorkommt, wenn ihn der Gedanke an die Möglichkeit, das Mädchen könne sich umbringen, unvorbereitet überfällt: „Mir wird im Nu schwindelig, mein Gedanke vermag in dem Verwickelten nicht schnell genug etwas Festes zu greifen, und es ist mir, als wäre ich ein Mörder“ (XV, 331). Der Schwindel wird ausgelöst durch eine Möglichkeit, aus der die nächste Möglichkeit abgeleitet wird, und in dieser Unendlichkeit kann ein Mensch sich in Angst verlieren.
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Anstrengung erschöpft sich darin, mich des Handelns zu enthalten und mich doch im potentiellen Handeln zu erhalten“ (XV, 266). Quidam erlebt Sprache als etwas, das darauf angelegt ist, Wirkung zu haben und damit eine Handlung zu sein. Die Ehrlichkeit gegenüber der Geliebten und noch viel mehr ein Eheversprechen wären solch wirkmächtiges Sprechen. Demgegenüber verliert sich die Sprache der Angst in die Unverbindlichkeit der Möglichkeit.50 So wie der Möglichkeit die Wirklichkeit fehlt, so scheint auch bei Quidam der Sprache ihre leibliche Seite zu fehlen, wenn er darüber nachdenkt, dass es schwierig ist, „sich selbst in der Möglichkeit zu prüfen; es ist das Gleiche, wie wenn jemand, ohne seine Stimme brauchen zu dürfen, prüfen sollte, ob er eine starke Stimme habe“ (XV, 311). Der Verschlossene kann nicht durch die Sprache aus sich heraustreten, weil die Sprache ihre Stimme in ihm eingeschlossen hat. Die Möglichkeit ist Sprache, aber sie kann nicht in ihrem anderen, ihrem Laut verwirklicht werden. Quidam gibt weitere Einblicke, wie er die Sprache in seinem Innern erlebt: O, ein jeder überhaupt mögliche, sogar der schmerzhafteste Ausdruck der Trauer ist doch eine Linderung in Vergleich damit, daß man einen Ausdruck nicht hat. So leben, als ob ich stumm wäre, und dennoch Pein in der Seele und Sprache im Innern haben, nicht die Sprache, die man von einem Wortemacher lernt, sondern die, welche das Herz erfindet; wie ein Stummer sein, ja wie ein Verstümmelter, und dennoch Leiden haben, die eines Mimikers Beredsamkeit verlangen. Mißtrauisch sein müssen gegen die Stimme, daß sie nicht bebe, falls man von ihr reden will, denn das könnte ihr zum Verderben werden […] (XV, 279).
Nach außen hin ist er ganz und gar kontrolliert und sagt nur, was in seine Strategie passt. Das kostet ihn viel Kraft. Nach außen hin ist er in Bezug auf sein eigenes Leid wie ein Stummer, er gibt seinen Gefühlen keinen Ausdruck. Er sagt aber nicht, er sei ein Stummer, sondern wie ein Stummer und betont damit ausdrücklich, dass in seinem Innern Sprache ist. Was er in sich hat, nämlich die Angst und das Leid, ist Sprache. Hier ist der Widerspruch, denn diese Sprache möchte nach außen ein Ausdruck sein, aber das lässt der Verschlossene nicht zu. Er hat seine Sprache in sich eingeschlossen und ————— 50 Zum Auseinanderfallen von Wort und Handlung ist die in den Stadien auf des Lebens Weg eingeschobene Geschichte von Periander aufschlussreich (XV, 343). Periander redet weise, aber er setzt seine Worte nicht um. Das Scheitern an seinen eigenen Maximen treibt ihn in den Wahnsinn. Bei ihm ist das Reden ganz in der Möglichkeit geblieben, er ist nicht in der Lage, es auf seine Wirklichkeit zu beziehen. Ein ähnliches Thema hat der Einschub über Nebukadnezar, in dem es darum geht, dass der König von Babel erkennen muss, dass all seine weltliche Macht vor Gott nichts nützt. Die Macht Gottes, die Nebukadnezar so beeindruckt, erweist sich dabei einzig und allein darin, dass Gottes Wort so wirkmächtig ist, dass es sofort geschieht (XV, 382–385).
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spricht mit anderen in einer falschen Sprache.51 Weiter sagt Quidam über seine Sprache: „Mein Gelübde des Schweigens macht mich stark in Monologen“ (XV, 311). Er redet also, aber es ist nur ein Monolog. Das, was ihn eigentlich bewegt, hat er in seinem Innern eingeschlossen und sich dafür Schweigen gelobt. Das, was er nach außen sagt, ist nur Schein und keine wirkliche Kommunikation. Das bedeutet einmal, dass er sich nicht wirklich auf den anderen einlassen kann, weil er damit beschäftigt ist, nicht sein eigentliches Anliegen zu offenbaren. Der Monolog bedeutet aber auch, dass er selber möglichst lange redet, denn das bewahrt ihn am ehesten davor, wirklich mit seinem Gegenüber in Kontakt zu geraten. Was er nach außen spricht, wird zu Sprache ohne Inhalt, nämlich zu Geschwätz.52 Man kann hier daran denken, dass ein Kennzeichen des Dämonischen das Langweilige und Inhaltsleere war. So sieht er es auch selber: „Mein Leiden ist langweilig. […] ich bin noch immer bei der Exposition dieses Nichts“ (XV, 368). Die Langeweile steht für das Nichts. Ganz zu Schluss der Aufzeichnung, sagt er noch einmal, dass seine Tagebücher Nichts enthalten (XV, 422). Bei dem Nichts geht es aber um mehr als nur Langeweile. Die Konfrontation mit dem Nichts ist es, die Angst auslöst. Diese Angst beschreibt Quidam als eine Doppelbewegung, in der ein Mensch konfrontiert mit seinem eigenen Nichts auf sich selbst zurückkommt: „Wenn das Auge lange nach Nichts ausblickt, so sieht es zu guter Letzt sich selbst, d.h. sein eigenes Sehen: ebenso zwingt die Leere um mich herum meinen Gedanken wieder in mich selbst zurück“ (XV, 379). Diese Bewegung, in der ein Mensch sich von sich selbst entfernt und wieder zu sich zurückkommt, wurde im Begriff Angst als eine Bewegung herausgearbeitet, die parallel zur Bewegung der Sprache des Menschen ist. Jetzt lässt sich hinzufügen, dass diese Bewegung die beiden Elemente des Redens und Schweigens verbindet. Die Leere, die um ihn herum ist, schweigt. Es handelt sich dabei aber um eine Stille, die eine Bewegung in Gang zu versetzen mag. Es geht nicht um eine Stille, die trostlos und langweilig ist. Für solche trostlose Stille fallen Kierkegaard viele Beispiele ein, z.B. die Friedlichkeit des Daseins in einer Dorfidylle oder im harmonischen Familienalltag. Hier kommt es ihm auf eine andere Stille an, ein Stille, die durch Leidenschaft erworben ist: ————— 51 Dass Quidam seine Sprache in sich eingeschlossen hat, ist auch aus folgendem Tagebucheintrag zu hören (XV, 305f): Er vergleicht sich mit einem Schauspieler, der alle seine Worte bereit hat und nur auf sein Stichwort wartet. Da der Souffleur aber eingeschlafen ist, kann er mit seinen Worten nicht auftreten. Ähnlich fühle sich wohl Scheherezade, die sich ein neues Märchen ausgedacht hätte, aber eben in dieser Nacht nicht geholt wird, so dass sie Angst hat, es zu vergessen oder die Kunst zu erzählen zu verlernen. In beiden Beispielen muss die Sprache, die schon da ist, innen bleiben, obwohl sie auf das Aussprechen angelegt ist. 52 Vgl. z.B. XV, 352, 411. Mehr zum Geschwätz auch zu diesen Belegstellen im Kapitel 3.2.
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Ja, wenn die Stille ein unendliches Nichts ist und eben damit der Möglichkeit geräumige Form für einen unendlichen Gehalt, ja dann liebe ich sie, denn alsdann ist sie des Geistes Element und reicher an Inhalt als Herrschaftswechsel und Weltereignisse (XV, 353).
Deshalb liebt er die Stille der Toten, die auf die Ewigkeit verweist, die Stille der Nacht, in der sich das Innerste der Natur sich deutlicher verrät als bei Tageslicht, die Stille der Geisterstunde, weil dann kein menschlicher Laut der Unendlichkeit des Denkens und der Gedanken eine Grenze setzt, und die Stille der Einsamkeit, die unendlich ist (XV, 353). Die Stille ist hier der Raum für die Unendlichkeit und die Möglichkeit. Die Möglichkeiten verweisen den Menschen auf seine Freiheit, aber sie bedeuten die Gefahr, sich in ihnen zu verlieren. Der Raum der Möglichkeiten ist unendlich und damit ein Nichts, das den Menschen in seinem Sein in Frage stellt. Die Stille als Raum für diese Möglichkeiten ist damit so ambivalent wie die Möglichkeit selbst, sie kann eine wunderbare Stille sein, die der Zugang zum Unendlichen und Ewigen ist, sie kann aber auch eine bedrängende, angstvolle Stille sein.53 In der Konfrontation mit dem Nichts, also in der Stille, ist der Mensch vor eine religiöse Frage gestellt.54 Quidam ist sich sehr klar darüber, dass seine schwermütige Vertiefung in das Nichts und die ————— 53 In dieser Ambivalenz kann das Nichts und die Stille mit dem Tod in Verbindung gebracht werden. Der Tod ist die letztgültige Konfrontation mit dem eigenen Nichts, das bedrohlich als Auslöschung des eigenen Seins erlebt wird, aber auch als der Übergang zu einem neuen Sein erlebt werden kann. Interessant ist in diesem Zusammenhang des Umgangs mit dem Nichts des Todes Kierkegaards Behauptung, dass Verschlossene in ihrer Verzweiflung besonders selbstmordgefährdet sind. In der Krankheit zum Tode gehört das Dämonische zur Form des verzweifelt man selbst sein Wollens. Höhepunkt dieser Verzweiflung ist der Trotz, der sich nicht von Gott erlösen lassen will (XXIV, 74). Es handelt sich dabei um eine Verzweiflung der Stärke, also um aktives Festhalten an sich selbst. Ein solcher starker Verzweifelter hat Angst vor dem Nichts, er kann sich die eigene Begrenztheit nicht eingestehen. Die Aktivität dieser Verzweiflung zeigt sich exemplarisch in der Neigung zum Selbstmord. Im Tod muss man sich dem eigenen Nichts überlassen. Bei einem friedlichen Tod hat ein Mensch in diese seine letzte Grenze eingewilligt, er kann ihn einfach als Nichts annehmen oder ihn annehmen in der Hoffnung, dass das Nichts von anderswo her aufgehoben wird. Das ist eine passive Haltung. Selbst wenn man sich gegen den Tod wehrt, ist der Sterbende passiv, wenn er von der Angst vor dem Nichts überwältigt wird. Der Selbstmörder hingegen will auch gegenüber dem Tod der Aktive sein. Vgl. zu dieser Überlegung von Aktivsein und Passivsein, das zugleich den Unterschied von verbissenem Schweigen und hörendem Schweigen ist, das Kapitel 3.3 über das Hören. 54 Nach außen hin ist es nicht unbedingt sichtbar, dass er sich in dieser Weise mit sich selbst beschäftigt. In der Krankheit zum Tode zählt die Verschlossenheit zu den verinnerlichten Formen von Verzweiflung, die nach außen nicht sichtbar sind: Verschlossenheit achtet mit dämonischem Scharfsinn darauf, nach außen unbedeutend und gleichgültig zu sein (XXIV, 74). Das Selbst will nicht es selbst sein, aber es ist selbst genug, um sich selbst zu lieben. Damit steht es im Gegensatz zu Unmittelbarkeit und verachtet diese (XXIV, 62f). Nach außen kann dieser Verschlossene alle fernhalten von der Sache mit dem Selbst, ist er ein angesehener Mensch. Seine Stunden sind nicht gelebt für die Ewigkeit, aber haben mit dem Ewigen zu schaffen: er beschäftigt sich mit dem Verhältnis des Selbst zu sich selbst, aber weiter gelangt er nicht (XXIV, 64).
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Möglichkeit mit seiner religiösen Veranlagung zusammenhängt.55 Dieses Verhältnis zum Absoluten ist es, was ihn von dem Mädchen unterscheidet. Sie sitzt andächtig in der Kirche, aber ihr Verhältnis zu Gott hält er für zu einfach. Es ist „ein lieblicher Anblick. Jedoch an Resignation, unendliche Resignation, an ein Verhältnis im Geist, ein unbedingtes geistiges Verhältnis zu Geist, daran ist kein Gedanke“ (XV, 249). Der Geist ist in sich selbst unterschieden. Deshalb muss in einem geistigen Verhältnis der Widerspruch vorkommen, den er bei ihr nicht finden kann. Dieser Unterschied ist der wesentliche Grund, weshalb er die Beziehung zwischen ihm und dem Mädchen als ein Missverhältnis bezeichnet (XV, 257).56 Dieses Missverhältnis erlebt Quidam so, dass er und das Mädchen verschiedene Sprachen sprechen. Er kommt sich vor wie ein Fremder, der in ein anderes Land kommt und die Sprache nicht versteht. „Zwischen uns besteht ein Sprachverschiedenheit, zwischen uns liegt eine Welt, deren Abstand sich jetzt in seiner ganzen Schmerzlichkeit zeigt“ (XV, 332).57 Quidam will sich im Geist zu sich so verhalten, dass er den Widerspruch in sich zusammenhalten kann. Die Sprache in ihm, in der diese differenzierte Bewegung des Geistes vollzogen wird, ist eine andere als die Sprache, in der sich das Mädchen verhält. Quidam hat damit, dass er in der Lage ist, sich selbst zu reflektieren, sich mit der Möglichkeit und dem Nichts zu konfrontieren und den Widerspruch zu entdecken, eine wesentliche Voraussetzung für das Religiöse.58 Aber sein Verhältnis zum Religiösen bleibt eines der Möglichkeit: „Eigentlich bin ich keine religiöse Individualität, ich bin lediglich eine tüchtige und vollständig angelegte Möglichkeit zu einer solchen“ (XV, 271). Das Religiöse besteht darin, dass er sich ganz auf die Auseinandersetzung mit sich selbst in all seinen Widersprüchen in seinem Innern einlässt. ————— 55 Schon sehr früh sieht Quidam, dass das Religiöse sein Lebensthema ist. „So viel verstehe ich recht wohl: nicht mit ihr, nicht mit Eros soll ich kämpfen. Religiöse Krisen sind es, die sich über mir zusammenziehn“ (XV, 228). Er weiß, dass das schon immer so war und auch diesmal nicht anders ist: „Das Ewige, ein Verhältnis zu Gott, ein Verhältnis zur Idee, das bewegte meine Seele, jedoch ein derartiges Zwischending [die erotische Liebe] konnte ich nicht begreifen. Nun wohl, nun leide ich, ich tue Buße, wiewohl ich auch jetzt wieder nicht rein erotisch leide“ (XV, 238). Weitere Belege: „meine Seele ist zu sehr auf das Ewige angelegt, um über eine unglückliche Liebe zu verzweifeln“ (XV, 281). „Es liegt an meinem Verhältnis zur Idee, solange entweder diese oder ich nicht anders werden“, kann ich das nicht, was ich mit ganzer Leidenschaft will (XV, 367). 56 Auch XV, 329: „Und ich, der ich so verschlossen bin: sie weiß sehr wenig von mit, welch ein Mißverhältnis!“. „Das Unglück ist: sie besitzt schlechterdings keine religiösen Voraussetzungen“ XV, 327. 57 Zum Motiv der Sprachverschiedenheit vgl. unten Kapitel 3.4 und 3.5. Auch Frater Taciturnus analysiert ausführlich, wie das Missverhältnis zwischen den Liebenden ein Missverständnis ist (XV, 243, 248). Zum Missverständnis vgl. unten Kapitel 3.5. 58 Frater Taciturnus stellt in seiner Analyse noch einmal heraus, dass Verschlossenheit in einer dialektischen Verdoppelung gründet, welche der Unmittelbarkeit nicht möglich ist (XV, 455). Das religiöse Selbst muss immer eine solche Struktur der Verdoppelung haben.
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In der Möglichkeit bleibt es, weil er sich nicht auf einen Gott, ein Gegenüber einlassen kann. Quidam leidet daran, „lediglich durch sich selbst gebunden zu sein“ (XV, 230). Er leidet daran, dass der Widerspruch in ihm selbst und nicht in etwas Äußerlichem liegt. Er will diesen Widerspruch in sich austragen und nicht mit Gott in einem äußeren Gegenüber. Aber dennoch wird in einer Tagebuchaufzeichnung wie dieser deutlich, wie sehr sich seine Auseinandersetzung mit sich selbst an der Grenze zur Auseinandersetzung mit Gott bewegt: die Verantwortung fürchte ich, und warum? Weil ich alsdann mit mir selbst zu tun habe, und diesen Kampf fürchte ich stets. Gesetzt, Gott selber wäre das, was man so einen Mann nennt, den man außerhalb seiner haben und mit ihm reden und zu ihm sprechen kann: ‚laß uns nun hören, was du zu sagen hast, so sollst du schon zu sehen kriegen, was ich im Sinne hat‘, dann fände man schon einen Ausweg. Aber er ist eben deshalb der Allerstärkste, ja der allein Starke, weil er auf diese Art schlechterdings nicht mit einem Menschen spricht. Auf den Menschen, mit dem er sich in aller Kürze einlassen will, legt er selber auf die Art Beschlag, daß er mit ihm durch den Menschen selber spricht. Ihre Zwiesprache ist kein Pro und Contra, das sich gegenüberträte, sondern indem Gott spricht, braucht er den Menschen selber, zu dem er spricht, er spricht zum Menschen durch den Menschen selbst. […] Verhielte es sich dagegen so, daß Gott ein für allemal gesprochen hätte, z.B. in der Schrift, so wäre Gott nimmermehr der Mächtigste, er wäre vielmehr der, welcher am meisten in der Klemme säße, denn mit dergleichen kann man in Gemächlichkeit disputieren, wenn man die Freiheit hat, sich selbst darwider zu gebrauchen. […] auf diese Art spricht Gott nicht. Er spricht zu jedem einzelnen Menschen, und in dem Augenblick, da er zu ihm spricht, gebraucht er diesen Menschen selbst, um durch ihn ihm zu sagen, was er ihm sagen will. Daher ist es im Plan des Hiobbuches der schwache Punkt, daß Gott sich in den Wolken zeigt und zugleich durch seine Rede sich als der fähigste Dialektiker kundtut; denn was in Wahrheit Gott zu jenem furchtbaren Dialektiker macht, ist gerade, daß man ihn ganz anders auf dem eigenen Leibe hat, und hier ist das leiseste Raunen seliger und das leiseste Raunen entsetzlicher, als wenn man ihn auf dem Wolkenthron erblickt, oder ihn über den Erdenreichen donnern hört. Darum kann man mit Gott nicht dialektisieren, denn die dialektische Kraft in der Seele des betreffenden Menschen wird von Gott eben wider diesen Menschen selber gebraucht (XV, 334f).
Gott redet mit dem Menschen im Menschen selbst. Gott ist nicht ein Gegenüber, von dem man sich abgrenzen kann. Die Widersprüche müssen im Menschen selbst ausgetragen werden, das ist mit Schmerz und Angst verbunden. Das Gespräch des Gebets vollzieht sich zwischen den Polen des Selbst. Gott greift nicht von außen ein, sondern er ist da, wo die Widersprüche im Gebet ausgehalten werden. Diese Kommunikation beschreibt Quidam dann ganz parallel zum Sprachgebrauch im Begriff Angst als ein Weitwerden. Es geschieht, „wenn er im Gebet unendlich weit gemacht wird zu neuer Verwunderung darüber, daß Gott im Himmel der einzige ist, der es nicht müde wird, auf einen Menschen zu hören“ (XV, 369). Das Weitwer-
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den geschieht, wenn Gott hört, d.h. wenn die Widersprüche vor ihm sein dürfen und eben darin durchsichtig füreinander werden können und sich verändern. Zu dieser Kommunikation kommt Quidam allerdings nicht. Er hat verstanden, dass das Religiöse sein Thema ist. Er redet vom Religiösen in einer Weise, wie Adam von Gut und Böse redete, ohne zu verstehen. Quidam kann das Religiöse beschreiben, ohne es zu vollziehen. Er ist an der Grenze zum Religiösen, bleibt aber in der Möglichkeit, in der Angst. Er ist sich seiner Widersprüche bewusst, aber er kommt nicht zu dem Wort, das die Widersprüche füreinander durchsichtig macht und damit seine Verschlossenheit auflösen könnte. Ich möchte die Überlegungen zur Verschlossenheit abschließen mit einem Hinweis auf die Bilder, mit denen Kierkegaard die Verschlossenheit beschreibt und die auf ihre Weise noch einmal besonders deutlich darauf hinweisen, wie die Verschlossenheit durch ein Wort geöffnet werden kann. Die Erzählung über Quidam beginnt mit der Schilderung vom Fund einer Truhe, die die Tagebuchaufzeichnungen enthält, in einem See. Die Truhe ist geschlossen, muss mit Gewalt geöffnet werden, und es findet sich der Schlüssel drinnen. „So in sich gekehrt ist die Verschlossenheit allezeit“, kommentiert der Finder und deutet damit die Truhe im von Schilf zugewucherten See als Sinnbild für die Verschlossenheit des Tagebuchautors Quidam (XV, 199). Was hier im Bild beschrieben ist, entspricht der Aussage aus dem Begriff Angst, dass der Verschlossene sich nicht in sich mit etwas verschließt, sondern sich selber einschließt (XI, 128). Auch Frater Taciturnus analysiert später die Verschlossenheit als das, was nur von innen heraus aufgeschlossen werden kann: der sich im Religiösen verschließende Quidam kann nur durch das Religiöse geheilt werden. Dass die Verschlossenheit nur von innen her aufgeschlossen werden kann, stimmt auch mit der Aussage aus dem Begriff Angst überein, dass das Wort der Befreiung nur vom Verschlossenen selbst kommen kann. Dass der Schlüssel zum Öffnen der Verschlossenheit nun tatsächlich ein Wort ist, legt sich aus zwei Bemerkungen im Zusammenhang der Schilderung vom See nahe. Der See ist beschrieben in einer Atmosphäre beklemmenden Schweigens: der Vogelschrei verstummt, der Schall brach plötzlich ab, und das Ohr suchte vergeblich eine Stütze im Unendlichen (XV, 198). Wer sich in das Schweigen der Verschlossenheit begibt, geht im Unendlichen verloren, in der Unendlichkeit verschiedener Möglichkeiten, die nicht zur Wirklichkeit werden. Das Ohr ist es, das – zwar vergeblich – eine Stütze in dieser beängstigenden Unendlichkeit sucht. Was stützen könnte, wird über das Ohr aufgenommen, es ist also ein Laut, ein Wort in der Stille des Sees. Ein Wort kann in der unendlichen Möglichkeit den Bezug zur Wirklichkeit wieder herstellen. Ein weiterer Textbeleg deutet an, welche Macht ein Wort in der Atmosphäre
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des stillen Sees hat. Direkt bevor Quidam in seinem Tagebuch das Bild vom See wieder aufnimmt, findet sich folgende Aussage: Welch eine wunderliche Gewalt hat doch ein Wort, wenn es sich nicht in den Zusammenhang einer Rede oder eines Satzes so eng einschmiegt, dass man seiner nur im Vorübergehen achtet, sondern wenn es aus der sprachlichen Verbindung sich lösend einen anstarrt, mit dem Stachel des Rätsels und mit der Aneignung durch die Angst! Ich bin so niedergedrückt, als ob da in diesem Wort eine andere Art von Wirklichkeit und Wahrheit läge (XV, 278).
Das Wort, das hier auch wieder dafür steht, eine Möglichkeit in die Wirklichkeit zu überführen, macht ihm Angst. Er will alles in Möglichkeit halten, keinen Ausweg der Möglichkeit betreten, weil es dann einer weniger ist. Das Wort starrt ihn an, d.h. es meint ganz und gar ihn als Gegenüber. Dieses direkte Angesprochenwerden lässt sich nicht in unverbindliche Möglichkeiten auflösen. Wenn er sich dem Wort verweigert, zieht er sich in das Schweigen der Verschlossenheit zurück.59 Die Verschlossenheit muss von einem Wort geöffnet werden. Man kann dabei an Kierkegaards frühere Assoziationen von einem Zauberwort denken. Man kann auch an ein Schlüsselwort denken. Kierkegaard spricht zwar nicht von einem Schlüsselwort, aber es würde gut zu seinen Bildern passen: Das Wort der Befreiung kann zu einem Schlüsselwort werden, das die Truhe oder eine Tür öffnet, hinter der sich der Verschlossene verschanzt. Den Übergang von der Verschlossenheit zum Offenbarwerden beschreibt Kierkegaard später in den Tagebuchaufzeichnungen des Quidam noch einmal als das sich Öffnen einer Tür. Auch da ist es ein Wort, das den Über————— 59 In der Krankheit zum Tode spricht Kierkegaard von Türen, die in mancher Hinsicht der Truhe im See ähneln. Bei der Verzweiflung über das Irdische gibt es eine blinde Tür, hinter der das Nichts sitzt (XXIV, 55). Ein solcher Verzweifelter, der sich ganz am Irdischen festhält, meidet die Konfrontation mit dem eigenen Nichts. Die Tür wäre der Zugang zu einer Konfrontation mit dem Nichts, aber sie ist für ihn keine wirkliche Möglichkeit, deshalb ist es eine blinde Tür. Bei der Verzweiflung am Ewigen gibt es eine wohl verschlossene Tür, hinter der das Selbst sitzt (XXIV, 62). Es ist das Selbst, das sich selbst eingeschlossen hat. Es hat sich ganz dem Unendlichen und dem eigenen Nichts hingegeben und damit die Tür zu dem Raum des Endlichen, in dem es ein Selbst werden muss, hinter sich verschlossen. Das Selbst, das sich selber eingeschlossen hat, ist ein anderes Bild für den Sachverhalt, der auch schon mit der Truhe ausgesagt wurde, in der sich der Schlüssel findet. Wieder kommt zum Ausdruck, dass die Verschlossenheit nur von innen her, also vom Verschlossenen selbst, geöffnet werden kann. Weiter wird in dem Bild von der von innen her verriegelten Tür, hinter der das Selbst sitzt, anschaulich, dass Verschlossenheit ein aktives Tun ist. Das Selbst ist darauf angelegt, die Tür zur Freiheit zu öffnen und muss im Abschließen alle Kraft aufbieten, um sich dagegen zu sichern, dass diese Tür geöffnet wird. Schließlich gibt es in der Krankheit zum Tode noch die Bemerkung, dass man die Verschlossenheit „eine Innerlichkeit nennen könnte, deren Schloß sich versperrt hat“ (XXIV, 73). Aus diesem Bild spricht, dass die Innerlichkeit eigentlich darauf angelegt ist, geöffnet zu werden, damit sie aus sich herausgehen kann. In der Verschlossenheit ist die Öffnung versperrt und der Verschlossene hat sich so in seiner Freiheitsverweigerung verkeilt, dass das Aufschließen auch nicht mehr ohne weiteres möglich ist.
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gang vom Schweigen der Verschlossenheit ins Offenbarwerden markiert. Quidam versucht die Besonderheit eines solchen Schlüsselwortes einzufangen: Wenn das Burgtor viele Jahre lang nicht geöffnet worden ist, so lässt es sich nicht lautlos auftun wie eine Zwischentür, die sich in den Angeln dreht! Wenn des Schweigens Tor länger verschlossen gewesen, so klingt das Wort nicht wie Gutentag und Lebewohl einer geschwind laufenden Zunge; wenn man mit einem einzigen Wort alles zum Einsatz bringen soll, wenn man seit Jahr und Tag nur Eines gewollt und es nun endlich aussprechen soll, nicht gegen einen Freund, sondern gegen einen Menschen in dessen Hand die Erfüllung liegt, so ist die Stimme nicht gleichmütig wie die einer Wächters, welcher die Stunde ausruft, und ist auf andere Art beteiligt als die eines Menschen, der Torfstücke zählt. Warum bin ich denn in Furcht, so unruhig, warum ist die Reflexion bereits im Begriff, mich zu versehren, als läge da etwas Tückisches in einem so langen Schweigen, etwas Dämonisches in der Kraft dazu, etwas Listiges im Ausnützens des Augenblicks, etwas Unverantwortliches im Anwenden des einfachsten Mittels und des redlichsten Verfahrens, weil diese vielleicht am stärksten wirken (XV, 221).
Es geht um etwas ganz Einfaches, ein Wort. Aber es ist ein Wort, das alle Unverbindlichkeit hinter sich lässt und eine ganz neue Bedeutung bekommt. Einfache Worte können immer wieder in die Bedeutungslosigkeit abrutschen, und deshalb ist das Aussprechen mit Furcht verbunden. Um dieses letztlich ganz einfache Wort, das ein Wort der Befreiung ist, soll es im folgenden Kapitel gehen. Dieses Wort aber, so wurde es bei der Verschlossenheit schon deutlich, kann erst da sein, wo vorher Schweigen gewesen ist, das mit Furcht und Zittern verbunden ist. So ist also das Thema des nächsten Kapitels Reden und Schweigen.
3. Reden und Schweigen Reden und Schweigen Kierkegaard begegnet jedem seiner Leser zuerst einmal als Redender: Er beweist als Schriftsteller einen virtuosen Umgang mit Sprache; als Denker ist für ihn die Sprache die einzige Möglichkeit, seine Gedanken mitzuteilen; als ‚erbaulicher Redner‘ und Autor vertraut er auf die Wirkmächtigkeit seiner Sprache. Und doch ist in all seinem Reden das Schweigen da. Kierkegaard begegnet als Schweigender, der Wesentliches ungesagt lassen muss, sich durch Sprache immer nur annähern kann, sich nur indirekt mitteilen kann. Da begegnet ein Kierkegaard, der Abgründigkeiten seiner eigenen Person oder fiktiver Gestalten, die er entwirft, in Schweigen hüllt. Da begegnet Kierkegaard, für den das Schweigen eng verbunden ist mit seiner Einsamkeit und seiner scharfen Beobachtungsgabe, die ihm wiederum zur Quelle seiner Texte wird. Wo Reden und Schweigen in einem Werk so dicht beieinander liegen, wundert es nicht, dass Gedanken zum Schweigen und seinem Zusammenhang mit dem Reden immer wieder in Kierkegaards Texte eingearbeitet sind. Diesen Gedanken möchte ich jetzt nachgehen. Anhand von Furcht und Zittern will ich zuerst verschiedene Facetten von Reden und Schweigen vorstellen. Danach erkläre ich meine Beobachtung, dass die Verhältnisbestimmungen von Reden und Schweigen Parallelen aufweisen zur Bestimmung der Struktur des Selbst, wie Kierkegaard sie in der Krankheit zum Tode vorlegt. Wo Reden und Schweigen nicht im rechten Verhältnis zueinander stehen, verkommt die Sprache zu Geschwätz. Zu dieser Erscheinungsform der Sünde in der Sprache ist in Abschnitt 3.2 einiges zu sagen. Positiv versucht Kierkegaard, das Verhältnis von Reden und Schweigen durch das Hören zu qualifizieren. Wie er dies tut, erläutere ich in Abschnitt 3.3 mit einer Interpretation einer Erbaulichen Rede über Lilien und Vögel. In dieser Rede kommt der Gedanke vor, dass Gott und Mensch verschiedene Sprachen sprechen. Dieses Motiv der Sprachverschiedenheit und die damit verbundene Notwendigkeit des Übersetzens tauchen auch in anderen Schriften Kierkegaards auf, dem gehe ich im vierten und fünften Teil nach. Glaube kommt dabei in den Blick als ein Verstehen zwischen Gott und Mensch, das wie eine Sprache gelernt wird. Schwierigkeiten im Übersetzungsprozess zwischen Gott und Mensch werden von Kierkegaard als Missverständnis angesprochen, das als eine weitere sprachliche Erscheinungsform der Sünde Thema ist. Schließlich ist in einem sechsten Teil von verschiedenen Erbaulichen Reden her noch zu vervoll-
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gen, welch zentrale Rolle die Stille bei Kierkegaard für verschiedene Glaubensvollzüge, insbesondere für das Gebet, hat.
3.1 Mit Gott ins Gespräch kommen Mit Gott ins Gespräch kommen Johannes de silentio nennt sich der fiktive Autor von Furcht und Zittern. Dialektische Lyrik schreibt er und zeigt sich damit als einer, der mit dichterisch-lyrischer ebenso wie mit logisch-dialektischer Sprache selbstverständlich umgeht. Warum trägt er das Schweigen in seinem Namen? Abraham hingegen ist als Glaubensvater bekannt, dessen Person von Generation zu Generation von Gottes Verheißungen erzählt. Warum gerät er bei Johannes de silentio als der Schweigende in den Blick? Das Reden und Schweigen von Johannes und Abraham ist in Furcht und Zittern herausgearbeitet als etwas, an dem sich Wesentliches der Person und ihrer Lebenseinstellung zeigt. Dabei ist nicht das Reden der einen Figur und das Schweigen der anderen zugeordnet. Kierkegaard interessiert sich vielmehr dafür, wie Reden und Schweigen als die zwei Seiten der Sprache eines Menschen innerhalb einer Person im Verhältnis stehen. Dieses Verhältnis kann verschiedene Formen annehmen und auf den ersten Blick widersprüchlich sein, wie sich mit den eben gestellten Fragen schon andeutete: Der Autor, der redet und ein ganzes Buch schreibt, stellt sich mit seinem Namen als Schweigender vor; Abraham, der in der biblischen Geschichte von der Opferung seines Sohnes kein Wort spricht, ist der Glaubensvater, der mit Gott redet. Mit dieser Widersprüchlichkeit ist auf jeden Fall gesagt, dass beide zugleich Redende und Schweigende sind. Was die unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen von Reden und Schweigen dabei über die jeweilige Person verraten, ist im Folgenden anhand des Kierkegaard’schen Textes herauszufinden. Der Dichter Johannes de silentio nähert sich Abraham, bevor die eigentlichen Erörterungen in Form von Problemata beginnen, in drei Anläufen: zuerst in ‚Stimmungen‘, in denen er die biblische Geschichte der Opferung Isaaks unter verschiedenen Gesichtspunkten verfremdet, dann in einer ‚Lobrede‘ und schließlich in einer ‚vorläufigen Expektoration‘, in der er das Problem benennt. Dabei sieht er sich selbst als denjenigen, der in der Lage ist, über Abraham als Helden zu reden, aber über Abrahams Glauben schweigen muss. Vieles fällt Johannes ein, worüber er als Dichter reden kann: das lange Warten auf das Kind der Verheißung, Abrahams Vaterliebe und den Schmerz, seinen Sohn wieder hergeben zu sollen (z.B. IV, 14–20 und 28f). Er gelangt bis zu dem Punkt, den er später die unendliche Resignation nennen wird (ab IV, 45ff). Es gelingt ihm, einen Abraham zu zeichnen, der sich nicht als ein im Glauben abgesicherter, bürgerlicher
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Glaubensvater predigen lässt. Mit der unendlichen Resignation kommen Furcht und Zittern. Auch die kann er als Dichter darstellen. Aber die Resignation ist nur die erste Bewegung. Die eigentliche Glaubensbewegung ist für den Dichter nicht nachzuvollziehen (IV, 31 u.ö.). Dabei erweisen sich die Schwierigkeiten der Annäherung an Abraham als ein Sprachproblem: der Dichter stellt fest, dass die Resignation weit idealer, weit poetischer ist als die Dürftigkeit Abrahams (IV, 33). Seine Aufgabe findet der Dichter am Ritter der Resignation, der in seinem Schmerz mit dem Dasein versöhnt ist, der den Dichter braucht, um Erinnerung und Leidenschaft wach zu halten (IV, 44–46). Alles, was der Ritter der Resignation getan hat, hat er aus eigener Kraft getan und dafür ist die dichterische Sprache angemessen. Mit Abraham dagegen hat der Dichter keine gemeinsame Sprache. Nein, er formuliert es anders: „In der Zeitlichkeit können Gott und ich nicht miteinander reden, wir haben keine gemeinsame Sprache“ (IV, 33). Als Grund dafür gibt der Dichter an, dass für ihn Gott der Gott der Liebe ist. Die Liebe Gottes bleibt, auch wo der Ritter alles Zeitliche aufgeben musste. Auch in der Resignation kann er Gott lieben. Aber er kann ihn nicht glauben. Hier verlässt ihn seine Sprache. Doch Abraham geht weiter. Welches ist die gemeinsame Sprache zwischen Gott und Abraham, an der der Dichter scheitert? Diese Frage bleibt hier noch offen. Deutlich ist nur, dass der Dichter sicher ist, dass es diese Sprache gibt. Er selber spricht sie nicht und hier scheint ein wichtiger Grund dafür zu liegen, warum er sich de silentio nennt. Schon in dieser ersten Annäherung deutet sich an, wie Reden und Schweigen bei Johannes de silentio und Abraham auf jeweils verschiedene Weise zusammenhängen. Bei Johannes steht der flüssigen Sprache des Dichters und allgemeinverständlichen Äußerungen ein bedrohliches Schweigen gegenüber, das mit Erschaudern, Furcht und Zittern verbunden ist. Auch bei Abraham hat das Schweigen eine dunkle Seite, die ihn auf schmerzliche Weise von seinen Mitmenschen und seinen eigenen Gefühlen und Hoffnungen zurückstößt, aber das Schweigen wird bei ihm auch zur Quelle eines neuen Sprechens in einer sehr innigen Gottesbeziehung. Diese beiden Verhältnisbestimmungen von Reden und Schweigen sollen im folgenden anhand der weiteren Kapitel von Furcht und Zittern entfaltet werden. Eine kraftvolle Sprache, die ihre andere Seite in einem bedrohlichen Schweigen hat, lässt sich anhand des Kapitels ‚Problema 1‘ nachzeichnen. Das Thema dieses Abschnitts ist die Frage nach der Möglichkeit einer „teleologischen Suspension des Ethischen“. Teleologische Suspension hieße, dass Abraham den Bereich des Ethischen, des Allgemeinen, des Verständlichen verlässt, wenn er seinen Sohn opfert. Die Möglichkeit einer teleologi-
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schen Suspension soll deutlich werden im Gegensatz zu den tragischen Helden, die ebenfalls ihre Kinder opfern, aber im Bereich des Ethischen bleiben. Sie ordnen die Liebe zu ihren Kindern einem höheren ethischen Ziel unter. In den als Beispiel angeführten Fällen von Agamemnon, Jephta und Brutus ist das das Allgemeinwohl oder Staatswohl. Ein übergeordnetes ethisches Ziel gibt es bei Abraham nicht. Als Alternative bleibt also, dass Abraham ein Mörder ist oder dass es eine teleologische Suspension gibt. Interessant für den Zusammenhang von Reden und Schweigen ist, dass die Erörterungen des Problems 1 davon ausgehen, dass auf jeden Fall mit der teleologischen Suspension, wenn sie möglich ist, ein Verlust der Sprache einhergeht: Das Ethische ist verbunden mit bestimmten Funktionen von Sprache, die im Falle einer Überschreitung des Ethischen verloren gehen. Welche Bedeutung die Sprache für die tragischen Helden – also im Bereich des Ethischen – hat, wird sehr anschaulich: Sie können sich im Allgemeinen ausdrücken, jeder kann sie verstehen; sie können argumentieren, können Gegeneinwände und die Tränen ihrer Kinder aushalten; sie können sich beraten lassen (IV, 73); andere können sich zu ihnen in Mitleid und Bewunderung verhalten (IV, 63); die Sprache kann sie immer ins Allgemeine übersetzen, das ist das Lindernde (IV, 129). Die Sprache ist für den tragischen Helden also ein Trost, der bei aller Resignation bleibt. Sie ermöglicht den Helden, ihr Handeln zu durchdenken und es vor sich selbst und anderen zu rechtfertigen. Die Sprache ermöglicht ein Verhältnis zu sich und anderen, das verlässlich ist. Abraham hingegen schweigt. Er hat kein übergeordnetes ethisches Ziel, das er sich und anderen verständlich machten könnte. Seinem Schweigen korrespondiert das Schweigen seiner Mitmenschen, in dem sich ihr Unverständnis äußert. Wo bei den tragischen Helden Mitleid und Bewunderung waren, bleibt nur ein Erschauern, um sich zu Abraham zu verhalten (IV, 66). Mit dem Erschauern ist das Bedrohliche dieses Schweigens ausgesagt. Im Ethischen zeigt sich die Sprache als etwas Verbindendes. Sie kann verschiedene Motive des Handelns verbinden, d.h. miteinander vergleichen, und ermöglicht so eine Abwägung, die zu einer nachvollziehbaren Entscheidung führt. Das Verständnis anderer wird wiederum in Sprache ausgedrückt und stellt damit eine Verbindung zu anderen Menschen her. Selbst wenn die Verbindung eine des Schmerzes und des Mitleids ist, wird doch diese durch Sprache ermöglichte Verbindung als solche schon als etwas Linderndes empfunden. Diese verbindende Funktion von Sprache ist bei Abraham nicht gegeben. Bei ihm zeigt sich, dass es Motive des Handelns gibt, die sich nicht vergleichen und verbinden lassen: einerseits seinen Sohn zu lieben und deswegen ihm nichts antun zu können, andererseits Gott zu gehorchen und seinen Sohn zu töten. Die Sprache scheitert daran, diesen Widerspruch zu verbinden. Deshalb wird sie unverständlich – oder wie
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Kierkegaard sagt, nicht mehr im Allgemeinen verständlich –, und mit dieser Unverständlichkeit reißen auch die sprachlichen Verbindungen zu anderen ab – oder in der Ausdrucksweise von Furcht und Zittern: man bewegt sich aus dem Allgemeinen heraus. Dem Lindernden der sprachlichen Verbindung steht ein bedrohliches Schweigen gegenüber, das einen Menschen zu einem Einzelnen ohne Verbindung werden lässt. Wenn im Ethischen die Sprache das Verbindende ist, bedeutet teleologische Suspension des Ethischen, dass die Verbindungen, die Sprache schafft, aufgehoben sind. Diese Verbindung ist in Problema 1 insbesondere die Verständlichkeit und Vergleichbarkeit von Motiven des Handelns, die eine Verbindung zu den Mitmenschen schaffen. Mit der teleologischen Suspension des Ethischen sind die sprachlichen Verständigungsmöglichkeiten und damit auch die Verbindung zu anderen abgebrochen, das Erschaudern und Schweigen der anderen steht für die abgebrochene Verbindung.1 Die in ‚Problema 1‘ schon angerissene Vereinzelung, die mit dem Schweigen einhergeht, wird in ‚Problema 2‘ explizit Thema. Dass er als ein Einzelner dem Allgemeinen gegenübersteht, erlebt Abraham als ein „Martyrium des Unverstandenseins“ (IV, 89). Dass er ein Einzelner ist, wird also konkret in einer sprachlichen Erfahrung: dem Unverstandensein. Diesem Martyrium des Unverstandenseins steht wieder der Trost gegenüber, den der tragische Held darin hat, bewundert zu werden. Für ihn ist es wohltuend, sich verständlich machen zu können, mit offenen Armen vom Allgemeinen empfangen zu werden (IV, 88f). Abraham dagegen kann sich nicht verständlich machen. Der Grund dafür hängt mit der in ‚Problema 2‘ gestellten Frage zusammen, ob es eine absolute Pflicht gegen Gott gibt. Wenn es sie gibt, steht sie im Widerspruch zum Allgemeinen: Das Vertrauen zu Gott fordert den Verstoß gegen eine höchste ethische Norm. Dieser Widerspruch führt dazu, dass Abraham sich nicht verständlich machen kann. Um die absolute Pflicht gegen Gott auszudrücken, müsste er gleichzeitig sagen können, dass Isaak das Liebste ist, was er hat, und dass er Gott vertrauensvoll gehorsam ist. Er kann aber seine Liebe zu Isaak nicht beschreiben, weil sein Tun, nämlich seine Tötungsabsicht, ausdrückt, dass er ihn hasst (IV, ————— 1 Zu einer solchen Interpretation der teleologischen Suspension in sprachlicher Hinsicht ist hinzuzufügen, dass auch Kierkegaard in den Stadien auf des Lebens Weg die Rede von der teleologischen Suspension in einer explizit sprachlich gewendeten Form gebraucht: Schweigsamkeit in Verschlossenheit ist die teleologische Suspension der Pflicht, die Wahrheit zu sagen (XV, 243), heißt es da. Vgl. zur teleologischen Suspension auch die späte Äußerung Kierkegaards in den Schriften über sich selbst: Auch da meint teleologische Suspension, dass etwas bis auf weiteres verschwiegen wird, eben damit das Wahre umso wahrer werde (XXXIII, 86). Die teleologische Suspension im Verhältnis zur Mitteilung der Wahrheit sei Pflicht gegen die Wahrheit und Verantwortlichkeit eines reflektierten Menschen vor Gott, wird dieses Verständnis der teleologischen Suspension erläutert.
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77). Er kann auch nicht beschreiben, dass er Gott gehorsam ist, denn jeder würde daraus schließen, dass er Isaak nicht mehr liebt. Seine Liebe zu Isaak ist aber die Voraussetzung dafür, dass es sich überhaupt um ein Opfer handelt, denn ein Opfer ist es nur, wenn Abraham sein Liebstes hergeben muss. Kierkegaard bezeichnet diese Situation als Paradox (IV, 78). Abraham müsste zwei Aussagen aussprechen, die sich gegenseitig widersprechen. Aber warum ist das eigentlich unmöglich? Der Dichter tut es doch auch, er beschreibt die beiden Seiten des Paradoxes.2 Es steht ihm Sprache dafür zur Verfügung. Redenkönnen muss also mehr bedeuten, als bloß einen Sachverhalt in Worte fassen zu können. Das Paradox wird erst daran deutlich, dass keiner Abraham verstehen kann. Die Widersprüchlichkeit des Paradoxes verhindert, dass andere sich zu Abraham in Beziehung setzen. Der Verlust der Sprache steht für den Verlust eines Verhältnisses. Damit wird Abraham zu einem Einzelnen, er steht außerhalb des Allgemeinen. Als Einzelner leider er das „Martyrium des Unverstandenseins“. Wieder geht es um die verbindende Funktion von Sprache. Wenn zwei Aussagen widersprüchlich nebeneinander stehen, führt das ins Schweigen. Redenkönnen hingegen bedeutet, ein wie auch immer geartetes Verhältnis herzustellen. Reden erweist sich hier als etwas Lebendiges, in dem durch mögliche Verbindungen Neues entstehen kann. Schweigen dagegen ist ein Festhalten an Widersprüchen, das etwas Starres hat, das an die Angst und das krampfhafte Festhalten der Verschlossenheit erinnert.3 ————— 2 Erinnert sei an dieser Stelle, dass im Begriff Angst Adam sprach und doch nicht verstehen konnte, was er sagte. Bei ihm stellte sich das Verstehen erst mit der Freiheit ein, nämlich als er die Bewegung des Geistes vollzogen hatte und nicht nur träumend ahnte (Vgl. Kapitel 2.1). Auch hier muss der Dichter beim nichtverstehenden Sprechen bleiben, weil er die Bewegung des Glaubens nicht vollzieht. 3 Zum Schweigen im ethischen Bereich vgl. auch folgende Textstelle aus den Stadien auf des Lebens Weg, wo es von einem Menschen, dessen Ehe in die Brüche gegangen ist, der aber trotzdem ethisch an der Gültigkeit der Ehe festhält, heißt: „ er muß darauf gefaßt sein, daß niemand ihn verstehen kann, und muß so gefaßt sein, sich darein zu finden, daß die menschliche Sprache für ihn nichts als Flüche hat, […]. Er muß es empfinden, wie sehr das Mißverstehen ihn quält, gleich wie der Asket in jedem Augenblick das Stechen des Bußhemdes gefühlt hat, das er auf dem bloßen Leibe trug … er soll um jeden Preis darin bleiben wollen, weil er wirklich verliebt ist und, was mehr ist, Ehemann ist, er soll darin bleiben wollen, […], während er nun doch ihr Elend sehen muß, gleich einem, dem man Arme und Beine abgehauen, und aus dessen Munde man die Zunge gerissen hat, d.h. ohne ein einziges Mittel der Mitteilung zu besitzen. […] So siecht er denn dahin, in allem seinem Elend verzweifelt, wenn jenes einzige Wort, das letzte, das ferneste, so ferne, daß es jenseits der menschlichen Sprache liegt, ausbleibt, wenn das Zeugnis nicht bei ihm ist, wenn er die versiegelte Depesche nicht aufreißen kann, die erst dort oben geöffnet wird, und welche die Order von Gott enthält“ (XV, 189f.). Der Ethiker hat hier die Sprache verloren. Die Sprache, die ihn mit anderen verbindet, ist zu Missverständnis geworden. Die Sprache, mit der er sich mitteilen kann, ist ihm genommen. Dass dies ein unermessliches Leiden ist, wird in den folgenden Textpassagen sehr deutlich. Der Ethiker erlebt seine Sprachlosigkeit als eine Bußstrafe, die er erleiden muss. Dennoch lässt dieser Text offen, ob mit dem Leiden, zu dem auch der Verlust der Sprache gehört, nicht auch eine Seligkeit verbunden ist. Auf jeden Fall ist der so an seinem
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Um das Redenkönnen geht es auch in ‚Problema 3‘, in dem noch einmal deutlich wird, dass das Schweigen nicht nur ein Schweigen in Beziehung zu anderen ist, sondern auch ein Schweigen vor sich selbst. Es geht nicht nur um die abgebrochene Verbindung des Einzelnen zu anderen, sondern es geht auch um sein Selbstverhältnis. Das Paradox bedeutet nicht nur, dass Abraham sich anderen nicht verständlich machen kann. Die Widersprüche des Paradoxes liegen in ihm selbst. Er kann sie in kein Verhältnis setzen, d.h. er kann sie nicht ausdrücken. So arbeitet es Kierkegaard in ‚Problema 3‘ heraus, in dem das Schweigen Abrahams explizit Thema wird. Wie konnte er gegenüber Isaak, Sara und Elieser schweigen? Die weitschweifigen Ausführungen zu dieser Frage beginnen mit dem Begriffspaar offenbar – versteckt. Die Ethik fordert bedingungslose Offenheit. Damit ist klar, dass das Schweigen Abrahams in ethischer Perspektive nicht verantwortbar ist. Die Ästhetik dagegen kann mit Verstecktsein umgehen. Sie kann sich entscheiden, etwas zu verschweigen, wenn sie damit z.B. eine Person retten kann. Wichtig ist dabei, dass auch die Ästhetik immer reden kann, wenn sie will (IV, 129). Das ist der entscheidende Unterschied zum Schweigen des Einzelnen. Er hat sich aus dem Allgemeinen herausbewegt. Er kann nicht mehr reden (IV, 129). Wenn er es tut, kann ihn niemand verstehen. Hier liegt auch der Unterschied zu einem dämonisch Verschlossenen. Dieser hat sich selbst zum Schweigen entschlossen und hält krampfhaft an seinem Selbst fest, während Abraham sich selbst zu verlieren meint. Hieran wird noch einmal deutlich, worin die Bedrohlichkeit dieses Schweigens besteht. Es geht nicht um den Verlust von Äußerlichkeiten, nicht um das bewusste Abbrechen einzelner Beziehungen, sondern um den Verlust des eigenen Selbstverständnisses, das ein Selbstverhältnis ist. Nicht mehr reden zu können, steht dafür, dass die Widersprüche des Selbst nicht mehr in ein Verhältnis gebracht werden können.4 Mit dem nicht mehr reden Können ist die Spitze erreicht, an der das Schweigen für den Abbruch des Selbstverhältnisses und der Verhältnisses zu anderen Menschen steht. Genau an diesem Punkt aber deutet sich nun ein neues und andersartiges Verhältnis von Reden und Schweigen an. Kierkegaard spielt in ‚Problema 3‘ zwischen Verstecktsein und Offenbarwerden, zwischen Ethik und Ästhetik hin und her und hält dann recht unvermittelt fest, „dass es eigentlich Geheimnis und Schweigen sind, die ————— Entschluss Festhaltende eine Ausnahmeerscheinung und die Leidenschaftlichkeit seines Glaubens nötigt dem Ethiker hohen Respekt ab. Ein eschatologischer Vorbehalt ist eingebaut, wenn es heißt, dass der Brief, der die Entscheidung des Ehemannes als göttlichen Order legitimiert, erst später geöffnet wird. 4 Dass es beim Schweigen um die Widersprüche innerhalb des Selbst geht, hört man auch in folgendem Ausruf des Quidam: „O Schweigen, Schweigen, wie sehr vermagst du einen Menschen in Widerspruch mit sich selbst zu setzen“ (XV, 307).
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den Menschen zu etwas Großem machen, eben weil sie Bestimmungen der Innerlichkeit sind“ (IV, 98). Hier bekommt das Schweigen eine positive Bedeutung. So wie im Begriff Angst neben das dämonische Schweigen der Verschlossenheit ein göttliches, erhabenes Schweigen trat, so hat auch hier das bedrohliche Schweigen, das die Grenze des Allgemeinen und des Ethischen markiert, ein positives Pendant. Im Begriff Angst war das göttliche Schweigen ausgezeichnet dadurch, dass es den Menschen ausweitete in Freiheit. Hier ist es das Schweigen, das den Menschen zu etwas Großem macht. Diese Größe allerdings ist nicht an äußeren Merkmalen zu erkennen, sondern verweist ins Innere des Menschen: das Schweigen ist eine Bestimmung der Innerlichkeit. Es geht um das Selbstverhältnis des Menschen. Das Schweigen verweist den Menschen an seine Grenze und auf sein Anderes. Es steht für den Widerspruch im eigenen Selbst. Je weiter das Schweigen reicht, desto größer ist der Widerspruch, der ausgehalten werden muss. Das Schweigen ist die Voraussetzung dafür, zu einem neuen Selbstverhältnis zu kommen, einem wirklichen Selbstverhältnis, in dem die Widersprüche aufgehoben sind. Je größer die Widersprüche und damit das Schweigen sind, desto schwieriger ist die Synthese, aber desto mehr macht das neue Selbstverhältnis und damit auch das Schweigen als seine Voraussetzung den Menschen zu etwas Großem. Die Besonderheit des erhabenen Schweigens ist die Orientierung auf neue Sprache hin. Es bleibt nicht bei der Konfrontation mit dem Anderen und den Widersprüchen, die für den Abbruch aller Verhältnisse stehen und bedrohlich sind. Das Schweigen der Innerlichkeit ist auf ein neues Verhältnis hin angelegt und eröffnet neue Sprache. Diese neue Sprache, die für ein neues Selbstverhältnis steht, ist in Furcht und Zittern an wenigen Stellen angedeutet. Zuerst klang sie schon ganz zu Beginn in der ‚Lobrede‘ an, als von der Sprache zwischen Gott und Abraham die Rede war, die der Dichter nicht versteht. Das Nichtverstehen weist darauf hin, dass es sich bei der Sprache hinter dem Schweigen wirklich um eine neue Sprache handelt. Ginge es dabei nicht um ein ganz neues, nämlich religiöses Selbstverhältnis, könnte der Dichter ohne weiteres verstehen. Das Schweigen gewährleistet also den Übergang in ein Verhältnis neuer Qualität.5 Auch in ‚Problema 2‘ gibt es eine Andeutung zu der neuen Sprache. Das Martyrium des Unverstandenseins hat dort noch eine andere Seite: Abraham sagt Du zu Gott im Himmel, während der tragische Held ihn nur in der dritten Person anreden darf (IV, 86). Neben der selbstverständlichen Annahme, dass Abraham ————— 5 Zur Sprachverschiedenheit vgl. weiter unten die Abschnitte 3.4 und 3.5 dieses Kapitels. Später in Furcht und Zittern findet sich auch noch folgende Aussage: Johannes de silentio gesteht ein, dass er nur Grenzen eines unbekannten Landes andeuten kann (IV, 128). Bei dem fremden Land kann man daran denken, dass dort auch eine fremde Sprache gesprochen wird.
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nicht mehr schweigt, sondern mit Gott redet, ist in diesem Satz gesagt, dass zwischen Gott und Abraham ein Verhältnis besteht, das auf direkter Anrede basiert. Der tragische Held hingegen redet in der dritten Person über Gott, d.h. er weiß wiederum, dass es zwischen Gott und einem Menschen ein Verhältnis geben kann, aber er vollzieht es nicht für sich und spricht deshalb die Sprache, in der er Gott duzen kann, nicht.6 Schließlich gibt es auch in ‚Problema 3‘ einen Hinweis darauf, wie sich für den Glaubenden im Schweigen neue Verständigung eröffnet. Von „Gottes Mitzeugenschaft mit dem Einzelnen“ (IV, 99) ist da die Rede. Es scheint um ein Verstehen durch Gott zu gehen, das an die Stelle des Lindernden der Rede zwischen Menschen tritt. Abraham braucht menschliches Mitleid und Bewunderung nicht, die im Erschauern vor seinem Schweigen abgeschnitten sind. Aber stattdessen „sieht Gott in das Verborgene, und weiß die Not und zählt die Tränen und vergißt keines“ (IV, 138). Das Bibelwort vom Gott, der alle Tränen abwischen wird (Apk 7,17 und Jes 25,8), klingt hier mit. Das Wort Gottes taucht also genau an der Stelle auf, wo der Dichter und alle menschliche Sprache ihr Unvermögen feststellen müssen. Das Schweigen, das mit Furcht und Zittern – oder, wie es in dem Bibelwort ausgedrückt ist, mit Not und Tränen – verbunden ist und eine große Einsamkeit ist, die im Bibelwort als das Verborgene angesprochen ist, wird von Gott her aufgehoben: er wendet sich dem mit Furcht und Zittern Schweigenden zu und stellt ihn in ein neues Verhältnis, das wiederum ein sprachliches ist: der Schweigende wird vom Wort Gottes angesprochen. Aus diesem Angesprochenwerden wächst ihm neue Sprache zu. Johannes de siletio kann über den Glaubenden sagen: „Er spricht in einer Sprache, die von der Gottheit kommt, er spricht in Zungen“ (IV, 131). In diesem Satz ist wieder sehr klar gesagt, dass der Glaubende nicht im Schweigen bleibt, sondern zu einer neuen Sprache findet. Diese Sprache kommt ihm von Gott zu. Was Kierkegaard hier in einem Nebensatz erwähnt, entfaltet er in seinen Texten über das Hören.7 Die neue Sprache ist für Außenstehende unverständlich wie Zungenrede. Die Fremdheit des Gesprächs zwischen Gott und Mensch, die schon mehrmals im Motiv der Sprachverschiedenheit auftauchte, ist hier noch einmal aufgenommen. Zungenrede ist aber in biblischer Tradition nicht nur unverständliche Rede, die missbraucht werden kann und deshalb kritisch geprüft werden muss, sondern auch eine Gabe Gottes (1.Kor 12,10). Als solche von Gott gegebene Sprache ist sie hier von Kierkegaard sicher ebenso verstanden, wie ihm ihre Unverständlichkeit unheimlich ist.8 ————— 6 Zur Interpretation der sprachlichen Unterscheidung verschiedener Personen in ihrer Bedeutung z.B. für das Gebet vgl. unten Abschnitt 3.6 . Vgl. dazu den Abschnitt 3.3. 7 Kierkegaard gebraucht Zungenrede auch anderswo in eigenwilligem Zusammenhang. Er 8 kann es als Zungenrede bezeichnen, wenn jemand Gott dafür danken kann, verhöhnt zu werden
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Diese Belege zeigen, dass der Glaube bei Kierkegaard nicht Schweigen, sondern Sprechen und Verstehen ist.9 Es geht um eine Sprache zwischen Gott und Mensch, die nur durch das Schweigen hindurch erreicht werden kann. In der Schrift Furcht und Zittern muss man sich nun aber weitgehendst mit der Feststellung der Existenz des göttlichen Schweigens und der neuen Sprache begnügen. Johannes de siletio bleibt im Schweigen und betrachtet den Gläubigen und seine Sprache wie einen Fremden, den er nicht versteht. Deshalb sind folgerichtig in seinem Buch nur Andeutungen über die Sprache des Glaubens zu finden. Bevor aus anderen Texten Kierkegaards die neue Sprache genauer charakterisiert wird, möchte ich noch bleiben bei der Doppelheit des Verhältnisses von Reden und Schweigen, das sich in Furcht und Zittern ergab: die allgemein verständliche Rede wird begrenzt durch das bedrohliche Schweigen und ein göttliches Schweigen öffnet sich zu neuer Sprache.10 Ich knüpfe dazu an die oben erwähnte Aussage an, in der das Schweigen als „Bestimmung der Innerlichkeit“ eingeführt wird. Das Schweigen verweist damit in die Mitte des Selbst, in die Innerlichkeit. Deshalb kann man fragen, wie die skizzierten Verhältnisbestimmungen von Reden und Schweigen zu der Struktur des Selbst stehen: Hat das doppelte Verhältnis von Reden und Schweigen seinen Grund in der Struktur des Selbst und lässt sich von daher genauer verstehen? Ich schließe damit an Beobachtungen des vorigen Kapitels an, dass es Parallelen in der Struktur des Selbst und der Struktur der Sprache gibt. Hier möchte ich sie entfalten mit Bezug auf Reden und Schweigen und tue das anhand der Bestimmung des Selbst, wie Kierkegaard sie in der Krankheit zum Tode entwickelt. Zu Beginn der Krankheit zum Tode stellt Kierkegaard eine Struktur des Selbst vor, aus der er die verschiedenen Formen der Verzweiflung entwik————— (XVIII, 345). Und in derselben Rede eine Seite später ist die Rede von jemandem, den die Macht der Sprache nicht halten kann, der die Sprache durchbricht zu freimütiger Rede in Zungen (XVIII, 346). Zungenrede ist der vertrauensvolle Umgang mit Gott, der für Außenstehenden unverständlich erscheinen muss. Dabei geht es nicht um unverständliche Laute, sondern es geht um Inhalte, die so ungewöhnlich sind, dass sie einem Nichtgläubigen fremd wie Zungenrede erscheinen. Anderer Auffassung scheint Hirsch zu sein, wenn er seinen Beitrag zu Kierkegaards gele9 gentlichen Reflexionen über die Sprache (HIRSCH, E., Wege zu Kierkegaard, Berlin 1968. 60–64.) abschließt mit folgendem Satz: „Die Sprache ist nur so Ausdruck des Gottesverhältnisses, daß sie uns anleitet, im Sprechen und Hören uns verzehren zu lassen von dem, was jenseits unsers Denkens und Dichtens, also auch jenseits aller Gebilde der Menschenzunge liegt“ (64). 10 Zum Doppelgesicht des Schweigens vgl. den Aufsatz von ROCCA, E., Søren Kierkegaard and silence, in: Houe, P./Marino, G.D./Rossel, S,H, (Hg.), Anthropology and Authority. Essays on Søren Kierkegaard, Amsterdam/Atlanta 2000. 77–83. Nachdem Rocca das dämonische Schweigen der Verschlossenheit dargestellt hat, interessiert auch er sich besonders für das göttliche Schweigen, das sich zum Wort hin öffnet: „a silence that is a communication and condition of the possibility of communication, a silence that is opening up to the word“ (80).
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kelt, die das Thema seines Buches sind.11 Drei zentrale Momente dieses Selbstverhältnisses sollen im folgenden betrachtet werden und mit der Sprachlichkeit des Menschen in Verbindung gebracht werden. Als erstes Moment ist festzuhalten, dass Kierkegaard das Selbst als ein Verhältnis, eine Synthese bestimmt. Er differenziert das Verhältnis genauer als Synthese aus Unendlichkeit und Endlichkeit, Zeitlichem und Ewigem, Möglichkeit/Freiheit und Notwendigkeit. Diese Momente der Synthese wird er später brauchen, um die einzelnen Formen der Verzweiflung zu charakterisieren. Vorerst ist wichtig, dass es sich um ein Verhältnis handelt. Kierkegaard hält dabei ausdrücklich fest, dass es sich allein durch dieses Verhältnis noch nicht um ein Selbst handelt, denn das Verhältnis allein ist nur eine negative Einheit. Eine positive Einheit kommt erst da zustande, wo das Selbst sich zu sich selbst erhält, also zu dem Verhältnis ein positives Drittes hinzukommt. Wo dies nicht geschieht, kommt es zur ersten Form der Verzweiflung: verzweifelt sich nicht bewusst sein, ein Selbst zu haben. Das erste Moment des Selbst ist also, dass es ein Verhältnis ist. Schon mehrmals wurde im bisher Entwickelten darauf verwiesen, dass bei Kierkegaard das Setzen eines Verhältnisses durch Sprache geschieht. Im Zusammenhang von Reden und Schweigen bedeutet das, dass der Mensch zuerst als ein Redender in den Blick kommt. Auch die Momente der Synthese legen nahe, dass man sich das Verhältnis, das die Synthese ist, als ein sprachliches vorstellen kann: Möglichkeit und Unendlichkeit sind nur im Abstand vom Unmittelbaren da, und solchen Abstand gewinnt der Mensch durch Sprache. Zwei weitere Merkmale dieses ersten Moments der Struktur des Selbst, dass es nämlich ein Verhältnis ist, haben eine Parallele in der Sprache. Als eine Synthese, ein Verhältnis findet sich der Mensch immer schon vor, und ebenso findet er sich in der Sprache vor. Man kann an dieser Stelle daran denken, dass Kierkegaard im Begriff Angst festhielt, dass der Mensch von Anfang an Geist und damit auch ein Verhältnis sei und von Anfang an Sprache habe.12 Auch hier gehört beides zusammen: Ohne Sprache könnte er keine Synthese sein, und wäre er kein Verhältnis, hätte er keine Sprache. Aber so wie das Selbst als Verhältnis allein noch kein Selbst ist, sondern sich bewusst zu sich selbst verhalten muss, so ist auch die Sprache nicht einfach als Gabe da, sondern ist auch Aufgabe. Ebenso wie das Selbstverhältnis verfehlt werden kann, dient Sprache nicht von sich aus der Kommunikation, sondern kann sich in Missverständnis oder Geschwätz ————— 11 Auf diesen Teil A des ersten Abschnitts (XXIV, 8–10) bezieht sich, wo nicht anders vermerkt, der folgende Text. Als einen genauen Kommentar zur Interpretation dieses Textes vgl. RINGLEBEN, J., Die Krankheit zum Tode von Sören Kierkegaard. Erklärung und Kommentar, Göttingen 1995. 12 Zu den Belegen dazu, dass der Mensch sich immer schon in der Sprache vorfindet vgl. oben Kap.2.1.
