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German Pages 274 Year 1996
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 718
Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts Von
Christian Rau
Duncker & Humblot · Berlin
CHRISTIAN RAU
Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 718
Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts
Von Dr. Christian Rau LL.M.
Duncker & Humblot * Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Rau, Christian: Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts / von Christian Rau. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 718) Zugl.: Mannheim, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-428-08861-1 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-08861-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©
Meinen Eltern
Vorwort Die hier veröffentlichte Arbeit lag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Mannheim im Wintersemester 1994/95 als Dissertation vor. Das Manuskript wurde im Sommer 1994 abgeschlossen. Für die Veröffentlichung konnten vereinzelt noch spätere Nachweise aus Lehre und Rechtsprechung berücksichtigt werden. Danken möchte ich zunächst Herrn Prof. Dr. Winfried Brugger, der diese Arbeit in jeder Phase durch Kritik und Anregungen entscheidend gefördert hat. Mein Dank gilt weiterhin Herrn Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Schenke fur die Anfertigung des Zweitgutachtens. Schließlich möchte ich auch der Deutschamerikanischen Fulbright-Kommission danken, die mir durch ein Stipendium einen Studienaufenthalt am Georgetown University Law Center in Washington, D.C. ermöglichte, bei dem ich den Grundstein fur den Amerikateil dieser Arbeit legen konnte. Die mir entgegengebrachte freundliche Unterstützung durch Professoren und Mitarbeiter der Bibliothek der Georgetown University wird mir unvergeßlich bleiben. Ich widme diese Arbeit meinen Eltern, denen ich mehr danken möchte, als Worte auszudrücken vermögen. Berlin, im Sommer 1996
Christian Rau
Inhaltsverzeichnis Α. Einleitung: Fragestellung, Gang der Darstellung
15
B. Vereinigte Staaten von Amerika
17
I. Der Supreme Court
17
1. Aufbau, Zuständigkeiten und Verfahren
17
2. Geschichte
21
a) Erste Phase: Entstehung und Konsolidierung der Union (1787 — 1865)
21
b) Zweite Phase: „Reconstruction", Probleme des Föderalismus und wirtschaftliche Betätigung (1866 - etwa 1920)
26
c) Dritte Phase: Wirtschaftskrise, New Deal und erwachendes Bewußtsein für Bürgerrechte (1921 - 1953)
31
d) Vierte Phase: Grundrechtsorientierung der modernen Gesellschaft (seit 1954)
38
3. Richterberufung II. Gerichtlicher Prüfungsumfang, Grenzen der Rechtsprechung und ihre Begründung 1. Prozessuale und technische Grenzen
50 54 54
a) Einleitung
54
b) Standing
55
c) Ripeness
57
d) Mootness
59
e) Flexible Handhabung und Timing
59
f) Stare decisis
60
g) Kapazitätsgrenzen?
63
2. Political Question Doctrine
64
a) Chronologie
65
b) Systematisierung, Einschätzung durch die Rechtslehre und heutige Bedeutung
78
aa) Systematisierung
78
10
Inhaltsverzeichnis
aaa) Außenpolitik, Nationale Sicherheit und Recht zur Kriegsfuhrung
80
bbb) Guarantee Clause
81
ccc) Verfahren zur Verfassungsänderung
81
ddd) Sonstige Fälle
82
bb) Einschätzung durch die Rechtslehre
82
aaa) Die klassische Theorie
83
bbb) Die prudentielle Theorie (Bickel)
83
ccc) Die funktionell-rechtliche Theorie (Scharpf)
84
ddd) „Es gibt keine political question doctrine" (Henkin) . . . .
87
eee) Neuere Tendenzen
91
cc) Eigene Einschätzung und heutige Bedeutung der political question doctrine 3. Low Level Review a) Einleitung aa) Strict Scrutiny, Rational Basis, Intermediate Scrutiny — Maßstäbe verfassungsgerichtlicher Kontrolle bb) Kontrollmaßstab und Ergebnis der Verfassungsprüfung b) Fallgruppen aa) Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung aaa) Substantive Due Process
92 94 94 95 96 98 98 98
bbb) Equal Protection
101
ccc) Interstate Commerce
106
bb) Auswärtige Angelegenheiten und Nationale Sicherheit
113
cc) „Judicial Federalism" — Akte der Einzelstaaten und bundesgerichtliche Kontrolle
119
dd) Rechtsakte von Verwaltungsbehörden
121
c) Zusammenfassung
125
4. Judicial Self-Restraint
125
a) Einleitung
125
b) Äußerer Aspekt
126
c) Innerer Aspekt
128
d) Zusammenfassung
132
Inhaltsverzeichnis
5. Originalism — Restriktive Verfassungsauslegung als selbstauferlegte Begrenzungsstrategie
133
6. Exkurs: Individuelle „Grenzen"
138
III. Zwischenergebnis USA
141
C. Bundesrepublik Deutschland
145
I. Das Bundesverfassungsgericht
145
1. Entstehung, Strukur und Status
145
2. Kompetenzen im Überblick
148
3. Besetzung des Bundesverfassungsgerichts und Sondervotum
150
a) Besetzung des Bundesverfassungsgerichts
150
b) Sondervotum
155
II. Gerichtlicher Prüfungsumfang, Grenzen der Rechtsprechung und ihre Begründung 1. Ausgangspunkt
158 158
a) Gesetzlich vorgegebene Kompetenzen
158
b) Kompetenzzuwachs kraft veränderter Grundrechtsdogmatik
159
c) Zusammenfassung
161
2. Prozessuale Maßnahmen zur Kompetenzbegrenzung
162
a) Der Kampf um das richtige Annahmeverfahren
162
b) Gerichtlich entwickelte Zulässigkeitsschranken
165
aa) Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde — das Erfordernis des Selbst-, Unmittelbar- und Gegenwärtigbetroffenseins
....
bb) Einschränkungen bei anderen Verfahrensarten c) Zusammenfassung 3. Grenzen im Prüfungsmodus a) Auswärtige Angelegenheiten
165 168 169 171 171
aa) Zwischenstaatliche und innerdeutsche Beziehungen
171
bb) Militärisch relevante Entscheidungen
181
b) Exekutivisch geprägte Binnenentscheidungen c) Prognose-, Einschätzungs- und Entscheidungsspielräume des Gesetzgebers aa) Einleitung
186 190 190
12
Inhaltsverzeichnis
bb) Chronologie
191
cc) Die Herausbildung der für die Kontrolldichte relevanten Parameter
194
dd) Die kontrollrelevanten Parameter in Aktion
198
d) Erweiterung der kontrollrelevanten Parameter
205
e) Der Begrenzungstopos der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts
207
f) Zusammenfassung
210
4. Grenzen in der Entscheidungsform — die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten verschiedenen Rechtsfolgeanordnungen
213
a) Die Nichtigerklärung
213
b) Die Unvereinbarerklärung
213
c) Das „noch verfassungsmäßige" Gesetz/Die Appellentscheidung
215
aa) Der Normalfall
215
bb) Der Brückenschlag zur Prognoserechtsprechung
216
d) Die verfassungskonforme Interpretation
220
e) Zusammenfassung und Kritik
223
5. Die Grenzendiskussion in Rechtsprechung und Rechtslehre
226
a) Richterliche Selbstbeschränkung (Judicial Self-Restraint)
227
b) Political Question Doctrine
228
c) Funktionell-rechtliche Grenzen
231
aa) Einleitung
231
bb) Einzelne funktionell-rechtliche Grenzen und ihre normative Leistungsfähigkeit
231
cc) Kritik und die Suche nach Alternativen
235
dd) Zusammenfassung; andere „Grenzen"
238
III. Zwischenergebnis Deutschland
240
D. Vergleich
246
I. Zur Vergleichbarkeit von Supreme Court und Bundesverfassungsgericht II. Methodischer Vergleich — die vier Begrenzungsebenen
.
246 248
1. Die Annahmeebene
249
2. Die prozessuale Ebene
250
Inhaltsverzeichnis
3. Die Sachebene
251
a) Amerikanisches und deutsches Verständnis von Kontrolldichte und Kontrollmaßstäben
251
b) Felder reduzierter Kontrolldichte im Vergleich
252
aa) Auswärtige Angelegenheiten
252
bb) Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung
252
4. Die Tenorierungsebene
254
III. Materieller Vergleich — gemeinsame Begründungsfiguren für die Begrenzung auf der Sachebene
255
1. Auswärtige Angelegenheiten
255
2. Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung — über „mehrpolige Rechtsund Interessenlagen", „mehrdimensionale Freiheitsprobleme" und „Polyzentrizität"
256
IV. Die unterschiedliche Schwerpunktsetzung der beiden Gerichte auf den Grenzebenen
258
1. Befund
258
2. Konsequenzen
259
V. Schluß
260
Literaturverzeichnis
265
Sachregister
273
Die amerikanischen Abkürzungen orientieren sich an: The Bluebook. A uniform system of citation, 15. Aufl. 1991, wo sich weitere Nachweise finden. Die deutschen Abkürzungen folgen: Hildebert Kirchner, der Rechtssprache, 4. Aufl. Berlin /New York 1993.
Abkürzungsverzeichnis
Buch- und Aufsatztitel werden in den Fußnoten in der Regel abgekürzt zitiert; die vollständigen Angaben ergeben sich aus dem Literaturverzeichnis.
Α. Einleitung: Fragestellung, Gang der Darstellung Ziel dieser Arbeit ist es, die Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts auf ihre Grenzen hin zu untersuchen. Im Mittelpunkt steht dabei die Suche nach solchen Grenzen, die das jeweilige Gericht seiner Rechtsprechungskompetenz selbst zieht. Aus rechtsvergleichender Perspektive sollen dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Supreme Court und Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht werden. Wann nehmen die Gerichte einen Fall zur Entscheidung an und warum? Wie hoch und wie flexibel sind die Zulässigkeitshürden, die überwunden werden müssen? Wie intensiv ist die Verfassungskontrolle im Rahmen der Auseinandersetzung in der Sache und wovon hängt dies im einzelnen ab? Welche Möglichkeiten zur Ausdifferenzierung der Entscheidungen werden genutzt? Wo sehen die Gerichte die Grenzen ihrer Erkenntnisfähigkeit, wo die Grenzen der ihnen zugewiesenen Funktion? Gibt es Umorientierungen oder gar Brüche in der grenzenbezogenen Rechtsprechung? Diese Fragen konkretisieren die wesentlichen Bestandteile des Untersuchungsgegenstandes. Sie sind eingebettet in Betrachtungen zur Rolle des jeweiligen Gerichts in seiner staatlichen Ordnung, zu seinen Kompetenzen, seinem Selbstverständnis und der Wahl seiner Mitglieder. Ein Vergleich zwischen Supreme Court und Bundesverfassungsgericht erscheint unter anderem deshalb besonders reizvoll, weil deren Unterschiede im Hinblick auf Organisationsform und Rechtskultur mit der identischen Funktion der Verfassungskontrolle in zwei gleichermaßen demokratischen, gewaltenteilig organisierten Gemeinwesen korrespondieren. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile, den Amerikateil, den Deutschlandteil, der bereits zahlreiche vergleichende Elemente enthält, und den übergreifenden Vergleichsteil. Im Amerikateil soll dem Betrachter der Supreme Court als eine in 200 Jahren gewachsene Institution des amerikanischen Rechtslebens nähergebracht werden. Daher, und weil es insoweit an neueren deutschsprachigen Übersichten fehlt, geht ein themenorientierter geschichtlicher Abriß den Überlegungen zu den Grenzen der Rechtsprechung des Supreme Court voran. Der Deutschlandteil lehnt sich in seiner Struktur an diejenige des Amerikateils an und unternimmt in Einzelfragen — wo immer möglich den Versuch, vergleichende Querverbindungen zur amerikanischen Situation
16
Α. Einleitung: Fragestellung, Gang der Darstellung
herzustellen. Des weiteren wird die hierzulande schon seit langem in Lehre und Rechtsprechung kontrovers geführte Diskussion über die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit berücksichtigt. Sie reicht insofern über die hier behandelte Thematik hinaus, als sie auf der Suche nach Grenzen ist, die dem Gericht vorausliegen, etwas, was bei selbst entwickelten Grenzen grundsätzlich nicht der Fall sein kann. Im Vergleichsteil geht es schließlich darum, die für die beiden Länder gefundenen Ergebnisse unter methodischen und materiellen Gesichtspunkten miteinander zu vergleichen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Angesichts der Reichweite und des Querschnittcharakters des Themas muß sich die Arbeit auf eine exemplarische Darstellung beschränken.1 Das von den Verfassungsgerichten Gesagte bildet regelmäßig den Ausgangspunkt und steht im Zweifel gegenüber der Rezeption der entsprechenden Entscheidung im Vordergrund. Der Zugriff zum Thema ist, der rechtsvergleichenden Aufgabenstellung entsprechend, sowohl „amerikanisch" als auch „deutsch". Als „amerikanisch" ist dabei - der amerikanischen Rechtskultur des „case law system" entsprechend - die induktive Vorgehensweise und das Bemühen um Einbeziehung rechtstatsächlicher Beobachtungen anzusehen. Der den wichtigeren Entscheidungen zugrundeliegende Sachverhalt wird kurz dargestellt. Darüber hinaus wird auch immer wieder das geschichtliche und politische Umfeld der Entscheidungen miteinbezogen. Es liefert nicht selten aufschlußreiche Informationen, die sich auf die Frage nach den Grenzen der Rechtsprechung auswirken. Andererseits wird auf der rechtskulturellen Grundlage eines kontinentaleuropäischen „code law system" der Versuch unternommen, die Vielzahl von Entscheidungen dogmatisch zu ordnen, Fallgruppen und Oberbegriffe zu bilden und abstrakte, Vorhersehbarkeit liefernde Kriterien herauszuarbeiten, die nicht bei der nächsten Entscheidung gleich wieder von lediglich sachverhaltsbedingten Unterschieden überspült werden können. In diesen letztgenannten Komponenten liegt der typisch „deutsche" Zugang zum Thema.
1
Nicht behandelt wird z.B. das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zur europäischen Gerichtsbarkeit.
Β. Vereinigte Staaten von Amerika I. Der Supreme Court 1. Aufbau, Zuständigkeiten und Verfahren 1 Der Supreme Court bildet das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten von Amerika. Er besteht aus nur einer Kammer mit neun Richtern, dem Chief Justice und acht weiteren, sog. Associate Justices. Die Richter werden vom Präsidenten mit Zustimmung des Senats ernannt.2 Als Oberstes Bundesgericht steht der Supreme Court an der Spitze des aus zwei weiteren Instanzen zusammengesetzten Zuges der Bundesgerichtsbarkeit, der 91 erstinstanzliche District Courts und 13 Courts of Appeals umfaßt. Die Zuständigkeit der Bundesgerichte ist in Art. III, Section 2 der Verfassung abschließend geregelt. Daneben verfugen die Einzelstaaten über eigene Gerichtssysteme, deren oberste Instanz häufig den Namen „Supreme Court" (des jeweiligen Staates) trägt. Im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht ist der United States Supreme Court kein genuiner Verfassungsgerichtshof, der etwa nur über spezifisches Verfassungsrecht zu befinden hätte. Vielmehr war er in erster Linie als reines Rechtsmittelgericht gedacht, und zwar sowohl gegenüber Rechtsstreiten, die vor den Bundesgerichten ausgetragen werden, wie auch gegenüber bestimmten Streitigkeiten, die ihren Ausgang vor den Einzelstaatsgerichten nehmen. Daneben verfugt er über eine, allerdings zahlenmäßig kaum ins Gewicht fallende, erstinstanzliche Zuständigkeit. Mit der 1803 von ihm selbst postulierten und inzwischen allgemein akzeptierten Kompetenz zur inzidenten Normenkontrolle ist ihm allerdings eine bedeutsame verfassungsrechtliche Komponente zugewachsen, die es rechtfertigt, ihn fur unsere Zwecke primär als Verfassungsgericht anzusehen.3 Von besonderer praktischer Bedeutung für seine Funktion als Rechtsmittelinstanz sind die die Appellationszuständigkeit begründenden Normen von 28 1
Die nachfolgenden Bemerkungen sollen einen schwerpunktartigen Überblick liefern. Für Einzelheiten vgl. Brugger, Einführung, § 3 I, S. 13 ff., sowie Wieland, Zugang, II, S. 343 ff., jeweils m.w.N. 2
Zum Berufungsverfahren für Supreme Court Richter vgl. unten 3.
3
„(I)t is in the area of constitutional law that the (Supreme) Court performs its most distinctive function", Freund , S. 18. 2 Rau
18
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
U.S.C. Section 1254 (von Bundesgerichten aus) bzw. Section 1257 (von Einzelstaatsgerichten aus). Nachdem der 1988 erlassene Judicial Improvements and Access to Justice Act den als appeal bezeichneten Rechtsbehelf stark eingeschränkt hat, machen die sogenannten certiorari-Verfahren den ganz überwiegenden Teil der zum Supreme Court kommenden Verfahren aus. Dabei bittet die unterlegene Partei das Gericht in einer petition for certiorari (cert petition), den Fall zur Entscheidung anzunehmen. Dem Gericht steht es im Außenverhältnis frei, einen derartigen Antrag anzunehmen oder nicht (freies Annahmeverfahren). 4 Intern bedarf es zur Annahme nach einer ungeschriebenen, seit langem geübten Regel eines Quorums von mindestens vier der neun Richterstimmen. 5 Eine Chance auf Annahme besteht nur bei Vorliegen „besonderer und wichtiger Gründe", insbesondere wenn zwischen nachgeordneten Gerichten eine unterschiedliche Rechtsprechung besteht, ferner wenn Rechtsfragen von besonderer Bedeutung zu klären sind oder wenn schwerwiegende Verfahrensfehler korrigiert werden sollen. 6 Wird eine Rechtssache zur Entscheidung angenommen7, so findet in aller Regel eine mündliche Verhandlung statt, die üblicherweise eine Stunde dauert. Jede Partei hat während der ihr zustehenden halben Stunde Gelegenheit zur Darstellung des Falles aus ihrer Sicht, sieht sich aber auch häufig einer intensiven Befragung durch die Richter ausgesetzt. Wenige Tage nach der Verhandlung treffen sich die Richter zur sogenannten conference. Dort wird, neben der Entscheidung über die Annahme weiterer cert petitions, über die aktuellen Fälle abgestimmt. Bemerkenswert ist dabei, daß eine eingehende Diskussion im allgemeinen nicht stattfindet, was von einigen Richtern, gegenwärtig etwa Richter Scalia, bedauert und kritisiert wird. 8 Vielmehr gibt der Chief Justice
4 Vgl. Rule 10 der „Rules of the Supreme Court of the United States": „A review on writ of certiorari is not a matter of right, but of judicial discretion, and will be granted only, when there are special and important reasons therefor. ...", zitiert nach Perry , in: Oxford Companion, S. 132. 5
Zum certiorari-Verfahren vgl. Brennan, The National Court of Appeals: Another Dissent, 40 U. Chi. L. Rev. 473 (477 ff.) 1973; Hellman , Case Selection in the Burger Court: A Preliminary Inquiry, 60 Notre Dame L. Rev. 947 (1985) mit weiteren Nachweisen und empirischen Daten. 6 Vgl. Rule 17 (1) der „Rules of the Supreme Court of the United States", zitiert nach Brugger, Grundrechte, S. 12. 7
Nach Perry , in: Oxford Companion, S. 132, ist dies bei weniger als 5% der jährlich etwa 5.000 Fälle, in denen certiorari begehrt wird, der Fall. Die Anzahl der Fälle, über die mündlich verhandelt wird und die mit einer ausfuhrlichen Entscheidung abgeschlossen werden, liegt im Jahr bei etwa 120 bis 150. 8 Scalia weist darauf hin, daß die Richter vor allem indirekt miteinander kommunizieren, sei es über ihre Mitarbeiter, die law clerks, sei es durch eine entsprechend prononcierte und bisweilen suggestive Art des Fragens in der mündlichen Verhandlung oder durch das Umherschicken mehr oder weniger ausführlicher Stellungnahmen (memoranda) an einen oder alle Richterkollegen. Direkte Gespräche seien außerordentlich selten. Scalia, in einem
I. Der Supreme Court
19
einen kurzen Überblick über den Fall und äußert dann seine Rechtsansicht. Er selbst hat nur eine Stimme, ist jedoch bei geschickter Verhandlungsführung und entsprechender Persönlichkeit mehr als nur ein primus inter pares.9 Danach haben die Associate Justices, beginnend mit dem dienstältesten und endend mit dem dienstjüngsten, das Wort. Die früher übliche Praxis, nach den Wortbeiträgen in einer gesonderten Runde nach umgekehrtem Dienstalter (i.e. der dienstjüngste Richter zuerst, der Chief Justice zuletzt) die Voten abzugeben, scheint neuerdings deshalb meistens fur entbehrlich gehalten zu werden, weil das Votum bereits in den jeweiligen Wortbeitrag der Richter einfließt und dort kenntlich gemacht zu werden pflegt. Somit läßt es der Chief Justice damit bewenden, am Ende das Ergebnis dieser inzidenten Abstimmung bekannt zu machen.10 Befindet er sich selbst bei der Mehrheit, so obliegt es ihm, einen Richter zu bestimmen, der die Entscheidung abfaßt, wobei er ganz besonders wichtige Fälle persönlich zu übernehmen pflegt. 11 Andernfalls liegt dieses Recht bei dem dienstältesten Richter der Mehrheit. Der mit der Formulierung der Entscheidung beauftragte Richter verfaßt einen Entwurf, den er seinen Kollegen zuleitet. Dabei kann es sein, daß die in der conference zustande gekommene Mehrheit nur aufrechterhalten werden kann, wenn es dem Autor gelingt, in der Entscheidung einen fur alle Mehrheits-Richter akzeptablen Konsens zu finden. 12 In Einzelfällen kann sich sogar die Mehrheit in einem bestimmten Fall noch einmal ändern. 13
„Supreme Court Seminar" des Georgetown University Law Center am 19.11.1991. Vgl. auch die Aussage des ehemaligen Richters Harlan, der den Supreme Court nicht mit einer, sondern mit 9 Anwaltskanzleien verglich, die manchmal sogar gegeneinander arbeiteten; s. O'Brien , Storm Center, S. 122 ff. 9 So war es nicht zuletzt dem Überzeugungsgeschick des damals gerade erst ins Amt gekommenen Chief Justice Earl Warren zu verdanken, daß Brown v. Board of Education, 347 US. 483 (1954) - die Entscheidung, durch die Rassentrennung an öffentlichen Schulen für verfassungswidrig erklärt wurde - einstimmig erging und somit das Gericht bei dieser gesellschaftlich hochbrisanten Thematik nicht auseinanderdividiert werden konnte. Vgl. O'Brien , Storm Center, S. 233 f. Für den Supreme Court vor Chief Justice Warren vgl. aber auch Mason, The Chief Justice of the United States: Primus Inter Pares, 17 J. Pub. L. 20 (1968). 10
Vgl. Janosik, in: Oxford Companion, S. 174.
11
Zur entsprechenden Praxis zweier früherer Chief Justices vgl. Ulmer , The Use of Power in the Supreme Court: The Opinion Assignments of Earl Warren, 1953-1960, 19 J. Pub. L. 49 (1970), sowie Haines , Rolling Back the Top on Chief Justice Burger's Opinion Assignment Desk, 38 U. Pitt. L. Rev. 631 (1977). 12
Vgl. unten Fn 140. Illustrativ auch O'Brien , Storm Center, S. 247-262; Woodward/ Armstrong , The Brethren, S. 285-347 (344), und Rohde / Spaeth, S. 193 ff. 13
Vgl. zum Ganzen O'Brien , Storm Center, Kap. 5, S. 213 ff. (229 ff.).
20
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
Trotz des Bemühens, zu einem fur möglichst viele, wenn nicht alle Richter akzeptablen Konsens zu gelangen, ergeht heute nur noch eine Minderheit der Entscheidungen des Supreme Court einstimmig. Stimmt ein Richter zwar mit dem Ergebnis der von einer Mehrheit getragenen Entscheidung, nicht aber mit deren Begründung bzw. Herleitung überein, so verfaßt er im allgemeinen eine concurring opinion, in der er seine Rechtsauffassung darlegt. Ist er auch mit dem Ergebnis nicht einverstanden, so schreibt er eine dissenting opinion oder/und schließt sich der eines Kollegen an. Concurrences und dissents, die sich auch nur auf Teile einer Entscheidung beziehen können, stehen in der Tradition der aus der englischen Gerichtspraxis stammenden „seriatim opinions" 14 und sind, wiewohl nicht gänzlich unumstritten, seit langer Zeit zu einem allgemein akzeptierten, festen Bestandteil der Rechtsprechung des Supreme Court geworden. 15 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß, zumindest in kontroversen Fällen, der in der mündlichen Verhandlung begonnene und dann in der conference formalisierte Prozeß der Entscheidungsfindung mit der Abstimmung nicht abgeschlossen ist, sondern bis zur endgültigen Verkündung der Entscheidung fortgesetzt wird. Die wesentlichen Instrumente sind hierbei schriftliche Stellungnahmen und gelegentliche informelle Diskussionen unter den Richtern, vor allem aber Memoranden, die unter den Mitarbeitern der Richter, den „law clerks" 16 , weitergereicht werden. Wie oben gezeigt, wird der Supreme Court seiner gesetzlichen Bestimmung nach also grundsätzlich als Rechtsmittelgericht tätig und ist insofern den obersten Bundesgerichten in Deutschland vergleichbar. 17 Da jedoch etwa die Hälfte seiner Entscheidungen ihren Schwerpunkt im Verfassungs14 Dabei ergeht eine Gerichtsentscheidung dadurch, daß sämtliche der an der Entscheidung mitwirkenden Richter eigene opinions verfassen, die dann „seriatim", d.h. der Reihe nach verkündet und veröffentlicht werden. Vgl. Walker, in: Oxford Companion, S. 779 f. 15 Vgl. zu Geschichte, Bedeutung und heutiger Praxis der Sondervoten beim Supreme Court Millgramm, Separate Opinion, S. 59 ff. 16
Die law clerks sind im allgemeinen Absolventen namhafter Jurafakultäten, die oft unmittelbar nach dem Abschluß des dreijährigen Studiums fur ein bis zwei Jahre für einen Supreme Court-Richter tätig sind und sich dann, versehen mit der fur eine spätere juristische Karriere wohl prestigeträchtigsten Berufserfahrung, in Richtung Anwaltsberuf, Justizdienst oder akademische Laufbahn orientieren. Der Einfluß, den sie auf den Richter, dem sie zugewiesen sind, ausüben, kann beträchtlich sein. Teilweise schreiben sie sogar, nach entsprechenden Instruktionen des Richters, selbst die Voten. Vgl. zum Ganzen O'Brien , Storm Center, S. 124-135 m.w.N.; w.N. auch bei Wieland, Zugang, S. 347 Fn. 74. Nach eigener Einschätzung ist die Machtfulle der law clerks bisweilen auch fur sie selbst erstaunlich und angesichts ihrer geringen professionellen Erfahrung besorgniserregend. Gespräch mit einem law clerk des damals neuberufenen Justice Clarence Thomas am 27.02. 1992. 17
So zu Recht Wieland, Zugang, S. 343.
I. Der Supreme Court
21
recht haben18, übt er auch eine deutliche, im öffentlichen Bewußtsein im Vordergrund stehende, verfassungsgerichtliche Funktion aus. Sie bildet den Rahmen des in dieser Arbeit zu behandelnden Themas, wobei gelegentlich die Suche nach Grenzen verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung auch in nichtverfassungsrechtliche Bereiche, etwa in das Verwaltungsrecht, hineinreicht.
2. Geschichte Nachfolgend wird ein kurzer Abriß der Geschichte des Supreme Court gegeben, der wesentliche Entwicklungslinien in den 200 Jahren seit seiner Entstehung aufzeigen soll. 19 Dieser Überblick soll helfen, das Oberste Gericht als eine gewachsene Institution zu begreifen, die sich ihren Platz und Einfluß unter den Regierungsgewalten erst erarbeiten mußte, inzwischen aber über eine ähnliche Machtfulle verfugt wie das ungleich jüngere und von Anfang an mit einem klaren Kompetenzkatalog versehene Bundesverfassungsgericht. Die Darstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr wurde versucht, neben klassischen „landmark decisions" insbesondere Fälle zu erwähnen, die sich entweder im Spannungsfeld zu den anderen Gewalten abspielten oder gesellschaftlich umstritten waren, wobei oft beides der Fall ist. An diesen Entscheidungen kann man erkennen, daß sich der Supreme Court seiner Tätigkeit im Grenzbereich zwischen Recht und Politik zu allen Zeiten bewußt war, daß er aber auch unterschiedlich intensiv und unterschiedlich erfolgreich in diesem Grenzbereich agierte. Die Darstellung nimmt in dem Maße an Dichte zu, in dem wir uns der Gegenwart nähern. a) Erste Phase: Entstehung und Konsolidierung der Union (1787-1865) Artikel III, Section 1 der Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 sah die Errichtung eines Obersten Bundesgerichts vor, bei dem, zusammen mit anderen Bundesgerichten, über deren Schaffung erst später vom Kongreß entschieden werden solllte, die richterliche Gewalt der Vereinigten Staaten nach Maßgabe von Section 2 liegen sollte. Durch den Judiciary Act von 1789 wurde Artikel III teilweise mit Leben erfüllt und unter anderem ein Supreme Court von zunächst 6 Richtern 20 geschaffen. Dieser war und ist der oberste Bundesgerichtshof, der an der Spitze des aus drei Instanzen bestehenden Zu18
Vgl. Wieland,
a.a.O.
19
Zur Einteilung in die gewählten geschichtliche Epochen vgl. Wiecek u.a., in: Oxford Companion, S. 373 ff. 20 Die Anzahl der Supreme Court Richter wuchs in der Folgezeit mit der Zahl der bundesgerichtlichen Gerichtsbezirke („Circuits") und wurde schließlich durch den Judiciary Act von 1869 auf neun festgesetzt.
22
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
ges der Bundesgerichte steht. Der Supreme Court wurde also nicht als spezialisierter Verfassungsgerichtshof konzipiert. Bei seiner Entstehung hatte er noch nicht einmal die Kompetenz zur Normenkontrolle, die als ein konstitutives Merkmal von Verfassungsgerichtsbarkeit angesehen werden kann. Die Befugnis, einen Gesetzgebungsakt des amerikanischen Kongresses oder eine Maßnahme der Bundesregierung auf ihre Verfassungskonformität zu überprüfen, mußte sich der Supreme Court erst selbst schaffen. Dies geschah in der wohl berühmtesten Entscheidung aus der Frühzeit des Gerichts, Marbury v. Madison , im Jahre 1803.21 Nachdem der Supreme Court in der ersten Dekade seines Bestehens begonnen hatte, seine Kompetenzen gegenüber den anderen Bundesgewalten und den Einzelstaaten zu konturieren, bot Marbury die Chance zu einer Grundsatzentscheidung von bleibender Bedeutung. Besonders bemerkenswert fur die hier zu untersuchende Thematik ist die Tatsache, daß der Supreme Court sein Normenkontrollrecht ausgerechnet in einer Entscheidung begründete, deren Konsequenz es war, den an sich dem Kläger zustehenden Rechtsschutz zu versagen und damit gleichzeitig Präsident Jeffersons Weigerung, die in letzter Minute durch seinen Amtsvorgänger John Adams vorgenommenen Richterberufungen umzusetzen, festzuschreiben. Zwar stellte der neue Chief Justice John Marshall 22 fest, daß Marbury einen Anspruch auf Einsetzung als Friedensrichter habe und daß der begehrte „writ of mandamus" auch die einschlägige Rechtsschutzform darstelle. Zweifelhaft war jedoch, ob der Supreme Court in einer solchen Angelegenheit als erstinstanzliches Gericht tätig werden durfte. Nachdem Marshall — inhaltlich keineswegs zwingend 23 - den in Rede stehenden Absatz 13 des Judiciary Act so interpretiert hatte, daß eine einfachgesetzlich angeordnete Zuständigkeit des Supreme Court gegeben war, gelangte er zur Auslegung der entsprechenden Klausel in Artikel III, Section 2 der Verfassung. Auch hier war die von ihm gewählte Interpretation, die für den vorliegenden Fall keine erstinstanzliche Zuständigkeit des Supreme Court annahm, nicht die einzig mögliche. 24 Jedoch gelangte das Gericht auf diesem Wege zu einem Konflikt zwischen einfachem Recht und Verfassungsrecht, der ihm die Gelegenheit zu einer juristisch ebenso weitreichenden wie politisch geschickten Verbundlösung bot: Zwar wurde im vorliegenden Fall Marburys Klage abge21 1 Cranch (5 U.S.) 137 (1803). Der Fall ist auch in der deutschsprachigen Literatur gut dokumentiert und braucht daher nicht im einzelnen dargestellt zu werden. Vgl. nur Brugger, Grundrechte, § 2. 22
In den USA ist es üblich, den Supreme Court, insbesondere bei einer historischen Einordnung, begrifflich mit dem jeweiligen Chief Justice zu identifizieren. Marbury wurde also vom sog. Marshall-Court entschieden; gegenwärtig ist weges des seit 1986 amtierenden Chief Justice William Rehnquist vom Rehnquist-Court die Rede. 23
Brugger, Grundrechte, § 2, S. 6.
24
Brugger, a.a.O, S. 6 f.
I. Der Supreme Court
23
wiesen und dadurch die von der neuen „republikanischen" Regierung unter Präsident Jefferson dem Supreme Court und der Person John Marshalls gegenüber bestehende feindliche Haltung besänftigt. Andererseits geschah dies gewissermaßen um den Preis der von nun an höchstrichterlich verankerten Kompetenz des Supreme Court, Akte der staatlichen Bundesgewalt anhand von Verfassungsnormen zu überprüfen. Bereits Marbury v. Madison ist daher ein gutes Beispiel für die politische Gratwanderung, die der United States Supreme Court seit seinem Bestehen vollfuhrt hat. Von der Bedeutung von Marbury für die political question doctrine wird noch weiter unten25 die Rede sein. Marbury v. Madison wie auch Martin v. Hunters Lessee26, eine Entscheidung, in der der Supreme Court seine Prüfungskompetenz auch auf Akte von Einzelstaaten ausdehnte, sind anschauliche Beispiele dafür, wie der Supreme Court in der Anfangsphase darum bemüht war, seine eigenen Kompetenzen gegenüber anderen Trägern von Regierungsgewalt zu bestimmen und zu festigen. Als zweites prägendes Merkmal dieser Periode kann das Ringen um die Definierung der Bundeskompetenzen und die Grenzziehung zwischen Bundes- und Einzelstaatskompetenzen gelten. McCulloch v. Maryland 2 7 , 1819 entschieden, illustriert die spürbare Tendenz des Supreme Court, die an sich begrenzten, in Art. I, Section 8 der Verfassung enumerierten Gegenstände der Bundesgesetzgebung auszuweiten. So wurde in McCulloch eine vom Kongreß errichtete Bank fur verfassungsmäßig und die vom Staate Maryland gegen die Bank erhobene Steuer für verfassungswidrig erklärt, obwohl der besagte Kompetenzkatalog in der Verfassung sich über Banken ausschweigt. Der Supreme Court argumentierte unter Verweis auf die am Ende von Section 8 aufgeführte necessary and proper-Klausel, daß die jeweiligen Kompetenzen des Kongresses gleichzeitig die Befugnis in sich trügen, alle zu ihrer Umsetzung nötigen und angemessenen Gesetze zu erlassen. Bei einem legitimen Ziel seien alle darauf gerichteten, nicht ausdrücklich verbotenen Maßnahmen verfassungsgemäß. 28 Diese Interpretation stellt die bis heute geltende Grundlage fur die Feststellung der Grenzen der Bundesgesetzgebungskompetenz dar.
25
S. unten II.2.a).
26
14 U.S. (1 Wheat.) 304 (1816).
27
17 U.S. (4 Wheat.) 316 (1819).
28
„Let the end be legitimate, let it be within the scope of the constitution, and all means which are appropriate, which are plainly adapted to that end, which are not prohibited, but consist with the letter and spirit of the constitution, are constitutional", Chief Justice Marshall, a.a.O., S. 421.
24
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Gibbons v. Ogden 29 schließlich markiert den Beginn einer beispiellosen Ausdehnung reglementierender Bundesgewalt gegenüber den Einzelstaaten, gestützt auf eine bereits damals sehr extensive und in der Zwischenzeit vollends konturlose Interpretation der interstate commerce-Klausel in Art. I, Section 8 der Verfassung. 30 War schon Marbury v. Madison , wie oben gezeigt, eine eminent politische Entscheidung, so gilt dies ebenso für den letzten in dieser Phase des geschichtlichen Überblicks darzustellenden Fall, nämlich Dred Scott v. Sandford . 3 1 Er markiert als prononcierteste Frühentscheidung des Supreme Court zur Sklaverei ein bis zum heutigen Tage nicht völlig überwundenes Problem der amerikanischen Gesellschaft und legt Zeugnis von einem Geburtsfehler des amerikanischen Verfassungsstaats ab. 1846 klagten der Sklave Dred Scott und seine Ehefrau Harriet vor einem Gericht des Staates Missouri auf Befreiung aus ihrem Sklavenstatus. Sie konnten sich darauf stützen, daß sie sich vor ihrer Rückkehr in den Staat Missouri in „freien" Bundesstaaten bzw. Territorien aufgehalten hatten, in denen die Sklaverei verboten war. Das zuständige Circuit Court wandte den im Recht des Staates Missouri fest verankerten Rechtsgrundsatz „once free, always free" an und entsprach 1850 Scotts Klagebegehren. Scotts Lohnzahlungen waren während des langen Rechtsstreits einbehalten worden, und so sah sich nun John Sanford 32, der die Geschäfte der ehemaligen Eigentümerin der Scotts führte, einer beträchtlichen Zahlungsverpflichtung gegenüber. Daher legte er Rechtsmittel ein. Der Missouri Supreme Court hob in diesem inzwischen zum Politikum gewordenen Fall 1852 die Entscheidung des Untergerichts auf und setzte sich damit über eine lange Präjudizienkette hinweg. Daraufhin beschritt Scotts Anwalt den Rechtsweg der Bundesgerichte. Der Supreme Court ließ die Parteien zweimal zu mündlichen Verhandlungen erscheinen, eine Maßnahme, die bis heute außerordentlich selten ist und nur bei sehr komplizierten oder umstrittenen Fällen angewandt wird, und verkündete 1857 seine Entscheidung. Kernstück der von Chief Justice Taney abgesetzten Entscheidung ist die Aussage, daß Schwarze keine Bürger im Sinne von Art. III, Section 2 der Verfassung sein könnten. Vielmehr seien sie von den Verfassungsvätern als „untergeordnete und minderwertige Klasse von Wesen"33 29
22 U.S. (9 Wheat.) 1 (1824).
30
Vgl. dazu
Tribe,
Constitutional Law, § 5-4, sowie unten II.3.b).ccc).
