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German Pages 197 Year 1993
Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft
Band 68
Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungsgerichts Von
Mathias Kleuker
Duncker & Humblot · Berlin
MATHIAS KLEUKER
Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungsgerichts
Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft Herausgegeben im Auftrag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster durch die Professoren Dr. Hans-Uwe Erichsen Dr. Helmut Kollhosser Dr. Jürgen Welp
Band 68
Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungsgerichts
Von
Mathias Kleuker
Duncker & Humblot * Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Kleuker, Mathias: Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungsgerichts / von Mathias Kleuker. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft ; Bd. 68) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1992 ISBN 3-428-07647-8 NE: GT
D 6 Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0935-5383 ISBN 3-428-07647-8
Meinen Eltern und Bettina
Vorwort Die hier veröffentlichte Arbeit lag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Sommersemester 1992 als Dissertation vor. Sie entstand während meiner Tätigkeit am Institut für Öffentliches Recht und Politik. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Ebsen, der die Untersuchung angeregt und betreut hat. Ihm und Herrn Professor Dr. Oebbecke als Zweitkorrektor danke ich auch für die zügige Durchsicht meiner Arbeit. Danken möchte ich außerdem Herrn Ministerialdirektor Dr. Heyde und Herrn Ministerialrat Büchel für die Informationen aus dem Bundesjustizministerium sowie Herrn Professor Dr. Erichsen für die Aufnahme meiner Dissertation in diese Schriftenreihe. Gronau, im August 1992 Mathias Kleuker
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
13
1. Kapitel Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge A. Rechtsprechungsfunktion und Gerichtscharakter I. Verpflichtung des Gesetzgebers 1. Verfahren gegen gesetzgeberisches Unterlassen 2. Normenkontrollverfahren a) Verpflichtung des Gesetzgebers zur Beseitigung verfassungswidriger Lagen aus Art. 20 Abs. 3 GG aa) Nichtigerklärung bb) Unvereinbarerklärung cc) Vereinbarerklärung b) Verpflichtung des Gesetzgebers aus Verfassungsauftrag Π. Regelungsvorgaben ΙΠ. Prozessualer Aspekt IV. Zusammenfassung
20 20 26 30 30 31 32 41 47 52 63 75
B. Funktion gerichtlicher Verfassungssicherung
76
2. Kapitel Rechtsfolgen der Gesetzgebungsaufträge A. Rechtsfolgenerörterung in der Literatur
84
B. Rechtsfolgenuntersuchung I. Materielle Rechtsfolgen 1. Gesetzgebungspflicht als Rechtsfolge des Appells 2. Auswirkung des Appells auf die Entwicklung der überprüften Rechtslage
87 87 87 89
10
Inhaltsverzeichnis
Π. Prozeßrechtliche Rechtsfolgen 1. Verbindliche Feststellung der Gesetzgebungspflicht a) Bindung an den Tenor b) Bindung an die Entscheidungsgründe c) Verbindliche Feststellung der Verpflichtung in den einzelnen Formen von Appellentscheidungen 2. Prozeßrechtliche Rechtsfolgen der Fristsetzung a) Begrenzung der BindungsWirkung b) Begrenzung der weiteren Anwendbarkeit einer Norm ΙΠ. "Der Gesetzgeber" als verpflichtbares Subjekt
90 90 90 99 100 103 103 105 107
5. Kapitel Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge A. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge und ihrer Umsetzung I. Geschichte und grundlegende Begrifflichkeit des Implementationsansatzes Π. Anwendbarkeit des Implementationsansatzes auf Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen ΙΠ. Tatsächliche Umsetzung und Umsetzungsprobleme 1. Grundsätzliche Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge 2. Umsetzungsprobleme a) Umsetzungsdauer b) Nichtberücksichtigung des Appells im Gesetzgebungsverfahren.... c) Nichtbefolgung von Regelungsvorgaben d) Kritik gegenüber Gesetzgebungsaufträgen, insbesondere gegenüber Vorgaben und Fristsetzung e) Diffusionswirkung f) Implementationsproblem im Zusammenhang mit der vorangegangenen Entscheidung 3. Bewertung des Programmerfolges IV. Umsetzung und Umsetzungsprobleme aus steuerungstheoretischer Sicht. 1. Implementationsstruktur a) Gesetzgebungsprozeß und beteüigte Akteure b) Eigenarten und wechselseitige Beziehungen der beteiligten Akteure c) Bedeutung der Verfahrens- und Einflußkonstellation für die Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge aa) Interoganisatorisches Implementationsverhalten bb) Organisatorisches Implementationsverhalten 2. Steuerungsverhalten des Bundesverfassungsgerichtes a) Steuerung durch Programmgestaltung aa) Programmtyp und Steuerungsmechanismus
114 114 118 121 122 128 128 130 132 137 141 141 144 145 146 147 150
152 153 156 159 159 160
Inhaltsverzeichnis
bb) Fixierung der Implementationsfelder, Akteure und Adressaten b) Programmbegleitendes Steuerungsverhalten aa) Wahl des Auftragsgegenstandes bb) Gestaltung des Auftragsumfeldes cc) Maßnahmen zur Legitimitätssteigerung B. Implementation der Gesetzgebungsaufträge und Konsequenzen für die Stellung des Bundesverfassungsgerichtes im politischen Prozeß
Literaturverzeichnis
11
179 182 182 184 188 190
191
Einleitung Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungsgerichts werden seit 1979 vom Referat "Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und Verfassungsprozeßrecht" im Bundesministerium der Justiz registriert. Das Spektrum der erfaßten Aufträge reicht vom konkludenten Hinweis auf legislativen Handlungsbedarf 1 bis zur ausdrücklichen Verpflichtung des Gesetzgebers.2 Den folgenden Ausführungen liegt ein entsprechend weiter Begriff des Gesetzgebungsauftrags zugrunde. Jede Aufforderung des Bundesverfassungsgerichtes an den Gesetzgeber, tätig zu werden, wird als Gesetzgebungsauftrag verstanden. Derartige Aufforderungen finden sich in Verfahren, in denen das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungswidrigkeit gesetzgeberischen Unterlassens zu entscheiden hat. Solche Entscheidungen stellen jedoch nur Ausnahmen in der Entscheidungspraxis des Gerichtes dar. In erster Linie ist an Verfassungsbeschwerden gegen gesetzgeberisches Unterlassen zu denken.3 Der ganz überwiegende Teil der Gesetzgebungs auftrage ergeht im Rahmen von Verfahren, in denen das Bundesverfassungsgericht die Vereinbarkeit von Normen mit der Verfassung prüft. Das sind Verfassungsbeschwerdeverfahren, 4 abstrakte5 und konkrete6 Normenkontrollverfahren sowie Organstreitverfahren. 7 1
BVeriGE 61, 43, 68.
2
BVerfGE 78, 249, 286 f.
3 BVerfGE 8, 1; BVerfGE 6, 257 und E 56, 54 enthalten zwar allgemeine Ausführungen des Gerichtes zu Gesetzgebungsaufträgen, ein Auftrag wird aber nicht ausgesprochen, da das Unterlassen des Gesetzgebers nicht als verfassungswidrig angesehen wird. 4
BVerfGE 75, 284; E 72,155; E 39, 302; E 54, 11.
5
BVerfGE 72, 330; E 39,1.
6
BVerfGE 79, 256; E 79, 87; E 78, 364; E 78, 249.
7
Ein Gesetzgebungsauftrag im Zusammenhang mit einem Organstreitverfahren findet sich nicht unter den Entscheidungen, die in der Liste des Bundesjustizministeriums auf dem Stand vom 1.4.1989 aufgeführt sind. Das Bundesverfassungsgericht verbindet zwar in BVerfGE 73, 40 ein Verfassungsbeschwerde- und ein Organstreitverfahren. Der Gesetzgebungsauftrag ist aber ausschließlich dem Verfassungsbeschwerdeverfahren zuzurechnen, da der Antrag der Bundespartei der GRÜNEN im Organstreitverfahren als unbegründet zurückgewiesen wurde. Als Beispiel kann allerdings die Entscheidung zum Bundes Wahlgesetz vom 29.9.1990, BVerfGE 82, 322, dienen, die auch in der aktualisierten Liste vom 23.9.1991 ausgewiesen ist.
14
Einleitung
Die nachfolgende Untersuchung beschränkt sich darauf, die Situation in Verfahren gegen gesetzgeberisches Unterlassen von deijenigen im Zusammenhang mit Verfahren, in denen eine Normenkontrolle stattfindet, abzugrenzen. Daher sollen zur Vereinfachung unter Normenkontrollverfahren - wie bei GawronJRogowski - 8 in einem weiteren Sinne alle Verfahren verstanden werden, in denen Normen Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Kontrolle sind. Entgegen der üblichen Differenzierung 9 sind deshalb auch Organstreit- und Verfassungsbeschwerdeverfahren als potentielle Normenkontrollverfahren aufzufassen. 10 Die Auftragserteilung ist nicht von der Tenorierungsform im jeweiligen Normenkontrollverfahren abhängig. Das Bundesverfassungsgericht erläßt Gesetzgebungsaufträge sowohl in Verbindung mit einer Nichtig- als auch in Verbindung mit einer Unvereinbar- 11 oder Vereinbarerklärung der überprüften Norm. 12 So erklärte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 14.3.1989 zum Antwort-Wahl-Verfahren der Ärztlichen Prüfung 13 § 14 Abs. 5 der Approbationsordnung für Ärzte 1978 für nichtig, der eine absolute Beste-
Zum Ganzen vgl. Gawron!Rogowski, Normenkontrolle und Gesetzgebungsauftrag, in: Verfassungsgerichte im Vergleich/Constitutional Courts in Comparison, S. 348 ff, S. 356. 8
Gawron/Rogowski,
9
Vgl. zum Beispiel M/S-B/K/Ü-Maunz,
aaO, S. 256. BVerfGG, § 13 Rdn. 115 und 119.
10
Zur mittelbaren Normenkontrolle bei Urteilsverfassungsbeschwerde vgl. auch BVerfGE 78, 58, 70 und E 62, 169. 11 Die Unvereinbarerklärung enthält nach überwiegender Ansicht sogar stets den konkludenten Auftrag zur Beseitigung der verfassungswidrigen Lage, vgl. Sachs, Bloße Unvereinbarerklärung bei Gleichheitsverstößen, NVwZ 1982, S. 657-662, S. 657ff; Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen, FS W. Weber, S. 345-368, S. 347. Der Unterschied zwischen Unvereinbar- bzw. Verfassungswidrigerklärung und Nichtigerklärung besteht darin, daß das Gericht sich im ersten Fall darauf beschränkt, die Verfassungswidrigkeit der überprüften Norm festzustellen und die Beseitigung des Verfassungsverstoßes dem Gesetzgeber überläßt. Im Fall der Nichtigerklärung beseitigt das Gericht die als verfassungswidrig erkannte Norm dagegen selbst, indem es sie für nichtig erklärt; vgl. Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, S. 213 und 266. Auf die Frage, inwiefern es sich um eine "Beseitigung" handelt, wird noch einzugehen sein, vgl. unten S. 32. Zum Verhältnis der beiden Tenorierungsformen vgl. auch Klein, Verfassungsprozeßrecht, Versuch einer Systematik an Hand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, AöR 108 (1983), S. 410 ff und 561 ff, S. 422. 12 GawronJ Rogowski, Normenkontrolle, S. 369; Achterberg, Bundesverfassungsgericht und Zurückhaltungsgebote, DÖV 1977, S. 649 ff,S. 655; Maurer, Verfassungswidrigerklärung, S. 347. 13
BVerfGE 80, 1.
Einleitung
hensregel vorsah. Die entstandene Lücke müsse in angemessener Frist vom Verordnungsgeber ausgefüllt werden.14 In der Entscheidung vom 31.1.1989 zur Ehelichkeitsanfechtung durch volljährige Kinder 15 beschränkte sich das Gericht darauf, die §§ 1593,1598 in Verbindung mit 1596 Abs. 1 BGB insoweit für mit dem Grundgesetz unvereinbar zu erklären, als die eigene Abstammung nur über die Ehelichkeitsanfechtung geklärt werden könne, diese aber wiederum auf wenige Ausnahmetatbestände beschränkt sei.16 Der Gesetzgeber wurde aufgefordert, der verfassungsrechtlichen Beanstandung Rechnung zu tragen.17 § 1 Abs. 4 des Gesetzes über den Abbau der Fehlsubventionen im Wohnungswesen hielt das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 8.6.198818 für noch mit dem Grundgesetz vereinbar. Die Regelung, die die Möglichkeit, Fehlbelegungs abgaben zu erheben, auf Gemeinden mit mehr als 300.000 Einwohnern und Gemeinden, die mit diesen einen einheitlichen Wirtschaftsraum bilden, begrenzte, sei als typisierende Regelung von Massenerscheinungen noch mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, zumal es sich um einen komplexen Sachverhalt handele.19 Der Gesetzgeber sei aber verpflichtet, auf der Grundlage der inzwischen gewonnenen Erkenntnisse eine Neuregelung für die Zeit ab 1990 zu treffen. 20 Die Fälle der letztgenannten Gruppe, in denen das Gericht trotz festgestellter verfassungsrechtlicher Bedenken die Norm noch für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt, den Gesetzgeber aber gleichzeitig auffordert, die angesprochenen verfassungsrechtlichen Mängel zu beseitigen, bezeichnet die Literatur üblicherweise als Appellentscheidungen.21 Der Begriff wird jedoch nicht einheitlich in diesem engen Sinne verwandt.22 Maurer sieht zwar als Appellent14
BVerfGE 80, 1, 34.
15
BVerfGE 79, 256.
16
BVerfGE 79, 256, 274.
17
BVerfGE 79, 256, 274.
18
BVerfGE 78, 249.
19
BVerfGE 78, 249, 287 f.
20
BVerfGE 78, 249, 251, 287 und 289.
21 Bryde, Verfassungsentwicklung, Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 395; Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, S. 95; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 132; Moench, Verfassungswidriges Gesetz und Normenkontrolle, S. 70. Zurückzuführen ist der Begriff auf Rupp-von Brünneck, Darf das Bundesverfassungsgericht an den Gesetzgeber appellieren?, FS G. Müller, S. 355 ff, S. 369. 22 Maurer, Verfassungswidrigerklärung, S. 346 Fn 4; Schulte, Appellentscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes, DVB1. 1988, S. 1200-1206, S. 1201; vgl. z.B. Bernd, Legislative Prognosen und Nachbesserungspflichten, S. 136.
16
Einleitung
Scheidung allein die Kombination von (Noch-)Vereinbarerklärung und Appell als Hinweis auf die verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers zur Beseitigung des verfassungsrechtlichen Mangels an,23 gebraucht den Begriff also insofern in seiner engen Bedeutung. Er betont aber gleichzeitig die "appellierende Wirkung" auch der Verfassungswidrig- und Nichtigerklärung. 24 In Verbindung mit der Nichtigerklärung kann die Bedeutung des Begriffs "Appell" nicht auf eine Aufforderung zur Beseitigung des festgestellten verfassungsrechtlichen Mangels der Norm beschränkt werden, da diesbezüglich schon die Nichtigerklärung selbst Abhilfe schafft. Hier wird deshalb der Begriff "Appell" in einem weiteren Sinne als Aufforderung an den Gesetzgeber tätig zu werden verstanden und damit synonym zum Begriff des "Gesetzgebungsauftrags" gebraucht. Der Ausdruck "Appellentscheidung" umfaßt dementsprechend sämtliche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die einen Gesetzgebungsauftrag enthalten.25 Soweit es für die nachfolgende Untersuchung erforderlich sein sollte, kann die Vereinbarerklärung in Verbindung mit einem Appell als Appellentscheidung im engeren Sinne von den übrigen Entscheidungen mit Gesetzgebungsaufträgen unterschieden werden. Differenzierungen zwischen den einzelnen Appellentscheidungen sind nicht nur nach den Verfahrensarten und Tenorierungsformen, mit denen Appelle verbunden werden, möglich; Unterschiede bestehen auch insofern, als das Bundesverfassungsgericht sich nicht immer damit begnügt, den Gesetzgeber aufzufordern, tätig zu werden. Teilweise ergänzt es den Gesetzgebungsauftrag durch Angaben zur möglichen Gestaltung der künftigen Regelung oder es setzt eine Frist, innerhalb derer der Gesetzgeber dem Auftrag nachkommen soll. Die folgende Untersuchung wird sich zunächst mit der rechtlichen Zulässigkeit und den Rechtsfolgen der verfassungsgerichtlichen Gesetzgebungsaufträge beschäftigen, ehe sie sich auf der Grundlage der politikwissenschaftlichen Implementationstheorie der Auftragsumsetzung zuwendet. Als Erhebungsmenge 23
Maurer, Verfassungswidrigerklärung, S. 346; in diesem Sinne auch Ipsen, Rechtsfolgen, S. 132; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 205; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 395. 24
Auch Rupp- von Brünneck, FS G. Müller, S. 366 und 367 beschränkt den Appell nicht auf die Vereinbarerklärung; vgl. auch Achterberg, Bundesverfassungsgericht und Zurückhaltungsgebote, S. 655 Fn.44 und Schef old! Leske y Hochschulvorschaltgesetz: Verfassungswidrig - aber nicht nichtig, NJW 1973, S. 1297 ff, S. 1299 und 1301. 25 Eine vergleichbare Definition von Appellentscheidungen findet sich bei Bernd, Legislative Prognosen, S. 136: "Appellentscheidungen sind generell solche, in denen das Bundesverfassungsgericht Gesetzgebungspflichten konkretisiert. Es handelt sich bei ihnen nicht um eine besondere Entscheidungsvariante zwischen Nichtigkeit und Verfassungswidrigerklärung, sondern sie werden allein durch den Ausspruch einer Verpflichtung des Gesetzgebers charakterisiert".
Einleitung
dienen die in der Liste des Bundesjustizministeriums zum 1.4.1989 ausgewiesenen Gesetzgebungsaufträge sowie zwölf Aufträge neueren Datums. Die aktualisierte Liste des Justizministeriums vom 23.9.1991 enthält keine nennenswerten Abweichungen zu dem hier zugrunde gelegten Auftragsbestand. Sie wird gegebenenfalls in den Anmerkungen berücksichtigt.
2 Kleuker
1. Kapitel
Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge Trotz der mittlerweile jahrelangen Praxis von Gesetzgebungsaufträgen durch das Bundesverfassungsgericht ist ihre Zulässigkeit in der Literatur noch heftig umstritten. Bedenken bestehen im Hinblick auf eine mögliche Kompetenzüberschreitung des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem Gesetzgeber. Die folgenden Ausführungen zur Zulässigkeit von Appellen werden sich dementsprechend mit der Frage zu beschäftigen haben, ob der Ausspruch von Gesetzgebungsaufträgen durch das Bundesverfassungsgericht in den verschiedenen Erscheinungsformen von der Kompetenz des Gerichtes umfaßt ist. Dabei ist zunächst zu klären, wie sich die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichtes bestimmen bzw. wie sich die verfassungsgerichtlichen von den gesetzgeberischen Kompetenzen abgrenzen lassen. Ein Ansatzpunkt die letztere Frage zu beantworten, ergibt sich aus der Tatsache, daß Handlungsgrundlage des Gerichtes die Verfassung ist; aus ihr leiten sich Vorliegen und Umfang der Handlungsbefugnis ab. "Die Tätigkeit des Gerichts ist durch das Grundgesetz positiv legitimiert."1 Eine Bestimmung der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts hat sich somit am Grundgesetz und an den konkretisierenden Vorschriften des Β VerfGG zu orientieren. 2 Mit einem traditionellen Ansatz könnte man daran denken, "...Aufgaben und Grenzen einer Verfassungsgerichtsbarkeit aus der Auslegung und Anwendung des im Einzelfall einschlägigen materiellen Verfassungsrechts..." zu bestimmen.3 Dieser Ansatz basiert auf der Annahme, daß die jeweils anwendbaren Verfassungsnormen den gerichtlichen Funktions- und Kompetenzbereich begründen, gleichzeitig aber auch dessen Grenzen bestimmen. "Die Verfassung als Kontrollmaßstab dirigiert das Gericht."4 Bei einer derartigen Anknüpfung an den Kontrollmaßstab hängt die Genauigkeit der Kompetenzabgrenzung ent-
1
Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 88 ff, 138.
2
Ipsen, Rechtsfolgen, S. 143, 255, 314; Bernd, Legislative Prognosen, S. 136.
3 Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Stellung, Verfahren, Entscheidungen, S. 268 mit Verweis auf A l t e r n a t i v k o m m e n t a r v o r Art. 93/94 Rdn. 70. 4
Schlaich, aaO, S. 268.
1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
scheidend von der Bestimmtheit des Maßstabes ab. Die Verfassung als Kontrollmaßstab zeichnet sich aber gerade durch vage Formulierungen und die "Offenheit vieler Normen" aus.5 Berücksichtigt man außerdem, daß die notwendige Präzisierung des Kontrollmaßstabs durch den Kontrolleur selbst erfolgt und das Gericht bei seiner Auslegung aus einer Vielzahl möglicher Auslegungsmethoden die zum gewünschten Ergebnis führende auswählen kann,6 gelangt man zu der Erkenntnis, daß eine hinreichend genaue, feststehende Kompetenzbestimmung nicht allein an Hand des im Einzelfall einschlägigen materiellen Verfassungsrechts möglich ist.7 Das Bundesverfassungsgericht besäße faktisch die Kompetenz-Kompetenz.8 Das Abstellen auf die jeweils einschlägigen materiellen Verfassungsnormen ermöglicht im Ergebnis keine eindeutige Kompetenzbestimmung und damit auch keine Beurteilung der kompetenzrechtlichen Zulässigkeit von Gesetzgebungsaufträgen des Bundesverfassungsgerichts an den Gesetzgeber. Daher sind zur weiteren Eingrenzung der Kompetenzen allgemeine Aussagen der Verfassung heranzuziehen, die Rückschlüsse auf die von der Verfassung intendierte Kompetenzverteilung zulassen. Ein solches Grundprinzip ist das der verfassungsrechtlichen Funktionenordnung,9 das sich aus dem "funktionalen Aspekt"10 des Gewaltenteilungsgrundsatzes gem. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG ableiten läßt. Grundgedanke und Ziel dieses Teilaspektes11 des Gewaltenteilungsgrundsatzes ist eine "...sinnvolle Verteilung staatlicher Aufgaben auf unterschiedlich spezialisierte Funktionsträger". 12 Eine Kompetenzzuweisung hat im Hinblick auf die "...unterschiedlichen Funktionen und Fälligkeiten der Staatsorgane..."13 zu erfolgen. Demnach hängt die Zuläs5
Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 268.
6
Schiaich, aaO, S. 268; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 95 und 96.
7
Auf die Konkretisierungskompetenz des Bundesverfassungsgerichtes wird unten noch näher einzugehen sein. 8
Schiaich, aaO, S. 268.
9
Schiaich, aaO, S. 269 mit Verweis auf Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation. 10 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 334; Jülicher, gegen Urteile bei gesetzgeberischem Unterlassen, S. 80. 11
Die Verfassungsbeschwerde
Als weiteren Aspekt nennt Bryde, aaO, S. 334 den der Freiheitssicherung.
12
Bryde, aaO, S. 334 mwN; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 269, spricht von einer "sachgemäßen Rollenverteilung zwischen den Staatsorganen." Vgl. auch Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 80; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 91 ebenfalls mwN. 13 Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 269. Vgl. auch Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit - Funktion und Funktionsgrenzen im demokratischen Staat, in: Hoffmann-Riem, Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. HI, Verfassungs- und Verwaltungsrecht, S. 83 ff, S. 99 mwN.
20
1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
sigkeit der Appelle des Bundesverfassungsgerichts davon ab, ob es mit der Funktion und Fähigkeit des Gerichtes zu vereinbaren ist, Gesetzgebungsaufträge an die Legislative auszusprechen.
A. Rechtsprechungsfunktion und Gerichtscharakter Grundlegender Ansatzpunkt zur Bestimmung der Funktion des Bundesverfassungsgerichts ist dessen Zuordnung zur rechtsprechenden Gewalt durch Art. 92 GG, § 1 Abs. 1 BVerfGG. 14 Aus dieser Zuordnung zieht die Literatur teilweise den Schluß, das Bundesverfassungsgericht als Gericht sei im Gegensatz zum Gesetzgeber, dem das Grundgesetz eine "...umfassende initiative und gestaltende Rolle..." zuweise,15 auf eine "...reaktiv-nachträgliche, punktuell-kontrollierende Rolle"16 beschränkt.17 Folgt man diesem Ansatz, ergibt sich für die Zulässigkeit von Gesetzgebungsaufträgen das nachfolgende Bild, das zwar im Ergebnis - wie sich zeigen wird - einer grundsätzlichen Relativierung bedarf, aber dennoch als Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen dienen kann.
I. Verpflichtung des Gesetzgebers Ist das Bundesverfassungsgericht auf eine reaktiv-kontrollierende Rolle beschränkt, darf es im Normenkontrollverfahren lediglich die beanstandete Norm aufheben. Eine mögliche gesetzliche Neuregelung ist, da es sich um gestaltende Tätigkeit handelt, allein vom Gesetzgeber zu treffen. Dieser ist mangels allge-
14 Genauer zum Rechtsprechungscharakter der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 120. 15 16
Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 337 mwN.
Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 271 mwN; Bryde, wicklung, S. 337 mwN.
Verfassungsent-
17 Zur Beschränkung des Bundesverfassungsgerichts auf eine kontrollierende Funktion (gegenüber der Gestaltungskompetenz des Gesetzgebers) sowohl im Falle des Normenkontrollverfahrens als auch in dem des Verfahrens gegen gesetzgeberisches Unterlassen vgl. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 119 und 151. In diesem Zusammenhang lehnt Bettermann, Richterliche Normenkontrolle als negative Gesetzgebung?, DVB1 1982, S. 91-95, 91 ff zu Recht eine Bezeichnung der Normenkontrolle als "negative Gesetzgebung", wie sie sich zum Beispiel bei Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 42 findet, ab.
. Rechtsprechungsfnktion und Gerichtscharakter
21
meiner Gesetzgebungspflicht18 grundsätzlich frei sowohl bezüglich des "Ob" als auch bezüglich des "Wie" einer gesetzlichen Neuregelung.19 Umfaßt die Gestaltungsfreiheit auch den Nichterlaß einer gesetzlichen Neuregelung, stellt eine Verpflichtung des Gesetzgebers durch das Bundesverfassungsgericht einen Übergriff von kontrollierender auf gestaltende Tätigkeit dar. Etwas anderes kann nur gelten, wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise aufgrund verfassungsrechtlicher Bestimmungen zur Neuregelung im Anschluß an die Normenkontrollentscheidung verpflichtet ist. Der GestaltungsSpielraum des Gesetzgebers ist in diesem Fall auf das "Wie", das heißt auf die inhaltliche Ausgestaltung der zu erlassenden gesetzlichen Regelung begrenzt. Wenn aber schon von Verfassungs wegen keine Gestaltungsmöglichkeit des Gesetzgebers durch Entscheidung über das "Ob" eines Gesetzeserlasses besteht, kann ein Ausspruch dieser Verpflichtung des Gesetzgebers durch das Bundesverfassungsgericht nicht als gestaltende Tätigkeit angesehen werden. Gestaltend wirkt hier vielmehr schon die Verfassung, die bestimmte gesetzliche Regelungen verlangt. Außerhalb des Normenkontrollverfahrens kann sich die Frage einer gestaltenden Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts durch Ausspruch einer Verpflichtung des Gesetzgebers zum Normerlaß im Falle der Verfahren gegen gesetzgeberisches Unterlassen stellen. Gegenstand dieser Verfahren ist aber gerade die Entscheidungsfreiheit bezüglich des "Ob" der gesetzlichen Regelung.20 18 Ritter,Verfassungsrechtliche Gesetzgebungspflichten, S. 30 ff, 39, 41; Jülicher> Verfassungsbeschwerde, S. 12 mwN; Lerche, Das Bundesverfassungsgericht und die Verfassungsdirektiven, AöR 90 (1965), S. 341 ff; Lechner, Zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegen Unterlassungen des Gesetzgebers, NJW 1955, S. 1817, 1818; M/S-B/K/V-Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 90 Rdn. 107. 19 20
Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 150.
Dementsprechend sind die Ausführungen bei M/S-B/KJU-Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, §90 Rdn. 121, 107, eine Verfassungsbeschwerde gegen gesetzgeberisches Unterlassen könne wegen § 95 BVerfGG nur zu der Feststellung führen, welche Rechte des Beschwerdeführers durch das Unterlassen verletzt seien, nicht so zu verstehen, daß eine Feststellung der Verpflichtung des Gesetzgebers ausgeschlossen ist, bzw. daß über eine derartige Verpflichtung im Rahmen der Verfassungsbeschwerde gegen gesetzgeberisches Unterlassen nicht entschieden wird. Vielmehr ist die Verpflichtung des Gesetzgebers zum Normerlaß gerade wesentliche Voraussetzung einer Rechtsverletzung des Beschwerdeführers durch das Unterlassen und damit zumindest inzident in deren Feststellung enthalten. Ausgeschlossen ist nach M/S-B/Kfi}-Schmidt-Bleibtreu lediglich eine inhaltliche Festlegung des Gesetzgebers bezüglich der zu treffenden Regelung. Es entspricht diesem Verständnis der Kommentierung, daß das Bundesverfassungsgericht in der von M/S-B/K/lJ-Schmidt-Bleibtreu zitierten Entscheidung (BVerfGE 6, 265, 266) die Verpflichtung des Gesetzgebers, tätig zu werden ausspricht und sich nur ausdrücklich inhaltlicher Vorgaben enthält. Auch der ebenfalls zitierte Lechner, NJW 1955, S. 1817, 1819 geht von einer Befugnis des Bundesverfassungsgerichtes aus, über die Rechtsver-
22
1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
Hier wird der oben angesprochene Ausnahmefall bei den Normenkontrollentscheidungen zur Regel. Gibt eine Entscheidung dem Antrag des Beschwerdeführers statt, besteht zwangsläufig - Gegenstand der Entscheidung war gerade, ob der Gesetzgeber zum Erlaß eines Gesetzes verpflichtet ist - nur ein Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bezüglich des "Wie". Das Bundesverfassungsgericht wird auch hier nicht gestaltend tätig, wenn es eine Verpflichtung des Gesetzgebers zum Normerlaß ausspricht. In beiden Verfahrensarten hängt damit die Grenzziehung zwischen kontrollierender und gestaltender Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichtes im Hinblick auf die Einordnung der verfassungsgerichtlichen Gesetzgebungsaufträge davon ab, ob der Gesetzgeber schon kraft Verfassung zum Normerlaß verpflichtet ist. Eine originäre Verpflichtung des Gesetzgebers durch das Gericht, die per definitionem nur in einem Bereich nicht gegebener verfassungsrechtlicher Gesetzgebungspflicht ergehen kann, wirkt demnach stets gestaltend. Eine kontrollierende Tätigkeit ist allenfalls gegeben, wenn eine durch die Verfassung schon begründete Verpflichtung festgestellt wird. 21 Legt man somit die verfassungsrechtliche Zuweisung reaktiv-kontrollierender Rechtsprechungsfunktion zugrunde, kann ein Appell des Bundesverfassungsgerichtes als bloße Feststellung einer bestehenden Verpflichtung des Gesetzgebers zum Erlaß eines Gesetzes kompetenzrechtlich zulässig sein. Ein solcher Ansatz bedarf aber - wie bereits angedeutet wurde - einer grundsätzlichen Relativierung. Die Unterscheidung einer initiativ-gestaltenden Gesetzgebertätigkeit von der reaktiv-nachträglichen, punktuell-kontrollierenden Rolle eines Gerichtes beschreibt das Verhältnis von Gesetzgeber und Verfassungsgericht nur unzureichend. Selbst wenn das Bundesverfassungsgericht darauf beschränkt ist, bestehende Verpflichtungen des Gesetzgebers festzustellen, ergibt sich die Frage, wann eine solche Gesetzgebungspflicht vorliegt. In Anbetracht der vagen Formulierung und der Offenheit der Verfassungsnormen sind eindeutige Handletzung des Beschwerdeführers hinaus die Verfassungswidrigkeit des gesetzgeberischen Unterlassens festzustellen. (Lechner hält allerdings den Ausspruch der Verpflichtung als gestaltenden Eingriff des Bundesverfassungsgerichtes in die Gesetzgebung für unzulässig. Dem ist entgegenzustellen, daß die Verpflichtung des Gesetzgebers lediglich Kehrseite der Verfassungswidrigkeit seines Unterlassens ist. Der Ausspruch der Verpflichtung ist ebenso wenig gestaltend, wie der der Verfassungswidrigkeit des Unterlassens. Es handelt sich in beiden Fällen um bloße Feststellungen.) 21
Bernd, Legislative Prognosen, S. 136 f, schließt eine originäre Verpflichtung durch Appelle wegen der fehlenden Normierung von Grundlage und Wirkung von Appellentscheidungen im Grundgesetz und Bundesverfassungsgerichtsgesetz aus. Der Appell konkretisiert demzufolge auch seiner Meinung nach nur eine sich aus dem Grundgesetz ergebende Gesetzgebungspflicht.
. Rechtsprechungsfnktion und Gerichtscharakter
23
lungsanweisungen, wie die Verpflichtung des Gesetzgebers zur Gleichstellung nichtehelicher und ehelicher Kinder in Art. 6 Abs. 5 GG die Ausnahme. In der Regel wird sich eine Gesetzgebungspflicht der Verfassung nur durch Auslegung entnehmen lassen. Gesteht man insofern dem Bundesverfassungsgericht die Verfassungskonkretisierungskompetenz zu, scheint auch die Anknüpfung an die Rechtsprechungsfunktion keine gegenüber dem traditionellen Ansatz weitergehende Kompetenzbestimmung zu ermöglichen. Bei genauerem Hinsehen erlaubt die Unterscheidung gestaltender und kontrollierender Tätigkeit aber, die Situation scheinbarer Kompetenz-Kompetenz aufzulösen. Die Lösung kann indessen nicht darin liegen, das Bundesverfassungsgericht auf Entscheidungen zu beschränken, die auf "...rechtlich determinierenden normativen Prämissen" beruhen.22 Aufgrund der eben angesprochenen grundsätzlichen Auslegungsbedürftigkeit vager und offener Verfassungsbestimmungen würde eine solche Beschränkung zu einem "Leerlaufen" der Verfassungsgerichtsbarkeit führen. 23 Eine Verfassungskonkretisierungskompetenz des Bundesverfassungsgerichtes ist unverzichtbar. Die Kompetenzabgrenzung zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber kann nicht dadurch erfolgen, daß man die gerichtliche Verfassungskonkretisierungskompetenz verneint.24 Sie muß vielmehr bei einer sachgerechten Begrenzung dieser Kompetenz ansetzen. Dabei kann offenbleiben, ob Verfassungskonkretisierung stets als Feststellung "eigentlich" von der Verfassung schon vorgegebener Problemlösungen25 oder darüber hinaus auch als gestaltende Verfassungsfortbildung einzuordnen ist. In beiden Fällen wird man einen Ableitungszusammenhang zur Verfassung fordern müssen, um von Verfassungskonkretisierung sprechen zu können. Da die Möglichkeit, eine Entscheidung aus der Verfassung abzuleiten, wiederum vor allem von den zur Verfügung stehenden Interpretationsmethoden abhängt,26 kann die Konkretisierungs22
Ebsen, Bundesverfassungsgericht, S. 131 f.
23
Vgl. Ebsen, aaO, S. 132 f, der auf die "...prinzipiellen Hinderungsgründe rechtlicher Determinierung..." hinweist. 24
Zumal der Gesetzgeber möglicherweise ebenfalls nicht zur Verfassungskonkretisierung befugt ist, vgl. Ebsen, Bundesverfassungsgericht, S. 138. 25 Jekewitz, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, Der Staat 19, (1980), S. 535 ff, S. 542 mwN. 26
Zum Zusammenhang von Interpretationsmethode und Kompetenz des Bundesverfassungsgerichtes, vgl. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, S. 1-4, 23; Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Recht als Prozeß und Gefüge, FS für Hans Huber, S. 261 ff, S 270; Vogel, Videant judices! Zur aktuellen Kritik am Bundesverfassungsgericht, DÖV 1978, S. 665-668, S. 667; EckertZy Die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts und die Eigenart des Politischen, Der Staat 17 (1978), S. 183 ff, S. 190. Kritisch demgegenüber H.-P. Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteüung, NJW 1980, S. 2103 ff, S. 2104.
24
1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
kompetenz des Bundesverfassungsgerichtes durch Eingrenzung der zulässigen Interpretationsmethoden beschränkt werden. Im folgenden soll allerdings kein weiterer Beitrag zur Zulässigkeit oder Unzulässigkeit verfassungsgerichtlicher Interpretationsmethoden geleistet werden.27 Statt dessen soll gezeigt werden, daß sich unabhängig von der Interpretationsmethode, das heißt auch auf der Basis der vom Bundesverfassungsgericht vertretenen Werttheorie, Grenzen der Verfassungsinterpretation und damit der verfassungsgerichtlichen Konkretisierungskompetenz aus der Verfassung ergeben. In einem weiteren Schritt wird dann untersucht, wie sich derartige Grenzen auf die Zulässigkeit von Appellen auswirken. Die Konkretisierungkompetenz wird demnach nicht über die Methode der Verfassungsinterpretation, sondern allgemein über die mögliche Reichweite einer Verfassungsinterpretation begrenzt. Die Grenze einer Verfassungsinterpretation durch das Bundesverfassungsgericht leitet sich aus der Offenheit der Verfassung in Verbindung mit dem Demokratieprinzip ab. Die Tatsache offener, weiter Verfassungsnormen fordert zwar eine gewisse konkretisierende Ausfüllung, um die Verfassung überhaupt auf den Einzelfall anwenden zu können, grenzt aber gleichzeitig den Umfang zulässiger Verfassungskonkretisierung ein. Aufgabe der Verfassung ist es, einen "materialen Kernbestand" zu "...umschreiben, der jenseits des Parteienstreites liegen und über den ein Konsens bestehen soll."28 Die Verfassung beschränkt sich darauf, einen Rahmen vorzugeben, dessen Ausfüllung in einer demokratischen Ordnung der freien politischen Entscheidung in dem dafür vorgesehenen Verfahren obliegt.29 Das Gesetzgebungsverfahren garantiert bei der Lösung politischer Alltagsprobleme den größtmöglichen Interessenausgleich und legitimiert die getroffene Entscheidung.30 Der Versuch, Detailfragen durch Auslegung der Verfassung zu beantworten, "überanstrengt" die Verfassung.31 Er ersetzt die Konsensgewinnung im politischen Verfahren durch die
27 Vgl. diesbezüglich Schuppert, Grenzen, S. 12-15, 23 und 41 f; Eckertz, Kompetenz, S. 190; Bachof, Die richterliche Kontrollfunktion im westdeutschen Verfassungsgefiige, in: Recht als Prozeß und Gefüge, FS für Hans Huber, S. 26-47, S. 35 f; sowie ausführlich Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529 ff; Hesse, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, S. 427-440; Schmid, Grundrechtstheorie im Wandel der Verfassungsgeschichte, Jura 1983, S. 169 ff. 28
Sontheimer,
Die verunsicherte Republik. Die Bundesrepublik nach 30 Jahren,
S. 43. 29 Grimm, Die Fristenlösungsurteile in Österreich und Deutschland und die Grundrechtstheorie, Juristische Blätter 1976, S. 74 ff, S. 79; Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 270; vgl. auch H.-P. Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, NJW 1980, S. 1203 ff, S. 1204. 30
Hesse, aaO, S. 270.
31
Hesse, aaO, S. 270; Vogel, aaO, S. 667.
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Behauptung einer konsentierten Problemlösung bereits in der Verfassung und gefährdet damit die Akzeptanz der Verfassung als Grundkonsens. Auf Dauer wird sowohl die Funktion der Verfassung als Kontrollmaßstab als auch die Autorität des Kontrolleurs Bundesverfassungsgericht in Frage gestellt. Das Bundesverfassungsgericht ist demnach durch das Zusammenspiel von bewußt offener Verfassung und Demokratieprinzip in der Reichweite seiner Verfassungsinterpretation begrenzt. Es hat sich auf die Konkretisierung eines verfassungsrechtlichen Rahmens zu beschränken und dessen Ausfüllung dem Gesetzgeber zu überlassen. Ein solcher Rahmen kann allerdings aufgrund der schon angesprochenen mangelnden Determiniertheit der Verfassungsnormen nicht als statisch feststellbarer Gegenstand,32 sondern nur als Ergebnis der Verfassungsinterpretation zu verstehen sein. Die Kompetenz-Kompetenz des Bundesverfassungsgerichtes, die zu bestehen scheint, weil das Gericht mit der verfassungsrechtlichen Gesetzgebungspflicht gleichzeitig die Grundlage für seine Appelle konkretisiert, löst sich dahin auf, daß das Ergebnis der Konkretisierung nur eine Rahmenvorgabe sein kann. Auch wenn man die Verfassungskonkretisierungskompetenz beim Bundesverfassungsgericht monopolisiert,33 gibt die Offenheit der Verfassung in dem Maße Anlaß zur verfassungsgerichtlichen Zurückhaltung, als es sich nicht um die Unbestimmtheit oder Unvollständigkeit einer Verfassungsregelung in einem Bereich handelt, sondern um die gewollte Nichtregelung von Bereichen durch die Verfassung. 34 Wo die Grenze zwischen dem Rahmen und dem Bereich der Ausfüllungsbedürftigkeit und gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit verläuft, kann weder allgemein noch im Einzelfall genau bestimmt werden. Die Grenze kann naturgemäß nicht determinierter sein, als der begrenzte Verfassungsbereich. Entscheidend für die folgende Untersuchung der Zulässigkeit von Appellen ist allein, daß eine Grenze existiert. Jenseits dieser Grenze geht es nicht mehr um Verfassungsinterpretation, sondern um freie politische Gestaltung, können Appelle nicht mehr von der Kompetenz des Bundesverfassungsgerichtes umfaßt werden, sondern greifen in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ein. Aufgrund des unbestimmten Grenzverlaufes kann auch im Einzelfall der Übergang von noch zulässigem Gesetzgebungsauftrag im Sinne einer Rahmenvorgabe zum schon unzulässigen Appell, der bereits in den Bereich gesetzgebe32
Vgl. Ebsen, Bundesverfassungsgericht, S. 133, der die Existenz eines "...cognitiv zu ermittelnden Rahmens..." aufgrund fehlender Determiniertheit ablehnt. 33 34
Vgl. Ebsen, Bundesverfassungsgericht, S. 138.
Insofern stehen die Bedenken, die Ebsen, aaO, S. 138 gegenüber der Verwendbarkeit des Demokratieprinzips für den restriktiven Ansatz geltend macht, dem hier vertretenen Ansatz nicht entgegen.
26
1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
rischer Gestaltungsfreiheit eingreift, nicht eindeutig fixiert werden. Damit sind selbstverständlich erst recht keine allgemeinen Aussagen zur Grenze zulässiger Gesetzgebungsaufträge möglich. Nicht ausgeschlossen sind dagegen tendenzielle Betrachtungen. Die Intensität verfassungsrechtlicher Bedenken steigt mit der Länge des Ableitungszusammenhanges, das heißt je weiter die konkretisierte Verfassungsnorm oder je detaillierter die abgeleitete Gesetzgebungspflicht, desto wahrscheinlicher ist es, daß das Bundesverfassungsgericht den konkretisierbaren Rahmen verläßt und in einen Bereich freier politischer Entscheidung eingreift. An den Extrempunkten läßt sich die Zulässigkeit von Gesetzgebungsaufträgen daher relativ sicher beurteilen. Ausgehend von diesen Überlegungen wird sich das Bundesverfassungsgericht jedenfalls dann im Bereich bloßer Rahmenbestimmung bewegen, wenn es sich darauf beschränkt, schlichte Gesetzgebungspflichten aus der Verfassung abzuleiten. Dem Gesetzgeber wird lediglich die Entscheidung über das "Ob" seines Tätigwerdens, nicht dagegen über das "Wie" abgenommen. Die grundsätzliche Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers auch über das "Ob" steht dem nicht entgegen, da es sich gerade im Fall ableitbarer Verfassungspflicht um die Ausnahme handeln dürfte. Die Ableitbarkeit der Gesetzgebungspflicht aus der Verfassung ist damit gleichzeitig Mindestvoraussetzung zulässiger Appelle. Spricht das Bundesverfassungsgericht Gesetzgebungsaufträge aus, ohne diese aus der Verfassung ableiten zu können, greift es in den Bereich gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit bezüglich des "Ob" ein und setzt sich an die Stelle des Gesetzgebers. Es steht zwar zu erwarten, daß sich angesichts der Weite der vom Bundesverfassungsgericht mit der Werttheorie in Anspruch genommenen Interpretationsmacht, ein solcher Ableitungszusammenhang fast immer herstellen läßt. Jedoch soll hier die Zulässigkeit von Appellen auf der Grundlage des Interpretationsansatzes des Bundesverfassungsgerichtes untersucht werden. Außerdem ist mit einer zu erwartenden überwiegenden Zulässigkeit des Verpflichtungsausspruches noch nichts über die Auswirkung des Maßstabes auf die Zulässigkeit der konkreten Gestaltung von Appellen ausgesagt. Voraussetzung zulässiger Gesetzgebungsaufträge ist demnach zunächst, daß sich die Verpflichtung des Gesetzgebers als Grundlage des Appells aus der Verfassung ableiten läßt. 1. Verfahren gegen gesetzgeberisches Unterlassen
Entsprechend der schon oben getroffenen Unterscheidung der Verfahren, in denen das Bundesverfassungsgericht Gesetzgebungsaufträge erläßt, soll die Ableitbarkeit einer Gesetzgebungspflicht getrennt nach den Verfahren gegen
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gesetzgeberisches Unterlassen und den Normenkontrollverfahren untersucht werden. Erforderlich ist zunächst eine Abgrenzung der beiden Verfahren, die sich am Begriff des "gesetzgeberischen Unterlassens" zu orientieren hat. Als Unterlassen wird nur das absolute oder teilweise Untätigbleiben des Gesetzgebers bezüglich der gesetzlichen Regelung eines bestimmten Sachverhaltes "...trotz bestehender absoluter Handlungspflicht" verstanden.35 Demgegenüber liegt kein Unterlassen, sondern ein verfassungswidriger Begünstigungsausschluß im Sinne einer positiven Regelung vor, wenn eine kraft Verfassungsauftrages zu begünstigende Gruppe ganz oder teilweise durch einen ausdrücklichen Ausschluß übergangen wird. 36 Auch die Fälle willkürlicher Nichtbegünstigung einer bestimmten Personengruppe bei Erlaß einer begünstigenden Norm sind nicht dem gesetzgeberischen Unterlassen zuzurechnen. Während ein Unterlassen nur bei absoluter oder teilweiser Untätigkeit vorliegt, setzt ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG durch willkürliche Nichtbegünstigung eine sachwidrige Ungleichbehandlung voraus,37 das heißt der Verfassungsverstoß beruht auf der unterschiedlichen Regelung gleicher Sachverhalte. Der Nichtbegünstigung liegt kein Untätigbleiben, sondern eine positive Regelung im Sinne eines zumindest stillschweigenden Ausschlusses zugrunde.38 Dem entspricht auch der Ansatz, einen Gleichheitsverstoß als verfassungswidrige Normenrelation zu begreifen. 39
35
Hein, Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze durch das Bundesverfassungsgericht: Grundlagen, Anwendungsbereich, Rechtsfolgen, S. 56 Fn.164 und S.61; Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 12 f; ob das Bestehen einer aus der Verfassung abgeleiteten Handlungspflicht wirklich Voraussetzung des Unterlassens oder nur für dessen Vorwerfbarkeit ist, kann dahinstehen, da die hier interessierenden Appelle ohnehin nur im Zusammenhang mit dem Vorwurf des verfassungswidrigen - weil gegen eine vefassungsrechtliche Handlungspflicht verstoßenden - gesetzgeberischen Unterlassens ergehen. 36
Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 13.
37
Im Unterschied zu den beiden bisher genannten Gruppen resultiert der Verfassungsverstoß nicht aus der Nichtgewährung einer verfassungsrechtlich gebotenen Begünstigung, sondern einer ungleichen Gewährung der Begünstigung. 38 Vgl. auch Jülicher y Verfassungsbeschwerde, S. 13, der bei willkürlicher Nichtbegünstigung zwischen stülschweigendem und ausdrücklichem Ausschluß unterscheidet. Ebenso Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 190. 39 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 213 f; Maurer, Verfassungswidrigerklärung, FS W. Weber, S. 354; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 97 ff, insbes. S. 102; Gusy y Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 195. Ein Zusammentreffen von verfassungswidrigem Begünstigungsausschluß und willkürlicher Nichtbegünstigung ist dagegen möglich und hat Besonderheiten hinsichtlich Entscheidungsinhalt und Tenorierungsform zur Folge, da der Gestaltungsspielraum des Ge-
28
1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
Bei verfassungswidrigem Begünstigungsausschluß und willkürlicher Nichtbegünstigung handelt es sich somit nicht um ein gesetzgeberisches Unterlassen, sondern um positive Regelungen, deren Verfassungsmäßigkeit im Normenkontrollverfahren geprüft werden kann. Im Falle der Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, die darauf gerichtet sind, die Verfassungswidrigkeit gesetzgeberischen Unterlassens in diesem engen Sinne festzustellen, ist die Zulässigkeit eines Appells hinsichtlich der Voraussetzung einer ableitbaren verfassungsrechtlichen Gesetzgebungspflicht unproblematisch. Die Ableitbarkeit einer Verpflichtung zum Normerlaß ist zugleich Grund der Verfassungswidrigkeit des Unterlassens. Kommt das Gericht zu dem Ergebnis, das Unterlassen des Gesetzgebers sei verfassungswidrig, ist automatisch auch ein Gesetzgebungsauftrag des Bundesverfassungsgerichtes, der lediglich die verfassungsrechtliche Verpflichtung des Gesetzgebers zum Normerlaß konkretisiert, unter dem Aspekt der reaktiv-kontrollierenden Rechtsprechungsfunktion des Bundesverfassungsgerichtes zulässig. Derartige Fälle sind allerdings in der bisherigen Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichtes allenfalls ansatzweise vorhanden. Jülicher betont, daß das Gericht bis 1972 erst einmal - in seinem Beschluß zum Besoldungsrecht vom 11.6.195840 - über ein absolutes Unterlassen des Gesetzgebers entschieden habe.41 Selbst diese Entscheidung läßt sich nur unter einer Einschränkung den Verfahren gegen gesetzgeberisches Unterlassen zuordnen. Durch das Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Besolgungsrechts vom 6.12.1951 wurde die Höhe der Besoldung von Beamten und Versorgungsempfängern den geänderten Lebensverhältnissen angepaßt. Aus Haushaltsgründen sollte zunächst die Anpassung zugunsten aller Altpensionäre verschoben werden. Da eine so weitreichende Nichtanpassung im Verlauf der Bundestagsberatung auf Bedenken stieß, blieben in der endgültigen Fassung des § 6 Abs 1 ÄndG nur die Ruhegehaltsempfänger nach dem G 131 42 unberücksichtigt43 Ihre Bezüge wurden erst durch das Zweite Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Besoldungsrechts vom 20.8.1952 angehoben. Die Beschwerdeführer sind in dieser Situation nicht unmittelbar gegen das Unterlassen des Gesetzgebers vorgegangen, die Bezüge schon zum 1.10.1951 anzupassen. Sie beantragsetzgebers gegenüber der Situation bei alleinigem Verstoß gegen Alt. 3 Abs. 1 GG eingeschränkt ist durch den Verfassungsauftrag. 40
BVerfGE 8, 1.
41
Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 49.
42 Gesetz zur Regelung der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen vom 11.5.1951. 43
BVerfGE 8, 1, 2-4.
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ten vielmehr die Nichtigerklärung des § 6 Abs. 1 ÄndG bzw. ihre Gleichstellung mit den Beamten, deren Bezüge mit Wirkung vom 1.10.1951 erhöht worden waren. Das Bundesverfassungsgericht legte die Anträge dahin aus, daß die Beschwerdeführer nicht bloß Gleichbehandlung oder Nichtigerklärung begehrten, sondern ein eigenes Recht auf angemessenen Unterhalt gegenüber dem Staat geltend machten.44 Die Gleichbehandlung garantiere nicht, daß die Besoldungserhöhung auf die Beschwerdeführer erstreckt wird. 45 Die Nichtigerklärung scheide schon deshalb aus, weil der Grundsatz der gesetzlichen Besoldungsregelung eine Besoldung ohne gesetzliche Grundlage verbiete. 46 Obwohl die Besoldungsregelung mangels Anpassung an die geänderten Lebensverhältnisse bereits im Oktober 1951 verfassungswidrig war, erklärte das Bundesverfassungsgericht sie nicht für nichtig. Statt dessen stellte es allein auf das Unterlassen der gebotenen Besoldungsänderung ab, das die Antragsteller in ihrem Recht aus Art. 33 Abs. 5 GG verletzt habe.47 Eine solche Feststellung verpflichte den Gesetzgeber jedoch zu entsprechendem Handeln.48 Die aus Art. 33 Abs. 5 GG abgeleitete Pflicht zu angemessener Besoldung begründe sowohl die Verfassungswidrigkeit des gesetzgeberischen Unterlassens als auch den abschließenden Gesetzgebungsauftrag. 49 Eine ähnliche Situation lag bereits dem Beschluß zum G 131 vom 20.2.195750 zugrunde. Die Beschwerdeführer haben hier die teilweise Nichterfüllung des Verfassungsauftrages aus Art. 131 GG gerügt.51 Das Bundesverfassungsgericht erörterte die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen gesetzgeberisches Unterlassen und die Möglichkeit eines Gesetzgebungsauftrages, wenn das Unterlassen gegen eine Handlungspflicht verstoße.52 Ein Gesetzgebungsauftrag unterblieb aber, da das Gericht eine Handlungspflicht des Gesetzgebers im konkreten Fall verneinte. In der Fluglärmentscheidung vom 14.1.198153 bejahte das Gericht zwar die Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers, verwarf aber die gegen ein gesetzgeberisches Unterlassen gerichteten Verfassungsbeschwerden, weil der Gesetzge-
44
BVerfGE 8, 1,11.
45
BVerfGE 8, 1, 10.
46
BVerfGE 8, 1, 15 und 18 f.
47
BVerfGE 8, 1, 20.
48
BVerfGE 8, 1, 20.
49
BVerfGE 8, 1, 28.
50
BVerfGE 6, 157.
51
BVerfGE 6, 257, 263 f.
52
BVerfGE 6, 257, 264 ff.
53
BVerfGE 56, 54.
30
1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
ber seine Nachbesserungspflicht jedenfalls nicht evident verletzt habe.54 Ein ausdrücklicher Auftrag an den Gesetzgeber findet sich folglich nicht. Lediglich mittelbar geht es in den Entscheidungen zur Notarstellenvergabe in Hamburg55 und zum anwaltlichen Ehrengerichtsverfahren 56 um ein Unterlassen des Gesetzgebers. In beiden Fällen führte bereits das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage wegen des jeweiligen Grundrechtsbezuges zu Art. 12 Abs. 1 GG zur verfassungsgerichtlichen Beanstandung. Auf die Rechtswidrigkeit des Unterlassens kam es hier nicht an. Die Appelle rechtfertigten sich nicht aus der Rechtswidrigkeit des Unterlassens, sondern aus dem Sonderfall, daß die konkreten Hoheitsakte der Notarstellenvergabe und der Ehrengerichtsentscheidung einerseits unverzichtbar sind, andererseits wegen des Eingriffs in Art. 12 Abs. 1 GG aber einer gesetzlichen Grundlage bedürfen. Es bleibt festzustellen, daß Verfahren, in denen die Verfassungswidrigkeit eines gesetzgeberischen Unterlassens erfolgreich gerügt wird, sehr selten sind. Die Verbindung von Gesetzgebungsaufträgen und derartigen Verfahren stellt nur einen Ausnahmefall im Bereich der Appellentscheidungen dar. In diesem Ausnahmefall ist ein Gesetzgebungsauftrag allerdings unproblematisch zulässig, da die Handlungspflicht des Gesetzgebers aus der Verfassung gleichzeitig Voraussetzung des verfassungswidrigen gesetzgeberischen Unterlassens und des zulässigen Gesetzgebungsauftrages ist. 2. Normenkontrollverfahren
Problematischer als bei den Verfahren gegen gesetzgeberisches Unterlassen ist die Ableitung einer Verpflichtung des Gesetzgebers im Falle der Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. a) Verpflichtung
des Gesetzgebers zur Beseitigung verfassungswidriger Lagen aus Art. 20 Abs. 3 GG
Grundlage des Appells kann hier eine Verpflichtung des Gesetzgebers zum Normerlaß aus Art. 20 Abs. 3 GG sein.57 Aus der Bindung der Gesetzgebung an
54
BVerfGE 56, 54, 80.
55
Entscheidung vom 18.6.1986, BVerfGE 73, 280.
56
Entscheidung vom 14.7.1987, BVerfGE 76, 171.
57
Vgl. Hein, Unvereinbarerklärung, S. 169 mit Verweis auf Hey de, Gesetzgeberische Konsequenzen aus der Verfassungswidrig-Erklärung von Normen, FS H.J. Faller, S. 54.
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die verfassungsmäßige Ordnung folgt die Pflicht des Gesetzgebers, verfassungswidrige Lagen zu beseitigen. Dagegen ist der Gesetzgeber aus Art. 20 Abs. 3 GG nicht verpflichtet, bei noch verfassungsgemäßer Lage einen (nur) drohenden Eintritt der Verfassungswidrigkeit zu verhindern. 58 Differenziert nach den Tenorierungsformen in Normenkontrollverfahren ergibt sich bezüglich der Verpflichtung aus Art. 20 Abs. 3 GG folgende Situation: aa) Nichtigerklärung Erklärt das Bundesverfassungsgericht die verfassungswidrige Norm für nichtig, ist sie ex tunc unwirksam. Diese Unwirksamkeit tritt entweder nach wohl herrschender Ansicht ipso iure aufgrund des Verfassungsverstoßes ein und wird in der Entscheidung lediglich festgestellt 59 oder sie wird der Gegenansicht zufolge erst durch die - dann konstitutive - Erklärung des Bundesverfassungsgerichtes herbeigeführt. 60 Eine Stellungnahme zugunsten der ipsoiure-Theorie oder der Vernichtbarkeitslehre erübrigt sich hier. Der Verfassungsverstoß ist nach beiden Ansichten spätestens mit der Entscheidung des Gerichtes beseitigt, so daß im Hinblick auf die Pflicht aus Art. 20 Abs. 3 GG, die Unverbrüchlichkeit der Verfassung 61 zu wahren, aufgrund der verfassungswidrigen Regelung keine Verpflichtung des Gesetzgebers zum Tätigwerden bestehen kann. Ein mit der Nichtigerklärung verbundener Appell kann demnach nicht auf einer Verpflichtung des Gesetzgebers zur Beseitigung verfassungswidriger Lagen aus Art. 20 Abs. 3 GG beruhen.
58
Ipsen, Rechtsfolgen, S. 133, 268; Bernd, Legislative Prognosen, S. 139. Vgl. dazu noch ausfuhrlicher unten S. 44. 59 Die ipso-iure-Theorie wird vertreten von: Ipsen, Nichtigerklärung oder "Verfassungswidrigerklärung" - Zum Dilemma der verfassungsgerichtlichen Normenkontrollpraxis, JZ 1983, S. 41-45,43; umfassend ders., Rechtsfolgen, passim; Scheuner, Die Einwirkung der verfassungsgerichtlichen Feststellung der Nichtigkeit von Rechtsnormen auf vorgängige Hoheitsakte, BB 1960, S. 1253-1256, S. 1255; Stern, Das Bundesverfassungsgericht und die sog. konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG, AöR 91 (1966), S. 223-253, 250 mwN; ders. in Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Art. 93 Rdn. 270 ff; Bernd, Legislative Prognosen, S. 75. 60
Vertreter der Vernichtbarkeitslehre sind zum Beispiel Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 114 ff; Achterberg, Bundesverfassungsgericht und Zurückhaltungsgebote, DÖV 1977, S. 649, 653 f; Klein, Verfassungsprozeßrecht, AöR 108 (1983), S. 410-444 und 561-624, 433; M/S-B/KflJ-Ulsamer y § 78 Rdn. 14-16 und Schmidt-Bleibtreu § 95 Rdn. 34; Pestalozza, "Noch verfassungsmäßige" und "bloß verfassungswidrige" Rechtslagen, in BVerfG und GG I, S. 519 ff, 520-522; grundlegend Christoph Böckenförde , Die sogenannte Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze, passim. 61
Vgl. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 160.
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1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
bb) Unvereinbarerklärung Das Bundesverfassungsgericht erläßt Gesetzgebungsaufträge auch in Verbindung mit Unvereinbarerklärungen. Unabhängig davon, ob eine Verpflichtung des Gesetzgebers aus Art. 20 Abs. 3 GG ableitbar ist, kann diese Form des Appells nur unter einer weiteren Voraussetzung zulässig sein. Wird nicht die Interpretationsmethode, sondern nur die Reichweite der Verfassungskonkretisierungskompetenz des Bundesverfassungsgerichtes relativiert, entwickelt sich das aus der Rechtsprechungsfunktion gezogene Kriterium einer bestehenden Verpflichtung zu dem einer ableitbaren Verpflichtung. Ein solches Kriterium schränkt die Befugnis des Bundesverfassungsgerichtes, schlichte Gesetzgebungsaufträge auszusprechen, nur unwesentlich ein. 62 Dies gilt insbesondere für die Unvereinbarerklärung. Zumindest die Verpflichtung des Gesetzgebers, die verfassungswidrige Lage zu bereinigen, wird sich offensichtlich aus dem insofern generalklauselartigen Art. 20 Abs. 3 GG ableiten lassen. Indem das Bundesverfassungsgericht auf die fehlerbeseitigende Nichtigerklärung verzichtet, gewinnt es mit Art. 20 Abs. 3 GG ohne zweifelhafte Verfassungskonkretisierung eine Grundlage für die Verpflichtung des Gesetzgebers und damit einen Ausgangspunkt, um von der Bereinigung verfassungswidriger Rechtslagen auf die Beeinflussung - wenn nicht sogar Gestaltung - der Rechtsfolgenabwicklung überzugehen. Die Problematik verschiebt sich damit in das Vorfeld des Gesetzgebungsauftrages. Fraglich ist schon, ob das Bundesverfassungsgericht auf eine Nichtigerklärung verzichten und statt dessen für unvereinbar erklären darf. Nur wenn der Verzicht des Bundesverfassungsgerichtes auf die selbständige Bereinigung der verfassungswidrigen Lage, das heißt die Beschränkung auf die bloße Unvereinbarerklärung seinerseits zulässig ist, stellt sich die Frage, ob das Gericht den Gesetzgeber durch einen Appell auffordern darf, den Verfassungsverstoß zu beseitigen. Das demnach vorrangige Problem der Zulässigkeit von Unvereinbarerklärungen ist vor dem Hintergrund des Meinungsstreites zwischen ipso-iureTheorie und Vernichtbarkeitslehre zu erörtern. Nach der ipso-iure-Theorie ist eine Unvereinbarerklärung bei isolierbarer verfassungswidriger Norm unzulässig, da der Verstoß schon ipso iure beseitigt wird und damit zwangsläufig nur die vorliegende Nichtigkeit festgestellt werden kann. Grund dieser Automatik des Unwirksamwerdens bzw. -seins und entscheidendes Argument für die ipso-iure-Theorie ist der im Grundgesetz nie-
62 Ob dies auch für die weitreichenderen Appelle gilt, die sich nicht nur mit der Verpflichtung des Gesetzgebers zur Regelung, sondern auch mit der möglichen Ausgestaltung der geforderten Regelung befassen, wird noch zu erörtern sein; vgl. unten S. 58.
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dergelegte Vorrang der Verfassung. 63 Der Vorrang der Verfassung beschreibt das Verhältnis zwischen Verfassungs- und einfachem Gesetzesrecht. Ein Widerspruch zwischen beiden Rechtsebenen ist zugunsten des Verfassungsrechts aufzulösen. Mit der so garantierten Unverbrüchlichkeit der Verfassung 64 ist demnach eine auch nur übergangsweise Geltung verfassungswidrigen Rechts nicht zu vereinbaren. Umstritten ist unter den Vertretern der ipso-iure-Theorie nur die Isolierbarkeit einer verfassungswidrigen Norm bei Verstößen gegen den Gleichheitsgrundsatz. Sachs bejaht diese Isolierbarkeit und lehnt dementsprechend die Zulässigkeit einer Unvereinbarerklärung generell ab;65 die übrigen Vertreter der ipso-iure-Theorie gehen bei Verstößen gegen Art. 3 Abs. 1 GG von einer verfassungswidrigen Normenrelation aus und sehen den Gleichheitsverstoß mangels isolierbarer verfassungswidriger Norm als Fall einer ausnahmsweise zulässigen Unvereinbarerklärung an.66 Demgegenüber verneint die Vernichtbarkeitslehre die ipso-iure-Automatik. Sie beruft sich dabei sowohl auf rechtstechnische Argumente, wie bei Ablehnung der ipso-iure-Nichtigkeit im Falle eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG, als auch auf inhaltliche Gründe; trotz Verfassungswidrigkeit kann eine übergangsweise Weitergeltung der Norm zur Vermeidung chaotischer, noch verfassungswidrigerer Zustände erforderlich sein.67 Achterberg stellt außerdem zur Begründung der Vernichtbarkeitslehre auf den Delegationszusammenhang ab.68 Dieser sei erforderlich, um die Bestandskraft des Einzelaktes zu rechtfertigen. Die Bestandskraft verlange zwar kein Fortbestehen der Ermächtigungsgrundlage, jeder Hoheitsakt müsse aber zumindest zur Zeit seines Erlasses auf den Träger der Staatsgewalt zurückzuführen sein.69 Ein solcher Delegationszu-
63
Ipsen, Rechtsfolgen, S. 160, leitet den Vorrang der Verfassung aus Art. 20 Abs. 3, 1 Abs. 3, 79 Abs. 1, S. 1, 79 Abs. 3 und 146 GG ab. Eine umfassende Begründung der ipso-iure-Theorie findet sich ebenfalls bei Ipsen. 64
Ipsen, Rechtsfolgen, S. 160.
65
Sachs, NVwZ 1982, S. 657-662,661.
66
Ipsen, Rechtsfolgen, S.l 10, 219.
67 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 37 ff, 172 ff. Moench unterscheidet zwar zwischen Verzicht auf Nichtigerklärung und zusätzlicher Anordnung der Weitergeltung. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 218 f, ist aber zuzustimmen, daß der bloße Verzicht auf die Nichtigerklärung noch keinen Unterschied auf der Rechtsfolgeseite bewirkt. Entscheidend ist die Funktion als Übergangsregelung aufgrund der angeordneten Weitergeltung, vgl. auch Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 194. 68
Achterberg, DÖV 1977, S. 649, 653.
69
Achterberg, DÖV 1977, S. 649, 653 und 654 Fn. 34.