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verfehlen. Die negative Einheit des Selbstverhältnisses hat eine Entsprechung in der Sprache: Kierkegaard bemerkt, dass Wörter wie Selbst bei einem Verzweifelten der ersten Form wie in Kindersprache vorkommen (XXIV, 48). Wörter bezeichnen etwas, aber können nicht als Ausdruck des Ich verwendet werden, erläutert Kierkegaard. Einen unschuldigen Missbrauch von Sprache nennt er das, so wie wenn Kinder Soldaten spielen (XXIV, 48). Das erinnert daran, dass Adam im Begriff Angst vom Unterschied zwischen Gut und Böse, sowie von Schuld und Strafe sprach, ohne diese Worte verstehen zu können. Erst wo die Freiheit vollzogen ist, kann Adam diese Worte verstehen, wurde dort erklärt. Hier heißt es nun, dass die Sprache erst zu sich kommt, wo sie als Ausdruck des Ich verwendet wird. Mit beiden Formulierungen scheint dasselbe gesagt: erst wo das Selbst sich in Freiheit als Selbst setzt, kann es die Sprache so gebrauchen, das sie ein Ausdruck seines Ich ist. Erst dieses Ich ist sich des Unterschiedes in seinem Selbst bewusst, und erst dann kann es die Rede von Unterschieden z.B. zwischen Gut und Böse verstehen. Im Begriff Angst bezeichnete Kierkegaard die Sprache als Ausdruck alles Geistigen, und hier entspricht dem, dass sie ein Ausdruck des Ich ist, das eben dieses Geistige ist. Dabei handelt es sich aber bereits um mehr als ein einfaches Verhältnis, denn da ist bereits ein Drittes, das sich zu diesem Verhältnis verhält. Dieses Dritte ist das nächste Moment der Struktur des Selbstverhältnisses, auf das eingegangen werden muss. Um ein Selbst zu werden, muss also zu dem Verhältnis hinzukommen, dass das Selbst sich zu sich selbst verhält. Oder in anderen Worten Kierkegaards: es geht um das am Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Erst im bewussten Sich-zu-sich-selbst-Verhalten ist eine positive Einheit gegeben. Dabei stößt das Selbst auf die Frage, wie es eigentlich zu einem Selbst geworden ist, das sich zu sich selbst verhält. Ein Selbst kann sich selbst gesetzt haben oder es kann durch ein Anderes gesetzt worden sein. Kierkegaard geht davon aus, dass ein Selbst sich nicht selbst setzen kann. Insofern stößt das Selbst notwendig in seiner Struktur auf ein Anderes. Wo es dieses Andere abwehrt, kommt es zu den Verzweiflungsformen des Nicht-man-selbst-sein-wollens oder des Man-selbst-seinwollens. Im ersten Fall will man nicht das Selbst sein, wie es gesetzt ist, will also sein Selbst loswerden. Im zweiten Fall akzeptiert das Selbst nicht, dass es gesetzt, also ein abhängiges Selbst, ist, und versucht verzweifelt, sich selbst zu setzen. Dabei lässt sich die erste Form in die zweite auflösen. Kierkegaard beobachtet, dass Menschen, die Schweigen suchen und aushalten können, meistens tiefere Naturen sind. Das Schweigen spricht für eine Beschäftigung mit dem Selbst (XXIV, 64). Mit Beschäftigung muss hier gemeint sein, dass das Selbst die Frage stellt, wie es als Selbstverhältnis gesetzt ist. So wie das Selbst dabei auf die Frage nach dem Grund des Verhältnisses stößt, so gerät auch die Sprache an die Frage ihres Grundes
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und ihrer Grenze. Für das Selbst bedeutet das Andere, auf das es stößt, zugleich das Nichtsein des eigenen Selbst und auch die Sprache, in der sich das Selbstverhältnis bis dahin selbstverständlich vollzogen hat, stößt auf ihr eigenes Nichtsein, das Schweigen. Der Punkt, an dem das Selbst nach dem Grund seines Selbst fragt, scheint das Schweigen zu sein, weil nur das Schweigen als Nichtsein des Redens dem Nichtsein des Selbst an dieser Stelle entspricht. Folgerichtig ist dann auch die höchste Form der Verzweiflung, das trotzige Festhalten am eigenen Man-Selbst-Sein-Wollen gegenüber Gott, ein dämonisch in sich selbst verbissenes Schweigen. Es bleibt für Kierkegaard nicht bei dem verzweifelten Selbst, das an der Frage des Grundes seines Selbstverhältnisses scheitert. Er fügt ein drittes Moment hinzu, das die Bewegung des Selbst zu einem wirklichen Selbst werden lässt: es bedarf eines Verhältnisses zu dem Anderen. Kierkegaard bringt die gelungene Form solch eines Verhältnisses auf die Formel, dass das Selbst sich durchsichtig gründet in der Macht, die es gesetzt hat. Das Nichtsein des Selbst fällt zusammen mit dem Sein des Selbst als ein abgeleitetes Selbst. Darin liegt das aktive Moment, dass das Selbst sich in einer Bewegung zu sich selbst verhält und gleichzeitig das passive Moment, dass das Selbst ein abhängiges Selbst ist, also von einer anderen Macht als Selbstverhältnis gesetzt ist. Selbst- und Gottesverhältnis liegen ebenso ineinander wie Aktiv- und Passivsein. Das Selbst gründet sich durchsichtig in der Macht, die es gesetzt hat; das ist für Kierkegaard eine Beschreibung des Glaubens. Die Sprache des Glaubens war es, die Johannes de silietio nicht verstehen konnte, von der er aber ahnte, dass es zwischen Gott und Abraham solch eine Sprache geben müsse. Drei Hinweise seien kurz benannt, wie diese neue Sprache vom Verständnis des Glaubens als durchsichtiges Sich-Gründen her konkretisiert werden könnte. Einmal lässt sich das Durchsichtigwerden so interpretieren, dass die Synthesegegensätze durchsichtig füreinander werden, d.h. lebendig eins werden. Das ist der Punkt, an dem Johannes de silentio scheiterte, weil er die Gegensätze als Paradox aufeinanderprallen ließ. Bei Abraham werden sie durchsichtig füreinander. In der Krankheit zum Tode erwähnt Kierkegaard, dass gesunder Glaube Widersprüche lösen kann (XXIV, 37). Sie sind nicht aufgehoben, aber sie können im Glauben in ein Verhältnis gebracht werden. Genau das geschieht bei Abraham. Die Sprache des Glaubens ist also eine, in der Widersprüche zusammengehalten werden können. Weiter könnte man das durchsichtige Sich-Gründen verstehen als eine Beschreibung der Gebetssituation, in der das Selbst sich in seiner Durchsichtigkeit auf Gott hin klar wird.13 Bei Abraham jedenfalls deutet vieles ————— 13 Beim durchsichtigen Sich-Gründen als Beschreibung einer Gebetssituation kann man daran denken, dass Ebeling mit dem, was er die Grundsituation nennt, ähnliches meint: ein Durch-
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darauf hin, dass die neue Sprache vor allem Gebetssprache ist. Schließlich gehört zum durchsichtigen Sich-Gründen, dass göttliche und menschliche Rede durchsichtig füreinander werden. Johannes de silentio empfindet das Wort Abrahams, das er auf dem Weg zum Berg Moria zu Isaak spricht, wie ein Wort Gottes (IV, 128ff), und Abraham spricht für ihn in Zungen, also auch in göttlicher Rede. Er selbst bedient sich eines Wortes Gottes, um zu beschreiben, wie Abraham getröstet wird, wo menschlicher Trost ihm versagt bleiben muss. Durchsichtigkeit ist da, wo das Selbst im Glauben von einem Anderen her als das eigene empfangen wird. Das ist die Bewegung des Wortes Gottes, das als ein Anderes als eigenes empfangen wird. So kann das göttliche Wort zu menschlicher Rede im Gebet oder in der Verkündigung werden.14 Das Werden des Selbst stellt sich also als eine Doppelbewegung dar: von dem unmittelbaren Verhältnis über die Entdeckung des Dritten, das das Verhältnis neu setzen kann, aber dabei den Unterschied im Selbst entdeckt und dieses Andere als eine Infragestellung des eigenen Selbst erlebt hin zu dem wirklichen Selbst, das sich durchsichtig in der Macht gründet, die es gesetzt hat. Oder verkürzt gesagt: vom unmittelbaren Verhältnis über die Aufhebung des Verhältnisses hin zu einem neuen Verhältnis. Dieser Doppelbewegung entspricht eine Bewegung der Sprache zwischen Reden und Schweigen: Zuerst ist die selbstverständliche immer schon gegebene Sprache, in der der Mensch sich von sich distanzieren kann und sich als ein Verhältnis wahrnimmt. Diese bleibt aber unvollständig, weil sie kein Ausdruck des – noch nicht vorhandenen – Ichs sei kann. Der Aufhebung des Selbst durch sein Anderes entspricht das Schweigen. Dem neuen Verhältnis entspricht dann eine neue Sprache. Von hier aus wird verständlich, warum das Schweigen ein Doppelgesicht hat. Es verweist auf die Grenze, auf den Anderen. Als diese Grenze des Selbst, als sein eigenes Nichtsein ist es bedrohlich. Es wird aber da, wo das Selbst anerkennt, dass das Andere die Macht ist, die es gesetzt hat, zu dem Punkt, an dem sich das Selbst in ein positives Verhältnis zu diesem Anderen setzt. Mit dem neuen Verhältnis entsteht neue Rede. Das abgeleitete Selbst befindet sich in einem Zustand, in dem Sein und Nichtsein zusammenfallen. Deshalb kann im Schweigen beides liegen: die Aufhebung der Sprache, die für das Verhältnis und damit das Sein des Selbst stand, und gleichzeitig für den Anfang des neues Verhältnisses durch die Macht, die es gesetzt hat.15 ————— sichtigwerden des Menschen hin auf das, was ihn in seinen innersten Lebensbezügen trägt (Vgl. dazu den Abschnitt über das Gebet in EBELING, G., Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. I, Tübingen, 31987. 193–210.). 14 Zum Ineinander von Gotteswort und Menschenwort vgl. das Kapitel 4.3. 15 In genau dieser Weise hängen Nichts und Schweigen auch in folgendem Zitat zusammen. Das mystische Nichts ist so inhaltsreich, wie das Schweigen der Nacht Stimme hat für den, der
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Zwei Verhältnisbestimmungen von Reden und Schweigen zeichneten sich bisher ab. Einerseits gibt es eine wohltuende Sprache, die mit sich selbst und anderen in Beziehung setzt und die ihr anderes in bedrohlichem Schweigen hat, mit dem eine Negation aller Verhältnisse einhergeht. Das andere Verhältnis ist das Schweigen, das nicht als bedrohlich erlebt wird, sondern göttliches Schweigen ist, und die neue Sprache, die aus dem Schweigen des Einzelnen entsteht. Diese beiden Verhältnisse können nun jeweils verfehlt werden. Die Struktur des Selbst hatte Parallelen zum Verhältnis von Reden und Schweigen. Die Verfehlung des Selbst, die die Sünde ist, hat ihre Entsprechung in sprachlichen Phänomenen, in denen das Verhältnis von Reden und Schweigen nicht stimmt. Die eine Erscheinung der Sünde in der Sprache ist die Verschlossenheit, die ja oben schon dargestellt wurde.16 Von der Perspektive Reden und Schweigen her lässt sich hinzufügen, dass die Verschlossenheit dem zweiten Verhältnis von Reden und Schweigen widerspricht, insofern das Schweigen des Einzelnen beim Einzelnen bleibt und sich nicht einer neuen Sprache öffnet. Statt des göttlichen Schweigens, das auf die Sprache hin offen ist, ist da dämonisches Schweigen, das Kommunikations- und Freiheitsverweigerung ist. Das Schweigen, das auf Hören und Angesprochenwerden angelegt ist, wird zu einem aktiven Festhalten am Schweigen der Verschlossenheit. Eine weitere Erscheinung der Sünde in der Sprache ist das Geschwätz, das mit der ersten Form des Verhältnisses von Reden und Schweigen zu tun hat: wo die Sprache nicht von ihrem anderen, vom Nichts begrenzt wird, verliert sie ihre Bedeutung und wird zu Geschwätz. Kierkegaard äußert sich zum Geschwätz in verschiedensten Schriften.17 Einige dieser Belege seien im folgenden Kapitel vorgestellt.
————— Ohren hat zu hören. Das ironische Nichts ist Totenstille, in der die Ironie Spuk macht (XXXI, 263). Das ironische Nichts ist hier das bedrohliche Nichts, während das mystische Nichts ein Schweigen ist, das sich zu neuer Sprache entwickelt, denn in diesem Schweigen ist eine Stimme, die es zu hören gilt. 16 S.o. Kapitel 2.3 und 2.4. 17 Vielleicht gehört es zur Wirkungsgeschichte Kierkegaards, dass auch bei Heidegger das Gerede breiten Raum einnimmt (Der §35 von Sein und Zeit ist dem Gerede gewidmet). Heidegger bezieht sich nur selten direkt auf Kierkegaard, aber in einer Fußnote wird deutlich, wie sehr Kierkegaard ihn angeregt hat. Heidegger verweist gerade auf die Erbaulichen Reden, denen er mehr Anregungen verdankt als den theoretischen Schriften (HEIDEGGER, M., Sein und Zeit, Tübingen 101963. 235. Anm. 1).
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3.2 Geschwätz Geschwätz Das Geschwätz ist ein Phänomen, das die Aufmerksamkeit Kierkegaards seit seinen ersten Schriften auf sich zog. Gleich zu Beginn von EntwederOder gibt es einen Diapsalm zum Geschwätz: Es gibt ein Geschwätz vernünftiger Überlegung, welches mit seiner Unendlichkeit zum Ergebnis in dem gleichen Mißverhältnis steht wie die unübersehbaren ägyptischen Dynastien zur geschichtlichen Ausbeute (I, 21).
Unendlich zieht sich das Geschwätz hin, gibt sich vernünftig und hat doch keinen Inhalt. So wird das Geschwätz zur Belanglosigkeit. Wer zu jedem Anlass etwas zu sagen hat, tut mit seinem Geplapper und Geschreibe die gleiche Wirkung wie im Märchen die Mühle, die im Hintergrund klippklapp, klippklapp macht (I, 251), stellt Kierkegaard mit spitzer Zunge fest. Oder an anderer Stelle bemerkt er ebenso ironisch, dass Geschwätz wie die Erfindung des Brausepulvers ist, mit dem der ganzen Menschheit ganz unvergleichlich wohl gedient ist (XII, 209). Rede muss eben einen wesentlichen Inhalt haben. Inhaltslosigkeit findet Kierkegaard auch in der Literatur portraitiert. In der Rezeption von Scribes Drama wird Emmeline folgendermaßen charakterisiert: Sie hat Pathos, aber da dessen Inhalt Unsinn ist, so ist ihr Pathos wesentlich Geschwätz; sie hat Leidenschaft, aber da deren Inhalt ein Phantom ist, so ist ihre Leidenschaft wesentlich Narrenschaft; sie hat Schwärmerei, aber da deren Inhalt ein Nichts ist, so ist ihre Schwärmerei wesentlich Plapperei (I, 271).
Und wenige Seiten später noch einmal zusammenfassend: „Emmelines Wesen ist das unendliche Geschwätz“ (I, 275, auch 296). Inhaltslosigkeit und Belanglosigkeit sind also die ersten Kennzeichen des Geschwätzes. Der Ästhetiker in Entweder-Oder ist sich sehr bewusst, dass alle Rede in Gefahr ist, zu Geschwätz zu werden, und ist deshalb immer auf der Suche nach anderen Ausdrucksformen für das, was ihn besonders beschäftigt: die Liebe. So heißt es z.B. im Tagebuch des Verführers: „Liebe ist allzu wesenhaft, um sich am Reden genügen zu lassen, und die erotischen Situationen sind allzu bedeutungsvoll, um mit Reden gefüllt zu werden.“ Der Verführer hat ein feines Gespür, wie Situationen in Musik oder in Bildern ausgedrückt werden. Dagegen wirkt die Rede oft plump: „Die soliden Verlobten beginnen indes immerfort mit derartigem Geschwätz, welches denn auch der alles verbindende Faden in ihrem redseligen Ehestande wird“ (I, 454). Hier ist schon herauszuhören, dass der Ästhetiker das Reden über die Liebe in der Ehe meistens für Geschwätz hält. Solches Geschwätz wirft er dem Ethiker dann auch vor.
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Aber auch dieser grenzt sich zuerst einmal ab von denjenigen, die „eine ausgeprägte Vorliebe für Geschwätz“ haben: „So trifft man auf der Straße, in Gesellschaften und in Büchern vielfältig auch Geschwätz, welches unverkennbar das Gepräge jener „Originalitätswuth“ trägt, die, in die Wirklichkeit übergeführt, die Welt mit einer Menge von Kunstprodukten bereichern würde, von denen eines immer lächerlicher wäre als das andere“ (II, 278). Soweit sind der Ästhetiker und der Ethiker sich einig, es geht wieder um Belanglosigkeiten oder um Aussagen, die als Neuigkeiten dargeboten werden, ohne dies zu sein. Der Ästhetiker und der Ethiker unterscheiden sich aber auch in einigem. Für den Ethiker ist Geschwätz das Gegenteil von Offenherzigkeit und Aufrichtigkeit, die weit mehr ist als „die plappermäulige Offenmäuligkeit, die in weitläufigen Familienehen grassiert“ (II, 111). Das Offenbarsein in der Liebe hält der Ethiker für die Ewigkeitsbestimmung der Liebe. Statt zu belanglosem Geschwätz zu werden, bekommt die Liebe in der Ehe eine Geschichte, die erste Liebe bekommt eine neue Qualität (II, 125). Mit der unbedingten Verpflichtung auf das Offenbarsein grenzt sich der Ethiker vom Ästhetiker ab. Deswegen ist er auch weit mehr am Wort orientiert als dieser und kann mit der Ambivalenz von Sprache nicht gut umgehen, geschweige denn sie bewusst einsetzen, um andere zu täuschen wie der Ästhetiker das tut. Die Rede muss sich mit dem decken, was der Mensch ist. Deshalb ist für den Ethiker nichts entsetzlicher als sich selbst über Geschwafel zu ertappen. Damit ist alle wahre Idealität vernichtet; denn ein Schurke sein, das läßt sich bereuen; daß man von dem, was man gesagt hat, auch nicht ein Wort wirklich gemeint hat, das kann einem bitter leid sein; aber nichts als Geschwafel, offenkundiges Geschwafel sein, alles gemeint haben und siehe es ist Geschwafel gewesen: vor so etwas ekelt sich sogar die Reue (XV, 50).
Offenbarsein als Kriterium dafür, dass Rede nicht zu Geschwätz wird, scheint hier zu bedeuten, dass die Sprache dem entsprechen muss, was der Mensch ist. Wo der Mensch bewusst von etwas redet, was er mit seiner Person nicht decken kann, also z.B. von der Liebe, obwohl er gar nicht wirklich liebt, ist das zwar Geschwätz, aber immerhin ist es – wie beim Verführer – möglich, dass ihm bewusst ist, dass er andere und sich selbst damit täuscht. Schwierig wird es, wenn ein Mensch meint, sich selbst in seiner Sprache auszudrücken, und dabei nicht merkt, dass seine Sprache nicht Ausdruck seines Ich ist. Hier deutet sich die Schwierigkeit an, wie ein Mensch merkt, dass er sich selbst in seiner Sprache verfehlt. Der Ethiker antwortet darauf, dass nur der Bezug auf das Unbedingte das Offenbarsein in der Sprache gewährleistet. Das Unbedingte tritt in Gegensatz zum Geschwätz: „zum Unbedingten gibt es nur einen unbedingten Gegensatz, nämlich Geschwafel“ (XV, 51). Weil das Geschwätz im Gegensatz zum Unbe-
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dingten steht, kann es einen Menschen auch davon ablenken, sich auf das Unbedingte zu beziehen, wie es eigentlich seine Bestimmung ist. Eigentlich ist jeder Mensch dazu veranlagt, über die ewige Seligkeit nachzudenken, meint Kierkegaard und Gott kann nichts dafür, daß Gewohnheit und Schlendrian, Leidenschaftslosigkeit und affektiertes Wesen und Schwatzen mit dem Nachbarn und dem Gegenüber die meisten nach und nach verderben, so daß sie gedankenlos werden – und ihre ewige Seligkeit bald auf das und bald auf jenes oder ein Drittes gründen – und nicht merken, daß der geheime Schlüssel dafür darin besteht, daß ihre Rede von ihrer ewigen Seligkeit affektiertes Getue ist, eben weil sie leidenschaftslos ist (XVI/1, 44).
In diesem Zitat ist ein weiteres Merkmal benannt, an dem man Geschwätz von wirklicher Rede unterscheiden kann: die Leidenschaft. Bei Verliebten ist es am deutlichsten, dass bei wirklicher Leidenschaft kein Geschwätz nötig ist. So bemerkt Kierkegaard mit Blick auf ein Mädchen: Ist das nicht bei ihr das Wahre, daß sie sich in der verliebten Ursprünglichkeit der Vorstellung ideell zu ihrer Liebe verhält, und deshalb nicht die Gesellschaft einer Schwatzliese sucht, die ihr erzählen kann, wie andere Mädchen ihre Geliebten behandeln? (XVI/2, 254).
Die Ursprünglichkeit des Erlebens ist mehr wert als das Wissen aus dritter Hand, das über Geschwätz vermittelt wird. Das gilt nicht nur für die Verliebtheit, sondern auch für die Religiosität (XVI/2, 254).18 Die Leidenschaft, die vor Geschwätz schützt, garantiert also ein direktes Verhältnis, das nicht über eine dritte Person vermittelt werden kann. Der Ort, an dem die Leidenschaftlichkeit und das Unbedingte angesiedelt sind, ist die Innerlichkeit. So verwundert es nicht, dass sie es ist, die vor Geschwätz bewahrt: Wir haben eine Vorstellung davon bekommen, wie ein Menschenleben nach dem anderen in Geschwätz dahingehen kann, wenn der Existierende nicht in sich selbst die Innerlichkeit hat, die aller Totalitätsbestimmungen Geburtsland und Heimat ist (XVI/2, 248).
Auch der junge Johannes Climacus hofft ganz in diesem Sinne, einen authentischen Bericht über Erfahrungen mit Zweifeln durch die Innerlichkeit des Ausdrucks unterscheiden zu können vom „Nachschwätzer“ (X, 151). Auch bei ihm ist es also die Innerlichkeit, die als Kriterium gilt, wesentliche Rede von Geschwätz zu unterscheiden. Er muss jedoch die Erfahrung machen, dass die meisten über Erfahrungen mit Zweifeln schweigen selbst in Gesellschaft von anderen, die wohl auch Zweifel erlebt haben. Climacus fragt sich, ob die Erfahrung des Zweifelns so entsetzlich ist, dass ihnen ————— 18 Mit dieser Erkenntnis geht einher, dass die dritte Person in leidenschaftlicher Sprache gegenüber dem Ich und Du zurücktritt. Vgl. dazu Genaueres im Kapitel 2.6.
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davor graut, davon zu sprechen. Mit dieser Bemerkung gibt er sich klar als junger Ethiker zu erkennen, dem alles, was nicht in allgemein verständlicher Sprache ausgesagt werden kann, Angst macht. Das Offenbarsein, das wirkliche Rede auszeichnet, kommt hier an seine Grenze. Ein Ästhetiker, der in seinem Leben ebenfalls an Grenzen seines Verstandes und der Nachvollziehbarkeit seiner Gefühle gerät, reagiert ganz anders. Er verstummt nicht, sondern kann seine Sprache sehr bewusst zu Geschwätz werden lassen. In den komplizierten Liebesgeschichten, die Kierkegaard entwirft, kommt immer wieder das Geschwätz vor, als Möglichkeit, die eigene Leidenschaftlichkeit zu verbergen. In solcher Weise dient Geschwätz und Geplapper z.B. Quidam zur Tarnung. Er möchte, dass sein Mädchen nichts von seiner Leidenschaft merkt, er will sich im Geschwätz verstecken und formuliert an sich selbst bzw. seine Leidenschaft gerichtet: Wandle alle Pein in meiner Brust zu Lippengeplapper, alles Pathos in meinem Innern zu Geschwätz, wenn es sich ergießt. […] Schaffe mich um, laß mich, wenn ich bei ihr sitze, dasitzen als eine nickende Pagode, mit einem gedankenlosen Lächeln um die Lippen, umhaucht von Geplärr (XV, 352).
Wer sich des Geschwätzes in solcher Weise bedienen kann, ist in der Lage, es zu benutzen, um andere zu täuschen. Constantin Constatius rät dem jungen Menschen, um aus seiner Liebesgeschichte herauszukommen, ohne das Mädchen zu schädigen: „seien sie unstet, geschwätzig“ (V, 15). Dass der junge Mensch dazu nicht in der Lage ist, zeigt an, dass Leidenschaft sich nicht so ohne weiteres hinter Geschwätz verbergen lässt.19 Sowohl beim Ästhetiker als auch beim Ethiker hat das Geschwätz mit dem Verhältnis von Reden und Schweigen zu tun. Der Ästhetiker spielt mit Reden und Schweigen und setzt dabei das Geschwätz sehr bewusst ein. Wo er leidenschaftliche Gefühle, die eigentlich im Schweigen zum Ausdruck kommen müssten, verbergen will, flüchtet er sich in Geschwätz. Der Ethiker entlarvt das Geschwätz des Ästhetikers sofort, weil es nicht seinem obersten Grundsatz der Aufrichtigkeit entspricht. Er selbst aber scheut das Schweigen. Wenn er an die Grenze dessen kommt, was er aufrichtig sagen kann, neigt er dazu, allgemeine Grundsätze zu wiederholen, was wiederum der Ästhetiker als Geschwätz empfindet, weil er darin die Leidenschaft ————— 19 Solche Situationen führen zu Widersprüchen, die Kierkegaard oft thematisiert. Er unterscheidet z.B. den komischen und den tragischen Widerspruch. Beim komischen Widerspruch wird pathetisch oder systematisch entscheidend von dem gesprochen, wovon man selbst nicht überzeugt ist, oder das man nicht versteht. Das ist wohl ein Widerspruch, in den sich ein Ethiker leicht verwickeln kann. Die Situation eben ist wohl eher das, was Kierkegaard einen tragischen Widerspruch nennt: es wird in schwebenden Ausdrücken, in scherzhaften Andeutungen, in oberflächlichen Redensarten von dem gesprochen, was einen so beschäftigt und ängstigt, dass man fast daran stirbt (XV, 287).
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vermisst. Der Ästhetiker hat erkannt, dass in jeder Leidenschaft und im Bezug auf das Unbedingte Reden und Schweigen zusammengehören. Er kann sich dem aber nicht stellen, weil er dazu eine Entschlossenheit brauchte, die bedeutete, die Vielfalt der Möglichkeiten, mit denen er spielt und über die er sich definiert, aufzugeben. Das Geschwätz ist für ihn also die bewusst eingesetzte Möglichkeit, vor der Verbindlichkeit zu fliehen. Der Ethiker hat die Entschlossenheit, die es dazu bedarf und hält an ihr auch auf seine Weise mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit fest. Er lehnt aber das Schweigen ab, weil es infragestellt, dass alles allgemeingültig erfasst und auch ausgedrückt werden muss. Indem er vor dem Schweigen, das notwendig alle Rede heilsam begrenzt, flieht, verfällt er ungewollt in Geschwätz. Die wesentliche Zusammengehörigkeit von Reden und Schweigen thematisiert Kierkegaard in seinen Essays über die zwei Zeitalter. Da ist Geschwätz ausdrücklich definiert als diejenige Sprache, in der Reden und Schweigen nicht im rechten Verhältnis sind:20 Was heißt schwatzen? Es ist die Aufhebung des leidenschaftlichen Entweder-Oder zwischen Reden und Schweigen. Allein der, welcher wesentlich schweigen kann, vermag wesentlich zu reden, allein der, welcher wesentlich schweigen kann, vermag wesentlich zu handeln. Das Schweigen ist die Innerlichkeit. Schwatzen nimmt das wesentliche Reden vorweg, und das sich Äußern der Reflexion schwächt die Handlung durch Vorkauf. Wer aber wesentlich reden kann, weil er schweigen kann, er wird nicht das Vielfältige haben, darüber zu reden, sondern das Eine, und er wird Zeit finden zu reden und zu schweigen. Die Geschwätzigkeit gewinnt in extensiver Hinsicht: sie bekommt alles Mögliche, darüber zu schwatzen, und bleibt dabei in einem weg. Wenn in einer Zeit die Individuen nicht in stiller Genügsamkeit, in sinniger Zufriedenheit, in religiöser Innerlichkeit nach innen gekehrt sind, sondern im Reflexionsverhältnis nach außen trachten und einander suchen; wenn kein großes Ereignis die Enden des Fadens verknüpft in der Eintracht einer Katastrophe: so stellt das Geschwätz sich ein. Das große Ereignis gibt der leidenschaftlichen Zeit (denn das eine entspricht hier dem andern) etwas, darüber zu reden; alle werden von dem gleichen Einen reden, die Dichter allein davon singen, die Gespräche allein davon widerhallen, die Grüße der Vorübergehenden werden Hindeutungen enthalten auf dies Eine. Es ist Eines und das Gleiche. Das Geschwätz hingegen hat, durchaus anders, Vieles darüber zu schwatzen. Und wenn dann das große Ereignis vorübergegangen was, wenn Schweigen eintrat, so gab es doch etwas, sich daran zu erinnern, etwas daran zu denken, während des Schweigens, während ein neues Geschlecht von ganz anderen Dingen redet. Aber dem Schwatzen graut vor dem Augenblick des Schweigens, der die Hohlheit offenbar machen würde (XVII, 104).
————— 20 Dieser Zusammenhang ist – vielleicht angeregt von Kierkegaard – auch formuliert bei Guardini: „Ohne den Zusammenhang mit dem Schweigen wird das Wort zum Gerede, ohne den mit dem Wort wird aus dem Schweigen Stummheit.“ (GUARDINI, R., Die religiöse Sprache, in: Die Sprache. Vortragsreihe München, Berlin 1959. München 1959. 11–31. hier 13.).
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Das Schweigen garantiert, dass mit der Sprache etwas Wesentliches gesagt wird. Das Schweigen offenbart die Hohlheit, also das Nichts. Nur, wo das Nichts im Bewusstsein ist, kann eine Aussage als wirkliche Aussage stehen, weil sie daraufhin geprüft ist, ob sie nicht doch Nichts ist. Weiter ist in diesem Textabschnitt benannt, dass die Begrenzung der Rede durch das Schweigen dafür einsteht, dass die Rede in Handlung umgesetzt werden kann. Der Gedanke, dass nur Schweigen entschlossenes Handeln ermöglicht, kommt bei Kierkegaard häufig vor.21 Den systematischen Grund dafür sucht Kierkegaard in der Struktur des Bewusstseins.22 Schließlich ist als Merkmal von Geschwätz genannt, dass es sich in der Vielfalt verliert, während sich wirkliche Rede auf eine Einheit konzentriert. Es ist bemerkenswert, dass gerade die Zweiheit von Reden und Schweigen letztlich eine Einheit ist, während das Reden allein sich in Vielfalt auflöst. Die Einheit, die durch das Geschwätz verfehlt wird, thematisiert Kierkegaard immer wieder. An anderer Stelle in dieser Schrift über die zwei Zeitalter wird gesagt, dass es zwei Möglichkeiten gibt, sich einer Einheit zuzuwenden. Entweder es geschieht in der Konzentration auf die Innerlichkeit oder in der gemeinsamen Orientierung auf eine äußere Einheit. Die Individuen kehren sich nicht nach innen in Innerlichkeit von einander fort, nicht nach außen in Eintracht hin zu einer Idee, sondern gegenseitig widereinander in aufhaltender und trostlos zudringlicher nivellierender Wechselseitigkeit. Der Durchgang zur Idee ist versperrt, die Individuen sind sich selbst und eines andern wechselseitig in die Quere gekommen, der selbstische und der gegenseitige Reflexionswiderstand ist wie Schlick – und man sitzt nun darin fest. An die Stelle der Freude tritt ein gewisses weinerliches Mißvergnügen, an die Stelle der Trauer eine gewisse zählebige verstockte Ausdauer, an die Stelle von Begeisterung eine von Erfahrung schwatzende Verständigkeit. Aber so wie in ‚Tausend und Eine Nacht‘ sein Leben retten durch den Zauber der Erzählung ist eines, und ein anderes ist es, sich vom Zauber der begeisternden Idee und von der Wiedergeburt der Leidenschaft auszuschließen – durch Geschwätzigkeit (XVII, 66f).
Die Rede hat hier keine positiv wirkende Kraft mehr, sondern lenkt von der Konzentration auf das Wesentliche ab. Das Geschwätz führt zur Nivellierung von Unterschieden. Das gilt für Individuen in der Gesellschaft. Das gilt aber sicher auch für das einzelne Selbst. Der Unterschied im eigenen Selbst muss wahrgenommen werden, das führt zur Konfrontation mit dem eigenen Nichts. Wer das nicht will, kann das Schweigen nicht aushalten, ————— 21 Vgl. dazu unten Kapitel 4.3. Zum Zusammenhang von Geschwätz und Vermeiden von Handlung vgl. auch in der Schrift Urteilt selbst: Alle Versicherungen, dass man der Wahrheit des Christentums angehöre, werden zu Geschwätz und Heuchelei, wo das Leben es nicht ausdrückt, dass man zum Christentum gehört (XXIX, 151). 22 Zu dieser These, die sich am Text des Fragments über den Zweifel festmacht vgl. Kapitel 4.1.
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weder vor sich selbst noch im Umgang mit anderen. Nur da, wo der Unterschied ausgehalten wird, kann es zu einer neuen Einheit kommen, die von außen gesetzt wird. Das fügt sich in Kierkegaards Vorstellung vom Selbst, das aus der Zweiheit, die es in sich selbst trägt, von außen als eine Einheit gesetzt wird. Die Einheit stellt eine Verbindung her zu früher entwickelten Kriterien, an denen man Geschwätz von wirklicher Rede unterscheiden konnte. Um den Bezug zum Unbedingten und zur Ewigkeit, der durch Geschwätz verstellt wird, geht es z.B. auch in Kierkegaards Unterscheidung zwischen dem Gedächtnis, das für konkrete Dinge zuständig ist, und der Erinnerung, die Erlebnisse der Vergangenheit in Zusammenhänge setzt und deshalb mit der Idealität und der Ewigkeit in Verbindung steht. Die Erinnerung stellt sicher, dass das irdische Dasein uno tenore wird, ein einziger Atemzug und aussagbar in einem einzigen Atemzug. Deshalb verbittet sie es sich, dass die Zunge genötigt wird, wieder und wieder zu plappern, um das Geplapper des Lebensinhalts nachzubilden (XV, 10). Das Geschwätz verliert sich in vielerlei, während für das gläubige Selbst die Einheit wichtig ist. Die Einheit hat bei Kierkegaard immer den Bezug zur Ewigkeit, während sich die Zeitlichkeit in Vielfältigkeit auffächert. Das passt zu seiner Aussage, dass das Geschwätz Angst vor Ewigkeit hat, während die Zeit eine „seltene Überredungsgabe“ besitzt: „sie schwätzt fort und fort dazwischen und wiederholt ständig: solange ich bin, ist immer noch Zeit“ (VIII, 102). Reden und Schweigen im rechten Verhältnis gewährleisten also, dass eine Einheit möglich wird, die einen Unterschied in sich fassen kann. Ein Mensch, der weiß, wann Zeit zum Reden und wann Zeit zum Schweigen ist, kommt zu dieser Einheit, die ein gelungenes Selbstverhältnis ist. Das Selbstverhältnis, das eine Einheit ist, die einen Unterschied in sich fasst, ist für Kierkegaard das gläubige Selbst. Von daher liegt es nahe, dass gläubige Rede in Gegensatz zu Geschwätz tritt: Wie es narrenhaftes Reden ist, den Namen Gottes mit in gewöhnliches Geschwätz einfließen zu lassen, so ist es auch narrenhaftes Reden, das absolute Telos auf gleiche Linie mit der Schützenkönigswürde und anderem Derartigen zu bringen“ (XVI/2, 108).
Weiter ist Geschwätz mit der Rede des Apostels nicht zu vereinbaren: Es wäre, wie ich annehme, für einen Apostel einer der schrecklichsten Konflikte, vielleicht der schrecklichste überhaupt, falls es sich denken ließe, daß Fürsorge für einen Menschen den Apostel etwa dazu nötigt, in zweideutigen Ausdrücken, im Tone leichter Plauderei von der Wahrheit des Christentums zu sprechen (XV, 288).
Und auch Gottes Wort selbst steht mit seiner Schöpferkraft in Gegensatz zu Geschwätz:
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Gottes Stimme ist allezeit ein Raunen und die Forderung der Zeit in eines tausendzungigen Gerüchts Gestalt ist kein allmächtiges ‚Es werde‘, das da große Männer schafft, sondern eine Unruhe im Abfall, welche Wirrköpfe schafft, ein Abracadrabra, das wie das von jeder Hervorbringung gilt, seinesgleichen hervorbringt (XVII, 8).
Religiöse Rede in ihrem eigentlichen Sinn steht im Gegensatz zu Geschwätz. Das passt gut dazu, dass religiöse Rede für Kierkegaard leidenschaftliche Rede par excellence ist. Aber dennoch ist sie nicht davor gefeiht, zu Geschwätz zu werden. Auch religiöses Geschwätz hängt wieder damit zusammen, dass Reden und Schweigen nicht in ihrem richtigen Verhältnis sind. Jeder Mensch ist herrlich veranlagt, aber was so viele zugrunde richtet, ist unter anderem auch diese unselige Redseligkeit von Mann zu Mann über das, was gelitten, aber auch reif werden soll in der Stille; dieses Beichten vor Menschen statt vor Gott, dieses von Herzen kommende Mitteilen an diesen und jenen von dem, was ein Geheimnis sein und vor Gott dasein soll im Verborgenen; dieses ungeduldig begehrliche Streben nach vorläufigem Trost. […] Von Gott muß er seinen Trost holen, damit nicht seine ganze Religiosität zu Rede und Gerücht wird (XVI/2, 198).
Besonders leicht kann religiöse Rede über die Liebe zu Geschwätz werden. Im Vergleich mit dichterischer Rede über die Liebe wird deutlich, wie der Glaube über Liebe reden muss. Wo ihm das gelingt, geschieht etwas Herrliches, das aber immer nahe am Abgrund des Geschwätzes bleibt. „Das Dichterische ist herrlich, das Religiöse noch herrlicher, jedoch was zwischen beiden liegt, ist Geschwätz“ (XV, 439f), sagt Kierkegaard. Die Liebe ist immer eine Doppelbewegung, hat immer ein Hindernis. Im Dichterischen liegt das Hindernis außerhalb und der Konflikt zwischen der Liebe und dem, was sie in der Welt hindern will, wird dichterisch entfaltet. Im Religiösen liegt das Hindernis in der Liebe selbst, nicht außerhalb, sondern innerhalb des Individuums. Da, wo es dieses Hindernis gar nicht gibt, wird das Reden über Liebe zu Geschwätz. Hier zeigt sich wieder, dass wirkliche Rede einen Unterschied in sich ausdrücken können muss. Dieser Unterschied, die Entdeckung des anderen im eigenen, das ein Widerspruch ist und alles infrage stellt, kann nur im Schweigen entdeckt werden. Das Geschwätz hingegen vertuscht alle Unterschiede aus Angst vor dieser Infragestellung. Für Kierkegaard, der immer auf der Suche nach dieser unterschiedenen Einheit ist, schafft Geschwätz das Bedürfnis nach Schweigen. Da, wo die Mitteilung immer geringer wird, aber das Mitteilungsmittel immer lauter, kann er nur noch ausrufen: schaffe Schweigen! (XXVIII, 85). Denn nur wer das Schweigen nicht durch Geschwätz überspielt, wird den Weg zu sich selbst und zu Gott finden.23 Menschen mit ihrem geschwätzigen Lärmen ————— 23 Dem Unbedingten kann der Mensch nur in der Stille entspreche. Demjenigen, der fragt, wozu denn die Plage mit dem Unbedingten, dem antwortet Kierkegaard: sei still, es ist das Unbe-
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sind nichts gegen die sprudelnde „Quelle, die in jedem Menschen ist, jener sprudelnden Quelle, worin der Gott wohnt, jener sprudelnden Quelle in der tiefen Stille, wenn alles schweigt“ (XVI/1, 173f). Über diese Stille, in der Gott zu finden ist, soll jetzt in einem neuen Abschnitt Genaueres gesagt werden. Schließlich bleibt noch hinzuzufügen, dass der Mensch sich nicht nur durch geschwätzige Rede, sondern auch durch Schweigen versündigen kann. Wer schläft, sündigt nicht, dieses Sprichwort, behauptet Kierkegaard, kann man nicht auf die Sprache übertragen und sagen, wer schweigt, sündigt nicht. Es gibt Schuld durch Schweigen. Er meint damit nicht die Schuld, die entsteht, weil man Umstände durch das Schweigen nicht verändert hat. Schweigen aus Besonnenheit kann vielmehr richtig sein. Schuld, so will er festhalten, ist aber Schweigen aus Klugheit, also zum eigenen Vorteil (XVIII, 156). Um solches Schweigen zum eigenen Vorteil scheint es sich auch in dieser Erbaulichen Rede zu handeln, wo Kierkegaard davon spricht, dass Schweigen zur Versuchung werden kann, „zur Selbstsucht, zur schweigenden Zustimmung der Bewunderung anderer“ (XIII, 80f). Schweigen kann weiter für Gleichgültigkeit stehen, kann Schwermut oder schlechtes Gewissen verbergen (XIII, 83). Auch dieses Schweigen gehört in den Bereich der Sünde. In der gleichen Rede betont Kierkegaard aber noch einmal, dass das Schweigen auch ein Sich-Verschliessen im Guten sein kann (XIII, 80). Alles, was da Gutes ist in einem Menschen, ist von Anbeginn an verschwiegen, und gleich wie es Gott wesentlich eigen ist, daß er im Verborgenen wohnt, so wohnt auch das Gute im Verborgenen bei einem Menschen. Jeder Entschluß, der im tiefsten Grunde gut ist, ist verschwiegen, […]; jedes heilige Gefühl, das im tiefsten Grunde gut ist, ist verschwiegen […]; jede reine Teilnahme am Menschlichen, die im tiefsten Grunde gut ist, ist verschwiegen, denn sie ist verborgen in Gott; jede Herzensregung ist verschwiegen, denn die Lippe ist geschlossen und allein das Herz tut sich weit auf. Wie traurig, wenn die Menschen es mehr und mehr vergessen: da wo alles schweigt, wo keiner ausspricht und nennt, was da im Inneren vorgeht, wo die Stille um einen Menschen herumwächst, da kann er bei Gott sein im Verborgenen (XIII, 80).
Das Nebeneinander von der positiven, ja heilnotwendigen Bedeutung des Schweigens einerseits und der Bedrohung und Gefährlichkeit des Schweigens andererseits bleibt bei Kierkegaard immer erhalten. Die Ambivalenz sowohl von Reden als auch von Schweigen ist immer im Blick. ————— dingte! (XXVI, 62). Ein Motiv aus der Antike scheint Kierkegaard zu faszinieren, in dem es auch darum geht, dass eine Begegnung mit dem Göttlichen nur dem möglich ist, der schweigen kann: mehrmals taucht die Prophezeiung an eine Mutter auf, die, wenn sie schweigen kann, einen Gott gebären wird, wenn sie redet, einen Menschen (z.B. I, 33). Alles will in Stille erworben, im Schweigen vergöttlicht werden, kommentiert Kierkegaard diese Tradition.
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3.3 Hören Hören In Furcht und Zittern nahmen das bedrohliche und das dämonische Schweigen großen Raum ein, während das göttliche Schweigen in Abgrenzung zu diesen eingeführt wurde, und es nur Andeutungen gab, wie dieses näher bestimmt sein soll. Da ließ sich nur beobachten, wie das göttliche Schweigen kein Schweigen blieb, sondern zu neuer Sprache wurde. In den Reden gibt es Texte, die sich als Ausführung dieses göttlichen Schweigens lesen lassen. Dabei ist das Hören von besonderer Bedeutung dafür, wie das göttliche Schweigen zu neuer Sprache wird. Ergiebig ist dafür die erste der drei Religiösen Reden, die Kierkegaard 1849 veröffentlicht und in denen er den Lilien auf dem Felde und den Vögeln unter dem Himmel aus der Bergpredigt nachsinnt. Stillesein, Gehorsam und Freude zeichnen für ihn dort die Lilien und die Vögel aus, diese drei sind Themen der Reden.24 Hier interessiert nun besonders die erste Rede über das Stillesein.25 Kierkegaard legt in seiner Rede über das Stillesein das Wort aus der Bergpredigt (Mt 6,33) aus: „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit“ (XXII, 36). Zu der Frage, was das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit sei, hält Kierkegaard fest, dass es sich nicht um ein Tun, wie z.B. Verteilen des eigenen Vermögens an die Armen oder Verkündigung der Lehre, handeln kann. Das, was zuerst zu tun gefordert ist, kann er nur als ein Nichts bestimmen: Du sollst dich selbst zu einem Nichts machen, du sollst zu einem Nichts werden vor Gott. Und das ist für Kierke————— 24 Kierkegaard schrieb und veröffentlichte diese Reden zusammen mit der Krankheit zum Tode. Das kann man so verstehen, dass Stille, Gehorsam und Freude als Kennzeichen eines gläubigen Selbst die Darstellung der Verzweiflung ergänzen. 25 Auf diesen Text bezieht sich auch Wohlfart (WOHLFART, G., Das Schweigen. Philosophische Bemerkungen zum Begriff des Schweigens bei Kierkegaard Nietzsche, Heidegger und Wittgenstein, in: Reports on Philosophy 15/1995, Krakau 1995. 131–144.) im Zusammenhang seiner Überlegungen, dass das Schweigen der Grund ist, auf den sich die Sprache zu bewegt, und aus dem sie auch hervorgeht (174). Den „Ursprung der Sprache im Schweigen“ (176) veranschaulicht er an Texten Kierkegaards, Nietzsches, Heideggers und Wittgensteins. Das Hervorgehen der Sprache aus dem Schweigen ist bei Wohlfart allerdings etwas anderes als das, was ich hier als die neue Sprache bezeichne, die aus dem Schweigen hervorgeht. Bei Wohlfart ist das Wesentliche im Schweigen, das dann auch im Sinne des von ihm angeführten Zen-Buddhismus Ziel alles Denkens sein soll. Er bezieht sich sicher zu Recht auf Kierkegaard als Denker des Schweigens in der europäischen Philosophiegeschichte. Seine Ergebnisse zur Bedeutung des Schweigens haben aber m.E. keinen Anhalt mehr an Kierkegaards Texten, denn bei diesem bleibt es eben nicht beim Schweigen, sondern es ist nur die notwendige Voraussetzung, um Sprache wirklich zu gebrauchen. Auch Wohlfarts Schlussüberlegungen dazu, dass insbesondere die Sprache der Dichtung der Zugang dazu ist, was das Schweigen bedeutet, lassen sich nur bedingt mit Kierkegaard vereinbaren. Auch bei Kierkegaard hat der Dichter eine besondere Affinität zum Schweigen, aber der Dichter gelangt gerade nicht zum von Kierkegaard sog. göttlichen Schweigen, in dem er hört (s.u.). Die religiöse Sprache, die aus dem Schweigen hervorgeht, ist trotz einiger Gemeinsamkeiten mit dichterischer Sprache bei Kierkegaard qualitativ von dieser unterschieden.
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gaard an dieser Stelle gleichbedeutend mit: schweigen lernen (XXII, 36f). Das entspricht genau der oben anhand der Struktur des Selbst entwickelten Beobachtung: das Selbst erkennt, dass es sich nicht selbst gesetzt hat, es versucht nicht mehr verzweifelt, sich selbst zu setzen, sondern macht sich zu einem Nichts, weil es nur so von einem anderen gesetzt werden kann. Schon bei der Struktur des Selbst ergab sich, dass der Punkt, an dem das Selbst sich zu einem Nichts macht, mit Schweigen zusammengehört. In der Rede über das Stillesein formuliert Kierkegaard: Stille „drückt aus Ehrfurcht vor Gott, dass er es ist, der da waltet, und allein er es ist, dem Weisheit und Verstand zukommen“ (XXII, 43). Hier ist in biblischer Sprache ausgedrückt, was Kierkegaard abstrakt formuliert als das Selbst, das von einem anderen als Selbstverhältnis gesetzt werden muss. Zu einem Nichts zu werden, geschieht nicht von allein. Im Bibelvers ist das an dem Wort ‚trachten‘ festzumachen. Der Mensch ist gerade nicht von Vorneherein ein Nichts, sondern er muss sich erst dazu machen, er muss danach trachten. Dies ist ein Gedanke, den Kierkegaard in seiner Rede in verschiedenen Varianten ausführt: es geht darum etwas zu werden, was man eigentlich nicht ist oder nicht mehr ist.26 Oder in anderer Formulierung: man muss rücklings zum Anfang gelangen (XXII, 36). Leicht zu veranschaulichen ist das am Beispiel des Erwachsenwerdens: Es ist ein Unterschied, ob man ein Kind ist, oder ob man als einmal Erwachsengewordener wieder wie ein Kind wird. Das Kind ist bei Kierkegaard in dieser Rede unschuldig und froh, der Ältere ist schuldig und betrübt (XXII, 33). Wenn jemand nach und mit der Erfahrung von Schuld und Leid wieder unschuldig und froh wird, dann ist er nicht mehr Kind, sondern er ist wieder Kind geworden. Er kann auch im Leiden einfach und einfältig sein (XXII, 42). Diese Bewegung, mit der man rücklings zum Anfang gelangen muss, zeigt Kierkegaard auch für die Sprache auf. Das Redenkönnen zeichnet den Menschen gegenüber Pflanzen und Tieren aus. Weil der Mensch aber Sprache hat, ist das Stillesein für ihn eine andere Aufgabe als für diese. Er ist nicht still, sondern er muss still werden: „weil der Mensch zu reden vermag, eben deshalb ist es eine Kunst, schweigen zu können“ (XXII, 36). Der Hauptakzent dieses Gedankens liegt eben hierauf: Stillewerden ist eine Kunst, es ist eine Aufgabe, der Mensch muss danach trachten, sich dem bewusst zuwenden. Es ist ————— 26 Über die besondere Bedeutung des Werdens in der Entwicklung des Menschen und insbesondere seines Glaubens beschäftigt sich Kierkegaard ausführlich in der Unwissenschaftlichen Nachschrift. Während objektives Denken auf ein Resultat gerichtet ist, ist subjektives Denken immer im Werden, arbeitet er dort heraus (XVI/1, 65). Die Frage danach, wie man Christ werde, gibt Kierkegaard als Leitmotiv für seine Climacus Schriften an (XXXIII, 27). Als eine Einführung in Kierkegaard, die als Leitgedanken seines Werkes herausarbeitet, dass man Christ nicht ist, sondern werden muss, vgl. PIEPER, A., Kierkegaard, in: Axt-Piscalar, C./Ringleben, J. (Hg.): Denker des Christentums, Tübingen 2004. 190–207.
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damit aber noch etwas anderes ausgesagt: wo man etwas geworden ist, ist etwas Neues gegenüber dem entstanden, was man einfach gewesen ist. Die Unschuld und das Frohsein des Erwachsenen, der Schuld und Leid durchlebt hat, haben eine neue Qualität gegenüber der Unschuld und Fröhlichkeit des Kindes. Die Einfältigkeit eines Menschen, der sich seiner Zerrissenheit und Zwiespältigkeit bewusst geworden ist, ist eine andere als unmittelbare Einfalt. Daher muss auch das Schweigen des Menschen etwas anderes sein als das Nichtreden der Natur. Und das Reden des Menschen, der wirklich schweigen gelernt hat, muss ein anderes sein als das Reden, wie es jedem Menschen von Natur aus eigen ist. Schließlich ist zu beachten, dass Kierkegaard in der Auslegung des Bibelverses Wert auf das Wort zuerst legt (XXII, 38). Er betont, dass das Stillesein nicht das Ziel, sondern der Anfang ist. Es ist der Anfang, an dem man sich nicht vorfindet, sondern zu dem man erst gelangen muss. Das hat wieder mit der Kunst zu tun, still zu werden, weil der Mensch eben nicht von Natur aus stumm ist. Es impliziert aber auch, dass nach dem Anfang weiteres folgt. Wenn das Stillewerden ein Zuerst ist, dann muss es ein Danach haben. Was ist dieses Danach? Die Antwort darauf scheint mit einer der Kernaussagen der Rede über das Stillesein zu tun zu haben, nämlich der These Kierkegaards, dass dem Reden mehr noch entgegengesetzt als das Schweigen das Hören ist (XXII, 37f). Im Zusammenhang der Rede ist das eine Aussage über einen Betenden: Zuerst meint der Beter, beten sei reden, dann lernt er, beten sei nicht bloß schweigen, sondern ist hören (XXII, 38). Das Gebet beginnt nicht mit Schweigen, es wird erst Schweigen. Wieder ist der Anfang erst durch ein Werden zu erreichen. Aber der Anfang ist bloß zuerst. Im Schweigen ist dann Hören. Nach dem Schweigen ist also Sprache, aber eine Sprache, die nicht mit Selbstreden, sondern mit Hören beginnt. Um diese Sprache nach dem Schweigen näher zu bestimmen, ist der Text zu befragen, wie der Zusammenhang von Reden, Schweigen und Hören gedacht ist. Zuerst einmal scheint klar, dass nicht einfach der Gegensatz von Reden und Schweigen durch den von Reden und Hören ersetzt wird. Vielmehr geht der Weg vom Reden über das Schweigen zum Hören. Kierkegaard behauptet, dass das Gegenteil des Redens nicht die Negation des Redens, also das Schweigen ist, sondern dass sich aus dem Schweigen eine neue Sprache entwickelt, die mit Hören beginnt und die damit in Gegensatz zu der ursprünglichen Sprache tritt, die mit Reden begann. Noch einmal liegt die Parallele zur Struktur des Selbst nahe: vom vorfindlichen Selbstverhältnis geht der Weg über die Negation dieses Selbstverhältnisses hin zu einem in Gott gegründeten Selbstverhältnis. Das empfangene Selbstverhältnis entspricht dem Empfangen der Sprache im Hören.
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Aber warum ist das Hören dem Reden mehr entgegengesetzt als das Schweigen? Die Negation des Redens scheint doch der nahe liegende oder zumindest ebenfalls mögliche Gegensatz zum Reden zu sein. Der Unterschied könnte in folgendem Punkt liegen: Schweigen ist vom Reden aus selbst zu erreichen, wer den Entschluss dazu fasst, kann sich ins Schweigen begeben. Das Hören dagegen kann man nicht machen, man kann sich im Stillesein zum Hören bereithalten, aber das, was es zu hören gilt, kommt von außen.27 Es ist eine Umkehrung der Richtung der Sprache, sie geht nicht von mir aus, sondern kommt auf mich zu. Diese Umkehrung der Richtung, die nicht in eigener Verfügung ist, ist das mehr, das den Gegensatz von Reden und Hören gegenüber dem von Reden und Schweigen ausmacht. Das erinnert an die Bewegung, die in Furcht und Zittern beschrieben wurde: die unendliche Resignation, die für eine Konfrontation mit dem eigenen Nichts stand, konnte der Ritter der Resignation in eigener Kraft erreichen, den Glauben aber nicht. Worauf Kierkegaard mit der Gegenüberstellung von Reden und Hören hinaus will, wird deutlicher anhand des Dichters, der in der ganzen Rede immer wieder auftaucht. Was Natur für diesen bedeutet, wird in immer neuen Varianten der Bedeutung gegenübergestellt, die Lilie und Vogel in der Bergpredigt haben. Beim Dichter ist der Zusammenhang zwischen Reden, Schweigen und Hören ein anderer als im Evangelium. Was bedeutet die Stille für den Dichter? Bei ihm wecken Vögel und Pflanzen Sehnsucht. Er möchte so frei sein wie ein Vogel, so selbstzufrieden wie eine Blume. Es ist eine wehmütige Sehnsucht, die sich klar bewusst ist, dass sie nicht so ist wie Tiere und Pflanzen. Das Ziel der Sehnsucht nennt Kierkegaard Ewigkeit. Das Gespür für die Ewigkeit ist in jedem Menschen da, in der Natur ist aber ein Ort, an dem er besonders darauf aufmerksam wird. Kierkegaard bezeichnet den Dichter als Kind der Ewigkeit (XXII, 34). Was ist es denn, das die Ewigkeit ausmacht, was ist das Ziel der Sehnsucht? Es muss die Einheit, oder Einfalt sein, in der sich die Natur immer befindet, zu der der Mensch aber als ein Wesen, das sich als ein zwiefältiges erlebt, erst werden muss. Kierkegaard redet in diesem Zusammenhang vom „Zwiespalt des Menschenherzens“ (XXII, 33). Das verweist darauf, dass der Mensch eine Synthese, ein Verhältnis aus zweien ist und als Einheit erst gesetzt werden muss. Die Sehnsucht der Ewigkeit geht ————— 27 Auf diesen Zusammenhang, dass man das Hören nicht machen kann, sondern sich dem nur annähern kann, hat Kierkegaard schon einmal in seinen Überlegungen zur Musik hingewiesen. Dort ging es darum, dass man Musik nicht mit Sprache erfassen kann. Man muss die Musik in ihren Grenzen, nämlich als Ausdruck für das Unmittelbare, anerkennen und kann nur darauf hinweisen und sagen: höre! (I, 91). Etwas ganz Ähnliches geschieht hier, wo im Schweigen auf die neue Unmittelbarkeit hingewiesen wird mit dem gleichen Ruf: höre!
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dahin, zu einer Einheit zu werden. In der Stille scheint die Einheit für den Dichter erreicht zu sein.28 Dies ist so, obwohl im Schweigen der Natur durchaus Geräusche zu vernehmen sind, egal ob es das Rauschen des Waldes, das tobende Meer oder ein bellender Hund in einer friedlichen Abendlandschaft ist. Diese Geräusche sind für Kierkegaard in „Übereinkunft“ mit der Stille und mehren sie. Er begründet das damit, dass jede Einförmigkeit Stille ist (XXII, 39). Einförmigkeit ist also das Entscheidende an der Stille. Der Dichter als Kind der Ewigkeit spürt die Sehnsucht nach Einheit und fühlt sich deshalb vom Schweigen der Natur so angezogen. Kierkegaard bemerkt, dass die Rede des Dichters mit dem Schweigen eine gewisse Feierlichkeit gemeinsam hat. Diese Feierlichkeit hängt wohl mit der Ewigkeit zusammen, auf die das Schweigen und die dichterische Rede ausgerichtet sind. Es erweist sich aber sogleich, dass die einfache Einheit, wie sie in der Natur vorliegt, für den Menschen nicht möglich ist. Deshalb kommt Kierkegaard zu der Beurteilung des Dichters als Kind der Ewigkeit, dem es am Ernst der Ewigkeit mangelt (XXII, 34). Der Dichter sehnt sich nach dem, wie er in Ewigkeit sein soll. Aber er glaubt nicht daran, dass er dies auch wirklich werden kann. Er weiß, dass es unmöglich ist. Sobald es darum geht, dass das Unmögliche für ihn möglich sein sollte, lacht der Dichter darüber. Das Kind der Ewigkeit scherzt, statt mit der Ewigkeit ernst zu machen. Es bleibt bei einem unerfüllbaren Wunsch, und dieses Wünschen ist mit Verzweiflung verbunden. Wie in der Krankheit zum Tode bedeutet hier Verzweiflung das Scheitern daran, die entgegen gesetzten Momente des Selbst in ein Verhältnis zu bringen. Das sehnsüchtige Wünschen erscheint dem Dichter als Trost. Es zeigt sich aber, dass die Einheit, nach der der Dichter sich sehnt, eine Illusion ist, denn die Einheit und Stille der Natur sind für den zwiefältigen, redenden Menschen nicht zu erreichen. Deshalb ist für Kierkegaard das sehnsüchtige Wünschen des Dichters kein Trost, sondern Untröstlichkeit (XXII, 34). Untröstlichkeit bedeutet dabei zuerst, dass der Trost eine Illusion ist, weil eine Einheit, die die menschliche Zweiheit einfach aufheben will, nicht möglich ist. Wo der Trost als Illusion erkannt wird, verwandelt er sich in Untröstlichkeit. Das Festhalten am Trost der Sehnsucht zeigt für Kierkegaard weiter, dass für den Verzweifelten eine andere Art der Einheit oder des Selbst nicht in Sicht ist. Untröstlichkeit meint dann den mangelnden Glauben daran, dass auch das Unmögliche möglich werden kann. Das Unmögliche ist das, was eben als Umkehrung der Richtung bezeichnet wurde: das Selbst setzt sich nicht selbst, sondern wird gesetzt, die Sprache geht nicht von mir aus, sondern kommt ————— 28 Vgl. dazu auch die anschließende Rede Kierkegaards über den Gehorsam. Dort antwortet er auf die Frage, warum die Stille so feierlich ist, dass sich in ihr unbedingter Gehorsam ausdrückt und dass sie „eins geworden in vollkommener Einigkeit“ (XXII, 63).
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auf mich zu. Die Unmöglichkeit liegt darin, dass das Selbst und das Hören nicht in eigener Verfügung liegen, sondern von außen kommen. Wo die Stille für eine nicht erreichbare Einheit steht, ist es folgerichtig, dass der Dichter nicht zur Stille kommt. Kierkegaard erklärt: Wer nicht ganz zum Schweigen kommt, wird Dichter (XXII, 44). Der Dichter bewegt sich gleichsam auf das Schweigen zu, das ihn fasziniert. Er kommt aber nicht zu der Stille, in der er das Hören entdeckt, sondern für ihn ist die Stille Inspiration für seine Dichtung. Er lernt bei der Lilie nicht das Hören, sondern er leiht der Lilie und dem Vogel Wort und Rede (XXII, 45). Der Dichter fügt sich nicht in die Stille der Natur ein, sondern er durchdringt sie mit seiner eigenen Sprache und zieht sie damit in seine eigene Gespaltenheit hinein. Kierkegaards folgenden Beschreibungen dichterischer Produktivität ist eins gemeinsam: immer bleibt der Dichter bei sich selbst, bei seinem Schmerz und seiner Gespaltenheit. Er vermisst etwas, das ihm in der Natur in schmerzlicher Weise bewusst wird, und diese Sehnsucht nach Einheit fasst er in Sprache. Er entwirft große Pläne für die Welt und setzt sie in Dichtung um. Die Dichtung wird als Widerhall des Schmerzes bezeichnet, als ein nicht enden wollender Widerhall in sich selber (XXII, 45). Für den Dichter verkörpert die Stille Einförmigkeit und Einheit, während das Reden der menschlichen Zweiheit entspricht, mit der der Mensch die Welt kreativ und unterscheidend durchdringt, aber auch seine schmerzhafte Gespaltenheit ausdrücken muss. Das Bild vom Widerhall in sich selbst macht sehr deutlich, dass der Dichter in seiner Sprache bei sich selbst bleibt. Was ihm entgegenkommt, was er hören kann, ist nur Widerhall seiner selbst. So bleibt Sprache bei ihm immer etwas Aktives. Er kann das Schweigen, das Nichts, nicht aushalten. Das passive Moment der Sprache, für das das Hören steht, lässt er nicht zu. Er kehrt gewissermaßen vor dem Schweigen im letzten Moment um und bleibt in seiner Sprache. Durch die erfahrene Grenze zum Schweigen entsteht dichterische Sprache, das ist aber nicht die neue Sprache nach dem Schweigen. Der Widerhall in sich selbst erinnert an den Monolog, den Kierkegaard früher als die charakteristische Ausdrucksform der Angst bestimmt hatte. Der Verschlossene im Begriff Angst, für den Sprache zum Monolog wurde, hielt ebenso wie der Dichter hier am Aktivsein fest. Was bei ihm das aktive Festhalten an der Freiheit war, mit dem er sich selbst gefangen setzte, ist beim Dichter das aktive Festhalten an der eigenen Sprache, mit dem er sich in seiner eigenen Sprache verfängt. Von beiden ist gefordert, etwas zu empfangen: die Freiheit, die Sprache oder anders formuliert: ihr eigenes Selbst.29 ————— 29 Auch in früheren Texten ist dieser Zusammenhang von Aktivem und Passivem im Hören von Kierkegaard schon benannt. In den zwei Erbaulichen Reden von 1843 zu dem Vers aus dem
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Es fällt auf, dass Reden hier mit Schmerz und Leid verbunden ist. In Furcht und Zittern war es das Schweigen, in dem der Einzelne so sehr litt, weil er das Allgemeine verlassen hatte und sich nicht mehr verständlich machen konnte. Da war es die Sprache, die Selbstrechtfertigung und Teilnahme anderer ermöglichte, und damit Trost und Linderung im Leiden bedeutete. Deshalb überrascht es, wenn es nun heißt, dass in der Stille manches Leid leichter ertragen wird. Kierkegaard schaut hier von einer anderen Seite: Wer zu viel vom eigenen Leid spricht, macht es langwieriger und Teilnahme anderer kann Leiden drückender machen. Wer Stimme und Rede dazu gebraucht, sein Leid in die ganze Welt hinauszuschreien, dem wirft Kierkegaard Missbrauch von Rede vor (XXII, 41). Daran zeigt sich für ihn der Ungeduldige und Verzweifelte. Ungeduld und Traurigkeit kann er als Sünde bezeichnen.30 Wo es für Johannes de silentio ein Trost war, sein eigenes Leiden zum allgemeinen Leid in Verbindung zu bringen, heißt es hier, dass ein bestimmtes Leiden leichter zu ertragen ist als die Unbestimmtheit des Leidens allgemein. Das Leiden soll so einfach und einfältig wie möglich werden, und das wird es als ein bestimmtes (XXII, 42f). In der Sprache des Dichters hallt der Schmerz unendlich in sich selbst wider, in der Stille wird er einfach. Wieder ist es die Einheit oder Einfachheit, die das Ziel ist, die der Lilie so leicht fällt und dem Menschen in seiner Zerrissenheit so schwer. In diesem Gedanken wird deutlich, wie weit die Stille reicht. Es geht nicht um ein äußerliches Verstummen, in dem das Leid in inneren ————— Jakobusbrief, dass alle gute und vollkommene Gabe von oben herab kommt, schreibt er darüber, dass wir gezeugt sind durch das Wort der Wahrheit und bestimmt zum Wort der Wahrheit. Er führt dann aus, dass die Bedingung dafür neben der Gabe Gottes auch die Vollkommenheit ist, die es möglich macht, alles als Gabe zu empfangen (VII, 34). Zwei müssen also zusammenkommen: Die Gabe Gottes ist das Wort von außen, also das, was gehört werden kann. Aber es muss die Voraussetzung dazukommen, es als Gabe annehmen zu wollen, also überhaupt hören zu wollen. Wieder ist das Hören eindeutig nichts Passives, sondern ein Geschehen oder ein Tun, in dem sehr bewusst auf das trotzige Festhalten am Selbertun bzw. Selberreden verzichtet wird. Das Hören auf das göttliche Wort hat Priorität vor dem eigenen Reden, heißt es weiter in dieser Rede. Das Wort Gottes erklingt da, wo der Mensch verstummt, wo der Mensch von seiner Hoffnung Abschied genommen hat und sich entfernt. Das Gehörte wird als Speise beschrieben, das den Hunger stillt. Ziel muss es sein, selber weniger reden zu wollen und mehr hören zu wollen (VII, 35). Im Abschiednehmen klingt wieder der Widerspruch an, der im Übergang zu einer neuen Sprache ausgehalten werden muss. Die biblische Ausdrucksweise des Wortes, das den Hunger stillt, lässt Erlösung anklingen. 30 Schon in der früheren Erbaulichen Rede darüber, wie die Seele in Geduld erworben wird, wächst der Sprache ihre heilsame Kraft nicht aus dem Vielfältigen, sondern aus der Einheit und Einfalt zu. Das zeigt sich sowohl beim Redenden als auch beim Hörenden: Verkündigung kann den Redenden verführen zu Ungeduld im Ausdruck der Leidenschaft, und den Hörenden zu Ungeduld beim Hören, indem er immer neue Rede haben will. Beide, sowohl Redner wie Zuhörer, meinen, dass Viel und Vielfältiges helfe zum Erwerb der Seele, ebenso wie sie sich nicht mit dem Einfältigen aufhalten wollen (VII, 73). Das Vielfältige ist mit der Sünde assoziiert, während es zur Einfalt Geduld bedarf, die das wirklich Lindernde der Sprache ist.
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Stimmen weiter nagt. Es geht nicht um ein Schweigen, das nach außen resigniert hätte, aber nach innen noch aufbegehrte gegen das Leid. Handelte es sich um solches Schweigen, wäre es eine Wohltat, sich auszusprechen. In der Stille liegt das Eingeständnis, selbst nichts zu vermögen. Es ist die Konfrontation mit dem eigenen Nichts. Bis jetzt stellt sich der Zusammenhang zwischen Reden, Schweigen und Hören so dar: Reden steht dafür, dass der Mensch ein Verhältnis ist. In der Sprache nimmt der Mensch sich als ein Verhältnis wahr und wird überhaupt erst zu einem Verhältnis. Solange es um die Entdeckung dieses Verhältnisses geht, ist Reden etwas Positives. Da der Mensch als Verhältnis aber immer auch ein Missverhältnis ist, ist Reden unlöslich mit Schmerz und Gespaltenheit verbunden. Dieser Aspekt der Sprache wird hier besonders herausgearbeitet, während in früheren Texten das Positive des Redens als sich zum Allgemeinen verhalten können, betont wurde. Schweigen steht für Einheit und ist damit das Ziel der Sehnsucht des schmerzlich gespaltenen Verhältnisses. Dabei handelt es sich aber nur um eine einfache Einheit, wie sie in der Natur vorhanden ist. Die Natur ist im Gegensatz zum Menschen kein Verhältnis, und die Stille der Natur bleibt unerreichbar. Im Schweigen ist also kein Verhältnis möglich, deshalb erlebt das Selbst als ein Verhältnis das Schweigen als die Aufhebung seines Selbstverhältnisses, und insofern ist das Schweigen die Konfrontation mit dem eigenen Nichts, die Selbstaufhebung. Das Hören schließlich steht für eine andere Art der Einheit, eine Einheit, die ein Verhältnis und damit einen Unterschied in sich tragen kann. Hören ist eine Form des Redens und insofern in der Lage, ein Verhältnis zu begründen. Es setzt eine Einheit, die ein Verhältnis ist, und ist deshalb etwas anderes als die unerreichbare Einheit des Schweigens, die den Unterschied ignorieren und überspringen wollte. Das Hören ist aber auch etwas anderes als das Reden. Es tritt von außen an das Selbstverhältnis heran und ist deshalb nicht mit dem Schmerz der Gespaltenheit verbunden, zu der das Reden im selbstgesetzten Verhältnis führt. Der Stille bedarf es dabei als eines Übergangs, der das Reden aufhebt, damit Raum für das Hören geschaffen wird. Die Stille ist der Punkt, an dem die Sprache ihre Richtung wechselt: vom aktiven Reden zum passiven Hören, das nur insofern ein aktives Moment enthält, als der Schweigende ganz zum Hörenden wird, vom redenden Sich-selbst-setzen-wollen zum hörenden Sich-selbst-setzen-lassen. Dieses passive Moment, die Umkehrung der Richtung der Sprache ist es, die dem Dichter fehlt.31 ————— 31 Wie Aktives und Passives zusammenkommen beschreibt Kierkegaard mit dem biblischen Motiv des Wartens (XXII, 39–41). Der Wartende tut nichts, aber er muss mit all seiner Aufmerk-
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Die Bewegung vom Redenden über sein Stillesein hin zum Hörenden lässt sich in Kierkegaards Rede auch nachvollziehen als Bewegung vom Ich zum Du. Die Lilie will den Stillegewordenen lehren, zu einem Hörenden zu werden und das bedeutet, dass „du vor und für Gott bist“ (XXII, 43). Aus dem Redenden, der Ich sagt, soll ein Hörender werden, der sich als Du empfängt. Das kann Kierkegaard auch sprachlich eindrucksvoll gestalten; im folgenden Absatz kann man regelrecht hören, wie aus Ich-Du- Wir immer mehr Du wird: Denn wenn wir auch nur zu zweien miteinander reden, geschweige wenn wir zehn oder noch mehr sind, wird so leicht vergessen, daß du und ich, wir zwei, oder daß wir zehn vor und für Gott sind. Aber die Lilie, welche Lehrmeister ist, ist tiefsinnig. Sie lässt sich mit dir schlechthin nicht ein, sie schweigt, und mit ihrem Schweigen will sie dir bedeuten, dass du vor Gott bist, dass du daran denkst, vor Gott zu sein – auf dass auch du im Ernst und mit der Wahrheit stille werdest vor Gott (XXII, 43).