31
60 U.S. (19 How.) 393 (1857). Zum Hintergrund vgl. Maaßen, S. 99 ff. m.w.N. Eine bemerkenswert komplette Darstellung findet sich bei Ehrlich, in: Oxford Companion, S. 759 ff. 32 Sanford, nicht Sandford. Die unterschiedliche Schreibweise ist auf einen Schreibfehler in den Gerichtsakten zurückzuführen, s. Ehrlich, in: Oxford Companion, S. 760. 33
60 U.S. (19 How.) 393, 404 f., Übersetzung nach Brugger, Grundrechte, S. 147 f.
I. Der Supreme Court
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eingestuft worden. Man habe sie als „in keiner Weise in der Lage, sich mit der weißen Rasse sozial oder politisch zusammenzutun" angesehen und als „so minderwertig, daß sie keine Rechte hatten, die der Weiße achten mußte." 34 Mit der Verneinung der Bürgereigenschaft Scotts brach eigentlich auch die auf „diversity of citizenship" gestützte Zuständigkeit des Supreme Court in sich zusammen, da ja von einem „citizen" nach Auffassung des Gerichts nicht gesprochen werden konnte. Dennoch wandte sich das Gericht auch der grundsätzlichen Frage danach zu, ob der Kongreß die Sklaverei in den „territories" verbieten konnte, und verneinte sie. Folgerichtig wurde damit auch der mühsam ausgehandelte „Missouri compromise", durch den Staaten und Territorien in solche mit und solche ohne Sklavenhaltung unterteilt wurden, für verfassungswidrig erklärt und der schwelende Streit zwischen Befürwortern der Sklaverei und „abolitionists" weiter angeheizt. Diese Auseinandersetzung führte, zusammen mit anderen Faktoren, einige Jahre später zum amerikanischen Sezessionskrieg, der von 1861 bis 1865 dauern sollte. Dred Scott v. Sandford wird allgemein als eine der juristisch anmaßendsten und politisch verheerendsten Entscheidungen des United States Supreme Court angesehen.35 Mag man auch die Argumentation zur Bürgereigenschaft Scotts als Ausdruck einer „Beschränkung der Verfassungsauslegung auf die von den Verfassungsgebern bei der Formulierung einer Norm bedachten und intendierten Anwendungsfalle" 36 fur nachvollziehbar halten, so erweist sich doch diese interpretatorische Zurückhaltung gegenüber der ohne Not mitentschiedenen allgemeinen Frage nach den Kompetenzen des Kongresses im Bereich der Sklaverei als widersprüchlich und politisch durchsichtig. Der Supreme Court, und ihm voran sein Chief Justice Taney, nahm offenbar an, das nationale Problem der Sklaverei durch eine pointierte Entscheidung lösen zu können. Doch bei hochkontroversen Themen stößt das Gericht an mögliche Grenzen politischer und gesellschaftlicher Akzeptanz und gerät dadurch in Gefahr, seine eigene Position zu schwächen. Dies war im Gefolge von Dred Scott in mehrfacher Weise der Fall: Einerseits löste die Entscheidung einen Sturm der Entrüstung aus und diskreditierte das Gericht in seiner konsensstiftenden Funktion auf Jahre hinaus. Zum anderen trug sie zu einer Polarisierung von Positionen bei, die sich in einem blutigen Bürgerkrieg entluden, einer Phase während der der Supreme Court - wie stets in einer „Stunde der Exekutive" - nur Beobachter der Ereignisse 34
A.a.O., S. 407.
35
„... the greatest disaster the Supreme Court has ever inflicted on the nation," Wiecek , in: Oxford Companion, S. 380; „... infamous decision ... often recalled for its politically disastrous dictum ...", Tribe , Constitutional Law, § 7-2, S. 549. 36
So Brugger, Grundrechte, S. 148 zum „institutionellen Selbstverständnis" des damaligen Supreme Court.
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war. Schließlich war es nicht zuletzt die Dred Scott-Entscheidung, die die Verfassungszusätze nach dem Bürgerkrieg provozierte, die ihrerseits Dred Scott konterkarieren sollten.37
b) Zweite Phase: „Reconstruction44, Probleme des Föderalismus und wirtschaftliche Betätigung (1866 - etwa 1920) Als „Reconstruction" wird die mit dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges beginnende und etwa ein Jahrzehnt dauernde Phase bezeichnet, in der es darum ging, den durch die Auseinandersetzung um die Sklaverei und die Sezession der Südstaaten bedrohten amerikanischen Bundesstaat wieder „aufzubauen" und zusammenzubringen. Gesetzgeberisch sollte dies vor allem mit den Reconstruction Amendments zur amerikanischen Verfassung und mit dem Reconstruction Act von 1867 bewerkstelligt werden. Als Reconstruction Amendments werden die zwischen 1865 und 1870 in Kraft getretenen Verfassungszusätze 13 bis 15 bezeichnet, in denen unter anderem die Sklaverei abgeschafft, alle in den USA geborenen Menschen als Bürger eingestuft und das Wahlrecht all dieser Bürger festgeschrieben wird. Der gegen das präsidentielle Veto verabschiedete Reconstruction Act verlieh den von Präsident Johnson, dem Nachfolger des 1865 ermordeten Präsidenten Lincoln, eingesetzten Südstaatenregierungen einen nur provisorischen Status und stellte sie bis zur Verabschiedung von Einzelstaatsverfassungen und Abhaltung von Neuwahlen unter militärische Kontrolle. In Mississippi v. Johnson 38 wurde der Reconstruction Act angegriffen und beantragt, der Supreme Court möge dem Präsidenten die Anwendung des Gesetzes untersagen. 39 Der Supreme Court wies das Klagebegehren einstimmig zurück und stellte fest, daß das Gericht den Präsidenten nicht daran hindern könne, ein angeblich verfassungswidriges Gesetz anzuwenden. Ähnlich zurückhaltend zeigte sich der Supreme Court in Ex parte McCardle. 40 Hier hatte das Gericht als Rechtsmittelinstanz über die Verfassungsmäßigkeit des Reconstruction Act zu befinden. Nach der mündlichen Verhandlung 37
Vgl. Zusatzartikel 13, in dem die Sklaverei abgeschafft wird, und Zusatzartikel 14, dessen Section 1 bestimmt: „Alle Personen, die in den Vereinigten Staaten geboren oder eingebürgert und ihrer Regierungsgewalt unterworfen sind, sind Bürger der Vereinigten Staaten und des Einzelstaates, in dem sie ihren Wohnsitz haben." 38
71 U.S. 475 (1867).
39
Zwar hatte Präsident Johnson sich vehement gegen den Reconstruction Act gewandt und gegen ihn sein Veto eingelegt. Jedoch sah er in der Klage von Mississippi einen Angriff auf die Autorität des Präsidenten und wies seinen Justizminister an, sich gegen die Klage zur Wehr zu setzen. Vgl. Nieman, in: Oxford Companion, S. 556. 40
74 U.S. 506 (1869).
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im März 1868 sorgte eine Mehrheit der Richter dafür, daß die Entscheidung so lange zurückgehalten wurde, bis der Kongreß die die Zuständigkeit des Gerichts in diesem Fall begründende Norm außer Kraft gesetzt hatte. Daraufhin wies Chief Justice Chase die Klage wegen mangelnder Zuständigkeit des Supreme Court ab, ohne auf die Verfassungsmäßigkeit des Reconstruction Act einzugehen. Durch diese „Zurückhaltung" sowohl gegenüber der Exekutive als auch der Legislative gelang es dem Supreme Court, sein durch Dred Scott nachhaltig beschädigtes Image wieder zu verbessern. Die Stimmen im Kongreß, die verlangt hatten, man müsse das Normenkontrollrecht des Supreme Court einschränken oder ganz unterbinden 41, verstummten wieder. Bemerkenswert ist auch die Haltung des Obersten Gerichts zu der durch die neuen Zusatzartikel wieder aktualisierten Frage nach der Abgrenzung von Bundes- und Einzelstaatskompetenzen. In den Slaughterhouse Cases* 1 wandte sich der Supreme Court durch eine restriktive Interpretation der privileges or immunities-Klausel des Zusatzartikels 14, Section 1 letztlich gegen eine einheitliche und umfassende Anwendung der in der Bill of Rights garantierten Rechte auch gegenüber Restriktionen durch die Einzelstaaten. Mit der Nichtigerklärung von Teilen des 1875 vom Kongreß erlassenen Civil Rights Act 4 3 , durch den Schwarze unter anderem vor privater Diskriminierung in Gaststätten geschützt werden sollten, wurde die Gesetzgebungskompetenz des Kongresses im Bereich der Bürgerrechte überhaupt in Zweifel gezogen und dadurch ein von Rechtszersplitterung gekennzeichneter Schwebezustand geschaffen, der erst durch die Verabschiedung des Civil Rights Act von 1964 beendet werden konnte. Zu dieser engen Ausgestaltung der Reconstruction Amendments paßt auch die berühmte Rassentrennungsentscheidung in Plessy v. Ferguson im Jahre 1896.44 In der Zwischenzeit war auch der letzte Hauch des während der Reconstruction-Ära spürbaren Impetus hin zu einer echten Gleichstellung der Schwarzen abgeflaut. 1890 war der Versuch, durch ein neues Bundesgesetz den Wahlrechts-Verfassungszusatz des 15. Amendment mit Leben zu erfüllen, an einer knappen Mehrheit im Kongreß gescheitert. Schließlich waren in der Zwischenzeit zahlreiche neue Richter zum Supreme Court berufen worden, an deren konservativer Grundhaltung kein Zweifel bestehen konnte.45
41
Siehe Les Benedict, in: Oxford Companion, S. 382.
42
83 U.S. (16 Wall.) 36 (1873). Vgl. dazu Brugger, Grundrechte, § 6 I, S. 45 ff.
43
Civil Rights Cases, 109 U.S. 3 (1883).
44
163 U.S. 537 (1896).
45
Vgl. Abraham, Justices, S. 146.
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Daher standen die Chancen nicht sonderlich gut fur Mr. Plessy, als er sich mit seiner Weigerung, einen „colored only"-Bereich eines Zugwaggons in Louisiana zu belegen, anschickte, die Vereinbarkeit des entsprechenden, die Rassentrennung anordnenden Einzelstaatsgesetzes von Louisiana 46 mit den Zusatzartikeln 13 und 14 der amerikanischen Verfassung zu testen. Der Supreme Court wies Plessys Argumente in einer 7:1-Entscheidung zurück und verkündete, was in der Folgezeit als separate, but equal-Doktrin bekannt wurde: Gesetze, die eine Trennung der Rassen anordneten, bedeuteten nicht, daß eine Rasse minderwertiger sei als die andere. Somit komme auch ein Verstoß gegen die equal protection-Klausel des 14. Amendment nicht in Betracht. 47 Einzig Justice John Marshall Harlan vertrat in seinem Dissent die entgegengesetzte Ansicht und schrieb: „... die Verfassung ist farbenblind; weder kennt sie noch duldet sie Bürger unterschiedlicher Klasse." 48 So restriktiv der Supreme Court in der Auslegung des 14. Verfassungszusatzes in bezug auf Gleichstellung der Rassen war, so extensiv nutzte er ihn zur Durchsetzung seiner Vorstellung von wirtschaftlicher Betätigungsfreiheit. So trat der seltsame Effekt auf, daß zwar einzelstaatliche Gesetze, die rassische Minderheiten diskriminierten, als verfassungsmäßiger Ausdruck der den Staaten zustehenden „police power" 49 angesehen wurden. 50 Andererseits wurden Normen, die ebenfalls im Bereich dieser polizeilichen Kompetenzen lagen, dann einer strengen verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterzogen, wenn von ihnen eine Gefahr fur die Vertragsfreiheit oder das Eigentum auszugehen schien. Allgeyer v. Louisiana 5 1 , 1897 einstimmig entschieden, markiert den ersten Fall, in dem ein Gesetz eines Einzelstaates wegen Verstoßes gegen die Vertragsfreiheit für verfassungswidrig erklärt wurde. Betroffen war eine Berufszugangsregelung fur das Versicherungsgewerbe und eine Kontrahierungsbeschränkung mit Versicherungsgesellschaften, die außerhalb Louisianas operierten. Normativer Ausgangspunkt war für den Supreme Court die due process-Klausel des 14. Amendment, die bestimmt, daß „kein Staat irgend je-
46 Dieses verpflichtete die Eisenbahnen, „equal but separate accommodations for the white and colored races" zu schaffen. 47
Zu Einzelheiten vgl. Brugger, Grundrechte, § 20 I, S. 150 ff.
48
163 U.S. 537, 559 (1896). Viel später erlebte das Wort von der „farbenblinden" Verfassung eine Renaissance, nämlich als es von Konservativen im Zuge der Kontroverse um „affirmative action" dafür benutzt wurde, die Verfassungsmäßigkeit von Quotenregelungen und anderen Sonderprogrammen für ethnische Minderheiten in Zweifel zu ziehen. 49 Unter police power wird die parlamentarische Kompetenz zum Erlaß von Regelungen verstanden, die insbesondere der öffentlichen Gesundheit, der Sicherheit und der Wohlfahrt dienen sollen. Vgl. näher Scheiber, in: Oxford Companion, S. 639 ff. 50
So etwa bei Plessy, s.o.
51
165 U.S. 578 (1897).
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mandem ohne vorheriges ordentliches Gerichtsverfahren im Einklang mit Recht und Gesetz Leben, Freiheit oder Eigentum nehmen ... darf 4 . Den in der due process-Klausel enthaltenen Freiheitsbegriff definierte der Supreme Court so: „Die in der due process-Klausel angesprochene Freiheit bezieht sich nicht nur auf das Recht des Bürgers, Freiheit von bloß körperlicher Beschränkung seiner Person — etwa durch Einkerkerung - zu genießen; der Begriff soll das Recht des Bürgers umfassen, alle seine Fähigkeiten zu genießen; sie in jeder gesetzmäßigen Richtung auszuüben; zu leben und zu arbeiten, wo er will; seinen Lebensunterhalt durch jeden gesetzmäßigen Beruf zu verdienen; jeder Beschäftigung oder jedem Beruf nachgehen zu können. Zu diesem Zweck hat er das Recht, alle Verträge zu schließen, die im Hinblick auf die Verwirklichung der oben genannten Ziele angemessen, notwendig und wesentlich sind ... In dem Privileg, einem gewöhnlichen Beruf oder Handel nachgehen und Eigentum erwerben, behalten und verkaufen zu können, muß auch das Recht enthalten sein, alle hierfür geeigneten Verträge abschließen zu können ..." 5 2 Bekanntestes Beispiel für diese verfassungsrechtliche Sanktionierung eines am laissez-faire-Prinzip orientierten Ideals des Wirtschaftens ist schließlich Lochner v. New York. 53 Darin erklärte das Gericht in einer knappen 5 :4-Entscheidung eine im Bakeshop Act enthaltene Arbeitszeitregelung des Staates New York für das Bäckerhandwerk als mit der Freiheitsklausel des 14. Amendment unvereinbar und daher verfassungswidrig. 54 Allerdings wurde innerhalb des Lochner-Court, im Gegensatz zu der einstimmigen Entscheidung in Allgeyer, Widerspruch gegen den von der knappen Mehrheit unterstützten „laissez-faire constitutionalism"55 laut. John Marshall Harlan und Oliver Wendeil Holmes argumentierten in ihren abweichenden Voten dafür, bei der Normenkontrolle von Einzelstaatsgesetzen eine Vermutung für deren Verfassungsmäßigkeit gelten zu lassen. Die vom Gericht postulierte Vertragsfreiheit sei „subject to such regulations as the state may reasonably prescribe for the common good and the well-being of society". 56 Normen seien nur dann nicht anzuwenden oder für ungültig zu erachten, wenn sie „klar, augenfällig und ohne jede Frage die Macht des Gesetzgebers überschreiten" 57 bzw. „mit der Verfassung der Vereinigten Staaten unvereinbar" 58 seien. 52
A.a.O., 589, 591, zitiert nach Brugger, Grundrechte, § 7 I, S. 55.
53
198 U.S. 45 (1905). Ausgehend von dieser Entscheidung spricht man auch von der „Lochner-K ra". 54
Einzelheiten bei Brugger, Grundrechte, § 7 I, S. 56 ff.
55
Zum Begriff vgl. Wiecek, in: Oxford Companion, S. 492 f.
56
198 U.S. 45, 68 (1905) (Richter Harlan, Dissent).
57
A.a.O. , S. 68 (Richter Harlan, Dissent).
58
A.a.O., S. 73 (Richter Harlan, Dissent).
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Holmes erhob darüber hinaus einen mehr grundsätzlichen Einwand. Er warnte davor, den Verfassungstext mit einer bestimmten wirtschaftspolitischen Idealvorstellung aufzuladen und damit die Grenzen der Auslegung zu sprengen: „... eine Verfassung ist nicht dazu da, eine bestimmte Wirtschaftstheorie zu verkörpern." 59 „Sie ist für Leute da, deren Ansichten in grundlegender Weise auseinandergehen, und die Tatsache, daß wir zufallig bestimmte Ansichten für natürlich, vertraut, neuartig oder sogar schockierend halten, sollte nicht unsere Entscheidung darüber bestimmen, ob Gesetze, die sie (i.e. diese Ansichten, C.R.) verkörpern, zur Verfassung der Vereinigten Staaten in Widerspruch stehen."60 Diese Aussage beleuchtet das jeder Normenkontrollentscheidung innewohnende Problem des ,judicial activism". Wie weit darf, wie weit soll das Gericht offene Verfassungsnormen dazu benutzen, gesetzgeberische Entscheidungen zu konterkarieren? Spricht eine grundsätzliche Gültigkeitsvermutung für das Produkt des legislativen Prozesses? Und wenn ja, wie kann ein nur auf Antrag hin tätig werdender, auf die Situation eines konkreten Rechtsstreits hin orientierter Spruchkörper dennoch seiner Aufgabe als oberster Verfassungshüter gerecht werden? Weiter unten61 sollen Antworten vorgeführt werden, die der Supreme Court ausdrücklich oder unterschwellig auf diese Fragen gab. Der Supreme Court wurde für seine Entscheidung in Lochner auch von Sozialreformern, Gewerkschaftern, Wirtschaftsfachleuten und Intellektuellen angegriffen. Selbst Präsident Theodore Roosevelt klagte 1910 darüber, daß der Supreme Court den notwendigen sozialen Reformen unüberwindliche Hindernisse in den Weg lege.62 Dennoch dauerte die Lochner-kra bis weit in die 30er Jahre. 63 Immerhin gelang es vereinzelt, Breschen in die starre Front der Gegner von arbeitszeitbegrenzenden Maßnahmen zu schlagen. So erklärte der Supreme Court 3 Jahre nach Lochner in Muller v. Oregon 64 einstimmig (!) ein Gesetz des Staates Oregon für verfassungsgemäß, das die Höchstarbeitszeit für Frauen in Industriebetrieben und Wäschereien auf 10 Stunden 59
A.a.O., S. 75 (Richter Holmes, Dissent).
60
A.a.O., S. 76 (Richter Holmes, Dissent).
61
Vgl. II.3. - Low Level Review.
62
Vgl. Kens, in: Oxford Companion, S. 510.
63
Nebbia ν. New York, 291 U.S. 502 (1934), und West Coast Hotel Co. ν. Parrish, U.S. 379 (1937) gelten als Wendepunkte hin zu der seither dominierenden, äußerst zurückhaltenden verfassungsgerichtlichen Kontrolle im Bereich der Wirtschaftsgesetzgebung. 64
208 U.S. 412 (1908). Wesentlichen Anteil an diesem Überraschungserfolg dürfte die Strategie des Anwalts (und späteren Supreme Court-Richters) Louis Brandeis gehabt haben, der mit seinem „Brandeis brief 4, einer Studie über die Auswirkungen überlanger Arbeitszeit auf Frauen, die Richter für seine Position einnahm und gleichzeitig die Einfuhrung soziologischer und empirischer Daten beim Supreme Court salonfähig machte.
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begrenzte. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte das Gericht jedoch wieder zu seiner auf Lochner gestützten Rechtsprechung zurück.
c) Dritte Phase: Wirtschaftskrise, New Deal und erwachendes Bewußtsein für Bürgerrechte (1921-1953) Die 20er Jahre dieses Jahrhunderts waren in der amerikanischen Gesellschaft geprägt von einem nahezu ungebrochenen allgemeinen Glauben daran, daß sich ein Wohlstand für alle dann einstellen werde, wenn man nur den Markt dem freien Spiel der Kräfte überlasse, ohne das daraus resultierende, als natürlich empfundene Gleichgewicht durch gesetzgeberische Eingriffe zu stören. Diese Grundhaltung entsprach der politischen Philosophie der Präsidenten Harding (1921-1923) und Coolidge (1923-1929) und schlug sich auch in der Richterernennung und Rechtsprechung des Supreme Court in dieser Zeit nieder. FTC v. Curtis Publishing Co.65 und Adkins v. Children 's Hospital 66 sind dafür zwei gute Beispiele. In FTC erklärte das Gericht die von der Federal Trade Commission, einer Bundesbehörde zum Schutz des Wettbewerbs, festgestellte Sachlage für unbeachtlich und erklärte, daß auch Tatsachenfeststellungen gerichtlich voll überprüfbar seien. Diese „Öffnung" des Supreme Court wurde von der Geschäftswelt mit Beifall aufgenommen, hatte sie doch zur Folge, daß bei mißliebigen Aktionen der FTC diese auch aufgrund angeblich falscher Tatsachenwürdigung mit langen und lähmenden Gerichtsverfahren überzogen werden konnte. Adkins war wieder ein Fall in der klassischen Löc/wer-Tradition. Zur Überprüfung stand ein vom Kongreß erlassenes Bundesgesetz, das Mindestlöhne für im District of Columbia beschäftigte Frauen vorsah. 67 Trotz der oben erwähnten Entscheidung in Muller v. Oregon erklärte eine Mehrheit von 5 Richtern das Mindestlohngesetz für verfassungswidrig und bekräftigte die wohlbekannte wirtschaftsliberale Interpretation von Freiheit im Sinne von Vertragsfreiheit. Das war selbst dem ansonsten als konservativ einzustufenden Chief Justice William Howard Taft 68 ein abweichendes Votum wert. Darin vertrat er die Ansicht, daß der Kongreß zum Erlaß eines derartigen Gesetzes befugt sei und warnte das Gericht davor, seine eigene Sicht von der 65
260 U.S. 568 (1923).
66
261 U.S. 525 (1923).
67
Da der District of Columbia, in dem die Bundeshauptstadt Washington liegt, nicht den Status eines amerikanischen Einzelstaates („statehood") hat, wurden und werden zahlreiche der dort geltenden Gesetze vom Kongreß erlassen. Erst seit 1971 hat das Stadtparlament mit der „home rule" eine begrenzte Gesetzgebungskompetenz für Belange des District of Columbia. 68
Vgl. Abraham, Justices, S. 183.
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Vernünftigkeit solcher Gesetze an die Stelle der Einschätzung des zuständigen Legislativorgans zu setzen.69 Auf der Grundlage von Lochner und Adkins erklärte das Gericht in der Folgezeit nicht weniger als 140 Einzelstaatsgesetze fur verfassungswidrig, wobei die Entscheidungen zumeist auf die Interpretation der „property"- oder der schon mehrfach erwähnten (Vertrags)Freiheits-Klausel des 14. Verfassungszusatzes gestützt wurden. 70 Während die in der Verfassung niedergelegten Freiheiten im wirtschaftlichen Bereich weit interpretiert wurden, machte das Gericht im Hinblick auf die Verwirklichung der in der Bill of Rights niedergelegten Bürgerrechte nur langsame Fortschritte. Immerhin wurde in Meyer v. Nebraska 1 x und in Pierce v. Society of Sisters 72 der Freiheitsbegriff des 14. Amendment dahingehend weiterentwickelt, daß er von nun an über eine wirtschaftliche Betätigungsfreiheit hinausgehen sollte. Freiheit, so das Gericht, umfasse zweifellos „nicht nur die Freiheit von körperlicher Einschränkung; Freiheit umfaßt auch das Recht des Individuums, sich vertraglich zu binden, sich in jeder der gebräuchlichen Beschäftigungen zu engagieren, nützliches Wissen zu erwerben, zu heiraten, ein Heim zu gründen und Kinder aufzuziehen, Gott nach den Geboten seines eigenen Gewissens zu verehren und allgemein diejenigen Privilegien zu genießen, die im common law seit langem als wesentlich im Hinblick auf ein geordnetes Glücksstreben freier Menschen angesehen werden." 73 Ansonsten aber blieb es zunächst einzelnen Richtern, zumeist in Sondervoten, vorbehalten, darauf zu dringen, daß die Grundreche der Bill of Rights auch gegenüber Maßnahmen der Einzelstaaten anzuwenden seien74, oder daß auch nicht unmittelbar vom Wortsinn der Grundrechte erfaßte Eingriffe in grundrechtlich geschützte Sphären verfassungswidrig seien.75 69
261 U.S. 525, 562 (1923), (Chief Justice Taft, Dissent).
70
Vgl. Urofsky, in: Oxford Companion, S. 391. Vgl. auch Brugger, Grundrechte, § 7 1, S. 58, der von 159 während der Lochner-Ära für verfassungswidrig erklärten Wirtschaftsund Sozialgesetzen spricht. 71
262 U.S. 390 (1923).
72
268 U.S. 510 (1925).
73
262 U.S. 390, 399 (1923); deutsch zitiert nach Brugger, Grundrechte, Fünfter Teil, S. 105. 74
Vgl. Gitlow v. New York, 268 U.S. 652 (1925). Dort stellte Richter Sanford für die Mehrheitsmeinung fest, daß „Rede- und Pressefreiheit ... Bestandteil jener grundlegenden persönlichen Rechte und »Freiheiten* (sind), die vor einer Beeinträchtigung von Seiten der Einzelstaaten durch die due process-Klausel des 14. Verfassungszusatzes geschützt sind", a.a.O., S. 666. — Mit Gitlow begann die Tendenz des Supreme Court, in der Bill of Rights aufgeführte Grundrechte in den 14. Verfassungszusatz zu „inkorporieren". 75
Vgl. z.B. Olmstead v. United States, 277 U.S. 438, 478 (1928), (Richter Brandeis, Dissent).
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Mit der 1929 einsetzenden Wirtschaftskrise und der von Präsident Franklin D. Roosevelt im Zuge seines New Deal vorgeschlagenen weitreichenden Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung geriet das traditionelle Bild von der verfassungsrechtlichen Unzulässigkeit staatlicher Eingriffe in das Wirtschaftsleben ins Wanken. Der Supreme Court bot ein Bild beträchtlicher Zerrissenheit. Auf der einen Seite standen mit den Richtern McReynolds, Van Devanter, Sutherland und Butler vier konservative Anhänger der „traditionellen" Auffassung, nach der staatliche Interventionen in den Prozeß des Wirtschaftens verfassungswidrig sein sollten. Ihnen standen mit den Richtern Louis Brandeis, Harlan F. Stone und Benjamin Cardozo Anhänger einer den wirtschaftslenkenden Regierungsmaßnahmen weitgehend aufgeschlossenen Fraktion gegenüber. Entscheidend kam es daher einerseits auf die Stimme von Richter Roberts und andererseits auf die Stimme des als Moderator in den Auseinandersetzungen fungierenden gemäßigt konservativen Chief Justice Hughes an. Zunächst sah sich das von Präsident Roosevelt propagierte Reformprogramm massivem Widerstand durch das Gericht ausgesetzt. Zwar ließ es einige Reformgesetze passieren.76 Jedoch wurden wesentliche Elemente der Rooseveltschen Reformpolitik, wie etwa der National Industrial Recovery Act 7 7 und der Agricultural Adjustment Act 7 8 , verworfen. 79 Darüber hinaus beschränkte das Gericht in Humphrey's Executor ν. United States 80 die Macht des Präsidenten zur Abberufung von Führungspersonal der unabhängigen Bundesbehörden und erklärte in Morehead v. New York ex rel. Tipaldo 81 in bester Lochner-Manier ein als beispielhaft angesehenes Mindestlohngesetz des Staates New York für verfassungswidrig. In der Annahme, daß der Supreme Court seine Reformgesetzgebung weiterhin empfindlich hemmen werde und gestützt auf einen überwältigenden Wahlsieg im Jahre 1936, gab Präsident Roosevelt im Februar 1937 seine Absicht bekannt, die Anzahl der Supreme Court-Richter um bis zu sechs zu erweitern. Durch diesen sogenannten court-packing plan wollte er einen ihm genehmen Supreme Court schaffen. 82 Dieses Gesetzesvorhaben war in der
76
Vgl. Home Building and Loan Association v. Blaisdell, 290 U.S. 398 (1934), wo das Gericht eine Abwägung zwischen Vertragsfreiheit und Wohlfahrtsgesichtspunkten vornahm, und Nebbia v. New York, 291 U.S. 502 (1934), wo der Milchpreisklauseln vorschreibende Milk Control Act des Staates New York für verfassungsgemäß erachtet wurde. 77
In A.L.A. Schechter Poultry Corp. v. United States, 295 U.S. 495 (1935).
78
In United States v. Butler, 297 U.S. 1 (1936).
79 In den Jahren 1935 und 1936 wurden nicht weniger als 14 Bundesgesetze für verfassungswidrig erklärt. Vgl. Lasser, in: Oxford Companion, S. 646. 80
295 U.S. 602 (1935).
81
298 U.S. 587 (1936).
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Geschichte des Supreme Court der offenkundigste und massivste Versuch der Exekutive, das Gericht in ihrem Sinne zu beeinflussen. Trotz scharfer Kritik von politischen Gegnern wie Freunden, und obwohl auch die liberalen Supreme Court-Richter sich gegen diesen Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit wandten, hielt Roosevelt an seinem Vorhaben fest. Doch weniger als zwei Monate nach der Ankündigung des „court-packing plan" entschied das Gericht mit einer Mehrheit von 5 :4 Stimmen West Coast Hotel Co. v. ParrishP Gegenstand des Verfahrens war, wieder einmal, ein Mindestlohngesetz. Das gleiche Gericht, das ein Jahr zuvor in Morehead ein solches Gesetz für verfassungswidrig erklärt hatte, wandte sich nunmehr gegen das seit Lochner und Adkins bestehende Verbot, die Vertragsfreiheit durch sozialgesetzliche Maßnahmen zu begrenzen. Die von Chief Justice Hughes abgefaßte Entscheidung betonte, daß im Verfassungstext von „freedom of contract" nicht die Rede sei 84 , und daß der Gesetzgeber die unbestritten verfassungskräftig geschützte Freiheit durch vernünftige Regeln im Interesse des Allgemeinwohls regeln könne. Darüber hinaus plädierte er dafür, gesetzgeberische Entscheidungen zu respektieren und sie nur dann einer strengen Verfassungskontrolle zu unterziehen, wenn sie offenkundig willkürlich seien.85 Adkins wurde als Präzedenzfall ausdrücklich verworfen. 86 Entscheidend fur West Coast Hotel war die Stimme von Justice Owen Roberts, der bisher meistens mit dem konservativen Flügel des Gerichts gestimmt hatte. Obwohl sein Sinneswandel sich bereits bei der Abstimmung im Dezember 1936 manifestiert hatte und daher keine Reaktion auf den „courtpacking plan" in seiner konkreten Gestalt sein konnte,87 gab sein Verhalten Anlaß zu dem berühmt gewordenen Ausspruch „a switch in time saved nine", womit zum Ausdruck gebracht werden soll, daß durch diesen quasi „freiwillig" durchgeführten Schwenk in der Rechtsprechung des Supreme Court seine Neuner-Konfiguration erhalten werden konnte. Bekräftigt wurde diese durch eine „neue Mehrheit" herbeigeführte Richtungswende des Supreme Court durch die wenige Tage nach Parrish ergangene Entscheidung in National Labor Relations Board v. Jones & Laughlin 82
Der noch im Februar 1937 von Roosevelt im Kongreß eingebrachte Gesetzesentwurf (sog. court-packing bill) sah vor, daß innerhalb bestimmter Höchstgrenzen für jeden Bundesrichter, der seit mindestens zehn Jahren im Amt und über siebzig Jahre alt war, ein weiterer Richter vom Präsidenten vorgeschlagen und mit Zustimmung des Senats ernannt werden sollte. 83
300 U.S. 379 (1937).
84
A.a.O., S. 391.
85
A.a.O., S. 399.
86
A.a.O., S. 400.
87
Vgl. Dudziak, in: Oxford Companion, S. 924.
I. Der Supreme Court
35
Steel Corp.,™ in der die Verfassungsmäßigkeit von Roosevelts gewerkschaftsfreundlichem National Labor Relations Act festgestellt wurde. Schließlich gab Richter Van Devanter, einer der vier konservativen „Anti New Dealer", am 18. Mai 1937 seinen Rücktritt zum Ende des Gerichtsjahres (Anfang Juni 1937) bekannt. Dadurch wurde Präsident Roosevelt in die Lage versetzt, einen ihm genehmen Kandidaten als Nachfolger zu nominieren, was er mit dem damaligen Senator Hugo Black auch tat. Damit war die Wende des Supreme Court perfekt. 89 Eine neue Ära konnte beginnen. Von nun an erklärte das Gericht in jeder von ihm zur Entscheidung angenommenen einschlägigen Kontroverse die Maßnahmen der, allerdings schon wieder im Abnehmen begriffenen New Deal-Gesetzgebung für verfassungsgemäß. Bewerkstelligt wurde dies vor allem durch eine auf eine Willkürprüfüng reduzierte Kontrolldichte, von der weiter unten noch ausführlich die Rede sein wird. 90 Damit verlagerte sich der Schwerpunkt der Supreme Court-Rechtsprechung weg von der Wirtschaftsgesetzgebung. Der durch den japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 herbeigeführte Kriegseintritt der USA lenkte die Aufmerksamkeit der Regierung auf die an der amerikanischen Westküste lebenden „Japanese-Americans". Im Angesicht einer möglicherweise drohenden japanischen Invasion und aus Furcht vor Sabotageakten verhängte die Regierung Roosevelt eine Ausgangssperre für alle Japaner und Amerikaner japanischer Abstammung und ordnete pauschal deren Verbringung in Internierungslager an. Mit beiden Maßnahmen hatte sich schließlich der Supreme Court zu befassen. Er ließ in Hirabayashi v. United States 91 die Ausgangssperre und in Korematsu v. United States 92 sogar die Praxis der Internierungslager passieren, ohne das durch eine an die Ethnizität anknüpfende Maßnahme aufgeworfene Problem eines Eingriffs in das dem 14. Amendment zu entnehmende Gleichheitsrecht eingehend zu erörtern. 93 Beide Fälle belegen, daß auch der Supreme Court sich
88
301 U.S. 1 (1937).
89
Die von Roosevelt immer noch nicht aufgegebene „court-packing bill" scheiterte schließlich im Sommer 1937 an einer Senatsmehrheit. 90
Vgl. II.3.b).aa).
91
320 U.S. 81 (1943), einstimmige Entscheidung.
92
323 U.S. 214 (1944), 6:3-Entscheidung.
93
Die dogmatische Basis für eine intensive verfassungsgerichtliche Kontrolle bei an Staatsangehörigkeit oder Rassenzugehörigkeit anknüpfenden diskriminierenden Akten hatte das Gericht wenige Jahre zuvor in der „Fußnote 4" von United States v. Carolene Products, 304 U.S. 144, 152 f. (1938) gelegt. Der Autor der Fußnote, Justice Harlan F. Stone, war ironischerweise auch der Autor von Hirabayashi.
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
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nicht von einem gewissen nationalen Impetus in Kriegszeiten freimachen konnte und daß er bereit war, den auf militärischen Einschätzungen beruhenden Maßnahmen der Exekutive hier zu folgen. 94 Im Gegensatz dazu steht die ein knappes Jahrzehnt später während des Koreakrieges ergangene Entscheidung in Youngstown Sheet & Tube Co. v. Sawyer? 5 Präsident Truman hatte, ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung, jedoch unter Berufung auf seine Kompetenzen als Oberbefehlshaber, angeordnet, daß der Staat die Kontrolle über die als kriegswichtig eingeschätzten Stahlwerke übernehmen solle, um einen drohenden Streik abzuwenden. Der von dieser Maßnahme offiziell in Kenntnis gesetzte Kongreß unternahm nichts. Richter Black wies für eine Mehrheit von 6 Richtern das auf die exekutivische Generalklausel in Artikel I I 9 6 gestützte Ansinnen des Präsidenten zurück und betonte, daß zu einer solchen Maßnahme nur der Kongreß als Legislativorgan befugt sei. Richter Jackson verfeinerte diesen Gedanken, indem er in seiner concurring opinion die Idee abgestufter Kompetenzen des Präsidenten entwickelte. Diese Kompetenzen seien in Abhängigkeit vom jeweiligen Verhalten des Kongresses - ausdrückliche Erlaubnis, ausdrückliches Verbot oder Schweigen - zu ermitteln. Youngstown erstaunte die juristische Fachwelt nicht zuletzt deshalb, weil die entscheidenden Richter entweder von Truman selbst oder von seinem Amtsvorgänger Roosevelt berufen worden waren. Bei der Entscheidung spielte sicherlich die Tatsache eine Rolle, daß es sich bei der Kriegssituation im Gegensatz zu Korematsu um eine unter UN-Mandat stehende „Polizeiaktion" und nicht um einen möglicherweise drohenden Angriff auf das amerikanische Festland handelte. Darüber hinaus dürfte auch Trumans bekannt robuste Art, mit seiner präsidentiellen Autorität umzugehen, die Richter veranlaßt haben, seinem Machtstreben Schranken setzen zu wollen. Bis heute ist Youngstown ein viel zitierter Präzedenzfall für das Verständnis der Gewaltenteilung und eine Leitentscheidung gegenüber exekutivischer Machtanmaßung. Im Bereich der Bürgerrechte hatte sich das Gericht in den 40er und frühen 50er Jahre insbesondere mit Fragen der Meinungsäußerungsfreiheit und dem allmählich immer dringender werdenden Problem der Rassentrennung in Schulen und Hochschulen auseinanderzusetzen. Während das Gericht in Den-
94
Dieser Gesichtspunkt kommt insbesondere in der von Justice Black formulierten Entscheidung in Korematsu, a.a.O. S. 219 zum Ausdruck. Zur Problematik des gerichtlichen Prüfungsmaßstabs vgl. unten 3.a).bb). 95 96
343 U.S. 579 (1952).
Artikel II, Section 1 besagt: „Die vollziehende Gewalt liegt bei dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. ..."
I. Der Supreme Court
37
nis v. United States 97 die Gewichte im Spannungsverhältnis zwischen „freedom of speech" und Schutz des Staates vor umstürzlerischer Propaganda zuungunsten der Redefreiheit verschob und damit wohl auch der während der damaligen McCarthy-Ära vorherrschenden, antikommunistischen öffentlichen Meinung Tribut zollte 98 , unternahm es in der Rassentrennungsproblematik erste vorsichtige Schritte hin zu einer Überwindung der seit Plessy v. Ferguson geltenden separate but equal-Doktrin. Die am 5. Juni 1950 entschiedenen Fälle McLaurin v. Oklahoma State Regents for Higher Education 99 und Sweatt v. Painter m markierten das allmähliche Ende der Plessy-Ära. George McLaurin, ein schwarzer Bürger des Staates Oklahoma, hatte seine Zulassung zur ausschließlich von Weißen besuchten Norman-Universität auf dem Gerichtswege erstritten. Dort mußte er jedoch, gemäß einem Gesetz Oklahomas, in den Hörsälen, der Bibliothek und sogar der Mensa an von den weißen Kommilitonen getrennten Bänken und Tischen sitzen. Hiergegen wandte sich McLaurin und hatte vor dem Supreme Court Erfolg. Chief Justice Vinson ordnete in der einstimmig ergangenen Entscheidung ein Ende der gesonderten Behandlung McLaurins an. Derartige Praktiken, argumentierte Vinson, enthielten McLaurin sein „persönliches und gegenwärtiges Recht auf Gleichbehandlung vor dem Gesetz" im Sinne des 14. Verfassungszusatzes vor. Unter diesen Umständen schließe „das 14. Amendment eine unterschiedliche Behandlung durch den Staat auf der Grundlage rassischer Zugehörigkeit aus." Der Student müsse „dieselbe Behandlung ... wie Studenten anderer Rassen erfahren." 101 In Sweatt ging es um das Zulassungsbegehren eines schwarzen Texaners zu einer weißen law school in Texas. Während Texas rasch eine schwarze law school gründete, um Herman Sweatt unter Wahrung des separate but equal-Grundsatzes von der weißen Universität fernhalten zu können, erteilte der Supreme Court in einer gleichfalls einstimmig ergangenen Entscheidung einer rein formalen Gleichheitsbetrachtung eine Absage. Einer neugegründeten law school fehlten jedenfalls jene nicht unbedingt meßbaren, auf Tradition und Prestige gegründeten Eigenschaften, die sie als gleichwertig gegenüber der University of Texas Law School würden erscheinen lassen, argumentierte das Gericht. 102 Wolle man mit der Gleichheitsklausel des 14. 97
341 U.S. 494 (1951).
98
Vgl. Urofsky,
99
339 U.S. 637 (1950).
in: Oxford Companion, S. 396.