3 Kleuker
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1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
sammenhang sei bei ipso-iure und ex-tunc eintretender Nichtigkeit nicht gegeben.70 Angesichts der Argumente, die von den wenigen bisher genannten Vertretern der ipso-iure- bzw. der Vernichtbarkeitslehre angeführt werden, erscheint es nicht ausgeschlossen, daß eine eindeutige Entscheidung für eine der beiden Theorien nicht zu treffen ist. Möglicherweise ist sie aber auch nicht erforderlich. Dem entspräche das Verhalten des Bundesverfassungsgerichtes, das sich zwar theoretisch grundsätzlich zur ipso-iure-Nichtigkeit bekennt, praktisch aber häufig auf eine Feststellung der Verfassungwidrigkeit beschränkt, um eine ex-tunc-Unwirksamkeit zugunsten einer vorübergehenden weiteren Anwendbarkeit zu vermeiden.71 Zu dem Ergebnis, daß eine Entscheidung zwischen ipso-iure-Theorie und Vernichtbarkeitslehre überflüssig ist, gelangt auch Gusy. 72 "Unabhängig vom theoretischen Ansatzpunkt..." sei die "...Nichtigerklärung der vom Grundgesetz gebotene Entscheidungstenor; für eine Verfassungswidrigerklärung bleibt daneben prinzipiell kein Raum". Gusy schließt demnach nicht von der Verfassungsmäßigkeit der ipso-iure-Theorie oder der Vernichtbarkeitslehre auf die Zulässigkeit einer bloßen Unvereinbarerklärung, sondern umgekehrt von der Unzulässigkeit einer Unvereinbarerklärung auf die Überflüssigkeit einer Entscheidung für die eine oder die andere Theorie. Die prinzipielle Unzulässigkeit der Unvereinbarerklärung leitet Gusy aus dem Vorrang der Verfassung ab. Dieser führe zum Bestand ausschließlich verfassungsgemäßer Normen; eine Fortgeltung verfassungswidrigen Rechts bei Unvereinbarerklärung könne dementsprechend nicht aus dem Grundgesetz begründet werden.73 Eben diese enge Auslegung des Vorrangs der Verfassung ist aber das entscheidende Argument für die ipso-iure-Theorie. 74 Eine derartig auf dem Boden der ipso-iure-Theorie geführte Argumentation kommt einer Stellungnahme zu ihren Gunsten gleich. Auf diese Weise läßt sich folglich nicht begründen, daß eine Entscheidung zwischen den beiden Theorien nicht erforderlich ist.
70
Achterberg, aaO, S. 653.
71
Vgl. Hoffmann-Riem, Die Beseitigung verfassungswidriger Lagen im Zweitaktverfahren, DVB1 1971, S. 842, 843 mit Verweis auf Christoph Böckenförde, Die sogenannte Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze, § 69 ff. 72
Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 194 f.
73
Demgegenüber behaupten die Vertreter der Vernichtbarkeitslehre, daß auch die vorübergehende Fortgeltung verfassungswidrigen Rechts mit dem Vorrang der Verfassung zu vereinbaren sei. Vgl. Achterberg, DÖV 1977, S. 649, 653. 74
Vgl. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 164,192, 313.
A. Rechtsprechungsfnktion und Gerichtscharakter
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Die Zulässigkeit der Unvereinbarerklärung hängt nicht mehr von der verfolgten Lehre ab, wenn eine Annäherung der Theorien bzw. der durch sie bedingten Entscheidungsformen möglich ist. Zunächst lassen sich die entscheidend für eine Theorie sprechenden Argumente, die in gleicher Weise einer Vertretbarkeit der jeweils anderen Ansicht entgegenstehen und damit eine Ausschließlichkeit begründen, relativieren. Das Prinzip vom Vorrang der Verfassung beschränkt sich nicht auf das Verhältnis einer einzelnen Verfassungsnorm zu der überprüften Norm. Verstößt die überprüfte Norm gegen eine einzelne Verfassungsbestimmung, wird der zumindest zeitweise (Fort-)Bestand dieser Norm aber gleichzeitig von einer anderen Verfassungsbestimmung gefordert oder ist er gar zum Fortbestand der Verfassung insgesamt erforderlich, so kann die vorübergehende Fortgeltung einer derart verfassungswidrigen Norm nicht durch den Vorrang der Verfassung ausgeschlossen sein. Dieser Gedanke liegt auch dem Chaos-Argument zugrunde, das häufig den Verzicht auf die Nichtig- zugunsten der Unvereinbarerklärung und damit ein Vorgehen nach der Vernichtbarkeitslehre rechtfertigen soll.75 Die Bedeutung dieses Chaos-Arguments läßt sich wiederum durch den Hinweis auf die Bestandskraft des Einzelaktes relativieren. 76 Auch unter dem Gesichtspunkt des Delegationszusammenhanges ergibt sich kein Zwang zur Entscheidung gegen die ipso-iure- und für die Vernichtbarkeitstheorie. Es ist fraglich, ob die Bestandskraft des Einzelaktes notwendiger-
75
Vgl. Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 39 f; als Beispiel für einen entsprechenden Verzicht des Bundesverfassungsgerichtes auf die Nichtigerklärung aus Chaos-Gesichtspunkten kann die Entscheidung vom 27.11.1990 zu §§ 1 ff des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften dienen, abgedruckt in DVB1. 1991, S. 261 ff. Das Gericht erkärte § 9 Abs. 2 GjS, der die Besetzung der Prüfstelle regelt, zwar für unvereinbar, der Mangel sei jedoch bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis Ende 1994, hinzunehmen. Eine Nichtigerklärung scheide aus, da sie die Tätigkeit der Bundesprüfstelle zum Schutz der Jugend vereiteln würde. Diese Folge sei noch weniger mit der Verfassung zu vereinbaren als der gegenwärtige Zustand, BVerfG, DVB1.1991, S. 261 ff, S. 266. Vgl. ebenfalls die Unvereinbarerklärung der Regelung zum Ehenamensrecht in § 1355 Abs. 2 S. 2 BGB (Entscheidung vom 5.3.1991, abgedruckt in NJW 1991, S. 1602 ff). Der Verzicht auf die Nichtigerklärung beruhte auch darauf, daß eine solche Tenorierung zu erheblicher, im Namensrecht nicht tragbarer Rechtsunsicherheit führen würde (BVerfG, NJW 1991, S. 1602 ff, S. 1603). 76 Ipsen,, Rechtsfolgen, S. 192, 193, 314. Der Einzelakt sei zwar ebenfalls verfassungswidrig, er sei aber rechtlich verselbständigt. Unabhängig von der Nichtigkeit der zugrunde liegenden Norm werde der Einzelakt entweder bestandskräftig oder er sei gesondert abzuwickeln. Die Nichtigkeit verfassungswidriger Normen schlage somit nicht auf die Ebene der Einzelakte durch, sie bleibe "ohne unmittelbare Folgen". Dem ist, zumindest soweit es die Vergangenheit betrifft, zuzustimmen.
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1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
weise einen Delegationszusammenhang voraussetzt, so daß eine ipso-iureNichtigkeit als mit § 79 Abs. 2, S. 1 BVerfGG unvereinbar erscheint. Erläßt ein Exekutivorgan irrtümlich einen Verwaltungsakt auf der Grundlage eines schon aufgehobenen Gesetzes, tritt wegen des Evidenzerfordernisses nach der Nichtigkeitstheorie77 keine Nichtigkeit des Einzelaktes gemäß § 44 VwVfG ein. Die Bestandskraft ist demnach78 trotz des fehlenden Delegationszusammenhanges möglich. Wendet man ein, daß ein Unterschied zum Fall der ipso-iure-Nichtigkeit in der Form besteht, daß bei ipso-iure, ex-tunc eintretender Nichtigkeit eine den Delegationszusammenhang herstellende Norm nie bestanden hat, während die aufgehobene und irrtümlich angewandte Norm zumindest zeitweise existierte, so ist zu bedenken, daß die Ausgangsüberlegung auch für den Fall gilt, daß ein Gesetz falsch angewandt wird. Auch in diesem Fall wird der Einzelakt bestandskräftig, ohne daß eine gesetzliche Grundlage und damit ein Delegationszusammenhang vorlag. Bestandskraft des Einzelaktes und ipso-iure-Nichtigkeit der Norm schließen sich somit nicht aus. Das Schicksal verfassungswidriger Normen ergibt sich nicht aus überverfassungsrechtlichen Denkgesetzen, sondern wird durch die Verfassung selbst festgelegt. Möglich ist demnach sowohl eine Vernichtbarkeit, als auch eine ipso-iure, ex-tunc Nichtigkeit oder auch das österreichische Modell einer pro-futuro-Nichtigkeit. 79 Das Ausmaß des Streites um ipso-iure-Theorie und Vernichtbarkeitslehre zeigt, daß eine eindeutige, völlig widerspruchsfreie Entscheidung für eine der beiden Theorien aus der Verfassung wohl nicht möglich ist. Zusammenfassend läßt sich bisher feststellen, daß die Verfassung zwar Argumente für beide Theorien enthält, daß sie aber keinen der beiden Ansätze zwingend ausschließt. Sind somit beide Theorien mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Zulässigkeit der Tenorierungsformen denkbar, erübrigt sich eine Entscheidung für die ipso-iure-Theorie oder die Vernichtbarkeitslehre, wenn hinsichtlich der unterschiedlichen, nach der jeweiligen Theorie zulässigen Tenorierungsformen eine funktionelle Äquivalenz besteht. Der Streit zwischen den konträren Ansichten kann dahinstehen, wenn die Abwicklung verfassungswidriger Lagen nach beiden Theorien trotz der unterschiedlichen Tenorierungsformen im Ergebnis vergleichbar verläuft. Geht man mit der ganz herrschenden Meinung auch unter den Vertretern der ipso-iure-Theorie von einer Zulässigkeit der Unvereinbarerklärung im Falle der verfassungswidrigen Normenrelation bei 77
Schwerdtfeger,
Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, Rdn. 111.
78
Die Bestandskraft wird nur durch Nichtigkeit zwingend ausgeschlossen, Schwerdtfeger, Öffentliches Recht, Rdn. 43. 79
M/S-B/K/U-Ulsamer,
BVerfGG, § 78 Rdn. 9.
. Rechtsprechungsfnktion und Gerichtscharakter
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Gleichheitsverstoßen aus,80 stellt sich die Frage funktioneller Äquivalenz nur in den übrigen Fällen der Unvereinbarerklärung, in denen entgegen der Ansicht der Vernichtbarkeitslehre und der Praxis des Bundesverfassungsgerichts nach der ipso-iure-Theorie eine Nichtigerklärung erfolgen müßte. Nichtigerklärung und Unvereinbarerklärung müßten in ihren Auswirkungen vergleichbar sein. Betrachtet man allein die Auswirkung auf die überprüfte Norm, wird sich eine Vergleichbarkeit nicht feststellen lassen. Bewirkt die Nichtigerklärung eine Unwirksamkeit der Norm von Anfang an, geht es bei dem Verzicht auf die Nichtigerklärung zugunsten der bloßen Unvereinbarerklärung gerade darum, einem Bedürfnis nach vorübergehender weiterer Anwendbarkeit der Norm zur Vermeidung eines Regelungsdefizites und damit eventuell verbundener chaotischer Zustände gerecht zu werden.81 Die Unwirksamkeit der Übergangs weise weiter angewandten verfassungswidrigen Norm tritt erst ein, wenn der Gesetzgeber sie durch eine Neuregelung ersetzt. Bezüglich des Schicksals der überprüften Norm sind Unterschiede zwischen dem "scharfen Schnitt"82 der Nichtigerklärung und der bloßen Feststellung der Verfassungswidrigkeit bei der Unvereinbarerklärung nicht zu verkennen. Auch die ipso-iure-Theorie erkennt aber ein Bedürfnis nach einer Übergangsregelung im Anschluß an eine Nichtigerklärung an.83 Diese Übergangsregelung tritt an die Stelle der weiter anwendbaren Norm bei bloßer Verfassungswidrigerklärung. Die Erklärung der weiteren Anwendbarkeit im Zusammenhang mit einer Unvereinbarerklärung stellt keine eigenständige Übergangsregelung durch das Bundesverfassungsgericht dar. Die bis zur Neuregelung weitergeltende Vorschrift, die - nur soweit möglich - um die in der Entscheidung festgestellten, offensichtlichen Mängel reduziert wird, ist weiterhin auf den Gesetzgeber zurückzuführen. Dagegen handelt es sich bei der Übergangsregelung im Anschluß an eine Nichtigerklärung um eine selbständige Regelung. Die Kompetenz zu deren Erlaß liegt nach teilweise vertretener Ansicht gemäß §§ 31, 32 oder 35 BVerfGG
80
Ablehnend aber Sachs, NVwZ 1982, S. 657-662, 661.
81
Die Aussetzungspflicht als Rechtsfolge der Unvereinbarerklärung greift dagegen eher in den Fällen verfassungswidriger Normenrelationen bei Gleichheitsverstößen ein, um dem Benachteüigten die Chance zu geben, von der möglichen Begünstigungserstreckung durch den Gesetzgeber im Anschluß an die Unvereinbarerklärung zu profitieren; vgl. Maunz, Das verfassungswidrige Gesetz, BayVBl 1980, S. 513 ff, S. 517; Pohle, Die Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen, S. 83. 82 83
Maurer, Verfassungswidrigerklärung, FS W. Weber, S. 346.
Vgl. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 225 ff. Die Notwendigkeit einer Übergangsregelung wird häufig als ein Kernproblem der Nichtigkeit angesehen, Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S.40, 43, 130 ff; Christoph Böckerförde, Die sogenannte Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze, S. 123 ff, Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 197.
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1. Kapitel : Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
beim Bundesverfassungsgericht, 84 nach anderer Ansicht beim Gesetzgeber.85 Billigt man dem Bundesverfassungsgericht die Kompetenz zu, Übergangsregelungen zu erlassen, wird man darunter auch die Befugnis fassen müssen, eine der alten, verfassungswidrigen Norm ähnliche Regelung zu treffen (verkürzt wiederum um die offensichtlichen verfassungsrechtlichen Mängel der Altregelung). Die Situation, die nach der Unvereinbarkeitsfeststellung mit der Erklärung der weiteren Anwendbarkeit eintritt, ließe sich in diesem Fall auch im Anschluß an eine Nichtigerklärung nach der ipso-iure-Theorie erreichen. Verneint man dagegen bei Anwendung der ipso-iure-Theorie die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts, Übergangsregelungen zu erlassen, birgt die Schwerfälligkeit des gesetzgeberischen Verfahrens das Risiko eines regelungslosen Zustandes. Dem steht die Gefahr einer längerfristigen Weitergeltung des verfassungswidrigen Altrechts bis zum Tätigwerden des Gesetzgebers bei bloßer Unvereinbarerklärung gegenüber. Es mag dahinstehen, ob angesichts des Ausgangspunktes - Notwendigkeit der Vermeidung eines Regelungsdefizites - nicht die Situation nach der Unvereinbarerklärung die der Verfassung näher stehende ist.86 Festzustellen bleibt jedenfalls, daß der vorgeblich so "klare Schnitt" der Nichtigerklärung nur einen Teil des Problems klären kann, die Gesamtproblematik aber der bei bloßer Unvereinbarerklärung ähnlich ist. Vergleicht man demnach nicht nur die Auswirkung der Entscheidung auf die überprüfte Norm, sondern untersucht die Wirkung von Nichtig- und Unvereinbarerklärung im Hinblick auf den Prozeß der Abwicklung verfassungswidriger Lagen vom Zeitpunkt der Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das Gericht bis zur endgültigen Bereinigung der Lage mit dem Erlaß einer verfassungsgemäßen Neuregelung durch den Gesetzgeber, erscheinen die Entscheidungswirkungen durchaus vergleichbar. Auch die Rechtsprechungsfunktion des Bundesverfassungsgerichtes gebietet nicht, den Vergleich zwischen Nichtig- und Unvereinbarerklärung darauf zu beschränken, welche Folgen die jeweilige Entscheidung für die Wirksamkeit der überprüften Norm hat. Rechtsprechung kann nicht auf bloße Subsumtion begrenzt werden, sondern umfaßt selbstverständlich auch die Abwägung der Rechtsfolgen des Richterspruches.87 Es entspricht "...der politischen Dimension
84 Vgl. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 242 ff, S. 225 ff, S. 231 ff; M/S-B/K/U-UIsomer, BVerfGG, § 78 Rdn. 39. 85
Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 194 ff, insbes. S. 202 mit ausführlicher Ablehnung einer Kompetenz des Bundesverfassungsgerichtes, Übergangsregelungen zu erlassen; ebenfalls ablehnend, Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 97. 86
Das Argument vom Vorrang der Verfassung bei Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 194 f überzeugt nicht, s.o. S.35 . 87
Rupp-von Brünneck, FS G. Müller, S. 365 mwN.
. Rechtsprechungsfnktion und Gerichtscharakter
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insbesondere des Verfassungsrechts und der damit zusammenhängenden erhöhten "Folgenverantwortung" der Verfassungsrechtsprechung...", "die Folgenberücksichtigung als legitime Argumentationsfigur nicht nur der politischen Debatte, sondern auch der richterlichen Entscheidungsfindung..." zu begreifen. 88 Es besteht eine funktionelle Äquivalenz zwischen der von der Vernichtbarkeitslehre zur Vermeidung eines Regelungsdefizites für zulässig gehaltenen Unvereinbareiklärung (in Verbindung mit der Erklärung der weiteren Anwendbarkeit der verfassungswidrigen Norm) und der von der ipso-iure-Theorie geforderten Nichtigerklärung verbunden mit einer Übergangsregelung. Eine Entscheidung für eine der beiden Theorien erübrigt sich. Die Praxis der bloßen Unvereinbareiklärung durch das Bundesverfassungsgericht ist auch außerhalb der Fälle verfassungswidriger Normenrelation, das heißt der gesetzestechnischen Unmöglichkeit einer Nichtigerklärung, 89 zulässig zur Vermeidung eines Regelungsdefizites. Bis hierher kann festgehalten werden: Die Problematik zulässiger Gesetzgebungsaufträge in Verbindung mit Unvereinbarerklärungen verschiebt sich zunächst in das Vorfeld der Appelle, auf die Frage nach der Zulässigkeit der Unvereinbarerklärung. Die Bedeutung dieser Vorfrage ergibt sich aus dem Zusammenhang zwischen dem Verzicht auf die Bereinigung der verfassungswidrigen Lage durch Nichtigerklärung zugunsten eines Appells an den Gesetzgeber, der zu erwartenden unproblematischen Ableitbarkeit der entsprechenden Gesetzgebungspflicht aus Art. 20 Abs. 3 GG und schließlich der Tatsache, daß das Bundesverfassungsgericht sich auf diese Weise die Möglichkeit eröffnet, die Rechtsfolgeabwicklung zu beeinflussen. Im Ergebnis ist die Zulässigkeit der bloßen Unvereinbarerklärung auch jenseits der Fälle verfassungswidriger Normenrelation, in denen eine Nichtigerklärung zwangsläufig ausscheidet, zu bejahen. Überläßt das Bundesverfassungsgericht die Beseitigung der verfassungswidrigen Lage dem Gesetzgeber, indem es auf die Nichtigerklärung verzichtet und einen entsprechenden Gesetzgebungsauftrag an die Legislative ausspricht, ist dagegen solange nichts einzuwenden, als sich die Gesetzgebungspflicht aus der Verfassung ableiten läßt. Auf die Möglichkeit, diese Delegierung mit Vorgaben zur Rechtsfolgenabwicklung zum Beispiel in Form von Regelungsvor-
88 Sc huppe rt, Grenzen, S. 9 unter Verweis auf Schuppert, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Auswärtigen Gewalt, S. 138 ff und auf Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 91. 89 Gesetzestechnische Unmöglichkeit einer Nichtigerklärung liegt außer in den Fällen verfassungswidriger Normrelation auch bei fehlender Verwerfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts bezüglich Besatzungsrechts vor.
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1. Kapitel : Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
Schlägen zu verbinden, wird später eingegangen. Sie ist ebenfalls unter dem Blickwinkel von Rahmenvorgaben und gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit zu diskutieren. Kann das Bundesverfassungsgericht auf diese Weise in seinem Einfluß auf die Rechtsfolgeabwicklung angemessen begrenzt werden, besteht kein Grund, die Unvereinbarerklärung allein wegen der denkbaren Rechtsfolgebeeinflussung für unzulässig zu erklären. Zu prüfen bleibt damit, inwieweit sich eine Verpflichtung des Gesetzgebers, im Anschluß an die Unvereinbarerklärung tätig zu werden, aus der Verfassung, hier speziell aus Art. 20 Abs. 3 GG,ableiten läßt. Bezüglich des Inhalts des Appells ist zu differenzieren zwischen der Verpflichtung, die verfassungswidrige Altregelung aufzuheben und der möglicherweise ebenfalls ausgesprochenen weitergehenden Verpflichtung zur Neuregelung. Die Aufhebung der verfassungswidrigen Altregelung durch den Gesetzgeber entspricht seiner Verpflichtung zur Beseitigung verfassungswidriger Lagen, die das Bundesverfassungsgericht unproblematisch aus Art. 20 Abs. 3 GG ableiten kann. Da die Unvereinbarerklärung gerade Ausdruck einer Verlagerung der Aufgabe, verfassungswidrige Regelungen zu beseitigen, vom Bundesverfassungsgericht auf den Gesetzgeber ist, ist der Appell insofern zwingend und auf der Grundlage des Art. 20 Abs. 3 GG auch zulässigerweise in der Unvereinbareiklärung enthalten.90 Fraglich ist dagegen, ob die Verpflichtung des Gesetzgebers zur Beseitigung verfassungswidriger Lagen aus Art. 20 Abs. 3 GG auch die Ersetzung der verfassungswidrigen Alt- durch die verfassungsgemäße Neuregelung fordert. Das Gericht wird einen derartigen weitergehenden Appell insbesondere in den Fällen aussprechen, in denen es sich zwecks Vermeidung eines regelungslosen Zustandes zum Verzicht auf eine Nichtigerklärung genötigt sieht. Ist ein regelungsloser Zustand aber aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht hinnehmbar, sind diese und nicht der allgemeine Art. 20 Abs. 3 GG auch Grundlage einer Verpflichtung zur Neuregelung. Auch in den übrigen Fällen der Unvereinbarerklärung kann der allgemeine Art. 20 Abs. 3 GG nur eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Aufhebung der verfassungswidrigen Altregelung begründen. Ein darüber hinausgehender Ap-
90
Vgl. auch Moenchy Verfassungswidriges Gesetz, S. 172; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 266; Heußner, Folgen der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes ohne Nichtigerklärung, NJW 1982, S. 257 ff, S. 258. Dementsprechend stellte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum elterlichen Sorgerecht bei Ehelicherklärung (Beschluß vom 7.5.1991 - abgedruckt in NJW 1991, S. 1944 ff) fest, der Gesetzgeber sei nach einer Unvereinbarerklärung durch das Gericht verpflichtet, die verfassungswidrige Lage unverzüglich zu beseitigen (BVerfG, NJW 1991, S. 1944 ff, S. 1946).
. Rechtsprechungsfnktion und Gerichtscharakter
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pell mit dem Ziel einer Neuregelung durch den Gesetzgeber kann nur aufgrund speziellerer Verfassungsnormen ergehen. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß der regelmäßig mit der Unvereinbarerklärung verbundene bzw. inzident in ihr enthaltene Appell insoweit als Ausdruck einer aus Art. 20 Abs. 3 GG ableitbaren Verpflichtung zulässig ist, als das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber zur Beseitigung einer verfassungswidrigen Altregelung auffordert.
cc) Vereinbarerklärung Schließlich stellt sich die Frage einer möglichen Verpflichtung des Gesetzgebers aus Art. 20 Abs. 3 GG in den Fällen, in denen das Bundesverfassungsgericht die überprüfte Norm für mit der Verfassung vereinbar erklärt, gleichzeitig aber an den Gesetzgeber appelliert, tätig zu werden. Auch hier ist wieder zu differenzieren: In einigen Ausnahmefällen sieht sich das Bundesverfassungsgericht gehindert, eine schon bestehende Verfassungswidrigkeit der Norm festzustellen. Statt dessen ergeht eine Vereinbarerklärung verbunden mit einem Appell. Als Beispiel werden in der Regel die Wahlkreisentscheidung91 und die Entscheidung zur Allphasenumsatzsteuer92 angeführt. 93 In der Wahlkreisentscheidung verzichtete das Bundesverfassungsgericht auf die Unvereinbarerklärung der Wahlkreiseinteilung nach dem Bundeswahlgesetz zum Zeitpunkt der Bundestagswahl von 1961. Die Wahlkreiseinteilung war trotz der zwischenzeitlichen Bevölkerungsverschiebung seit 1949 nicht geändert worden, so daß der Erfolgswert der Stimme in den einzelnen Wahlkreisen differierte. Das Gericht bejahte dementsprechend einen objektiven Verstoß gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit schon für das Jahr der Bundestagswahl 1961.94 Die Verfassungswidrig- oder Nichtigerklärung des Wahlgesetzes hätte aber zur Ungültigkeit der Wahl des amtierenden Bundestages gefühlt. Neuwahlen auf der Grundlage eines verfassungsmäßigen Wahlgesetzes wären daran gescheitert, daß ein verfassungsgemäß eingesetztes Parlament, das das Wahlgesetz hätte
91
BVerfGE 16, 130.
92
BVerfGE 21,12.
93 Vgl. Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 84 und 76; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 138 f; Rupp-von Brünneck, FS G. Müller, S. 371 ff; Pestalozzi "Noch verfassungsmäßige" und "bloß verfassungswidrige" Rechtslagen, S. 550 ff; Stern, Staatsrecht Bd ΙΠ/1, § 73 I V 4 , S. 1314; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 208 f. 94 BVerfGE 16, 130, 143. Bei Anpassung der Wahlkreiseinteüung an die Bevölkerungsentwicklung hätte zum Beispiel die CDU in Schleswig-Holstein drei Überhangmandate weniger erhalten, vgl. Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 84.
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1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
überarbeiten können, nicht existiert hätte.95 Um einen solchen chaotischen, der verfassungsmäßigen Lage noch entfernteren Zustand zu vermeiden, erklärte das Gericht das Wahlgesetz für das Jahr 1961 trotz des objektiven Verfassungsverstoßes für noch verfassungsgemäß und berief sich dabei auf die fehlende Evidenz des Verstoßes für den Gesetzgeber.96 An die Legislative erging die Aufforderung, die Wahlkreiseinteilung noch während der laufenden Legislaturperiode an die geänderten Verhältnisse anzupassen.97 Ahnlich fatale Folgen hätte eine Nichtigerklärung in der Entscheidung zur "kumulativen Allphasenbruttoumsatzsteuer"98 gehabt. Da die Nichtigerklärung nicht nur die Frage der Wettbewerbsneutralität zwischen ein- und mehrstufigen Unternehmen betroffen, sondern das gesamte Umsatzsteuergesetz erfaßt hätte,99 und die Einnahmen aus der Umsatzsteuer den entscheidenden Anteil an den Steuereinkünften des Bundes stellen,100 war das Bundesverfassungsgericht gezwungen, von einer Nichtigerklärung der Regelung abzusehen, um katastrophale Folgen fur die Bundesfinanzen zu vermeiden. 101 Das Gericht wies die Verfassungsbeschwerden mit der Begründung zurück, der Mangel an Wettbewerbsneutralität des Allphasenumsatzsteuersystems könne wegen der Komplexität und Schwierigkeit einer umfassenden Reform des Umsatzsteuerrechts nicht durch eine rasche Entscheidung des Gesetzgebers behoben werden. 102 Nach der Nichtigerklärung der Ausgleichsermächtigung gem. § 8 UStG durch BVerfGE 7, 282 habe der Gesetzgeber keine andere Möglichkeit, als die lückenhafte Regelung bis zum Abschluß der Reform bestehen zu lassen. Das unvollkommene Umsatzsteuergesetz müsse auch jetzt, acht Jahre nach der ersten Entscheidung, noch vorübergehend hingenommen werden, zumal die augenblickliche Situation die Betroffenen nicht unzumutbar belaste.103 Auch hier ging das Bundesverfassungsgericht bereits von der Verfassungswidrigkeit der Regelung aus. Anderenfalls hätte es keinen Grund gehabt, die Rechtsfolgen der Nichtigerklärung im konkreten Fall zu diskutieren und als 95
Dazu ausführlich Rupp-von Brünneck, FS G. Müller, S. 372.
96
BVerfGE 16, 130, 142 f.
97
BVerfGE 16, 130, 142, zurückhaltender dagegen die Formulierung in den Leitsät-
zen. 98
Zum Begriff vgl. BVerfGE 21, 12, 15.
99
Rupp-von Brünneck, aaO, S. 373
100 Im Vorjahr der Entscheidung betrug der Anteil des Umsatzsteueraufkommens an den Steuereinnahmen des Bundes 41%, BVerfGE 21, 12, 13. 101
Rupp-von Brünneck, aaO, S. 373.
102
BVerfGE 21, 12,40.
103
BVerfGE 21, 12,40 ff.
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Rechtfertigung für den Verzicht auf die Nichtigerklärung heranzuziehen.104 Bezeichnenderweise traf das Gericht keine eindeutige Aussage darüber, ob das Gesetz seiner Ansicht nach verfassungsgemäß oder verfassungswidrig ist. 105 Es wies lediglich die Verfassungsbeschwerden zurück und appellierte an den Gesetzgeber, die Reform ohne schuldhaftes Verzögern in absehbarer Zeit abzuschließen.106 War die Lage in derartigen Fällen tatsächlich schon verfassungswidrig und unterblieb eine entsprechende Tenorierung nur aufgrund zu erwartenden Chaoses, so gilt das schon zur Unvereinbarerklärung Gesagte. Der Appell ist als Feststellung einer aus Art. 20 Abs. 3 GG ableitbaren Verpflichtung zulässig, soweit der Gesetzgeber zur Beseitigung der zwar für vereinbar erklärten, tatsächlich aber verfassungswidrigen Regelung aufgefordert wird. 107 Eine andere Frage ist, ob aus Gründen der "Entscheidungsehrlichkeit" in derartigen Fällen eine Unvereinbarerklärung erfolgen sollte.108 Diese Frage ist wiederum vor dem Hintergrund des Streites zwischen ipso-iure-Theorie und Vernichtbarkeitslehre zu sehen. Moench kann als Befürworter der Vernichtbarkeitslehre die Unvereinbarerklärung vorziehen; einem Vertreter dei ipso-iureTheorie bleibt dagegen - abgesehen von den Fällen verfassungswidriger Normenrelation - nur die Möglichkeit einer Vereinbarerklärung, wenn die Nichtigerklärung ausgeschlossen ist. Entsprechend dem oben zur Abwicklung verfassungswidriger Lagen durch Nichtig- und Unvereinbarerklärung Gesagten, erübrigt sich auch hier eine Entscheidung zwischen Vereinbarerklärung verbunden 104
Pestalozzi "Noch verfassungsmäßige" und "bloß verfassungswidrige" Rechtslagen, S. 551. 105
Pestalozza, aaO, S. 550.
106
BVerfGE 21, 12, 12 und 42.
107
Als Sonderfall, der sich keiner Tenorierungsform eindeutig zuordnen läßt, ist die Situation mangelnder Verwerfungskompetenz zu erwähnen. Hier ist das Gericht gehindert, die Norm förmlich für unvereinbar oder nichtig zu erklären (vgl. Pestalozza, "Noch verfassungsmäßige" und "bloß verfassungswidrige" Rechtslagen, S. 525 mit Verweis auf BVerfGE 36 146,169 ff)» es ergeht aber auch keine Vereinbarerklärung. In der Entscheidung zur besatzungsrechtlichen Höfeordnung in der britischen Zone, BVerfGE 15, 337, wies das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde mangels Verwerfungskompetenz in bezug auf Besatzungsrecht zurück. In den Gründen und in den Leitsätzen stellte es aber fest, daß der Vorrang des männlichen Geschlechts bei der gesetzlichen Erbfolge mit Art. 3 Abs. 2 und 3 GG nicht vereinbar sei (BVerfGE 15, 337, 337 und 342 ff). Der Gesetzgeber sei von Verfassungs wegen verpflichtet, verfassungswidrige besatzungsrechtliche Vorschriften und damit auch § 6 Abs. 1 S. 3 HöfO in angemessener Frist aufzuheben oder zu ändern (BVerfGE 15, 337, 337, 349 ff). Die Verpflichtung läßt sich unproblematisch aus Art. 20 Abs. 3 GG und im Fall der Entscheidung zur Höfeordnung außerdem aus Art. 117 GG ableiten (Vgl. BVerfGE 15, 337, 350). 108
Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 182.
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1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
mit einer Aufforderung an den Gesetzgeber, die Rechtslage zu ändern, nach der ipso-iure-Theorie und Unvereinbarerklärung verbunden mit einer Anordnung der weiteren Anwendbarkeit der Altnorm bei Befolgung der Vernichtbarkeitslehre. Die weitere Anwendbarkeit ergibt sich bei einer Vereinbarerklärung schon aus der Tenorierung, umgekehrt ist der Appell zur Beseitigung der verfassungswidrigen Lage stets zumindest inzident in der Unvereinbarerklärung enthalten.109 Es läßt sich demnach wiederum eine funktionelle Äquivalenz zwischen den nach der jeweiligen Theorie geforderten Entscheidungsformen feststellen. Daher erscheint es nicht erforderlich und in Anbetracht der Schwierigkeit einer Entscheidung zwischen ipso-iure-Theorie und Vernichtbarkeitslehre auch nicht zweckmäßig, den Zweifeln der Vernichtbarkeitslehre an der Zulässigkeit der Vereinbarerklärung bei schon eingetretener Verfassungswidrigkeit nachzugehen. Anders als im Fall der Vereinbarerklärung bei schon eingetretener Verfassungswidrigkeit stellt sich die Situation dar, wenn die überprüfte Norm zwar nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes auf dem Weg zur Verfassungswidrigkeit, zur Zeit der Entscheidung aber noch verfassungsgemäß ist. Die Zulässigkeit eines Appells auf der Grundlage des Art. 20 Abs. 3 GG hängt in diesem Fall davon ab, ob die Bindung an die verfassungsmäßige Ordnung den Gesetzgeber verpflichtet, den Eintritt der Verfassungswidrigkeit zu verhindern. Ipsen und Bernd verneinen einen solche Verpflichtung des Gesetzgebers.110 Bernd spricht in bezug auf die Verhinderung künftiger Verfassungswidrigkeit von einer "fehlenden Garantenpflicht" der Legislative für die Rechtsordnung und versteht einen gleichwohl ergehenden Appell lediglich als "Mahnung" an den Gesetzgeber.111 Außerdem wird darauf verwiesen, daß es sich zum Zeitpunkt der Entscheidung um ein zukünftiges Ereignis handele, das heißt um einen nur möglichen, wenn vielleicht auch höchstwahrscheinlichen Eintritt der Verfassungswidrigkeit. Das Umschlagen in die Verfassungswidrigkeit und damit auch die Bindung an Art. 20 Abs. 3 GG wären an eine Prognose gebunden, die grundsätzlich dem Gesetzgeber und nicht dem Gericht zustehe.112 In der Literatur wird die Frage, ob der Gesetzgeber aus Art. 20 Abs. 3 GG verpflichtet ist, den Eintritt künftiger Verfassungswidrigkeit zu verhindern, kaum diskutiert. Es finden sich nur die wenigen, oben genannten Stellungnahmen. Diesen ist im Ergebnis zu folgen.
109
Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 172.
110
Ipsen, Rechtsfolgen, S. 133, 268; Bernd, Legislative Prognosen, S. 139.
111
Bernd, aaO, S. 139.
112
Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 212.
A. Rechtsprechungsfìinktion und Gerichtscharakter
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Ansatzpunkt kann dabei nicht eine abstrakte Betrachtung des Art. 20 Abs. 3 GG sein. Die Bindung des Gesetzgebers an die verfassungsmäßige Ordnung begründet nicht nur die Verpflichtung, verfassungswidrige Lagen zu beseitigen, aus ihr läßt sich ebensogut die weitergehende Verpflichtung ableiten, auch den Eintritt verfassungswidriger Lagen zu verhindern. Vielmehr ist die Lösung dem Ansatz Gusys entsprechend - in dem Verhältnis einer zukunftsbezogenen Verpflichtung aus Art. 20 Abs. 3 GG und der Verteilung der Prognosekompetenz zu suchen. Politische Entscheidungen enthalten immer eine Prognose über die zukünftige Entwicklung des geregelten Sachbereiches.113 Da politische Entscheidungen nach dem Demokratieprinzip grundsätzlich im politischen Prozeß des Gesetzgebungsverfahrens zu treffen sind, ist dem Gesetzgeber die Prognoseprärogative zuzuerkennen.114 Das bedeutet indessen nicht, daß das Bundesverfassungsgericht Prognosen des Gesetzgebers nicht überprüfen dürfte. 115 Im Hinblick auf die Verpflichtung aus Art. 20 Abs. 3 GG sind zwei Fälle zu unterscheiden: Hält das Gericht die Prognose für fehlerhaft und verzichtet es nur mangels Evidenz darauf, das der tatsächlichen Entwicklung nicht gerecht werdende Gesetz für verfassungswidrig zu erklären, ist eine Verpflichtung aus Art. 20 Abs. 3 GG unproblematisch. Objektiv liegt ein Verfassungsverstoß vor. Die Verfassungswidrigerklärung unterbleibt nur mangels subjektiver Vorwerfbarkeit. 116 Der Gesetzgeber ist jedoch schon jetzt zur Nachbesserung verpflichtet, da in bezug auf die objektive Nachbesserungspflicht sinnvollerweise nur an die objektive Lage angeknüpft werden kann.117 Derartige Fälle sind der oben genannten Gruppe der Vereinbarerklärung bei tatsächlich schon gegebener Verfassungswidrigkeit zuzuordnen. Auch im Wahlkreisurteil spricht das Bundes-
113
Ossenbühly Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Prognoseentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, in: BVerfG und GG I, S. 458-518, S. 501 mwN. 114
Vgl. auch Degenhart y Staatsrecht I, Rz 328 und 508 sowie ausführlich Bernd, Legislative Prognosen, S. 100 ff. 115 Ausführlich zur gerichtlichen Prognosekontrolle, Ossenbühly aaO, S. 497-518; Gusy y Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 173 ff; Bernd y Legislative Prognosen, passim. 116
Zur Versubjektivierung vgl. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 138; Pestalozza, "Noch verfassungsmäßige" und "bloß verfassungswidrige" Rechtslagen, S. 543. 117 Davon zu trennen ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber eine Nachbesserungspflicht in vorwerfbarer Weise verletzt. Vgl. Steinberg, Verfassungsgerichtliche Kontrolle der "Nachbesserungspflicht" des Gesetzgebers, Der Staat 26 (1987), S. 161 ff, S. 163 mit Verweis auf die Fluglärmentscheidung (BVerfGE 56,54).
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1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
Verfassungsgericht von mangelnder Evidenz und Vorwerfbarkeit und fordert den Gesetzgeber auf nachzubessern.118 Ist das Gesetz dagegen auch objektiv noch verfassungsgemäß und befindet es sich lediglich nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes wegen der Entwicklung der tatsächlichen Verhältnisse auf dem Weg zur Verfassungswidrigkeit, ist die Prognosekompetenz des Gesetzgebers zu achten. Das Bundesverfassungsgericht ist nicht befugt, seine Prognose an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen. Ist die gesetzliche Regelung des sich fortentwickelnden Sachbereiches aber zum Entscheidungszeitpunkt objektiv noch verfassungsgemäß, kann die anfängliche Prognose des Gesetzgebers auch noch nicht sicher als fehlerhaft bewertet werden. Durch Annahmen zur künftigen Entwicklung setzt das Bundesverfassungsgericht seine Prognose im Entscheidungszeitpunkt an die Stelle der ursprünglichen gesetzgeberischen Prognose. Letztere ist aber solange vom Gericht zu akzeptieren, als ihre Diskrepanz zur tatsächlichen Entwicklung des geregelten Sachbereiches nicht die von der Verfassung gesetzten und je nach Sachbereich flexiblen Grenzen 119 überschreitet. Die Verpflichtung, eine künftig eintretende Verfassungswidrigkeit einer Norm zu verhindern, kann daher nur unter Verstoß gegen die gesetzgeberische Prognoseprärogative aus Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitet werden. Eine Prognoseentscheidung des Gerichts über den künftigen Eintritt der (objektiven) Verfassungswidrigkeit läßt sich im übrigen auch nicht mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit rechtfertigen, der einen stillschweigenden Verlust an Rechtsgeltung verbietet oder aufgrund der Schwierigkeit, eine "...klare Zäsur zwischen noch verfassungsgemäß und schon verfassungswidrig..." zu treffen. 120 Beide Gedanken setzen den sicheren Eintritt der Verfassungswidrigkeit voraus. Die Prognose des Gerichts bezieht sich auf das "Wann" der Verfassungswidrigkeit. Die vorliegend interessierende Prognosekompetenz bezüglich des "Ob" läßt sich aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit oder aus der Schwierigkeit, die noch verfassungsgemäße gegenüber der schon verfassungswidrigen Lage abzugrenzen, nicht ableiten. Zu Recht weist Gusy darauf hin, daß eine solche Prognose des Gerichts bezüglich des "Ob" einer späteren Verfassungswidrigkeit die Rechtssicherheit sogar mindert, da "Wandlungen von Realität und Recht...nicht genügend berücksichtigt werden"
118
BVerfGE 16, 130, 131 und 141-143.
119
Vgl. Ossenbühl, Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Prognoseentscheidungen, S. 501 ff. 120
Vgl. Steinberg, Der Staat 26 (1987), S. 172.
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. Rechtsprechungsfnktion und Gerichtscharakter
könnten.121 Der Versuch, Rechtssicherheit durch eine Prognose zu erzeugen, muß schon an deren Natur scheitern. Prognostik ist die "Kunst des Wahrscheinlichen".122 Eine Prognose weist damit schon begriffsnotwendig ein "Defizit an Rationalität"123 auf. Sie zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie keine sichere, zwingend begründbare Aussage trifft. Unsicherheit ist der Prognose immanent. Eine zwangsläufig unsichere Aussage ist aber nicht geeignet, Sicherheit zu steigern. Eine Prognose des Gerichtes über das künftige Verfassungswidrigwerden einer Rechtslage kann damit nicht durch ein Bedürfnis nach Rechtssicherheit gerechtfertigt werden. Ein Appell in Veibindung mit einer Vereinbarerklärung ist somit nur in den Fällen auf der Grundlage einer Verpflichtung des Gesetzgebers aus Art. 20 Abs. 3 GG möglich, in denen die Verfassungswidrigkeit bereits objektiv eingetreten ist und lediglich ihre Feststellung aus bestimmten Gründen unterbleibt. Somit ist festzuhalten, daß eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Beseitigung verfassungswidriger Lagen aus Art. 20 Abs. 3 GG Appelle des Bundesverfassungsgerichtes in Normenkontrollverfahren nur dann rechtfertigen kann, wenn diese in Verbindung mit einer Unvereinbarerklärung oder einer Vereinbarerklärung bei tatsächlich schon eingetretener Verfassungswidrigkeit ergehen und sich auf die Aufhebung der verfassungswidrigen Altregelung beschränken. b) Verpflichtung
des Gesetzgebers aus Verfassungsauftrag
Darüber hinaus kann ein Appell zulässig sein, wenn die im Normenkontrollverfahren überprüfte Norm in einem Bereich besteht, in dem sich eine Verpflichtung des Gesetzgebers aus einem Auftrag der Verfassung ableiten läßt, eine gesetzliche Regelung zu treffen. Zur Differenzierung und Systematisierung von Verfassungsaufträgen gibt es in der Literatur verschiedene Ansätze. Lerche geht von dem Oberbegriff des "Gesetzgebungsauftrages" als "...verbindliche Direktive der Verfassung an den Gesetzgeber jeden Inhalts"124 aus und nimmt eine Vierteilung vor. Er unterscheidet Programmsätze im Sinne von sachlichen Richtsätzen von Verfassungsbefehlen, die lediglich einen ein121
Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 212. Als Beispiel verweist Gusy auf die Prognosesituation im Rentenrecht und die in diesem Zusammenhang ergangenen Entscheidungen BVerfGE 39, 169 ff und E 48, 346 ff. 122 Ossenbühl, aaO, S. 501 mit Verweis auf Carl Friedrich Kunst der Prognose, 1968, S. 11. 123
Ossenbühl, aa0,s.501.
124
Lerche, AöR 90, S. 341 ff, 341.
von Weizsäcker,
Über die
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1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
maligen Auftrag an den Gesetzgeber enthalten. Daneben werde der Gesetzgeber durch Aufträge zur Verfassungsbildung angehalten, die Verfassung zu vervollständigen. Außerdem existierten formale Direktiven, die im Gegensatz zu den Programmsätzen nicht sachliche, sondern durchgehende formale Richtsätze darstellten.125 Demgegenüber unterscheidet Ritter nur fortwährende Verfassungsaufträge von einmaligen Verfassungsbefehlen. 126 Differenziert wird außerdem zwischen vertretbaren und unvertretbaren Verfassungsaufträgen 127 sowie zwischen Gesetzgebungsaufträgen und Staatszielbestimmungen.128 Ein genaueres Eingehen auf die einzelnen Ausführungen zum Begriff des Verfassungsauftrages erübrigt sich. Denn entscheidend ist, daß sich Verpflichtungen des Gesetzgebers zum Handeln auch über die allgemeine Verpflichtung aus Art. 20 Abs. 3 GG hinaus aus der Verfassung ergeben können.129 Derartige, aus der Verfassung zu entnehmende Aufträge an den Gesetzgeber werden im folgenden unter dem Begriff des Verfassungsauftrages zusammengefaßt. Die Verfassung kann eine solche Verpflichtung ausdrücklich in Form eines expliziten Verfassungsauftrages aussprechen wie zum Beispiel in Art. 6 Abs. 5 oder Art. 3 Abs. 2 iVm 117 Abs. 1 GG. 1 3 0 Die Verpflichtung kann aber auch auf impliziten Verfassungsaufträgen beruhen. Diese lassen sich in Form von Handlungs- und Schutzpflichten aus der der Verfassung zugrunde liegenden 125
Lerche, AöR 90, S. 341 ff, 341-371.
126
Ritter, Verfassungsrechtliche Gesetzgebungspflichten, S. 45. Vgl. im übrigen auch die Kritik an Lerche bei Ritter, aaO, Fn. 68, bei Denninger, Verfassungsauftrag und gesetzgebende Gewalt, JZ 1966, S. 767 ff, 771 und bei Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, S. 145. 127 Pestalozza, "Noch verfassungsmäßige" und "bloß verfassungswidrige" Rechtslagen, in BVerfG und GG I, S. 526 ff, 540. 128 Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 148-164. Vgl. außerdem die Differenzierungen in den Beiträgen von Scheuner, Staatszielbestimmungen, FS Forsthoff, S. 325 ff.; Kalkbrenner, Verfassungsauftrag und Verpflichtung des Gesetzgebers, DÖV 1963, S. 41 ff; Wienholt ζ , Normative Verfassung und Gesetzgebung, Die Verwirklichung von Gesetzgebungsaufträgen des Bonner Grundgesetzes, S. 1 ff, 44 ff. 129 Der hier getroffenen Unterscheidung entsprechend differenziert auch M/S-B/KJU-Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 95 Rdn. 39 zwischen der Verpflichtung aus Art. 20 Abs. 3 GG und der aus Verfassungsauftrag. 130
Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 149 Fn. 27 begreift Art. 3 Abs. 2 iVm 117 Abs. 1 GG im Gegensatz zu Ipsen, Rechtsfolgen, S. 136 nicht als expliziten Verfassungsauftrag. Eine Aufzählung expliziter Verfassungsaufträge findet sich bei Wienholtz, Normative Verfassung, S. 2 Fn. 8.
. Rechtsprechungsfnktion und Gerichtscharakter
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Wertordnung ableiten. 131 Sie äußern sich nicht nur als originäre Gesetzgebungsaufträge, sondern auch als Nachbesserungspflichten und Pflichten zur Korrektur falscher Prognosen. 132 Die Zulässigkeit eines Appells i m Normenkontrollverfahren setzt als Konsequenz der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechungsfunktion voraus, daß die gesetzgeberische Handlungspflicht aus der Verfassung ableitbar ist. Läßt sich ein solcher Ableitungszusammenhang herstellen, ergibt sich folgende Situation: Erklärt das Bundesverfassungsgericht die alte Regelung für nichtig, begründet der Verfassungsauftrag eine durch Appell konkretisierbare Verpflichtung des Gesetzgebers zur Neuregelung. Wurde schon die für nichtig erklärte Norm ihrem Regelungsumfang nach nicht dem Verfassungsauftrag gerecht, besteht eine über die bloße Lückenfüllung hinausgehende Verpflichtung des Gesetzgebers als Grundlage eines möglichen (weitergehenden) Appells. D a das Zurückbleiben hinter den quantitativen Anforderungen des Verfassungsauftrages niemals Grund der Nichtigerklärung ist - eine Aufhebung des bereits erfüllten Teils des Verfassungsauftrages würde der von der Verfassung angestrebten möglichst vollständigen Erfüllung des Auftrages gerade entgegenstehen - be-
131
Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht Π, Rdn. 93, 103 ff, 465 ff; Hesse, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, S. 427 ff, 432, 433; Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen bzw. objektiv-rechtliche Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 110 (1985), S. 363 ff, 366-369, 378-381; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529 ff, 1533. Die Verfassungskonkretisierungskompetenz des Bundesverfassungsgerichtes wirkt sich damit insbesondere im Fall der impliziten Verfassungsaufträge aus. 132 Ritter, Verfassungsrechtliche Gesetzgebungspflichten, S. 64 f; Βadura , Die verfassungsrechtliche Pflicht des gesetzgebenden Parlaments zur "Nachbesserung" von Gesetzen, in FS fur Eichenberger, S. 481 ff, 483, 484; Stettner, Die Verpflichtung des Gesetzgebers zu erneutem Tätigwerden bei fehlerhafter Prognose, DVB1 1982, S. 1123 ff, 1126, 1127. Die Gesetzgebungspflicht läßt sich also unter Umständen sowohl aus Art. 20 Abs. 3 GG als auch aus Verfassungsauftrag ableiten. Eine Unterscheidung expliziter und impliziter Verfassungsaufträge findet sich auch bei Ipsen, Rechtsfolgen, S. 136; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 89, Denninger, Verfassungsauftrag und gesetzgebende Gewalt, JZ 1966, S. 767 ff, 768 und bei Wienholtz, Normative Verfassung, S. 34. Wienholtz versteht unter impliziten Gesetzgebungsaufträgen allerdings solche, die die "...Ausgestaltungsfahigkeit der normativen Verfassung...nur mittelbar zum Ausdruck bringen". Charakteristisch sei, daß diese Aufträge in Verbindung mit anderen Aufträgen aufträten, deren nähere Regelung durch Gesetz sie vorschrieben (zum Beispiel Art. 4 Abs. 3, S. 2 iVm 4 Abs. 3, S. 1 GG). Die Ausgestaltungsfahigkeit der Norm werde durch den angehängten Gesetzgebungsauftrag impliziert. Das Problem dieser Terminologie zeigt sich gerade im letzten Satz. Nicht der als implizit bezeichnete Gesetzgebungsauftrag ergeht implizit, sondern die Aussage zur Ausgestaltungsfahigkeit. 4 Kleuker
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1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
deutet der Appell in dieser Form eine von der Nichtigerklärung unabhängige zweite Entscheidung des Gerichtes innerhalb desselben Judikates. Stellt das Bundesverfassungsgericht bei bestehendem Verfassungsauftrag lediglich die Verfassungswidrigkeit der Altregelung fest, geht die Verpflichtung des Gesetzgebers über den zumindest inzident in der Unvereinbarerklärung enthaltenen Auftrag zur Beseitigung der verfassungswidrigen Lage aus Art. 20 Abs. 3 GG hinaus. Der Gesetzgeber ist entsprechend der Situation bei Nichtigerklärung verpflichtet, eine bei der Aufhebung der Altregelung entstehende Lücke zu füllen, möglicherweise auch eine im Verhältnis zur Altregelung weitergehende Regelung zu erlassen. Eine Besonderheit ergibt sich, wenn das Gericht bei nur teilweiser Erfüllung eines Verfassungsauftrages auf die Nichtigerklärung verzichtet, weil die Regelung gerade wegen des nur unvollständig erfüllten Auftrages verfassungswidrig ist. 133 Die einem möglichen Appell zugrunde liegende Verpflichtung ist hier allein auf die Vervollständigung der kontrollierten Norm gerichtet. 134 Auch wenn das Bundesverfassungsgericht die überprüfte Norm für mit der Verfassung vereinbar erklärt, kann eine Verpflichtung des Gesetzgebers aus nicht oder nur teilweise erfülltem Verfassungsauftrag bestehen. Das gilt sowohl für die Vereinbarerklärung bei tatsächlich schon eingetretener Verfassungswidrigkeit 135 als auch in den Fällen, in denen die Lage zwar noch verfassungsgemäß ist, sich aber auf dem Weg zur Verfassungswidrigkeit befindet. Es ist zwischen der Verbindlichkeit eines Verfassungsauftrages und dem Eintritt der Verfassungswidrigkeit bei Nichterfüllung eines Verfassungsauftrages zu unterscheiden.136 Wäre ein Verfassungsauftrag erst in dem Augenblick verbindlich, in dem seine Nichterfüllung als verfassungswidrig zu bewerten ist, stellten sich zwei Probleme. Zum einen wäre fraglich, ob die Verfassungswidrigkeit der Nichterfüllung nicht gerade die Verpflichtung zur Erfüllung voraus133 In diesem Fall würde eine Nichtigerklärung Sinn und Zweck des Verfassungsauftrages zuwiderlaufen - siehe schon oben S. 49. 134
Voraussetzung ist allerdings, daß das Bundesverfassungsgericht in dieser Situation überhaupt die kontrollierte Regelung für verfassungswidrig erklärt. Denkbar ist auch, nur die Nichterfüllung als mit der Verfassung unvereinbares Unterlassen aufzufassen, vgl. dazu auch Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 89. 135 Gelegentlich sieht sich das Bundesverfassungsgericht trotz der genaugenommen schon eingetretenen Verfassungswidrigkeit gezwungen, aus bestimmten Griinden (zum Beispiel zur Vermeidung eines Chaoses) auf die Feststellung der Unvereinbarkeit zu verzichten und statt dessen die Nochvereinbarkeit zu erklären, vgl. BVerfGE 16, 130, E 16, 147 und E 21,12. Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 182 wirft dem Gericht in diesem Zusammenhang mangelnde "Entscheidungsehrlichkeit" vor. 136 Zum Verfassungswidrigwerden einer Rechtslage bei Nichterfüllung eines expliziten oder impliziten Verfassungsauftrages vgl. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 136.
A. Rechtsprechungsfnktion und Gerichtscharakter
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setzt. Zum anderen wäre die Ausführung derart unverbindlicher Verfassungsaufträge durch den Gesetzgeber höchst zweifelhaft. Das entspräche kaum der Natur einer dirigierenden Verfassung. 137 Im Falle einer Nochvereinbarerklärung bestünde keine Verpflichtung. Ein Appell wäre mangels entsprechender Verpflichtung unzulässig. Betroffen wären aber auch Appelle in Verbindung mit einer Vereinbarerklärung bei tatsächlich schon eingetretener Verfassungswidrigkeit sowie Gesetzgebungsaufträge des Gerichtes im Zusammenhang mit Unvereinbar- oder Nichtigerklärung. Diese Appelle könnten jeweils nur dann zulässige Konkretisierungen einer bestehenden Verpflichtung sein, wenn die Nichterfüllung des Verfassungsauftrages zumindest unter anderem Grund der Verfassungswidrigkeit der überprüften Norm wäre. Hängt demnach die Verbindlichkeit eines Verfassungsauftrages nicht vom Umschlagen in die Verfassungswidrigkeit ab, kann sich auch bei Vereinbarerklärung durch das Gericht eine Verpflichtung des Gesetzgebers aus Verfassungsauftrag als Grundlage eines Appells ergeben. Der Eintritt der Verfassungswidrigkeit aufgrund der Nichterfüllung eines Verfassungsauftrages ist kein Problem der Zulässigkeit, sondern der Rechtsfolge 138 von Appellen und ist deshalb nicht an dieser Stelle zu erörtern. Die Möglichkeit, aus der Verfassung eine Verpflichtung des Gesetzgebers abzuleiten, kann somit wie folgt zusammengefaßt werden: Aus Art. 20 Abs. 3 GG kann der Gesetzgeber nur in Verbindung mit einer Unvereinbareiklärung oder einer Vereinbarerklärung trotz objektiven Verfassungsverstoßes verpflichtet sein, die verfassungswidrige Altregelung aufzuheben. Eine inhaltlich weitergehende Verpflichtung, die auch den Erlaß einer Neuregelung umfaßt , kann sich aus expliziten oder impliziten Verfassungsaufträgen ergeben. Das Bestehen der Verpflichtung ist hier nicht auf Situationen im Zusammenhang mit bestimmten Tenorierungsformen beschränkt, sondern ist sowohl nach der Nichtig- als auch nach der Unvereinbar- oder Vereinbarerklärung denkbar. Fordert man unter dem Aspekt der reaktiv-kontrollierenden Rechtsprechungsfunktion des Bundesverfassungsgerichtes die Ableitbarkeit einer Ver137
Zum Übergang von der limitierenden zur dirigierenden Verfassung vgl. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 68. 138 Möglicherweise ist die spezielle Ausprägung der Rechtsfolge eines Appells vom Eintritt der Rechtswidrigkeit abhängig, möglicherweise auch umgekehrt der Eintritt der Rechtswidrigkeit von einer vorherigen Aufforderung in Form eines Appells. Eine unterschiedliche "imperativistische Wirkung" des Gesetzgebungsauftrages bei Verfassungswidrigerklärung und bei Vereinbarerklärung deutet Ipsen, Rechtsfolgen, S. 268 an.
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1. Kapitel : Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
pflichtung des Gesetzgebers aus der Verfassung als Grundlage eines Appells,139 kann der in Verbindung mit einem Normenkontrollverfahren ergehende Appell in zwei Sonderfällen als Konkretisierung einer Verpflichtung aus Art. 20 Abs. 3 GG zulässig sein. Im übrigen kann der Appell unabhängig von der Tenorierungsform zulässiger Ausdruck eines expliziten oder impliziten Auftrages der Verfassung an den Gesetzgeber sein. Keine Probleme im Hinblick auf die Voraussetzung einer bestehenden Verpflichtung werfen Appelle auf, die das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit Verfahren gegen gesetzgeberisches Unterlassen ausspricht. Ist das Unterlassen des Gesetzgebers verfassungsgemäß, wird das Gericht nicht an ihn appellieren, tätig zu werden. Erklärt das Bundesverfassungsgericht dagegen das Unterlassen für verfassungswidrig, muß es zwangsläufig eine verfassungsrechtliche Gesetzgebungspflicht angenommen (und im Rahmen der Begründung aus der Verfassung abgeleitet) haben, die Grundlage eines Appells sein kann. Aufträge des Bundesverfassungsgerichtes an den Gesetzgeber sind mit der reaktiv-kontrollierenden Rolle des Gerichtes als Ausfluß seiner Rechtsprechungsfunktion zu vereinbaren. Insofern bestehen keine Bedenken gegen die Zulässigkeit von Appellen in Verbindung mit Normenkontrollverfahren oder Verfahren gegen gesetzgeberisches Unterlassen.
IL Regelungsvorgaben Steht der reaktiv-kontrollierende Charakter der dem Bundesverfassungsgericht durch Art. 92 GG, § 1 Abs. 1 BVerfGG zugewiesenen Rechtsprechungsfunktion einer Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge grundsätzlich nicht entgegen, so kann sich aus der Beschränkung des Bundesverfassungsgerichtes auf Rechtsprechungsaufgaben doch eine (funktionell begründete) Begrenzung der Kompetenz zur Ausgestaltung der Appelle ergeben. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, daß das Gericht sich häufig nicht mit dem Hinweis auf die verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers zum Normerlaß begnügt, sondern Vorgaben bezüglich der vom Gesetzgeber zu treffenden Regelung macht.140 Es spezifiziert den möglichen Inhalt der künftigen Norm sowohl bei
139 140
Vgl. den Ausgangspunkt der Überlegung, oben S. 23.
Vgl. die Nachweise bei Pestalozzi "Noch verfassungsmäßige" und "bloß verfassungswidrige" Rechtslagen, in BVerfGG und GG I, S. 519 ff, S. 556-558.
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Appellentscheidungen im engeren Sinne als auch im Fall der Gesetzgebungsaufträge bei Unvereinbar- oder Nichtigerklärung. 141 In seiner Entscheidung zur Witwerrente vom 12.3.1975142 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Regelung der §§ 43 Abs. 1 AVG, 1266 Abs. 1 RVO, nach denen die Witwerrente davon abhängig war, daß der Familienunterhalt überwiegend von der verstorbenen Ehefrau bestritten wurde, für gegenwärtig noch mit dem Grundgesetz vereinbar. Der Gesetzgeber sei jedoch verpflichtet, bis zum Ende der übernächsten Legislaturperiode eine Neuregelung zu treffen, die einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 und 3 GG für die weitere Zukunft ausschließe.143 Für eine solche Neuregelung stünden dem Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten offen: Er könne statt nach dem Geschlecht danach differenzieren, wer den Familienunterhalt überwiegend bestritten habe,144 er könne die heute nur für Witwen geltende Regelung auch auf die Witwer übertragen. 145 Der Gesetzgeber könne außerdem anstelle des bisherigen Sysems andere Kriterien als Voraussetzung für den Anspruch auf Hinterbliebenenrente festsetzen. Zu denken wäre etwa an Kinderbetreuung durch den überlebenden Ehegatten, Erwerbsunfähigkeit oder die Möglichkeit, einer zumutbaren Teilzeitbeschäftigung nachzugehen.146 Schließlich stellt das Bundesverfassungsgericht noch die Variante einer eigenständigen Alterssicherung der Eheleute zur Diskussion.147 Für unvereinbar erklärte das Bundesverfassungsgericht die §§ 1593, 1598 in Verbindung mit 1596 Abs. 1 BGB soweit sie dem volljährigen Kind nur in den Fällen zulässiger Ehelichkeitsanfechtung die Möglichkeit eröffiien, seine Abstammung gerichtlich klären zu lassen.148 Die Anknüpfung an die Ehelichkeitsanfechtung, die wiederum gem. §§ 1593, 1600 a BGB nur in wenigen Ausnahmefällen zulässig ist, beschränke die Möglichkeit gerichtlicher Abstammungsklärung in einem Umfang, der mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der volljährigen Kinder aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindimg mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren sei. 149 Der Gesetzgeber könne dem Anspruch des Kindes dadurch entsprechen, daß er weitere Gründe für eine Ehelich141 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 397 mit Verweis auf BVerfGE 39, 169, 191 ff, E 40, 296, 329 f, E 39,1,44 ff. 142 BVerfGE 39, 169. Das Urteil stellt gleichzeitig die älteste in die Liste des Bundesministerium der Justiz aufgenommene Appellentscheidung dar. 143
BVerfGE 39, 169, 169 und 194 f.
144
BVerfGE 39, 169,191.
145
BVerfGE 39, 169, 192.
146
BVerfGE 39, 169, 192 f.
147
BVerfGE 39, 169, 193.
148
Urteil vom 31.1.1989, BVerfGE 79,256.
149
BVerfGE 79, 256, 268 ff.
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1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
keitsanfechtung vorsehe. Er könne aber auch unter Aufrechterhaltung der §§ 1598, 1596 Abs. 1 Nr. 2 BGB andere, bisher durch § 1593 BGB ausgeschlossene Klagemöglichkeiten zugunsten des Kindes einführen. 150 Mit Beschluß vom 8.10.1980 erklärte das Bundesverfassungsgericht schließlich die Regelung des 19. Rentenanpassungsgesetzes vom 3.6.1976 für nichtig, die den Kinderzuschuß zur Knappschafts- oder Versichertenrente betrafen. 151 Diese Regelung war erforderlich geworden, nachdem das Gericht in seinem Beschluß vom 6.5.1975 152 die Unvereinbarkeit des § 60 Abs. 2 Nr. 8 des Reichsknappschaftsgesetzes in der Fassung vom 14.4.1964 festgestellt hatte. Es verstieß nach Ansicht des Gerichtes gegen Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, daß ein Kinderzuschuß zur Knappschaftsrente nur gezahlt wurde, wenn ein Enkelkind vor Eintritt des Rentenversicherungsfalles in den Haushalt des Rentenberechtigten aufgenommen worden war, obwohl die finanzielle Belastung bei umgekehrter Reihenfolge nicht anders ausfiel. Das 19. Rentenanpassungsgesetz beschränkte sich im Anschluß an BVerfGE 39, 316 darauf, den Kinderzuschuß mit Wirkung ab dem 1.7.1976 auch für die übrigen Berechtigten zu streichen. Die Ungleichbehandlung blieb also über den Zeitpunkt der ersten Entscheidung vom 6.5.1975 bis zum 30.6.1976 bestehen. Dies führte zur Nichtigkeit der betreffenden Vorschriften des 19. Rentenanpassungsgesetz.153 Der Gesetzgeber habe "...praktisch nur die Möglichkeit, den verfassungsrechtlichen Anforderungen dadurch zu genügen, daß er für die Zeit bis zum 30. Juni 1976 denjenigen Großeltern nachträglich den Zuschuß gewährt, die nur deswegen keinen Kinderzuschuß erhielten, weil sie ihr Enkelkind nach dem Versicherungsfall in ihren Haushalt aufnahmen". 154 Seine spezifizierte Handlungsanweisung rechtfertigte das Gericht zusätzlich mit dem Hinweis, es könne "...davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber bei Kenntnis der Verfassungswidrigkeit der jetzt vorgelegten Regelung den Weg der Einräumung von Ansprüchen für die Vergangenheit gegangen wäre". 155 Diese drei Beispiele zeigen zweierlei: Zum einen beweisen sie, daß Vorgaben zur künftigen Regelung unabhängig von der Tenorierungsform ergehen. Zum anderen wird die unterschiedliche Intensität der Vorgaben deutlich. Diese reicht von der Angabe gesetzgebungs150
BVerfGE 79, 256, 274.
151
BVerfGE 55, 100.
152
BVerfGE 39, 316.
153
BVerfGE 55, 100, 101, 113.
154
BVerfGE 55, 100, 113.
155
BVerfGE 55,100,113 f.
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technischer Möglichkeiten, die Anschlußregelung zu gestalten im zweiten Beispiel bis zur genauen Vorgabe des Inhalts der geforderten Regelung in der Entscheidung über den Kinderzuschuß zur Knappschafts- und Versichertenrente. Zwischen den beiden Extrempunkten liegt das Urteil zur Witwerrente, in dem das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber vier Möglichkeiten vorstellt, die erforderliche Regelung zu gestalten. Unter Berücksichtigung der Vorgabeintensität könnten demnach gesetzgebungstechnische Regelungsvorgaben, alternative, inhaltsbezogene Regelungsvorschläge und inhaltliche Vorgaben, die sich auf die Angabe einer Regelungsmöglichkeit beschränken, unterschieden werden. Entscheidend ist dabei weniger die exakte Grenzziehung als die Existenz unterschiedlicher Reichweiten in den Äußerungen des Bundesverfassungsgerichtes zur Gestaltung der künftigen gesetzlichen Regelung. Im Hinblick auf den Ableitungszusammenhang zwischen Regelungsvorgabe und Verfassung wird der Vermutung nachzugehen sein, daß der zunehmenden Reichweite eine Tendenz zur Verfassungswidrigkeit der Regelungsvorgaben entspricht. Zunächst soll jedoch kurz auf die Diskussion der Regelungsvorgaben in der Literatur eingegangen werden. Die Praxis der Regelungsvorgaben wird in der Literatur teilweise für zulässig gehalten. Zwar komme dem Gesetzgeber mehr die Rolle eines Hilfsgesetzgebers des Bundesverfassungsgerichtes zu, soweit das Gericht ihm bereits den Rahmen oder die Alternativen der Normgestaltung vorgeschrieben habe.156 Diese Einschränkungen müßten aber hingenommen werden. Regelungsvorgaben stellten keine Überdehnung der Kompetenzen dar, sondern seien Ausdruck des Vorranges der Verfassung. 157 Neben Pestalozza vertritt auch Rupp-von Brünneck die Ansicht, Regelungsvorgaben seien zulässig.158 Allerdings stellt sie in ihrer Begründung weniger auf die Rechtsprechungsfunktion als auf die Funktion gerichtlicher Verfassungssicherung ab. 159 Dieser Ansatz ist deshalb erst im Anschluß an die Ausführungen zur Rechtsprechungsfunktion zu diskutieren. Im Gegensatz zu Rupp-von Brünneck und Pestalozza äußert Bryde Bedenken gegenüber der Praxis gerichtlicher Vorgaben. Das Gewaltenteilungsprinzip
156 Pestalozza, "Noch verfassungsmäßige" und "bloß verfassungswidrige" Rechtslagen^. 561. 157 Pestalozza, "Noch verfassungsmäßige" und "bloß verfassungswidrige" Rechtslagen, in BVerfG und GG I, S. 561; ders., Verfassungsprozeßrecht, S. 15. 158
Rupp-von Brünneck, FS G. Müller, S. 367.