Die Häufung des Du und der Pronomina in der 2. Person ist in diesem Satz auffällig. Das Du steht für die Dimension des Hörens, des Angesprochenwerdens. Wer als Du angeredet wird, der lässt sich damit als Selbst konstituieren.32 Wie kann es nun zu der Umkehrung kommen, in der aus Reden Hören wird? Kierkegaard antwortet: durch einen Befehl. Der Dichter wünscht sich, wie Lilie und Vogel zu werden, das Evangelium befiehlt es. Dieser andere Zugang ist für Kierkegaard wie ein anderer Modus in der Sprache: Während der Dichter im Modus des Wünschens über Vögel und Lilie spricht, tut die Bergpredigt das im Modus des Sollens. Wo der Dichter sich wünscht, so wie die Natur im Einklang mit sich selbst zu sein, befiehlt das ————— samkeit und insofern sehr aktiv beim Warten sein, um das, was er erwartet, empfangen zu können. Das Moment des Empfangens, das auch der eben so benannten Umkehrung der Richtung entspricht, bezeichnet Kierkegaard als Augenblick (XXII, 41). Vgl. dazu auch eine frühere Erbauliche Rede von 1843 über den Gedanken aus dem Lukasevangelium, seine Seele in Geduld zu erwerben. Der inneren Einstellung der Geduld muss die Sprache sowohl beim Reden als auch beim Hören entsprechen: wer von Geduld redet, kann dies nicht in Ungeduld des Ausdrucks und im Hasten der Redenwendung tun; wer ein Wort in Geduld hört, der darf nicht ungeduldig neue Rede fordern. Wer das tut, der beweist damit, dass er nicht begriffen hat, dass die Rede über Geduld mit immer mehr neuer Rede nicht zu verstehen ist (VII, 57). Geduld hat also wesentlich mit Empfangen, aber ebenso mit Handeln zu tun. Denn weiter führt Kierkegaard aus: Wer das Wort nur hört, ist außerhalb des Wortes, denn wenn der Verkündiger schweigt, dann hört er nichts mehr. Wenn er das Wort tut, hört er fort und fort, was er selbst sich verkündigt. Jedes bloße Hören des Wortes ist unendlich viel unvollkommener als das Vollbringen. Und noch einmal grundsätzlicher: alles Aussagen ist unvollständig gegenüber der Genauigkeit des Vollbringens (VII, 71). Aus dem Hören erwächst die Kraft zum Handeln. Vgl. dazu die Überlegungen zu Wort und Tat in Kapitel 4. 32 Zur Bedeutung der Personen vgl. unten das Kapitel 3.6.
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Evangelium, still zu sein wie Vogel und Lilie. Im Evangelium soll das Wirklichkeit werden, was dem Dichter unmöglich scheint, nämlich wirklich zu einer Einheit zu kommen. Der Dichter ist auf die Erfüllung seiner Wünsche ausgerichtet. Diese liegt in der Verlängerung seiner eigenen Vorstellungen. Im Sollen hingegen gibt es einen Widerspruch zu den eigenen Bemühungen. Die eigenen Wünsche müssen aufgegeben werden, damit das Unmögliche möglich wird. Es geht bei der Aufforderung des Evangeliums, sein zu sollen wie Lilie und Vogel, um einen Befehl, von dem ich weiß, dass ich ihn nicht erfüllen kann. Das Sollen will mich zwingen, den Verstand zu verlieren, formuliert Kierkegaard (XXII, 33). Seinen Verstand zu verlieren ist eine Formulierung, die Kierkegaard oft im Zusammenhang dessen benutzt, was er als Paradox bezeichnet. Es geht um Aussagen, die zwar ausgesprochen werden, aber in ihrer Widersprüchlichkeit im eigenen Leben nicht nachvollzogen werden können. Dieses Nichtverstehen beschreibt Kierkegaard hier nun so: „Ich kann das Evangelium nicht verstehen; zwischen ihm und mir besteht eine Sprachverschiedenheit, die mich töten müsste, falls ich verstünde“ (XXII, 33). Dieser Satz spricht sehr deutlich aus, dass es einen Unterschied zwischen Gott und Mensch gibt, der nicht vom Menschen her aufgehoben werden kann. Deshalb müssen die Wünsche des Dichters scheitern, die eine gerade Linie von der eigenen Sehnsucht nach Ewigkeit in die Ewigkeit ausziehen wollen. Weil der Mensch diesen Unterschied nicht von allein anerkennt, d.h. weil er sich nicht von allein zu einem Nichts vor Gott macht, muss ihm dies befohlen werden. Das Befehlen erinnert an die theologische Rede von Gesetz und Evangelium, die bei Kierkegaard auch in dem tötenden Wort anklingt. Interessant ist, dass Kierkegaard nicht in der Begrifflichkeit von Gesetz und Evangelium bleibt, sondern das Verhältnis zwischen Gott und Mensch als einen Sprachunterschied zu beschreiben versucht. Das Motiv der Sprachverschiedenheit taucht in der Mitte der Rede noch einmal auf. Dort heißt es: Gott ist im Himmel, der Mensch auf der Erde, deshalb können sie nicht gut miteinander reden (XXII, 37). Zum Gegensatz von Himmel und Erde gehören weitere Gegensätze: Gott ist Weisheit, menschliche Weisheit wird oft zu Geschwätz, Gott ist ganz Liebe, während die Menschen meist um sich selbst besorgt sind. Wie ist diese Sprachverschiedenheit zu verstehen, was bedeutet es, dass Gott eine andere Sprache spricht als die Menschen? Grundsätzlich ist zuerst festzuhalten, dass Sprachverschiedenheit zweierlei aussagt: einmal ist es den beiden, die ihre je eigene Sprache sprechen, gemeinsam, überhaupt Sprache zu haben. Die Fähigkeit und Veranlagung zur Sprache schafft eine tiefe Verbundenheit. Andererseits schafft eine Sprache, die man nicht versteht, große Fremdheit. Man fühlt sich nicht
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dazugehörig, bleibt auf Distanz.33 Dass Gott und Mensch beide Sprache haben, verweist darauf, dass beide ein Verhältnis sind. Die Bestimmung des Verhältnisses ist aber verschieden: wie Gott sich in seinem Denken zu sich verhält, ist Weisheit, während es beim Menschen Geschwätz werden kann, wie Gott sich zu anderen und sich selbst verhält, ist Liebe, während das Verhältnis des Menschen zu sich und anderen oft kein liebevolles ist. Im Sprechen vollzieht sich das Selbstverhältnis und das Verhältnis zu anderen und wird dadurch konkret. Dass Gott und Mensch verschiedene Sprachen sprechen, bedeutet, dass es grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten gibt, dieses Verhältnis im Sprechen zu realisieren. Wenn Gott und Mensch verschiedene Sprachen sprechen, kann man fragen, wie die beiden Verschiedensprachigen miteinander reden. Auch da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Vielleicht kann man sagen, dass der Dichter sich in ‚zeitlicher‘ Sprache Gott nähert und versucht, ihn in seine Sprache zu ziehen, während der Hörende in der ‚ewigen‘ Sprache angesprochen wird und damit in Gottes Sprache hineingezogen wird. Da die beiden Sprachen sich nicht gleichwertig gegenüberstehen, ist es nicht gleichgültig, in welcher Sprache Gott und Mensch in ein Verhältnis kommen. Im Angesicht der ewigen Sprache wird menschliche Sprache grundlegend in Frage gestellt. Im Angesicht von Gottes Sich-zu-sich-selbst-verhalten als Weisheit und Liebe wird das menschliche Selbstverhältnis zu Geschwätz und Selbstbeschäftigung. Die zeitliche Sprache verstummt mehr und mehr in der Begegnung mit Gott. Nur mit Furcht und Zittern kann der Mensch mit Gott reden, führt Kierkegaard aus. So wie in der Angst die Stimme versagt, so wird die Rede mit Furcht und Zittern immer stiller und verstummt schließlich (XXII, 37). Die grundsätzlichste Situation, in der Gott und Mensch miteinander reden, ist das Gebet, und deshalb ist es für Kierkegaard eine Erfahrung des Gebets, dass es immer mehr verstummt. Das Verstummen geschieht aber nur auf einer Seite: Gott verstummt nicht, und daraus erklärt sich das Hören. Dann vollzieht sich die Verständigung von Gott und Mensch in Gottes Sprache und der Mensch ist in diese hineingenommen. Vielleicht lässt sich die Redeweise von den zwei verschiedenen Sprachen, nämlich Gottes ewiger und der menschlich-zeitlichen Sprache, so weit ausführen, dass man sagen kann: Menschen lernen Sprache, egal ob als Kind die Muttersprache oder später eine Fremdsprache, zuerst einmal durch Zuhören. Bestimmte Laute werden Personen, Gegenständen, Situationen ————— 33 Mit diesem Gedanken hat sich Humboldt sehr beschäftigt. Er beobachtet, wie Sprache im Subjekt entsteht, aber auch ganz unabhängig davon in der gesamten Menschheit. Sie ist damit subjektiv und objektiv zugleich, fremd und mein eigen (Humboldt, 225). Humboldt fällt auf, dass Menschen Sprache aus sich selbst hervorbringen, aber nur, weil alle um sie herum sprechen. Besonders hebt er hervor, dass die Fremdheit der Sprache auf die tiefste menschliche Natur verweisen kann (Humboldt, 226).
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zugeordnet und imitiert. Erst in einem zweiten Schritt können durch logische Kombination und Grammatikregeln weitere Teile der Sprache selbst erschlossen werden. Entspricht diesem Lernen durch Zuhören Kierkegaards Beobachtung, dass Menschen stille werden müssen, um auf Gott zu hören und so seine Sprache zu lernen? Für das Gebet jedenfalls haben diese Aussagen weitreichende Konsequenzen. Über das Schweigen, das zum Hören wird, sagt Kierkegaard: „In diesem Stillesein verstummen gottesfürchtig die vielen Gedanken des Wünschens und Begehrens; in diesem Stillesein verstummt gottesfürchtig der wortreiche Dank“ (XXII, 37). Das Wünschen und Begehren ist die Bitte, und die bildet mit dem Dank zusammen die Urform jedes menschlichen Betens. Beides verstummt hier und damit die menschlich zeitliche Rede. Was tritt an die Stelle des Bittens und Dankens im Gebet? Kierkegaard selbst führt es vor, indem er seine Rede in Worte des Vaterunsers münden lässt (XXII, 45f). Es bleibt nicht bei der Stille. Der Betende hat von der Lilie und dem Vogel gelernt, sich selbst zu vergessen, seinen Namen zu vergessen und kann in der Stille beten: „geheiligt werde dein Name“. Ebenso rücken die eigenen Pläne in den Hintergrund, denn „dein Reich komme“ und der eigene Wille ist vergessen zugunsten des „dein Wille geschehe“. Die Bitten des Vaterunsers geraten in Kontrast zu den wortreich, sehnsüchtig vorgetragenen Bitten des Dichters. Das Vaterunser hört der Betende, es sind Worte Gottes, nicht seine eigenen. Aber er spricht sie mit seiner eigenen Stimme, er bleibt nicht stumm, sondern neue Sprache eröffnet sich ihm. Man könnte es vielleicht als ‚hörendes Reden‘ bezeichnen, denn im Sprechen des Gebets ist der Betende als Empfangender ja durchaus aktiv. Vielleicht war genau diese aktive empfangende Haltung schon in dem Satz über Reden, Schweigen und Hören angedeutet. Da hieß es über den Betenden: „er ward stumm, ja, was dem Reden vielleicht noch mehr entgegengesetzt ist als das Schweigen, er ward ein Hörender“ (XXII, 37f). Kierkegaard hätte den Satz auch abstrakt zu Ende führen können und sagen können, dass das Hören der Rede mehr entgegengesetzt ist als das Schweigen. Stattdessen spricht er von einem Hörenden und deutet mit der Wahl der substantivierten Verbform an, dass es sich um ein Tun handelt. Das Beten des Vaterunser wird zum Exempel der neuen Sprache, an dem man ihre Charakteristika ablesen kann: Die Worte kommen von außen und werden doch als eigene Worte gesprochen. Das Empfangen im Hören fällt mit dem Vollziehen im eigenen Sprechen zusammen, ebenso wie das empfangene Selbst ein selbst vollzogenes Selbst ist. Die Worte sind von großer Einfachheit und Schlichtheit, aber dadurch, dass sie von einem Menschen gesprochen werden, der sich seiner eigenen Zwiefältigkeit schmerzhaft bewusst ist, sind sie Worte der Einheit, die eine Zweiheit in sich verbinden
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können.34 Es sind Worte Gottes, die von einem Menschen gesprochen werden. Sie heben damit nicht den Sprachunterschied zwischen Gott und Mensch auf, aber während sie gebetet werden, ist eine Verständigung zwischen Gott und Mensch in einer Sprache möglich und damit während des Sprechens im Gebet eine innige Verbindung da.35 Was Kierkegaard anhand des Vaterunsers vorführt, kann man in ganz ähnlicher Weise auf andere Bibeltexte, z.B. die Psalmen übertragen. Kierkegaard geht in seinen Überlegungen aber noch über die Gebetstexte der Bibel hinaus. Auch in der Bergpredigt – oder, wie er sagt, im Evangelium – sieht er abgebildet, wie das Wort Gottes als empfangene Sprache zur neuen Sprache des Menschen werden kann. Der Umgang des Evangeliums mit Lilie und Vogel wird ihm zum Inbegriff dessen, wie Himmlisches und Irdisches, wie Ewiges und Zeitliches zusammenkommen: „so geistig überspannt ist das Evangelium nicht, dass es die Lilie und den Vogel nicht brauchen könnte; aber so irdisch ist es denn auch nicht, dass es die Lilie und den ————— 34 Zur Einfachheit der neuen Sprache vgl. auch folgende Textstelle aus den drei Erbaulichen Reden von 1843. In dem feierlichen Schluss der dritten Rede über die Bestätigung im inwendigen Menschen heißt es: „Das Erste, sagen die Menschen, ist doch das Schönste und Beste, und das Herz hangt daran: an dem ersten Menschen, der ihn grüßte in jener Stunde, da er unter die Lebendigen gezählt ward; dem ersten Himmel, der sich wölbte über der Stätte, da er geboren ward; der ersten Sprache, die man die Muttersprache nannte, dem ersten Volke, das man das väterliche nannte, dem ersten Unterricht, der seine Seele weit gemacht, dem ersten Altersgenossen, der ihn verstanden, dem ersten Gedanken, der ihn begeistert, der ersten Liebe, die ihn glücklich gemacht – selig der Mann, der da in Wahrheit sprechen dürfte: Gott im Himmel ist meine erste Liebe gewesen, selig der Mann, dessen Leben eine gesegnete Bestätigung dieser Liebe gewesen, selig der Mann, der da, obwohl er fehlgegriffen im Leben und das Äußerliche genommen statt des Inwendigen, obwohl seine Seele auf mancherlei Weise in die Welt verstrickt worden, dennoch wiederum neu geworden ist in dem inwendigen Menschen, in dem er zurückkehrte zu seinem Gott, bestätigt in dem inwendigen Menschen“ (VI, 148). Alles was hier als das Erste bezeichnet wird, verweist auf das, was Menschen nicht selbst gemacht haben, sondern ihrem Leben vorgegeben ist. All die äußerlichen Dinge, an denen der Mensch abliest, dass er sich nicht selbst erschaffen hat, sollen hinführen zu der Frage nach der Letztbegründung des Selbst. Die vorangehende erbauliche Rede handelte davon, alle Widerfahrnisse im Leben, egal ob bestätigende, gute Erfahrungen, oder schmerzhafte, krisenhafte Erfahrungen als Bestätigung des Wirkens Gottes im eigenen Leben verstehen zu lernen. Die Erfahrung der Nichtverfügbarkeit von Leben, die hier der Kern der Religiosität ist, gehört zu den einfachen Dingen im Leben und nach allen Krisen und Entfremdungen gilt es, vertrauensvoll zu dieser einfachen Einsicht der eigenen Abhängigkeit zurückzukehren. Dem entspricht auch die Sprache, die nach langen Wegen der Zweideutigkeit, des Missverständnisses, der Verkomplizierung von Gedanken in wissenschaftlichen Spitzfindigkeiten zurückkehrt zur „ersten“ Sprache, einer einfachen schlichten Sprache des Glaubens. 35 Im Gebet ist dann Gott derjenige, der hört. Zuhören zu können ist eine Eigenschaft, die zu Gottes Väterlichkeit gehört, sagt Kierkegaard in einer frühen Erbaulichen Rede. Der Himmlische Vater ist der Einzige, der die Rede des Einsamen hören kann und sie recht versteht, während der irdischer Vater meist selber nur traurig wird (VI, 147). Das Zuhören ist also etwas anderes als das empfangende Hören, das Entscheidende beim Zuhören ist das Verstehen. Diese Eigenschaft gibt es übrigens auch bei Menschen, wie Kierkegaard in einer Rede zur Trauung bemerkt: Wie es eine Macht der Rede geben soll, die nahezu Wunder zu tun vermag, so gibt es auch eine Macht des Zuhörers, die Wunder zu tun vermag, solch ein Zuhörer ist der Ernste (XIV, 166).
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Vogel nur mit Wehmut oder lächelnd betrachten könnte“ (XXII, 35f). Das Irdische wird nicht übergangen und durch etwas Neues ersetzt. Das wäre das Nicht-Brauchen-Können. Wehmütig und lächelnd betrachten, wie es der Dichter tut, meint dagegen, dass etwas so genommen wird, wie es ist, ohne den ernsthaften Gedanken daran, dass es sich verändern könnte. Lächelnd, weil die Vollkommenheit des Gegenstandes im Blick ist, wehmütig, wenn die Unvollkommenheit oder das eigene Anderssein im Vordergrund steht. Aber immer ist es ein resignierender Blick, weil beide nicht zusammenkommen können. Was dagegen geschehen soll, ist, dass das Irdische genommen wird, wie es ist, aber grundlegend verändert wird. Es bleibt nicht einfach beim Zeitlichen, aber das Zeitliche wird auch nicht einfach durch das Ewige ersetzt. Zeitliches und Ewiges kommen zusammen, aber mit Primat des Ewigen. Dies geschieht eben da, wo menschliche Sprache zum Wort Gottes wird. Weder in Schrift noch in Verkündigung ersetzt Gott menschliche Sprache durch eine andere Sprache. Aber es bleibt nicht bei menschlicher Sprache, denn wo sie als Wort Gottes gehört wird, geschieht mehr, als menschliche Sprache jemals leisten kann. Damit der Vorrang der ewigen Sprache gewahrt bleibt, ist die Stille so wichtig. Sie gewährleistet das Zurücktreten des Zeitlichen, also der Eigeninteressen des Menschen. Erst dann können Zeitliches und Ewiges zusammenkommen. Kierkegaard weiß, dass es Menschen gibt, die nie in ihrem Leben den Augenblick gespürt haben, d.h. dass Ewiges und Zeitliches in ihrem Leben immer gesondert blieben, und der Grund dafür ist für Kierkegaard klar: sie vermochten nicht stille zu sein (XXII, 41). Oder anders ausgedrückt: der Sprache der Ewigkeit wurde nicht ihr Primat eingeräumt im Stillesein und deshalb können Zeitliches und Ewiges nicht zusammenkommen. In der Stille liegt die Anerkennung, dass der Mensch Mensch ist und Gott Gott ist. Diese Stille ist keine bedrohliche Stille, sondern sie ist das, was Kierkegaard früher das göttliche Schweigen nannte. Das göttliche Schweigen heißt dabei mitnichten, dass Gott schweigt, vielmehr ist er es, der ein Verhältnis mit dem Stillegewordenen begründet, indem er ihn anredet und so den Schweigenden zu einem Hörenden werden lässt. Das göttliche Schweigen ist die Offenheit für die göttliche Sprache, die ein Mensch lernt, indem er auf Gott hört. Der Mensch bleibt dabei ein sprachliches Wesen, das sich durch Worte in Beziehung zu sich selbst und anderen setzt. Er erlebt, wie die Sprache, in der sich anfangs für ihn zeigte, dass er ein zwiefältiges und deshalb schmerzlich gespaltenes Wesen ist, zu einer neuen Sprache wird, in der er sich als eine differenzierte Einheit zum Ausdruck bringen kann. Zur Ergänzung dieses Abschnitts über das Hören, der sich bis jetzt auf die Religiöse Rede von 1849 konzentrierte und andere Texte Kierkegaards über
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das Hören nur in Anmerkungen einbezog, möchte ich noch einige Gesichtspunkte aus der sog. Demis Predigt hinzufügen. In dieser seiner Examenspredigt hat Kierkegaard eine Perikope aus dem 1. Korintherbrief auszulegen, die mit einem Zitat aus dem Jesajabuch endet, dass Gott denen, die ihn lieben, das bereitet hat, was kein Auge je gesehen, kein Ohr je gehört und in keines Menschen Herz gekommen ist (Jes 64,3). In der Auslegung dieser drei Elemente des Jesajazitats bei Paulus legt Kierkegaard einen Abschnitt über das Hören vor. Immer wieder fragt er den Zuhörer, ob er wirklich gehört hat. Derjenige, der an dem Wort Ärgernis nimmt oder es als Torheit verspottet, der steht immerhin in einem Verhältnis zu dem Wort, wenn auch in einem negativen (VII, 86). Er hat immerhin mehr gehört als jemand, an dem die Worte nur als ein Schall vorüberziehen.36 Wer Ohren hat zu hören, der hat ein „inneres Ohr“, er kann „den innigsten Zusammenklang des Tons erfassen“ (VII, 87). Auch das will Kierkegaard noch näher unterscheiden. Das, was das innere Ohr hören soll, ist kein „prunkendes Wort gewesen, derart, daß es das irdische Ohr kitzelte […] es ist keine auflodernde Rede gewesen, glühend vor Feuer.“ Denn Macht und die Begeisterung werden auch vom inneren Ohr wahrgenommen, aber das ist noch nicht das Ohr des Glaubens, sondern ein „irdisches Ohr“. Das Ohr des Glaubens ist das, „welches durch die Anfechtungen des Ärgernisses und des Spottes hindurch danach lauschte, des Glaubens Wort zu hören“ (VII, 87). Hier ist angelegt, was Kierkegaard in der Rede über Lilien und Vögel genauer bestimmt, nämlich dass die Zwiefältigkeit des Menschen, die in Anfechtung und Ärgernis zum Ausdruck kommt, erst zu Stille werden muss, bevor das Wort des Glaubens gehört werden kann. Das innere Ohr ist dasjenige, das in den Widersprüchen, auf die Anfechtung und Ärgernis verweisen, nicht mitredet, um die Widersprüche zu übertünchen, sondern das die Widersprüche aushält und deshalb still wird. In dieser Stille öffnet es sich zur neuen Sprache des Glaubens hin. Die Rede vom inneren Ohr passt gut dazu, dass Kierkegaard in der Rede über die Lilien und die Vögel davon spricht, dass alles, was es von ihnen zu lernen gibt, in der Innerlichkeit geschieht. Das Hören des Glaubens zeichnet sich weiter durch eine besondere Beziehung zur Zeit aus, wie Kierkegaard im nächsten Absatz ausführt. „Wer bloß den Laut hört, er hört nur sinnlich, und sogar, wenn es eine menschliche Rede wäre, die er hören sollte, höre er sie eigentlich nicht, wofern er nicht anderes hörte und sogar, wenn er auf andre Art hörte, aber, sobald der andre zu reden aufhörte, nichts mehr hörte, hörte er eigentlich doch nicht“ ————— 36 Wie selbstverständlich es für Kierkegaard ist, dass Sprache immer mehr ist als ihr Klang, zeigt sich z.B. an diesem Zitat aus Entweder-Oder: Wer sich nur auf die sinnliche Seite der Sprache, also die Lautbildung, die Luftschwingungen oder einzelne Buchstaben, konzentriert, der erfasst eine sprachliche Äußerung nicht. Insofern kann Kierkegaard sagen, dass in der Sprache alles Sinnliche zu einem bloßen Werkzeug herabgesetzt ist und damit aufgehoben ist (I, 71f).
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(VII, 87). Das Hören des „Anderen“ ist das eben beschriebene innere Hören. Jetzt geht es darum, dass das wirklich Gehörte mit dem Verklingen des äußeren Wortes nicht verklungen ist. Das Wort wird im Gedächtnis aufbewahrt, aber dort ist es gefährdet: „denn die Zeit schleift es ab und entwendet ihm klein bei klein das Anvertraute, bis daß die letzte Stunde kommt, in welcher du das Wort, von dem wir sprechen, am nötigsten hättest“ (VII, 87). Der Glaube ist die Fähigkeit, ein Wort gleichzeitig vergangen und gegenwärtig zu halten: jene Fähigkeit vermag es ja, das vergangene festzuhalten, wie es gewesen, es deutlich und gegenwärtig wieder hervorzubringen als eine Erinnerung, ohne etwas fortzulassen, aber auch, ohne zu vergessen, daß es etwas Vergangenes ist (VII, 88).
Das, woran sich die Juden ärgern, interpretiert Kierkegaard als ein falsches Ausgerichtetsein auf die Zukunft, das worüber die Griechen spotten, als falschen Bezug zur Vergangenheit. Das Hören des Glaubens hingegen ist Gegenwart, die Zukunft und Vergangenheit einschließt.37 Hier ist die Einheit der drei Zeitdimesionen im glaubenden Hören erst angedeutet: Wofern du aber das Wort nicht auf die Art gehört hast, auf die es sich nicht zu Gehör bringt, so wissen wir ja, wie du es gehört, daß du es nämlich gehört hast mit des Glaubens Ohr. Denn der Glaube ist ebenso wie das Wort für Juden ein Ärgernis, da sie Zeichen fordern, die das Zukünftige im voraus ankündigen sollten, aber das Zukünftige ist eben das Gegenwärtige; und er ist für Griechen eine Torheit, da sie Weisheit suchen, das Gegenwärtige aber eben das Vergangene ist, welches gleichwohl gegenwärtig ist, ohne eine Wiederholung zu sein (VII, 88).
Zum Hören des Glaubens gehört schließlich der Gedanke, dass es immer unverfügbar bleibt. Wann sich ein Wort als ein erlösendes Wort erweisen wird, das bleibt unbestimmbar, und das ist es, was für Kierkegaard die Heimlichkeit des Wortes ausmacht. O! wo ein Mensch in seiner Seele ein Wort bewahrte, welches ihn einmal gerettet hatte in des Lebens Not! Vielleicht ist das Wort schlicht und einfältig gewesen, vielleicht ist es ihm deutlich geworden, indem er darüber gegrübelt, vielleicht vermochte er klar, einleuchtend mit der Sprache ganzen Gewalt es allen zu erklären, eines aber vermochte er nicht, er konnte nicht erklären, wie es in ihm aufgekommen sei, eben in der Stunde der Not; er vermochte alle spätere Wirkung des Worts in seinem Leben zu entwickeln, aber er konnte nicht erklären, wieso, eben dann als die Not am größten war, die Hilfe ihm am nächsten gewesen sei in diesem Wort […] (VII, 90).
————— 37 Das entwickelt Kierkegaard später genau im dritten Kapitel des Begriffs Angst. Dort und auch anderswo verwendet er den Begriff des Augenblicks, um das Zusammenkommen von Zeitlichem und Ewigem in der Gegenwart auszusagen. Vgl. dazu das Kapitel 2.2.
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Die Unerklärlichkeit dieses Augenblicks nennt Kierkegaard die Heimlichkeit des Wortes und das Wunderbare des Ursprungs (VII, 91). Die heimliche Wahrheit bleibt heimlich, auch in all dem, was sie bewirkt: „selbst wenn sie einem Menschen alles erklärte, sein Auge dem Schauen erschlösse, seine Zunge löste zur offenen Rede von ihr, sein Herz weit machte, das Tiefe zu fassen, ob sie deshalb einem Menschen jemals anders offenbar würde als in der Heimlichkeit“ (VII, 91). Ein Hinweis zum Hören sei noch angefügt. Es wurde jetzt mehrmals herausgearbeitet, dass das Hören ein Geschehen der Innerlichkeit ist. Dabei ist aber zu beachten, dass die Stimme für die Sprache wesentlich bleibt. Es geht bei Kierkegaard nie um eine Stille, die in der Innerlichkeit bleibt und keinen Ausdruck im Äußeren findet. Gleich im Vorwort des ersten Werkes ist belegt, wie das Hören und die Innerlichkeit zusammengehören, nämlich als ein Hören, das an eine Stimme gebunden ist. Dort findet sich die Bemerkung, dass das Gehör, die Stimme und das Ohr der Zugang zur Innerlichkeit sind (I, 3). Äußeres ist nicht Inneres, hält Kierkegaard in polemischer Abgrenzung gegen Vereinfachungen einiger seiner hegelianischen Kollegen fest. In diesem Zusammenhang ist es die Stimme, die den Zugang zum Inneren ermöglicht. An diese Aussage aus dem Vorwort hält sich in weiteren Verlauf des Buches der Ästhetiker, wenn er fragt, ob die Stimme nicht mehr sein muss als Zungenschlag und Geräusch, ob sie nicht tief in der Seele ein Zuhause haben muss, etwas von diesen Tiefen ahnen lassen muss (I, 202). Dass die Stimme in dieser Weise ein Zugang zum Inneren sein kann, erlebt auch Gretchen. Sie kann an der Stimme erkennen, wenn die Worte nicht aus den Tiefen der Seele kommen. So zumindest empfindet sie es, wenn sie sich an Faust erinnert: ich erinnere seine Worte, aber ich habe nicht seiner Stimme Harfenklang. Ich bewahre bei mir seine Reden, aber meine Brust ist zu schwach, ihnen Fülle zu geben. Sinnlos ertönen sie vor taubem Ohr (I, 228).38 Auch im zweiten Band von Entweder-Oder wird darüber reflektiert, wie sich Ausdruck, Darstellung, Einkleidung in Worte verändern und vergessen werden können, was dabei bleiben soll, sind die Gedanken, Bewegungen, Stimmungen (II, 359). Kierkegaards eigener Schreibstil hält sich an diese Feststellung. Der retardierende Charakter seiner Schriften führt vor, wie er die verschiedensten Ausdrucksformen finden kann, um denselben Gedanken oder dieselbe Stimmung in immer neuen Anläufen wiederzugeben. Diese Beobachtungen sprechen dafür, dass ————— 38 Gretchens Erfahrung deckt sich mit dem, was Kierkegaard über die Stimme des Verführers sagt als eine sich der Wahrnehmung entziehende Ferne. Kierkegaard drückt das metaphorisch aus: auf kühnen Gedanken fliegt er davon, je mehr er redet (I, 392). Dieser Gedanke, so merkt Hirsch in seiner Übersetzung an dieser Stelle an, steht im Gegensatz zu dem alttestamentlichen Gedanken, dass die Stimme Gottes wahrnehmbare Nähe ist.
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Entscheidendes der Aussage nicht in einer fest fixierten sprachlichen Form zu finden ist, sondern von der Stimme, die sie ausspricht, überhaupt erst zum Ausdruck gebracht wird.39 Diese Aussagen reden nicht der Beliebigkeit das Wort, sondern nehmen nur die Tatsache ernst, dass eine Aussage wesentlich mit ihrer äußeren Form, der Stimme zusammenhängt. Die Stimme kann einen Satz in seiner Bedeutung festlegen. Es gibt Reden, die können von einem misstrauischen Menschen ebenso gesagt werden wie von einem liebevollen und verändern dadurch ihre Bedeutung. Die Rede an sich ist tot, sagt Kierkegaard, sie ist ein Mitlauten, welches erst zu menschlicher Rede wird durch die Persönlichkeit, die es ausspricht, indem sie ihm Stimme beilegt (XIX, 256).40 Die————— 39 Als Einschätzung schriftlicher Sprache äußert Kierkegaard auch, dass gedruckte Dinge stumm sind (I, 14). Zum Leben werden Texte erst erweckt, wenn sie zu Gehör gebracht werden, einen Klang bekommen. Sie brauchen einen Menschen, der sie sich aneignet. Dieses Motiv taucht noch mehrmals in Vorworten zu Erbaulichen Reden auf. Das Buch bleibe in sich verschlossen, sagt der Autor dort, solange sich nicht ein Einzelner findet, der dem Gesagten Gelegenheit gibt, die kalten Gedanken wieder in Brand setzt, die Rede zu einem Zwiegespräch wandelt (IX, 143). Oder noch einmal in anderer Wendung: „der Leser, der laut für sich selber liest, was ich schreibe in der Stille, der mit seiner Stimme an den Tag ruft, was die stummen Buchstaben gleichsam auf der Zunge haben, aber nicht auszusprechen vermögen ohne mancherlei Mühe, stammelnd und stückweis, in seiner Stimmung die gefangenen Gedanken erlöst, die nach Befreiung sich sehnen“ (VI, 101). Der Ausdruck von den gefangenen Gedanken klingt so, als wäre die Sprache in sich selbst in ihrer Schriftform verschlossen, wie ein Mensch in seinem Selbst verschlossen sein kann. Diese Assoziation zum Dämonischen hat auch Kierkegaard, wenn er in der Krankheit zum Tode als Vergleich zum trotzig dämonischen Menschen vom Schreibfehler spricht, der aufbegehrt und Zeugnis wird wider den Schriftsteller (XXIV, 74). Was von den Texten des religiösen Schriftstellers, die von einem Einzelnen gelesen werden wollen, gesagt ist, gilt selbstverständlich auch für Texte des Dichters, die ein Mehr entfalten, wenn sie vorgetragen werden. So hält der theaterbegeisterte Kierkegaard es z.B. ausdrücklich fest in einem kleinen Artikel über eine Schauspielerin, in dem er besonders ihre Stimme würdigt. Der Gedanke, die Idee komme durch sie zum Erklingen und wecke einen Widerhall, die Worte des Dichters kommen dadurch als ein Mehr zurück (XXI, 13). Sie behalte weder das Wort für sich zurück, noch gibt sie es auf unfreie Art von sich (XXI, 15). 40 In der Schrift über der Liebe Tun weist Kierkegaard übrigens oft darauf hin, wie sehr Sprache in ihren Ausdruck drängt. Er bedient sich dazu z.B. des biblischen Bildes von Pflanze und Frucht: „Ein jegliches Leben, so denn auch das der Liebe, ist als solches verborgen, wird aber offenbar in etwas anderem. Das Leben der Pflanze ist verborgen, die Frucht ist die Offenbarung; das Leben des Gedanken ist verborgen, die Äußerung der Rede ist das Offenbarmachende“ (XIX, 11). Wie sehr der Gedanke ins Wort drängt ,führt Kierkegaard im Verlauf der Rede vor Augen. Wo es sich um eine wahre Empfindung handelt, muss sie im Wort ausgedrückt werden: die, die du liebst, „haben ein Anrecht auch auf deren Ausdruck im Wort, wenn die Liebe dich wirklich in deinem Innern bewegt. Die Bewegtheit ist nicht dein Eigentum, sondern das des andern, die Äußerung ist das, was du ihm schuldest, da du ja in der Bewegtheit dem gehörst, der dich bewegt, […] “ (XIX, 14). Oder noch einmal mit einer Redewendung gesagt: Wes dein Herz voll ist, soll dein Mund übergehen (XIX, 15). Gemessen wird das Wort an der Handlung: unreife und betrügerische Liebe erkennt man daran, dass Worte und Redensarten ihre einzige Frucht sind. In der Wirklichkeit ist das allerdings schwer auseinander zu halten. Ein und dasselbe Wort kann uns gewiß machen, dass in einem Liebe wohnt, im andern nicht (XIX, 16). Es kommt darauf an, wie und auf welche Weise man es sagt, aber auch da gibt es kein unbedingtes Kriterium (XIX, 17). So
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se unauflösliche Bindung an die Person führt zu immer neuen Widersprüchen, wenn Person und Aussage nicht zusammenpassen. Exemplarisch benennt diesen Widerspruch in einer seiner möglichen Formen der Dichter zu Beginn von Entweder-Oder: Er leidet daran, dass seine Stimme nicht das ausdrücken kann, was er in seinem Innersten fühlt, er empfindet seine Unfähigkeit, den angemessenen Ausdruck zu finden wie eine Behinderung: Soll des Geistes Zungenband bei mir nie gelöst werden, soll ich für immer lallen?“ Er wünscht sich eine mächtige Stimme, die er braucht, „um Luft zu bekommen, um sagen zu können, wie mir um den Sinn ist. […] Jedoch meine Stimme ist bloß heiser wie ein Möwenschrei oder hinsterbend gleich dem Segen auf des Stummen Lippen (I, 24f.).
Aus diesen Sätzen spricht das Wissen darum, welche Macht Worte haben können, wenn sie in Verbindung mit der richtigen Person und ihrer Stimme ihre Kraft entfalten können. Und es spricht aus diesen Sätzen zugleich die Traurigkeit darüber, dass Worte ebenso wie die sie aussprechenden Menschen ihrer Bestimmung so oft nicht nachkommen. Ich bin hier vom religiösen Hören einige Schritte zurückgegangen und habe die Bedeutung der Stimme hervorgehoben an Texten, die bei Kierkegaard vor allem im Zusammenhang des Nachdenkens über die Stimme in ästhetischen und ethischen Kontexten gemacht werden. Aber die Stimme scheint mir auch für religiöse Sprache bedeutsam zu sein. Vorhin habe ich vorläufig den Ausdruck des hörenden Redens gebraucht, um zu beschreiben, wie ein Mensch sich die Sprache Gottes aneignet. Genau darin scheint die Bedeutung der Stimme zu liegen, dass ein Mensch Gottes Wort hört, und indem er es für sich annimmt, ihm eine Stimme verleiht: Er begibt sich in die Sprache Gottes hinein, indem er Gebetstexte der Bibel für sich nachspricht oder Worte der Bibel auf sein eigenes Leben bezieht. Die leibliche Seite der Sprache, nämlich die Stimme, garantiert dabei, dass die Worte mit dem Leben des Gläubigen in Verbindung sind.41 So wie sich das religiöse Selbst im Geist als neue Einheit von Leib und Seele vollzieht, so muss auch die Sprache, in der das geschieht, in der Stimme ihren äußeren Ausdruck finden. Die Stille, in der ein Mensch mit seinem Nichts konfrontiert ist, öffnet sich im Glauben zu neuer Sprache. Dass der Mensch in der neuen Sprache zuerst ein Hörender ist, garantiert, dass es sich wirklich um eine neue Sprache handelt, nämlich die Sprache Gottes. Die Stimme wiederum erinnert daran, dass die sprachliche Bewegung nur da vollzogen ist, wo sie ————— sehr der äußere Ausdruck also zu einem wahren Wort dazugehört, so schwierig ist es, den sprachlichen Gehalt des Wortes an der äußeren Form festzumachen. 41 Dieses Wiederholen von biblischen Texten darf man sich ruhig vorstellen als das, was Kierkegaard Wiederholung nennt. Dieser Gedanke ist in Kapitel 4 weiterzudenken, wenn es um die Wiederholung gehen wird.
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ihren Ausdruck im Äußeren findet. Der Mensch bleibt also als Glaubender kein Stummer, sondern aus dem Hörenden wird ein Redender. Wie sich dieses Reden zwischen Gott und Mensch genauer vollzieht, das ist die Frage der nächsten drei Abschnitte. Dabei ist dem Motiv der Sprachverschiedenheit noch genauere Aufmerksamkeit zu widmen, denn der Mensch spricht nicht ein für alle Mal die Sprache Gottes, sondern er lebt weiter unter der Bedingung der Sünde. Er fällt ständig in die Sprache zurück, in der er die Widersprüche seines Selbst nicht zusammenhalten kann, in der er sie in Geschwätz überspielt oder in Verschlossenheit beharrlich an ihnen festhält, ohne sie verbinden zu können. Um aus dieser Sprache der Sünde herauszukommen, muss er stille werden und sich immer wieder neu hörend in die Sprache Gottes hineinholen lassen, um ihr dann in seinem eigenen Leben Stimme zu geben.
3.4 Verstehen und Missverstehen Verstehen und Missverstehen Das Motiv der Sprachverschiedenheit tauchte bereits auf: in Furcht und Zittern gab es die Aussage, dass Gott und Mensch keine gemeinsame Sprache haben, und in der Rede über Lilien und Vögel nahm es breiten Raum ein. Das Motiv der Sprachverschiedenheit zieht sich durch viele weitere Texte Kierkegaard. Anhand dieser Texte soll jetzt darüber nachgedacht werden, was ein Verstehen zwischen Gott und Mensch bzw. Mensch und Mensch ist und wie es zustande kommt. Weiter muss in diesem Abschnitt überlegt werden, wie es sich auswirkt, wenn es zu solchem Verstehen nicht kommt, es also bei einem Missverständnis bleibt.42 Zuerst ist zu klären, was mit verschiedenen Sprachen gemeint ist. Offensichtlich handelt es sich nicht um empirisch verschiedene Sprachen, von denen man normalerweise eine als Muttersprache hat und alle anderen als ————— 42 Es sei ausdrücklich angemerkt, dass mit Verstehen hier mehr gemeint ist als das, was Verstehen in erkenntnistheoretischen und hermeneutischen Diskussionen oft meint. Als Beispiel für eine Definition von Verstehen aus dieser Perspektive vgl. den Abschnitt Verstehen in SCHÄDELBACH, H., Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt am Main 1983. 138–143. Schädelbach fächert Verstehen auf in das Verstehen einer Sprache, was ein rein äußerliches Verstehen der Sprache meint, in das Verstehen von Phänomenen, was die Verstandesleistung meint, in der Wahrnehmungen in Begriffen verarbeitet werden, und schließlich das Sinnverstehen oder hermeneutische Verstehen. Schädelbach kann philosophiegeschichtlich darlegen, warum mit Einsicht in die Geschichtlichkeit des Denkens und Sprechens hermeneutische Klärungen zur Voraussetzung alles geisteswissenschaftlichen Denkens wurden. Verstehen bleibt dabei aber ganz auf Erkenntnis bezogen, und das, worum es bei Kierkegaard hier geht – nämlich ein Verstehen, das Beziehungen zwischen Sprechenden schafft – kommt gar nicht in den Blick. Grundsätzliche Überlegungen zu einer Erweiterung der Hermeneutik in Hinblick auf Relationen finden sich bei EBELING, G., Wort Gottes und Hermeneutik, in: Wort und Glaube, Tübingen 1960. 319–348.
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Fremdsprache lernen muss.43 Mehrere Themen, um die es geht, wenn Kierkegaard von verschiedenen Sprachen redet, sind in diesem Zitat angelegt: Luther hat irgendwo gesagt, daß ein Christ die Hoftracht des Kreuzes tragen müsse; aber müßte er dann nicht auch geübt sein und sich üben, aus Herzensgrund die himmlische Hofsprache sprechen zu können. Denn, wie gesagt, zungenfertig Worte über die Herrlichkeit der Seligkeit zu verströmen, ist eitle, törichte Rede; aber gleichsam mit zusammengepreßten Lippen, anstatt unmittelbar von der Seligkeit zu sprechen,
————— 43 Zur Verschiedenheit menschlicher Sprachen ist interessant, dass der Turmbau von Babel, auf den in der Bibel die Existenz verschiedener Sprachen zurückgeführt wird, bei Kierkegaard zweimal vorkommt und zwar jeweils in positivem Zusammenhang. Der erste Beleg findet sich in Entweder-Oder und zwar in dem Teil „Der Widerschein des antiken Tragischen in dem modernen Tragischen“, den Kierkegaard im Untertitel als einen Versuch im fragmentarischen Streben bezeichnet und der Vereinigung der Symparanekromenoi zuschreibt. Innerhalb dieses Textes erwähnen diese Symparanekomenoi, dass die fragmentarische Form ganz ihren Grundsätzen entspricht, „da unsre Absicht nicht ist, an einem babylonischen Turm zu bauen, den Gott niedersteigend in seiner Gerechtigkeit zerstören kann, da wir im Bewußtsein, daß jene Sprachverwirrung mit Recht geschehen ist, es als Eigentümlichkeit alles menschlichen Strebens in seiner Wahrheit anerkennen, daß es fragmentarisch ist, daß es eben durch dies Fragmentarische vom unendlichen Zusammenhang der Natur sich unterscheidet […]“ (I, 162). Die Sprachverwirrung und Sprachverschiedenheit wird hier als dem begrenzten menschlichen Dasein angemessen verstanden. Weiter heißt es, dass der Reichtum einer Individualität sich genussvoll im Fragmentarischen verschwendet und damit auch andere zu so genussvollem Umgang mit der eigenen Schaffenskraft inspirieren will (I, 162f). Diese Aussagen lassen sich ganz direkt auf die Sprache beziehen. Die Vielfalt sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten legen Menschen nicht auf eine gültige sprachliche Form fest. Die Individualität entfaltet sich vielmehr mit dem Reichtum der Ausdrucksmöglichkeiten. Das Individuum ist damit als ein sich entwickelndes Wesen bestimmt, das sich in einem Prozess befindet, und dem entspricht als Ausdruck das fließende Medium der Sprache, die verklingt, die nur bedingt festgehalten werden kann und die sich mit dem Menschen weiterentwickelt. Die Verschiedenheit der Sprache erinnert weiter daran, dass durch die so deutliche Begrenztheit der eigenen Sprache andere zu ihren eigenen Ausdrucksmöglichkeiten angeregt werden sollen. Die Sprachverwirrung verweist Menschen in ihre Begrenzung. Das ist nicht als eine autoritäre Zurückweisung in die eigenen Grenzen verstanden, sondern ist eine heilsame Erinnerung, die dazu motivieren soll, die verschiedenen Fragmente des Lebens wahrzunehmen, auf die Vielfalt der sprachlichen Ausdrucksformen zu lauschen und so den Reichtum der Individualitäten und der Sprache zu entdecken. Von dem Reichtum, der sich in der Vielfalt der Ausdrucksformen zeigt, ist noch einmal im Tagebuch des Verführers die Rede. Dort wird die Vielfalt weiblicher Schönheit mit der Vielfalt der Sprache verglichen. „Es ist mir eine Wonne, meinem Herzen eine Wonne, mir die Sonne der Weiblichkeit vorzustellen als hinausstrahlend in einer unendlichen Mannigfaltigkeit, als sich ausbreitend in einer Sprachverwirrung, bei der jede Einzelne ein Stückchen des ganzen Reichtums der Weiblichkeit besitzt, jedoch dergestalt, daß das Übrige, das sich am Weibe findet, harmonisch an diesen Punkt anschließt. In diesem Sinne ist die weibliche Schönheit ins Unendliche teilbar“ (I, 465). Wieder wird durchaus positiv auf die Sprachverwirrung rekurriert. Die unendliche Verschiedenheit bringt angemessen den ganzen Reichtum zum Ausdruck. Dieser Vergleich lässt sich wieder von der Schönheit auf die Sprache zurückwenden: So wie die Schönheit im Reichtum verschiedener Menschen unendlich teilbar ist, ist die Wahrheit in der Vielfalt sprachlicher Ausdrucksformen unendlich teilbar. Nur nebenbei sei bemerkt, dass hier wieder einmal die Sprache mit schönen Frauen verglichen wird (vgl. dazu oben das Kapitel 1.2 zu Kierkegaard als Sprachliebhaber).
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durch eine andere Art des Sprechens über die Trübsal des Lebens zu zeigen, daß man von der Seligkeit spricht: das ist die Hofsprache (XVIII, 330).
Weiter heißt es über die Hofsprache: man spricht sie nur aus Herzensgrund, denn diese himmlische Hofsprache enthält keine Unwahrheit, wie man sonst wohl und zwar mit Recht, von der schmeichelnden Unwahrheit der Hofsprache spricht, sie ist keine Redeweise, wie die Hofsprache sonst, o nein, sie ist einzig und allein eine Denkungsweise (XVIII, 330).
Im Folgenden will ich zuerst etwas sagen zum Stichwort Sprache als Denkungsweise. Danach ist auf die Eigenarten der Sprache des Glaubens einzugehen. Dazu ist in dem Zitat über die Hofsprache schon gesagt, dass in ihr immer ein Widerspruch enthalten ist, konkretisiert in dem Beispiel, dass man über die Trübsal des Lebens und doch gleichzeitig von der ewigen Seligkeit sprechen kann. Über diesen Widerspruch ist noch mehr zu sagen. Weiter charakterisiert es die Hofsprache, dass man sie ‚von Herzensgrund‘ spricht. Das Herz verweist in die Innerlichkeit des Menschen, und es ist zu fragen, wie es geschieht, dass ein Mensch sich selbst und Gott versteht. Zum Sprechen von Herzensgrund ist auch zu bemerken, dass solches Sprechen von Natürlichkeit und Ursprünglichkeit geprägt ist trotz oder gerade wegen des in diesem Sprechen verborgenen Widerspruchs. Wenn ein Mensch die Sprache des Glaubens findet, in der er sich, die Welt und Gott verstehen kann, geschieht das nicht in krampfhaft festzuhaltender Balance, sondern mit einer Sicherheit, die von außen einfältig anmutet. Zuerst ist auf den aus obigem Zitat stammenden Ausdruck von der Sprache als Denkungsweise einzugehen.44 Kierkegaard bezeichnet als Sprache, was innerhalb des Denkens für einen bestimmten Ansatz des Denkens steht. Der Anfangssatz des zweiten Teils der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift führt solche Sprachen an, die für eine bestimmte Denkungsweise stehen: „In der Sprache der Abstraktion kommt das, was die Schwierigkeit der Existenz und des Existierens ausmacht, eigentlich nie zum Vorschein […]“ (XVI/2, 1). Der Sprache der Abstraktion steht die Sprache der Wirklichkeit gegenüber: Alles, was in der Sprache der Abstraktion über die Wirklichkeit gesagt wird, wird innerhalb der Möglichkeit gesagt. In der Sprache der Wirklichkeit verhält sich nämlich die ganze Abstraktion wie eine Möglichkeit zur Wirklichkeit, nicht zu einer Wirklichkeit innerhalb der Abstraktion und der Möglichkeit (XVI/2, 16).
————— 44 Vgl. dazu den sich bei Humboldt immer wieder ausgesprochenen Gedanken, dass eine Sprache ist eine Weltsicht ist (z.B. Humboldt 20, 64, 224). Humboldt erläutert dazu, dass Begriffe einer Sprache soweit reichen, wie die Welt erfasst ist, und dass durch Sprache der Zusammenhang der Ideen und Begriffe hergestellt wird.
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Kierkegaard will darauf hinaus, dass der Mensch sich bei seinen Abstraktionen jederzeit darüber Rechenschaft abgeben muss, dass er als existierender, endlicher Mensch keine absoluten Abstraktionen vornehmen kann. Er formuliert diese Aussage nun aber selber nicht in abstrakter Form, sondern er stellt zwei Sprachen gegenüber. Eine Sprache steht dabei jeweils für ein komplexes Beziehungssystem. Das Denken wird zu einer lebendigen Größe, die eine eigene Sprache hat und damit in sich vielfältig ist und sich nicht auf eine objektive Aussage reduzieren lässt. Sprache und Denken werden hier aufs Engste miteinander verbunden. Dass Denken und Sprache aufeinander angewiesen sind und keines ohne das andere sein kann, ist dabei nur die Voraussetzung.45 Kierkegaard sagt wesentlich mehr. Jeder Ansatz des Denkens entwickelt seine eigene Sprache. Wenn man diese Rede Kierkegaards weiter ausführt, heißt das, der Austausch von Gedanken ist ein Übersetzen von einer Sprache in eine andere. Damit ist bildlich von einem wesentlich komplexeren Zusammenhang die Rede, als wenn man davon ausgeht, dass die Sprache dazu da ist, Gedanken auszudrücken und diese Gedanken dann innerhalb einer gemeinsamen Sprache verglichen werden. Zum Übersetzen gehört der Gedanke, dass es einen unübersetzbaren Rest gibt, der sich nie von einer Sprache in die andere übertragen lässt. Mit den verschiedenen Sprachen bringt Kierkegaard also treffend zum Ausdruck, dass die Verständigung zwischen verschiedenen Denkansätzen möglich, reizvoll, aber auch oft so schwierig ist wie das Übersetzen von einer Sprache in die andere, weil es Punkte gibt, die sich nicht von einer Sprache in die andere übertragen lassen.46 Wo jemand sich nicht auf ein bestimmtes Denkmuster einlassen will, bleibt er außen vor. Für Kierkegaard z.B. erscheint die abstrakte Rede über den Menschen wie eine verabredete Geheimsprache: Wenn abstrakt über den Menschen geredet wird, kommt man sich vor wie ein verwirrter Zuhörer bei einem Examen, wo Frage und Antwort vorher verabredet sind, oder wie in einer Familie, die die eigene ————— 45 Zum Verhältnis von Sprache und Denken vgl. auch Humboldts Satz „Zwischen Denkkraft und Denkkraft aber gibt es keine andre Vermittlerin, als die Sprache“ (Humboldt, 139) oder die Aussage, dass Denken immer etwas ihm gleiches braucht, um sich davon anregen zu lassen und immer etwas von ihm geschieden braucht, das als Prüfstein dienen kann (Humboldt, 217). Diese gleichzeitige Gleichheit und Unterschiedenheit kann nur Sprache leisten. 46 Vgl. dazu Humboldt: „Sprache kann nicht, gleichsam wie etwas Körperliches, fertig erfasst werden; der Empfangende muß sie in die Form giessen, die er, für sie bereitet, hält, und das ist, was man Verstehen nennt“ (Humboldt, 156). In diesem Zusammenhang macht Humboldt auch darauf aufmerksam, dass gegenseitiges Verstehen immer voraussetzt ein gleichzeitiges Bewusstsein von Verbundenheit und Fremdheit. Die Möglichkeit zu Sprache schafft eine Verbundenheit, die auch gegeben ist, wenn Menschen verschiedene Sprachen sprechen. Gleichzeitig bleibt ein anderer, selbst wenn er die gleiche Sprache spricht, immer bis zu einem gewissen Grade fremd.
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Sprache spricht, wobei sie zwar Wörter der Muttersprache verwendet, aber anderes darunter versteht (XVI/1, 163).47 Verschiedene Sprachen als verschiedene Denkweisen gibt es nicht nur innerhalb des Denkens im engeren Sinne des wissenschaftlichen Diskurses, sondern auch in weiteren Bereichen des Lebens.48 Für Kierkegaard gehören ganz selbstverständlich zu verschiedenen Lebenseinstellungen verschiedene Sprachen. So versteht der ästhetische Verführer seine Kunst als eine eigene Sprache: In dem Gedanken, ein Mädchen zu verführen, liegt für ihn eine ganze Sprache verborgen (I, 391). Die Sprache des Ethikers ist dagegen eine ganz andere: „Sollte etwa jene Sprache, welche der liebende Jüngling zu führen weiß, Gott mehr gemäß sein als die, welche der Ehemann zu verstehen weiß?“ Die Sprache, die nur der Ethiker versteht, ist die, die gleichzeitig von Liebe und Pflicht sprechen kann, die Entschluss und Verliebtheit zusammenbringen kann, die der Liebe Lust und die Gewalt des Ernstes zusammen bewahren kann (XV, 174). Als Beispiel für die wieder andere Sprache des religiös veranlagten Menschen kann Quidam dienen. Er begreift in den Stadien auf des Lebens Wege das unglückliche Scheitern seiner Liebe als eine Sprachverschiedenheit zwischen ihm, dem religiös in sich selbst reflektierten Verschlossenen, und seiner unmittelbar naiven Geliebten: Ein Irrfahrtender bin ich, ich gleiche einem, der in ein fremdes Land gekommen ist, in dem man eine andere Sprache spricht und andere Sitten hat.“ Die Interessen Quidams werden in diesem Land nicht verstanden, die Idee, die er von dieser Liebesbeziehung hat, kann er seiner Geliebten nicht verständlich machen: „Es will heißen, daß sie schlechterdings keine Empfänglichkeit hat für die Motive, welche ich für die höchsten halte. Zwischen uns besteht eine Sprachverschiedenheit, zwischen uns liegt eine Welt, deren Abstand sich jetzt in seiner ganzen Schmerzlichkeit zeigt (XV, 332).
Nicht nur im Vergleich zur naiven Geliebten ist es schwierig, auch das Ethische ist im Vergleich mit dem Religiösen eine andere Sprache. Frater ————— 47 Gegen solche Geheimsprachen oder Sondersprachen wandte sich auch schon der Ethiker in Entweder-Oder. Er spricht von „seperatistischem Unwesen“ und bezieht das auf Familien, die ihre eigene Sprache sprechen und so viele rätselhafte Andeutungen machen, dass ein Außenstehender sie nicht verstehen kann (II, 87). Was er von Familien sagt, lässt sich sicher auch von anderen ‚Cliquen‘ sagen, die ihre eigene Sprache sprechen, sei das in Freundeskreisen, Berufsgruppen, Vereinen oder der Kirche. Für alle gilt, dass sie ihre Besonderheit besitzen, aber die Kunst es ist, diese Besonderheit zu verhüllen (II, 87), d.h. sie sollen das Besondere im Allgemeinen ausdrücken. Diese letzte Aussage ist eine typische Interpretation des Ethikers, für den die Sprache das Allgemeine zum Ausdruck bringen muss und sich idealerweise durch gänzliches Offenbarsein auszeichnet. Dass diese Auffassung von Sprache in Schwierigkeiten führt, zeigt sich in vielen anderen Schriften Kierkegaards, wo es gerade darum geht, wie auch für das Einzelne, dass im Allgemeinen nicht auszusagen ist, eine Sprache gefunden werden kann. 48 Vgl. dazu Humboldt, der davon ausgeht, dass letztlich jeder Mensch seine eigene Sprache hat: „Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen“ (Humboldt, 228).
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Taciturnus, der das Tagebuch Quidams präsentiert, betont seine eigene Ungläubigkeit. Er sagt von sich, dass er in einer fremden Sprache redet, wenn er sich in religiösen Termini ausdrückt. „In religiöser Sprache müßte ich mich anders ausdrücken, wiewohl ich da in einer fremden Zunge rede […].“ (XV, 479), sagt er, als er das Verhalten Quidams anhand des theologischen Begriffs der Vorsehung erklären will.49 Verschiedene Sprachen, die zu verschiedenen Denkungsweisen und Lebenseinstellungen gehören, gibt es also mehrere. Zu den verschiedenen Sprachen innerhalb des Denkens oder menschlichen Zusammenlebens kommt die Sprache Gottes. Sie steht in einem qualitativen Unterschied zu menschlicher Sprache. Den unendlichen Unterschied zwischen Gott und Mensch thematisiert Kierkegaard in vielen Schriften, und interessant ist dabei, dass er diesen Unterschied als Sprachverschiedenheit wahrnimmt. Das kann man beispielsweise sehen in den Philosophischen Brocken, wo er das Verhältnis zwischen Gott und Mensch mit einer Liebesbeziehung zwischen einem König und einem Bettelmädchen vergleicht. Die Beziehung zwischen König und Mädchen, bzw. Gott und Mensch, stellt sich so dar, dass beide miteinander reden wollen, sich aber wegen des Unterschiedes zwischen ihnen nicht verstehen können. Die Schwierigkeit besteht darin, dass der König – bzw. Gott oder die Liebe wie Kierkegaard gleichsetzt – sich verständlich machen muss, ohne das Andersartige zunichte zu machen (X, 23). Der Qualitätsunterschied zeigt sich als ein Sprachunterschied. Ziel ist das gegenseitige Verstehen. Doch wenn man in verschiedenen Sprachen redet, wird das, was man voneinander versteht, zum Missverständnis (X, 24). Der König leidet unter der Ungleichheit, die nicht aufgehoben werden kann. Er kann sich in seinem Kummer nicht verständlich machen, ebenso wie die menschliche Sprache nicht in der Lage ist, das Leiden Gottes an der Sünde auszudrücken: So wie jenes königliche Leid nur in einer königlichen Seele sich findet, und die Unzahl menschlicher Sprachen es überhaupt nicht nennt, ebenso ist die gesamte menschliche Sprache derart eigensüchtig, daß ihr von solch einem Leide [Gottes Leiden an der Ungleichheit] nichts ahnt (X, 26).50
————— 49 Auch in folgender Textstelle kommt der Gedanke vor, dass man das Religiöse als Fremdsprache wie von außen verstehen kann oder sich in ihm wie in seiner Muttersprache zuhause fühlt. Wenn jemand versucht, mit dem Zauber der Phantasie die ewige Seligkeit zu schildern, dann ist er wie ein aus dem Ästhetischen ausgerissener Dichter, der „im Religiösen Bürgerrecht haben will, ohne auch nur dessen Muttersprache verstehen zu können“ (XVI/2, 96). 50 Derselbe Gedanke ist noch einmal in einer Erbaulichen Rede formuliert: Gott ist bekümmert darüber, dass Schöpfer und Geschöpf geschieden sind. „Von dieser Kümmernis spricht die menschliche Sprache nur wenig, denn in diesem Sinne ist nicht bloß ihre Rede, sondern beinahe die Sprache selbstsüchtig, sie spricht lediglich von der Menschen Angelegenheiten, nur wenig von
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Die menschliche Sprache ist eigensüchtig, d.h. sie bleibt innerhalb ihrer Grenzen. Wäre sie sich wenigstens ihrer Grenze bewusst, würde sie wohl im Schweigen auf das Leiden Gottes reagieren. Das wäre, wenn auch keine Verständigung, so doch wenigstens ein Ausdruck für die Ungleichheit der Sprachen. Hier liegt der entscheidende Unterschied zu den verschiedenen Sprachen innerhalb des menschlichen Lebens und Denkens. Der Mensch kann nicht von sich aus in die Sprache Gottes hineinkommen, eine gemeinsame Sprache kann nur von Gott ausgehen. Gottes Ziel ist es, die Ungleichheit zu überbrücken, und das bedeutet, eine gemeinsame Sprache zu haben.51 Verständnis, so hält Kierkegaard immer wieder fest, ist nur da möglich, wo Gleiches mit Gleichem vereint ist. Solche Gleichheit kann nur entstehen, wo Liebe gleich macht, was ungleich ist (X, 23, 25). Es ist die Liebe Gottes, die ein Verstehen zwischen Gott und Mensch ermöglicht, die den Sprachunterschied überbrückt. Das Leiden Gottes daran, dass er sich nicht verständlich machen kann, betont Kierkegaard, hat seinen Grund darin, dass er die Lernenden, also die Menschen liebt (X, 26). Die Liebe ist der Beweggrund, der Gott überhaupt mit Menschen reden lässt: Gottes Offenbarung, so meint Kierkegaard, ist nicht so, als ob Gott das Stummsein nicht aushält und deshalb ins Wort ausbricht, stattdessen ist der Beweggrund Liebe und ein ewiger Entschluss (X, 22). In den Philosophischen Brocken ist es ein wichtiges Thema, dass die Gleichheit nicht dadurch entsteht, dass der Mensch Gott gleich wird, sondern dass Gott sich erniedrigt. Dieser Bewegung entspricht die Sprache, denn die Offenbarung bedient sich menschlicher Sprache.52 Gott lässt sich in die menschliche Sprache herab. Aber in der Offenbarung bricht doch etwas ganz Neues hervor, menschlichen Vorstellungen und Begriffe werden auf den Kopf gestellt. So macht es Kierkegaard in der Liebe Tun deutlich, wenn er erklärt, dass sollen und lieben von ihrer ursprünglichen Bedeutung ————— denen Gottes, und dessen Kümmernis ist die Scheidung.“ (IX, 157). Ebenso wie das Leiden Gottes in menschlicher Sprache nicht ausgedrückt wird, so ist es auch mit dem Leiden Christ: Über Christi Leiden kann der Mensch eigentlich nur schweigen. Die menschliche Sprache hat keinen Ausdruck mehr dafür (XVIII, 284). 51 Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Sprache kommt dem Dichter eine wichtige Aufgabe zu. Kierkegaard benennt als Aufgabe des Dichters im Folgenden, „einen Einheitspunkt zu finden, wo das Verstehen der Liebe zur Wahrheit wird, wo des Gottes Leid den Schmerz verwunden hat“ (X, 26). Er selbst spielt dann als Dichter die verschiedenen Möglichkeiten durch, wie durch Emporheben und Hinabsteigen die Gleichheit als Voraussetzung für gegenseitiges Verstehen erreicht werden kann. 52 Den Gedanken, dass Gott wie in Schöpfung und Inkarnation sich in die Menschensprache herablässt, hat Hamann in vielfältiger Weise ausgeführt, und Kierkegaard hat sich hierin vielleicht von ihm anregen lassen. Vgl. dazu RINGLEBEN, J., Søren Kierkegaard als Hamann-Leser, in: Arbeit am Gottesbegriff II, Tübingen 2005. 91–102. Zu den Philosophischen Brocken und dem Kondeszendenzdenken bei Hamann insb. 98.
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nicht zusammengehen, im göttlichen Gebot des ‚Du sollst lieben‘ aber zusammengeführt werden. Wo die menschliche Sprache haltmacht und der Mut versagt, dort, an der Grenze, bricht die Offenbarung hervor aus göttlichem Ursprung und verkündigt, was zwar nicht im Sinne des Tiefsinns oder des menschlichen Vergleichs schwierig zu verstehen ist, was aber doch in keines Menschen Herz aufgekommen ist. Es ist nicht eigentlich schwierig zu verstehen, wenn es gesagt worden ist, und es will ja nur verstanden werden, auf daß man es ausübt; aber es ist in keines Menschen Herz aufgekommen (XIX, 29).
Das Verhältnis von Verwandtschaft und Unterschiedenheit zwischen göttlicher und menschlicher Sprache ist damit erläutert: Sie sind verwandt, insofern die göttliche Sprache Worte der menschlichen gebraucht und insofern auch nicht schwierig zu verstehen ist; doch es gibt einen qualitativen Unterschied, der sich darin zeigt, dass in der Offenbarung etwas ausgesprochen wird, das sich nicht aus der menschlichen Sprache ableiten lässt und sogar in Widerspruch zu ihr tritt. Solch ein Widerspruch war auch in obigem Zitat von der Hofsprache vorhanden: der Mensch redet gleichzeitig von Trübsal und Seligkeit. Die einfach und einfältig klingende Rede von Liebe oder Seligkeit entspricht im Munde eines Menschen erst dann der Sprache Gottes, wenn dieser Widerspruch in ihr enthalten ist. Sobald ein Mensch Worte aus Gottes Sprache wie Liebe oder Seligkeit in den Mund nimmt, muss er den Widerspruch mit aussprechen. Es geht also darum, unter der Bedingung der Sünde von Liebe oder Seligkeit zu reden. Der Unterschied zu den Sprachen, die für verschiedene Denkungsweisen innerhalb des menschlichen Lebens standen, besteht darin, dass der Mensch zwar von sich aus den Widerspruch benennen kann, aber die eigentlich neue Sprache nicht aus sich heraus entwickeln kann. Der Mensch benutzt zwar Worte menschlicher Sprache, aber diese Worte haben als Sprache Gottes eine neue Bedeutung. Die kann ihm nur Gott in der Offenbarung zugänglich machen. Es geht darum, etwas verstehen zu lernen, das man selbst nicht denken kann. Man soll es verstehen, auf dass man es ausübt, wurde eben aus der Liebe Tun zitiert. Wirkliches Verstehen vollzieht sich also im Tun. Diese Aussage deckt sich mit den Erkenntnissen aus dem Begriff Angst, dass es ein Reden ohne Verstehen gibt, wo das Reden in Angst ganz in der Möglichkeit bleibt und nicht zum Handeln kommt. In die Sprache Gottes kommt ein Mensch also hinein, nicht indem er sie mit dem Verstand herleitet, sondern indem er sie als fremde Sprache hört und das, was er hört, einfach tut. Diese Ausrichtung auf das Tun passt gut dazu, dass Kierkegaard in obigem Zitat von der Hofsprache äußerte, dass man sie nur von Herzensgrund sprechen könne. Die Selbstverständlichkeit, die mit dem Sprechen von Herzensgrund ausgesagt ist, muss auch die Tat, sowohl die
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Tat des Vollzugs des eigenen Selbst in Freiheit als auch die Tat der Nächstenliebe, auszeichnen, damit sie überhaupt möglich wird. Nur in einfältig anmutender Selbstverständlichkeit kann ein Mensch gerade im Angesicht der Widersprüche seines Lebens von Liebe reden, ohne sich in den Widersprüchen zu verbeißen und im Schweigen zu enden. Das neue Sprechen, das aus dem Schweigen hervorgeht, kann der Mensch nur im Hören aus Gottes Sprechen in der Offenbarung lernen. Obwohl dies ein Wunder ist und bleibt, kann Kierkegaard doch genauer beschreiben, wie ein Mensch die Sprache Gottes lernt. Das soll im folgenden Abschnitt entfaltet werden. Hier ist jetzt noch einmal ausdrücklich festzuhalten, dass ein Verstehen zwischen Gott und Mensch möglich ist und dass Kierkegaard dieses gegenseitige Verstehen als Gottesbegegnung erlebt. In der Einübung im Christentum ist es noch einmal ausdrücklich formuliert: Nicht verstanden zu werden, ist eine schmerzliche Erfahrung, und gegenseitiges Verstehen ein Moment höchsten Glücks, „denn so wie es selig ist, im sich Verstehen der Liebe, der Freundschaft einem andern Menschen zu gehören, so ist es schmerzhaft, diese Innerlichkeit des Leidens für sich behalten zu müssen“ (XXVI, 132). Was hier im Blick auf das Verstehen zwischen Menschen gesagt ist, das gilt auch für das Verstehen zwischen Gott und Mensch, bzw. zwischen Christus und Mensch: Nichtverstehen ist mit Leid verbunden, gelungene Verständigung ist eine besondere Freude: Seine [Christi] Freude über den Gläubigen ist wie die eines Menschen über das Verstandenwerden, das völlige Verstandenwerden durch einen andern. Er ist nämlich nicht wie ein Mensch, er kann nicht verstanden werden, begriffen werden, man muß ihm glauben; aber im Glauben gehörst du ihm ganz, und seine Freude ist groß wie die dessen, der ein Verstehen gefunden hat (XXVI, 75).