100
339 U.S. 629 (1950).
101
339 U.S. 637, 642 (1950).
102
339 U.S. 629, 633f. (1950).
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
38
Amendment Ernst machen, so müsse man Sweatt zum Studium an der „weißen" law school zulassen, was hiermit angeordnet werde. 103 Damit war der Boden bereitet für eine weitere Gezeitenwende in der Geschichte des Supreme Court. d) Vierte Phase: Grundrechtsorientierung der modernen Gesellschaft (seit 1954) Sinnbild dieser neuen Epoche in der Geschichte des Supreme Court war die Entscheidung in Brown v. Board of Education (of Topeka). m Darin erklärte das Gericht einstimmig die gesetzlich angeordnete Rassentrennung an öffentlichen Schulen für gleichheits- 105 und somit verfassungswidrig und überwand definitiv die seit Plessy v. Ferguson geltende separate but equalDoktrin. Brown markiert in mehrerlei Hinsicht den Beginn einer neuen Ära des Supreme Court. Die Entscheidung steht am Anfang einer Epoche, in der die Bürgerrechte einen ungeahnten Aufschwung nehmen und in ihrer Bedeutung den Platz der bis um 1940 dominierenden Kontroversen um die Wirtschaftsverfassung einnehmen sollten. Während unter Roosevelt der Supreme Court als Bremser und Gegenspieler der Bundeslegislativgewalt und des Präsidenten erschienen war, wandelte er sich nun zu einem Pionier, Schrittmacher und Bewahrer erweiterter oder gänzlich neuer Grundrechte, die ihren Niederschlag auch in der Bürgerrechtsgesetzgebung der 60er Jahre finden sollten. Schließlich ist mit Brown der Name des 1953 von Präsident Eisenhower ernannten neuen Chief Justice Earl Warren unauslöschlich verbunden. Der Warren-Court hat wie kein anderer Supreme Court das Grundrechtsbewußtsein in der amerikanische Gesellschaft des 20. Jahrhunderts geprägt. Nachdem 1956 mit William Brennan, 1958 mit Potter Stewart und 1962 mit Arthur Goldberg Supreme Court-Richter ernannt worden waren, die einer extensiven Interpretation der Bill of Rights und der Reconstruction Amendments freundlich gesonnen waren (Brennan und Goldberg), oder doch zumin-
103
A.a.O., S. 636.
104
347 U.S. 483 (1954) — sog. Brown /-Entscheidung, in der die Verfassungswidrigkeit der Rassentrennung an Schulen festgestellt wird. Die Problematik wurde ein Jahr später unter dem Gesichtspunkt der aus der Feststellung abzuleitenden rechtlichen Folgen erneut verhandelt. Das Ergebnis wird als Brown v. Board of Education II, 349 U.S. 294 (1955), oder kurz als Brown II bezeichnet. Brown ist weithin bekannt und gut dokumentiert. Vgl. etwa Brugger, Grundrechte, § 20 II, III, S. 152 ff.; Tribe, Constitutional Law, § 16-15, S. 1474 ff. u. passim. 105
„... (g)etrennte Bildungseinrichtungen sind ihrem Wesen nach ungleich", 437 U.S. 483, 495 (1954).
I. Der Supreme Court
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dest aufgeschlossen gegenüberstanden (Stewart), verfügte das Gericht mit ihnen, Warren selbst und den beiden Altliberalen William O. Douglas und Hugo Black über eine solide Mehrheit zur Durchsetzung eines weiten Grundrechtsverständnisses. So wurde mit den in ihren praktischen Auswirkungen außerordentlich wichtigen Entscheidungen Baker v. Carr m und Reynolds v. Sims 107 die political question doctrine 108 , nach der bestimmte Fragen nicht justiziabel sind, zurückgedrängt, die Kompetenz des Gerichts erweitert und eine Neueinteilung zahlreicher Wahlkreise auf der Grundlage eines „one person, one vote"Prinzips angeordnet. Mit Mapp v. Ohio m, Gideon v. Wainwright m, Escobedo v. Illinois"*, Miranda v. Arizona 112 und Duncan ν. Louisiana 113 verbesserte das Gericht, vor allem gestützt auf die Zusatzartikel vier, fünf und sechs der Verfassung, ganz wesentlich Stellung und Rechte des Beschuldigten bzw. Angeklagten im Strafverfahren vor Gerichten der Einzelstaaten. Im Bereich des Ersten Verfassungszusatzes, der u.a. Rede- und Pressefreiheit garantiert und nach herrschender Auffassung eine grundsätzliche Trennung von Staat und Kirche anordnet 114, betonte der Warren Court mit New York Times v. Sullivan 115 und Brandenburg v. Ohio 116 die hervorragende, auch im Vergleich zur Bundesrepublik erstaunliche 117 Bedeutung der kommunikativen Grundrechte. In dem gesellschaftlich stets stark umstrittenen Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche setzte das Gericht durch das Verbot von Schulgebeten und Bibellesungen in der Schule 118 einen deutlichen „säku106
369 U.S. 186 (1962).
107
377 U.S. 533 (1964).
108
Vgl. dazu unten II.2.
109
367 U.S. 643 (1961).
110
372 U.S. 335 (1963).
1.1
378 U.S. 438 (1964).
1.2
384 U.S. 436 (1966).
113
391 U.S. 145 (1968).
114
Zu den Versuchen, das Trennungsgebot mit der Freiheit auf Religionsausübung in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen, vgl. Tribe, Constititional Law, § 14, insbes. § 14-4, S. 1166 ff. 115
376 U.S. 254 (1964).
1.6
395 U.S. 444 (1969).
1.7
Dies kommt etwa in der unterschiedlichen Handhabung der Flaggenverbrennungsproblematik zum Ausdruck. Vgl. einerseits § 90a II StGB, andererseits Texas v. Johnson, 491 U.S. 397 (1989), und United States v. Eichman, 496 U.S. 310 (1990). 118
Vgl. Engel v. Vitale, 374 U.S. 203 (1963).
370 U.S. 421 (1962) und Abington School District
v. Schempp,
40
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
laren" Akzent hin zu einer klaren Trennung der beiden Sphären, was angesichts der Üblichkeit derartiger Praktiken beträchtliche Kritik am Supreme Court zur Folge hatte. Als weitgehende verfassungsgerichtliche Neuschöpfung darf das Grundrecht auf Privatsphäre („privacy") gelten, das das Gericht in einer 7:2-Entscheidung in Griswold v. Connecticut 119 im Jahre 1965 postulierte. Gegenstand des Verfahrens war ein Gesetz des Staates Connecticut, das die Verwendung empfängnisverhütender Mittel verbot und auf dessen Grundlage die Kläger, zwei Mitglieder der Liga für Familienplanung in Connecticut, verurteilt worden waren. Der Supreme Court hob das Urteil auf und erklärte das fragliche Gesetz für mit dem verfassungsmäßigen Recht auf Schutz der Privatspäre unvereinbar. Dabei waren die dogmatischen Herleitungen für dieses nicht in der Verfassung erwähnte Recht höchst unterschiedlich. Während Richter Douglas als Autor der Mehrheitsmeinung das Recht auf Privatsphäre im Wege einer Rechtsanalogie als Ausdruck einer Zusammenschau mehrerer ausdrücklich genannter Grundrechte ansah, zog sein Kollege Goldberg in seiner zustimmenden Meinung unter anderem den bisher wenig beachteten 9. Zusatzartikel heran. Die Richter John M. Harlan und Byron White schließlich stützten sich auf eine breite Auslegung der due process-Klausel des 14. Amendment bzw. auf grundlegende Werte, „implicit in the concept of ordered liberty". 120 Griswold ist symptomatisch fur das Selbstverständnis wie auch die juristische Kreativität des Warren Court. Es bildete die Grundlage fur die unten kurz darzustellende Abtreibungsrechtsprechung und hatte auch Auswirkungen auf das Verständnis und die Entwicklung anderer Grundrechte der Bill of Rights. 121 War Griswold ein Beispiel für den „Aktivismus" und die rechtsschöpferische Führungsrolle des Supreme Court unter Chief Justice Earl Warren 122 , so 119
381 U.S. 479 (1965).
120
A.a.O., S. 500 (Justice Harlan, zustimmende Meinung).
121
Vgl. etwa Katz v. United States, 389 U.S. 347 (1967), wo das Gericht, auch unter dem Eindruck der in Griswold mit grundrechtsgleichem Status versehenen „privacy", den Durchsuchungsbegriff des 4. Amendments „entmaterialisierte" und auch einen elektronischen Lauschangriff unter ihn subsumierte. 122 Der Vorwurf, ein „activist Court" zu sein, das über seine ihm von der Verfassung zugedachte Funktion der Rechtsprechung hinaus Recht schöpfe, (allzu liberale) Politik treibe und damit die Grenzen seiner Kompetenzen überschreite, wurde dem Warren Court vor allem von politisch konservativer Seite aus gemacht. Präsident Eisenhower war bestürzt über das Judicial »legislating4" des Gerichts, für dessen Chief Justice er selbst verantworlich zeichnete; vgl. Abraham, Justices, S. 255 f. Bestandteil der 1968er Wahlkampfplattform des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Nixon war das Versprechen, „law and order"-Kandidaten, die eine restriktive Auffassung von der Funktion des Supreme Court hatten, zu berufen. Vgl. zu Nixons Kriterien Abraham, Justices, S. 294 f.
I. Der Supreme Court
41
beleuchten die Entscheidungen Heart of Atlanta Motel v. United States 123 und South Carolina v. Katzenbach m eine weitere Facette der damaligen höchstrichterlichen Rechtsprechung. Im ersten Fall wurde der von der Regierung Johnson durchgesetzte „Civil Rights Act" von 1964, im zweiten der „Voting Rights Act" von 1965 für verfassungsgemäß erklärt. Gleichzeitig signalisierte das Gericht, daß es der Legislative im Bereich der Bürgerrechtsgesetzgebung einen weiten Spielraum einräumen und die Bundesgesetzgebungskompetenzen weit interpretieren werde. So wurde der Kongreß ermutigt, im Bürgerrechtssektor die ihm nach den Verfassungszusätzen 13 Section 2, 14 Section 5 und 15 Section 2 zukommenden primären Regelungskompetenzen auch wahrzunehmen. Chief Justice Earl Warren teilte Präsident Johnson im Juni 1968 seine Rücktrittsabsicht mit. Der Termin war nicht zuletzt so gewählt, um Johnson, der bereits Anfang des Jahres erklärt hatte, bei den Präsidentschaftswahlen im Herbst 1968 nicht mehr zu kandidieren, noch die Möglichkeit zur Berufung eines Nachfolgers zu geben. Doch wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten des designierten Nachfolgers Abe Fortas mußte dessen Nominierung im Oktober zurückgezogen werden. Somit oblag es dem neugewählten republikanischen Präsidenten Richard Nixon, Warrens Nachfolger zu nominieren. Am 23. Juni 1969 leistete Nixons Wunschkandidat W.E. Burger seinen Amtseid als Chief Justice. Die Ära des Warren-Court war vorüber. Vom Burger-Court, der in den folgenden beiden Jahren durch die drei weiteren von Präsident Nixon berufenen Richter Harry Blackmun, Lewis Powell und William Rehnquist personell modifiziert wurde, versprachen sich viele, insbesondere konservative politische Beobachter eine Rückkehr zu einer von richterlicher Zurückhaltung und einer weniger bürgerrechtsfreundlichen Haltung geprägten Rechtsprechung. Diese Hoffnungen erfüllten sich indessen nur zum Teil. So ordnete das Gericht in einer einstimmigen, von Burger formulierten Entscheidung eine konsequente rassische Integration öffentlicher Schulen an 125 , wobei es das ungeliebte „busing", also den staatlich verordneten Transport von Schülern in notfalls weiter entfernt gelegene Schulen, um einen besseren Rassenmix zu erlangen, ausdrücklich guthieß. In der als affirmative action-Problematik bezeichneten Frage, ob als Reaktion auf vergangene rassisch motivierte Benachteiligungen Maßnahmen 123
379 U.S. 241 (1964), einstimmig.
124
383 U.S. 301 (1966), 8:1-Entscheidung.
125 Swann v. Charlotte-Mecklenburg Board of Education, 402 U.S. 1 (1971). S. aber auch Miliken v. Bradley, 418 U.S. 717 (1974), wo Burger fur eine 5:4-Mehrheit Integrationsmaßnahmen über die Grenzen von Schulbezirken hinaus ablehnte.
42
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
zulässig oder sogar geboten sind, die über eine Schaffung gleicher Chancen hinausgehen und für Angehörige rassischer Minderheiten Quoten oder andere Vergünstigungen vorsehen, bewies der Burger-Court ebenfalls, daß er hinter bisher Erreichtes nicht würde zurückgehen wollen, ja sogar, daß er eine vorsichtige Ausdehnung und Weiterentwicklung befürwortete. In Regents of the University of California v. Bakke ]2 6 ging es um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer festen Zulassungsquote für Hochschulbewerber, die einer ethnischen Minderheit angehörten. Zwar verwarf der Supreme Court in einer knappen 5:4-Entscheidung die starre Quote. Andererseits bekräftigte das Gericht, ebenfalls mit 5 : 4 Stimmen 127 , daß Hochschulen die rassische Zugehörigkeit als eines von mehreren Kriterien im Zulassungsverfahren wohlwollend berücksichtigen könnten. In Fullilove v. Klutznick m votierte eine Mehrheit von 6 Richtern — allerdings mit höchst unterschiedlichen Begründungen - fur die Verfassungsmäßigkeit des Public Works Employment Act von 1977, nach dem 10% der öffentlichen Aufträge an Unternehmen, die von Angehörigen einer ethnischen Minderheit betrieben wurden, vergeben werden sollten. Auch im Hinblick auf die rechtliche Stellung der Frau zeigte sich der Burger Court durch eine Verschärfung des Prüfungsmaßstabs bei gleichheitswidrigen, an das Geschlecht anknüpfenden Maßnahmen einer „modernen" Interpretation der equal protection-Klausel des 14. Verfassungszusatzes durchaus aufgeschlossen. 129 In wohl noch entscheidenderer Weise nahm der Supreme Court mit seiner 7:2-Entscheidung in Roe v. Wade m auf das Leben vieler amerikanischer Frauen Einfluß. Darin formulierte der bis dahin wenig in Erscheinung getretene Richter Harry Blackmun das verfassungsmäßige Recht einer Frau, im ersten Schwangerschaftstrimester über eine Unterbrechung der Schwangerschaft frei und selbst zu entscheiden. Blackmun stützte seine Argumentation vor allem auf das in Griswold v. Connecticut in den Stand eines nicht enumerierten Grundrechts erhobene Recht auf privacy. Roe zählt zu den am meisten umstrittenen Entscheidungen des United States Supreme Court. Auch 126
438 U.S. 265 (1978).
127
Richter Powell wurde hier seinem Ruf als „swing vote", die sich keinem der beiden Flügel des Gerichts zuordnen läßt, in besonderem Maße gerecht: Er lieferte sowohl für die Verwerfung der Quote als auch für die Berücksichtigungsfahigkeit rassischer Zugehörigkeit im Zulassungsverfahren die entscheidende fünfte Stimme. 128
448 U.S. 448 (1980).
129
Vgl. etwa Reed v. Reed, 404 U.S. 71 (1971); Frontiero (1973). 130
410 U.S. 113 (1973).
v. Richardson , 411 U.S. 677
I. Der Supreme Court
43
über 20 Jahre danach ist die Abtreibungsproblematik von einer auch nur halbwegs allgemein akzeptierten Lösung weit entfernt. 131 Selbst die ob ihrer Liberalität viel kritisierten strafprozessualen Entscheidungen wie Miranda und Mapp blieben unter Burgers Ägide ziemlich unangetastet. Im Bereich der Todesstrafe wurde in Furman v. Georgia 132 sogar die damals ohnehin seltene Vollstreckung der Todesstrafe durch das Erfordernis eines gesetzlichen Kriterienkatalogs zunächst praktisch gestoppt, vier Jahre später allerdings durch Gregg ν. Georgia 133 wieder ermöglicht. Im historischen Vergleich nahm also der Burger-Court eher vorsichtige Kurskorrekturen an der unter Chief Justice Warren eingeschlagenen Richtung vor und zeigte hinsichtlich der verfassungsgerichtlichen Durchsetzung enumerierter wie auch nicht ausdrücklich genannter Grundrechte eine erstaunliche Kontinuität. Im Hinblick auf die diesem historischen Abriß zugrundeliegende Thematik und wegen ihrer herausragenden geschichtlichen Bedeutung ist schließlich United States v. Nixon ]34 erwähnenswert 135, eine Entscheidung, die erneut am Verhältnis zwischen Präsident und Gerichtsbarkeit die Frage beleuchtet, wo in einem gewaltenteiligen Staat die Grenzen der einzelnen Gewalten verlaufen. Gegenstand des Verfahrens war eine auf Antrag des Watergate-Sonderstaatsanwalts ergangene bundesgerichtliche Anordnung, die dem Präsidenten aufgab, Tonbänder mit in seinem Büro heimlich aufgezeichneten Gesprächen sowie weitere Dokumente an den Sonderstaatsanwalt herauszugeben. Anhand dieser Bänder sollte geklärt werden, ob und gegebenenfalls wie weit der Präsident tatsächlich in die unsauberen Machenschaften um den 1972 erfolgten Einbruch in den Watergate-Gebäudekomplex in Washington D.C., in dem damals das Hauptquartier der demokratischen Präsidentschaftskampagne untergebracht war, verwickelt war. Nixons Anwälte argumentierten, bei dieser Auseinandersetzung handele es sich um eine nicht justitiable Streitigkeit zwischen verschiedenen Teilen der Exekutive. Hilfsweise machten sie ein besonderes Vorrecht des Präsidenten („executive privilege") geltend, das ihn gegenüber dem gerichtlich bekräftigten Herausgabeverlangen immun mache. 131 Vgl. etwa die jüngste Grundsatzentscheidung Planned Parenthood Pennsylvania v. Casey , 120 L. Ed. 2d 674, 112 S. Ct. 2791 (1992).
of Southeastern
132 408 U.S. 238 (1972). Die Entscheidung ist auch deshalb bemerkenswert, weil in ihr jeder der neun Richter eine eigene opinion abgab. 133
428 U.S. 153 (1976).
134
418 U.S. 683 (1974).
135
Neben Roe ν. Wade ist United States v. Nixon die wohl wichtigste Entscheidung des Supreme Court unter Chief Justice Burger.
44
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
In einer einstimmigen Entscheidung erklärte Chief Justice Burger unter Verweis auf Marbury v. Madison , wonach „es ganz entschieden das Wesen und die Pflicht der Gerichtsbarkeit ist, zu sagen, was das Recht ist" 1 3 6 , die Streitigkeit fur justitiabel. Weiterhin räumte er zwar das grundsätzliche Bestehen eines derartigen präsidentiellen Vorrechts ein, das im Bereich militärischer und diplomatischer Angelegenheiten auch besonders virulent sei. Jedoch sei es nicht absolut und uneingeschränkt und müsse mit der aus der due process-Klausel fließenden Pflicht, in einem Strafverfahren alle verfugbaren Beweise auf den Tisch zu legen, abgewogen werden. Der Sonderstaatsanwalt habe sein Begehren hinreichend begründet und spezifiziert. Demgegenüber müsse das von Nixon geltend gemachte allgemeine Geheimhaltungsinteresse zurückstehen. Die untergerichtliche Anordnung wurde daher bestätigt und Nixon mußte die Tonbänder herausgeben. Der Präsident gehorchte und sah sich aufgrund des auf den Bändern zutagetretenden belastenden Materials und angesichts einer drohenden Amtsenthebung durch „Impeachment" gezwungen, am 9. August 1974, zwei Wochen nach der Entscheidung des Supreme Court, zurückzutreten. Mit der Wahl Ronald Reagans zum amerikanischen Präsidenten im Jahre 1980 zog ein prononcierter Anhänger des Gebots richterlicher Zurückhaltung in das Weiße Haus ein. Eines seiner Wahlversprechen war gewesen, dafür zu sorgen, daß die Gerichte nun endgültig zu einer eng begrenzten Rolle zurückkehren. Die ihn unterstützende republikanische Partei hatte verlangt, der Präsident müsse Supreme Court-Richter ernennen, die die „Unverletzlichkeit unschuldigen menschlichen Lebens" 137 respektieren würden. Diese Maximen sollten sich in Reagans Nominierungen für frei werdende Supreme CourtRichterstellen niederschlagen. Sandra Day O'Connor wurde 1981 die erste Frau auf eine Richterstelle am Supreme Court. Doch erst Chief Justice Burgers Rücktritt im Jahre 1986 gab Reagan die Chance, seine konservative Agenda auch in Gestalt eines neuen Chief Justice zum Ausdruck zu bringen. William Rehnquist, der seit 1971 Richter am Supreme Court gewesen war und jahrelang als konservativster Richter des Burger-Court gegolten hatte, rückte nun zum Vorsitzenden Richter auf. Der dadurch freiwerdende Stuhl wurde mit Antonin Scalia besetzt, einem konservativen Juraprofessor und Bundesrichter, der aus seiner streng an Wortlaut und Willen des historischen Gesetzgebers („original intent") orientierten Methode der Verfassungsauslegung keinen Hehl gemacht hatte.
136
418 U.S. 683, 703 (1974) unter Hinweis auf Marbury v. Madison, 5 U.S. (1 Cranch) 137, 177 (1803). 137
Vgl. Savage , Turning Right, S. 262.
I. Der Supreme Court
45
Durch diese Neuberufungen verstärkte sich die - in der Geschichte des Gerichts immer wieder zu beobachtende138 — Fraktionenbildung des Supreme Court, die sich bereits unter Burger angedeutet hatte, noch mehr: Einem mit jeder Nominierung sichtlich erstarkenden konservativen Flügel, der Rehnquist, Scalia und mit Einschränkungen 139 auch Richterin O'Connor und Richter White umfaßte, stand ein liberaler Flügel gegenüber, dessen Stern angesichts des Alters seiner Mitglieder und der politischen Großwetterlage erkennbar am Sinken war. Sein intellektueller Kopf war William Brennan, der seit seiner Ernennung durch Präsident Eisenhower im Jahre 1956 bereits dem Warren-Court seinen Stempel aufgedrückt und mit seiner Fähigkeit, durch eine geschickt formulierte „opinion" die notwendige Mehrheit von fünf Richterstimmen zusammenzubekommen140, auch unter Burger einen beträchtlichen Einfluß ausgeübt hatte. Brennans engster Alliierter war Thurgood Marshall, der seinerzeit als Anwalt in Brown v. Board of Education vor dem Supreme Court aufgetreten war und von Präsident Johnson 1967 als erster Schwarzer auf einen Richterposten des Obersten Gerichts berufen worden war. Außerdem votierten auch Harry Blackmun, der Autor von Roe ν. Wade, und der stets eigenwillige und unberechenbare John Paul Stevens überwiegend mit Brennan und Marshall. So oblag es zunächst dem keinem der beiden Lager zuzurechnenden, gemäßigt konservativen Justice Powell, die entscheidende fünfte Richterstimme abzugeben. McCleskey v. Kemp XA X ist ein typisches Beispiel für die Zerrissenheit des Supreme Court in der Frühphase von Chief Justice Rehnquists Amtszeit. Gegenstand der Kontroverse war die Frage, ob der Staat Georgia bei der Anwendung der Todesstrafe gegenüber schwarzen im Vergleich zu weißen Straftätern gleichheitswidrig verfuhr und damit gegen den 8. und 14. Verfassungszusatz verstieß. Die Anwälte des schwarzen Todeskandidaten Warren McCleskey versuchten diese These durch eine umfassende statistische Studie zu untermauern, aus der u.a. hervorging, daß bei der Konstellation „schwarzer Täter tötet weißes Opfer" die Wahrscheinlichkeit, zum Tode verurteilt zu werden, um ein vielfaches höher war als bei anderen Konstellationen. Wie
138
Etwa unter der Präsidentschaft Franklin D. Roosevelts, s.o. c).
139
Richter White galt im Bereich des Strafprozeßrechts und beim Thema Todesstrafe als konservativ, bei Rassendiskriminierungsentscheidungen schloß er sich hingegen oft dem liberalen Flügel an. 140 Brennan beschrieb diese Kunst der intellektuellen Überzeugung einmal so: „It really isn't very mysterious or complex. You try to get a sense of what will sell, what the others will accept. Will this be rejected by Lewis Powell or Harry Blackmun? Will Thurgood (Marshall) agree with this? Has John Stevens written any cases which may suggest how he is thinking? What does Sandra (O'Connor) think? And you write it that way." Zitiert nach Savage , Turning Right, S. 14. 141
481 U.S. 279 (1987).
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
46
schon bei zahlreichen anderen Gelegenheiten142 gab Richter Powells Votum den Ausschlag: Der Supreme Court teilte sich in die oben beschriebenen Lager, Powell schlug sich auf die Seite der Konservativen und wurde vom Chief Justice zur Abfassung der Mehrheitsmeinung bestimmt. Der Supreme Court wies mit 5 : 4 Stimmen McCleskeys Beschwerde ab und erklärte, durchaus in dem auch von Präsident Reagan befürworteten Sinn gerichtlicher Zurückhaltung, auf McCleskeys Argumente könne sinnvollerweise nur der Gesetzgeber reagieren. Die dissentierenden Richter, die die statistisch belegte Gefahr einer rassisch motivierten Ungleichbehandlung als hinreichend für einen Verfassungsverstoß ansahen, wurden von Richter Brennan angeführt. 1988 wurde der durch den Rücktritt Powells im vorigen Jahr freigewordene Platz nach mehreren gescheiterten Versuchen 143 durch Richter Anthony Kennedy besetzt, womit sich für kontroverse Fälle eine zwar knappe, aber ausreichende und dauerhafte 5:4-Mehrheit zu befestigen schien. In der Tat brachte dann das Gerichtsjahr 1988/89 die Wende: Das liberale Abtreibungsrecht von Roe ν. Wade wurde verschärft 144, die Verhängung der Todesstrafe gegenüber Minderjährigen wurde für verfassungsgemäß erklärt 145 und die seit Fullilove v. Klutznick üblichen affirmative action-Programme, die bei der Vergabe öffentlicher Aufträge einen bestimmten Prozentsatz für rassische Minoritäten vorsahen, in Frage gestellt. 146 Eine bemerkenswerte Ausnahme bildete die Kontroverse um die Verfassungsmäßigkeit von Verbrennungen der US-Flagge als Ausdruck der „Rede"-Freiheit des ersten Verfassungszusatzes. In Texas v. Johnson 147 schätzte eine aus den Liberalen Brennan, Marshall und Blackmun, sowie den Konservativen Scalia (!) und Kennedy zusammengesetzte Mehrheit das Meinungsäußerungsinteresse des einzelnen höher ein als das Interesse des Staates an der Integrität seiner Symbole. Doch abgesehen von diesem „Ausrutscher" war der konservative roll-back des RehnquistCourt in vollem Gange. 142
Vgl. etwa den ein Jahr zuvor, noch unter Chief Justice Burger, entschiedenen Fall Bowers v. Hardwick, 478 U.S. 186 (1986), in dem eine 5:4-Mehrheit die Ausdehnung des Schutzbereichs des Rechts auf privacy auf gleichgeschlechtliche Handlungen in einer Privatwohnung ablehnte. 143
Vgl. dazu unten 3.
144
Vgl. Webster
v. Reproductive
Health Services,
492 U.S. 490 (1989), 5:4-Entschei-
dung. 145
Vgl. Stanford v. Kentucky, 492 U.S. 361 (1989), und Wilkins U.S. 361 (1989), beides sind 5 :4-Entscheidungen.
v. Missouri,
492
146 Vgl. City of Richmond ν JA. Croson Co488 U.S. 469 (1989), 6:3-Entscheidung; Richter Stevens schloß sich hier ebenfalls der Mehrheitsmeinung an. In Metro Broadcasting v. Federal Communications Commission , 497 U.S. 547 (1990), erklärte das Gericht allerdings zwei affirmative action-Programme des Bundes für verfassungsgemäß. Die Zukunft derartiger Programme erscheint daher, zumindest auf Bundesebene, offen. 147
491 U.S. 397 (1989). S.a. den ähnlichen und mit gleicher Mehrheit entschiedenen Fall auf Bundesebene United States v. Eichman, 496 U.S. 310 (1990).
I. Der Supreme Court
47
Methodisch wurde dies vor allem dadurch bewerkstelligt, daß nun eine Mehrheit des Gerichts bereit war, die Intensität verfassungsgerichtlicher Kontrolle zurückzunehmen. Als Beispiel seien Employment Division, Department of Human Resources v. Smith m sowie Cruzan v. Director, Missouri Health Department 149 angeführt. Im ersten Fall ging es um die Frage, ob der Staat Oregon im Zuge einer umfassenden Antidrogen-Politik jedweden Gebrauch von Drogen untersagen konnte, oder ob wegen der im ersten Amendment garantierten Religionsfreiheit für den rituellen Genuß einer Droge im Rahmen eines indianischen Gottesdienstes eine Ausnahme gemacht werden mußte. Obwohl bisher Regelungen, die in die Religionsfreiheit eingriffen, zu ihrer verfassungsmäßigen Rechtfertigung ein zwingendes Interesse des Staates („compelling interest") repräsentieren mußten, und obwohl im Falle dieser Indianerdroge sowohl der Bundes- wie auch zahlreiche Einzelstaatsgesetzgeber den streng religiös motivierten, auf Gottesdienste beschränkten Drogenkonsum von ihren Antidrogen-Gesetzen ausnahmen, erklärte Richter Scalia für eine Mehrheit von 6 Richtern die Oregon-Norm für verfassungsgemäß. Statt eines zwingenden Interesses ließ er ein „valid and neutral law", das sich nicht einseitig gegen eine Religion richte, genügen. Im übrigen überantwortete er die Ausbalancierung zwischen Grundrechtsgebrauch und staatlichem Eingriffsinteresse dem demokratischen Prozeß. Ähnlich zurückhaltend argumentierte Rehnquist in Cruzan, einer weiteren knappen 5:4-Entscheidung. Nancy Cruzan war bei einem Verkehrsunfall im Januar 1983 so schwer verletzt worden, daß sie von da an mit schweren Hirnschädigungen im Koma lag und künstlich am Leben gehalten werden mußte. Der Wunsch der Eltern, die künstliche Versorgung im Jahre 1987 einzustellen, nachdem sich im Zustand ihrer Tochter keine Besserung eingestellt hatte, war in letzter Instanz vom höchsten Gericht des Staates Missouri zurückgewiesen worden. Eine knappe Mehrheit des Supreme Court erhielt diese Entscheidung aufrecht. Der Staat Missouri könne rechtmäßigerweise die Entscheidung über ein Weiterleben ausschließlich in die Hände des betroffenen Menschen legen. Könne der sich nicht mehr äußern, so verlange die Verfassung nicht, daß dieses Entscheidungsrecht auf irgend jemand anderen übergehe. Die dissentierenden Richter, einmal mehr angeführt von Justice Brennan, setzten die Akzente anders und notierten, daß kein Interesse des Staates schwerer wiegen könne als das Recht eines Individuums an Stelle von Nancy Cruzan. Diese Tendenz, den Schauplatz der verfassungsrechtlichen Auseinandersetzung aus dem Supreme Court hinaus in Gerichte und Parlamente der Einzelstaaten zu verlegen, nur flagrante Verfassungsverstöße zu ahnden und damit 148
494 U.S. 872 (1990).
149
497 U.S. 261 (1990).
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
48
dem Supreme Court eine begrenzte Rolle zuzuweisen, ist charakteristisch fur das Rechtsverständnis der sich um Rehnquist und Scalia gruppierenden neuen Mehrheit. Sie erfuhr anläßlich des Rücktritts von Richter Brennan im Sommer 1990, an dessen Stelle der bis dahin gänzlich unbekannte Richter David Souter trat, sowie durch den Rücktritt von Richter Thurgood Marshall ein Jahr später, auf den der konservative Clarence Thomas folgte 150 , eine weitere Verstärkung. Somit ergab sich nun auch eine Mehrheit für die Aufrechterhaltung von Maßnahmen, die das bisher selbst von den Konservativen Scalia und Kennedy hochgehaltene Recht auf Redefreiheit ernsthaft einzuschränkten drohten. Rust v. Sullivan m, in dem das von der Bush Administration erlassene Verbot, wonach in für Familienplanung zuständigen Krankenhäusern Schwangere nicht über die Möglichkeit der Abtreibung beraten werden dürften, ja daß noch nicht einmal das Wort Abtreibung fallen dürfe 152 , als verfassungsgemäß eingestuft wurde, ist hierfür ein Beispiel. Dadurch wurde das Abtreibungsrecht von Frauen zumindest faktisch ausgehöhlt. Cleskey v. Zant 153, die Entscheidung, mit der sich thematisch wie auch personell der historische Bogen über einen Teil der Amtszeit des RehnquistCourt schließt, führt zu eben jenem zum Tode verurteilten Warren McCleskey zurück, der vier Jahre zuvor, zu Beginn von Rehnquists Amtszeit als Chief Justice mit seinem ersten habeas corpus-Verfahren gescheitert war. In Zant wurde sein zweites habeas corpus-Verfahren als rechtsmißbräuchlich verworfen und damit gleichzeitig die Appellationsrechte von zum Tode verurteilten Straftätern eingeschränkt. Eine weitere sowohl völkerrechtlich wie strafprozessual bemerkenswerte, den Kurs des Rehnquist-Court illustrierende Entscheidung ist U.S. v. AlvarezMachain. ]5 4 Darin wertete die „neue" Mehrheit 155 des Supreme Court eine gewaltsame Entfuhrung eines mexikanischen Staatsbürgers in die USA nicht als Verstoß gegen das amerikanisch-mexikanische Auslieferungsabkommen und sah daher auch kein Hindernis gegen den im Anschluß an die Entführung stattfindenden US-Strafprozeß.
150
Vgl. dazu unten 3.
151
500 U.S. 173 (1991).
152
Im Volksmund als „gag rule" (Maulkorberlaß) bekanntgeworden.
153
499 U.S. 467 (1991), 6:3-Entscheidung; die dissentierenden Richter waren Marshall, Blackmun und Stevens. 154 155
119 L. Ed. 2d 441, 112 S. Ct. 2188 (1992).
Diese Mehrheit bestand hier aus Rehnquist, White, Scalia, Kennedy, Souter und Thomas. Richterin O'Connor dissentierte zusammen mit Blackmun und Stevens.
I. Der Supreme Court
49
In alleqüngster Zeit hat schließlich United States v. Lopez156 Aufsehen erregt. Mit dieser Entscheidung erklärte der Supreme Court zum ersten Mal seit den 30er Jahren ein auf der interstate commerce clause basierendes Bundesgesetz mangels Bundesgesetzgebungskompetenz für verfassungswidrig. 157 Der Rehnquist-Court hat also durch enge Auslegung von Verfassungsnormen und durch Einräumung eines zusehends weiteren Spielraums fiir andere Gewalten die amerikanische Verfassungsrechtslandschaft erneut verändert. Zeitenweise konnte eine deutliche Mehrheit von 6 Richtern dem konservativen Lager zugerechnet werden. Immerhin deutet sich durch die neueste Abtreibungsentscheidung 158, die zwar weitere Einschränkungen gegenüber einer reinen Fristenlösung für verfassungsmäßig erklärte, jedoch ausdrücklich Roe v. Wade als Grundlage der verfassungsmäßigen Beurteilung von Abtreibungen beibehielt, die Herausbildung eines die Richter O'Connor, Kennedy und Souter umfassenden gemäßigt konservativen Flügels an, der sich zusammen mit dem verbliebenen Liberalen Stevens und den als gemäßigt einzustufenden Neuzugängen Bader und Breyer wieder zu einer Mehrheit addieren kann. Richter Thomas votiert bisher ganz überwiegend mit Richter Scalia, der als Anhänger einer eng an Wortlaut und historischem Gesetzgebungswillen orientierten Verfassungsinterpretation maßgeblich für die dogmatische Begründung der restriktiveren Haltung des Rehnquist Court in grundrechtsrelevanten Themen verantwortlich zeichnet. Bewegung könnte in den Supreme Court durch weitere Neuberufungen unter dem 1992 gewählten Präsidenten Clinton kommen. Er ist seit Lyndon Johnson der erste demokratische Präsident, der wieder Richterernennungen zum Supreme Court vornehmen kann. 159 Mit dem Rücktritt von Richter Byron White im März 1993 hatte er dazu, kaum im Amt, seine erste Gelegenheit. Whites Platz nahm die nach einem ungewöhnlich unproblematischen Bestätigungsverfahren ernannte ehemalige Anwältin und Teilzeitprofessorin Ruth Bader Ginsburg ein. Darüber hinaus trat der über 80jährige Richter Blackmun, nachdem er - selbst für amerikanische Verhältnisse kurios — seinen baldigen Rücktritt in seinem Votum in Casey bereits angedeutet hatte, zum Ende des Gerichtsjahres 1993/94 zurück. Er wurde durch den wie Frau Ginsburg als gemäßigt liberal eingestuften Bundesrichter Stephen Breyer ersetzt.
156
63 U.S. Law Weekly 4343 (1995).
157
Vgl. dazu eingehender unten 3.b).aa).ccc).
158
Planned Parenthood of Southeastern Pennsylvania S. Ct. 2791 (1992).
v. Casey , 120 L. Ed. 2d 674, 112
159 Der von 1976-1980 amtierende Präsident Carter war bisher der einzige Präsident, der, obwohl er eine volle vierjährige Wahlperiode im Amt war, keine Gelegenheit zur Nominierung eines Supreme Court-Richters hatte.
4 Rau
50
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
3. Richterberufung Gemäß Art. II, Section 2 der Verfassung nominiert und, „auf Anraten und mit Zustimmung des Senats", ernennt der amerikanische Präsident die Richter des Obersten Bundesgerichts. Diese Bestimmung ist Ausdruck der in der amerikanischen Verfassung mehrfach zum Ausdruck kommenden Leitidee der „checks and balances": während dem Präsidenten als Vertreter der Exekutive das Vorschlagsrecht obliegt, entscheidet letzlich der Senat, also ein Legislativorgan, über die Zusammensetzung des Spruchkörpers, der seit Marbury v. Madison die Macht hat, Gesetzgebungs- und andere offizielle Akte eben dieses Legislativorgans außer Kraft zu setzen. Auf der eher kargen textlichen Grundlage in der Verfassung hat sich seit den 50er Jahren dieses Jahrhunderts die Praxis herausgebildet, daß der vom Präsidenten vorgeschlagene Kandidat 160 von einem Unterausschuß des Senats, dem „Senate Judiciary Committee", einer eingehenden mündlichen und öffentlichen, d.h. nach amerikanischem Verständnis heutzutage auch „fernsehöffentlichen" Befragung unterzogen wird. 161 Nach der Befragung stimmt der Unterausschuß ab und übermittelt dem Senatsplenum einen Bericht, in dem er ihm empfiehlt, den Kandidaten zu bestätigen bzw. ihn abzulehnen. Daraufhin stimmt der Senat ab. Ergibt sich, wie in der überwiegenden Zahl aller Nominierungen 162 , eine Stimmenmehrheit für den Kandidaten, wird dieser vom Präsidenten ernannt und als neuer Richter des Supreme Court vereidigt. Die Richterkandidaten sind in ihrer Mehrzahl keine „gelernten" Verfassungsrechtler, was angesichts der Tatsache, daß der Supreme Court kein reines Verfassungsgericht, sondern vielmehr das Oberste Bundesgericht ist 163 , auch nicht zwingend erscheint. Viele von ihnen verfügen über eine mehr oder weniger ausgeprägte berufliche Erfahrung als Bundesrichter an einem „Federal Court of Appeals". 164 Daneben sind berufliche Vorerfahrungen in der Justizverwaltung des Bundes oder eines Einzelstaats, sowie als Rechtsanwälte
160 Hier, wie auch an anderen Stellen der Arbeit, umfaßt ein Begriff in seiner männlichen Form im Zweifel auch die jeweilige weibliche Vertreterin, hier also die Kandidatin. Auf ermüdende Dopplungen oder Wortneuschöpfungen („Kandidatin") wurde zugunsten einer besseren Lesbarkeit verzichtet. 161 Zur früheren Situation und zur Kritik an der heutigen Praxis vgl. Hall /Ritchie, Oxford Companion, S. 770 f.
in:
162
Hall /Ritchie, a.a.O., weisen darauf hin, daß in den vergangenen 60 Jahren nur sechs von 40 Bewerbern ihre Bewerbung zurückziehen mußten oder im Senat keine Mehrheit fanden. 163 164
Vgl. oben 1.1.