159
Rupp-von Brünneck, aaO, S. 367.
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1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
fordere die Achtung der größeren Sachnähe des Gesetzgebers,160 aus dem Demokratieprinzip folge, daß die "...Frage nach der besten Verwirklichung des Gemeinwohls..." in der politischen Auseinandersetzung entschieden werden müsse.161 Demnach lasse sich als "...unverbrüchlicher Kernbereich eigenständiger Funktionserfüllung..." des Gesetzgebers dessen Vor-Entscheidungsrecht ableiten. 162 Regelungsvorgaben bedeuten einen unzulässigen Eingriff in dieses Vor-Entscheidungsrecht.163 Dieser Argumentation Brydes könnte möglicherweise entgegengehalten werden, daß größere Sachnähe und Entscheidung in der politischen Auseinandersetzung sowie das daraus abgeleitete Vor-Entscheidungsrecht des Gesetzgebers nur im Falle mehrerer Entscheidungsmöglichkeiten von Bedeutung sind, nicht aber, wenn nur eine einzige Entscheidung der Verfassung entspricht. Es kann jedoch offenbleiben, ob eine inhaltliche Konkretisierung in diesem Falle analog der Argumentation zur Zulässigkeit des Appells bei bestehender Verpflichtung - als bloße Feststellung einer Forderung der Verfassung tatsächlich zulässig wäre. 164 Entscheidend ist, daß niemals mit Sicherheit gesagt werden kann, daß die Verfassung nur eine Gestaltungsmöglichkeit zuläßt. Das Vor-Entscheidungsrecht des Gesetzgebers ist also stets zu achten. Das Gericht überschreitet seine Rechtsprechungsfunktion, wenn es sich durch Hinweise zur inhaltlichen Gestaltung der künftigen Norm gesetzgeberische Vor-Entscheidungsfunktion und -kompetenz anmaßt. Brydes Argumentation basiert auf dem Gedanken des Kompetcnzübergriffs. Legt man zugrunde, daß die Aufgaben im Staat jeweils ausschließlich dem zur Ausführung bestgeeigneten Organ zugewiesen sind, bedeutet ein Eingriff in fremde Kompetenzen zugleich eine Überschreitung der eigenen. Eine solche
160 In die gleiche Richtung zielen die methodologischen Erwägungen Ipsens, Rechtsfolgen, S.249, 204. Inhaltliche Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes sind nach Ipsen aufgrund struktureller Unterschiede der gerichtlichen und gesetzgeberischen Entscheidungsfindung, die eine unfassende Auseinandersetzung mit einer zukünftigen Regelung im gerichtsförmigen Verfahren unmöglich machen, unzulässig. 161
Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 344.
162
Bryde, aaO, S. 397 f.
163
Das mögliche Ausmaß des Eingriffs wird bei Pestalozzi "Noch verfassungsmäßige" und "bloß verfassungswidrige" Rechtslagen, in BVerfG und GG I, S. 519 ff, S. 561 deutlich: "Der Gesetzgeber funktioniert hier mehr als ein Hilfsgesetzgeber des Bundesverfassungsgerichtes....Worauf die gesetzgebenden Organe sich einigen müssen, steht im voraus fest." 164 Diese Frage wurde schon oben im Zusammenhang mit der Argumentation Pestalozzas erörtert.
. Rechtsprechungsfnktion und Gerichtscharakter
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negative Kompetenzbestimmung setzt jedoch feststehende bzw. bereits festgestellte Kompetenzen der jeweils anderen Organe voraus. Im Fall der obigen Argumentation ist dies das Vorentscheidungsrecht des Gesetzgebers als "unverbrüchlicher Kernbereich" seiner "eigenständigen Funktionserfüllung". 165 Unabhängig von fixierten Kompetenzen anderer Organe als Grenzen zulässiger Betätigung des Bundesverfassungsgerichtes, läßt sich dessen Befugnis zu Regelungsvorgaben auch positiv unter dem Gesichtspunkt funktioneller KompetenzVerteilung bestimmen. Eine Kompetenzüberschreitung des Bundesverfassungsgerichtes liegt danach vor, wenn eine sachgemäße Rollenverteilung verlangt, daß inhaltliche Regelungen nicht vom Gericht, sondern allein vom Gesetzgeber zu treffen sind. Ein derartiger Ansatz findet sich bei Ipsen, 166 Abgestellt wird wiederum auf Rechtsprechungsfunktion und Gerichtscharakter des Bundesverfassungsgerichtes. Zum Erlaß inhaltlicher Regelungen bedürfe es einer erschöpfenden Abwägung der Argumente für und wider die Regelung. Eme derartig umfangreiche Auseinandersetzung mit dem Inhalt einer zukünftigen Regelung sei in Anbetracht der Größe des Gerichtskörpers und der strukturellen Unterschiede zwischen gerichtlicher und gesetzgeberischer Entscheidungsfindung im gerichtsförmigen Verfahren nicht möglich. Eine sachgerechte Ausgestaltung künftiger Normen könne nur durch den Gesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren erfolgen. 167 Neben den Anforderungen an eine sachgerechte Entwicklung gesetzlicher Regelungen wird in der Literatur auf das Bedürfnis nach Anpassung der Norm und das fehlende Initiativrecht des Bundesverfassungsgerichtes verwiesen. 168 Selbst bei sorgfältiger Ausarbeitung der Regelung könnten Fehler in der Erfassung und Bewertung der gegebenen Situation oder in der Prognose der weiteren Entwicklung eine spätere Änderung der Norm erfordern. 169 Zu einem derartigen Nachsteuern sei das Bundesverfassungsgericht aber aufgrund seines fehlenden Initiativrechts nicht in der Lage. 170 Das Bundesverfassungsgericht ist dieser Ansicht zufolge aufgrund seiner Rechtsprechungsfunktion und seines Gerichtscharakters weder zur sachge-
165
Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 398.
166
Ipsen y Rechtsfolgen, S. 248 ff.
167
Ipsen, Rechtsfolgen, S. 249.
168
Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 337.
169
Zu Prognosefehlern der Bundesverfassungsgerichts vgl. von Bey me, Verfassungsgerichtsbarkeit und Policy Analysis, in: FS für Rudolf Wassermann, S. 259 ff, S. 271. 170
Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 337.
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1. Kapitel : Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
rechten Normentwicklung noch zur Normanpassung fähig. Regelungsvorgaben sind jedenfalls dann unzulässig, wenn sie den Gesetzgeber auf eine Normierungsmöglichkeit festlegen. 171 Auch Achterberg hält zwar den Appell an sich für zulässig, betrachtet aber die Reduzierung gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit durch inhaltliche Vorgaben als unzulässigen Übergriff des Bundesverfassungsgerichtes in den Bereich der Legislative.172 Soweit die Literatur demnach überhaupt Regelungsvorgaben des Gerichtes im Zusammenhang mit Gesetzgebungsaufträgen problematisiert, wird die Zulässigkeit solcher Vorgaben ganz überwiegend abgelehnt. Eine Ausnahme bildet die Ansicht Pestalozzas, Regelungsvorgaben seien zulässiger Ausdruck des Vorranges der Verfassung. 173 Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, daß die Verfassung zumindest ausdrücklich keine derartig spezifizierten, auf eine Regelungsmöglichkeit verdichteten Angaben zur Ausgestaltung einer von ihr geforderten Norm macht. Das gilt insbesondere für die impliziten Verfassungsaufträge, die der Verfassung erst durch Auslegung entnommen werden können. Letztlich stellt sich damit auch die Frage nach der Zulässigkeit von Regelungsvorgaben zumindest teilweise174 als ein Problem der Verfassungskonkretisierungskompetenz dar. Es bietet sich deshalb an, die Antwort auf der Grundlage der allgemeinen Ausführungen zur Zulässigkeit von Gesetzgebungsaufträgen zu suchen.175 Danach ist das Bundesverfassungsgericht durch das Zusammenspiel von bewußt offener Verfassung und Demokratieprinzip in der Reichweite seiner Verfassungsinterpretation begrenzt. Das Gericht hat sich auf die Konkretisierung eines verfassungsrechtlichen Rahmens zu beschränken und dessen Ausfüllung dem Gesetzgeber zu überlassen. Allerdings schließt die mangelnde Determiniertheit der Verfassungsnormen eine genaue Grenzbestimmung aus. Dem fließenden Übergang von der zulässigen Rahmenkonkretisierung zum unzulässigen Eingriff in die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit in bezug auf die Aus171
Ipsen, Rechtsfolgen, S. 249.
172
Achterberg, DÖV 1977, S. 649 ff, 655; ebenso Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 103 f, der nicht den Appell an sich, wohl aber "...die Neigung des Gerichts..., sogleich Vorschläge zur verfassungskonformen Regelung der umstrittenen Materie zu machen" als unzulässigen Vorgriff des Bundesverfassungsgerichts auf den politischen Prozeß kritisiert. Vgl. auch Jekewitz, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, Der Staat 19 (1980), S. 535 ff, S. 545-547. 173 Pestalozza, "Noch verfassungsmäßige" und "bloß verfassungswidrige" Rechtslagen, in BVerfG und GG I, S. 561; ders., Verfassungsprozeßrecht, S. 15. 174
Problematisch ist außerdem die obiter-dicta-Qualität, die im Anschluß behandelt wird, siehe unten S. 63 ff. 175
Vgl. oben S. 24 ff.
. Rechtsprechungsfnktion und Gerichtscharakter
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füllung des Rahmens entspricht es, daß nur tendenzielle Betrachtungen zur Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge möglich sind. Die Intensität der verfassungsrechtlichen Bedenken steigt mit der Länge des Ableitungszusammenhanges. Je weiter die konkretisierte Verfassungsnorm oder je detaillierter die abgeleitete Gesetzgebungspflicht, desto wahrscheinlicher ist es, daß das Bundesverfassungsgericht den konkretisierbaren Rahmen verläßt und in einen Bereich freier politischer Entscheidung eingreift. Regelungsvorgaben des Bundesverfassungsgerichtes weisen eine unterschiedliche Intensität auf. Die Vorgabeintensität reicht von bloß gesetzgebungstechnischen Hinweisen über alternative, inhaltsbezogene Regelungsvorschläge bis zu inhaltlichen Vorgaben, die sich auf die Angabe einer Regelungsmöglichkeit beschränken. Dabei steigt mit der Regelungsintensität auch die Länge des Ableitungszusammenhanges. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen daher in erster Linie gegenüber Vorgaben, die die Verfassungspflicht des Gesetzgebers auf den Erlaß einer inhaltlich bestimmten Regelung konkretisieren. Generelle Aussagen sind jedoch auch in derartigen Fällen nicht möglich. Es kommt vielmehr auf den Einzelfall an. Trotz tendenziell weitreichender Bedenken wird man die inhaltliche Vorgabe in der Entscheidung zum Kinderzuschuß zur Knappschafts- und Versichertenrente 176 im Hinblick auf die Ableitbarkeit der Verpflichtung noch als zulässig ansehen können. Da es sich um eine zum Entseheidungszeitpunkt bereits abgeschlossene Ungleichbehandlung durch die gleichheitswidrige, kaum reversible Begünstigung einer Gruppe in der Vergangenheit handelte, hatte sich die Verpflichtung des Gesetzgebers auf eine rückwirkende Erstreckung der Begünstigung verdichtet. Die entsprechende inhaltliche Vorgabe konnte aus der Verfassung abgeleitet werden. Anders stellt sich die Situation in dem Urteil zur Fristenlösung vom 25.2.1975177 dar. In dieser Entscheidung betont das Bundesverfassungsgericht selbst, daß der Gesetzgeber zu entscheiden habe, wie der Staat seiner Verpflichtung zum Schutz des ungeborenen Lebens nachkommen solle.178 Das Gericht dürfe "...sich nicht an die Stelle des Gesetzgebers setzen". Jedoch sei es "...seine Aufgabe, zu überprüfen, ob der Gesetzgeber im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten das Erforderliche getan hat, um Gefahren
176
BVerfGE 55, 100.
177
BVerfGE 39, 1.
178
BVerfGE 39, 1, 44. Vgl. auch die Fluglärmentscheidung, in der das Bundesverfassungsgericht die Umsetzung einer staatlichen Schutz- und Handlungspflicht nach dem Gewaltenteilungsgrundsatz und dem Demokratieprinzip dem vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgeber zuweist, BVerfGE 56, 54, 81.
60
1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
von dem zu schützenden Rechtsgut abzuwenden".179 Das Bundesverfassungsgericht gesteht dem Gesetzgeber zu, daß eine Regelung, die den Schwangerschaftsabbruch straflos lasse, wenn das Austragen des Kindes der Frau nicht zuzumuten sei, keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegne.180 Die inhaltlichen Ausführungen des Zumutbarkeitskriteriums übernimmt das Gericht allerdings selbst, indem es die vier Indikationen einer unzumutbaren Schwangerschaftsfortsetzung aufführt. 181 Abgesehen von diesen Ausnahmefällen sei die Regelung des § 218 StGB so zu gestalten, daß ein generelles strafrechtliches Unwerturteil den Abbruch auch in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft erfasse. 182 Fraglich ist hier sowohl die Ableitbarkeit der vier zulässigen Ausnahmefälle, in denen der Schwangerschaftsabbruch straflos bleiben soll, 183 als auch vor allem die verfassungsrechtliche Pflicht, eine generelle Strafdrohung für die gesamte Zeit der Schwangerschaft vorzusehen.184 Gegen die letztere Vorgabe wendet sich die abweichende Meinung der Richterin Rupp- von Brünneck und des Richters Simon.™ 5 Die Entscheidung zwischen Fristenlösung und Indikationsmodell betreffe nicht das "Ob", sondern allein das "Wie" des Schutzes. Aus der Verfassung ergebe sich nur die Pflicht des Staates, das ungeborene Leben zu schützen. Dagegen kann aus ihr keine Pflicht des Staates abgeleitet werden, den Schutz dadurch zu garantieren, daß der Schwangerschaftsabbruch entgegen der Fristenlösung in jedem Stadium der Schwangerschaft unter Strafe gestellt ist. Wenn das Gericht eine Verpflichtung des Gesetzgebers aus der Verfassung herleite, den Schwangerschaftsabbruch generell mit Strafe zu belegen und nur Ausnahmen in Form von Indikationen vorzusehen, benutze es den "Gedanken der objektiven Wertentscheidung","um spezifisch gesetzgeberische Funktionen in der Gestaltung der Sozialordnung auf das Bundesverfassungsgericht zu verlagern". 186 Das Gericht übernehme eine Rolle, "für die es weder kompetent noch ausgerüstet ist".187
179
BVerfGE 39, 1,51.
180
BVerfGE 39, 1,48 ff.
181
BVerfGE 39, 1,49 f.
182
BVerfGe 39, 1, 53.
183 Vgl. Vogel, DÖV 1978, S. 665, 667 f, der außerdem Kritik an der Vorgabe der 0,5%-Grenze für Wahlkampfkostenerstattung äußert (Fn 43). 184 Von Bey me, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 275 spricht hier im internationalen Vergleich von einer Tendenz des Bundesverfassungsgerichts, "über das Ziel hinauszuschießen". 185 186
BVerfGE 39, 68 ff.
Rupp- von BrünneckJSimon, BVerfGE 39, 68, 72. Diese Warnung wird durch die spätere Untersuchungen bestätigt, die dem Gericht eine unzulängliche Analyse der sozialen Fakten vorwerfen, Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, S. 91
. Rechtsprechungsfnktion und Gerichtscharakter
61
Im Fall der inhaltlichen Vorgaben im Fristenlösungsurteil spricht demnach vieles dafür, daß das Gericht den Bereich zulässiger Rahmenvorgabe überschritten und mit seinen inhaltlichen Vorgaben in die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit eingegriffen hat. Die Vorgaben wären dann auch unter Verweis auf die Konkretisierungskompetenz des Bundesverfassungsgerichtes nicht mehr zu rechtfertigen. Bisher kann somit festgehalten werden: Regelungsvorgaben des Bundesverfassungsgerichtes an den Gesetzgeber weisen unterschiedliche Reichweiten auf. Mit zunehmender Reichweite sinkt die Wahrscheinlichkeit, daß sich die Vorgabe noch im Bereich zulässiger Rahmenkonkretisierung bewegt. Inhaltliche Vorgaben, die dem Gesetzgeber eine einzige Regelungsmöglichkeit als verfassungsgemäß nahelegen, können daher nur ausnahmsweise zulässig sein. Einen solchen Ausnahmefall betrifft die inhaltliche Vorgabe in der Entscheidung über den Kinderzuschuß zur Knappschafts- und Versichertenrente. 188 Hier bestehen jedenfalls keine Bedenken in bezug auf den Ableitungszusammenhang. Tendenziell sind Regelungsvorgaben, die den Gesetzgeber auf eine Gestaltungsmöglichkeit festlegen, jedoch als Eingriff in die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit unzulässig. Demgegenüber stellt sich die Situation bei alternativen inhaltlichen Regelungsvorschlägen grundlegend anders dar. Verpflichtenden Charakter haben derartige Vorschläge nur, soweit sie Ausschließlichkeit beanspruchen und damit dem Gesetzgeber bedeuten, er sei von Verfassungs wegen gehalten, eine der vorgeschlagenen Regelungsmöglichkeiten umzusetzen.189 An die Stelle der Behauptung, die Verfassung fordere zwingend eine bestimmte Regelung, tritt unter Umständen die Behauptung der Vollständigkeit der aufgezählten Regelungsmöglichkeiten. Eine solche Aussage begegnet den gleichen Bedenken wie die inhaltlichen Vorgaben, die den Gesetzgeber auf und insbesondere S. 169 f, ihr folgend auch von Bey me, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 271. Nach der Reform des Abtreibungsrechts im Sinne der Fristenlösungsentscheidung hat sich die Abtreibungsquote mindestens verdreifacht, Beckmann, "Heute weniger Abtreibungen als vor der Reform", in: Beckmann u.a., Abtreibung in der Diskussion - 50 Behauptungen und ihre Widerlegung, S. 56 f, S. 57. 187
Rupp- von Brünneck/Simon,
188
BVerfGE 55, 100.
189
BVerfGE 39, 68,72.
Ein Ausschließlichkeitsanspruch der Regelungsvorschläge wird sich der verfassungsgerichtlichen Formulierung nur ausnahmsweise entnehmen lassen. Vgl. zum Beispiel die Formulierung der Regelungsvorschläge in der Entscheidung zur Witwerrente, BVerfGE 39, 169, 191 ff, oder zur Besteuerung von Beiträgen und Spenden an kommunale Wählervereinigungen, BVerfGE 78, 350, 363.
62
1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
eine Regelungsmöglichkeit beschränken. In beiden Fällen handelt es sich um eine Ausschließlichkeitsbehauptung, die tendenziell in die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit eingreift. Von dieser Ausnahme abgesehen sind alternative inhaltliche Regelungsvorschläge in bezug auf den verpflichtenden Charakter des so ausgestalteten Gesetzgebungsauftrages unproblematisch. Ziel der Vorschläge ist nicht die inhaltliche Spezifizierung der ausgesprochenen Gesetzgebungspflicht. Die Pflicht des Gesetzgebers umfaßt nur das "Ob" der Regelung, nicht dagegen das "Wie". Insofern geht das Gericht durch Regelungsvorschläge nicht über den Gehalt des zugrunde liegenden Appells hinaus. Derartige Vorschläge konkretisieren die Gesetzgebungspflicht nicht auf eine bestimmte Regelung mit der Folge, daß ein Ableitungszusammenhang zur Verfassung zu fordern und die verfassungsrechtliche Zulässigkeit in Anbetracht der größeren Reichweite der abgeleiteten Verpflichtung in Frage gestellt wäre. Es handelt sich vielmehr um eine vorweggenommene verfassungsgerichtliche Prüfung denkbarer Anschlußregelungen. Die Zulässigkeit dieser Vorschläge erscheint allenfalls im Hinblick auf ihre obiter-dicta-Qualität und die faktische Selbstbindung des Gerichtes fraglich. 190 Soweit gesetzgebungstechnischen Vorgaben im Zusammenhang mit Gesetzgebungsaufträgen verpflichtende Wirkung zukommen kann, sind sie aufgrund ihrer geringen Reichweite noch weniger problematisch als inhaltsbezogene alternative Regelungsvorschläge. Ein Übergriff von bloßer Rahmenvorgabe zur gestaltenden Rahmenausfüllung ist bei formellen Hinweisen zur Gesetzgebungstechnik im Gegensatz zu inhaltsbezogenen Vorgaben eher unwahrscheinlich. Der Hinweis, der Gesetzgeber könne die Möglichkeit des Kindes, seine Abstammung gerichtlich klären zu lassen, sowohl durch die Regelung zusätzlicher Gründe für eine zulässige Ehelichkeitsanfechtung erweitern als auch dadurch, daß er bisher von § 1593 BGB ausgeschlossene Klagemöglichkeiten einräumt, 191 schränkt die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit selbst dann kaum ein, wenn die Regelungsvorgabe die gesetzgebungstechnischen Möglichkeiten abschließend aufzählt. Entgegen der Literatur, die Regelungsvorgaben überwiegend für unzulässig hält, kann demnach differenziert werden: Regelungsvorgaben ergehen in unterschiedlicher Form. Von den in der Literatur angesprochenen inhaltsbezogenen Vorgaben sind die bloß gesetzgebungstechnischen Hinweise des Gerichtes abzugrenzen. Innerhalb der inhaltsbezogenen Vorgaben lassen sich solche, die dem Gesetzgeber mehrere Mög190
Vgl. dazu unten S. 63 ff.
191
BVerfGE 79, 256, 274.
. Rechtsprechungsfnktion und Gerichtscharakter
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lichkeiten zur Gestaltung der Anschlußregelung vorstellen, von denjenigen Vorgaben unterscheiden, die die Gesetzgebungspflicht auf eine Regelungsmöglichkeit präzisieren. Nur im letzteren Fall erstreckt sich der Verpflichtungscharakter auch auf die Art und Weise, in der der Gesetzgebungsauftrag umzusetzen ist, führen Länge des Ableitungszusammenhanges und Grenzen der Konkretisierungskompetenz zu verfassungsrechtlichen Bedenken. Die inhaltsbezogenen alternativen Regelungsvorschläge und die gesetzgebungstechnischen Regelungsvorgaben konkretisieren die Gesetzgebungspflicht nur ausnahmsweise, wenn sie Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Im übrigen sind sie wie alle Regelungsvorgaben - und wie die Gesetzgebungsaufträge in den Gründen überhaupt - lediglich problematisch im Hinblick auf ihre obiter-dicta-Eigenschaft.
ΙΠ. Prozessualer Aspekt Aus dem in Art. 92 GG, § 1 Abs. 1 BVerfGG festgelegten Gerichtscharakter des Bundesverfassungsgerichtes folgt schließlich als prozessualer Aspekt einer funktionellen Kompetenzabgrenzung, daß das Gericht grundsätzlich darauf beschränkt ist, die vorgelegte Streitfrage zu entscheiden. In Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen gesetzgeberisches Unterlassen ist streitige Frage gerade die Verpflichtung des Gesetzgebers, tätig zu werden. 192 Gegenüber einem Appell bestehen insofern unter dem Gesichtspunkt der Beschränkung des Bundesverfassungsgerichtes auf die ihm vorgelegte streitige Frage keine Bedenken. Anders stellt sich die Situation im Normenkontrollverfahren dar. Streitgegenstand ist hier die Frage der Verfassungsmäßigkeit der überprüften Norm. Mit der zusätzlichen Feststellung einer Handlungsverpflichtung des Gesetzgebers überschreitet das Gericht den Streitgegenstand des Normenkontrollverfahrens. 193 Ergeht der Appell in den Entscheidungsgründen, ist er, da er nicht zur
192 193
Vgl. dazu schon oben S. 22.
Das güt auch für das Verfassungsbeschwerdeverfahren, das zwar neben der Überprüfung der Norm möglicherweise auch die Aufhebung auf der Norm beruhender Einzelakte, nicht aber die Verpflichtung des Gesetzgebers, tätig zu werden zum Gegenstand hat. (Dies ist nur bei Verfassungsbeschwerden gegen gesetzgeberisches Unterlassen, die den oben erörterten Verfahren gegen gesetzgeberisches Unterlassen zuzurechnen sind, der Fall.)
64
1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
Lösung der streitigen Frage beiträgt, als obiter dictum194 einzuordnen;195 die Feststellung der Gesetzgebungspflicht in der Entscheidungsformel stellt dagegen eine über den eigentlichen Streitgegenstand hinausgehende zweite Entscheidung des Gerichtes innerhalb desselben Judikates dar. 196 Ist das Bundesverfassungsgericht somit als Konsequenz seiner verfassungsrechtlich festgelegten Rechtsprechungsfunktion grundsätzlich darauf beschränkt, die streitige Frage zu entscheiden, erscheint die Zulässigkeit von Appellen in Verbindung mit Normenkontrollverfahren äußerst fraglich. Es sind zwei Ansätze denkbar, die zur Zulässigkeit der Appelle führen könnten. Die Bedenken gegenüber der Zulässigkeit von Gesetzgebungsaufträgen im Normenkontrollverfahren beruhen auf dem Vorwurf, das Bundesverfassungsgericht überschreite mit dem Appell den Streitgegenstand. Mit dem Vorwurf der Streitgegenstandsüberschreitung entfällt auch der Grund der Unzulässigkeit, wenn das Gericht befugt ist, den Streitgegenstand im Normenkontrollverfahren so zu erweitern, daß er auch die Frage umfaßt, ob der Gesetzgeber im Anschluß an das Verfahren zum Normerlaß verpflichtet ist. Scheidet diese Möglichkeit aus, kann der Appell bei funktionell-rechtlicher Betrachtung als Ausnahme von der grundsätzlichen Beschränkung auf die Behandlung der streitigen Frage zulässig sein. Logisch vorrangig ist die Auseinandersetzung mit der ersten Alternative. Ist der Appell nicht Mittel zur Streitgegenstandsüberschreitung, sondern Ausdruck eines zulässigerweise durch das Bundesverfassungsgericht erweiterten Streitgegenstandes, ändert sich seine rechtliche Qualifizierung. In den Gründen handelt es sich nicht mehr um eine beiläufige Bemerkung, sondern um eine Auseinandersetzung mit der streitigen Frage im Rahmen der Begründung. Der Appell in der Entscheidungsformel stellt eine Entscheidung über einen Teilaspekt der streitigen Frage dar. Die Frage der Zulässigkeit einer Streitgegenstandsüberschreitung durch den Appell wandelt sich zu der der Zulässigkeit einer Streitgegenstandserweiterung als Grundlage des Appells. Es 194
Als obiter dicta werden "...richterliche Erwägungen und Schlußfolgerungen, die außerhalb des Ableitungszusammenhanges zwischen abstrakter Norm und konkreter Entscheidung stehen", bezeichnet; vgl. Schlüter, obiter dictum, S. 104. 195
Vgl. auch Ebsen, Bundesverfassungsgericht, S. 102 f, der im Zusammenhang mit Appellentscheidungen von obiter dicta als Mittel zur Streitgegenstandserweiterung spricht. 196
Abweichung vom Streitgegenstand in der Entscheidungsformel sind nach der Definition von Schlüter keine obiter dicta; vgl. auch Bryde, Verfassungsentwicklung, S.396 oben; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 166. Eine Differenzierung zwischen Streitgegegenstandsüberschreitungen in den Gründen und im Tenor findet sich auch bei Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 371 ff und 376 ff.
Α. Rechtsprechungsfunktion und Gerichtscharakter
65
erübrigt sich somit, auf die Problematik der Streitgegenstandsüberschreitung einzugehen, falls das Bundesverfassungsgericht zu einer entsprechenden Streitgegenstandserweiterung befugt ist. Möglicher Ansatzpunkt zur Beantwortung dieser Frage ist die Befugnis des Bundesverfassungsgerichtes, den Streitgegenstand abweichend von den Anträgen festzustellen. 197 Die Frage einer Verpflichtung kann neben der der Vereinbarkeit der kontrollierten Norm mit der Verfassung nur dann durch Auslegung des Antrages feststellungsfähiger Streitgegenstand sein, wenn nicht nur eine objektive Verpflichtung des Gesetzgebers besteht, sondern auch ein Anspruch des Antragstellers auf ein Tätigwerden des Gesetzgebers. Ein solches subjektives Recht ist nicht ausgeschlossen, wie die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen gesetzgeberisches Unterlassen zeigt. Es stellt jedoch eher die Ausnahme dar und ist in Verfahren der abstrakten oder konkreten Normenkontrolle nicht denkbar. Eine Ausdehnung des Streitgegenstandes auf die Frage der Verpflichtung des Gesetzgebers zum Normerlaß läßt sich unter Hinweis auf das Recht des Bundesverfassungsgerichtes, den Streitgegenstand abweichend von den Anträgen festzustellen, nicht rechtfertigen. 198 Auch die §§ 78 S. 2, 82 Abs. 1, 88 BVerfGG rechtfertigen nur eine Streitgegenstandserweiterung durch Ausdehnung der Kontrolle auf weitere Bestimmungen desselben Gesetzes. Das Bundesverfassungsgericht ist lediglich befugt, in einer "horizontalen" Erweiterung des Streitgegenstandes zu der beantragten Normenkontrolle parallel liegende Fälle in seine Entscheidung einzubeziehen. Die Begrenzung der Erweiterung auf parallele Fälle bedeutet dabei, daß es sich um Normen desselben Gesetzes handeln muß und daß sie mit derselben Begründung wie die antragsgemäß überprüfte Norm für unvereinbar erklärt werden können. Die erforderliche Parallelität zur Normenkontrollentscheidung besteht ganz offensichtlich nicht, wenn das Gericht die Verpflichtung des Gesetzgebers zum Normerlaß prüft. Die Zulässigkeit einer Erstreckung des Streitgegenstandes im Normenkontrollverfahren auf die Frage, ob der Gesetzgeber zum Normerlaß verpflichtet ist, läßt sich demnach aus den genannten Bestimmungen des BVerfGG nicht ableiten. Anders als die §§ 78 S. 2, 82 Abs. 1, 88 BVerfGG ermöglicht § 95 Abs. 3 BVerfGG eine "vertikale" Erweiterung des Entscheidungsinhaltes. Es wird nicht die Einbeziehung paralleler Fälle geregelt, sondern die solcher Entschei197
M/S - B/K/U -Maunz, BVerfGG, § 13 Rdn. 15, 16.
198
Vgl. Klein, Verfassungsprozeßrecht, AöR 108 (1983), S. 410-444 und 561-624, S. 434 mit Verweis auf S. 620, der darauf hinweist, daß die Verfahrensautonomie des Gerichtes keine Rechtfertigung sein kann, wenn sie sich dem Gesetzgeber gegenüber kompetenzerweiternd auswirkt. 5 Kleuker
66
1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
düngen, die zu der beantragten Entscheidung in einer Kausalbeziehung, das heißt in einem "linearen" Zusammenhang stehen. Normenkontrollentscheidung und Feststellung der Verpflichtung des Gesetzgebers zum Normerlaß stehen in den Fällen, in denen der Gesetzgeber infolge der Nichtbeseitigung der verfassungswidrigen Lage durch das Bundesverfassungsgericht bei Vereinbar- oder bloßer Unvereinbarerklärung oder infolge der Nichtigerklärung zur Lückenfüllung tätig werden muß, in einer derartigen Kausalbeziehung. Trotzdem kann eine Streitgegenstandserweiterung der Normenkontrollverfahren auf die Prüfung der Gesetzgebungsverpflichtung auch durch § 95 Abs. 3, S. 2 BVerfGG nicht gerechtfertigt werden. § 95 Abs. 3, S. 2 BVerfGG regelt im Gegensatz zur hier interessierenden Konstellation den Fall, daß eine antragsgemäß erfolgte Aufhebung eines Gerichtsurteils durch eine Unvereinbar- bzw. Nichtigerklärung der dem Urteil zugrunde liegenden Norm ergänzt wird. Eine analoge Anwendung auf die Situation der Ergänzung einer Normenkontrollentscheidung durch einen Appell erscheint angesichts der präzisen Regelung des Verfahrensrechtes sehr bedenklich. Abgesehen von den Zweifeln an einer planwidrigen Regelungslücke ist der Gedankengang des § 95 Abs. 3, S. 2 BVerfGG auch nicht auf die Situation der Appellentscheidungen übertragbar. Im Falle des § 95 Abs. 3, S. 2 BVerfGG ist das Ergebnis der Normenkontrolle Vorfrage der beantragten Überprüfung des Gerichtsurteils. Von einer Streitgegenstandserweiterung kann nur insofern gesprochen werden, als das Gericht über den Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit und Aufhebung des Urteils hinausgeht. Demgegenüber ist die Frage der Verpflichtung des Gesetzgebers zum Normerlaß allenfalls in Grenzfällen zum gesetzgeberischen Unterlassen als Vorfrage zur Normenkontrollentscheidung denkbar. In der Regel handelt es sich jedoch um eine logisch nachrangige Frage, deren Einbeziehung in die Entscheidung dem Sinn der Regelung des § 95 Abs. 3, S. 2 BVerfGG nicht entspricht. Das Bundesverfassungsgericht ist demnach nicht befugt, den Streitgegenstand von Normenkontrollverfahren im Hinblick auf die Feststellung einer legislativen Gesetzgebungspflicht zu erweitern. Der Appell kann nicht als Ausdruck einer Streitgegenstandserweiterung gerechtfertigt werden. Läßt sich die Zulässigkeit des Appells nicht mit dem Gedanken einer Streitgegenstandserweiterung begründen, ist entsprechend dem oben Gesagten199 zu untersuchen, ob der Appell bei funktionell-rechtlicher Betrachtung als Ausnahme von der grundsätzlichen Beschränkung auf die Behandlung der streitigen Frage zulässig ist.
199
Vgl. S. 64.
Α. Rechtsprechungsfunktion und Gerichtscharakter
67
Unabhängig vom Begriff des Appells wird die Zulässigkeit von Streitgegenstandsüberschreitungen in der Literatur vor allem für den Fall der obiter dicta diskutiert. Schlüter hält obiter dicta für unzulässig. Trotz ihrer fehlenden Verbindlichkeit verstießen sie gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz.200 Aus diesem Grundsatz ergebe sich unter dem Aspekt eines "verfassungsrechtlichen Organisationsprinzips" "...für alle staatlichen Organe ein Verbot, Aufgaben wahrzunehmen, für welche sie nach ihrer verfassungsrechtlichen Ausgestaltung nicht hinreichend gerüstet sind".201 Rechtsausführungen, die nicht zur Entscheidungsfindung erforderlich sind, stellen nach Schlüter eine solche Aufgabe dar, die die Gerichte "...aufgrund ihrer Funktion, Struktur, der Rechtsstellung ihrer Mitglieder sowie des ihnen zur Verfügung stehenden Instrumentariums nicht sachgerecht bewältigen können".202 Außerdem fehle die aus der Erprobung am Einzelfall resultierende "Richtigkeitsgewähr".203 Bryde spricht in diesem Zusammenhang von einer im Vergleich zur Sachentscheidung nur sehr geringen "Verfahrenslegitimität" von obiter dicta.204 Neben Schlüter hält auch Gusy obiter dicta generell für unzulässig.205 Sie minderten die Rechtssicherheit, weil die Vorlagepflicht bei Abweichung von der Auffassung des anderen Senates gemäß § 16 BVerfGG nicht für obiter dicta gelte und obiter dicta auch keine Bindungswirkung gemäß § 31 BVerfGG entfalteten. Unter dem Gesichtspunkt der Auswirkung der obiter dicta auf die Rechtssicherheit sei es dennoch nicht möglich, eindeutig über ihre Zulässigkeit zu entscheiden, weil sie auf der anderen Seite Prozeßökonomie und Rechtssicherheit auch förderten. 206 Obiter dicta versetzten den Gesetzgeber in die Lage, künftige Kontrollentscheidungen vorherzusehen und die Gestaltung der Norm von vornherein am Standpunkt des Gerichtes auszurichten. Neben der Auswirkung der obiter dicta auf die Rechtssicherheit verweist Gusy aber darauf, daß das Gericht das Antragserfordernis mißachte, wenn es Fragen behandelt, die vom Antrag nicht umfaßt sind. Verlauf und Gegenstand des Verfahrens seien für den Antragsteller nicht mehr vorhersehbar, rechtliches
200 Schlüter, obiter dictum, S. 9 ff. Eine Zusammenfassung der Argumentation findet sich aufS. 57 f. 201
Schlüter, obiter dictum, S. 57.
202
Schlüter, aaO, S. 57.
203
Schlüter, aaO, S. 33-39, 57.
204
Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 371.
205
Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 253 ff.
206
Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 256.
68
1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
Gehör zu den über den Antrag hinausgehenden Ausführungen werde in der Regel nicht gewährt. 207 Außerdem begründet Gusy die Unzulässigkeit von obiter dicta damit, daß das Gericht im Gegensatz zum Gesetzgeber aufgrund seines fehlenden Initiativrechtes nicht nachsteuern könne, falls sich ein obiter dictum im Laufe der Zeit als verbesserungsbedürftig erweist. 208 Schließlich bestünde die Möglichkeit sich widersprechender obiter dicta. Dadurch werde die Rechtsklarheit und damit wiederum die Rechtssicherheit gefährdet. 209 Schlüter und Gusy ist zuzustimmen, soweit es um die Zulässigkeit umfangreicher Rechtsausführungen in Form von obiter dicta geht. Die angeführten Argumente zwingen aber nicht, die Appelle, die lediglich das Bestehen einer Gesetzgebungspflicht feststellen, für unzulässig zu erklären. Es entspricht der Funktion des Gerichtes und auch dem ihm zur Verfügung stehenden Instrumentarium, verfassungsrechtliche Verpflichtungen des Gesetzgebers zu prüfen und gegebenenfalls festzustellen. 210 Anderenfalls dürfte es kein Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen gesetzgeberisches Unterlassen geben. Auch der Vorwurf Gusy s, der Verfahrensverlauf sei bei Mißachtung des Antragserfordernisses für den Beschwerdeführer nicht vorhersehbar und sein Recht auf Anhörung nicht gewährleistet, verliert an Bedeutung, wenn man bedenkt, daß das Bundesverfassungsgericht als "Herr des Verfahrens" 211 befugt ist, den Streitgegenstand abweichend vom Antrag des Beschwerdeführers festzustellen.212 Auswirkungen der Anhörung auf die Entscheidung, ob der Gesetzgeber zum Normerlaß verpflichtet ist, sind kaum denkbar. Die Feststellung der Gesetzgebungspflicht kann zudem nur im abstrakten Normenkontrollverfahren oder im Organstreitverfahren unmittelbar den Beschwerdeführer treffen, da nur in diesen Verfahren ein am Gesetzgebungsverfahren beteiligtes Organ Antragsteller sein kann. Das Argument der fehlenden Nachsteuerungsmöglichkeit läßt sich ebenfalls relativieren. Das Bundesverfassungsgericht ist bezüglich der Aussagen, die es 207
Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 256 f.
208
Gusy, aaO, S. 257.
209
Gusy, aaO, S. 257.
210
Vgl. auch Berkemann, Besprechung zu Schlüter, obiter dictum, NJW 1974, S. 310, der in seiner Kritik der Ansicht Schlüters zwischen unzulässiger Richtlinienrechtsprechung (vergleichbar dem Appell mit inhaltlichen Vorgaben) und zulässigen "normalen" obiter dicta unterscheidet. 211
M/S-B/K/U-Maunz, BVerfGG, § 13 Rdn. 107.
212
M/S-B/K/V-Maunz,
BVerfGG, § 13 Rdn. 15, 16.
Α. Rechtsprechungsfunktion und Gerichtscharakter
69
im Tenor oder in den Gründen trifft, in gleicher Weise wie bei den obiter dicta durch das fehlende Initiativrecht in der Nachsteuerung beschränkt. Wendet man ein, daß die genannten Äußerungen des Gerichtes aufgrund ihres Einzelfallbezuges nach Abschluß des konkreten Falles nur in sehr viel geringerem Maße als obiter dicta ein Nachsteuern erfordern, so ist zu bedenken, daß auch zur Lösung der streitigen Frage oftmals verallgemeinerungsfähige bzw. allgemeine Rechtsansichten vorgetragen werden. 213 Entscheidend dürfte jedoch die Abhängigkeit der Korrekturbedürftigkeit vom Umfang der Aussage sein. Das Bundesverfassungsgericht wird sich um so eher gezwungen sehen nachzusteuern, je weitreichender und differenzierter seine Ausführungen waren. Das Problem der Nachsteuerung wird daher in erster Linie bei Appellen auftreten, die auch inhaltliche Vorgaben enthalten; es wird sich dagegen kaum stellen, wenn das Gericht lediglich eine Verpflichtung des Gesetzgebers feststellt. Sich widersprechende obiter dicta sind ebenfalls eher bei umfangreichen Appellen denkbar, die sich mit dem Inhalt der künftigen Regelung befassen, als bei einer bloßen Feststellung der Gesetzgebungspflicht. Aus den von Schlüter und Gusy angeführten Gründen kann somit eine generelle Unzulässigkeit der obiter dicta nicht abgeleitet werden. Auch Ipsen beschränkt sich darauf, funktionell-rechtliche Grenzen des Gebrauchs von obiter dicta aufzuzeigen. 214 Obiter dicta sind seiner Meinung nach jedenfalls dann unzulässig, wenn das Zusammentreffen von Rechtsprechungscharakter und Streitgegenstandsüberschreitung einen Plausibilitätsverlust der verfassungsgerichtlichen Entscheidung bewirkt. Aufgrund struktureller Unterschiede der gerichtlichen und der gesetzgeberischen Entscheidungsfindung sei ein solcher Verlust an Plausibilität zu erwarten, wenn das Gericht Angaben zur Ausgestaltung der künftigen Regelung mache. Anders als im Gesetzgebungsverfahren sei es im gerichtsförmigen Verfahren "...nicht möglich, Argumente für und wider zukünftige Regelungen erschöpfend abzuwägen...".215 Der Hinweis darauf, daß der Gesetzgeber dem Gericht bezüglich der Ausarbeitung künftiger Regelungen überlegen ist, kann demnach allenfalls die Unzulässigkeit von Appellen begründen, die inhaltliche Vorgaben enthalten. Stellt das Bundesverfassungsgericht dagegen lediglich die Verpflichtung des Gesetzgebers zum Normerlaß fest, können sich strukturelle Unterschiede der Entscheidungsfindung nicht auswirken. Ein Plausibilitätsverlust aufgrund des Appells ist nicht zu befürchten. Die funktionell-rechtlich aus dem Zusammenhang 213
Gusy f Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 257.
214
Ipsen, Rechtsfolgen, S. 247 ff.
215
Ipsen, Rechtsfolgen, S. 249.
70
1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
von Rechtsprechungscharakter und Streitentscheidung abgeleitete Grenze des zulässigen Gebrauchs liegt dementsprechend auch nach Ansicht lpsens bei der "...Hinlenkung des Gesetzgebers auf bestimmte Inhalte in Gestalt von obiter dicta".216 Bryde hält zwar als Folge der bei Schlüter und Gusy ausgeführten Argumente grundsätzlich die "...Forderung, das Bundesverfassungsgericht solle sich so eng wie möglich an den Streitgegenstand halten...", für berechtigt;217 er zweifelt aber gleichzeitig an der generellen Unzulässigkeit von obiter dicta. Das Gewaltenteilungsprinzip lege das Gericht bezüglich der Art und Weise, wie es seine Urteile abzufassen habe, nicht fest. Eine über den konkreten Gegenstand hinausreichende Argumentation im "größeren Zusammenhang" werde "häufig legitim sein", solange das Gericht "...den Status von obiter dicta sprachlich klarstellt". 218 Größerer Bedeutung als dieser Anmerkung ist dem Hinweis Brydes beizumessen, das Bundesverfassungsgericht könne die Qualifizierung einer Aussage als obiter dictum oder Grund der Entscheidung weitgehend durch die Ausgestaltung seiner Argumentation beeinflussen. Diesem Ansatz kann zwar entgegengehalten werden, daß das Bundesverfassungsgericht dann eben zur Vermeidung unzulässiger obiter dicta derartige Ausführungen in den Begründungszusammenhang einbeziehen müsse; er zeigt aber deutlich, daß ein scharfer Schnitt zwischen funktionsgerechter Streitentscheidung und strukturell-bedingt unsachgemäßem obiter dictum nicht möglich ist. Gusy schließt anders als Bryde von der Möglichkeit, obiter dicta bei entsprechender Änderung der Argumentation in die Begründung einzuordnen, nicht auf deren Zulässigkeit,219 sondern betont die Schwierigkeit, notwendige Entscheidungsgründe von unzulässigen obiter dicta zu unterscheiden. Konsequenz dieser Schwierigkeit ist für Gusy im Gegensatz zu Bryde nicht die Zulässigkeit solcher Grenzfälle zwischen obiter dictum und Begründung, sondern der Verzicht auf die Feststellung ihrer Unzulässigkeit. Eindeutig unzulässig sind Gusy zufolge jedoch "...Ausführungen, die auf die Gewinnung von Obersätzen abzielen, an denen die überprüfte Norm nicht gemessen wird oder gemessen zu werden braucht"220 und solche, die über die Entscheidung der konkreten Streitfrage hinaus den Inhalt künftiger Regelungen betreffen. 221
216
Ipsen, Rechtsfolgen, S. 250.
217
Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 373.
218
Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 374.
219
Das würde auch seiner These von der generellen Unzulässigkeit widersprechen.
220
Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 258.
221
Gusy, aaO, S. 259.
Α. Rechtsprechungsfunktion und Gerichtscharakter
71
Bezieht man die Ausführungen Gusys und Brydes auf die Appelle des Bundesverfassungsgerichtes, zeigt sich aber, daß sich auch die Appelle, die lediglich die Verpflichtung des Gesetzgebers feststellen, aufgrund ihres Aufforderungscharakters nicht in die Begründungskette für die Normenkontrollentscheidung einfügen lassen. Der Appell ist vielmehr eine neben die Begründung zur Normenkontrolle tretende, weitergehende Aussage. Das heißt beispielsweise, nicht die Nochvereinbarerklärung ist Folge des Appells, sondern entweder der Appell ist Folge der Nochvereinbarerklärung oder die Verbindung von Nochvereinbarerklärung und Appell ist Folge der Gesamtargumentation.222 Damit läßt sich der Appell aber weder nach Bryde in einen Grund umdeuten noch bestehen nach Gusy Schwierigkeiten bezüglich der Einordnung als Grund oder als obiter dictum. Dementsprechend ist der Appell als obiter dictum weder mit der Argumentation Brydes zulässig noch ist mit Gusy die Unzulässigkeit des Appells wegen Abgrenzungsschwierigkeiten nicht sicher festzustellen. Der Appell ist somit bezogen auf den Streitgegenstand der Normenkontrollentscheidung eindeutig obiter dictum. Nach dem bisher Gesagten kann festgehalten werden: Obiter dicta bzw. Appelle sind möglicherweise unzulässig, soweit sie inhaltliche Vorgaben bezüglich der zu erlassenden Regelung enthalten. Stellt der Appell dagegen lediglich die Verpflichtung des Gesetzgebers zum Normerlaß fest, ergibt sich seine Unzulässigkeit weder aus der Argumentation Schlüters noch aus der Gusys. Die bisherigen Ausführungen beschränkten sich darauf, grundsätzliche prozessuale Bedenken der Literatur gegenüber der Zulässigkeit von Gesetzgebungsaufträgen auszuräumen. Die speziellen Vorbehalte in bezug auf inhaltliche Vorgaben sind jedoch ebenfalls zu relativieren. Oben wurde die Zulässigkeit inhaltlicher Vorgaben bereits im Hinblick auf die teilweise ausgesprochene Verpflichtung zu einer bestimmten Gestaltung der Anschlußregelung erörtert. Dabei war zu differenzieren zwischen inhaltsbezogenen Regelungsvorschlägen, die dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten vorstellen, die Anschlußregelung verfassungsgemäß zu gestalten, und solchen Vorgaben, die den Gesetzgeber auf eine einzige Gestaltungsmöglichkeit festlegen. Unter dem Aspekt des Verpflichtungsbezuges war grundsätzlich nur der letztere Fall verfassungsrechtlich bedenklich. Die Frage der obiter-dicta-Qualität wurde oben unter Verweis auf die nachfolgenden Ausführungen zur prozessualen Problematik der Gesetzgebungsaufträge offengelassen. Die bisherige Diskussion der Zulässigkeit von Appellen im Hinblick auf ihre obiter-dicta-
222 Unwahrscheinlich ist demgegenüber die Mögüchkeit, daß das Ergebnis der Normenkontrolle und der Appell auf völlig unabhängigen Argumentationen beruhen.
72
1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
Eigenschaft legt es nahe, auch in bezug auf den prozessualen Aspekt der Regelungsvorgaben entsprechend zu unterscheiden. Die Literatur äußert im wesentlichen strukturelle Bedenken gegenüber der Zulässigkeit von obiter-dicta. Das Gericht sei aufgrund seiner "...Funktion, Struktur, der Rechtsstellung...(seiner) Mitglieder sowie des ...zur Verfügung stehenden Instrumentariums..." 223 nicht in der Lage, Aussagen, die über die Entscheidungsfindung im Einzelfall hinausgehen, sachgerecht zu treffen. Aufgrund seines Gerichtscharakters fehle dem Bundesverfassungsgericht das Initiativrecht, um nachsteuera zu können, wenn sich ein obiter-dictum im nachhinein als nachbesserungsbedürftig erweist. 224 Eine derartige strukturelle Argumentation, nach der in Anbetracht von Gerichtscharakter und gerichtsförmigem Verfahren insbesondere inhaltliche Vorgaben unzulässig sein sollen225, kann aber nur die Fälle erfassen, in denen das Bundesverfassungsgericht tatsächlich die Gestaltung der künftigen Regelung übernimmt. Hier zeigt sich wiederum der Unterschied zwischen inhaltlichen Vorgaben, die den Gesetzgeber auffordern, eine Regelung bestimmten Inhalts zu erlassen und alternativen inhaltsbezogenen Regelungsvorschlägen. Letztere überlassen - wie schon oben ausgeführt 226 - die endgültige Gestaltung dem Gesetzgeber. Das Bundesverfassungsgericht unternimmt nur eine vorgezogene Prüfung denkbarer Anschlußregelungen des Gesetzgebers. Die Überprüfung gesetzlicher Regelungen gehört aber gerade zum Aufgabenbereich des Bundesverfassungsgerichtes. Die strukturelle Eignung zur Normprüfung ist unabhängig davon, ob es sich um eine schon existente oder - wie hier - nur potentielle Regelung handelt. Zweifelhaft sind entsprechende Äußerungen des Bundesverfassungsgerichtes zur Verfassungsmäßigkeit möglicher Anschlußregelungen nur im Hinblick auf ihre faktische Verbindlichkeit für den Gesetzgeber. Dieser wird regelmäßig auf eine der angebotenen Regelungsmöglichkeiten zurückgreifen. Außerdem kann das Gericht aufgrund seiner Selbstbindung den umgesetzten eigenen Vorschlag später kaum für verfassungswidrig erklären. Obiter-dicta entfalten jedoch rechtlich keinerlei Bindungswirkung. Unter Hinweis auf die faktische Bindung von Gesetzgeber und Gericht kann allenfalls politisch gegen inhaltsbezogene alternative Regelungsvorschläge argumentiert werden. Ihre rechtliche Zulässigkeit bleibt davon unberührt.
223
Schlüter, obiter dictum, S. 57.
224
Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 257.
225
Ipsen, Rechtsfolgen, S. 249 f.
226
Vgl. oben S.62.
. Rechtsprechungsfunktion und Gerichtscharakter
73
Strukturelle Bedenken treffen demnach nicht inhaltsbezogene Regelungsvorgaben schlechthin, sondern nur solche, die den Gesetzgeber auf eine einzige Regelungsmöglichkeit festlegen und ihm damit die Gestaltung abnehmen. Die Argumentation Schlüters und Gusys zur Zulässigkeit von obiter-dicta führt nur insoweit zur Unzulässigkeit von Gesetzgebungsaufträgen, als diese Regelungsvorgaben enthalten, durch die festgestellt wird, dem Gesetzgeber stünde nur eine Möglichkeit zur inhaltlichen Gestaltung der Norm offen. Demgegenüber läßt sich mit Schlüter und Gusy weder die Unzulässigkeit von Gesetzgebungsaufträgen in den Gründen allgemein noch von alternativen inhaltsbezogenen Regelungsvorschlägen begründen. Gleichwohl handelt es sich in beiden Fällen um Aussagen des Gerichtes, die nicht der Beantwortung der streitigen Frage dienen und die auch nicht durch entsprechende Umstellung der Argumentation in die Begründungskette einbezogen werden können. Die Zulässigkeit derartiger Appelle hängt somit entscheidend davon ab, ob sie mit der funktionell begründeten grundsätzlichen Beschränkung des Bundesverfassungsgerichtes auf die Entscheidung der vorgelegten Streitfrage zu vereinbaren sind. Zunächst sei angemerkt, daß aus Art. 92 GG, der den Gerichtscharakter des Bundesverfassungsgerichtes fixiert, keine absolute Beschränkung des Gerichtes auf die Entscheidung der streitigen Frage folgt, die jeglicher Auseinandersetzung mit einer ausnahmsweise unter funktionell-rechtlichen Gesichtspunkten zulässigen Streitgegenstandsüberschreitung den Boden entziehen würde. Art. 92 GG begründet nach allgemeiner Ansicht lediglich ein Rechtsprechungsmonopol der Gerichte, beschränkt sie aber nicht auf die Wahrnehmung von Rechtsprechungsaufgaben 227 und damit erst recht nicht auf die Behandlung der streitigen Frage. Die zur Diskussion stehende Beschränkung des Bundesverfassungsgerichtes ergibt sich nach dem hier vertretenen Ansatz nicht unmittelbar aus Art. 92 GG, sondern mittelbar aus der funktionellen, auf Gewaltenteilungsgesichtspunkten basierenden Bewertung des in Art. 92 GG festgelegten Rechtsprechungscharakters des Bundesverfassungsgerichtes selbst. Die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichtes, Aufgaben wahrzunehmen, bestimmt sich nach seiner Eignung, sie sachgemäß zu erfüllen. Die Struktur des Gerichtes und die Ausgestaltung des gerichtsförmigen Verfahrens befähigen das Bundesverfassungsgericht zur sachgerechten Entscheidung der ihm durch das BVerfGG zugewiesenen Streitigkeiten. Gehen Aussagen des Gerichtes über die Behandlung der zugewiesenen Streitfragen hinaus, bedeutet das nicht zwingend, daß es sie aufgrund funktioneller Eigenarten nicht sachgerecht treffen
227
Schlüter, obiter dictum, S. 10.
74
1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
konnte. Seine Befähigung ist jedoch bezüglich der speziellen Art der Aussage zu prüfen. Es hat sich gezeigt, daß die Verpflichtung des Gesetzgebers zum Normerlaß im gerichtsförmigen Verfahren sachgemäß festgestellt werden kann, zumal sie teilweise (in den Verfahren gegen gesetzgeberisches Unterlassen) sogar den Streitgegenstand bildet. Auch gegen alternative inhaltsbezogene Regelungsvorschläge bestanden im Hinblick auf die Struktur des Gerichtes und des gerichtsförmigen Verfahrens keine Bedenken. Betrachtet man die Beschränkung des Bundesverfassungsgerichtes auf die Entscheidung der streitigen Frage unter funktionellem Aspekt als Mittel zur Vermeidung unsachgemäßer Aussagen, ist eine Relativierung dieser Grenze jedenfalls bezüglich der nicht zur Streitentscheidung erforderlichen Ausführungen möglich, die lediglich die Verpflichtung des Gesetzgebers und gegebenenfalls denkbare Regelungsmöglichkeiten feststellen. Derartige Appelle sind demnach, obwohl sie den Streitgegenstand des Normenkontrollverfahrens überschreiten, bei funktionell-rechtlicher Betrachtung zulässig. In diesem Zusammenhang kann es keinen Unterschied machen, ob der Appell als obiter dictum in der Begründung oder - was seltener der Fall sein wird als weitergehende Entscheidung im Tenor ergeht. In beiden Fällen überschreitet das Bundesverfassungsgericht den Streitgegenstand des Normenkontrollverfahrens. Die funktionelle Eignung des Gerichtes, an den Gesetzgeber zu appellieren, besteht aber unabhängig von der Stellung des Appells im Urteilstext. Dagegen sprechen auch nicht die Ausführungen Brydes zur Streitgegenstandsüberschreitung im Tenor. 228 Bryde hält eine Streitgegenstandsüberschreitung abgesehen von den in §§ 78 S. 2,82 Abs. 1,95 Abs. 3 BVerfGG gesetzlich geregelten Fällen für unzulässig. Es ist jedoch zu differenzieren. Die genannten Vorschriften des BVerfGG geben dem Bundesverfassungsgericht in bestimmten Fällen die Befugnis, den Streitgegenstand auszuweiten. Im Gegensatz zur hier behandelten Überschreitung des Streitgegenstandes handelt es sich um Streitgegenstandserweiterungen auf gesetzlicher Grundlage. 229 Eine solche Befugnis des Gerichtes zur Streitgegenstandserweiterung verneint Bryde zu Recht in dem von ihm angesprochenen Fall. Allein aus der Tatsache der damit vorliegenden Streitgegenstandsüberschreitung kann aber ebensowenig wie bei den obiter dicta auf die Unzulässigkeit des Appells geschlossen werden. Die dort aufgestellten funktionellen Erwägungen gelten vielmehr auch hier und führen
228
Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 376 ff.
229
Vgl. die obigen Ausführungen, S. 65.
Α. Rechtsprechungsfunktion und Gerichtscharakter
75
zur Zulässigkeit solcher Appelle im Tenor der Entscheidung, die lediglich die Verpflichtung des Gesetzgebers zum Normerlaß feststellen. Auf Regelungsvorgaben ist in diesem Zusammenhang nicht einzugehen, da sie ausschließlich in den Gründen ergehen.
IV. Zusammenfassung Als Ergebnis der bisherigen Untersuchung kann festgehalten werden: Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungsgerichtes sind zulässig, wenn sie von den Kompetenzen des Gerichtes umfaßt werden. Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt der Kompetenzbestimmung ist das Gewaltenteilungsprinzip gem. Art. 20 Abs. 2, S. 2 GG. Der "funktionale Aspekt" dieses Grundsatzes fordert die "...sinnvolle Verteilung staatlicher Aufgaben auf unterschiedliche Funktionsträger". 230 Die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichtes, an den Gesetzgeber zu appellieren, hängt demnach davon ab, ob es der Funktion und Fähigkeit des Gerichtes entspricht, Gesetzgebungsaufträge zu erlassen.231 Stellt man die Zuordnung des Bundesverfassungsgerichtes zur rechtsprechenden Gewalt durch Art. 92 GG, § 1 Abs. 1 BVerfGG in den Vordergrund, sind Appelle nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Der reaktiv-kontrollierende Charakter der Rechtsprechungsfunktion 232 verbietet eine konstitutive Verpflichtung des Gesetzgebers durch Gesetzgebungsaufträge. Appelle sind nur dann mit der reaktiv-kontrollierenden Funktion des Gerichtes zu vereinbaren, wenn es sich auf die lediglich deklaratorische Feststellung verfassungsrechtlicher Gesetzgebungspflichten beschränkt. Derartige Pflichten lassen sich aus Art. 20 Abs. 3 GG sowie aus expliziten und impliziten Verfassungsaufträgen ableiten. Die Unbestimmtheit und Auslegungsbedürftigkeit vieler Verfassungsbestimmungen verhindern aber im Zusammenspiel mit der Verfassungskonkretisierungskompetenz des Bundesverfassungsgerichtes eine exakte Abgrenzung zulässiger und unzulässiger Gesetzgebungsaufträge. Tendenzielle Grenzen ergeben sich aus dem Grundsatz der offenen Verfassung und dem Demokratieprinzip. Ergebnis einer Verfassungsinterpretation darf nur eine Rahmenbestimmung sein. Die Ausfüllung des vorgegebenen Rahmens unterfällt der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit. Verfassungsrechtlich bedenklich ist deshalb die Ableitung einer Verfassungspflicht des Gesetzgebers auch in bezug 230
Bryde, Verfassungsentwicklung, S.334 mwN.
231
Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 269.
232
Schlaich, aaO, S. 271 mwN.
76
1. Kapitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
auf das "Wie" der konkreten Ausgestaltung einer Regelung. Abgesehen von der besseren demokratischen Legitimation des Gesetzgebers, die politischen Probleme im Zusammenhang mit der inhaltlichen Gestaltung einer künftigen Regelung zu lösen, ist das Bundesverfassungsgericht aufgrund seines Gerichtscharakters und der Besonderheiten des gerichtsförmigen Verfahrens nicht geeignet, sachgerecht über die Gestaltung der geforderten Norm zu entscheiden. Darüber hinaus steht die Rechtsprechungsfunktion des Bundesverfassungsgerichtes der Zulässigkeit von Appellen jedoch nicht entgegen. Insbesondere führt die Tatsache, daß Gesetzgebungsaufträge, mit Ausnahme der Verfahren gegen gesetzgeberisches Unterlassen, nicht der Entscheidung der streitigen Frage dienen, nicht zur Unzulässigkeit. Bestimmt man somit die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichtes auf der Grundlage seiner Rechtsprechungsfunktion, sind Gesetzgebungsaufträge durch das Gericht in den genannten Grenzen zulässig.
B. Funktion gerichtlicher Verfassungssicherung Im Gegensatz zu den bisherigen Ausführungen stellt Rupp-von Brünneck weniger auf den Rechtsprechungscharakter, als auf die Funktion gerichtlicher Verfassungssicherung ab. 233 Aufgabe des Bundesverfassungsgerichtes sei es, "...die Unverbrüchlichkeit der Verfassung gegenüber allen Trägern staatlicher Gewalt - der Gesetzgebung, der Exekutive oder der Rechtsprechung -..." zu wahren. 234 Im Hinblick darauf lehnt Rupp-von Brünneck Kompetenzabgrenzungen zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, wie sie zum Beispiel Gusy vornimmt, als "...auf Teilkompetenzen fixiertes Ordnungsdenken..."235 ab, das "...die eigentliche Funktion des Bundesverfassungsgerichtes in der Verfassung und der Verfassungswirklichkeit..." verkenne 236. Das Bundesverfassungsgericht sei als das "...die Teile zusammenhaltende geistige Band..."237 aufgefordert, mit den anderen Verfassungsorganen zusammenzuarbeiten.238 Außerdem verpflichte die Funktion der Verfassungssicherung das Gericht, die Folgen seiner Entscheidung für "...die weitere Existenz
233
Vgl. auch Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 210.
234
Rupp-von Brünneck, FS G. Müller, S. 364.
235
Rupp-von Brünneck, aaO, S. 363.
236
Rupp-von Brünneck, aaO, S. 363.
237
Rupp-von Brünneck, aaO, S. 363.
238
Rupp-von Brünneck, aaO, S. 365.
Β. Funktion gerichtlicher Verfassungssicherung
77
der Verfassungsordnung und der durch sie verfaßten staatlichen Gemeinschaft..." zu erwägen.239 Auf der Grundlage dieses Funktionsverständnisses hält Rupp-von Brünneck Appelle im Gegensatz zur Literatur auch dann für zulässig, wenn sie inhaltliche Vorgaben bezüglich der vom Gesetzgeber zu treffenden Regelung enthalten. Derartige Vorgaben ermöglichten dem Gesetzgeber die weitere Ausübung seiner Funktion, indem sie ihm einen Überblick über die noch offenstehenden, verfassungsgemäßen Gestaltungsmöglichkeiten geben.240 Gesetzgebungsaufträge entsprechen insofern der Verpflichtung des Bundesverfassungsgerichtes zur Zusammenarbeit mit den anderen Verfassungsorganen. Außerdem verhindern sie neuerliche Verfassungsverstöße des Gesetzgebers und wahren so die Unverbrüchlichkeit der Verfassung. Das Problem der Streitgegenstandsüberschreitung durch Appelle erscheint ebenfalls in einem anderem Licht. Rupp-von Brünneck betont, daß Appelle, auch wenn sie üblicherweise den obiter dicta zugerechnet werden, "durchaus nicht "obiter" [sind]," sondern gerade eine sinnvolle Ausübung der eigentlichen Funktion darstellen.241 Dem entspricht, daß Rupp-von Brünneck an anderer Stelle die Bedeutung des streitigen Ausgangsfalles fiir die Entscheidung relativiert. Es sei nicht alleiniger Sinn des Verfassungsbeschwerdeverfahrens, eine Entscheidung im Einzelfall herbeizuführen; das Verfassungsbeschwerdeverfahren sei vielmehr "...wie alle anderen verfassungsgerichtlichen Verfahren in erster Linie dazu bestimmt, die Auslegung der Verfassung zu klären und ihre größtmögliche Verwirklichung im Blick auf die Gesamtheit zu garantieren". 242 Unabhängig von derartigen funktionellen Erwägungen spricht Rupp-von Brünneck zufolge das Gebot der Prozeßökonomie für die Zulässigkeit von Appellen, insbesondere für die von inhaltlichen Vorgaben. Die Hinweise des Gerichtes verhindern weitere Verfassungsverstöße des Gesetzgebers und entziehen damit zugleich erneuten Verfassungsstreitigkeiten den Boden.243 Im Gegensatz zur bloßen Kassation der verfassungswidrigen Norm, verbunden unter Umständen mit der Aufforderung an den Gesetzgeber, tätig zu werden, ist eine mehrfache Anrufung des Gerichtes in der gleichen Sache fast ausgeschlossen.
239
Rupp-von Brünneck, aaO, S. 365 mwN.
240
Rupp-von Brünneck, aaO, S. 367.
241
Rupp-von Brûnneck, » aaO, S. 367.
242
Rupp-von Brünneck, aaO, S. 375 f mwN; vgl. auch Ipsen, Rechtsfolgen, S. 421.
243
Rupp-von Brünneck, aaO, S. 367.