Auf solches Verstehen durch Christus verweist Kierkegaard noch einmal im Nachdenken über das christologische Thema der Stellvertretung in einer Rede über den Hohepriester aus den Drei Reden beim Altargang am Freitag von 1849 (XXV, 137–146). Die Rede beginnt damit, dass Leidende oft beklagen, dass keiner, der sie trösten will, sie wirklich verstehen kann. Die Rede führt dann vor, wie Christus, der mehr gelitten hat als jeder Mensch, eben deswegen wirklich trösten kann. Im Leiden ist Christus an unserer Statt gewesen und kann deswegen den Menschen ganz verstehen. Von diesem Verstehen her zieht Kierkegaard eine direkte Linie dahin, wie Christus im Gericht für jeden Menschen eintritt. Das gegenseitige Verstehen hat nicht nur durch das Gericht eine eschatologische Perspektive. Quidam z.B. deutet auch eschatologische Zusammenhänge an, wenn er beim Verlust seiner Geliebten sinniert:
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Wo werden wir uns wiedersehen? In der Ewigkeit. So ist denn ja Zeit genug zum einander Verstehen. […] Welche Sprache spricht man dorten? Oder spricht man dort vielleicht gar nicht? (XV, 414).
Für Quidam steht fest, dass in der Ewigkeit alle Krankheiten geheilt werden. Seine Krankheit ist die Schwermut, die ihren Sitz in der Einbildungskraft hat und aus der Möglichkeit gespeist wird. Die Ewigkeit nimmt alle Möglichkeit fort und damit auch seine Schwermut. Mit dieser Hoffnung ist für Quidam verbunden, dass sich auch seine Sprache verändert: statt der endlosen Reflexionen, in denen sich seine Gedanken in Möglichkeiten verlaufen hatten, stellt er sich selbst in der Ewigkeit als einen vor, der mit einem Seufzer zu Gott kommt. Man hört, wie sehr Quidam sich danach sehnt, zur Ruhe zu kommen. Aber er sagt nicht, dass in der Ewigkeit endlich alles still wird, stattdessen kommt er mit einem Seufzer zu Gott. Der Seufzer steht in biblischer Tradition für das Eintreten des Geistes für den Menschen vor Gott.53 Mit dem Seufzer kommt es zum Verstehen zwischen Gott und Mensch. Dieses Verstehen strahlt die Ruhe der Ewigkeit aus, aber es ist keine Stille, in der nicht gesprochen wird. Erwähnt sei in dieser eschatologischen Perspektive noch die Liedstrophe, die Kierkegaard für seinen Grabstein aussuchte. Das gegenseitige Verstehen steht darin für die Gemeinschaft mit Christus: Der er en liden tid/ sa har jeg vundet/ so er den ganske strid/ med eet forsvundet/ so kann jeg hvile mig/ i rosensale/ og uafladelig/ med Jesus tale.54 Ununterbrochen mit Jesus zu reden, das ist der Inbegriff der Ewigkeit. Das vollständige gegenseitige Verstehen, in dem sich Gott und Mensch begegnen, bleibt der Ewigkeit vorbehalten. Im zeitlichen Leben ist eine Verständigung zwischen Gott und Mensch möglich, aber sie bleibt immer durch Missverständnisse gefährdet. Zu dieser sprachlichen Erscheinung, die in den Bereich der Sünde gehört, ist jetzt zu kommen. Sie ist in ihren beiden Ausprägungen, nämlich dem Missverständnis zwischen Gott und Mensch und dem Missverständnis zwischen Mensch und Mensch zu betrachten. Missverständnisse entzünden sich an Geringfügigkeiten und tauchen da auf, wo es keine wesentliche Uneinigkeit gibt, denn über einen Streitpunkt kann man sich durchaus verständigen. Vielmehr besteht ein Missverständnis darin, ————— 53 Mehr zum Seufzer, der Bezug auf Paulus’ Satz aus dem Römerbrief nimmt, in Kapitel 3.6. Dort wird auszuführen sein, dass Kierkegaard den Seufzer nicht als ein Geschehen jenseits der Sprache, sondern als dezidiert sprachliches Geschehen versteht. 54 Noch eine kleine Zeit,/ so ist’s gewonnen,/ so ist der ganze Streit/ ins Nichts zerronnen:/ im Rosensaal darf ich/ ohn Unterbrech/ auf ewig, ewiglich/ mit Jesus sprechen. Zitiert nach MÖLLER, C., „Gottes bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenkeit“. Der Einzelne, die Gemeinschaft und das Publikum bei Sören Kierkegaard, in: Deutsches Pfarrerblatt 11 / 2005, 571–575.
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daß das, was der eine für bedeutend hält, der andere für geringfügig ansieht, jedoch dergestalt, daß im Grunde nur eine Geringfügigkeit zwischen ihnen steht, daß die im Mißverständnis uneinig Gewordenen sich nicht die Zeit genommen haben, zuerst einmal einander zu verstehen (XXXIII, 107).
Es geht bei einem Missverständnis also nicht um die Aussage an sich, über deren Wahrheit man streiten kann, sondern es geht um Beziehungen. Die Sprecher haben verschiedene Auffassungen davon, was der Gegenstand für sie bedeutet. Was dem einen wichtig ist, darüber macht sich der andere lustig, und schon ist das Missverständnis da. Was hier, vielleicht auch mit ironischem Unterton, als Geringfügigkeit bezeichnet ist, weist ins Innere des Menschen. Der Sprecher ist gefragt nach dem, wie er sich selbst versteht, und wenn dieses Selbstverständnis abweicht von dem des anderen, kommt es zum Missverständnis. Man könnte auch sagen, dass die Geringfügigkeit darin besteht, dass einer eine andere Sprache spricht als der andere. Die Beziehung, die ein Mensch zu sich selbst in seinem Selbstverständnis hat, prägt die Beziehung, die er zu seinem Gegenüber hat. Die zweite Hälfte des obigen Satzes sprach davon, dass sie sich nicht die Zeit genommen haben, erst einmal einander zu verstehen. Es geht also um die Voraussetzungen der Kommunikation. Verstehen bedeutet dabei, sich auf eine gemeinsame Sprache einzulassen, in der man sich begegnet, sei es in Einigkeit oder im Streitgespräch. Von dieser Voraussetzung her ist auch klar, dass Missverständnisse da auftauchen, wo sich Menschen verschiedener Lebenseinstellungen, verschiedener Lebensstadien begegnen. Das kann man gut beobachten beim Ästhetiker und Ethiker. Johannes der Verführer ist ein großer Künstler der Zweideutigkeiten, die Missverständnis hervorrufen. „zweisinnige Worte brauchen, so daß die Zuhörer unter dem Gesagten das Eine verstehen und dann plötzlich merken, die Worte könnten auch anders genommen werden, das ist meine Kunst“ (I, 399). Genau diese Zweideutigkeit wirft der Ethiker dem Ästhetiker vor, denn bei ihm wird sie am Offenbarsein gemessen: Deinen Äußerungen haftet oft ein gewisses Maß an Zweideutigkeit an, welches Dir wesentlich und eigentümlich ist. Was Du sagst, könnte ebenso gut der leichtsinnigste wie der schwermütigste Mensch sagen. Das weißt Du selbst recht gut; denn es ist eines der Mittel, die Du brauchst, um die Leute zu täuschen. Du sagt das Gleiche zu der einen oder zu der andern Zeit, legst den Nachdruck des Tones auf die eine oder auf die andre Stelle, und siehe da, das Ganze ist etwas anderes geworden. Wendet man nun ein, Du sagest etwas anderes als das letzte Mal, so erwiderst Du mit großer Ruhe: ist es nicht wörtlich das Gleiche (II, 160f).
Die Grenze zwischen dem Ästhetiker und dem Ethiker ist schmal. Wenn sie wortwörtlich das Gleiche sagen, können sie doch ganz anderes meinen. Als Beispiel dafür führt der Ethiker an, dass beide auf die Frage, wozu die Ehe
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da sei, antworten können: das weiß Gott. Je nachdem, wie der Satz betont ist, kann er ernst oder ironisch gemeint sein, und das ist ein erheblicher Unterschied (II, 66). Missverständnisse gibt es auch an der Grenze zwischen dem Ethischen und dem Religiösen. Man braucht nur an Abraham zu denken, der in seinem Vorhaben, Isaak aus Liebe zu opfern, nur missverstanden werden kann. Frater Taciturnus kommentiert in den Stadien auf des Lebens Weg in einigen Paragraphen das Geschehen der unglücklichen Liebesgeschichte des Quidam. Darunter befindet sich auch ein Paragraph über das Missverstehen, der sich wie ein Kommentar liest zu den Missverständnissen zwischen Ästhetiker und Ethiker bzw. zwischen Ethiker und Religiösem. Zuerst hält Frater Taciturnus fest, dass das Missverständnis in jedem Fall ein Verhältnis ist: Das Mißverständnis ist nun überall, wo man das Ungleichartige zusammenbringt, jedoch wohl zu merken ein Ungleichartiges von der Art, daß von einem Verhältnis die Rede sein kann, denn ansonst ist das Mißverständnis nicht. Darum kann man sagen, daß dem Mißverständnis ein Sichverstehen zugrunde liegt, will heißen die Möglichkeit des Sichverstehens (XV, 443).
Es geht um ein Verhältnis, aber eines der Möglichkeit. Dieses Stichwort weist in den Bereich der Angst. Zwei sind verbunden, aber in einer Art und Weise, die ihrem wirklichen Verhältnis nicht angemessen ist. Das macht sich besonders bemerkbar, wenn es einen Unterschied zwischen ihnen gibt und dieser Unterschied nicht als solcher anerkannt wird, sondern von einer einfachen Einheit überspielt wird. Taciturnus führt an verschiedenen Beispielen aus der Dichtung vor, was passiert, wenn Menschen sich zwar verstehen wollen und auch die Möglichkeit zu einem differenzierten gegenseitigen Verstehen haben, aber bei einer einfachen missverständlichen Verständigung bleiben, die ihrem Verhältnis nicht entspricht und deswegen tragisch und zugleich komisch ist. Am deutlichsten wird es wieder an den Liebenden: „Das Tragische ist, daß zwei Liebende einander nicht verstehen, das Komische ist, daß Zwei, die einander nicht verstehen, sich lieben“ (XV, 448). Die Liebenden machen sich die Verständigung zu einfach: sie glauben, es reicht, sich über ihre Liebe zu verständigen, aber um sich wirklich liebend zu verstehen, muss in die Liebe der Unterschied zwischen beiden einbezogen sein. Taciturnus interessiert sich neben diesen Widersprüchen, die wie in einer Liebesgeschichte in zwei Personen, also letztlich in etwas Äußerem liegen, vor allem für die Widersprüche, die im Innern eines Menschen liegen. Auch hier geschieht das, was in der Dichtung die Auflösung war: er kann sich tragisch oder komisch zu sich selbst verhalten.55 Wo je————— 55 Beispiele dafür gibt es gleich zu Beginn von Entweder-Oder. Das erste Fragment der Diapsalmata handelt von einem Dichter, der sich immer missverstanden fühlt: Selbst wenn er die
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mand sich tragisch oder komisch versteht, hat er die Widersprüche in sich nach außen aufgelöst: er zeigt nur noch seine traurige Seite oder nur noch seine komische Seite. Von diesen Formen, in denen das Missverständnis im Innern doch wieder nach außen aufgelöst wird, kommt Taciturnus schließlich noch zu den Menschen, die mit aller Leidenschaft am Ausdruck des Missverständnisses festhalten, sie ordnet Taciturnus dem Dämonischen zu (XV, 449f). Der Dämonische hält an seinen inneren Widersprüchen fest und das mit großer Leidenschaft. Das Missverständnis bleibt ganz in seinem Innern. Für Taciturnus ist das Dämonische eine Grenzerscheinung hin zu Religiösen. Deshalb geht es bei diesem Missverständnis ganz im Innern eines Menschen schon um ein Missverständnis zwischen Mensch und Gott. Der Mensch, der an seinen Widersprüchen festhält, hält an seiner Sünde fest und kann sich nicht als Selbst in einer Weise setzen lassen, in der er sich als Selbst versteht, statt sich in seinen Widersprüchen misszuverstehen. In anderer Stelle betont Kierkegaard, dass das Missverstehen in religiösen Zusammenhängen ein anderes ist als ein Missverstehen zwischen Menschen: den Fall, dass Missverstehen unzweifelhaft ein Nichtverstehenwollen ist, kann es nur zwischen Gott und Mensch geben. Wenn jemand Christus nicht verstehen will, so ist dieses Missverstehen Gottlosigkeit. Im Verhältnis zwischen Mensch und Mensch ist es schwieriger, weil man nicht mit Bestimmtheit sagen kann, wo der Grund des Widerstehens, des Missverstehens ist (XXIII, 100). Zu dem Grund des tief liegenden Missverstehens zwischen Gott und Mensch ist jetzt zu kommen. Die Philosophischen Brocken beschäftigen sich, wie eben schon dargestellt, mit dem qualitativen Unterschied zwischen Gott und Mensch. Eine Verständigung ist möglich, wenn sie von Gott ausgeht, aber die Gefahr des Missverstehens bleibt groß. Aus folgender Textstelle kann man heraushören, warum die Verständigung zwischen Gott und Mensch so zerbrechlich ist: ————— tiefsten Qualen seines Herzens schildert, klingt es wie süße Musik (I, 19). Die Menschen schenken seinen dichterischen Worten alle Aufmerksamkeit und sehen die Qualen, den Menschen dahinter, nicht mehr. Der Dichter zeigt sich als einer, der diesen Widerspruch tragisch auflöst. Ein weiteres Fragment aus den Diapsalmata nimmt die Zweideutigkeit des Lachens in den Blick. Nur ein kurzer Ausruf ist es: „Wie, wen alles in der Welt ein Mißverständnis wäre, wie, wenn Lachen eigentlich ein Weinen wäre!“ (I, 21). Hier ist sehr deutlich, dass es sich um einen Widerspruch im Innern handelt: ein Mensch weiß nicht, ob er weinen oder lachen soll. Noch eine kleine Geschichte wird in den Diapsalmata erzählt, in der das Missverständnis aus einem Widerspruch zwischen Rolle und Botschaft entsteht. Dieses Fragment handelt von dem Clown, der im Theater, als Feuer ausgebrochen ist, dem Publikum dies sagen soll und dem keiner glaubt. Es wird etwas als Witz verstanden, das bitterer Ernst ist (I, 32f). Hier liegt das Missverständnis wieder eher im Äußeren. Aber auch der Clown selber hat das Missverständnis in sich, wenn er auf eine Rolle festlegt wird, die nicht in allen Situationen angemessen ist.
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Das Verhältnis des Verstehens, wie sehr steht es doch in Gebrechlichkeit, jeden Augenblick hart am Rande des Missverstehens, wenn die Ängste der Schuld den Frieden der Liebe stören möchten! Und das Verhältnis des Verstehens, wie sehr steht es nicht in Schrecknis; denn es ist ja nicht so schrecklich auf sein Angesicht zu fallen, indessen die Berge beben vor der Stimme des Gottes, wie bei ihm zu sitzen als bei seinesgleichen (X, 32).
Das Verhältnis des Verstehens zwischen Gott und Mensch, das letztlich ein Verhältnis der Liebe und des Friedens sein soll, ist so schwierig, weil es mit Schuld und Schrecken verbunden ist. Der Mensch muss sich vor Gott als ein Mensch im Widerspruch verstehen. Leichter zu verstehen wäre es, wenn auf Schuld die angemessene Strafe folgen würde: die Furcht einflößende Stimme Gottes etwa im Donner wäre dem Selbstverständnis des schuldig gewordenen Menschen angemessen. Stattdessen soll er sich mit Gott wie mit seinesgleichen verständigen. Auf Schuld folgt Versöhnung, das ist nicht zu verstehen und löst deshalb Schrecken aus. Das Nichtverstehen hängt also mit der Ungleichheit des Verhältnisses zusammen. Der Mensch sieht sich selbst als Sünder, er hält an den Widersprüchen seines Selbst fest. Wenn Gott von Versöhnung spricht, kann das leicht als Missverständnis aufgefasst werden, wenn die Widersprüche dabei übergangen werden. Dass es eine Verständigung zwischen Gott und Mensch aber dennoch gibt, spricht dafür, dass ein Verstehen, welches die Widersprüche in sich aushalten kann, möglich ist. Der Mensch ist als Sünder ein von Gott Gerechtfertigter. Der Mensch darf, wenn er von Gott auf Versöhnung angesprochen wird, diese Anrede Gottes nicht so missverstehen, dass seine Widersprüche dabei übersehen wurden. Er ist gerade in seiner Widersprüchlichkeit angesprochen und kann sich so als ein differenziertes Selbst verstehen. Das Verstehen entwickelt sich also durch das Missverstehen hindurch.56 Am leichtesten ist das Missverständnis im Schweigen zu überwinden. Bei Lilien und Vögeln gibt es kein Missverständnis, sagt Kierkegaard, sie schweigen aus Fürsorge für den Bekümmerten. Die Begründung dafür lautet, dass durch Reden leicht Missverständnisse entstehen, da es immer einen Vergleich einschließt. Das Schweigen dagegen ehrt die Bekümmerung (XVIII, 168). Im Schweigen können Widersprüche einfach stehengelassen werden, es bleibt einfach dabei, dass ein Mensch schuldig geworden ist und bekümmert darüber ist. Dieses Aushalten heißt nicht, dass der Widerspruch einfach übergangen wird. Die Widersprüche im Menschen, also seine Sünde, bleiben so stehen, und der Widerspruch zu Gott ist umso deutlicher. An diesem Punkt ————— 56 Schon im Begriff Ironie äußert Kierkegaard, dass ein Verständnis der Erscheinung des Sokrates nur mit dem Verstehen des Missverständnisses möglich ist: Man muss „die Erscheinung und zugleich das Mißverständnis erklären, man muß im Hindurchgang durch das Mißverständnis die Erscheinung sich erringen und durch die Erscheinung den Zauberbann des Mißverständnisses lösen“ (XXXI, 160).
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ist auch verständlich, warum vorhin gesagt wurde, dass das Nichtverstehen Gottes eindeutig ein Nichtverstehenwollen ist. Der Unterschied zwischen Gott und Mensch ist so groß, dass der Mensch nur schweigen kann und auf die Anrede Gottes hört. Zwischen Menschen ist das Verhältnis nie so eindeutig. Das Verstehen zwischen Gott und Mensch ist möglich durch Christus. An dieser Stelle setzt Kierkegaard einen starken christologischen Akzent. Im Evangelium der Leiden von 1847 sagt Kierkegaard im Blick auf Christus, dass „es nur einen einzigen Menschen gibt, der die menschliche Sprache richtig spricht, ihn, den von sich zu stoßen das ganze Geschlecht einig ist“ (XVIII, 347). Christus ist derjenige, der die Menschensprache richtig spricht. Man könnte auch sagen, dass er Gottes Sprache in Menschensprache übersetzt und damit ein Verstehen zwischen Gott und Mensch ermöglicht. Er selbst ist das Wort der Versöhnung, in der Gott Menschen anredet.57 Er spricht die Menschensprache richtig, nämlich so, wie sie sein soll, damit Menschen sich als Selbst vor Gott verstehen können. Aber damit löst er auch Widerspruch aus. Die Menschen wollen ihn nicht verstehen. In der Einübung zum Christentum führt Kierkegaard dieses Missverstehen zurück auf den Widerspruch zwischen Herrlichkeit und Niedrigkeit in der Person Christi. Seine Zeitgenossen ließen ihm „quälendes Mißverstehen“ widerfahren (XXVI, 161). Von diesem Missverstehen her kann Kierkegaard das ganze Leben Christi als Leidensgeschichte verstehen. Das Missverstandenwerden ist also der Schlüssel zum Leiden Gottes. Das passt dazu, dass Kierkegaard das Leiden von Gläubigen in der Welt auch oft als Missverstandenwerden beschreibt. Sehr deutlich ist das bei Abraham in Furcht und Zittern und in den ganz späten Schriften Kierkegaards über das Leiden. Die Nachfolge, in der Christen Christus gleich werden, zeigt sich u.a. darin, dass auch sie missverstanden werden. Das Reden von Liebe, die die Widersprüche des Menschseins in sich fassen kann, bleibt immer zerbrechlich, weil es immer in der Gefahr ist, missverstanden zu werden als Ärgernis oder als Einfältigkeit. In Christus ist es möglich geworden, dass Gott und Mensch einander verstehen. Christus hat Gottes Sprache in Menschensprache übersetzt. Nun muss der Mensch lernen, die Menschensprache richtig zu sprechen, sie so wie Christus zu sprechen, damit er sich mit Gott verständigen kann, damit er in der Sprache Gott begegnen kann. Wie ein Mensch sich auf diese neue Sprache einlassen kann, wie er das Übersetzen lernen kann, dazu ist in einem nächsten Kapitel näheres zu sagen.
————— 57
Zu Christus als Wort Gottes vgl. unten Kapitel 4.3.
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3.5 Glauben lernen als Sprache lernen Glauben lernen als Sprache lernen Im vorigen Kapitel ergab sich, dass ein Verstehen zwischen Gott und Mensch für Kierkegaard Gottesbegegnung ist. Diese Begegnung findet in einer Sprache statt, die der Mensch von Gott lernt. Gott lässt sich in die Menschensprache hinab, er übersetzt sich in Menschensprache. Nun muss auch der Mensch in die Sprache des Glaubens hineinkommen, in der er Gott begegnet. Übersetzungsprozesse gibt es also in zwei Richtungen: Gott übersetzt sich in Menschensprache, und der Mensch muss seine Sprache in die Sprache des Glaubens übersetzen, die zwar eine Menschensprache bleibt, die er aber von Gott lernen muss.58 Zu diesem Übersetzen in die Sprache des Glaubens hinein lässt sich Genaueres sagen. Zuerst sei eine Textstelle angeführt, in der die Schwierigkeit des Wechsels von einer Sprache in die andere noch einmal deutlich wird. Unter dem dicht gedrängten Titel „Gottes Bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit“ schreibt Kierkegaard 1844 eine Erbauliche Rede. Sich nicht auf menschliche Gewissheiten, sondern auf Gott zu verlassen, ist eine schwierige Aufgabe. Der Weg dahin, ganz aus dem Glauben an Gottes ————— 58 Es sei angemerkt, dass Kierkegaard in seinen Gedanken zum Übersetzen von Hamann angeregt sein könnte. Im Anfangsteil seiner Aesthetica in nuce formuliert Hamann den Satz: „Reden ist übersetzen – aus eine Engelssprache in eine Menschensprache, …“ (HAMANN, J.G., Sämtliche Werke, 2.Bd. Historisch-kritische Ausgabe von Nadler, J., Wien 1950. 199). Zur Auslegung dieses Satzes vgl. TILLIETTE, X., Hamann und die Engelssprache, in: Gajek, B. (Hg.), J.G. Hamann. Acta des Internationalen Hamann Colloquiums in Lüneburg 1976, Frankfurt am Main 1979. 66–77). Mögliche Verbindungen zwischen Hamann und Kierkegaard können hier nur erwähnt und nicht ausgeführt werden. Es sei aber noch beispielhaft ein Abschnitt aus einem Brief von 1759 zitiert: „Das unsichtbare Wesen unserer Seele offenbart sich durch Worte. […] Zwischen einer Idee unserer Seele und einem Schall, der durch den Mund hervorgebracht wird, ist eben die Entfernung als zwischen Geist und Leib, Himmel und Erde. […] Ist es nicht eine Erniedrigung für unsere Gedanken, daß sie nicht anders sichtbar gleichsam werden können, als in der groben Einkleidung willkürlicher Zeichen und was für ein Beweiß Göttlicher Allmacht – und Demuth – daß er die Tiefen seiner Geheimniße, die Schätze seiner Weisheit in so kauderwelsche, verworrene und Knechtsgestalt an sich habende Zungen der Menschlichen Begriffe einzuhauchen vermocht und gewollt. So wie also ein Mensch den Thron des Himmels und die Herrschaft deßelben einnimmt: so ist die Menschensprache die Hoffsprache – im gelobten – im Vaterlande des Christen. […] nahm er unser eigen Bild an […], lernte weinen – lallen – reden – lesen – dichten wie ein wahrer Menschensohn; ahmte uns nach, um uns zu seiner Nachahmung aufzumuntern“ (HAMANN, J.G., Briefwechsel, 1.Bd, 1751–1759. Ziesemer, W./Henkel, A. (Hg.), Wiesbaden 1955. 393f). Hier sind viele Verbindungslinien zwischen Hamann und Kierkegaard angedeutet, die ausgezogen werden könnten: die widersprüchliche Verbindung von Geist und Wort, das Motiv der Herablassung Gottes in die Menschensprache, der Gedanke der Nachahmung und schließlich ganz direkt die Hofsprache, von der auch Kierkegaard spricht (vgl. oben das entsprechende Zitat zu Beginn des Abschnitt 3.4). Zum Sprachverständnis Hamanns allgemein vgl. den Aufsatz mit vielen weiteren Literaturhinweisen von MEINHOLD, P., Hamanns Theologie der Sprache, in: Gajek, B. (Hg.), J.G. Hamann. Acta des Internationalen Hamann Colloquiums in Lüneburg 1976, Frankfurt am Main 1979. 53–65.).
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Gnade zu leben, ist für Kierkegaard wie das Lernen einer Sprache, und so wie sich ältere Menschen schwerer mit Fremdsprachen tun, so ist es mit fortgeschrittenem Alter auch schwieriger, solch bedingungsloses Vertrauen einzuüben: „je älter ein Mensch wird, desto schwieriger dünkt es ihn, eine neue Sprache zu lernen, sonderlich eine so durchaus andersartige“ (XIII, 8). Die Andersartigkeit der Sprache besteht darin, dass das Annehmen von Gottes Gnade ganz und gar nicht menschlichem Leistungsdenken entspricht. Ein Kind kann sich noch ganz auf andere verlassen, deshalb stört es sich nicht am Satz von Gottes Gnade. Erwachsene wollen sich nicht gänzlich Gott überlassen und sich von seiner Gnade abhängig machen. Der Gedanken, sich selbst aufzugeben, ist eine Konfrontation mit dem eigenen Nichts, die mit dem Tod assoziiert wird. So klingt es an in der Bemerkung, dass in dem Satz von Gottes Gnade ein Stachel steckt, „der zu Tode verwundet um das Leben zu erlösen“. In diesem Satz ist neben dem Bezug auf den Tod auch zu hören, dass nach dem Nichts des Todes Leben ist. Diesem Leben entspricht eine neue Sprache, die dem Menschen nicht von vorne herein zu eigen ist, sondern die er lernen und für sein Leben einüben muss. Je mehr ein Mensch sich in seinen Gewohnheiten und ihrem Sprachgebrauch eingerichtet hat, desto schwerer fällt es ihm, all das in Frage stellen zu lassen. Wer auf alle Sicherheiten im Leben verzichten soll, um sich ganz der Gnade Gottes anzuvertrauen, fühlt sich verunsichert wie jemand, der in einer fremden Sprache angesprochen wird. So wie ein Kind sich ganz auf eine fremde Sprache einlässt und sie bald nachzuahmen versucht und mit viel Kreativität das Gegenüber meist versteht, so kann sich auch ein älterer Mensch auf die Ansprache Gottes, die ihm so fremd ist, einlassen. Den Titel von Kierkegaards Rede weiterführend, kann man sagen: die Vollkommenheit des Menschen besteht darin, dass er sprechen kann, seine Bedürftigkeit besteht darin, dass er Sprache nur im Angesprochenwerden lernt. Auf jeden Fall steht fest, dass Kierkegaard dem Menschen jeden Alters grundsätzlich zutraut, eine andersartige Sprache zu lernen, und das Lernen der Sprache ist für ihn eine Beschreibung des Hineinfindens in den Glauben.59 So schwierig das Lernen dieser andersartigen Sprache ist, Kierkegaard weiß auch davon, wie der Mensch dazu angeleitet wird. Geradezu pädagogisch wirkt die Ewigkeit, wenn sie dem Menschen ihre Sprache Wort für Wort beibringt. „Wollte die Ewigkeit auf einmal, und in ihrer Sprache, dem ————— 59 Einen entscheidenden Unterschied gibt es jedoch zwischen dem Lernen des Glaubens und dem Lernen einer fremden Sprache. Der Weg zur Wahrheit ist für alle wesentlich der gleiche, es gibt keine Abkürzung für die Nachfolgenden, betont Kierkegaard. Anders ist das bei Sprachforschungen, die Ergebnisse haben, auf die andere aufbauen können: wenn jemand eine neue Sprache enträtselt hat, dann hat er dafür womöglich sein ganzes Leben gebraucht, mit den Hilfsmitteln aber, die er erstellt hat, ist ein Nachfolgender in der Lage, die Sprache in zwei Jahren zu lernen (XXVI, 199).
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Menschen die Aufgabe stellen, ohne Rücksicht auf sein Fassungsvermögen und seine schwachen Kräfte: so müßte der Mensch verzweifeln.“ Aber die Ewigkeit kann sich „klein machen“, sie kann sich in Zukünftiges, in eine Vielfalt von Möglichkeiten aufteilen, ohne dabei ihre Ganzheit als Ewigkeit zu verlieren. Der Mensch kann durch Hoffnung sich zu den Möglichkeiten in Beziehung setzen, und die Ewigkeit erzieht ihn dahin, auf immer größere Möglichkeiten hoffen zu können (XIX, 279). Die Möglichkeit ist diejenige, die den Menschen auf das Ewige hin lockt. Das Lockende ist dabei zugleich fern und nah: es muss greifbar nahe sein, damit es eine Lockwirkung hat, aber es muss auch fern sein, damit es den Menschen in Bewegung hält auf das Ziel hin. Diese Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne passt dazu, dass sich Hoffnung meist in einem Wort ausdrückt. Ein Wort ist gleichzeitig in einem selbst und gegenüber und hat deshalb auch diese Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne und ist insofern der Hoffnung angemessen. Ein Hoffnungswort ist Teil der Ewigkeit, die sich aufteilen lässt, ohne ihre Ganzheit zu verlieren. Der Mensch versteht die Sprache der Ewigkeit nicht von sich aus. Aber mit jedem Wort der Hoffnung lernt er gewissermaßen eine neue Vokabel und kommt so dem Verständnis der Sprache der Ewigkeit näher. Erst geht es um einzelne Vokabeln und einfache Satzgefüge, und sobald das Hoffen von einer Übung zu einer Lebenseinstellung wird, kann der Mensch sich in der „Sprache der Ewigkeit“ ausdrücken. Für die Hoffnung und den Glauben gibt es Übungen, aber der Schritt dahin, dass daraus eine Lebenseinstellung wird, ist genauso unbegreiflich wie der Schritt dahin, dass aus dem Zusammensetzen von Vokabeln und Grammatikregeln eine Sprache wird, die ein Mensch als natürliche Ausdrucksform empfindet.60 Dieser Umschwung scheint dem zu entsprechen, was bei Kierkegaard oft mit dem Begriff Sprung bezeichnet wird. Beispiele, wie Hoffnung und Glauben auf diese Weise sprachlich eingeübt werden, gibt es bei Kierkegaard viele. So ist es z.B. beim Gebrauch des Wortes Gastmahl. Aus der Bibel kann man lernen, dass zu einem Gastmahl, entgegen normalem Sprachgebrauch, Arme eingeladen sind. Aber es geht noch um mehr: Ich sehe wohl ein, daß unser Sprachegebrauch unterschiedlich ist, denn nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ist wohl ungefähr folgendes das Verzeichnis derer, die zu einem Gastmahl eingeladen werden: Freunde, Brüder, Gefreundete, reiche Nach-
————— 60 Diese hoffnungsvolle, gläubige Lebenseinstellung ist dasselbe, was Kierkegaard auf theoretischer Ebene die Synthese des Geistes nennt. Auch in der Liebe Tun spricht er davon, dass der Punkt, an dem die Synthese des Geistes gesetzt wird, parallel ist zu dem Umschlag, in dem aus Buchstabieren selbstverständliches Lesen wird. In der Welt des Geistes muss diese Bewegung allerdings rückwärts gemacht werden, fügt Kierkegaard hinzu. Das Kind lernt erst buchstabieren und dann lesen. In der Welt des Geistes verhalte es sich umgekehrt: im Augenblick des Entschlusses wird der große Zusammenhang gelesen und dann im Alltag durchbuchstabiert (XIX, 148).
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barn – welche die Einladung erwidern können. Aber so peinlich genau ist die christliche Gleichheit und ihr Sprachgebrauch, sie fordert nicht nur, daß du die Armen speist, sie fordert, daß du dies ein Gastmahl nennen sollst (XIX, 93).
Hier kann man gut sehen, wie dem Denken, dass bei Gott alle eingeladen sind, das Handeln, nämlich die Einladung, und eine Sprache, in der Worte der alltäglichen Sprache eine neue Bedeutung haben, entsprechen. Denken, Handeln und Sprechen sind eng aufeinander bezogen. Was dabei jeweils zuerst kommt, ist nicht zu sagen. Wichtig ist, dass die ungewöhnliche Einladung bewusst Gastmahl genannt wird. Mit dem bewussten Aussprechen kann man das Denken und Handeln einüben, ebenso wie man mit dem Denken oder dem Handeln anfangen kann. Aus dieser Einsicht folgt die Bedeutung von Bibelworten. Wenn Worte aus der Bibel mit der ihnen eigenen Glaubenseinstellung wiederholt werden, dann wird dieser Glaube auch für das eigene Leben eingeübt.61 Ein weiteres Beispiel dafür, wie Worte der Sprache des Glaubens eingeübt werden, sei noch erwähnt. Es geht um Hanna, die die Sprache der Ewigkeit spricht, wenn sie sich ganz Gott anvertraut: Wohl dem, welcher gleich Hanna, als die irdische Erwartung täuschte, mit Gott ergebenen Sinn, feierlich, wie die Sprache der Ewigkeit es ist, vertrauensvoll, wie die Erwartung der Ewigkeit es ist, spräche: es muß geschehen (VIII, 131).
Wieder birgt die Sprache der Ewigkeit einen Widerspruch in sich. Alle irdische Erwartung ist aufgegeben, jedes vielleicht ist durch eine Gewissheit ersetzt, die aber keinen Anhaltspunkt in etwas Äußerem hat. Dieser Widerspruch ist der Grund, weshalb es so schwer ist, Hanna zu charakterisieren: „während die gewöhnliche menschliche Rede bei ihrem Anblick verstummt, muß der tiefste Ausdruck der Sprache sie im strengsten und edelsten Sinne eine Erwartende nennen“ (VIII, 138f). Die menschliche Sprache verstummt, weil sie keine Erklärung für diese Erwartung hat. Im Glauben bleibt es nicht bei diesem Schweigen, sondern da ist eine neue ————— 61 Weitere Beispiele dafür, wie ein Bibelwort eine andere Lebenseinstellung lehrt, seien noch angefügt: Kierkegaard spricht davon, dass die ewige Wahrheit, dass Gott waltet, übersetzt werden muss in die Sprache des Gehorsams und dann heißt: Gott walten zu lassen (XVIII, 272). Übersetzen bedeutet dabei, dass aus einer allgemeinen Aussage ein Satz wird, den der Sprecher auf sich bezieht. Ebenso kann man es lernen, Menschen nicht nach Äußerlichkeiten zu beurteilen, sondern sie als vor Gott wesentlich gleich zu sehen. Auch dieses Lernen geschieht durch die richtige Anrede, an die man sich z.B. von den Lilien erinnern lassen kann. Wenn Salomo in Purpur gekleidet sich auf seinem Thron platziert, wird er mit „Euer Majestät“ angesprochen, denn Menschen richten sich nach Äußerlichkeiten. Wo Menschen von den Lilien lernen, sich an ihrem Menschsein genügen zu lassen, sprechen sie eine Sprache, in der alle menschlichen Unterschiede bedeutungslos geworden sind: „wenn aber in der ewigen Sprache des Ernstes am alleinfeierlichsten gesprochen werden soll, dann heißt es: du Mensch!“. Und dabei ist es gleichgültig, ob Salomo in all seiner Herrlichkeit oder Lazarus in Not und Elend oder jeder andere Mensch angesprochen wird (XVIII, 179).
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Sprache, nämlich eine Sprache, in der das Wort Erwartung ganz anders gebraucht ist als im unmittelbaren Verständnis. Einzelne Worte bekommen eine neue Bedeutung. Dies geschieht dadurch, dass sie in einem neuen Kontext gebraucht werden. Das kann man z.B. am Leiden sehen, das, wie Kierkegaard weiß, in menschlicher Rede oft als Trostlosigkeit empfunden wird. In der Sprache der Ewigkeit aber, ist kein Leiden unnütz, denn es verhilft zum Höchsten, so muss es in der Sprache des Glaubens heißen (XVIII, 110). Die Sprache des Glaubens verbindet mit dem Leiden also nicht nur die unmittelbare schmerzhafte Erfahrung, sondern sie sieht das Leiden in einem größeren Kontext, in dem das Leiden der Weg zu etwas Höherem ist. Die Sprache des Glaubens bringt also eine tiefer liegende Dimension des Wortes zum Ausdruck. Beim Leiden ist besonders deutlich, dass diese Bedeutung in Widerspruch zu der vordergründigen Bedeutung liegt. Deswegen kann Kierkegaard über jemanden, der diese Sprache sprechen kann, staunen und deshalb, wenn jemand Gott für die Gnade danken kann, gekreuzigt zu werden, ausrufen: Wunderbare Sprache, wunderbare Erhabenheit, auf dem Gipfel des Wahnsinns diesen Freimut zu haben (XVIII, 351). Was als Wahnsinn erscheint, kann doch eine wunderbare Sprache sein. Das Wunderbare kann dabei ganz wörtlich genommen werden. Um ein Wunder und die Leichtigkeit, mit der ein Mensch die Sprache des Glaubens sprechen kann, geht es bei folgendem Ausspruch Kierkegaards, in dem er den Existierenden, der ständig im Werden ist, vergleicht mit jemandem, der Stil hat, d.h. der seine Sprache instinktiv richtig gebraucht. Wer Stil hat, ist der, „der nie etwas auf Vorrat hat, sondern jedesmal, wenn er beginnt, „die Wasser der Sprache bewegt“, so daß der alleralltäglichste Ausdruck für ihn mit neugeborener Ursprünglichkeit ersteht“ (XVI/1, 78). Kierkegaard spielt an auf die Geschichte, die im Johannesevangelium erzählt wird, wie Kranke am Teich Bethesta geheilt werden (Joh 5). Ein Engel bewegt die Wasser dieses Teichs, wodurch es heilkräftig wird, und wie neugeboren steigen dann die Kranken aus dem Wasser. Ein alltäglicher Ausdruck wird gleichsam neu geboren. Dabei geht es genau um den Sachverhalt, dass ein Wort eine neue, tiefere Bedeutung bekommt. Wenn in dieser Weise ein Menschenwort zu einem Wort des Glaubens wird, ist das ein Wunder. Solch ein Wort hat eine Lebendigkeit und Ursprünglichkeit, die sich nicht festhalten lässt, sondern die immer neu entstehen muss. Die Lebendigkeit, die ein Wort auszeichnen muss, ist auch und besonders bei Bibelworten vonnöten. In der Unwissenschaftlichen Nachschrift erörtert Kierkegaard ausführlich, dass ein Bibelwort in all seinen historischen Dimensionen niemals zum Glauben führen kann, wenn es nicht als lebendiges Wort angeeignet wird. Er resümiert: „Dem unmittelbaren, unbeweisbaren Dasein des gleichzeitig Gegenwärtigen entspricht das lebendige Wort als Äußerung des Daseins“
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(XVI/1, 37). Wenn es bei Kierkegaard um das Gleichzeitige und Gegenwärtige geht, ist immer daran gedacht, dass sich ein Mensch dem Religiösen öffnet. Dieser Begegnung mit dem Religiösen, oder über die vorsichtige Ausdrucksweise der Unwissenschaftlichen Nachschrift hinausgehend, dieser Begegnung mit Gott entspricht das lebendige Wort. Es geht um eine Sprache, die nicht mühsam aus vorgegebenen Vokabeln zusammengesetzt wird, sondern um eine Sprache, die mit Leichtigkeit von den Lippen geht, weil sie ein Ausdruck dessen ist, was der Mensch gerade erlebt. Besondere Bedeutung für das Lernen des Glaubens als Lernen einer Sprache, in der sich Gott und Mensch begegnen, hat bei Kierkegaard die Liebe.62 In der Schrift über der Liebe Tun bezeichnet er die Liebe als den „milden Dolmetscher“, der Glaube und Hoffnung dazu gebraucht, um die Mannigfaltigkeit der Sünden mildernd zu erklären (XIX, 321). Diesem Bibelwort aus dem ersten Petrusbrief 4,7–10 über die Liebe, die der Sünden Mannigfaltigkeit deckt, sinnen auch zwei der drei Erbaulichen Reden nach, die Kierkegaard 1843 zusammen mit der Wiederholung herausgibt. Die erste der beiden lohnt es genauer zu betrachten, um die Dolmetscherfunktion der Liebe besser zu verstehen.63 Zuerst geht es in dieser Rede um verschiedene Arten zu sehen. Im Verlauf der Rede werden diese verschiedenen Sehgewohnheiten mit verschiedenen Sprachen in Verbindung gebracht.64 Der Gedankengang beginnt mit der Überlegung, dass die innere Einstellung eines Menschen bestimmt, was er sieht. Wenn zwei Menschen das gleiche betrachten und der eine zudeckt, der andere aber aufdeckt, so muss der Unterschied im Betrachter, also im Inwendigen liegen: „Das Inwendige entscheidet also darüber, was ein Mensch entdeckt und was er zudeckt“ (VI, 106). Wo Sünde und Angst wohnen, da wird ein Mensch immer mehr Sünde entdecken, wo die Liebe wohnt, ist der Mensch geduldig auf der Suche nach einem anderen Sinn. Es sind aber nicht nur Auge und Ohr, die anderes wahrnehmen, wenn sie zu ————— 62 Vgl. dazu den Gedanken aus den Philosophischen Brocken, dass die Liebe Gottes zu den Menschen ein Verstehen zwischen Gott und Mensch überhaupt erst ermöglicht. Die Belegstellen sind zitiert im Kapitel 3.4. 63 Das Lernen der Liebe selber scheint parallel zum Lernen einer Sprache zu sein. In einem Gebet, das eine der Erbaulichen Reden über die Sünderin und ihre Liebe einleitet, heißt es, dass Gott die Liebe zu ihm in einem Menschen „hervorliebt“ und „emporliebt“ (XXV, 155). Liebe berührt einen Menschen von außen, und erst dann kann er mit Liebe antworten. Ebenso wird der Mensch von Gott angesprochen und erst dann kann er ihm antworten. Als Übersetzer merkt Hirsch dazu an, dass in diesen von Kierkegaard geschaffenen Ausdrücken über das Lieben im Dänischen Assoziationen von Großziehen oder Aufziehen mitschwingen. Gott scheint also einen Menschen großzuziehen und dabei Liebe in ihm wachsen zu lassen. So wie die Liebe in einem Menschen gedeiht, wächst in ihm auch die Sprache der Liebe, die ihm von Gott zukommt. 64 Vgl. dazu in Kapitel 2.3 die Beobachtungen, wie bei Kierkegaard Durchsichtigwerden und Offenbarwerden zusammenhängen.
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einem Menschen gehören, in dessen ‚Herzen die Liebe wohnt‘, es ist auch das Verstehen, das sich durch die Liebe verändert: Wenn im Herzen Heftigkeit wohnt, ist der Mensch behende, der Sünde Mannigfaltigkeit zu entdecken, versteht er herrlich ein halbes Wort, faßt eilends von weitem das Wort, das kaum gesprochen. Wenn im Herzen Liebe wohnt, so versteht ein Mensch langsam, und hört überhaupt nicht ein hastiges Wort, und versteht nicht dessen Wiederholung, weil er ihm eine gute Stätte gibt und einen guten Sinn; er versteht auch nicht des Zornes und des Spottes lange Rede, weil er immer noch auf ein Wort wartet, das der Rede Sinn geben wird (VI, 108).
Hier handelt es sich nicht um ein selektives Hören, sondern es ist ein Hören von etwas, das höchstens als Andeutung vorhanden ist. Der liebende Zuhörer hört, was noch nicht ist, aber hinweisend auf die Ewigkeit schon mitschwingt. Damit ist die Sprache der Liebe und der Ewigkeit vorweggenommen in der Welt, der liebende Mensch versteht sie schon. Kierkegaard führt im weiteren Verlauf der Rede eine Fülle von Veranschaulichungen an, um die Macht der Liebe zu beschreiben. Wo Neid im Herzen wohnt, wird das Auge alles Unreine ans Licht ziehen. Wo Liebe im Herzen wohnt, da sieht sie im Unreinen auch das, aus dem das Gute aufsprießen kann, und lässt es wachsen. Am Ende dieser Beschreibungen der Macht der Liebe steht folgende Aussage: Ja, es gibt in dieser Welt eine Macht, die mit ihrer Sprache das Gute ins Böse übersetzt, aber es gibt eine Macht von oben her, die das Böse ins Gute übersetzt, das ist jene Liebe, welche deckt der Sünden Mannigfaltigkeit (VI, 108).
Durch das anfängliche Ja ist diese Aussage hervorgehoben, sie liest sich wie eine Zusammenfassung der vielen vorausgegangenen Beschreibungen der Liebe. Ein Mensch lernt durch die Liebe eine neue Sprache, mit der er die Welt anders wahrnimmt. Die neue Sprache ermöglicht ihm eine neue Weltsicht.65 Interessant sind in dieser Rede auch Kierkegaards Überlegungen zur Beständigkeit der Liebe, die für ihn der entscheidende Unterschied zwischen christlicher Liebe und Liebe der Heiden und Juden ist. Außerhalb des Christentums gibt es Liebe, die Liebe ist, solange sie von Liebe und Gutem erwidert wird. Wo die Liebe jedoch verneint wird, schlägt sie in Rache um. Christliche Liebe, wie Kierkegaard sie hier zu beschreiben versucht, kennt keine Rache. Sie bleibt, was sie ist. Das heißt, sie bleibt Liebe auch im Verhältnis zur Sünde. Sie segnet, wo sie verflucht wird, sie liebt auch noch da, wo sie angefeindet und gehasst wird. Das bedeutet, dass sie von ihrem ————— 65 Zum Zusammenhang zwischen Lebenseinstellung und Sprache vgl. Humboldt: „Denn da das menschliche Gemüth die Wiege, Heimat und Wohnung der Sprache ist, so gehen unvermerkt, und ihm selbst verborgen, alle ihre Eigenschaften auf dasselbe über“ (Humboldt, 29).
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Gegenteil nicht aufzuheben ist. In einem späteren Teil der Rede erscheinen Liebe und Sünde personifiziert, und es wird sehr anschaulich, wie die Sünde versucht, die Liebe abzuschütteln, sei es durch Hass, durch Verleugnung, durch Weglaufen, durch Kränkung usw., aber die Liebe bleibt doch immer bei der Sünde. Diese Beständigkeit steht dafür, dass ein Mensch die neue Sprache immer lernen kann, weil Gott ihn immer in dieser Sprache anspricht und ein Mensch, der sich hörend darauf einlässt, in diese Sprache hineingenommen wird. . Die Liebe kann einen Menschen in die Irre leiten und muss ihn gelegentlich auch dazu bringen, Entsetzliches zu wagen. Als paradox bezeichnet Kierkegaard, dass die Liebe sich auch in dem, was den Menschen mit Grauen erfüllt, noch als Liebe verständlich machen muss. Dass die Liebe unter ihrem Gegenteil versteckt ist, ist ein Gedanke, mit dem sich Kierkegaard gut in lutherische Tradition stellt. Aber das Verstecktsein unter dem Gegenteil versteht er als einen Übersetzungsprozess: „Welches Grauen also, wenn sie [die Liebe] es nicht zugleich verstünde, sich für sich selbst zu dolmetschen, so, daß der Einzelne es versteht, und verstünde es gleich keine Seele sonst“ (VI, 119). Auch in der späteren Schrift über der Liebe Tun geht es noch einmal um den Gegensatz zwischen der Liebe, die sich daran orientiert, ob sie erwidert wird, und der unbedingten Liebe, die sich an Gottes Liebe orientiert und deshalb zu Zusammenstößen mit dem, was menschlich als Liebe verstanden wird, führen kann. Das Christentum lehrt die Liebe, die bleibt. Es lehrt, unveränderlich und unerschütterlich gerade um derer willen, die man liebt, daß man die wahre Vorstellung davon, was Liebe sei, festhalte, und daß man sich dann willig damit abfinde, zum Lohn für seine Liebe von dem Geliebten gehaßt zu werden – denn es besteht ja der Unterschied der Unendlichkeit, eine Sprachverschiedenheit der Ewigkeit zwischen dem, was der eine Teil unter Liebe versteht, und dem, was der andere Teil darunter versteht. Sich zu richten nach der Vorstellung des Geliebten davon, was Liebe sei, das heißt, menschlich gesprochen, zu lieben, und tut man das, so wird man geliebt. Aber straks entgegen der bloß menschlichen Vorstellung des Geliebten davon, was Liebe sei, den Wunsch zu versagen und insofern auch das, was der Liebende, rein menschlich verstanden, selber wünschen müßte, um dagegen die göttlich Vorstellung festzuhalten: das ist der Zusammenstoß (XIX, 126f).
Was dieser Zusammenstoß an Opfern vom Liebenden verlangt, beschreibt Kierkegaard danach. Er führt nicht aus, was mit der menschlichen Sprache der Liebe bei solch einem Zusammenstoß passiert. Sie wird wohl verstummen, es wird zu eisigem Schweigen kommen. Für den Übersetzungsprozess, den der Mensch im Glauben vollzieht, hat die Liebe besondere Bedeutung. Sie tritt dabei oft personifiziert auf, übrigens ebenso wie Angst, Zweifel oder Geduld, die Kierkegaard in seinen Schriften oft personifiziert und die alle auch eine je eigene Sprache haben.
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An einer Stelle begründet Kierkegaard folgendermaßen, warum die Geduld personifiziert redet: In arbeitenden Gedanken, die immer neue Überlegungen auftürmen, kommt ein schlichtes, einfaches vergessenes Wort wie von außen, wird wie von anderswo nahegebracht (VIII, 117). Das schlichte, einfache Wort ist die Rede der Geduld. Es kommt nicht wirklich von außen und von anderswo, sondern wie von außen und wie von anderswo, d.h. es kommt aus dem Menschen selbst. Dass hier ein einfaches Wort gegenüber Gedankentürmen auftritt, ist schon eine inhaltliche Aussage über die Geduld. Immer gilt aber, dass ein Wort die Fähigkeit hat, etwas aus dem Innersten des Menschen zugleich von außen gegenübertreten zu lassen. Das ist ein Nahebringen sehr besonderer Art, weil etwas, das einem selbst sehr nahe ist, weil es zu einem selbst gehört, erst im Gegenüber hörbar werden muss, damit es auf neue Weise nahekommt. Diese Besonderheit des Wortes von Nahesein und gleichzeitigem Gegenübersein und damit Fremdsein, kann Kierkegaard in seinen personifizierten Reden einfangen. Die Nähe zeigt sich im Angesprochenwerden. Die Fremdheit kommt zum Ausdruck, indem die Rede wie eine eigene und damit andersartige Sprache wirkt. Das Überraschende des Wortes, das einem plötzlich gegenüber ist, ist wie eine andere Sprache, die manchmal mühelos verstanden wird, manchmal mühsam übersetzt werden muss und manchmal unverständlich bleibt. Inhaltlich bezogen auf die Rede der Geduld hieße das dann: Manchmal leuchtet dem Menschen, der sich in seinen Gedankentürmen verirrt hat, die Botschaft der Geduld unmittelbar ein, und er nimmt sie dankbar an, manchmal muss es die neue Sicht auf die Dinge erst nach und nach in sein bisheriges Denken integrieren, und manchmal prallt die Rede der Geduld von ihm ab, er lässt sie nicht an sich heran, belässt sie in der anderen Sprache. Glauben ist ein Geschehen im Selbst des Menschen. Was dem Menschen dabei in sich selbst gegenübertritt, personifiziert Kierkegaard. Obwohl es sich beim Glauben um ein Gespräch im Menschen handelt, bleibt Gott, oder wie Kierkegaard öfter sagt, das Göttliche, ein Gegenüber. Dieses Gegenüber ist ein sprachliches Gegenüber, und deshalb haben Bibelworte besondere Bedeutung. Sie erweisen sich als das Gegenüber, an dem der Mensch sich in der Sprache des Glaubens übt. Die Bibel, die selbst eine Übersetzung von Gottessprache in Menschensprache ist, ist somit behilflich beim Übersetzen von alltäglicher Menschensprache in die Sprache des Glaubens. Da es die Bedeutung der heiligen Schrift ist, den Menschen ein Dolmetsch des Göttlichen zu sein, da es ihr Anspruch ist den Gläubigen alles lehren zu wollen von vorne, so versteht es sich ja von selbst, daß ihre Sprache gebildet hat an der Rede der Gottesfürchtigen vom Göttlichen, daß ihre Worte und Wendungen aber und aber widerhallen an den heiligen Stätten, in jeder ein wenig feierlichen Rede vom Göttlichen, möge
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nun der Redende das Bibelwort zu dolmetschen suchen indem er dem Worte gibt, was des Wortes ist oder möge er den Weg hin zum Bibelwort suchen als zu der bei aller ihrer Kürze nunmehr deutlichen und vollständigen Dolmetschung des vielen, das er gesagt hat (XIII, 35).
Die Heilige Schrift eröffnet Zugang zum Göttlichen, indem sie das Göttliche dolmetscht, also in Menschensprache und in das jeweilige Leben des Menschen übersetzt. Die Bibel will die Menschen lehren, wie sie Gott begegnen. Dabei sind an erster Stelle die Gottesfürchtigen genannt, von denen man die Sprache lernt, in der Gottesbegegnung möglich ist. Ihre Gebete sind in der Bibel überliefert, ihre Erfahrungen, in denen sie ihr Leben im Gespräch mit Gott deuten. Die Worte der Gottesfürchtigen sind von Kierkegaard hier nicht in ihrer starren schriftlichen Form angesprochen, sondern als lebendige Worte, die widerhallen an heiligen Stätten. Da ist zu denken an Kirchengebäude, die Gotteserfahrungen in ihren Räumen verdichten und damit von Gesprächen anderer Menschen mit Gott erzählen. Zu denken ist dabei vor allem sicher an jeden Gottesdienst, in dem die Worte zum Klingen gebracht werden. Im Gottesdienst – Kierkegaard denkt dabei wohl hauptsächlich an die Predigt – werden die Worte in die Gegenwart und in das eigene Leben gedolmetscht. Zwei mögliche Zugänge zur Predigt werden umrissen. Der Prediger gibt dem Wort, was des Wortes ist, d.h. wohl, er versucht seinen Kontext zu erläutern, seine tieferen Bedeutungsschichten auszuleuchten und Assoziationen, die mit diesem Wort verbunden sein könnten, aufzuzeigen. Die andere Möglichkeit ist es, einen Weg hin zum Bibelwort zu suchen, d.h. mit einer für die Hörer vertrauten Situation zu beginnen und am Ende das Bibelwort einzuführen als Kern aller eigenen Überlegungen zum gewählten Thema. Dabei ist das Bibelwort die „Dolmetschung des vielen, das er gesagt hat“, also der Kern der Rede, von dem her sich die Bedeutung des Ganzen erschließt. Dieser Abschnitt fährt fort von Bibelworten zu sprechen, die sich in die Welt „verirrt haben“. Sie sind dann nicht in der Welt, um jemanden zu gewinnen und zum Göttlichen hinzuführen. Sie bewegen den Menschen, der das Wort gebraucht, nicht, und dieser erschrickt auch nicht, es so leichtsinnig außerhalb des Zusammenhangs zu gebrauchen. Diese Aussagen über das „verirrte Wort“ sind die Einleitung zu dem paulinischen Satz vom Pfahl im Fleisch, den Kierkegaard für solch ein Wort hält, das in diesem Sinne oft missbraucht wird. Die Auslegung des Wortes Gottes führt aber nicht in jedem Fall dazu, dass Gottes Wort auch wirklich zur Sprache gebracht wird. Das ist das große Thema aller Predigtlehren. Das Dolmetschen des Schriftgelehrten kann ganz in die falsche Richtung gehen, und spöttisch hält Kierkegaard fest, dass es wohl nicht gelingen kann, wenn jemand es tut, um sich damit Ansehen als Schriftausleger zu verschaffen, schon erst recht nicht bei so
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einer Stelle, in der es das Leiden und Ringen des Apostels mit seinem Glauben geht. Er stellt einen Schriftgelehrten vor, der alles „Törichte und Sinnreiche“ zusammenträgt, was zur Erklärung dieser vorgetragen worden ist, „welche, nachdem sie einmal den Ruf bekommen, ein Rätsel zu sein, jedermann eine ungewöhnlich günstige Gelegenheit zu eröffnen schien, Schriftausleger zu werden“ (XIII, 37). Als Kriterium dafür, wie es wirklich zur Auslegung der Schrift als Wort Gottes kommt, hält Kierkegaard sich an die alte Aussage Luthers, dass die Schrift sich selbst auslege. Diesen Vorgang, dass ein Wort der Schrift durch ein anderes ausgelegt wird, nennt Kierkegaard Dolmetschen: Wenn man nur von der Hoheit Christi her denkt, sieht die Prüfung seines Lebens so leicht aus, jetzt, da er sie überstanden hat, er der „Vollendete“. Insoweit ist es kein Wunder, wenn er sie alle zu sich zieht. Aber eben deshalb habe ich vorhin an das Wort erinnert, das hier eine angemessene Dolmetschung bietet: viele sind berufen, wenige sind auserwählt (XXVI, 175).
Dass die Worte Christi niemals von der Gestalt des erniedrigten Christus abstrahiert werden dürfen, daran erinnert Kierkegaard immer wieder: Es ist dir nicht erlaubt, Christi Worte hinzunehmen und ihn fortzulügen; es ist dir nicht erlaubt, Christi Worte hinzunehmen und ihn phantastisch zu einem Etwas zu machen mit Hilfe der Geschwätzigkeit der Geschichte, die, wenn sie von ihm schwatzt, ganz buchstäblich nicht weiß, wovon sie schwatzt (XXVI, 35).66
Wichtigstes Kriterium dafür, ob ein Wort wirklich als Wort Gottes zur Sprache kommt, ist für Kierkegaard, wie es auf das eigene Leben bezogen wird.67 Auch dabei gebraucht Kierkegaard den Ausdruck Dolmetschen, um zu beschreiben, wie der Mensch das Bibelwort auf sein Leben bezieht. 1843 ————— 66 Ebenfalls in der Schrift Einübung im Christentum, in der wichtiges Thema ist, dass für das Verständnis von Christus Provokation und Ärgernis nicht übergangen werde dürfen, vergleicht Kierkegaard das Ignorieren des Ärgernisses der Gleichzeitigkeit mit einem schlechten Übersetzer: Wenn man das Ärgernis weglässt, begnügt man „sich mit dem Bewundern und Preisen und ist (wie man es von einem Übersetzer gesagt, der ängstlich worttreu, darum auch sinnlos, einen Schriftsteller übersetzt hatte) „zu gewissenhaft“, vielleicht auch zu feige, zu jämmerlich, um recht verstehen zu wollen“ (XXVI, 34). Wie einzeln übersetzte Wörter nebeneinander gestellt noch keinen Sinn ergeben, so müssen auch die Worte und Taten Jesu im Zusammenhang seines Lebens, Sterbens und Auferstehens gesehen werden. Erst der Zusammenhang ermöglicht ein Verstehen 67 Kierkegaard unterscheidet zwischen gleichgültigen Wahrheiten, die unabhängig von der Situation des Einzelnen sind und besorgten Wahrheiten, die nicht allgemein sind, sondern je ihre besondere Gelegenheit haben und mit einer bestimmten Person verbunden sind. (IX, 144f). Solch eine besorgte Wahrheit ist das Predigtwort, hier bezogen auf einen Satz aus dem Prediger Salomos. Dies lässt sich sicher auf andere Predigtworte übertragen. Das Wort verändert sich je nach Situation, nach Alter, innerer Verfassung, Gesundheit usw.. Besorgte Wahrheiten werden immer wiederholt und gehen Unzählige an, „aber es ist jedesmal, wenn sie zu einem Einzelnen spricht, als spräche sie allein zu ihm, als wäre sie allein um seinetwillen auf die Welt gekommen“ (IX, 149).
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veröffentlicht Kierkegaard eine Erbauliche Rede zum Vers aus dem Hiobbuch: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt. (Hi 1,20f). Er legt in seiner Auslegung großen Wert darauf, dass das Wort seine Kraft erst entfaltet, wenn es im richtigen Kontext gesprochen wird. Hiob selbst sprach es in der Situation der Versuchung. Erst vor dem Hintergrund von Hiobs äußerer Not und seinem inneren Kummer ist die Tragweite seines Wortes abzuschätzen, erst dann wird offenbar, wie viel Glauben dazugehört, so ein Wort zu sprechen. Kierkegaards Überlegungen gehen dahin, wie die Kraft dieses Wortes für das eigene Leben zu nutzen sei. Er denkt darüber nach, wie ein Kind dieses Bibelwort lernt, auch wenn es das Entsetzliche darin, also das Elend, die Not und den Kummer, höchstens dunkel ahnt. Erst wenn ein Mensch selber in Versuchung gerät, kann er das Wort so sagen, wie Hiob es sprechen konnte. Dieses Sprechen des Wortes in der Versuchung, das nur im Glauben geschehen kann, nennt Kierkegaard einen Übersetzungsprozess: „Er versteht das Wort, er dolmetscht, mag er gleich auch nie darüber gesprochen haben, er herrlicher als der, welcher ein ganzes Leben daran gewandt, einzig dies Wort zu erklären“ (VII, 8). Wer das Wort so spricht, dolmetscht Hiob in eine andere Zeit: „Allein der Versuchte, der das Wort versucht hat, indem er selber versucht ward, allein er dolmetscht das Wort recht, allein einen solchen Jünger, einen solchen Dolmetsch begehrt Hiob, allein er lernt von Hiob, was zu lernen ist […].“ (VII, 8f). Eine ähnliche Aussage findet sich in der Rede von 1844 darüber, dass es des Menschen höchste Vollkommenheit ist, Gottes zu bedürfen. Wieder geht es darum, dass es einfach ist, für tatsächlich empfangene Gnade dankbar zu sein, während die schwierigere Aufgabe darin besteht, der Gnade Gottes auch ohne bzw. gegen die äußeren Umstände gewiss zu sein. Wofern nämlich ein Mensch der Gnade Gottes gewiß sein kann, ohne das zeitliche Zeugnis nötig zu haben als Mittelsmann oder die nach seinem Begriff ihm dienliche Schickung als Dolmetsch, so ist es ihm ja gewiß, daß Gottes Gnade von allem das Herrlichste ist, und so wird er sich darum bemühen, dergestalt sich an ihr zu freuen, daß er sich nicht bloß genügen läßt an ihr, dergestalt für sie zu danken, daß er sich nicht genügen läßt an der Gnade: nicht trauert über das, was versagt worden, auch nicht über die Sprachverschiedenheit die gewesen ist zwischen Gottes ewiger Zuverlässigkeit und seiner kindlichen Kleingläubigkeit, aber nun nicht mehr ist […]. (XIII, 10).
Die Übersetzungen, die das Schicksal oder das „zeitliche Zeugnis“ vornehmen, sind ein Versuch, Menschensprache als Gottes Sprache zu verstehen. In dieser Sprache wird die Zuverlässigkeit Gottes daran gemessen, ob er menschliche Wünsche erfüllt. Diese Übersetzung scheitert. Stattdessen ist die Sprachverschiedenheit zwischen Gott und Mensch dahingehend aufgehoben, dass die Kleingläubigkeit, die kindliche Wünsche nach Äußerlich-
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keiten vorbringt, sich übersetzten lässt in Gottes ewige Zuverlässigkeit, also das Vertrauen darauf, dass der Mensch Gottes bedarf und dieser ihm gnädig sein wird. Wo ein Mensch sich ganz auf Gottes Gnade verlässt und alles aus seiner Hand nimmt, ist keine Sprachverschiedenheit mehr, im Glauben sprechen Gott und Mensch eine gemeinsame Sprache.68 Im Zusammenhang des Übersetzens ist noch Aufmerksamkeit zu widmen der Tatsache, dass es sich beim Entstehen der neuen Sprache um ein und dieselben Laute der alten Sprache handelt, die neue Bedeutung bekommen. Bei dem, was da geschieht, haben Metaphern und bildliche Rede eine besondere Bedeutung. Kierkegaard spricht bei bildlicher Rede von übertragener Rede. Das Wort Übertragen liegt nicht weit von Übersetzen,69 insofern ist es nahe liegend, bildliche Rede hier im Zusammenhang des Übersetzens in die Sprache des Glaubens hinein zu thematisieren. Die eine dazu aufschlussreiche Textstelle stammt aus einer Erbaulichen Rede, in der Kierkegaard zu Beginn ausführlich dem Ausdruck erwägen nachsinnt. Er spürt den zwei Größen nach, die auf der Waage in ein Verhältnis gesetzt werden. In diesem Abschnitt gibt es eine grundsätzliche Äußerung zu übertragener Rede: Erwägen ist ein übertragener Ausdruck, aber sehr bezeichnend, und hat deshalb den Vorteil, wie ihn stets ein übertragenes Wort hat, daß man wie durch eine geheime Tür, ja wie mit einem plötzlichen Zauberschlag, vom Alleralltäglichsten her mitten in
————— 68 In einem lebendigen Dialog werden Worte der Bibel in das eigene Leben übersetzt. In diesem Gespräch des Gläubigen mit der Bibel gibt es zwei Sprachen. Was traditionell als Gesetz und Evangelium bezeichnet wird, stellt sich Kierkegaard als zwei Sprachen vor. Er spricht von den Forderungen der Idealität, die im täglichen Leben an den Menschen gestellt werden, und davon, wie beim Verstehen der Forderung an das eigene Leben Gott behilflich sein wird. Es sind zwei Sprachen, in denen Gott gehört wird: „in der erschreckenden Sprache des Gesetzes klingt es doch deshalb so erschreckend, weil es so scheint, als wäre es der Mensch selbst, der aus eigner Vernunft und Kraft sich an Christus halten soll, indessen es in der Sprache der Liebe Christus ist, der ihn hält“ (XXVI, 67). Welche Sprache ein Mensch jeweils hört, ist von ihm selbst und seiner Situation abhängig. Auch an folgender Stelle, an der Kierkegaard mahnt, dass nicht nur das Evangelium, sondern auch das Gesetz gepredigt werden muss, ist von zwei Sprachen die Rede: In der veralteten lächerlichen Sprache, in der Christentum mit göttlicher Vollmacht Herrenrecht an Menschen übet mit Gerichtsdrohung etc., so spricht heute keiner mehr, Milde statt Strenge (XXVI, 222). Ein und dasselbe Wort kann beides sein, es hängt von der eigenen Lebenssituation ab, in welcher Sprache es gehört wird: Dies Wort geleitet uns als treuer Freund im Leben. Es ist unser Trost, unserer Hoffnung, unsere Freude, unser Jauchzen, wenn es laut und begeisternd erklingt. Es ist leise und einlullend, wenn es mahnend und erinnernd zu uns spricht (III, 406). Dennoch hat die Liebe letztlich Vorrang vor dem Gesetz. Auch diese theologische Aussage drückt Kierkegaard wieder in sprachlichen Kategorien aus. Im Irdischen müssen wir Sein und Erklärung unterscheiden, aber in Christus ist die Erklärung das, was sie erklärt. Erklärung ist Verklärung. Christus ist des Gesetzes Erfüllung (XIX, 113). Das Gesetz gleicht einem nur mühsam Sprechenden, der trotz Anstrengung nicht alles sagen kann, aber Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes (XIX, 116). Hier geht es wieder um den Punkt, an dem aus mühsamem Buchstabieren flüssigen Lesen wird, an dem aus Vokabellernen der selbstverständliche Umgang mit einer fremden Sprache wird. 69 Das dänische Wort overføre ist die genaue Entsprechung des Griechischen PHWDIȑUZ.
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den höchsten Vorstellungen steht, so daß man, indes von den einfachen alltäglichen Anliegen die Rede ist, plötzlich entdeckt, daß man vom Allerhöchsten spricht (XVIII, 320).