Ausnahmsweise, wie etwa im Fall des 1953 berufenen Chief Justice Earl Warren, können auch Kandidaten ohne jederichterliche Berufspraxis zum Zuge kommen.
I. Der Supreme Court
51
und Abgeordnete relativ häufig. Selten, zumal im Vergleich zum Bundesverfassungsgericht, ist die Berufung eines Vollzeituniversitätsprofessors. 165 Die Richter des Supreme Court werden, eine „einwandfreie Amtsführung" 166 vorausgesetzt, auf Lebenszeit ernannt und amtieren nicht selten 30 Jahre oder länger. Dadurch wird dem Präsidenten die Möglichkeit gegeben, Entscheidungsträger zu installieren, die weit über seine eigene Amtszeit hinaus maßgeblichen Einfluß auf Legislative und Exekutive haben und in ihrer Unabhängigkeit unerreicht sind. Die Bedeutung der Richterernennung kann daher kaum überschätzt werden und die Anzahl der durch einen Präsidenten besetzten Supreme Court-Richterstellen ist einer der Gradmesser seiner Macht. 167 Bei der oben genannten Befragung durch den Unterausschuß kommen fachliche Qualifikation ebenso zur Sprache wie politische Orientierung und Fragen danach, wie der Kandidat die Verfassung im einzelnen auslegt oder auslegen würde. Als Gretchenfrage gilt neuerdings die mehr oder weniger unumwundene Frage danach, wie es der Kandidat mit einem verfassungskräftigen Recht der Frau auf Abtreibung halte. Besonders in den Zeiten eines „divided government" 168 , d.h. wenn Präsident und Kongreßmehrheit unterschiedlichen Parteien angehören, gleichen die confirmation hearings bisweilen eher einem „confirmation battle", in dem Angehörige der Präsidentenpartei versuchen, den Kandidaten in einem möglichst positiven Licht dastehen zu lassen, während ihre politischen Gegner versuchen, die fachliche, politische oder gar persönliche Integrität des Kandidaten in Zweifel zu ziehen. In jüngerer Zeit haben vor allem Richterberufüngen für Aufsehen gesorgt, die von den konservativen Präsidenten Reagan und Bush gegenüber einem mehrheitlich von den Demokraten besetzten Kongreß unternommen wurden. So scheiterte 1987 der von Präsident Reagan nominierte Bundesrichter Robert H. Bork nach einer erbitterten, ausgesprochen persönlich geführten Auseinandersetzung über seine politische Orientierung und seine Positionen zur Verfas-
165 Vor dem 1986 berufenen Richter Scalia war der von 1939-1962 amtierende Richter Felix Frankfurter der letzte echte Vollzeit-Juraprofessor gewesen. 166
Vgl. Art. III, Section 1, wonach „The Judges, ..., shall hold their Offices during good Behaviour, ..." 167 Die meisten Supreme Court-Richter im 20. Jahrhundert, nämlich neun, ernannte Präsident Franklin D. Roosevelt. Allerdings war er auch 12 Jahre, und damit länger als jeder andere Präsident im Amt. Die Präsidenten Reagan und Bush brachten es zusammen auf 6 Richterernennungen und veränderten damit das Erscheinungsbild des heutigen Supreme Court beträchtlich. 168 Der Begriff „government" wird in den USA weit verstanden; er umfaßt dort „the three branches of government", also nicht etwa nur die Exekutive, wie eine oberflächliche Übersetzung nahelegen könnte. Anschaulich dazu die bei Brugger, Einfuhrung, § 18 II., S. 170, abgedruckte Graphik.
52
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
sungsinterpretation. 169 Sein Nachfolgekandidat, Douglas H. Ginsburg, mußte seine Bewerbung zurückziehen, nachdem Berichte über angebliche finanzielle Interessenkonflikte und über seinen Marihuanakonsum als Juraprofessor bekanntgeworden waren. Beinahe gescheitert wäre auch Clarence Thomas, der von Präsident Bush im Sommer 1991 dafür nominiert wurde, den Platz des zurückgetretenen Justice Thurgood Marshall einzunehmen. Nachdem bereits das Senate Judiciary Committee sich bei Stimmengleichstand nicht dazu hatte durchringen können, den als Appellationsrichter unerfahrenen, politisch prononciert konservativen und erst 43jährigen Thomas zur Bestätigung zu empfehlen, tauchten kurz vor der entscheidenden Senatsabstimmung Vorwürfe auf, wonach Thomas als Vorsitzender der Equal Employment Opportunity Commission (EEOC) eine Mitarbeiterin sexuell belästigt habe, eine Vorhaltung, die Thomas kategorisch bestritt. Schließlich wurde er mit dem denkbar knappen Votum von 52:48 Senatsstimmen bestätigt und nahm seinen Platz im Supreme Court ein. Die Beispiele Bork und Thomas zeigen den Berufungsprozeß im ungünstigsten Fall als eine politisch bis aufs äußerste aufgeladene und als solche weithin sichtbare Prozedur, in der es für den Präsidenten darum zu gehen scheint, seine politische Orientierung weit über seine Amtszeit hinaus in Gestalt eines auf Lebenszeit ernannten Supreme Court-Richters zu fixieren, während eine oppositionelle Senatsmehrheit ihrerseits versucht, ihre anderweitig nicht durchsetzbare Agenda, z.B. in der Abtreibungsfrage, zur Nagelprobe für einen Kandidaten zu machen. Während sich in der Bundesrepublik die Berufung der Bundesverfassungsrichter von der Öffentlichkeit meist weitgehend unbemerkt und, wegen des 2/3-Quorum im Richterwahlausschuß, nur im Wege eines parteiübergreifenden Konsenses vollzieht 170 , stellten viele der vergangenen Richterberufungen für den Supreme Court kaum verhohlene politische Machtkämpfe dar, die sich unter reger Anteilnahme der Fernsehöffentlichkeit abspielten. Daß dabei um des eigenen politischen Vorteils willen auch vor gesellschaftlich äußerst brisanten Gefahrenherden nicht Halt gemacht wird, zeigt das Beispiel Clarence Thomas. Als Nachfolger des sehr liberalen und über die „black community" hinaus hochangesehenen Justice Marshall kam nach allgemeiner Auffassung nur ein Schwarzer oder möglicherweise ein „Hispanic-American" in Betracht, wobei die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit typischerweise mit einer vergleichsweise liberalen rechtspolitischen Auffassung gepaart zu sein schien.
169
Illustrativ dazu Borks Buch The Tempting of America. Zu Borks Verfassungsinterpretation vgl. auch Brugger, Grundrechte, § 33 III. 170
Vgl. unten C.I.3.
I. Der Supreme Court
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Mit der Nominierung von Thomas, der einerseits schwarz war und aus einfachsten Verhältnissen stammte, sich aber andererseits ausgesprochen konservativ gab, gelang Präsident Bush ein zweifacher Coup: Er spaltete seine demokratischen Gegenspieler und Bürgerrechtsgruppen, die nicht so recht wußten, ob sie Thomas wie einen anderen Konservativen bekämpfen oder seiner Hautfarbe und Herkunft wegen schonen sollten. Gleichzeitig verankerte Bush einen konservativen Juristen im Supreme Court, der Jahrzehnte über seine Präsidentschaft hinaus in seinem Sinne wirken sollte. Es erstaunt daher nicht, daß das Berufungsverfahren zumindest in der Form, die es bei einem „divided government" angenommen hat, wachsender Kritik ausgesetzt ist. 171 Als besonders bedenklich muß wohl die Tatsache angesehen werden, daß als Folge der zu erwartenden Auseinandersetzungen im Berufungsverfahren immer wieder solche Kandidaten präsentiert werden, die als Juristen, und zumal als Bundesrichter, eher unerfahren und wenig profiliert sind. Mit solchen „stealth candidates"172, die wenig Wissenschaftliches veröffentlicht haben, sich politisch bedeckt halten und somit dem Senat auch wenig Angriffsfläche bieten sollen, wird zwar das Berufüngsverfahren erleichtert. Andererseits besteht aber die Gefahr, daß mit ihnen auch eher juristisches Mittelmaß in den Supreme Court einzieht. 173 Nicht zuletzt deshalb erscheint das amerikanische Nominierungsverfahren nicht sonderlich geeignet, als Modell für etwaige Reformüberlegungen hinsichtlich des Richterberufungsverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland zu dienen. Es bleibt abzuwarten, wie sich mögliche weitere Richterberufungen unter der Regierung Clinton entwickeln werden, die sich seit November 1994 wieder einer gegnerischen Mehrheit im Senat gegenüber sieht. Die beiden bisherigen Erfahrungen bilden insoweit allerdings einen bemerkenswerten Kontrast zu dem oben Gesagten: Als Nachfolgerin von Richter White, der zum Ende des Gerichtsjahres 1992/93 sein Richteramt aufgab, nominierte Clinton die bereits 60jährige Anwältin Ruth Bader Ginsburg. Trotz ihrer hervorgehobenen Rolle in der 171 Vgl. z.B. Carter, The Confirmation Mess, 101 Harv. L. Rev. 1185 (1988). Vgl. für die Sicht dreier weiterer Hochschullehrer und einer Fachjournalistin auch die Beiträge von Freund, a.a.O., S. 1146; Ackerman, a.a.O., S. 1164; Monaghan, a.a.O., S. 1202; und Totenberg, a.a.O., S. 1213. 172
Der 1990 als Nachfolger von Justice Brennan nominierte, bis dahin weitgehend unbekannte und ziemlich problemlos bestätigte David Souter galt als ein solcher „stealth candidate". 173
Zu optimistisch daher v. Brünneck, S. 34 f. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der bereits in den 50er Jahren diskutierte, erfolglos gebliebene und mittlerweile wieder in der Versenkung verschwundene Reformvorschlag, der eine mindestens 5jährige (bundes)richterliche Praxis als Wählbarkeitsvoraussetzung von Supreme Court-Richtern vorsah. Vgl. Loewenstein, S. 440.
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Β. Vereinigte Staaten von Amerika
„pro-abortion rights"-Bewegung der 70er Jahre und trotz ihres klaren Bekenntnisses zu einem verfassungsmäßigen Recht der Frau auf Abtreibung verliefen bei ihr die Senatsanhörungen insgesamt recht problemlos und sie wurde ohne Schwierigkeiten bestätigt. Neben ihrer beträchtlichen juristischen Erfahrung und möglicherweise ihrer Geschlechtszugehörigkeit dürfte dafür auch die Tatsache eine Rolle gespielt haben, daß Clinton eine trotz allem insgesamt als „centrist", also gemäßigt eingestufte Kandidatin wählte und somit parteipolitisch geprägte Auseinandersetzungen im Kongreß weitgehend vermeiden konnte. Ebenfalls ohne Schwierigkeiten verlief die Nachfolge für Richter Blackmun. Der von Präsident Clinton Ende Mai 1994 nominierte Bundesappellationsrichter Stephen Breyer wurde Anfang August nach problemlosen hearings mit nur wenigen Gegenstimmen im Senat bestätigt. Wie Ginsburg gilt Breyer als Kandidat der Mitte. Präsident Clinton lobte den 56jährigen Wirtschaftsrechtsexperten bei der Nominierung als Architekt des Konsenses.
II. Gerichtlicher Prüfungsumfang, Grenzen der Rechtsprechung und ihre Begründung 1. Prozessuale und technische Grenzen a) Einleitung Nach Art. III, Section 2 der amerikanischen Verfassung erstreckt sich die Gerichtsgewalt auf „cases" und „controversies". Aus diesen beiden Begriffen hat der Supreme Court im Lauf der Zeit eine differenzierte Zulässigkeitsdoktrin entwickelt: „Embodied in the words ,cases' and ,controversies' are two complementary but somewhat different limitations. In part those words limit the business of federal courts to questions presented in an adversary context and in a form historically viewed as capable of resolution through the judicial process. And in part those words define the role assigned to the judiciary in a tripartite allocation of power to assure that the federal courts will not intrude into areas committed to the other branches of government. Justiciability is the term of art employed to give expression to this dual limitation placed upon federal courts by the case-and-controversy doctrine." 174 Justitiabilität lautet somit zutreffend der Oberbegriff, dessen normative Verankerung die case and controversy-Doktrin ist. Vier wesentliche Elemente enthält die ex-negativo Definition des Supreme Court in Gilligan v. Morgan: 174
Flast v. Cohen, 392 U.S. 83, 94 f. (1968); zitiert nach Tribe, § 3-7, S. 67.
Constitutional Law,
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
55
„No justiciable controversy is presented to a federal court when the parties seek adjudication of only a political question , when the parties are asking for an advisory opinion 175, when the question sought to be adjudicated has been mooted by subsequent developments, and when there is no standing to maintain the action." 176 Daneben sind insbesondere 177 ripeness und auch die stare decisis-Doktrin zu erwähnen. All diese Kriterien stellen Grenzen der Rechtsprechung des Supreme Court dar und sollen daher nachfolgend kurz charakterisiert werden. Den political questions ist dabei ein ausführlicherer Abschnitt gewidmet. b) Standing178 Vereinfacht dargestellt ist standing (to sue) das Kriterium, das die Frage danach beantwortet, wer eine durch ein Regierungshandeln hervorgerufene Verfassungsverletzung vor dem Supreme Court geltend machen kann. Typischerweise hat diejenige Partei standing, die durch ein der Regierung zurechenbares Verhalten geschädigt wurde bzw. der dadurch „ein direkter und unmittelbarer persönlicher Schaden droht", wobei allerdings der Kreis der geschützten Interessen weit gefaßt ist und bundesgesetzlich erweitert werden kann. 179 So soll einerseits ein hinreichender verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz sichergestellt werden. Andererseits geht es auch darum, daß die prozeßführende Partei ein genügendes eigenes Interesse an Fortgang und Ergebnis des Verfahrens hat und somit den wegen des das amerikanische Prozeßrecht beherrschenden Beibringungsgrundsatzes wesentlich von ihr mitzugestaltenden Prozeß aktiv betreiben wird. Die Richter des Supreme Court sind durchaus nicht immer einer Meinung darüber, ob eine Partei standing hat oder nicht. Weiterhin ist bemerkenswert, daß die Konturen der standing-Doktrin sich mit dem jeweiligen Selbstverständnis des Supreme Court ändern und somit ein mal kleineres, mal größeres Zulässigkeitshindernis darstellen. Während in den vom Warren Court geprägten 60er Jahren Kläger eher selten an der Hürde des standing scheiterten, 175
Vgl. dazu unten 2.a) zur Geschichte der political question doctrine, sowie Lockhart, Constitutional Law, S. 1575 ff., der Muskrat v. United States, 219 U.S. 346 (1911), als Beispielsfall anfuhrt. 176
Gilligan v. Morgan, 413 U.S. 1, Headnote 6 (1973) (Hervorh. nicht i.O.).
177
Zur Frage der collusive cases s. Brugger, Einführung, § 3 II. 5., S. 18. Umfassend zu den Grenzen der bundesgerichtlichen Kompetenz Tribe , Constitutional Law, Chapter 3. 178 Vgl. Tushnet, in: Oxford Companion, S. 819 ff., und Brugger, Einfuhrung, § 3 II. 6., S. 18 f., jeweils m.w.N. Zur neueren kritischen Diskussion um die Entwicklung, die die standing-Doktrin genommen hat, vgl. Tribe, Constitutional Law, § 3-8, S. 72 Fn. 24, 25. 179
Brugger, a.a.O.
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
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interpretierte bereits der von Chief Justice Burger geführte Supreme Court die Bedingungen wieder enger. Flast v. Cohenm, entschieden 1968, und die 1974 ergangene Entscheidung United States v. Richardson m sollen diesen Kontrast veranschaulichen. In Flast ging es um die Frage, ob eine Gruppe von Bürgern in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler zulässigerweise die Verfassungsmäßigkeit bestimmter staatlicher Budgetzuwendungen an kirchliche Schulen würde angreifen können. Im Gegensatz zum Untergericht, das die Klage der Steuerzahler mangels standing abgewiesen hatte, bejahte der Supreme Court die Zulässigkeit. Chief Justice Warren stellte in der 8:1-Entscheidung fest, daß der viel zitierte Präzedenzfall Frothingham v. Mellon m derartige „taxpayer suits" nicht gänzlich ausschließe. Da die Kläger hier mit dem ersten Verfassungszusatz, der unter anderem die Einführung einer Staatsreligion verbietet, eine spezifische, das Haushaltsrecht des Kongresses beschränkende Verfassungsnorm angeführt hätten, hätten sie standing und seien daher klagebefügt. Flast wurde weithin als Signal dafür verstanden, daß der Supreme Court eine verfassungsrechtliche Streitigkeit, in der eine Rechtsverletzung zwar möglich, der Nachweis eines Schadens hingegen unmöglich war, nicht am mangelnden standing der Parteien würde scheitern lassen. Eine Fülle von von Steuerzahlern angestrengten Klagen, von denen nicht wenige die behauptete Rechtswidrigkeit der amerikanischen Teilnahme am Vietnam Krieg zum Gegenstand hatten, war die Folge. 183 In Richardson wurde, aufbauend auf Flast, die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Bestimmungen, nach denen das Budget des Geheimdienstes CIA nicht veröffentlicht werden darf, bezweifelt. Im Gegensatz zu dem in Flast erfolgreich ins Felde geführten First Amendment stand dem Kläger jedoch mit der in Artikel 1, Section 9 bestimmten Rechnungslegungspflicht der öffentlichen Hand nur eine relativ stumpfe Waffe zur Verfügung, mit der sich eine spezifische inhaltliche Beschränkung des parlamentarischen Budgetrechts kaum begründen ließ. Der Supreme Court wies daher in einer für die Burger Ära typischen 5 ^-Entscheidung 184 Richardsons Klage mangels standing ab. Chief Justice Burger nutzte die Gelegenheit, um die durch Flast genährten Hoffnungen zu zerstreuen. Er schrieb, daß der Steuerzahler die Bundesge-
180
392 U.S. 83 (1968).
181
418 U.S. 166 (1974).
182
262 U.S. 447 (1923).
183
Vgl. Grossman , in: Oxford Companion, S. 304.
184 Zu typischen Abstimmungskonstellationen des Burger-Court vgl. z.B. den Fall Regents of the University of California v. Bakke , o. Fn. 126. Das Zünglein an der Waage bildete auch in Richardson wieder einmal Justice Powell mit einer concurring opinion.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
57
richte nicht benutzen könne „as a forum to air his general grievances about the conduct of government or the allocation of power in the federal system". 185 Noch deutlicher wurde 1982 Richter Rehnquist, als er in Valley Forge Christian College v. Americans United for Separation of Church and State für eine Mehrheit von 5 Richtern sprach: „Implicit in the foregoing (i.e. in Flast , C.R.) is the philosophy that the business of the federal courts is correcting constitutional errors, and that ,cases and controversies' are at best merely convenient vehicles for doing so and at worst nuisances that may be dispensed with. ... This philosophy has no place in our constitutional scheme". 1 8 6 Die unter Burger eingeleitete Verschärfung der standing-Voraussetzungen hat sich unter Rehnquist als Chief Justice fortgesetzt. Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist Lujan v. Defenders of Wildlife 187, ein Fall, in dem Umweltgruppen, die sich gegen eine einschränkende Interpretation des Endangered Species Act wandten, das standing abgesprochen wurde. Justice Scalia, der Autor der Mehrheitsmeinung, erwähnte in seinem historischen Exkurs zwar Frothingham und U.S. v. Richardson , nicht jedoch Flast. Seine Aussage zu den Grenzen des standing gibt die derzeit gültige Rechtslage wieder: „We have consistently held that a plaintiff raising only a generally available grievance about government - claiming only harm to his and every citizen's interest in proper application of the Constitution and laws, and seeking relief that no more directly and tangibly benefits him that it does the public at large — does not state an Article I I I case or controversy." 188 c) Ripeness Gibt standing Auskunft auf die Frage, wer klagebefugt ist, so stellt ripeness Kriterien dafür auf, wann Klagen zulässigerweise erhoben werden können. Ripeness soll sicherstellen, daß der zu entscheidende Fall in seinem zeitlichen Ablauf hinreichend fortgeschritten und in seinen tatsächlichen Umständen so eindeutig ist, daß er für eine richterliche Entscheidung „ r e i f ist. Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn die Gefahr einer konkreten, nicht nur hypothetischen Verletzung von Eigentums-, Freiheits- oder anderen Rechten droht. 189 Wie das Standing, so zielt auch das Erfordernis der ripeness darauf 185
418 U.S. 166, 175 (1974), zitiert nach Grossman , in: Oxford Companion, S. 735.
186
454 U.S. 464, 489 (1982).
187
119 L.Ed. 2d 351, 112 S. Ct. 2130 (1992).
188
A.a.O., 119 L.Ed. 2d 351, 372 (1992).
189
Vgl. Stoneking, in: Oxford Companion, S. 737.
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
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ab, die Gerichte nicht mit der Entscheidung abstrakter Rechtsfragen zu belasten. Sein wesentlicher Sinn besteht nach Ansicht des Supreme Court darin, „to prevent the courts, through premature adjudication, from entangling themselves in abstract disagreements ..." 1 9 ° Als klassischer Beispielsfall wird, obwohl darin ripeness als dogmatisches Einzelkriterium nicht ausdrücklich genannt wird, United Public Workers ν. Mitchell 191 angegeben, in dem Angestellte von Bundesbehörden unter Berufung auf die im ersten Verfassungszusatz niedergelegte freedom of speech gegen die Durchsetzung des sog. Hatch Act klagten, wodurch ihnen, wie vorher schon anderen Berufsgruppen im öffentlichen Dienst, jede aktive Beteiligung bei politischer Planungs- oder Wahlkampfarbeit verboten wurde. Da die Kläger die von ihnen beabsichtigten Aktivitäten nur sehr allgemein beschrieben und da fast alle von ihnen bis dahin an solchen Aktivitäten auch noch nicht teilgenommen hatten, wies der Supreme Court das Begehren der bisher politisch Inaktiven mit folgender Begründung ab: „Appellants want to engage in political management and political campaigns', to persuade others to follow appellants' views by discussion, speeches, articles and other acts ... Such generality of objection is really an attack on the political expediency of the Hatch Act, not the presentation of legal issues." Das Gericht könne die gewünschte Entscheidung nicht fallen, da es verfassungsrechtliche Feststellungen nur dann treffen könne, „when the interests of litigants require the use of this judicial authority for their protection against actual interference. A hypothetical threat is not enough." 192 In Richter Reeds opinion kommt auch der zweite der oben in der Einleitung genannten Justitiabilitätsgesichtspunkte zum Ausdruck 193 , der die Justitiabilität eines Falles unter den Vorbehalt richterlicher Zurückhaltung mit Rücksicht auf die gewaltenteilige Ordnung des Staatswesens stellt: „The Constitution allots the nation's judicial power to the federal courts. Unless these courts respect the limits of that unique authority, they intrude upon powers vested in the legislative or executive branches. Judicial adherence to the doctrine of the separation of powers preserves the courts for the decision of issues, between litigants, capable of effective determination. Judicial exposition upon political proposals is permissible only when necessary to decide definite issues between litigants. ... Should the courts seek to expand their power so as to bring under their jurisdiction ill-defined controversies over constitutional issues, they would become the organ of political theories. Such abuse of 190 Abott Laboratories v. Gardner , 387 U.S. 136, 148 (1967); zitiert nach Tribe , Constitutional Law, § 3-10, S. 78. 191
330 U.S. 75 (1947).
192
A.a.O., S. 89 f. (Hervorh. nicht i.O.).
193
Vgl. oben Fn. 176.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
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judicial power would properly meet rebuke and restriction from other branches. By these mutual checks and balances by and between the branches of government, democracy undertakes to preserve the liberties of the people from excessive concentrations of authority." 194 d) Mootness Auch mootness beschäftigt sich mit dem zulässigen Zeitpunkt einer Klage, bildet aber im zeitlichen Ablauf den Gegenpol zur ripeness. Das heißt, wenn die für eine Bejahung der ripeness erforderlichen Bedingungen nicht mehr vorliegen und somit, nach deutschem Verständnis, Erledigung eingetreten ist, wird eine Klage als moot abgewiesen. Als Beispielfall bietet sich hier etwa DeFunis v. Odegaard an. 195 Dort hatte ein weißer law school-Bewerber gegen die seiner Ansicht nach gleichheitswidrige Aufhahmeregelung der University of Washington Law School geklagt, war aber, während seine Klage den Instanzenweg durchlief, zugelassen worden. Da zum Zeitpunkt der vor dem Supreme Court angesetzten mündlichen Verhandlung klar war, daß der Student unabhängig vom Ausgang des Rechtsstreits sein Studium aller Voraussicht nach würde abschließen können, erklärte das Gericht den Fall wegen Erledigung für moot. Die Entscheidung weist auch auf einen der Ausnahmefalle hin, in denen der Supreme Court trotz Erledigung die Zulässigkeit der Klage bejaht: Hätte der Kläger im Wege einer sogenannten class action die Zulassungsregelung für eine ganze Gruppe von Bewerbern angegriffen, so hätte die Erledigung in seinem individuellen Fall nicht zum Scheitern der Klage als Ganzer geführt. Daneben stellen Fälle, in denen die Wiederholung einer inzwischen erledigten belastenden staatlichen Maßnahme zu besorgen ist und solche, in denen von einer solchen Maßnahme noch Nachteile ausgehen können, Durchbrechungen des Prinzips dar, wonach mootness zur Unzulässigkeit einer Klage führt. 196 e) Flexible Handhabung und Timing Es ist zu beachten, daß die genannten Justitiabilitätskriterien nicht immer scharf voneinander abgrenzbar sind und sich in ihrer Anwendung teilweise überlappen. Außerdem werden sie vom Supreme Court unter Einbeziehung weiterer Faktoren flexibel gehandhabt.197 194
A.a.O., S. 90 f.
195
416 U.S. 312 (1974).
196
Vgl. dazu Brugger, Einführung, § 3.4., S. 17 f.
197
Vgl. dazu Lockhart , Constitutional Law, S. 1616 ff. (Timing of Adjudication).
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Β. Vereinigte Staaten von Amerika
Da das Gericht im Rahmen des certiorari-Verfahrens 198 frei darüber befinden kann, ob es einen Fall zur Entscheidung annimmt oder nicht, spielt das Timing einer Entscheidung, also die Frage danach, wann etwa eine gesellschaftlich besonders umstrittene Frage entschieden werden soll, eine nicht zu unterschätzende Rolle. 199 Dies gilt zwar unter Berücksichtigung der jeweiligen gerichtsverfassungsrechtlichen Gegebenheiten sicherlich nicht nur für den Supreme Court und auch nicht nur für die Vereinigten Staaten, obwohl die außerordentlich heterogene, ständig im Fluß befindliche Gesellschaftsstruktur des modernen Nordamerika stärkere tatsächliche Auswirkungen auf die richterliche Entscheidungsfindung haben könnte als anderswo. Auffallend ist jedoch, daß auch von einem Mitglied des Gerichts unumwunden zugegeben wird, Brown habe unter anderem deshalb gerade 1954 entschieden werden können, weil die Zeit dafür reif gewesen sei 200 , eine Aussage, die auch etwas darüber aussagt, wie wenig (Verfassungs-)Recht in den USA als etwas Objektives angesehen wird und wie bereitwillig das Gericht bisweilen auch nach außen hin auf die gesellschaftlichen Implikationen seiner Tätigkeit hinweist. Das gänzlich freie Annahmeverfahren, so Richter Souter weiter, helfe entscheidend dabei, für eine Streitfrage das richtige Timing zu finden, was sich dann auch unmittelbar auf die Legitimität der erzielten Entscheidung auswirke: „... we can never divorce considerations of time from considerations of legitimacy." 201 f) Stare decisis202 Nach dem Grundsatz des „stare decisis" (et non quieta movere) sind amerikanische Gerichte an ein von ihnen selbst oder einem übergeordneten Gericht einmal auf einen bestimmten Sachverhalt angewandtes Rechtsprinzip in der Zukunft gebunden. Fälle, die nach den Fakten im wesentlichen gleichgelagert sind, sind demzufolge dem gesetzten Präzedenzfall (precedent) entsprechend zu entscheiden. Von der Bindungswirkung erfaßt wird allerdings nur das die Entscheidung tragende Rechtsprinzip, dessen Abgrenzung zu den bloßen (obiter) dicta nicht immer leicht zu treffen ist. Stare decisis dient im we198
Vgl. oben B.I.l.
199
Zum Timing in einer engeren Wortbedeutung, nämlich im Rahmen des Zulässigkeitskriteriums mootness, vgl. Tribe , Constitutional Law, § 3-10, S. 78. 200
Justice Souter in einer Ansprache an eine Besuchergruppe im United States Supreme Court, 27.02.1992. 201 202
A.a.O.
Bei stare decisis handelt es sich wohl nicht um ein prozessuales, sondern eher um ein materielles Phänomen, dessen Behandlung sich jedoch wegen seines Grades an Verselbständigung und Instrumentalisierung seitens des Gerichts in diesem Zusammenhang anbietet.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre B e g r ü n d u n g 6 1
sentlichen der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit juristischer Entscheidungen. Durchbrechungen dieses Grundsatzes sind nur bei schwerwiegenden Bedenken gegenüber einem precedent und aufgrund gewichtiger Allgemeinwohlerwägungen zulässig. Daher tendieren Gerichte häufiger dazu, einen Präzedenzfall deshalb nicht anzuwenden, weil sich die Sachlage des zur Entscheidung anstehenden Falls ihrer Ansicht nach von der des Präzedenzfalles unterscheide. Durch dieses als „distinguishing" bezeichnete Unterscheiden braucht sich das Gericht nicht der heiklen Aufgabe zu unterziehen, im einzelnen zu begründen, aus welchen zwingenden Gründen es an einer „bewährten" Rechtsprechung nun nicht mehr festhalten will. Dennoch kommt es auch immer wieder vor, daß ein bestimmter precedent ausdrücklich für nicht mehr maßgeblich erklärt wird (to overrule a precedent). Stare decisis gilt auch für den United States Supreme Court. Da es sich bei ihm jedoch um das höchste Bundesgericht handelt, kann er, ohne unmittelbar auf andere Gerichte achten zu müssen, von ihm selbst gesetzte precedents für nicht mehr anwendbar erklären, wie dies etwa in der Rassentrennungsfrage durch Brown v. Board of Education gegenüber der seit Plessy v. Ferguson postulierten separate but equal-Formel geschehen ist. Im Hinblick auf die hier zu behandelnde Thematik muß bei der Suche nach den Grenzen der Rechtsprechung des Supreme Court auch stare decisis genannt werden. Das mag überraschen, läßt sich jedoch anhand eines aktuellen Beispiels anschaulich verdeutlichen: In Planned Parenthood of Southeastern Pennsylvania v. Casey 203 ging es vordergründig um die Verfassungsmäßigkeit der vom Staat Pennsylvania in den Jahren 1988 und 1989 eingeführten Änderungen zu einem Abtreibungsgesetz. Neben der Pflicht, die Schwangere bezüglich ihrer Entscheidung zu informieren und einer darauf folgenden 24stündigen Wartefrist waren insbesondere der neu eingeführte grundsätzliche Zustimmungsvorbehalt der Eltern bei minderjährigen Schwangeren und die grundsätzlich jede verheiratete Schwangere treffende Pflicht, glaubhaft zu machen, daß sie ihren Ehemann von dem geplanten Abbruch in Kenntnis gesetzt habe, heftig umstritten. Was Casey aus der Reihe anderer grundrechtsrelevanter Entscheidungen heraushob, war die die gesamte amerikanische Öffentlichkeit interessierende Frage, ob der Supreme Court die 1973 ergangene liberale Abtreibungsentscheidung Roe v. Wade 204 ausdrücklich für nicht mehr geltendes Recht erklären würde. Dies war angesichts der oben im historischen Überblick beschriebenen Erosion eines von extensiver, liberaler Grundrechtsinterpretation geprägten Supreme Court fast allgemein erwartet worden. So war die Entscheidung in
203
120 L. Ed. 2d 674, 112 S. Ct. 2791 (1992).
204
410 U.S. 113 (1973).
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
62
mehrerlei Hinsicht eine Überraschung: zwar wurde lediglich das „spousal notification requirement" als Verstoß gegen die due process clause gewertet und somit, ganz im Sinne vorheriger Entscheidungen205, Einschränkungen des in Roe formulierten Rechts auf Abtreigung gutgeheißen. Andererseits aber bestätigte eine insoweit aus den Richtern Blackmun, Stevens, O'Connor, Kennedy und Souter bestehende Mehrheit ausdrücklich, daß Tenor wie auch tragende Erwägungen von Roe beibehalten und hiermit bekräftigt würden. Sie stützten sich dabei interessanterweise unter anderem auf die Regel des stare decisis: „While we appreciate the weight of the arguments ... that Roe should be overruled, the reservations any of us may have in reaffirming the central holding of Roe are outweighed by the explication of individual liberty we have given combined with the force of stare decisis.206 ... The sum of the precedential inquiry to this point shows Roe's underpinnings unweakened in any way affecting its central holding. While it has engendered disapproval, it has not been unworkable. An entire generation has come of age free to assume Roe's concept of liberty in defining the capacity of women to act in society, and to make reproductive decisions; no erosion of principle going to liberty or personal autonomy has left Roe's central holding a doctrinal remnant; Roe portends no developments at odds with other precedent for the analysis of personal liberty; and no changes of fact have rendered viability more or less appropriate as the point at which the balance of interests tips. Within the bounds of normal stare decisis analysis, then, and subject to the considerations on which it customarily turns, the stronger argument is for affirming Roe's central holding, with whatever degree of personal reluctance any of us may have, not for overruling it." 207
In einem logisch kühnen Umkehrschluß verkündete die Mehrheit, daß sich, im Gegensatz zu grundsätzlich veränderten Umständen, unter denen seinerzeit die Lochner- Doktrin wie auch die separate but equal-Doktrin trotz stare decisis aufgegeben werden mußten, in der Abtreibungsfrage die Verhältnisse seit Roe gerade nicht geändert hätten: „The examination of the conditions justifying the repudiation of Adkins by West Coast Hotel and Plessy by Brown is enough to suggest the terrible price that would have been paid i f the Court had not overruled as it did. In the present case, however, as our analysis to this point makes clear, the terrible price would be paid for overruling." 208 205
Vgl. z.B. Webster v. Reproductive
206
Casey , 120 L. Ed. 2d 674, 699 (1992).
207
A.a.O., S. 704.
Health Services , 492 U.S. 490 (1989).
208 A.a.O., S. 706 f. Mit dem Appell an gesellschaftlich nach hartem Ringen erreichte Konsense wie der Zulässigkeit einer gesetzlichen Einflußnahme auf die Wirtschafts- und Sozialordnung und dem Verbot der Rassentrennung an Schulen sollte wohl auch möglichen Kritikern der CVwey-Entscheidung von vornherein die Gefahren vor Augen geführt werden, die eine Entscheidung gegen eine klare Mehrheit oder zumindest eine starke Stimmung in der amerikanischen Bevölkerung würde haben können. Dennoch war die von O'Connor,
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
63
Stare decisis wurde also in der gesellschaftlich höchst umstrittenen, politisch brisanten und rechtsdogmatisch schwierig zu handhabenden Abtreibungsproblematik vom Supreme Court instrumentalisiert, um, gewissermaßen als Wert an sich, an einer vom Ergebnis erwünschten Entscheidung festhalten zu können. 209 Insofern kann man auch hier von einer Grenze der Rechtsprechung ausgehen, die allerdings ebenfalls der gerichtlichen Entscheidung nicht vorausliegt, sondern vielmehr von der jeweiligen Stimmenmehrheit herangezogen und für ihre Zwecke nutzbar gemacht werden kann. Die Rechtsfigur reichert daher das Instrumentarium der die richterliche Kompetenz ausschließenden und einschränkenden „Werkzeuge" um ein weiteres an. g) Kapazitätsgrenzen? Angesichts der ständig steigenden Anzahl von Verfahren, die beim Supreme Court anhängig gemacht werden, stellt sich bei einem etwa gleichbleibenden „Output" von 120 bis 150 Entscheidungen pro Gerichtsjahr 210 die Frage, inwieweit Arbeitskraft und Arbeitslast dem Supreme Court Grenzen setzen, die hier erwähnenswert sind. Dabei sollte beachtet werden, daß die genannte Zahl sowohl die Entscheidungen umfaßt, die der Supreme Court als reines Rechtsmittelgericht trifft, als auch diejenigen, in denen er sich mit unmittelbar verfassungs- und grundrechtsrelevanten Problemen beschäftigt. Der Anteil, der von den als petitions for certiorari vorgelegten Fällen tatsächlich entschieden wird, ist von 15 bis 20% Mitte der 30er Jahre auf weniger als 5% in den 80er Jahren gesunken.211 Der heutige Chief Justice Rehnquist konstatierte daher: „This is simply not a large enough number of cases to enable us to address the numerous important statutory and constitutional questions which are daily being decided by the courts of appeals and by the fifty high courts in the states."212 Einer solchen rein quantitativen Betrachtung mag man entgegenhalten, daß sie über die inhaltlichen Grenzen der Rechtsprechung wenig aussagt, zumal die klassischen verfassungsrechtlichen Kontroversen wie Abtreibung, die Grenzen der kommunikativen Grundrechte, die Trennung Kennedy und Souter getragene Entscheidung, jedenfalls den Richterkollegen und stringenten juristischen Analysten gegenüber, ein „act of personal courage", wie Richter Blackmun, a.a.O., S. 745, insoweit zutreffend bemerkte. Daß er darin auch einen Ausdruck von „constitutional principle" (a.a.O.) erblickte, erscheint nach dem Gesagten weniger nachvollziehbar. 209 Zur Kritik vgl. auch die abweichenden Meinungen von Chief Justice Rehnquist, a.a.O., S. 765 ff., und Justice Scalia, a.a.O., S. 791, der das Verständnis der Mehrheit von stare decisis als „keep-what-you-want-and-throw-away-the-rest"-Haltung verächtlich macht. 2,0
Vgl. Hellman, oben Fn. 5, S. 951, sowie Fn. 7.
211
Vgl. Rehnquist , The Changing Role of the Supreme Court, 14 Fla. St. U. L. Rev. 1 (10) (1986). 2,2
A.a.O.