78
1. Kaptitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
Außerdem wird das Ziel - eine verfassungsgemäße Neuregelung - schon beim ersten Versuch erreicht. Die Berufung auf die Prozeßökonomie kann als eher pragmatischer Einwand zu einer theoretischen Frage nur eine untergeordnete Rolle spielen. Wägt man die jeweilige Bedeutung ab, erscheint es zudem unbillig, einen möglichen Kompetenzübergriff aus prozeßökonomischen Gründen zu tolerieren bzw. sogar zu fordern. 244 Im übrigen birgt die "...unökonomische mehrfache Beschäftigung mit derselben Frage..." den Vorteil möglicher Korrekturen und "subtiler Differenzierungen" , 2 4 5 Kann die Prozeßökonomie die weitreichendere Zulässigkeit von Appellen nicht rechtfertigen, entscheiden allein die funktionell-rechtlichen Erwägungen. Dabei ist zu beachten, daß auch Rupp-von Brünneck die Rechtsprechungsfunktion des Bundesverfassungsgerichtes nicht leugnet. Sie betont aber gleichzeitig den qualitativen Unterschied zu anderer Rechtsprechung.246 Dieser Unterschied in der rechtlichen und faktischen Wirkung entspricht der dem Bundesverfassungsgericht über seine Rechtsprechungsaufgabe hinaus zugewiesenen Funktion der Verfassungssicherung und seiner Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit den anderen Verfassungsorganen. Auf der Grundlage der letztgenannten Funktion und der Verpflichtung zur Zusammenarbeit hält Rupp-von Brünneck Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungsgerichtes für zulässig, die nach den obigen Ausführungen im Hinblick auf Rechtsprechungsfunktion und -Charakter des Gerichtes von diesem nicht funktionsgerecht erlassen werden können. Ziel des funktionellen Ansatzes ist die "...sinnvolle Verteilung staatlicher Aufgaben auf unterschiedlich spezialisierte Funktionsträger". 247 Eine Verteilung ist nur dann sinnvoll, wenn den einzelnen Organen Kompetenzen ausschließlich bezüglich solcher Aufgaben zugewiesen werden, die sie im Hinblick auf ihre speziellen Funktionen und Fähigkeiten sachgerecht erfüllen kön-
244 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 377 betont insofern den Vorrang einer "richtigen Verwirklichung" der Verfassung vor der Prozeßökonomie. Auch Rupp-von Brünneck selbst billigt an anderer Stelle (Verfassung und Verantwortung, S. 275) pragmatische Ewägungen in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nur unter der Voraussetzung, daß sie "...dazu dienen, die grundlegenden Gebote der Verfassung zu verwirklichen". 245
Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 377.
246
Rupp-von Brünneck, FS G. Müller, S. 364.
247
Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 334 mwN.
248
Schlaichy Das Bundesverfassungsgericht, S. 269.
Β. Funktion gerichtlicher Verfassungssicherung
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Nimmt ein Organ mehrere Funktionen wahr, stellt sich die Frage, ob die unterschiedlichen Funktionen kumulativ oder alternativ zu berücksichtigen sind, wenn die Fähigkeit, zugewiesene Aufgaben sachgerecht zu erfüllen, geprüft wird. Im ersten Fall besteht die Gefahr, daß die Funktionserfüllung mangels Kompetenzen leerläuft. Im zweiten Fall droht die Grenze zwischen Funktion und Kompetenz zu verschwimmen. Die Beantwortung der Frage hängt von der speziellen Situation ab. Übt das Organ mehrere Funktionen unabhängig voneinander (möglicherweise in völlig verschiedenen Verfahren) aus, sind die funktionell-kompetenzrechtlichen Erwägungen auf die jeweilige Funktionsausübung beschränkt. Die Funktionen und Fähigkeiten sind isoliert, das heißt alternativ zu berücksichtigen. Eine derartige Situation liegt im Fall des Bundesverfassungsgerichtes eindeutig nicht vor. Das Bundesverfassungsgericht handelt ausschließlich als Gericht im gerichtsförmigen Verfahren. Eine isolierte Wahrnehmung der Verfassungssicherungsfunktion scheidet deshalb aus. Bei der Bestimmung der Kompetenzen ist stets zu berücksichtigen, daß die fraglichen Aufgaben, wenn sie der Verfassungssicherungsfunktion entsprechen, auch mit der Funktion und Fähigkeit des Bundesverfassungsgerichtes als Rechtsprechungsorgan zu vereinbaren sind. Bezogen auf die Gesetzgebungsaufträge führt dies zu einer Einschränkung der Verfassungssicherungsfunktion. Dieses teilweise Leerlaufen der von Rupp-von Brünneck als die wesentliche Aufgabe des Bundesverfassungsgerichtes angesehenen Verfassungssicherungsfunkion kann verschiedene Gründe haben. Es kann zum einen darauf beruhen, daß es sich bei der Verfassungssicherung nicht um eine Funktion handelt, sondern nur um eine Kompetenz, die im Rahmen der Rechtsprechungsfunktion unter Berücksichtigung der besonderen Verfahrensgegenstände anzuerkennen ist. Damit wären die Ausführungen Rupp-von Brünnecks nicht als funktionelle Kompetenzabgrenzung, sondern als Zuweisung von Kompetenzen unter der Bezeichnung "Funktion" einzuordnen. Für eine solche Betrachtungsweise spricht vor allem, daß die Aufgabe der VerfassungsSicherung keine Rückschlüsse für eine Kompetenzbestimmung in Grenzfällen zuläßt. Im Gegensatz zur Rechtsprechungsfunktion handelt es sich um ein rein materielles Kriterium, das keine formellen Anhaltspunkte für die ebenfalls materielle Kompetenzdiskussion ergibt. Eine Orientierung vergleichbar der an verfahrenstechnischen Gegebenheiten oder reaktiv-kontrollierendem Charakter der Rechtsprechungsfunktion ist nicht möglich. Aus einer Verfassungssicherungsfunktion lassen sich keine bestimmten Fähigkeiten ableiten.
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1. Kaptitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
Daneben kann die Verfassungssicherungsfunktion auch aufgrund einer falschen Gewichtung zwischen Rechtsprechungs- und Verfassungssicherungsfunktion eingeschränkt sein. Betont man in erster Linie die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichtes, die Unverbrüchlichkeit der Verfassung gegenüber allen anderen Organen zu sichern, sind Defizite, die sich aus Rechtsprechungsfunktion und -Charakter ergeben, unbeachtlich. Ein derartiger Ansatz ist aber eher politischer Natur und mit der Prämisse, daß die Kompetenzen des Gerichtes durch GG und BVerfGG bestimmt werden, nicht mehr zu vereinbaren. 249 Schließlich bleibt noch als Erklärung, daß Rupp-von Brünneck die Anforderungen, die an eine Erfüllung der Verfassungssicherungsfunktion zu stellen sind, überdehnt, so daß diese Funktion bei der Beschränkung zulässiger Appelle auf die aus der Rechtsprechungsfunkion abgeleiteten Grenzen nur scheinbar unvollständig ausgeübt wird. Rupp-von Brünneck rechtfertigt inhaltliche Vorgaben im Zusammenhang mit Appellen unter anderem damit, daß das Bundesverfassungsgericht die Funktion der Verfassungssicherung gegenüber allen anderen Staatsorganen wahrnehme und dabei als das "geistige Band" zur Zusammenarbeit mit ihnen verpflichtet sei. Inhaltliche Vorgaben seien als Ausdruck dieser Zusammenarbeit zulässig, weil notwendig zur weiteren Ausübung der Funktion des Gesetzgebers. Die Annahme einer derart übergeordneten "Funktion" des Bundesverfassungsgerichtes, die Funktionsfähigkeit des Gesetzgebers sicherzustellen, könnte ungeachtet der Tatsache, daß eine solche Argumentation auf verschiedenen Ebenen kaum zu einer eindeutigen Abgrenzung der Funktionen führt, inhaltliche Vorgaben nur dann rechtfertigen, wenn die Alternative tatsächlich die Unmöglichkeit der Funktionsausübung auf Seiten des Gesetzgebers wäre. Davon ist allerdings nicht auszugehen. Der Gesetzgeber übt seine Funktion im Anschluß an ein verfassungsgerichtliches Verfahren auch dann aus, wenn er ohne Hilfestellung des Bundesverfassungsgerichtes erneut ein verfassungswidriges Gesetz erlassen sollte. Daß der Gesetzgeber untätig bleibt, weil er eine Verfassungswidrigkeit der Neuregelung befürchtet und vermeiden will, ist nicht anzunehmen. Auch wenn inhaltliche Vorgaben nicht unverzichtbar für die weitere Ausübung der Gesetzgebungsfunktion sind, lassen sie sich möglicherweise unter dem Aspekt einer Verpflichtung des Bundesverfassungsgerichtes zur Zusammenarbeit mit dem Gesetzgeber rechtfertigen.
249
Vgl. auch Ipsen, Rechtsfolgen, S. 314.
Β. Funktion gerichtlicher Verfassungssicherung
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Zusammenarbeit bedeutet, daß mehrere Akteure die Vorgehensweise im jeweils eigenen Aufgabenbereich aufeinander abstimmen. Es handelt sich dagegen nicht mehr um Zusammenarbeit, wenn ein Organ die Aufgabe des anderen mitübernimmt. Gesetzgebung ist allein Aufgabe der Legislative. Das betont auch Rupp-von Brünneck ,250 Sie weist darauf hin, daß das Gericht auf lange Sicht seine Stellung gefährde, wenn es die Funktion des zu kontrollierenden Organs übernehme.251 Inhaltliche Vorgaben greifen aber ihrer Ansicht nach nicht in den Aufgabenbereich des Gesetzgebers ein, da es sich um unverbindliche Orientierungshilfen handelt. Diesem Ansatz könnte man seine rein theoretische Natur entgegenhalten. Er berücksichtigt nicht die faktische Verbindlichkeit inhaltlicher Vorgaben. 252 Der Gesetzgeber folgt den Gestaltungsvorschlägen des Bundesverfassungsgerichtes fast immer, teilweise sogar wörtlich. Im Ergebnis wirken Ausführungen des Gerichtes zur möglichen, künftigen Gestaltung der Regelung deshalb nicht als bloße Orientierungshilfe, sondern als Vorgriff auf gesetzgeberische Gestaltungsaufgaben. Das Vorentscheidungsrecht des Gesetzgebers, das auch Rupp-von Brünneck anerkennt,253 wird ausgehöhlt. Rupp-von Brünneck ist jedoch zuzugeben, daß derartige Bedenken gegenüber ihrer Argumentation gleichfalls nicht unangreifbar sind. Es handelt sich nur um Vorschläge des Gerichtes, die rechtlich unverbindlich sind und deren faktische Verbindlichkeit von der Bereitschaft des Gesetzgebers abhängt, ihnen zu folgen. 254 Der eigentliche Gestaltungsakt liegt erst in der verbindlichen Entscheidung über die Ausgestaltung der Norm im Gesetzgebungsverfahren, das heißt unter Umständen in der Übernahme der Gestaltungsvorschläge des Bundesverfassungsgerichtes durch den Gesetzgeber. Daß das Gericht aus funktionellen Gründen nicht in der Lage ist, derartige Vorschläge sachgerecht auszuarbeiten und daß mögliche Mängel durch die Übernahme des gerichtlichen Vorschlages in die gesetzliche Regelung übertragen werden, ist in diesem Zusammenhang oline Bedeutung.
250 Rupp-von Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit und gesetzgebende Gewalt, AöR 102(1977), S. 1 ff, 18. 251
Rupp-von Brünneck, Sondervotum zum Abtreibungsurteü, BVerfGE 39, 68-95, 72
f. 252 Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 244f, S. 254; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 244f. 253
Rupp-von Brünneck, Verfassung und Verantwortung, S. 357.
254
Vgl. schon die obige Relativierung dieses Argumentes, S. 72.
6 Kleuker
82
1. Kaptitel: Rechtliche Zulässigkeit der Gesetzgebungsaufträge
Der Gesetzgeber ist nicht gezwungen, sich dem Vorschlag des Bundesverfassungsgerichtes anzuschließen. Nimmt er ihn an, entspricht auch dies einer Ausübung seines Vorentscheidungsrechtes. Daß der Gesetzgeber sich in der Praxis nicht ausreichend mit möglichen Alternativen zu den Gestaltungsvorstellungen des Gerichtes auseinandersetzt, steht dem nicht entgegen, zumal die Bedeutung pragmatischer Argumente schon oben relativiert wurde. 255 Nach dem bisher Gesagten kann nicht eindeutig festgestellt werden, ob es sich bei den inhaltlichen Vorgaben noch um Zusammenarbeit oder schon um Übernahme von Gesetzgebungsaufgaben durch das Gericht handelt. Eine Entscheidung erübrigt sich, wenn die Gestaltungsvorschläge auch im ersten Fall nicht von der möglichen Verpflichtung des Bundesverfassungsgerichtes zur Zusammenarbeit mit dem Gesetzgeber getragen würden. Rupp-von Brünneck leitet die Verpflichtung zur Zusammenarbeit aus der übergeordneten Funktion des Bundesverfassungsgerichtes ab. Die Verpflichtung kann nur im Hinblick auf diese Funktion ausgelegt werden. Verlangt schon die Funktion gerichtlicher Verfassungssicherung kein präventives Einschreiten gegen mögliche Verfassungsverstöße, kann im Rahmen dieser Funktion auch keine Verpflichtung, zur Verhinderung künftiger Verstöße zuzammenzuarbeiten, begründet werden. Die Verfassung weist die Aufgabe der Verfassungssicherung einem Gericht zu. Eine Ausübung der Funktion in reaktivkontrollierender Weise wird offensichtlich als ausreichend angesehen. Der Zustand infolge einer erneut verfassungswidrigen Regelung unterscheidet sich im übrigen nicht von dem, der vom Zeitpunkt der Erstregelung bis zum verfassungsgerichtlichen Verfahren bestand. Es ist kein Grund ersichtlich, warum zunächst eine reaktive Ausübung der Verfassungssicherungsfünktion genügen, anschließend aber eine präventive Sicherung erforderlich sein sollte. Die Befürchtung chaotischer Zustände, mit der Appellentscheidungen teilweise gerechtfertigt werden, 256 erweist sich in der Regel als haltlos.257 Inhaltliche Vorgaben zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Nachfolgeregelung durch den Gesetzgeber sind demnach nicht als Ausdruck der Verfassungssicherungsfunktion und der in diesem Zusammenhang bestehenden Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit dem Gesetzgeber zu rechtfertigen. Da die Verfassungssicherungsfunktion - wie gezeigt - kein präventives Eingreifen des Bundesverfassungsgerichtes verlangt, kann aus ihr auch nicht un255
Vgl. oben S. 78.
256
Rupp-von Brünneck, Verfassung und Verantwortung, S. 360 mit Verweis auf BVerfGE 16,130 und E 21,12. 257
Ipsen, Rechtsfolgen, S. 254f; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 211.
Β. Funktion gerichtlicher Verfassungssicheng
83
mittelbar (das heißt unabhängig von der Verpflichtung zur Zusammenarbeit, die Rupp-von Brünneck erörtert) die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichtes, verfassungswidrige Nachfolgeregelungen durch inhaltliche Vorgaben zu verhindern, abgeleitet werden. Derartige Hinweise sind zur Ausübung der Verfassungssicherungsfunktion nicht erforderlich. Die Zulässigkeit inhaltlicher Vorgaben läßt sich mit einer Funktion des Bundesverfassungsgerichtes, die Unverbrüchlichkeit der Verfassung gegenüber allen anderen Organen zu sichern, zwar vereinbaren, aber nicht begründen. Das scheinbare Leerlaufen dieser Funktion, das sich bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Zulässigkeitsgrenzen gerichtlicher Gesetzgebungsaufträge aufgrund der Rechtsprechungsfunktion ergibt, ist demnach auf zwei verschiedene Weisen zu erklären. Entweder eine Funktion gerichtlicher Verfassungssicherung existiert nicht und die fragliche Aufgabe beruht lediglich auf der Zuweisung besonderer Verfahrensgegenstände im Rahmen der Rechtsprechungsfunktion, oder die Verfassungssicherungsfunktion ist zwar anzuerkennen, sie verlangt aber kein präventives Eingreifen zum Schutz der Verfassung. In beiden Fällen steht die teilweise Unzulässigkeit inhaltlicher Vorgaben, die oben aus der Rechtsprechungsfunktion des Bundesverfassungsgerichtes abgeleitet wurde, nicht im Widerspruch zu der von Rupp-von Brünneck vorrangig behandelten Verfassungssicherungsfunktion. Eine Entscheidung zwischen den beiden Ansätzen, die gegen die Argumentation Rupp-von Brünnecks sprechen, erübrigt sich demnach. Die Einschränkung bezüglich der Zulässigkeit von Appellen, die sich bei funktioneller Betrachtung aus dem Charakter des Bundesverfassungsgerichtes als Rechtsprechungsorgan ergeben, sind auch mit einer Verfassungssicherungsfunktion des Gerichtes zu vereinbaren.
2. Kapitel
Rechtsfolgen der Gesetzgebungsaufträge Sind Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungsgerichtes in dem oben beschriebenen Rahmen zulässig, stellt sich die weitergehende Frage nach den Rechtsfolgen von Appellen.
A. Rechtsfolgenerörterung in der Literatur In der Literatur werden vor allem die Rechtsfolgen von Gesetzgebungsaufträgen diskutiert, die im Zusammenhang mit einer Nochvereinbarerklärung ergehen. Nach überwiegender Ansicht begründet der Appell in diesem Fall keine Handlungsverpflichtung des Gesetzgebers.1 Er sei vielmehr als bloßer Hinweis, als Aufforderung oder Mahnung an den Gesetzgeber zu verstehen, die "...weitere Entwicklung im Auge zu behalten..." und falls erforderlich legislative Maßnahmen zu ergreifen. 2 Folge des Appells sei keine Verpflichtung, sondern eine bloße "Obliegenheit" des Gesetzgebers.3 Dieser sei nur insofern gehalten, tätig zu werden, als er den Eintritt und die Folgen einer verfassungswidrigen Lage vermeiden wolle.4 Der Gesetzgeber werde nur "moralisch" gedrängt, nicht aber rechtlich verpflichtet. 5 Eine Kompetenz des Bundesverfas-
1 Vgl. zum Beispiel Pestalozza, "Noch verfassungsmäßige" und "bloß verfassungswidrige" Rechtslagen, S. 556; Steinberg, Der Staat 26 (1987), S. 161 ff, 184. 2 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 184 und S. 82; Steinberg, Der Staat 26 (1987), S. 161 ff, 183; G er ont as, Die Appellentscheidungen, Sondervotumsappelle und die bloße Unvereinbarerklärung als Ausdruck der funktionellen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, DVB1. 1982, S. 486 ff, 486; Bernd, Legislative Prognosen, S. 139; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 15. 3
Ipsen, Rechtsfolgen, S. 133.
4
Ipsen, Rechtsfolgen, S. 269. Eine entsprechende Verpflichtung des Gesetzgebers, den Eintritt der verfassungswidrigen Lage zu verhindern, besteht nicht, vgl. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 133 und 268; Pestalozza, "Noch verfassungsmäßige" und "bloß verfassungswidrige" Rechtslagen, S. 556; Bernd, Legislative Prognosen, S. 139. 5
Pestalozza, aaO, S. 556; ders., Verfassungsprozeßrecht, S. 15.
Α. Rechtsfolgenerörterung in der Literatur
85
sungsgerichtes, den Gesetzgeber zu verpflichten, bestehe ohnehin nicht.6 Wenn das Bundesverfassungsgericht sich aufgrund der unmittelbar bevorstehenden Verfassungswidrigkeit für befugt halte, die Legislative zu verpflichten, 7 sei dies nicht im Sinne einer konstitutiven Verpflichtung als Rechtsfolge des Appells zu verstehen. Die Pflicht werde auch in diesem Fall nicht durch den Gesetzgebungsauftrag des Bundesverfassungsgerichtes begründet. Sie ergebe sich vielmehr aus der Verfassung 8 und werde lediglich in Form des Appells festgestellt und konkretisiert.9 Die Ansicht, der Appell in Verbindung mit einer Nochvereinbarerklärung verpflichte den Gesetzgeber nicht rechtlich, sondern sei eine bloße Mahnung, bleibt jedoch nicht unbestritten. Gegen den Charakter als folgenlose Mahnung wird der Wortlaut der Appelle angeführt. Spreche das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich von einer "verfassungsrechtlichen Pflicht", sei dies kaum als bloßer Hinweis zu verstehen.10 Entgegen seiner oben zitierten Ausführungen 11 betont auch Pestalozza an anderer Stelle die rechtliche Verpflichtung des Gesetzgebers durch Appelle.12 Perfektioniere der Gesetzgeber den noch für verfassungsmäßig erklärten Zustand nicht innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist, werde er verfassungswidrig. 13 Auf diese Weise lassen sich jedoch Rechtsfolgen von Appellen nicht begründen. Die Verfassungswidrigkeit eines Zustandes ergibt sich allein aus dessen Unvereinbarkeit mit der Verfassung. Diese wird durch das Bundesverfassungsgericht lediglich festgestellt. Der Eintritt der Verfassungswidrigkeit ist damit niemals Folge der gerichtlichen Entscheidung. Daran ändert auch die von Pestalozza angesprochene Fristsetzung nichts. Eine Frist begründet keine Rechtsfolge, sondern ist darauf beschränkt, den möglichen Zeitpunkt des Rechtsfolgeneintritts zu bestimmen. Bezogen auf die Fristsetzung in Verbindung mit einer Appellentscheidung bedeutet dies, daß die Frist nicht die materielle Rechtsfolge konstituiert, die möglicherweise an die Nichtvornahme der befristeten Handlung geknüpft ist. Selbst die Rechtsfolgen einer gerichtlichen 6
Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 186.
7
Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 82.
8
Im Anschluß an den Ausspruch der Verpflichtung stellt das Gericht dementsprechend fest, daß "dies ... ein Verfassungsauftrag" sei, vgl. Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 82. 9 10
Bernd, Legislative Prognosen, S. 139 Fn. 95. Klein, Verfassungsprozeßrecht, S. 434.
11
Pestalozza, "Noch verfassungsmäßige" und "bloß verfassungswidrige" Rechtslagen, S. 556; ders. y Verfassungsprozeßrecht, S. 15; vgl. oben S. 84. 12
Pestalozza, "Noch verfassungsmäßige" und "bloß verfassungswidrige" Rechtslagen, S. 560. 13
Pestalozza, aaO, S. 560.
86
. Kapitel: R e c h t s g e
der Gesetzgebungsaufträge
Feststellung der Verfassungswidrigkeit treten mit Fristablauf nicht automatisch ein, da die Appellentscheidung (im engeren Sinne) keine aufschiebend bedingte Verfassungswidrig- oder Nichtigerklärung ist.14 Die letztgenannten Ausführungen Pestalozzas stehen somit der Annahme nicht entgegen, ein Appell im Rahmen der Nochvereinbarerklärung sei als bloße Mahnung zu qualifizieren. Die bisher angeführten Literaturmeinungen befassen sich ausschließlich mit den Rechtsfolgen von Appellen bei noch verfassungsgemäßer Rechtslage. Aussagen zu den Rechtsfolgen bei schon eingetretener Verfassungswidrigkeit werden dagegen kaum getroffen. Pestalozza weist auf die Möglichkeit einer Nichtigerklärung nach Ablauf der mit dem Appell verbundenen Frist hin. 15 Ipsen betont die unterschiedliche "imperativische Wirkung" von Appellentscheidung (im engeren Sinne) und Verfassungswidrigerklärung. 16 Während erstere eine bloße Obliegenheit des Gesetzgebers statuiere,17 könne das Gericht den Gesetzgeber im Rahmen der Unvereinbarerklärung verpflichten, die verfassungswidrige Rechtslage zu beseitigen.18 Die Verfassungswidrigerklärung lege als Rechtsfolge die Verpflichtung des Gesetzgebers fest. 19 Ipsen spricht hier die Rechtsfolge des zumindest inzident in jeder Unvereinbareiklärung enthaltenen Appells an.20 Nach Ansicht der Literatur beinhaltet der Appell bei noch verfassungsgemäßer Lage demnach einen bloßen Hinweis auf den möglichen Eintritt der Verfassungswidrigkeit verbunden mit der Mahnung an den Gesetzgeber, die Entwicklung zu beobachten und gegebenenfalls geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Demgegenüber wirkt der Appell bei schon eingetretener Verfassungswidrigkeit verpflichtend. Allerdings werden die Rechtsfolgen von Appellen, die im Rahmen von Nochvereinbarerklärungen bei schon verfassungswidriger Rechtslage und von Nichtigerklärungen ergehen, nicht gesondert erörtert. 21 Das Problem von Appellen in Verfahren gegen gesetzgeberisches Unterlassen wird allenfalls angedeutet.22
14
Steinberg, aaO, S. 172 Fn. 62; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 187.
15
Pestalozza, aaO, S. 560.
16
Ipsen, Rechtsfolgen, S. 268.
17
Ipsen, aaO, S. 268 fund S. 133.
18
Ipsen, aaO, S. 266.
19
Ipsen, aaO, S. 212 f.
20
Vgl. oben S. 40 und Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 172 mwN.
21
Vgl. zum Beispiel Ipsen, Rechtsfolgen, S. 133.
22
Ipsen, aaO, S. 212 f.
Β. Rechtsfolgenuntersuchung
87
Im folgenden sollen die Rechtsfolgen von Appellen insbesondere auch im Bereich der schon eingetretenen Verfassungswidrigkeit etwas umfassender untersucht werden.
B. Rechtsfolgenuntersuchung L Materielle Rechtsfolgen 1. Gesetzgebungspflicht als Rechtsfolge des Appells
Die Ausführungen der Literatur führen zu der Frage, ob Rechtsfolge des Appells in materieller Hinsicht die Begründung einer Handlungspflicht des Gesetzgebers ist. Um diese Frage zu beantworten, kann auf die obigen Ausführungen zur Zulässigkeit von Appellen zurückgegriffen werden. Danach sind Appelle nur dann mit der reaktiv-kontrollierenden Rechtsprechungsfunktion des Bundesverfassungsgerichtes zu vereinbaren und damit von seiner Kompetenz unfaßt, wenn der Gesetzgebungsauftrag die ausgesprochene Verpflichtung lediglich feststellt. Auch die Verfassungskonkretisierungskompetenz ändert nichts an dem Erfordernis eines Ableitungszusammenhanges zwischen Verpflichtung und Verfassung. Eine konstitutive Verpflichtung des Gesetzgebers ist als Übergriff in Gesetzgebungskompetenzen unzulässig. Appelle sind somit nur Zulässig, wenn sie sich auf die Feststellung einer ableitbaren Verpflichtung beschränken. Ist die Verpflichtung des Gesetzgebers aber gerade Voraussetzung des Appells, scheidet sie als dessen Rechtsfolge zwangsläufig aus. Das gilt unabhängig von der Tenorierungsform. Bei schon verfassungswidriger Rechtslage ergeht der Gesetzgebungsauftrag sowohl im Rahmen einer Nichtig- oder Nochvereinbarerklärung als auch bei Unvereinbarerklärung auf der Grundlage einer Gesetzgebungspflicht aus Art. 20 Abs. 3 GG oder aus Verfassungsauftrag. Damit ist die Verpflichtung des Gesetzgebers entgegen Ipsen 23 nicht Rechtsfolge der Unvereinbarerklärung bzw. des in der bloßen Verfassungswidrigerklärung zumindest inzident enthaltenen Appells. Dementsprechend leitet Ipsen selbst die Verpflichtung an anderer Stelle unmittelbar aus der Verfassung ab.24
23
Ipsen, Rechtsfolgen, S. 212 fund S. 266.
24
Ipsen., aaO, S. 267.
88
. Kapitel: R e c h t s g e
der Gesetzgebungsaufträge
Auch die Verbindung des Appells mit einer Fristsetzung macht die Verpflichtung des Gesetzgebers nicht zur materiellen Rechtsfolge des Appells.25 Die Frist konkretisiert lediglich den Zeitraum, der dem Gesetzgeber zur Erfüllung der bestehenden verfassungsrechtlichen Gesetzgebungspflicht verbleibt. Der Ablauf der Frist wirkt sich nicht auf das Bestehen der Verpflichtung aus, sondern bestimmt allenfalls die verfassungsrechtliche Bewertung ihrer Nichterfüllung. Stellt der Appell eine verbindliche Feststellung der Verpflichtung dar, ist die Nichterfüllung innerhalb der als zumutbar erkannten Frist zwangsläufig als verfassungswidriges Unterlassen zu bewerten und als solches angreifbar, sofern ein subjektives Recht besteht.26 Aber selbst wenn die Verpflichtung in Form eines obiter dictums nicht verbindlich festgestellt wird, ergeben sich Konsequenzen für die Bewertung ihrer Nichterfüllung im Anschluß an den Appell. Das Bestehen der Verpflichtung ist für den Gesetzgeber evident, ihre Nichterfüllung auch unter dem weitergehenden Erfordernis einer subjektiven Vorwerfbarkeit 27 verfassungswidrig. Jedoch handelt es sich auch insofern nicht um eine materielle Rechtsfolge des mit einer Fristsetzung verbundenen Gesetzgebungsauftrages. Vielmehr sind die verfassungsrechtlichen Gesetzgebungspflichten, die dem gerichtlichen Appell zugrundeliegen, immer in einer bestimmten Frist zu erfüllen. 28 Anderenfalls wären sie wirkungslos. Die Gesetzgebungspflicht ist teilweise ausdrücklich in der Verfassung geregelt.29 In den übrigen Fällen hat die Legislative ihrer Verpflichtung in angemessener Frist nachzukommen.30 Die Konkretisierung der angemessenen Frist ist eine Auslegungsfrage, die dem Bundesverfassungsgericht obliegt.31 Die Verpflichtung des Gesetzgebers ist somit weder Rechtsfolge des isolierten Appells noch des mit einer Frist verbundenen Gesetzgebungsauftrages.
25
Vgl. schon oben S. 85.
26
Zur Diskrepanz zwischen objektiver Verpflichtung des Gesetzgebers aus Verfassungsauftrag und justitiablem Individualanspruch vgl. Häberle, Das Bundesverfassungsgericht im Leistungsstaat, Die Numerus-clausus-Entscheidung vom 18.7.1972, DÖV 1972, S. 729 ff, S. 730 ff und M e der, Verfassungsbeschwerde gegen gesetzgeberisches Unterlassen, DVB1. 1971, S. 848 ff, S. 849 f. 27
Badura, FS für Eichenberger, S.487 ff; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 396.
28
Vgl. auch Gerontas, Appellentscheidungen, DVB1.1982, S. 486-491, S. 488.
29
Vgl. zum Beispiel Art. 117 Abs. 1 GG.
30
Vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 395 mit Verweis auf BVerfGE 25, 167,
178 ff. 31
Bryde, aaO, S. 395.
Β. Rechtsfolgenuntersuchung
89
2. Auswirkung des Appells auf die Entwicklung der überprüften Rechtslage
Scheidet die ausgesprochene Verpflichtung des Gesetzgebers als materielle Rechtsfolge des Appells aus, bleibt noch die Frage, ob die Fälle, in denen das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung mit Appell und Fristsetzung verbindet, aufschiebend befristete konstitutive Entscheidungen sind. Diese Frage geht allerdings über das Problem der materiellen Rechtsfolgen von Gesetzgebungsaufträgen hinaus. Sie betrifft eine denkbare materielle Rechtsfolge der gesamten Entscheidungskonstruktion und soll daher nur kurz erörtert werden. Zu denken ist hier an zwei Konstellationen: Zum einen an die Möglichkeit, eine mit Fristsetzung verbundene Appellentscheidung im engeren Sinne als aufschiebend befristete Unvereinbarefklärung aufzufassen, zum anderen an die Möglichkeit, die mit Appell und Fristsetzung verbundene Vereinbar- oder Unvereinbarerklärung als aufschiebend befristete Nichtigerklärung zu verstehen. Ein näheres Eingehen auf die erste Variante erübrigt sich ohnehin. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht die Kompetenz, den Zeitpunkt des Umschlagens in die Verfassungswidrigkeit zu bestimmen. Es handelt sich jedoch auch dabei um eine bloße Auslegung der Verfassung. Selbst wenn die Rechtslage mit Fristablauf automatisch verfassungswidrig wird, 32 ist eine konstitutive Wirkung der Entscheidung zu verneinen. Die Unvereinbarerklärung begründet nicht den Eintritt der Verfassungswidrigkeit, sondern stellt ihn lediglich fest. Sie kann damit auch in aufschiebend befristeter Form keine entsprechende materielle Rechtsfolge haben. Das Umschlagen in die Verfassungswidrigkeit ist, selbst wenn die mit Fristsetzung verbundene Appellentscheidung im engeren Sinne als aufschiebend befristete Unvereinbarerklärung zu deuten ist, nicht materielle Rechtsfolge der Appellentscheidung.33 Die zweite Variante erscheint auf den ersten Blick etwas problematischer. Die Nichtigerklärung hat nach der Vernichtbarkeitslehre materielle Rechtsfolgen in bezug auf den Bestand der verfassungswidrigen Norm. Eine Appellentscheidung mit Fristsetzung in Form einer Vereinbar- oder Unvereinbarerklärung als aufschiebend befristete Nichtigerklärung mit den entsprechenden Rechtsfolgen zu betrachten, käme aber einer pro-futuro-Nichtigerklärung
32 So zum Beispiel Pestalozza, "Noch verfassungsmäßige" und "bloß verfassungswidrige" Rechtslagen, S. 560. 33 Auf die Möglichkeit, eine Appellentscheidung im engeren Sinne mit Fristsetzung als aufschiebend befristete Unvereinbarerklärung anzusehen, kommt es hier nicht mehr an. Sie wird von der überwiegenden Literatur wohl zu recht verneint, Vgl. Steinberg, Der Staat 26 (1987), S. 161, 172 Fn. 62 mit Verweis auf Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 184 und Klein, Verfassungsprozeßrecht, AöR 108 (1983), S. 410,434; Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 159 ff.
90
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der Gesetzgebungsaufträge
gleich. Diese Tenorierungsform sieht das deutsche Verfassungsrecht im Gegensatz beispielsweise zum österreichischen nicht vor. Ergeht der Appell mit Fristsetzung im Zusammenhang mit einer Unvereinbarerklärung, spricht eine weitere Überlegung gegen die Möglichkeit, diese Entscheidungskonstellation als aufschiebend befristete Nichtigerklärung zu betrachten. Die Tenorierungsform der Unvereinbarerklärung findet ihre Berechtigung gerade darin, daß eine Nichtigerklärung in einigen Fällen, insbesondere denen der verfassungswidrigen Normenrelation, ausgeschlossen ist. Diese Tatsache steht aber zwangsläufig auch einer Umdeutung entgegen. Es ist demnach nicht möglich, Vereinbar- oder Unvereinbarerklärungen, die mit Appell und Frist verbunden sind, als^ufschiebend befristete Nichtigerklärung aufzufassen 34 und diesen Appellentscheidungen möglicherweise materielle Rechtsfolgen zuzuweisen. Materielle Rechtsfolgen sind den Gesetzgebungsaufträgen somit weder isoliert noch in Verbindung mit der Gesamtentscheidungskonstruktion als aufschiebend befristete weitergehende Tenorierungsform zuzuerkennen.
Π. Prozeßrechtliche Rechtsfolgen Der Ausschluß materieller Rechtsfolgen bedeutet nicht, daß Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungsgerichtes keinerlei Rechtsfolgen haben. Appelle sind nur unter der Voraussetzung zulässig, daß die ausgesprochene Verpflichtung des Gesetzgebers aus der Verfassung ableitbar ist. Es bestehen damit prozeßrechtliche Rechtsfolgen der Appelle, soweit die zugrundeliegende verfassungsrechtliche Gesetzgebungspflicht verbindlich festgestellt wird. 1. Verbindliche Feststellung der Gesetzgebungspflicht
a) Bindung an den Tenor Die Verbindlichkeit der Feststellung ist vor dem Hintergrund von Rechtskraft, Bindungswirkung und Gesetzeskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen zu klären. Umstritten ist bereits der Inhalt dieser Begriffe und ihr Verhältnis zueinander.35 Die vorliegende Arbeit will keinen weiteren umfassenden
34
Ebenso wiederum Steinberg, aaO, S. 172 Fn. 62 mwN und Pohle, aaO, S. 159 ff.
35
Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 224; Bryde, Verfassungsentwicklung,
S. 400.
91
Β. Rechtsfolgenuntersuchung
Beitrag zu diesem Problemstand leisten.36 Der Problemkreis soll nur insoweit behandelt werden, als es erforderlich ist, um die Frage nach der verbindlichen Feststellung von Gesetzgebungspflichten durch Appellentscheidungen zu beantworten. Ausgangspunkt der Überlegung ist die Rechtskraftfähigkeit verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. Keine Bedenken bestehen gegenüber der formellen Rechtskraft, das heißt "...der Unanfechtbarkeit einer Entscheidung im anhängig gewesenen Verfahren". 37 Problematisch ist dagegen die materielle Rechtskraftfähigkeit verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. Im Zivil- und Verwaltungsprozeßrecht erwächst gem. § 322 ZPO bzw. § 121 VwGO "...immer die Entscheidung über ein konkretes Rechtsverhältnis zwischen bestimmten Parteien..." in Rechtskraft. 38 Eine abstrakte Rechtsaussage erlangt niemals Rechtskraft. 39 Über den Anspruch eines Antragstellers gegen einen Antragsgegnei40 wird aber insbesondere in den Verfahren, in denen das Bundesverfassungsgericht Gesetzgebungsaufträge ausspricht, nur ausnahmsweise entschieden. Lediglich das Organstreitverfahren ist als kontradiktorisches Verfahren ausgestaltet.41 Beim abstrakten und konkreten Normenkontrollverfahren fehlt ein Antragsgegner.42 Das Gleiche gilt für das Verfassungsbeschwerdeverfahren, das ebenfalls nicht kontradiktorisch konzipiert ist.43 Gleichwohl erlangen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes nach ganz überwiegender Ansicht44 materielle Rechtskraft. Verfahren vor dem Bun-
36 Insofern sei auf die ausführlichen Erörterungen bei Gusy, aaO, S. 224 ff; Bryde, aaO, S. 400 ff; K. Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in BVerfG und GG I, S. 568 ff, S. 568 ff und Wischermann, Rechtskraft und Bindungswirkungen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, passim sowie die einschlägige Kommentarliteratur verwiesen. 37 Gusy, aaO, S. 225 mit Verweis auf Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 485 ff. 38 Bryde, aaO, S. 403; vgl. auch K. Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, S. 584 und Gusy, aaO, S. 225. 39
Bryde, aaO, S. 403.
40
Gusy, aaO, S. 225; Leibholz/Rupprecht,
41
Vgl. M/S-B/K/Ü-Ulsamer,
BVerfGG, zu § 31 Rz. 1.
BVerfGG, zu § 63 Rz. 3.
42 Im konkreten Normenkontrollverfahren existiert darüber hinaus nicht einmal ein Antragsteller, Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 405 mit Verweis auf Bettermann, Die konkrete Normenkontrolle und sonstige Gerichtsvorlagen, BVerfG und GG I, S. 369; vgl. auch K. Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, S. 618. 43 44
M/S-B/KJU-Schmidt-Bleibtreu,
zu § 94 Rz. 7.
Teilweise ablehnend aber zum Beispiel Kriele, S. 295 f.
Theorie der Rechtsgewinnung,
. Kapitel: R e c h t s g e
92
der Gesetzgebungsaufträge
desVerfassungsgericht sind gem. Art. 92 GG "echte" gerichtliche Verfahren. 45 Die rechtsstaatlichen Gebote der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens fordern die Rechtskraftfähigkeit als "...notwendiger Bestandteil jedes gerichtlichen Verfahrens". 46 Nachteilige Auswirkungen der Rechtskraft, die vor allem in einer Einschränkung der Flexibilität des Verfassungsrechts und in der Bindung auch an falsche Entscheidungen des Gerichtes bestehen,47 fallen demgegenüber weniger ins Gewicht. Die Begrenzung des Umfangs und der zeitlichen Geltung der Rechtskraft schließt solche negativen Wirkungen weitgehend aus.48 Entscheidungen des Verfassungsgerichtes ist auch dann Rechtskraftfähigkeit zuzuerkennen, wenn nicht über ein konkretes Rechtsverhältnis zwischen Parteien gestritten wird. Damit entfällt zugleich die Möglichkeit, die Rechtskraftwirkung sachlich auf die Entscheidung eines streitigen Rechtsverhältnisses und subjektiv auf Gerichte und Parteien zu begrenzen. Das Problem verlagert sich auf die Bestimmung des Umfangs der Rechtskraftwirkung. Sachlich nimmt lediglich die Entscheidung der streitigen Frage in der Urteilsformel an der Rechtskraftwirkung teil. 49 Die Gründe erwachsen dagegen nicht in Rechtskraft. 50 Auch wenn die Entscheidungsformel ausdrücklich auf die Gründe verweist, in dem sie zum Beispiel ein Gesetz "nach Maßgabe der Gründe" für vereinbar erklärt, 51 werden letztere nicht in die Rechtskraftwirkung einbezogen.52 Unabhängig von derartigen Kopplungsklauseln können die Gründe allerdings zur Auslegung der Urteilsformel herangezogen werden, soweit diese allein keine genaue Aussage über den Umfang der Rechtskraft ermöglicht.53 Das ist etwa dann der Fall, wenn sich das Gericht in der Entscheidungsformel darauf beschränkt, den Antrag abzulehnen.54 45
K. Vogel, aaO, S. 575.
46
Leibholz/Rupprecht, BVerfGG, zu §31 Rz. 1; vgl. auch M/D/H/S-Maunz, Art. 94 Rz. 27 und K. Vogel, aaO, S. 580 mwN. 47
zu
K. Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, S. 579; Bryde, Verfassungsentwicklung,
S. 402. 48
Bryde, aaO, S. 402.
49
Leibholz/Rupprecht, ber, S. 229.
BVerfGG, zu § 31 Rz. 1; Gusy, Parlamentarischer Gesetzge-
50 Gusy, aaO, S. 29 mit Verweis auf BVerfGE 4, 31, 38; 5, 34, 37; 20, 56, 86 fund 33, 19, 203. 51
Vgl. z.B. BVerfGE 68, 155, 156; E 33, 52,53; E 36,1, 2 f.
52
Vgl. die ausführlichen Erörterungen der ''Kopplungsklausel·' bei Gusy, aaO, S. 229 f und Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 410 f. 53
BVerfGE 4, 31, 38 f; 5, 34, 37; 20, 56, 86.
54
Gusy, aaO, S. 229.
Β. Rechtsfolgenuntersuchung
93
Im Gegensatz zum sachlichen Umfang bereitet die Bestimmung der subjektiven Erstreckung erhebliche Schwierigkeiten. Die materielle Rechtskraft bindet üblicherweise die "...Beteiligten an das formell rechtskräftige Urteil außerhalb des abgeschlossenen Verfahrens". 55 Außerdem wird das Gericht selbst gebunden.56 Beteiligte sind im Zivilprozeß nur die Parteien, im Verwaltungsprozeß darüber hinaus auch die Beigeladenen sowie die Vertreter des öffentlichen Interesses, falls sie von ihrem Beitrittsrecht Gebrauch machen.57 Im verfassungsgerichtlichen Verfahren fehlt es dagegen häufig an Parteien, auf die die Rechtskraft der Entscheidung in subjektiver Hinsicht beschränkt werden könnte. Unter den hier relevanten Verfahren ist nur das Organstreitverfahren kontradiktorischer Art. Verfassungsbeschwerde- und abstraktes Normenkontrollverfahren weisen keinen Antragsgegner auf, im konkreten Normenkontrollverfahren existiert auch kein Antragsteller. Allerdings sieht § 94 Abs 5 S. 1 BVerfGG ein Beitrittsrecht vor, das den berechtigten Verfassungsorganen die Stellung von Verfahrensbeteiligten im Verfassungsbeschwerdeverfahren vermitteln kann.58 Entsprechendes gilt gem. §§ 65 Abs. 1,63 BVerfGG für das Organstreitverfahren und gem. §§ 82 Abs. 2, 77 BVerfGG für das konkrete Normenkontrollverfahren. Im abstrakten Normenkontrollverfahren haben die in § 77 BVerfGG genannten Verfassungsorgane nur ein Recht zur Stellungnahme, sie können dem Verfahren dagegen nicht beitreten und dadurch eine Beteiligtenstellung erlangen.59 Beschränkte sich die Rechtskraftwirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen auf die Verfahrensbeteiligten, wäre ihre subjektive Ausdehnung äußerst gering. Die Rechtskraft der Entscheidung führte nur ausnahmsweise zu einer verbindlichen Feststellung der Gesetzgebungspflicht gegenüber der Legislative. Gesetzgebungsorgane könnten ausschließlich im Organstreitverfahren als Antragsgegner gebunden sein. Im Organstreit- und im abstrakten Normenkontrollverfahren wäre außerdem eine Bindung als Antragsteller denkbar. Im übrigen wäre die Rechtskraftwirkung gegenüber Gesetzgebungsorganen von deren Verfahrensbeitritt abhängig.
55
Gusy, aaO, S. 225.
56
Gusy, aaO, S. 230 und 234.
57
K. Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, S. 593.
58
M/S-B/K/U-Schmidt-Bleibtreu,
59
M/S-E/KJÜ-Ulsamer
y
zu § 94 Rz. 19 und 22.
zu § 77 Rz. 17 und 18.
94
. Kapitel: R e c h t s g e
der Gesetzgebungsaufträge
Die Literatur lehnt eine derartig beschränkte Rechtskraftwirkung überwiegend ab.60 Vogel hält die Stellung der Verfassungsorgane, die gem. § 65 Abs. 2 BVerfGG von jedem Organstreitverfahren zu unterrichten und gem. § 65 Abs. 1 BVerfGG beitrittsberechtigt sind, für vergleichbar mit der Position eines Beigeladenen im Verwaltungsprozeß gem. § 65 VwGO. 61 Die Rechtskrafterstreckung knüpfe nicht an den Beitritt, sondern schon an die Beitrittsberechtigung der unterrichteten Verfassungsorgane an.62 Anderenfalls könnten identische Rechtsfragen unnötigerweise mehrfach vorgelegt werden. 63 Auf die bloße Beitrittsberechtigung stellt Vogel auch im Verfassungsbeschwerdeverfahren und im Verfahren der konkreten Normenkontrolle ab.64 Das abstrakte Normenkontrollverfahren sieht kein Beitrittsrecht vor. Hier rechtfertige aber ein Vergleich mit der Situation im Bund-Länder-Streitverfahren die Rechtskrafterstreckung auf die nach § 77 BVerfGG zur Stellungnahme berechtigten Organe.65 Nach Ansicht Vogels wären Gesetzgebungsorgane grundsätzlich vom Umfang der Rechtskraftwirkung erfaßt. Bedenken gegen die Argumentation Vogels äußern Gusy und Bryde. Gusy betont zwar die Allgemeinverbindlichkeit einer Nichtigerklärung. Die nichtige Norm dürfe von niemandem mehr angewandt werden. Insofern wirke die Nichtigerklärung und damit die Rechtskraft der Entscheidung inter omnes.66 Im übrigen sei die Rechtskraft von Normenkontrollentscheidungen auf Verfahrensbeteiligte beschränkt. Die Erstreckung der Rechtskraft auf Beitrittsberechtigte sei demgegenüber nicht gerechtfertigt. Auch Vogel unterscheide die Rechtskraft von der Bindung nicht-verfahrensbeteiligter Dritter. 67 Letztere er-
60
K. Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, S. 592 ff; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 230 f; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 406. 61
K. Vogel, aaO, S. 593.
62
K. Vogel, aaO, S. 593.
63
K. Vogel, aaO, S. 592.
64
K. Vogel, aaO, S. 617 und 618.
65
Für das Bund-Länder-Streitverfahren verweist § 69 BVerfGG auf die Beitrittsregelung des Organstreitverfahrens. Da zum Beispiel die Unvereinbarkeit von Landesrecht mit Bundesrecht in beiden Verfahrensarten geltend gemacht werden kann, führe die unterschiedliche Rechtskraftwirkung zu einer nicht sachgerechten Wahl der Verfahrensart, K. Vogel, aaO, S. 609. 66 67
Gusy, aaO, S. 231.
Das ist äußerst fraglich. Vogel spricht von einem "richtig verstandenen Rechtskraftbegriff, der die Bindung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG umfaßt, vgl. K. Vogel, aaO, S. 598.
Β. Rechtsfolgenuntersuchung
95
gebe sich aber für Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes aus § 31 Abs. 1 BVerfGG , so daß eine Analogie zur Rechtskraft nicht erforderlich sei.68 Bryde kritisiert ebenfalls die Rechtskrafterstreckung auf der Grundlage eines Vergleichs mit § 65 VwGO. Im Gegensatz zu Gusy hält er die Ausdehnung der Rechtskraftwirkung auf Nicht-Verfahrensbeteiligte nicht für entbehrlich. Die Rechtskrafterstreckung über die Verfahrensbeteiligten hinaus bedürfe aber "...einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage".69 Sie könne nicht lediglich mit dem Hinweis auf die Gerichtseigenschaft des Bundesverfassungsgerichtes und einer Analogie zu anderen Verfahrensordnungen begründet werden. 70 Eine solche gesetzliche Grundlage sieht Bryde in § 31 Abs. 2 BVerfGG. Die Vorschrift weise Normenkontrollentscheidungen Gesetzeskraft zu. Da Gesetzeskraft aber Verbindlichkeit erga omnes bedeute, sei es nicht erforderlich, allgemeine Prozeßrechtslehren heranzuziehen, um eine Rechtskraftwirkung von Normenkontrollentscheidungen erga omnes zu rechtfertigen. 71 Die Einordnung der Gesetzeskraft als Rechtskraft erga omnes oder als die Rechtskraft verdrängende Spezialregelung ist für Bryde eher ein terminologisches Problem. 72 Für die Verbindlichkeit der Entscheidung gegenüber dem Gesetzgeber ist das Verhältnis von Gesetzeskraft gem. § 31 Abs. 2 BVerfGG und Rechtskraft aber ebenso von Bedeutung, wie das von BindungsWirkung gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG und Rechtskraft. Eine Bindung des Gesetzgebers an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes läßt sich nicht aus den einfachgesetzlichen Vorschriften des § 31 Abs. 1 und 2 BVerfGG ableiten. Einfachgesetzliche Vorschriften binden die Legislative nur im Verhältnis Landesgesetzgeber - einfaches Bundesrecht. Eine Norm des Bundesgesetzgebers, die mit den Regelungen nach § 31 Abs. 1 und 2 BVerfGG nicht zu vereinbaren ist, geht diesen sowohl als lex posterior als auch als lex specialis vor. Eine Bindung des Gesetzgebers läßt sich demnach allenfalls aus der Verfassung ableiten. Die materielle Rechtskraft ergibt sich unmittelbar aus Art. 20 GG und hat damit Verfassungsrang. 73 Sie ist geeignet, eine Bindung des Gesetzgebers zu begründen. Allerdings grenzt das Grundgesetz die Rechtskraftwirkung nicht näher ein. Eine Rechtskrafterstreckung über die anerkannte Bindung der Verfahrensbeteiligten hinaus hat entscheidende Bedeutung für das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber und bedarf daher einer ver-
68
Gusy, aaO, S. 231.
69
Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 406.
70
Bryde, aaO, S. 406.
71
Bryde, aaO, S. 406 mwN.
72
Bryde, aaO, S. 406.
73
M/D/H/S-Maunz
y
zu Art. 94 Rz. 27.
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. Kapitel: R e c h t s g e
der Gesetzgebungsaufträge
fassungsrechtlichcn Abwägung. Denkbar ist dabei auch, daß Bundesverfassungsgerichts-Entscheidungen den Gesetzgeber abgesehen vom Fall der Verfahrensbeteiligung nicht binden. Im Verwaltungsprozeßrecht geht man davon aus, daß die Rechtsschutzintensität des Feststellungsurteils bei Ansprüchen gegenüber Hoheitsträgern ausreicht, obwohl aus derartigen Entscheidungen nicht vollstreckt werden kann. Dem liegt die Annahme zugrunde, daß sich die Träger staatlicher Gewalt aufgrund ihrer Bindung aus Art. 20 Abs. 3 GG an die festgestellte Rechtslage halten werden.74 Mit der gleichen Argumentation könnte man auch die Erstreckung der Rechtskraftwirkung auf den nicht-verfahrensbeteiligten Gesetzgeber für entbehrlich halten. Die Abwägung hat indessen auch die Bedeutung der Verfassung und die Funktion des Bundesverfassungsgerichtes als deren Hüter zu berücksichtigen. Zwar bewirkt die Rechtskrafterstreckung gegenüber dem Gesetzgeber eine nicht unerhebliche Stärkung der verfassungsgerichtlichen Position. Das Gericht ist aber darauf beschränkt, im Rahmen seiner Konkretisierungskompetenz Vorgaben der Verfassimg auch gegenüber dem Gesetzgeber festzustellen. Ist der Gesetzgeber dergestalt vor Kompetenzübergriffen geschützt und das Bundesverfassungsgericht auf seine Verfassungssicherungsfunktion begrenzt, dient die Verbindlichkeit verfassungsgerichtlicher Entscheidungen der Effektuierung dieser Funktion, ohne den Gesetzgeber dem Bundesverfassungsgericht unterzuordnen. Vielmehr sind beide der Verfassung untergeordnet. Die Verbindlichkeit der Gerichtsentscheidung gegenüber dem Gesetzgeber sichert den unbedingten Geltungsanspruch der Verfassung. Die Bindungswirkung ist im Ergebnis zu bejahen. Das gilt nicht nur für die Normenkontrollverfahren, die üblicherweise im Mittelpunkt der Diskussion stehen, sondern erst recht für die Verfahren gegen gesetzgeberisches Unterlassen. Im Organstreitverfahren sind Gesetzgebungsorgane ohnehin als Antragsteller und möglicherweise auch als Antragsgegner beteiligt. Darüber hinaus ließe sich mit Vogel sowohl im Organstreit- als auch im Verfassungsbeschwerdeverfahren als zweitem potentiellen Verfahren gegen gesetzgeberisches Unterlassen eine Rechtskrafterstreckung auf Legislativorgane aus dem Gedanken der Beitrittsberechtigung begründen. Abgesehen davon rechtfertigt der allgemeine Ansatz über die Verfassungssicherungsfunktion die Verbindlichkeit der Pflichtfeststellung gerade dann, wenn es um die Verfas-
74 Redeker/von 179,181.
Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, § 43 Rz. 26; BVerwGE 36,
Β. Rechtsfolgenuntersuchung
97
sungswidrigkeit gesetzgeberischen Unterlassens und damit um die Nichterfüllung einer Gesetzgebungspflicht geht.75 Steht die Bindungswirkung somit im Ergebnis fest, kommt der Verortung in der Verfassung nur noch untergeordnete Bedeutung zu. Die Verbindlichkeit der Verfassungsgerichtsentscheidungen auch gegenüber nicht-verfahrensbeteiligten Gesetzgebungsorganen läßt sich unmittelbar als Ausdehnung der von Art. 20 GG geforderten Rechtskraftwirkung für das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht begründen. § 31 BVerfGG hätte insofern nur die Funktion einer einfachgesetzlichen, deklaratorischen Wiedergabe. Das Gleiche gilt für § 31 Abs. 2 BVerfGG, wenn man die dort geregelte Gesetzeskraft als Rechtskraft erga omnes versteht. Rechtfertigt man dagegen die erweiterte Bindung aus der Anordnung der Gesetzeskraft "...als die Rechtskraft verdrängende Spezialregelung für Normenkontrollentscheidungen...",76 wird man den Verfassungsrang der Bindungswirkung aus Art. 94 Abs. 2 GG ableiten können. Dem Wortlaut nach enthält Art. 94 Abs. 2 GG zwar einen Verfassungsauftrag, 77 den der Gesetzgeber durch die Regelung des § 31 Abs. 2 BVerfGG erfüllt hat. Die obigen Ausführungen zur Stellung des Bundesverfassungsgerichtes als Hüter der Verfassung sprechen hier ebenfalls für eine Verbindlichkeit der Normenkontrollentscheidung auch gegenüber dem Gesetzgeber. Die Erstreckung der Bindungswirkung ist insofern als verfassungsrechtliche Mindestanforderung an eine einfachgesetzliche Regelung bereits in Art. 94 Abs. 2 GG zu verorten. Der Verfassungsauftrag des Art. 94 Abs. 2 GG soll es dem Gesetzgeber lediglich ermöglichen, den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes über diese Mindestanforderungen hinaus Gesetzeskraft und damit Allgemeinverbindlichkeit78 beizulegen. Von dieser Möglichkeit hat der Gesetzgeber allenfalls in bezug auf Art. 100 Abs. 2 GG und Art. 126 GG Gebrauch gemacht. Jedoch betreffen auch diese Fälle die notwendigerweise allgemeinverbindliche Feststellung der Gültigkeit einer Norm als Bundesrecht. Für eine solche Auslegung des Art. 94 Abs. 2 GG spricht außerdem dessen Entstehungsgeschichte. Während Art. 99 des Herrenchiemsee-Entwurfs Geset75
Eine Bindungswirkung der Entscheidungen über gesetzgeberisches Unterlassen bejaht auch M/S-B/K/U-Maunz, zu § 31 Rz. 24. Allerdings wird die Bindungswirkung auf § 31 Abs. 1 BVerfGG gestützt. 76
Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 406.
77
BK-Stern, zu Art. 94 Rz. 94 und 95.
78
Das wesentliche Merkmal der Gesetzeskraft ist die Allgemeinverbindlichkeit, vgl. M/D/HIS-Maunz, zu Art. 94 Rz. 20. 7 Kleuker
98
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der Gesetzgebungsaufträge
zeskraft zunächst allgemein für Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes vorsah, durch die die Nichtigkeit von Normen festgestellt wird, 79 enthielt schon der Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses in Art. 128c Abs. 2 eine dem § 31 Abs. 2 BVerfGG vergleichbare Aufzählung. 80 Die Streichung der ausdrücklichen Regelung zugunsten der heutigen Fassung des Art. 94 Abs. 2 GG beruhte wohl auf einem Streit über die Gesetzeskraft im Parlamentarischen Rat,81 dem eine unklare und uneinheitliche Vorstellung vom Begriff der Gesetzeskraft zugrundelag.82 Auch in der Literatur finden sich Hinweise auf hier vertretene Auslegung des Art. 94 Abs. 2 GG. Stern betont die Möglichkeit, daß "...bestimmte Entscheidungen eines Verfassungsgerichtes ihrem Wesen nach notwendigerweise Gesetzeskraft genießen".83 Friesenhahn bejaht eine solche notwendige Gesetzeskraft gerade für Urteile über die Gültigkeit oder Qualität einer Norm. 84 Auch wenn die Gesetzeskraft von Normenkontrollentscheidungen als Spezialregelung die Rechtskraft verdrängen sollte, ergeben sich keine Unterschiede in bezug auf die Bindung des Gesetzgebers. Die Allgemeinverbindlichkeit der Normenkontrollentscheidung resultiert nicht lediglich aus der einfachgesetzlichen Regelung des § 31 Abs. 2 BVerfGG, die keine Bindung des Gesetzgebers begründen könnte. Die Gesetzeskraft von Normenkontrollentscheidungen ist vielmehr als Mindeststandard der von Art. 94 Abs. 2 GG geforderten Gesetzeskraft aufzufassen. Demnach binden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes den Gesetzgeber. Die Bindungswirkung resultiert grundsätzlich aus der Rechtskraft der Entscheidung. Wenn man die Gesetzeskraft nicht als Rechtskrafterstrekkung auf die Allgemeinheit, sondern als spezialgesetzliche, die Rechtskraft verdrängende Regelung ansieht, folgt die Bindungswirkung von Normenkontrollentscheidungen unmittelbar aus der Gesetzeskraftbestimmung in Art. 94 Abs. 2 GG. Die BindungsWirkung ist sachlich in beiden Fällen auf die Entscheidungsformel beschränkt.85
79
Vgl. auch Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, 1951, S. 683.
80
Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, 1951, S. 685.
81
Vgl. die Äußerungen der Abgeordneten v. Mangoldt und Zinn in der 23. und 37.
Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates, Stenographische Protokolle der Hauptausschußsitzungen, S. 276 und 277 sowie S. 463 und 464. 82
K. Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, S. 612 f.
83
BK-Ster/i, zu Art. 94 RZ. 127.
84
Friesenhahn, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland, S. 105 f. 85
Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 230; BK-Stern, zu Art. 94 Rz. 128 mwN.
99
Β. Rechtsfolgenuntersuchung
b) Bindung an die Entscheidungsgründe Rechtskraft und Gesetzeskraft einer Entscheidung erstrecken sich nach allgemeiner Ansicht weder auf "tragende" noch auf "nicht-tragende" Entscheidungsgründe und erst recht nicht auf obiter dicta. Eine Bindungswirkung der Entscheidungsgründe gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG wird dagegen diskutiert. Das Bundesverfassungsgericht vertritt die Auffassung, § 31 Abs. 1 BVerfGG begründe eine Bindungswirkung der tragenden Gründe. Dabei behält es sich selbst vor, zu bestimmen, welche Gründe im Einzelfall tragend sind sowie unter Umständen die gesamte Begründung für tragend zu erklären. 86 Demgegenüber lehnt die Literatur überwiegend eine Bindungswirkung auch der tragenden Gründe ab.87 Ein Argument hegt gerade in der Unmöglichkeit, tragende und nicht-tragende Gründe klar gegeneinander abzugrenzen. Abgesehen davon, daß das Gericht sich vorbehält, Gründe für tragend zu erklären, wäre es ohnehin nur eine Frage der Argumentationstechnik, unverbindliche, nicht-tragende Gründe in den Rang verbindlicher, weil tragender Gründe zu erheben. Vorliegend spielen derartige Erwägungen aber lediglich eine untergeordnete Rolle, da sich aus § 31 Abs. 1 BVerfGG als einfachgesetzlicher Norm entsprechend der obigen Ausführungen jedenfalls keine Bindung des Gesetzgebers ergeben kann. Im übrigen sind Appelle im Begründungsteil einer Normenkontrollentscheidung von der Einordnung als tragender oder nicht-tragender Grund ausgeschlossen. Die Aufforderung an den Gesetzgeber, tätig zu werden geht über die Normprüfung hinaus. Sie läßt sich nicht in die Begründungskette der Normenkontrollentscheidung einfügen. Appelle im Begründungsteil einer Normenkontrollentscheidung sind daher eindeutig als obiter dicta zu qualifizieren, die an der diskutierten Bindungswirkung tragender Gründe nicht teilnehmen.88
86 Vgl. das Urteil BVerfGE 36, 1, 3, 36.
des Bundesverfassungsgerichtes
zum
Grundlagenvertrag,
87 Ecke riz, Kompetenz, S. 184 ff; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 236 ff; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 413 ff mwN; Hoffmann-Riem, Beharrung oder Innovation, Der Staat 13 (1974), S. 335 ff, bes. 344 ff mwN; K. Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft, S. 574 mwN; Wischermann, Rechtskraft und Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, S. 42 ff und S. 51 ff; Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen, S. 91 ff; Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, W d S t R L 39 (1981), S. 99 ff, S. 138 ff. 88
Vgl. zur obiter-dicta-Qualität der Appelle im Begründungsteil von Normenkontrollentscheidungen bereits oben S. 70
100
. Kapitel: R e c h t s g e
der Gesetzgebungsaufträge
Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes beschränkt auf die Entscheidungsformel Verbindlichkeit gegenüber dem Gesetzgeber beanspruchen können. Appellentscheidungen stellen die verfassungsrechtliche Gesetzgebungspflicht nur insofern verbindlich gegenüber der Legislative fest, als der Gesetzgebungsauftrag im Tenor der Entscheidung ausgesprochen wird. In diesem begrenzten Umfang sind prozeßrechtliche Rechtsfolgen der Gesetzgebungsaufträge anzuerkennen. c) Verbindliche Feststellung der Verpflichtung Formen von Appellentscheidungen
in den einzelnen
Bezogen auf die einzelnen Formen von Appellentscheidungen ergibt sich das folgende Bild: Eine verbindliche Feststellung der Gesetzgebungspflicht findet sich regelmäßig nur in den Verfahren gegen gesetzgeberisches Unterlassen und bei Unvereinbarerklärung. Streitfrage der ersteren ist gerade die Gesetzgebungspflicht. Die Verpflichtung des Gesetzgebers wird deshalb in der Entscheidungsformel ausgesprochen und nimmt an deren Rechtskraftwirkung teil. Die Unvereinbarerklärung einer Norm im Tenor der Entscheidung enthält zumindest konkludent die Verpflichtung des Gesetzgebers, die verfassungswidrige Lage zu beseitigen. Diese Gesetzgebungspflicht aus Art. 20 Abs. 3 GG wird mit jeder Unvereinbarerklärung verbindlich festgestellt. Über die Beseitigung verfassungswidriger Lagen hinausgehende Verpflichtungen werden nicht konkludent mit der Unvereinbarerklärung erklärt. Derartige Gesetzgebungspflichten werden nur bei gesonderter Erklärung im Tenor der Entscheidung gegenüber der Legislative verbindlich festgestellt. Die wenigen Fälle, in denen sich neben der Unvereinbarerklärung ein Appell im Tenor der Entscheidung findet, 89 betreffen allerdings ausnahmslos die Verpflichtung zur Beseitigung der verfassungswidrigen Lage. Im Gegensatz zu den Verfahren gegen gesetzgeberisches Unterlassen und der Unvereinbarerklärung ergehen Appelle bei Nichtig- und Vereinbarerklärung nicht zwingend im Tenor der Entscheidung. Die Nichtigerklärung "beseitigt" die verfassungwidrige Lage selbst. Trotzdem festgestellte Handlungspflichten des Gesetzgebers gehen über die streitige In den Verfahren gegen gesetzgeberisches Unterlassen ist die Verpflichtung dagegen Streitfrage. Der Appell wird sich nicht im Begründungsteil, sondern im Tenor der Entscheidung finden. 89 BVerfGE 61, 319, 320; E 72, 9, 10; E 72, 330, 333; E 73, 40, 42; E 67, 348, 349; E 75, 284, 284.
Β. Rechtsfolgenuntersuchung
101
Frage hinaus. Entsprechende Gesetzgebungsaufträge werden daher regelmäßig auf der Grundlage eines nicht erfüllten Verfassungsauftrages in Form von obiter dicta ergehen. Dementsprechend weist die Liste des Bundesjustizministeriums keine einzige Entscheidung auf, deren Tenor Nichtigerklärung und Gesetzgebungsauftrag enthält.90 Etwas komplizierter gestaltet sich die Situation bei der Vereinbarerklärung. Ist die Lage tatsächlich noch verfassungsmäßig, kann sich eine Gesetzgebungspflicht lediglich aus nicht erfülltem Verfassungsauftrag ergeben. Streitgegenstand des Normenkontrollverfahrens ist aber nur die Prüfung der Norm auf ihre Verfassungsmäßigkeit. Ein gleichwohl ergehender Appell wird sich daher grundsätzlich nicht in der Entscheidungsformel, sondern als obiter dictum im Begründungsteil der Entscheidung finden. Ähnliches gilt für den Fall der Vereinbarerklärung bei objektiv vorliegender Verfassungswidrigkeit. Die Verfassungswidrigkeit mit der inzident enthaltenen Verpflichtung aus Art. 20 Abs. 3 GG wird gerade nicht im Tenor der Entscheidung festgestellt. Auch hier kann ein Appell grundsätzlich nur in Form eines obiter dictums ergehen. Gleichwohl enthalten annähernd 50% der Vereinbarerklärungen Gesetzgebungsaufträge in der Entscheidungsformel. 91 Dieser Befund läßt sich nur mit der besonderen Funktion der Appellentscheidung im engeren Sinne erklären. Das Bundesverfassungsgericht sieht sich teilweise aus rechtlichen oder auch aus tatsächlichen Gründen gehindert, eine Norm für verfassungswidrig zu erklären. Die Vereinbarerklärung wird in derartigen Fällen häufig mit der mangelnden subjektiven Vorwerfbarkeit des objektiven Verstoßes begründet. Verzichtet das Bundesverfassungsgericht aber darauf, die Verfassungswidrigkeit auszusprechen, besteht selbstverständlich ein Bedürfnis, die Beseitigung des objektiven Verfassungsverstoßes sicherzustellen. Ein verbindlicher Auftrag im Tenor der Entscheidung garantiert dies weit besser als ein obiter dictum. Der ausdrückliche Appell in der Entscheidungsformel ersetzt beim Verzicht auf die Unvereinbarerklärung den zumindest konkludent in dieser Tenorierungsform enthaltenen und damit verbindlichen Auftrag, die verfassungswidrige Lage zu beseitigen. Grundlage des Appells ist trotz der Vereinbarerklärung die Verpflichtung aus Art. 20 Abs. 3 GG, die an den objektiven Verfassungsverstoß anknüpft. 92 Die vier oben zitierten Entscheidungen, die Vereinbarerklärung und Appell im Tenor verbinden, bestätigen diese Einschätzung: 90
Das güt auch für die Liste auf dem Stand vom 23.9.1991.