Ein Wort, das im Alltag gebraucht wird, wird plötzlich durchsichtig für einen Zusammenhang in der Gottesbeziehung. Man kann auch sagen, ein Wort menschlicher Sprache wird offen für göttliche Sprache und wird so zu einem Wort der Sprache des Glaubens. Wenn Kierkegaard von einem Zauberschlag und einer geheimen Tür spricht, kann man an die Bildwelt aus dem Begriff Angst denken, wo ein Wort des Glaubens die Tür der Verschlossenheit öffnete und als solches wie ein Zauberwort wirkte. Wo bildliche Rede den Übergang aus alltäglicher, menschlicher Sprache schafft in die Sprache, in der es um die Beziehung zwischen Mensch und Gott geht, vollzieht sich die Begegnung zwischen Gott und Mensch, die der Glaube ist, der die Angst überwunden hat. Den Übergang vom Alltäglichen zum Allerhöchsten bezeichnet Kierkegaard an anderer Stelle als Übergang vom Sinnlichen ins Geistige. Einer Rede über Liebe, in der Kierkegaard die übertragene Rede vom Erbauen interpretiert, ist folgende allgemeine Überlegung zum Übertragenen vorangestellt: Alle menschliche Rede vom Geistigen, selbst die fromme Rede der Heiligen Schrift, ist wesentlich übertragene Rede; und das ist ganz in seiner Ordnung, oder in der Ordnung der Dinge und des Daseins, da der Mensch, wenn er auch vom Augenblick der Geburt an Geist ist, sich seiner doch erst später als Geist bewußt wird, und dergestalt einen bestimmten Abschnitt vorher sinnlich-seelisch durchlebt hat. Aber dieser erste Abschnitt soll dann nicht verworfen werden, wenn der Geist erwacht, […] [er] muß gerade vom Geist übernommen werden, und derart benutzt derart zu Grunde gelegt, wird er das Übertragene. Der geistige und der sinnlich-seelische Mensch sagen deshalb in gewissem Sinne das gleiche; dennoch ist da ein unendliche Unterschied, da der letzte das Geheimnis des übertragenen Wortes nicht ahnt, während er doch das gleiche Wort gebraucht, aber nicht übertragen. Es ist ein weltweiter Unterschied zwischen den beiden; der eine hat den Übergang gemacht oder hat sich auf jene Seite hinübertragen lassen, während der andere auf dieser Seite bleibt; dennoch ist das Verbindende zwischen ihnen, daß beide das gleiche Wort gebrauchen. Derjenige, in welchem der Geist erwacht ist, verläßt ja deshalb nicht die sichtbare Welt, er ist noch ständig, obwohl er sich seiner als Geist bewußt ist, in der Welt des Sichtbaren und ist selber sinnlich sichtbar: ebenso bleibt er auch innerhalb der Sprache, nur daß seine Sprache die übertragene ist; aber das übertragene Wort ist ja kein nagelneues Wort, es ist vielmehr das bereits gegebene Wort. Wie der Geist unsichtbar ist, so ist auch seine Sprache ein Geheimnis, und das Geheimnis liegt eben darin, daß er die gleichen Worte bebraucht wie das Kind und der Einfältige, sie aber übertragen gebraucht, wodurch der Geist verneint, daß er das Sinnliche oder das Sinnlich-Seelische sei, es aber nicht auf eine sinnliche oder sinnlich-seelische Weise verneint. Der Unterschied ist keinesfalls von äußerlich auffallender Art. Wir halten es eben deshalb
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mit Recht für ein Zeichen falscher Geistigkeit, wenn man mit dem äußerlich auffallenden Unterschied prunkt – was gerade Sinnlichkeit ist, wogegen das Wesen des Geistes das stille, flüsternde Geheimnis des Übertragenen ist – für den, der Ohren hat zu hören (XIX, 233f).
Es geht also um den Sachverhalt, dass ein und dasselbe Wort eine einfache und eine übertragene Bedeutung hat. Der Übergang von einem zum anderen geschieht parallel zum Erwachen des Geistes in einem Menschen. Man kann sofort an den träumenden Geist aus dem Begriff Angst denken, der Worte gebraucht, ohne sie wirklich zu verstehen.70 Der Übergang bleibt ein Geheimnis, und der Grund dafür liegt darin, dass es sich um etwas Unverfügbares handelt. Kierkegaard spricht bezeichnenderweise erst davon, dass jemand den Übergang macht und fügt dann gleich hinzu, dass er sich auf die andere Seite hinübertragen lässt. Im Ausdruck des Hinübertragens kommt gut zum Ausdruck, dass es ein Geschehen ist, in dem sich der Mensch bewegt, aber die Bewegung geht nicht von ihm aus, er wird getragen und muss sich dem nur anvertrauen. Ebenso unverfügbar, wie der Übergang ins Übertragene ist der Moment, in dem ein Mensch als Selbst von Gott gesetzt wird. Die Entwicklung des Geistes im Menschen sieht Kierkegaard in klarer Entsprechung zum sprachlichen Geschehen. Der Mensch ist von Anfang an Geist, auch wenn er sich dessen noch nicht bewusst ist, und der Mensch bleibt immer in der Sprache, auch wenn er sich zuerst nicht in übertragener Sprache ausdrücken kann. Der Geist gebraucht das Sinnlich-Seelische, und die übertragene Sprache gebraucht Worte, die so einfach sind, dass sie von Kindern stammen könnten. Der Mensch ist eine Synthese, als Geist durchdringt er sie, aber er muss nicht daran zerbrechen, sondern er kann sie im Geist zu einer Einheit zusammenhalten, in der ein Unterschied möglich ist. Die Sprache geht diese Bewegung mit: Erst ist sie einfach, sobald sie sich in die Ausdifferenzierung der Synthesegegensätze vertieft, wird sie in Gedankengebäuden komplizierter und komplizierter, sobald sie aber übertragene Sprache wird, kann sie zur Einfachheit der Alltagssprache zurückkehren. In der Einfachheit übertragener Sprache liegt aber wie in der Einheit im Geist eine Unterschiedenheit, denn in der übertragenen Sprache ist das unsichtbare, das immer in Gegensatz zum Alltäglich-Sichtbaren steht, mit enthalten. Die Gegensätze fallen nicht auseinander, sondern sind in sprachlicher Einheit beieinander.71 In dem Gedanken, ————— 70 Vgl. oben Kapitel 2.1. 71 Wie weit der Weg von der alltäglichen Bedeutung des Wortes hin zu seinen tieferen Dimensionen ist, wird an folgender Textstelle deutlich. In ökonomischer Bildwelt bringt Kierkegaard zum Ausdruck, wie unverhältnismäßig weit der Weg dahin ist, dass mit einem einfachen Wort nicht nur etwas ausgesprochen ist, sondern in der Gegensätzlichkeit wirklich vorweggenommen wird. Es geht um die ewige Seligkeit: „Das Wort hat der Mensch in seiner Muttersprache gratis, ein wenig von diesem und jenem kann er bald ableiern lernen; […] Das wesentliche existentielle
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dass das Geistige das Sinnlich-Seelische gebraucht und neu deutet, liegt das Grundmuster der Begegnung von Gott und Mensch. Gott vernichtet nicht alles Menschliche, sondern er nimmt das Menschlich-Zeitliche und verwandelt es. Gott redet nicht in unverständlicher Sprache zu den Menschen, sondern er begibt sich in die Menschensprache und lehrt damit den Menschen eine Sprache des Glaubens. Kierkegaard arbeitet Verbindendes und Unterschiedenes in diesem Abschnitt genau heraus. Das Verbindende ist, dass es sich um ein Wort handelt. Der Unterschied ist, dass das Wort neben der alltäglichen Bedeutung noch eine andere Dimension eröffnet. Das Verbindende zwischen Gott und Mensch ist, dass sie beide Sprache haben. Der Unterschied zwischen den beiden Sprachen ist aber nicht ein solch auffallender Unterschied, dass einem Laut ein anderer Laut zugeordnet würde. Die Laute können gleich bleiben, und Gottes Wort kann sich mit jeder menschlichen Sprache verbinden. Der Unterschied ist ein Unterschied im Geist, und der Geist hat es immer damit zu tun, Unterschiedenes zu trennen und zusammenzuhalten. So wie das eine Wort einfach ist und keine tiefere Bedeutung hat, so bleibt der Mensch in sinnlicher Sprache ganz bei sich, während sich in übertragener Sprache eine Begegnung mit Gott eröffnet.72 Als Beispiel wie bildliche Rede zu einer Begegnung mit Gott wird, kann man Kierkegaards Gedanken zur Rede von Gott als Vater lesen (VI, 146f). Zuerst fragt Kierkegaard fast skeptisch, ob ein irdischer Ausdruck wirklich in der Lage ist, all das zu bezeichnen, was damit ausgesagt werden soll. Er hält dann fest, dass jeder, der auf Äußerliches schaut, nie den wahren Sinn des Wortes erfassen wird, sondern bei „bildlich uneigentlicher“ Rede bleibt. Solches Schauen auf Äußerliches zeigt sich für Kierkegaard darin, dass ein Mensch auf die Gaben schaut und von dort auf den Geber schließt. Wer in dieser Weise von seinem Vater im Himmel redet, der will die Gaben als Beweis benutzen, er schließt von den Gaben her auf die Väterlichkeit Gottes. Wer die Rede vom Vater wirklich als bildliche Rede – oder wie Kierkegaard in dieser Rede auch gerne sagt, als inwendiger Mensch – versteht, der sieht nicht auf die Gaben, sondern den Geber. Damit ist er nicht mehr abhängig davon, dass die Gaben gut sind, damit man einen guten Vater im Himmel hat. Wer vom guten Vater im Himmel ausgeht, der kann alle Gaben als Gaben von Gott annehmen. Solche Rede von der Güte Gottes, die nicht von der Güte der Gaben abhängt, bezeichnet Kierkegaard als eigentli————— Pathos im Verhältnis zu einer ewigen Seligkeit erkauft man so teuer, daß man es in endlichem Sinne geradezu als Tollheit ansehen muß, es zu kaufen […]“ (XVI/2, 91). 72 Auch bei Luther gibt es Äußerungen dazu, wie ein altes Wort neue Bedeutung bekommt. Mit der Verwandlung der Sprache geht eine Verwandlung der Wirklichkeit einher. Es handelt sich um einen eschatologischen Vorgriff, um Neuschöpfung in der alten Schöpfung. Zur Interpretation der Textstellen bei Luther vgl. RINGLEBEN, J., Luther zur Metapher, in: Arbeit am Gottesbegriff I, Tübingen 2004. 58–95.
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che und wahre Rede. Was als eigentlich und wahr bezeichnet ist, kann man vielleicht auch so verstehen, dass in dieser Rede eine Begegnung ermöglicht wird: der Blick des Menschen wird von dem, was alltäglich da ist, nämlich der Gabe, hin gelenkt auf die Person, den Geber; so eröffnet das Wort ganz konkret die Begegnung mit Gott, statt bei der Gabe zu bleiben, mit der der Mensch bei sich selbst bleibt. Dass es bei dem Wort Vater immer um eine Begegnung geht, in der Gott und Mensch sich wirklich verstehen, wird an den dann folgenden Ausführungen Kierkegaards deutlich, in denen er erklärt, was der Unterschied zwischen einem guten irdischen Vater und einem himmlischen Vater ist. Beim irdischen Vater ist das Verstehen begrenzt, weil er z.B. traurig ist, weil das geliebte Kind traurig ist, und dabei gar nicht mehr zu dem kommt, was der Grund der Traurigkeit ist. Nebenbei kann man in diesem Abschnitt wieder erkennen, wie sehr Kierkegaard um die menschliche Sprache in ihrer Unzulänglichkeit ringt. Alle menschlichen Vorstellungen, die sich an das Wort Vater knüpfen, sind so unvollkommen, dass ihm auch der Ausdruck selber fraglich wird. Aufgelöst werden kann diese Schwierigkeit nur dahingehend, dass die Priorität der göttlichen Sprache unbedingt gewahrt bleiben muss: die Rede von der Väterlichkeit Gottes soll das Bild des irdischen Vaters prägen und nicht umgekehrt, denn nur so ist die Abhängigkeit von Äußerlichkeiten zu vermeiden. Durch Sprache, insbesondere durch bildliche Rede wird der Mensch geöffnet für ein Gegenüber, in dem Wort vollzieht sich die Begegnung mit Gott. Diese Offenheit, die im Wort entsteht, kommt in der Liebe Tun noch einmal in anderer Weise, aber auch wieder mit vertrauten Ausdrücken zur Sprache: Das Christentum verschafft „Luft und Aussicht“, es schafft dem Leben „Feierlichkeit und Weihe“, indem es in bildlicher Rede auf die Ewigkeit hinweist. Im Kontext geht es darum, wie Ehre und Schande neu gewertet werden. Dabei wird betont, dass es sich bei dieser neuen Perspektive nicht um eine „etwas höhere Stelle“ handelt, „von der aus du doch nur einen etwas weiteren Umkreis überschauen kannst“; das wäre „eine irdische Hoffnung und eine weltliche Aussicht“; vielmehr ist mit der Hoffnung der Ewigkeit Licht und Schatten, Schönheit und Wahrheit zu erkennen und „vor allem die Ferne der Durchsichtigkeit“ (XIX, 273f). Weitwerden und Durchsichtigwerden ist in früheren Schriften Kierkegaards als Entsprechung zu Freiheit und Glauben herausgearbeitet worden. Hier wird die bildliche Rede zum Weg dorthin.
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3.6 Gebet Gebet Das Gebet erwies sich im bisherigen schon verschiedentlich als das Geschehen, in dem sowohl Reden als auch Schweigen zu ihrer eigentlichen Bestimmung kommen. In Furcht und Zittern war das Gebet der Ort der neue Sprache, in der Abraham sich mit Gott verständigte und die Johannes de siletio nicht verstand. In der Rede über die Lilien und Vögel konnten Menschen im Gebet die Stille erfahren, in der sie zu Hörenden wurden, und darin mit Gott in Kontakt kommen. In einem abschließenden Kapitel zum Thema Reden und Schweigen soll nun unter Hinzunahme weiterer Texte Kierkegaards über das Gebet noch einmal ausdrücklich diesem Geschehen nachgegangen werden, in dem es zu einer sprachlichen Begegnung zwischen Gott und Mensch kommt. Ich tue das unter folgendem Leitgedanken: Im Gebet lässt sich exemplarisch nachvollziehen die Bewegung vom Reden über das Stillewerden hin zu einer neuen Sprache. Es ist die Bewegung, in der ein Mensch sich als Synthese wahrnimmt, dann zu einem Einzelnen wird, der sich mit dem Nichts konfrontiert sieht, und schließlich als Selbst von Gott gesetzt wird als eine Einheit, die die Widersprüche des Selbst in sich vereinen kann. Diese Bewegung spiegelt sich in der Sprache darin, dass ein Mensch sich erst wie von außen als eine dritte Person analysiert, dann zu einem Einzelnen wird, der das Ich-Sagen lernt und damit wirklich sich selbst meint, und schließlich sich als einen empfängt, der als Du angesprochen ist. Alle drei Bewegungen – vom Reden über die Stille zum Hören, vom widersprüchlichen Selbst über die Verneinung des Selbst zur Einheit des Selbst, von der dritten über die erste zur zweiten Person – greifen bei Kierkegaard, so möchte ich zeigen, ineinander.73 Ich tue das anhand der zahlreichen Textstellen aus den Erbaulichen Reden, in denen Kierkegaard sich zum Gebet äußert.74 ————— 73 Viele aufschlussreiche Überlegungen zur Struktur der Sprache, die drei Personen unterscheidet, finden sich bei MÜLLER-SCHWEFE, H.-R., Die Sprache und das Wort,. Hamburg 1961. Insbesondere 19–60. Müller-Schwefe ordnet dem Du das Anrufen, dem Ich das Ausdrücken und dem Es das Begreifen zu. Seine Fragestellung und von daher auch seine Ergebnisse sind andere als die im Kontext hier. (Das zeigt sich z.B. darin, dass bei ihm der Weg vom Du über das Ich zum Es geht.) Interessant sind bei ihm einzelne Hinweise zu Erfahrungen mit den drei Dimensionen der Sprache, sowie die Beobachtung, dass auch er die Struktur der Sprache parallel entwickelt zu Aussagen über das Menschsein. Auch Humboldt gibt eine Einschätzung der Beziehung der verschiedenen Personen in der Sprache. Er verweist darauf, dass alle bekannten Sprachen Du und Er unterscheiden, und wertet das als Hinweis darauf, dass Anrede eines Gegenübers immer etwas anderes ist als ein objektiver Gegenstand. Dabei hält er fest, dass der Urtypus der Sprache Hören und Erwidern ist (Humboldt, 202). Das passt zu der Bedeutung, die Kierkegaard dem Hören und damit der zweiten Person zuschreibt. 74 Dass das Gebet auch persönlich für Kierkegaard von großer Bedeutung war, ahnt man in seinen Schriften über sich selbst, in denen er nachträglich dem Gebet entscheidende Bedeutung für
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Ein ausführlicher und eindrücklicher Text Kierkegaards zum Gebet ist die Rede aus dem Jahr 1844 unter der Überschrift: Der rechte Beter streitet im Gebet und siegt – damit, dass Gott siegt. Kierkegaard kostet den Widerspruch aus, der in diesem Satz steckt, und erklärt anhand dieses merkwürdigen Sachverhalts, nämlich dass der eigene Sieg eben gerade darin besteht, dass ein anderer siegt, worauf es beim Gebet ankommt.75 Eine Schwierigkeit, das Gebet als Streit zu betrachten, sieht Kierkegaard darin, dass es keinen Ort gibt, an dem dieser Streit stattfinden könnte. Wenn Gott und Mensch entfernt voneinander sind, sich also gegenüberstehen, dass sie streiten könnten, wäre es, kein Gebet. Wenn es aber ein Gebet ist, dann sind sich Gott und Mensch so nahe, dass es keinen Zwischenraum für ————— sein Werk zuschreibt. Er finde im Gebet, was er mitteilen möchte. Er sehne sich nach dem, was dem Gedanken seliger zu finden ist als dem Liebenden die Geliebte, den Ausdruck, sagt er. Man beachte, dass es wieder um eine Liebesbeziehung zwischen ihm und der Sprache geht. Die Worte scheinen zu Körpern seiner Gedanken zu werden, und seine Texte haben für ihn die Bedeutung, die sonst einer Geliebten zukommt. Aber im Überschwang solchen Verliebtseins in die eigene Sprache kann er nicht schreiben, muss er erfahren. Sein Werk entsteht nicht aus Leidenschaft des Dichters und Denkers, sondern aus Gottesfurcht (XXXIII, 68). Ich habe Gott jeden Tag nötig gehabt, um mich zu wehren gegen den Reichtum der Gedanken, ich habe Gehorsam gelernt, schreibt er (XXXIII, 69). Kierkegaard beschreibt es so, dass er sich allein in Gesellschaft grauenvoller Möglichkeit befand, beinahe mit der menschlichen Sprache als Feind, dass er sich noch nicht einmal sich selber verständlich machen konnte, und schließlich nur gläubig Rast finden konnte und zwar im Trauen auf Gottes Mitwissen (XXXIII, 71). Der große Reichtum der Möglichkeiten macht ihm Angst und wird ihm doch zur Grundlage seines Glaubens. Die menschliche Sprache erlebt er dabei auch als Feind, weil man sich nicht mehr in ihr verständlich machen kann. Das Gebet ist es, das ihn seine eigene Sprache finden lässt, in der er sich als religiöser Schriftsteller wiederfindet. 75 Anhand dieser Rede entwickelt auch Luibl seinen Abschnitt über das Gebet bei Kierkegaard (LUIBL, H.J., Des Fremden Sprachgestalt, Tübingen 1993. 146–151). Luibl fragt in seinem Buch nach dem Beten in der Neuzeit, und so zeigt er auch bei Kierkegaard auf, dass sich in seinem Gebetsverständnis die typisch neuzeitliche Voraussetzung findet, dass die Gegenwart Gottes nicht mehr selbstverständlich ist, sondern in einer Auseinandersetzung mit Gott – hier dem Streit – sich erst entwickelt. In diesem Sinne ordnet er Kierkegaard ein in ein Gebetsverständnis, in dem die Wirklichkeit des Verlustes, der vielfältig im Leben erlitten wird und in das Gefühl des Verlusts Gottes mündet, nicht aufgehoben wird, aber im Gebet zur Sprache gebracht wird, so dass das Gebet schließlich Endlichkeit und Unendlichkeit versöhnen kann. Luibl schließt sein Nachdenken über das Gebet bei Kierkegaard mit der Behauptung, dass nach dem Sprachverlust, dem Scheitern naiver Gebetssprache und dem daraus folgenden Schweigen die Möglichkeit der wahren Wiederholung kommt. Soweit stimmt er mit meinen Überlegungen zur neuen Sprache überein. Für Luibl ist die neue Sprache aber eine Sprache der Ironie und der indirekten Mitteilung. Der Ironie, auch der im Gebet, spricht er eine befreiende Wirkung zu. Er fragt dann aber, wie ein ironisches Gebet sich mit der Ernsthaftigkeit der von Kierkegaard erhaltenen Gebete vereinbaren lässt. Dass er hierauf keine Antwort findet, ist m.E. ein Hinweis darauf, dass es sich beim Beten um direkte Sprache handeln muss. Die Sprache der Wiederholung erhält ihre Neuheit nicht durch ironische Brechung, sondern daraus, dass sie eine von außen kommende ist: der Beter ist ein Hörender. Zur Unterscheidung von direkter und indirekter Sprache mit dem Ergebnis, dass es sich bei Glaubensvollzügen, zu denen auch das Gebet gehört, um direkte Sprache handeln muss, vgl. unten Kapitel 4.3.
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Streit gäbe (XIII, 92).76 Die Schwierigkeit besteht also darin, dass es um ein Verhältnis geht, das gleichzeitig ein Beisammensein und ein Gegenübersein ist: Wo ist der Beter, der im Gebet mit Gott streitet, und somit zur gleichen Zeit ein tiefes und innerliches Verhältnis der Hingabe an Gott sich bewahrt, da er ja betet, dennoch aber wiederum von Gott auch geschieden ist, so daß sie streiten können? (XIII, 93).
Kierkegaards Frage nach dem Wo kann nur dahingehend beantwortet werden, dass der Beter in der Sprache ist, denn nur die Sprache ist in der Lage, Beisammensein und Gegenübersein zusammenzuhalten. Der Streit, der sich da vollzieht, ist ein Streit in der Sprache und um die Sprache: es geht darum, dass „entgegengesetzte Gedanken zusammengedacht werden“ müssen (XIII, 95). Sehr anschaulich beschreibt Kierkegaard, wie schwierig es ist, auch das als Gabe von Gott anzunehmen, was man selbst als Leid erlebt. Der Mensch ist Gott einerseits ganz nahe, wenn er alles aus Gottes Hand empfängt, andererseits hadert er damit, dass Gott ein Gegenüber ist, das ihm etwas zumutet. Der Beter arbeitet sich an diesem Widerspruch ab, und man kann den Text dieser Erbaulichen Rede im Folgenden so lesen, dass es dabei um ein Verstehen geht. Dieses Verstehen zwischen Gott und Mensch entwickelt sich nach und nach und wird vom Beter erlebt als eine neue Sprache, die ihm zuwächst. Zuerst kämpft der Beter im Gebet mit allen seinen Bitten, die er vor Gott bringt. Ausführlich zählt Kierkegaard auf, welche Gebetsanliegen es geben kann (XIII, 97). Alle diese Bitten fasst er so zusammen, dass es darum geht, „sich bei Gott verständlich zu machen, ihm richtig zu erklären, was dem Beter dienlich sei, es ihm recht ans Herz zu legen, für den Wunsch ihn richtig zu gewinnen“ (XIII, 97). Hier taucht wieder das Motiv auf, dass Menschen versuchen, in einer Menschensprache, nämlich der Sprache der Wünsche, mit Gott zu reden. Aber ihr Bemühen darum, verstanden zu werden, ist vergeblich, denn Gott lässt sich auf diese Sprache nicht ein. Stattdessen entwickelt sich im Gebet ein Verstehen zwischen Gott und Mensch, das sich in der Sprache des Glaubens vollzieht. Wie es dazu kommt, dass ein Mensch sich in seinem Verstehen und seiner Sprache auf Gott einlässt, vergleicht Kierkegaard in dieser Rede mit dem Gespräch zwischen einem Ratsuchenden und einem Weisen (XIII, 99f). Der Ratsuchende ist anderer Meinung als der ————— 76 Voraussetzung für diese Gedanken ist, dass der Beter sich immer mit Gott, niemals wider Gott versucht (XIII, 96). Wäre es ein Streit wider Gott, so ist das für Kierkegaard kein Gebet mehr. Das Gebet zeichnet sich immer durch ein unbedingtes Festhalten an Gott aus, das Kierkegaard in dieser Rede meistens als Innerlichkeit benennt, z.B.: Wo Gebet nicht die rechte Gestaltung, nämlich Innerlichkeit hat, hört Gott es nicht, egal ob leise oder laut hinausschallend (XIII, 92). Der Beter bleibt also immer mit Gott verbunden, egal ob negativ im Streit oder positiv im Vertrauen.
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Weise und will diesen unbedingt von seiner Meinung überzeugen, hat aber gleichzeitig vollstes Vertrauen dazu, dass der Weise die größere Übersicht hat und um das Wohl seines Gegenübers besorgt ist. Genauestens beschreibt Kierkegaard, wie sich derjenige, der erst anderer Meinung war, im Laufe des Gesprächs dahin entwickelt, dass er zu der Einsicht kommt, die der Weise von Anfang an vertrat. Er hat diese Einsicht allerdings aus sich selbst gewonnen und fühlt sich deswegen nicht von dem Weisen bevormundet. Nun haben die beiden gegenseitiges Verstehen gefunden, und der Streit ist behoben.77 Man könnte im Anschluss an das vorige Kapitel sagen, dass sich der Mensch auf die Sprache des Glaubens eingelassen hat. Ebenso wie es nicht restlos zu erklären ist, wie man sich in einer anderen Sprache ausdrücken kann, bleibt es bis zu einem gewissen Grade rätselhaft, wie hier jemand zu einem neuen Verstehen kommt, das seiner vorigen Meinung gerade entgegengesetzt ist. Immer wieder kommt Kierkegaard darauf zurück, dass der Streit darin besteht, sich Gott zu erklären, bzw. von Gott zu fordern, „dass Gott sich ihm erklären möge“ (XIII, 103). Kierkegaard bleibt also in der Ausdrucksweise, dass im Gebet um ein Verstehen zwischen Gott und Mensch gerungen wird.78 Und auch die Auflösung ist ein Verstehen: zum Schluss heißt es, der Beter ist ein anderer geworden, „denn er versteht sich selbst anders“ (XIII, 109). Die Stelle, an der das betende Gespräch mit Gott von einem Streit zu einem neuen Verstehen wird, ist auch in dieser Rede das Nichts. Was bisher als Übergang in die Sprache des Glaubens bezeichnet wurde, beschreibt Kierkegaard in fast mystischer Redeweise so, dass der Beter Gott gleich wird, dass Gott sich in ihm abdrückt. Sehr poetisch ist ausgedrückt, wie es im Nichts zu einer neuen Begegnung mit Gott kommt: Allein, wenn er selbst zu nichts wird, allein dann kann Gott ihn durchleuchten, so daß er Gott gleicht. Wie viel er auch sei, das Gott gleich Sein kann er nicht ausdrücken, Gott kann sich in ihm abdrücken allein, wenn er selbst zu Nichts geworden ist. Wenn das Meer alle seine Kraft anstrengt, so kann es das Bild des Himmels gerade nicht widerspiegeln, auch nur die mindeste Bewegung, so spiegelt es den Himmel nicht rein; doch wenn es stille wird und tief, senkt sich das Bild des Himmels in sein Nichts (XIII, 108f).
————— 77 In diesem kurzen Abschnitt scheint Kierkegaard viele Überlegungen aufzunehmen, die er unter dem Aspekt des Lernens von Wahrheit ausführlich in den Philosophischen Brocken durchdacht hat. 78 Im Dänischen ist das noch deutlicher: wo es in der Übersetzung heißt um eine Erklärung zu ringen (so z.B. XIII, 106) ist im Dänischen das Verb stride gebraucht, also wird wörtlich um die Erklärung gestritten.
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Der Himmel leuchtet auf dem Meer, Gott leuchtet durch den Menschen. Man kann bei diesem Leuchten daran denken, dass der Mensch durchsichtig auf Gott hin wird, wenn er sich durchsichtig gründet in der Macht, die ihn gesetzt hat. Alle drei Elemente der Bewegung des Menschen zu Gott hin tauchen in dieser Rede auf. Zuerst redet der Mensch in der Sprache der Wünsche und gerät damit in Widersprüche, weil diese so nicht von Gott erfüllt werden und er das Gefühl hat, von Gott nicht verstanden zu werden. In der Stille erkennt der Mensch dann, dass es zu einer Begegnung von Gott und Mensch nur kommen kann, wenn alles von Gott her kommt. Er lässt sich damit auf Gott ein, und das ermöglicht ein echtes Verstehen. Dieses Verstehen schließt ein, dass die Widersprüche des Menschseins zusammengedacht werden können und als von Gott gegeben angenommen werden können. In diesem Verstehen geschieht die Begegnung zwischen Gott und Mensch. Von der Sprache, in der Gott und Mensch sich nicht wirklich verstehen, ist bei Kierkegaard oft zu lesen. Neben dem Wünschen verführt besonders der Dank, der die Gaben Gottes allzu selbstverständlich entgegennimmt, dazu, dass nicht wirklich Gott angespochen wird. Eine glückliche Danksagung heißt noch nicht, wirklich mit Gott reden, sagt Kierkegaard; auch wer Gottes Namen nennt, redet noch nicht mit Gott, wenn seine Vorstellung nicht auf Gott geht, sondern er Glück, Schicksal, Macht etc. anbetet (XIV, 168). Allein die Anrufung Gottes hat also noch keine Wirkung, die Nennung des Namens Gottes hat keine magische Wirkung. Mit dieser Aussage kann Kierkegaard alle bekannte Kritik am Gebet, z.B. dass es keine Wirkung zeige oder nur ein Selbstgespräch sei, miteinbeziehen. Was die äußere Form eines Gebets hat, muss noch nicht ein Gespräch zwischen Gott und Mensch sein, sondern kann ganz beim Menschen verbleiben. Mehrere Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit es im Gebet zu Kommunikation kommt: Intellektuell muß ich eine ganz deutliche Vorstellung von Gott haben, von mir selbst und von meinem Verhältnis zu ihm, und von der Dialektik dieses Verhältnisses, die die des Gebetes ist, damit ich nicht Gott mit etwas anderem verwechsele, so daß ich nicht zu Gott bete; ferner, damit ich nicht mich selbst mit etwas anderem verwechsele, so daß nicht ich bete; und damit ich im Verhältnis dies Gebetes den Unterschied und das Verhältnis festhalte (XVI/1, 152).
Mit Unterschied und Verhältnis ist noch einmal der Sachverhalt von gleichzeitigem Gegenübersein und Beisammensein benannt, der oben beim Streit schon angesprochen wurde und charakteristisch für die Situation des Gebets und die Beziehung zwischen Gott und Mensch ist. Der Beter muss weiter eine Vorstellung von sich haben. Was es heißt, wirklich Ich zu sagen, ist gleich noch zu thematisieren. Schließlich ist noch die richtige Vorstellung
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von Gott wichtig. Was es bedeutet, wenn diese nicht gegeben ist, kann man z.B. am Pharisäer sehen. Dieser meint nämlich, er rede mit Gott, obwohl aus dem, was er sagt, klar wird, dass er mit sich selber redet oder mit einem anderen Pharisäer. Das veranschaulicht Kierkegaard noch einmal mit einem Wirtshaushalter, der komisch wird, wenn er in der Kirche vom Wirtshaus erzählt, als ob Gott ein anderer Wirtshaushalter sei. Daraus zieht Kierkegaard Konsequenzen für die Frage der Gebetserhörung: Man sollte für einen Wunsch nie Gott um Hilfe anrufen, denn man bindet dadurch sich selber absolut (XV, 251). Diese Folgerung muss begründet sein in der Einsicht, dass Gott eben nicht nur das Gegenüber ist, den man um die Erfüllung seiner Wünsche angeht. Er ist ebenso in einem selber, und deshalb legt man sich mit der Festlegung auf bestimmte Wünsche selber in einer Art und Weise fest, die dem Menschen nicht angemessen ist. Der Unterschied zwischen Gott und Mensch muss unbedingt gewahrt bleiben, aber er ist nicht so zu verstehen, dass Gott als ein rein Äußerer angesprochen werden kann. Er ist nicht jemand, den man unbeteiligt von außen, gewissermaßen als eine dritte Person betrachten kann. Hier liegt die Besonderheit einer religiösen Beziehung: „Was Gott betrifft, so kann er niemals Dritter werden, wo er beim Religiösen Zeuge ist, dies ist gerade das Geheimnis des Religiösen“ (XVI/1, 58). Die Formulierung, dass Gott beim Religiösen Zeuge ist, bringt wieder die Eigenart des Verhältnisses zum Ausdruck: das Religiöse ist eine Bewegung im Menschen, die im Angesicht Gottes, also vor seiner Zeugenschaft, geschieht, aber sie kann nicht ohne ihn geschehen und er kann sie nicht als Dritter betrachten, er ist also wesentlicher Teil dieser Bewegung, d.h. er ist dabei und doch gegenüber. Das Motiv, dass Gott nicht mit der dritten Person zu vereinbaren ist, gab es schon in Furcht und Zittern, wo Johannes de silentio feststellen musste, dass sein Reden über Gott aus eben dieser Außenperspektive ihn nicht in eine Beziehung zu Gott bringen konnte. Diese Einsicht bekräftigt Kierkegaard auch an anderer Stelle und führt sie weiter aus.79 Die dritte Person steht in der Sprache für Abstraktion und Distanz. Die dritte Person wird benutzt in objektiver Sprache z.B. bei Berichten und in allen sprachlichen Äußerungen, die analytisches Denken darstellen. Kierkegaard redet oft von der Sprache der Wahrscheinlichkeit. Auch sie ist eine Sprache der dritten Person, und folglich hat sie im Gebet nicht ihren Ort. Was hilft es dem ————— 79 Kierkegaard stellt dies nicht nur fest, sondern führt es auch literarisch vor. Vgl. dazu den Aufsatz von HANNAY, A., Kierkegaard and ‚God‘ in the Vocative, in: Linde, G./Purkarthofer, R. u.a. (Hg.), Theologie zwischen Pragmatismus und Existenzdenken (FS Deuser, H.), Marburg 2006. 397–404. Hannay stellt fest, dass Kierkegaard in seinen erbaulichen Texten Gott oft direkt anredet, während er in den pseudonymen Texten nur in der dritten Person über ihn spricht. Dieses Reden über Gott geht so weit, dass Climacus in der Nachschrift abstreitet, dass Gott überhaupt ein Name ist (Belege bei Hannay 397).
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Menschen, wenn er zwiespältig und vielzüngig Gott überlisten wollte, ihn in Wahrscheinlichkeit fangen, aber das Unwahrscheinliche nicht verstehen wolle (XIII, 90), fragt er. Die Sprache der Wahrscheinlichkeit ist eine menschliche Sprache, die im Gebet müßig ist. Was dagegen von Gott kommt, ist das ganz und gar Unwahrscheinliche. Menschen ziehen sich aber nur zu gerne auf Aussagen zurück, die sie in der dritten Person sagen können, denn solche Äußerungen sind vermeintlich objektiv und verheißen damit eine größere Sicherheit. Das Unwahrscheinliche dagegen provoziert Abwehr: der Mensch will nicht verstehen. Gott fordert Glauben, Verstehen in ihm ist das Unverständliche. Wer davon abrückt, spottet Gottes und der Menschen und der Sprache (XIII, 104). Immer wieder kommt Kierkegaard darauf zurück, dass es beim Gebet nie um etwas Äußerliches gehen kann. Jede äußerliche Reflexion hebt das Gebet auf. Solche äußerlichen Reflexionen sind z.B. vor Gott Argumente zu suchen, auf zeitlichen Vorteil zu schielen usw. (XV, 370). Das Beten geschieht in der Innerlichkeit und ist damit für jeden äußeren Ausdruck inkommensurabel. Kierkegaard hat ein Gespür dafür, dass das zu komischen Situationen führen kann, er denkt dabei z.B. an einen Kraftprotz beim Beten. Aber es bleibt dabei, dass das so seine Richtigkeit hat, denn „das wahre Komische beim Beten besteht darin, daß das Unendliche in einem Menschen vorgeht und es niemand, niemand an ihm entdecken kann“ (XVI/1, 83.). Niemand kann von außen beurteilen, ob der Beter wirklich Gott im Gebet begegnet. Gottesbegegnung gibt es nur dort, wo ein Mensch sich ganz Gott öffnet: Gott kann man sich nicht trügerisch einschmeichelnd mit der Zunge nahen, während das Herz weit weg ist (XVIII, 127).80 Im Umgang von Menschen untereinander lässt sich die Rede in der dritten Person nicht vermeiden, denn ein anderer Mensch kann nie wirklich beurteilen, was in der Innerlichkeit eines anderen vorgeht. Dennoch warnt Kierkegaard auch für das Gespräch zwischen Menschen vor der Versuchung, zu viel in der dritten Person von einander zu sprechen. Selbst in der Vertraulichkeit mit einem Freund kann man sich an Ausflüchte gewöhnen, weil er immer als Dritter spricht und man selber anfängt, von sich selbst als Drittem zu sprechen. Ganz anders ist das in der Ewigkeit: ————— 80 Wo das Herz eines Menschen ist, erkennt man daran, ob er wirklich Ich sagen kann. Das hält Kierkegaard auch unabhängig von der Situation des Gebets für richtig. Z.B. wenn es um Leiden geht, zeigt sich besonders deutlich, in welcher grammatischen Person jemand davon redet. Man kann von sich selbst als einem Dritten sprechen, kann darüber lesen, reden, sogar mit Tränen und dennoch in seinem Innersten ganz ruhig sein, unberührt von dem, worüber man redet (XXVI, 186). Deswegen warnt Kierkegaard: Um eine Rede, besonders in der 1. Person, zu verstehen, muss man darauf achten, wer da redet (XXVI, 154). Es kann also durchaus vorkommen, dass jemand Ich sagt, aber gar nicht von sich selber redet. Dem Redner ist das Ich abhanden gekommen. Er behandelt sich selbst wie eine Sache, die von außen betrachtet wird (XXVI, 227).
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in der Ewigkeit bist du ein Einzelner, und wenn das Gewissen mit dir spricht, dann ist es kein Dritter, so wenig wie du das bist, wenn du mit dem Gewissen sprichst, denn du und das Gewissen sind Eines, es weiß alles, was du weißt, und es weiß, daß du das weißst (XVIII, 137).
Der Mensch, der sich im Horizont des Ewigen versteht, wird nie von sich in der Unverbindlichkeit der dritten Person reden. Was bleibt ist das Ich und das Du, in diesen Personen vollzieht sich das Gespräch, das auf die Ewigkeit ausgerichtet ist. Das Ich-Sagen allerdings scheint der Mensch bei Kierkegaard weniger im Gespräch, als vielmehr in der Stille zu lernen. In einer Rede über die Beichte schreibt Kierkegaard: „was ist sie [die Stimme des Gewissens] anderes, als daß in der Ewigkeit die unendliche Stille ist, in der das Gewissen nur mit dem Einzelnen spricht“ (XVIII, 135). Zu einem Einzelnen wird ein Mensch in der Stille.81 Im Zusammenhang der Beichte bedeutet es für einen Menschen, dass er Rechenschaft über sich abgeben muss. Wenn er sein Leben aus der Perspektive der Ewigkeit betrachtet, muss er von allen Vergleichen Abstand nehmen. Ausflüchte sind nicht mehr möglich, deshalb muss er zuerst still werden. Stillesein bedeutet, sich selbst zu einem Nichts zu machen. Dann ist er mit der Stimme des Gewissens allein und ist dadurch zu einem Einzelnen geworden.82 Der Gedanke, dass das Schweigen der Ort ist, an dem der Mensch zu einem Einzelnen wird, ist aus Furcht und Zittern bekannt. Dort war mit Abraham zu erleben, wie schmerzhaft es ist, zu einem Einzelnen zu werden. Dass die Stille oft mit Leiden und Kummer einhergeht und es nur durch sie hindurch möglich ist, ein Einzelner zu werden, kann man auch in einer der Erbaulichen Reden von 1847 lesen, die wiederum von den Lilien und den Vögeln aus der Bergpredigt handelt: ————— 81 Zu dem Gedanken, dass der Mensch in der Stille ganz zu sich selber kommt noch ein Zitat aus dem Schlussteil der Wiederholung: „eine Stille, dass man sich selber sprechen hört, obwohl die Bewegung allein im eigenen Innern geschieht; dort, wo man jeglichen Augenblick das Leben einsetzt, jeglichen Augenblick es verliert und wieder neu gewinnt“ (V, 90). In diesem Zitat wird schön deutlich, dass die Stille der Ort ist, an dem man sich selbst ausgesetzt ist, und dass es sich bei der Stille nicht um Stillstand, sondern um Bewegung handelt. 82 In einer früheren Rede über die Beichte ist schon ganz ähnliches zu hören: ein Mensch soll sich nicht auf Mittelmäßigkeit und Vergleiche einlassen, „such lieber das Vergessen des Schweigens, in ihm bekommst du ganz andere Dinge zu wissen über deine eigene Schuld“ (XIV, 140). Auch in dieser Rede ist betont, wie schwierig der Weg ins Schweigen ist: „es ist viel leichter, nach rechts und nach links zu sehen als in sich hinein zu sehen; viel leichter zu dingen und zu feilschen, so auch zu unterbieten denn zu schweigen – aber das Schwierigere ist dennoch das eine, das not tut“ (XIV, 137). In dieser Rede stellt Kierkegaard auch klar, dass das Alleinsein der einzige Weg dahin ist, seine Sünde wirklich anzusehen, während kein anderer Mensch, insbesondere nicht ein Bußprediger, dazu in der Lage ist, einen Menschen von seiner Sünde zu überzeugen (XIV, 133).
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wenn der Kummervolle wirklich achtgibt auf die Lilien und auf die Vögel, über ihnen und ihrem Leben sich selbst vergißt, während er in dieser Selbstvergessenheit unvermerkt durch sich selbst etwas von ihnen lernt über sich selbst; unvermerkt, denn es herrscht ja eitel Schweigen, niemand ist anwesend, der Bekümmerte ist von allem Mitwissen frei, ausgenommen dem Gottes, seinem eigenen – und dem der Lilien (XVIII, 169).
Wieder ist eine Doppelbewegung beschrieben. Der Mensch vergisst sich selbst, d.h. er macht sich zu einem Nichts. Gerade darin lernt er etwas über sich selbst. Das geschieht in dem Ineinander von dem, was ihm gegenüber ist, also den Lilien und dem, was in ihm selbst ist, wie mit Formulierung des „durch sich selbst von ihnen über sich selbst“ gesagt ist. Was der Mensch in dieser Bewegung lernt, ist, wirklich Ich zu sagen. An dem Thema dieser Erbaulichen Rede, nämlich dass der Mensch sich daran genügen lassen soll, Mensch zu sein, kann man ablesen, dass es beim angemessenen Ich-Sagen darum geht, den Unterschied zwischen Gott und Mensch festzuhalten. Ein Mensch zu sein, schließt ein, ein Sünder zu sein und als solcher sich gegenüber Gott als ein Nichts zu erkennen. In dieser Perspektive sind alle Vergleiche mit anderen Menschen nichtig. Zum Menschsein gehört deshalb wesentlich die Einsicht, dass alle Menschen gleich sind. Nur wer als Einzelner sich vor Gott zu einem Nichts macht, kann Ich sagen, ohne sich mit anderen Menschen zu vergleichen. Die endgültigste Situation, in der jeder Mensch zu einem Einzelnen wird, ist der Tod. In einer Rede am Grabe formuliert Kierkegaard, dass im Tod niemand um das Schweigen herumkommt: Hab du, welche Vorstellung du willst von deinem Leben, ja sogar von dessen Bedeutung für das Ewige, du redest dich nicht vom Tode frei, du tust nicht den Übergang zum Ewigen im Fluß der Rede und mit einem Atemzug: alle haben sie verstummen müssen (XIV, 188).
Auch in dieser Rede beschäftigt Kierkegaard der Gedanken, dass im Tod alle gleich sind. Aus der Gleichheit vor dem Tod folgt für Kierkegaard, dass jeder ein Einzelner werden kann und muss, und das ist für ihn gleichbedeutend damit, dass er stumm wird: „siehe, jeden nimmt der Tod für sich allein und dann wird er stumm“ (XIV, 188). Der Mensch muss im Angesicht des Todes verstummen, der Tod selber hat aber eine durchaus wortgewaltige Seite, die Kierkegaard als die Überredungskraft des Todes bezeichnet: Ja, der Tod überredet meisterhaft; wenn man ihm nur nicht widerspricht, sondern ihn das Wort haben läßt, so überzeugt er gleich im Nu, so daß nie jemand ein Wort einzuwenden hatte oder Sehnsucht verspürt hat nach der Wohlredenheit des Lebens (V, 50).
Die Überredungskraft des Todes scheint dem Menschen die Sprache zu verschlagen, und so wird er ganz von alleine stumm und damit ein Einzel-
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ner. Die Sprache des Todes gehört damit aber ganz eindeutig der Sphäre des Todes an. Wo es keine Diskussion gibt, wo kein Widerspruch möglich ist, wo es zu keiner Begegnung kommt, da dient die Sprache nicht dem Leben. Das Schweigen im Tod hingegen eröffnet eine neue Sprache, denn die Ewigkeit ist für Kierkegaard fest verbunden mit einem vollständigen Verstehen, das im Sprechen mit Gott geschieht.83 Das Schweigen des Todes ist damit, so sehr es vorher Schrecken verbreitet, doch letztlich ein friedlicher Übergang. Im Tod haben so beide Seiten der Stille ihren Ort: Die Stille hat immer das bedrohliche Moment, das damit einhergeht, ein Einzelner zu sein und sich selbst zu verlieren; die Stille strahlt aber auch eine große Ruhe, einen großen Frieden aus. Die friedliche Stille, die ein Übergang zur Gottesbegegnung ist, ist nicht nur im Moment des Todes da, sondern ereignet sich auch im Gebet. Solche friedliche Stille im Gebet beschreibt Kierkegaard so, dass man seinen Sinn im Gebet sammle und innerlich bete, […], daß man anhalte Nacht und Tag, und bewahre die Innerlichkeit im Herzen, und des Sinnes Gegenwärtigkeit und des Gedankens Stille und der Seele ganzes Ja im Gebet, ohne sich zu zerstreuen, ohne sich zu verwirren, ohne seine Andacht zu bereuen, ohne sich zu ängstigen, daß sie ein geschminkter Trug sein möge, ohne widerwärtig zu werden durch sein vieles Beten (VIII, 138).
Es ist die Konzentration auf das Eine, die den Beter auszeichnet, die Sammlung, in der er sich nicht selbst verliert, sondern ganz gegenwärtig, ganz bei sich selbst ist. Die Stille, die einen Menschen dahin führt, sich selbst zu einem Nichts zu machen, ist hier verbunden mit dem Ja der ganzen Seele. Das Nichts, das ein Nein ist, öffnet sich zu einem Ja, das dem Beter von außen zugesprochen wird. Im Kontext dieser Rede geht es um die Erwartung. Diese Erwartung verdichtet sich in dem Ja, denn der Beter erwartet, von Gott in Freiheit neu gesetzt zu werden. In diesem Ja überwindet ein Mensch die Angst.84 ————— 83 Vgl. den Abschnitt 2.4 zu Verstehen und Missverstehen. 84 Im gerade zitierten Abschnitt geht es auch um die Angst, die sich darin zeigt, nur scheinbar zu beten und damit zu einem Heuchler zu werden. Im Begriff Angst stand Sprache, die gebraucht wird, um sich nicht selbst zu verlieren, für die Angst des Menschen vor seinem Nichts. Die Angst verhinderte mit heuchlerischer Sprache, sich in Freiheit empfangen zu können. In der Rede hier ist es die Ungeduld, die den Menschen daran hindert, in die Stille und damit zu einer Gottesbegegnung zu kommen. Was der Mensch lernen muss, ist die Erwartung, also die Erwartung, alles von Gott zu empfangen. Dazu ist Geduld nötig, deshalb wählt Kierkegaard als Thema für diese Rede den Titel Geduld in Erwartung. Das Gebet ist wichtig, den Menschen in die Stille zu führen: „wer betet und fastet, der richtet ja nichts aus; denn das Gebet ist eine müßige Rede auf Erden, ob es auch „im Himmel Frucht schafft“, und Fasten verzehrt die irdische Kraft, und stärkt nicht dazu, mit der Erwartung auszuhalten. Jedoch die Ungeduld ist ein böser Geist, „der nur ausgetrieben wird mit Gebet und viel Fasten“ (VIII, 137).
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Schließlich ist im Zusammenhang der Stille im Gebet noch die Rede über die Beichte aus dem Jahr 1847 anzuführen, in der es einen Abschnitt über die Stille gibt, in dem sich viele schon bekannte Gedanken, besonders aus der Rede über Lilien und Vögel aus dem Jahr 1849, wiederfinden. Zuerst fällt auf, dass Stille wieder mit Einheit verbunden ist: „wer in Wahrheit einig geworden ist mit sich selbst, der ist in der Stille“ (XVIII, 24). Die Stille des Beichtenden wird abgegrenzt von der Stille des Wandersmanns, der dem Dichter in der anderen Rede entspricht: er sucht die Stille in der Natur und versucht seine Sehnsucht zum Ausdruck zu bringen, muss aber feststellen, dass diese Sehnsucht letztlich unaussprechlich bleibt. Der Wandersmann wird auf sich selbst zurückgeworfen: nur er selbst hallt in der Natur wider, auch eine Erfahrung, die der Dichter in der anderen Rede machte. Es kommt zu keinem Verstehen: Es ist die Wehmut der Dichter-Sehnsucht, gegründet im tiefen Mißverständnis, weil der Einsame in der Natur allenthalben umgeben ist von einem All, das ihn nicht versteht, wenn es auch ständig so ist, als müsse es zu einem Verstehen kommen (XVIII, 25).
Die Sehnsucht nach Einheit wie sie in der Natur ist, reicht nicht. Sie führt zu dem Missverständnis, dass der Mensch eine einfache Einheit wie die der Natur erreichen könnte. Die Aufgabe des Menschen ist es aber, zu einer Einheit in Unterschiedenheit zu finden. Die kommt auf anderem Wege zustande: Anders mit dem Beichtenden; auch ihn ergreift die Stille, doch nicht in der wehmütigen Stimmung des Mißverständnisses, sondern mit dem Ernst der Ewigkeit; er ist auch nicht, wie der Wandersmann, ohne recht zu wissen wie, zu den stillen Stätten geführt worden; er ist nicht wie der Dichter, der sehnsuchtsvoll die Einsamkeit sucht und ihre Stimmung: nein, das Beichten ist eine heilige Handlung, zu welcher der Sinn unter Vorbereitung gesammelt ist (XVIII, 26).
Der Weg in die Stille ist beim Beichtenden nichts Zufälliges, er folgt nicht einfach seiner Sehnsucht, sondern er begibt sich aktiv in diese Stille. Kierkegaard verwendet hier nicht den Begriff Entschluss, aber er ist sicher gemeint. Dieser aktive Weg in die Stille ist aber auch hier verbunden mit einem Widerstand. In der Rede über die Lilien und den Vogel sprach Kierkegaard von einem Befehl. Hier spricht er von einer heiligen Handlung und führt damit auch etwas Objektives ein, eine Form, die dem Beichtenden vorgegeben ist, die ihn herausfordert, aber die ihm auch hilft. Das, was letztlich zum Verstehen führt, kommt eindeutig von außen, aber es ist die Aktivität des Betenden gefordert, um sich darauf einzulassen. In der Stille ist in diesem Textabschnitt zuerst noch keine Person, kein Gegenüber, die Situation der Beichte wird einfach als Umgebung bezeichnet, aber sie ist auf Verstehen hin angelegt: „So weiß denn auch die Umgebung sehr wohl,
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was sie mit der Stille sagen will: daß sie Ernst gebietet; sie weiß, daß es ihr Wille ist, verstanden zu werden; sie weiß, daß es neue Schuld ist, wenn sie mißverstanden wird“ (XVIII, 26). An solchen Formulierungen ist zu erkennen, dass ein Verstehen das Ziel der Beichte ist. Dabei geht es einmal darum, sich selbst in seiner Schuld zu verstehen. Das Verstehen zielt aber eindeutig auf ein Verstehen durch Gott, das ein Gespräch ist, im Text bekommt der Beichtende in dem Moment, in dem er still geworden ist, ein Gegenüber: den Allwissenden. Das Verstehen des Allwissenden ist ein sehr besonderes, Kierkegaard übernimmt die Formulierung aus Psalm 139, dass er jedweden Gedanken von ferne versteht, und führt dies aus. Dieses Verstehen ist geschützt vor allen Missverständnissen: da es sich um einen Allwissenden handelt, ist es so, dass man spricht in Schweigsamkeit, auf daß niemand es wage, ihn betrügen zu wollen – durch Reden oder durch Schweigen – so wie der eine Mensch vor dem andern vieles verbergen kann, indem er schweigt, zuweilen sogar noch mehr, indem er redet (XVIII, 26).
Bei diesem Verstehen geht es nicht darum, dass Gott etwas versteht, sondern darum, dass Gott und Mensch sich verstehen und daraus der Mensch sich selbst neu verstehen lernt: „Der Beichtende ist auch nicht wie einer, der sich einem Freund anvertraut, den er, vorher oder hernach, einweiht in etwas, das dieser vorher nicht gewußt hat: der Allwissende erfährt nichts über den Beichtenden, dagegen erfährt der Beichtende etwas über sich selbst“ (XVIII, 27). Diesen Gedanken überträgt Kierkegaard gleich im Anschluss ausdrücklich auf das Gebet: Eine vorschnelle Erklärung kann glauben, beten sei ein müßiges Tun, weil eines Menschen Gebet doch den Unveränderlichen nicht verändert; aber wäre denn das auf die Dauer wünschenswert, könnte der veränderliche Mensch nicht leicht dahin kommen zu bereuen, daß er Gott verändert hätte! Die wahre Erklärung ist deshalb auch das einzig Wünschenswerte: Das Gebet verändert nicht Gott, sondern es verändert den Betenden (XVIII, 27).
Diese Veränderung entspricht dem, was früher beschrieben wurde als die neue Sprache, die sich dem Beter eröffnet. Zu dieser Sprache gehört eine bestimmte Sicht des Menschen, und deshalb kann der Beter sich selbst anders betrachten: er versteht sich selbst neu und ist dadurch verändert. Mit diesem Verstehen geht es nicht mehr um die Stille, sondern um die dritte Bewegung, die im Gebet geschieht und in der der Mensch zu Gott und sich selbst findet. Diese Bewegung ist eine des Sprechens und nicht mehr des Schweigens. Auch wenn der Weg des Gebets zuerst ins Schweigen führt, stellt Kierkegaard immer wieder sehr deutlich klar, dass Beten für ihn letztlich ein Sprechen ist. Das tut er mit einem Bezug auf Röm 8, 26,
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wo Paulus davon spricht, dass der Geist uns mit unaussprechlichen Seufzern vertritt, wo wir nicht wissen, was wir beten sollen. Kierkegaard versteht den Seufzer nicht als einen Ausdruck dafür, dass es in der Begegnung zwischen Gott und Mensch letztlich im Unausprechlichen bleibt, sondern interpretiert den Seufzer dezidiert sprachlich.85 Er grenzt sich ab gegenüber der Einstellung des sehnsuchtsvollen Dichters, der nicht zum wirklichen Gebet zu Gott als Gegenüber kommt: Ein Dichter hat ja allerdings gesagt, ein Seufzer zu Gott ohne Worte sei die beste Anbetung. […] Ein Seufzer ohne Worte ist nämlich die beste Anbetung, wenn der Gedanke an Gott über dem Dasein nur hindämmern soll, gleich den blauen Bergen am Horizont, wenn die Unklarheit des Seelenzustandes mit der größtmöglichen Vieldeutigkeit befriedigt werden soll (XIV, 121).
Gegenüber diesem Sich-Verlieren in Vieldeutigkeiten und Möglichkeiten, also in der Angst, will Kierkegaard den Seufzer anders verstehen: „Soll jedoch Gott der Seele gegenwärtig nahe sein, so findet der Seufzer wohl den Gedanken und der Gedanke wohl das Wort – aber auch die Schwierigkeit, von der man sich nichts träumt aus der Entfernung“ (XIV, 121). Der Geist, der den Seufzer des Menschen als Gebet von Gott bringt, darf bei Kierkegaard also nicht als Unbestimmtheit verstanden werden. Der Geist steht immer für die klare Unterscheidung und ist mit Sprache verbunden. Das Dasein dämmert nicht einfach dahin, sondern es ist ein Widerspruch gesetzt. Der führt zu den zum Schluss angesprochenen Schwierigkeiten, von denen der Geist, der nur unverbindlich seine Möglichkeiten durchspielt, nichts ahnt. Der Geist findet aber das Wort und damit eine Verbindung, in der die Widersprüche zusammengehalten werden können.86 Schön ist an ————— 85 Als Beispiel einer theologischen Auslegung, in der diese Stelle nicht sprachlich verstanden wird, sei Paul Tillich genannt (TILLICH, P., Das Paradox des Gebets, in: Das neue Sein, religiöse Reden, 2.Folge, Stuttgart 1957. 128–131). Tillich sagt dort zum Geist: „Gott selbst in uns: das ist es, was mit dem Wort Geist gemeint ist. Geist ist ein anders Wort für den „gegenwärtigen Gott“ mit seiner erschütternden, lebensspendenden und umwandelnden Macht“ (130). Das Gebet des Geistes ist für Tillich etwas, das „zu tief ist für Worte“, es ist vielmehr „Erhebung zu Gott in der Kraft Gottes“ (131). Das Paradox des Gebets bezieht Tillich darauf, dass die Kluft zwischen Gott und Mensch nur von Gott überbrückt wird. Es geht ihm nicht um das Paradox, auf das es Kierkegaard ankommt, dass da, wo Menschen keine Worte haben, ihnen von Gott her eine neue Sprache zukommt. 86 Zur Unterscheidung, die der Geist immer in sich trägt vgl. auch Auslegung der Pfingstgeschichte, die Kierkegaard 1851 vorlegte (XXIX, 105–129). Der Geist macht lebendig, aber durch den Tod hindurch. Diese Unterscheidung in ihm selbst prägt die Sprache des Geistes. Kierkegaard führt das in dieser Rede anhand der Trias Glaube, Hoffnung, Liebe vor. Die Hoffnung ist eine Hoffnung wider die Hoffnung, die Menschen nicht verstehen können, der Geist aber umso besser versteht und den Glaubenden in der paradoxen Hoffnung bestärkt. Es geht niemals um Unaussprechlichkeit. Das Schweigen hat seinen Ort in dem, was Kierkegaard in dieser Rede das Absterben nennt, also im Sich-Verabschieden von aller menschlichen Hoffnung. Der Geist hingegen steht für die neue Sprache und für ein Verstehen, aber es handelt sich um die Sprache, die einen
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dieser Textstelle, dass Gott nicht ein Gott ist, der als Gedanke in der Ferne ist, sondern dass er der Seele nahekommt: Nicht der Mensch macht sich auf zu Gott, sondern Gott kommt dem Menschen nahe in dem Seufzer, der zu einem Wort wird. Der Geist setzt die Unterschiede zu einer neuen Einheit zusammen. Der Geist ist es, der das Gespräch des Menschen in sich selbst führt, dieses Gespräch, in dem der Mensch sich selbst neu verstehen lernt und in dem Worte eine neue Bedeutung bekommen. Von dieser Bewegung des Gebets, die klar auf Reden und nicht auf Schweigen ausgerichtet ist, kann man auch lesen in einer der Christlichen Rede von 1847 über das Leiden. Kierkegaard stellt sie unter die Frage, wie die Last leicht sein kann, wenn das Leiden schwer ist. Dies ist in oberflächlichem und auch im tieferem Sinn eine sprachliche Frage: Wenn wir vom Lastentragen sprechen, so macht die Alltagssprache einen Unterschied zwischen einer leichten Last und einer schweren Last; wir sagen, es sei leicht, die leichte Last zu tragen, schwer, die schwere zu tragen. Aber davon ist jetzt nicht die Rede, vielmehr ist die feierliche Rede davon, daß ein und dieselbe Last schwer ist und doch leicht (XVIII, 246).
Kierkegaard spricht von einer Verwandlung, die geschieht, wenn ein Mensch eine schwere Last als leicht zu tragen empfindet. Er fragt, wie die Verwandlung geschieht und antwortet: Doch wohl dadurch, dass ein Gedanke, eine Vorstellung zwischeneintritt. Die Last ist schwer, sagt er [der Leidende], und er macht halt, aber jetzt treten der Gedanke und die Vorstellung zwischenein, und er sagt: nein, o nein, sie ist dennoch leicht. Ist er deshalb doppelzüngig, weil er dergestalt redet? O nein, wenn er in Wahrheit desgestalt redet, dann ist er in Wahrheit verliebt. Also mit Hilfe des Gedankens, der Vorstellung, der Verliebtheit geschieht die Verwandlung (XVIII, 247).
————— Widerspruch in sich trägt, die Glaube wider alle Wahrscheinlichkeit, Hoffnung wider Hoffnung ist, Liebe wider den Hass. Dass im Geist immer die Unterscheidung gegeben sein muss, ist auch der Grund dafür, dass Kierkegaard das Gebet des Mystikers kritisch sieht. Er bewundert am Mystiker, dass er sich selbst absolut und in seiner Freiheit gewählt hat. Er beobachtet, dass das freie Verhältnis zu Gott sich in der Sprache des Mystikers oft dahin ausdrückt, dass er das absolute Du ist. Er wählt sich in vollkommener Vereinzelung, die Welt ist für ihn tot, die Seele wählt Gott oder sich selbst (II, 257). Im Gegensatz zum Ethiker, bei dem das Gebet, selbst noch das Dankgebet, immer das Gepräge des Vorsatzes hat, ist es für den Mystiker Ausdruck seiner Liebe. Er hat eine Sprache, in der allein er zur Gottheit sprechen kann, in die er sich verliebt hat. Kierkegaard erinnert das an Liebende, die sich nach einem Ausdruck sehnen, in dem sie ihre Liebe aushauchen können, und deren Seelen in leisem Geflüster verschmelzen. Das Gebet des Mystikers wird umso seliger, je weniger es am Inhalt hängt, sondern er in seinem Seufzen sich selbst entschwindet (II, 259). Dies ist nicht das Seufzen, in dem der Geist für den Menschen eintritt. Das Reden des Geistes von der Liebe trägt den Unterschied in sich, den der Mystiker nicht wahrnimmt.
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Was ist dieser Gedanke? Zuerst ist festzuhalten, dass es ein Gedanke ist, der aus einer Beziehung entsteht: der Gedanke wird in einem Atemzug genannt mit dem Verliebtsein. Weil ein Mensch in einer besonderen Beziehung lebt, kann er eine Last anders empfinden, als er das unmittelbar tun würde. Der Gedanke ist nichts Abstraktes, das ein Mensch mit seinem Verstand erfasst. Der Gedanke ist eine Bewegung im Innern des Menschen, die daraus entsteht, dass er von einem anderen angesprochen wird und sich im Verliebtsein an ihn bindet. Verliebtsein ist die Beschreibung dafür, sich selbst in einem anderen ganz nahe zu sein, sich selbst zu verlieren und gerade darin sich selbst zu finden. Die Struktur dieser Bewegung ist eine sprachliche: Gegenübersein und ganz bei sich Sein kommen zusammen. Diese von ihrer Struktur her sprachliche Bewegung manifestiert sich darin, dass sie einen Gedanken hervorbringt, der einem Satz eine neue Bedeutung gibt: aus der Bewegung des Verliebtseins entsteht der paradoxe Satz, dass eine schwere Last leicht ist.87 Was zuerst noch ganz allgemein über das Verliebtsein gesagt ist, also z.B. über einen Mann, der seine Geliebte vor dem Ertrinken rettet und sie dabei auf dem Rücken trägt, wird sogleich auf den Glauben übertragen. Der Gedanke des Glaubens ist, dass das eigene schwere Leiden heilsam ist. Aber daß das schwere Leiden heilsam ist, das muß man glauben, sehen kann man es nicht. Hinterdrein kann man vielleicht sehen, daß es heilsam gewesen ist, aber in der Zeit des Leidens kann man das nicht sehen, und auch nicht hören, wenn auch noch so viele es noch so liebevoll vor einem wiederholen: man muß es glauben. Der Gedanke des Glaubens muß da sein, und das innerliche vertrauensvolle, wiederholte Aussprechen dieses Gedankens vor sich selbst; denn verhält es sich so, daß das Wort die bindende Macht ist, dass man sich mit einem Wort für ewig bindet, dann verhält es sich auch so, daß das Wort die lösende Macht ist, die das Joch der Knechtschaft löst, so daß der Glaubende frei unter dem Joch geht, die das Band der Zunge löst, so daß das Stummsein aufhört und die Sprache zurückkehrt mit der Anbetung (XVIII, 248).
Der Gedanke, der so viel bewirkt, entfaltet sich im „innerlichen vertrauensvollen, wiederholten“ Aussprechen vor sich selbst. Solches Aussprechen hat seinen Ort im Gebet. Das Gebet ist innerlich, also ein Geschehen im Innern des Menschen. Es ist vertrauensvoll, also in seinem Gesprächscharakter dem Verliebtsein ähnlich, weil es in einer Beziehung gründet. Es ist nicht ein einmaliges Begreifen von Fakten, sondern ein Geschehen, das immer wiederholt werden muss, damit der Gedanke seine Wirkung entfalten kann. Die bindende Macht des Wortes ist assoziativ verbunden mit der ————— 87 Kierkegaard bemerkt einige Zeilen später auf dieser Seite: „Ein Gedanke muß da sein; wofern er stets vonnöten ist, dann wohl besonders hier – um den Menschen vor dem Tier auszuzeichnen“ (XVIII, 247). Da Kierkegaard sonst den Geist als Unterschied des Menschen vom Tier nennt (vgl. oben Kapitel 1.1), liegt es nicht fern, auch hier den Gedanken mit dem Geist in Verbindung zu bringen.
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Ehe, so dass das Verliebtsein als Motiv noch einmal im Hintergrund auftaucht. Hier geht es um die lösende Macht eines Wortes. Von solch befreiender Kraft eines Wortes war schon die Rede bei den Worten, die aus der Angst der Verschlossenheit befreien konnten. Auch da war es das Wort des Glaubens, das die Macht hatte, einen Menschen, der sich selbst gefangen gesetzt hatte, zurück in die Freiheit zu bringen. Im Gebet vollzieht sich diese Verwandlung, in der sich das Schweigen in neue Sprache verwandelt. Die schwere Last, die einen Menschen so sehr drückte, dass es ihm die Sprache nahm, wird durch einen einfachen Satz in seiner neuen Bedeutung zu einer leichten Last. Der paradoxe Satz erweist sich im Glauben als wahr. Die Widersprüche, an denen sich ein Mensch aufrieb, werden zu einer neuen Einheit zusammengeführt, in der sich ein Mensch als einer verstehen kann, der sein Leiden mit Hilfe Gottes als ein leichtes oder zumindest tragbares Leiden annehmen kann. Dessen versichert sich der Gläubige im Gebet, das ein wiederholtes Aussprechen solch paradoxer Aussagen ist, die sich von der liebenden Beziehung zu Gott her als wahr im eigenen Leben erweisen. Das Zusammenhalten kann nicht nur ein Zusammenhalten von Widersprüchen sein, sondern auch ein Zusammenhalten einer Lebensgeschichte. Auch dabei ist es das wiederholte Aussprechen, bei dem ein Wort als Gebetswort seine Wirkung entfaltet. In den ganz frühen Erbaulichen Reden beschreibt Kierkegaard, wie ein Gebetswort einen Menschen sein Leben lang begleitet.88 Es geht ihm um die kurze Bitte, die vor und nach den Schriftlesungen gesprochen wird: „… und endlich selig werden mögen“. Ein Älterer kann diesen Satz müde und lebenssatt sprechen, ein Jüngerer sieht bei diesem Satz seinen Lebensweg an, der noch vor ihm liegt. Kierkegaards Überlegungen zu diesem Gebetssatz gehen dann selbst in ein Gebet über: Darum, Vater im Himmel, wollen wir Dir unsern Sinn und unsere Gedanken befehlen, auf daß unsere Seele von des Lebens Freuden und des Lebens Kümmernissen nie solchermaßen gefangen sein möge, daß sie dies lösende Wort vergäße, und ferner, auf daß nicht zu oft Ungeduld und innere Unruhe es auf unsere Lippen legen mögen; und wenn alsdann dies Wort als ein getreuer Freund uns geleitet hat in des Lebens vielerlei Verhältnissen, sich in uns geschickt hat, ohne jedoch sich selbst untreu zu werden, unser Trost gewesen ist, unsre Hoffnung, unser Freude, unser Jauchzen, wenn es uns
————— 88 Wie sich Worte mit einem Menschen entwickeln, beschreibt Kierkegaard auch sehr eindrücklich am Beispiel von der bildlichen Rede vom Vater (VII, 26f) Zuerst verbindet ein Mensch mit der Rede vom Vater die väterliche Güte. Dann entdeckt er die Fortsetzung des biblischen Satzes, in dem davon die Rede ist, dass die Menschen „arg“ sind, und er beginnt über die Sünde nachzudenken. Zuerst war das Wort also ein Wort des Trostes, dann kam es zum Zweifel, die gesetzliche Seite des Wortes wurde entdeckt. Am Ende geht es dann darum, gerade als Sünder die väterliche Güte zu empfangen.
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laut und begeisternd erklungen ist, leise und einlullend, wenn es mahnend und erinnernd zu uns gesprochen hat, aufmunternd und lockend, so möge unsere Seele in unsrer letzten Stunde gleichsam auf den Flügeln dieses Worts fortgetragen werden von der Erde nach dorten, wo wir seinen ganzen Sinn fassen können, so wie denn eben der Gott, welcher uns mit seiner Hand durch die Welt geführt, ja eben er es ist, der diese Hand zurückzieht, seine Arme öffnet, um mit ihnen zu umfangen die sehnsuchtsvolle Seele. Amen (III, 406).