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
von Staat und Kirche, die Todesstrafe und die im Civil Rights Act niedergelegten Bürgerrechte den Supreme Court ohnehin immer wieder beschäftigen und im Zweifelsfall eher Probleme hintanstehen müssen, die sich aus einer unterschiedlichen Auslegung des einfachen Rechts durch die Instanzgerichte ergeben. Auch bietet das oben 213 beschriebene, durch eine petition for certiorari in Gang gesetzte, freie Annahmeverfahren nach allgemeiner Ansicht den Richtern ein autonomes und flexibles Regulativ, um die eingehenden Fälle zahlenmäßig wie auch inhaltlich selbst zu steuern und zu begrenzen. Die Einführung eines unter dem Supreme Court angesiedelten „National Court of Appeals" wurde zwar verschiedentlich gefordert 214, jedoch ist es in dieser Richtung bisher nicht zu konkreten Maßnahmen gekommen. Neuerdings wird wieder stärker die Auffassung laut, wonach man alles beim alten lassen und sich auf die Erfahrung und das Fingerspitzengefühl der Richter beim Auswählen der — zahlenmäßig ohnehin angeblich eng begrenzten — wirklich wichtigen Fälle verlassen solle. 215
2. Political Question Doctrine Unter „political questions" versteht man Kontroversen, die vom Supreme Court und, in seinem Gefolge, von den Untergerichten wegen ihres politischen Charakters als nicht justitiabel angesehen und daher nicht entschieden werden. Im Gegensatz zu den meisten der vorgenannten Justitiabilitätskriterien, die man als unter bestimmten Umständen überwindbare und somit relative Zulässigkeitsschranken auffassen kann 216 , stellt das Vorliegen einer political question eine absolute Zulässigkeitsbarriere dar, die, einmal festgestellt, nicht ohne weiteres überwunden oder umgangen werden kann. Dogmatischer Ansatzpunkt der political question-Doktrin ist die Lehre von der Gewaltenteilung. Nachfolgend soll versucht werden, einen chronologischen Überblick über wesentliche Fälle und Fallgruppen, aus denen die political question doctrine hervorgewachsen ist, zu geben. Im Anschluß daran stehen der Versuch
2,3
B.I.l.
214
Vgl. Rehnquist , a.a.O.; dagegen Hellman , Preserving the Essential Role of the Supreme Court: A Comment on Justice Rehnquist's Proposal, 14 Fia. St. U. L. Rev. 15 (1986). 215 In diesem Sinne etwa Richter Scalia in einem „Supreme Court Seminar" des Georgetown University Law Center am 19.11.1991. 2,6
So kann sich aus einer abstrakten Rechtsfrage eine case or controversy entwickeln, eine bisher nicht unmittelbar betroffene Person kann, etwa durch einen behördlichen Vollziehungsakt, nun standing haben oder der Gegenstand eines mangels ripeness bisher unzulässigen Rechtsstreit mag sich später hinreichend klar abzeichnen, so daß der Streit „entscheidungsreif 4 ist.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
einer Systematisierung sowie die Frage nach der Einschätzung der Doktrin durch die Rechtslehre und ihre Bedeutung in der heutigen Zeit. 2 1 7 a) Chronologie Eine ausdrückliche Verankerung der political question doctrine ist im Verfassungsdokument der USA nicht zu finden. Artikel III, Section 2 spricht nur davon, daß die Gerichtsgewalt sich auf „cases and controversies" 218 erstrekken soll. Dieses Erfordernis brachte Chief Justice John Marshall in einer frühen Stellungnahme zum Ausdruck. Einen kurz nach Verabschiedung der Verfassung an das Gericht herangetragenen Antrag, eine „advisory opinion", also eine Art Rechtsgutachten zu einer abstrakten Rechtsfrage abzugeben, lehnte Marshall mit folgenden Worten ab: „Considering themselves ... merely as constituting a legal tribunal for the decision of controversies brought before them in legal form, these gentlemen deemed it improper to enter the field of politics by declaring their opinion on questions not growing out of the case before them." 219 Ob diese Aussage sich nur auf eine Abgrenzung zwischen abstrakten Rechtsfragen einerseits und einem konkreten Fall entspringenden, entscheidungserheblichen Problemen andererseits bezog, oder ob Marshall damit auch an Bereiche dachte, die als solche nicht justitiabel sind, mag zweifelhaft sein. Immerhin war selbst im vorkonstitutionellen Amerika die Idee von Fragestellungen, die sich nicht für eine gerichtliche Beilegung eigneten, nicht unbekannt. 220 Auch mochte die durch die Federalist Papers bekanntgemachte Idee eines „limited government" den Gedanken nahelegen, daß auch der Supreme Court nicht alle vor ihn gebrachten cases or controversies würde zu entscheiden haben. Die Normenkontrollkompetenz des Supreme Court war, wie oben l.a). gezeigt, nicht von der Verfassung vorgezeichnet, sondern wurde vom Supre217
Die umfassendste deutschsprachige Untersuchung zur political question doctrine ist Fritz Scharpfs 1965 erschienene Monographie „Grenzen derrichterlichen Verantwortung. Die political-question-Doktrin in der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court" (zitiert: Grenzen). Ein Jahr später hat Scharpf wesentliche Ergebnisse seiner Studie unter dem Titel „Judicial Review And The Political Question: A Functional Analysis" (zitiert: Judicial Review) im Yale Law Journal veröffentlicht. 218 Vgl. oben l.a). Vgl. außerdem Haller, Supreme Court und Politik, S. 180 ff., der bei seiner Fallgruppenbildung an Scharpf anknüpft und auch kurz auf Möglichkeiten des Supreme Court hinweist, der politischen Natur einer Streitfrage ohne Heranziehung der political question doctrine Rechnung zu tragen. 2,9 John Marshall, Life of Washington (1807), zitiert nach Alexander Bichel, The Least Dangerous Branch, S. 114. 220
Vgl. Finkeinstein, Judicial Self-Limitation, 37 Harv. L. Rev. 338 (1923) unter Hinweis auf einige britische und frühe amerikanische Fälle. 5 Rau
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
me Court in Marbury v. Madison begründet. In eben dieser Entscheidung findet sich auch eine Aussage, die den Weg in Richtung political question doctrine weist. Chief Justice Marshall erklärte, daß „Fragestellungen, die ihrer Natur nach politisch sind oder die, durch die Verfassung und die Gesetze, der Exekutive zugewiesen werden, niemals vor diesem Gericht verhandelt werden können." 221 Dennoch ist fraglich, ob diese Aussage in ihrer Allgemeinheit mehr war als ein bloßes Lippenbekenntnis. Schließlich konnte Marshall kaum daran gelegen sein, die eben erst errungene Normenkontrollkompetenz des Supreme Court gleich wieder über eine political question doctrine einzuschränken. So ist es nicht erstaunlich, daß während der 34jährigen Amtszeit von John Marshall in keinem Fall eine Entscheidung unter Berufung auf den politischen Charakter der Kontroverse abgelehnt wurde. Vielmehr schien das Gericht von seiner Pflicht zur Überprüfung hoheitlicher Akte überzeugt und durchdrungen zu sein, wie folgendes Zitat aus dem 1821 entschiedenen Fall Cohens v. Virginia 222 zeigt: „Die Judikative kann nicht wie die Legislative deshalb die Lösung eines Problems vermeiden, weil sie sich dabei den Grenzen der Verfassung nähert. Wir können es nicht übergehen, bloß weil es Zweifel aufwirft. Mit welchen Zweifeln und Schwierigkeiten wir auch immer einem Fall beiwohnen, wir müssen ihn entscheiden, wenn er uns zur Entscheidung vorgelegt wird ... Dabei mögen Fragen auftreten, denen wir gern aus dem Weg gehen würden, aber das können wir nicht. Alles, was uns bleibt, ist nach bestem Wissen zu entscheiden und unsere Pflicht gewissenhaft zu erfüllen." 223 Erst unter John Marshalls Nachfolger, Chief Justice Taney, gelangte die political question als Begründungsfigur für Grenzen der Rechtsprechung des Supreme Court zum Durchbruch. Luther v. Borden 224 gilt als der erste bekannte Fall, in dem eine political question nicht nur abstrakt erwähnt wurde, sondern dazu führte, daß der Supreme Court eine bestimmte ihm vorgelegte Streitfrage nicht entschied. Ausgangspunkt dieses Falles war die sogenannte Dorr Rebellion: Um 1840 beschloß eine Reihe von Bürgern des Staates Rhode Island unter Thomas Dorrs Führung, gegen die auf eine königliche Charter von 1663 zurückgehende und als anachronistisch und „unrepublikanisch" empfundene Verfassungs-
221
1 Cranch (5 U.S.) 137, 168 (1803).
222
6 Wheat. (19 U.S.) 264 (1821).
223
A.a.O., S. 404. Später milderte Marshall diese Position jedoch wieder etwas ab und signalisierte, daß die Ausübung von „political power" möglicherweise nicht im Kompetenzbereich der Judikative liege. Vgl. Cherokee Nation v. Georgia, 5 Pet. (30 U.S.) 1, 20 (1831). Da auch in diesem Fall die Frage jedoch letztlich nicht entschieden zu werden brauchte, blieb es bei einer - folgenlosen - Ermahnung. 224
7 How. (48 U.S.) 1 (1849).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
Ordnung dieses Einzelstaates anzugehen. Sie beriefen eine verfassunggebende Versammlung ein, stellten die von ihnen abgefaßte neue Verfassung zur Wahl und hielten auch Wahlen für Regierungsämter ab. Ihr Verhalten sahen sie als von der sogenannten guarantee clause von Art. IV, Section 4 der amerikanischen Bundesverfassung gedeckt an. Danach „gewährleisten die Vereinigten Staaten jedem Staat der Union eine republikanische Regierungsform; sie schützen jeden von ihnen gegen feindliche Einfalle und auf Antrag seiner gesetzgebenden Körperschaft oder der vollziehenden Gewalt (wenn die gesetzgebende Körperschaft nicht einberufen werden kann) auch gegen innere Unruhen." Somit konkurrierten 1842 für kurze Zeit zwei Regierungen um die Macht in Rhode Island. Die alte, sich auf die Charter stützende Regierung rief das Kriegsrecht aus und schlug schließlich den Aufstand nieder. Gestützt auf dieses Kriegsrecht betrat und durchsuchte Borden, ein Mitglied der von der alten Regierung aufgestellten Miliz, das Haus von Luther. Dieser verklagte daraufhin Borden wegen „trespass". Borden verteidigte sich damit, daß er angesichts des Aufstands und auf der Grundlage des Kriegsrechts rechtmäßig gehandelt habe. Luther wiederum argumentierte, daß das alte, unterdrückerische Regime von der Bevölkerung von Rhode Island abgesetzt worden sei und daher das Kriegsrecht Bordens Handeln nicht rechtfertigen könne. Für den Supreme Court kam es daher neben zahlreichen anderen Fragen entscheidend darauf an, ob er im Lichte von Artikel IV, Section 4 darüber entscheiden würde, welche die rechtmäßige Regierung von Rhode Island war. Genau dies lehnte er ab. Gemäß Art. IV, Section 4 liege, so das Gericht, die Entscheidungskompetenz über die jeweils rechtmäßige Regierung beim Kongreß. Da die Vereinigten Staaten jedem Staat eine republikanische Regierung gewährleisteten, müsse der Kongreß notwendigerweise zuerst entscheiden, welche Regierung im Staat rechtmäßig etabliert sei, bevor er darüber entscheiden könne, ob sie eine republikanische sei oder nicht. Die Entscheidung des Kongresses binde alle anderen Gewalten und sei gerichtlich nicht überprüfbar. 225 Zum Abschluß dieses Themenkomplexes unterstrich Chief Justice Taney für das Gericht, daß der Supreme Court sich weigere, zu den von „political rights and political questions" 226 abhängenden Argumenten des Klägers Stellung zu nehmen. Im übrigen müsse das Gericht auch die Ergebnisse politischer Auseinandersetzungen und Machtkämpfe zur Kenntnis nehmen und respektieren: „Niemand, ..., hat jemals die Aussage bezweifelt, daß, ..., die Souveränität eines jeden Staates bei seinem Volk liegt und daß es nach seinem freien Willen seine Regierungsform ändern kann. Ob jedoch durch die Absetzung einer alten Regierung eine derartige Änderung stattgefunden hat und stattdessen eine neue Regierung eingesetzt wurde, ist eine Frage, die von
225
Vgl. a.a.O., S. 42.
226
A.a.O., S. 47.
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
der politischen Autorität geklärt werden muß. Und wenn diese Autorität zu einer Entscheidung gelangt ist, sind die Gerichte daran gebunden diese Entscheidung zur Kenntnis zu nehmen und ihr zu folgen." 227 Luther v. Borden wird allgemein so verstanden, daß Streitigkeiten um die in Art. IV, Section 4 der Verfassung zum Ausdruck kommende guarantee clause eine nichtjustitiable political question darstellen. Obwohl mit dieser Entscheidung ein Anfang gemacht worden war, dauerte es bis zum 20. Jahrhundert, bis die Umrisse einer entstehenden political question doctrine wirklich sichtbar wurden. In dem 1912 entschiedenen Fall Pacific States Telephone & Telegraph v. Oregon 228 ging es darum, ob die Verabschiedung eines Gesetzes im Wege eines neuen, in die Staatsverfassung von Oregon aufgenommenen Referendumsverfahrens eine Verletzung des oben erwähnten Rechtes auf eine republikanische Regierungsform nach Art. IV, Section 4 der Bundesverfassung darstellte. In Übereinstimmung mit der in Luther begründeten Rechtsprechung stellte der Supreme Court fest, daß „die Durchsetzung dieser Gewährleistung beim „political department" liege" 229 und lehnte es daher ab, die Frage zu entscheiden. Es sei Aufgabe des Gesetzgebers, die „political question" zu entscheiden, ob eine republikanische Regierungsform in Oregon vorliege. Aufgabe des Supreme Court sei es demgegenüber, im Hinblick auf die Ausübung von Kompetenzen durch eine Regierung die einschlägigen Verfassungsnormen durchzusetzen. 230 Oetjen v. Central Leather Co. 231 war der erste in einer Reihe von im 20. Jahrhundert zu entscheidenden Fällen, in denen Fragen der Auswärtigen Gewalt und deren Verhältnis zu political questions zu erörtern waren. Gegenstand der Kontroverse war hier die Frage, ob ein 1914 stattgefundener Kauf zwischen der revolutionären mexikanischen Regierung, die Waren beim Kläger beschlagnahmt hatte, und einer in Texas ansässigen Firma wirksam war, was, gewissermaßen als Vorfrage, die Entscheidung über die Legitimität der Revolutionsregierung erforderlich machte. Zunächst stellte der Supreme Court fest, daß der amerikanische Präsident die Revolutionsregierung 1915 de facto 227
A.a.O. Interessant ist das in diesen Worten zum Ausdruck kommende Zurückweichen vor der normativen Kraft des Faktischen, vor dem Endprodukt des politischen Kampfes. Es läßt sich darüber spekulieren, ob derartig weitreichende Äußerungen auch von Chief Justice Marshall zu hören gewesen wären. Jedoch ist das Zitat ein Beleg dafür, wie der Chief Justice in wichtigen Entscheidungen durch entsprechend ausgreifende Formulierungen den Ton angeben und damit das Gericht festlegen kann. 228
223 U.S. 118(1912).
229
A.a.O., S. 149.
230
A.a.O., S. 150.
231
246 U.S. 297 (1918).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
und 1917 de iure anerkannt habe und daß diese Anerkennung rückwirkend sei. Im übrigen sei eine weitere gerichtliche Prüfung nicht statthaft, die untergerichtliche Entscheidung sei daher zu bestätigen: „Die Pflege der auswärtigen Beziehungen unserer Regierung ist von der Verfassung der Exekutive und Legislative, mithin den „politischen" Gewalten zugewiesen, und die Frage danach, was in Ausübung dieser politischen Macht zulässig ist, ist nicht Gegenstand justizieller Untersuchung oder Entscheidung."232 Die Frage danach, „wer der rechtliche oder tatsächliche Herrscher über ein Territorium ist, ist keine juristische (Frage) sondern eine ,political question'; die Entscheidung dieser Frage durch die Legislativ- und Exekutivorgane einer jeden Regierung bindet die Richter in abschließender Weise ... Dieser Grundsatz wurde immer von diesem Gericht gebilligt und unter einer Vielzahl von Umständen bestätigt." 233 United States v. Curtiss-Wright Export Corp. 234 wird zum Teil ebenfalls als Anwendungsfall der political question doctrine erwähnt. Meines Erachtens paßt er jedoch besser in die Kategorie des sogenannten low level review und soll dort behandelt werden. 235 In Coleman ν. Miller 236 entschied die Mehrheit eines gespaltenen Supreme Court, daß die Frage, ob ein Bundesstaat nach einer vormaligen Ablehnung einem vorgeschlagenen Zusatzartikel zur Bundesverfassung nun doch noch zustimmen könne, eine nichtjustitiable political question sei. Auch die Frage, ob der einzelstaatliche Ratifikationsprozeß noch 13 Jahre nach Verabschiedung des Verfasssungszusatzes durch den Kongreß erfolgen könne, wurde als political question qualifiziert. 237 Colegrove v. Green m bildet den ersten in einer Reihe von Fällen, in denen versucht wurde, die, z.B. wegen der demographischen Entwicklung, als ungerecht empfundene Einteilung von Wahlkreisen mit Hilfe des Verfassungsrechts zu ändern (sog. Reapportionment Cases). In Colegrove schlugen die Antragsteller, Wähler aus dem Bundesstaat Illinois, den schon in anderen Rechtsstreitigkeiten erfolglosen Weg über die guarantee clause von Artikel IV, Section 4 der Verfassung ein. So ist es nicht gänzlich erstaunlich, daß 232
A.a.O., S. 302.
233
A.a.O. mit Verweis auf Jones v. United States, 137 U.S. 202, 212.
234
299 U.S. 304 (1936).
235
S. unten 3.b).bb).
236
307 U.S. 433 (1939).
237 A.a.O., S. 450: „... the question of the efficacy of ratifications by state legislatures, in the light of previous rejection or attempted withdrawal, should be regarded as a political question pertaining to the political departments with the ultimate authority in the Congress in the exercise of its control over the promulgation of the adoption of the amendment." 238
328 U.S. 549 (1946).
0
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
auch dieses Mal der Supreme Court, wenn auch nur mit einer knappen Mehrheit und unter Zuhilfenahme einer concurring opinion, den Rechtsstreit unter Berufung auf die mangelnde Justitiabilität des Problems zurückwies und damit den Antragstellern ein gerichtlicher Erfolg versagt blieb. Abgesetzt wurde die Entscheidung von Justice Felix Frankfurter, einem besonders prononcierten Anhänger richterlicher Zurückhaltung. Er argumentierte, „to sustain this action would cut very deep into the very being of Congress" und warnte das Gericht davor, sich in ein solches „politisches Dickicht" zu begeben.239 Etwaige Ungleichheiten bei der Wahlkreiseinteilung müßten in den Parlamenten ausgefochten werden. Im übrigen habe die Verfassung eine ganze Reihe von Problemfeldern dem politischen Prozeß zugewiesen: „Die Verfassung hat die Ausübung vieler Funktionen in unserem Regierungssystem so organisiert, daß sie von der Verfassungstreue der exekutivischen und legislativen Handlungen und — in letzter Konsequenz — von der Wachsamkeit des Volkes bei der Ausübung seiner politischen Rechte abhängen."240 Der Klageantrag sei demnach abzuweisen. Die drei dissentierenden Richter hingegen hielten die aufgeworfene Frage für justitiabel und hätten den Klägern, allerdings gestützt auf den Gleichheitsgrundsatz im 14. Verfassungszusatz, einen Erfolg nicht versagt. Es sollte noch 16 Jahre dauern, bis sich diese Position endgültig durchsetzen würde. Zuvor jedoch ist Chicago & Southern Air Lines, Inc. v. Waterman S.S. Corp. 24i erwähnenswert, ein weiterer Fall aus der Fallgruppe der „foreign affairs". Das Civil Aeronautics Board hatte Chicago & Southern eine bestimmte ausländische Flugroute genehmigt und die Entscheidung war vom Präsidenten bestätigt worden. Dagegen wollte Waterman vorgehen, scheiterte jedoch ebenfalls an der political question doctrine. Durch sein Plazet hatte der Präsident nach Ansicht des Supreme Court eine außenpolitische Entscheidung getroffen, die gerichtlicher Kontrolle entzogen sei: „Entscheidungen der Exekutive im Bereich der Außenpolitik sind ihrem Wesen nach politisch, nicht rechtlich. Solche Entscheidungen werden von unserer Verfassung gänzlich den politischen Gewalten der Regierung, (also) der Exekutive und Legislative, anvertraut. Sie sind heikel, vielschichtig und hängen in großen Teilen von Prognoseentscheidungen ab. Sie werden und sollten nur von denjenigen getroffen werden, die der Bevölkerung, deren Wohlergehen durch diese Entscheidungen gemehrt oder gefährdet wird, unmittelbar verantwortlich sind. Es
239
A.a.O., S. 556. Das anschauliche Bild vom „political thicket", das der Supreme Court meiden solle, wurde seit Frankfurters Äußerung zum geflügelten Wort, insbesondere auf Seiten der Kritiker eines seine Entscheidungskompetenzen angeblich allzu weit fassenden Gerichts. Vgl. Peltason, in: Oxford Companion, S. 653 f. 240
A.a.O., S. 556.
241
333 U.S. 103 (1948).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
71
handelt sich um Entscheidungen, die dergestalt sind, daß die Justiz für sie weder die Fähigkeit, noch die sachlichen Mittel, noch die (erwähnte) Verantwortlichkeitsanbindung hat; es besteht eine lang andauernde und gefestigte Rechtsprechung, wonach derartige Entscheidungen in das Aufgabenfeld der politischen Macht fallen, das nicht Gegenstand rechtlicher Einmischung oder Untersuchung ist." 242 Der ausgreifende Tenor dieser Entscheidung ist charakteristisch für die Einordnung von im weitesten Sinne außenpolitischen Entscheidungen der Exekutive in den Geltungsbereich der political question doctrine. Foreign Affairs und National Security bilden noch heute den häufigsten und unstreitigsten Anwendungsbereich der political question doctrine. 243 Der für das neuere Verständnis der political question wichtigste Fall ist Baker v. Carr 2 4 4 , der 1962 entschieden wurde. Wähler des Bundesstaates Tennessee wandten sich gegen die für beide Kammern des Staatsparlaments maßgebliche Wahlkreiseinteilung und stützten ihre Argumentation auf die equal protection-Klausel des 14. Amendment. Trotz der großen faktischen Ähnlichkeit mit Colegrove stellte der Supreme Court mit 7 : 2 Richterstimmen durch Justice Brennan fest, die Kontroverse stelle keine political question dar. Nach einer eingehenden Analyse früherer, von dieser Kategorie erfaßten Fälle schränkte Brennan den Anwendungsbereich der nun auch ausdrücklich als solcher benannten „political question doctrine" ein. Selbst die Außenpolitik sei nicht von vornherein gegenüber gerichtlicher Überprüfung immun, vielmehr komme es auf den Einzelfall an. Darüber hinaus betonte er, daß der Supreme Court als „ultimate interpreter of the Constitution" notwendigerweise die Entscheidungskompetenz darüber habe, ob eine bestimmte Thematik einer anderen Regierungsgewalt zugewiesen sei bzw. ob diese Regierungsgewalt ihre Kompetenzen überschritten habe.245 Hinsichtlich des konkret vorgetragenen Klagebegehrens der TennesseeWähler hob Brennan insbesondere darauf ab, daß das Begehren der Kläger nicht auf die guarantee clause, sondern auf die equal protection clause ge-
242
A.a.O., S. 111.
243
Insofern ist die nur zwei Jahre nach Chicago & Southern Airlines ergangene Youngs tow/î-Entscheidung (s.o. Fn. 95), in der Präsident Trumans auf National Security Argumente gestützte Position verworfen und ein exekutivischer Eingriff in die Stahlindustrie für verfassungswidrig erklärt wurde, bemerkenswert. Richter Black, der in Chicago and Southern Airlines dissentiert hatte, war der Autor von Youngstown. 244
369 U.S. 186 (1962).
245
A.a.O., S. 211.
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
stützt sei. Auch sei es in den guarantee clause- und anderen political question-Fällen um das Verhältnis zwischen der Judikative und den ihr gleichrangigen anderen Regierungsgewalten gegangen. Hier jedoch sei das Verhältnis der Bundesgerichtsbarkeit zu den Einzelstaaten angesprochen. 246 Brennan verstand die political question doctrine also als Ausdruck der Lehre von der Gewaltenteilung, die im Verhältnis Bund-Einzelstaaten keine oder zumindest eine geringere Bedeutung habe. Baker bot ihm zudem auch die Gelegenheit zu einem seither viel zitierten und von manchen als „endgültig" 2 4 7 eingestuften Kriterienkatalog, der political questions umschreiben sollte: „Prominent on the surface of any case held to involve a political question is found a textually demonstrable constitutional commitment of the issue to a coordinate political department; or a lack of judicially discoverable and manageable standards for resolving it; or the impossibility of deciding without an initial policy determination of a kind clearly for nonjudicial discretion; or the impossibility of a court's undertaking independent resolution without expressing lack of the respect due coordinate branches of government; or an unusual need for unquestioning adherence to a political decision already made; or the potentiality of embarrassment from multifarious pronouncements by various departments on one question."248
Nur wenn eines dieser Elemente untrennbar mit dem Fall verbunden sei, sei die Klage mangels Justitiabilität abzuweisen. Nach der Feststellung, daß Baker in keine der sechs Kategorien paßte, wurde die Streitigkeit als justitiabel eingestuft und an das Untergericht, das die Klage ursprünglich abgewiesen hatte, zur Entscheidung zurückverwiesen. In ihren ausführlichen Dissents wandten sich die Richter Frankfurter, der Autor von Colegrove, und Harlan gegen diese Ausdehnung der gerichtlichen Zuständigkeit des Supreme Court, die ihrer Ansicht nach den Präzedenzfällen Hohn sprach. Baker v. Carr gilt aus zwei Gründen als „landmark decision"; zum einen wegen seiner zumindest begrifflichen Systematisierung der political question doctrine, zum anderen aber auch wegen seiner Tendenz, deren Anwendungsbereich einzuengen, was wiederum ein Symptom für den bereits oben erwähnten juristischen „Aktivismus" des Supreme Court unter Chief Justice Earl Warren war. 249
246
A.a.O., S. 209 f.
247
Vgl. Tribe, Constitutional Law, § 3-13, S. 96, der allerdings selbst von dieser Endgültigkeit nicht überzeugt zu sein scheint. 248
369 U.S. 186,217 (1962).
249
Vgl. Grossman , in: Oxford Companion, S. 652.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
Baker löste eine ganze Reihe von reapportionment-Fällen aus. Erwähnenswert ist dabei besonders der zwei Jahre später entschiedene Fall Reynolds v. Sims. 250 Auf dem seit Baker erfolgversprechenden Weg über die equal protection-Klausel wurde hier die Wahlkreisaufteilung für das Parlament des Staates Alabama zu Fall gebracht. Unter Bezugnahme auf Baker erklärte der Supreme Court, daß die Behauptung, das Wahlrecht eines Bürgers werde durch falsch zusammengesetzte Wahlkreise weitgehend entwertet, im Lichte der equal protection-Klausel eine justifiable Rechtstreitigkeit darstelle und daß die equal protection-Klausel den Untergerichten handhabbare Kriterien für die Beurteilung von Wahlkreiseinteilungen in den Einzelstaaten liefere. 251 Schlagwortartig wurde Reynolds v. Sims als der Fall bezeichnet, der das Prinzip „one person, one vote" festschrieb und das Prinzip der Wahlrechtsgleichheit in besonderem Maße betonte. In Powell v. Mc Cormack 252 mußte sich das Gericht erneut mit der Grenzziehung zwischen seinen eigenen Kompetenzen und denen der Legislative befassen. Ausgangspunkt des Falles war ein Beschluß des Repräsentantenhauses, durch den der umstrittene Abgeordnete Adam Clayton Powell wegen angeblicher finanzieller und anderer Unregelmäßigkeiten aus dem Parlament ausgeschlossen werden sollte. Dagegen wandten sich Powell und eine Gruppe von Wählern aus seinem Wahlkreis mit ihrer Klage. Normative Grundlage der Streitigkeit waren Art. I, Sections 2 und 5 der Verfassung. Section 2 nennt drei Voraussetzungen für das passive Wahlrecht der Mitglieder des Repräsentantenhauses: der Bewerber muß 25 Jahre alt sein, seit mindestens 7 Jahren Bürger der Vereinigten Staaten sein und zur Zeit seiner Wahl Einwohner desjenigen Staates sein, in dem er gewählt wird. Andererseit regelt Section 5 die Disziplinargewalt des Parlaments und bestimmt, daß „(j)edem Haus das Prüfungsverfahren über die Wahl, die Abstimmungsergebnisse und die ,Wählbarkeitsvoraussetzungen' 253 seiner eigenen Mitglieder obliegt". Da Artikel I, Section 5 eine ausdrückliche Kompetenzzuweisung an den Kongreß enthält, war angesichts des ersten Baker-Kriteriums — „a textually demonstrable constitutional commitment of the issue to a coordinate political department" 254 — problematisch, ob nicht eine political question vorlag. Unter Hinweis auf seine Kompetenz-Kompetenz255 nahm der 250
377 U.S. 533 (1964).
251
A.a.O., S. 565 ff.
252
395 U.S. 486 (1969).
253
Der amerikanische Originaltext spricht von „qualifications".
254
369 U.S. 186, 217 (1962).
255 Vgl. dazu die Aussage in Baker v. Carr , 369 U.S. 186, 211 (1962): „Deciding whether a matter has in any measure been committed by the Constitution to another branch of government, or whether the action of that branch exceeds whatever authority has been
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
Supreme Court eine vor allem auf die Entstehungsgeschichte Bezug nehmende Interpretation der Verfassungsnorm vor und kam zu dem Schluß, daß Section 5 allenfalls bedeute, daß der Kongreß die ausdrücklich in der Verfassung genannten Wählbarkeitsvoraussetzungen seiner Prüfung zugrundelegen dürfe. 256 Die Kontrollkompetenz von Section 5 sei also durch die in Section 2 genannten Kriterien abschließend beschrieben. Da auch keines der anderen ins Feld geführten Zto/:er-Kriterien einschlägig sei, handle es sich somit um eine justitiable Streitigkeit und nicht um eine political question. In der Sache habe Powell die in Section 2 genannten Anforderungen erfüllt, so daß er auf der Grundlage einer korrekten Wahl einen Anspruch auf seinen Abgeordnetensitz gehabt habe. Das Repräsentantenhaus habe nicht die Befugnis gehabt, ihn auszuschließen. Powell v. McCormack war die letzte Entscheidung des Supreme Court unter Chief Justice Earl Warren. Bezeichnenderweise sah sich auch in ihr, wie schon in Baker, der Supreme Court nicht durch die political question doctrine daran gehindert, zu einer Entscheidung in der Sache zu gelangen.257 Unter Warren wurde somit die Doktrin beträchtlich eingeschränkt. Gilligan v. Morgan 15*, 1973 unter Warrens Nachfolger Burger mit 5 : 4 Richterstimmen entschieden, ist insofern von besonderem Interesse, als es den seit Baker ersten, und, soweit ersichtlich, auch seither einzigen Fall markiert, in dem die Anwendung der political question doctrine zur Ablehnung einer Streitsache als nicht justitiabel führte. 259 Das Gericht lehnte das Gesuch der Kläger ab, die verlangt hatten, Training, Bewaffnung und Befehlskette der Ohio National Guard an der due process-Klausel des 14. Amendments zu messen und bei einem Verstoß entsprechende Maßnahmen des vorbeugenden Rechtsschutzes anzuordnen. Begründet wurde diese Entscheidung damit, daß es gemäß Art. I, Section 8, Clause 16 Aufgabe des Kongresses sei, die Aktivitäten der Nationalgarde zu überwachen. Im übrigen fehlten dem Gericht jegliche juristisch handhabbaren Kriterien: „Es ist kaum ein besseres Beispiel für Regierungshandeln denkbar, das nach dem Zweck der Verfassung den politischen Gewalten überlassen werden sollte, die ja — im Gegensatz zur Judikative - dem Wähler direkt verantwortlich sind. Des weiteren kann man sich kaum einen Bereich innerhalb des Regierungshandelns denken, in dem
committed, is itself a delicate exercise in constitutional interpretation, and is a responsibility of this Court as ultimate interpreter of the Constitution." 256
395 U.S. 486, 548 (1969).
257
Anathema für den argumentativen Ansatz hierfür ist die - Baker bekräftigende - Aussage in Powell v. Mc Cormack: „(i)t is the responsibility of this Court to act as the ultimate interpreter of the Constitution", 395 U.S. 486, 549 (1969). 258
413 U.S. 1 (1973).
259
Vgl. Tribe , Constitutional Law, § 3-13, S. 105.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
Gerichte weniger kompetent wären. Die komplizierten, differenzierten und professionellen Entscheidungen in bezug auf Zusammensetzung, Ausbildung, Ausrüstung und Führung von Streitkräften sind im wesentlichen militärische Fachentscheidungen, die immer durch zivile Instanzen von Legislative und Exekutive überprüft werden. Die Letztverantwortlichkeit für diese Entscheidungen liegt dementsprechend bei den Gewalten, die in regelmäßigen Abständen dem Wähler Rechenschaft ablegen müssen." 260 Neben der bereits angedeuteten Neigung zu richterlicher Zurückhaltung spielte bei der Zuordnung von Gilligan zu den political question-Fällen sicherlich auch die Tatsache eine Rolle, daß mit dem Thema Nationalgarde bereits wieder der Bereich der National Security berührt war, in dem die Doktrin ihre hauptsächlichen Anwendungsfalle hat. In United States v. Nixon 261 bedienten sich die Anwälte des Präsidenten ebenfalls einer Art political question-Argumentes, wenn sie für ihren Mandanten in Anspruch nahmen, die Streitigkeit um die Herausgabe der Tonbänder bestehe nur innerhalb der Exekutive und sei daher nichtjustitiabel. Bekanntlich wies ein einstimmiger Supreme Court dieses, ansonsten unsubstantiierte Vorbringen zurück und betonte die Entscheidungskompetenz des Gerichts. Ein neuerer Fall, in dem die political question doctrine den Gegenstand einer innergerichtlichen Meinungsverschiedenheit bildete, ist Goldwater v. Carter? 62 Kongreßabgeordnete bestritten die Kompetenz des damaligen amerikanischen Präsidenten Carter, das Verteidigungsbündnis mit Taiwan zu beenden und erhoben Klage. Der Court of Appeals for the District of Columbia Circuit als dem Supreme Court vorgeordnete Instanz wies die Klage nicht mangels Justitiabilität ab, sondern entschied ausdrücklich, daß dem Präsidenten die fragliche Kompetenz zustehe. Der Supreme Court gewährte den writ of certiorari. Er hob jedoch ohne mündliche Verhandlung die Entscheidung des Court of Appeals auf und verwies sie mit der Maßgabe zurück, daß die Klage abzuweisen sei. Jedoch kam keine Mehrheit von 5 Richtern für die opinion von Justice Rehnquist zusammen, der, zusammen mit den Richtern Burger, Stewart und Stevens, der Ansicht war, „daß die grundlegende Frage, die von den Antragstellern in diesem Fall aufgeworfen wird, eine ,politische'
260
413 U.S. 1, 10 (1973) (Hervorh. i.O.). Gerade das Kriterium der in Baker so benannten Judicially manageable standards" ist offen genung, um von einem „aktivistischen" Supreme Court als Aufforderung zur Durchentscheidung, von einem mehr der richterlichen Zurückhaltung zuneigenden Supreme Court als (willkommener?) Grund für die Ablehnung einer Sachentscheidung zu dienen. Vgl. einerseits Baker v. Carr, 369 U.S. 186 (1962), andererseits Gilligan v. Morgan, 413 U.S. 1 (1973). 261 262
418 U.S. 683 (1974), vgl. auch oben I.2.d). 444 U.S. 996 (1979).
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
ist, weil es bei ihr um die Befugnis des Präsidenten zur Gestaltung der auswärtigen Beziehungen unseres Landes und um das Ausmaß geht, in dem der ... Kongreß ermächtigt ist, die Handlung des Präsidenten abzulehnen."263 Rehnquist stützte sich dabei vor allem auf Coleman und erwähnte den auf Baker aufbauenden 6 Punkte-Test nicht einmal. Nur durch die concurring opinion von Richter Powell, der den Fall nicht für entscheidungsreif (ripe) hielt, kam die für die Abweisung der Klage erforderliche fünfte Stimme hinzu. Richter Brennan, der Autor von Baker v. Carr 9 bemerkte in seinem abweichenden Votum: „... Mit der Aussage, dieser Fall stelle eine nicht justitiable ,political question4 dar, unterliegt Mr. Justice Rehnquist meines Erachtens einer gravierenden Fehleinschätzung des political question-Prinzips im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten. Richtig verstanden hindert die political question doctrine Gerichte an der Überprüfung einer außenpolitischen Entscheidung durch die zuständige politische Regierungsgewalt, der die Entscheidungskompetenz ,durch die Verfassung zugewiesen wurde' (unter Verweis auf Baker). Aber die Doktrin ist dann nicht einschlägig, wenn sich ein Gericht vor die Vorfrage gestellt sieht, ob eine bestimmte Regierungsgewalt durch die Verfassung zum Träger von ,political decision making power4 bestimmt wurde (unter Verweis auf Powell v. McCormack). Die Frage nach der Kompetenz zur Fällung von Entscheidungen ist als verfassungsrechtliches Problem zu lösen und fällt nicht in den politischen Entscheidungsspielraum; daher sind Gerichte für die Entscheidung dieser Frage zuständig."264
Dieser Wortwechsel zwischen Rehnquist und Brennan beleuchtet ein Problem, das dem amerikanischen Verfassungsrecht — wie es durch den Supreme Court interpretiert und fortgebildet wird - innewohnt: selbst eine dogmatisch scheinbar gefestigte Figur, für deren Anwendung ein Kriterienkatalog aufgestellt und von da an zumindest der Form nach angewandt wurde, kann sich unter den Händen einer neuen, bisweilen zufallig anmutenden Mehrheit des Gerichts wieder ändern. Rehnquist greift auf ein älteres „precedent" zurück und stellt damit die bisherige Rechtsprechung in Frage, Brennan bleibt die Rolle desjenigen, der, wortgewaltig aber aussichtslos, auf die bisher gängige Praxis verweist. Somit trägt die starke Individualisierung der Verfassungsrechtsprechung des Supreme Court auch zu einer latenten Instabilität dogmatischer Figuren, soweit sie überhaupt existieren, bei. Schließlich ist in diesem chronologischen Überblick auf den 1986 entschiedenen Fall Davis v. Bandemer 165 einzugehen. Der Fall hatte erneut das Problem der Wahlkreiseinteilung zum Gegenstand, jedoch lag diesmal der Akzent auf der als „gerrymandering" bezeichneten Praxis, Wahlkreise so einzuteilen, daß einseitig eine bestimmte ethnische Gruppe oder die Anhänger 263
A.a.O., S. 1002.
264
A.a.O., S. 1006 f.