91
BVerfGE 65, 1,3; E 53,257,258; E 68, 155, 156; E 78, 249, 251.
92
Vgl. schon oben S. 45.
102
. Kapitel: R e c h t s g e
der Gesetzgebungsaufträge
In der Entscheidung zum Versorgungsausgleich vom 28.2.198093 und zur Ausgleichsabgabe zum Abbau von Fehlsubventionierungen im Wohnungswesen vom 8.6.198894 führen objektive Mängel nicht zur Nichtig- bzw. Verfassungswidrigerklärung. Da es sich um die Regelung schwieriger und komplexer Sachverhalte handele, seien die Mängel dem Gesetzgeber erst nach Ablauf eines Nachbesserungs- bzw. Anpassungsspielraums vorwerfbar. 95 Eine entsprechende Berufung des Gesetzgebers auf seinen Anpassungs- und Nachbesserungsspielraum wies das Bundesverfassungsgericht in dem Beschluß vom 17.10. 1984 zur Erstattung von Fahrgeldausfällen beim unentgeltlichen Transport Schwerbehinderter 96 ausdrücklich zurück. Die pauschale Erstattungsregelung gem. § 60 Abs. 1 und 4 des Schwerbehindertengesetzes in der Form der Bekanntmachung vom 8.10.1979 habe von Anfang an einer ergänzenden Härteregelung bedurft, da die Möglichkeit von Härtefällen schon bei Erlaß der Regelung absehbar gewesen sei.97 Der Gesetzgeber hatte den Verstoß durch den neueingefügten § 60 Abs. 5 Schwerbehindertengesetz nur mit Wirkung ab dem 1.4.1984 beseitigt. Für den Entscheidungszeitraum lag somit ein Verfassungsverstoß vor. Das Bundesverfassungsgericht verzichtete wohl deshalb auf eine Verfassungswidrigerklärung, weil der Verstoß durch die inzwischen erfolgte Nachbesserung zeitlich sehr begrenzt war und weil eine "vergleichsweise Bereinigung" möglich schien.98 Statt dessen erklärte das Gericht § 60 Abs. 1 und 4 auch in der Fassung vom Oktober 1979 für verfassungsgemäß und forderte den Gesetzgeber im Tenor der Entscheidung lediglich zu einer ergänzenden Härteregelung auf. Auch im Volkszählungsurteil vom 15.12. 1983" verzichtete das Bundesverfassungsgericht auf die VerfassungsWidrigerklärung der § 2 Nr. 1-7 und der §§ 3-5 des Volkszählungsgesetzes 1983. Die Vorschriften genügten zwar nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Organisation und das Verfahren der Erhebung, seien aber dennoch im wesentlichen mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar. 100 Entscheidend für den Verzicht auf die Unvereinbar- bzw. Nichtiger93
BVerfGE 53, 257.
94
BVerfGE 78, 249.
95
BVerfGE 52, 257, 312 f; E 78,249,287 f.
96
BVerfGE 68, 155, 174.
97
BVerfGE 68, 155, 174.
98
BVerfGE 68, 155, 175.
99
BVerfGE 65, 1.
100
BVerfGE 65, 1,58 ff.
Β. Rechtsfolgenuntersuchung
103
klärung zugunsten einer Vereinbarerklärung mit Nachbesserungsauftrag im Tenor dürfte aber auch die politische Dimension des Urteils gewesen sein. Das Gericht weist ausdrücklich auf die spezielle Implementationsproblematik von Gesetzen zur Datenerhebung hin. 101 Deren erfolgreiche Durchführung sei vom Vertrauen der auskunftspflichtigen Bürger in die Verfassungsmäßigkeit des Erhebungsverfahrens abhängig.102 Eine Nichtigerklärung hätte in dieser Situation die Implementation des Volkszählungsgesetzes sehr viel weitreichender erschwert als eine grundsätzliche Vereinbarerklärung verbunden mit dem Auftrag nachzubessern. Es bleibt somit festzuhalten, daß sich verbindlich festgestellte Gesetzgebungsaufträge vor allem in den Verfahren gegen gesetzgeberisches Unterlassen und bei Unvereinbarerklärung finden. Nicht zwingend, aber doch aus Sinn und Zweck begründbar, enthalten auch Normenkontrollentscheidungen, die die überprüfte Norm für verfassungsmäßig erklären, verbindliche Feststellungen von Gesetzgebungsaufträgen in der Entscheidungsformel. Die Verbindlichkeit der Feststellung beschränkt sich jeweils auf die Gesetzgebungspflicht. Angaben zur inhaltlichen Gestaltung der geforderten Regelung finden sich nicht in der Entscheidungsformel, sondern ergehen als obiter dicta in den Gründen. Der Verweis auf die Regelungsvorgaben im Tenor der Entscheidung103 erstreckt dessen Bindungswirkung nicht auf die Gründe. 104 Regelungsvorgaben entfalten daher keine Bindungswirkung gegenüber dem Gesetzgeber. 2. Prozeßrechtliche Rechtsfolgen der Fristsetzung
a) Begrenzung der Bindungswirkung Während die prozeßrechtliche Rechtsfolge des Appells in der Entscheidungsformel die verbindliche Feststellung der Gesetzgebungspflicht gegenüber der Legislative ist, begrenzt die Fristsetzung die Bindungswirkung der Entscheidung.105 Es geht allerdings nicht darum, die Verbindlichkeit zu beschränken, mit der das Bundesverfassungsgericht die Gesetzgebungspflicht gegenüber der Legislative feststellt. Eine derartige Begrenzung läge auch kaum im Inter101
BVerfGE 65, 1,50.
102
BVerfGE 65, 1,50.
103
Vgl. zum Beispiel BVerfGE 65, 1, 3.
104
Vgl. zur "Kopplungsklausel" bereits oben S. 92.
105 Pohle, Verfassungs widrigerklärung, S. 1297, 1301.
S. 160 ff; Schef old/ Le ske, NJW
1973,
104
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der Gesetzgebungsaufträge
esse des Gerichtes.Vielmehr soll es trotz der Bindungswirkung der Entscheidung möglich sein, dem Gericht nach Ablauf der Frist dieselbe Rechtsfrage erneut vorzulegen. Das Gericht selbst ist in diesem Fall ebenfalls nicht mehr an seine frühere Entscheidung gebunden.106 Besondere Bedeutung kommt dieser Funktion der Fristsetzung im Rahmen der Appellentscheidung im engeren Sinne zu. Das Bundesverfassungsgericht zieht teilweise die Vereinbarerklärung mit Appell einer Unvereinbarerklärung vor, obwohl die Regelung bereits objektiv verfassungswidrig ist. In den übrigen Fällen handelt es sich um Verfassungsaufträge, deren Nichterfüllung nach Ablauf einer gewissen Zeit ebenfalls einen Verfassungsverstoß begründet. Bindungswirkungen der Entscheidung in Form von Rechtskraft, Gesetzeskraft oder Bindungswirkung gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG sind zeitlich durch die Änderung des Prüfungsgegenstandes oder des Prüfungsmaßstabes begrenzt. 107 Mit der Fristsetzung konkretisiert das Bundesverfassungsgericht die zeitlichen Grenzen der Bindungswirkungen. Nach Fristablauf sind der objektive Verstoß und die Nichterfüllung des Verfassungsauftrages dem Gesetzgeber auch subjektiv vorwerfbar. Das Gericht ist nicht gezwungen, die Norm erneut für vereinbar zu erklären, wenn es nach Ablauf der Frist mit der gleichen Fragestellung befaßt wird. Grundsätzlich anders stellt sich die Situation im Fall der Unvereinbarerklärung dar. Ein Bedürfnis, die Tenorierungsform nach Ablauf der Bindungswirkung zu ändern, wird nur ausnahmsweise bestehen. Die Unvereinbarerklärung ergeht in der Regel, wenn die besondere Situation eine Nichtigerklärung ausschließt. Dabei sei nur an die Fälle gleichheitswidriger Normenrelation erinnert. Auch die erneute Sachentscheidung nach Fristablauf kann nicht zur Nichtigerklärung der Norm führen. Sie ermöglicht es dem Bundesverfassungsgericht jedoch, nunmehr eine eigene Übergangsregelung zu treffen. 108 Im Fall der Nichtigerklärung besteht demgegenüber kein Grund für das Bundesverfassungsgericht, die Bindungswirkung seiner Normenkontrollentscheidung durch eine Frist zu begrenzen. Eine gleichwohl gesetzte Frist kann sich nur auf einen möglichen Verfassungsauftrag zur Lückenfüllung beziehen. Spricht man somit der Fristsetzung als prozeßrechtliche Rechtsfolge die Begrenzung der Bindungs wirkungen von Unvereinbar- und Vereinbarerklärungen zu, so wird man diese Wirkung entgegen der Ansicht Pohles m auf Fristen im Tenor der Entscheidung beschränken müssen. Dabei gibt nicht die Bindung 106
Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 160 f.
107
Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 233 f, 245 und 253.
108
Pohle, aaO, S. 163.
109
Pohle, aaO, S. 157 f.
Β. Rechtsfolgenuntersuchung
105
Dritter den Ausschlag, sondern die Selbstbindung des Gerichtes. Diese folgt ausschließlich aus der Rechtskraftwirkung der Entscheidungsformel. Bestimmt der Tenor positiv die Bindung des Gerichtes, muß die Möglichkeit, die Wirkung zu begrenzen, ebenfalls auf den Tenor der Entscheidung beschränkt sein. Als Beispiel für die Begrenzung der Bindungswirkung durch Fristsetzung kann die schon erwähnte Entscheidung zur Fehlbelegungsabgabe im Wohnungswesen vom 8.6.1988 110 dienen. Trotz einer objektiven "Ungleichbehandlung wesentlich gleichgelagerter Sachverhalte"111 erklärt das Bundesverfassungsgericht § 1 Abs. 4 des Gesetzes über den Abbau von Fehlsubventionierungen im Wohnungswesen für noch mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Dem Gesetzgeber sei ein Anpassungsspielraum zuzugestehen, da es sich um eine komplexe und schwierige Ordnung von Massenerscheinungen handle.112 Die Ungleichbehandlung durch die Begrenzung der Fehlbelegungsabgabe auf Gemeinden mit mehr als 300.000 Einwohnern und auf Gemeinden, die mit solchen einen einheitlichen Wirtschaftsraum bilden, sei aber nur noch bis zum 1. Januar 1990 hinzunehmen.113 Der Gesetzgeber sei "...verpflichtet, spätestens mit Wirkung ab dem 1. Januar 1990 eine Neuregelung zu treffen, die den Anforderungen von Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes genügt".114 Das Bundesverfassungsgericht macht mit dieser Fristsetzung deutlich, daß die Bindungswirkungen der Vereinbarerklärung auf die Zeit bis zum 1.1.1990 begrenzt sind. Auf erneute Vorlage nach diesem Zeitpunkt würde das Gericht die Vorschrift wohl nicht mehr für mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar erklären. b) Begrenzung der weiteren Anwendbarkeit einer Norm Neben dem Einfluß auf die Bindungswirkung kann die Fristsetzung auch insofern prozeßrechtliche Rechtsfolgen haben, als sie die weitere Anwendbarkeit einer für verfassungswidrig erklärten Norm zeitlich begrenzt. Auf die Frage der Aussetzungspflicht nach Unvereinbarerklärung soll hier nicht näher eingegangen werden. 115 Es handelt sich um ein prinzipielles Pro110
BVerfGE 78, 249.
111
BVerfGE 78, 249, 287.
112
BVerfGE 78, 249, 287 f.
113
BVerfGE 78, 249, 288 f.
114
BVerfGE 78, 249, 251.
115
Hier sei auf die einschlägigen Ausführungen verwiesen bei Maurer, Verfassungswidrigerklärung, FS Weber, S. 361 f; Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht bei festgestellter Verfassungswidrigkeit von Gesetzen?, S. 58 ff und passim; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 181 ff; Hoffmann-Riem, DVB1. 1971, S. 842, 843
106
. Kapitel: R e c h t s g e
der Gesetzgebungsaufträge
blem der Unvereinbarerklärang, nicht dagegen um eine Rechtsfolge des Appells. Grundsätzlich gilt, daß die verfassungswidrige Norm nach der Unvereinbarerklärung nicht mehr angewandt werden darf. Ausnahmsweise ist allerdings die Weiteranwendung der Norm geboten, wenn die Anwendungssperre zu einem Zustand führen würde, der mit der verfassungsmäßigen Ordnung noch weniger zu vereinbaren wäre. 116 Die weitere Anwendbarkeit der Norm kann jedoch nur "...das Ergebnis eines höchst einzelfallbezogenen Abwägungsvorganges..."117 sein. Erklärt das Bundesverfassungsgericht eine Norm übergangsweise für weiterhin anwendbar, dient die Frist, die das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit dem Appell setzt, häufig dazu, die weitere Anwendbarkeit zeitlich zu begrenzen. Die Zeitspanne, die das Gericht dem Gesetzgeber einräumt, um die Verpflichtung aus Art. 20 Abs. 3 GG zur Beseitigung der verfassungswidrigen Lage zu erfüllen, deckt sich mit der weiteren Anwendbarkeit. In seinem Urteil vom 24.6.1986 zum Länderfinanzausgleich 118 erklärt das Bundesverfassungsgericht die Vorschriften des Zweiten Abschnittes des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern für unvereinbar mit Art. 107 Abs. 2 GG. Der Gesetzgeber sei "...verpflichtet, mit Wirkung spätestens für das Haushaltsjahr 1988 eine Neuregelung zu treffen. Bis zum Inkrafttreten dieser Neuregelung sind die geltenden Vorschriften des Zweiten Abschnitts des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern weiter anzuwenden."119 Das Urteil vom 3.11.1982 zur Besteuerung alleinerziehender Elternteile 120 stellt die Unvereinbarkeit von § 32a des Einkommenssteuergesetzes mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG fest. Wohl nicht zuletzt, um empfindliche Steuerausfälle zu vermeiden, erklärt das Gericht die gem. § 32a EStG geltende Grundtabelle "...bis zur gesetzlichen Neuregelung, längstens bis zum 31. Dezember 1984, im Wege der vorläufigen Festsetzung der Einkommenssteuer..." weiterhin für anwendbar auf alleinerziehende Elternteile. 121
ff; Pestalozzi "Noch verfassungsmäßige" und "bloß verfassungswidrige" Rechtslagen, S. 562 ff. U 6
Hein, Unvereinbarerklärung, S. 191.
117
Hein, aaO, S. 194.
Zu den einzelnen Gesichtspunkten, die zu berücksichtigen sind, vgl. Hoffmann-Riem, DVB1. 1971, S. 846 f; Maurer, Verfassungswidrigerklärung, FS Weber, S. 365 f; Hein, aaO, S. 191 ff; Pestalozza, aaO, S. 564 f. 118
BVerfGE 72, 330.
119
BVerfGE 72, 330, 333.
120
BVerfGE 61, 319.
121
BVerfGE 61, 319, 321.
Β. Rechtsfolgenuntersuchung
107
Zusammenfassend bleibt somit festzuhalten: In materieller Hinsicht haben Gesetzgebungsaufträge weder isoliert noch in Verbindung mit einer Frist Rechtsfolgen. Prozeßrechtlich führt der Appell im Tenor der Entscheidung zu einer für die Legislative verbindlichen Feststellung der Gesetzgebungspflicht. Verbindet das Bundesverfassungsgericht den Appell im Tenor der Entscheidung mit einer Frist, so hat das prozeßrechtlich zwei unterschiedliche Rechtsfolgen. Zum einen werden die Bindungswirkungen der Entscheidung auf den Ablauf der Frist begrenzt. Nach Fristablauf kann das Bundesverfassungsgericht auf erneuten Anruf von seiner früheren Vereinbarerklärung abweichen oder eine Unvereinbarerklärung mit einer eigenen Übergangsregelung verbinden. Der Übergang von der Unvereinbarerklärung zur Nichtigerklärung wird dagegen allenfalls in Ausnahmefällen möglich sein. Zum anderen kann die Frist auch die weitere Anwendbarkeit einer Norm im Anschluß an die Unvereinbarerklärung zeitlich begrenzen.
III. "Der Gesetzgeber" als verpflichtbares Subjekt Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungsgerichtes konkretisieren eine verfassungsrechtliche Gesetzgebungspflicht. Ergeht der Appell im Tenor der Entscheidung, wird die Verpflichtung verbindlich festgestellt. Die Pflicht zur Gesetzgebung und ihre teilweise verbindliche Feststellung legen die Frage nach dem Adressaten von Verpflichtung und Bindungswirkung nahe. In seiner Entscheidung vom 20. 5. 1957 122 spricht das Bundesverfassungsgericht von "dem Gesetzgeber" als verfassungsmäßig verpflichtbarem Organ. 123 Tatsächlich existiert jedoch kein einzelnes Organ, das die Gesetzgebungsaufgaben als "der Gesetzgeber" allein wahrnehmen könnte. Die Gesetzgebungsfunktion wird von mehreren Verfassungsorganen in dem verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Gesetzgebungsverfahren ausgeübt. Unter "dem Gesetzgeber" sind demnach alle "...nach dem GG an der förmlichen Normsetzung als Initiatoren und Beschluß- bzw. Mitwirkungsgremien beteiligten Verfassungsorgane wie Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat und Bundespräsident..."124 zu ver-
122
BVerfGE 6, 257.
123
BVerfGE 6, 257, 264.
124
Jekewitz, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, Der Staat 19 (1980), S. 535 ff, S. 539.
108
. Kapitel: R e c h t s g e
der Gesetzgebungsaufträge
stehen. Diese Organe sind Adressaten der Gesetzgebungspflicht. 125 Der konkrete Inhalt ihrer Verpflichtung richtet sich nach der jeweiligen Aufgabe im Gesetzgebungsverfahren. Initiativberechtigt und damit im Fall der Gesetzgebungspflicht auch initiativverpflichtet sind gem. Art. 76 Abs. 1 GG die Bundesregierung, der Bundesrat und die Mitglieder des Bundestages.126 Die genannten Organe trifft eine konkurrierende Verpflichtung. Da die Mitglieder des Bundestages und der Bundesrat im Vergleich zur Bundesregierung nicht über die erforderlichen "Spezialkenntnisse und Hilfsmittel" verfügen bzw. nach "Struktur und Funktion" weniger geeignet sind, Gesetzesvorlagen auszuarbeiten, ist die Bundesregierung als "Hauptträger der Initiativpflicht" anzusehen.127 Im anschließenden Beschlußverfahren trifft den Bundestag die Verpflichtung, das Gesetzgebungsverfahren zu beschleunigen und sachlich zu fördern. 128 Einer Pflicht gleichen Inhalts unterliegt auch der Bundesrat im Rahmen seiner Mitwirkung am Gesetzgebungsverfahren. 129 Im Gegensatz zu den bisher genannten Initiativ- und Förderungspflichten ergeben sich die Pflicht der Bundesregierung zur Gegenzeichnung und des Bundespräsidenten zur Ausfertigung und Verkündung nach Ansicht Ritters nicht aus der festgestellten Gesetzgebungspflicht, sondern bereits aus Art. 82 Abs.l S. 1 GG. 1 3 0 Ritter ist insofern zuzustimmen, als es wegen Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG tatsächlich keiner speziellen Verpflichtung im Einzelfall mehr bedarf, um die Durchführung des Gesetzgebungsauftrages zu sichern. Andererseits ist nicht einzusehen, warum die Reichweite der Gesetzgebungspflicht auf die Mitwirkung des Bundesrates beschränkt sein sollte, obwohl auch die ab-
125
Wienholt ζ , Normative Verfassung, S. 37.
An anderer Stelle (S. 25) spricht Wienholtz demgegenüber mißverständlich von der einfachen Gesetzgebung als Adressatin der Gesetzgebungsaufträge. Adressat einer Verpflichtung kann jedoch niemals eine Funktion, sondern nur ein Subjekt sein. Auch in Art. 20 Abs. 3 GG ist die durch die verfassungsmäßige Ordnung gebundene "Gesetzgebung" nicht als Gesetzgebungsfunktion zu verstehen. Gemeint sind vielmehr die Gesetzgebungsorgane, vgl. M/D/HIS-Herzog zu Art. 20, VI. Kapitel, Rz. 8 und 15. 126 Eine Gesetzesvorlage aus der Mitte des Bundestages setzt gem. § 97 Abs. 1 GeschO BT voraus, daß die vorlegende Gruppierung mindestens Fraktionsstärke erreicht. Die einzelnen Mitglieder des Bundestages sind in ihrer Eigenschaft als Organteile verpflichtet. Das initiativberechtigte Organ wird erst durch die gesamte Gruppierung gebüdet, Ritter, Verfassungsrechtliche Gesetzgebungspflichten, S. 130. 127 Ritter, aaO, S. 132 mwN. Gegen eine Monopolisierung der Initiativpflicht ausdrücklich auch Wienholtz, aaO, S. 38 128
Ritter, aaO, S.132f.
129
Ritter, aaO, S.133.
130
Ritter, aaO, S.133.
Β. Rechtsfolgenuntersuchung
109
schließenden Beiträge der Bundesregierung und des Bundespräsidenten zum Gesetzgebungsverfahren gehören und fur das Inkrafttreten der Regelung erforderlich sind. Verneint man die Zäsur in der Wirkung der Gesetzgebungspflicht, sind Bundesregierung und Bundespräsident zusätzlich zum allgemeinen Art. 82 Abs 1 S. 1 GG aus dem speziellen Gesetzgebungsauftrag verpflichtet, die abschließenden Verfahrensschritte durchzuführen. Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG liefe dadurch keineswegs leer, sondern behielte Bedeutung für den Normalfall des Gesetzgebungsverfahrens, dem keine Gesetzgebungspflicht zugrundeliegt. Erstreckt sich somit die Gesetzgebungspflicht auf sämtliche Verfassungsorgane, die am Gesetzgebungsverfahren beteiligt sind, so kann für die Bindungswirkung des Auftrages nichts anderes gelten. Wenn das Bundesverfassungsgericht die Gesetzgebungspflicht auch für "den Gesetzgeber" verbindlich im Tenor der Entscheidung feststellt, sind alle Gesetzgebungsorgane an diese Feststellung gebunden.131 Der Gesetzgeber ist demnach insofern Adressat der Verpflichtung und der Bindungswirkung, als sämtliche am Gesetzgebungsverfahren beteiligte Verfassungsorgane anstelle eines nicht existierenden einheitlichen Gesetzgebungsorgans verpflichtet und gebunden werden. Die Bezeichnung "der Gesetzgeber" faßt die einzelnen von der Gesetzgebungspflicht betroffenen Subjekte auf der Adressatenseite lediglich zusammen.
131 Zu Recht wird daraufhingewiesen, daß die Feststellung verfassungswidrigen Unterlassens nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die übrigen Initiativberechtigten bindet, M/S-B/K/Ü-Maunz, zu § 31 Rz. 24.
3. Kapitel
Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge Die vorangehenden Ausführungen beschäftigen sich mit der rechtlichen Zulässigkeit und den Rechtsfolgen von Gesetzgebungsaufträgen. Appelle des Bundesverfassungsgerichtes sind danach grundsätzlich zulässig, sofern sie eine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Gesetzgebers konkretisieren. Rechtliche Bedenken bestehen allerdings gegenüber der Praxis des Gerichtes, Appelle mit Regelungsvorgaben zu verbinden. Als tendenziell unzulässig sind inhaltliche Vorgaben anzusehen, die sich auf die Angabe einer Regelungsmöglichkeit beschränken. In bezug auf die Rechtsfolgen von Appellen ist insbesondere deren weitgehende Unverbindlichkeit hervorzuheben. Lediglich die Feststellung der Gesetzgebungspflicht im Tenor der Entscheidung bindet die Legislative. Appelle finden sich aber häufig in den Entscheidungsgründen, Regelungsvorgaben sogar regelmäßig. Die fehlende Verbindlichkeit der Feststellung und die rechtlichen Bedenken gegenüber der Zulässigkeit inhaltlicher Vorgaben lassen Probleme bei der Umsetzung der Aufträge durch den Gesetzgeber erwarten. Da das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidungen nicht durch eigene Vollzugsorgane ausführen lassen kann, ist es auf die Folgebereitschaft der Umsetzungsakteure angewiesen.1 Partielle Zweifel an der Zulässigkeit und die begrenzte Verbindlichkeit der Gesetzgebungsaufträge fördern die Bereitschaft des Gesetzgebers, die Aufträge umzusetzen, jedenfalls nicht. Dementsprechend warnt Diekmann das Bundesverfassungsgericht, durch "verkappte Handlungsanweisungen" "unter dem Tarnmantel der Rechtsentscheidung" in den Bereich der Gesetzgebung
1
Gawron/Rogowski, Normenkontrolle, S. 351; dies., Implementation von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen - Die intergerichtliche Kommunikation, in: Implementation von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen, hrsg. von Blankenburg/Voigt unter Mitarbeit von Gawron!Rogowski, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 11 (1987), S. 352-383, S. 352; ebenso Hugger, Gesetze - Ihre Vorbereitung, Abfassung und Prüfung, S. 80.
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
111
einzugreifen. Das Gericht gefährde letztlich seine eigene Existenz.2 Auch Rupp-von Brünneck und Simon weisen auf die Gefahr hin, die der Verfassungsgerichtsbarkeit droht, wenn das Gericht "...der Versuchung [erliegt], selbst die Funktion des zu kontrollierenden Organs zu übernehmen...".3 Derartige Warnungen knüpfen in erster Linie an die verfassungsrechtlichen Bedenken an, die die Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge in Frage stellen. Aber selbst wenn der Appell verfassungsrechtlich zulässig ist, besteht die Gefahr des Akzeptanzverlustes, wenn das Gericht auf die eigenständige Beseitigung verfassungswidriger Rechtslagen zugunsten einer Einflußnahme auf die Rechtsfolgenabwicklung verzichtet. Je mehr das Bundesverfassungsgericht zur Verwirklichung seiner Ziele andere Akteure einsetzt, desto größer ist das Risiko des Gerichtes, enttäuscht zu werden. Eine solche Enttäuschung kann sich nachteilig auf die Akzeptanz künftiger Aufträge des Bundesverfassungsgerichtes auswirken.4 Ipsen betont, daß schon die "zunehmende Variabilität", mit der das Gericht versucht, Einfluß auf die Rechtsfolgenabwicklung zu nehmen, auf lange Sicht die Legitimation der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung mindert und ihre Funktion qualitativ verändert.5 Die Legitimation, verstanden als die "...generalisierte Bereitschaft, eine Entscheidung aus bestimmten Gründen zu akzeptieren...",6 sei abhängig von der methodischen Bestimmtheit der Entscheidung.7 Die "...Ungebundenheit auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite...", die das Gericht für sich in Anspruch nimmt und die damit einhergehende zunehmende Flexibilisierung der Entscheidungen, machen diese weitgehend unberechenbar.8 Die Akzeptanz der Entscheidungen beim Gesetzgeber droht entsprechend dem Maß ihrer Vorhersehbarkeit zu sinken.
2 Diekmann, Bemerkungen zum Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 29.1.1969, 1 BvR 26/66, FamRZ 1969, S. 297 ff, S. 303 f; vgl. auch Lorenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 428. 3 Rupp-von Brünneck/Simon, BVerfGE 39, 68, 70.
Sondervotum
zur
Fristenlösungsentscheidung,
4 Vgl. auch Sachs, NVwZ 1982, S. 657, 661; Schef old/ Leske, NJW 1973, S. 1297, 1303 weisen in diesem Zusammenhang auf die negativen Folgen für die Autorität des Gerichtes hin, die die Nichteinhaltung einer gesetzten Frist durch den Gesetzgeber zeitigt. 5
Ipsen, Rechtsfolgen, S. 206 fund 220.
6
Ipsen, Rechtsfolgen, S. 198 mit Verweis auf Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 28. Luhmann definiert Legitimität "...als eine generalisierte Bereitschaft, inhaltlich noch unbestimmte Entscheidungen innerhalb gewisser Toleranzgrenzen hinzunehmen." 7
Ipsen, aaO, S. 206.
8
Ipsen, aaO, S. 220.
112
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
Schließlich mahnt auch Vogel das Gericht zur Zurückhaltung.9 Das Gericht gefährde seine Autorität und seine Befriedungsfunktion, wenn es "...ohne Not zu Fragen Stellung [nehme], die es auch auf sich hätte beruhen lassen können".10 Dabei warnt Vogel insbesondere vor "...detaillierten Anweisungen an den Gesetzgeber..." zur Rechtsfolgenabwicklung, vor obiter-dicta und vor Streitgegenstandsüberschreitungen. 11 Bedenken in bezug auf die Umsetzung von Gesetzgebungsaufträgen ergeben sich demnach in zweierlei Hinsicht: Zulässigkeitszweifel und teilweise Unverbindlichkeit gefährden die Umsetzung des konkreten Gesetzgebungsauftrages. Wird ein Auftrag im Einzelfall nicht ausgeführt, hat das zugleich Konsequenzen für die generelle Akzeptanz künftiger Aufträge. Das Bundesverfassungsgericht verliert gegenüber dem Gesetzgeber an Autorität. In gleicher Weise wirkt sich das Risiko der Erwartungsenttäuschung aus, das unabhängig von den rechtlichen Problemen bereits durch die Inanspruchnahme des Gesetzgebers begründet wird. Legitimationsverluste durch Entscheidungsflexibilisierung betreffen dagegen unmittelbar die generelle Ebene. Gleichwohl werden sich natürlich auch die letztgenannten Akzeptanzdefizite in Form von Umsetzungsproblemen im Einzelfall äußern. Daß derartige Bedenken nicht ganz unbegründet sind, sei vorläufig nur durch ein Beispiel veranschaulicht: Bereits in seinem Beschluß vom 23.10.195812 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, daß Art. 6 Abs. 5 GG einen bindenden Auftrag an den Gesetzgeber ausspricht. Der Gesetzgeber habe "...durch eine Reform den unehelichen Kindern die gleichen Bedingungen für ihre Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern."13 Auch wenn die Verfassung keine ausdrückliche Frist setze, liege der Erfüllungszeitpunkt "...nicht im freien Belieben des Gesetzgebers."14 Der Gesetzgeber verletze vielmehr die Verfassung, wenn er dem Verfassungsauftrag nicht in angemessener Frist nachkomme.15
9 Vogel, DÖV 1978, S. 665, 667. Vogel war zu dieser Zeit amtierender Bundesjustizminister. 10
Vogel, DÖV 1978, S. 665,667 f.
11
Vogel, aaO, S. 667 f.
12
BVerfGE 8, 210.
13
Rupp-von Brünneck, Verfassung und Verantwortung, S. 273.
14
BVerfGE 8, 210, 216.
15
BVerfGE 8, 210, 216.
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
113
Fünf Jahre später16 wies das Gericht den Gesetzgeber erneut auf seine Verpflichtung aus Art. 6 Abs. 5 GG hin. 17 Es vergingen jedoch weitere vier Jahre, ehe die Bundesregierung dem Parlament den Entwurf eines Reformgesetzes vorlegte.18 Dessen Verabschiedung scheiterte zunächst an gegensätzlichen Positionen vor allem zu erbrechtlichen Fragen.19 In dieser Situation bot sich dem Bundesverfassungsgericht erneut die Gelegenheit, zur Umsetzung des Verfassungsauftrages aus Art. 6 Abs. S GG Stellung zu nehmen. In seiner bekannten Entscheidung vom 29.1.196920 setzte das Gericht dem Gesetzgeber im Gegensatz zum erstgenannten Beschluß vom 23.10.1958 eine ausdrückliche Frist zur Erfüllung des Auftrages. Der mittlerweile 20 Jahre alte Verfassungsauftrag 21 sei spätestens bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode, das heißt bis zum Herbst 1969 umzusetzen. Nach Ablauf dieser Frist müsse Art. 6 Abs. 5 GG unmittelbar durch die Gerichte aktualisiert werden.22 "Die Verfassungsnorm [erlange] insofern derogierende Kraft gegenüber entgegenstehendem einfachem Recht."23 Erst dieser letzte Appell führte zur Verabschiedung des Reformgesetzes noch vor Ablauf der gesetzten Frist. 24 Da die theoretischen Ausführungen Anlaß geben, an der problemlosen Umsetzung von Gesetzgebungsaufträgen zu zweifeln und sich derartige Bedenken - wie das Beispiel zeigt - nicht von vornherein als gegenstandslos zurückweisen lassen, soll die Umsetzung der Appelle im folgenden näher untersucht werden. Es geht dabei nicht allein um den Umsetzungserfolg, sondern auch und vor allem um den Umsetzungsprozeß. Letzterer rückt gerade dann in den Mittelpunkt des Interesses, wenn sich zeigen sollte, daß Umsetzungsprobleme im Ergebnis trotz der genannten Bedenken die Ausnahme bleiben. Ein solcher Befund ließe sich aus den Bedingungen des Umsetzungsprozesses erklären. Allerdings handelt es sich bei der Beschreibung rechtstatsächlicher Umsetzungsprozesse weniger um eine juristische, als vielmehr um eine politologische
16
Beschluß vom 29.10.1963, BVerfGE 17,148.
17
BVerfGE 17, 148, 155.
18
Regierungsvorlage des Entwurfs eines Gesetzes über die rechtliche Stellung der unehelichen Kinder vom 7.12.1967, BT-Drs. V/2370. 19
Rupp-von Brünneck, Verfassung und Verantwortung, S. 273.
20
BVerfGE 25, 167.
21
Die konkretisierenden Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungsgerichtes lagen auch bereits 10 bzw. 5 Jahre zurück. 22
BVerfGE 25, 167, 167 und 188.
23
BVerfGE 25, 167, 167.
24
Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder vom 19.8.1969, BGBl. 19691, S. 1243. 8 Kleuker
114
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
Materie. Die Untersuchung soll deshalb auf der Grundlage des politikwissenschaftlichen Implementationsansatzes durchgeführt werden.
A. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge und ihrer Umsetzung I. Geschichte und grundlegende Begrifflichkeit des Implementationsansatzes Der Implementationsansatz wurde zu Beginn der 70er Jahre von der amerikanischen Politikwissenschaft entwickelt.25 Auslöser war das Fehlschlagen sozialpolitischer Programme zur Bekämpfung der Armut in den Vereinigten Staaten.26 Die wissenschaftliche Politikberatung durch Policy Analyse27 beschränkte sich zur damaligen Zeit auf Evaluations- und Impact- bzw. Effektivitätsforschung. Beiden Ansätzen ist gemein, daß sie die tatsächliche Wirkung eines Programms mit seinem ursprünglich verfolgtem Ziel vergleichen.28 Die Effektivitätsforschung mißt vorwiegend die Wirkung bei den Programmadressaten, während der Evaluationsansatz auch "...SystemWirkung, Wertewirkungen und reflexive Wirkungszusammenhänge - d.h. Rückwirkungen auf den Programmsetzer -..." berücksichtigt.29 Ein Auseinanderfallen von intendierter und tatsächlich eingetretener Wirkung können beide Ansätze zwar feststellen, aber nicht erklären. 30 Darin lag der grundlegende Mangel der damaligen Policy Analyse. Die Politikwissenschaft reagierte mit der Entwicklung des Imple-
25
Windhoff -Héritier, Politikimplementation: Ziel und Wirklichkeit politischer Entscheidungen, S. 9 mit Verweis auf die einschlägige amerikanische Literatur. Eine ausführliche Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Implementationsforschung findet sich auch bei Wollmann, Implementationsforschung - eine Chance für kritische Verwaltungsforschung, in: Wollmann (Hrsg.), Politik im Dickicht der Bürokratie, S. 9 ff, S. lOff. 26
Windhojf -Héritier, schung, S. 14.
Politikimplementation, S. 8, Wollmann,
27 Vgl. umfassend Windhoff insbesondere S. 8 ff.
-Héritier,
Implementationsfor-
Poücy-Analyse, zu Begriff und Entwicklung
28
Mayntz, Die Implementation politischer Programme: Theoretische Überlegungen zu einem neuen Forschungsgebiet, in: Mayntz (Hrsg.), Implementation politischer Programme, S. 236 ff, S. 239. 29 Gawron!Rogowski, Implementation von Programmen des Bundesverfassungsgerichts, in: RaiserIVoigt (Hrsg.), Durchsetzung und Wirkung von Rechtsentscheidungen, S. 226 ff, S. 226. 30
Mayntz, Die Implementation politischer Programme, S. 239.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
115
mentationsansatzes auf den erkannten Mangel. Dieser Ansatz vermeidet die systembedingten Erklärungsdefizite der Evaluations- und Effektivitätsforschung, indem er die Phase der Programmumsetzung schwerpunktmäßig in die Untersuchung einbezieht. Erfolg oder Mißerfolg eines Programms lassen sich begründen, aber auch vorhersehen und damit steuern, wenn die Analyse des politischen Prozesses diesen in seiner Gesamüieit erfaßt. Derartig komplexe Versuche, den Politikzyklus zu beschreiben, finden sich in der Bundesrepublik Deutschland erst seit dem Beginn der 80er Jahre.31 Zunächst wurde der politische Prozeß als Phasenmodell begriffen. Der Prozeß verläuft ausgehend von der Problemartikulation und Problemdefinition über die Politikformulierung zur Umsetzung (Implementation). Am Ende des Prozesses stehen die Politikwirkungen.32 Diese lineare Betrachtung unterscheidet die Progammsetzung durch Problemartikulation und Politikformulierung und die Programmumsetzung als getrennte Phasen des politischen Prozesses.33 Allerdings legen wechselseitige Abhängigkeiten eine gemeinsame Betrachtung beider Phasen nahe.34 Ein solcher Ansatz geht bei der Beschreibung des politischen Prozesses von der Existenz eines fixierten Programms aus. Im Mittelpunkt steht ein "Soll-Ist-Vergleich" zwischen "Auftrag und Durchführungswirklichkeit" und die Erklärung möglicher Diskrepanzen durch den Implementationsprozeß. Es handelt sich um einen "programmorientierten Ansatz".35 Im Gegensatz zu dieser traditionellen Richtung der Implementationsforschung, die sich noch eng an die Evaluationsforschung anlehnt,36 sieht der jüngere "struktur- oder akteurorientierte Ansatz" die Implementation als Prozeß, "in dessen Verlauf ein nur vage definierter Programmauftrag Schritt für Schritt unter Mitwirkung der Durchführenden ausgestaltet wird." 37 Diesem Ansatz liegt die Annahme zugrunde, daß der Implementationsprozeß nur ausnahms31
Mayntz (Hrsg.), Implementation politischer Programme, 1980; Wollmann (Hrsg.)» Politik im Dickicht der Bürokratie, 1980; Windhoff -Héritier , Politikimplementation, 1980; Mayntz (Hrsg.), Implementation politischer Programme Π, 1983; Windhoff -Héritier, Policy-Analyse, 1987. 32 Mayntz (Hrsg.), Die Implementation politischer Programme, S. 236; Windhoff -Héritier, Politikimplementation, S. 17. 33
Vgl. Mayntz, aaO, S. 236,239, aber auch Abbildung S. 238.
34
Wollmann, Implementationsforschung, S. 24; Mayntz, aaO, S. 239. Zu denken ist vor allem an den Einfluß der späteren Akteure auf die Programmformulierung. 35 Windhoff-Héritier, mentationsforschung, S. 23.
Policy-Analyse, S. 86 f mwN. Vgl. auch Wollmann,
36
Windhoff-Héritier
, aaO, S. 91.
37
Windhoff-Héritier,
aaO, S. 87
Imple-
116
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
weise auf der Basis eines klar umrissenen Programms abläuft, das Programmziel und Programmdurchführung bereits abschließend festlegt. 38 Häufig bedarf das Programm noch der Konkretisierung und Operationalisierung. 39 Werden vage Programmziele nachträglich konkretisiert oder wird ein Umsetzungskonzept entworfen, lassen sich derartige Einwirkungen auf das Programm nicht mehr eindeutig der Entwicklungs- oder der Vollzugsphase zuordnen. Programmsetzung und Programmumsetzung gehen ineinander über, eine "dichotome Phasenvorstellung" beschreibt die Realität des politischen Prozesses nur unzureichend.40 Der hier angesprochenen Grenze des programmorientierten Ansatzes steht aber bei gleicher Konstellation ein grundlegender Mangel der prozeßorientierten Betrachtung gegenüber. Ihr Aussagegehalt reduziert sich darauf, die Verknüpfung von Handlungsbeiträgen und ihre kausale Beziehung zur festgestellten Wirkung nachzuzeichnen. Eine derartige Beschreibung hat zwar Bedeutung für die Planung künftiger Programme, da sie Rückschlüsse auf die Implementationsbedingungen zuläßt. Im konkreten Fall versperrt der prozeßorientierte Ansatz aber die Möglichkeit, die Steuerung des politischen Prozesses durch einzelne Akteure darzustellen. Steuerung verlangt Zielsetzung und Programmierung. Wird der gesamte Prozeß bis zum Wirkungseintritt gleichzeitig als Programmsetzung und Programmumsetzung aufgefaßt, kann die Steuerung durch einzelne Akteure nicht nachvollzogen werden. Implementationsprobleme lassen sich ebenfalls nur in bezug auf ein fixiertes Programm definieren. Wenn sich Programmformulierung und Implementation überlagern, kann eine Richtungsänderung im politischen Prozeß alternativ als Implentationsproblem oder als Programmodifikation aufgefaßt werden. Es erscheint daher wenig sinnvoll, den programmorientierten oder den prozeßorientierten Ansatz als allein zureichende Beschreibung des politischen Prozesses anzusehen.41 Keine der beiden Sichtweise ermöglicht eine umfassende Darstellung. Die Wahl der Perspektive hat sich deshalb am Ziel der Un38
Mayntz y Die Entwicklung des analytischen Paradigmas der Implementationsforschung, in: Mayntz (Hrsg.), Implementation politischer Programme, S. 4 und S. 9. 39
Mayntz y aaO, S. 10.
40
Mayntz, aaO, S. 10 und 15 f.
41
Vgl. aber die Kritik, die Pitschasy Staatswissenschaftliche Analyse von Verfassungsgerichtsentscheidungen: Interdisziplinäre Effektivitäts-, Implementations- und Evaluationsforschung als Grundlage einer folgenorientieiten Verwaltungsrechtsdogmatik, in: Raiser/Voigt (Hrsg.), Durchsetzung und Wirkungen von Rechtsentscheidungen, S. 190 ff, S. 205 gegenüber Ebsens linearer Betrachtung der Implementation von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen äußert, Ebsen y Entscheidungsspezifische und adressatenspezifische Durchsetzungsbedingungen der Judikate des Bundesverfassungsgerichts, Raiser/Voigt (Hrsg.), Durchsetzung und Wirkungen von Rechtsentscheidungen, S. 167 ff.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
117
tersuchung zu orientieren. Geht es darum, die Verknüpfung einzelner Handlungsbeiträge in ihrer Ausrichtung auf eine bestimmte Wirkung darzustellen, bietet sich ein struktur- oder akteurorientieter Ansatz an. Steht dagegen die Steuerung des politischen Prozesses durch einen Akteur im Vordergrund, liegt es näher, die Programmsetzerperspektive des traditionellen programmorientierten Ansatzes zu wählen. Der Fall des zunächst vagen, konkretesierungsbedürftigen Programms, der die Kritik gegenüber dem Phasenmodell veranlaßte, kann systemgerecht als Beispiel geringer Steuerungsintensität erfaßt werden. Der Wechsel der Perspektiven setzt offensichtlich eine variable Bestimmung des Programms voraus. Das mag auf den ersten Blick fragwürdig erscheinen.42 Zweck der Implementationstheorie ist es aber, den Politikzyklus von der Problemerkenntnis bis zum Eintritt bestimmter Wirkungen zu beschreiben und zu erklären. Das Programm ist ein Glied in dieser Erklärungskette. Nur in seltenen Fällen sind Wirkungen auf ein konkretes Handlungskonzept zurückzuführen, das Problemformulierung, Lösungsstrategie, Adressaten und Durchführungsorgane eindeutig festlegt und außerdem einem Programmierer zugeordnet werden kann. Nimmt das Programm nicht die Stellung eines Fixpunktes in der Analyse ein, bleibt es dem Forscher überlassen, ob und wo er im Rahmen seiner Erklärung die Grenze zwischen Programmformulierung und Programmumsetzung zieht. Entscheidend ist dabei gerade die Perspektive, aus der er den politischen Prozeß untersucht.43 Unabhängig von der gewählten Perspektive und der Programmbestimmung hat die implementationstheoretische Erläuterung eines politischen Prozesses das Implementationssystem zu berücksichtigen, in dem das Programm umgesetzt wird. Das Implementationssystem im engeren Sinne erfaßt sämtliche Akteure, deren Handlungsbeiträge für die Umsetzung des Programms unverzichtbar sind (Implementationsakteure).44 Das Implementationssystem im weiteren Sinne umschließt darüber hinaus Handelnde, die zwar zur Implementation beitragen, deren Beiträge jedoch ersetzbar sind.45 Die Anzahl, die speziellen Eigenarten der Akteure sowie ihre wechselseitigen Beziehungen bestimmen die Implementationsstruktur.46 Die Programmwirkungen treten schließlich bei der Zielgruppe, den Programmadressaten, ein.47
42
Vgl. auch Mayntz y Entwicklung, S. 4.
43
Vgl. auch Maynîzy Entwicklung, S. 4, die vom Programm als "Konstrukt des Forschers" spricht. 44
Windhoff-Héritier
45
Windhoff-Héritiery
46
Windhoff-Héritiery
aaO, S. 7.
47
Windhoff-Héritiery
aaO, S. 7.
y Politikimplementation, S. 7. aaO, S. 7.
118
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
Mit diesen Begriffen spiegelt der Implementationsansatz die personelle Komponente des politischen Prozesses wider. Daneben berücksichtigt die Implementationstheorie den Einfluß der Programmgestaltung. Sie unterscheidet verschiedene Programmtypen und Steuerungsmechanismen.48 Auf die Möglichkeiten der Programmgestaltung soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Sie werden unten erörtert, soweit sie für die Beschreibung der verfassungsgerichtlichen Gesetzgebungsaufträge relevant sind.49
Π. Anwendbarkeit des Implementationsansatzes auf Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen Bei der Umsetzung verfassungsgerichtlicher Gesetzgebungsaufträge durch die Legislative handelt es sich um einen tatsächlichen Vorgang. Er verdeutlicht die faktische Stellung des Bundesverfassungsgerichtes im politischen Prozeß. Die Beschreibung tatsächlicher Vorgänge und Funktionen ist in erster Linie Aufgabe der Politikwissenschaft. 50 Rechtliche Maßstäbe bestimmen lediglich den Hintergrund, vor dem der tatsächliche Prozeß abläuft. Die Situation, die der Umsetzung von Gesetzgebungsaufträgen zugrundeliegt, wird vor allem durch die teilweise rechtliche Unverbindlichkeit der Appelle geprägt. Die fehlende Bindung der an der Umsetzung Beteiligten entspricht dem implementationstheoretischen Modell von "autonomen Implementationsakteuren".51 Selbst wenn das Bundesverfassungsgericht die Gesetzgebungsaufträge im Einzelfall mit Bindungswirkung gegenüber dem Gesetzgeber ausspricht, ist es mangels eigener Vollzugsorgane auf die Folgebereitschaft der Gesetzgebungsorgane angewiesen. Eine derartige Akzeptanzproblematik läßt es ratsam erscheinen, daß das Gericht seine Entscheidungen den jeweiligen Umsetzungsbedingungen anpaßt. Letztere können auf der Grundlage der Implementationstheorie als Implementationssystem und Implementationsstruktur erfaßt werden. 52 Neben dem Prozeßcharakter und der speziellen Umsetzungssituation rechtfertigt die Programmqualität verfassungsgerichtlicher Entscheidungen die Anwendung des Implementationsansatzes. Einem politischen Programm vergleichbar zielen auch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes häufig 48
Windhoff-Héritier
49
Vgl. unten S. 160 ff.
50
Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 92.
, Politikimplementation, S. 37 ff und S. 47 ff.
51
Bryde, Der Kampf um die Definition des Artikels 14 GG, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 11, 1987, S. 384 ff, S. 385. 52 Vgl. hierzu auch Gawron!Rogowski, Implementation von Programmen des Bundesverfassungsgerichts, S. 227; dies., Normenkontrolle, S. 351.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
119
darauf ab, die tatsächlichen Verhältnisse teilweise unter Einsatz bestimmter Direktiven zu ändern.53 Das gilt insbesondere für Appellentscheidungen. Die Verwandtschaft zwischen Verfassungsgerichtsentscheidungen und politischen Programmen resultiert darüber hinaus aus der Kontrollfunktion des Bundesverfassungsgerichtes gegenüber dem Gesetzgeber. Das Gericht überprüft politische Programme. Diese werden durch seine Entscheidungen beeinflußt. Zielsetzung und Durchführungsmodalitäten sind den verfassungsrechtlichen Vorstellungen des Gerichtes anzupassen. Sachlich nimmt das Bundesverfassungsgericht deshalb in gleicher Weise Einfluß auf die Gestaltung des politischen Programms wie der ursprüngliche Normsetzer. 54 Die Verfassungskonkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht wirkt ebenfalls als programmatische Vorgabe gegenüber den übrigen Verfassungsorganen.55 Das gilt wiederum in besonderem Maße für die Ableitung verfassungsrechtlicher Gesetzgebungspflichten. Schließlich bietet es sich an, die Umsetzung auf der Grundlage des Implementationsansatzes zu untersuchen und zu beschreiben, weil auch das Gericht selbst offensichtlich diesem Ansatz folgt. Im Volkszählungsurteil vom 15.12.198356 beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Implementationsprozeß zwischen Legislative, Exekutive und Bürger. 57 Implementationsprobleme waren nach Ansicht des Gerichtes vor allem wegen verfahrensrechtlicher Mängel des Erhebungsprogramms zu befürchten. 58 Die Regelungsvorgaben, die das Gericht im Zusammenhang mit dem Nachbesserungsauftrag machte, enthielten dementsprechend Hinweise zur Verfahrensgestaltung, die die Akzeptanz des Volkszählungsgesetzes bei den Bürgern erhöhen und dadurch seine Implementation sichern sollten.59 Obwohl es demnach naheliegt, die Umsetzung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen auf der Grundlage des Implementationsansatzes zu analysieren, finden sich derartige Untersuchungen bisher kaum. Die Politikwissenschaft hat
53
Gawron/Rogowski,
54
G awronJRogowski, richts, S. 227. 55
GawronJRogowski,
Normenkontrolle, S. 351 f. Implementation von Programmen des BundesverfassungsgeNormenkontrolle, S. 352; Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit,
S. 94 f. 56
BVerfGE 65,1.
57
BVerfGE 65,1,50.
58
BVerfGE 65, 1,50.
59 BVerfGE 65, 1, 58 ff; Pitschas, Staats wissenschaftliche Analyse von Verfassungsgerichtsentscheidungen, S. 212 spricht davon, daß das Gericht im Volkszählungsurteil "... dazu [übergeht], die Implementation von Gesetzesrecht selbst festzulegen".
120
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
die Verfassungsgerichtsbaikeit zunächst weitgehend vernachlässigt.60 Das mag darin begründet hegen, daß die Politikwissenschaft für die Erläuterung weiter Teilaspekte des politischen Prozesses eine ausschließliche Zuständigkeit der jeweiligen Fachdisziplin anerkannte.61 Auf der anderen Seite betrachtet die Rechtswissenschaft gerade den Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit als juristische Materie. 62 Eine Bereitschaft der Juristen, politologische Ansätze und Erkenntnisse in die rechtswisssenschaftliche Betrachtung des Verfassungsgerichtes einzubeziehen, läßt sich erst in den letzten Jahren beobachten.63 Sie tritt an die Stelle einer grundsätzliche juristischen Skepsis gegenüber politologischen und soziologischen Steuerungstheorien.64 Die Rolle des Bundesverfassungsgerichtes kann dieser neuen Ansicht zufolge nur zutreffend beschrieben werden, wenn die herkömmliche funktionell-rechtliche Betrachtung durch empirisch-funktionale Untersuchungen ergänzt wird. 65 Die Differenzierung zwischen tatsächlicher und rechtsvorgegebener Funktion66 betrifft insbesondere die Tenorierungspraxis des Bundesverfassungsgerichtes. Appellentscheidungen haben, auch wenn sie rechtlich unzulässig sind, Einfluß auf die tatsächliche Stellung des Bundesverfassungsgerichtes im politischen Prozeß. Rechtliche Kriterien erlauben allenfalls eine Bewertung der Tenorierungspraxis, sie können sie aber nur ansatzweise erklären. 67 Gerade in der Grauzone rechtlicher Zulässigkeit68 werden sich die Beteiligten des politische Prozesses an der tatsächlichen Durchsetzbarkeit ihrer Programmabsichten orientieren. Dement-
60
Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 92,105.
61
Windhoff
62
Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 84.
-H éritier,
Politikimplementation, S. 11.
63 Vgl. die hier zitierten Aufsätze von Gawron!Rogowski, aus den Jahren 1987-1990.
Ebsen, Bryde und Pitschas
64 Vgl. zum Beispiel Schneider, Gesetzgebung, § 5 Rz. 100, der der Ansicht ist, steuerungstheoretische Aussagen enthielten entweder "banale Wahrheiten" oder sie seien so komplex, daß sie "...praktisch nicht verwertbar sind". Demgegenüber betont Karpen, Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungslehre, S. 39 f die Bedeutung, die einer Untersuchung des Umsetzungsprozesses zukommt. 65 Pitschas, Staatswissenschaftliche Analyse von Verfassungsgerichtsentscheidungen, S. 192 und 203. 66
Vgl. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 89 ff.
67
Zu Recht weist Pitschas, Staatswissenschaftliche Analyse von Verfassungsgerichtsentscheidungen, S. 203 darauf hin, daß das "...Folgenkalkül im Zentrum des "Implementationsspiels" [stehe]...". 68 Vgl. in diesem Zusammenhang die tendenzielle Unzulässigkeit der Regelungsvorgaben.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
121
sprechend werden die jeweiligen Implementationsbedingungen als "faktische Grenze" der Normenkontrolle bezeichnet.69 Liegt die faktische Grenze nach der Einschätzung des Bundesverfassungsgerichtes jenseits der rechtlichen, bietet sich ihm die Möglichkeit, seine Macht zulasten des Gesetzgebers auszudehnen. Die teilweise rechtliche Unzulässigkeit und Unverbindlichkeit der Gesetzgebungsaufträge begründen die besondere Bedeutung einer solchen Einschätzung im Bereich der Appellentscheidungen. Implementationsforschung ist hier nicht nur zulässig, sondern von besonderem Interesse.70 Die Untersuchung des Umsetzungsprozesses auf der Basis des Implementationsansatzes kann demnach die Gesetzgebungsaufträge und das Steuerungsverhalten des Bundesverfassungsgerichtes erläutern sowie die tatsächliche Stellung des Gerichtes beschreiben. Die Ausführungen, die sich bisher mit der Implementation von Verfassungsgerichtsentscheidungen befassen, lassen jedoch nach Ansicht Pitschas vor allem die funktioncM-rechtlichen Bezug vermissen.71 Dies ist um so erstaunlicher, als bereits Anfang der 80er Jahre erkannt wurde, daß Implementationsprozesse nur in der Gesamtbetrachtung sachlicher, organisatorischer und rechtlicher Strukturebenen sinnvoll untersucht werden können.72
III. Tatsächliche Umsetzung und Umsetzungsprobleme Rechtlich werden den Gesetzgebungsaufträgen insbesondere durch die tendenzielle Unzulässigkeit inhaltlicher Vorgaben, die sich auf die Angabe einer Regelungsmöglichkeit beschränken, die grundsätzliche Unverbindlichkeit der Regelungsvorgaben sowie die meist ebenfalls unverbindliche Feststellung der Gesetzgebungspflicht Grenzen gesetzt. Die Durchführungswirklichkeit der Gesetzgebungsaufträge stimmt jedoch keineswegs zwingend mit der rechtlichen
69 Chryssogonus, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 103 und ihm folgend Gawron!Rogowski, Implementation von Programmen des Bundesverfassungsgerichts, S. 230. 70
Bryde, Der Kampf um die Definition von Artikel 14 GG, S. 386.
71
Pitschas, Staatswissenschaftliche Analyse von Verfassungsgerichtsentscheidungen, S. 204. 72 Hucke/Wollmann, Methodenprobleme der Implementationsforschung, in: Mayntz (Hrsg.), Implementation politischer Programme, S. 216 ff, S. 218.
122
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
Grenzziehung überein. Mögliche Diskrepanzen erlauben Rückschlüsse auf die faktische Stellung des Bundesverfassungsgerichtes im politischen Prozeß. 73 Derartige Betrachtungen machen natürlich nur Sinn, wenn die rechtstatsächliche Untersuchung die Gesetzgebungsaufträge ebenso eindeutig und abschließend dem Bundesverfassungsgericht zuweist wie die rechtliche. Der Gesetzgebungsauftrag, unter Umständen verbunden mit Regelungsvorgaben und Fristsetzung, ist mit dem programmorientierten Ansatz als abgeschlossenes, vom Gericht gesetztes Programm zu fixieren. Der Auftrag ist umgesetzt, wenn der Gesetzgeber programmgemäß tätig geworden ist. Umsetzungsprobleme liegen nicht nur im Extremfall gesetzgeberischer Untätigkeit vor, sondern bereits dann, wenn der Gesetzgeber von Vorgaben des Gerichtes abweicht, gesetzte Fristen nicht einhält oder eine eingeschränkte Folgebereitschaft durch Kritik gegenüber dem Gesetzgebungsauftrag erkennen läßt. 1. Grundsätzliche Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
Die Liste der Gesetzgebungsaufträge, die das Referat "Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und Verfassungsprozeßrecht" seit 1979 führt, weist zum 1.4.1989 52 Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungsgerichtes aus.74 Der älteste erfaßte Auftrag stammt aus dem Urteil vom 12.3.1975 zu § 43 Abs. 1 Angestelltenversicherungsgesetz und § 1266 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung.75 Es handelt sich um eine klassische Appellentscheidung im engeren Sinne. Die Regelungen zur Witwerrente in der Sozialversicherung werden auch unter Berücksichtigung einer früheren Vereinbarerklärung des § 42 Abs. AVG - 7 6 für noch verfassungsgemäß erachtet. Gleichzeitig appelliert das Gericht in den Leitsätzen und den Entscheidungsgründen an den Gesetzgeber, einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 und 3 GG für die Zukunft durch eine Neuregelung der Witwerrente vorzubeugen.77
73 Vgl. auch Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 92 sowie S. 85 und 89, der betont, daß sich die wirkliche Funktion des Bundesverfassungsgerichtes nicht allein aus der verfassungsrechtlichen Normierung ableiten läßt. Zu berücksichtigen ist vielmehr auch die politische Realität. 74 Die Appelle aus BVerfGE 66, 214 und E 67, 290 sowie aus BVerfGE 66, 337 und E 72, 51 sollen hier als getrennte Aufträge betrachtet werden. Die aktualisierte Liste vom 23.9.1991 enthält elf weitere Aufträge. 75
BVerfGE 39, 169.
76
BVerfGE 17, 1.
77
BVerfGE 39, 169, 169, 191 und 194.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
123
Der Gesetzgeber hat den Auftrag, den das Gericht mit ausführlichen Regelungsvorgaben78 und einer Erfüllungsfrist bis zum Ende der übernächsten Legislaturperiode79 verbunden hatte, durch das Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetz vom 11.7.198580 fristgerecht umgesetzt. Zu diesem Zeitpunkt waren außerdem acht weitere Aufträge jüngeren Datums schon erfüllt. 81 Insgesamt hat der Gesetzgeber laut Liste bis zum 1.4.1989 31 der 52 Aufträge ausgeführt. 82 Dabei ist ihm keine Fristüberschreitung vorzuwerfen. Neben dem schon genannten Auftrag zur Witwerrente, der dem Gesetzgeber eine sehr großzügig bemessene Frist von über zehn Jahren setzte,83 enhalten die Entscheidungen vom 3.11.1982 zur Nichtanwendung des Splittingtarifs bei der Besteuerung alleinerziehender Elternteile gem. § 32a Einkommenssteuergesetz84 und vom 24.6.1986 zum Länderfinanzausgleich 85 eine genau bestimmte Frist. Das Urteil zu § 32a EStG begrenzte die Anwendbarkeit der maßgeblichen, verfassungswidrigen Grundtabelle auf den Zeitpunkt, in dem die geforderte Neuregelung in Kraft tritt, längstens jedoch auf den 31.12.1984.86 Mittelbar setzte das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber auf diese Weise die Zeitspanne bis zum Ende des Jahres 1984 als Frist, um den Gesetzgebungsauftrag zu erfüllen. Der Gesetzgeber führte den Auftrag mit Erlaß des Steuerbereinigungsgesetzes 1985 vom 14.12.198487 aus. Im Verlaufe der Beratungen wurde mehrfach auf die gesetzte Frist verwiesen.88
78
BVerfGE 39, 169, 191 ff.
79
BVerfGE 39, 169, 195.
80
BGBl. 1985 I, S. 1450.
81
BVerfGE 51, 1 vom 20.3.1979; E 55, 100 vom 8.10.1980; E 56, 146 vom 4.2.1981; E 56, 175 vom 4.2.1981; E 56, 353 vom 11.3.1981; E 61, 319 vom 3.11.1982; E 63, 119 vom 8.2.1983 und schließlich der Auftrag aus BVerfGE 66, 214 vom 22.2.1984 und E 67, 290 vom 4.10.1984. 82 Bis zum 23.9.1991 wurden weitere 13 Aufträge erfüllt, die aktualisierte Liste weist acht nichterfüllte Aufträge aus der alten Liste sowie die gleiche Anzahl nach dem 1.4.1989 erlassener, nichtumgesetzter Aufträge auf. Drei Aufträge wurden nach dem 1.4.1989 ausgesprochen und schon vor dem 23.9.1991 umgesetzt. 83
BVerfGe 39, 169, 195.
84
BVerfGE 61, 319.
85
BVerfGE 72, 330.
86
BVerfGe 61, 319, 321.
87
BGBl. 1984 I, S. 1493.
88 Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drs. 10/1636, S. 55; Bericht des Finanzausschusses vom 14.11.1984, BT-Drs. 10/2370, S. 1; Beitrag des Abgeordneten G atiermann in der 2. und 3. Lesung des Gesetzentwurfs, BT-Pl.Prot. 101. Sitzung am 15.11.1984, S. 7382.
124
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
Im Tenor des Urteils zum Länderfinanzausgleich verpflichtete das Gericht den Gesetzgeber ausdrücklich, spätestens für das Haushaltsjahr 1988 eine Nachfolgeregelung für den verfassungswidrigen 2. Abschnitt des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern zu erlassen.89 Das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern vom 18.12.198790 trat am 1.1.1988 in Kraft. Auch die unbestimmten Fristen aus dem Beschluß vom 3.12.1985 zur Scheidung ausländischer Ehen durch deutsche Gerichte gem. § 606b Nr. 1 ZPO 91 und aus dem Urteil vom 28.2.1980 zum Versorgungsausgleich für Ehen, die vor der Änderung des Scheidungsfolgenrechts durch das Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts (1. EheRG) geschlossen wurden, 92 können als eingehalten angesehen werden. Für die Härteregelung zum Versorgungsausgleich bei sogenannten "Altehen" benötigte der Gesetzgeber zwar drei Jahre.93 Die Umsetzungsdauer genügt aber in Anbetracht der komplexen Materie und des zwischenzeitlichen Wechsels der Regierungsverantwortung 94 der Forderung nach einem "alsbaldigen" Tätig werden des Gesetzgebes. "Alsbald" hat der Gesetzgeber sicherlich den Auftrag vom 3.12.1985 aus der Entscheidung zu § 606b Nr. 1 ZPO 95 ausgeführt. Die vom Gericht gerügte Anknüpfung an das "Mannesrecht" entfiel bereits mit dem Gesetz zur Neuregelung des Internationalen Privatrechts vom 25.7.198696, also lediglich acht Monate nach Erlaß des Gesetzgebungsauftrages. Unabhängig von der Einhaltung oder Nichteinhaltung ausnahmsweise gesetzter Fristen beträgt die durchschnittliche Erledigungsdauer zweieinviertel
89
BVerfGE 72, 330, 333.
90
BGBl. 1987 I, S. 2764.
91
BVerfGE 71, 224, der Gesetzgeber hat "alsbald" die Zuständigkeit deutscher Gerichte in derartigen Fällen verfassungsgemäß zu regeln, E 71, 224, 229. 92 BVerfGE 53, 257; der Gesetzgeber muß "alsbald" eine ergänzende Härteregelung treffen, E 53, 257, 313. 93
Entgegen der Angabe in der Liste des Bundesjustizministeriums ist der Appell nicht erst durch das Gesetz über weitere Maßnahmen auf dem Gebiet des Versorgungsausgleichs vom 8.12.1986 (BGBl. 1986 I, S. 2317), sondern bereits durch das Gesetz zur Regelung von Härten im Versorgungsausgleich vom 21.2.1983 (BGBl. 1983 I, S. 105) umgesetzt worden. 94 Vgl. insofern den Bericht des Rechtsausschusses vom 13.12.1982 - BT-Drs. 9/2296, S. 7 und 10 sowie Justizminister Engelhard, BT-Pl.Prot. 216. Sitzung am 15.5.1986, S. 16728. 95
BVerfGE 71, 224.
96
BGBl. 1986 I, S. 1142.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
125
Jahre, ein Zeitraum, der - berücksichtigt man den langwierigen Prozeß von der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs über die Beratungen im Bundestag, im Bundesrat und in den Ausschüssen bis zur Verabschiedung - auf eine grundsätzlich unverzügliche Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge schließen läßt. Neben der zeitlichen Dimension ergibt auch die inhaltsorientierte Bewertung eine grundsätzliche Folgebereitschaft der Implementationsakteure. Fälle absoluter Umsetzungsverweigerung lassen sich einer Liste, deren älteste nicht-erledigte Gesetzgebungsaufträge bis zum Stichtag eine Umsetzungsdauer von neuneinhalb Jahren aufweisen, 97 naturgemäß nicht entnehmen, zumal der Gesetzgeber in der Vergangenheit auch mehr als zehn Jahre alte Aufträge noch erfüllt hat.98 Grundsätzlich erläßt der Gesetzgeber in angemessener Frist ein Gesetz, das den gerügten verfassungsrechtlichen Mangel behebt. Die verfassungswidrige Regelung des 5. Bundesbesoldungserhöhungsgesetzes99, nach der Richteramtszulagen nicht an der linearen Besoldungserhöhung teilnehmen, ersetzte der Gesetzgeber aufgrund des verfassungsgerichtlichen Auftrages 100 rückwirkend auf den 1.5.1981101 durch eine Staffelung der Amtszulagen proportional zur Erhöhung der Grundgehälter im jeweiligen Zeitraum. 102 Die Benachteiligung der Richter, die zusätzliche nichtrichterliche Aufgaben im Bereich der Gerichtsverwaltung wahrgenommen haben, zum Ausgleich aber nicht in eine höhere Besoldungsgruppe eingestuft worden sind, sondern eine Amtszulage erhalten haben, entfiel durch diese nachträgliche Anpassung der Amtszulagen.