Alte erprobte Gebetsworte werden zu Begleitern, sie erfahren ihre Bedeutung gerade daher, dass sie in ganz verschiedenen Lebenssituationen gesprochen worden sind. Sie begleiten einen Menschen bis zu seinem Tode und tragen ihn im Übergang in das Leben, das der Gläubige sich bei Gott erhofft. Das Entscheidende bei diesen Gebetsworten, die die Widersprüche im eigenen Selbst und die ganze Lebensgeschichte zusammenhalten, ist, dass sich der Mensch von ihnen als Du ansprechen lassen muss. Er muss sie auf sein eigenes Leben beziehen, sonst sind sie keine Gebetsworte. Mit dem Bezug auf das eigene Leben bricht der Widerspruch erst auf, weil sie im Gegensatz zu unmittelbarer Erfahrung stehen. Darauf muss sich der Beter einlassen. Erst dann kann das Wort seine Kraft entfalten, es wird die neue Bedeutung sichtbar, die Widersprüche zusammenhalten kann und in der ein Mensch sich selbst neu verstehen lernt. Der Mensch muss bereit sein, sich als Du anreden zu lassen: „es ist das Werk deiner Selbsttätigkeit, dass du um deiner selbst willen, der Rede behilflich bist und durch dich selbst der sein willst, zu dem: Du gesagt wird“ (XVIII, 130). Hier ist wieder das Ineinander von Aktivität und Passivität: es geht um eine Selbsttätigkeit des Beters, aber diese Tätigkeit besteht darin, nichts zu tun als sich anreden zu lassen. Der Mensch, der sich von Gott als ein mit Du Angesprochener erfahren hat, der entdeckt auch, dass das Du für seinen Umgang mit anderen Menschen die entscheidende Person ist. Kierkegaard bemerkt in der Schrift über der Liebe Tun, dass ein Freund oder ein Geliebter bezeichnenderweise als das andere Selbst bezeichnet werden, als das andere Ich, während der Nächste das andere Du ist (XIX, 61). Im Kontext der Schrift geht es an dieser Stelle darum, dass Vorliebe eigentlich Selbstliebe ist, weil sie danach fragt, was sie einem selbst gibt. Nächstenliebe hingegen ist unabhängig von der anderen Person, und für diese Anerkennung der Selbstständigkeit des Anderen, die auch mit Fremdheit verbunden sein kann, vor der man erschrickt, steht das Du. Ebenso wie Gott durch die Anrede eines Menschen als Du den Abstand zwischen ihm und dem Menschen überwindet, so überwindet auch der Gläubige in der Nächstenliebe durch sein Du den Abstand zu einen Menschen, um den er sich nicht kümmern müsste, wenn es nur daran denken würde, was es ihm für einen Vorteil bringt. Selbstverständlich ist das
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jedenfalls nicht. Kierkegaard stellt fest, dass Kinder mein-mein sagen, Jugendliche Ich-Ich, und erst die Reife der Ewigkeit sagt: Du sollst (XIX, 101). Aus diesem Befehl entsteht Nächstenliebe, in der auch Menschen zu anderen Menschen Du sagen. In der Entwicklung eines Menschen geht es genau umgekehrt. Zuerst wird ein Kind als ein Du angesprochen, dann lernt es das Ich-Sagen, und zuletzt entwickelt sich das Abstraktionsvermögen, das den sprachlichen Gebrauch der dritten Person ermöglicht. Auf dem Weg des Glaubens scheint der Mensch genau den umgekehrten Weg zurücklegen zu müssen. Das passt dazu, dass Kierkegaard oft davon spricht, zur Einfältigkeit zurückzukehren und wieder zu werden wie ein Kind. Ich habe versucht, die einzelnen Bewegungen des Gebets von Reden über die Stille hin zu neuem Reden, vom Sprechen in der dritten Person über das Ich-Sagen hin zum Angeredetwerden im Du hintereinander darzustellen.89 Es handelt sich aber nicht um einzelne Schritte, die nacheinander absolviert werden, sondern um eine flüssige Bewegung, die immer wieder neu vollzogen wird.90 Deshalb verwundert es nicht, wenn im Vollzug des Gebets alle drei Personen letztlich ineinanderfallen. In der zweiten Rede über Lilie und Vogel von 1849 gibt es solch einen Satz, in dem genau das beschrieben wird. In der Stille ist es, so heißt es dort, die Stimme Gottes, „welche rings um dich und in dir zu dir spricht“ (XXII, 52). Das „zu dir“ ist am leichtesten verständlich, es entspricht dem Angeredetwerden in der Stille. Gott spricht den Menschen, der sich nicht mehr selbst als selbst setzten will, denjenigen, in dem alle Fragen und eigenen Rechtfertigungen still geworden sind, als Du an. Durch diese Anrede wird der Mensch als Selbst gesetzt, das sich in Gott gründet. Gottes Stimme spricht darüber hinaus auch „in dir“. Die eigene Stimme ist verstummt, oder wie Kierkegaard formuliert: du bist allein in der Stille „dermaßen allein, dass auch jeglicher Zweifel, und jeglicher Einwand, und jegliche Entschuldigung, und jegliche Ausflucht, und jegliche Frage, kurz jegliche Stimme zum Schweigen gebracht ist in ————— 89 Nur nebenbei sei bemerkt, dass der Wechsel der Personen von der dritten zur zweiten Person hin in biblischer Gebetssprache erprobt ist. Zu beobachten ist er z.B. am prominenten Gebetstext Ps. 23, wo aus der anfänglichen allgemeinen Aussage über Gott den Hirten dieser bald angeredet wird als derjenige, der den Beter sicher leitet und ihn umsorgt. Neben der historischen Betrachtungsweise, die aus solchen Übergänge Erkenntnisse über die Geschichte des Textes ableitet, kann dieser Personenwechsel auch interpretiert werden als sprachliche Entsprechung der Aussage des Textes: In einem Gebet, das von Vertrauen handelt, vertraut sich der Beter immer mehr Gott an und kann ihn deshalb mit dem vertrauten Du anreden. 90 Religiöse Sprache soll nicht eine sein, die hilflos und ängstlich nachgesprochen wird. Sondern sie soll ein spontanes, lebendiges, ständig sprachschöpferisches Geschehen sein. Als solche entfaltet sich sie Energie, die jeder Sprachvollzug bedeutet, die aber eine ganz besondere Energie ist da, wo das Sprachgeschehen sich im Gebet zwischen Gott und Mensch vollzieht. Bei einem solchen dynamischen Sprachverständnis sei an die bekannte Formulierung Humboldts erinnert, dass Sprache kein Werk (Ergon), sondern Tätigkeit (Energeia) ist (Humboldt, 418).
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deinem eigenen Innern“ (XXII, 52). Es bleibt aber Gottes Stimme „in mir“, also eine Sprache, die ganz von Gottes Sprache durchdrungen ist. Und Gottes Stimme ist „rings um dich“. Für den hörenden Menschen kann alles ringsum zur Stimme Gottes werden. Kierkegaard führt das anhand der Lilie und dem Vogel vor. Das ist sicher nur beispielhaft. Vieles andere in der Natur, verschiedene Gegenstände und auch Menschen können in ähnlicher Weise durchsichtig für die Stimme Gottes werden, von ihr in Gebrauch genommen werden, wie es oben hieß. Die Stimme Gottes rings um dich und in dir zu dir ist eine eindringliche Beschreibung der Nähe Gottes, von der Kierkegaard vorher sprach: „denn eben dort, in der Stille, wird es deutlich, wie nahe Gott dir ist“ (XXII, 50). Das Sprechen im Gebet, in dem die Personen zusammenfallen, birgt noch ein weiteres Wunder in sich, nämlich, dass Reden und Schweigen gleichzeitig sein können. „Die Hauptsache ist, dass der Hörer durch sich selbst, mit sich selbst, zu sich selbst, mit Hilfe der Rede vor Gott in Schweigsamkeit spricht“ (XVIII, 131). Im Hören fällt beides zusammen, der Beter ist still, und er ist doch ganz an der Rede beteiligt – oder eben mit der paradoxen Formulierung Kierkegaards ausgedrückt, er spricht in Schweigsamkeit. Die verschiedenen Dimensionen des Gottes- und Selbstbezugs kommen in diesem Geschehen vor: Der Beter spricht durch sich selbst. Diese Formulierung setzt voraus, dass der Mensch in der Sprache aus sich heraustreten kann und sein Sprechen als den Ausdruck seines Selbst erleben kann. Der Beter spricht mit und zu sich selbst, d.h. er spricht sich selbst an und erweist sich damit als ein Wesen, das eine Synthese ist, also aus zweien zusammengesetzt und so sich selbst ansprechen kann. Als eine wirkliche Synthese kann er sich aber nur von Gott her verstehen, und deswegen geschieht dieses Sprechen zu sich selbst mit Hilfe der Rede vor Gott. In seinem Gottesbezug findet der Mensch also schließlich sich selbst. Dieses Geschehen bezeichnet Kierkegaard als ein Sprechen in Schweigsamkeit mit Hilfe der Rede vor Gott. Der Beter redet also. Nach dem, was Kierkegaard bisher über das Beten preisgegeben hat, stelle ich mir dieses Reden im Wesentlichen als ein wiederholtes Nachsprechen von Bibelworten vor. Es sind Worte Gottes, von denen der Beter sich anreden lässt und die er auf sein Leben zu beziehen versucht. Dieses Reden ist aber gleichzeitig Schweigsamkeit, weil das Verständnis des Beters von sich selbst von diesen Worten erst zum Schweigen gebracht werden muss: der Beter macht sich selbst zu einem Nichts. Die Worte, in denen ein neues Verständnis seines Selbst zu finden ist, sind nicht die Worte des Beters, er kann sie nur als ein Schweigender hören. Sobald er sich aber von ihnen anreden lässt, spricht er die Worte der Bibel aus und macht sie zu seinen eigenen Worten. Er hat die neue Sprache des Glaubens gelernt und kann sich so als Selbst neu verstehen. So liegen Reden und Schweigen im Gebet genauso differen-
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ziert ineinander wie das Aktivsein und Passivsein, in denen ein Mensch sich selbst als Selbst setzt, bzw. setzen lässt. Dieses Ineinander von Reden und Schweigen taucht noch öfter auf, so z.B., wenn Kierkegaard über Maria schreibt als einer, die von sich als des Herren Magd spricht und Kierkegaard behauptet, dass diese Rede eigentlich Schweigen ist (XXVII, 5). Marias Aussage, des Herrn Magd zu sein, ist für Kierkegaard gleichbedeutend damit, dass Maria sich vor Gott zu einem Nichts macht. Das wiederum ist eine Einstellung zu sich selbst, der das Schweigen entspricht, auch wenn Worte ausgesprochen werden.91 Ebenso gibt es auch den umgekehrten Zusammenhang, dass es eine Stille gibt, in der Rede ist. Eine solche redende Stille verbindet Kierkegaard zum Beispiel mit Kirchengebäuden.92 In Gottes Haus ist Friede, sagt er, und wer dahin geht, sucht Stille. Auch wenn dort geredet wird, wächst Stille. „Selbst wenn da geredet wird, bist du es ja, der mit sich selber redet durch des Redenden Stimme“ (XIV, 115). Was der Gottesdienstbesucher aus dem, was er hört, macht, weiß weder der Redner noch sonst jemand. Entscheidend ist, was der Hörer in einem Gespräch in sich selbst aus dem entwickelt, was er hört. Wenn er in diesem Sinne alles auf sich bezieht, werden die Menschen, die noch mit ihm in der Kirche sind, unwichtig, und deshalb wächst die Stille, in der er sich ganz seinem Gewissen und der Ansprache durch das Wort Gottes aussetzen kann. Stille bedeutet wieder, dass aus einem Menschen ein Einzelner geworden ist. Als Einzelner redet er vor Gott, und dabei ist es egal, ob ein anderer die Worte spricht oder ob er selber sie ausspricht. Diese Stille ist unabhängig davon, ob geredet oder geschwiegen wird. Nichts Äußeres kann einem Menschen diese innere Stille nehmen, so wie auch niemand außer ihm selbst sie ihm geben kann. Kierkegaard weiß darum, wie schwer es ist, sich dieser Stille auszusetzen, aber er macht Mut dazu, in dieser Stille auszuhalten, denn sie ist nicht „die des Todes darinnen du umkommst, sie ist nicht zum Tode, diese Krankheit, sie ist der Übergang ————— 91 In diesem Zusammenhang kann Kierkegaard den paulinischen Satz, dass die Frau in der Gemeinde schweigen solle, in positiver Weise interpretieren: das Schweigen vor Gott ist unbedingt nötig auf dem Weg zu Gott, und das muss jeder von Frauen, die das können, lernen (XXVII, 5). 92 Schweigen ist nichts Einzelnes, Bestimmtes. Es besteht nicht darin, dass man nicht spricht. Es ist vielmehr eine Grundstimmung, die wohltuende Macht ausübt wie ein sanfter Lichtschein (XXVIII, 85f). So ist dieses Schweigen, in dem doch Rede ist, auch in der Natur zu finden. Johannes Climacus beschreibt einmal eine Abendstimmung, die „eine rätselhafte Sprache“ ist. Er erlebt diese Stimmung als eine Begegnung mit dem Unendlichen und bleibt immer länger, „überredet vom Wind der Nacht, wenn er eintönig sich selbst wiederholt, wenn er Wald und Wiese durchsucht und seufzt, als suche er etwas, überredet von dem fernen Widerhallen der Stille in sich selbst, als ahne sie etwas, überredet von der erhabenen Ruhe des Himmels, als sei es gefunden, überredet von dem gleichsam hörbaren lautlosen Fallen des Taus, als wäre dies die Erklärung und der Unendlichkeit Erquickung, gleich der Fruchtbarkeit einer stillen Natur, nur halb verstanden wie die halbe Durchsichtigkeit des Nachtnebels“ (XVI/1, 227).
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zum Leben“ (XIV, 116). Hier ist noch einmal ganz deutlich gesagt, dass die Stille nur ein Übergang ist. Nach diesem Übergang ist eine Sprache, in der Reden und Schweigen zusammengehören. In solchem Gebet, in solcher Sprache findet der Mensch seine Bestimmung: Geist zu sein, das ist des Menschen unsichtbare Herrlichkeit. […] Der Aufrechte ist […] ein Anbetender. Der aufrechte Gang war die Auszeichnung, aber sich anbetend niederwerfen zu können, ist doch das herrlichere; […]. Herrlich ist es, gekleidet zu sein wie die Lilie, noch herrlicher, der aufrechte Herrscher zu sein; aber am herrlichsten, nichts zu sein, indem man anbetet. Anbeten ist nicht herrschen, und doch ist die Anbetung eben das, wodurch der Mensch Gott gleicht, und in Wahrheit anbeten zu können ist der Vorzug der unsichtbaren Herrlichkeit vor allen Geschöpfen (XVIII, 201).
In der Anbetung gleicht der Mensch Gott. Anbetung ist das Gebet, in dem der Mensch schweigt, weil er sich seines Nichts bewusst ist, und redet, weil er sich als Gottes Geschöpf weiß. In der Anbetung redet der Mensch in der Sprache, die ihm ganz von Gott zukommt. So wie Gott ein sprachliches Wesen ist, das sich zu sich selbst sprachlich verhält und in dem der ewige Lobgesang klingt, so soll auch der Mensch werden: er wird Gott gleich, indem er sich in die Sprache Gottes in der Anbetung hinein nehmen lässt.
4. Wort und Tat im Gespräch Wort und Tat im Gespräch Ein grundlegender Text Kierkegaards zur Sprache bleibt noch genauer zu betrachten: das Fragment über den Zweifel. Dies soll in Abschnitt 1 dieses vierten Kapitels geschehen. Im Fragment über den Zweifel wird der Begriff der Wiederholung eingeführt. Insofern bietet es sich an, in einem zweiten Abschnitt über das Buch der Wiederholung noch einiges anzufügen. In einem dritten Teil sollen schließlich einige Aspekte aus diesen Texten aufgegriffen und weitergeführt werden. Das geschieht unter den Stichworten des leidenschaftlichen Wortes und dem Verhältnis von Wort und Tat. Beide Stichworte sollen zu einer Klärung dessen beitragen, was das Wort Gottes ist.
4.1 Das Wort zwischen Idealität und Realität Das Wort zwischen Idealität und Realität 1842/43 arbeitet Kierkegaard an einer Schrift mit dem Titel Johannes Climacus oder de omnibus dubitandum est. Die Schrift ist gestaltet als eine Erzählung, die der Entwicklung des als Pseudonym bekannten Johannes Climacus nachgeht. Ausformuliert hat Kierkegaard nur den ersten Teil des Buches und das erste Kapitel eines zweiten Teils.1 Auf den letzten Seiten dieses Fragments finden sich grundsätzliche Äußerungen zum Thema Sprache, die jetzt Thema sein sollen.2 Das erste Kapitel des zweiten Teils steht unter der Überschrift: Was es heißt zu zweifeln? Ausgeführt hat Kierkegaard von diesem Kapitel nur den ————— 1 Zum entstehungsgeschichtlichen Hintergrund dieses Textes vgl. das Kapitel „Kierkegaard’s Polemic with Martensen in Johannes Climacus, or de omnibus dubitandum est.“ in dem Buch STEWART, J., Kierkegaard’s Relations to Hegel reconsidered, Cambridge u.a. 2003. Stewart stellt fest, dass der erste Teil des Fragments über den Zweifel in polemischem Stil gehalten ist und interpretiert ihn als Auseinandersetzung mit Martensen und seinen Studenten an der Kopenhagener Universität. Der zweite Teil setzt noch einmal neu an und stellt wohl Kierkegaards eigene Überlegungen dar. Stewart interpretiert das in Sinne der Grundthese seines Buches, dass nach der polemischen Auseinandersetzung mit den dänischen Hegelianern eine ernsthafte Beschäftigung mit Hegel vorliegt, die sehr eng an diesen angelehnt ist. Stewart weist das im Einzelnen nach durch Parallelen dieses Kapitels zu Hegels Kapitel über die sinnliche Gewissheit in der Phänomenologie des Geistes. Schon am Anfang des Buches spielt die Sprache für die Entwicklung des jungen Johannes 2 Climacus eine zentrale Rolle. Anhand der Sprache wird er aufmerksam auf Widersprüchlichkeiten, aus denen sich dann der Zweifel ergibt. Vgl. dazu oben das Kapitel 1.1.
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ersten Paragraphen unter der Überschrift: ‚Wie die Existenz beschaffen sein muß, damit das Zweifeln möglich werde?‘ Zuerst stellt Johannes fest, dass er diese Frage nicht auf empirischer Ebene angehen kann. Zu viele Anlässe gibt es, die Zweifel auslösen können. Die Aufgabe, die Johannes sich stellt, lautet: „Er mußte die ideelle Möglichkeit des Zweifels im Bewußtsein zu ermitteln suchen“ (X, 153). Er fragt also auf grundsätzlicher Ebene: Die ideelle Möglichkeit des Zweifels „mußte ja die gleiche bleiben, wie verschieden die den Anlaß gebende Erscheinung auch war, da sie, ohne selbst von der Erscheinung erklärt zu werden, die Wirkung der Erscheinung erklärte“ (X, 153). Es geht ihm dabei nicht um das einzelne Bewusstsein, sondern um das Wesen des Bewusstseins: er fragt, wie das Bewusstsein „an sich selbst ist als dasjenige, welches jedes einzelne Bewußtsein erklärt, ohne doch selbst ein einzelnes zu sein“ (X, 154).3 Um den Zweifel zu erklären, fragt Johannes also nach der Beschaffenheit der Existenz und des Bewusstseins. Die Aussagen, die er hier tätigt, passen zu dem, was Kierkegaard in anderen Schriften über die Struktur des Selbst sagt. Auf diese Parallelen weise ich im folgenden Durchgang durch den Text hin. Das Besondere dieser Schrift über den Zweifel ist nun aber, dass Sprache als ein Element der Beschaffenheit der Existenz benannt wird. Die leitende Frage der folgenden Auslegung muss also sein, was sich daraus ableiten lässt für die in den letzten Kapiteln aufgestellte These, dass die Parallelen zwischen der Struktur des Selbst und der Struktur von Sprache darin begründet sind, dass der Vollzug des Selbst ein sprachliches Geschehen ist. Ich gehe im Folgenden unter diesen Aspekten Abschnitt für Abschnitt am Text entlang. Die Beschaffenheit des Bewusstseins will Johannes klären über die Entwicklung des Bewusstseins. Deshalb fragt er zuerst nach der Beschaffenheit des Bewusstseins, wenn es den Zweifel außerhalb seiner hat. Dazu verweist er auf das kindliche Bewusstsein, das nicht bestimmt ist. Er führt hier den Begriff der Unmittelbarkeit ein, der durch Unbestimmtheit gekennzeichnet ist (X, 154). In der Unmittelbarkeit ist keine Beziehung. Sobald eine Beziehung da ist, ist die Unmittelbarkeit aufgehoben. Klar ist dabei für ihn, dass das Bewusstsein nicht in der Unmittelbarkeit bleiben kann. Könnte es das, dann wäre es kein Bewusstsein (X, 154), sagt er. Es ist also im Bewusstsein angelegt, dass es sich von sich selbst unterscheidet und damit die Unmittelbarkeit verliert. Warum das Bewusstsein nicht in der Unmittelbarkeit blei————— 3 An Formulierungen wie dieser macht Stewart seine These fest, dass sich dieser Abschnitt mit dem Thema von Hegels Phänomenologie auseinandersetzt. Allerdings ist zu Stewart hinzuzufügen, dass die Frage nach der Beschaffenheit des Bewusstseins bei Kierkegaard durch den Kontext der Schrift immer eingebunden ist in ein Nachdenken über die Existenz des Zweifelnden und insofern von vorneherein eine etwas andere Ausrichtung hat als die strenge Darstellung Hegels.
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ben kann, ist das Thema, das im Begriff Angst ausführlich durchdacht wird. Hier kommt die Angst noch nicht vor. Stattdessen wird folgende Erklärung gegeben: Wie aber wird dann die Unmittelbarkeit aufgehoben? Durch die Mittelbarkeit, welche die Unmittelbarkeit aufhebt, indem sie sie voraussetzt. Was ist dann die Unmittelbarkeit? Es ist die Realität. Was ist die Mittelbarkeit? Es ist das Wort. Auf welche Weise hebt diese jene auf? Indem sie sie ausspricht; denn das was ausgesprochen ist, ist stets vorausgesetzt (X, 154f).
Zweierlei macht hier das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit aus: Aufhebung und Voraussetzung. Die Mittelbarkeit hebt die Unmittelbarkeit auf. Das erläutert Kierkegaard damit, dass das Wort die Realität aufhebt: Wenn etwas aus der unmittelbaren Realität in ein Wort gefasst wird, bezieht sich das Wort auf die Realität, ist aber etwas anderes. Die Mittelbarkeit hebt die Unmittelbarkeit aber nicht nur auf, sie setzt sie auch voraus. Das bedeutet, dass das Wort die Realität voraussetzt: Ohne die Realität könnte keine Sprache entstehen, da die Sprache nur da ist als eine Art und Weise, zu dieser Realität in Beziehung zu treten. Aus der Interpretation dieser wenigen Sätze Kierkegaards wird Grundsätzliches über sein Verständnis von Sprache erkennbar: Durch die Sprache kann die Realität aus sich heraustreten. Dabei hebt das Wort die Realität nicht auf in dem Sinne, dass es etwas Eigenes, Höheres ist. Es bleibt auf die Realität als seine Voraussetzung bezogen und ist vielmehr die Art und Weise, in der die Realität zu sich selbst kommt. In der wechselseitigen Bezogenheit der beiden entsteht ein charakteristisches Verhältnis, das es nur im Zusammenhang von Wirklichkeit und Sprache gibt: etwas ist außer sich und ist gerade darin ganz bei sich. Jetzt spreche ich bereits von einem Verhältnis, obwohl es bei Kierkegaard in seinem ersten Satz nur um zwei geht: Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit bzw. Realität und Wort. Die Bezogenheit beider aufeinander ist aber ein Drittes, und deshalb geht es bereits im nächsten Satz Kierkegaards schon um ein dreiteiliges Verhältnis: der Realität tritt die Idealität gegenüber, und das Verhältnis zwischen beiden ist das Bewusstsein: Die Unmittelbarkeit ist die Realität, die Sprache ist die Idealität, das Bewußtsein ist der Widerspruch. In dem Augenblick, da ich die Realität aussage, ist der Widerspruch da; denn was ich sage, ist die Idealität (X, 154).
In diesem dreiteiligen Verhältnis taucht die Sprache zweimal auf: einmal als das, was als Idealität der Realität gegenübertritt, und einmal als der Widerspruch zwischen Realität und Idealität, der entsteht, wenn ein Wort ausgesprochen ist. Die Idealität scheint hierbei so etwas wie die Bestimmung des Menschen zur Sprache zu sein: die in der Struktur seines Selbst
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angelegte Möglichkeit, sich sprachlich zu äußern. Die Bestimmung zur Sprache wird realisiert, indem ein Wort in einer konkreten Situation ausgesprochen wird. Mit diesem Aussprechen ist die Sprache nicht mehr Idealität, sondern ist das Verhältnis zwischen Realität und Idealität. Aus dieser Zwischenposition entsteht der Widerspruch, der in dem Wort ist: Es sagt die Realität aus und gehört insofern zu ihr, es bedient sich dabei der Sprache und gehört insofern der Idealität an.4 Dies ist der Widerspruch, der Johannes interessiert, weil er die Antwort ist auf seine Ausgangsfrage, nämlich die Möglichkeit des Zweifels im Bewusstsein. Der Widerspruch wird durch eine Zwiefältigkeit erzeugt und erzeugt selbst Zwiefältigkeit, sagt er weiter (X, 154). Die Zwiefältigkeit ist hier zuerst die Zwiefältigkeit von Realität und Idealität. Sobald die beiden in ein Verhältnis gesetzt werden, entsteht eine neue Zwiefältigkeit, nämlich der Widerspruch, dass das, was die beiden verbindet, beiden angehört und doch von ihnen verschieden ist. Das, was zwischen Realität und Idealität steht, ist das Wort. Es ist das konkrete, jeweils in einer Situation von einem Menschen ausgesprochene Wort. Davon unterschieden ist die Sprache, die der Idealität angehört. Diese Unterscheidung passt gut dazu, dass Kierkegaard davon ausgeht, dass die Sprache dem Menschen vorgegeben ist. So wie die Mittelbarkeit die Unmittelbarkeit voraussetzt, greift der einzelne sprechende Mensch auf Sprache zurück, die mehr ist als er selbst. Die Sprache, die der Idealität zugeordnet wird, ist also die dem Menschen vorgegebene Sprachlichkeit, während das Wort das ist, was ein Mensch sprachlich realisiert.5 Wenn man an den Begriff Angst zurückdenkt, entspricht das, was hier als Idealität der Sprache bezeichnet wird, der Situation in der Unschuld: es ist Sprache da, aber der Mensch versteht sie nicht, weil der Unterschied noch nicht gesetzt ist. Die Sprache bleibt in der Idealität und ist nicht auf die Realität bezogen. Sobald der Mensch ein Wort als sein Wort ausspricht und versteht, ist der Unter————— 4 So ist auch der Ausdruck, der das obige Zitat abschließt, zu verstehen, das Gesagte gehöre der Idealität an: Es gehört eben auch der Idealität an, steht aber zwischen Realität und Idealität. Glöckner (GLÖCKNER, D., Kierkegaards Begriff der Wiederholung. Eine Studie zu seinem Freiheitsverständnis, Berlin/New York 1998.) dagegen will diese Aussage nicht mit dem Kontext zusammenbringen, weil sie daran festhält, dass das Ausgesagte nicht die Idealität sein kann. Das erzeugte Andere ist Mittelbarkeit und kann insofern nicht Idealität sein, betont sie mehrmals (z.B. 106). Das ist so richtig. Sie verliert dabei aber aus den Augen, dass die Mittelbarkeit nicht etwas ganz anderes ist, sondern die Realität und die Idealität in sich trägt, wenn auch in anderer Weise. Zur sprachlichen Bestimmung des Menschen vgl. Humboldt, der diese Bestimmung die 5 Sprachkraft des Menschen nennt. Die Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten ist nicht abhängig von äußeren Anstößen, sondern beruht auf „innerer Selbsttätigkeit“, und das Sprechen anderer ist dabei nur Wecken dieses Vermögens. Das versteht Humboldt als einen Hinweis auf gemeinsames Wesen aller Menschen, also das, was ich hier Bestimmung des Menschen zur Sprachlichkeit genannt habe. Als weiteren Hinweis führt Humboldt an, dass Kinder immer im gleichen Alter sprechen lernen, und dass dieses Sprechenlernen nicht ein Lernen von Vokabeln ist, sondern die Entwicklung der Sprachkraft (Humboldt, 220–222).
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schied und die Sünde gesetzt. Hier ist der gleiche Sachverhalt so ausgedrückt, dass, sobald ein Wort ausgesprochen ist, der Widerspruch im Bewusstsein ist. Dass Kierkegaard über das Bewusstsein nachdenkt als Zweiheit, die durch ein Drittes ins Verhältnis gesetzt wird, überrascht nicht. Das ähnelt den Bestimmungen des Menschen, die Kierkegaard später im Begriff Angst und in der Krankheit zum Tode entwickelt, wo die Zwiefältigkeit von Leib und Seele durch den Geist als Drittem in ihr Verhältnis gesetzt werden. Auch im Fragment über den Zweifel sagt Johannes wenig später, Bewusstsein sei Geist (X, 156). Er setzt also Bewusstsein und Geist gleich und verbindet damit die hier gegebene Bestimmung des Menschen mit denen seiner späteren Schriften. Auch dass das Bewusstsein ein Widerspruch ist, überrascht nicht, sondern verweist auf spätere Ausführungen dazu, wie das Selbst sich in diesen Widerspruch verstrickt und sich damit als Selbst verfehlt. Interessant an dieser Stelle ist vielmehr, dass der Widerspruch im Bewusstsein sich zeigt in dem, was ausgesprochen wird. Ein Wort macht eine Aussage über die Realität und ist doch etwas anderes als die Realität. Ein Wort gehört der Sprache und damit der Idealität an, aber indem es ausgesprochen wird, bezieht es sich auf die Realität. Auf diese Zwischenstellung des Wortes kommt es Johannes an, und er durchdenkt dieses widersprüchliche Verhältnis von beiden Seiten, denn es bekommt verschiedene Richtungen, je nachdem, ob man von der Realität her denkt oder von der Idealität her. In der Realität allein ist keine Möglichkeit des Zweifels; indem ich sie in der Sprache ausdrücke, ist der Widerspruch da, da ich sie gar nicht ausdrücke, sondern etwas anderes erzeuge. Insofern das Gesagte ein Ausdruck für die Realität sein soll, habe ich diese zur Idealität ins Verhältnis gesetzt, insofern das Gesagte ein von mir Erzeugtes ist, habe ich die Idealität zur Realität ins Verhältnis gesetzt (X, 155).
Das Ich steht hier zwischen Idealität und Realität. In der einen Richtung setzt das Ich die Realität durch Sprache ins Verhältnis zur Idealität und eröffnet dadurch neue Zusammenhänge. In der anderen Richtung kommt das Ich von der Idealität her und konkretisiert diese, indem es sie durch eine Aussage auf die Realität bezieht. Johannes durchdenkt das Verhältnis von Realität und Idealität weiter anhand der Begriffe Wahrheit und Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist dabei der Realität zugeordnet, die Wahrheit der Idealität. In der Realität ist alles wirklich, in der Idealität ist alles wahr. Erst, wo die beiden in ein Verhältnis kommen, tritt die Möglichkeit hervor, die Möglichkeit nämlich, dass etwas Wahres auch unwirklich sein könnte und deshalb unwahr wird oder etwas Wirkliches unwahr ist und deshalb unwirklich. Hier entsteht der Widerspruch, den es in der Unmittelbarkeit nicht gibt: „In der Unmittelbarkeit ist
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das Falscheste und das Wahrste gleich wahr, in der Unmittelbarkeit ist das Möglichste und das Unmöglichste gleich wirklich“ (X, 155). Wenn man diesen Satz liest, kann man wieder an die Aussage aus dem Begriff Angst denken, dass es in der Unschuld die Unterscheidung von Gut und Böse noch nicht gibt. Die Unterscheidung ist zwar in der Sprache auszusagen, aber noch nicht wirklich da. Man kann den Sachverhalt aus dem Begriff Angst mit der Begrifflichkeit dieser Schrift folgendermaßen wiedergeben: Die Unterscheidung von Gut und Böse gehört der Idealität an und ist in der Idealität aussagbar. Sobald sie aber zur Realität in Beziehung gesetzt wird, stellt sich die Frage nach der Wirklichkeit. Im Begriff Angst heißt es, die Unterscheidung ist erst mit der Freiheit da und verständlich; hier heißt es, dass Realität und Idealität, wenn sie noch nicht ins Verhältnis gesetzt sind, „in einem Austausch ohne gegenseitige Berührung“ stehen und „das Bewußtsein nur seiner Möglichkeit nach da“ ist (X, 155). Dieser Austausch ohne gegenseitige Berührung entspricht dem Nebeneinander von Gut und Böse, die in der Unschuld noch nicht verstanden werden. Den Austausch ohne Berührung nennt Johannes gleich darauf einen Austausch ohne Zusammenstoß: „Solange dieser Austausch ohne Zusammenstoß vor sich geht, ist das Bewußtsein eigentlich noch nicht da, und diese ungeheure Verkehrung verursacht keine Aufhebung“ (X, 155). Das Bewusstsein beginnt da, wo es zum Zusammenstoß kommt. Der Zusammenstoß ist der Widerspruch, dass das Bewusstsein eben beides ist, Realität und Idealität. „Die Realität ist nicht das Bewußtsein, die Idealität ebensowenig, und doch ist das Bewußtsein nicht da ohne beide, und dieser Widerspruch ist des Bewußtseins Werden und sein Wesen“ (X, 155). Die Rede vom Zusammenstoß lässt schon ahnen, dass es dabei um einen Konflikt geht, den Kierkegaard als Theologe mit dem Begriff Sünde zusammenbringen muss. Dass die Entstehung des Bewusstseins unausweichlich in einen Widerspruch führt, ist ein Gedanke, den er im Begriff Angst aufnimmt und auf den theologischen Begriff der Erbsünde bezieht. Der Sündenzusammenhang greift aber noch weiter: der Mensch ist dazu bestimmt, sich seiner bewusst zu werden, und wo dies nicht geschieht, bleibt er nicht etwa in der Unschuld, sondern ist auch im Bereich der Sünde. Auch diese später von Kierkegaard theologisch durchdache Aussage ist hier im Fragment über den Zweifel angelegt, in dem er den Zustand ohne Zusammenstoß als ungeheure Verkehrung bezeichnet. In einem nächsten Abschnitt will Johannes zwischen Reflexion und Bewusstsein unterschieden wissen:6 „die Reflexion ist die Möglichkeit des ————— 6 Mit seiner Definition der Reflexion als Möglichkeit des Bewusstseins weicht Kierkegaard von der üblichen Bedeutung der Worte ab. Sonst ist die Reflexion das, was noch einmal auf das Bewusstsein sich zurückwendet.
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Verhältnisses, das Bewußtsein ist das Verhältnis, dessen erste Form der Widerspruch ist“ (X, 155). Die Reflexion entspricht hier dem Geist, der sich noch nicht als Geist ergriffen hat oder dem unschuldigen Selbst, das sich noch nicht als Selbst gesetzt hat. Die Reflexion ist dichotomisch. Als Beispiele für die Zwiefältigkeit der Reflexionsbestimmung nennt er Realität und Idealität, Seele und Leib, Gott und Welt usw. „In der Reflexion berühren sie einander dergestalt, daß ein Verhältnis möglich wird.“ Die Betonung liegt hier auf möglich. Das ist wieder eine Aussage, die auf Gedanken aus dem Begriff Angst voraus weist. Möglichkeit wird dort weitergedacht, der träumende Geist steigert sich in die Möglichkeit hinein und verliert sich in Angst. Das Bewusstsein hingegen ist trichotomisch. Kierkegaard erklärt diese Dreiteiligkeit an dem Satz: ich werde mir dieses Sinneseindrucks bewusst. Da ist die Dreiheit enthalten: der Sinneseindruck, das Ich und das Bewusstwerden. Das Bewusstsein setzt die Zweiheit der Reflexion voraus. Was ist hier Zweiheit? Kierkegaard stellt fest, dass die Etymologie des Wortes Zweifel in die Irre führt, weil sie eine Zweiheit nahe legt. Damit ist nur die Voraussetzung des Zweifels angedeutet, interpretiert Kierkegaard, denn im Bewusstsein verhält es sich so, „daß sobald ich als Geist zu zwei werde, ich aber damit drei bin“ (X, 156). Der Zweifel ist dem Bewusstsein zugeordnet, er kann erst mit der Dreiheit aufkommen: „denn die Möglichkeit des Zweifels liegt eben in dem Dritten, welches die Zwei zu einander ins Verhältnis setzt“ (X, 156). „Die Reflexion ist die Möglichkeit des Verhältnisses“ (X, 157), so fasst Johannes zusammen, wie die Reflexion auf das Bewusstsein hin angelegt ist. Mit der Möglichkeit scheint das benannt zu sein, was Kierkegaard zuerst die Voraussetzung nannte. Die Mittelbarkeit setzt die Unmittelbarkeit voraus, sagte er zu Beginn des Abschnitts, und das heißt, die Zweiheit der Reflexion ist die Voraussetzung für die Dreiteiligkeit des Bewusstseins. Mit dem Bewusstsein ist aber die Zweiteiligkeit aufgehoben, denn das Verhältnis ist immer ein trichotomisches. Hier scheint sich schon anzudeuten, was wiederum im Begriff Angst entfaltet wird, nämlich dass es mit der Möglichkeit zu tun hat, dass die Reflexion nicht Reflexion bleibt, sondern Bewusstsein wird. Mit dem Begriff des Interesses, den Johannes in einem neuen Absatz einführt, kommt ins Spiel, was die zweiteilige Reflexion zur dreiteiligen Struktur des Bewusstseins werden lässt. Die Reflexion ist uninteressiert. Vorher sprach er davon, dass sich die beiden Bestimmungen der Reflexion nicht berühren, also nebeneinander her laufen. Das lässt sich gut auf den wörtlichen Sinn von Interesse übertragen: bei der uninteressierten Reflexion ist nichts zwischen den zweien. Das, was zwischen den beiden ist, nämlich das Interesse, löst Zweifel aus. Dieser kann nicht einfach neutralisiert werden.
Das Wort zwischen Idealität und Realität
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Objektives Denken, darunter versteht er die objektiven Wissenschaften wie Mathematik, Ästhetik oder Metaphysik, tut das. Aber mit ihnen kann der Zweifel nicht überwunden werden, will Johannes festhalten, „denn der Zweifel ist eine höhere Form als alles objektive Denken; denn er setzt dies voraus, hat aber ein Mehr, ein Drittes, welches das Interesse oder das Bewußtsein ist“ (X, 157). Ohne das Bewusstsein, ohne das Selbst, kann es also keinen Zweifel geben, ein objektiver Zweifel ist für Johannes nur ein sinnloses Wortspiel. Neben der Polemik gegenüber einer distanzierenden, sich selbst heraushaltenden Bestimmung des Bewusstseins, will Johannes festhalten, dass der Zweifel in systematischem Denken nicht überwunden werden kann. Niemand kommt um den Zweifel herum, oder im Rückbezug auf die Ausgangsfrage von Johannes formuliert: der Zweifel ist im Bewusstsein des Menschen angelegt. Der Zweifel ist in der Entwicklung des Bewusstseins nicht zu vermeiden. Der folgende Satz verweist allerdings darauf, dass es noch etwas hinter diesem Zweifel gibt: „Der Zweifel ist der Anfang zur höchsten Form des Daseins, denn er vermag alles andre zu seiner Voraussetzung zu haben“ (X, 157). Was die höhere Form des Daseins ist, bleibt offen, aber es liegt nahe, dass sie eine Überwindung des Zweifels sein wird. Der Zweifel jedenfalls hat alles andere zu seiner Voraussetzung und teilt dies vom Kontext des Kierkegaard’schen Gedankengangs her mit dem Wort. Das ausgesprochene Wort hatte zur Voraussetzung eine Sprache, derer es sich bedienen kann, und die Realität, über die es eine Aussage macht. Dass das Wort dabei in der Zwischenstellung zwischen Realität und Idealität widersprüchlich ist, begründet es als Auslöser des Zweifels. Kierkegaard möchte in diesem Text den Zweifel in der Struktur des Bewusstseins verankern. Und dadurch, dass er den Zweifel an der Zwischenposition des Wortes festmacht, verortet er auch die Sprache sehr grundsätzlich in der Struktur des Bewusstseins. Daher verwundert es nicht, dass dieser Abschnitt über das Interesse des Bewusstseins damit endet, dass der Unterschied zwischen dem zweiteiligen uninteressierten Verhältnis und dem dreiteiligen Verhältnis des Bewusstseins veranschaulicht wird anhand sprachlicher Verständigung: laß die Idealität und die Realität in alle Ewigkeit miteinander streiten, so lange kein Bewußtsein, kein Interesse da ist, kein Bewußtsein da ist, das Interesse an diesem Streite nimmt, so lange gibt es keinen Zweifel; laß sie miteinander versöhnt sein, so kann der Zweifel gleichwohl bestehen bleiben (X, 158f).
Es gibt scheinbar ein Gespräch zwischen Idealität und Realität, das vom Bewusstsein nicht wahrgenommen wird. In diesem Gespräch ist es egal, ob es sich um einen Streit oder um versöhntes Nebeneinander handelt. Das erinnert an die Sprache, in der es noch kein Gut und Böse gibt. Es ist Sprache, die zwar als Sprache wahrgenommen wird, aber nicht verstanden wer-
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den kann. Erst im Bewusstsein bekommt die Rede Bedeutung. Erst wo ein Mensch Worte für sich selbst nachspricht, versteht er sie, und erst dann kann er an ihnen zweifeln. Immer wieder beschäftigt Johannes die Frage nach dem Ursprung des Widerspruchs. Noch einmal fragt er, wie das Bewusstsein den Widerspruch entdeckt, und antwortet darauf: Wofern jene besprochene Verkehrung, daß die Idealität und die Realität in aller Treuherzigkeit mit einander in Verkehr sind, bestehen bleiben könnte, so würde das Bewußtsein niemals in Erscheinung treten; denn das Bewußtsein tritt eben durch den Zusammenstoß in Erscheinung, gleichwie es den Zusammenstoß voraussetzt. Unmittelbar ist kein Zusammenstoß da, mittelbar aber ist er da (X, 158).
Die Frage nach dem Zustandekommen des Widerspruchs ist die gleiche wie im Begriff Angst. Auch weitere Erkenntnisse aus dem Begriff Angst sind angelegt: die Eigenschaft, durch den Widerspruch in Erscheinung zu treten und ihn gleichzeitig vorauszusetzten, ist dem Bewusstsein gemeinsam mit der Freiheit und der Sünde. Wie es anhand des Sündenfalls ausführlich dargestellt ist, so ist es auch hier: das Geschehen, durch das der Widerspruch in Erscheinung tritt, ist nicht notwendig, aber es ist doch in der Struktur des Bewusstseins so angelegt, dass es nicht anders sein kann. Neben diesen Parallelen zum Begriff Angst ist an dem eben zitierten Satz aber vor allem interessant, dass Johannes auch hier wieder den Zustand vor dem Zusammenstoß als ein sprachliches Geschehen beschreibt: Idealität und Realität kommunizieren in aller Treuherzigkeit miteinander.7 In diesem vorletzten Absatz des Fragments taucht der Begriff der Wiederholung, dem Kierkegaard dann ein ganzes Buch gewidmet hat, zum ersten Mal auf:8 „Sobald die Frage nach einer Wiederholung entsteht, ist der Zusammenstoß da; denn Wiederholung ist nur denkbar bei etwas, das vorher gewesen ist“ (X, 158). Wiederholung taucht auf, sobald die Zeit da ist; erst ————— 7 Im dänischen Text steht an dieser Stelle kommunizieren. Das verweist wesentlich deutlicher in sprachliche Zusammenhänge als die Übersetzung von Hirsch, in der es heißt, dass Realität und Idealität in aller Treuherzigkeit miteinander im Verkehr sind. Stewart versucht in einem Aufsatz nachzuweisen, dass Kierkegaard sich mit seinem Be8 griff der Wiederholung auf Hegel bezieht (STEWART, J., Hegel als Quelle für Kierkegaards Wiederholungsbegriff, in: Kierkegaard Studies Yearbook 1998, Berlin/New York 1998. 302–317.). Dabei liest er diesen Abschnitt aus dem Fragment als Kommentar zum Abschnitt „Sinnliche Gewißheit“ in Hegels Phänomenologie des Geistes. Kierkegaard konstruiert die Beziehung von Realität und Idealität, so Stewart, in einem dialektischen Verhältnis, das von Hegel übernommen ist. Diese erkenntnistheoretische Grundlage sei ebenso wie die These, dass die Wiederholung ein Widerspruch im Bewusstsein sei, von Hegel übernommen (316). An Stewarts These bleibt die Frage zu stellen, ob die Wiederholung wirklich ein Widerspruch im Bewusstsein ist oder ob der Widerspruch nicht vielmehr der Zweifel ist und die Wiederholung gerade der Versuch, mit dem Widerspruch umzugehen (Vgl. dazu auch unten FN 13).
Das Wort zwischen Idealität und Realität
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wenn es vorhergehende und nachfolgende Momente gibt, kann nach einer Wiederholung gefragt werden. In eben dieser Frage ist der Zusammenstoß, der Widerspruch ist und damit den Zweifel auslöst, angelegt. Der Zweifel fragt nach der Wahrheit der Behauptung der Gleichheit oder Ungleichheit dieser Momente. Johannes erläutert im Folgenden, dass es sowohl in der Realität als auch in der Idealität keine Wiederholung geben kann. Die Realität ist bloß „im Momente“: Jeden Gegenstand, den ich wahrnehme, nehme ich in der Realität als solchen auf, ohne danach zu fragen, ob ich solch einen schon einmal wahrgenommen habe.9 Das ist selbst in einer Landschaft voller sich gleichender Feldsteine so, wie Kierkegaard plastisch veranschaulicht. In der Realität frage ich nicht danach, ob einer dem anderen gleicht. Auch in der Idealität kann es keine Wiederholung geben, „denn die Idee ist und bleibt die gleiche“ (X, 158).10 Wiederholung kann hier nicht heißen, dass ein Satz zum zweiten Mal ausgesprochen wird. In diesem Sinne ist natürlich eine Wiederholung in der Idealität und in der Sprache möglich. Es geht vielmehr um ein Aussprechen in einer neuen Situation, es geht um ein Aussprechen von einem Einzelnen in einer konkreten Situation. Dann sind Idealität und Realität nicht mehr nebeneinander, sondern sie berühren sich, das Wiederholte ist das gleiche und doch etwas anderes und so entsteht der Widerspruch. Wenn die Idealität und die Realität einander berühren, so tritt die Wiederholung in Erscheinung. Indem ich da im Moment z.B. etwas sehe, tritt die Idealität hinzu und will erklären, es sei eine Wiederholung. Hier ist der Widerspruch; denn das, was ist, ist zugleich auf eine andere Weise (X, 158).
————— 9 Man könnte hier fragen, was Kierkegaard mit Wahrnehmung meint. Wahrnehmen scheint ja etwas anderes zu sein als Erkennen, denn sobald etwas als etwas erkannt wird, ist schon Sprache im Spiel. 10 Dies ist eine der Textstellen, an denen Stewart sehr überzeugend die enge Anlehnung an Hegel nachweisen kann. Hegel diskutiert im Paragraphen über die sinnliche Gewissheit eben dieses Problem, dass ein sprachlicher Ausdruck in seiner notwendigen Allgemeinheit nie der Besonderheit des einzelnen zu erfassenden Gegenstandes gerecht werden kann. Hegel tut dies ebenso wie Kierkegaard hier unter den Aspekten von Raum und Zeit (vgl. Stewart, 311). Stewart weist auch darauf hin, dass die Begriffe Allgemeinheit und Besonderheit bei Hegel den Begriffen Realität und Idealität bei Kierkegaard in der Argumentationsstruktur entsprechen (313). Bei beiden handelt es sich um das Problem, dass man das Besondere mit der Sprache nicht ausdrücken kann, da in der Sprache das Besondere immer zu einem Allgemeinen wird. Stewarts Hinweise zu Parallelen zwischen Hegel und Kierkegaard sind hilfreich. Stewart bleibt dabei aber in logischen Kategorien. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass er die Realität als „die empirische Sphäre der Existenz und des Lebens“ definiert, die Idealität als „die Sphäre des abstrakten Denkens und der Begriffe“ (310). Man kann fragen, warum Kierkegaard Sprache sagt, wenn er auch Denken und Begrifflichkeit hätte sagen könnten. Das spricht dafür, dass mit Sprache wesentlich mehr gemeint ist als Denken und Begrifflichkeit. Die logischen Kategorien Stewarts in ihren Parallelen zu Hegel erfassen Kierkegaards Begriff der Wiederholung also nur zum Teil.
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Wort und Tat im Gespräch
Hier ist das entscheidende Merkmal der Wiederholung benannt: es ist das gleiche, aber doch auf andere Weise. Es geht um die Gleichheit des voneinander Unterschiedenen. In dieser ersten Charakterisierung von Wiederholung ist im Gegensatz zu dem vorherigen Zusammenstoß von einer Berührung die Rede. Wo Gegensätze aufeinanderprallen, stoßen sie sich durch die Bewegung voneinander ab und bleiben so verschieden. Wo sie einander berühren, bleiben sie auch verschieden, werden aber zu einer neuen größeren Einheit. Die Rede von Berührung passt also zu der inhaltlichen Bestimmung der Wiederholung als Einheit von Verschiedenem. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf, dass Kierkegaard die schon fast zärtliche Rede von Berührung11 oft gebraucht: Der Verschlossene wird von der Freiheit berührt (vgl. das vierte Kapitel des Begriffs Angst), und vom Augenblick ist die Rede als das Zweideutige, da Zeit und Ewigkeit einander berühren (XI, 91). Die Berührung von Zeit und Ewigkeit meint ähnliches wie die Berührung von Idealität und Realität in der Wiederholung, und beide sind wie die Berührung der Freiheit eine Begegnung zwischen Gott und Mensch. Johannes fragt sich schließlich, in welchem Medium Realität und Idealität zusammenstoßen. Sie tun dies nicht in der Zeit und nicht in der Ewigkeit, sondern im Bewusstsein (X, 158). Die Zeit gehört der Realität zu, die Ewigkeit der Idealität, zusammenkommen können beide nur im Bewusstsein. Das passt wieder zu der Ausgangsfragestellung des Johannes, der den Widerspruch und damit den Zweifel in der Struktur des Bewusstseins suchen will. Ebenso wie der Zweifel ist nun auch die Wiederholung im Bewusstsein zu suchen. Es geht Johannes nicht um die Frage, ob das Dasein ein Abbild der Idee sei, ob also das sinnliche Dasein eine Wiederholung der Idealität sei. Das wäre für ihn eine – nach seiner vorher gegebenen Definition – uninteressierte Fragestellung. „Die Frage geht hier näher um eine Wiederholung im Bewußtsein, mithin um die Erinnerung“ (X, 159). Das Verhältnis von Wiederholung und Erinnerung, die hier in einer ersten Assoziation nebeneinander gestellt sind, wird Kierkegaard in dem Buch Die Wiederholung genauer bestimmen. Hier hält er nur noch einmal den Widerspruch fest, der zwischen Realität und Idealität besteht, und macht ihn an einer Schwierigkeit mit den Zeitkategorien fest: Die Erinnerung ist nicht die Idealität, sie ist die Idealität die gewesen ist, sie ist nicht die Realität, sie ist die Realität die gewesen ist, welches wiederum ein zwiefacher Widerspruch ist; denn die Idealität kann ihrem Begriff zufolge nicht gewesen sein, die Realität ihrem Begriff zufolge ebensowenig (X, 159).
————— 11
Die Rede von Berührung hat im Christentum in der Mystik lange Tradition.
Das Wort zwischen Idealität und Realität
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Das ergibt sich aus dem, was Johannes schon vorher feststellte: Die Realität kann nur Gegenwart sein, während die Idealität ewig ist.12 Der Widerspruch wird hier nur konstatiert. In der späteren Entfaltung in dem Buch die Wiederholung wird die Widersprüchlichkeit der Zeitbestimmungen noch verschärft, indem die Wiederholung bestimmt wird als die Erinnerung, die nach vorlings geschieht. An dieser Stelle ist der Widerspruch nur benannt, der ausformulierte Text bricht ab und belässt die Schrift Johannes Climacus oder de omnibus dubitandem est als Fragment. Bricht der Text so plötzlich ab, weil Kierkegaard merkt, dass er sich von seinem eigentlichen Thema des Zweifels entfernt hat und mit der Wiederholung einen Begriff einführt, der solche Dimensionen hat, dass er ihm ein ganzes Buch widmet? Wie dem auch sei, wichtig ist das Fragment über den Zweifel, weil es eine Struktur des Bewusstseins vorstellt, die ganz von der Sprache her gedacht ist. Das Bewusstsein trägt in sich die Zweiheit von Realität und Idealität, wobei die Idealität die Bestimmung des Menschen zur Sprache ist. Ein dreiteiliges Verhältnis entsteht, wenn Realität und Idealität zusammenkommen. Das geschieht, wenn ein Mensch spricht: er sagt die Realität in der Idealität der Sprache aus, und das entstehende Wort hat einen Widerspruch in sich, weil es zwischen Realität und Idealität steht. Weil sich Kierkegaard in dieser Schrift den Zweifel zum Thema genommen hat, interessiert ihn besonders der Widerspruch: die Wiederholung, in der Realität und Idealität zusammenkommen, ist immer ein Widerspruch und deshalb Anlass zum Zweifel. Vorausgreifend auf das Buch der Wiederholung sei aber schon gesagt, dass es für Kierkegaard auch eine Wiederholung gibt, in der der Widerspruch aufgehoben ist. Den Vollzug dieser Wiederholung denkt Kierkegaard zusammen mit dem Vollzug des Glaubens. Auch darin liegt vielleicht ein Grund dafür, dass die Schrift über den Zweifel Fragment geblieben ist: die Wiederholung als Widerspruch ist nur ein Aspekt dessen, was Kierkegaard als Wiederholung verstehen will, die das Bewusstsein vollzieht, um zu sich selbst zu kommen. Der Wiederholung, die den Widerspruch im Bewusstsein des Menschen zu einer Einheit zusammenhalten kann, widmet Kierkegaard ein eigenes Buch, das als ————— 12 Ich füge einige Hinweise ein, was mit dem Ewigkeitsbezug der Idealität gemeint sein könnte: einmal ist Idealität das, was sich im Verlauf der Geschichte als bleibend wesentlich erweist. Dazu schlägt Kierkegaard ein Experiment vor, um zu prüfen, wie viel Idealität in der eigenen Rede enthalten ist: Man rede von dem, was einen beschäftigt, so, als wäre es vor 100 Jahren geschehen – dabei wird sich das Wesentliche zeigen (XVIII, 106). Idealität ist für Kierkegaard weiter verknüpft mit Möglichkeit, was sich dazu fügt, dass in der Ewigkeit alles möglich ist. Er bezeichnet den Glauben als Idealität, die danach fragt, was möglich ist und von da aus die Möglichkeit in der Wirklichkeit sucht. Ganz konkret empfiehlt Kierkegaard, dass man fragen muss, ob das, was gesagt wird, möglich ist, und ob man selber es tun kann. Wer geistlos ist, fragt dagegen, ob es wirklich war und ob der eigene Nachbar es wirklich getan hat (XV, 469).
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Weiterführung der im Fragment vorgestellten Struktur des Bewusstseins gelesen werden kann.13
4.2 Wiederholung Wiederholung Im Fragment über den Zweifel tauchte der Begriff der Wiederholung das erste Mal auf. Nun lässt Kierkegaard einen gewissen Constantin Constantius, der die Wiederholung schon in seinem Namen trägt, ein ganzes Buch zu diesem Begriff verfassen. Eine völlig neue Kategorie will er damit einführen, so sein eigener Anspruch (V, 21).14 Unabhängig davon, ob ihm das für die Entwicklung des philosophischen Denkens gelungen ist, lässt sich beobachten, dass die Wiederholung auf die Sprache entscheidende Auswirkungen hat. Bei ihr geraten grammatikalische Strukturen wie Modi, Tempora und Personen durcheinander. Das ist gleich im Einzelnen beim Durchgang durch den Text zu zeigen, wie die Wiederholung als Erinnerung nach vorne die gewohnten Zeitkategorien auf den Kopf stellt, wie in der Wiederholung Aktiv und Passiv, Indikativ und Konjunktiv zusammenfallen und wie die Erfahrungen Constantins mit seiner Beobachterrolle die Unterscheidung von Personen in der Sprache in Frage stellt. Die Infragestellung grundlegender grammatikalischer Strukturen passt dazu, dass in dem Buch Die Wiederholung in verschiedensten Kontexten ————— 13 Wenn man das Fragment in dieser Weise an das Buch der Wiederholung heranrückt, kommt man in der Einschätzung des Glaubens zu anderen Ergebnissen als Stewart in seinem Aufsatz (vgl. oben FN 8). Stewart erklärt, dass bei Hegel der Widerspruch zwischen Allgemeinem und Besonderem nur der erste Schritt ist, der nach vielen weiteren Differenzierungen in eine Religion führt, die sprachlich gedacht ist. Kierkegaard hingegen, so meint Stewart, interessiere sich für die Grenzen der Sprache und bleibe bei dem Widerspruch zwischen Sprache und Glaube, der sich innerhalb der Sprache nicht auflösen lasse. Stewart verweist auf Furcht und Zittern, wo der Glaube für den Widerspruch steht, dass etwas Allgemeines nicht mit Wörtern auszudrücken ist oder diskursiv begründet werden kann (Stewart, 316). Er behauptet, dass Kierkegaard sich im Gegensatz zu Hegel nur interessiert für die Grenzen der Sprache und die Inkommensurabilität zwischen der Sprache und bestimmten Elementen im menschlichen Leben, z.B. dem Glauben (316). Wenn man den Begriff der Wiederholung nicht nur vom Zweifel her versteht, sondern die weiteren Ausführungen Kierkegaards in dem Buch der Wiederholung mit einbezieht, muss man dem widersprechen und festhalten, dass Kierkegaard gerade auf der Suche ist nach der Sprache, die den Widersprüchen gerecht wird. Es geht ihm nicht um die Grenzen der Sprache, sondern um eine angemessene Sprache des Glaubens. Wenn dem so ist, dann bleibt es nicht, wie Steward resümiert, bei Kierkegaard so, dass Sprache und Wirklichkeit endgültig inkommensurabel sind (317). Auch bei Kierkegaard kommt nach dem Scheitern an der Allgemeinheit der Sprache, das nur im Schweigen enden kann, eine Sprache, die die Beziehung neu setzt. Auch wenn die Lösung eine andere ist als bei Hegel, bleibt zu Steward hinzuzufügen, dass es auch bei Kierkegaard ebenso wie bei Hegel eine Entwicklung des Bewusstseins gibt, die immer sprachlich gedacht ist. 14 Als eine umfassende allgemeine Charakterisierung des Begriffs der Wiederholung vgl.: THEUNISSEN, M./HÜHN, H., Wiederholung, in: Ritter, J. u.a (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd.12, Basel 2004. 738–746.
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über Erfahrungen an der Grenze der Sprache nachgedacht wird. Constantin ist der Beobachter, der das Geschehen distanziert analysiert und für den die Grenze der Sprache identisch ist mit der des Verstandes. Der junge Mensch dagegen verliert fast den Verstand und tastet sich an einer ganz anderen Grenze der Sprache entlang, wenn er versucht, sich in den Texten des Hiobbuches selbst wiederzufinden. Manches ähnelt dem zeitgleich erschienenen Buch Furcht und Zittern und den Erfahrungen, die Abraham dort mit dem Nichtverstandenwerden macht. Wie bei Abraham wird auch hier zu fragen sein, ob es beim Schweigen bleibt oder ob aus dem Schweigen neue Formen der Verständigung hervorgehen. Ich frage also danach, wie sich Kierkegaards Suche nach der Wiederholung mit der Suche nach wirklicher sprachlicher Verständigung verbindet und was die Sprache, in der sich die Wiederholung vollzieht, auszeichnet. Ich stelle Textabschnitte aus der Wiederholung vor, die zum Thema Sprache relevant sind. Sie sind in der Reihenfolge vorgestellt, wie sie im Buch vorkommen. Gleich zu Beginn des Buches ist eine Frage gestellt, die für alles weitere Nachdenken über die Wiederholung wichtig werden wird: die Frage nach dem Verhältnis von Wort und Tat. Das Buch Die Wiederholung beginnt so: Als die Eleaten die Bewegung leugneten, trat, wie jedermann weiß, Diogenes als Opponent auf; er trat wirklich auf; denn er sprach nicht ein Wort; sondern ging lediglich einige Male auf und nieder und meinte damit jene hinreichend widerlegt zu haben (V, 3).
Im diesem ersten Satz des Buches sind bereits einige Fragen zur Sprache aufgeworfen. Wie verhalten sich ein Wort und eine Handlung zueinander? Wie ist eine sprachlich gefasste wissenschaftliche These, hier der Eleaten, auf die Realität zu beziehen? Welche Art von Dialog ist das, mit der durch eine Tat auf ein Wort reagiert wird? Constantin jedenfalls will es genauso halten wie Diogenes, er will die Richtigkeit seiner Überlegungen zur Wiederholung in der Realität beweisen. So wie Diogenes Bewegung vorführte, will er ein zweites Mal eine Reise nach Berlin unternehmen, um zu überprüfen, ob sich seine erste Reise wiederholen lasse. Sein Experiment scheitert. Dennoch ist die Kategorie der Wiederholung für ihn damit nicht abgehakt. Klar ist nur, dass eine einfache Übertragung der Idee in die Realität nicht möglich ist. Ebenso wenig lässt sich ein Wort einfach in die Tat umsetzten. Das Verhältnis beider liegt komplizierter. Während er dem nachgeht, bleibt Constantin wenige Absätze später an einer sprachlichen Erscheinung hängen, die ihm dazu bedeutsam erscheint. Er zitiert den Satz, dass die Liebe der Erinnerung die einzige glückliche sei. Dabei fällt ihm auf, wie nahe verschiedene Stimmungen in einem Satz beisammen liegen können. Während der Sprecher eine Aussage über das
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Glück macht, zeigt sich in dem Satz auch Melancholie und Schwermut (V, 5). Die Zweideutigkeit entsteht, weil das Glück in der Vergangenheit liegt. Er macht also darauf aufmerksam, dass die Fähigkeit, in der Sprache verschiedene Zeiten zu unterscheiden, zu Widersprüchen führen kann. Bei der Wiederholung, will er dagegen festhalten, wäre es eindeutiger. Da müsste das Glück, das in der Idealität in der Sprache ausgesprochen wird, sich auch mit der Realität, dem tatsächlichen Glück des Augenblicks decken. Ein Kennzeichen der Wiederholung scheint für Constantin zu sein, dass es die Missverständnisse nicht geben kann, die sich aus dem Gebrauch verschiedener Zeiten in der Sprache ergeben können. In der Wiederholung fallen Wort und Tat zusammen, damit wird alles gegenwärtig, die Zeitkategorien scheinen aufgehoben. Das ist für ihn die Dialektik der Wiederholung, die er von der Kategorie der Erinnerung bei den Griechen unterscheidet: Die Dialektik der Wiederholung ist leicht, denn was sich wiederholt, ist gewesen, sonst könnte es sich nicht wiederholen; aber eben dies, daß es gewesen ist, macht die Wiederholung zu dem Neuen. Wenn die Griechen sagten, daß alles Erkennen ein sich Erinnern ist, so sagten sie: das ganze Dasein, welches da ist, ist da gewesen; wenn man sagt, daß das Leben eine Wiederholung ist, so sagt man: das Dasein, welches da gewesen ist, tritt jetzt ins Dasein (V, 22).
In der Erinnerung, die Kierkegaard den Griechen zuordnet, erweist sich etwas Vergangenes in der Gegenwart als wahr. Im Unterschied dazu entsteht in der Wiederholung etwas Neues: etwas, das in der Vergangenheit da ist, wird in der Gegenwart vollzogen, und eben dieser Vollzug in der Gegenwart macht es zu etwas Neuem. Im griechischen Verständnis ist die Vergangenheit in der Gegenwart aufgehoben in dem Sinne, dass in der Gegenwart nur etwas realisiert wird, was in der Vergangenheit immer schon da war. Bei der Wiederholung dagegen ist die Vergangenheit in der Gegenwart aufgehoben in dem Sinne, dass durch den Vollzug in der Gegenwart etwas Neues entsteht, das sich wesentlich vom Vergangenen unterscheidet und es somit aufhebt. In beiden Bestimmungen des Verhältnisses von Vergangenheit und Gegenwart schwingt auch das Zukünftige im Sinne des Ewigen mit. Die Erinnerung ist in der Suche nach dem Dasein, das da gewesen ist, auf der Suche nach dem wahren, dem ewigen Sein. Bei der Wiederholung ist das, was neu ins Dasein tritt, das wahre, ewige Sein. Man könnte auch sagen, in der Gegenwart der Wiederholung sind Vergangenheit und Zukunft aufgehoben. Kierkegaard äußert sich in diesem Zusammenhang nicht explizit dazu, was diese Einsicht im Vollzug des Glaubens bedeutet. Aber im Anschluss an Überlegungen, die hier in früheren Kapiteln angestellt wurden, kann man sich die Einheit von Wort und Tat, in der die Zeiten zusammenfallen, viel-
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leicht folgendermaßen vorstellen. Der Mensch muss sein Selbst vollziehen, er muss die Vorstellung seiner selbst verwirklichen. Die Vorstellung seiner selbst ist eine sprachlich repräsentierte, und so ist es ein Wort, das in die Tat umgesetzt wird. In biblischer Sprache würde das wohl heißen, dass die Verheißung, ein Mensch im Angesicht Gottes zu sein, sich im Glauben und Leben jedes Einzelnen erfüllen muss. Im Umgang mit biblischen Verheißungen geht es immer um Aufhebung von Zeitkategorien: ein Wort aus der Vergangenheit soll seine Wirkung in der Gegenwart entfalten und eben damit seine Ewigkeit erweisen. Dieses Aufheben der Zeiten kann nicht im Außen geschehen, sondern sich nur im Innern eines Menschen ereignen. Im Umschlag von außen nach innen verändert sich die Sprache: aus einem in der Vergangenheit formulierten Satz wird eine ewige Gegenwartsaussage. In dieser Besonderheit wurzeln viele religiöse Grundmuster: Das Rezitieren immer gleicher Texte, z.B. Psalmen oder anderer Gebetstexte hofft darauf, dass Worte aus der Vergangenheit zu Worten der eigenen Gegenwart werden, in denen sich Zukunft eröffnet; die Wiederkehr der Feste im Jahreszyklus rechnet damit, dass die Wiederholung vergangene und ewige Wahrheit neu gegenwärtig werden lässt; und auch beim Lesen von biblischen Texten in verschiedenen lebensgeschichtlichen Kontexten geht es um eine solche Wiederholung, in der die Zeitkategorien durchsichtig füreinander werden. Die Zusammengehörigkeit von Wort und Tat in solchem wiederholenden Sprechen steht einmal dafür, dass Gott in diesem Sprechen handelnd lebendig ist. Sie sichert aber auch die Alltagsbezogenheit des Glaubens: es kann nicht bei Glaubensüberzeugungen allein in der Sprache bleiben, sie müssen im eigenen Leben umgesetzt werden. Der Zusammenstoß zwischen Idealität und Realität ist vielleicht genau dies, dass sich hehre Glaubenssätze nicht einfach leben lassen, sondern dass Glaubensaussagen im Leben wiederholt werden und sich darin Wort und Tat decken. Im Buch Die Wiederholung gibt es diese glückliche Wiederholung, in der alles Gegenwart wird, vorerst nicht. Der junge Verliebte ist nicht in der Gegenwart, er erinnert sich seiner Geliebten schon am ersten Tag. Seine Liebe ist in der Vergangenheit, in der Idealität, er braucht die Realität nicht mehr und daran scheitert er. Je mehr er sich seiner Geliebten und damit der Realität nähert in Gedanken und in den dichterischen Texten, die er schreibt, desto mehr verlässt er sie: „Das Mädchen war nicht seine Geliebte, sie war der Anlaß, der in ihm das Poetische aufweckte und ihn zum Dichter machte“ (V, 10). Er bleibt in der Idealität, während er in einer gelungenen Wiederholung Idealität und Realität zusammenbringen müsste: es ist ihm unmöglich, „dies rein poetische Verhältnis in eine wirkliche Liebe zu überführen“ (V, 15). „Hätte der junge Mensch an die Wiederholung geglaubt, was hätte dann nicht alles aus ihm herauskommen können? welche Inner-
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lichkeit hätte er nicht im Leben erreichen können?“ (V, 19), so fragt Constantin. Ist es wirklich die Frage, an die Wiederholung zu glauben, oder ist es nicht noch etwas anderes, sie durchzuführen? Er selbst jedenfalls scheitert genau an der Durchführung der Wiederholung, nämlich bei seinem Experiment der Reise nach Berlin. Wer nur an die Wiederholung glaubt, verbleibt in einem sehnsuchtsvollen, dichterischen Verhältnis zu ihr, das etwas anderes ist als die Wiederholung selbst. In der Sprache entspricht dem dichterischen Verhältnis ein Sprechen in der Möglichkeit, im Konjunktiv. Erst wo die Sprache der Möglichkeit, die in der Idealität verbleibt, auf die Realität bezogen wird, kann aus dem Konjunktiv ein Indikativ werden. Leben im Konjunktiv ist bei Kierkegaard assoziiert mit Angst. Leben im Glauben ist ein Sprechen im Indikativ. Ebenso wie in der Gegenwart der Wiederholung Vergangenheit und Zukunft aufgehoben sind, kann auch der der Wiederholung entsprechende Indikativ den Konjunktiv in sich fassen: eine indikative Glaubensaussage ist eine Möglichkeit, also eigentlich ein Konjunktiv, die im indikativischen Aussprechen wirklich wird. Nicht nur die Zeitkategorien und Modi geraten bei der Wiederholung durcheinander, auch die Möglichkeit der Sprache, drei Personen zu unterscheiden, verändert sich. Das lässt sich aus Äußerungen Constantins schließen, der sich selbst als Beobachter versteht und seine Beobachterrolle auch ausdrücklich reflektiert. Er ist sich z.B. dessen bewusst, dass es Situationen gibt, in denen er seine Beobachterposition aufgeben muss. Solch eine ist z.B. ein Gebet: Wofern man Zeuge wäre, wie ein Mensch so recht von ganzer Seele betete, wer könnte da ein solcher Unmensch sein, daß er beobachten wollte, wer würde sich nicht weit eher durchströmt fühlen von einer Ausstrahlung der Andacht des Betenden (V, 6f).