265
478 U.S. 109 (1986).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
einer bestimmten Partei bevorzugt werden. 266 In Davis sahen sich Anhänger der demokratischen Partei des Staates Indiana durch die im Gefolge der Volkszählung von 1980 von der republikanischen Parlamentsmehrheit durchgeführte Neueinteilung der Wahlkreise in ihrem Gleichheitsrecht verletzt und klagten. Die für unsere Thematik relevante Frage war, ob das politische gerrymandering vom Supreme Court als justitiabel angesehen würde. Mit 6 : 3 Stimmen bejahte das Gericht diese Frage, wobei sich allerdings erneut keine Mehrheit für eine bestimmte opinion fand, sondern die Votenmehrheit über concurrences zustandekam.267 Unter Zugrundelegung der Baker-Standards komme, so die Mehrheit der Richter, bei Fällen des politischen gerrymandering dann eine Verletzung der equal protection-Klausel in Betracht, wenn die Schwelle einer Art prima facie-Beweis überschritten sei. Dazu sei der Nachweis einer diskriminierenden Verzerrung und Verwässerung des Gewichts der Wählerstimmen erforderlich. 268 In der Sache entschied das Gericht, daß ein derartiger Beweis im vorliegenden Fall nicht geführt werden könne, so daß eine Rechtsverletzung nicht gegeben sei. Richterin O'Connor vertrat in ihrem Dissent, dem der Vorsitzende Richter Burger und Richter Rehnquist beitraten, demgegenüber die Auffassung, politisches gerrymandering sei - im Gegensatz zum rassisch motivierten gerrymandering - eine political question, für deren Lösung die equal protection-Klausel des 14. Verfassungszusatzes keine brauchbaren verfassungsrechtlichen Entscheidungskriterien liefere. 269 Auch in der übrigen Rechtsprechung zur Wahlkreiseinteilung bleibt der Supreme Court seiner in Baker eingeschlagenen Linie treu. Jüngstes Beispiel dafür ist United States Department of Commerce v. Montana 27°, in dem es um die Methode ging, die der Kongreß zur Festlegung der jedem Einzelstaat zustehenden Abgeordnetenplätze im House of Representatives benutzte. Justice Stevens diskutierte für eine Gerichtsmehrheit die auf die political question doctrine gestützten Argumente, verwarf sie aber schließlich: „... Without the need for another exploration of the Baker factors, it suffices to say that, as in Baker itself and the apportionment cases that followed, the political question doctrine does not place this kind of constitutional interpretation outside the proper domain of the Judiciary." 271
266
Ausfuhrlich zum „gerrymandering" vgl. Elliot, in: Oxford Companion, S. 336 f.
267
478 U.S. 109, 118-127 (1986).
268
A.a.O., S. 143.
269
A.a.O., S. 144 ff.
270
1 18 L. Ed. 2d 87, 112 S.Ct. 1415 (1992).
271
118 L.Ed. 87, 102 (1992).
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
b) Systematisierung, Einschätzung durch die Rechtslehre und heutige Bedeutung aa) Systematisierung In Baker v. Carr hat Richter Brennan versucht, die für die Annahme einer political question relevanten Kriterien zu benennen: 1. die verfassungstextliche Verweisung der Entscheidungskompetenz an einen anderen Zweig der Staatsgewalt; 2. das Fehlen eines gerichtlich entdeckbaren und handhabbaren Standards zur Lösung der Frage; 3. die Unmöglichkeit einer gerichtlichen Entscheidung vor einer vorherigen politischen Ermessensentscheidung; 4. die Unmöglichkeit einer gerichtlichen Entscheidung ohne Verletzung der Achtung, die anderen gleichrangigen Zweigen der Staatsgewalt zusteht; 5. die ausnahmsweise bestehende Notwendigkeit, eine vorherige politische Entscheidung unhinterfragt zu übernehmen; 6. die Gefahr, daß durch unterschiedliche Verlautbarungen verschiedener staatlicher Gewalten zu ein und derselben Frage Verwirrung gestiftet wird. 2 7 2 Aus diesem, teilweise etwas redundant wirkenden, jedoch seit Baker häufig und unmodifiziert zitierten Kriteriengemisch lassen sich drei Leitideen herausdestillieren: 273 Nimmt, erstens, der Verfassungstext eine ausdrückliche Zuweisung des Problems an eine andere Staatsgewalt vor, so scheint für eine gerichtliche Intervention kein Platz zu sein. Andererseits zeigt etwa Powell v. McCormack, daß angesichts unklarer Verfassungsnormen dann doch wieder der Supreme Court den die Zuweisung vornehmenden Text auslegt, auf diese Weise den Inhalt der Zuweisung steuern und damit dem ersten Baker-Kriterium relativ leicht entgehen kann. Die zweite Leitidee, die vor allem in Kriterium Nr. 2 zum Ausdruck kommt, ist eine funktionale; wo dem Gericht die rechtlichen Entscheidungsparameter fehlen, soll es auch nicht entscheiden. Indessen kann man über die Entscheidungseignung verfassungsrechtlicher Kategorien sehr geteilter Ansicht sein, wie die Kontroverse um die equal protection-Klausel in Davis v. Bandemer 274 zeigt. Wo für die einen, angeführt von Richterin O'Connor, die272
Vgl. Baker v. Carr, 369 U.S. 186, 217 (1962), Übersetzung teilweise in Anlehnung an Brugger, Grundrechte, S. 18. 27 3
Brugger, a.a.O., S. 18, im Anschluß an Tribe , Constitutional Law, § 3-13, S. 96 ff.
274
S. oben, insbes. Justice O'Connors Dissent.
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se Klausel keinen juristisch handhabbaren Standard vermittelt, bietet sie fur andere, unter Berufung auf Baker v. Carr und Reynolds v. Sims, eben dies. 275 Noch unklarer ist Kriterium Nr. 3. Was ist eine „policy determination of a kind clearly for nonjudicial discretion" und wer entscheidet darüber? Hier, wie schon beim ersten Kriterium, stellt sich das Problem, daß der Supreme Court, will er nicht schon auf die bloße Behauptung einer politischen Streitigkeit durch eine der Parteien hin seine Zuständigkeit ablehnen, zunächst entscheiden muß, ob überhaupt eine political question vorliegt. Dabei muß er die von ihm selbst aufgestellten Kriterien interpretieren. Brennan hat dieses Problem der Kompetenz-Kompetenz in Baker gesehen und benannt.276 Jedoch liegt in ihm die Hauptschwäche jedes Versuchs, die political question doctrine formelhaft festzulegen. Dies wird auch in den die dritte Leitidee, Endgültigkeit der Entscheidung der politischen Organe bzw. Wahrung der Autorität der Regierungsgewalten im Außenverhältnis, beschreibenden Kriterien Nr. 4 - 6 deutlich. Sie enthalten schon semantisch keine Gesichtspunkte, die dazu geeignet wären, einer Betrachtung durch den Supreme Court vorauszuliegen und ihn damit zu leiten. Vielmehr sind sie in hohem Grade interpretationsbedürftig und damit nicht viel mehr als Ermahnungen an das Gericht, seine Kompetenzen nicht zu überspannen und das Gesamterscheinungsbild der in den USA regierenden Gewalten zu bedenken. Die vom Supreme Court entwickelte und von ihm so genannte political question doctrine stellt sich somit nicht als dogmatisch geschlossenes Gebilde dar. Sie ist vielmehr eine flexibel gehandhabte Rechtsfigur, die zur Ablehnung politisch brisanter Fälle, aber ebensogut zu deren Annahme taugt. Im letzteren Fall dient die Nennung ihres Namens und die, manchmal durchaus vorsätzlich erscheinende, erfolglose Subsumtion des streitigen Falles unter ihre unscharfen Kriterien der Legitimierung der Kompetenz des Supreme Court in einem besonders schwierigen, politischen Fall. Konsequent in diesem Sinne ist auch, daß sich richterlicher Aktivismus und richterliche Zurückhaltung in einer unterschiedlichen Handhabung der political question doctrine niederschlagen. Erlebte sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen bemerkenswerten Aufstieg 277 , wurde sie unter dem Warren-Court wieder deutlich eingeschränkt.
275 Vgl. Brennans Bemerkung in Baker : »judicial standards under the Equal Protection Clause are well developed and familiar ...", 369 U.S. 186, 226 (1962). 276
Vgl. oben Fn. 255.
277
Insoweit zutreffend Henkln, 85 Yale L. J. 597, 625 (1976).
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Unter Beachtung dieser dogmatischen und gerichtskonfigurativen Schwächen lassen sich dennoch einige Felder beschreiben, in denen die political question doctrine eine gewisse Rolle spielt. aaa) Außenpolitik, Nationale Sicherheit und Recht zur Kriegsführung Bei Fällen, die diesen Fragenkreis zum Gegenstand hatten, hat der Supreme Court regelmäßig unter Verweis auf den politischen Charakter der Kontroverse seine Rechtsprechungskompetenz verneint. Neben den oben erwähnten Fällen Oetjen, Chicago & Southern Air Lines und Gilligan ist hier auch die Haltung des Supreme Court gegenüber dem amerikanischen Engagement im Vietnam-Krieg zu nennen.278 Obwohl die Verfassungsmäßigkeit dieser „Kriegsfuhrung ohne Kriegserklärung" mehrfach Gegenstand untergerichtlicher Auseinandersetzungen war, äußerte sich der Supreme Court niemals dazu. Rechtsmittelanträge, die sich nicht damit abfinden wollten, daß die Untergerichte die aufgeworfene Streitfrage als political question einstuften und daher eine Entscheidung ablehnten, scheiterten. Der Supreme Court bestätigte entweder in einem summarischen Verfahren die Entscheidung des Untergerichts279 oder weigerte sich, den Fall überhaupt zur Entscheidung anzunehmen. 280 Über die Gründe dafür läßt sich spekulieren. In jedem Fall hätte auch nur das Abhalten einer mündlichen Verhandlung über die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Vietnam-Krieges die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt, daß in einer Kriegssituation, in der bereits tausende amerikanischer Truppen im Einsatz stehen, der Einfluß des Supreme Court, gleich wie seine Entscheidung ausfallt, begrenzt sein dürfte. Andererseits behielt sich das Gericht dadurch, daß es diese Frage offenließ, auch die Möglichkeit vor, später einmal zu dieser Thematik Stellung zu nehmen, eine Möglichkeit, die der Kongreß und insbesondere der Präsident in ihre Planungen miteinbeziehen müssen. Vielleicht hat sich der Supreme Court mit dieser auf eine gewisse Vorwirkung setzenden Handlungsweise noch den vergleichsweise größten Einfluß auf Verfassungsfragen in Kriegszeiten gesichert. 281
278 Vgl. dazu die ausführlichen Nachweise bei Henkin, 85 Yale L.J. 597, 623 f., Fn. 74 (1976). Zur entprechenden Kontroverse um das amerikanische Engagement in Nicaragua vgl. die Nachweise bei Mulhern, 137 Univ. of Pennsylvania L. Rev. 107, Fn. 27 (1988). 279 Vgl. z.B. Atlee v. Laird, 347 F.Supp. 689, nach summarischem Verfahren bestätigt unter dem Namen Atlee v. Richardson, 411 U.S. 911 (1973). 280
S. etwa Holtzman v. Schlesinger, 484 F.2d 1037, certiorari verweigert 416 U.S. 936 (1974). 281 Vgl. aber auch Tigar, Judicial Power, The „Political Question Doctrine", and Foreign Relations, 17 UCLA L. Rev. 1135, 1136 (1970), der sich dagegen wendet, daß die Bundesgerichte auf der Basis der political question doctrine ihre Rechtsprechungskompetenz zu amerikanischen Militäraktionen im Ausland verneinen.
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81
bbb) Guarantee Clause Auch bei Klagen, die auf die Behauptung gestützt waren, eine bestimmte Maßnahme verstoße gegen das jedem Einzelstaat von Art. IV, Section 4 der Verfassung gewährleistete Recht auf eine republikanische Regierungsform, hat der Supreme Court konsequent die Justitiabilität unter Verweis auf eine political question verneint. Der Bogen spannt sich hier von Luther über Pacific States zu Colegrove. Colegrove markiert jedoch auch schon die Achillesferse dieser Fallgruppe: Gelingt es den Klägern, ihr Begehren unter eine andere Verfassungsnorm, wie etwa die equal protection- oder die due processKlausel des 14. Amendment zu fassen, läuft die guarantee clause als Justitiabilitätssperre leer. 282 Gerade Baker v. Carr hat in den praktisch wichtigen Wahlkreiseinteilungsfallen diesen Schritt vorgezeichnet und dadurch die political question doctrine deutlich eingeschränkt. ccc) Verfahren zur Verfassungsänderung In Coleman wurde sowohl die Frage danach, ob ein Einzelstaatsparlament eine Änderung der Bundesverfassung nach vorheriger Ablehnung noch ratifizieren könne, wie auch die Frage, ob nach Verstreichen eines längeren Zeitraumes (in diesem Fall 13 Jahre) eine wirksame Ratifikation überhaupt noch möglich ist, ausdrücklich als political questions bezeichnet. Zwar handelt es sich wegen der geringen Zahl der - in den USA terminologisch und formal stets als Verfassungsergänzung („amendment") durchgeführten 283 — Verfassungsänderungen um eine seltene Fallgruppe innerhalb der political question doctrine, gänzlich ohne Bedeutung ist sie jedoch nicht, wie die jüngst diskutierte Kontroverse zum 27. Amendment zeigt. 284 Teilweise wird vertreten, daß das Verfahren zur Verfassungsänderung aus systemimmanenten Gründen der Kontrolle durch den Supreme Court entzogen sein müsse: Da die Verfassungsänderung die einzige Reaktionsmöglichkeit der Legislative auf ihrer Ansicht nach korrekturbedürftige verfassungsgerichtliche Entscheidungen sei, dürfe die Judikative darüber nicht befinden. 285 Diesem Argument ist al-
282 Brugger, Grundrechte, S. 18, bildet denn auch mit „demokratische Mitwirkungsrechte auf Gliedstaatenebene" eine von der jeweils in Anspruch genommenen Verfassungsnorm unabhängige Kategorie. 283
S. etwa den 18. und den 21. Zusatzartikel.
284
Vgl. dazu Brugger, Ein amerikanischer Vorschlag zur Kontrolle von Diätenerhöhungen, ZRP 1992, 321 f. 285
Vgl. Scharpf, Judicial Review, S. 589. Vorsichtig zustimmend offenbar auch Nowak/ Rotunda, Constitutional Law, S. 110 f. m.w.N. Viel zurückhaltender demgegenüber noch Scharpf in: Grenzen, S. 253 f., wo er Richter Blacks Behauptung, das Verfassungsänderungsverfahren sei völlig der richterlichen Kontrolle entzogen, als eine ohne weitere Begründung vorgetragene petitio principii entlarvt. 6 Rau
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
lerdings entgegenzuhalten, daß die in Marbury begründete Normenkontrollkompetenz des Supreme Court, wonach es „ganz entschieden das Wesen und die Pflicht der Gerichtsbarkeit (ist), zu sagen, was das Recht ist" 2 8 6 , eine umfassende ist, so daß zumindest das Verfahren der Verfassungsänderung einer Verfassungskontrolle wird unterzogen werden können und sogar müssen. Inwieweit bei einer Verfassungsänderung auch eine Inhaltskontrolle seitens des Supreme Court stattfinden kann und soll, und ob es „verfassungswidriges Verfassungsrecht" als Rechtsfigur überhaupt gibt, ist ein ganz anderes Problem, das übrigens in der amerikanischen Verfassungsrechtsliteratur, soweit ersichtlich, nicht diskutiert wird. 2 8 7 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß nach geltender Rechtsprechung das Verfahren zur Verfassungsänderung wohl als political question einzustufen ist, daß dies aber weder aus dem Verfassungstext noch aus verfassungsimmanenten Überlegungen zwingend folgt. ddd) Sonstige Fälle Das Impeachment Verfahren zur Amtsenthebung insbesondere des Präsidenten soll nach Ansicht mancher Stimmen in der Literatur ebenfalls ein Anwendungsfall der political question doctrine sein. 288 Da jedoch die Doktrin auf der Rechtsprechung des Supreme Court aufbaut und da zum Impeachment keine entschiedenen Fälle vorliegen, handelt es sich um eine spekulative Kategorie, die zu ihrer Verifikation bzw. Falsifikation höchstrichterlicher Entscheidung bedürfte. bb) Einschätzung durch die Rechtslehre Mit Tribe 289 lassen sich für die political question doctrine drei verschiedene Theorien unterscheiden, die sich mit der Rolle des Supreme Court gegenüber den anderen Regierungsgewalten befassen und die alle auf die wegweisende Entscheidung Baker v. Carr gestützt werden können.
286
Marbury v. Madison , 1 Cranch (5 U.S.) 137, 177 (1803).
287
Allein Scharpf vermerkt, vermutlich beeinflußt von der deutschen Sichtweise, „it is by no means inconceivable that an amendment might be unconstitutional", s. Judicial Review, S. 589. 288 Vgl. Nowak, Rotunda , Constitutional Law, S. 112 im Anschluß an Wechsler, Dagegen Raoul Berger , zitiert nach Grossman , in: Oxford Companion, S. 652 f. 289
Constitutional Law, § 3-13, S. 96.
ebd.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
aaa) Die klassische Theorie Nach der ersten, der sogenannten klassischen Sichtweise soll das Gericht, basierend auf Marbury v. Madison , grundsätzlich alle Fälle entscheiden. Ausnahmen sollen nur dort gelten, wo das Gericht zur Auffassung gelangt, daß die Verfassung selbst die Entscheidung einer Streitfrage einer anderen Regierungsgewalt zuweist. Diese Ansicht korrespondiert, so Tribe, mit dem ersten der 6 Baker-Kriterien. Gestützt wird dieser „approach" von Herbert Wechsler, der die Verantwortung des Gerichts zur Wahrnehmung seiner Verfassungskontrollfünktion betont und feststellt, daß „die einzige korrekte Entscheidung, die dazu führen kann, daß das Gericht (einen Fall) nicht entscheidet, darauf beruht, daß die Verfassung die Sachentscheidung in die Hände einer anderen als der Gerichtsgewalt gelegt hat". 290 bbb) Die prudentielle Theorie (Bickel) Der zweiten Theorie, die amerikanisch als „prudential" bezeichnet wird, geht es vor allem darum, das Gleichgewicht der Gewalten und das Ansehen des Gerichts aufrechtzuerhalten, mag dies auch gelegentlich nur um den Preis einer richterlichen Nichtentscheidung möglich sein. Die Ztafer-Kriterien Nr. 4—6 spiegeln diese Überlegungen wider. Einer der Hauptvertreter dieser Strömung ist Alexander Bickel, der - im Gegensatz zu Wechsler - folgenden Test vorgeschlagen hat: „Die sowohl intellektuelle als auch instinktive Grundlage der political-question doctrine ist folgende: Das Fühlen des Gerichts darum, daß es nicht in der Lage ist zu entscheiden, wobei dieses Nicht-in-der-Lage-sein teils auf der Fremdheit des im Fall aufgeworfenen Problems und teils darauf beruht, daß es (i.e. das Problem, C.R.) einer grundlegenden Lösung nicht zugänglich ist; die schiere Folgenschwere des Problems, die dazu neigt, eine richterliche Entscheidung aus dem Gleichgewicht zu bringen; die Besorgnis, nicht so sehr darum, daß die richterliche Entscheidung ignoriert werden wird, sondern vielleicht eher darum, daß sie ignoriert werden sollte, aber letztlich doch nicht wird; schließlich (,in einer reifen Demokratie 4 ) die innere Verletzbarkeit und die Selbstzweifel einer Institution, die den Wählern nicht verantwortlich ist und auf keinem demokratisch unmittelbar legitimierten Boden steht, von dem sie ihre Kraft beziehen könnte."291
290
Wechsler, Toward Neutral Principles of Constitutional Law in: Principles, Politics and Fundamental Law, S. 13. Über Wechsler hinausgehen und die political question doctrine ganz aufgeben will neuerdings Redish, Judicial Review and the „Political Question", 79 Nw. U.L. Rev. 1031, 1059 ff. (1985). Seiner Ansicht nach überwiegen die durch eine Nichtausübung der richterlichen Funktion der Gesellschaft und dem Gericht selbst verursachten „moral costs" die etwaigen Vorteile bei weitem. 291
Alexander Bickel, The Least Dangerous Branch, S. 184, sinngemäße Übersetzung. Beachte dazu eine Einschätzung des Bickelschen Ansatzes aus neuerer Zeit: „In part, this
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
ccc) Die funktionell-rechtliche Theorie (Scharpf) Schließlich verweist Tribe auf den letzten Ansatz in der Theorientrias, die auf Fritz Scharpf zurückgehende „funktionell-rechtliche" 292 Theorie, und verknüpft sie mit den Zta&er-Kriterien Nr. 2 und 3. Scharpf unterzieht in seinem amerikanischen law review-Beitrag 293 zunächst die beiden eben skizzierten Theorien einer kritischen Überprüfung. In bezug auf die „klassische" Theorie bemerkt er im Anschluß an Bickel, daß dem Gericht ein ganzes Arsenal von Zulässigkeitsvoraussetzungen zur Verfügung stehe, mit denen es seine Entscheidungskompetenz verneinen könne. Insbesondere ripeness und standing gäben dem Gericht einen beträchtlichen Spielraum „um Verfassungsfragen zu vermeiden, von denen die Entscheidung eines konkreten Falles abhängen würde"; ein derartiges Verhalten stehe tendenziell im Widerspruch zu den Voraussetzungen der „klassischen" Theorie. 294 Ein weiteres Hindernis, das der Verwirklichung des in Marbury ausgesprochenen extensiven Verfassungskontrollmandats entgegenstehe, liege im amerikanischen Prozeßrecht selbst begründet: Da der Supreme Court nicht mit der Sachverhaltsermittlung betraut sei, sondern sich auf die von den Parteien präsentierten „facts and figures" verlassen müsse, müsse er sich in all jenen Fällen selbstverständlich richterlicher Zurückhaltung befleißigen, in denen seine begrenzte Fähigkeit zur Sachverhaltserforschung den für den Fall maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen Gewalt antun könnte. 295 Zusammenfassend leide der „klassische" Ansatz an zwei Mängeln: Erstens gelinge es ihm nicht, ein Interpretationsmuster zu entwickeln, mit dem die verschiedenen Fallgruppen der political question cases mit der Verfassung in Beziehung gesetzt werden könnten. Zweitens sei er nicht in der Lage zu erklären, wie innerhalb der Fallgruppen gerade die political question-Entscheidungen aus den spezifischen verfassungsrechtlichen Kompetenznormen hergeleitet werden könnten. Daher müsse man mit Bickel der „klassischen" Theorie entgegenhalten: „The political question doctrine simply resists being domesticated in this fashion". 296
»prudential' version of the political question doctrine is characterized by an attitude that could legitimately be called Realpolitik4: the Court must survive in an often hostile political world, and the best way to accomplish that feat and simultaneously maintain its legitimacy is to pick its fights." Redish , Judicial Review and the „Political Question", 79 Nw. U.L. Rev. 1031 (1985), S. 1032. 292
Zum Ursprung des Begriffs vergleiche Scharpf.\ Grenzen, S. 404 Fn. 454. Zur Idee der funktionell-rechtlichen Grenzen in der Rechtsprechung des BVerfG s. unten C.II.5.c). 293 Judicial Review and the Political Question: A Functional Analysis, 75 Yale L.J. 517-597 (1966). 294
A.a.O., S. 523.
295
A.a.O., S. 529.
296
A.a.O., S. 548, und ders ., Grenzen, S. 392.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
Doch auch der von Bickel und anderen vertretene „prudentielle" Ansatz begegnet Scharpfs Kritik. Ausgangspunkt der Beurteilung ist seine Feststellung, daß es Bickel mehr darum gehe, was das Gericht tun soll und nicht das, was es tatsächlich tut, was eine auf empirische Erkenntnisse gestützte Kritik unmöglich mache. 297 Dennoch müsse die Wünschbarkeit von Bickels These diskutiert werden. In der Tat scheint Bickel die Funktion des Supreme Court in political question-Fällen auf die eines Lehrers und Mahners reduziert sehen zu wollen: „Selbst wenn er (der Supreme Court, C.R.) sich in letzter Konsequenz der Notwendigkeit, das heißt der Entscheidung der politischen Institutionen beugen muß, so kann er dennoch enormen Einfluß ausüben. Er ist vielleicht nicht in der Lage, seine grundsätzliche Macht als eine Regierungsgewalt auszuüben, die dafür verantwortlich ist, Prinzipien in positives Recht zu übertragen; aber er braucht deshalb nicht seine damit in Zusammenhang stehende Rolle als ,teacher to the citizenry' aufzugeben ... Im amerikanischen Leben wird der Supreme Court im Hinblick auf die ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden rhetorischen Mittel nur noch vom Präsidenten übertroffen. Daher ... kann der Gerichtshof also das auf dem Spiel stehende Prinzip benennen und positiv hervorheben und auf diese Weise auch dessen Integrität schützen." 298 Scharpf exemplifiziert diese Haltung am Votum von Richter Jackson in Korematsu v. United States 299, dem 1944 entschiedenen Fall, in dem eine Mehrheit des Supreme Court die Verbringung von japanischstämmigen Amerikanern in Internierungslager während des Zweiten Weltkriegs fur verfassungsgemäß erklärt hatte. Jackson hielt demgegenüber die Internierungsmaßnahme für verfassungswidrig. Da er aber offenbar der Ansicht war, der Supreme Court könne die militärische Gewalt im Krieg nicht auf die Einhaltung der Verfassung verpflichten, sprach er sich für die Anwendung der political question-Doktrin aus, offenbar um eine mögliche Diskrepanz zwischen Verfassungstext und politisch-militärischer Realität gar nicht erst sichtbar werden zu lassen.300 Scharpf wendet sich zu Recht gegen diese Form von verfassungsgerichtlicher Kapitulation gegenüber der Wirklichkeit. Selbst die von Bickel postulierte „Edukativfünktion" des Supreme Court müsse doch dort leerlaufen, wo das Gericht auf die Durchsetzung der von ihm betonten Prinzi-
297
A.a.O., S. 562.
298
Bickel, a.a.O., S. 187 f.
299
323 U.S. 214, 242-248 (Richter Jackson, Dissent) (1944). Vgl. dazu auch oben
Fn. 92. 300
Vgl. dazu die oben erwähnte Haltung des Supreme Court zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Einsatzes amerikanischer Truppen im Vietnam-Krieg.
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
pien von sich aus verzichte: „Welche Überzeugungskraft sollte einer Interpretation zukommen, die der Interpret selbst nicht auf die Wirklichkeit angewandt wissen möchte?" 301 Statt wie Bickel Jenen Realismus in der Verfassungsinterpretation, der notwendige Bedingung fur ihre Wirksamkeit ist" zu opfern 302 und durch richterliche Abstinenz Diskrepanzen zwischen Verfassungsdokument und (nicht immer verfassungskonformer) Wirklichkeit zuzudecken, versucht Scharpf, die political question-Rechtsprechung mit der Verfassung zu versöhnen. Dazu bedient er sich einer „fiinktionell-rechtlichen" Theorie, deren wesentliche Elemente wir seiner zu diesem Thema veröffentlichten deutschen Monographie 303 entnehmen wollen. Ausgangspunkt ist fur Scharpf zunächst eine Negativabgrenzung: Angesichts der vielfaltigen (oben 1. beschriebenen) Verfahrens- wie materiellrechtlichen Instrumente zur Nichtentscheidung werde die political question-Doktrin fur ein „opportunistisches Ausweichen vor riskanten Fällen oder explosiven Fragen" nicht benötigt. 304 Auch würden weder das etwaige Fehlen relevanter Rechtsnormen noch das Erfordernis, anderen Regierungsorganen den notwendigen Entscheidungsspielraum einzuräumen, die Doktrin erforderlich machen. Vielmehr handele es sich bei political questions um Rechtsfragen, fur deren Entscheidung das Gericht ausnahmsweise nicht die Verantwortung übernehmen könne. 305 Erster Grund dafür sei, insbesondere in Entscheidungen zur Außenpolitik, ein Informationsdefizit, das sich auf gerichtlichem Wege nicht beheben lasse. Zum zweiten benennt Scharpf die Notwendigkeit einheitlicher Entscheidungen, ein Kriterium, das insbesondere bei solchen Streitigkeiten zum Tragen komme, bei denen völkerrechtliche Vertretungsregeln und geographische Zuständigkeitsgrenzen der international zu respektierenden Gerichtsgewalt des Supreme Court ohnehin Schranken setzten. Dieses zweite Kriterium entspricht in etwa den Baker-Ksitenen Nr. 5 und 6. Als drittes der Scharpfschen Kriterien soll die „Respektierung spezifischer Verantwortungsbereiche der politischen Organe" gelten, ein Gedanke, der sich auch bei Baker unter Nr. 3 und 4 wiederfindet. Scharpf räumt dabei ein, daß die Grenzziehung hier ganz besonders schwierig sei und deutet das Problem an, daß bei einer solchen Kategorie die Gefahr besteht, daß das Gericht umso weniger zu einer Entscheidung bereit ist, je flagranter die durch die Exekutive
301
Scharpf,\ Judicial Review, S. 565, bzw. ders., Grenzen, S. 403.
302
Scharpf\ Judicial Review, S. 565.
303
Grenzen derrichterlichen Verantwortung. Die political-question-Doktrin in der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court, Karlsruhe 1965. S. insb. S. 404 ff. 304
A.a.O., S. 404.
305
A.a.O., S. 405.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
begangenen Verfassungsverstöße sind. Dies ist, wie oben ausgeführt, eine Konsequenz der Bickelschen Theorie, die unter funktionell-rechtlichen Aspekten doch gerade hätte vermieden werden sollen. Einschränkungen der political question doctrine will Scharpf an zwei Stellen vornehmen. Zum einen dann, wenn Grundrechte den Gegenstand des Verfahrens bildeten. Damit läßt sich etwa Baker v. Carr erklären, wo es entscheidend um eine mögliche Entwertung des Wahlrechts ging, das als Ausdruck des status activus eines Bürgers Grundrechtscharakter hat. Die Qualifizierung einer derartigen Streitigkeit als political question würde gerade der Gewalt schlecht anstehen, deren wesentliche Funktion der Grundrechtsschutz sei. Da man zudem das Begehren der Kläger nicht nur unter der vagen guarantee clause, sondern auch unter der die Verfassungskontrolle im 20. Jahrhundert entscheidend verstärkenden equal protection clause fassen könnte, gelangte man zur Justitiabilität von Baker. Zum anderen neige das Gericht in (horizontalen) Kompetenzkonflikten ebenfalls zu einer Sachentscheidung, selbst wenn damit Gefahren verbunden seien, denen es ansonsten mit Hilfe der Annahme einer political question entgehen könne. Als Beispiel hierfür nennt Scharpf selbst den Steel Seizure Case306, in dem trotz des offenkundigen Informationsproblems das Gericht sich verpflichtet gefühlt habe, den Kompetenzstreit zwischen Präsident und Kongreß zu entscheiden. Seinem Raster nicht ohne weiteres zuordnen kann Scharpf die Entscheidungen zur guarantee clause sowie die auf das Verfassungsänderungsverfahren bezogene Entscheidung Coleman ν. Miller 307 und damit interessanterweise zwei Fallgruppen, die sonst als Standardanwendungsfalle der politcal question gelten. Seine Hoffnung auf eine weitere gerichtliche Konkretisierung der Maßstäbe bei der guarantee clause hat sich (bisher) nicht erfüllt. ddd) „Es gibt keine political question doctrine" (Henkin) Louis Henkin stellte in einem 1976 veröffentlichten Aufsatz 308 die Frage danach, ob es überhaupt eine Rechtsfigur namens „political question doctrine" gibt, bzw. ob es einer solchen Doktrin bedarf. Natürlich gebe es in einem gewaltenteiligen Staat politische Fragen. Von einer political question doctrine, die diesen Namen verdiene, könne indessen seiner Ansicht nach nur ge306
Youngstown Sheet & Tube Co. v. Sawyer , 343 U.S. 579 (1952), vgl. oben I.2.c).
307
S. dazu bereits oben 2.a).
308 Louis Henkin, Is There a „Political Question" Doctrine?, 85 Yale L.J. 597 (1976). Henkin nimmt zwar zu Wechslers und Bickels Thesen Stellung. Scharpf und sein funktionell-rechtlicher Ansatz werden hingegen leider mit keinem Wort erwähnt.
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
sprochen werden, wenn „some issues which prima facie and by usual criteria would seem to be for the courts, will not be decided by them but, extra-ordinarily, left for political decision". 309 Zwischen solchem ausnahmsweisen Nachgeben der Gerichte gegenüber möglicherweise verfassungswidrigem Handeln der anderen Regierungsgewalten und dem üblicherweise von Gerichten den Sachentscheidungen dieser Gewalten entgegenzubringenden Respekt müsse unterschieden werden; da dies nicht geschehe, herrsche eine beträchtliche begriffliche und inhaltliche Verwirrung. Henkin vertritt die Auffassung, daß der Supreme Court, wenn er unter Berufung auf die political question doctrine einen Fall angeblich nicht entscheide, ihn in Wahrheit inhaltlich eben doch entschieden habe. 310 So habe sich das Gericht in Luther v. Borden nicht etwa geweigert, die Verhaltensweisen von Kongreß und Präsident (die sich hinter die alte, auf die Charter gegründete Regierung gestellt hatten) einer Verfassungskontrolle zu unterziehen. Im Gegenteil habe es darauf erkannt, daß die Handlungen von Kongreß und Präsident sich innerhalb von deren Kompetenzen bewegten und keine Grenzen oder Verbote verletzten. 311 Auch die einschlägigen Foreign Affairs-Entscheidungen seien Entscheidungen in der Sache gewesen, und zwar jedesmal mit dem Ergebnis, daß der Präsident innerhalb seiner Kompetenzen gehandelt habe. 312 Selbst den ersten großen Wahlkreiseinteilungsfall, Colegrove v. Green, könne man als Entscheidung in der Sache auffassen, wonach das Gericht eben festgestellt habe, daß nur der Kongreß zur Entscheidung über den Wahlmodus berufen sei. 313 Einzig Pacific States bringe das Ausmaß an „deference" zum Ausdruck, das nach Henkins Definition für eine wahre political question kennzeichnend sein soll. Jedoch sei die Herleitung dieser Entscheidung aus Luther nicht zwingend, und sie könne für sich betrachtet wohl kaum eine eigene Doktrin begründen. Von diesen Einzelfällen abgesehen stünden noch die Voten der Richter Black, Roberts, Frankfurter und Douglas in Coleman ν. Miller für eine „echte" political question doctrine; da es sich jedoch nur um concurren309
A.a.O., S. 599.
310
Ähnlich insoweit auch Mc Cormack, The Justiciability Myth and the Concept of Law, 14 Hastings Const. L.Q. 595 (1987). Nach seiner Ansicht kann die political question doctrine aus Gründen der Logik gar nicht existieren; die Ablehnung einer gerichtlichen Sachentscheidung mit der Begründung, ein Regierungshandeln bewege sich nicht im justitiablen Bereich und die Regierung habe eine Verfassungskontrolle insoweit selbst vorzunehmen, ist nach Mc Cormacks Ansicht mit einem Richterspruch, der das inkriminierte Handeln für verfassungsgemäß erklärt, äquivalent. 3,1
Henkin, a.a.O., S. 608.
312
A.a.O., S. 612: „None of those cases, I conclude, involved abstention from judicial review, or other extra-ordinary deference to the President." A.a.O., S.
.
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ces und nicht um die die Entscheidung tragenden Begründungen handele, sei auch dieser Fall zur Begründung einer political question doctrine nicht geeignet. 314 Zusammenfassend verwirft Henkin daher die political question doctrine als Rechtsfigur des Supreme Court. Sie sei eine irreführende Mischung einiger anderer juristischer Denkfiguren, deren Kernsätze wie folgt zusammengefaßt werden könnten: 315 (1) Die Gerichte müssen Entscheidungen der politischen Regierungsgewalten, die diese innerhalb ihrer verfassungsmäßigen Kompetenzen treffen, akzeptieren. (2) Die Gerichte werden den Kompetenzen der politischen Regierungsgewalten keine Grenzen oder Verbote setzen, solange die Verfassung keine vorschreibt. (3) Nicht alle verfassungsrechtlichen Grenzen oder Verbote beinhalten („subjektiv-öffentliche") Rechte und Standing zugunsten privater Prozeßparteien. (4) Die Gerichte können die Gewährung einiger (oder sämtlicher) Rechtsbehelfe wegen „want of equity" ablehnen.316 (5) Es gibt möglicherweise Verfassungsnormen, die als „self-monitoring" anzusehen und daher einer richterlichen Überprüfung entzogen sind. Henkin ist zunächst ein einfaches Textargument entgegenzuhalten. Der Supreme Court selbst hat eine von ihm als political question doctrine bezeichnete Rechtsfigur entwickelt und Fallgruppen benannt, in denen er unter Berufung auf diese Doktrin seine Rechtsprechungskompetenz verneint. 317 Weiterhin wurde, insbesondere in Baker v. Carr, versucht, der Doktrin theoretisch faßbare Konturen zu geben. Durch sie wird für nachfolgende Entscheidungen zumindest ein gewisser Legitimations- und Erklärungsdruck auf das Gericht ausgeübt. 3.4
A.a.O., S. 614.
3.5
A.a.O., S. 622 f.
316
Vgl. dazu a.a.O., S. 606, 617-622. Im englischen und frühen amerikanischen Recht gab es für „legal" remedies und „equitable" remedies getrennte Gerichte. Auf diese im 19. Jahrhundert beseitigte Tradition scheint Henkin anzusprechen, wenn er dem Supreme Court zubilligt, die Gewährung von traditionell „equitable" remedies fallweise abzulehnen. 317 So auch Redish, Judicial Review and the „Political Question", 79 Nw. U.L. Rev. 1031 (1985), S. 1033 f. Henkin räumt denn auch in einer späteren Veröffentlichung implizit die Existenz der political question doctrine ein, beschränkt sich aber im übrigen darauf, ihre „Veijüngung und Ausdehnung auf andere Bereiche" zu beklagen und zu verkünden: „I do not like the political question doctrine". Henkin , Lexical Priority or „Political Question": A Response, 101 Harv. L. Rev. 524, 529 f. (1988).