97
Beschluß vom 13.11.1979 zur Anzeigefrist für schwangere Arbeitnehmerinnen gem § 9 Abs. 1 S. 1 Mutterschutzgesetz - BVerfGE 52, 357 und Beschluß vom selben Tag zur Gewährung eines Hausarbeitstages ausschließlich für Frauen mit eigenem Hausstand - BVerfGE 52,369. Dieser Auftrag ist laut aktualisierter Liste immer noch nicht erfüllt. Allerdings liegt inzwischen der Regierungsentwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Mutterschutzgesetzes vor, BR-Drs. 521/91. Die nichterfüllten Aufträge aus BVerfGE 52, 369 und E 54, 11 sind mittlerweile ebenfalls über zehn Jahre alt. 98
Vgl. die bereits erwähnten Aufträge zur Neuregelung der Witwerrente vom 12.3.1975, BVerfGE 39, 169, umgesetzt durch Gesetz vom 11.7.1985 und zur Gleichstellung nichtehelicher Kinder vom 23.10.1958, BVerfGE 8, 21D, umgesetzt durch Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder vom 19.8.1969. 99 100
BGBl. 19761. S. 2197. Beschluß vom 11.3.1981, BVerfGE 56, 353, Appell auf S. 363.
101
Der 1. Mai 1981 war der erste Gehaltszahlungstermin nach Bekanntgabe der einschlägigen Appellentscheidung, vgl. Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drs. 10/881, S. 6. 102 Drittes Gesetz zur Änderung besoldungsrechlicher Vorschriften vom 20.12.1984, BGBl. 1984 I, S. 1710.
126
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
Als weiteres Beispiel für den Normalfall einer Auftragsimplementation kann die Gesetzgebung im Anschluß an die Entscheidung vom 29.6.1983 zur Amtsbezeichnung für Hochschullehrer gelten.103 In diesem Beschluß, der ebenfalls die Neuordnung des Besoldungsrechts betrifft, stellte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der vereinheitlichenden Bezeichnung von Hochschullehrern als "Professor" fest. Das Gericht appellierte ohne Regelungsvorgabe oder Fristsetzung an den Gesetzgeber, eine im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG angemessene Bezeichnung für C4- und C3-Professoren an wissenschaftlichen Hochschulen vorzusehen, die den Unterschieden zu Fachhochschulprofessoren Rechnung trägt. 104 Der Gesetzgeber entsprach diesem Auftrag, indem er mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes vom 19.12.1986105 differenzierende Zusätze einführte. Die grundsätzliche Folgebereitschaft des Gesetzgebers beschränkt sich jedoch nicht darauf, den durch das Verfassungsgericht festgestellten Mangel zu beseitigen. Auch Regelungsvorgaben zur Art und Weise der Mangelbeseitigung werden prinzipiell aufgegriffen. Das gilt zunächst natürlich für alternative, inhaltliche Regelungsvorschläge. Derartige Vorgaben schränken die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit nur ausnahmsweise ein, wenn die Vollständigkeit der aufgezählten Regelungsmöglichkeiten behauptet wird. 106 Nur in diesem Fall besteht Grund zu der Annahme, der Gesetzgeber werde die Vorgaben als Eingriff in eigene Kompetenzen auffassen und ein entsprechend geringes Maß an Umsetzungsbereitschaft zeigen. Als Beispiel für den Regelfall kann der Beschluß vom 10.2.1987 zu § 120 Abs. 1 Arbeitsförderungsgesetz 107 dienen. Forderte das Arbeitsamt den Arbeitslosen auf, sich zu melden und kam der Arbeitslose dieser Aufforderung trotz Rechtsfolgenbelehrung und ohne wichtigen Grund nicht nach, sah § 120 Abs. 1 AFG ausnahmslos ein zweiwöchiges Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld vor. Diese undifferenzierte, vom Verschuldensgrad und vom eingetretenen Schaden unabhängige Sanktionierung von Meldeversäumnissen erklärte das Bundesverfassungsgericht mit seinem Beschluß vom 10.2.1987 für
103
BVerfGE 64, 323.
104
BVerfGE 64, 323*, 366.
105
BGBl. 19861, S. 2542.
106
S. oben S. 61. Das Gleiche güt für die gesetzgebungstechnischen Vorgaben. Eine hohe Folgebereitschaft kann hier jedoch nur vermutet werden, da sich unter den 52 Listenentscheidungen lediglich ein Gesetzgebungsauftrag mit gesetzgebungstechnischen Regelungsvorgaben findet, der zudem noch nicht umgesetzt worden ist (Urteil vom 31.1.1989 zur Ehelichkeitsanfechtung durch volljährige Kinder, BVerfGE 79,256). 107
BVerfGE 74, 203.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
127
verfassungswidrig. 108 Die Ausformung der gebotenen Ausnahmeregelung wies das Gericht ausdrücklich der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit zu, schlug dem Gesetzgeber aber gleichzeitig drei denkbare Anschlußregelungen vor. 109 Das 8. Gesetz zur Änderung des AFG greift die vom Bundesverfassungsgericht favorisierte, an § 119 Abs. 2 AFG angelehnte Härteregelung auf. 110 Exakt umgesetzt werden jedoch nicht nur alternative, inhaltliche Regelungsvorschläge, sondern auch Vorgaben, die sich auf die Angabe einer Regelungsmöglichkeit beschränken. Dabei werden derartige inhaltliche Vorgaben teilweise im Widerspruch zur rechtlichen Realität111 als verbindlich angesehen oder jedenfalls ausgegeben.112 In Art. 3 Nr. 2 b) des Gesetzes über die Anpassung der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und der Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung im Jahre 1985 113 übernahm der Gesetzgeber beispielsweise die Vergleichsberechnung, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 8.2.1983 zu § 32 Abs. 7 S. 2 Angestelltenversicherungsgesetz114 vorgeschlagen hatte.115 Mit Beschluß vom 9.10.1985 116 entschied das Bundesverfassungsgericht die Frage, ob Pflichtversicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung das Recht zu gewähren ist, ihr Pflichtversicherungsverhältnis zu beenden, wenn sie der gesetzlichen Rentenversicherung nach dem Rentenreformgesetz 1972 auf eigenen Antrag beigetreten und von der nachträglich geänderten Bewertung der Ausbildungs-Ausfallzeiten nachteilig betroffen sind. Das Verfassungsgericht gelangte zu dem Ergebnis, der Vertrauensschutz gebiete es, den Betroffenen eine Möglichkeit einzuräumen, ihr Pflichtversicherungsverhältnis zu beenden. Unter Berücksichtigung der Interessen der übrigen Versicherten komme allerdings "...praktisch nur eine rückwirkende Umwandlung in ein freiwilliges Ver108
BVerfGE 74, 203, 203.
109
BVerfGE 74, 203, 217 f.
110
Gesetz vom 14.12.1987, BGBl. 1987 I, S.2602; vgl. auch die Begründung des Gesetzentwurfs der Fraktionen von CDU/CSU und FDP vom 15.9.1987, BT-Drs. 11/800, S. 14 und 22. 111
Vgl. oben zur grundsätzlichen Unverbindlichkeit inhaltlicher Vorgaben, S. 103.
112
Vgl. zum Beispiel den Redebeitrag der Abgeordneten Adam-Schwaetzer anläßlich der 2. und 3. Lesung des Entwurfs zum Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetz am 21.6.1985, BT-Pl.Prot. zur 147. Sitzung, S. 10921 und die Ausführungen des Abgeordneten Wernitz zur 2. und 3. Lesung des nachgebesserten Volkszählungsgesetzes am 26.9.1985, BT-Pl.Prot. zur 159. Sitzung, S. 11919. 113
Gesetz vom 5.6.1985, BGBl. 1985 I, S. 913.
114
BVerfGE 63. 119.
115
BVerfGE 63. 119, 129.
128
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
sicherungsverhältnis ohne Beitragsrückerstattung in Betracht...". 117 Eine entsprechende Regelung hat der Gesetzgeber mit dem 7. Rentenversicherungsänderungsgesetz vom 19.12.1986 verabschiedet.118 Bisher kann somit festgehalten werden, daß der Gesetzgeber Aufträge des Verfassungsgerichtes sowohl in zeitlicher als auch vor allem in inhaltlicher Hinsicht grundsätzlich umsetzt. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß bei der Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge keinerlei Implementationsprobleme aufträten. 2. Umsetzungsprobleme
Implementationsprobleme haben sich bisher nicht in der Extremform absoluter Untätigkeit des Gesetzgebers geäußert. Problematisch ist nicht das "Ob" der Umsetzung der Appelle, sondern die Art und Weise ihrer Implementation. a) Umsetzungsdauer Schon angesprochen ist das Problem der Umsetzungsdauer.119 Elf Jahre benötigte der Gesetzgeber, um den Auftrag des Gerichtes zu erfüllen, die Benachteiligung der nichtehelichen Kinder durch eine Gesetzesreform zu beseitigen. 120 Ob dies tatsächlich noch als Erfüllung "in angemessener Frist" 121 zu bezeichnen ist, 122 erscheint gerade im Hinblick auf die weiteren Äußerungen des Bundesverfassungsgerichtes in der Entscheidung vom 29.1.1969 fraglich. Das Gericht hielt die Umsetzungsdauer immerhin für so bedenklich, daß es mit Ablauf der Legislaturperiode 123 von einer derogierenden Wirkung des Art. 6 Abs. 5 GG ausging und den unmittelbaren Vollzug des Verfassungsauftrages aus Art. 6 Abs. 5 GG durch die Gerichte anordnete.124
116
BVerfGE 71, 1.
117
BVerfGE 71, 1, 1 und 11; vgl. aber die Kritik der Richter Niemeyer und Heußner in ihrer abweichenden Meinung, BVerfGE 71, 17, 22. 118
Art. 4 und 5 des Gesetzes, BGBl. 19861, S. 2586, 2588.
119
Vgl. oben S. 112.
120
BVerfGE 8, 210, 210 vom 23.10.1958, umgesetzt durch das Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder vom 19.8.1969 (BGBl. 1969 I, S. 1243). 121
Vgl. die Fristsetzung in BVerfGE 8, 210, 210 und 216.
122
Vgl. dazu die ausführlichen Erörterungen des Gerichtes in seiner Entscheidung vom 29.1.1969, BVerfGE 25, 167, 184-188. 123
Das entsprach einer letzten Frist von acht Monaten.
124
BVerfGE 25,167, 167 und 188.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
129
Die Liste des Bundesjustizministeriums enthält zum 1.4.1989 sieben Gesetzgebungsaufträge mit einer Umsetzungsdauer von mehr als sechs, teilweise sogar von mehr als neun Jahren.125 Lediglich einer der Aufträge war zum Stichtag bereits erfüllt. 126 Auch wenn das bisherige Verhalten des Gesetzgebers im Anschluß an Gesetzgebungsaufträge keine generelle Untätigkeit aufgrund fehlender Umsetzungsbereitschaft befürchten läßt, sind derartig lange Umsetzungszeiten als Implementationsprobleme aufzufassen. Dem Interesse des Bundesverfassungsgerichtes als Programmsetzer entspricht eine unverzügliche Durchführung des Programms. Diese zeitliche Programmdimension ist unabhängig von einer Fristsetzung durch das Gericht. Dementsprechend stellt das Bundesverfassungsgericht beispielsweise in seiner Entscheidung vom 7.5.1991 zum elterlichen Sorgerecht bei Ehelicherklärung 127 fest, daß der Gesetzgeber auch ohne ausdrückliche Fristsetzung verpflichtet ist, die verfassungswidrige Lage im Anschluß an eine Unvereinbarerklärung unverzüglich zu bereinigen.128 Dennoch besteht ein qualitativer Unterschied zwischen der programmimmanenten Aufforderung, unverzüglich, tätig zu werden und einer ausdrücklichen Fristsetzung. Letztere steigert einerseits den Druck auf den Gesetzgeber, andererseits verdeutlicht sie im Falle ihrer Nichteinhaltung die Gehorsamsproblematik. Im Ergebnis überschreitet der Gesetzgeber jedoch in keinem der sieben genannten Fälle mit außergewöhnlich langer Umsetzungsdauer eine ausdrückliche Erledigungsfrist für den Gesetzgebungsauftrag. Das liegt daran, daß das Gericht - wohl als Reaktion auf seine schlechten Erfahrungen mit den Fristsetzungen in der Entscheidung zur Gleichstellung nichtehelicher Kinder 129 und
125 Es handelt sich um die Aufträge aus BVerfGE 39, 169; E 52, 357; E 52, 369; E 54, 11; E 59, 302; E 62, 169 und E 65, 256. 126 Der Auftrag aus BVerfGE 39, 169 ist nach über zehn Jahren durch das Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetz vom 11.7.1985, BGBl. 1985 I, S. 1450, umgesetzt worden. Inzwischen hat der Gesetzgeber auch den Auftrag vom 16.11.1982 aus BVerfGE 62, 256 durch das Arbeitsgerichtsgesetz-Änderungsgesetz vom 26.6.1990 erledigt (BGBl. 1990 I, S. 1206). Der Auftrag vom 27.1.1982, BVerfGE 59, 302, ist durch Art. 1 Nr. 3 und 6 des 4. Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes, BGBl. 1989 I, S. 1062, umgesetzt worden. Schließlich hat sich der Auftrag vom 3.11.1982, BVerfGE 62, 169, zum Gesetz Nr. 53 der amerikanischen und der britischen Müitärregierung über die Devisenbewirtschaftung und Kontrolle des Güterverkehrs im Zuge der deutschen Wiedervereinigung erledigt. 127
Beschluß vom 7.5.1991, NJW 1991, S. 1944 ff.
128
BVerfG in NJW 1991, S. 1944 ff, S. 1946.
129 Vgl. die bereits erwähnten Entscheidungen vom 23.10.1958, BVerfGE 8, 210 (mit ausdrücklicher Fristsetzung, BVerfGE 8, 210, 216), vom 29.10. 1963, BVerfGE 17, 148 und vom 29.1.1969, BVerfGE 25, 167 sowie die schließliche Umsetzung durch das Gesetz über die rechtliche Stellung nichtehelicher Kinder vom 19.8.1969. 9 Kleuker
130
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
zum Strafvollzug 130 - weitgehend auf ausdrückliche Erledigungsfristen verzichtet131 oder jedenfalls entsprechende Fristen großzügig bemißt. 132 Den Appell zur Witwerrente verband das Bundesverfassungsgericht mit einer Frist von mehr als zehn Jahren. Die Umsetzung durch das Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetz vom 11.7.1985 erfolgte deshalb trotz der extrem langen Umsetzungsdauer von zehn Jahren und vier Monaten noch fristgerecht. Die übrigen sechs Gesetzgebungsaufträge mit überdurchschnittlicher Umsetzungsdauer weisen jeweils keine ausdrückliche Fristbestimmung auf.
b) Nichtberücksichtigung
des Appells im Gesetzgebungsverfahren
Ein Umsetzungsproblem ganz anderer Art ist das der Nichtberücksichtigung eines Appells im Gesetzgebungsverfahren. Der Gesetzgebungsauftrag wird in diesen Fällen zwar im Ergebnis erfüllt, der Gesetzgeber oder einzelne am Gesetzgebungsverfahren beteiligte Organe erkennen jedoch nicht die Bedeutung, die der Auftrag für ein Gesetzgebungsvorhaben hat. Mit Beschluß vom 22.2.1983 erklärte das Bundesverfassungsgericht Art. 15 Abs. 1 und 2, 1. Hs. EGBGB für nichtig.133 Die Regelung knüpfte ohne ersichtlichen biologischen oder funktionalen Differenzierungsgrund für das eheliche Güterrecht gemischt-nationaler Ehen an die Gesetze des Staates an, dessen Staatsbürgerschaft der Mann zur Zeit der Eheschließung besaß. Drei Monate nach der Verfassungsgerichtsentscheidung, am 20.5.1983, leitete die Bundesregierung dem Bundesrat den Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Internationalen Privatrechts zu. 134 In der Entwurfsbegründung erwähnte sie die ein130
In seinem Beschluß vom 14.3.1972 forderte das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber auf, bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode im Herbst 1973 eine gesetzliche Grundlage für Grundrechtseingriffe im Strafvollzug zu schaffen, BVerfGE 33, 1, 1 und 13. Die Frist verstrich ergebnislos, da die Legislaturperiode bereits vorzeitig im Herbst 1972 endete. Zur Zeit des Beschlusses vom 29.10.1975, BVerfGE 40, 276, also zwei Jahre nach Ablauf der ursprünglichen Eineinhalb-Jahres-Frist, war die geforderte Regelung immer noch nicht erlassen. Dennoch warf das Gericht dem Gesetzgeber nicht Fristversäumung vor, sondern verlängerte die Frist noch bis zum 1.7.1977. Allein die Fristverlängerung betrug damit mehr als das Doppelte der ursprünglichen Erledigungsfrist. Diese verlängerte Frist hielt der Gesetzgeber schließlich ein, indem er den Auftrag aus BVerfGE 33,1 mit dem Strafvollzugsgesetz vom 16.3.1976, BGBl. 1976 I, S. 581 umsetzte. 131
Die Liste des Bundesjustizministeriums enthält bis zum 1.4.1989 lediglich sieben Gesetzgebungsaufträge mit ausdrücklicher Fristsetzung; vgl. BVerfGE 61, 319; E 39, 169; E 72, 330; E 78, 249; E 71, 224; E 53, 257 und E 80, 1. 132
Vgl. die Entscheidung zur Witwerrente vom 12.3.1975, BVerfGE 39, 169, die in der Schlußphase der Umsetzung des Auftrages zum StrafVollzugsrecht erging. 133
BVerfGE 63, 161.
134
BR-Drs. 222/83.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
131
schlägige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zu Art. 15 EGBGB mit keinem Wort. Statt dessen wurden Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift geäußert.135 Selbst beim Einbringen in den Bundestag am 20.10.1983, zehn Monate nach der Entscheidung, ging die Bundesregierung trotz der zwischenzeitlichen Hinweise durch Ausschüsse136 und Bundesrat137 nicht auf den Beschluß des Verfassungsgerichtes ein, sondern sprach von einer unklaren Rechtslage.138 Im Ergebnis wurde der Appell jedoch drei Jahre und fünf Monate nach der Verfassungsgerichtsentscheidung durch das Gesetz zur Neuregelung des Internationalen Privatrechts vom 25.7.1986139 umgesetzt. An die Stelle der verfassungswidrigen ausschließlichen Anknüpfung an das Güterrecht des Staates, dem der Mann zur Zeit der Eheschließung angehört, trat ein Wahlrecht der Ehepartner. Mit dem Gesetz zur Neuregelung des Internationalen Privatrechts erfüllte der Gesetzgeber gleichzeitig Aufträge aus zwei weiteren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes. 140 Das Gericht erklärte - wie schon in seiner Entscheidung vom 22.2.1983 zu Art. 15 Abs. 1 und 2, 1 Hs. EGBGB - die ausschließliche Anknüpfung an das Mannesrecht in Art. 17 Abs. 1 EGBGB und in § 606b Nr. 1 ZPO für verfassungswidrig. Beide Entscheidungen ergingen zu einem Zeitpunkt, in dem sich das Gesetzgebungsverfahren zur Neuregelung des Internationalen Privatrechts bereits in einem fortgeschrittenen Stadium befand. 141 Die geringe Bedeutung der Verfassungsgerichtsbeschlüsse im Rahmen des Umsetzungsverfahrens 142 läßt hier nicht auf Implementationsprobleme
135
BR-Drs. 222/83, S. 20 und 57.
136
Empfehlungen des Rechtsausschusses und des Ausschusses fur Innere Angelegenheiten vom 20. 6.1983, BR-Drs. 222/1/83, S. 1. 137
BR-Pl.Prot. der 524. Sitzung am 1.7.1983, S. 197.
138
BT-Drs. 10/504, S. 20 und 57.
139
BGBl. 19861, S. 1142.
140
Beschluß vom 8.1.1985 zur Art. 17 Abs. 1 EGBGB, BVerfGE 68, 384 und Beschluß vom 3.12.1985 zu § 606b Nr. 1 ZPO, BVerfGE 71, 224. 141 Die Zuleitung des Regierungsentwurfs an den Bundesrat am 20.5.1983 lag fast zwei Jahre im Fall von BVerfGE 68, 384 bzw. sogar zweieinhalb Jahre im Fall von BVerfGE 71, 224 zurück. In der letzteren Entscheidung nimmt das Gericht schon Bezug auf den Stand des laufenden Novellierungsverfahrens zu § 606b ZPO, BVerfGE 71, 224,
226.
142
Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes zu Art. 17 Abs. 1 EGBGB und zu § 606b Nr. 1 ZPO werden lediglich in Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses vom 9.6.1986 (BT-Drs. 10/5632, S. 1 und S. 36) und in der abschließenden Beratung im Bundesrat (BR-Prot. der 567. Sitzung am 11.7.1986, S.462) erwähnt.
132
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
schließen, sondern entspringt einer zeitlichen Überlappung von Programmsetzung und Programmumsetzung. c) Nichtbefolgung
von Regelungsvorgaben
Regelungsvorgaben sind ebenso wie die Aufforderung, tätig zu werden und die Fristsetzung Bestandteile des verfassungsgerichtlichen Programms "Gesetzgebungsauftrag". Das gilt offensichtlich für inhaltliche Vorgaben, die den Gesetzgeber auf eine bestimmte Regelungsmöglichkeit festlegen. Aber auch alternative Regelungsvorschläge sind als Programmbestandteile, allerdings mit deutlich geringerer Steuerungsintensität, aufzufassen. Das Gericht versucht nur sehr zurückhaltend, Einfluß auf die Rechtsfolgenabwicklung zu nehmen.143 In beiden Fällen stellt eine Nichtbefolgung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben im Gesetzgebungsverfahren demnach ein Implementationsproblem dar. Die Nichtumsetzung der Vorgabe wiegt um so schwerer, je größer ihre Steuerungsintensität war. Unter den 31 zum 1.4.1989 schon umgesetzten Listenentscheidungen finden sich einige Beispiele für nichtbefolgte Regelungsvorgaben: Bereits in der Entscheidung vom 28.2.1980 144 äußerte das Verfassungsgericht erhebliche Bedenken gegenüber der Verfassungsmäßigkeit des § 1568 Abs. 2 BGB. 145 Der vorliegende Sachverhalt gab jedoch nach Ansicht von vier Richtern keinen ausreichenden Anlaß, den Zweifeln weiter nachzugehen. Acht Monate später erklärte das Gericht § 1568 Abs. 2 BGB für verfassungswidrig. 146 Es sei mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, daß die Scheidung nach Ablauf einer fünfjährigen Trennungsfrist auch dann ausgesprochen werden muß, wenn dies infolge fortwirkender oder nachträglich eingetretener Umstände für den nicht scheidungsbereiten Ehepartner eine unzumutbare Härte darstellt.147 Der Gesetzgeber wurde aufgefordert, dieser Kritik durch eine gesetzliche Regelung Rechnung zu tragen. Er könne die Vorschrift des § 2568 Abs. 2 BGB entsprechend modifizieren, er könne die gegenwärtige Regelung aber auch prozeßrechtlich durch eine Möglichkeit zur Verfahrensaussetzung
143 Teilweise präferiert es jedoch auch unter alternativen Regelungsvorgaben eindeutig eine der vorgeschlagenen Anschlußregelungen; Vgl. zum Beispiel den Beschluß vom 10.2.1987 zu § 120 AFG, BVerfGE 74,203,217 f. 144
BVerfGE 53, 224.
145
BVerfGE 53, 224, 251 f.
146
Beschluß vom 21.10.1980; BVerfGE 55,134.
147
BVerfGE 55, 134, 143.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
133
ergänzen, die es den Gerichten erlauben würde, eine Scheidung zur Unzeit zu verhindern. 148 Der Gesetzgeber wählte weder die eine noch die andere Lösung, sondern strich den § 1568 Abs. 2 BGB ersatzlos,149 eine Lösung, die auch den Verzicht des Gerichtes auf die Nichtigerklärung in diesem Fall in Frage stellt. Das Urteü vom 28.2.1980150 zur Änderung des Scheidungsfolgenrechtes durch das Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts (1. EheRG vom 14.6.1976) beschäftigt sich mit dem neugeregelten Versorgungsausgleich in Form des Rentensplittings, des Quasi-Splittings und des schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs.151 Nach dem 1. EheRG war ein derartiger Versorgungsausgleich auch dann vorzunehmen, wenn die geschiedene Ehe vor Inkrafttreten des neuen Scheidungsfolgenrechts am 1.7.1977 geschlossen worden war, sogenannte "Altehen". Das Bundesverfassungsgericht erklärte die überprüften Formen des Versorgungsausgleiches für verfassungsgemäß. 152 Allerdings sei der Gesetzgeber verpflichtet, für den Ausgleich in Form des Rentensplittings und des Quasi-Splittings eine ergänzende Härteregelung zu treffen. 153 Nachträgliche Änderungen der Umstände könnten zur Unvereinbareinbarkeit des rechtskräfig vollzogenen Versorgungsausgleichs mit Art. 14 Abs. 1 GG führen. Der Eingriff in den eigentumsrechtlich geschützten154 Renten- oder Versorgungsanspruch des ausgleichspflichtigen Ehegatten werde nur dann durch Art. 6 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 2 GG gerechtfertigt, wenn er zu angemessenen Leistungen an den Ausgleichsberechtigten führe. 155 Erweise sich die Anspruchskürzung nachträglich als einseitige Belastung des Ausgleichspflichtigen - etwa weil die abgesplitteten Weiteinheiten nicht ausreichten, um beim berechtigten Ehegatten einen Rentenanspruch zu begründen - 1 5 6 müsse der Gesetzgeber die Möglichkeit vorsehen, eine Korrektur des 148
BVerfGE 55,134,143 f; vgl. aber auch schon den Tenor der Entscheidung.
149
Bgl. die Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 10/2888, S. 11 und Art. 1 Nr 4 des Gesetzes zur Änderung unterhaltsrechtlicher und anderer Vorschriften vom 20.2.1986, BGBl. 1986 I, S. 301. 150
BVerfGE 53, 257.
151
Der Versorgungsausgleich in Form der Begründung von Anwartschaften in einer gesetzlichen Rentenversicherung durch Entrichtung von Beiträgen wurde in BVerfGE 53, 257 ausdrücküch ausgeklammert. Er war drei Jahre später Gegenstand der Entscheidung vom 27.1.1983, BVerfGE 63, 88. 152
BVerfGE 53, 257, 258.
153
BVerfGE 53, 257, 257, 258, 289, 300, 306, 308 und 312.
154
BVerfGE 53, 257, 293.
155
BVerfGE 53, 257, 302 und 308.
156
Vgl. weitere Beispiele in E 53,257, 303 f.
134
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
durchgeführten Versorgungsausgleichs zu beantragen.157 Bei der Ausgestaltung der geforderten Härteregelung habe der Gesetzgeber insbesondere die "Altehen" zu berücksichtigen.158 Eheleute, die nach dem Inkrafttreten des 1. EheRG am 1.7.1977 geheiratet haben, hätten die Nachteile eines möglichen Versorgungsausgleichs bereits berücksichtigen können.159 Die ausdrücklich zitierte Senatsminderheit hielt es sogar für zwingend geboten, die geforderte Härteklausel auf "Altehen" zu beschränken.160 Der Gesetzgeber erfüllte den Auftrag aus BVerfGE 53, 257 durch das Gesetz zur Regelung von Härten im Versorgungsausgleich.161 § 4 des Gesetzes enthält die vom Gericht angesprochene Härteregelung. Allerdings wird die Differenzierung zwischen Alt- und Neuehen, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 28.2.1980 vorgeschlagen hatte162 und die ein Teil des Senats für unabdingbar hielt 163 , nicht aufgegriffen. Das Bundesverfassungsgericht registrierte diese Abweichung und bezog in seinem Urteil vom 5.7.1989 164 Stellung. Zwar sei man in der Entscheidung vom 28.2.1980 davon ausgegangen, daß eine Härteregelung vor allem im Falle der Scheidung von Altehen erforderlich wäre, der Gesetzgeber sei aber nicht verpflichtet gewesen, bei der Ausgestaltung der Härteregelung zwischen Alt- und Neuehen zu differenzieren. 165 Äußerungen des Gerichtes zur subjektiven Erstreckung der Härteregelung bänden den Gesetzgeber nicht.166 Als weiteres Beispiel einer nichtumgesetzten Regelungsvorgabe ist der Gesetzgebungsauftrag vom 20.3.1979 zu nennen.167 Das Bundesverfassungsgericht erklärte durch Beschluß vom selben Tag § 94 Abs. 1 Nr. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG. Der Vorschrift zufolge ruhten die Renten von Ausländern und ihren ausländischen Witwen bzw. Witwern, wenn sie sich freiwillig dauerhaft außerhalb des Geltungsbereiches des AVG aufhielten. Demgegenüber wurden Renten an deutsche An157
BVerfGE 53, 257, 303 und 306.
158
BVerfGE 53, 303, 310.
159
BVerfGE 53, 257, 310 f.
160
BVerfGE 53, 257,311.
161
Gesetz vom 21.2.1983, BGBl. 19831, S. 105.
162
BVerfGE 53, 257, 303, 310 f.
163
BVerfGE 53, 257,311.
164
BVerfGE 80, 297.
165
BVerfGE 80, 297, 313.
166
BVerfGE 80, 297, 309.
167
BVerfGE 51, 1.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
135
spruchsberechtigte im Ausland und an Ausländer, die sich im Geltungsbereich des AVG aufhielten, ausgezahlt. Nach Ansicht des Gerichtes bestanden zwar hinreichende Gründe für eine prinzipielle Ungleichbehandlung,168 das Ausmaß der Ungleichbehandlung sei indessen nicht zu rechtfertigen. 169 Der Gesetzgeber habe die Ruhensregelung durch eine Vorschrift zu ergänzen, die es den anspruchsberechtigten Ausländern ermöglicht, "...eine angemessene Erstattung ihrer Beiträge zu erlangen."170 Diese vom Gericht vorgeschlagene Beitragserstattungslösung wies die Bundesregierung ausdrücklich als unpraktikabel zurück. Sie sei "...nicht weiter verfolgt worden...", weil sie zu rechtssystematischen Schwierigkeiten führe und sich für die Betroffenen nachteilig auswirke.171 Statt dessen sieht Art. 3 Nr. 8 des Gesetzes über die Anpassung der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung im Jahre 1982 172 eine eingeschränkte Rentenzahlung auch an Ausländer vor, die sich gewöhnlich außerhalb des Geltungsbereiches des AVG aufhalten. Höchst umstritten ist schließlich die Umsetzung der Regelungsvorgaben aus dem Urteil zum Länderfinanzausgleich vom 24.6.1986. 173 Das Bundesverfassungsgericht erklärte in dieser Entscheidung unter anderem den gesamten Zweiten Abschnitt des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern für unvereinbar mit Art. 107 Abs. 2 GG. Der Gesetzgeber habe spätestens für das Haushaltsjahr 1988 eine Neuregelung zu treffen. 174 Dabei sei auch zu überprüfen, ob die gegenwärtige Einwohnerwertung der besonderen Situation der Stadtstaaten Hamburg und Bremen angemessen Rechnung trage. Die Angemessenheit lasse sich anhand objektivierbarer Indikatoren beurteilen, etwa einem Großstadtvergleich unter Berücksichtigung der Pendlerproblematik in den Stadtstaaten und des Fehlens eines landesinternen Finanzausgleichs.175 Außerdem sei Bremen im Rahmen der Neufestsetzung der Bundesergänzungszuweisungen ein angemessener Ausgleich für die verfassungswidrig nichtgezahlten Ergänzungszuweisungen in den Jahren 1983 bis 1986 zu gewähren. 176
168
BVerfGE 51, 1,27 f.
169
BVerfGE 51, 1,28.
170
BVerfGE 51, 1,28 f.
171
Begründung des Regierungsentwurfes zum Gesetz über die Anpassung der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung im Jahre 1982, BT-Drs. 9/458, S. 27 f. 172
BGBl. 1981 I,S. 1205.
173
BVerfGE 72, 330.
174
BVerfGE 72, 330, 333 und 422 f.
175
BVerfGE 72, 330,415 f.
176
BVerfGE 72, 330,420 und 423.
136
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
Beide Vorgaben sind nach Ansicht der SPD-regierten Stadtstaaten durch den Regierungsentwurf eines Achten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern 177 nicht erfüllt worden. 178 Das von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Gutachten des IFO-Instituts für Wirtschaftsforschung ziehe keine vergleichbaren Städte heran und gelange so zu einer Einwohnerwertung, die der tatsächlichen Situation widerspricht. 179 Die Pendlerproblematik sei überhaupt nicht berücksichtigt worden. 180 Schließlich liege auch der vorgesehene Nachteilsausgleich für Bremen in Höhe von 200 Mülionen D M um 60 Millionen D M unter dem auszugleichenden Fehlbetrag an Ergänzungszuweisungen, den das Bundesfinanzministerium schon im Jahre 1986 errechnet und anerkannt hatte.181 Das Achte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern 182 trat am 1.1.1988 in Kraft, den genannten Änderungswünschen Hamburg und Bremens wurde nicht entsprochen. Bremen rief daraufhin - wie bereits im Gesetzgebungsverfahren angekündigt - 1 8 3 erneut das Bundesverfassungsgericht an. 184 Es begründete seinen abstrakten Normenkontrollantrag mit dem Vorwurf, die Regierungskoalition habe bei der Umsetzung des Gesetzgebungsauftrages willkürlich einige Vorgaben des Verfassungsgerichtes mißachtet.185 Zur Ableitung einer Pflicht zur Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen trotz des scheinbar entgegenstehenden Wortlauts des Art. 107 Abs. 2 S. 3 GG vgl. E 72, 330, 403. 177
BT-Drs. 11/789.
178
Es handelt sich daher um einen zumindest möglichen Fall nichtumgesetzter Regelungsvorgaben. 179 Rede des hamburgischen Bürgermeisters von Dohnanyi anläßlich der zweiten und dritten Lesung des Gesetzentwurfs am 4.12.1987, BT-Pl.Prot. 11/ 47. Sitzung, S. 3279 und in der abschließenden Beratung im Bundesrat, BR-Prot. der 584. Sitzung am 18.12.1987, S. 448. 180
Von Dohnanyi, BT-PlProt. 11/47. Sitzung, S. 3279 f.
181
Bremens Bürgermeister Wedemeier in der abschließenden Beratung des Regierungsentwurfs im Bundesrat, BR-Prot. der 584. Sitzung am 18.12.1987, S. 452. 182
Gesetz vom 18.12.1987, BGBl. 19871, S. 2764.
183
Wedemeier,
aaO, S. 453.
184
Stengel, Bremen kämpft ums Überleben, Süddeutsche Zeitung vom 4./5. Mai 1991, S. 8. Anhängig sind außerdem Klagen der Stadt Hamburg, des Saar landes und Schleswig-Holsteins. 185
Stengel, aaO, S. 8; der Streit erstreckt sich neben Einwohnerwertung und Nachteilsausgleich auch auf den Ausgleich für Hafenlasten. Zur weiteren Kritik gegenüber dem Gesetz und der Art und Weise seines Zustandekommens, vgl. die Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 11/789, S. 11 und die Rede des Abgeordneten Diller zur ersten Lesung des Entwurfs, BT-Pl.Prot. 11/ 28. Sitzung am 28.9.1987, S. 1862 ff.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
137
d) Kritik gegenüber Gesetzgebungsaufträgen, insbesondere gegenüber Vorgaben und Fristsetzung Im Gesetzgebungsverfahren zum Achten Gesetz zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes äußerten Vertreter der den Gesetzentwurf tragenden Regierungskoalition ihre "Dankbarkeit" in bezug auf die weitreichenden Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes zur Neuregelung des Länderfinanzausgleiches.186 Nach Ansicht der Opposition weist die Umsetzung der Vorgaben allerdings einige Defizite auf. Während das mögliche Implementationsproblem hier in der Nichtumsetzung vordergründig akzeptierter Regelungsvorgaben lag, 187 stoßen Gesetzgebungsaufträge des Verfassungsgerichtes in anderen Fällen auf offene Kritik. Diese richtet sich insbesondere gegen Vorgaben und Fristsetzung. Der bereits dargestellte Gesetzgebungsauftrag aus der Entscheidung vom 20.3.1979 zu §94 Abs. 1 Nr. 1 AVG 1 8 8 vereinte beide Implementationsprobleme. Der Gesetzgeber wies die vom Gericht vorgeschlagene Beitragserstattungslösung ausdrücklich zurück, da sie rechtssystematisch nur unter Schwierigkeiten umsetzbar sei und sich entgegen der Intention des Verfassungsgerichtes für die Betroffenen nachteilig auswirke. 189 Zweifel an der Kompetenz und dem politischen Weitblick der Verfassungsrichter wurden auch im Anschluß an das Urteil vom 27.6.1991 zur Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen190 laut. 191 Das Bundesverfassungsgericht
186 Reden der Abgeordneten Rind und Grünewald zur zweiten und dritten Lesung des Regierungsentwurfs am 4.12.1987, BT-Pl.Prot. 11/47. Sitzung, S. 3272 und S. 3267, die genauen Vorgaben erlaubten es dem Gesetzgeber, ein in Karlsruhe weitgehend unangreifbares Gesetz zu konstruieren. 187 Die gesamte Diskussion des Regierungsentwurfes wird in auffälliger Weise auf der Grundlage der verfassungsgerichtlichen Vorgaben geführt. 188
BVerfGE 51, 1; vgl. oben. S. 134.
189
Begründung des Regierungsentwurfes zum Gesetz über die Anpassung der gesetzlichen Rentenversicherung im Jahre 1982, BT-Drs. 9/458, S. 27 f. Vgl. auch die ähnlich gelagerte Kritik Karsten Schmidts, Gesetzliche Vertretung und Minderjährigenschutz im Unternehmensprivatrecht, BB 1986, S. 1238 ff, gegenüber den Regelungsvorgaben des Bundesverfassungsgerichtes im Zusammenhang mit dem Auftrag vom 13.5.1986 zu §§ 1629, 1643 BGB, BVerfGE 72, 155, 174 f. Schmidt hielt die Vorgaben rechtssystematisch nicht für umsetzbar, BB 1986, S. 1238 ff, S. 1243. 190 191
Abgedruckt in BB, 1991, Beüage 16 vom 30.7.1991, S. 1 ff.
Vgl. HerzlPerina, Schlechte Zeiten für Schummler, Die Zeit Nr. 28 vom 5. Juli 1991, S. 19, die entsprechende Äußerungen des finanzpolitischen Sprechers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Faltlhauser und des FDP-Abgeordneten Solms zitieren.
138
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
hatte in seiner Entscheidung §§ 2 Abs. 1 Nr. 5 und 20 Abs. 1 Nr. 8 EStG 1979 zwar für noch vereinbar erklärt, obwohl die völlig unzureichende Erhebungsregelung im Ergebnis bereits zu einem Verstoß gegen die Besteuerungsgleichheit führte. 192 Eine Unvereinbarerklärung der §§ 2 Abs. 1 Nr. 5, 20 Abs. 1 Nr. 8 EStG 1979 schied nach Ansicht des Gerichtes zum gegenwärtigen Zeitpunkt aus, da dem Gesetzgeber das Durchschlagen von Erhebungsmängeln auf die Wirksamkeit der materiellen Steuernorm nicht bekannt gewesen sei und außerdem ein Interesse am kontinuierlichen Fortbestand der materiellen Norm als Grundlage der Steuerpflicht bestehe.193 Der Gesetzgeber sei jedoch verpflichtet, spätestens bis zum 1.1.1993 die Besteuerung von Kapitalerträgen so zu organisieren, daß eine wirksame Erfassung sämtlicher Kapitalerträge garantiert und damit im Ergebnis dem Gebot der Besteuerungsgleichheit genügt sei. 194 Gesetzgebungsauftrag und Fristsetzung ergänzte das Gericht durch einen Vorschlag zur Ausgestaltung der geforderten Regelung.195 Der Auftrag des Verfassungsgerichtes wird nach Ansicht der Politiker katastrophale volkswirtschaftliche Folgen haben. Schon die Einführung der nur zehnprozentigen Quellensteuer im Jahre 1988 verursachte einen Kapitaltransfer von 40 bis 60 Milliarden D M ins Ausland, der Wert der Mark sank und ausländische Investoren zogen ihr Kapital aus der Bundesrepublik ab. Infolge des Verfassungsgerichtsurteils wird eine Kapitalflucht in vier- bis achtfacher Höhe befürchtet. Die Konsequenzen wären in der gegenwärtigen Situation fatal: Der Staat ist gezwungen, allein im Jahr 1991 Kapital im Wert von fast 200 Milliarden D M aufzunehmen, um die deutsche Einheit zu finanzieren. Schrumpft aber das Volumen des Kapitalmarktes durch Vermögenstransfer ins Ausland, ist ein Anstieg des Zinsniveaus zu erwarten. Die staatliche Kapitalaufhahme wäre damit ihrerseits kaum finanzierbar. 196 Eine erneute Schwächung der D-Mark und das Ausbleiben ausländischer Investitionen könnten gleichzeitig das Wirtschaftswachstum negativ beeinflussen und damit staatliche Steuereinnahmen gefährden. Der Gesetzgebungsauftrag des Bundesverfassunsgerichtes belastet die Staatskasse möglicherweise in einem Ausmaß, das eine Rechtfertigung durch die derzeitigen erhebungsbedingten Steuerverluste in Höhe von jährlich etwa sechs Milliarden D M 1 9 7 ausschließt. Die Forderung nach vorübergehender Zu-
192
BVerfG, aaO, S. 14.
193
BVerfG, aaO, S. 14.
194
BVerfG, aaO, S. 14.
195
BVerfG, aaO, S. 13 f.
196
Zu den Angaben vgl. Herz!Perina,
197
BVerfG, aaO, S. 12.
aaO, S. 19.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
139
rückhaltung des Bundesverfassungsgerichtes erscheint trotz der bestehenden verfassungsrechtlichen Mängel der Kapitalertragsbesteuerung aus Chaos-Gesichtspunkten naheliegend. Die wirtschaftlichen Befürchtungen der Kritiker entbehren offensichtlich nicht jeder Grundlage: Obwohl die Bundesregierung sofort versuchte, den Schaden durch eine beschwichtigende Kommentierung der Entscheidung aus Karlsruhe in Grenzen zu halten, fielen die Aktienkurse an den deutschen Börsen am Tag nach der Urteilsverkündung um mehr als zweieinhalb Prozent, während Dollar und Zinsen deutlich anstiegen.198 Dem Vorwurf einer gewissen Weltfremdheit sah sich das Bundesverfassungsgericht ebenfalls im Zusammenhang mit der Entscheidung zum Volkszählungsgesetz199 ausgesetzt. Das Gericht forderte den Gesetzgeber zur Nachbesserung des Erhebungsprogramms auf. Unter anderem sei die Weitergabe von Einzelinformationen auf Gemeindeebene neu zu regeln. Demgegenüber sei ein Datenmißbrauch bei der Weitergabe von Einzelangaben zu wissenschaftlichen Zwecken gem. § 9 Abs. 4 VZG 1983 nicht zu befürchten, da die Wissenschaft an der Zuordnung von Daten zur Einzelperson nicht interessiert sei. 200 Dies veranlaßte den Abgeordneten Broli in der ersten Lesung des Regierungsentwurfes zum Volkszählungsgesetz 1987 festzustellen, "man [merke]..., die Herren Richter in Karlsruhe sind weitgehend Professoren und nicht Gemeindebeamte."201 Diese Kritik scheint kein Ausnahmefall gewesen zu sein. Immerhin hielt es der Abgeordnete Hirsch in derselben Bundestagsberatung für erforderlich, daraufhinzuweisen, das Volkszählungsurteil sei kein "...Ausrutscher einiger weltfremder Professoren." 202 Auch die jeweils mit Regelungsvorgaben verbundenen Gesetzgebungsaufträge zur Besteuerung Alleinerziehender 203 und zur Witwerrente 204 stießen auf Kritik im Gesetzgebungsverfahren. Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes zur steuerlichen Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten Alleinstehender, die nach Ansicht der Regierungskoalition wenig Spielraum für die gesetzliche Neuregelung ließen,205 führten zu dem Vorwurf, "Steuergesetzge-
198
Vgl. Herz/Perina,
199
BVerfGE 65, 1.
aaO, S. 19.
200
BVerfGE 65, 1,69.
201
BT-Pl.Prot. 10/ 123. Sitzung am 28.2.1985, S. 9095.
202
BT-Pl.Prot. 10/ 123. Sitzung, S. 9097.
203
Entscheidung vom 3.11.1982, BVerfGE 61, 319.
204
Entscheidung vom 12.3.1975, BVerfGE 39, 169.
205
Von Schmude anläßlich der zweiten und dritten Lesung des Regierungsentwurfes eines Steuerbereinigungsgesetzes 1985 am 15.11.1984, BT-Pl.Proz. 10/ 101. Sitzung, S. 7376.
140
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
bung [mache] inzwischen das Bundesverfassungsgericht und nicht mehr die dazu befugten Stellen." 206 Die umfangreichen Regelungsvorschläge des Bundesverfassungsgerichtes zur Neuregelung der Hinterbliebenenrente 207 lenkten nach Ansicht des Abgeordneten Günther von dem eigentlichen Auftragsinhalt, der Gleichstellung der Witwer und Witwen i m Rentenrecht, ab. Die übersteigerten Erwartungen gegenüber dem Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetz, das den Auftrag des Bundesverfassungsgericht umsetzen sollte, 208 seien Ergebnis einer Beeinflussung der öffentlichen Meinung und des politischen Prozesses. Das Urteil sei als Aufforderung zu einer umfassenden Reform des Hinterbliebenenrentenrechtes verstanden worden. 209 Dabei habe das Bundesverfassungsgericht nicht einmal eine Lösung angeboten, wie die intendierte Besserstellung der Witwer finanziert werden könne. 2 1 0 I m Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum Gesetz zur Regelung von Härten i m Versorgungsausgleich übt der Gesetzgeber schließlich Kritik gegenüber der Fristsetzung durch das Verfassungsgericht. Qualitative Mängel der ge-
206
Rede des Abgeordneten Kriszan in derselben Bundestagsdebatte, BT-Pl.Prot. 10/ 101. Sitzung, S. 7383. 207
BVerfGE 39, 169, 191-193.
208
Vgl. den Antrag der Länder Bremen, Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen an den Bundesrat, der den Regierungsentwurf als "Minimalregelung" bezeichnete, BR-Drs. 500/2/84, S, 1. 209 Rede des Abgeodneten Günther zur zweiten und dritten Lesung des Regierungsentwurfes zum Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetz, BT-Pl.Prot. 10/147. Sitzung vom 21.6.1985, S. 10911. Eine vergleichbare Situation stellte sich auch im Anschluß an die Entscheidung zur Besteuerung Alleinerziehender ein. Das Bundesverfassungsgericht wies jenseits des eigentlichen Gesetzgebungsauftrages, der sich ausschließlich auf die Besteuerung von Alleinstehenden mit Kindern bezog und diesbezüglich Vorgaben machte (BVerfGE 61, 319, 354 f), auf die vergleichbare Lage solcher Ehepaare hin, die die Splittingvorteüe faktisch nicht nutzen können. Das sei etwa dann der Fall, wenn beide Ehepartner zur Sicherung des Kindesunterhaltes einer Berufstätigkeit nachgehen müssen oder einer der Ehegatten wegen Krankheit oder Körperbehinderung weder berufstätig sein noch die Kinderbetreuung übernehmen könne, BVerfGE 61, 319, 351. Dieses unverbindliche obiter dictum war einer der wesentlichen Streitpunkte im Gesetzgebungsverfahren zum Steuerbereinigungsgesetz 1985 und löste Vorwürfe aus, die Vorgaben des Gerichtes seien nicht erfüllt worden, vgl. den ersten Bericht des Finanzausschusses vom 14.11.1984, BT-Drs. 10/2370, S. 6 und 8, außerdem BT-Drs. 10/636, S. 56, BT-Pl.Ptot. 10/ 101. Sitzung, S. 7377, BR-Drs. 140/84, S. 37 und BR-Drs. 140/1/84, S. 33. 210
Günther, aaO, S. 10911.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
141
setzlichen Regelung wurden unter Hinweis auf die fristbedingte Zeitnot hingenommen.211 e) Diffusionswirkung Ein Implementationsproblem besonderer Art ist das der Diffusionswirkung, der "unkontrollierten Implementation".212 Im Gegensatz zu den bisher erörterten Fallgruppen handelt es sich um eine Programmabweichung unter umgekehrten Vorzeichen. Der Gesetzgebungsauftrag wird losgelöst von dem ursprünglichen Programmziel des Verfassungsgerichtes herangezogen, um selbständige, nicht der Programmimplementation dienende Maßnahmen einzelner Akteure zu rechtfertigen. Eine derartige unkontrollierte Implementation zeigt sich Gawron!Rogowski zufolge bei der Umsetzung des Gesetzgebungsauftrages aus dem Volkszählungsurteil.213 Die Vorgaben des Gerichtes für die Weitergabe von Daten durch Behörden werden eingesetzt, um "...bislang nicht durchsetzbare 'administrative goals' zu erreichen..." und "...unerwünschte Leistungen [abzublocken]...".214
f) Implementationsproblem im Zusammenhang mit der vorangegangenen Entscheidung Schließlich enthält die Liste des Bundesjustizministeriums einige Entscheidungen, die zwar selbst problemlos umgesetzt wurden, die aber auf Implementationsprobleme im Zusammenhang mit vorangegangenen Entscheidungen hinweisen. Als eine solche Reaktion des Verfassungsgerichtes auf die mangelhafte Umsetzung eines Gesetzgebungsauftrages ist das Urteil vom 8.4.1986 zur Ausweitung des schuldrechtlichen Versorgungsausgleiches durch das Gesetz zur Regelung von Härten im Versorgungsausgleich vom 21.2.1983 215 zu verstehen. Mit dem Erlaß dieses Gesetzes erfüllte der Gesetzgeber in verfas-
211 Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 9/2296, S. 10, aufgenommen in der Stellungnahme des Bundesjustizministers anläßlich der verfassungsgerichtlichen Überprüfung der Auftragserfüllung in der Entscheidung vom 8.4.1986, BVerfGE 71, 364, 392; vgl. aber die ausdrückliche Zurückweisung dieses Vorwurfes durch das Bundesverfassungsgericht in derselben Entscheidung, E 71, 363, 393. 212
Vgl. Gawron!Rogowski, sungsgerichts, S. 234. 213
BVerfGE 65, 1.
214
Gawron!Rogowski,
215
BGBl. 1983 I, S. 105.
Implementation von Programmen des Bundesverfas-
aaO, S. 2.
142
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
sungsmäßiger Weise den Auftrag aus der Entscheidung vom 28.2.1980 216 , im Fall des Splittings und Quasi-Splittings eine Härteregelung vorzusehen, wenn der Belastung des zum Versorgungsausgleich Verpflichteten keine angemessene Leistung an den Berechtigten gegenübersteht.217 Gleichzeitig ersetzte er unter dem Eindruck der erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken, die in den anhängigen Verfahren zu § 1587b Abs. 3 BGB laut geworden waren, § 1587b Abs. 3 S. 1 BGB durch die §§ 1 und 2 des VAHRG vom 21.2.1983 218 und griff damit dem Beschluß des Verfassungsgerichtes vom 27.1.1983 219 vor. 220 Die Regelungsvorschläge des Bundesverfassungsgerichtes, 221 die auch die Bedenken der Opposition gegenüber der ausnahmslosen Anordnung des schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs durch § 2 des Entwurfes zum VAHRG bestätigten,222 blieben unberücksichtigt.223 Die erforderliche Nachbesserung erfolgte erst im Anschluß an das Urteil vom 8.4.1986 224 , in dem das Bundesverfassungsgericht §§ 2 und 13 VAHRG für nichtig bzw. für unvereinbar erklärte. 225 Dabei griff das Gericht exakt die Bedenken auf, die die Minder-
216
BVerfGE 53, 257.
217
BVerfGE 53, 257, 257, 258, 289, 300, 306 und 312; umgesetzt durch § 4 des Gesetzes zur Regelung von Härten im Versorgungsausgleich; Verfassungsmäßigkeit der Umsetzung bestätigt durch Urteil vom 5.7.1989, BVerfGE 80, 297. 218
Vgl. BVerfGE 71, 364, 388.
219
BVerfGE 63, 88; in diesem Beschluß erklärte das Bundesverfassungsgericht § 1587b Abs. 3 S. 1 1. Hs. für nichtig und forderte die in § 7 VAHRG bereits vorgesehene Härteregelung. 220 Das Gesetz zur Regelung von Härten im Versorgungsausgleich datiert zwar fast vier Wochen nach dem einschlägigen Verfassungsgerichtsbeschluß, die abschließende Lesung zum VAHRG fand jedoch bereits am 16.12.1982 statt. 221
BVerfGE 63, 88,116 f.
222
Vgl. den Bericht des Rechtsausschusses vom 13.12.1982, BT-Drs. 9/2296, S. 9 f und die Alternativlösungen im Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und FDP vom 15.9.1982, BT-Drs. 9/1981, S. 3-5, 26 ff und 33 f sowie die Bestätigung durch BVerfGE 63, 88, 117. 223 Die offensichtliche Eüe, in der die Bundesregierung die Umsetzung eines noch gar nicht ausgesprochenen Gesetzgebungsauftrages betrieb (Sie berief sich dabei auf die Frist, die das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber zur Erfüllung des Auftrages aus BVerfGE 53, 257 gesetzt hatte. Dieser Auftrag sollte ebenfalls durch das VAHRG umgesetzt werden.), erklärt sich möglicherweise gerade dadurch, daß eine solche Bestätigung der Oppositionskritik befürchtet wurde. 224 225
BVerfGE 71, 364.
Die Entscheidung enthält entsprechende Gesetzgebungsaufträge, BVerfGE 71, 364, 394 und 399. Sie wurden umgesetzt durch das Gesetz über weitere Maßnahmen auf dem Gebiet des Versorgungsausgleichs vom 8.12.1986, BGBl. 1986 I, S. 2317.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
143
heit bereits in den Beratungen des Rechtsausschusses zum VAHRG geäußert hatte.226 In dem Beschluß vom 3.12.1985 zur Scheidung gemischt-ausländischer Ehen gem. § 606b Nr. 1 ZPO 2 2 7 warf das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber die mangelnde Umsetzung der "Spanier"-Entscheidung228 vor. Diese Entscheidung enthielt zwar keinen ausdrücklichen Appell, sie stellte jedoch sowohl in den Leitsätzen als auch in den Gründen klar, daß die Vorschriften des deutschen Internationalen Privatrechts uneingeschränkt an den Grundrechten zu messen sind.229 § 606b Nr.l ZPO machte die Scheidung gemischt-ausländischer Ehen durch deutsche Gerichte davon abhängig, daß die Scheidung im Heimatland des Ehemannes anerkannt wurde. Auf das Heimatrecht der Frau kam es demgegenüber nicht an. Diesen offensichtlichen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 GG hatte der Gesetzgeber auch 14 Jahre nach der "Spanier"-Entscheidung noch nicht beseitigt.230 Das Gericht forderte ihn deshalb in der Entscheidung vom 3.12.1985 nachdrücklich auf, alsbald eine verfassungsmäßige Neuregelung zu treffen. 231 Der Gesetzgeber erfüllte den Gesetzgebungsauftrag durch das Gesetz zur Neuregelung des Internationalen Privatrechts, indem er § 606b ZPO aufhob und die Scheidung gemischt-ausländischer Ehen verfassungsgemäß in § 606a ZPO regelte. Implementationsprobleme im Zusammenhang mit der Entscheidung vom 6.5.1975 zu § 60 Abs. 2 Nr. 8 Reichsknappschaftsgesetz 232 zwangen das Gericht, fünf Jahre später erneut einzuschreiten.233 In der Ausgangsentscheidung hatte das Gericht die Regelung des § 60 Abs. 2 Nr. 8. Reichsknappschaftsgesetz für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG erklärt, da sie die Gewährung des Kinderzuschusses an Großeltern davon abhängig machte, daß der Versicherte sein Enkelkind vor Eintritt des Versicherungsfalles in seinem Haushalt aufgenommen hatte. Großeltern, die ihr Enkelkind erst aufnahmen, nachdem sie bereits Rente bezogen, erhielten trotz der gleichen finanziellen Belastung keinen
226 Vgl. den Hinweis auf die Nachteile einer ausnahmslosen Anknüpfung an den "schwachen" schuldrechtlichen Versorgungsausgleich und auf die fehlende Rückwirkung der Neuregelung, BT-Drs. 9/2296, S. 9 und 10. 227
BVerfGE 71, 224.
228
Beschluß vom 4.5.1971, BVerfGE 31, 58.
229
BVerfGE 31, 58, 58 und 73.
230
Allerdings lag der Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Internationalen Privatrechts zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits seit zwei Jahren vor. 231
BVerfGE 71, 224, 229.
232
BVerfGE 39, 316.
233
Beschluß vom 8.10.1980, BVerfGE 55, 100.
144
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
Zuschuß zur Knappschaftsrente. Das Bundesverfassungsgericht forderte den Gesetzgeber auf, den Verfassungsverstoß zu beseitigen und deutete dabei unter anderem die Möglichkeit an, den Kinderzuschuß ersatzlos zu streichen.234 Diesen Vorschlag griff der Gesetzgeber mit dem 19. Rentenanpassungsgesetz vom 3.6.1976235 auf, unterließ es aber, die bis zum Inkrafttreten der Neuregelung am 1.7.1976 fortgeführte Ungleichbehandlung durch eine Rückwirkung der Regelung zu beheben.236 Das Gericht erklärte daraufhin die einschlägigen Vorschriften des 19. Rentenanpassungsgesetzes mit Beschluß vom 8.10.1980 für nichtig.237 Es verpflichtete den Gesetzgeber, den bisher in verfassungswidriger Weise nichtberücksichtigten Großeltern den Zuschuß nachträglich für die Zeit bis zum 30.6.1976 zu gewähren.238 Diesem Auftrag kam der Gesetzgeber durch Art. 5 Nr. 4 und Art. 6 Nr. 4 des Gesetzes über die Anpassung der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung im Jahr 1982239nach. 3. Bewertung des Programmerfolges
Gesetzgebungsaufträge nehmen nur ausnahmsweise an der Bindungswirkung der Entscheidung teil. Lediglich 20% der Listenentscheidungen, die zum 1.4.1989 bereits umgesetzt waren, weisen einen Auftrag im Entscheidungstenor auf. 240 In zwei Fällen enthält die Entscheidungsformel außerdem eine Fristbestimmung.241 Regelungsvorgaben finden sich dagegen grundsätzlich in den Urteilsgründen und erlangen dort auch dann keine Bindungswirkung, wenn das Gericht im Tenor ausdrücklich auf die Gründe verweist. 242 Vorgaben des Gerichtes begegnen darüber hinaus tendenziell verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn sie sich auf die Angabe einer Regelungsmöglichkeit beschränken. Trotz dieser partiellen Zweifel an der Zulässigkeit und der weitgehenden rechtlichen Unverbindlichkeit des Programms treten Implementationsprobleme bisher nicht in Form absoluter Untätigkeit des Gesetzgebers auf. Sieben der 52
234
BVerfGE 39, 316, 332 f.
235
BGBl. 19761, S. 1373.
236 Die Schuld an der verfassungswidrigen Implementation weist Ipsen, JZ 1983, S. 41 ff, S. 42 eindeutig dem Verfassungsgericht zu. 237
BVerfGE 55, 100, 100 f.
238
BVerfGE 55, 100, 113.
239
Gesetz vom 1.12.1981, BGBl. 1981 I, S. 1205.
240
Vgl. BVerfGE 61, 319; E 65,1; E 53,257; E 72, 9; E 72, 330; E 73,40.
241
Vgl. BVerfGE 61, 319 und E 72, 330.
242
Zur "Kopplungsklausel" vgl. bereits oben S. 92.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
145
Listenentscheidungen weisen zwar eine bedenklich lange Umsetzungsdauer auf, der Gesetzgeber hat jedoch noch keine ausdrücklich vom Verfassungsgericht gesetzte Frist überschritten. Die durchschnittliche Erledigungsdauer von zweieinviertel Jahren spricht überdies für eine grundsätzlich unverzügliche Umsetzung der Aufträge. 18 der 31 umgesetzten Listenentscheidungen enthalten Regelungsvorgaben. Trotz ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit wurden die Vorgaben nur in vier Fällen nicht implementiert.243 Diese relativ gute Umsetzungsquote erscheint in einem noch besseren Licht, wenn man berücksichtigt, daß die Umsetzungsdefizite im Anschluß an die Entscheidung zum Länderfinanzausgleich weit weniger offensichtlich sind als in den übrigen genannten Fällen. Auch die Kritik gegenüber Appellen hält sich bezogen auf die Gesamtheit der Aufträge in Grenzen. 31 Aufträgen, von denen 18 mit Regelungsvorgaben und fünf mit einer Fristsetzung verbunden sind, stehen lediglich fünf Fälle gegenüber, in denen der Auftrag als Ganzes, die Regelungsvorgabe oder die Fristsetzung kritisiert werden. Festzustellen ist somit eine hohe Erfolgsquote der Gesetzgebungsaufträge als verfassungsgerichtliche Programme. Implementationsprobleme stellen nur einen Ausnahmefall dar, sind aber dennoch ernst zu nehmen, da sie den schmalen Grat verdeutlichen, der zwischen erweiterter Einflußnahme auf die Rechtsfolgenabwicklung und Akzeptanzverlust liegt. Im Fall der Gesetzgebungsaufträge verläuft dieser Grat um ein beachtliches Maß jenseits der rechtlichen Grenzziehung. Die faktische Bedeutung der verfassungsgerichtlichen Aufträge im politischen Prozeß bedarf einer steuerungstheoretischen Erläuterung.
IV. Umsetzung und Umsetzungsprobleme aus steuerungstheoretischer Sicht Der weitgehende Programmerfolg, aber auch die gelegentlichen Umsetzungsprobleme lassen sich möglicherweise durch eine implementationstheoretische Untersuchung von Programm und Umsetzungsprozeß erklären. Es liegt nahe, den Grund für den überwiegenden Erfolg in einer günstigen Implementationsstruktur kombiniert mit geschicktem Steuerungsverhalten des Bundesverfassungsgerichtes als Programmsetzer zu vermuten. 244 243
BVerfGE 51, 1; E 55, 134; E 53,257 und E 72, 330.
244
Allgemein zu den einzelnen Bedingungen des Programmerfolgs und ihren wechselseitigen Beziehungen, Mayntz, Zur Einleitung: Probleme der Theorienbüdung, in: 10 Kleuker
146
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
1. Implementationsstruktur
Die Implementationsstruktur wird durch die speziellen Eigenarten der Umsetzungsakteure sowie ihre wechselseitigen Beziehungen bestimmt.245 Sie beschreibt somit die akteurbezogenen Durchfuhrungsbedingungen eines Programms, die Rahmensituation für den Umsetzungsprozeß zwischen Programmformulierung und Wirkungseintritt beim Programmadressaten. Die Untersuchung der jeweiligen Implementationsstruktur hat sich an den einzelnen Adressatenfeldern zu orientieren. 246 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes richten sich an verschiedene Gruppen von Adressaten. Gawron/Rogowski unterscheiden die Adressatenfelder Gericht, Gesetzgebung, Verwaltung, Verbände/Parteien und Unternehmen/Privatpersonen;247 Ebsen differenziert nach den Bereichen Fachgerichtsbarkeiten, Gesetzgebung, exekutivisches Staat-Bürger-Verhältnis sowie Verfassungsorganbeziehungen und föderale Beziehungen.248 Für die Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge kommt es selbstverständlich in erster Linie auf das Implementationsfeld Gesetzgebung an, Wirkungen der Appellentscheidungen in anderen Bereichen haben demgegenüber nur sekundäre Bedeutung.249 Um erfassen zu können, wie sich die strukturellen Gegebenheiten des Implementationsfeldes Gesetzgebung auf die Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge auswirken, ist zunächst eine Beschreibung des Gesetzgebungsprozesses erforderlich. Im Anschluß an die Bestandsaufnahme der beteiligten Implementationsakteure können deren Eigenarten und wechselseitigen Beziehungen untersucht werden, um schließlich Rückschlüsse von den akteurbezogenen Durchführungsbedingungen auf die Programmumsetzung und den Umsetzungserfolg ziehen zu können.
Mayntz (Hrsg.). Implementation politischer Programme Π, Ansätze zur Theorienbildung, S. 1 ff, S. 16 ff. 245
Windhoff-Héritier
, Politikimplementation, S. 7; vgl. bereits oben S. 117.
246
Vgl. ebenso GawronlRogowski, sentscheidungen, S. 353. 247
Gawron/Rogowski,
Implementation von Bundesverfassungsgericht-
aaO, S. 353.
248
Ebsen, Entscheidungsspezifische und adressatenspezifische Durchsetzungsbedingungen, S. 179. 249 Vgl. unten zum Ausweichen des Bundesverfassungsgerichtes auf andere Implementationsfelder, S. 180.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
147
a) Gesetzgebungsprozeß und beteiligte Akteure Das Gesetzgebungsverfahren gliedert sich in verschiedene Phasen. Die Verfassung regelt in den Art. 76 ff GG lediglich das Verfahren von der Gesetzesinitiative über das Beratungsverfahren in Bundestag und Bundesrat bis zur Ausfertigung und Verkündung. Nicht erfaßt ist demgegenüber das vorparlamentarische Stadium der Entwurfserarbeitung, das mit der Gesetzesinitiative durch die Bundesregierung, den Bundesrat oder eine Gruppe von Abgeordneten endet. Die beiden Phasen der Gesetzesentstehung lassen sich als "inneres" und "äußeres" Gesetzgebungsverfahren unterscheiden.250 Das "äußere", förmliche Gesetzgebungsverfahren bedarf keiner ausführlichen Erläuterung. Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat und Bundespräsident bilden in ihrem verfassungsrechtlich organisierten Zusammenspiel "den Gesetzgeber".251 Die genannten Verfassungsorgane sind die Adressaten möglicher Gesetzgebungspflichten, 252 die sich je nach Funktion im Gesetzgebungsverfahren als Initiativ-, Förderungs- oder Beschleunigungspflichten darstellen. 253 Obwohl Art. 76 Abs. 1 GG die Gesetzesvorlage wahlweise durch die Bundesregierung, den Bundesrat oder aus der Mitte des Bundestages vorsieht, tritt ganz überwiegend die Bundesregierung als Initiator auf. 254 Zwischen 1949 und 1979 hat der Bundestag etwa 3400 Gesetze verabschiedet. In diesem Zeitraum sind 3175 Gesetzesinitiativen der Bundesregierung zu verzeichnen, während der Bundesrat nur 215 Entwürfe vorlegte. Aus der Mitte des Bundestages kamen zwar beachtliche 1781 Entwürfe, diese Zahl ist jedoch zu relativieren. Nur 679 der Vorlagen wurden Gesetz. Außerdem sind auch solche Entwürfe umfaßt, die von der Bundesregierung ausgearbeitet und lediglich zur Beschleunigung aus der Mitte des Bundestages eingebracht wurden. 255
250
Hugger, Gesetze, S. 52.
251
Jekewitz, Der Staat 19 (1980), S. 535 ff, 539.
252
Vgl. oben S. 107.
253
Vgl. oben S. 107 ff.