Das Gegenbild zum innig Betenden ist der Pastor, der über das Gebet redet, ohne es selbst zu vollziehen, und der sich wunderbar beobachten läßt, bzw. einen Beobachter wie Constantin oder Kierkegaard zum Spott reizt (V, 7). Constantin weiß genau um den Grund dieser Grenze des Beobachtens: „Des Beobachters Kunst ist es, das Versteckte an den Tag zu ziehen“ (V, 7), sagt er. Wo es nichts Verstecktes gibt, kann es folglich auch nichts zu beobachten geben, so wie im innigen Gebet, wo alles vor Gott offenbar ist. Der Beobachter hat also seinen Platz da, wo Wort und Tat auseinander fallen oder sich Widersprüchlichkeiten innerhalb der Sprache ergeben. Kennzeichen der Sprache der Wiederholung ist also weiter, dass sie ganz und gar offenbar ist. Die Konsequenz daraus scheint zu sein, dass es keine dritte Person mehr geben kann, es kann nur noch von Ich und Du die Rede sein.15 ————— 15 Der Gedanke, dass es im Gebet keine dritte Person, sondern nur noch Ich und Du gibt, kommt häufiger bei Kierkegaard vor. Vgl. die anderen Belegstellen im Kapitel über das Gebet 3.6.
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Ein Beispiel dafür, was möglich ist, wenn man ganz in der dritten Person verbleibt, ist der Vorschlag Constantins, wie sich der junge Mensch in seiner Liebesbeziehung weiter verhalten könnte. Er schlägt ihm vor, sich selbst als den Untreuen darzustellen, um aus der Liebesbeziehung herauszukommen.16 Das kann man nur, wenn man sich selbst von außen, also in der Perspektive einer dritten Person betrachtet. Darauf lässt sich der junge Mensch nicht ein. Er hatte nicht die Kraft gehabt, den Plan durchzuführen. Seiner Seele mangelte die Federkraft der Ironie. Er hatte nicht die Kraft, das Schweigegelübde der Ironie abzulegen, nicht die Kraft, es zu halten, und nur wer schweigt, bringt es zu etwas (V, 18),
kommentiert Constantin. Der junge Mensch scheitert daran, seiner Liebe jeden beliebigen Ausdruck geben zu können. In der Bewegung der Ironie distanziert sich jemand von der Realität und kann den entgegengesetzten Ausdruck wählen. Die Ironie kann dabei wie eine eigene Sprache werden: Wer zu schweigen weiß, er entdeckt ein Alphabet, welches ebenso viele Buchstaben hat wie das im allgemeinen Brauch stehende, dergestalt, daß er alles in seiner Diebessprache auszudrücken vermag, so daß kein Seufzer so tief ist, er hat das Gelächter, das ihm in der Diebssprache entspricht, und daß keine Bitte so anzüglich ist, er hat den Witz, der dem Anspruch genugtut (V, 18).
Das Schweigen, das hier vor der ironischen Sprache liegt, ist ein einsames Schweigen, das alle bisherigen menschlichen Verbindungen für nichtig erklärt. Damit ist die gemeinsame Verständigung abgebrochen, und jedes Wort kann eine neue Bedeutung erhalten. Diebessprache scheint hier nicht zu bedeuten, dass es eine Sprache ist, die nur von einer Clique verstanden wird. Eine Diebessprache ist es, insofern die Worte aus der allgemeinen Verständigung gestohlen sind: als gestohlene und nicht eigene Worte können sie eine andere Bedeutung haben, die letztlich beliebig ist. Bedeutung haben Worte, wenn sie von einem Ich ausgesprochen werden. Die Idealität des Wortes kommt so mit der Realität des Ich zusammen, im je ausgesprochenen Wort kommt es zu dem Zusammenkommen von Idealität und Realität, das Kierkegaard Wiederholung nennt. Wo es kein Ich gibt und alles mit der Distanz der dritten Person gesagt wird, kann es keine Wiederholung geben, weil alles in der Idealität verbleibt, wenn die Worte gestohlen sind und jede beliebige Bedeutung haben können. Constantin gesteht zu, dass solch ein Gebrauch der Sprache leicht dazu führen kann, den Verstand zu verlieren. Wo die Zweideutigkeit der Sprache bewusst eingesetzt wird, kann sie überspannt werden. Dabei stellt sich dann die Frage, welche Bedeutung sie überhaupt noch hat. Wirkliche Bedeutung geht genau an dem Punkt ————— 16 Diese Überlegungen Constantins kann man lesen als eine Auseinandersetzung Kierkegaards mit seiner eigenen aufgelösten Verlobung.
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verloren, wo Worte, die ein Ich aussprechen müsste, als gestohlene Worte wie von einer dritten Person gesagt werden. Eine ähnliche Bewegung wie in der Ironie, in der man auf Distanz zu seiner eigenen Person geht, vollzieht sich im Theater. Das Theater, besonders die Posse, nehmen in der Wiederholung großen Raum ein. Vom Theater fühlt sich Constantin besonders angezogen, weil er dort verschiedene Ausdrucksformen seiner Person gleichsam ausprobieren kann. Die Faszination besteht für ihn darin, im Schauspieler „sich selber zu sehen und zu hören, sich selbst zu zerteilen in aller seiner möglichen Verschiedenheit von sich selbst, jedoch dergestalt, daß jede Verschiedenheit wiederum man selbst ist“ (V, 27). Was Constantin beschreibt, ist eine Bewegung, in der man verschiedene Möglichkeiten seines Ichs nicht gleich zum eigenen Ich macht, sondern im Gegenüber einer dritten Person auf der Bühne von außen betrachten kann. Dabei kann man natürlich sein eigenes Ich verlieren und im eigenen Leben nur noch schauspielern. Das läuft auf ein Leben hinaus, wie Constantin es dem jungen Menschen vorschlug, nämlich dem Mädchen etwas vorzuspielen, was ganz und gar nicht seinen Gefühlen entspricht. In dem folgenden Abschnitt scheint es aber um die umgekehrte Bewegung zu gehen, nämlich wie die zuerst mit der Distanz der dritten Person betrachtete Bühnenfigur die eigene Persönlichkeit prägen kann, wie also aus dem im Theater probeweise angenommenen Er oder Sie ein Ich werden kann. Aus der „Leidenschaft der Möglichkeit“ (V, 28) soll eine Persönlichkeit werden, das ist der Gedanke Constantins. Das geschieht im Theater. Weiter ausgeführt wird dieses Werden des Individuums aus seinen Möglichkeiten im Bild des Windes, das viele Anknüpfungen an das Thema Sprache hat und jetzt interpretiert werden soll. Es geht um die sich entwickelnde Freiheit:17 Wenn man in einer gebirgigen Gegend den Wind tagaus tagein dasselbe Lied singen hört, unerschüttert, unverändert, so ist man für einen Augenblick vielleicht versucht, von der Unvollkommenheit zu abstrahieren und alsdann sich zu freuen an diesem Bilde von der Folgerichtigkeit und Sicherheit der menschlichen Freiheit. Man denkt vielleicht nicht daran, daß einmal ein Augenblick war, da kam der Wind, der nun schon viele Jahre seine Wohnung hat in diesen Bergen, als Unbekannter in diese Gegenden, stürzte wild, sinnlos sich mitten in die Klüfte, hernieder in die Berghöhlen, brachte jetzt ein Heulen hervor, über das er selber beinah stutzte, jetzt ein hohles
————— 17 Wiederholung kann als der Vollzug menschlicher Freiheit verstanden werden. Vgl. dazu das Buch von: GLÖCKNER, D., Kierkegaards Begriff der Wiederholung. Eine Studie zu seinem Freiheitsverständnis, Kierkegaard Studies Monograph Series 3, Berlin/New York 1998. Glöckner zeigt, dass man Wiederholung bei Kierkegaard als Strukturbeschreibung menschlicher Existenz verstehen kann (z.B. 8). Die Ineinssetzung von Freiheit und Wiederholung zeigt Glöckner nicht nur anhand von Texten aus der Wiederholung, sondern kann das auch überzeugend in den Papirer nachweisen (entsprechende Zitate aus dem Papirer bei Glöckner z.B. 45).
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Brüllen, davor er selber floh, jetzt einen klagenden Ton, von dem er selbst nicht wußte, von wannen er kam, jetzt ein Seufzen aus des Abgrunds Angst, so tief, daß selbst dem Winde bange ward und ihm einen Augenblick der Zweifel kam, ob er wohnen dürfe in diesen Gegenden, jetzt ein lyrisch ausgelassen Hopsassa, bis daß er sein Instrument ganz kennen lernte und alle diese Laute zusammenfügte zu der Melodie, die er nunmehr unverändert vorspielt, Tag um Tag. Dergestalt fährt des Individuums Möglichkeit irre um in ihrer eignen Möglichkeit, entdeckt jetzt die eine, jetzt die andere. Aber des Individuums Möglichkeit will nicht bloß hörbar werden, sie ist nicht wie die des Wetters bloß dahinfahrend, sie ist zugleich „gestaltend“, deshalb will sie zu gleicher Zeit sichtbar werden. Jede seiner Möglichkeiten ist darum ein tönender Schatten (V, 28f).
Das Bild vom Wind wird noch fortgeführt und vermischt sich mehr und mehr mit Gedanken zum Theater. Aber zuerst wird noch ganz im Bild des Windes beschrieben, wie das Individuum in der Möglichkeit mit seinen verschiedenen Stimmen experimentiert: mit dem listigen Raunen, dem seligen Jubel der Freude, dem Seufzen des Leids. Das Individuum möchte sich selbst hören und doch will es nicht wirklich sich selbst hören. Diese Zweideutigkeit, etwas zu wollen und gleichzeitig nicht zu wollen, wird für Kierkegaard in seinen späteren Schriften zum entscheidenden Kennzeichen der Angst. Schon hier scheint Kierkegaard auf den Bereich der Angst hinzuweisen: wenn man im Bereich dieser nächtlichen Stimmen bleibe, so deutet er an, begebe man sich ins Dämonische. Das verborgene Individuum kann sich aber auch aus diesem nächtlichen Umfeld der Angst zurückziehen und sich stattdessen in eine Theaterumgebung begeben. Diese ist leichter, die Gestalten hallen ohne Widerhall. Das ist wie ein Schattenspiel, auch hier wieder nächtliche, zwielichtige Metaphorik. Unter diesen Schatten entdeckt das Individuum sich selbst. Es identifiziert sich mit Bühnenpersonen, unter denen auch ein Räuberhauptmann sein kann. Es zeigt sich am Ende dieses Abschnitts, dass das Individuum nicht umhin kommt, sich in allen diesen Möglichkeiten, die es im Theater erlebt, mit sich selbst auseinanderzusetzen. Wenn ihm die Rolle zu groß ist, verstummt das Individuum ganz. Der Phantasie, hier der Möglichkeit, sind keine Grenzen gesetzt, aber letztlich muss doch der Maßstab des Individuums eingehalten werden. „Dies ist der Phantasie sophistische Lust, dergestalt die ganze Welt in einer Nußschale zu haben die größer ist als die ganze Welt, und doch nicht größer, als daß das Individuum sie füllen könnte“ (V, 30). Hier ist Constantin wieder ganz beim Theater angelangt, und seine Assoziationen gehen in eine andere Richtung, das Bild vom Wind ist nicht konsequent zu Ende geführt. Aber soweit der Gedanke bis hierher ausgeführt ist, lohnt es, ihm noch etwas nachzudenken. Der Wind steht für das Individuum, die Melodie des Windes für die sich entwickelnde Freiheit. Die Melodie beginnt als Ausprobieren von Lauten.
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Diese Laute werden von der Umgebung zurückgeworfen und lösen Erstaunen, Angst oder Freude aus. Wenn einem die eigenen Töne von außen entgegenkommen, löst das Fremdheit aus. Das gibt einmal die Erfahrung wieder, dass einem die eigene Stimme manchmal fremd vorkommt. Weiter bringt das Bild zum Ausdruck, dass einem die eigenen Worte als etwas anderes gegenübertreten können. Das kann in der Entwicklung der Freiheit einer Persönlichkeit so sein, dass die Worte schon vorausweisen und von der weiteren Entwicklung erst eingeholt werden müssen. Es kann aber auch sein, dass eigene Worte von der Umgebung wie beim Echo im Gebirge verzerrt werden oder sich vervielfältigen, indem sie Wirkungen entfalten, die so gar nicht intendiert waren. Das gehört zu ihrer Selbstständigkeit als Laute, die einem gegenübertreten. Deutlich ist jedenfalls in diesem Bild, dass die Entwicklung der Freiheit mit großer Verunsicherung einhergeht. Wenn es sich bei der Entwicklung der Freiheit um ein sprachliches Geschehen handelt, dann tritt Sprache hier nicht in Erscheinung als Instrument zur Weltbeherrschung, sondern als ein vorsichtiges Suchen nach angemessenem Ausdruck für die krisenhafte Entstehung des rätselhaften eigenen Selbst. Von Anfang an handelt es sich im Bild vom Wind um eine sprachliche Bewegung: ein Ton wird produziert, dieser tritt einem gegenüber, indem er von der Umgebung zurückgeworfen wird, über das Hören des eigenen Lautes wird der Laut weiterentwickelt. Dass einem in einem objektiv vernehmbaren Ton das Allereigenste entgegentreten kann und ich mich dadurch von außen wahrnehmen und als von mir selbst unterschieden erkennen kann, ist das entscheidende Kennzeichen menschlicher Sprache. Dass es in dieser Textstelle nicht um menschliche Sprache, sondern um Töne geht, liegt in der Logik des Bildmaterials vom Wind. Auch die entwickelte Sprache des Windes ist eine Melodie und nicht menschlich artikulierte Sprache.18 Wichtiger ist hier, dass die grundlegende Struktur von Sprache dargestellt ist: etwas von mir tritt mir im Wort gegenüber und ermöglicht mir dadurch, neu zu mir zurückzukommen und so ein wirkliches Ich zu werden. Der Wind lässt an den Geist denken.19 Das liegt umso näher, als es hier um die Entwicklung der Freiheit geht, die für Kierkegaard eine Bewegung ————— 18 Auch in den Papirer vergleicht Kierkegaard die Wiederholung mit Musik, nämlich der Melodie eines Flötenspielers. Dort ist die Wiederholung Musik eines Flöte spielenden Straßenmusikers, dessen zarte Melodie immer wieder im Lärm der Kutschen und Marktschreierinnen untergeht. (Pap IV B 117, 283). Auch hier handelt es sich um einen Vergleich, der noch nichts darüber aussagt, ob die Wiederholung ein sprachliches oder unsprachliches Phänomen ist 19 Die Beziehung Wind und Geist liegt schon in der Begriffsgeschichte des Wortes: Im hebräischen ruach, Griechischen pneuma und lateinischen animus sind Wind und Geist zusammengedacht. Biblisch ist der Zusammenhang exemplarisch deutlich in Joh 3,8: Der Wind bläst, wo er will, und so ist es auch mit dem Geist.
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des Geistes ist.20 So wie der Wind seine Melodie lernt, muss der Geist seine Sprache finden. Dabei erfindet er die Sprache nicht neu, sondern es handelt sich um ein Geschehen, in dem Töne wie Brüllen, Heulen oder Juchzen ausgestoßen und von der Umgebung zurückgegeben werden und sich langsam zu einer eigenen Stimme entwickeln.21 Sowohl die menschliche Sprache als ganze wird sich aus solchen Stimmexperimenten entwickelt haben, ebenso wie man in der Entwicklung jedes einzelnen Menschen beobachten kann, dass sich aus Heulen, Brüllen und Juchzen, das ein Mensch von Anfang an beherrscht, langsam Sprache entwickelt, allerdings nur im Gegenüber. Sprache entwickelt sich in diesem Ineinander von eigenen Lauten und dem, was von außen – im Bild gesprochen von den Gebirgswänden – entgegenkommt. Die Sprache des Menschen trägt wie das unveränderte Thema des Windes in sich den Prozess, in dem die Fähigkeit erworben wurde, sein eigenes Instrument zu spielen, seine eigene Sprache zu finden.22 Dieser Prozess, sich selbst und seine Sprache zu finden, ist die Entwicklung der Freiheit. Anknüpfend an die Überlegungen zum Begriff Angst kann man auch sagen: In dem Selbstgespräch, das der Mensch führt, um sich als Selbst zu ergreifen, wird die sprachliche Artikulation immer differenzierter. Auch sonst fügt sich das Bild, in dem die eigene Melodie im Hören auf das Echo der eigenen Worte entwickelt wird, gut in Kierkegaards Gedanken von Freiheit als Kommunikation. Wie im Begriff Angst geht es auch hier um das sprachliche Spiel mit Möglichkeit. Die Entwicklung der Freiheit ist nicht gradlinig, sondern schließt ein Sich-Verirren in der Möglichkeit ein. Jede Möglichkeit ist wie ein tönender Schatten, sagt Constantin im oben zitierten Abschnitt. In der Möglichkeit ist das Individuum eben noch ein Schatten, der sich in der zwielichtigen Sphäre der Angst bewegt. Bei dem ————— 20 Auch Glöckner interpretiert diesen Text über den Wind als bildhafte Beschreibung der Aufgabe der Verwirklichung von Freiheit (47). Der Geist allerdings kommt bei ihr nicht vor, wie überhaupt das Verhältnis von Geist und Freiheit in ihrer ganzen Studie nicht thematisiert wird. 21 Vielleicht kann man das Bild sogar so genau nehmen, dass man bei der zerklüfteten Berggegend an die menschliche Kehle denkt, wie Glöckner vorschlägt, und dann auch die zunehmende Beheimatung des Windes in dieser Gegend als Bild für die Beheimatung der Sprache im Menschen und des Menschen in seiner Sprache versteht. (GLÖCKNER, D., Das Versprechen: Überlegungen zu Kierkegaards theologischer Grundlegung der Sprache ausgehend von dessen Wiederholungsschrift, in: Kierkegaard Studies Yearbook 2002, Berlin/New York 2002. 38). 22 Glöckner interpretiert hier, dass einzelne Töne nicht beziehungslos nebeneinander verhallen, sondern zu einer eigenen Melodie zusammengearbeitet werden. Sie versteht das als „die Umschreibung für die Aufgabe, das eigene Leben in einem Zusammenhang zu begreifen, es von einem umfassenden Sinn her zu verstehen und gerade darin die Freiheit zu ergreifen.“ (Glöckner 1998, 47). Damit betont sie wieder sehr die aktiv gestaltende Seite des Ergreifens der eigenen Freiheit. Sie interpretiert damit nicht, dass nicht nur die eigenen Töne zu einem Ganzen zusammengesetzt werden, sondern die eigenen Töne einem als Hall im Gebirge entgegenkommen. Der eigentlich interessante Aspekt, dass die Freiheit sich hier aus dieser Selbstunterscheidung entwikkelt, geht ihr damit verloren.
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tönenden Schatten kann man vielleicht auch an den antiken Personenbegriff denken, der seinen Ursprung in der durch die Maske im Theater hindurchtönende Stimme hat.23 Schließlich geht es auch Constantin um die Erfahrung, in Theaterfiguren verschiedene Möglichkeiten seines Selbst auszuprobieren. Die Freiheit entwickelt sich, wenn das eigene in seiner sprachlichen Form von außen aufgenommen wird, einem als etwas anderes entgegenkommt und so der eigene Ausdruck weiterentwickelt wird. Das Erstaunliche daran ist, dass aus Geräuschen, die in erster Linie Fremdheit und Angst ausdrückten, eine Melodie werden kann, die als eigene Melodie Vertrautheit und Sicherheit vermittelt. Die Wiederholung bekommt durch den Vergleich mit der Melodie einen sehr positiven Ton der Beheimatung im eigenen Selbst. Das gilt von der Melodie sicher ebenso wie für das Finden einer eigenen Sprache als Ausdruck des eigenen Selbstverständnisses. Dass sich solch eine eigene Sprache, die Freiheit bedeutet, im Gegenüber, im Gespräch mit Gott entwickelt, greift weit über dieses Bild vom Wind hinaus, sei aber als Perspektive, in der Kierkegaard den Gedanken weiterentwickelt, benannt. Constantin jedenfalls kommt nicht zu seiner eigenen Melodie, und manchmal scheint er vor der Wiederholung geradezu zu flüchten. Sein Text ist assoziativ, und wo es ihm zu persönlich wird, ist er schnell bei einem anderen Thema und lässt den Leser mit dem Ernst der Wiederholung allein. Er selbst liebt die „unendliche Möglichkeit“, wie er bekennt, dafür steht sein geliebtes Posthorn, dem man niemals mit Sicherheit den gleichen Ton
————— 23 So auch Glöckner 2002, 40. Allerdings versteht sie den tönenden Schatten als vorsprachliche Äußerung, eines „Krypto-Individuums“, das sich selbst nicht hören will. Sprache gesteht sie erst dem wirklichen Selbst zu, und sobald dieses gefunden ist wie die Melodie des Windes, verstummen die nächtlichen Stimmen. Da das Finden der Melodie für die Verwirklichung der Freiheit steht, muss man bei ihr fragen, ob der Mensch erst mit dem Vollzug der Freiheit Sprache hat. Auch als unfreier Mensch hat der Mensch Sprache, wenn auch in anderer Qualität, die es genauer zu bestimmen gilt. Im nächsten Absatz unterscheidet sie dann ja auch selber die wahre Sprache des Selbst von Äußerungen des Dämonischen. (Glöckner 2002, 40). Sie weist darauf hin, dass der Mensch mit der Möglichkeit die Möglichkeit des doppelten Sprachgebrauchs entdecke. Doppelter Sprachgebrauch ist für sie die Unterscheidung von eigentlicher Sprache und Geschwätz. Sie stellt richtig fest, dass das menschliche Wesen untrennbar an die Äußerung seiner selbst gebunden ist. Aber warum trennt sie diese Äußerung dann in vorsprachlich, sprachlich und Verstummen der Sprache? Stehen nicht diese drei gerade alle für die Sprachlichkeit des Menschen und sind verschiedene Modi derselben? Es ist ein zu einfaches Verständnis von Sprache, wenn man als sprachlich nur klar artikulierte, vernünftige Äußerungen des Bewusstseins verstehen will. Diese Schwäche in Glöckners Sprachauffassung kann man auch daran erkennen, dass sie zwar verweist auf den engen Zusammenhang von Bewusstseinsempfindung und dem Hervorbringen von Lauten (39), Verdutztsein, Klage oder Seufzen sind für sie aber Äußerungen des Empfundenen, die noch nicht Sprache sind (38).
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entlocken kann (V, 49).24 Mit dieser Einstellung ist eine Wiederholung nicht möglich, wie er denn auch bei seinem Experiment erfahren musste. „Die Wiederholung“, so ist der zweite Teil dieses kunstvoll verschachtelten Buches überschrieben. Hier werden die Gedanken zur Wiederholung wiederholt und damit noch einmal von einer anderen Seite in den Blick genommen. Constantin ist von seiner Berliner Reise zurückgekehrt und hat in seinem Experiment festgestellt, dass es in seinem Leben keine Wiederholung geben kann. Constantin zieht sich zurück, bekommt aber Briefe von dem jungen Mann, in denen dessen Geschichte noch einmal aufgerollt und damit die Frage nach der Wiederholung neu gestellt wird. Constantin reflektiert zuerst die Rolle, die er dem jungen Mann gegenüber hat. Dieser schreibt ihm, möchte aber keine Antwort; der junge Mensch erklärt Constantin für geistesschwach und braucht ihn doch. Das Verhältnis zu seinem Vertrauten ist so widersprüchlich wie das Verhältnis zu sich selbst, sagt Constantin (V, 52): Der junge Mensch braucht einen Vertrauten und will ihn doch nicht als wirkliches Gegenüber haben. Der junge Mann fordert Schweigen von seinem Vertrauten und hat doch Angst davor, weil das Schweigen des anderen diesem eine ungeheure Macht gibt, nämlich die Macht, doch etwas zu sagen. Es handelt sich hier also um ein Gespräch, das nur eine Bewegungsrichtung hat. Der junge Mensch tritt im brieflichen Austausch mit Constantin sich selbst gegenüber, aber er findet darin nicht zu sich selbst. Es handelt sich um eine Kommunikationsform der Angst, die von Widersprüchlichkeit geprägt ist. Diese Widersprüchlichkeit entsteht eben dadurch, dass der Mensch in seiner Sprache aus sich heraustritt, sich aber darin verliert und nicht zu sich selbst zurückfindet. Dass es sich bei den Briefen des jungen Menschen um Zeugnisse der Angst handelt, ist auch in folgender Äußerung herauszuhören: „Mit ihnen zu reden, hat etwas unbeschreiblich Linderndes und Wohltuendes; denn es ist, als spräche man mit sich selber oder mit einer Idee“ (V, 60). Es handelt sich also nicht wirklich um ein Gespräch, das Gegenüber ist nur Anlass, um über sich selbst nachzudenken. Der Austausch ist wie ein Monolog, und den betrachtet Kierkegaard in seinen Analysen der Angst als Ausdruck von Verschlossenheit und damit als Verzweiflung, was ja auf den jungen Menschen durchaus zutrifft. Bei dem Gedanken daran, dass sein Gegenüber sich äußern könnte, wird es dem jungen Menschen auch gleich unheimlich: „Ihre Verschwiegenheit, die stummer ist als das Grab, sie hat vermutlich ————— 24 Seine Vorliebe für die unendlichen Möglichkeiten erklärt auch, warum er sich so ausführlich mit der Posse beschäftigt. Die Posse lebt davon, dass alles zufällig ist und dass diese Zufälligkeit komisch wird, wenn man sie als Idealität nimmt, wie man das von Theaterfiguren erwartet (V, 36 u.ö.).
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viele ähnliche Deposita in Besitz. […] Da bereut man es, Ihnen sich anvertraut zu haben. Herrgott!“ (V, 60). Das Unwohlsein des jungen Mannes scheint nun aber nicht nur mit seiner eigenen Angst zusammenzuhängen. Es hat auch mit der Beobachterposition von Constantin zu tun. „Ich hätte es gerne, Sie den ganzen Tag zu sehen, Ihnen zu lauschen auch noch die Nacht, dennoch, wenn ich handeln müßte, möchte ich es um keinen Preis in Ihrer Gegenwart tun“ (V, 60). Constantin ist der Mann des Wortes und der Gedanken, er ist derjenige, der vorschlägt, der Geliebten etwas vorzuspielen, was ganz und gar nicht den eigenen Gefühlen entspricht, bei ihm fallen Wort und Handlung auseinander. Er tritt damit in Gegensatz zu Hiob, den der junge Mensch sich als Lehrer sucht und der selbst von Constantin als derjenige eingeführt wird, der nicht doziert, sondern mit seinem Leben für seine Worte einsteht (V, 59).25 Der junge Mensch wirft Constantin vor, dass er die Leidenschaft und seine Stimmungen der kalten Reflexion unterordne. Ihm kommt es vor, als verliere der Beobachter seine Menschlichkeit, wenn er ganz reine Idee sein will (V, 61). Was dem Beobachter fehlt, ist das Dunkle und Träumende, sagt der junge Mensch (V, 61). Wieder deutet sich mit dem Dunklen und Träumenden die Angst an. Die Leidenschaft wird zum Thema des jungen Menschen, und man kann an ihm das Ringen um einen Ausdruck für seine Leidenschaft beobachten. Er sucht nach einer Sprache der Leidenschaft, in der Ich und Du angemessen zum Ausdruck kommen. Dieser Sprache tritt die reflektierte Sprache des Beobachters, der sich an die dritte Person hält, gegenüber. Die Sprache der Leidenschaft hat ihre Lebendigkeit und Überzeugungskraft darin, dass sie von der Person, die spricht, nicht zu trennen ist, weil Wort und Tat in ihr zusammenfallen. Auch der Dichter bedient sich der Sprache der Leidenschaft. Auch in guten dichterischen Texten bleibt der Leser nicht Beobachter, sondern wird durch die Worte in die Handlung hineingezogen. Allerdings verbleibt diese Einheit von Wort und Geschehen in der Phantasie. Wo sie ins wirkliche Leben übertragen ist, kommt es zu der Wiederholung, die der junge Mensch sucht. Die Suche nach der Wiederholung ist die Suche nach einer Sprache der Leidenschaft, die Ich und Du sagt, statt in der dritten Person zu reden – und man könnte von den ————— 25 Zu Kierkegaards Beschäftigung mit dem Hiobbuch vgl. auch die Erbaulichen Reden von 1843, die gleichzeitig mit dem Buch Die Wiederholung erschienen sind. Kierkegaard beschäftigt sich dort damit, dass Hiob Gott für beides loben kann: für das, was Gott ihm gegeben hat und für das, was Gott ihm genommen hat. Das Besondere dieses Wortes besteht für Kierkegaard nicht darin, dass Hiob dieses Wort gesprochen hat, sondern dass er ihm nachgekommen ist in der Tat (VII, 5). Er behauptet, dass das Aussprechen selber eine Handlung gewesen ist (VII, 6). Hier ist wieder die Einheit von Wort und Tat. Es ist Hiob selber, der hier zum Inhalt des Wortes wird. Wäre Hiob nur Lehrer gewesen, dann wäre die Hauptsache der Gehalt des Wortes, die Gedankenfülle, die darin liegt (VII, 6). So ist es die Person, in der die Einheit von Wort und Tat vollzogen ist.
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Überlegungen aus dem ersten Teil des Buches weiter ergänzen: eine Sprache, die in der Gegenwart und im Indikativ spricht. Diese Sprache tritt der Sprache der Angst gegenüber. Sie verliert sich nicht im Gegenüber, sondern ermöglicht dem Sprecher gerade in der Unterschiedenheit von sich selbst wirklich Ich zu sagen. In dieser Sprache fallen das Gegenüber des Wortes und die Handlung, die nur ganz beim Sprecher sein kann, zusammen. Von der Suche nach der Sprache der Leidenschaft, in der die Wiederholung sich ereignen kann, zeugen die Briefe des jungen Menschen. Der erste Brief ist eine Rechtfertigung des jungen Menschen, warum er nicht auf den Vorschlag von Constantin eingegangen ist. Wirkliche Argumente hat er nicht, stattdessen wird er zum Schluss sehr emotional und fürchtet dabei die Argumentation des Beobachters: Nein! Nein! Nein! Ich vermochte es nicht, ich vermag es nicht, ich will es nicht, nicht um die Welt will ich es tun. Nein! Nein! Nein! Ich könnt verzweifeln über diesen Schriftzeichen, die kalt da stehn gleich müßigen Tagedieben, eines neben dem andern, und das eine Nein sagt nicht mehr als das andre. Sie sollten hören, wie die Leidenschaft in mir sie moduliert. […] Dennoch, stünde ich vor Ihnen, so spräche ich wohl schwerlich mehr als ein einziges Nein; denn ehe daß ich weiter gekommen wäre, hätten Sie mich wohl unterbrochen mit der kühlen Erwiderung: ja! Ja! (V, 65).
Der junge Mensch findet für seine Leidenschaft keine Sprache. Sein Beharren auf dem Nein hat der wortgewandten Reflexion seines Gegenübers nichts entgegenzusetzen. Hier zeigt sich, dass Leidenschaft, die nach einem Ausdruck sucht, nicht einfach ein Gefühl unmittelbar benennen kann. Auch die Leidenschaft braucht die Reflexion ihrer selbst. Ein leidenschaftliches Gefühl trägt immer auch sein Gegenteil in sich, so hier die Liebe die Angst vor dem Verlust. Nur wo beide zur Geltung kommen, kann es eine angemessene Sprache der Leidenschaft geben. Dass Reflexion und Leidenschaft sich nicht ausschließen, zeigt sich auch darin, dass Constantin sich durchaus für leidenschaftlich hält. Er beklagt sich über Menschen, die bei dem, was sie sagen, keine Leidenschaft haben. Er selbst hält sich für leidenschaftlich, aber bei ihm kann sich der Gegenstand seiner Leidenschaft auch als sein Gegenteil ausdrücken. Der zweite Brief des jungen Menschen handelt von seiner Beschäftigung mit Hiob. Hiob bleibt auch in der Not bei seinem Vertrauen auf Gott, er wiederholt die Worte des Gottesvertrauens. Hier benutzt der junge Mensch den Begriff der Wiederholung in einer neuen Bedeutungsnuance, die für die Beharrlichkeit Hiobs steht, mit der er daran festhält, dass er im Recht ist. Hiob zieht Gott zur Rechenschaft, und der junge Mann will auch für sein Leiden vor Gott Rechenschaft einfordern:
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Zähle alles her, erheb deine Stimme, zählte es laut her, Gott vermag sehr wohl noch lauter zu reden, er hat ja den Donner – aber auch der ist eine Antwort, eine Erklärung, zuverlässig, treu, aus erster Hand, eine Antwort von Gott selbst, welche, und wenn sie einen Menschen gleich zerschmetterte, herrlicher ist als Stadtklatsch und Gerüchte betreffs der Gerechtigkeit der Vorsehung, die erfunden sind von menschlicher Weisheit und verbreitet von alten Vetteln und weibischen Männern (V, 70).
Hier wird das Leid vor Gott gebracht, und die Frage nach Recht und Unrecht, nach Schuld und Unschuld soll vor ihm entschieden werden. Zu einem wirklichen Austausch zwischen Gott und Mensch kommt es nicht. Das ist sicher der Grund, weshalb Constantin am Ende feststellt, dass der junge Mensch nicht wirklich religiös geworden ist. Der Donner ist noch nicht das Wort Gottes.26 Er weist den Menschen in seine Grenzen und bringt Unehrlichkeiten menschlicher Sprache zum Schweigen. Insofern erlebt der junge Mann den Donner als Befreiung. Ein positives Gottesverhältnis hat er damit noch nicht. Die Wiederholung muss mehr sein als ein beharrliches Festhalten daran, im Recht zu sein. Die Wiederholung ist nicht ein rein äußerliches immer neues Aussprechen des gleichen Satzes. In der Wiederholung bekommt der gleiche Satz eine neue Bedeutung, eine innere Veränderung vollzieht sich. Diese Wiederholung vollzieht der junge Mensch nicht. Folgerichtig hat der junge Mensch auch hinterher weder eine Antwort gefunden noch seine Sprache wiedergefunden. In seinem dritten Brief fragt er verzweifelt danach, welchen Sinn sein Dasein hat. Die Sinnlosigkeit schließt ein, dass seine Sprache sinnlos wird:27 ————— 26 Zur Interpretation des Donners vgl. den Aufsatz Glöckners von 2002. Sie versteht den Donner als „das Totale“ (45). Sie macht eine Kette von Konsequenzen auf: die Frage von Glück und Unglück wird zurückgeführt auf die Frage nach Schuld und Unschuld, diese wiederum auf die Spannung zwischen Recht und Unrecht des Menschen vor Gott. Constantin beobachtet dabei den jungen Mann; (Frage nach Glück), der junge Mann hört auf Hiob (Frage nach Schuld) und dieser wiederum auf Gott (Frage nach Recht). Sie führt diese Kette auf das Totale, den ultimativen Punkt zu (44). Außerdem ist bei ihr der Beginn der Kette, nämlich der Ursprung der Constantinschen Beobachtungen ein Schauer, der ihrer Meinung nach auch auf das Totale verweist (42). Sie entzieht mit der Charakterisierung als Totales Anfang und Ende jeder Beschreibung und verortet die religiöse Erfahrung damit in einem gänzlich unsprachlichen Bereich: „Konkret erfahren wir die zerstörende Macht der Selbstmitteilung Gottes […] am Zerbrechen der Sprache. Der „Donner“ Gottes als dessen Selbstmitteilung hat folglich eine doppelte und in sich widersprüchliche Funktion: Als unbedingte Voraussetzung für das Gelingen einer jeden Kommunikation setzt die Selbstmitteilung Gottes zugleich die Sprache außer Kraft. Was übrigbleibt, ist Vor- und Außersprachliches“ (47). Gegen Glöckner ist festzuhalten, dass der Donner nicht nur dazu da ist, menschliche Kommunikation ins rechte Verhältnis zu rücken und sie damit zu ermöglichen. Der Donner dient zu nicht mehr, als den Menschen zum Zuhören zu bringen. Das eigentlich religiöse Geschehen kommt danach und ist nicht vor- und außersprachlich, sondern gerade sprachlich, nämlich ein Reden Gottes. 27 Die gleichen Fragen stellt Quidam in der Leidensgeschichte Schuldig- Nicht schuldig, die Teil der Stadien auf des Lebens Weg sind.
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An wen soll ich mich wenden mit meiner Klage? Das Dasein ist ja eine Diskussion, darf ich bitten meine Betrachtung mit zur Verhandlung zu stellen? Wenn man das Dasein nehmen soll wie es ist, wäre es dann nicht das Beste, man erführe wie es ist? […] Ich lasse jedermann fragen, und frage jedermann, ob ich irgend einen Vorteil davon habe, mich selbst und ein Mädchen unglücklich zu machen. „Schuld“ – was will das heißen? […] Weiß man etwa nicht mit Bestimmtheit, wie es zugeht, daß ein Mensch schuldig wird? Will da niemand antworten? […] Alles, was in meinem Wesen enthalten ist, schreit auf in Widerspruch zu sich selbst. Wie ist es zugegangen, daß ich schuldig ward? Oder bin ich etwa nicht schuldig? Warum werde ich dann so genannt in allen Zungen? Was ist doch die menschliche Sprache für eine jämmerliche Erfindung, die das eine sagt und das andere meint? (V, 71).
Die Verzweiflung lässt ihn erwägen, ob das Schweigen nicht die einzige Alternative ist. Aber er bleibt dabei, dass er recht hat und dass es dafür eine Sprache geben muss: Was ist das menschliche Laut geben, welches man Sprache nennt, für ein jämmerliches Kauderwelsch, das nur von einer Clique verstanden wird! Sind die der Sprache Entbehrenden nicht weiser, weil sie niemals dergleichen sagen? – Bin ich treulos? Falls sie fortführe, mich zu lieben, und niemals einen andern liebte, so wäre sie gegen mich ja treu. Falls ich fortfahre, allein sie lieben zu wollen, bin ich dann treulos? Wir tun ja beide das Gleiche, wieso werde ich also ein Betrüger, weil ich dadurch meine Treue zeige, daß ich betrüge? Warum soll sie recht haben, ich unrecht? Wenn wir beide treu sind, warum drückt man dies denn in der menschlichen Sprache dergestalt aus, daß sie treu ist, ich ein Betrüger? […] ich habe doch recht. Das soll mit keiner nehmen, ob es gleich keine Sprache gibt, in der ich es zu sagen vermag. Ich habe gehandelt wie recht ist. (V, 72).
Der junge Mann fühlt sich von der Sprache betrogen, weil die allgemeine Bedeutung von Schuld nicht seinem Schuldempfinden entspricht. Man kann sagen, dass auch dies wieder ein Auseinanderfallen von Wort und Tat ist: sein tatsächliches Selbstverständnis findet keinen Ausdruck im dafür vorgesehenen Wort. Vor dem Schweigen hat er Angst, denn sein Selbstverhältnis drängt auf Ausdruck, auf Kommunikation. So bleibt ihm nur das trotzige Festhalten am Rechthaben. Die Klage darüber, sich nicht verständlich machen zu können, geht einher damit, den Namen und damit die eigene Identität zu verlieren. „Was hülfe es auch, wenn ich etwas sagte, es gibt niemanden, der mich versteht; mein Schmerz und mein Leiden sind namenlos, ebenso wie ich selber es bin […]“ (V, 74). Der fehlende Ausdruck für das eigene Selbst bedeutet Verlust des Selbst. Das Festhalten an einer eigenen Sprache hat sich als Sackgasse erwiesen. Nur wo, wie bei Hiob, die Sprache einem von außen wieder zukommt, ist neue Kommunikation möglich. Der nächste Brief ist die eindrucksvolle Beschreibung der Hioblektüre des verzweifelten jungen Menschen. „Ich lese ihn nicht, wie man sonst ein
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Buch liest, mit dem Auge, sondern ich lege das Buch gleichsam auf mein Herz, und mit des Herzens Auge lese ich es, verstehe wie in Hellsichtigkeit das Einzelne auf die verschiedenste Weise“ (V, 74f). Im Folgenden nennt er Beispiele für so verschiedene Weisen: es kann ihn aus der Lethargie aufrütteln, oder es kann ihn in seiner Unruhe still werden lassen. Auf jeden Fall wirkt das Wort auf seine Stimmungen und Leidenschaften. Er beschreibt, dass er sich, wenn er allein ist, die Worte Hiobs zu eigen macht, aber das nicht in Gegenwart anderer tun kann. Hier zeigt sich, dass er die Worte des Glaubens nicht wirklich in sein eigenes Leben übernehmen kann. Wenn er allein ist, begibt er sich aber ganz in die Worte Hiobs hinein: Zur Nacht kann ich die Lichter in meinem Zimmer anzünden, das ganze Haus hell erleuchten lassen. Dann stehe ich auf, lese mit lauter Stimme, fast schreiend, die eine oder andere Stelle aus ihm. Oder ich riegle mein Fenster auf und schreie seine Worte hinaus in die Welt […]. Obwohl ich das Buch immer wieder gelesen, ist jedes Wort mir neu. Jedesmal, wenn ich zu einem Worte komme, wird es zum ersten Mal geboren oder entsteht es mit Ursprungsmacht in meiner Seele. Allen Rausch der Leidenschaft sauge ich, einem Trinker gleich, klein bei klein in mich ein, bis daß ich bei diesem langsamen Nippen nahezu bis zur Bewußtlosigkeit trunken werde. Auf der andern Seite haste ich den Worten entgegen mit einer unbeschreiblichen Ungeduld. Ein halbes Wort, so eilt meine Seele hinein in seinen Gedanken, in seine Ergießung; geschwinder als das ausgeworfene Lot des Meeres Grund sucht, geschwinder als der Blitz den Blitzableiter sucht, schlüpft meine Seele hinein und bleibt darinnen (V, 75f).
Die Meerestiefe und der Blitz, also Naturgewalten, die für die Unergründlichkeit stehen, sind es, mit denen sich der junge Mensch vergleicht, wenn er sich in Hiobs Worte hineinbegibt. Auch vorher ist es die Unergründlichkeit seines Bewusstseins, in die er sich stürzt, er beschreibt sie als leidenschaftlichen, rauschhaften Zustand. In diese Urgewalten kommt ein Wort, das als ein von außen Kommendes in dem jungen Menschen nun entsteht, er macht es sich ganz zu eigen. Er spricht von der Ursprungsmacht, mit der er es in sein Innerstes, seine Seele aufnimmt und weckt damit Assoziationen an die wirkmächtigen Worte Gottes in der Schöpfungsgeschichte. So soll es sein, wenn ein Mensch ein Wort Gottes in einer Wiederholung für sich annimmt und sich ihn ihm versteht: die Schöpfungsmacht Gottes erweist sich darin, dass ein Mensch im wiederholenden Aussprechen des Wortes Gottes sich als Selbst in Freiheit vollzieht. Es bleibt aber fraglich, ob dies beim jungen Menschen wirklich geschieht. Beim Lesen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich bei der Art und Weise, wie der junge Mensch die Worte Hiobs liest, nicht um einen Gebrauch der biblischen Worte als Wort Gottes handelt, sondern um einen Monolog in ihm selbst. Es scheint nur um sein eigenes Innerstes zu gehen. Er bedient sich dabei der Worte Hiobs wie eines
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dichterischen Textes. Er spürt, dass sich in Hiob eine Erfahrung des Glaubens ausdrückt, die auch ihm helfen würde, aber er macht sie zum Gegenstand seiner Hoffnung, ohne sich wirklich auf sie einzulassen. Das zeigt sich auch im Fortgang des Textes, wo die Identifikation mit Hiob bald ein Ende hat: […] ich hebe wieder an, ihn laut zu lesen mit aller meiner Macht und von ganzem Herzen. Da, plötzlich, werde ich stumm; ich höre nichts mehr, sehe nichts, allein in dunklen Umrissen ahne ich Hiob, wie er in der Asche sitzt, und seine Freunde; doch niemand spricht ein Wort, dies Schweigen aber birgt alle Grauen in sich wie ein Geheimnis, das niemand zu nennen wagt. Da wird das Schweigen gebrochen, und Hiobs gepeinigte Seele bricht hervor in gewaltigem Schreien. Die verstehe ich, diese Worte mache ich zu den meinen (V, 76f).
Aber im gleichen Moment befällt ihn schon das Unbehagen. Er betrachtet sich wie von außen, er bekommt Angst, dass das Entsetzen, von dem er liest, eines Tages auch über ihn kommen könnte. Diese Aussagen sprechen dafür, dass er sehr wohl ahnt, dass er nicht wie Hiob ist. Er weiß wohl, dass Glaube noch etwas anderes ist als der Trost, den er in Hiob findet. Und er weiß auch, dass vor diesem Glauben von Hiob ein Entsetzen liegt, das noch anders ist als sein Leiden. Die Hiobleküre des jungen Manns hat die Leidenschaftlichkeit, der es bedarf, um das Wort Gottes als Wort Gottes zu lesen. Aber mit der Identifikation ist es noch nicht getan. Es braucht auch ein sog. Gegensatzverhältnis, das der junge Mensch wenig später reflektiert, wenn er sich mit der Deutung der Hiobsgeschichte als Prüfung auseinandersetzt. Grenzstreitigkeiten des Glaubens werden in der Hiobsgeschichte ausgekämpft, der „ungeheure Aufstand seitens der wilden und kampflüsternen Kräfte der Leidenschaft“ (V, 80). Es geht um ein „rein persönliches Gegensatzverhältnis zu Gott“ (V, 80), das sich nicht nachträglich als Prüfung deuten lasse. Wenn man an der Kategorie der Prüfung festhalten will, darf dabei nicht verlorengehen, dass sie mit ungeheuerlichen Schmerzen verbunden ist, und das wiederum hat damit zu tun, dass Hiob die Prüfung nicht in kindlicher Unmittelbarkeit erlebt (V, 81). An diesem persönlichen Gegensatzverhältnis, scheitert der junge Mensch in seiner Leidenschaftlichkeit. Er erlebt schmerzlich seine Gegensätze, aber er ist nicht bereit, die Gegensätze zu einer differenzierten Einheit zusammenfassen zu lassen, sondern sucht sehnsuchtsvoll nach einer einfachen Einheit. Der nächste Brief hat mehr Abstand zum Geschehen und ringt um dessen Deutung. Wichtig ist dem jungen Menschen, dass Hiob trotz allen recht hat (V, 77). Dieses Rechtbehalten ist für ihn ein Festhalten an der Freiheit. „Das ist das Große an Hiob, daß die Leidenschaft der Freiheit bei ihm nicht erstickt und nicht zur Ruhe gebracht wird in einem verkehrten Ausdruck“ (V, 77). Die Freiheit besteht darin, dass er nicht darin einwilligt, dass er für
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seine Sünden leidet, so wie seine Freunde ihm das nahe legen. Das ist kein trotziges Festhalten an der Liebe Gottes, die die Sünde ignoriert. Er will die Sünde nicht ethisch verstanden wissen, weil dann kein Mensch von sich behaupten könnte, sündlos zu sein. Das Festhalten an der Freiheit ist ein Festhalten an der Bestimmung des Menschen, dass er auf ein freies Bewusstsein hin angelegt ist: Hiob verharrt bei seiner Behauptung, daß er recht habe. Er tut es auf die Art, daß er dadurch Zeugnis gibt von jenem edlen menschlichen Freimut, der doch weiß, was ein Mensch ist, daß er nämlich, ob auch gebrechlich und rasch verwelkend gleich dem Leben der Blume, doch in Richtung auf die Freiheit etwas Großes ist, ein Bewußtsein hat, welches nicht einmal Gott ihm rauben kann, wiewohl er es ihm gegeben (V, 78).
Das Rechtbehalten bezieht sich nicht wie beim jungen Menschen auf ein Rechtbehalten in Bezug auf das eigene Verhalten und die eigenen Gefühlen, sondern es ist ein Rechtbehalten, das bezogen ist auf etwas, was ihm von außen zukommt, nämlich seine Bestimmung zur Freiheit. Wenn es darum geht, wer recht hat und wer unrecht hat, ist und bleibt es schwierig, sich gerade an diesem Punkt auf die menschliche Freiheit zu berufen. Gerade vor Gott liegt die Vollkommenheit des Menschen darin, unvollkommen zu sein, um die Formulierung zu gebrauchen, die Kierkegaard als Thema für eine erbauliche Rede gewählt hat, um eben dieses Verhältnis klarzustellen.28 Dennoch wird es bei Hiob aufgelöst in einer Weise, die bei dem jungen Menschen nicht möglich ist. „Hiob hält an seiner Behauptung zugleich auf die Art fest, daß man an ihm die Liebe und das Vertrauen erkennt, die gewiß sind, Gott vermöge schon noch alles zu erklären, wenn man nur ihn selber zum Reden bringe“ (V, 78). Die Auflösung besteht darin, dass Gott redet und die Situation erklärt. Es geht nicht darum, dass ein Urteilsspruch verkündet wird. Es geht um ein Reden, dass das Leben des Menschen in ein neues Licht setzt, das über Recht und Unrecht entscheidet. Was dafür die Maßstäbe sind, liegt nicht in menschlichem Ermessen. Aber dass es sich dabei um ein Gespräch, ein Reden handelt, hält auf jeden Fall fest, dass eine Beziehung zwischen Gott und Mensch besteht, die letztlich das Entscheidende ist. Der Mensch muss das Schweigen aushalten und Gott reden lassen. Die Freiheit kommt dem Menschen von außen zu. Darauf kann er sich vor Gott berufen. Das Rechthabenwollen, dass man etwas zugesprochen bekommen will, ist ein anderes als das Rechthabenwollen, seine Freiheit selbst auszusprechen.
————— 28 „Gottes bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit“ lautet der Titel dieser Erbaulichen Rede von 1844 (XIII, 5–34).
Wiederholung
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Der letzte Brief ist dem Ende der Hiobsgeschichte gewidmet. Der junge Mensch versteht das Ende so: „der Herr und Hiob haben einander verstanden, sie sind versöhnt“ (V, 81). Versöhnung und gegenseitiges Verstehen sind hier synonym gebraucht! Das Verstehen zwischen Gott und Mensch hat zur Folge, dass die Menschen Hiob wieder verstehen, sie essen mit ihm, bringen ihm Geschenke. Hiob ist gesegnet, er hat alles zwiefältig wiederbekommen. „Das nennt man eine Wiederholung“ (V, 81). Zu dieser Wiederholung, in der sich Gott und Mensch verstehen, kommt es beim jungen Menschen nicht. Wie tut ein Gewitter doch so gut! Wie selig muß es doch sein, zurechtgewiesen zu werden von Gott! Während ein Mensch ansonst sich unter der Zurechtweisung so leicht verhärtet; wenn Gott richtet, so verliert der Mensch sich selbst und vergißt des Schmerzes über der Liebe, die erziehen will (V, 82).
Der junge Mensch spricht hier wieder hypothetisch. Er redet über Hiob, ohne sich mit ihm zu identifizieren. Das, was im Gewitter und danach geschieht, ist ihm selbst nicht widerfahren, er ist eben kein Gläubiger. Was sich nach dem Gewitter ereignet, ist eine sprachliche Verständigung, die die Bedeutungen menschlicher Sprache umkehrt: Ein Gerichtsurteil verhärtet einen Menschen nicht, sondern befreit ihn. So gibt es denn also eine Wiederholung. Wann tritt sie ein? Ja, in irgendeiner menschlichen Sprache läßt sich das nicht gut sagen. Wann ist sie eingetreten für Hiob? Als alle denkbare menschliche Gewißheit und Wahrscheinlichkeit für die Unmöglichkeit sprach (V, 82).
Der letzte Brief ist geschrieben von dem jungen Mann als Wartendem – er wartet auf ein Gewitter und auf die Wiederholung (V, 83). Er möchte zu einer Ehe befähigt werden und so die Beziehung zu seiner Geliebten wiederholen. An dieser Wiederholung in seinem eigenen Leben scheitert er. Ganz zum Schluss bekommt das Geschehen noch eine andere Wendung. Die Geliebte ist verheiratet,29 und der junge Mensch erlebt seine Situation nun so, dass er sein eigenes Selbst zurückerhalten habe. „Gibt es denn also nicht eine Wiederholung“, fragt er, „hab ich nicht zwiefältig empfangen? Hab ich nicht mich selbst zurückempfangen, gerade auf die Art, daß ich die Bedeutung davon zwiefältig empfinden mußte? Und was ist eine Wiederholung von irdischem Gut, welche gegen die Bestimmung des Geistes gleichgiltig ist, im Vergleich mit einer solchen Wiederholung“ (V, 89). Diese Aussagen münden darin, dass die Ewigkeit die wahre Wiederholung ist (V, 90) Damit ist ein neuer Referenzrahmen eingeführt. Das, was folgt, kenn————— 29 Diverse Brüche im Text lassen darauf schließen, dass Kierkegaard den Schluss des Buches mehrfach geändert hat, u.a. deswegen, weil er in der Zwischenzeit von der Heirat seiner Regine erfahren hatte.
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zeichnet den Schreiber als Dichter und nicht als Gläubigen. Aber er weiß immerhin zu beschreiben, was es bedeutet, wenn jemand die Wiederholung vollziehen kann: „Eine religiöse Individualität hingegen ruht in sich selbst und verschmäht alle Kinderstreiche der Wirklichkeit“, heißt es ganz am Ende des Buches (V, 96). Sie handelt so, „als hätte er eine Bewußtseinstatsache gewonnen, an die er sich hätte halten können, und die ihm niemals zweideutig geworden wäre, sondern reiner Ernst, weil sie von ihm selbst gesetzt worden wäre in Kraft eines Gottesverhältnisses“ (V, 96). Am Ende des Buches über die Wiederholung ist deutlich, dass der Vollzug der Wiederholung der Vollzug des Glaubens ist. In welcher Weise das geschieht, bleibt – auch bedingt durch die Unstimmigkeiten, die sich aus der mehrmaligen Überarbeitung des Textes ergeben – vage. Das Buch bewegt sich auf der Grenze zum Religiösen. Es gibt zu erkennen, dass sich ein Selbst in seinen Widersprüchen als Selbst in neuer Einheit wiederholt und darin seine Freiheit vollzieht. Es verrät, dass diese Wiederholung – exemplarisch vollzogen von Hiob – da geschieht, wo ein Mensch ein Wort Gottes für sich nachspricht und sich selbst in seinen Widersprüchen darin neu findet. Viele Fragen zu dieser Wiederholung im Wort Gottes bleiben aber offen. Mit Blick auf andere Texte Kierkegaards möchte ich in einem letzten Abschnitt noch genauer nach dem Wort Gottes fragen.
4.3 Das Wort Gottes im Gespräch Das Wort Gottes im Gespräch Das Zusammenkommen von Idealität und Realität in der Wiederholung wurde im Fragment über den Zweifel als Beschreibung der Struktur des Selbst herausgearbeitet. Dabei ergab sich, dass es sich um eine sprachliche Bewegung handelt. Anhand des Buches Die Wiederholung wurde der Charakter dieser Bewegung konkretisiert durch das, was Kierkegaard zum Stichwort Leidenschaft und zum Verhältnis von Wort und Tat ausführt. Zu diesen beiden Gesichtspunkten sollen jetzt noch einige Gedanken aus anderen Schriften Kierkegaards angefügt werden. Dabei interessiert vor allem, was diese Überlegungen beitragen zu einem Verständnis vom Wort Gottes. Dabei soll es gehen um die Verkündigung bzw. die Aufgaben von Aposteln und Predigern. Außerdem muss mit Blick auf das Wort Gottes noch einmal die Bewegung vom Reden über das Schweigen hin zur neuen Rede aufgenommen werden. Sie wird sich erweisen als Bewegung von der indirekten Mitteilung zur direkten Mitteilung. Von der Leidenschaft war bereits in verschiedenen Kontexten die Rede. Sie galt als Kriterium dafür, dass Rede nicht zu Geschwätz wird. In der Wie-
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derholung wurde exemplarisch deutlich, wie die Leidenschaft zur Liebe gehört, wie sie an der Liebe scheitern kann und wie sie dann den leidenschaftlichen Menschen sich zum Religiösen orientieren lässt. Paradigma für leidenschaftliche Sprache ist die Liebeserklärung. Die Beschreibung einer Liebeserklärung liest sich bei Kierkegaard so: Was ich gesagt habe, weiß ich nicht, aber es war ein Schauer in mir; und meine Stimme war bei aller Ruhe doch bewegt; auf welche Weise, das kann ich nicht beschreiben, nur daß es unbeschreiblich lindernd was, mir Luft zu verschaffen. Ich bin überzeugt: das, was ich gesagt habe, hat die ganze innere Wahrheit meiner Leidenschaft gehabt (XV, 220).
Was den Menschen wirklich bewegt, drängt nach außen, es sucht Worte. Sobald es aus dem Menschen herausgetreten ist, verschafft es diesem ein Gefühl der Linderung, d.h. das Wort ist den richtigen Weg gegangen. Wo das Wort sich mit dem, was den Menschen bewegt, deckt, ist es ein Wort der Wahrheit.30 Solch ein Wort hat die Ursprünglichkeit dessen, was es ausdrückt. Jemand, der die Sprache der Leidenschaft in dieser Weise beherrscht, ist für Kierkegaard Shakespeare: Er weiß die Sprache der Leidenschaft fließend zu reden, eine Sprache, welche in hervorragendem Sinne die Eigenschaft hat, daß man sie überhaupt nicht sprechen kann, wenn man sie nicht fließend zu sprechen weiß, d.h., daß sie dann für einen überhaupt nicht existiert (XV, 233).
Die Leidenschaft garantiert dafür, dass einem das, wofür man sich leidenschaftlich begeistert, so selbstverständlich von der Hand geht wie einem die Muttersprache von der Zunge geht. Leidenschaft in der Liebe ist immer wieder Vergleichspunkt für die Leidenschaft zu Gott. Wie eine Liebeserklärung gegenüber einer Frau muss auch das Sprechen von Gott sein: Gleich wie der, welcher über die Gottheit sprechen will, von der Gottheit inspiriert sein muß, auf daß er würdiglich spreche, und also von der Gottheit selber belehrt werden muß, was er sagen solle, ebenso steht es auch mit der Rede über das Weib (XV, 77).
————— 30 Selbstverständlich bedenkt Kierkegaard bei allen seinen Überlegungen zur Leidenschaft immer mit, dass die Leidenschaft auch in die falsche Richtung gehen kann. Es bringt gar nichts, auf einen Menschen, der in Leidenschaft ist, von dem man aber meint, er gehe in die falsche Richtung, einzureden. Man kann ihm damit vielleicht Zugeständnisse abringen, seine Leidenschaft aber verschließt er in seinem Innern, wo sie immer heftiger wird und sich ihren Weg nach außen suchen wird. Vielmehr empfiehlt Kierkegaard, dem Menschen erst zuzuhören, sich von ihm belehren zu lassen. Dabei soll er Linderung finden, wenn er von seinem Leiden redet und das, was der Zuhörer hinzufügt, soll ihn reich machen durch dichterisches Erfassen (XXXIII, 39).
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Wort und Tat im Gespräch
Was leidenschaftliches Sprechen für die Predigt bedeutet, ist gleich noch näher zu beleuchten. Hier ist zuerst noch darauf hinzuweisen, dass die Leidenschaft nicht nur beim Sprechen, sondern auch beim Hören bzw. beim Lesen gefordert ist. Kierkegaard stellt fest, dass lesen und lesen sehr verschieden sein kann. Wenn jemand die heilige Schrift in fremder Sprache liest, dann ist das ein Lesen fürs Übersetzen, noch nicht das Lesen der Botschaft. Die Schrift muss, so meint Kierkegaard, vielmehr gelesen werden wie ein Liebesbrief, d.h. sofortiges Ausführen aller Wünsche (XXVIII, 62). Das verstehende Lesen ist verbunden mit Leidenschaft und bezogen aufs Handeln.31 Dabei kann man übrigens gut sehen, wie im Religiösen die ästhetische und die ethische Perspektive zusammenkommen. Die Leidenschaft wurde im Ästhetischen geschult und kann von dort aus ins Religiöse umgesetzt werden, während das Handeln seine Wurzeln im Ethischen hat. Das Wort Gottes muss also mit Leidenschaft gehört und in die Tat umgesetzt werden. Die Kraft zum Handeln hat ein Mensch aber nicht so sehr im Reden, sondern vielmehr im Schweigen. Schon mehrmals begegnete in den bisherigen Überlegungen der Gedanke, dass Schweigen und Handeln eng zusammengehören. Das war beim Verschlossenen so, der nur im Schweigen an seinem Entschluss festhalten konnte, besonders deutlich bei der letzten Konsequenz der dämonischen Verschlossenheit, nämlich dem Selbstmord: nur wer schweigt, wird Selbstmord begehen, wer darüber redet, meint es nicht ernst bzw. bittet damit um Hilfe. Ein Zusammenhang zwischen Schweigen und der Kraft zum Handeln besteht auch im Guten: an Abraham hob Kierkegaard besonders hervor, dass er die Kraft zum Handeln, nämlich seinen Sohn zu opfern, nur hatte, weil er schweigen konnte. Beide Dimensionen des Zusammenhangs von Schweigen und Handeln sind noch einmal ausdrücklich benannt in einem Text, in dem Kierkegaard über die Frage nachdenkt, ob ein Mensch das Recht hat, sich für die Wahrheit totschlagen zu lassen. Dort stellt er fest: Schweigen und Kraft zu handeln stehen in genauer Entsprechung zueinander; das Schweigen ist der Maßstab für die Kraft zu handeln; niemals hat ein Mensch mehr an Kraft zu handeln, als ihm an Schweigen eigen ist. Jedermann versteht sehr wohl, daß Handeln etwas weit Größeres ist als darüber Sprechen; ist er daher seiner selbst sicher, daß er es zu tun vermag, und hat er sich entschlossen, es zu tun, so spricht er nicht darüber. Dasjenige, darüber ein Mensch in Beziehung auf sein Handeln spricht, ist genau das, darinnen er seiner selbst nicht sicher ist (XXIII, 80).
————— 31 Wo Leidenschaft im Spiel ist, ist die Umsetzung des Wortes in die Tat nicht immer ein gradliniger Weg. Kierkegaard kann das Ringen mit dem Bibelwort mit dem Ringen Jakobs am Jabbok vergleichen (XIX, 22). Da kämpft die Selbstliebe mit dem Nächstenliebegebot.
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Wer wirklich einen Entschluss gefasst hat, der wird nicht darüber reden und das hat folgenden Grund: Das klare innere Bewusstsein, daß man kann und will, es gewährt eine ganz andere Befriedigung als alles Gerede. Daher pflegt man nur von dem zu reden, bei dem dies innere Bewußtsein seiner selbst einem mangelt. Von einem Gefühl, welches man in Wahrheit hat, spricht man nie; nur über das Gefühl, das man nicht hat, und über die Stärke des Gefühls, die man nicht hat, pflegt man zu reden (XXIII, 80f).32
Diese Einsicht wendet Kierkegaard auf das Böse wie das Gute an. Wenn ein anderer Mensch etwas Böses in sich verschließt, muss man ihn dazu bringen, darüber zu sprechen. Auch für einen selber gilt, dass du, wenn du im Begriff bist, „mit einem erschreckenden Gedanken dich in dir zu verschließen“, man darüber sprechen muss. Ebenso gilt es für das Gute: Wer wirklich einen Entschluss gefasst hat, der soll nicht darüber sprechen, „ wer in Wahrheit entschlossen ist, er ist von selbst verschwiegen“ (XXIII, 81). Für das Wort Gottes bedeutet dieser Zusammenhang zum einen, dass die Umsetzung des Wortes im Schweigen geschieht. Damit steht Kierkegaard in gut biblischer Tradition, dass jemand, der das Gebot der Nächstenliebe umsetzt, nicht darüber redet (z.B. Mt 6,3). Zum anderen fügt sich dieser enge Zusammenhang von Schweigen und Handeln zum leidenschaftlichen Hören: wer wirklich auf Gott hört, nimmt sich dabei selbst zurück, er schweigt, und nur in diesem Hören versteht er Gott wirklich und führt gleich aus, was er hört. Zur Entschlossenheit und dem Schweigen gehört die Konzentration auf das Eine. Diese Konzentration ist eine Frage des Willens. Ein Kierkegaard immer wieder wichtiger Gedanke ist dabei, dass in Bezug auf den Willen alle Menschen gleich sind: Was den Willen anbelangt, besteht unter allen Menschen Gleichheit (XV, 323). Die Aufgabe, sich selbst zu einem Nichts zu machen, ist für alle gleich schwer.33 Damit ist auch verbunden, dass ein Mensch, der mehr Fähigkeiten hat, es meist schwerer hat, zum Schweigen ————— 32 Das Schweigen, in dem sich Entschlossenheit und die Wahrhaftigkeit einer Empfindung erweist, führt Kierkegaard an verschiedensten Personen vor. So zum Beispiel an Antigone, in deren schweigender Trauer große Stärke liegt. Ihr In-sich-gekehrt-sein verleiht ihr eine fast übernatürliche Haltung (I, 169). 33 Im Zusammenhang der Gleichheit spielt auch der Begriff Idealität noch einmal eine Rolle: Sobald ein Individuum sich mit absoluter Forderung an sich selbst wendet, gibt es keine Mittelmäßigkeit mehr. Maßstab, den jeder Mensch an sich selbst anlegen soll, ist das Schweigeverhältnis zum Ideal. Er sucht schweigend Maßstab in seinem Innern ohne lindernden Vergleich und kann so wahrhaft sein Leben wagen. Wer schweigt, klagt niemand an außer sich selbst. Jeder hat Mitwissen mit dem Ideal, das alles fordert und nur in der Vernichtung vor Gott tröstet. Notwehr gegen alle Nachstellungen der Mittelmäßigkeit ist das Schweigen. Es liegt im Verhältnis des Schweigens zum Ideal ein Maßstab, der die größte Anstrengung in unbedeutendste, mühsame Minischritte statt Riesenschritte der Geschwätzigkeit. In Idealität des Schweigens gibt es das Wort Entschuldigung nicht (XVI/2, 258ff).
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zu kommen. Der Wille, durch den die Konzentration auf das Eine möglich wird, muss zu jedem menschlichen Denken dazukommen, damit es nicht in die falsche Richtung führt: Es ist meine Überzeugung, daß der Wille die Hauptsache ist, sogar im Hinblick auf das Denken, daß zehnmal so große Fähigkeiten ohne einen kräftigen Willen keinen so guten Denker machen wie zehnmal so geringe Fähigkeiten mit einem kräftigen Willen: die ausgezeichneten Fähigkeiten werden helfen zum Verstehen des Vielen, der kräftige Wille zum Verstehen des Einen (XV, 273).
Das Eine, das im Schweigen gefunden wird, ist die Quelle der Begeisterung. Wo sich Rede nicht aus dieser Quelle speist, verliert sie sich im Vielerlei und in der Bedeutungslosigkeit. Wahre Begeisterung kann sich im Schweigen äußern, denn im Schweigen liegt der Ursprung der Entschlossenheit zum Handeln. Die Rede nimmt ja gerade die Begeisterung eitel, indem sie lauthals verkündet, was in Schweigsamkeit vollbracht werden soll, und rasch werden die begeisterten Worte vergessen in des Lebens Bedeutungslosigkeit (XVIII, 36).34
Sprache kann niemals leisten, einen anderen Menschen zu überreden. Wenn jemand wirklich zum Handeln gebracht werden soll, kann das nur im Schweigen geschehen.35 Das Verstehen des Einen, das letztlich ins Schweigen führt, ist die Voraussetzung zum Handeln. Immer wieder ist es dieses Paradox, dass das Handeln so in die Nähe des Schweigens gerückt wird, welches doch das Sich-selbst-zurücknehmen ist und äußerlich gerade nicht nach aktiver Handlung aussieht. Erst muss Schweigen geschaffen werden, damit Gottes Wort vernommen werden kann, dann kann dieses Wort umgesetzt werden. Die Konzentration auf das Eine ist für Kierkegaard verbunden mit der Ewigkeit, auch ein Gedanke, der in der Rede über das Hören schon ausführlich herausgearbeitet wurde. Im Kontext der Beichte verweist Kierkegaard immer wieder auf die Wichtigkeit der Konzentration auf das Eine und da heißt es dann auch: „Die Zeitlichkeit kann ein Mensch ja freilich mit seinem Reden ausfüllen, aber die Ewigkeit macht das Wesen seines Handelns ————— 34 Die Konzentration auf das Eine hat auch eine andere Sicht auf die Welt zu Folge: vieles wird komisch. Wer einen großen Entschluss gefasst hat, wird ihn nicht in Richtung endlicher Verständlichkeit hinausplappern. Er schweigt – und jeder zweite Satz wirkt auf ihn komisch. Wenn er nicht schweigt, schwatzt er ihn halbreif aus und wird selber komisch (XVI/2, 171). 35 Kierkegaard bezieht sich mehrmals auf den Satz von Talleyrand, dass Sprache nicht da ist, um Gedanken kundzutun, sondern um sie zu verbergen (XXXI, 258). Und als Kommentar zu eben diesem Talleyrand, bemerkt er auch, dass Worte vom Handeln ablenken können: „Ich meine, weder Young noch Talleyrand haben Recht in dem, was sie über die Sprache sagen, wozu sie da sei; denn ich glaube, sie ist dazu da, die Leute darin zu bestärken und dahin zu bringen, daß sie das Handeln unterlassen“ (XV, 359).