0
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
Entscheidender ist jedoch ein anderes Problem, das auch Henkin keiner befriedigenden Lösung zufuhrt: wo behandelt das Gericht reine Fragen der Zulässigkeit, wo wendet es sich inhaltlichen Vorfragen zu, und wo fängt die Entscheidung in der Sache an? Es ist Henkin zuzugeben, daß der Supreme Court selbst zwischen diesen Fragen meistens nicht klar trennt. Dennoch ist es dann nicht zulässig, ohne weitere Begründung zu behaupten, das Gericht habe in der Sache entschieden. Darüber hinaus ist etwa das von Henkin als (2) angebotene Kriterium, wonach die Gerichte den Kompetenzen der politischen Regierungsgewalten so lange keine Grenzen oder Verbote setzen, wie die Verfassung keine vorschreibt, nicht erhellender, da es die bereits erwähnte Problematik der Kompetenz-Kompetenz nicht berücksichtigt. Wenn der Supreme Court — wie etwa in Powell v. McCormack — angesichts einer auslegungsbedürftigen Verfassungslage mehrere Normen zueinander in Bezug setzt und damit am Ende doch zu seiner materiellen Entscheidungskompetenz gelangt, so ist es das, was von anderen Gewalten als gegeben hinzunehmen ist. Das Gericht setzt sich nun einmal in Ermangelung einer insoweit übergeordneten Instanz die Grenzen wie auch die Parameter seiner Verfassungskontrolle selbst, wenn nicht der Wortlaut der mehr als 200 Jahre alten Verfassung eindeutige Vorgaben enthält. Daher, und darin liegt Henkins Fehler, kann niemand außer dem Gericht selbst in verbindlicher Weise feststellen, ob eine Entscheidung auf der Nichtjustitiabilität der Streitsache beruht, oder ob es sich um eine Entscheidung in der Sache selbst handelt. Selbst wenn der außenstehende Beobachter vom Gegenteil überzeugt ist, zu befolgen ist allein das, was der Supreme Court festlegt. Dort, wo die Exekutive, z.B. durch Anerkennung eines Staates, durch Entsendung von Truppen oder anderweitig Fakten geschaffen hat, gilt die Aussage von der Kompetenz-Kompetenz des Gerichts nur eingeschränkt; der Supreme Court wird mit realistischem Blick auf die tatsächlichen Auswirkungen seiner Entscheidung lieber die Justitiabilität verneinen, als entweder eine problematische Maßnahme gutzuheißen oder aber in Kauf nehmen, daß trotz einer Feststellung der Verfassungswidrigkeit dem Richterspruch keine entsprechenden Konsequenzen folgen. Dies entspricht nicht nur politischer Klugheit und dient dazu, das Gericht vor einem etwaigen Autoritätsverlust wegen Nichtbefolgung seiner Entscheidungen zu bewahren. Es ist auch dogmatisch systemgerecht: wird eine Kontroverse als political question behandelt und somit in der Sache nicht entschieden, so kommt diesem Richterspruch im Gegensatz zu einer Sachentscheidung eine weit geringere Bedeutung als „precedent" zu. Zwar wird es schwierig sein, zwei einander faktisch sehr ähnliche Fälle einmal als nichtjustitiabel und ein anderes Mal als justitiabel einzustufen. Wie einerseits Colegrove v. Green und andererseits Baker v. Carr zeigen, ist dies jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen. Entscheidend war dabei,
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daß man über eine andere Verfassungsnorm eine neue Einbruchsteile für die gerichtliche Beurteilung fand, eine Vorgehensweise, die in dem nur von wenigen, lückenhaften Kompetenznormen gekennzeichneten Handlungsfeld der Exekutive schwerer anzuwenden sein dürfte. eee) Neuere Tendenzen Die political question doctrine und ihre verfassungsrechtliche Legitimation sind bis heute umstritten. 318 Unter den Stimmen, die sich in der neueren Diskussion fur die political question doctrine aussprechen, ragt Mulhern heraus. 319 Er verteidigt die Doktrin damit, daß er ihre Ablehnung 320 als Ausdruck eines seiner Ansicht nach verfehlten Justizmonopolargumentes interpretiert. Die Gerichtsbarkeit sei gerade nicht die einzige Institution, die die Kompetenz zur Verfassungsinterpretation und zum Schutz der Verfassung habe. Dem stellt Mulhern die These an die Seite, daß es weite Bereiche gebe, in denen der Supreme Court traditionellerweise dem Gesetzgeber einen weiten Einschätzungs- und Maßnahmenspielraum gewähre. Im Sinne eines „divided responsibility"-Modells teilten sich das Gericht und die anderen Gewalten die Verantwortung der Verfassungsinterpretation, wobei die political question doctrine folgerichtig eines unter einer Vielzahl von Instrumenten sei, mit Hilfe dessen das Gericht diese Unterteilung von Verantwortlichkeiten bewerkstellige. 321 Im übrigen müsse eine teilweise Wahrnehmung des Verfassungsschutzes durch nichtrichterliche Gewalten nicht notwendigerweise zu einer Vernachlässigung schützenswerter verfassungsrechtlicher Positionen führen, wie sich am Beispiel des lebendigen amerikanischen Föderalismus zeige. 322 Mulhern kommt zu dem Schluß, daß die political question doctrine ein „integraler Bestandteil" der gewaltenteiligen amerikanischen Verfassungstradition sei: „In our system of government, the three branches of the federal government share responsibility for interpreting the Constitution. In general, the courts' role is to protect the oppressed from abuses of government power.
318 So spricht sich beispielsweise Redish , a.a.O., vehement fur eine völlige Aufgabe der political question doctrine und für eine umfassende Gerichtskontrolle durch den Supreme Court - noch über den ihm von der „klassischen Theorie" zugewiesenen Umfang hinaus aus: „..., we must abandon the political question doctrine, in all of its manifestations", a.a.O., S. 1059 f. 319
Mulhern,
In Defense of the Political Question Doctrine, 137 U. Pa. L. Rev. 97
(1988). 320 Allerdings ist es verfehlt, wenn Mulhern Scharpf in die Reihe derer stellt, für die eine political question doctrine nicht existiere, a.a.O., S. 99 Fn. 3. Eine Auseinandersetzung mit Scharpfs Thesen findet leider nicht statt; vgl. a.a.O., S. 110 ff. 321
A.a.O., S. 101 f.
322
A.a.O., S. 159.
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
They refrain from exercising review in cases far removed from that paradigm. We should understand the political question doctrine as a device for projecting this shared responsibility scheme into areas where no substantive doctrine puts it into effect. Judicial abstinence, in this sense, is not a threat to the rule of law; constitutional norms can be meaningful even without judicial enforcement." 323 Mulherns Begründungen klingen insofern vertraut, als sich in seinem Aufsatz sowohl Elemente der Scharpfschen Thesen als auch der von Bickel wiederfinden. Wie Scharpf erblickt er den Kern der Kompetenz des Supreme Court im Schutz des einzelnen gegen Grundrechtseingriffe durch den Staat 324 , wobei es einmal mehr darauf ankäme, die Grenzen der von ihm verwandten Begriffe „abuses of government power" und preservation of „fundamental liberties" 325 zu definieren. Daß Verfassungsnormen auch oder gerade durch richterliche Zurückhaltung Wirkung entfalten sollen, erinnert an Bickels prudentielle Theorie. 326 cc) Eigene Einschätzung und heutige Bedeutung der political question doctrine Die Existenz einer Rechtsfigur, der Rechtsprechung und Lehre den Namen „political question doctrine" gegeben haben, ist — unabhängig davon, ob man ihre Existenz gutheißt oder nicht - nicht zu leugnen.327 Ihre häufigste Anwendung erlebte sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; seit den Tagen des Warren-Court hat ihre Bedeutung erheblich abgenommen. Ihr Hauptanwendungsbereich liegt nach einhelliger Auffassung im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten und der nationalen Sicherheitspolitik. 328 Die verschiedenen, zu ihrer Charakterisierung angeführten Kriterienkataloge beschreiben die Doktrin zwar, Vorhersehbarkeit im Sinne von Rechtssicherheit liefern sie jedoch nur sehr begrenzt. Im übrigen kann der Supreme Court neue Kriterien hinzufugen, das Gericht kann aber auch die political question doctrine in den Hintergrund treten lassen und auf andere Entscheidungsverhinderungstechniken zurückgreifen, wie dies neuerdings zu beobach323
A.a.O., S. 175 f.
324
Vgl. oben ccc) a.E.
325
A.a.O., S. 176.
326
Vgl. oben bbb).
327
So z.B. Tribe , Constitutional Law, § 3-13, S. 106: „There is, thus, a political question doctrine." Zugestanden wird dies auch von prinzipiellen Gegnern der Doktrin wie Henkin, vgl. oben Fn. 317, und Redish, a.a.O., S. 1032 f. und passim. 328
Vgl. etwa Scharpf\ Grenzen, S. 416 f.; Lasser: in: Oxford Companion, S. 650; Brugger, Grundrechte, S. 19 f.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
ten ist. 329 Dennoch erscheinen zwei Kerngedanken festhaltenswert, von denen der erste mehr in der Funktion, der zweite mehr im Selbstverständnis des Obersten Gerichts in einem gewaltenteiligen Staat verortet werden kann. (1) Das von Scharpf herausgearbeitete Informationsdefizit ist eine vergleichsweise verläßliche Kategorie, will man fallgruppenweise eine Prognose darüber anstellen, ob der Supreme Court ein bestimmtes Problem als justitiabel einstuft oder nicht. Verfugt das Gericht für die Entscheidung einer Streitfrage nicht über die nötigen Informationen, ist eine Ablehnung relativ wahrscheinlich — und im übrigen auch zweckgerecht. (2) Daneben ist eine Annahme eines Falles zur Entscheidung dann unwahrscheinlich, wenn die angegriffene Maßnahme von der Exekutive stammt, und - möglicherweise kaum reversible - Fakten geschaffen hat. Etwas anderes gilt hier nur dann, wenn ein gerichtliches Eingreifen zur Wahrung von Grundrechten erforderlich erscheint. Diese beiden Elemente, die natürlich auch kumulativ auftreten können, prädestinieren außen- und sicherheitspolitsche Streitfragen für eine Qualifizierung als political questions. Zusammenfassend betrachtet steht die political question doctrine für eine Mischung aus textorientierter Verfassungsinterpretation und — relativ flexibler - richterlicher Positionsbestimmung im gewaltenteiligen Staat.330 Seit Scharpfs Studie sind 30 Jahre vergangen. In neuerer Zeit ist beachtenswert, daß der Supreme Court, soweit ersichtlich, seit zwei Jahrzehnten die political question doctrine nicht mehr angewandt hat, um seine Rechtsprechungskompetenz zu verneinen, und das, obwohl eine zunehmend konservative Konfiguration der Richter eher für eine Renaissance der Doktrin hätte sprechen können. Richter Scalia brachte dieses Phänomen auf eine simple Formel: „Wir brauchen die political question doctrine nicht." 331 In der Tat 329
Man mag darüber streiten, ob es wissenschaftlicher Redlichkeit oder auch nur der Zweckmäßigkeit entspricht, die vergleichsweise wenigen neueren Fälle (noch) mit der Bezeichnung political question-Dofon« zu ehren. Allerdings hat er sich eingebürgert, und es ist nicht auszuschließen, daß sie eines Tages wieder eine Renaissance erleben wird. Zur gegenwärtigen Bedeutung siehe etwa Lasser, in: Oxford Companion, S. 650: „... the political question doctrine remains a viable, ... limitation on judicial power, ...". 330 331
Vgl. Tribe , a.a.O., S. 107.
In einem Gespräch mit dem Autor am 25.07.1991. Scalias Verständnis einer wesentlichen anderen Justitiabilitätsschranke, des Standing, kommt in einem Aufsatz aus dem Jahre 1983 zum Ausdruck, in der er die oben im Abschnitt über standing beschriebene Kehrtwendung des Supreme Court des Supreme Court hin zu einer strikteren Auslegung prophezeit und gutheißt. Scalia, The Doctrine of Standing as an Essential Element of the Separation of Powers, 17 Suffolk L. Rev. 881 (1983). S. im übrigen schon Henkin, der in seinem 1976 veröffentlichten Aufsatz eine nachlassende Neigung der Richter zur Anwendung der political question doctrine notiert: „... the present Justices are not disposed to find many — or any — issues in fact so textually committed", Henkin 85 Yale L.J. 597, 604 f. (1976).
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
stehen dem Supreme Court mit den oben (1.) als technische und prozessuale Grenzen betitelten Zulässigkeitskriterien zahlreiche Instrumente zur Steuerung der Fälle zur Verfügung, die er in der Sache entscheidet und entscheiden will. Darüber hinaus bietet das im Anschluß zu behandelnde Phänomen des „low level review" in der Sache ähnliche Vorteile wie die political questionDoktrin und ist überdies flexibler. Es bildet damit eine Grenze der Rechtsprechung, die in der Praxis von erheblich größerer Bedeutung ist als die - zumindest gegenwärtig — in den Hintergrund getretene political question doctrine.
3. Low Level Review a) Einleitung Bisher stand die Frage im Vordergrund, ob und gegebenenfalls wann der Supreme Court einen Rechtsstreit in der Sache entscheidet. Dabei erwiesen sich vielfaltige technische und prozessuale Grenzen (s.o. 1.) als relative Zulässigkeitsschranken, das - selten gewordene — Vorliegen einer political question (s.o. 2.) fungierte als absolute Zulässigkeitsschranke. Beide Kategorien führen letztlich zu einem Szenario der „Entscheidung über die Entscheidung". Nunmehr soll es darum gehen, wie intensiv bei einer grundsätzlichen Annahme eines Falles zur Entscheidung die inhaltliche verfassungsgerichtliche Kontrolle ist. Anders gesagt: auf das Problem der Vorfrage über die Entscheidung folgt jetzt das Problem der Entscheidungstiefe, bzw. der gerichtlichen Kontrolldichte. Die nachfolgend erörterten Themenfelder werden vom Supreme Court einem „low level review" unterzogen. Das bedeutet, daß das Gericht seine inhaltliche Kontrollkompetenz weitgehend einschränkt, so daß Akte öffentlicher Gewalt zwar methodisch einer Entscheidung in der Sache zugeführt werden, inhaltlich aber regelmäßig das grobe Raster gerichtlicher Überprüfung passieren. Die verminderte Kontrolldichte wird dabei fast ausnahmslos332 vom Supreme Court autonom festgesetzt. Sie determiniert, wie nachfolgend zu zeigen ist, das Ergebnis der Verfassungsprüfung.
332 Lediglich bei der unten b) dd) erörterten Fallgruppe der Rechtsakte von administrative agencies bestehen insoweit gesetzliche Vorgaben, die allerdings vom Supreme Court zu interpretieren und umzusetzen sind.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
aa) Strict Scrutiny ; Rational Basis, Intermediate Scrutiny — Maßstäbe verfassungsgerichtlicher Kontrolle Bei der Überprüfimg von Akten öffentlicher Gewalt auf ihre Verfassungsmäßigkeit unterscheidet der Supreme Court traditionell zwischen zwei Prüfungsmaßstäben, nämlich dem strict scrutiny test einerseits und dem rational basis test andererseits. Bei Eingriffen in Grundrechte und andere „fundamentale Rechte" 333 und insbesondere bei Gleichheitsverstößen, die an ein „suspektes" Kriterium wie etwa das der rassischen Zugehörigkeit anknüpfen, wird der strict scrutiny test als intensivste Form der Verfassungskontrolle angewandt. Ein Eingriff läßt sich danach nur dann rechtfertigen, wenn er in einem engen Bezug zu einem zwingenden öffentlichen Interesse steht („closely related to a compelling governmental interest"). Im Gegensatz dazu verlangt der rational basis test, der gelegentlich auch als „ordinary scrutiny test" bezeichnet wird, für die Bejahung der Verfassungsmäßigkeit lediglich, daß hinter dem Regierungshandeln ein legitimes, irgendwie nachvollziehbares Gemeinwohlinteresse steht („reasonably related to a legitimate governmental interest"). Dieser Test soll als eine Art Willkürkontrolle für all diejenigen Fälle gelten, die nicht dem strict scrutiny test zu unterziehen sind, also dann, wenn sich der staatliche Eingriff weder gegen ein Grundrecht noch gegen ein fundamentales Recht richtet, und wenn bei einem Eingriff in das Gleichheitsrecht keine Unterscheidung anhand „suspekter" Klassifizierungen erfolgt. 334 Als eine dritte Kontrollkategorie hat sich, insbesondere im Anschluß an die Entscheidung Craig v. Boren 335, der intermediate scrutiny standard 336 herausgebildet, nach dem ein grundrechtskritisches Regierungshandeln dann gerechtfertigt ist, wenn es einen bedeutenden Bezug zu einem wichtigen öffentlichen Interesse aufweist („substantially related to an important governmental interest"). Beispielhaft für diese noch nicht gänzlich gefestigte Kategorie sind Eingriffe in das Gleichheitsrecht, die an der Geschlechtszugehörigkeit ansetzen. 333 Darunter wurden vom Supreme Court früher vor allem wirtschaftliche Freiheiten verstanden, wie etwa die Vertragsfreiheit. Im Laufe des 20. Jahrhunderts erfolgte eine Trendwende hin zu personenbezogenen Freiheiten. Heute wird zum Beispiel das nicht in der Bill of Rights vertypte Recht auf Privatsphäre („privacy") als „fundamentales", gewissermaßen grundrechtsgleiches Recht angesehen. 334
Wie etwa, wenn eine Verkehrsbehörde keine Benutzer der Ersatzdroge Methadon einstellt und sie damit anders behandelt als Bewerber, die keinerlei Drogen zu sich nehmen. Vgl. New York City Transit Authority v Beazer, 440 U.S. 568 (1979). 335
429 U.S. 190 (1976).
336
Etwas mißverständlich gelegentlich auch als „heightened scrutiny standard" bezeich-
net.
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
Schließlich hat es innerhalb des Supreme Court vereinzelt Ansätze zu einem übergangslosen, gleitenden Prüfüngsmaßstab („sliding scale approach") gegeben337, die sich allerdings bisher nicht durchsetzen konnten. Beachtenswert ist, daß es sich bei der dogmatischen Herausbildung der drei geschilderten Prüfungsmaßstäbe um Eigenschöpfungen des Supreme Court handelt, die vor allem deshalb notwendig wurden, weil die amerikanische Verfassung fast keine textlichen Hinweise auf Art und Bedeutung der für eine etwaige Grundrechtsbeschränkung erforderlichen öffentlichen Interessen enthält. Die dem Grundgesetz innewohnende Idee von Gesetzesvorbehalt oder gar abgestuften Gesetzesvorbehalten findet im amerikanischen Verfassungsdokument keine Entsprechung. bb) Kontrollmaßstab
und Ergebnis der Verfassungsprüfung
Gerald Gunther bringt den Einfluß des vom Gericht angewandten Kontrollmaßstabs auf das Ergebnis der Verfassungsprüfling auf einen zutreffenden Nenner, wenn er feststellt, daß die Anwendung des strict scrutiny-Maßstabs „,strict 4 in theory and usually ,fatal' in fact" sei. 338 In der Tat determiniert der jeweilige Maßstab in fast allen Fällen das Ergebnis. Bei Anwendung des strict scrutiny test wird in aller Regel ein Verfassungsverstoß festgestellt werden, bei Anlegung der rational basis-Elle sich hingegen fast immer (irgend-)eine jedenfalls nicht gänzlich unvernünftige Erwägung finden lassen, die die angegriffene Maßnahme als nicht völlig zweckfremd und willkürlich erscheinen läßt. Daß dies allerdings nicht immer gilt, mögen zwei Beispiele illustrieren: In dem bereits erwähnten 2. Weltkriegs-Fall Korematsu v. United States m ging es um die Frage, ob Amerikaner japanischer Herkunft im Hinblick auf eine möglicherweise bevorstehende japanische Invasion rechtmäßigerweise dazu gezwungen werden konnten, ihre Häuser zu verlassen und sich in Sammellagern einzufinden, von denen aus fast alle in reservatähnliche „relocation centers" verbracht wurden. Anknüpfungspunkt für die ungleiche Behandlung war die ethnische Abkunft, mithin also ein „suspektes" Kriterium. Demzufolge legte der Supreme Court in einer von Richter Black formulierten Entscheidung auch den strict scrutiny standard an 340 , kam aber zu dem Schluß, daß
337 Vgl. dazu Brugger, Grundrechte, S. 41 Fn. 15; ders., Einfuhrung, § 8 V., S. 92 Fn. 39. Ein Beispiel für das Eintreten für diesen gleitenden Prüfungsmaßstab ist Richter Marshalls Dissent in Dandridge v. Williams, 397 U.S. 471 (1970). 338
Zitiert nach Tribe , Constitutional Law, § 16-6, S. 1451.
339
323 U.S. 214 (1944).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
vor allem wegen der außergewöhnlich prekären Kriegssituation der Eingriff gerechtfertigt gewesen sei. In City of Cleburne v. Cleburne Living Center 341 stand eine baurechtliche Verordnung einer texanischen Stadt auf dem Prüfstand, nach der für den Betrieb eines Heimes für geistig Behinderte, nicht aber für andere karitative Einrichtungen, eine besondere Erlaubnis erforderlich war. Da die Behinderten keiner „suspect class" im Sinne der equal protection-Doktrin angehörten, wandte das Gericht, zumindest vordergründig, den rational basis test an und kam zu dem Schluß, daß die Verordnung verfassungswidrig sei, da „requiring the permit in this case appears to us to rest on an irrational prejudice against the mentally retarded ,..". 3 4 2 Beide Fälle sind insofern untypisch, als die proklamierten Prüfüngsstandards wohl nicht den tatsächlich angewendeten entsprachen. Bei Korematsu beugte sich das Gericht mehr oder weniger der von der militärischen Führung angeheizten Stimmung, wonach ein japanischer Angriff auf die Westküste jederzeit erfolgen könne, so daß sich auch eine unterschiedslose Internierung von Menschen mit lediglich potentiellen Loyalitätsproblemen als Ausdruck eines zwingenden öffentlichen Interesses rechtfertigen ließ. Bei City of Cleburne fand, nachdem das Gericht zunächst die Anwendung des von der Vorinstanz herangezogenen intermediate scrutiny standard verworfen hatte, in der Sache dennoch eine intensivere Verfassungskontrolle statt 343 , deren Ergebnis sich jedoch sprachlich so problemlos in das Gegensatzpaar rational—irrational einbauen ließ, daß mit der Annahme des rational basis test die dogmatische Stimmigkeit aufrechterhalten werden konnte. Es zeigt sich daher, daß auch strict scrutiny und rational basis keine gänzlich konsequent durchgeführten, absoluten Kategorien sind. Dennoch dürfte die oben beschriebene Annäherungsgleichung, wonach strict scrutiny zur Verfassungswidrigkeit, rational basis zur Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Maßnahme führt, grundsätzlich richtig sein.
340
„... all legal restrictions which curtail the civil rights of a single racial goup are immediately suspect. ...(and) courts must subject them to the most rigid scrutiny", a.a.O., S. 216. 341
473 U.S. 432 (1985).
342
A.a.O., S. 450.
343
Vgl. den treffenden Dissent von Richter Marshall und anderen: „The Court holds the ordinance invalid on rational-basis grounds and disclaims that anything special, in the form of heightened scrutiny, is taking place. Yet Cleburne's ordinance surely would be valid under the traditional rational basis test ...", a.a.O., S. 456. 7 Rau
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
b) Fallgruppen Nachfolgend werden fallgruppenweise wesentliche Bereiche erörtert, in denen die Kontrolldichte des Supreme Court besonders niedrig ist. Prüfungsstandard ist fast immer der rational basis test, der sich allerdings häufig in formelhaften Beteuerungen ohne erkennbare Kontrolle erschöpft. Insbesondere im Bereich der Auswärtigen Angelegenheiten und der Nationalen Sicherheit sind die Grenzen zu einer völligen Aufgabe verfassungsgerichtlicher Kontrolle wegen ausdrücklicher oder unausgesprochener Annahme einer political question fließend. Zusammenfassend werden die angesprochenen Fallgruppen als Bereiche verstanden, in denen das Gericht einen low level review vornimmt. Die dadurch erzielte Kontrolldichte ist so gering, daß der Supreme Court selbst seiner Rechtsprechungskompetenz damit weitere Grenzen setzt. aa) Wirtschafts-
und Sozialgesetzgebung
Die Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung des amerikanischen Kongresses ist seit geraumer Zeit ein Musteranwendungsbeispiel für eine praktisch nicht mehr existente Gerichtskontrolle von seiten des Supreme Court. Das war nicht zu allen Zeiten so. Anhand dreier verfassungsrechtlicher Einbruchstellen, der due process clause, der equal protection clause und der interstate commerce clause soll nachgezeichnet werden, wann und mit welcher Begründung sich der Supreme Court jeweils aus der inhaltlichen Überprüfung von Wirtschafts- und Sozialgesetzen zurückzog. aaa) Substantive Due Process Ausgangspunkt der Betrachtung ist die Lochner-Rechtsprechung, die unter Hinweis auf die nach damaligem wirtschaftsliberalistischem Verständnis verfassungsrechtlich verbriefte Vertragsfreiheit eine Arbeitszeitregelung des Staates New York für verfassungswidrig erklärt und damit in der Sache eine sozialgesetzgeberische Maßnahme einer strengen verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterzogen hatte. 344 Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise und bedingt durch personelle Veränderungen gab der Supreme Court in den 30er Jahren diese Haltung auf 345 und machte im Lauf der Zeit mit geringen Schwankungen den Bereich der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung zu einem Musterbeispiel des low level review.
344
„Das allgemeine Recht, einen unternehmensbezogenen Vertrag abzuschließen, ist Bestandteil der vom 14. Verfassungszusatz der Bundesverfassung geschützten Freiheit des einzelnen ...", Lochner v. New York, 198 U.S. 45, 53 (1905) unter Verweis auf Allgeyer v. Louisiana, 165 U.S. 578 (1897). 345
Vgl. dazu oben I.2.c).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
Richtungweisend war insoweit zunächst die Entscheidung Nebbia v. New York M6, in der die per Gesetz angeordnete Errichtung eines Milk Control Board, dem unter anderem die Festlegung von Verkaufspreisen von Milch oblag, für verfassungsgemäß erklärt wurde. Trotz oder vielleicht gerade wegen der fragilen 5:4-Mehrheit 347 wurde der neue, maßgeblich gelockerte Kontrollmaßstab als etwas im Grunde fast Selbstverständliches propagiert: „Was das Erfordernis des due process anlangt, ..., so steht es einem Staat frei, jede Wirtschaftspolitik anzuwenden, die ihm zur Förderung des öffentlichen Wohls vernünftig erscheint, und diese Politik durch Gesetzgebung, die diesen Zwecken angepaßt ist, umzusetzen. Die Gerichte haben nicht die Kompetenz, eine derartige Politik zu betreiben oder, wenn sie von Seiten der Legislative ins Werk gesetzt wird, sie außer Kraft zu setzen."348 Gesetze müßten lediglich in einem vernünftigen Verhältnis zu einem ordnungsgemäßen Gesetzeszweck stehen und dürften nicht willkürlich oder diskriminierend sein. Darauf beschränke sich dann auch die gerichtliche Kontrolle: „... ( U n zählige Male haben wir gesagt, daß in erster Linie die Legislative über die Notwendigkeit derartiger Maßnahmen zu entscheiden hat, daß jede nur irgendwie denkbare Vermutung zugunsten der Gültigkeit derartiger Gesetzgebung spricht und daß Gesetze - mag auch das Gericht an deren Weisheit manchmal zweifeln - nur dann verworfen werden dürfen, wenn sie einen flagranten Verstoß gegen die Gesetzgebungskompetenz darstellen." 349 Der endgültige Durchbruch kam mit West Coast Hotel Co. v. Parrish. 35° Darin erklärte dieselbe 5:4-Mehrheit ein Mindestlohngesetz für Frauen für verfassungsmäßig und deutete erneut den künftig für Sozial-und Wirtschaftsgesetzgebung maßgeblichen Prüfüngsmaßstab an: „(N)ormen, die in bezug auf den zu regelnden Gegenstand vernünftig sind und im Interesse des Gemeinwohls verabschiedet werden, entsprechen (den Erfordernissen von) due process ...". 3 5 1 Ein Jahr später unterstrich der Supreme Court den weitgehend gelockerten Maßstab, indem er in United States v. Carolene Products Co.352 feststellte, daß zugunsten wirtschaftsgesetzgeberischer Maßnahmen eine Vermutung der Verfassungsmäßigkeit spreche: „... Gesetzgebung, die regulierend in normale wirtschaftliche Transaktionen eingreift, ist nicht für verfas346
291 U.S. 502 (1934).
347
Richter Owen Roberts, dessen Stimmverhalten seit seinem Amtsantritt 1930 schwankend und schwer vorhersehbar war und sich erst 1937 zugunsten des New Deal stabilisierte, gab mit der entscheidenden 5. Stimme den Ausschlag. 348
A.a.O., S. 537.
349
A.a.O., S. 537 f.
350
300 U.S. 379 (1937).
351
A.a.O., S. 391.
352
304 U.S. 144 (1938).
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sungswidrig zu erklären, es sei denn, daß sie ... durch ihr Wesen die Vermutung, daß sie auf einer vernünftigen Grundlage ("rational basis,,) beruhe, ausschließt ...". 3 5 3 Damit war die durch die Lochner-Rechtsprechung versinnbildlichte, auf einer entsprechend interpretierten due process-Klausel aufbauende Unterstützung eines laissez-faire-Kapitalismus, zu dessen Gunsten bis in die 30er Jahre Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung notfalls mit strengster verfassungsgerichtlicher Elle gemessen wurde, endgültig überwunden. Williamson v. Lee Optical of Oklahoma 354 und Ferguson v. Skrupa 355 sind zwei Beispielsfalle aus der Nachkriegszeit, die belegen, daß der Supreme Court im Bereich der Verfassungskontrolle wirtschafts- und sozialgesetzgeberischer Akte weitgehend „abgedankt" 356 hat. In Williamson ging es um die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes des Staates Oklahoma, das für das Anpassen und Nachmachen von Brillengläsern die Verschreibung durch einen Augenarzt oder einen Augenoptiker verlangte. Mit eher lakonischen Worten schob das Gericht die Infragestellung der Verfassungsmäßigkeit beiseite: „Das Gesetz ... mag in vielen Fällen ein nutzloses und überflüssiges Erfordernis abverlangen. Aber es obliegt dem Gesetzgeber, nicht den Gerichten, Vor- und Nachteile des neuen Erfordernisses gegeneinander abzuwägen".357 Ähnlich gebremst war der verfassungsgerichtliche Impetus in Ferguson: Das umstrittene Einzelstaatsgesetz von Kansas, bei dem es um die Regulierung von Schulden ging, passierte problemlos das grobe Kontrollraster des Gerichts mit der Begründung, daß „unter dem von unserer Verfassung geschaffenen Regierungssystem 358 Gesetzgebungsorgane und nicht Gerichte dazu aufgerufen sind, über die Weisheit und Nützlichkeit von Gesetzen zu entscheiden". 359 Die zuletzt genannten Entscheidungen belegen, daß der Supreme Court offenbar teilweise noch nicht einmal mehr eine oberflächliche Mittel-ZweckBetrachtung vornimmt, sondern dem Gesetzgeber in dem genannten Bereich 353
A.a.O., S. 152.
354
348 U.S. 483 (1955).
355
372 U.S. 726 (1963).
356
In der amerikanischen Literatur ist in diesem Zusammenhang der terminus „abdication" oder „abdicationist attitude" zur festen Wendung geworden. Vgl. etwa Stone , Constitutional Law, S. 812 f. m.w.N.; Brugger, Grundrechte, S. 59. 357 348 U.S. 483, 487 (1955). In einem obiter dictum verstieg sich das Gericht in Williamson sogar dazu, seine Kompetenz zur Normenkontrolle generell anzweifeln zu wollen: „For protection against abuses by legislatures the people must resort to the polls, not the courts" (a.a.O., S. 488, Chief Justice Waite in Munn v. Illinois, 94 U.S. 113 [1877], zitierend). 358
Dabei ist der Begriff der „Regierung" (government) weit zu verstehen. Er umfaßt nach amerikanischer Sicht alle drei Staatsgewalten. Vgl. oben Fn. 168. 359
372 U.S. 726, 729 (1963).
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einen außerordentlich weiten, bestenfalls durch eine kaum mehr erkennbare Evidenzkontrolle eingegrenzten Beurteilungs- und Maßnahmespielraum überläßt. Nachfolgend soll überprüft werden, ob sich die Kontrolldichte ändert, wenn der Angriff auf wirtschafts- und gesellschaftslenkende Gesetzgebung vom Gleichheitspostulat aus und nicht wie soeben vom Erfordernis des due process of law erfolgt. bbb) Equal Protection Wie oben angedeutet ist für den verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstab im Rahmen der Gleichheitsprüfüng die Frage entscheidend, ob Anknüpfungspunkt fur eine Ungleichbehandlung die Zugehörigkeit zu einer „verdächtigen Kategorie" (suspect class) ist. Zu Zwecken der Systematisierung ist es freilich problematisch, daß derartige verdächtige Kategorien keinen der Entscheidung des Gerichts vorausliegenden numerus clausus bilden und daß genaue, womöglich sogar durch einen gerichtlich-akademischen Konsens stabilisierte Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer derartigen Kategorie nicht bestehen. Immerhin ist in unserem Zusammenhang bemerkenswert, daß der Supreme Court eine Zeitlang der Auffassung zu sein schien, daß die persönlichen wirtschaftlichen Verhältnisse ein ähnlich „verdächtiges" Kriterium seien wie etwa die ethnische Zugehörigkeit. Behandelte der Gesetzgeber demzufolge die Armen anders als die Reichen, so mußte er dafür zwingende Interessen des Gemeinwohls vorweisen können, um die verfassungsgerichtliche Normenkontrollprüfung zu bestehen. In den folgenden Fällen kommt diese Haltung wenigstens unausgesprochen zum Ausdruck. In dem Fall Griffin v. Illinois 360, der den Supreme Court 1956 beschäftigte, entschied der Gerichtshof, daß aufgrund der equal protection-Klausel die Bundesstaaten dazu verpflichtet seien, bedürftigen Angeklagten, die gegen ein Urteil Rechtsmittel einlegen wollten, eine Abschrift des Verhandlungsprotokolls zur Verfügung zu stellen. Dabei führte er unter anderem aus, daß „... ein Bundesstaat in Strafverfahren Unterscheidungen auf der Grundlage von Armut ebensowenig vornehmen darf, wie er das auf der Grundlage von Religions» oder Rassenzugehörigkeit oder Hautfarbe dürfte." 361 Noch deutlicher wurde das Gericht in Douglas v. California, 362 Es erklärte ein Gesetz des Staates California für verfassungswidrig, das die Beiordnung eines vom Staat bezahlten Verteidigers zur Wahrnehmung von Rechtsmitteln nur dann vorsah, wenn das Berufungsgericht dem Rechtsmittel gute Chancen auf Erfolg einräumte und erklärte dies wie folgt: „(E)inem Bedürftigen einen Rechtsmittel360
351 U.S. 12 (1956).
361
A.a.O., S. 17.
362
372 U.S. 353 (1963).
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anwalt vorzuenthalten wäre eine mindestens ebenso ungerechte Diskrimierung wie die von uns in Griffin verurteilte. (Nach der kalifornischen Rechtspraxis) hängt die Art von Rechtsmittel, die eine Person einlegen kann, davon ab, ob er sich einen Anwalt leisten kann oder nicht ... (E)s findet keine Unterscheidung zwischen »möglicherweise guten und offensichtlich schlechten Fällen4 statt, sondern zwischen Fällen, in denen ein Reicher das Gericht dazu zwingen kann, den Argumenten seines Anwalts zuzuhören, bevor es in der Sache entscheidet, ein Armer hingegen nicht. Dort, wo der Reiche, ..., in den Genuß der Akteneinsicht, ..., und der Ordnung seiner Argumentation durch seinen Anwalt kommt, ..., wohingegen der Bedürftige, ..., sich selbst behelfen muß, fehlt eben jene vom 14. Amendment geforderte Gleichheit." 363 Derart starke Worte waren allerdings auch innerhalb des Gerichts nicht unumstritten. Richter Harlan beschritt in seinem abweichenden Votum einen argumentativen Weg, den später noch andere gehen sollten: „(G)esetze wie diese verwehren den weniger Begüterten aus einem ganz wesentlichen Grund nicht den Schutz des Gleichheitsgrundsatzes: die Equal Protection Clause erlegt den Bundesstaaten keine ,positive Pflicht zur Behebung der Hindernisse auf, die sich aus den unterschiedlichen wirtschaftlichen Bedingungen ergeben'. (D)er Bundesstaat mag eine moralische Verpflichtung haben, die Übel der Armut auszuschalten, aber die Equal Protection Clause zwingt ihn nicht dazu, einigen all das zu gewähren, was andere sich leisten können «364
Dennoch setzte sich der Trend, Gesetze, die Arm und Reich unterschiedlich behandelten, im Wege einer gleichheitsrechtlich motivierten hohen verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte zu Fall zu bringen, zunächst fort. In Harper ν. Virginia State Board of Elections 365 scheiterte ein Gesetz des Staates Virginia, das die Entrichtung einer Wahlsteuer vorsah. Der Supreme Court stellte klar, daß „ein Bundesstaat die Equal Protection Clause (immer dann) verletzt, wenn er den Wohlstand des Wählers oder die Entrichtung einer Gebühr zu einem Wahlrechtskriterium macht." 366 In Shapiro v. Thompson367 schwang das Pendel noch weiter: Der Supreme Court erklärte in einer von Richter Brennan formulierten Entscheidung die Regelungen mehrerer Bundesstaaten und des District of Columbia für verfassungswidrig, die fur
363
A.a.O., S. 355 ff.
364
A.a.O., S. 362.
365
383 U.S. 663 (1966). In Griffin, Douglas und Harper sieht Currie aus vergleichender Sicht Ansätze zur Anerkennung einer Art grundrechtlichen status positivus durch den Supreme Court. Vgl. Currie, Positive und negative Grundrechte, AöR 111 (1986), 230 (246 ff.). 366
A.a.O., S. 666.
367
394 U.S. 618 (1969).
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Neuankömmlinge aus anderen Bundesstaaten eine Wartefrist von einem Jahr bis zum Beginn der Sozialhilfeberechtigung festgesetzt hatten. Da alle Bezieher von Sozialhilfe bedürftig sind, mußte das traditionelle Gleichheitsargument um einen Grundrechtsaspekt erweitert werden, um den strengeren Kontrollmaßstab auszulösen. Bewerkstelligt wurde dies, indem sich der Supreme Court der Meinung der Untergerichte, die in den angegriffenen Normen eine Verletzung des angeblich „fundamentalen" Rechts zu reisen (right to travel) erblickten, anschloß: „Da die Unterteilung hier das fundamentale Recht auf Fortbewegung zwischen den Einzelstaaten berührt, muß ihre Verfassungsmäßigkeit am strengeren Maßstab, nämlich dem, ob sie ein zwingendes öffentliches Interesse fördert, gemessen werden. Gemessen an diesem Maßstab verstößt die Wartezeitenregelung klar gegen die Equal Protection Clause." 368 Zur besseren Einordnung von Shapiro , aber auch der anderen Fälle, muß man sich das letztgenannte Phänomen, das man als „erhöhten Grundrechtsschutz aufgrund Kumulation der berührten Interessen" bezeichnen könnte, nochmals vergegenwärtigen. Nicht Bedürftigkeit an sich und eine Ungleichbehandlung zwischen Reich und Arm waren Gegenstand von Shapiro. Vielmehr war das Unterscheidungskriterium das der Anciennität des Wohnsitzes in einem Bundesstaat, wobei Hintergrund der Regelung die nachvollziehbare und somit unter rational basis-Gesichtspunkten ausreichende Erwägung gewesen sein dürfte, Migrationen in den jeweiligen Bundesstaat wegen eines etwaigen Sozialhilfegefälles den Anreiz zu nehmen. Dadurch aber, daß die Regelung neben der offenbar rechtfertigbaren Ungleichbehandlung zwischen neuankommenden Sozialhilfeempfangern und solchen, die bereits länger als ein Jahr im Staat waren, auch das grundrechtsgleiche, fundamentale Recht zu reisen berührte, gelangte Brennan zu dem strengeren Prüfüngsmaßstab, der dann, fast zwangsläufig, die Verfassungswidrigkeit nach sich ziehen mußte. Auch die in Griffin, Douglas und Harper erzielten Ergebnisse ließen sich auf diese Weise erklären, wenn man, etwa durch eine extensive Auslegung des 6. Verfassungszusatzes 369 und die Einordnung des Wahlrechts als fundamentales Recht zu dem Schluß käme, daß es weniger die Bedürftigkeit als „suspekte Kategorie", sondern vielmehr der Eingriff in grundrechtliche oder grundrechtsgleiche Positionen war, der zur Anwendung von strict scrutiny und damit zur Verfassungswidrigkeit der in Rede stehenden Normen führte. Schließlich liefert neben der besonderen Grundrechtsrelevanz auch die in diesen Justizgewährungs- und Wahlrechtsfällen zum Ausdruck kommende Nähe der Problematik zum Staat und seinen Strukturen eine mögliche Begründung für den vom Supreme Court angelegten strengeren Prüfungsmaßstab. 368 369
A.a.O., S. 638.
Das dem Angeklagten ausdrücklich das Recht auf einen Rechtsbeistand zu seiner Verteidigung einräumt.