254
Kindermann, Ministerielle Richtlinien der Gesetzgebungstechnik, S. 86 f; Schneider, Gesetzgebung, S. 55; Rottmann, Wandlungen im Prozeß der Gesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Fg. zum 10jährigen Jubiläum der Gesellschaft für Rechtspolitik, S. 329 ff, S. 331; Karpen, Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungslehre, S. 38; Hill, Impulse zum Erlaß eines Gesetzes, DÖV 1981, S. 487 ff, 491; Ellwein, Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 1093 ff, S. 1105. 255 Angaben bei Schneider, Gesetzgebung, S. 55; zu den Vorteilen, einen Gesetzentwurf über die Abgeordneten einzubringen, vgl. auch Kindermann, aaO, S. 87.
148
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
Ein Blick auf die umgesetzten Listenentscheidungen bestätigt dieses Bild. Einer Vorlage des Bundsrates256 sowie drei Entwürfen aus der Mitte des Bundestages257 stehen 31 Fälle gegenüber, in denen die Bundesregierung im Anschluß an einen verfassungsgerichtlichen Gesetzgebungsauftrag die Inititiative ergriff. Das Inititiatiwerhalten im "äußeren" Gesetzgebungsverfahren erlaubt es, sich bei der Beschreibung der vorparlamentarischen "inneren" Entwurfsphase auf die Entstehung der Regierungsentwürfe zu beschränken. Die Ausarbeitung der Regierungsvorlagen ist Aufgabe der Ministerialbürokratie. 258 Den Ausgangspunkt des administrationsinternen Verfahrens bildet ein Problemimpuls. Handlungsbedarf kann sowohl durch den formellen Gesetzgeber, d.h. die am "äußeren" Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorgane signalisiert werden, als auch durch Interessengruppen, die öffentliche Meinung oder auch durch tatsächliche Entwicklungen.259 Im Falle der Gesetzgebungsaufträge fungiert das Bundesverfassungsgericht als Impulsgeber.260 Abgesehen von Gesetzgebungsprogrammen der Regierung wird die Ministerialbürokratie grundsätzlich nicht auf Weisung des formellen Gesetzgebers tätig, sondern greift die Problemimpulse selbständig auf. 261 Das gilt insbesondere für die Gesetzgebungsaufträge. Verfassungsgerichtliche Rechtsprechung erreicht den formellen Gesetzgeber erst "...mittelbar über das Medium des Mini-
256
Bundesratentwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Zerlegungsgesetzes, BR-Drs. 10/306, der zusammen mit dem Regierungsentwurf eines Achten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, BT-Drs. 11/789, den Appell aus der Verfassungsgerichtsentscheidung zum Länderfinanzausgleich vom 24.6.1986, BVerfGE 72, 330, aufgriff. 257 Fraktionsentwurf (CDU/CSU- und FDP-Fraktion) eines Achten Gesetzes zur Änderung des AFG, BT-Drs. 11/800, zur Umsetzung des Auftrages aus BVerfGE 74, 203 sowie Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze durch die Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP, BT-Drs. 11/2421, der den Gesetzgebungsauftrag aus BVerfGE 73, 40 implementierte. Die Entwürfe der CDU/CSU-Fraktion, BT-Drs. 9/562, und der Fraktionen von SPD und FDP, BT-Drs. 9/1981, faßte der Rechtsausschuß mit einem Regierungsentwurf, BT-Drs. 9/34, zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Härten im Versorgungsausgleich zusammen, BT-Drs. 9/2296. Das VAHRG vom 21.2.1983, BGBl. I, S. 105, setzte entgegen der Listenangaben die Aufträge aus den Entscheidungen BVerfGE 53,257 und E 63, 88 um. 258
Leonhardt, Vom Gesetzgebungsauftrag bis zur Verabschiedung, in: Bundesakademie für öffentliche Verwaltung (Hrsg.), Praxis der Gesetzgebung, S. 46 ff, S. 47, spricht hier von der "...[zentralen] Aufgabe der Ministerialverwaltung." 259
Vgl. Karpen, Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungslehre, S. 37 f.
260
Der Tätigkeit des Gerichtes ist wiederum die Problemerkenntnis vorgelagert, die zur Klageerhebung führte. 261
Leonhardt, Gesetzgebungsauftrag, S. 48.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
149
sterialbeamten."262 Erkennt das zuständige Fachreferat den Handlungsbedarf z.B. infolge einer Appellentscheidung, bereitet es einen ersten Gesetzentwurf vor. Das Verfahren von der Erstellung dieses Referatsentwurfs bis zum Kabinettsbeschluß, der den Gesetzentwurf zum Regierungsentwurf macht, ist im besonderen Teil der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO II) 2 6 3 und in den Hausanordnungen der einzelnen Fachressorts geregelt. Es kann hier nur in wesentlichen Zügen wiedergegeben werden. 264 Zunächst leitet das federführende Referat den Entwurf zur Beratung und Abstimmung an die übrigen Referate des eigenen Hauses. Ist das Konzept hausintern als Ressortentwurf akzeptiert, sehen die §§ 22 ff GGO I I eine Reihe von Beteiligungen und Unterrichtungen vor. Von besonderer Bedeutung sind hier die Unterrichtung des Bundeskanzleramtes gem. § 22 GGO I I und die Beteiligung der Bundesministerien gem. § 23 Abs. 2 GGO II. Da alle Ressorts schließlich der Kabinettsvorlage zustimmen müssen, erscheint es zumindest sinnvoll, bereits im Vorbereitungsstadium sämtliche Ministerien zu beteiligen. Geschieht dies nicht, enthält § 23 Abs. 2 GGO I I einen Katalog notwendiger Beteiligungen.265 In grundgesetzlichen Fragen sind das Justiz- und das Innenministerium gem. § 23 Abs. 2 Nr. 2 GGO I I notwendig hinzuziehen. Darüber hinaus ist das Justizministerium unabhängig von der Regelungsmaterie gem. 23 Abs. 2 Nr. 3 GGO I I zur Vorbereitung der Rechtsförmlichkeitsprüfung zu beteiligen. Allein die Hürde der Rechtsförmlichkeitsprüfung gem. § 38 GGO I I 2 6 6 sichert so den Einfluß des Bundesministeriums der Justiz auf jede ministerielle Entwurfsentwicklung. Fachlich wird das Justizministerium über die in § 23 Abs. 2 Nr. 2 GGO I I vorgesehene Beteiligung in Verfassungsfragen hinaus auch bei Problemen des einfachgesetzlichen Prozeß- oder materiellen Rechts sowie in rechtspolitischen Fragen hinzugezogen.267 Schon die Beteiligung in verfassungsrechtlichen Angelegenheiten gem. § 23 Abs. 2 Nr. 2 GGO I I garantiert jedoch eine fachliche Mitwirkung des Bundesministeriums der Justiz bei der Umsetzung verfassungsgerichtlicher Gesetzgebungsaufträge. Die Beteiligung der einzelnen Fachministerien endet mit einer Schlußabstimmung. Im Anschluß daran findet die schon angesprochene Rechtsförmlich262 Aussagen von Verfassungsrichtern, zitiert bei Luetjohann, Nicht-normative Wirkungen, S. 43. 263
GGO Π vom 15.10.1976, GMB1. 1976, S. 550.
264
Ausführliche Beschreibungen finden sich bei Hugger , Gesetze, S. 53 ff, bei Leonhard, Gesetzgebungsauftrag, S. 51 ff und bei Schneider, Gesetzgebung, S. 58 ff. 265
Leonhard, Gesetzgebungsauftrag, S. 54.
266
Ausführlich zur Rechtsförmlichkeitsprüfting, Göbel y Rechtsförmlichkeitsprüfung in der Bundespraxis, in: Bundesakademie für öffentliche Verwaltung (Hrsg.), Praxis der Gesetzgebung, S.104 ff. 267
Göbel, Rechtsförmlichkeit, S. 105, M/D/H/S-Maunz
y
zu Art. 76, Rz. 11.
150
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
keitsprüfung durch das Bundesministerium der Justiz gem. § 38 GGO I I statt. Erst wenn der Entwurf auch diese Station passiert hat, legt ihn der federführende Bundesminister dem Kabinett zur Beratung und Beschlußfassung vor. Beschließt die Bundesregierung den Ressortentwurf, wird er als Regierungsentwurf an den Bundesrat weitergeleitet und das "äußere" Gesetzgebungsverfahren beginnt. Bisher bleibt somit festzuhalten: Der Gesetzgebungsprozeß gliedert sich in zwei Phasen. Dem formellen, in Art. 76 ff GG geregelten Gesetzgebungsverfahren durch Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat und Bundespräsident ist das Stadium der Entwurfserarbeitung vorgelagert. In dieser Phase greift die Ministerialbürokratie Handlungsimpulse, d.h. auch verfassungsgerichtliche Gesetzgebungsaufträge auf und verarbeitet sie zu einem vorlagefälligen Gesetzentwurf. Eine herausgehobene Stellung im Rahmen der Entwurfserabeitung nimmt das Bundesministerium der Justiz ein. Erst im Anschluß an diese Vorbereitung werden die in Art. 76 ff GG genannten Verfassungsorgane als Adressaten des Gesetzgebungsauftrages tätig.
b) Eigenarten und wechselseitige Beziehungen der beteiligten Akteure Die Beschreibung des Gesetzgebungsprozesses ermöglicht eine Bestandsaufnahme der beteiligten Akteure. Zur Bedeutung der einzelnen Handlungsbeiträge ist damit noch nichts gesagt. Sie hängt entscheidend von den Eigenarten und wechselseitigen Beziehungen der Akteure ab. Vergegenwärtigt man sich zunächst die Struktur des formellen Gesetzgebungsverfahrens, so fallen zwei Punkte besonders ins Gewicht: Die Gestaltung des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens als Entscheidungs- und nicht als Erkenntnisverfahren und die fehlende Sachkunde der Abgeordneten.268 Dem steht die hohe Qualifikation des Fachressortpersonals und die Ausgestaltung eines Entwicklungsverfahrens gegenüber, die es erlaubt, den Gesetzentwurf bestmöglich vorzubereiten. Diese Konstellation verleiht dem vorparlamentarischen Entwicklungsverfahren zwangsläufig entscheidendes Gewicht. Die ministerielle Exekutive nimmt eine Schlüsselfunktion im Gesetzgebungsprozeß ein. 269 Demgegenüber ist die parlamentarische Beratung nur von untergeordneter Bedeutung. Der durchschnittliche Bundestagsabgeordnete ist kaum in der Lage, die komplizierten Gesetzesvorlagen zu verstehen, geschweige denn sachliche Verbesserungsvorschläge
268 269
Karpen, Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungslehre, S. 42 f.
Weiß, Verrechtlichung als Selbstgefährdung des Rechts, DÖV 1978, S. 601 ff, S. 603; Ellwein, Gesetzgebung, S. 1105 f.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
151
anzubringen.270 Die Beratung der Gesetzesvorlage beschränkt sich daher häufig auf deren Annahme.271 Faktisch führt dies zu einer Funktionenverschiebung zwischen formellem Gesetzgeber und Ministerialexekutive. Letztere übernimmt die Position des tatsächlichen Gesetzgebers, während das formelle Gesetzgebungsverfahren die ministeriellen Normprodukte nur noch parlamentarisch legitimiert. 272 Die Praxis der Stellungnahmen im Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht verdeutlicht, daß auch das Rollenverständnis der beteiligten Akteure dieser objektiven Funktionenverteilung entspricht. Während die Regierung sich immerhin in acht von zehn Fällen veranlaßt sieht, zur Vereinbarkeit der überprüften Norm mit der Verfasung Stellung zu nehmen, äußert sich das Parlament nicht einmal in fünf Prozent der Fälle, obwohl es nach außen hin die Verantwortung trägt. 273 Luetjohann zieht aus diesem Verhalten den Schluß, der formelle Gesetzgeber habe "...gegenüber der ministeriellen, gesetzesproduzierenden Exekutive abgedankt...", er versuche auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren nicht mehr, "...den Schein zu wahren...". 274 Auch innerhalb der Ministerialbürokratie ist der Einfluß auf den Gesetzgebungsprozeß nicht gleichmäßig verteilt. Die Zuständigkeit zur Rechtsförmlichkeitsprüfung garantiert dem Bundesministerium der Justiz hier frühzeitige Be-
27 0 Weiß, aaO, S. 603; Luetjohann, Nicht-normative Wirkungen, S. 37 mit Verweis auf Ellwein, Gesetzgebung, S. 1106. Beratung und Überarbeitung im politischen Prozeß haben nicht selten Qualitätseinbußen des Entwurfs zur Folge, Luetjohann, aaO, S. 152. 27 1 Luetjohann, Nicht-normative Wirkungen, S. 37 und S. 152 mwN. Schmitt-Vokkenhausen, Durchgangsstation und sonst nichts? - Zur Gesetzgebungsarbeit des Bundestages, in: Emil Hübner, Heinrich Oberreuter, Heinz Rausch (Hrsg.), Der Bundestag von innen gesehen, S. 127 ff, S. 146 faßt die Situation recht plastisch zusammen: "Wenn sich der formelle Gesetzgeber mit dem Gesetzentwurf befaßt, sind die Würfel bereits gefallen." 27 2 Weiß, DÖV 1978, S. 601 ff, S. 603 bezeichnet das Parlament als "...[formelles] Zustimmungsorgan exekutiver Gesetzesentwürfe..."; vgl. audi Luetjohann, Nicht-normative Wirkungen, S. 152 mit Verweis auf Schneider, Der Niedergang des Gesetzgebungsverfahrens, in: FS für Gebhard Müller, S. 421 ff, S. 424 (am Beispiel des Finanzänderungsgesetzes 1967) und 433. 27 3 Benda , Grundrechtswidrige Gesetze, S. 29 und 60 f und ders., Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber im dritten Jahrzehnt des Grundgesetzes, DÖV 1979, S. 465 ff, S. 468. Benda untersucht 49 Verfahren in der Zeit von 1969 bis 1978, die zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der überprüften Norm führten. Im Rahmen dieser 49 Verfahren nahm die Bundesregierung 41 mal Stellung, während sich der Bundestag auf zwei Äußerungen beschränkte. Eigene Auszählungen bestätigen dieses Ergebnis auch für die 51 folgenden Verfahren, die in den Zeitraum von 1979 bis 1983 fallen. Hier ergab sich ein Verhältnis von 37 Stellungnahmen der Bundesregierung bei lediglich drei Äußerungen des Bundestages. 27 4
Luetjohann, Nicht-normative Wirkungen, S. 45.
152
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
teiligung an allen Gesetzesvorbereitungen.275 Neben der Möglichkeit, auf die Gesetzesentwicklung einzuwirken, erlangt das Justizministerium umfassende Kenntnis über Rechtsetzungsaktivitäten aus sämtlichen Ressortbereichen. 276 Dieser Überblick verschafft dem Bundesjustizministerium eine exponierte Stellung unter den Fachministerien. Bei der Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge hat das federführende Fachressort das Bundesministerium der Justiz zudem fachlich zu beteiligen. Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Prüfung durch das Justizministerium übernehmen dessen Verfassungsreferate die Rolle des Entscheidungsinterpreten. 277 Außerdem schätzen sie das Risiko ab, das in bezug auf eine (erneute) verfassungsgerichtliche Überprüfung besteht.278 Da die Gesetzgebungsaufträge regelmäßig bereits Ergebnis einer Normbeanstandung durch das Verfassungsgericht sind, ist die Funktion der Risikoabschätzung gerade bei der Umsetzung von Appellentscheidungen nicht zu unterschätzen. Sind somit die Akteure des Umsetzungsprozesses genannt und ist ihr unterschiedlicher Einfluß auf die Gesetzesentwicklung beschrieben, so verbleibt als letzter Schritt zur Bewertung der Implementationsstruktur die Frage, wie sich die Verfahrens- und Einflußkonstellation auf die Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge auswirkt.
c) Bedeutung der Verfahrens- und Einflußkonstellation Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
für die
Das Ergebnis der bisherigen Untersuchung schließt es aus, die Umsetzungsbedingungen der Gesetzgebungsaufträge reduziert auf das Verhältnis Bundesverfassungsgericht - formeller Gesetzgeber zu bewerten. Letzterer weist nicht etwa in Erfüllung seiner Adressatenpflicht die Ministerialbürokratie an, den Gesetzentwurf vorzubereiten, sondern erlangt regelmäßig - gerade umgekehrt erst über die ministerielle Exekutive Kenntnis von der Verfassungsrechtsprechung.279 Die Umsetzung kann daher nicht auf der Grundlage einer einfachen Implementationsstruktur Bundesverfassungsgericht - Gesetzgeber erkärt werden. Vielmehr muß die Bewertung der akteurbezogenen Umsetzungsbedingungen die komplexere organisatorische Struktur Bundesverfassungsgericht - Mi-
275
Vgl. bereits oben S. 149.
27 6
Göbel, Rechtsförmlichkeit, S. 105.
27 7
Gawron/Rogowski
y Normenkontrolle, S. 375.
27 8
Gawron/Rogowski
y aaO, S. 376.
279
Vgl. oben S. 148.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
153
nisterialbürokratie - Gesetzgeber berücksichtigen.280 Entscheidend ist dabei sowohl das interorganisatorische als auch das organisatorische Verhalten der einzelnen Akteure. 281 aa) Interorganisatorisches Implementationsverhalten Das interorganisatorische Implementationsverhalten läßt sich kurz mit dem Begriff "Tausch" umschreiben.282 Organisationen sind verständlicherweise interessiert, ihr Weiterbestehen zu sichern. Eine Organisation existiert aber grundsätzlich nur so lange, wie ihr Bestand für den Prozeß, in den sie integriert ist, bedeutsam ist. Die Bedeutung hängt dabei von den Ressourcen, wie z.B. Informationen, Legitimation, Geld, Dienstleistungen oder Personal ab, über die die Organisation verfügt. Im Ergebnis versuchen die Organisationen daher, ihre Ressourcen "...in einem wechselseitig profitablen Austausch..." zu vermehren. 283 Ein Ressourcenmonopol, aber auch ein Ressourcenmangel eines Implementationsakteurs kann den Umsetzungsprozeß erheblich stören.284 In dieser Hinsicht stellt sich das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht, Ministerialbürokratie und formellem Gesetzgeber als äußerst günstig dar. Das Verfassungsgericht stärkt durch die Gesetzgebungsaufträge die Position der gesetzesvorbereitenden Ministerialbürokratie. Diese erlangt auf der Grundlage zwingender Gesetzgebungspflichten die Möglichkeit, Gesetzesvorlagen durchzusetzen. Innerhalb der Ministerialexekutive erhalten die Verfassungsreferate im Bundesministerium der Justiz als Entscheidungsinterpreten und als listenführende Kontrollinstanz eine besondere Machtposition. Im Gegenzug eröffnet sich dem Bundesverfassungsgericht ein erleichterter Zugang zum formellen Gesetzgeber285 einschließlich der Möglichkeit, inhaltliche Vorgaben - unter Vermeidung des offenen Kompetenzkonfliktes mit dem Gesetzgeber - über die ministerielle Exekutive in das Gesetzgebungsverfahren einfließen zu lassen. Schließlich liegt auch die Kontrolle und Koordination der Geset-
280 Zu den Begriffen der einfachen und der organisatorischen Implementationsstruktur vgl. Windhoff-Héritier , Politikimplementation, S. 77. Die einfache Durchführungsstruktur zeichnet sich dadurch aus, daß das Programm unmittelbar durch den Adressaten ausgeführt wird, ohne daß eine Organisation mit instrumenteller Funktion zwischengeschaltet ist; zu den organisatorischen Implementationsstrukturen im einzelnen, Windhoff-Héritier, aaO, S. 79 ff. 281
Windhoff-Héritier
282
Windhoff-Héritier
, aaO, S. 106.
283
Windhoff-Héritier
, aaO, S. 106.
284
Windhoff-Héritier
, aaO, S. 107.
, Politikimplementation, S. 105.
154
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
zesvorbereitung durch das Justizministerium durchaus im Interesse des Bundesverfassungsgerichtes. 286 Im Verhältnis Ministerialbürokratie - Gesetzgeber bewirkt die arbeitsteilige Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge wiederum einen Machtzuwachs der ersteren. Die Exekutive erlangt außerdem einen unmittelbaren, gewissermaßen institutionalisierten Zugang zum formellen Gesetzgeber und daneben mittelbar die parlamentarische Legitimation ihrer Gesetzesentwürfe. Der formelle Gesetzgeber gewinnt als letztlich verantwortlicher Adressat des Gesetzgebungsauftrages die Fachkompetenz der Ministerialbürokratie und zugleich als Akteur im Umsetzungsprozeß eine deutliche Arbeitsentlastung. Die Implementation der verfassungsgerichtlichen Gesetzgebungsaufträge bedingt somit sowohl im Verhältnis Bundesverfassungsgericht - Ministerialbürokratie als auch in dem der ministeriellen Exekutive zum formellen Gesetzgeber einen wechselseitig profitablen (Aus-)Tausch. Der Austausch- und damit der Implementationserfolg hängt aber nicht nur von den Vorteilen ab, die programmgemäßes Implementationsverhalten den einzelnen Akteuren bietet. Entscheidend ist darüber hinaus die Qualität des "Grenzpersonals"287 sowie die Koordination der einzelnen Umsetzungsbeiträge. 288 Beide Punkte verdeutlichen die herausragende Funktion des Bundesministeriums der Justiz im Implementationsprozeß. Das Justizministerium verfügt über juristisch hochqualifiziertes Personal. Insbesondere die Verfassungsreferate empfehlen sich als Empfänger und Interpreten der juristisch formulierten Programme des Verfassungsgerichtes. 289 Der Personalaustausch zwischen dem Mitarbeiterstab des Bundesverfassungsgerichtes und den Verfassungsreferaten des Bundesjustizministeriums unterstreicht deren besondere Eignung als Kommunikationspartner des Gerichtes. Als "Grenzpersonal" des formellen Gesetzgebers fungiert die Bundesregierung. Sie setzt sich aus dem Bundeskanzler und den einzelnen Fachministern
285 Den Zugang zum formellen Gesetzgeber bezeichnet Karpen, Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungslehre, S. 38 als Hauptproblem der informellen Gesetzgeber. 286 Die Listenführung geht auf eine Anregung des Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Benda zurück. Benda kritisierte Ende der 70er Jahre die langsame Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge; Gawron/Rogowski, Normenkontrolle, S. 368 Fn. 55. 287
Windhoff
Ήéritier, Politikimplementation, S. 108 ff.
288
Windhoff
-Héritier,
289
aaO, S. 111 ff.
Vgl. auch Gawron!Rogowski, Implementation von Programmen des Bundesverfassungsgerichts, S. 235, die aufgrund der gemeinsamen "Sprache" die relativ besten Akzeptanz- und Umsetzungsbedingungen im Verhältnis Bundesverfassungsgericht - Justizsystem sehen.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
155
zusammen290 und gewährleistet damit den nahtlosen AnschluB an die gesetzesvorbereitende Ministerialbürokratie. Verlagert sich die Implementation der Gesetzgebungsaufträge schwerpunktmäßig auf die Ebene der Fachministerien, bedarf es insbesondere hier einer Koordination der einzelnen Handlungsbeiträge, um eine effektive Umsetzung des Gesetzgebungsauftrages zu sichern.291 Das Parlament kann diese Koordinierungsfunktion nicht erfüllen. Die Distanz zur gesetzesvorbereitenden Ministerialebene erschwert eine Einwirkung. Die Steuerung scheitert im übrigen am mangelnden Überblick des Parlaments über die Gesamtheit der Gesetzesvorhaben.292 Demgegenüber ist das Bundesministerium der Justiz an allen Gesetzesentwicklungen im Rahmen der Rechtsförmlichkeitsprüfung zu beteiligen. Es bewegt sich somit in bezug auf die Rechtssetzungstätigkeit sämtlicher Ressortbereiche auf dem relativ höchsten Informationsstand. 293 Die Koordinierungsaufgabe stellt für das Justizministerium aufgrund seiner zwingenden, frühzeitigen Beteiligung an der Gesetzesentwicklung und der engen Zusammenarbeit unter den einzelnen Fachressorts kein Problem dar. In der Praxis koordiniert es dementsprechend auch die Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Gesetzgebungsaufträge. Diese werden zunächst selbständig von der jeweils betroffenen Fachressorts erfaßt. Daneben untersucht das Referat "Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und Verfassungsprozeßrecht" im Bundesministerium der Justiz sämtliche Verfassungsgerichtsentscheidungen auf mögliche Gesetzgebungsaufträge. Die Liste der registrierten Aufträge leitet das Verfassungsreferat in regelmäßigen Abständen an die einzelnen Fachressorts weiter und beseitigt so eventuelle Erfassungsdefizite. Das Referat beschränkt sich jedoch nicht auf diese Initialfunktion. Es überwacht darüber hinaus den zeitlichen Rahmen der Umsetzung und hält gegebenenfalls Rückfrage bei den verantwortlichen Fachressorts. Hängen die Bewertung der Umsetzungsbedingungen in einer organisatorischen Implementationsstruktur entscheidend vom interorganisatorischen und vom organisatorischen Verhalten der beteiligten Akteure ab, so weist die Struktur Bundesverfassungsgericht - Ministerialbürokratie - Gesetzgeber nach den bisherigen Ausführungen in interorganisatorischer Hinsicht ideale Bedingungen auf.
290
M/D ftì/S-Herzog
y
zu Art. 62, Rz. 6 und 14.
291
Vgl. Hugger , Gesetze, S. 59.
292
Hugger, aaO, S. 59.
293
Göbel, Rechtsförmlichkeit, S. 105.
156
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
bb) Organisatorisches Implementationsverhalten Das interorganisatorische Zusammenspiel im Implementationsfeld Gesetzgebung verspricht nur kombiniert mit einem ebenfalls günstigen organisatorischen Implementationsverhalten der einzelnen Akteure die erfolgreiche Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge. Organisationsinternes ist dabei nicht auf eine Entscheidungsoptimierung ausgerichtet, Organisationen orientieren sich vielmehr an eigenen Rationalitätskriterien. 294 Unterschiedliche Rationalitätskriterien von Programmsetzer, Implementationsakteur und Programmadressat können konträre Handlungslogiken zur Folge haben;295 der Mißerfolg des Programms ist im Extremfall bereits "vorprogrammiert". Bezogen auf die Gesetzgebungsaufträge ergibt sich das folgende Bild: Das Bundesverfassungsgericht als Programmsetzer denkt in erster Linie in rechtlichen Kategorien, wenn es nicht gerade rechtliche Erwägungen aus Chaos-Gesichtspunkten zurückstellt. Demgegenüber steht für den Gesetzgeber das Kriterium der politischen Machbarkeit, d.h. die politische Akzeptanz einer Regelung und ihre Finanzierbarkeit im Vordergrund. 296 Bestimmend für die parlamentarische Entscheidung ist weniger die sachliche Richtigkeit als die Kompromißfähigkeit. 297 Wären Entscheidungen des formellen Gesetzgebers ausschließlich von derartigen Erwägungen getragen, stünden Implementationsprobleme gerade im Bereich der Regelungsvorgaben zu erwarten. Dies gilt um so mehr, als auch der Eindruck eines verfassungsgerichtlichen Übergriffs in eigene Kompetenzen die Entscheidung des Gesetzgebers beeinflussen kann. Das gesetzgeberische Verhalten wird aber noch von einer zweiten Komponente geprägt: der Angst vor dem politischen Schaden, den (erneute) verfassungsrechtliche Mängel des Gesetzgebungswerkes anrichten können.298 "Verhaltenssicherheit" und "Argumentationsentlastung" fördern die Bereitschaft des Gesetzgebers, selbst die unverbindlichen Regelungsvorgaben umzusetzen.299 Die Ver-
294
Windhoff-Hériiier
295
Vgl. Windhoff-H
296
Karperiy
297
Karpen, aaO,S43.
, Politikimplementation, S. 121 f mwN. éritier
y
aaO, S. 32 ebenfalls mwN.
Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungslehre, S. 43.
298
Brydßy Der Kampf um die Definition von Artikel 14 GG, S. 390; vgl. auch Grirmriy Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 104, der das Bestreben des Gesetzgebers betont, "...Gesetze möglichst gerichtsfest zu machen...". 299
H offmann-Riem, Der Staat 13 (1974), S. 335 ff, 339 f und ihm folgend EckertZy Kompetenz, S. 191. Hoffmann-Riem, aaO, S. 360 erkennt hier "...eine zunehmende Bereitschaft des Parlaments zur Selbstentäußerung...".
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
157
antwortung für politisch problematische Gesetzgebungsprogramme wird dem Bundesverfassungsgericht zugeschoben. 300 Schließlich birgt die Berufung auf "zwingende Vorgaben" des Verfassungsgerichtes für die Parteispitze den Vorteil, unliebsame Erwartungen der eigenen Basis zurückweisen zu können. 301 Das organisationsinterne Verhalten des formellen Gesetzgebers ist somit von zwei entgegengesetzten Tendenzen geprägt. Demgegenüber lassen die Rationalitätskriterien der Ministerialbürokratie keine Implementationsprobleme erwarten. Zu erwähnen ist zunächst das ausgeprägte Selbsterhaltungsbestreben der Bürokratie. 302 Dieses Verhaltensmuster kann zwar im Einzelfall der Implementation von statusändernden Gesetzgebungsaufträgen entgegenstehen,303 in der Regel begründet es aber eine hohe Umsetzungsbereitschaft. Die ausgeübte Funktion berechtigt und sichert die Existenz der handelnden Referate. 304 Die Ministerialbürokratie zeichnet sich 300 Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 107, Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. Π, § 53, Rz. 25; Jekewitz, Der Staat 19 (1980), S. 535 ff, 551 mit ausführlichem Verweis auf die Entstehungsgeschichte des Parteiengesetzes; Eckertz, Kompetenz, S. 192. Der Gesetzgeber beschränkt sich jedoch keineswegs auf eine passiv-umsetzende Rolle. In einigen Fällen setzt er das Bundesverfassungsgericht gezielt ein, um ein Gesetzgebungsvorhaben zu legitimieren oder fehlende Konsensfahigkeit zu überbrücken; vgl. z.B. die Rede der Abgeordneten Vollmer, anläßlich der Bundestagsdebatte zum 5. Gesetz zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze, BT-Pl.Prot. 11/ 100. Sitzung am 13.10.1988, S. 6859 ff. Vollmer warf der Regierungskoalition vor, die Anrufung des Bundesverfassungsgerichtes durch ein offensichtlich verfassungswidriges Element im Gesetzentwurf zu provozieren, um auf diese Weise Legitimation oder die "letzte Weihe" für die wesentliche Regelung zur Parteienfinanzierung zu erlangen, Vollmer, aaO, S. 6860 f. Welche Bedeutung der Gesetzgeber der Legitimation durch das Verfassungsgericht zürn ißt, zeigt die Äußerung des Staatssekretärs Höpfinger zur Implementation des Künstlersozialversicherungsgesetzes, BT-Pl.Prot. 11/ 30. Sitzung vom 8.10.1987, S. 2048 f. Dieses wurde von den verpflichteten Vermarktern bis zur Verfassungsgerichtsentscheidung vom 8.4.1987, BVerfGE 75, 108, boykottiert. Nach der grundsätzlichen Vereinbarerklärung des Gesetzes durch das Gericht forderte der Staatssekretär die Abgabepflichtigen auf, "...ihre Zurückhaltung gegenüber dem Gesetz aufzugeben und ihren Melde- und Zahlungsverpflichtungen nachzukommen...", Höpfinger, aaO, S. 2048; zum Vorsprung des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem Gesetzgeber in bezug auf das öffentliche Vertrauen allgemein Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, S. 197. Zur Überbrückung fehlender Konsensfahigkeit durch Einsatz des Bundesverfassungsgerichts, vgl. LuetJohann, Nicht-normative Wirkungen, S. 141 und 161. 301 302
Eckertz, aaO, S. 191.
Kindermann, kungen, S. 49.
Ministerielle Richtlinien, S. 89; Luetjohann, Nicht-normative Wir-
303
Kindermann, aaO, S. 89.
304
Luetjohann, aaO, S. 48; Hill, DÖV 1981, S. 487 ff, S. 492; vgl. auch schon oben
S. 153.
158
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
jedoch nicht nur durch die generelle Bereitschaft aus, im Rahmen der Gesetzgebungsaufträge, tätig zu werden. Sie ist auch in viel höherem Maße als der formelle Gesetzgeber bereit, inhaltlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes zu folgen. 305 Gehorsams- und sicherheitsbewußtes Denken entspricht ihrem natürlichen Verhalten. 306 Das gesetzesvorbereitende Organ kann von den Vorgaben des Gerichtes nur um den Preis abweichen, daß es "Argumentationslast und Erfolgsrisiko" auf sich nimmt. 307 Selbständiges Argumentieren verursacht dabei zusätzlichen Arbeitsaufwand, der leicht die Kapazitätsgrenzen des Referates sprengen kann.308 Entscheidend ist jedoch das Erfolgsrisiko. Fehler des Gesetzentwurfs können auf der Ebene der ministeriellen Exekutive ohne Schwierigkeiten einem beteiligten Referat oder sogar einem einzelnen Bearbeiter zugewiesen werden. Die Gefahr, zur Verantwortung gezogen zu werden, besteht dabei nicht erst im Falle erneuter verfassungsgerichtlicher Kontrolle, sondern bereits anläßlich der zahlreichen Prüfungen in der Vorbereitungsphase. 309 Es erscheint insbesondere im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Kontrolle durch das Innen- und vor allem durch das Justizministerium riskant, von den unverbindlichen Lösungsvorschlägen des Gerichtes abzuweichen. Setzt der Bearbeiter dagegen lediglich die Vorgaben aus dem Gesetzgebungsauftrag um, bietet er dem Vorwurf, verfassungsrechtlich falsche Schlüsse aus der Entscheidung gezogen zu haben, relativ wenig Angriffsfläche. Das gilt sowohl für die innerministerielle als auch - wegen der faktischen Selbstbindung des Gerichtes - 3 1 0 für eine eventuell erneute verfassungsgerichtliche Prüfung. Die Rationalitätskriterien der ministeriellen Exekutive führen demnach zu einer grundsätzlichen Bereitschaft, Gesetzgebungsaufträge nicht nur überhaupt zu implementieren, sondern dabei auch unverbindliche Vorgaben zu berücksichtigen. Faßt man die bisherigen Ergebnisse zusammen, so ergibt sich eine äußerst günstige Implementationsstruktur für die Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Gesetzgebungsaufträge auf dem Adressatenfeld Gesetzgebung. Die Zwischenschaltung der Ministerialbürokratie überführt die Programme des Verfas305
Luetjohann, aaO, S. 50.
306
Luetjohann, aaO, S. 39 und S. 36; vgl. auch den Auszug aus dem Gespräch mit einem führenden Beamten eines Gesetzgebungsorgans, S. 50 Fn. 235. 307
Luetjohann, aaO, S. 41.
308
Luetjohann, aaO, S. 41.
309
Vgl. Luetjohann, aaO, S. 50.
310
Das Bundesverfassungsgericht kann umgesetzte Vorgaben in einem späteren Verfahren kaum für verfassungswidrig erklären, ohne einen Ansehens- und Akzeptanzverlust zu erleiden.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
159
sungsgerichtes in eine organisatorische Implementationsstruktur. Dabei werden Nachteile, die bei einer Implementationsstruktur Bundesverfassungsgericht formeller Gesetzgeber zu erwarten wären, weitgehend ausgeschlossen. Die Zersplitterung des formellen Gesetzgebers kann die Umsetzung nicht beeinträchtigen, da Gesetzgebungsaufträge zunächst im straff organisierten und eng zusammenarbeitenden Bereich der Ministerialexekutive implementiert werden. Die Nahtstelle "Bundesregierung" garantiert den anschließenden Zugang zum formellen Gesetzgeber. Außerdem entschärft die zwischengeschaltete Exekutive den Konflikt, der aufgrund der unterschiedlichen Rationalitätskriterien und der kompetenzrechtlichen Situation zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber angelegt ist. Die Ministerialbürokratie übernimmt angesichts ihrer grundsätzlichen Folgebereitschaft gegenüber dem Verfassungsgericht einerseits und ihres weitreichenden Einflusses auf das Gesetzgebungsverfahren andererseits eine Puffer- und Vermittlerfunktion zwischen Programmierer und Programmadressat. Die Struktur des Implementationsfeldes Gesetzgebung mit der Dreieckskonstellation Bundesverfassungsgericht - Ministerialbürokratie - Gesetzgeber ist ein Grund für den Programmerfolg der Gesetzgebungsaufträge. 2. Steuerungsverhalten des Bundesverfassungsgerichtes
Der weitgehende Programmerfolg der Gesetzgebungsaufträge könnte außerdem auf das Steuerungsverhalten des Bundesverfassungsgerichtes zurückzuführen sein. Hier soll zunächst die Programmgestaltung durch das Gericht und im Anschluß das programmbegleitende Steuerungsverhalten untersucht werden.
a) Steuerung durch Programmgestaltung Die Programmgestaltung umfaßt die Wahl des zu implementierenden Programminhaltes und der Steuerungsmechanismen sowie die Fixierung der Implementationsfelder, der Akteure und Adressaten. Die Programmgestaltung hat damit nicht nur entscheidenden Einfluß darauf, was implementiert wird, sondern auch, wie es implementiert wird. Die Bedeutung für den Programmerfolg ist offensichtlich.
160
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
aa) Programmtyp und Steuerungsmechanismus Eine einheitliche, abschließende und überschneidungsfreie Klassifizierung von Programmtypen existiert bisher nicht.311 Sie ist möglicherweise auch gar nicht zu leisten. Die Gemeinsamkeit aller Programme liegt in ihrem Ziel: Es geht darum, das Verhalten des Adressaten zu beeinflussen. Ausgehend von diesem Ansatz unterscheidet Windhoff -Héritier drei Grundtypen von Handlungsprogrammen nach den jeweiligen Politikinhalten.312 Verhaltensregulierende Programme im engeren Sinne zielen unmittelbar und vorrangig auf die Steuerung des Adressatenverhaltens.313 Entscheidungsregelnde Programme normieren Entscheidungsprozesse, d.h. das Verfahren und die Machtverteilung unter den beteiligten Akteuren. 314 Leistungsprogramme schließlich regeln Verteilung und Transfer materieller oder immaterieller Güter zwischen Programmsetzer und Adressat.315 Der Transfer in Richtung Adressat steuert mittelbar. 316 In umgekehrter Richtung ist die Güterverschiebung identisch mit dem insofern unmittelbar geregelten Adressatenverhalten. 317 Konkrete politische Programme beschränken sich selten auf einen Programmtyp. In der Regel verknüpfen sie Elemente zweier oder sogar aller drei Typen. Gesetzgebungsaufträge lassen sich in der Terminologie Windhoff-Héritiers jedoch als vorwiegend verhaltensregulierende Programme beschreiben, die nur insoweit entscheidungsregelnde Elemente enthalten, als sie die Position des listenführenden Verfassungsreferates im Gesetzesentwicklungsprozeß beeinflussen. Die Zuordnung der Gesetzgebungsaufträge zu einem bestimmten Programmtyp hat allerdings isoliert betrachtet nur einen begrenzten Aussagewert
311
Windhoff
312
Windhoff-Héritier
-Héritier,
Politikimplementation, S. 42. , aaO, S. 42.
313
Vgl. z.B. Verkehrsregeln. Nicht erfaßt ist das Verhalten des Adressaten gegenüber dem Programmsetzer. Dieses ist Teilaspekt der Leistungsprogramme, siehe sogleich unten. 314 Windhoff-Héritier , aaO, S. 42,44 f und 53; als Beispiel für ein Programm mit entscheidungsregelnden Elementen nennt Windhoff-Héritier das Betriebsverfassungsgesetz, aber auch das gesamte Staatsrecht, S. 44 f. 315
Windhoff-Héritier
316
Vgl. z.B. Wohnungsbausubventionen zur Ankurbelung der Bautätigkeit.
317
, aaO, S. 45.
Windivoff -Héritier, stung des Wehrdienstes.
aaO, S. 45, verweist hier auf die Steuerzahlung und die Ablei-
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
161
in bezug auf das verfassungsgerichtliche Steuerungsverhalten. Sie reflektiert lediglich die grundlegende Entscheidung des Programmsetzers über den Ansatzpunkt der Verhaltenssteuerung. Der vorliegenden Untersuchung geht es nicht darum, Gesetzgebungsaufträge als Steuerungsmittel im Rahmen einer umfassenderen Politiksteuerung durch das Bundesverfassungsgericht zu untersuchen, sondern Implementationsprozeß und -erfolg der Aufträge als vom Gericht gewähltes Programm zu erläutern. Die Zuordnung der Gesetzgebungsaufträge zu einem Programmtyp ist somit nicht Gegenstand, sondern Vorgabe der Untersuchung. Auch als solche hat sie jedoch Bedeutung für die Beschreibung des verfassungsgerichtlichen Steuerungsverhaltens, da die einzelnen Programmtypen regelmäßig kombiniert mit bestimmten Steuerungsmechanismen auftreten. 318 Windhoff-Héritier unterscheidet nach dem Ausmaß des angewandten Zwanges fünf Steuerungsmechanismen.319 Die Verhaltensvorschrift verbindet ein Ge- oder Verbot mit der Androhung negativer Sanktionen für den Fall der Nichtumsetzung. Der Verhaltensanreiz steuert gerade umgekehrt, indem er die Programmumsetzung positiv sanktioniert. Demgegenüber verzichtet der Verhaltensappell auf jegliche Sanktionierung und weist einen entsprechend geringeren Steuerungsdruck auf. Ohne jeden Druck wirken schließlich die symbolische Verhaltensaufforderung und die Verhaltensregulierung durch Vorbild. 320 Während entscheidungsprozedurale Programme regelmäßig durch Verhaltensvorschriften 321 und Leistungsprogramme durch Vorschriften oder Anreize gesteuert werden, 322 kann der Programmsetzer verhaltensregulierender Programme grundsätzlich auf sämtliche Steuerungsmechanismen zurückgreifen. Seine Entscheidung für ein Steuerungsmittel hängt dabei von den Implementationsbedingungen, d.h. der Implementationsstruktur und der Konflikthaftigkeit des Programminhalts ab. Unter Umständen bietet sich die Kombination verschiedener Instrumente an. Im Gegensatz zu Windhoff-Héritier , die die Handlungsprogramme abstrakt klassifiziert und dabei streng zwischen typisierendem Programminhalt und
Außerdem kann das Leistungsprogramm auch in dieser Ausprägung mittelbar Verhalten steuern, z.B. können erhöhte Benzinsteuern zur Änderung des Verkehrsverhaltens eingesetzt werden. 318
Vgl. Windhoff-Héritier
319
Windhoff-Héritier
, Politikimplementation, S. 47 ff.
, Politikimplementation, S. 46 ff, Übersicht auf S. 47.
320
Ausführlich zu den einzelnen Steuerungsmechanismen, Windhoff-Héritier S. 46 ff. 321
Windhoff-Héritier
, aaO, S. 53.
322
Windhoff-Héritier
, aaO, S. 54 f.
11 Kleuker
, aaO,
162
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
verwandtem Steuerungsmechanismus differenziert, gehen Ebsen 323 und Gawron/Rogowski™ unmittelbar auf die Programmqualität von Verfassungsgerichtsentscheidungen ein. Ebsen unterscheidet drei Regelungsdimensionen verfassungsgerichtlicher Judikate. Entscheidungen des Gerichtes über den konkreten Streit- bzw. Verfahrensgegenstand faßt er unter dem Begriff "Anordnungen" zusammen. Demgegenüber bezeichnen "Präjudizien" vom Einzelfall abstrakte Aussagen zur richtigen Verfassungsauslegung. Schließlich können Entscheidungen "...über wünschenswerte soziale, politische oder administrative Verhältnisse" als "Ziele" gegenüber den vorgenannten Entscheidungsdimensionen der Judikate abgegrenzt werden. 325 Gesetzgebungsaufträge sind den Anordnungen zuzurechnen.326 Anordnungen ergehen als Entscheidungen über den konkreten Fall grundsätzlich im Tenor des Judikats oder im Tenor in Verbindung mit den Gründen. Die Appellentscheidung im engeren Sinne stellt den Ausnahmefall einer Anordnung allein in den Gründen dar, wenn sie die Vereinbarerklärung im Tenor mit einem Gesetzgebungsauftrag ausschließlich im Begründungsteil des Judikats verbindet. 327 Entsprechend dem oben Gesagten328 beinhaltet die Klassifikation nach Programminhalten auch hier nur den Ausgangspunkt, um das Steuerungsverhalten im Rahmen des fixierten Programmtyps zu untersuchen. Im Gegensatz zu Windhoff-Héritier unterscheidet Ebsen nicht zwischen Programmtyp und Steuerungsmechanismus, sondern beschreibt die unterschiedliche Steuerungsintensität innerhalb des Programmtyps "Anordnung" in erster Linie als von der Stellung innerhalb des Judikats abhängig. Der schon angesprochene Ausnahmefall der Appellentscheidung im engeren Sinne, die den Gesetzgebungsauftrag allein in den Gründen ausspricht, weist die relativ geringste "Determinierungskraft" auf. 329 Das andere Extrem bildet die Unvereinbar- oder
323 Ebsen, Entscheidungsspezifische und adressatenspezifische Durchsetzungsbedingungen, S. 168 ff. 324
Gawron/Rogowski, richts, S. 230 ff.
Implementation von Programmen des Bundesverfassungsge-
325 Ebsen, Entscheidungsspezifische und adressatenspezifische Durchsetzungsbedingungen, S. 168 f. 326
Ebsen, aaO, S. 170 und 176.
327
Vgl. Ebsen, aaO, S. 170; als weiteren Ausnahmefall nennt Ebsen die Kombination von Vereinbarerklärung und verfassungskonformer Auslegung in den Gründen. 328 Vgl. die Ausführungen zur Differenzierung der Programmtypen bei Windhoff-Héritier. 329
Ebsen, aaO, S. 175 f, zum Begriff der Determinierungskraft vgl. S. 174; eine Abstufung der Determinierungskraft findet sich auch unter den einzelnen Entscheidungs-
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
163
Nichtigerklärung mit ausdrücklichem Appell in Leitsätzen, Tenor und Begründung verbunden mit Fristsetzung und Regelungsvorgaben.330 Mit dem Hinweis auf die Bedeutung von Fristsetzung und Regelungsvorgaben greift dieser Ansatz einen zweiten Aspekt auf, der eine Annäherung an die gestaltungsbezogenen Steuerungsmechanismen nach Windhoff-Héritier bedeutet. In die gleiche Richtung zielen schließlich die Ausführungen GawronJRogowskis, die an die Differenzierung Ebsens anknüpfen. Sie bezeichnen Anordnungen sowohl im Tenor als auch in den Gründen steuerungstheoretisch als regulatives Programm, während Präjudizien und Ziele zusammengefaßt als Begründungsteil des Judikats dem persuasiven Typ zugerechnet werden. 331 Im Vordergrund steht hier unmittelbar die Steuerung durch Zwang bzw. durch Überzeugung.332 Die schlichte Qualifizierung der Anordnungen als regulative Programme erlaubt allerdings - obwohl steuerungstheoretisch orientiert - keine weitergehenden Aussagen zum verfassungsgerichtlichen Steuerungsverhalten im Zusammenhang mit den Gesetzgebungsaufträgen. Es erscheint zudem fraglich, ob Anordnungen ausschließlich dem regulativen Programmtyp zuzurechnen sind. Alternative Regelungsvorgaben im Begründungsteil des Judikats z.B. haben eher persuasiven Charakter. Der Steuerungsrealität kommt es näher, den Tenor einer Entscheidung als regulativen und den Begründungsteil als grundsätzlich persuasiven Programmtyp zu beschreiben.333 Dies ermöglicht gleichzeitig eine differenzierte Betrachtung des verfassungsgerichtlichen Steuerungsverhaltens im Rahmen der Anordnungen. Bisher ist festzuhalten: Gesetzgebungsaufträge sind steuerungstheoretisch den verhaltensregulierenden Programmen im engeren Sinne zuzuordnen. Ihre Steuerungsintensität hängt zum einen vom verwandten Steuerungsmechanismus ab. Denkbar sind Vorschrift, Anreiz und Appell. Sie können sowohl isoliert als auch kombiniert eingesetzt werden. Zum anderen beeinflußt die Plazierung des Auftrages innerhalb der Entscheidung die Steuerungsintensität.
dimensionen. Sie bedarf an dieser Stelle jedoch keiner weiteren Erörterung, da es ausschließlich um die Steuerung der Gesetzgebungsaufträge als Anordnungen geht. 330 331
Vgl. Ebsen, aaO, S. 174 und 176.
Gawron/Rogowski, richts, S. 230 ff.
Implementation von Programmen des Bundesverfassungsge-
332 Für eine solche Unterscheidung unmittelbar auf der Ebene der Steuerungsinstrumente ebenfalls Mayntz, Entwicklung, S. 5. 333 Gawron/Rogowski deuten selbst eine solche Zuordnung an, Implementation von Programmen des Bundesverfassungsgerichts, S. 232, fassen Anordnungen aber dennoch, auch soweit sie in den Entscheidungsgründen ergehen, als ausschließlich regulatives Programm auf, aaO, S. 233.
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
164
Auf dieser steuerungstheoretischen Grundlage liegt es somit nahe, Formulierung und Plazierung der Gesetzgebungsaufträge als wesentlichen Teil verfassungsgerichtlichen Steuerungsverhaltens zu untersuchen. Das Erscheinungsbild der Gesetzgebungsaufträge soll zunächst anhand einiger statischer Daten grob skizziert werden. Als Erhebungsmenge dienen die 52 Entscheidungen, die laut Liste des Justizministeriums vom 1.4.1989 Gesetzgebungsaufträge tums.
enthalten, sowie zwölf Appellentscheidungen neueren
Da-
334
49 der 64 Entscheidungen weisen einen ausdrücklich formulierten Gesetzgebungsauftrag auf, in 13 Fällen wird die Gesetzgebungspflicht nur indirekt angesprochen 335 bzw. ergibt sich konkludent aus dem Gesamtzusammenhang der Entscheidung. 336 Das Urteil zum Länderfinanzausgleich vom 24.6.1986 3 3 7 enthält sowohl einen ausdrücklichen Auftrag, den zweiten Abschnitt des Fi-
334 BVerfGE 81, 242 vom 7.2.1990; E 81, 363 vom 22.3.1990; E 82, 60 vom 29.5.1990; E 82, 126 vom 30.5.1990; E 82, 198 vom 12.6.1990; E 82, 322 vom 29.9.1990; Urteil vom 5.2.1991, 1 BvF 1/85, 1/88, abgedruckt in NJW 1991, S. 899 ff; Beschluß vom 27.11.1990, 1 BvR 402/87, abgedruckt in DVB1. 1991, S. 261 ff; Urteil vom 23.4.1991, 1 BvR 1170, 1174, 1175/90, abgedruckt in NJW 1991, S. 1597 ff; Beschluß vom 5.3.1991, 1 BvL 83/86, 24/88, abgedruckt in NJW 1991, S. 1602 ff; Beschluß vom 7.5.1991, 1 BvL 32/88, abgedruckt in NJW 1991, S. 1944 ff und Urteü vom 27.6.1991, 2 BvR 1493/89, abgedruckt in BB 1991, Beilage 16, S. 1 ff. Die Aufzählung ergab sich aufgrund eigener Durchsicht der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nach dem 1.4.1989. Die aktualisierte Liste des Bundesjustizministeriums auf dem Stand vom 23.9.1991 weist elf Aufträge nach dem 1.4.1989 aus, die sämtlich in der hier gegebenen Aufzählung erfaßt sind. Die hier zugrunde gelegte Kombination aus alter Liste und eigener Untersuchung unterscheidet sich nur insofern von der aktualisierten Liste, als sie zusätzlich die Entscheidung zum nordrhein-westfälisehen Rundfunkrecht vom 5.2.1991, abgedruckt in NJW 1991, S. 899 ff, enthält. Das Bundesministerium der Justiz hat diesen Auftrag möglicherweise nicht berücksichtigt, weil er sich an den nordrhein-westfälischen Landesgesetzgeber richtet, NJW 1991, S. 899 ff, S. 906. Allerdings zielte auch der als Sonderfall in der Liste registrierte Auftrag vom 3.11.1982, BVerfGE 62, 117, auf eine Änderung von Landesrecht. 335 Erklärung der weiteren Anwendbarkeit einer verfassungswidrigen Einkommenssteuertabelle bis zur gesetzlichen Neuregelung, längstens bis zum Ablauf einer bestimmten Frist in BVerfGE 61, 319, 321. Vgl. auch BVerfGE 63, 181, 195, E 72, 9,10, E 71, 146, 158 und E 61,43, 68. 336 BVerfGE 52, 357, E 67, 348. Beide Aufträge ergingen im Zusammenhang mit der Unvereinbarerklärung der überprüften Norm. Sie verdeutlichen die oben getroffene Feststellung, daß eine Unvereinbarerklärung regelmäßig einen zumindest konkludenten Appell enthält, vgl. oben S. 40; vgl. auch Gawron!Rogowski, Normenkontrolle, S. 364: "Der Sache nach ist die Einbeziehung des Gesetzgebers bereits in der Unvereinbarerklärung enthalten."
BVerfGE 7 ,
3 .
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
165
nanzausgleichsgesetzes neu zu regeln 338, als auch einen konkludenten Auftrag in bezug auf das Zerlegungsgesetz.339 Eine Entscheidung hat das Bundesministerium der Justiz in die Liste aufgenommen, obwohl sie nachweislich keinen Appell enthält.340 Das Bundesverfassungsgericht erklärte in seinem Beschluß vom 8.3.1988 Vorschriften des Weingesetzes vom 14.7.1971 sowie des Weingesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 27.8.1982 für nichtig und wies gleichzeitig ausdrücklich darauf hin, daß die verfassungswidrige Lage schon durch die Nichtigerklärung der überprüften Normen abschließend bereinigt sei. Eine Anschlußregelung durch den Gesetzgeber erübrige sich, da mit der Nichtigerklärung bereits eine verfassungsmäßige Rechtslage eingetreten sei, die der gesetzgeberischen Lösung zum Parallelauftrag vom 22.5.1979 entspreche.341 Untersucht man nun die Stellung der Gesetzgebungsaufträge in den verbleibenden 63 Entscheidungen, so läßt sich im Ergebnis ebenfalls eine abgestufte Steuerungsintensität beschreiben. Die Grundlage oder erste Stufe bildet jeweils ein Appell in den Gründen. 342 Zusätzlich enthalten zehn Entscheidungen einen Auftrag im Tenor, zwölf ergänzen den Appell in den Gründen durch einen Hinweis auf die Verpflichtung des Gesetzgebers in den Leitsätzen. Dabei tritt
338
BVerfGE 72, 330, 333,416 und 422.
339
Das Bundesverfassungsgericht stellt die Unvereinbarkeit des § 5 Abs. 2 S. 4 ZerlegungsG mit Art. 107 Abs. 1 S. 2 GG iVm Ait.3 Abs. 1 GG fest und schließt die Anwendbarkeit der verfassungswidrigen Norm mit Wirkung ab dem 1.1.1986 aus, BVerfGE 72, 330,423. 340
BVerfGE 78, 58.
341
BVerfGE 51, 93; diese Entscheidung zu einem gleichgelagerten Mangel des WeinG beschränkte sich im Gegensatz zu BVerfGE 78, 58 noch auf eine Unvereinbarerklärung mit ausdrücklichem Appell an den Gesetzgeber, gleichwohl wurde sie nicht in die Liste aufgenommen. Im Gegensatz zu E 78, 58 führt das Bundesministerium der Justiz die Entscheidungen vom 22.2.1983, E 63, 181, und vom 8.1.1985, E 68, 384, zu Recht in seiner Liste der Gesetzgebungsaufträge. Die Entscheidungen erklären Art. 15 Abs. 1 und 2, 1. Hs. und Art. 17 Abs. 1 EGBGB für nichtig. Während E 63, 181, 195 und 186 immerhin noch Bezug auf ein bereits angelaufenes Reformvorhaben nimmt und insofern einen schwachen indirekten Appell enthält, verweist E 68, 384, 390 lediglich auf die vorangegangene Entscheidung. Die Qualifizierung als Appellentscheidung rechtfertigt sich jedoch auch im Fall von E 6, 384 wenn nicht durch den Verweis auf E 63, 181, so doch aufgrund des offensichtlichen Erfordernisses einer kollisionsrechtlichen Ersatzregelung im Anschluß an die Nichtigerklärung von Art. 17 Abs. 1 EGBGB, vgl. auch den entsprechenden Hinweis in E 63,181,195. 342 Lediglich im Fall des Beschlusses vom 12.2.1986, BVerfGE 72,9, ist die Lokalisierung des Gesetzgebungsauftrages etwas fraglich. Stellt man auf die Unvereinbarerklärung ab, kann ein Appell aus dem Gesamtzusammenhang der Entscheidung behauptet werden, der wohl dem Begründungsteil zuzurechnen ist. Der Hinweis auf die fehlende
166
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
die Kombination des Auftrages in den Gründen, im Tenor und in den Leitsätzen immerhin in drei Fällen auf. 343 Im Rahmen des statischen Überblicks sei schließlich noch erwähnt, daß das Bundesverfassungsgericht zwölf Gesetzgebungsaufträge mit einer Frist verbunden hat, während 35 Entscheidungen neben dem Auftrag auch Vorschläge zur Umsetzung desselben aufweisen. Schon diese grobe Übersicht zeigt die große Bandbreite der Steuerungsintensität verfassungsgerichtlicher Gesetzgebungsaufträge. Sie reicht vom konkludenten Appell aus dem Gesamtzusammenhang der Entscheidung344 bis zum ausdrücklichen Appell mit Fristsetzung im Tenor und Regelungsvorgaben in den Gründen.345 Geht man näher auf einzelne Entscheidungen ein, ist eine weitere Differenzierung nicht nur nach der Kombination der bisher genannten Faktoren möglich, 346 sondern auch nach der jeweiligen Formulierung der einzelnen Programmelemente. Gesetzgebungsaufträge erscheinen ausnahmsweise in Form bloßer Verhaltensappelle, etwa wenn das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber lediglich auffordert zu prüfen, ob die verfassungsrechtlich bedenkliche Besatzungsregelung des Art. I MRG 53 s 4 7 durch eine der Verfassung näher stehende Regelung ersetzt werden kann348 oder wenn das Gericht dem Gesetzgeber nahelegt, die Berufsausübung der Buchführungshelfer außerhalb des Steuerberatungsgesetzes zu regeln. 349 Regelmäßig ergehen die Aufträge allerdings als Verhaltensvorschriften. 350 Hier ist jedoch entsprechend der Auftragsformulierung weiter zu unterscheiden.
Übergangsregelung rechtfertigt aber auch die Einordnung als indirekter Auftrag im Tenor, E 72, 9, 10, und in abgeschwächter Form in den Gründen, E 72, 9, 24 und 25. 343
BVerfGE 65, 1; E 53, 257 und E 75,284.
344
Vgl. z.B. BVerfGE 52, 357.
345
Vgl. z.B. BVerfGE 72, 330.
346 Gesetzgebungsaufträge in den Gründen, im Tenor und in den Leitsätzen, BVerfGE 75, 284, verbunden mit Regelungsvorgaben, E 65, 1, oder sogar zusätzlich mit einer Fristsetzung, E 53, 257; Appell mit Regelungsvorgaben in den Gründen, E 51, 1; Appell im Tenor und in den Gründen mit Regelungsvorgaben in den Gründen, Beschluß vom 5.3.1991 in NJW 1991, S. 1602 ff oder auch Appell und Regelungsvorgaben in den Leitsätzen und in den Gründen, E 82, 3, 22 und E 71, 1 usw.. 347 Gesetz Nr. 53 der amerikanischen und der britischen Müitärregierung über die Devisenbewirtschaftung und die Kontrolle des Güterverkehrs vom 19.9. 1949. 348
BVerfGE 62, 169, 187.
349
BVerfGE 59, 302, 326; vgl. dazu schon E 54, 301, 333.
350 Die Sanktionierung bei Nichterfüllung der Verpflichtung wird allerdings nur selten direkt angesprochen, vgl. z.B. BVerfGE 8, 210, 216 und damit zusammenhängend
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
167
Relativ geringe Steuerungsintensität entfalten die Feststellungen, "die verfassungsrechtlich gebotene Gleichstellung" sei nicht durch eine verfassungskonforme Auslegung des § 11 Abs. 2 BAFöG zu erreichen 351 oder die "...(Teil-) Nichtigerklärung [scheide] mit Rücksicht auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers aus, weü mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes bestehen."352 Demgegenüber weisen Verhaltensvorschriften wie "der Gesetzgeber ist verpflichtet, das Ehenamensrecht...neu zu regeln" 353 oder "der Gesetzgeber ist gehalten, eine solche Möglichkeit mit Wirkung für die Zukunft vorzusehen"354 eine sehr hohe Steuerungsintensität auf. Entsprechendes gilt für die sprachliche Gestaltung von Fristsetzungen und Regelungsvorgaben. Bestimmte Fristen 355 werden regelmäßig einen größeren Steuerungsdruck erzeugen als unbestimmte.356 Allerdings ist hier zusätzlich die Länge der gesetzten Frist zu berücksichtigen. Billigt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen zeitlichen Anpassungsspielraum bis zum Ende der übernächsten Legislaturperiode zu, 357 ist der Druck auf den Gesetzgeber natürlich weit geringer, als wenn das Gericht zu unverzüglichem Handeln auffordert. 358 Die Steurungsintensität der Regelungsvorgaben differiert zum einen danach, ob das Bundesverfassungsgericht alternative Vorschläge macht359 oder sich auf die Angabe einer Regelungsmöglichkeit beschränkt.360 Zum anderen haben die Ausführungen des Gerichtes zur Gestaltung der Anschlußregelung selbst in der E 25, 167, 167, 173, 184 und 188, vor allem aber auch E 82, 126, 155 und das Urteil vom 27.6.1991 zur Kapitalertragsbesteuerung, BB 1991, Beilage 16, S. 1 ff, S. 14. 351
BVerfGE 71, 146, 158.
352
BVerfGE 61,43, 68.
353
Beschluß vom 5.3.1991 in NJW 1991, S. 1602 ff, S. 1603.
354
BVerfGE 71, 1.
355
Vgl. BVerfGE 61, 319; E 39, 169; E 72, 330; E 78, 249; E 82, 126; Beschluß vom 27.11. 1990, DVB1. 1991, S. 261 ff; Urteil vom 27.6.1991 BB 1991, Beilage 16, S. 1 ff. 356
Vgl. BVerfGE 71, 224; E 53, 257; E 80, 1; E 82, 322; Beschluß vom 7.5.1991, NJW 1991, S. 1944 ff. 357 BVerfGE 39, 169, 195. Eine derartig lange, bestimmte Frist ist allerdings die Ausnahme. 358
Beschluß vom 7.5.1991, NJW 1991, S. 1944 ff, S. 1946.
359
21 der 35 Aufträge mit Angaben des Gerichts zur Umsetzung sind dieser Gnippe zuzurechnen; vgl. z.B. den Beschluß vom 7.5.1991, NJW 1991, S. 1944 ff, S. 1946; Beschluß vom 5.3.1991, NJW 1991, S. 1602 ff, S. 1603; BVerfGE 82, 322, 322 und E 82, 198, 208. 360 Das ist lediglich in 14 der 35 Entscheidungen mit Regelungsvorgaben der Fall; vgl. z.B. BVerfGE 71, 1, 1 und 11 (mit Kritik durch Sondervotum der Richter Niemeyer und Heußner , E 71, 17, 22); E 55, 100, 113; E 56, 146, 169; E 56 175, 184 und E 63, 181,196.
168
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
letztgenannten Kategorie je nach Formulierung den Charakter einer Vorgabe 361 oder eines Vorschlages.362 Als Fazit der Gesamt- und der anschließenden Einzelbetrachtung kann festgehalten werden, daß das Bundesverfassungsgericht durch die Kombination und die Stellung von Auftrag, Fristsetzung und Regelungsvorgabe sowie durch die Formulierung der eingesetzten Programmelemente im Ergebnis eine fein abgestufte Skala an Steuerungsintensität erreicht. Im folgenden soll anhand einiger Beispiele gezeigt werden, daß der unterschiedliche Steuerungsdruck nicht zufälliger Natur, sondern situationsgebunden ist. Dies erlaubt den Rückschluß auf ein bewußtes, planvolles Steuerungsverhalten des Bundesverfassungsgerichtes. Greift man zunächst die schon erwähnte Entscheidung zu Art. I MRG 53 3 0 3 auf, so zeigt sich ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Entscheidungssituation und verwandtem Steuerungsmechanismus. Das Bundesverfassungsgericht sah sich durch die weitreichende politische Bedeutung der Vorschrift im Bereich der Devisenbewirtschaftung und Devisenkontrolle und durch die fehlende Verwerfungskompetenz gegenüber Besatzungsrecht gezwungen, den Gesetzgebungsauftrag selbst, das heißt den Kernbestand des Programms, ausnahmsweise als bloßen Verhaltensappell zu formulieren. Dem Gesetzgeber wurde lediglich aufgegeben zu prüfen, "...ob die politische Lage es [ermögliche], das MRG 53...aufzuheben oder durch eine andere, der Verfassung nähere Regelung zu ersetzen."364 Ähnlich zurückhaltend stellt sich der Auftrag dar, wenn das Gericht mit dem Appell den Streitgegenstand überschreitet. Gegenstand der Entscheidung vom 15.1.1985 zur steuerrechtlichen Berücksichtigung von Beiträgen und Spenden an kommunale Wählergemeinschaften 365 war § 10b EStG 1979. Das Bundes-
361 Vgl. z.B. BVerfGE 71, 1, 1 und 11: "...praktisch [kommt] nur eine rückwirkende Umwandlung in ein freiwilliges Versicherungsverhältnis ohne Beitragsrückerstattung in Betracht...". Ähnlich auch E 55, 100, 113.
^ B V e r f G E 56, 175, 184: Der Gesetzgeber "...kann hierbei auch berücksichtigen, daß jedenfalls bei denjenigen von der beanstandeten Überleitung betroffenen Beamten, die wegen ihres Alters nicht mehr besoldungsmäßig in Dienstaltersstufen vorrücken, die vorgesehene Ausgleichszulage eine weitgehend bleibende besoldungsrechtliche Heraushebung bewirkt." Vgl. auch E 63, 181, 195 f und 187: Verweis auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes als Vorschlag für die Gestaltung der geforderten Regelung. 363
BVerfGE 62,169, vgl. oben S. 166.
364
BVerfGE 62,169, 187. Verhaltensappelle werden bezeichnenderweise auch als Versuch des Programmsetzers gedeutet, Bereiche, in denen ihm keine Regelungskompetenz zusteht, zu beeinflussen, vgl. Windhoff-Héritier , Politikimplementation, S. 52.
BVerfGE 6 , 2.