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offenbar“ (XVIII, 54). Dass die Ewigkeit so fest mit Handeln verbunden ist, hängt mit Kierkegaards Ausfassung zusammen, dass es in der Ewigkeit keine Möglichkeit gibt. Daran tröstete sich der junge Mann in der Wiederholung, dass ihn die Ewigkeit davon heilt, sich in der Möglichkeit zu verlieren und dabei schwermütig zu werden. Wo es keine Möglichkeit gibt, rückt das Wort gegenüber dem Handeln in den Hintergrund. Die Zuordnung von Wort und Tat zu Möglichkeit und Wirklichkeit formuliert Kierkegaard in der Unwissenschaftlichen Nachschrift so: in Bezug auf die Möglichkeit ist das Wort das höchste Pathos, in Bezug auf die Wirklichkeit ist es die Tat (XVI/2, 95). Der Begriff Angst endete mit dem Ausblick darauf, dass die Angst zum Glauben bilde. In der Angst werden viele Möglichkeiten durchgespielt, und nur wer erfahren hat, wie ein Mensch zu einem Nichts wird, wenn er in seinen Möglichkeiten verlorengeht, der kann zu der Einheit und Gewissheit des Glaubens gelangen. Die Möglichkeiten werden in vielen Worten durchgespielt, Taten muss es dabei nicht geben. Die Konfrontation mit dem Nichts führt ins Schweigen, in dem alle Worte, die Möglichkeiten ohne Wirklichkeit sind, verstummen. Im Glauben fallen Wort und Tat zusammen, die Möglichkeit, die im Wort ausgesprochen wird, ist zugleich Wirklichkeit. Wo das in der Zeitlichkeit z.B. in einem Vergebungswort geschieht, ist die Ewigkeit vorweggenommen. Das vollständige Zusammenfallen von Wort und Tat ist aber der Ewigkeit vorbehalten. Der Mensch hört das Wort Gottes, und um es zu hören, muss er schweigen. Nur als ein Hörender und damit Schweigender kann er das Wort Gottes tun. Es bleibt aber dabei, dass in Bezug auf das Wort Gottes Wort und Tat zusammenfallen. Das hat seine Begründung in Christus. Die Einheit von Wort und Tat kann man in der Liebe Christi erleben: Die Liebe in ihm war lauter Handeln; es gab keinen einzigen Augenblick in seinem Leben, da die Liebe in ihm ein untätiges Gefühl gewesen wäre, da nach Worten sucht, während es die Zeit verrinnen läßt, oder eine Stimmung, die sich selbst genug ist, bei sich selbst verweilt, während keine Aufgabe da ist, nein, seine Liebe war lauter Handeln (XIX, 111).
Kierkegaard sagt nicht nur, dass Worte und Handlung bei Christus übereinstimmen, sondern geht noch darüber hinaus. Seine Handlung, die schweigend vor sich geht, verdichtet sich in einem Wort, das von Christus überliefert ist und in diesem Sinne ist Christus selber das Wort: Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig seid und beladen. So spricht er [Christus], und die, welche mit ihm gelebt haben, sie sagen es, und siehe, es ist wahrlich in seiner Weise zu leben nicht das Mindeste, das dem widerspräche. Mit der schweigenden und wahrhaftigen Wohlredenheit der Tat drückt sein Leben es aus, und hätte er es gleich niemals gesprochen, dies Wort, sein Leben drückt es aus: kommet her zu mir alle, die
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ihr mühselig seid und beladen. Er steht zu seinem Wort, oder er ist selber sein Wort, er ist was er sagt, auch in diesem Sinne ist er das Wort (XXVI, 10).
Weil Wort und Tat übereinstimmen, ist Christus das Wort.36 In Christus ist damit beispielhaft vollzogen, was Kierkegaard als die Struktur des menschlichen Selbst beschrieb: die Idealität, die ihren Ausdruck in der Sprache hat, und die Realität, die sich im Handeln äußert, kommen in einem Wort zusammen. Das Wort wiederholt sich in der Handlung und die Handlung wird im Wort wiederholt. In Christus ist diese Wiederholung vollzogen, bei ihm sind Wort und Tat eins, deshalb ist er das Wort Gottes. Interessant ist, dass auch Menschen zu einem Wort Gottes werden können. Sie allerdings werden das nicht, indem sie reden, sondern indem sie schweigen. So zumindest legt es sich aus Kierkegaards Auslegung der Geschichte von Jesus und der Sünderin nahe (XXV, 155–163). Kierkegaard bezieht sich auf die lukanische Geschichte von der Frau, die Jesus salbte und mit ihren Tränen seine Füße wusch (Lk 7, 36ff). Kierkegaard ist beeindruckt davon, dass diese Frau im Haus der Pharisäer, die sie verurteilen und ihr ständig ihre Vergehen vor Augen halten, sich Jesus als Sünderin offenbaren konnte. Er wertet es als Zeichen ihrer besonderen Liebe, dass sie nicht davonläuft und ihre Sünden versteckt, sondern sie offenbart. Ihre Liebe zu Jesus ist größer als die Liebe zu ihrer Sünde, also sich selbst. Dieses Sündenbekenntnis, das gleichzeitig ein Vertrauensbeweis und eine Liebeserklärung ist, geschieht nicht mit Worten, sondern durch Handlungen: „sie versichert nicht, sie handelt: sie weint, sie küßt seine Füße“ (XXV, 158). Weiter heißt es in der Auslegung: Sie spricht nichts, ist somit auch nicht was sie spricht; sondern sie ist, was sie nicht spricht, oder was sie nicht spricht, das ist sie, sie ist selbst die Bedeutung, gleicht einem Bilde: sie hat der Zunge und der Sprache und der Unruhe der Gedanken vergessen und auch dessen vergessen das noch mehr ist als Unruhe, des eigenen Selbst, hat ihrer selbst vergessen, sie die Verlorene, die sich nun verloren hat an ihren Heiland, in Ihn verloren zu seinen Füßen ruht – gleich einem Bilde (XXV, 160).
Mit ihrem Handeln drückt die Frau aus, wer sie ist, nämlich dass sie vor Jesus eine Sünderin ist und um Vergebung bittet. Sie macht sich selbst zu einem Nichts und dem Nichts ist Schweigen angemessen. Wieder einmal wird deutlich, dass es eine sehr aktive Handlung ist, sich zu einem Nichts zu machen. Schweigen und Handeln hängen wieder eng zusammen, durch eine Handlung begibt sich die Frau ins Schweigen. Was ihr für dieses Sündenbekenntnis abverlangt wird, passt gut zu der vorherigen Einsicht, dass im Schweigen besondere Entschlossenheit liegt. Nur in dieser Entschlos————— 36 Das ist Kierkegaards Interpretation der Aussagen aus dem Prolog des Johannesevangeliums, dass der Sohn das fleischgewordene Wort Gottes ist (Joh 1).
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senheit, die Kierkegaard als besonders große Liebe bezeichnet, ist es der Frau möglich, sich den Vorwürfen der Pharisäer und ihren Selbstanschuldigungen auszusetzen und sich trotzdem zu Jesus zu begeben. Im Schweigen macht sich die Frau zu einem Nichts und lässt damit die Sprache hinter sich. Mit der Sprache ist die Unruhe verbunden, also das Vielerlei, und das Bild, das ein Mensch von sich selber hat. Die Sprache ermöglicht dem Menschen, sich selbst als ein Verhältnis wahrzunehmen. Aber um ein von Gott gesetztes Verhältnis zu werden, muss der Mensch sein eigenes Selbstbild, an dem er verzweifelt, aufgeben und sich ins Schweigen begeben.37 In diesem Schweigen ist der Mensch ein Bild. Dazu bemerkt Kierkegaard weiter, dass Jesus nicht mit der Frau redet, sondern über sie. Er vergibt ihr nicht die Sünden, sondern er erklärt den Pharisäern, dass ihr die Sünden vergeben sind. Er scheint also das Bild, das sie abgibt, den Pharisäern zu erläutern. Ihr Bild ist Verkündigung. Zusammen mit den Worten Jesu zeichnet sie das aus, was oben Christus als Wort Gottes charakterisierte: Wort und Tat fallen zusammen.38 Am Ende dieses Absatzes über das Bild ————— 37 Die Rede über die Sünderin ist zusammen mit der Krankheit zum Tode herausgegeben. An diesen Gedanken, dass ein Mensch sich selbst aufgeben muss, um von Gott neu gesetzt zu werden, erkennt man die Zusammengehörigkeit der Schriften. 38 Zum Verhältnis von Wort und Bild sei angemerkt, dass Kierkegaard sich mehrmals auf einen Satz von Hamann aus dem Anfangsteil der Aesthetica in nuce bezieht, der eben dieses Ineinander von Sprache und Bild zum Thema macht: „Rede, dass ich dich sehe!“ (HAMANN, J.G., Sämtliche Werke, 2.Bd. Historisch–kritische Ausgabe von Nadler, J., Wien 1950. 198). Zu Geschichte und Interpretation des Hamannschen Satzes vgl.: RINGLEBEN, J., „Rede, dass ich dich sehe“ Betrachtungen zu Hamanns theologischem Sprachdenken, in: Arbeit am Gottesbegriff II, Tübingen 2005. 5–22. Mit Blick auf die Sünderin könnte man hier vielleicht sagen: Sprich das Wort der Vergebung, damit es an mir sichtbar werde. Im Begriff Ironie taucht der Satz von Hamann ebenso auf (XXXI, 248) wie in den Stadien auf des Lebens Weg (XV, 423). Dort ist das Wort nicht wie bei Hamann bezogen auf Gott, der durch sein Reden sichtbar wird, sondern von Menschen gesagt, so z.B. von Quidam, der durch seine Tagebücher, also sein Reden, so plastisch vor dem Auge des Lesers entstehen soll, dass dieser ihn sieht. Weiter ist der Satz zweimal kurz hintereinander in den Briefen aufgenommen (XXXV, 16, 19). Auch dort ist der Satz an Menschen gerichtet, zuerst an die Adresse eines Freundes, er solle reden, dass seine Stimmungen, sein Innerstes sichtbar werden, dann als Aussage über den Zweifel und die Liebe, die sich im dem, wie sie sprechen, offenbaren und damit sichtbar werden. Schließlich wählte Kierkegaard den Satz von Hamann als Spruch auf einem Notizheft, in dem er ergänzende Gedanken zum Begriff Angst festhielt. Neben dem Titel dieser sog. Vokalisationen zum Begriff Angst steht der Satz loquere ut videam te. Die Vokalisationen entpuppen sich als Kurzcharakteristiken von Personen aus der Literatur oder aus Kierkegaards Zeit, wie z.B. eine Kopenhagener Prostituierte, oder in der letzten Vokalisation um ein Verhältnis zwischen Vater und Sohn, das auch für Kierkegaards Verhältnis zu seinem Vater stehen könnte. Es geht beim Reden, um zu sehen – neben der unmittelbaren Verbindung, dass im gesprochenen Konsonantentext z.B. im Hebräischen beim Reden die Vokale in Form von Zeichen der Vokalisation sichtbar gemacht werden – um ein offenbarendes Reden konkreter Personen, an dem die theoretischen Überlegungen zur Angst sichtbar werden. Der Text ist abgedruckt in Søren Kierkegaards Skrifter K4. Kommentarbind til Gjentagelsen, Frygt og Bæven, Philosophiske Smuler, Begrebet Angst, Forord, Søren Kierkegaard Forskningscentret (Hg.), Kopenhagen 1998. 337–339.
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ist beides noch einmal zusammengefasst, das Wort wird gesagt aus dem Munde Jesu und zugleich wird das Wort in die Tat umgesetzt durch die Handlung der Frau: „Das ist beinahe wie eine Erzählung, eine heilige Erzählung, ein Gleichnis – und doch geschieht im gleichen Augenblick am gleichen Orte das gleiche in Wirklichkeit“ (XXV, 160). Das Wort der Vergebung ist damit die Wirklichkeit der Vergebung. Ein Wort Gottes wird sichtbar im Leben eines Menschen. Man kann zu dem Gedanken, dass das Wort sich in einem menschlichen Leben zu einem Bild verdichtet, auch daran denken, dass bei Kierkegaard oft das Leben als ein Kunstwerk verstanden wird. Der Ästhetiker inszeniert ganz bewusst sein Leben als Kunstwerk, scheitert aber daran, dass er seine Vorstellung des Lebens und der Liebe nicht wirklich leben kann, sondern sie nur vorspielt. Der Ethiker äußert, dass er es als höchste Form künstlerischer Darstellung empfindet, wenn etwas gelebt wird. Die Verwirklichung des Ästhetischen im wirklichen Leben steht für ihn höher als alle dichterische Reproduktion (II, 145). Von den hier vorausgegangenen Überlegungen her könnte man ergänzen, dass sich das Kunstwerk des Lebens da vollendet, wo der Mensch zu einem Kunstwerk Gottes wird, indem er als Bild das Wort Gottes verkörpert. Vielleicht kann man das sogar so interpretieren, dass der Mensch damit verwirklicht, dass er ursprünglich zum Bilde Gottes geschaffen ist. Dass ein Wort der Vergebung zur Wirklichkeit der Vergebung wird, geschieht nicht nur einmalig in der Geschichte der Sünderin, sondern immer dort, wo ein Mensch die Worte der Sünderin nachspricht und sie ebenso meint. Die Wahrheit des Wortes von der Sündenvergebung erweist sich dort, wo Wort und Tat wie bei der Sünderin zusammenfallen: Es ist wahr, deine Sünden sind dir in Christus vergeben; dies Wahre aber, welches auch darum zu jedem im besonderen gesagt wird, ist ja in einem andern Sinne noch nicht wahr, es muß erst zur Wahrheit gemacht werden von einem jeden im besondern (XXV, 161).
Dieses Wahrwerden geschieht, wo ein Mensch schweigt und sich damit zu einem Nichts macht und dann das Wort der Vergebung hört. In diesem Wort ist die Sündenvergebung dann nicht nur gesagt, sondern sie geschieht auch, Wort und Tat fallen zusammen. Das Wort von der Vergebung bleibt nicht in der Idealität, sondern es wird in der Realität wiederholt und verändert diese; im Geschehen der Sündenvergebung kommen Idealität und Realität zusammen. Wichtig bleibt aber, dass der Mensch nicht selbst das Wort spricht, durch das die Sündenvergebung geschieht oder er sich als Selbst setzen kann. Christus ist das Wort, ein Mensch hingegen ist ein Bild, und erst wenn dieses Bild von Christus gedeutet wird, kann man von einem Wort Gottes sprechen. Die Sünderin verkündet Gottes Wort der Vergebung, sie sagt es
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aber nicht selbst, sondern sie schweigt und verweist damit auf Gottes Wort der Vergebung. Sie glaubt an die Vergebung und verkörpert damit das Wort der Vergebung. Dabei handelt es sich um eine indirekte Form der Mitteilung. Weil bei Menschen Wort und Tat auseinander fallen, müssen sie schweigen und handeln und dabei auf Gottes Wort verweisen. Anders ist das bei Christus, bei dem Wort und Tat sich decken. Er kann sich deshalb direkt mitteilen. Auf die Unterscheidung von direkter und indirekter Mitteilung ist nun abschließend noch einzugehen. Aus dem Bisherigen ist deutlich, dass direkte Mitteilung da ist, wo Wort und Tat zusammenkommen. Indirekte Mitteilung dagegen ist nötig, wo Wort und Tat auseinander fallen. Indirekte Mitteilung hat das Ziel, dass Wort und Tat wieder zusammenkommen, dass sich ein Wort in der Handlung wiederholt, dass das Wort Gottes an einem Menschen sichtbar wird. Dass direkte und indirekte Mitteilung in dieser Weise mit dem Verhältnis von Wort und Tat zu tun haben, soll jetzt genauer entfaltet werden, indem nach der Mitteilungsform in der Bibel, in der Verkündigung der Prediger und in Glaubensäußerungen des Einzelnen gefragt wird. Kierkegaard sagt, die Bibel sei wortwörtlich zu nehmen. Er meint damit, dass wir ihren Worten glauben können, weil sie durch das Leben Jesu, also durch sein Handeln gedeckt sind. Wir können Christus zutrauen, „daß er sich keines Wortspiels schuldig macht, ihm zutrauen, daß er keine nichtssagenden Redensarten gebraucht, wir können ihm buchstäblich glauben“ (XXVII, 35).39 Das gilt nicht nur für die Evangelien, in denen es um das Leben Jesu geht, sondern ebenso für die Worte der Episteln, die durch das Handeln der Apostel gedeckt sind.40 Auch ihre Worte erhalten durch ihr Handeln eine Vollmacht,41 die sie zum Wort Gottes qualifiziert. Der Apo————— 39 Dass da, wo Worte Jesu im Glauben angenommen werden, sie buchstäblich angenommen werden, sagt Kierkegaard auch in der zweiten Rede über Lilie und Vogel: Wenn Schriftworte in unbedingter Einfalt angenommen werden, dann gehört dazu, sie unbedingt und durchaus buchstäblich zu nehmen (XXII, 70). 40 „Wir wollen unsre Seele sich ausruhn lassen in dem apostolischen Wort, welches keine trügerische poetische Wendung ist, kein allzu kühner Gefühlsausbruch, sondern ein verläßlicher Gedanke, ein vollgiltiges Zeugnis, das da, um verstanden zu werden, wortwörtlich genommen werden muß“ (VI, 106). 41 Zu vollmächtigem Sprechen vgl. auch einen Text aus der Schrift über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel. Was Vollmacht ist, macht Kierkegaard dort deutlich am Beispiel eines Befehls, der von zwei verschiedenen Personen ausgeht, aber unterschiedliche Reaktionen auslöst. Der Inhalt ist identisch, „ästhetisch geurteilt ist es, wenn man so will, gleich gut gesagt, aber die Vollmacht setzt Unterschied“ (XXIII, 124). Auffallend ist, dass auch hier das Sprechen auf die Handlung ausgerichtet ist: der Befehl wie das Bibelwort sollen befolgt werden. Zum vollmächtigen Sprechen fügt Kierkegaard noch ein anderes Beispiel an: Wenn der Kandidat der Theologie sagt, es ist ein ewiges Leben, dann ist das etwas anderes, als wenn Christus das sagt.
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stel bürgt mit seinem Leben für seine Worte, und daher kommt den biblischen Worten eine besondere Kraft zu: Sie sind von einem Apostel des Herrn, und insofern wir ihre Bedeutung nicht schon selbst tiefer empfunden haben, dürfen wir uns doch dessen getrösten, daß sie nicht eine lose und müßige Rede sind, nicht ein zierlicher Ausdruck für einen luftigen Gedanken, sondern daß sie treu und untrüglich sind, geprüft und erprobt, wie des Apostels Leben es war, der sie niedergeschrieben hat. […] wir dürfen also darauf trauen, daß sie nicht allein Kraft haben, die Seele zu erheben, sondern auch Stärke genug, die Seele zu tragen, als Worte, welcher einen Apostel durch ein sturmvolles Leben getragen haben. […] wir dürfen also gewiß sein, daß das Wort auch Macht hat, Betörung zu erklären, Macht hat, dem irrefahrtenden Gedanken Einhalt zu gebieten (III, 403).
Wie die Worte eines Apostels zu solch vollmächtigen Worten werden, kann man an Kierkegaards Interpretation des paulinischen Satzes vom Pfahl im Fleisch (2.Kor 12, 7) nachvollziehen. Den Ausdruck vom Pfahl im Fleisch interpretiert er in ganz und gar sprachlicher Weise. Er geht davon aus, dass der Apostel die Sprache Gottes spricht; das Werk des Teufels ist es, ihn daran zu hindern, ihm gewissermaßen die Sprache zu verschlagen. Kierkegaard interpretiert den Pfahl im Fleisch als einen „Satansengel, der ihn auf den Mund schlägt und auch auf die Art ihn hindert, auszusprechen jene unaussprechliche Seligkeit“ (XIII, 36). Wenige Seiten später ist noch einmal die gleiche Formulierung gebraucht, dass der Pfahl im Fleisch wie ein Satansengel ist, der den Apostel dazu bringt zu verstummen (XIII, 49). Kierkegaard geht davon aus, dass Paulus im Glauben Unaussprechliches erfahren hat und dass sein Leiden, also sein Pfahl im Fleisch darin besteht, dieses nicht aussprechen zu können. (XIII, 43 u.ö.). Dennoch wäre der Apostel kein Apostel, wenn er sich dem Leiden und dem Angriff des Satansengels unterwerfen würde. Paulus versteht sein Leiden richtig als eine Versuchung und kann es auch als eine solche aussprechen, weshalb das Wort vom Pfahl im Fleisch überhaupt nur überliefert ist. Darin besteht die Vollmacht des Apostels, dass er die Sünde als Sünde ausspricht und deswegen im Gespräch mit Gott nicht verstummt (XIII, 37). Die Rede des Apostels ist also durchaus unterschieden von den Worten Christi. Paulus ist nicht wie Christus in allem seinen Reden und Tun direkt das Wort Gottes. Paulus hat in seinem Ringen um den Glauben die Widersprüche des Menschseins durchlebt und weiß, dass sein Leben nicht dem Wort entspricht, denn er ist der Versuchung ausgesetzt. Er spricht aber die Sünde als Sünde aus und ebenso die Verheißung als Verheißung. Damit ————— Ästhetisch geurteilt ist es die gleiche Aussage, aber es gibt einen ewigen qualitativen Unterschied (XXIII, 127). Kierkegaard fasst das noch einmal sehr deutlich zusammen: Das Entscheidende liegt nicht in der Aussage, sondern darin daß sie gesagt ist von Christus (XXIII, 129).
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entsprechen seine Worte seinem Status als gerechtfertigter Sünder. Paulus ist nicht das Wort Gottes, aber er wird dazu: er hält in den Widersprüchen seines Lebens am Wort Gottes fest, und so wird in seinem Leben wirklich, was das Wort Gottes verheißt, nämlich dass ein Mensch an seinen Widersprüchen nicht zerbricht, sondern von Gott als Selbst gesetzt wird. Insofern sind auch bei Paulus seine Worte durch sein Leben gedeckt und erhalten von daher ihre Vollmacht. Man könnte vielleicht sagen, dass Paulus exemplarisch die Wiederholung vollzieht: er wiederholt die Botschaft Christi und tut das als Mensch und Sünder; die entscheidende Mitteilung dabei ist nicht die inhaltliche Wiederholung der Botschaft, sondern dass das Aussprechen der Botschaft den Apostel grundlegend verändert. Im Verkündigen der Worte Gottes wird Paulus selbst zum Kind Gottes, das Wort wird Wirklichkeit, und daraus hat das Sprechen des Apostels Vollmacht. Durch diese Vollmacht unterscheidet sich apostolische Rede dann auch grundlegend von späterer Predigt. So führt Kierkegaard es z.B. in der sog. Demis Predigt aus, die den Beginn des Korintherbriefes (1.Kor 1, 23) zum Ausgangspunkt hat, im dem Paulus über die Wahrheit des Evangeliums sagt, sie sei den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit. Wo das Wort vom Kreuz mit der Vollmacht des Apostels gesprochen wird, hat es die Kraft, als Gesetz und Evangelium zu wirken und diese Kraft lässt sich nicht ohne weiteres auf einen Prediger übertragen: Laß den Apostel das kämpfende starke Wort behalten, welches durchdringt, die Scheidung zu befestigen; falls wir es ihm aber nachsprechen wollen, wäre das nicht, wie wenn ein Kind die Rüstung des Gewaltigen anzieht, um Krieg zu spielen, sollte der Widerpart nicht bald entdecken, daß es ein Kind sei, das darin sich versteckt habe; sollte ebenso der Widerpart nicht bald entdecken, daß eine schwache Seele und ein ohnmächtiges Denken, eine junge Stimme es seien, die da hausen in dem gewaltigen Wort! (VII, 81).
Der Unterschied zwischen Apostel und späterem Prediger scheint also wieder im Verhältnis von Wort und Tat zu liegen: ist im Lebens des einen das Wort Wirklichkeit geworden, so ist das Wort im Leben des anderen nur unzureichend in die Tat umgesetzt, es ist dem Prediger zu groß. Der Prediger ist nicht das Wort Gottes, sondern er verweist nur darauf. Kierkegaard beschreibt das so, dass der Prediger nicht den Himmel aufreißt und das jüngste Gericht vorführt, sondern dass er den Hörer in Furcht und Zittern hält; er erschüttert nicht seine Gemeinde in wirkungsvoller Rede, sondern er lässt Gott den Donner, die Gewalt und die Ehre (XV, 494). Von dieser eschatologischen Perspektive mit Himmel und Gericht aus kann man vielleicht sagen, dass die Sprache der Bibel als eschatologische Sprache ganz angelegt ist auf Erfüllung, also auf die Tat. Die Besonderheit biblischer Worte besteht darin, dass für die Gläubigen die Tat im Wort mit Gewissheit
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angelegt ist. Im biblischen Wort Gottes ist die Ewigkeit vorweggenommen. In einem menschlichen Wort, wie in der Predigt, in der auch etwas schon jetzt ausgesprochen wird, was noch nicht erfüllt ist, kann sich diese Vorwegnahme ereignen, muss aber nicht. Die Vorsicht, mit der Kierkegaard Predigt von apostolischer Rede distanziert, hat sicherlich einen Grund darin, dass er bei dieser Aussage an sich selbst als Prediger denkt.42 Für ihn ist die einzige Möglichkeit zu predigen, sich auf sein eigenes Verhältnis zu diesem Wort zu beschränken: Laß uns darum das Wort lieber wider uns selbst anwenden, und ein jeder im Besonderen mit sich selbst über das, was er hört, sprechen, nicht darüber, welches Verhältnis zur Welt die Lehre einnehme, sondern darüber, welches sein eignes Verhältnis sei zu jener himmlischen Weisheit (VII, 81f).
Dies ist das Thema seiner Predigt, nämlich die Frage nach dem Verhältnis des Gläubigen zu der himmlischen Weisheit. Wo es nicht um dieses Verhältnis geht, da wird das vollmächtige Wort des Apostels, das eine Gotteskraft hat, die selig macht, zu einem „leeren Laut auf seinen Lippen“ (VII, 82). Es geht also in der Predigt um die Beziehung des Einzelnen zu der Wahrheit, die im Bibelwort ausgesprochen ist. Die Predigt ist also ganz klar indirekte Rede, die dem Hörer helfen soll, sich auf die Begegnung in dem Wort einzulassen. Der Predigthörer soll mit sich darüber sprechen, was er hört, statt über das nachzudenken, was das Wort allgemein und im Verhältnis zur Welt bedeuten könnte. Man kann sagen, er soll nicht über das Wort ————— 42 Kierkegaard selber fühlte sich als Prediger bekanntlich nicht berufen und wurde stattdessen religiöser Schriftsteller. Als eine schöne Interpretation dieses Selbstverständnisses, die sich gut zu den hier vorgestellten Gedanken fügt, vgl. den Aufsatz von ROCCA, E., Søren Kierkegaard and silence, in: Houe, P./Marino, G.D./Rossel, S.H. (Hg.), Anthropology and Authority. Essays on Søren Kierkegaard, Amsterdam/Atlanta 2000. 77–83. Rocca arbeitet heraus, dass in Kierkegaards Selbstverständnis als religiöser Schriftsteller das Schweigen die Funktion des Hinweisens auf Gottes Wort hat (82f). Direkte Kommunikation ist nur da möglich, wo Menschen eingestehen, dass sie keine Vollmacht haben. Dieser Verzicht auf alle eigene Macht kann sich nur im Schweigen äußern. Rocca fragt, wie Kierkegaard das mit seinem Selbstverständnis als Schriftsteller zusammenbringt. Er schlägt vor, dass Kierkegaard das dahingehend gelöst habe, dass er sich nicht als Autor, sondern als Leser seiner Bücher verstand, von denen er genauso lernen müsste wie jeder andere Leser auch. Außerdem schlägt Rocca als Interpretation für Kierkegaards Hinweis, dass seine Bücher laut gelesen werden sollten, vor, dass durch das Lautlesen ein dreiteiliges Verhältnis entsteht, dass dem angemessen ist: der Leser hat eine sprechende und eine hörende Seite und zwischen beiden steht der Text. Rocca versteht das als Dreieck, in dem nur das Selbst vorkommt und der Text das Nichts ist, was es ermöglicht, allein mit sich selbst zu sein. Das geschriebene Wort wird damit zum Spiegel und zur Konfrontation des Selbst mit seinem anderen. Der Name des Autors ist dann ausgelöscht. Das Schreiben führt also zu dieser Stille, in der das Selbst es selbst werden kann. Zu Rocca muss an dieser Stelle noch hinzugefügt werden, dass in dieser Situation ein Hören auf Gottes Wort möglich ist und damit ein Gegenüber da ist, das noch mehr ist als die andere Seite des eigenen Selbst. Rocca interpretiert überzeugend, dass eine Annäherung ans Schweigen in schriftstellerischer Rede da geschieht, wo der Autor sich auf diese Weise selbst in der Stille verliert, die auf Gottes Wort hinweist.
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sprechen, sondern sich von ihm ansprechen lassen. Die zweite Person hat wieder besondere Bedeutung. Aber nur das Wort und damit Gott selbst kann den Hörer als ein Du anreden, nicht der Prediger. Insofern ist die Ansprache des Predigers nur indirekt. Die eigentliche Predigt geschieht da, wo der Hörer mit sich darüber spricht, was er hört. Wieder ist es ein Gespräch im Menschen. Das Predigthören wird damit zum Gegenstück der Angst: Die Sünde entwickelte sich als Angst als ein Gespräch im Menschen; beim Hören auf Gottes Wort führt der Mensch auch ein Gespräch, indem er mit sich darüber redet, was er hört, und dieses Gespräch im Glauben wird ihm zur Gottesbegegnung. Die apostolische Rede ist dagegen direkte Rede, in der das, was Kierkegaard die himmlische Weisheit nennt, überhaupt erst zur Sprache gebracht wird. In der Unwissenschaftlichen Nachschrift ist der Unterschied zwischen direkter und indirekter Rede bezogen auf Apostel und Prediger noch einmal eindeutig benannt: Sobald man annehmen kann, daß die Wahrheit, die wesentliche Wahrheit, jedermann bekannt ist, dann handelt es sich um die Aneignung und die Innerlichkeit als das, wofür gearbeitet werden muß, und hier kann nur in indirekter Form gearbeitet werden. Eines Apostels Stellung ist anders; denn er hat die Wahrheit zu verkündigen, die unbekannt ist, und daher kann die direkte Mitteilung immerhin vorübergehend ihre Gültigkeit haben (XVI/1, 235).
Die direkte Mitteilung des Apostels ist damit grundsätzlich von der indirekten Mitteilung des Predigers unterschieden. Dennoch ist in diesem Zusammenhang darauf zu verweisen, dass jedem Menschen im Glauben die direkte Mitteilung offen steht, ja alle religiöse Rede auf sie ausgerichtet ist. Bei der direkten Mitteilung handelt es sich um die Sprache, in der es keinen Konjunktiv gibt, in der nur in der Gegenwart und niemals in der dritten Person gesprochen wird. Es ist eine Sprache, die dem erlösten Menschen angemessen ist. Den erlösten Menschen gibt es in dieser Welt nur als einen, der unter der Bedingung der Sünde lebt. Nur so gebrochen wie es Erlösung in dieser Welt gibt, nur in dieser gebrochenen Form kann es auch eindeutige, direkte Sprache geben. Deswegen ist die indirekte Mitteilung das Thema, zu dem Kierkegaard eine ganze Theorie entwickeln konnte und musste.43 Es ————— 43 Grundlegende Texte zur indirekten Kommunikation finden sich in der Unwissenschaftlichen Nachschrift (XVI/1, 65–72) und in Verbindung mit dem christologischen Motiv des Ärgernisses auch in der Einübung im Christentum (XXVI, 117–139). Außerdem gibt es Aufzeichnungen für eine geplante Vorlesungsreihe zur Dialektik der ethischen und ethisch-religiösen Mitteilung (Diese finden sich in den Pap VIII, 2P 79–89, vollständig übersetzt und herausgegeben sind sie von T. HAGEMANN, Die Dialektik der ethischen und ethisch-religiösen Mitteilung, Bodenheim 1997). Als Sekundärliteratur zur Theorie der indirekten Mitteilung vgl. BEJERHOLM, L., Meddelelsens Dialektik. Studier i Søren Kierkegaards teorier om språk, kommunikation och pseudonymitet, Kopenhagen 1962; ANDERSON, R.E., Kierkegaard Theorie der Mitteilung, in: Theunissen, M./ Greve, W. (Hg), Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, Frankfurt am Main 1979. 437–
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ist aber wichtig, dass die indirekte Mitteilung letztlich auf unmittelbare Mitteilung abzielt: „aber weil die Bewegung ist hinkommen zum Einfältigen, muß die Mitteilung doch einmal, früher oder später, bei der unmittelbaren Mitteilung enden“ (XXXIII, 6). Diese Bewegung entspricht genau der hier dargestellten Bewegung der Sprache: die eigentlich als Gottesgabe gegebene Sprache kann nicht unmittelbar gebraucht werden, sie verwickelt sich in Sünde, und dann kann ihr nur mit indirekter Mitteilung begegnet werden; diese soll ins Schweigen führen; daraus entsteht dann eine neue – oder wie Kierkegaard oft sagt einfältige – Sprache, bei der es sich wiederum um unmittelbare Mitteilung handelt. Diese Aufgabe, zu der neuen Sprache des Glaubens zu finden, hat ein Prediger genauso wie jeder andere auch, nur mit dem Unterschied, dass er andere an seiner Suche nach der Sprache Gottes teilhaben lässt. Was der Prediger tut, unterscheidet sich damit nicht grundsätzlich von dem, was jeder Gläubige tut: Der Religiöse redet in einem Monolog, er ist einzig mit sich selbst beschäftigt, redet er laut, das nennt man predigen; sind Hörer da, so weiß er nichts von seinem Verhältnis zu ihnen, außer dem einen, daß sie ihm keine Dank schulden, denn was er ausrichten soll, ist, daß er selber erlöst werde. Solch ein hochehrwürdiger Monolog, welcher christlich Zeugnis gibt, wenn er in seiner Bewegtheit den Redenden bewegt, den Zeugnis Gebenden, weil der über sich selbst redet, heißt eine Predigt. Weltgeschichtliche Übersichten, systematische Ergebnisse, Gestikulationen und Abtrocknen des Schweißes, Stimmstärke und Faustkraft, mitsamt der reflektierten Anwendung dieser, um etwas auszurichten, sind aesthetische Remimiszenzen (XV, 493).
Einerseits wird vom Prediger nicht mehr gefordert als von jedem anderen auch, und das entlastet ihn beträchtlich. Aber die Aufgabe, in dieser Weise Zeugnis abzulegen, ist doch schwer genug, und Kierkegaard warnt immer wieder vor der Gefahr, das Christentum als „Betrachtung“ vorzutragen: Die christliche Wahrheit hat Ohren, damit zu hören, ja sie ist wie lauter Ohr, sie hört hin, derweile der Redende redet; man kann von ihr nicht reden wie von einem Abwesenden oder einem nur als Gegenstand Gegenwärtigen, denn da sie ist von Gott her und Gott in ihr, so ist sie in ganz eigenem Sinne gegenwärtig, derweil von ihr geredet wird, nicht als Gegenstand,
————— 460. Speziell zur Dialektik von direkter und indirekter Mitteilung z.B. in einer ethischen Aufforderung vgl.: BÜHLER, P., Liebe und Dialektik der Mitteilung, in: Dalferth, I.U. (Hg.), Ehtik der Liebe. Studien zu Kierkegaards „Taten der Liebe“, Tübingen 2002. 71–87. Als eine gute Darstellung aus dem Blickwinkel der Homiletik vgl. den dritten Abschnitt des Aufsatzes von HARBSMEIER, E., Das Erbauliche als Kunst des Gesprächs. Reflexionen über die homiletischen Perspektiven in Kierkegaards Erbaulichen Reden, Kierkegaard Studies Yearbook 1996, Berlin/New York 1996. 293–313. Zur indirekten Mitteilung, allerdings unter Ausblendung theologischer Gesichtspunkte vgl. auch WESCHE, T., Kierkegaard, Stuttgart 2003. 165ff.
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eher wird der Redner ihr zum Gegenstande, er beschwört einen Geist, der ihn abhört, derweile er redet (XXVI, 226).
Wieder ist Predigt beschrieben als ein Geschehen, in dem Gott durch das Wort dem Menschen begegnet. Die Wahrheit ist kein Gegenstand, über den in der dritten Person geredet werden kann. Vielmehr wird der Redende selber zum Gegenstand, aber über ihn wird nicht in der dritten Person gesprochen, sondern er wird angeredet. Der Geist hört ihn ab, während er redet, das kann man so verstehen, dass der Mensch sich selbst gegenübertreten muss. Dies geschieht vor Gott, der in dem Wort anwesend ist. Das Gespräch dient dazu, dass der Mensch er selber wird, also ein Selbst, das sich in Freiheit von seinem Gegenüber setzen lässt. Der Prediger tritt ganz hinter die Aufgabe zurück, den Hörer mit Gott und sich selbst ins Gespräch zu bringen.44 Was Kierkegaard hier von der Predigt sagt, gilt übrigens in gleicher Weise auch von seinen Erbaulichen Reden. Die Schrift soll vom Leser in Rede, noch mehr in Anrede, verwandelt werden. In den Vorworten seiner Reden findet Kierkegaard dafür die verschiedensten Umschreibungen: der Leser erweckt den toten Buchstaben zum Leben, er setzt die Rede in Brand, er löst den Zauberbann, es entsteht ein Zwiegespräch (VI, 101 und VIII, 143). Diese Beschreibungen des Geschehens beim Lesen erinnern an das, was ein Mensch der Angst entgegenzusetzen hat, die Befreiung, die ihn wie ein Zauberwort zu neuem Leben und neuer Sprache erweckt.45 Das Wort wird in dieser Weise in die Tat umgesetzt. Dabei ist aber deutlich, dass es sich nicht immer um eine Handlung im äußeren Sinne handelt. Die Handlung besteht darin, dass ein Gespräch im Menschen in Gang gesetzt wird, und in diesem Gespräch vollzieht der Mensch sein Selbst in Freiheit. Dieser Vollzug ist die Handlung, die dann auch Handlung im äußeren Sinne nach sich zieht. Handlung ist da, wo sich ein Wort für einen Menschen als wahr erweist und damit geschieht. Solch ein Wort steht dann nicht mehr als Widerspruch zwischen Idealität und Realität, sondern in diesem Wort sind Idealität und Realität beisammen: die Sprache entspricht ihrer Bestimmung, und ————— 44 Als eine fundierte und gut lesbare Darstellung zur Homiletik vgl. die Studie von HEIZMANN, A., Indirekte Homiletik. Kierkegaards Predigtlehre in seinen Reden, Leipzig 2006. Nach einem einleitenden Teil mit grundsätzlichen Überlegungen zu Kierkegaards Predigten und ihrer Rezeption fächert Haizmann anhand von Kierkegaards Schriften klassische Perspektiven der Homiletik auf: Fragen nach der homiletischen Situation, nach Hörer, Prediger und Gegenstand. Haizmann kann dabei verschiedene Gesichtspunkte überzeugend verbinden: Kierkegaards kritische Auseinandersetzung mit seiner zeitgenössischen Predigtpraxis, Kierkegaards eigene Ansätze zu einer homiletischen Theorie ebenso wie die Durchführung in Kierkegaards eigenen erbaulichen Texten. Die Darstellung schließt ab mit der Auslegung exemplarischer Reden. 45 Dies gilt übrigens nicht nur von den Erbaulichen Reden. Auch im Vorwort des Begriffs Angst (XI, 13) ist gesagt, dass es nicht um das geht, was mitgeteilt wird, sondern dass die Rede etwas bewirkt beim Leser bzw. Hörer. Wieder ist hier das Wort auf die Umsetzung ausgerichtet.
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darin ist sie mit der Tat gleich. Handlung ist also ein Moment des sich im Menschen vollziehenden Gesprächs. Dieses Moment ist unverzichtbar, wenn das Selbstgespräch eines Menschen sinnvoll sein soll. Es bringt außerdem die Bezogenheit des Menschen auf seine Welt und Mitmenschen zum Ausdruck.46 Bei der Predigt begegnet noch einmal der Gedanke, dass das Wort zu einem Bild wird: der Prediger befleißigt sich nicht nur, dass der im Wort enthaltene Gedanke in der Rede deutlich werde, sondern dass die Rede selber deutlich werde, d.h., dass sie jemanden angeht, einem Menschen zur Erbauung diene (IX, 150).
Die Rede wird deutlich, das heißt der Hörer hat ein Gegenüber, das so plastisch wie ein Bild ist. Indem das Wort ihm so gegenübertritt, kann es zu einer Begegnung mit dem Wort kommen und mit Gott, der dieses Wort ist. Dieses Gespräch zwischen Gott und Mensch verbleibt nicht in der Innerlichkeit. Immer hat das Reden Gottes die eschatologische Perspektive, die Tat bedeutet. Als Tat geschieht nicht nur, dass das Selbst des Menschen gesetzt wird, sondern der Inhalt der Rede Gottes, die die Form der Anrede hat, ist auf die Tat des Menschen ausgerichtet: Denn die göttliche Vollmacht des Evangeliums spricht nicht zu dem einen Menschen über den andren Menschen, nicht zu dir, mein Zuhörer, über mich, oder zu mit über dich, nein, wenn das Evangelium spricht, spricht es zu dem einzelnen; es spricht nicht über uns Menschen, über dich und mich, sondern es spricht zu uns Menschen, zu dir und zu mir, und es sprich darüber, daß die Liebe an den Früchten erkannt werden soll (XIX, 18).
So wie bei Gott Wort und Tat in Wahrheit zusammengehören, so soll auch der Mensch zur Tat kommen. In der tätigen Liebe, können auch beim Menschen Wort und Tat zusammenkommen, und wo Wort und Tat, Idealität und Realität zusammen sind, da verwirklicht der Mensch die Struktur seines ————— 46 Die Verortung des Handelns im Gespräch des Menschen ist ein grundsätzlich anderer Ansatz als die Frage danach, ob Sprechen ein Handeln ist. Insbesondere die sog. Sprechakttheorie widmete sich dieser Frage. Eine Übersicht der Zugänge zur Frage des Sprechens als Handeln findet sich bei PANNENBERG, W., Anthropologie. Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. 350ff. Für seine Kritik der Sprechakttheorie ist bei Pannenberg das Gespräch wichtig, das in der auf das Handeln gerichteten Frage unterbelichtet bleibt. Pannenbergs Verständnis des Gesprächs als ganz auf eine Sache bezogen, die als gemeinsame Sache auch Verbindung zu anderen herstellt, ist aber ein grundsätzlich anderes als das, was Kierkegaard mit Gespräch meint, bei dem es nicht um die Sache, sondern mit der Sprache immer um das Zwischen geht, das Zwischen zwischen verschiedenen Polen des Selbst, zwischen Gott und Mensch oder Mensch und Mensch. Diese unterschiedliche Einschätzung des Gesprächs hängt sicher damit zusammen, dass Pannenberg die Sprache von einer vorangegangenen Ausbildung des Denkens her versteht (329– 350), während bei Kierkegaard die Sprache für die Entwicklung des Bewusstseins von Anfang an und unabhängig vom Denken zur Geltung gebracht wird.
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Bewusstseins, zu der er in Freiheit bestimmt ist. In einer Rede über den Vers aus dem Lukasevangelium, seine Seele in Geduld zu erwerben, ist noch einmal formuliert, dass es nie beim Hören bleibt, sondern ein Wort, das wirklich gehört wurde, immer auf die Tat ausgerichtet ist. Wer das Wort nur hört, ist außerhalb des Wortes, denn wenn der Verkündiger schweigt, dann hört er nichts mehr. Wenn er das Wort tut, hört er fort und fort, was er selbst sich verkündigt. Jedes bloße Hören des Wortes ist unendlich viel unvollkommener als das Vollbringen. Und noch einmal grundsätzlicher: alles Aussagen ist unvollständig gegenüber der Genauigkeit des Vollbringens (VII, 71). Das wirkliche Hören des Wortes ist wieder ein Hören, das nicht ein Hören auf das Wort des Predigers ist, sondern ein Hören auf das Gespräch in einem selber, das der Reflex auf das von außen gehörte Wort ist. Dieses wirklich angenommene Wort ist dann das, was in die Tat drängt. So hat jedes Bibelwort zwei Seiten: Worte der Bibel müssen nicht nur die „Flügel sein, die sie zu Gott erheben“, sondern sie müssen auch für die Erde, für den Alltag taugen (III, 410). Recht verstanden sind Bibelworte nur, wo der Leser weiß, dass sie „eine Schaumünze sind, herrlicher denn alle Schätze der Welt, aber auch eine Scheidemünze, die brauchbar ist in den alltäglichen Verrichtungen des Lebens“ (III, 415). Die alltäglichen Verrichtungen sind dabei das Handeln, in dem sich zeigt, dass das Wort nicht leeres Wort bleibt, sondern auf die Tat ausgerichtet ist. In allem Sprechen bleibt es aber beim eschatologischen Vorbehalt. Wort und Tat fallen zeitlich auseinander, und das wirkt wie ein Widerspruch. Erst die Gewissheit des Glaubens, dass bei Gott Wort und Tat unauflöslich zusammengehören, kann ein Wort der Hoffnung schon jetzt aussprechen und die Wirklichkeit, die das Wort noch nicht hat, damit im Glauben vorwegnehmen. Ein schönes Beispiel dafür gibt Johannes Climacus, als ihm bei einem Friedhofsbesuch auffällt, welch ein Widerspruch sich darin verbirgt, wenn auf einem Grabstein steht, wir sehen uns wieder (XVI/1, 227f). Bei einem Lebendigen wären diese Worte nicht verwunderlich, bei einem Toten jedoch spricht aus ihnen die Hoffnung gegen den Augenschein. Die Realität steht gegen den Inhalt der Worte. Das Besondere bei Worten des Glaubens ist, dass sie eine Realität vorwegnehmen. Solches Sprechen im Glauben ist direkte Rede, in der Wort und Tat zusammenfallen. Diese einfältige Rede, in der eine Hoffnung wider Hoffnung, eine Idealität wider die Realität ausgesprochen wird, ist die Sprache des Glaubens, die es für einen Menschen zu lernen gilt. Hingeführt werden kann er dazu nur durch indirekte Rede, die dazu dient, dass er sich des Widerspruchs zwischen Idealität und Realität bewusst wird. Im Angesicht dieses Widerspruchs, der sich bei jedem Wort als Zweifel im Bewusstsein manifestiert, verstummt ein Mensch. Dann kann es sein, dass er vom Wort Gottes angesprochen wird. Er lässt sich auf ein Gespräch mit Gott ein und wiederholt das Wort Gottes. Da-
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Wort und Tat im Gespräch
durch wird das Wort in seinem Leben wirklich. Im Gespräch mit Gott findet ein Mensch zu einer neuen Einheit in allen seinen Widersprüchen. Das Wort ist nicht mehr der Widerspruch des Bewusstseins, sondern das Wort Gottes, das Widersprüche in sich fassen kann, es schafft gerade die Verbindung, in der ein Mensch zu einem Selbst befreit wird. Der Mensch tut dabei nicht mehr, als das Wort Gottes für sich wiederholend auszusprechen. So einfältig das klingen mag, das ist die Sprache des Glauben, die Kierkegaard sucht. Das Wort Gottes zwischen Gott und Mensch ermöglicht ein Gespräch, in dem sich Gott und Mensch begegnen und in dem der Mensch zu einem Selbst befreit wird.
5. … auf dem Meer … auf dem Meer … auf dem Meer Gespräche gut zu beenden, ist eine hohe Kunst. Nicht immer lässt sich ein klares Ergebnis festhalten, denn nicht jedes Gespräch muss ein greifbares Ergebnis haben, es kann seinen Sinn einfach in der Begegnung haben. Dann ist das Ende eines Gesprächs willkürlich, denn ein Gespräch ist ein offenes Geschehen des gegenseitigen Austauschs. Auch wenn jedes einzelne Gespräch ein Ende hat, so bleibt es doch grundsätzlich dabei, dass Menschen, solange sie leben, immer in verschiedenste Gespräche verwickelt sind. Vielleicht wäre es leichter gewesen, wenn ich diese Arbeit nicht unter den Titel des Gesprächs gestellt hätte, sondern jetzt Erkenntnisse über die Sprache zwischen Gott und Mensch festzuhalten hätte. Aber gegenüber dem Abstraktum Sprache scheint es mir Kierkegaard doch angemessener, beim Gespräch zu bleiben, wo in der Überschrift bereits deutlich ist, dass es sich nicht um etwas Starres handelt, sondern um einen Vollzug, um ein lebendiges Geschehen. Selbst der Begriff des Gesprächs ist in gewisser Weise an Kierkegaard herangetragen, er selber benutzt ihn nur selten und bevorzugt stattdessen die noch mehr einem Geschehen angemessene verbale Ausdruckweise: er beschreibt, wie Menschen sprechen, antworten, verstummen, übersetzen, kommunizieren usw. Das Titelwort Gespräch bleibt damit ein Kompromiss. Dagegen würde Kierkegaard das Wort ‚zwischen‘ im Titel sicherlich ausdrücklich begrüßen. Er ist immer sehr aufmerksam auf Zwischenbestimmungen. Im Zwischen liegt nämlich eine Spannung, aus der sich Bewegung entwickelt: Unterschiedenes stößt in einem Zwischenraum aneinander, es gerät in Berührung, kann zu einer größeren neuen Einheit werden und bleibt doch unterschieden. Ein Zwischenraum ist nicht fest umgrenzt, sondern in ihm wird ein Verhältnis zwischen zweien oder mehreren ständig neu ausgelotet. Wenn man danach fragt, was in der Dynamik des Zwischenraums konkret geschieht, kann man bei Kierkegaard viele Belege dafür finden, dass dort Gespräche stattfinden. Worte sind in diesem Zwischen, sie haben eine innige Verbindung zu ihrem Sprecher, weil er sich in ihnen äußert, aber sie sind auch von ihm unterschieden. So kann es zu einer echten Begegnung im Wort kommen, in der zwei sich ganz nahe sind und doch sie selbst bleiben. Im Zwischenraum können aber auch Worte so heftig aufeinanderprallen, dass sie zu Mauern werden, die Begegnung verhindern. Für Gespräche im Zwischenraum, die in dieser oder anderer Weise misslin-
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gen, gibt es bei Kierkegaard ebenso viel Anschauung wie für Gespräche, die gelingen. Dass ich im Titel die Perspektive auf den Zwischenraum zwischen Gott und Mensch verenge, zeigt, dass diese Arbeit aus theologischem Interesse geschrieben ist. Diese Engführung kann ich nur vertreten, weil ich mich bemüht habe aufzuzeigen, dass sich darin, wie jemand die Zwischenräume zwischen Menschen und die Zwischenräume, die sich in einem Menschen selber auftun, mit Gesprächen auslotet, dass sich darin zeigt, wie der Zwischenraum zwischen Gott und Mensch gefüllt ist. Was ein Mensch im Austausch mit sich selbst und anderen ins Gespräch bringt, speist sich aus dem, woran er seine Sprache im Austausch mit Gott bildet. Thema waren also Gespräche zwischen Gott und Mensch. Sowenig ich dieses Gespräch beenden kann, so will ich doch wenigstens noch einmal den Gesprächsverlauf an mir vorüberziehen zu lassen und einiges zu benennen, was ich dabei für das Gespräch und über die Sprache gelernt habe. Wichtig geworden ist mir zuerst die Erkenntnis, dass Sprache ins Zentrum des Kierkegaard’schen Denkens gehört. Die Sprache ist mehr als das, was beim ersten Blick in die Texte ins Auge springt: sie ist mehr als eine äußere Gegebenheit, die sich zu Vergleichen eignet, sie ist mehr als die Sprache des Schriftstellers mit seiner Leidenschaft für die Sprache. Es geht nicht um den wortgewandten Theologen und Philosophen oder um den sprachgewaltigen Schriftsteller. Es geht vielmehr um den Kern des Menschseins. Es geht darum, dass die Freiheit des Menschen Kommunikation ist und sich in einem Gespräch im Menschen verwirklicht. Bestimmung zur Freiheit des Menschen stellt sich dar als Bestimmung des Menschen zu einer Kommunikation, die gegenseitiges Verstehen ist: Verstehen seiner selbst, Verstehen von Gott und Mensch, Verstehen zwischen Menschen. Die Freiheit des Menschen entwickelt sich krisenhaft, und ebenso ist es auch mit seiner Sprache. So erklären sich die Ambivalenzen der Sprache: durch Worte tritt ein Mensch aus sich heraus und sich gegenüber – dabei ist er in Gefahr, sich zu verlieren. Der Schwindel der Angst ist Kierkegaards Beschreibung der Sünde und sprachlich findet die Angst ihren Ausdruck in Verschlossenheit, Geschwätz und Missverständnis. Die Angst bildet zum Glauben und das geschieht in der Sprache, indem ein Mensch sich in der Krise des Gesprächs in seinem Selbst öffnet für ein Gespräch, dass eine Begegnung zwischen Gott und Mensch ist. Weil die Bewegung, in der ein Mensch in Freiheit als Selbst gesetzt wird, sich in einem Gespräch vollzieht, gehört die Sprache bei Kierkegaard zu allen Bestimmungen des Menschseins und des Glaubens dazu. Weiter lässt sich von Kierkegaard lernen, dass der Mensch ein differenziertes Selbstverhältnis ist und dem ein differenziertes Verständnis der
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Sprache entspricht. Das Selbstverhältnis des Menschen ist eines der Einheit in Verschiedenheit. In der Sprache entspricht dem, dass Reden und Schweigen ihren Platz haben. Das Reden steht dabei für die Widersprüche des Menschen, die miteinander im Gespräch sind. Das Schweigen ist das Scheitern an diesen Widersprüchen. So wie der Mensch letztlich zu einer neuen Einheit in Freiheit bestimmt ist, so ist er bestimmt zu einer Sprache, in der Reden und Schweigen beieinander sein können. So wie der Mensch sein Selbst von außen empfängt, so wird er im Schweigen ein Hörender. So wie der Mensch sein gegebenes Selbst ständig neu vollziehen muss, bleibt er ständig im Gespräch mit Gott. Schließlich ist als Erkenntnis festzuhalten, dass Sprache nicht nur die beiden Seiten von Reden und Schweigen in sich trägt, sondern auch Wort und Tat in sich verbindet. Wo Wort und Tat als zwei Seiten der Sprache auseinander fallen, verlieren sich Menschen in den Widersprüchen der Sünde. Im Wort Gottes sind Wort und Tat immer beieinander, so z.B. geschieht Vergebung, wo Gott ein Vergebungswort spricht. Bei Menschen ist die Einheit von Wort und Tat nicht immer gegeben. Auffällig ist in allen Äußerungen über das Sprechen, in dem Wort und Tat beieinander sind, dass es sich immer um ganz einfache Aussagen handelt. Für Menschen ist es oft nur ein wiederholendes Nachsprechen eines Bibelwortes oder Gebetssatzes. Die Schwierigkeit besteht darin, dass sich der Satz in Widerspruch zu der Situation, in der er gesprochen wird, befindet. Die Einfachheit ist eine differenzierte Einheit, die einen Widerspruch in sich fassen kann. Wo dieses einfache Nachsprechen gelingt, sind auch beim Menschen Wort und Tat zusammen: in einem Wort der Hoffnung, wird wirklich die Hoffnung der Ewigkeit vorweggenommen, oder aus in einem Wort, das ein Angebot zur Versöhnung zwischen Menschen ist, kann sich wirklich Versöhnung entwickeln. Die Sprache, in der Reden und Schweigen im rechten Verhältnis sind und in der Wort und Tat im Einklang sind, lernt ein Mensch im Gespräch mit Gott. Stets ist der Mensch in Gefahr, sich in Monologe zu verlieren oder an Missverständnissen zu scheitern. Aber wenn er still wird, kann er im Gespräch das einfache Wort hören, das ihm nicht nur sagt, dass der Mensch ein Selbst in Freiheit sein soll, sondern ihn zugleich in diese Freiheit einsetzt. Es ist eine Freiheit, die weiter im Gespräch bleibt: im Gespräch des Menschen in sich selbst, im Gespräch mit anderen Menschen und vor allem im Gespräch mit Gott, denn das Wort und damit sein Selbst muss dem Menschen immer neu zugesprochen werden. Das Augenmerk richtete sich auf die Begegnung zwischen Gott und Mensch im Wort. Die Aufmerksamkeit auf die Sprache wurde geschärft. Aber letztlich ist doch zu dem zurückzukehren, wo wir begonnen haben:
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Worte können wie große Schiffe sein oder wie Nussschalen, man kann es von außen nicht beurteilen. Was letztlich die Worte sind, die wie ein großes Schiff sicher tragen, und welche Worte Nussschalen sind, die schwanken, diese Frage lässt sich im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit nicht beantworten. Wenn Kierkegaard wie in diesem anfangs zitierten Vergleich von Kriegsschiff und Nussschale, vom Meer redet, denkt er oft an das Leben: die Widersprüche des Lebens auszuhalten, ist für ihn vergleichbar mit dem Gedanken, unter sich 5000 Klafter Meerstiefe zu wissen. Glauben heißt, in der Tiefe der eigenen Angst nicht verloren zu gehen. Was Menschen auf dem Meer des Lebens trägt, sind Worte, so viel zumindest ist in dieser Arbeit deutlich geworden. Zu erkennen ist am Wort aber nicht, ob es sich um ein großes Schiff oder um eine Nussschale handelt, ob es sich um ein tragendes Wort Gottes handelt oder um ein schaukelndes geschwätziges Menschenwort. Auf dem Meer der Existenz wird sich erweisen, ob das Wort trägt.
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Zuordnung der römischen Ziffern der Textbelege zu den Schriften Kierkegaards
I II III IV V VI VII VIII IX X XI XII XIII XIV XV XVI XVII XVIII XIX XX XXI XXII XXIII XXIV XXV XXVI XXVII XXVIII XXIX XXXI XXXIII
Entweder – Oder, erster Teil Entweder – Oder, zweiter Teil Zwei Erbauliche Reden 1843 Furcht und Zittern Die Wiederholung Drei Erbauliche Reden Vier Erbauliche Reden 1843 und Demis Predigt Zwei Erbauliche Reden 1844 Drei Erbauliche Reden 1844 Philosophische Brocken und Johannes Climacus oder de omnibus dubitandem est Der Begriff Angst Vorworte Vier Erbauliche Reden 1844 Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten 1845 Stadien auf des Lebens Weg Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken Eine literarische Anzeige Erbauliche Reden in verschiedenem Geist 1847 Der Liebe Tun Christliche Reden 1848 Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin Die Lilie auf dem Felde und der Vogel unter dem Himmel Zwo kleine ethisch-religiöse Abhandlungen Die Krankheit zum Tode Der Hohepriester – der Zöllner – die Sünderin Einübung im Christentum Eine Erbauliche Rede 1850 Zwei Reden beim Altargang am Freitag 1851 Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen Über den Begriff Ironie Die Schriften über sich selbst
Register
Angst 11, 23, 30, 32–81, 111, 116, 132, 136, 145, 153, 166, 169, 189, 194, 197, 200–202, 207, 215, 225, 230, 232 Augenblick 52, 114, 119, 122, 188
163, 171f, 175, 189, 192f, 194, 205, 207, 210, 215, 219, 223f, 227f, 230–232 Grammatik 13–22, 38, 73, 117, 142, 190, 192, 194
Beichte siehe Versöhnung Bibel / Schriftverständnis 119, 124, 142– 144, 148–153, 175, 206, 212, 219–222, 227, 231 Bild / bildliche Rede / Metapher 28, 41, 44, 79, 152, 154, 155f, 172, 193, 217f, 226
Hamann 36, 131, 140, 217 Handeln / handeln / Tat / tun 46, 102, 114, 132f, 143, 178, 191–195, 202–206, 212– 221, 225–227, 231 Hegel 17, 39, 178, 179, 186, 187, 190 Herder 35 Hören 44, 78, 82, 90, 96, 108–125, 133, 146, 157, 175f, 198, 213, 215, 225, 227, 231 Humboldt 20, 22, 24, 26, 28, 36, 39, 41, 49, 51, 116, 127, 128, 129, 146, 157, 174, 181
Christus / Christologie 18, 20, 57, 67, 133, 137, 139, 150, 215–219, 220 Dämonisches 55.70, 75, 88f, 94, 106, 137, 197, 212 Dänisch 19, 22, 23–31, 57, 60, 63, 134, 145, 152, 160, 186 Denken 26, 38, 45, 48, 116, 127–129, 143, 230 Differenzierte Einheit s. Synthese Du siehe Ich Erlösung 55, 61, 69, 121 Erotik siehe Sinnlichkeit Eschatologie 16, 88, 133f, 142, 146, 156, 209f, 221f, 226, 227 Freiheit 9, 23, 32–49, 55–70, 81, 93, 96, 111, 133, 156, 172, 183, 186, 196–200, 206, 208, 210, 225, 227, 230 Gebet 37, 78, 83, 94f, 108, 116–118, 124, 134, 149, 157–177, 193, 194, 231 Geist 35–40, 46, 51–53, 56, 69, 77, 92f, 124, 142, 153–155, 169, 182, 198f Geschwätz 11, 51f, 75, 82, 92, 96, 97–105, 116, 125, 200, 210, 230 Gesetz und Evangelium 115 Gespräch 12, 22, 32, 34, 38, 42, 47–49, 54, 61, 64, 69, 90, 148, 152, 161, 168, 185, 201, 208, 225–228, 229f Glaube 9, 11, 22, 34, 58f, 69, 82, 84, 94, 106, 109, 120f, 124, 127, 140–156, 159f,
Ich-Du 38, 89f, 93, 99, 114, 157, 161f, 164f, 173, 194f, 202f, 223 Indirekte Mitteilung 10, 28, 58, 68, 158, 219, 222–224, 227 Kinder 42, 93, 107f, 116, 141, 151, 154, 174, 179 Kommunikation 57–69, 78, 92, 96, 135, 161, 186, 199, 205, 230 Leiblichkeit siehe Sinnlichkeit Leiden 72, 107, 111f, 130f, 133, 139, 144, 164, 170–172, 204, 220 Leidenschaft 18, 23, 84, 99–101, 178, 202, 207, 210–212, 230 Liebe 9, 14, 19, 21f, 23, 25–27, 64, 72, 84, 87, 97f, 104, 116, 129, 130–133, 136, 145–148, 171, 173f, 193, 195, 202, 208, 211, 215–217, 226 Metapher s. Bild Missverständnis 9, 11, 51, 54, 62, 82, 92, 130, 134–139, 167f, 230f Möglichkeit 15, 27, 36, 40–47, 57f, 67, 69, 72–79, 92, 134, 136, 142, 169, 182–184, 194, 196–199, 215 Musik 37, 50, 56, 109, 198
238 Name 38, 42, 60, 161, 205 Neue Sprache 89–91, 95, 106, 108, 111– 113, 117, 120, 124, 132f, 141–147, 157, 168, 172, 224f Offenbarung / Offenbarwerden 57, 59–64, 81, 88, 98, 131f, 194 Predigt / Verkündigung 19, 95, 103, 119, 149f, 212, 217, 219, 221–227 Schöpfung / Schöpfungswort 22, 45, 103f, 155, 206 Schriftverständnis siehe Bibel Schweigen / Stille 22, 27, 65, 57–59, 75, 79, 82–125, 131, 134, 138, 143f, 147, 157, 164–167, 172, 174–177, 191, 195, 201, 205, 208, 212–217, 224, 231 Sinnlichkeit / Leiblichkeit / Erotik 10f, 25f, 37, 44, 51f, 66f, 120f, 126, 153–155, 198 Sprachverschiedenheit 77, 82, 84, 90, 115, 125–139, 140, 151f Stimme 26, 33f, 51, 122–125, 174f, 197–199 Sünde 11, 32–81, 82, 112, 125, 134, 137f, 145–147, 165, 182f, 186, 208, 216, 220, 223, 230f Synthese / differenzierte Einheit 16, 35– 40, 43–45, 55–64. 69, 89, 92–94, 102f, 109f, 138, 142, 154, 157, 167, 170, 175, 188, 207, 228, 229–231 Tat / tun siehe Handeln Tod 46, 76, 141, 165, 173, 176, 227
Register Übersetzen 82, 128, 139, 140–156, 212 Verkündigung s. Predigt Vergebung siehe Versöhnung Verschlossenheit 15, 56–81, 96, 125, 153, 172, 188, 201, 212f, 230 Versöhnung / Vergebung / Beichte 53, 60– 62, 138f, 164, 167f, 209, 214f, 216–219, 231 Versuchung 48, 105, 151, 207, 220 Verstehen 33, 45–47, 53, 71, 79, 82–87, 91, 93, 115, 125–139, 145f, 156, 159f, 163, 167f, 183, 209, 230 Verzweiflung 9, 11, 16, 63, 91f, 106, 107, 110, 142, 201 Vollmacht 219–222 Wahrheit 10, 22, 141, 150, 160, 182f, 211, 212, 218, 225f Widerspruch 9, 17, 19, 30, 32, 42, 48, 51, 64f, 69, 72, 74, 77–79, 86, 88f, 94, 100, 104, 115, 120, 127, 132f, 136–138, 143, 157, 159, 169, 172f, 181–189, 201, 220f, 227f, 231 Wiederholung 172, 175, 178, 186–189, 190–210, 221, 228 Wort Gottes 22, 45, 90, 95, 103, 117–119, 131f, 139, 150, 175, 178, 204, 206f, 210 212–221, 225f, 227, 231 Wunder 118, 133, 144, 175 Zweifel 14, 99, 174, 178f, 184–189, 227 Zwischen 10, 29, 32f, 54, 181f, 226, 229
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Band 121: Thorsten Waap
Band 116: Jun-Hyung Jhi
Gottebenbildlichkeit und Identität
Das Heil in Jesus Christus bei Karl Rahner und in der Theologie der Befreiung
Zum Verhältnis von theologischer Anthropologie und Humanwissenschaft bei Karl Barth und Wolfhart Pannenberg 2008. 575 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56949-8
Band 120: Gunther Wenz
Hegels Freund und Schillers Beistand Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848)
2008. 235 Seiten mit 1 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-56348-9
Band 119: Kirsten Busch Nielsen / Ulrik Nissen / Christiane Tietz (Hg.)
Mysteries in the Theology of Dietrich Bonhoeffer A Copenhagen Bonhoeffer Symposium 2007. 186 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56347-2
Band 118: Stefan Holtmann
Karl Barth als Theologe der Neuzeit
Studien zur kritischen Deutung seiner Theologie 2007. 444 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56346-5
2006. 245 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56341-0
Band 115: Alexander Heit
Versöhnte Vernunft
Eine Studie zur systematischen Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens für Kants Religionsphilosophie 2006. 288 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56343-4
Band 114: Johannes Hund
Das Wort ward Fleisch
Eine systematisch-theologische Untersuchung zur Debatte um die Wittenberger Christologie und Abendmahlslehre in den Jahren 1567 bis 1574 2006. 745 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56344-1
Band 113: Jennifer Wasmuth
Der Protestantismus und die russische Theologie
Zur Rezeption und Kritik des Protestantismus in den Zeitschriften der Geistlichen Akademien an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
Band 117: Wieland Kastning
2007. 387 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56340-3
Morgenröte künftigen Lebens
Band 112: Miriam Rose
Das reformatorische Evangelium als Neubestimmung der Geschichte. Untersuchungen zu Martin Luthers Geschichts- und Wirklichkeitsverständnis 2008. 458 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56345-8
Fides caritate formata
Das Verhältnis von Glaube und Liebe in der Summa Theologiae des Thomas von Aquin 2007. 303 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56342-7
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Band 111: Christiane Tietz
Band 105:Christoph Klein
Freiheit zu sich selbst
Das grenzüberschreitende Gebet
2005. 234 Seiten, gebunden SBN 978-3-525-56339-7
Mit einem Geleitwort von Christian Zippert 2004. 222 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56334-2
Band 110: Matthias Haudel
Band 104: Karsten Lehmkühler
Entfaltung eines christlichen Begriffs von Selbstannahme
Die Selbsterschließung des dreieinigen Gottes
Zugänge zum Beten in unserer Zeit
Inhabitatio
Die Einwohnung Gottes im Menschen
Grundlage eines ökumenischen Offenbarungs-, Gottes- und Kirchenverständnisses
2004. 365 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56331-1
2006. 640 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56338-0
Band 103: Henning Theißen
Band 109: Martin Hailer
Gott und die Götzen
Über Gottes Macht angesichts der lebensbestimmenden Mächte 2005. 430 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56336-6
Band 108: Max J. Suda
Die Ethik Martin Luthers 2006. 221 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56337-3
Bad 107: Markus Mühling
Versöhnendes Handeln – Handeln in Versöhnung Gottes Opfer an die Menschen 2005. 382 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56335-9
Band 106: Magnus Schlette
Die Selbst(er)findung des Neuen Menschen
Zur Entstehung narrativer Identitätsmuster im Pietismus 2005. 384 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56333-5
Die evangelische Eschatologie und das Judentum
Strukturprobleme der Konzeptionen seit Schleiermacher 2004. 328 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56256-7
Band 102: Dorette Seibert
Glaube, Erfahrung und Gemeinschaft
Der junge Schleiermacher und Herrnhut 2003. 367 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56242-0
Band 101: Claus Schwambach
Rechtfertigungsgeschehen und Befreiungsprozess Die Eschatologien von Martin Luther und Leonardo Boff im kritischen Gespräch 2004. 397 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56239-0
Ältere Bände unter www.v-r.de