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169
Verfassungsgericht erklärte die Norm für verfassungsgemäß. Die ausschließliche steuerliche Abzugsfähigkeit von Beiträgen und Spenden an Parteien im Sinne des § 2 Parteiengesetz falle wegen der niedrigen Höchstgrenze von 600 D M für Ledige und 1200 D M für Ehegatten, die zusammen veranlagt werden, nicht ins Gewicht.366 Im Schlußsatz der Begründung ließ das Verfassungsgericht allerdings ausdrücklich offen, ob diese Bewertung auch für den Fall galt, daß Parteispenden und Parteibeiträge in größerem Umfang absetzbar seien. Das Gericht spielte durch dieses obiter dictum auf § 10b EStG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze vom 22.12.1983367 an, der die absetzbaren Höchstbeträge für Spenden und Beiträge an politische Parteien gegenüber der Regelung von 1979 deutlich angehoben hatte, während Zuwendungen an kommunale Wählergruppen nach wie vor unberücksichtigt blieben.368 Das obiter dictum ist als konkludenter Nachbesserungsauftrag in bezug auf § 10b EStG n.F. zu verstehen. Die äußerst geringe Steuerungsintensität entspricht der Tatsache, daß es für den zugrundeliegenden Fall lediglich auf § 10b EStG in der Fassung des EStG von 1979 ankam. Die zu erwartende verfassungsgerichtliche Prüfung des § 10b EStG in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 22.12.1983 erfolgte mit Beschluß vom 21.6.1988.369 Das Gericht erklärte die steuerliche Ungleichbehandlung von Zuwendungen an Parteien und an kommunale Wählergruppen durch § 10b EStG in der geänderten Fassung für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 9 und 28 Abs. 1 S. 2 GG, 3 7 0 beschränkte sich aber wiederum auf einen relativ schwachen Appell mit alternativen Regelungsvorgaben im Begründungsteil der Entscheidung.371 Während der Grund für die geringe Steuerungsintensität in dem vorangegangenen Auftrag aus dem Jahr 1985 und in der Entscheidung zu Art. I MRG 53 in der kompetenzrechtlichen Grenzsituation zu sehen ist, lag der Programmgestaltung in BVerfGE 78, 350 ein geringer Steuerungsbedarf zugrunde. Die Bundesregierung hatte bereits sieben Monate vor der Verfassungsgerichtsentscheidung den Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Begünstigung von Zu366
BVerfGE 69, 92, 108 f.
367
BGBl. 1983 I, S. 1577.
368
Zum Inhalt der Änderungen vgl. im einzelnen die Erläuterung in BVerfGE 78, 350, 360 f. 369 BVerfGE 78, 350; zwischenzeitlich befaßte sich das Gericht auch in der Entscheidung vom 14.7.1986, BVerfGE 33, 40, mit § 10b EStG in der Fassung von 1983. Als Anschlußentscheidung zu BVerfGE 69, 92 ist aber der Beschluß vom 21.6.1988 anzusehen. Das Urteil vom 14.7.1986 wirkte sich allerdings auch auf die Entscheidung vom 21.6.1988, vgl. BVerfGE 78, 350, 360 f. 370
BVerfGE 78, 350, 350 und 363.
371
BVerfGE 78, 350, 363.
170
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
Wendungen an unabhängige Wählervereinigungen im Bundestag eingebracht.372 Dieser Entwurf sah erstmals auch die steuerliche Abzugsfahigkeit von Spenden und Beiträgen an kommunale Wählervereinigungen vor, 373 eine Regelung, die das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der alternativen Vorgaben in BVerfGE 78, 350 für verfassungsgemäß erklärte, 374 einen Monat bevor sie in leicht modifizierter Form Gesetz wurde. 375 Eine ähnliche Situation führte zu entsprechendem Steuerungsverhalten des Gerichtes im Anschluß an die "Spanier"-Entscheidung.376 Der Beschluß vom Mai 1971 enthielt zwar keinen Gesetzgebungsauftrag, er stellte aber ausdrücklich sowohl in den Leitsätzen als auch in den Gründen 377 fest, daß die Vorschriften des deutschen internationalen Privatrechts entgegen der bis dahin in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Ansicht378 "...in vollem Umfang an den Grundrechten zu messen" seien.379 Dies ist als deutlicher Hinweis des Gerichts an den Gesetzgeber aufzufassen, die genannten Vorschriften unter diesem neuen Aspekt auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Die Entscheidung bildete die Zäsur für die Vorwerfbarkeit der Verfassungsverstöße durch die Regelungen des Internationalen Privatrechts. Zwölf Jahre später erklärte das Bundesverfassungsgericht Art. 15 Abs. 1 und 2 1. Hs. GG wegen der offensichtlich gleichheitswidrigen Anknüpfung an das Mannesrecht nicht nur für unvereinbar, wie sonst bei Verstößen gegen Art. 3 Abs. 1 oder 2 GG üblich, sondern für nichtig.380 Das Gericht wies dabei Forderungen nach einer vorübergehenden weiteren Anwendung der Norm zur Ver»· meidung eines "Anknüpfungschaos" zurück. Die ungewöhnliche Tenorierung beruht wohl nicht nur darauf, daß seit dem Hinweis in der "Spanier"»Entscheidung schon zwölf Jahre vergangen waren. 381 Ausschlaggebend dürfte gewesen sein, daß bereits seit einem Jahr ein Referentenentwurf über ein Gesetz zu Neuregelung des Internationalen Privatrechts vorlag, der die grundrechtswidrigen, geschlechtsbezogenen Anknüpfungen der alten Regelung vermied. 382 Dement372
Gesetzentwurf vom 24.11.1987, BT-Drs. 11/1316.
373
Vgl. Art. I Nr. 1 des Entwurfs, BT-Drs. 11/1316, S. 3.
374
BVerfGE 78, 350, 363.
375 Art. I Nr. 1 des Gesetzes zur steuerlichen Begünstigung von Zuwendungen an unabhängige Wählervereinigungen vom 25.7.1988, BGBl. 1988 I, S. 1185. 376
Beschluß vom 4.5.1971, BVerfGE 31, 58.
377
BVerfGE 31, 58, 58 und 73.
378
Vgl. BVerfGE 31, 58,71.
379
BVerfGE 31, 58, 73.
380
Beschluß vom 22.2.1983, BVerfGE 63, 181, 181 und 194 f.
381
Zum teilweise sanktionierenden Charakter der Nichtigerklärung vgl. unten S. 188.
382
Vgl. die Stellungnahme des Bundesministers der Justiz, BVerfGE 63, 181, 186.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
171
sprechend beschränkte sich das Verfassungsgericht wiederum auf einen schwachen Appell in den Gründen 383 verbunden mit dem Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, der gleichzeitig als Übergangsregelung und als zurückhaltende Regelungsvorgabe zu verstehen ist. 384 Der Beschluß vom 8.1.1985 erklärte Art. 17 Abs. 1 EGBGB wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 2 GG für nichtig und verwies dabei auf die vorangegangene Entscheidung zu Art. 15 EGBGB. 385 Die Situation hatte sich nur insofern geändert, als der Referentenentwurf mittlerweile als Regierungsentwurf dem Bundestag vorlag. 386 Erst als der Entwurf elf Monate später immer noch nicht verabschiedet war, inzwischen lag die "Spanier"-Entscheidung bereits 14 Jahre zurück, gab das Bundesverfassungsgericht seine Zurückhaltung auf. Es stellte die Verfassungswidrigkeit des § 606b Nr. 1 ZPO fest, der die Scheidung gemischt-nationaler Ausländerehen durch deutsche Gerichte unter Verstoß wiederum gegen Art. 3 Abs. 2 GG allein davon abhängig machte, daß das Urteil im Heimatland des Mannes anerkannt wurde. 387 Im Gegensatz zu den vorangegangenen Entscheidungen zu Art. 15 und Art. 17 EGBGB appellierte das Gericht jetzt nicht mehr zurückhaltend, sondern warf dem Gesetzgeber Untätigkeit trotz der seit der "Spanier"-Entscheidung offensichtlichen Verfassungswidrigkeit der einschlägigen Norm vor. Der Gesetzgeber wurde nunmehr ausdrücklich aufgefordert, "alsbald" eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen. 388 Ahnlich scharf steuerte das Bundesverfassungsgericht auch im Rahmen der Entscheidungen vom 16.11.1982389 und vom 30.5.1990 390 zu § 622 Abs. 2 BGB nach. Die Ausgangsentscheidung erklärte § 622 Abs. 2 S. 2, 2. Hs. für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG und wies den Gesetzgeber in einem schwachen Appell in den Gründen verbunden mit alternativen Regelungsvorgaben darauf hin, daß sich ihm verschiedene Möglichkeiten böten, die Ungleichbehandlung zu beseitigen.391 Siebeneinhalb Jahre später stellte das Bundesverfassungsge-
383
BVerfGE 63, 181, 195.
384
BVerfGE 63, 181, 195 f.
385
BVerfGE 68, 384, 384 und 390.
386
Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Internationalen Privatrechts vom 20.10. 1983, BT-Drs. 10/504. 387
BVerfGE 71, 224, 224 und 228.
388
BVerfGE 71, 224, 229.
389
BVerfGE 62, 256.
390
BVerfGE 82, 126.
391
BVerfGE 62, 256, 288.
172
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
rieht die Unvereinbarkeit des § 622 Abs. 2 BGB auch im übrigen fest, 392 indem es einen lapidaren Erst-recht-Schluß zur Ausgangsentscheidung zog. 393 Damit machte es gleichzeitig deutlich, daß es eine entsprechend ausgedehnte Korrektur des § 622 Abs. 2 BGB schon als Reaktion des Gesetzgebers auf die Entscheidung und den Auftrag vom 16.11.1982 erwartet hatte. Da die Implementation dieses Auftrages am 30.5.1990 immer noch nicht abgeschlossen war, 394 reagierte das Gericht nun seinerseits mit wesentlich erhöhtem Steuerungsdruck. Es verpflichtete den Gesetzgeber, die in der Entscheidung vom 30.5.1990 als verfassungswidrig erkannte "...Rechtslage unverzüglich mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen."395 Gleichzeitig forderte es die Gerichte unter Hinweis auf die schleppende Umsetzung des Auftrages vom 16.11.1982 auf, Verfahren, die § 622 Abs. 2 S. 1 oder S. 2, 1. Hs. BGB betreffen, nur bis zum 30.6.1993 auszusetzen. Habe der Gesetzgeber den Auftrag vom 30.5.1990 bis dahin nicht erfüllt, seien die Gerichte auch ohne gesetzliche Neuregelung verpflichtet, die anhängigen Verfahren verfassungskonform zu Ende zu führen, da eine längerdauernde Aussetzung ihrerseits verfassungswidrig sei. 396 Sucht man nach den Gründen für die verzögerte Umsetzung des Auftrages vom 16.11.1982, so bieten sich auf den ersten Blick eine möglicherweise zu geringe Steuerungsintensität397 des Programms und ein Sondervotum, das Zweifel an der Umsetzbarkeit des Appells äußerte und die sofortige Umsetzung für unmöglich oder jedenfalls ungünstig hielt, als Erklärung an. 398 Tatsächlich waren Abstimmungsprobleme zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber Schuld an der langsamen Implementation. Der Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Landesarbeitsgerichtes Niedersachsen, der der Appellentscheidung des Verfassungsgerichtes vom 30.5.1990 zugrundelag, datierte bereits vom 23.4.1982 und damit ein halbes Jahr vor dem ersten Gesetzgebungsauftrag zu 392
BVerfGE 82, 126, 127.
393
BVerfGE 82, 126, 154.
394 Der Bundestag hatte das den Auftrag umsetzende Arbeitsgerichts-Änderungsgesetz gerade verabschiedet, verkündet wurde es erst am 29.6.1990, also einen Monat nach der erneuten Verfassungsgerichtsentscheidung. 395
BVerfGE 82, 126, 155.
396
BVerfGE 82, 126, 155 f. Ein vergleichbares Steuerungsverhalten legte das Gericht schon im Zusammenhang mit der langsamen Implementation des Auftrages aus E 8, 210 an den Tag, vgl. E 25, 167, 173 und 187 f. Mit erhöhtem Steuerungsdruck durch zwingende Vorgabe der Anschlußregelung oder zusätzlichen Appell in den Leitsätzen reagierte das Gericht auch in E 55, 100, 113 bzw. E 81, 363, 363 und 386 auf Implementationsprobleme bei der vorangegangenen Appellentscheidung (E 39, 316 bzw. E 44, 249). 397
Vgl. in diesem Zusammenhang auch den ausgesprochen schwachen Appell vom 13.11.1979, E 52, 357, der zum 1.4.1989 immer noch nicht umgesetzt war. 398
Sondervotum des Richters Katzenstein, E 82, 289, 290 ff und 294.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
173
§ 622 Abs. 2 BGB aus der Entscheidung vom 16.11.1982. Während das Bundesverfassungsgericht offensichtlich die Entscheidung in der Hoffnung zurückstellte, die Frage könnte sich im Anschluß an den Auftrag vom 16.11.1982 durch eine entsprechende Korrektur des gesamten § 622 Abs. 2 BGB erledigen, wartete der Gesetzgeber auf die zweite Entscheidung des Verfassungsgerichtes zu § 622 Abs. 2 BGB, "...um den verfassungsrechtlichen Handlungsspielraum zu klären", der bei der Neuregelung des § 622 Abs. 2 BGB bestand.399 Als situationsgebunden erscheint das verfassungsgerichtliche Steuerungsverhalten schließlich auch in den Entscheidungen zur Kapitalertragsbesteuerung, 400 zum Versorgungsausgleich nach dem 1. EheRG, 401 zum Volkszählungsgesetz402 sowie zur Witwerrente. 403 In den genannten Entscheidungen verband das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgebungsauftrag mit einer Nochvereinbarerklärung. Den prinzipiell geringeren Steuerungsdruck eines Auftrags bei Vereinbarerklärung kompensierte es jeweils durch eine steuerungsintensive Programmgestaltung. Die Entscheidung zur Kapitalertragsbesteuerung weist einen ausdrücklichen Auftrag in den Leitsätzen und in den Gründen auf. 404 Im Begründungsteil findet sich zusätzlich eine bestimmte Frist verbunden mit der Aufforderung an die Finanzgerichte, nach Art. 100 Abs.l GG vorzulegen, wenn der Gesetzgeber den Auftrag nicht fristgerecht erfüllt. 405 Die Urteile zum Volkszählungsgesetz und zum Versorgungsausgleich enthalten sogar einen Gesetzgebungsauftrag in den Leitsätzen, im Tenor und in den Gründen. 406 Außerdem fordert das Gericht den Gesetzgeber in der Entscheidung zum Versorgungsausgleich auf, "alsbald" tätig zu werden. 407 Die Entscheidung zur Witwer-
399
Vgl. den Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 9.5.1990, BT-Drs. 11/7096, S. 14 f sowie die Antwort der Bundesregierung vom 11.7.1983 auf die schriftliche Frage des Abgeordneten Hoss zur Umsetzung des Auftrages vom 16.11.1982, BT-Drs. 10/255, S. 30 f (in dieser Antwort verkennt die Bundesregierung Aussetzungspflicht und Handlungsbedarf infolge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes). Vgl. schließlich die Begründung zum Regierungsentwurf eines Arbeitsgerichts-Ànderungsgesetzes vom 25.10.1989, BT-Drs. 11/5465, S. 7. 400
Urteil vom 30.7.1991, BB 1991, Beüage 16, S. 1 ff.
401
Urteil vom 28.2.1980, BVerfGE 53,257.
402
Urteil zum 15.12.1983, BVerfGE 65,1.
403
Urteil vom 12.3.1975, BVerfGE 39,169.
404
BB 1991, Beilage 16, S. 1 und 14.
405
Bundesverfassungsgericht, aaO, S. 14.
406
BVerfGE 65, 1, 2, 3, 52 und 58; E 53, 257, 257, 258, 289, 300, 306, 308, 310 und
312. 407
BVerfGE 53, 257, 313.
174
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
rente kombiniert einen Appell in den Leitsätzen und in den Gründen mit einer bestimmten, allerdings sehr langen Frist. 408 Es ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele anführen. Schon die kurze Darstellung von fünf Entscheidungsgruppen mit insgesamt zwölf Entscheidungen läßt jedoch den eindeutigen Schluß auf die situationsbezogene Dosierung der Steuerungsintensität und damit auf ein gezieltes Steuerungsverhalten des Bundesverfassungsgerichtes zu. Dieses Steuerungsverhalten kann auf der Grundlage der genannten Beispiele und der statischen Ausführungen zusammenfassend als zurückhaltend und sehr differenziert beschrieben werden. Zur Verdeutlichung sei insbesondere auf das exemplarisch dargelegte Steuerungsverhalten in der Entscheidungslinie zur Reform des Internationalen Privatrechts 409 verwiesen. 410 Das Maß des angewandten Steuerungsdruckes richtet sich nach den Erfordernissen des Einzelfalles. Hohe Steuerungsintensität ist nur ausnahmsweise, insbesondere zur Nachsteuerung bei Implementationsproblemen411 oder bei Nochvereinbarerklärung angezeigt. 412 Das Verfassungsgericht berücksichtigt bei seiner Programmgestaltung das Risiko, das eine erhöhte Steuerungsintensität für die Autorität des Gerichtes mit sich bringt. Implementationsprobleme veranlassen das Gericht deshalb nicht ausnahmslos, die Steuerungsintensität zu erhöhen. Gerade hier zeigt sich, wie flexibel es in der Sorge um seine Autorität agiert. Der ergebnislose Fristablauf beim Auftrag zum Strafvollzug 413 führte nicht zu einem Vorwurf an den Gesetzgeber und zu verschärftem Nachsteuern, sondern das Gericht verlängerte die ursprünglich eineinhalbjährige Frist mit Beschluß vom 29.10.1975 414 um
408
BVerfGE 39, 169,169,191,194 und 195.
409
BVerfGE 31, 58; E 63, 181; E 68, 384 und E 71, 224. Das Bundesverfassungsgericht beginnt mit einem bloßen Hinweis an den Gesetzgeber in der "Spanier"-Entscheidung. In den beiden folgenden Entscheidungen beschränkte es sich auf einen sehr schwachen Appell in den Gründen, da der Hinweis in der "Spanien-Entscheidung bereits zu einem Gesetzentwurf geführt hatte und die Umsetzung somit gesichert schien. Die gleiche Situation nutzte das Gericht schließlich in der letzten Entscheidung dieser Linie, um den Gesetzgeber für die schleppende Umsetzung zu rügen und diese Rüge mit einem wohl auch symbolisch scharfen Appell zu verbinden, ohne daß die Gefahr eines Autoritätsverlustes durch die Nichterfüllung bestand. 410
Vgl. aber auch das entsprechende Verhalten in der Entscheidungslinie E 53, 257; E 63, 88 und E 71, 364. 411
BVerfGE 55, 100; E 82,126.
412
BVerfGE 65, 1; 39,169.
413
Beschluß vom 14.3.1972, BVerfGE 33, 1.
4 4
BVerfGE
, 76.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
175
fast vier Jahre. 415 Unter dem Eindruck derartiger Implementationsprobleme setzte das Bundesverfassungsgericht im gleichen Jahr in der Entscheidung zur Witwerrente 416 eine Frist von zehn Jahren. Die nächste Entscheidung mit Fristsetzung folgte laut Liste erst sieben Jahre später und enthielt zudem nur eine sehr vorsichtige indirekte Fristsetzung.417 Implementationstheoretisch lassen sich sowohl das verschärfte Nachsteuern als auch die größere Zurückhaltung z.B. in Form von "Angst"-Fristen nach Implementationsproblemen als Rückkopplungseffekt erfassen. 418 Das Bundesverfassungsgericht reagiert aber keineswegs nur auf Implementationsprobleme, es versucht sie auch durch Untersuchungen der Implementationsbedingungen im Vorfeld zu vermeiden bzw. durch entsprechend vorsichtige Gestaltung der Steuerung den möglichen Schaden im Falle des Programmißerfolges zu begrenzen. Die Untersuchung der Implementationsbedingungen spielt sich vor allem im Rahmen der Stellungnahmen ab. Das Gericht erhält hier wertvolle Informationen zur Akzeptanz möglicher Aufträge bei den Akteuren und bei politisch bedeutsamen Gruppierungen sowie zu den "technischen" Rahmenbedingungen der Implementation. So setzte das Bundesverfassungsgericht etwa die Frist im Strafvollzugs-Auftrag nicht willkürlich fest. 419 Die Fristsetzung beruhte vielmehr auf einer Zusicherung des Bundesministeriums der Justiz in dessen Stellungnahme, nach der die Arbeiten am Strafvollzugsgesetz bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode abgeschlossen sein sollten.420 Derartige Äußerungen fixieren nicht nur die "technischen" Grenzen möglicher Steuerung - eine Frist von nur wenigen Monaten wäre hier realitätsfremd
415
Vgl. dazu ausfuhrlich oben S. 130.
416
BVerfGE 39, 169.
417 Urteil vom 3.11.1982 zur Besteuerung alleinerziehender Elternteile, BVerfGE 61, 319. Vgl. auch von Beyme, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 267, der die auffallende Selbstbeschränkung des Bundesverfassungsgerichtes im Mitbestimmungsurteil, BVerfGE 50, 290, als Reaktion auf einen deutlichen Autoritätsverlust des Gerichtes sieht. Pitschas, Staats wissenschaftliche Analyse von Verfassungsgerichtsentscheidungen, S. 209, bezeichnet die "...Flexibüität des Gerichts sowie sein Vermögen zur Reaktion auf die 'kritische' Akzeptanz seiner Entscheidungen..." als Voraussetzung für den Fortbestand der gerichtlichen "Funktions- und Leistungsfähigkeit". 418
Windhoff-Héritier
, Politikimplementation, S. 17 f.
419
Die Berücksichtigung der Umsetzungsbedingungen schon im Rahmen der Programmgestaltung ist eine wesentliche Voraussetzung des Programmerfolgs, vgl. Dahme/GrunowlHegner, Aspekte der Implementation sozialpolitischer Anreizprogramme: Zur Überlappung von Programmentwicklung und Programmimplementation am Beispiel der staatlichen Förderprogramme für Sozialstationen, in: Mayntz (Hrsg.), Implementation politischer Programme, S. 154 ff, S. 167. 420
Vgl. BVerfGE 33, 1,6.
176
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
und autoritätsgefährdend gewesen -, sie lassen gleichzeitig auf eine hohe Umsetzungsbereitschaft schließen. Gleiches gilt, wenn der Gesetzgeber schon in der Stellungnahme Mängel der überprüften Norm einräumt. Äußern sich mächtige Interessenverbände im Vorfeld der Entscheidung skeptisch zur Verfassungsmäßigkeit der kontrollierten Regelung, so erhöht das ebenfalls die Abnahmechancen künftiger Aufträge. Wie das Bundesverfassungsgericht Autoritätseinbußen durch vorsichtige Steuerung in Grenzen hält, sei nur an einem Beispiel erläutert. Das Urteil vom 28.2.1980 zum Versorgungsausgleich nach dem 1. EheRG 421 enthält eine gestaffelt gesteuerte Regelungsvorgabe. Das Verfassungsgericht legte dem Gesetzgeber zunächst in Vorschlagsqualität nahe, bei der Ausgestaltung der geforderten Härteregelung zwischen "Altehen" und solchen Ehen zu differenzieren, die nach dem Inkrafttreten des 1. EheRG am 1.7.1977 geschlossen worden sind.422 Direkt im Anschluß erhöhte es die Steuerungsintensität, indem es darauf hinwies, daß eine solche Differenzierung nach Auffassung einer Senatsminderheit zwingend sei.423 Die geschickte, vorsichtige Steuerung erlaubte dem Gericht in der Entscheidung vom 5.7.1989 zum Gesetz zur Regelung von Härten im Versorgungsausgleich424 einen Rückzug ohne größeren Ansehensverlust. Mit dem VAHRG hatte der Gesetzgeber den Auftrag aus E 53, 257 umgesetzt, allerdings ohne dabei zwischen "Alt-" und "Neuehen" zu differenzieren. Das Bundesverfassungsgericht konnte diese Nichtumsetzung der Regelungsvorgaben nun entgegen der zitierten Senatsminderheit kommentieren. Der Gesetzgeber sei in der Gestaltung der geforderten Härteregelung frei gewesen.425 Die bewußt unverbindliche Steuerung im Bereich der Regelungsvorgaben ist dabei nicht die Ausnahme, sondern die Regel. 426 Die Mehrzahl der Angaben zur Gestaltung der Anschlußregelung ergeht ohnehin in Form alternativer Regelungsvorschläge.427 Auch wenn sich das Gericht auf die Angabe einer Rege-
421
BVerfGE 53, 257.
422
BVerfGE 53, 257, 310 f.
423
BVerfGE 53, 257,311.
424
BVerfGE 80, 297.
425
BVerfGE 80, 297, 309.
426
Die faktische Verbindlichkeit der Vorgaben beruht nicht auf der Steuerung oder der rechtlichen Situation, vgl. oben S. 103, sondern auf den Eigenarten der Implementationsstruktur, s. oben S. 158. 427
Vgl. oben S. 167.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
177
lungsmöglichkeit beschränkt, formuliert es diese grundsätzlich zurückhaltend als Vorschlag.428 Die vorsichtige Steuerung der Regelungsvorgaben läßt sich ebenso wie die generelle Zurückhaltung des Gerichtes bei der Programmgestaltung mit den anfangs erwähnten steuerungstheoretischen Kriterien erfassen und erklären: Zunächst ist festzustellen, daß Auftrag, Fristsetzung und Regelungsvorgaben unterschiedlich steuern. Der Auftrag gebietet dem Gesetzgeber grundsätzlich,429 tätig zu werden. Bleibt der Gesetzgeber untätig, so ist dies als Verfassungsverstoß sanktioniert. Unter Umständen entfaltet eine Verfassungsnorm derogierende Wirkung, oder die Gerichte sind befugt, ohne die gesetzliche Anschlußregelung zu entscheiden. Die Fristsetzung konkretisiert den Auftrag in zeitlicher Hinsicht. Sie verstärkt dessen Steuerungsintensität und ist ebenfalls als Verhaltensvorschrift aufzufassen. Beide Programmbestandteile steuern regulativ. Demgegenüber wirken Regelungsvorgaben überwiegend als persuasiver Verhaltensappell. Das Bundesverfassungsgericht versucht hier, einen Bereich zu steuern, in dem ihm rechtlich keine Gestaltungsbefugnisse zustehen.430 Eine regulative Steuerung scheidet daher aus. Einflußnahme ist nur als unverbindlicher Aufruf gestützt durch Argumentation denkbar. Eine solche persuasive Steuerung ist dabei keineswegs weniger effektiv als eine Steuerung durch Zwang. Dies zeigt schon die hohe Umsetzungsquote der Vorgaben, die angesichts der kompetenzrechtlichen Grenzsituation nicht allein durch die günstige Implementationsstruktur erklärt werden kann.431 Die regelmäßige Stellung des Auftrages im persuasiven Begründungsteil der Entscheidung erscheint unter diesen Gesichtspunkten ebenfalls als implementationsfördernd. Zwar behält der Auftrag seinen regulativen Charakter, er wird aber in den Zusammenhang der Argumentation gestellt. Dies erhöht die Abnahmechancen. Den geringeren Steuerungsdruck eines Auftrages in den Gründen kompensiert das Gericht gegebenenfalls durch einen zusätzlichen Appell im Tenor oder in den Leitsätzen.
428
Vgl. z.B. oben S. 168.
429
Zu den beiden Ausnahmen s. oben S. 166.
430
Vgl. oben S. 59 und 61.
431
Vgl. auch Bohnert!Klitzsch, Gesellschaftliche Selbstregulierung und staatliche Steuerung; Steuerungstheoretische Anmerkungen zur Implementation politischer Programme, in: Mayntz (Hrsg.), Implementation politischer Programme, S. 200 ff, S. 212, die feststellen, daß Aushandeln und Überzeugen den Umsetzungserfolg eher garantieren als Zwang; ebenso Mayntz, Probleme der Theoriebildung, S. 22 f.
178
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
Die sehr gemäßigte Steuerungsintensität des Auftrages und der Regelungsvorgaben beruht aber in erster Linie - wie bereits angedeutet - auf der Akzeptanzproblematik, der sich das Bundesverfassungsgericht ausgesetzt sieht. Ein Appell im Tenor oder in den Leitsätzen weist eine höhere Steuerungsintensität und Determinierungskraft auf als ein Auftrag im Begründungsteil der Entscheidung. Fristsetzung und Regelungsvorgaben bewirken einen weiteren Anstieg. Je determinierter das geforderte Verhalten aber ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit von Verhaltensabweichungen. Die Deutlichkeit, mit der derartige Abweichungen zu Tage treten, hängt wiederum von der Steuerungsintensität ab. Aus der unerheblichen, ja notwendigen Konkretisierung eines unbestimmten Programms wird im Zusammenspiel beider Kriterien der offene, eindeutig feststellbare Mißerfolg, der die Autorität des Programmsetzers und damit die Akzeptanz künftiger Programme gefährdet. 432 Die stärkste Determinierung gesetzgeberischen Verhaltens geht naturgemäß von Angaben zur inhaltlichen Gestaltung der geforderten Regelung aus. Legt das Gericht den Gesetzgeber auf eine Regelungsmöglichkeit fest, ist dessen Verhalten aber nicht nur in bezug auf die Gestaltung vollständig determiniert, sondern das Programm erlangt auch eine größere Reichweite. Der Gesetzgeber ist nur noch vordergründig Adressat des Auftrages. Tatsächlich greift das Gericht gezielt in die Gestaltung des Gesetzes ein. Dessen Zielgruppe wird zum Adressatenkreis des Gesetzgebungsauftrages. Erfolg oder Mißerfolg des Programms bemessen sich nicht nur nach dem Verhalten des Gesetzgebers, der insofern zum Akteur wird, sondern darüber hinaus nach der Akzeptanz des Gesetzes.433 Das Gericht trägt die Implementationsverantwortung in bezug auf die Umsetzung des Gesetzgebungsauftrages und des Gesetzes.434 Die relativ große Gefahr eines Programmfehlschlagens erklärt - neben der kompetenzrechtlichen Grenzsituation -, warum sich das Gericht gerade im Bereich der Regelungsangaben grundsätzlich auf schwache, zumeist alternativ gefaßte Verhaltensappelle mit Vorschlagscharakter beschränkt.435
432 Ebsen, Entscheidungsspezifische und adressatenspezifische Durchsetzungsbedingungen, S. 176, warnt in diesem Zusammenhang vor einer "Überspannung" der Determinierungskraft. 433
Wie problematisch dies sein kann, zeigt der andauernde Streit über Fristenlösung und Indikationenmodell; zur Akzeptanz des an der Fristenlösungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichtes orientierten reformierten §218 StGB, Häußler-Sczepan, Arzt und Schwangerschaftsabbruch, Eine empirische Untersuchung zur Implementation des reformierten § 218 StGB, S. 126 f, 142 ff, 192. 434 Dieser Effekt wird teilweise vom Gesetzgeber durch gezielten Einsatz des Bundesverfassungsgerichts angestrebt, s. oben S. 157. 435 Zur vagen Programmformulierung mit geringer Steuerungsintensität als Folge einer Antizipation möglicher Implementationsprobleme, vgl. auch Garlichs, Politikfor-
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
179
Fristsetzungen sind zwar nicht geeignet, die Reichweite des Programms zu vergrößern, dessen Determinierungskraft erhöhen aber auch sie erheblich. Die zeitliche Fixierung der Programmumsetzung birgt dabei ebenso wie die inhaltliche die Gefahr des Mißerfolges. Der zurückhaltende Einsatz von Fristen und der hohe Anteil unbestimmter oder sehr langer Fristen resultiert hier ebenfalls aus der Sorge des Gerichtes vor einem Fehlschlagen des Programms und dem damit verbundenen Autoritätsverlust. Insgesamt läßt sich das verfassungsgerichtliche Steuerungsverhalten in bezug auf den flexiblen, zurückhaltenden Einsatz der Steuerungsmechanismen als ein geschicktes Abwägen zwischen notwendiger Steuerungsintensität und riskanter Determinierung beschreiben. Die gemäßigte, situationsangepaßte Steuerung orientiert sich an der Tatsache, daß die maximale Durchsetzungswahrscheinlichkeit nicht im Bereich der Extrempunkte von Steuerungsintensität und Determinierungskraft hegt. Das Gericht berücksichtigt, daß es sowohl durch Über- als auch durch Untersteuerung einen Mißerfolg des Programms riskiert.
bb) Fixierung der Implementationsfelder, Akteure und Adressaten Programmgestaltung umfaßt nicht nur die Wahl des Programmtyps und der Steuerungsmechanismen, sondern auch die Fixierung der Implementationsfelder, Akteure und Adressaten. Grundsätzlich werden Gesetzgebungsaufträge natürlich auf dem Implementationsfeld "Gesetzgebung" umgesetzt.436 Adressat ist der formelle Gesetzgeber, zwischengeschalteter Akteur die Ministerialbürokratie. Als nicht zu unterschätzende generelle Steuerung ist hier zunächst die Einrichtung einer Kontrollinstanz zu nennen, die auf eine Anregung des damaligen Verfassungsgerichtspräsidenten Benda zurückging. 437 Die Listenführung im Bundesministerium der Justiz beeinflußt den Implementationsprozeß. Sie stärkt die Position des Justizministeriums, das als relativ qualifiziertester Interpret und als Akteur, der ohnehin sehr weitreichenden Einfluß in der gesetzesvorbereitenden Phase hat, die Funktion eines Implementationsorganisators übernimmt. Außerdem sichert die Listenführung im Justizministerium die Implementation auf der Schiene Ministerialbürokratie - formeller Gesetzgeber, die
mulierung und Implementierung im föderativen Staat, in: Mayntz, Implementation politischer Programme, S. 20 ff, S. 20. Zum Zusammenhang zwischen Reichweite und Durchsetzungswahrscheinlichkeit vgl. auch Ebsen, Entscheidungsspezifische und adressatenspezifische Durchsetzungsbedingungen, S. 176 f. 436
Zu den einzelnen Implementationsfeldern vgl. oben S. 146.
437
Gawron/Rogowski
y
Normenkontrolle, S. 368, Fn. 55.
180
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
wegen der engen Beziehung zwischen Ministerialbürokratie und Bundesregierung das Problem des Zugangs zum formellen Gesetzgeber löst. 438 Die Installation einer Kontrollinstanz auf der Ebene der Ministerialbürokratie wirkt sich auf die Umsetzung sämtlicher Aufträge auf dem Implementationsfeld "Gesetzgebung" aus. In einigen Fällen steuert das Bundesverfassungsgericht die Implementation nicht nur auf dem Implementationsfeld "Gesetzgebung", sondern dehnt die Steuerung auf weitere Felder aus. Mit Beschluß vom 4.4.1984 439 wies das Gericht die Verfassungsbeschwerde eines Rechtsanwaltes zurück, der sich gegen seinen Ausschluß aus der Rechtsanwaltschaft im ehrengerichtlichen Verfahren wandte. Die Entscheidung über den Ausschluß beruhte auf §§ 43 iVm 113 ff BRAO, die isoliert betrachtet den Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 GG an einen Eingriff in die Berufsfreiheit genügen. Allerdings führte der Ausschluß im Ergebnis zu einem lebenslangen Berufsverbot, da § 7 Nr. 3 BRAO die Wiederzulassung eines rechtskräftig ausgeschlossenen Rechtsanwaltes untersagte. Im Gegensatz zu seiner sonstigen Praxis erstreckte das Bundesverfassungsgericht den Streitgegenstand nun nicht auf die Gesamtregelung, sondern unterschied streng zwischen der Frage des Ausschlusses und der der Wiederzulassung. Dementsprechend stellte es die Verfassungswidrigkeit der absoluten Wiederzulassungssperre in § 7 Nr. 3 BRAO nicht abschließend im Tenor fest. 440 Die Ausführungen zum begrenzten Streitgegenstand hinderten das Gericht jedoch nicht, die Zulassungssperre einer ausgedehnten obiter-dicta-Prüfung zu unterziehen,441 deren Ergebnis schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber der Regelung waren. 442 In Anbetracht dieser Bedenken forderte das Gericht den Gesetzgeber auf, die bestehende Gesamtregelung von Ausschluß und Wiederzulassung durch eine verfassungsmäßige Neuregelung zu ersetzen.443 Angaben zur möglichen Gestaltung folgten. 444
438 Zur Zugangsproblematik vgl. Karpen, Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungslehre, S. 38. Mit Gawron/Rogowski, Implementation von Programmen des Bundesverfassungsgerichts, S. 235, ließe sich hier von einer "Systemkopplung über Organisationen" sprechen. Zur Funktion des Bundesministeriums der Justiz im Implementationsprozeß siehe auch ausführlicher oben S. 154. 439
BVerfGE 66, 337.
440
Das Gericht verwies insofern auf § 95 Abs. 3 S. 2 BVerfGG, BVerfGE 66, 337,
352. 441
BVerfGE 66, 337, 359 ff.
442
BVerfGE 66, 337, 360 f.
443
BVerfGE 66, 337, 362 und 353.
444
BVerfGE 66, 337, 362.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
181
Möglichen Implementationsproblemen begegnete das Verfassungsgericht, indem es die Ehrengerichte zur Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG verpflichtete, falls der Gesetzgeber die geforderte Neuregelung unterlassen sollte und ein Antrag auf Wiederzulassung in einem späteren Zulassungsverfahren deshalb nach § 7 Nr. 3 BRAO abgelehnt werden müßte.445 Damit bezog das Bundesverfassungsgericht die Ehrengerichte, aber auch den Beschwerdeführer des Verfahrens in den Implementationsprozeß ein. Dem Beschwerdeführer bedeutete das Gericht bereits durch die obiter-dicta-Prüfung des § 7 Nr. 3 BRAO, daß ein lebenslänglicher Ausschluß seiner Person aus der Anwaltschaft nicht verfassungsgemäß sei und daß dementsprechend ein Antrag auf Wiederzulassung, wenn nicht durch eine zwischenzeitliche Gesetzesänderung, so jedenfalls durch eine erneute Anrufung des Verfassungsgerichtes Erfolg verspreche. Das Interesse des Beschwerdeführers an einer Wiederzulassung garantierte dem Verfassungsgericht im Zusammenspiel mit der Vorlageverpflichtung der Ehrengerichte die Möglichkeit, in absehbarer Zeit nachzusteuern, falls der Gesetzgeber den Auftrag nicht rechtzeitig umsetzen sollte. Die Nebensteuerung auf dem Implementationsfeld "Gerichte" und "Privatpersonen"446 hatte Erfolg. Zwei Monate nach der Entscheidung beantragte der Beschwerdeführer seine Wiederzulassung als Rechtsanwalt,447 der Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Ehrengerichtes folgte zehn Monate später, am 1.4.1985.448 Mit Beschluß vom 26.2. 1986 erklärte das Bundesverfassungsgericht § 7 Nr. 3 BRAO für nichtig, da der Gesetzgeber bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschließend über eine Neuregelung entschieden hatte.449 In leicht variierter Form bezieht das Bundesverfassungsgericht die einfache Gerichtsbarkeit in einigen anderen Fällen in die Programmimplementation ein. Ebenso wie in der Entscheidung zum Ausschluß- und Wiederzulassungsverfahren für Rechtsanwälte steuerte das Verfassungsgericht in den Beschlüssen vom 14.3.1989 zur Approbationsordnung für Ärzte 1978 450 und vom 30.5.1990 zu § 622 Abs. 2 BGB 451 nur sekundär auf dem Implementationsfeld "Gerichtsbar445
BVerfGE 66, 337, 362 f.
446
Zu den Implementationsfeldern siehe Gawron!Rogowski, Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen, S. 353. 447
BVerfGE 72, 51, 53.
448
BVerfGE 72, 51, 51.
Implementation von
449 Es lag lediglich der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Berufsrechts der Rechtsanwälte, der Patentanwälte und der Notare vom 24.5.1985 vor, vgl. BT-Drs. 10/3854, S. 4. Die Neuregelung erfolgte erst durch Art. I Nr. 3 des Gesetzes zur Änderung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und Patentanwälte vom 13.12.1989, BGBl. 1989 I, S. 2135. 450
1
BVerfGE 80, 1.
BVerfGE 8 ,
12 Kleuker
6.
182
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
keit". Während die Nebensteuerung in dem erstgenannten Beispiel dazu diente, dem Bundesverfassungsgericht eine erneute Eingriffsmöglichkeit zu sichern, forderte das Verfassungsgericht die einfache Gerichtsbarkeit in den beiden letztgenannten Entscheidungen auf, nach Ablauf einer vorgegebenen Frist auch ohne gesetzliche Neuregelung im Wegerichterlicher Rechtsfortbildung verfassungskonform zu entscheiden.452 Das Bundesverfassungsgericht erhöht mit einer solchen Kombination aus Fristsetzung und Sekundärsteuerung den Steuerungsdruck gegenüber dem Gesetzgeber, senkt aber zugleich das Risiko, durch Implementationsprobleme an Autorität zu verlieren. Die Sekundärsteuerung auf dem Implementationsfeld "Gerichte" hat insofern Auffangfunkion. 453 Das Bundesverfassungsgericht erhöht somit die Abnahmechancen seiner Programme nicht nur durch geschickte Wahl von Programmtyp und Steuerungsmechanismus, sondern auch durch eine günstige Fixierung der Implementationsfelder, Akteure und Adressaten.
b) Programmbegleitendes
Steuerungsverhalten
Die Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge wurde bisher unter den Gesichtspunkten der Implementationsstruktur und der Programmgestaltung untersucht. Es zeigte sich, daß die günstige Implementationsstruktur und die geschickte Programmgestaltung die Auftragsimplementation fördern. Abschließend soll nun geklärt werden, inwieweit der Programmerfolg der Gesetzgebungsaufträge außerdem auf ein Steuerungsverhalten neben der eigentlichen Programmgestaltung zurückzuführen ist. aa) Wahl des Auftragsgegenstandes Frühere Untersuchungen stellten eine überproportionale Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichtes im sozialpolitischen Bereich fest. Das galt sowohl für die allgemeine Zuordnung der nichtig oder unvereinbar erklärten Gesetze zu Politikfeldern 454 als auch speziell für die entsprechende Differenzierung der Gesetzgebungsaufträge. 455 452 BVerfGE 80, 1, 34 und E 82, 126, 155, siehe auch schon die mehrfach angesprochene Entscheidung vom 21.1.1969 zum Auftrag aus Art. 6 Abs. 5 GG, BVerfGE 25, 167, 167 und 188. Unter rechtlichen Gesichtspunkten kritisch zu diesem "Funktionswechsel", Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 178 453 Ein weiteres Beispiel dieser Steuerungsform findet sich bereits in der Entscheidung vom 29.1.1969 zu Art. 6 Abs. 5 GG, vgl. BVerfGE 25, 167, 167 und 188. 454
Vgl. die Untersuchungen von von Beyme, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 268 und von Landfried, Constitutional Review and Legislation in the Federal Republic of Ger-
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
183
Die hier ausgewerteten 63 Gesetzgebungsaufträge bestätigen dieses Bild. Allein 27 Aufträge sind unmittelbar dem sozialpolitischen Feld zuzurechnen. Fünf der zehn Aufträge aus dem Bereich der Steuer- und Finanzpolitik betreffen die steuerliche Behandlung von Familienunterhalt, Pensionen, Renten und Kapitalerträgen und haben damit ebenfalls sozialpolitischen Bezug. Von nennenswerter Bedeutung sind darüber hinaus die Felder der Wirtschafts- und der Rechtspolitik mit 14 bzw. sechs Aufträgen. Dabei nehmen die wirtschaftspolitischen Aufträge keineswegs Einfluß auf die hochpolitische, übergeordnete Wirtschaftssteuerung durch die Bundesregierung. In diesem Bereich verfolgt das Bundesverfassungsgericht ebenso wie im Bereich der Außenpolitik einen sehr weitgehenden judicial restraint. 456 Vielmehr behandeln die wirtschaftspolitischen Aufträge ausschließlich berufsrechtliche Fragen. 457 Im übrigen hat das Bundesverfassungsgericht auf dem bildungspolitischen Feld zwei Aufträge und im Bereich der Militär-, Außen-, Medien-, Staats- und Jugendschutzpolitik sowie der Wohnungsmarktpolitik jeweils einen Auftrag ausgesprochen. Der Auftrag zum Volkszählungsgesetz458 läßt sich keinem der vorgenannten Bereiche eindeutig zuordnen. Die Konzentration der Gesetzgebungsaufträge auf dem sozialpolitischen Feld kann nicht mit einem möglicherweise überdurchschnittlichen Anteil sozialpolitischer Verfassungsklagen am gesamten Geschäftsanfall des Bundesverfassungsgerichtes erklärt werden. Allein die extrem hohe Zahl an Verfassungs-
many, in: Constitutional Review and Legislation, An International Comparison, hrsg. von C. Landfried, S. 147 ff, S. 153, Table 3. 455
Gawron/Rogowski,
Normenkontrolle, S. 370 f.
456
Vgl. auch von Bey me, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 269 und Schuppe rt, Self-restraints in der Rechtsprechung, DVB1. 1988, S. 1191 ff, S. 1193. Schuppert vermeidet allerdings ausdrücklich den Begriff des judicial restraints und spricht statt dessen von einem "erweiterten Gestaltungsspielraum", den das Gericht dem "wirtschafitslenkenden Gesetzgeber" zuerkennt, Schuppert, aaO, S. 1191 und 1193. Seine Einwände gegen den Gebrauch des Begriffs beschränken sich allerdings auf den Bereich der rechtlichen Grenzziehung zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber, Schuppert, aaO, S. 1191, ebenso Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S.485 ff, S. 505, im Rahmen einer steuerungstheoretischen Betrachtung ist der Gebrauch des Begriffes durchaus legitim und sinnvoll. 457 Die Aufteilung nach Rechtsgebieten, wie sie Benda , Grundrechtswidrige Gesetze, S. 58 fund ders., DOV 1979, S. 465 ff, S. 466 vornimmt, führt zu folgendem Ergebnis: Sozialrecht 17, Berufsrecht 15, Steuerrecht neun, BGB zwölf, Staatsangehörigkeitsrecht und EGBGB drei Fälle. Dem Wiedergutmachungsrecht, dem Wehrrecht, dem Besatzungsrecht, dem Jugendschutzrecht, dem Subventionsrecht, dem Wahlrecht und dem Medienrecht ist jeweils ein Auftrag zuzuordnen. Auf sonstige Rechtsgebiete entfielen zwei Fälle. Zur besonderen Bedeutung der Beanstandungen im Bereich des Sozial- und Berufsausübungsrechts, vgl. auch Jekewitz, Der Staat 19 (1980), S. 535 ff, S. 543.
BVerfGE 5, .
184
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
beschwerden - von 1976 bis 1989 gingen nach der Statistik des Bundesverfassungsgerichtes 43.840 Verfassungsbeschwerden ein - fuhrt zu einer faktischen "Auswahlkompetenz", die es dem Gericht im Zusammenspiel mit dem Instrument des obiter dictums ermöglicht, "...nahezu nach Belieben zu jeder verfassungsrechtlichen Frage Stellung zu nehmen und auf Politik, Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung in vielfältiger Weise...einzuwirken." 459 Ergehen Gesetzgebungsaufträge dennoch nur in einzelnen Politikbereichen, so ist diese Beschränkung als Ausdruck eines gezielten verfassungsgerichtlichen Steuerungsverhaltens, einer "Selektivität von judicial policy", anzusehen.460 Die vorwiegende Aktivität des Gerichtes auf dem sozialpolitischen Feld ist dabei ebenfalls nicht zufälliger Natur. Das Implementationsfeld "Sozialpolitik" zeichnet sich durch eine Vielzahl beteiligter Akteure mit relativ festgefügten Interorganbeziehungen aus.461 Die fixierten Positionen der einzelnen Akteure machen den Implementationsprozeß kalkulierbar. Gegensätzliche Interessen der beteiligten Akteure garantieren gegenseitige Kontrolle und sichern die Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge. 462 Das Risiko eines Autoritätsverlustes ist im sozialpolitischen Feld relativ gering. Indem sich das Bundesverfassungsgericht darauf beschränkt, Aufträge vorwiegend in Politikbereichen mit guten Abnahmechancen auszusprechen, nimmt es somit schon vor der eigentlichen Programmgestaltung Einfluß auf den Erfolg seiner Programme. bb) Gestaltung des Auftragsumfeldes Das Auftragsumfeld wird hauptsächlich durch die Tenorierungsform im Normenkontrollverfahren geprägt. Gesetzgebungsaufträge ergehen sowohl in Verbindung mit Nichtig- als auch in Verbindung mit Unvereinbar- oder Vereinbarerklärung. In der Erhebungsmenge von 63 Entscheidungen finden sich lediglich 13 Nichtigerklärungen bei 42 Unvereinbar- und elf Vereinbarerklärungen. 463 Diese Verteilung beruht allenfalls teüweise auf der Dominanz sozi459
Luetjohann, Nicht-normative Wirkungen, S. 17 f.
460
Gawron/Rogowski, Implementation von Programmen des Bundesverfassungsgerichts, S. 236 und dies., Normenkontrolle, S. 377. 461 Gawron/Rogowski, Normenkontrolle, S. 377 f. Gawron/Rogowski zählen beispielsweise Sozialministerien, Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften und UnternehmerVereinigungen auf. Zu denken ist außerdem an Parteien, Sozialversicherungen und gut organisierte Versichertengruppen, wie z.B. die Beamtenschaft. 462 463
Vgl. Gawron/Rogowski,
Normenkontrolle, S. 378.
Die Entscheidung vom 8.4.1986, BVerfGE 71, 364, erklärt § 2 des Gesetzes zur Regelung von Härten im Versorgungsausgleich für nichtig, während sie sich in bezug
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
185
Apolitischer Gesetzgebungsaufträge. I m sozialpolitischen Feld werden vor allem Ungleichbehandlungen im Rahmen staatlicher Leistungsgewährung gerügt. 4 6 4 Dementsprechend legte das Bundesverfassungsgericht in 21 der 32 Fälle mit sozialpolitischem Bezug Art. 3 G G als Prüfungsmaßstab an. 4 6 5 Ein Verstoß gegen Art. 3 G G führt aber grundsätzlich nur zur Unvereinbarerklärung, da die Situation verfassungswidriger Normenrelation es ausschließt, den Verfassungsverstoß einer Norm zuzuweisen. 466 Das Bundesverfassungsgericht überläßt es regelmäßig der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit, die verfassungswidrige Relation aufzulösen. Die Unvereinbarerklärung geht daher häufig auf den Zusammenhang Gesetzgebungsauftrag - sozialpolitischer Bereich Ungleichbehandlung zurück. Indessen erklärt diese Verbindung gerade ein Drittel der Fälle, in denen das Bundesverfassungsgericht auf eine Nichtigerklärung verzichtete. 467 Die Unvereinbarerklärung bei sonstigen Verfassungsverstößen und insbesondere die Vereinbarerklärung trotz zum Teil erheblicher Bedenken lassen sich so nicht erfassen. Der weitgehende Verzicht auf die Nichtigerklärung liegt vielmehr i m Zuauf § 13 desselben Gesetzes darauf beschränkt, die Unvereinbarkeit festzustellen. Gesetzgebungsaufträge ergingen bezüglich beider Entscheidungsteile. Das Gleiche gilt für E 82, 322 vom 29.9.1990 die § 6 Abs. 6 S. 1 1. Alt. Bundeswahlgesetz für unvereinbar und § 53 Abs. 2 BWahlG für nichtig erklärte. Im Beschluß vom 8.4.1987, E 75, 108, hielt das Bundesverfassungsgericht § 52 Abs. 5 des Künstlersozialversicherungsgesetzes für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG und verpflichtete den Gesetzgeber, den Gleichheitsverstoß zu beseitigen, E 75, 108, 165. In bezug auf §§ 24 und 34 KSVG konnte das Gericht noch keinen Verfassungsverstoß feststellen, wies den Gesetzgeber aber auf seine Nachbesserungspflicht hin, E 75, 108, 161 f und 163. (Das Gesetz zur finanziellen Sicherung der Künstlersozialversicherung vom 18.12. 1987, BGBl. 1987 I, S. 2794, änderte §§24 und 34 ebenso wie § 52 Abs. 5 KSVG. Im Gesetzgebungsverfahren hat der Ausschuß für Arbeit und Soziales den Hinweis auf verfassungsrechtliche Bedenken und Nachbesserungspflicht als Unvereinbarerklärung und verbindliche Aufforderung an den Gesetzgeber aufgefaßt, BT-Drs. 11/1158, S. 11, obwohl das Gericht betont hatte, ein Verfassungsverstoß könne zur Zeit noch nicht festgestellt werden, E 75, 108, 162. Auch der Hinweis im Zusammenhang mit § 34 KSVG wurde sehr ernst genommen, Rede des Abgeordneten Heinrich, 2. und 3. Lesung des Gesetzentwurfs am 13.11.1987, BT-Pl.Prot. 11/40. Sitzung, S. 2683.) 464 Gawron/Rogowski, Normenkontrolle, S. 373 sprechen von einer auffälligen Häufung positiver Diskriminierung. 465 Insgesamt bildet Art. 3 GG 32 mal den Prüfungsmaßstab, dreimal prüfte das Bundesverfassungsgericht am Maßstab des Art.2 Abs. 1 iVm 1 Abs. 1 GG, ebenfalls dreimal an Art. 6 GG, zweimal war Art. 2 Abs. 1 GG alleiniger Maßstab, siebenmal Art. 14 GG, zweimal Art. 33 Abs. 5 GG und zehnmal Art. 12 GG. Jeweils einmal prüfte das Gericht an Art. 107 GG, Art. 12a GG, Art. 80 GG und Art. 5 GG. Dabei verband es sechsmal sonstige Prüfungsmaßstäbe mit Art. 3 GG. 466 467
Siehe oben S. 33.
Zu berücksichtigen ist hier, daß das Gericht immerhin in sechs der 32 Fälle mit Art. 3 GG als Prüfungsmaßstab von seiner üblichen Rechtsprechung abweicht und unter Verneinung einer gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit zur Nichtigerklärung greift.
186
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
samraenspiel von Tenorierung und Gesetzgebungsauftrag begründet. Mit der Nichtigerklärung beseitigt das Gericht den Verfassungsverstoß grundsätzlich selbst. Raum für einen Appell bleibt nur, wenn ein Verfassungsauftrag den Gesetzgeber zur Lückenfüllung verpflichtet. 468 Demgegenüber rechtfertigen Unvereinbar» und Nochvereinbarerklärung bei tatsächlich schon eingetretener Verfassungswidrigkeit einen Gesetzgebungsauftrag regelmäßig schon auf der Grundlage des Art. 20 Abs. 3 GG. 4 6 9 Es liegt deshalb nahe, das Übergewicht insbesondere der Unvereinbarerklärung als Folge dieser theoretischen Ausgangslage zu sehen und ein Steuerungsverhalten des Bundesverfassungsgerichtes im Rahmen der Tenorierung zu verneinen. Das gilt jedenfalls insoweit, als man aus der Tenorierungsverteilung in der Erhebungsmenge keinen Rückschluß auf eine begleitende Steuerung der Gesetzgebungsaufträge ziehen kann. Etwas anderes ergibt sich jedoch, wenn man nicht auf die Verteilung der Tenorierungsformen abstellt, sondern die Tenorierung selbst und ihren Bezug zum Gesetzgebungsauftrag betrachtet. Es zeigt sich, daß das Gericht häufig nicht gezwungen war, auf die Nichtigerklärung zu verzichten. Im Anschluß an BVerfGE 55, 134 und an E 72, 330 beschränkte sich der Gesetzgeber darauf, die lediglich für unvereinbar erklärte Norm zu streichen. Eine verfassungswidrige Normenrelation, die den Verzicht des Gerichtes rechtfertigen könnte, die verfassungswidrige Situation schon durch Nichtigerklärung zu beseitigen, lag nicht vor. In E 59, 302 ist ebenfalls fraglich, warum das Gericht die überprüfte Norm bei einem Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG für unvereinbar und nicht für nichtig erklärte. E 71, 224 wies die gleiche Entscheidungssituation auf, wie die vorangegangenen Entscheidungen E 63, 181 und E 68, 384. Trotzdem verzichtete das Gericht im Gegensatz zu den beiden letztgenannten Fällen in E 71, 224 auf die Nichtigerklärung zugunsten einer Unvereinbarerklärung mit Appell und Fristsetzung. Der Appell ist in solchen Fällen nicht als Reaktion auf eine zwingend zurückhaltende Tenorierung zu verstehen, sondern umgekehrt, das Bundesverfassungsgericht bereitet den Gesetzgebungsauftrag durch seine bewußt zurückhaltende Tenorierung erst vor. Der Verzicht auf die eigenständige Bereinigung der Rechtslage eröffnet dem Gericht die Möglichkeit, über Gesetzgebungsauftrag und Regelungsvorgaben Einfluß auf die künftige Rechtsgestaltung zu nehmen. Das Bundesverfassungsgericht vermeidet den scharfen Schnitt und schaltet sich statt dessen geschickt in den Kreislauf der Gesetzgebung ein.
468
Vgl. oben S. 49.
469
Vgl. oben S. 47.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
187
Dieser wird geprägt durch die Änderung bestehender Gesetze als Normalfall der Gesetzgebungspraxis.470 Es kann hier von einem "Regelkreischarakter von Gesetzgebung" gesprochen werden. 471 Gesetzgeberische Tätigkeit zielt auf Realitätsgestaltung. Jede gesetzliche Regelung ist als Ergebnis einer Prognose darüber aufzufassen, wie das angestrebte Ziel mit legislativen Mitteln erreicht werden kann. Die Qualität der Prognose erweist sich im Laufe der Gesetzesimplementation. Abweichungen vom geplanten Programmverlauf, sei es durch falsch eingeschätztes Akteurverhalten, sei es durch Änderungen im geregelten Realitätsausschnitt, erfordern ein Nachsteuern des Gesetzgebers. Der Gesetzesänderung liegt wiederum eine Prognose zugrunde, der Regelkreis beginnt von Neuem. In diesen Gesetzgebungskreislauf klinkt sich das Bundesverfassungsgericht ein, indem es dem Gesetzgeber ausdrücklich Prognose- und Anpassungsspielräume zubilligt472 und auf dieser argumentativen Grundlage die scharfe, den Regelkreis unterbrechende Waffe der Nichtigerklärung gegen eine Unvereinbar· oder Vereinbarerklärung eintauscht. Das Gericht beschränkt sich darauf, den Anstoß zu einer neuen Runde im Gesetzgebungskreislauf zu geben, erhält dadurch aber einen "materiellen" Zugang zum Gesetzgebungsprozeß,473 der es ihm erlaubt, die Wirklichkeitsgestaltung durch Rechtssetzung zu beeinflussen.474 Der Regelkreischarakter ist gerade im Bereich der Sozialpolitik besonders ausgeprägt. Die sozialen Verhältnisse sind einem ständigen Wandel unterworfen, der vom Gesetzgeber fortlaufendes Nachsteuern verlangt. 475 Diese Situation bildet den idealen Einstieg für das Gericht, um über zurückhaltende Tenorierung und Gesetzgebungsaufträge, Einfluß auf die Gesetzesgestaltung zu nehmen. Allerdings geht es bei der Kombination aus zurückhaltender Tenorierung und Gesetzgebungsauftrag nicht nur um die Ausdehnung der verfassungsgerichtlichen Macht. Die politisch "unauffällige" Unvereinbarerklärung und vor allem die Nochvereinbarerklärung verbunden mit einem Appell Hegen durchaus im Interesse des Gesetzgebers. Dessen Autorität wird so weit als möglich 470 Leonhard, Gesetzgebungsaufträg, S. 50, Karpen, Gesetzgebungs-, Verwaltungsund Rechtsprechungslehre, S. 40. 471
Karpen,, Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungslehre, S. 40.
472
BVerfGE 75,108, 162; E 78,249,287; E 54,11, 37; E 39, 169, 194.
473
Im Gegensatz zum "formellen", organisatorischen Zugang über die Ministerialbürokratie und insbesondere über das Bundesministerium der Justiz. 474 Auch hier sind wieder Rückkopplungseffekte zu beobachten, vgl. BVerfGE 62, 256, 286 und E 68, 155, 174, in denen sich der Gesetzgeber ausdrücklich auf seinen Prognose- und Anpassungsspielraum beruft.
188
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
geschont.476 Bekanntestes Beispiel ist das Volkszählungsurteil.477 Schon im Vorfeld der Verfassungsgerichtsentscheidung stieß das Volkszählungsgesetz 1983 auf intensiven Widerstand. In dieser Situation beschränkte sich das Gericht auf die Vereinbarerklärung des Erhebungsprogramms nach Maßgabe der Gründe, appellierte aber gleichzeitig in Tenor, Leitsätzen und Gründen an den Gesetzgeber ergänzende Verfahrensregelungen zu treffen. Eine Nichtigerklärung auch des Erhebungsprogramms hätte zwar nähergelegen,478 sie hätte die Akzeptanz eines künftigen Volkszählungsgesetzes aber wohl ausgeschlossen und den bereits eingetretenen politischen Schaden in bedenklicher Weise ausgeweitet.479 Das Bundesverfassungsgericht gestaltet das Auftragsumfeld somit durch zurückhaltende Tenorierung. Der Verzicht auf die Nichtigerklärung dient häufig als Ausgangspunkt für die Beeinflussung der Rechtsfolgenabwicklung durch Gesetzgebungsauftrag. 480 Teilweise ist die Kombination aus zurückhaltender Tenorierung und Gesetzgebungsauftrag auch zur politischen Schadensbegrenzung angezeigt. Es läßt sich eine die Gesetzgebungsaufträge vorbereitende Tenorierungspraxis feststellen. cc) Maßnahmen zur Legitimitätssteigerung Zum programmbegleitenden Steuerungsverhalten des Bundesverfassungsgerichtes zählen schließlich auch Maßnahmen, die der Legitimitätssteigerung der verfassungsgerichtlichen Programme dienen. Hinzuweisen ist hier insbesondere auf bestimmte Argumentationsmuster und die Veröffentlichung abweichender Ansichten. Die legititimitätssteigernde programmbegleitende Argumentation zeichnet sich im wesentlichen durch zwei Elemente aus: Das Verfassungsgericht verweist auf seine Verpflichtung zum self-restraint und erkennt gleichzeitig die
475
Vgl. Schneider, Gesetzgebung, S. 60.
476
Ebenso für den Bereich der verfassungskonformen Auslegung, Luetjohann, Nicht-normative Wirkungen,S. 49. 477
BVerfGE 65, 1.
478
Vgl. die Ausführungen in BVerfGE 65, 1, 58 ff.
479
Zur "Chaos"-Argumentation des Bundesverfassungsgerichtes siehe schon oben
S. 35. 480 Die Nichtigerklärung scheint in einigen Fällen nur sanktionierenden Charakter zu haben, vgl. z.B. BVerfGE 55, 100, E 63, 181 und E 68, 384.
Α. Implementationstheoretische Untersuchung der Gesetzgebungsaufträge
189
gesetzgeberische Gestaltungskompetenz ausdrücklich an. 481 Erst im Anschluß an diese legitimierende Grenzziehung füllt das Gericht den betont zurückhaltend bestimmten eigenen Kompetenzbereich durch Appelle und alternative Regelungsvorgaben aus und erreicht damit faktisch eine Wirkung, die über den rechtlich legitimierten Bereich hinausgeht.482 Der self-restraint wird durch die Regelungsvorgaben im Ergebnis unterlaufen. 483 Die Veröffentlichung abweichender Ansichten im Senat erleichtert es, den Prozeß der Entscheidungsfindung nachzuvollziehen und ist damit grundsätzlich geeignet, Rationalität und Legitimität der Entscheidung zu steigern.484 Das gilt jedoch nur insoweit, als das pluralistische Moment vertrauensfördernd wirkt. Scharfe Kritik kann das Vertrauen in die Richtigkeit der Entscheidung auch mindern. Im Ergebnis wird man einen schmalen Grat zwischen legitimitätssteigernder und kontraproduktiver Veröffentlichung abweichender Meinungen annehmen müssen. Immerhin sechs der zugrundegelegten 63 Entscheidungen enthalten Sondervoten.485 Legitimitätssteigerad und zugleich legitimitätssichernd bezieht das Gericht in einigen Fällen abweichende Meinungen in den Begründungsteil der Entscheidung ein. Es weist den Gesetzgeber darauf hin, daß die überprüfte Norm verfassungsrechtlich nicht unbedenklich ist und fordert ihn so sehr gemäßigt zur Nachbesserung auf 486 , oder es äußert sich unter dem Vorbehalt der Minderheitsmeinung zur Gestaltung der mit dem Gesetzgebungsauftrag geforderten Norm, 487 so daß ein späteres Abweichen ohne Akzeptanzverlust möglich ist. 488
481 Vgl. auch Gawron!Rogowski, Implementation von Programmen des Bundesverfassungsgerichts, S. 236, die self-restraint und Anerkennung der gesetzberischen Kompetenz als Voraussetzung der Akzeptanz der Verfassungsgerichtsentscheidungen sehen. 482 Als Beispiel sei nur auf BVerfGE 82, 60, 91 ff, E 71, 364, 394, E 66, 337, 359 ff und E 74, 203, 217 f verwiesen. Vgl. auch Luetjohann, Nicht-normative Wirkungen, S. 144 mwN. 483 Von Beyme, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 271. Die Argumentation über self-restraint und gesetzgeberische Gestaltungskompetenz hat nicht nur Legitimitäts- und Einflußsteigernde Wirkung. Sie erlaubt es dem Gericht, falls erforderlich einem gezielten Einsatz durch den Gesetzgeber durch Verweis auf die legislative Gestaltungskompetenz und die eigene Zurückhaltungspflicht zu entgehen, vgl. dazu Jekewitz, Der Staat 19 (1980), S. 535 ff, S. 552 und oben S. 157. 484 Gawron!Rogowski, Implementation von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen, S. 371 mwN, betonen allerdings, daß bisher noch keine empirischen Untersuchungen vorliegen, die diese Wirkung bestätigen könnten. 485
BVerfGE 51, 1;E71, 1;E72, 330; E 73,40; E 62,256undE80, 1.
486
Vgl. BVerfGE 53, 224, 251 f zur Härteklausel des § 1568 Abs. 2 BGB und die spätere Unvereinbarerklärung in E 55,134 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die in der Vorgängerentscheidung zitierten abweichenden Ansichten, E 55, 134, 136. 7
BVerfGE
,
5,3.
190
3. Kapitel: Umsetzung der Gesetzgebungsaufträge
B. Implementation der Gesetzgebungsaufträge und Konsequenzen für die Stellung des Bundesverfassungsgerichtes im politischen Prozeß Die Untersuchung hat gezeigt, daß Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungsgerichtes eine ausgesprochen hohe Erfolgsquote aufweisen. Implementationsprobleme sind die Ausnahme. Grundsätzlich folgt der Gesetzgeber nicht nur der Aufforderung, tätig zu werden, sondern berücksichtigt auch Angaben des Gerichtes zur Gestaltung der geforderten Norm. Diese faktische Wirkung der Gesetzgebungsaufträge steht in deutlichem Gegensatz zur rechtlichen Beschränkung des Bundesverfassungsgerichtes auf bloße Rahmenvorgaben und zur überwiegenden rechtlichen Unverbindlichkeit von Auftrag und Regelungsvorgaben. Befürchtungen, das Verfassungsgericht riskiere durch seine Einflußnahme auf die Rechtsfolgenabwicklung einen Akzeptanzverlust und gefährde letztlich seine eigene Existenz, haben sich bisher nicht bestätigt. Grund ist zum einen das geschickte Steuerungsverhalten des Bundesverfassungsgerichtes, zum anderen eine äußerst günstige Struktur des Implementationsfeldes "Gesetzgebung". Die zunehmende Verlagerung der Legislativfunktion auf die gesetzesvorbereitende Ministerialexekutive entschärft die kompetenzrechtliche Grenzsituation zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht und ebnet einer Wirkung des Gerichtes im politischen Prozeß den Weg, die um ein beachtliches Maß jenseits der rechtlichen Grenzziehung liegt. Die Gesetzgebungsaufträge und ihre Implementation verdeutlichen die Entwicklung "...von negativer zu positiver Gesetzgebungsbeteiligung"489 und damit zur faktischen "Regierungsfunktion" 490 des Bundesverfassungsgerichtes.
488
BVerfGE 80, 297, 309 und 313.
489
Gawron/Rogowksi,
490
Normenkontrolle, S. 380.
Pitschas, Staatswissenschaftliche Analyse von Verfassungsgerichtsentscheidungen, S. 213 f; vgl. auch Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, § 53, Rz. 24.
Literaturverzeichnis Achterberg, Norbert, S. 649-659.
Bundesverfassungsgericht
und
Zurückhaltungsgebote,
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