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Derartige weitergehende Betrachtungen hat der Supreme Court, soweit ersichtlich, nicht ausdrücklich angestellt. Jedoch zeigen auch die nach Shapiro ergangenen Entscheidungen, daß er Maßnahmen der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung, die unter Grundrechtsgesichtspunkten zu nicht mehr als Ungleichbehandlungen führen, auf der Grundlage des rational basis-Tests mißt, und daß Bedürftigkeit, im Gegensatz etwa zur Hautfarbe, wohl keine dauerhaft als „suspect class" zu beurteilende Kategorie sein dürfte, die einen strict scrutiny-Test nach sich zöge. So wurde zum Beispiel ein Jahr nach Shapiro in Dandridge v. Williams 370 eine als gleichheitswidrig angegriffene Obergrenze für Sozialhilfezahlungen an Familien für verfassungsgemäß erklärt. Mit einer Argumentation, die an die due process-Fälle erinnerte, bemerkte Richter Stewart: „(H)ier haben wir mit Einzelstaatsnormen im Bereich von Wirtschaft und Sozialem zu tun, die die in der Bill of Rights garantierten Freiheiten nicht tangieren und die angeblich nur deshalb gegen den 14. Verfassungszusatz verstoßen sollen, weil die Regelung zu einer gewissen Ungleichheit bei der Gewährung von Sozialhilfe an die größten der von dem ,Aid to Families with Dependent Children'Programm erfaßten Familien führt." 371 Eine strengere gerichtliche Kontrolle verbiete sich nicht zuletzt deshalb, weil dies methodisch zu sehr an die allgemein überwundene Lochner-kra erinnern würde: „Im Bereich von Wirtschaft und Sozialem verstößt ein Staat nicht allein deshalb gegen die Equal Protection Clause, weil die Unterscheidungen, die durch seine Gesetze getroffen werden, unvollkommen sind. Wenn die Unterscheidung eine gewisse vernünftige Grundlage (,rational basis') hat, so verstößt sie nicht gegen die Verfassung 372 ... die Equal Protection Clause verlangt nicht, daß ein Staat sich dazu entscheiden muß, entweder jeden Teilbereich eines Problems in Angriff zu nehmen oder das Problem gar nicht anzugehen. (E)s reicht aus, wenn das Handeln des Staates eine vernünftige Grundlage hat und frei von ungerechter Diskriminierung ist. Die hier zur Entscheidung stehende Regelung besteht diesen Test." 373 Lindsey v. Normet 374, in der der Supreme Court die summarischen Verfahrensregeln zur Räumung von gemietetem Wohnraum des Staates Oregon für verfassungsgemäß erklärte und San Antonio School District v. Rodriguez 375 sind weitere Beispiele für den mittlerweile fest etablierten low level review im Bereich Wirtschaft und Soziales. In Rodriguez wurde eine instanzgerichtliche Entscheidung, die das auf Grundsteuerbasis errichtete
370
397 U.S. 471 (1970).
371
A.a.O., S. 484.
372
A.a.O.
373
A.a.O., S. 486 f.
374
405 U.S. 56 (1972).
375
41 1 U.S. 1 (1973).
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System zur Finanzierung öffentlicher Schulen in Texas unter Anwendung des strict scrutiny-Standards fur nicht verfassungsgemäß erkärt hatte, aufgehoben. Der Supreme Court unterstrich nochmals den rational basis test als gültigen Kontrollmaßstab: „Die (aus Dandridge v. Williams und Lindsey v. Normet) zu ziehende Lehre ist klar. 376 ... Ein Jahrhundert Rechtsprechung des Supreme Court zur Equal Protection Clause stützt positiv die Anwendung des traditionellen Prüfungsmaßstabs, für dessen Erfüllung lediglich der Nachweis erforderlich ist, daß das von dem Staat errichtete System eine gewisse Beziehung zu legitimen Zielen des Staates aufweist." 377 U.S. Railroad Retirement Board v. Fritz 578 schließlich ist aus zwei Gründen besonders zitierenswert. Zum einen ging es um die Verfassungsmäßigkeit eines ÖMwtfesgesetzgeberischen Aktes, der manchen pensionierten Eisenbahnarbeitern doppelte Leistungen zusprach, anderen hingegen nicht. Zum anderen wurde die Mehrheitsentscheidung von dem späteren Chief Justice Rehnquist verfaßt, dessen ausgeprägte Vorliebe fur einen gelockerten Prüfungsmaßstab sich hier recht anschaulich manifestiert: „Das zunächst von diesem Fall aufgeworfene Rechtsproblem ist die Frage nach dem angemessenen Prüfungsmaßstab, wenn Sozial- und Wirtschaftsgesetzgebung des Kongresses wegen Verstoßes gegen den 5. Verfassungszusatz ... angegriffen wird. 3 7 9 ... In neuerer Zeit ... hat das Gericht in Fällen, in denen es um soziale und wirtschaftliche Leistungen ging, es durchgängig abgelehnt, Gesetze auf der Grundlage des Gleichheitsgebots für verfassungswidrig zu erkären, die es lediglich für unklug oder schlecht formuliert hielt. 380 ... Wenn man diesen Grundsatz auf den vorliegenden Fall anwendet, so bildet der schlichte Wortlaut (des Gesetzes) den Anfang und zugleich das Ende unserer Untersuchung. ... Wo es, wie hier, plausible Gründe für das Tätigwerden des Kongresses gibt, ist unsere Untersuchung zu Ende." 381
176
A.a.O., S. 33.
377
A.a.O., S. 40.
378
449 U.S. 166 (1980).
379
A.a.O., S. 174.
380
A.a.O., S. 175.
381
A.a.O., S. 176 ff.
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Β. Vereinigte Staaten von Amerika
ccc) Interstate Commerce 382 Artikel I, Section 8, Clause 3 der Verfassung, die sogenannte interstate commerce clause, räumt dem Kongreß unter anderem das Recht ein, den Handel zwischen den Einzelstaaten zu regeln. Nicht zuletzt dank einer letztendlich extensiven Interpretation seitens des Supreme Court hat sich diese Vorschrift zum wichtigsten und weitreichendsten Kompetenztitel des Bundesgesetzgebers entwickelt. Den Grundstein dafür legte der Supreme Court bereits 1824 in der Entscheidung Gibbons v. Ogden, 383 Kern der Entscheidung war die Feststellung, daß das vom Staat New York verliehene Monopol zum Betrieb eines Dampfschiffährverkehrs zwischen New York und New Jersey angesichts einer entsprechenden bundesgesetzlichen Regelung unwirksam sei. Bemerkenswert an der Entscheidung ist erstens die weite Interpretation, die Chief Justice Marshall dem Begriff „commerce" über die Idee des Warenaustauschs hinaus gab, und zweitens die umfassende Kompetenz, die der Kongreß immer dann habe, wenn er so verstandenen Handel zwischen mehreren Einzelstaaten regeln wolle. 384 Ausgehend von dieser Grundlage hätte sich, so könnte man annehmen, problemlos jene heute herrschende Rechtsprechung entwickeln können, die unter Berufung auf die weitreichenden Befugnisse des Kongreß Wirtschaftsgesetzgebung kaum an einem möglichen Verstoß gegen die interstate commerce clause scheitern läßt. Die Entwicklung verlief jedoch anders. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahm der Supreme Court zunächst Abschied von einem weiten commerce-Begriff, indem er etwa Herstellung von Waren vom Handel mit ihnen unterschied 385 , so daß im ersteren Fall keine Bundeskom-
382
Das Themenfeld der Interstate Commerce Clause stellt im Hinblick auf die hier gebildeten Fallgruppen eine Mischform dar. Da es einerseits, wie schon der Name sagt, den Bereich des Handels im weitesten Sinne umgreift, ergeben sich Überschneidungen mit der Fallgruppe der Wirtschaftsgesetzgebung (die übliche Handlungsform des Kongreß ist nun einmal die Gesetzgebung). Andererseits dient die Interstate Commerce Clause zur Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenz zwischen Bund und Einzelstaaten, so daß auch föderale Aspekte berührt werden. Dieser letztere verfassungsrechtliche Doppelcharakter wird zum Beispiel im Dissent der Richterin O'Connor in Garcia v. San Antonio Metropolitan Transit Authority , 469 U.S. 528, 580 ff. (1985) deutlich. Zur Problematik des Interstate Commerce vgl. allgemein Brugger, Einführung, § 5 IV., S. 35 ff.; Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 115 ff. 383
22 U.S. (9 Wheat.) 1 (1824).
384
„This power, like all others vested in Congress, is complete in itself, may be exercised to its utmost extent, and acknowledges no limitations, other than are prescribed in the constitution", a.a.O., S. 194. 385
„Commerce succeeds to manufacture, and is not part of it", United States v. E.C. Knight Co., 156 U.S. 1, 12 (1895).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
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petenz aufgrund der interstate commerce clause gegeben sei. Mit der gleichen Differenzierung zwischen Herstellung und Handel erklärte der Supreme Court in Hammer v. Degenhard 6 den Child Labor Act, der den Transport von Gütern untersagte, die das Produkt von Kinderarbeit waren, mangels Bundesgesetzgebungskompetenz für verfassungswidrig. In A.L.A. Schechter Poultry Corp. v. United States 387 und Carter v. Carter Coal Co. 388 grenzte das Gericht bloße Anlieferung bzw. lokale Produktion vom zwischenstaatlichen Handel ab, ließ auch die in Carter diskutierte Idee, wonach der Kohleabbau sich in maßgeblicher und damit kompetenzbegründender Weise auf den zwischenstaatlichen Handel auswirke (sogenannte affectation theory), nicht gelten und brachte so zwei wesentliche Gesetzgebungswerke von Präsident Roosevelts New Deal, der sich für seine wirtschaftslenkenden Maßnahmen maßgeblich auf die commerce power des Kongreß stützen wollte, zu Fall. Roosevelts drohender „court packing plan" 3 8 9 und der absehbare Rücktritt des Richters Van Devanter als eines Angehörigen des alten wirtschaftsliberalen Flügels brachten die Wende. NLRB v. Jones & Laughlin Steel Corp, 390 ist der bekannteste von fünf am 12. April 1937 entschiedenen Fällen, mit denen der National Labor Relations Act (NLRA), ein weiteres Herzstück der New Deal Gesetzgebung, fur verfassungsgemäß erklärt wurde. Der NLRA gewährte unter anderem Arbeitnehmern das Recht auf gewerkschatliche Organisation und Betätigung in Betrieben und verbot der Unternehmerseite, Arbeitnehmer wegen derartiger Aktivitäten zu entlassen oder anderweitig zu diskriminieren. Jones & Laughlin, der viertgrößte Stahlerzeuger der USA, war vom National Labor Relations Board wegen gewerkschaftsfeindlich motivierter Entlassungen gemaßregelt worden und hatte die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes angegriffen. Der Supreme Court bejahte im Gegensatz zum Bundesberufungsgericht die Verfassungsmäßigkeit. Maßgeblich sei nicht die Unterscheidung zwischen Produktion und Handel. Auch sei der Transportfluß der von den entlassenen Arbeitnehmern hergestellten Güter ohne Bedeutung. Entscheidend für die Reichweite der Gesetzgebungskompetenz sei, ob Handlungen seitens des Arbeitgebers „have such a close and substantial relationship to interstate commerce that their control is essential or appropriate to protect that commerce from burdens and 386 247 U.S. 251 (1918). S. andererseits aber auch Champion v. Ames (The Lottery Case), 188 U.S. 321 (1903), wo bundesgesetzliche Regelungen akzeptiert wurden, obwohl auch sie nicht auf die Förderung des zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehrs gerichtet waren. 387
295 U.S. 495 (1935).
388
298 U.S. 238 (1936).
389
Vgl. oben I.2.c).
390
301 U.S. 1 (1937).
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
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obstructions ...". 3 9 1 Dies sei im vorliegenden Fall zu bejahen, da Arbeitsunterbrechungen „would have a most serious effect upon interstate commerce". 3 9 2 Durch die Einfuhrung und großzügige Bejahung dieses sogenannten substantial economic effect-Kriteriums wurde die bis dahin relativ strikt zwischen lokalen und zwischenstaatlichen Sachverhalten unterscheidende affectation theory abgemildert und gleichzeitig dem Gesetzgeber ein Einschätzungsspielraum zugestanden. Ähnliche Auswirkungen hatte der in Wickard v. Filburn m entwickelte Rechtsgedanke des „cumulative effect". Weizenanbauquoten seien, unabhängig von dem Weg, den der angebaute Weizen nimmt, zulässig. Sie seien sogar auf einen Kleinbauern anwendbar, der nur fur den Eigenbedarf produziere, da dessen Konsumverhalten zusammen mit dem vieler anderer „in ähnlicher Situation" einen weitreichenden Einfluß auf Preis und andere Marktkriterien habe. Da das Gericht den Kreis derer, die sich „in ähnlicher Situation" befinden, bisher nicht nennenswert eingeschränkt hat, ging auch von Wickard jener janusköpfige Effekt einer Erweiterung der Legislativkompetenz bei gleichzeitiger Verringerung der gerichtlichen Kontrolldichte aus. In United States v. Darby Lumber Co.394 erweiterte der Supreme Court die Gesetzgebungskompetenz des Kongresses dadurch, daß er den zwischenstaatlichen Handel als tauglichen Anknüpfungspunkt auch für Strafvorschriften ansah. Der angegriffene Fair Labor Standards Act pönalisierte unter anderem den zwischenstaatlichen Transport von Gütern, die unter Verstoß gegen bestimmte Mindestlohn- und Höchstarbeitszeitnormen hergestellt worden waren. Mit der Begründung, daß Regulierung des Handels das Verhängen von Sanktionen und Verboten einschließe und unter ausdrücklicher Außerkraftsetzung des bis dahin geltenden Präzedenzfalles Hammer v. Dagenhart 395 ließ das Gericht das Gesetz passieren. Im übrigen stehe den Gerichten im Bereich der interstate commerce clause nicht das Recht zu, legislative Motivforschung zu betreiben. 396 Wie bei den due process-Fällen lauten so oder ähnlich die seither vom Supreme Court gegebene Standardbegründungen, mit der Attacken gegen vermeintliche Überschreitungen der Bundesgesetzgebungskompetenz für gegenstandslos erklärt werden. 391
A.a.O., S. 37.
392
A.a.O., S. 41.
393
3 1 7 U.S. 111 (1942).
394
312 U.S. 100 (1941).
395
247 U.S. 251 (1918).
396
„The motive and purpose of a regulation of interstate commerce are matters for the legislative judgment upon the exercise of which the Constitution places no restriction and over which the courts are given no control", 312 U.S. 100, 115 (1941).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
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Wie eingangs dieses Abschnitts erwähnt, berührt die commerce clause sowohl die Frage der Gewaltenteilung wie auch föderale Aspekte. Der Supreme Court hat sich bei der Beurteilung von Wirtschaftsgesetzgebung durch den Kongreß weitgehend zurückgezogen. Daß durch diese Haltung möglicherweise maßgebliche Interessen der Einzelstaaten nicht hinreichend geschützt und im Falle der Beibehaltung dieses Kurses vielleicht sogar die Staatsqualität der Einzelstaaten in Frage gestellt werden könnte, illustriert der Fall Garcia v. San Antonio Metropolitan Transit Authority? 91 In Garcia ging es um die Frage, ob die Arbeitszeit- und Mindestlohnbestimmungen des bundesgesetzlichen Fair Labor Standards Act auf ein kommunales Nahverkehrssystem Anwendung finden. Der Betreiber des Verkehrsnetzes reklamierte für sich, daß es sich bei dem Betrieb eines derartigen Nahverkehrsnetzes um die Ausübung einer traditionellen Regierungsfünktion handele, die nach der Leitentscheidung National League of Cities v. Usery 398 nicht unter die vom Fair Labor Standards Act festgelegten Verpflichtungen falle. In Usery hatte der Supreme Court mit 5 : 4 Stimmen Teile eben jenes Fair Labor Standards Act für verfassungswidrig erklärt und damit der auf die interstate commerce clause gestützten Gesetzgebungskompetenz des Kongresses dort Grenzen gezogen, wo „traditional aspects of state sovereignty" 399 bzw. „integral government functions" 400 wie zum Beispiel Feuerwehr, Polizei, Gesundheit, Hygiene und die Unterhaltung öffentlicher Parks berührt würden. In Hödel v. Virginia Surface Mining and Reclamation Ass Vi401 war versucht worden, Kriterien für die Zulässigkeitprüfung solcher die Staatensouveränität gefährdender Bundesgesetzte zu entwickeln. Zur „erfolgreichen" Anwendung der Hödel-Standards und damit zur Verfassungswidrigkeitserklärung von Bundesgesetzen kam es allerdings in der Folgezeit nicht. Richter Blackmun, der in Usery mit seiner concurring opinion die entscheidende fünfte Stimme geliefert hatte, schlug sich in Garcia auf die Seite der in Usery dissentierenden Kollegen und schuf so eine neue Mehrheit, die allerdings mit 5 : 4 nicht weniger knapp war als ihre Vorgängerin. Usery wurde außer Kraft gesetzt und die Anwendung des Fair Labor Standards Act auf die San Antonio Metropolitan Transit Authority für verfassungsgemäß erklärt. In der von ihm verfaßten Entscheidung, die von den Richtern Brennan, White, Marshall und Stevens mitgetragen wurde, beklagte Blackmun zunächst, daß „dieses Gericht ... bei der Festlegung des Umfangs jener Regierungsfunktionen, die unter (der Entscheidung) National League of Cities geschützt 397
469 U.S. 528 (1985).
398
426 U.S. 833 (1976).
399
A.a.O., S. 849.
400
A.a.O., S. 851.
401
452 U.S. 264 (1981).
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Β. Vereinigte Staaten von Amerika
zu sein schienen, wenig Fortschritte gemacht hat." 402 Es sei, unabhängig davon, ob man Sphären einzelstaatlicher Souveränität mit Hilfe der Kriterien „traditional", „integral" oder „necessary" würde definieren wollen, nicht anzunehmen, daß eine vernünftige Abgrenzung gelingen werde. Daher seien Gerichte auch nicht der richtige Ort, um die Interessen der Einzelstaaten durchzusetzen: „We ... reject, as unsound in principle and unworkable in practice, a rule of state immunity from federal regulation that turns on a judicial appraisal of whether a particular governmental function is ,integral' or ,traditional'. ... I f there are to be limits on the Federal Government's power to interfere with state functions - as undoubtedly there are - we must look elsewhere to find them." 403 „We doubt that courts ultimately can identify principled constitutional limitations on the scope of Congress' Commerce Clause powers over the States merely by relying on a priori definitions of state sovereignty." 404 Verfassungsdokument und die Intention der Verfassungsväter deuteten darauf hin, daß die Interessen der Staaten nicht durch bestimmte und bestimmbare, gleichsam von außen kommende Grenzen der Bundesgewalt, sondern vielmehr im Rahmen des politischen Prozesses von Wahlen und Parlamentsarbeit, mithin von innen geschützt würden: „..., we are convinced that the fundamental limitation that the constitutional scheme imposes on the Commerce Clause to protect the ,States as States' is one of process rather than one of result. Any substantive restraint on the exercise of Commerce Clause powers must find its justification in the procedural nature of this basic limitation, and it must be tailored to compensate for possible failings in the national political process rather than to dictate a ,sacred province of state autonomy'." 4 0 5 ... ,,(T)he principal and basic limit on the federal commerce power is that inherent in all congressional action — the built-in restraints our system provides through state participation in federal governmental action. The political process ensures that laws that unduly burden the States will not be promulgated." 406 402
469 U.S. 528, 539 (1981).
403
A.a.O., S. 546 f. Die Vorstellung, daß der Schutz von Interessen der Einzelstaaten weniger von der Gerichtsbarkeit als vielmehr im Rahmen legislativer Prozesse zu leisten sei, wird von einer nicht zu übersehenden, wenn auch nicht herrschenden Meinung in der Literatur verfochten. Vgl. zum Beispiel Choper, Judicial Review and the National Political Process, S. 175 ff.; Wechsler, The Political Safeguards of Federalism: The Role of the States in the Composition and Selection of the National Government, 54 Columbia Law Review 543 (1954); ders ., Principles, Politics and Fundamental Law, S. 49 ff. Eine kurze Einführung in Wechslers und Chopers Ideen bietet Stone , Constitutional Law, Kapitel II, S. 127 ff. (132 ff.). 404
A.a.O., S. 548.
405
A.a.O., S. 554.
4 6
A.a.O., S.
.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
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Diese ungewöhnlich weitreichende Verschiebung der Kontrollkompetenz von der Gerichtsbarkeit zum demokratisch-parlamentarischen Prozeß, deren Effekt zutreffend als „funktionelles Äquivalent zur ,politcal question doctrine 4 " bezeichnet wurde 407 , markierte den - vorläufigen - Endpunkt der Grundsatzrechtsprechung des Supreme Court zur commerce clause. Eine spektakuläre Wende vollzog das Gericht jedoch im Frühjahr 1995 in der Entscheidung United States v. Lopez.40* Alfonso Lopez wurde auf dem Gelände der von ihm besuchten High School in San Antonio im Bundesstaat Texas mit einem Revolver und Munition angetroffen und in erster Instanz von einem Bundesgericht auf der Grundlage eines 1990 verabschiedeten Bundesgesetzes, des Gun-Free School Zones Act, verurteilt. Im Rechtsmittelverfahren bestätigte der Supreme Court die bereits vom Appellationsgericht vertretene Ansicht, wonach Lopez nicht nach diesem Bundesgesetz verurteilt werden könne. Die obersten Bundesrichter erklärten mit 5 : 4 Stimmen den Gun-Free School Zones Act mangels Bundesgesetzgebungskompetenz für verfassungswidrig; insbesondere scheide die interstate commerce clause als möglicher Kompetenztitel hier aus. Die vier überstimmten Richter Souter, Ginsburg, Breyer und Stevens — letzterer war übrigens der einzige noch aktive Supreme Court-Richter der Mehrheitsfraktion in Garcia — stützten sich auf die seit Filburn bzw. Jones wohlbekannten cumulative effect- bzw. substantial economic effect-Kriterien. Während Stevens argumentierte, daß der Besitz einer Waffe indirekt oder direkt aus dem Handel folge und daß die Bundesgesetzgebungskompetenz zur Regelung des Handels mit Waffen auch das Recht umfasse, den Waffenbesitz an bestimmten Orten zu verbieten, meinte Richter Breyer, die commerce clause sei deshalb einschlägig, weil Gewalttätigkeiten mit Waffen in Schulen das Lernen der Schüler beeinträchtigten, was wiederum einen Einfluß auf den zwischenstaatlichen Handel habe, weil eine gute Ausbildung für das Arbeitsleben wichtig sei. Chief Justice Rehnquist, der wie Richterin O'Connor in seinem Dissent in Garcia der Hoffnung und der Zuversicht Ausdruck verliehen hatte, daß das Gericht bald wieder zugunsten verfassungskräftiger Gliedstaateninteressen tätig werden würde 409 , verneinte für die 5er Mehrheit eine materielle Beziehung oder einen materiellen Einfluß des Gesetzes auf den zwischenstaatlichen Handel. Diese seien hier aber erforderlich; ein kumulativer oder lediglich denkbarer Einfluß reiche nicht aus, da ansonsten dem Kompetenztitel der interstate commerce clause überhaupt keine Grenzen gesetzt seien. 407
Brugger, Einfuhrung, § 5 IV. 6., S. 50.
408
63 U.S. Law Weekly 4343 (1995). Vgl. dazu sehr instruktiv Lundmark, Feuerwaffen und Föderalismus, DAJV-Newsletter 4/95, S. 110 ff. 409
Vgl. 469 U.S. 528, 580 u. 589 (1985).
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Β. Vereinigte Staaten von Amerika
Lopez zeigt, daß der Supreme Court nach Jahrzehnten wieder einmal ein aufgrund der interstate commerce clause erlassenes Bundesgesetz mangels Legislativkompetenz des Kongresses für verfassungswidrig erklärt hat. 410 So erstaunlich die Rückkehr zu einem schärferen Prüfungsmaßstab auf den ersten Blick erscheint, dürfen entscheidende Besonderheiten des Falles doch nicht übersehen werden: Beim Gun-Free School Zones Act handelte es sich nicht um ein typisches Wirtschafts- oder Sozialgesetz, sondern um ein Sicherheitsgesetz, mithin um einen Regelungsbereich, den man im Sinne von Usery unter die der Gliedstaatensouveränität unterliegenden „traditional aspects of state sovereignty" oder die ebenfalls von der Bundesgewalt grundsätzlich nicht anzutastende „police power" der Einzelstaaten subsumieren könnte. Insofern erstaunt es nicht, daß ein den Kernbestand einzelstaatlicher Kompetenzen tangierendes Gesetz, das überdies von Präsident Bush nur widerwillig und unter Verweis auf den Kompetenzkonflikt mit den Einzelstaaten unterzeichnet wurde 411 , einer intensiveren verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterzogen wurde als ein „normales" Wirtschafts- oder Sozialgesetz. Eine Rolle mag auch gespielt haben, daß Texas wie die meisten Einzelstaaten über ein eigenes, dem Gun-Free School Zones Act funktional gleichwertiges Strafgesetz verfügt, so daß auch bei einem Wegfall des Bundesgesetzes keine Gesetzeslücke zu befürchten war. Daß schließlich Rehnquist selbst die Abfassung der Mehrheitsmeinung übernahm, ist im Hinblick auf die von ihm zum Beispiel in Usery An - stets hervorgehobene Bedeutung der Rechte der Einzelstaaten folgerichtig. Trotz Lopez belegen also die vorliegenden Fälle, daß der Supreme Court seit seiner im Jahre 1937 vollzogenen Abkehr von einer wirtschaftsliberalistisch geprägten Gesinnung, für die der Name Lochner stellvertretend steht, im Bereich der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung eine ausgeprägte Zurückhaltung an den Tag legt. Angesichts eines sehr weit zurückgenommenen, teilweise nurmehr formelhaft existierenden Prüfungsmaßstabs findet heute eine Kontrolle in der Sache praktisch nicht mehr statt. Dabei gilt dies insgesamt sowohl dann, wenn entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen an der due process-Klausel, wie auch dann, wenn sie an der equal protectionKlausel gemessen werden. Auch bei Gesetzen, die unter Berufung auf eine Verletzung der interstate commerce clause angegriffen werden, besteht derzeit keine Aussicht auf eine stringente Gerichtskontrolle. Allenfalls dann, wenn neben einem Gleichheitsverstoß noch eine andere grundrechtliche oder 4,0
Lundmark, a.a.O., S. 110 Fn. 3 nennt Railroad Retirement Co., 295 U.S. 330 aus dem Jahre 1935 (!) als letzten derartigen Fall.
Board ν. Alton Railway
411 „The policies reflected in these provisions could legitimately be adopted by the States, but they should not be imposed upon the States by Congress", zitiert nach Lundmark , a.a.O., S. 113 Fn. 40. 4,2
Dort war er ebenfalls Autor des Mehrheitsvotums.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
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grundrechtsgleiche Position berührt wird oder wenn der Kernbereich von Kompetenzen der Gliedstaaten Gegenstand einer Bundesregelung ist, besteht im Wege eines verschärften Prüfungsmaßstabes Aussicht auf eine strengere Verfassungskontrolle, die dann infolge der immer noch etwas undifferenzierten Dichotomie der Prüfungsmaßstäbe regelmäßig zur Verfassungswidrigkeit führen wird. Zwar lassen die Prüfungsparameter des rational basis test genügend Spielraum, um in Einzelfallen, insbesondere im Verbund mit nicht enumerierten fundamentalen Rechten eine wirtschafts- oder sozialgesetzgeberische Maßnahme zu Fall zu bringen. Grundsätzlich stößt der Supreme Court jedoch in diesem Bereich öffentlicher Akte an eine zwar selbst gebildete, mittlerweile jedoch stark verfestigte und wohl auch nicht ohne weiteres aufhebbare Grenze seiner Rechtsprechung. „Socio-economic regulation" bildet zusammen mit den im Anschluß zu behandelnden Fällen aus dem Bereich der auswärtigen Angelegenheiten bzw. der nationalen Sicherheit die klassischen Fälle des low level review. bb) Auswärtige Angelegenheiten und Nationale Sicherheit Bildeten Fälle aus diesem Themenkreis bereits das Herzstück der political question doctrine 413 , so gibt es auch Konstellationen, in denen der Supreme Court zwar seine Kontrollkompetenz nicht von vornherein verneint und daher einen Fall zur Entscheidung an sich zieht, andererseits aber angesichts der häufig stark „exekutivlastigen" Problematik seine Kontrolldichte so weit lokkert, daß wie auch bei der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung im Ergebnis grundsätzlich die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Maßnahme festgestellt wird. Ein erstes Fallbeispiel für das Feld der auswärtigen Angelegenheiten ist United States v. Curtiss-Wright Export Corp. AH 1934 ermächtigte der Kongreß durch einen Beschluß den Präsidenten, ein Embargo über Waffenlieferungen in die vom Krieg zwischen Bolivien und Paraguay heimgesuchte Chaco-Gegend in Südamerika zu verhängen und Präsident Roosevelt machte von dieser Ermächtigung sofortigen Gebrauch. Als Curtiss-Wright zwei Jahre später wegen eines Verstoßes gegen dieses Embargo strafrechtlich verfolgt wurde, bestritt die Firma die Verfassungsmäßigkeit von Kongreßbeschluß und Embargoverhängung. Sie argumentierte vor allem damit, daß der Kongreß unrechtmäßigerweise seine auf diesem Gebiet bestehende Gesetzgebungskompetenz an den Präsidenten delegiert habe. Dieser Argumentation folgte der Supreme Court nicht. Vielmehr stellte er zunächst fest, daß der Kongreßbe-
413
S.o. 2.a) und 2.b.aa).aaa).
4,4
299 U.S. 304 (1936).
8 Rau
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
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Schluß in die Kategorie der „foreign affairs" falle. 415 In diesem Bereich aber hätten die „politischen Gewalten", insbesondere der Präsident, einen weiten, gerichtlich nicht überprüfbaren Entscheidungsspielraum: „Es ist wichtig, nicht zu vergessen, daß wir es hier nicht nur mit einer Kompetenz zu tun haben, die dem Präsidenten in Ausübung legislativer Macht verliehen wurde, sondern mit einer solchen Kompetenz und dazuhin der außerordentlich heiklen, umfassenden und ausschließlichen Macht des Präsidenten als des einzigen Organs der Bundesregierung in internationalen Beziehungen — einer Macht, die zu ihrer Ausübung keiner Handlung von Seiten des Kongresses bedarf, ... 4 1 6 Zusammenfassend ist die Feststellung ausreichend, daß ..., für das weite Ermessen des Präsidenten, darüber zu entscheiden, ob die Durchsetzung des Gesetzes eine für die Wiederherstellung des Friedens in den betroffenen Ländern günstige Wirkung haben wird, eine hinreichende Ermächtigung besteht; , . . " 4 1 7 Gerade weil der Supreme Court unter Berufung auf die political question doctrine selten positiv sagt, was der Präsident darf, ist CurtissWright eine bedeutsame, noch heute herangezogene Entscheidung zur Begründung der präsidentiellen Machtfülle gegenüber dem Kongreß im Bereich der Außenpolitik. Nicht zu Unrecht wird allerdings darauf hingewiesen, daß dies die Gefahr der Schaffung einer Politik des fait accompli durch den Präsidenten in sich birgt. 418 In einem interessanten Kontrast dazu steht der 15 Jahre später entschiedene Fall Youngstown Sheet & Tube Co. v. Sawyer 419, der als „Steel Seizure Case" in die amerikanische Verfassungsgeschichte einging. Vor dem Hintergrund des Koreakrieges hatte Präsident Truman ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung, jedoch unter Berufung auf seine Kompetenzen als Oberbefehlshaber nach Art. II, Section 2 der Verfassung, angeordnet, daß der Staat die Kontrolle über die als kriegswichtig eingeschätzten Stahlwerke übernehmen solle, um einen drohenden Streik abzuwenden. Der von dieser Maßnahme offiziell in Kenntnis gesetzte Kongreß unternahm nichts. Richter Black wies für eine Mehrheit von 6 Richtern das auf die exekutivische Generalklausel in Artikel II gestützte Ansinnen des Präsidenten zurück und betonte, daß zu einer solchen Maßnahme nur der Kongreß als Legislativorgan befugt sei. Richter Jackson verfeinerte diesen Gedanken, indem er in seiner concurring opinion die Idee abgestufter Kompetenzen des Präsidenten entwikkelte. Diese Kompetenzen seien in Abhängigkeit vom jeweiligen Verhalten des Kongresses - ausdrückliche Erlaubnis, ausdrückliches Verbot oder 415
A.a.O., S. 315.
416
A.a.O., S. 319 f.
4.7
A.a.O., S. 329.
4.8
Vgl. Harold G. Maier, in: Oxford Companion, S. 212.
4.9
343 U.S. 579 (1952). Vgl. dazu oben I.2.c).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
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Schweigen — zu ermitteln. Durch Youngstown wurde gegenüber CurtissWright ein Kontrapunkt gesetzt: Die scheinbar völlige Machtvollkommenheit und Losgelöstheit des Präsidenten in seinem außenpolitischen Handeln wurde zurückgeführt und wieder stärker unter den Ermächtigungsvorbehalt der Legislative gestellt. Erstaunlicherweise fand eine eingehende Auseinandersetzung m i t Fragen der Kontrolldichte, die angesichts der streitigen Thematik nahegelegen hätte, nicht statt. 4 2 0 A u c h die Dissenter, angeführt von C h i e f Justice Vinson, gründeten ihre Argumentation nicht auf eine verminderte K o n trolldichte in Fragen der nationalen Sicherheit, sondern bemerkten lediglich, daß „ . . . judikative, legislative und exekutive Präzedenzfalle während unserer gesamten Geschichte zeigen, daß in diesem Fall der Präsident in voller Übereinstimmung m i t seinen verfassungsmäßigen Pflichten handelte...". 4 2 1 Trotz Youngstown hat die in Curtiss-Wright dominierende Idee umfassender präsidentieller Kompetenz und zurückhaltender richterlicher Beurteilung in foreign affairs Fällen auch in neuerer Zeit in der Sache mehrfach Bestätigung erfahren. 4 2 2 N i c h t zuletzt haben v o m Supreme Court selbst ins Leben gerufene Rechtsinstitute wie die A c t o f State-Doktrin 4 2 3 und die Sovereign I m m u n i t y - D o k t r i n lange dazu beigetragen, daß das Gericht in auswärtigen Angelegenheiten große Zurückhaltung übte. 4 2 4 420
Lediglich Justice Frankfurter streifte in seiner concurring opinion Fragen des richterlichen Prüfungsrechts, 343 U.S. 579, 594 f. (1952). 421
343 U.S. 579, 710 (1952).
422
In Dames & Moore v. Regan, 435 U.S. 654 (1981), erklärte das Gericht eine Reihe von Maßnahmen, die Präsident Carter gegen Ende seiner Amtszeit zur Sicherung der Freilassung der in der amerikanischen Botschaft in Teheran festgehaltenen amerikanischen Geiseln unternommen hatte, für verfassungsgemäß, obwohl sie einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage entbehrten, ja sogar obwohl das dafür herangezogene Gesetz, der International Economic Powers Act, nach Entstehungsgeschichte und Telos eher auf eine Begrenzung der Kompetenzen des Präsidenten gerichtet war und somit gerade keine taugliche Ermächtigungsgrundlage im Sinne der Jacksonschen „3-Stufen-Lehre" in Youngstown darstellte. Allerdings hatte der Supreme Court angesichts des überragenden Zieles von Politik und amerikanischer Öffentlichkeit, die Geiseln nach über einjähriger Gefangenschaft freizubekommen, kaum eine andere Wahl, als Carters Verhalten zu bestätigen. Noch deutlicher wurde die Bereitschaft des Gerichts, die Machtbalance zugunsten der Exekutive zu verschieben, in Immigration and Naturalization Service (INS) v. Chadha, 462 U.S. 919 (1983), wo das Recht des Parlaments, im Wege eines „legislative veto" Einfluß auf Entscheidungen der Exekutive, hier der Einwanderungsbehörde, zu nehmen, nachhaltig in Frage gestellt wurde. 423
Vgl. dazu Petersmann, Act of State Doctrine, Political Question Doctrine und gerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt, JöR NF 24 (1976), S. 587. 424 Zu den Kriterien wie auch der dank legislativer Maßnahmen nachlassenden Bedeutung dieser beiden Rechtsfiguren vgl. Franck , Political Questions - Judicial Answers, Kap. 6, S. 97 ff. Strenggenommen ist zumindest die Foreign Immunity Doktrin eine (absolute) Justitiabilitätsschranke. Die Rechtsnatur der Act of State Doktrin ist umstritten; sie wird jedoch überwiegend als „a special kind of rule of decision, not a rule of abstention" qualifiziert. Siehe Franck , a.a.O., S. 98 m.w.N.
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Β. Vereinigte Staaten von Amerika
Insgesamt ist Harold Koh zuzustimmen, der von einer Kette von Siegen der Exekutive in Fragen der auswärtigen Angelegenheiten spricht: „Since Vietnam, the Supreme Court has intervened consistently across the spectrum of United States foreign policy interests to tip the balance of foreign-policymaking power in favor of the president. Whether on the merits or on justiciability grounds, the courts have ruled for the president in these cases with astonishing regularity." 425 Bei Fragen der nationalen Sicherheit ist grundsätzlich die gleiche zurückhaltende Überprüfung festzustellen wie bei den „foreign affairs", zumal sich die beiden Gebiete häufig überschneiden. Interessant ist auch hier, wie schon oben bei der Wirtschaftsgesetzgebung, die Konstellation, in der eine mögliche Grundrechtsverletzung mit einem Problem der nationalen Sicherheit zusammentrifft. Der „Pentagon Papers Case" 426 liefert dafür ein anschauliches Beispiel: Im Juni 1971 veröffentlichten die New York Times und die Washington Post Auszüge einer geheimen Studie des Verteidigungsministeriums, die sich detailliert mit der amerikanischen Indochinapolitik und dem Vietnamkrieg beschäftigte. Die Regierung erlangte daraufhin vor Bundesbezirksgerichten unter Berufung auf Belange der nationalen Sicherheit ein vorläufiges Veröffentlichungsverbot. Diese untergerichtlichen Entscheidungen wurden vom Supreme Court wenig später im Eilverfahren zur Entscheidung angenommen. In einer knapp formulierten 6:3-Entscheidung lehnte das höchste amerikanische Bundesgericht das Veröffentlichungsverbot als Maßnahme der Vorzensur („prior restraint") ab, die angesichts der überragenden Bedeutung des Rechtes auf freie Meinungsäußerung nur ausnahmsweise in Betracht gekommen wäre. Die für die Rechtfertigung einer derartig einschneidenden Maßnahme notwendigen Darlegungen und Beweise habe die Regierungsseite nicht geführt. Wegen des Grundrechtseingriffs schien für die Mehrheit der Richter strict scrutiny wenigstens in der Sache der angemessene Prüfungsmaßstab zu sein. Daß dies wegen der Einbettung der Grundrechtsproblematik in ein Problem der nationalen Sicherheit auch anders beurteilt werden konnte, zeigt das dissentierende Votum von Richter Harlan, dem sich der Vorsitzende Richter Burger und Richter Blackmun anschlossen: „Für mich ist klar, daß der Kompetenzbereich der richterlichen Funktion bei der Beurteilung exekutivischer Akte in auswärtigen Angelegenheiten außerordentlich eng bemessen ist." 4 2 7 Zwar müsse die Justiz zum Schutz des 1. Verfassungszusatzes die von der Exekutive am Anfang getroffene Entscheidung soweit überprüfen, bis sie für sich zu der Gewißheit gelange, daß der Gegenstand der Auseinandersetzung 425
Harold Koh, The National Security Constitution, S. 134.
426
New York U.S. 713 (1971). 4
A.a.O., S.
Times Co. v. United States; United States v. Washington .
Post Co., 40
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
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innerhalb des Rahmens der außenpolitischen Kompetenzen des Präsidenten liege. Jenseits dieser Schwelle müsse sie aber die Einschätzungsprärogative der Exekutive respektieren: „Selbst wenn sich die Judikative bis zu einem gewissen Grad über die Entscheidung der Exekutive hinwegsetzen kann, ist klar, daß die Prüfungskompetenz äußerst beschränkt sein muß. Ich sehe in den Entscheidungen ... (der Untergerichte) keine Anhaltspunkte dafür, daß den Schlußfolgerungen der Exekutive jener Ermessensspielraum eingeräumt wurde, der einer Regierungsbehörde gebührt, geschweige denn jener, der einer gleichrangigen Regierungsgewalt einzuräumen ist, die innerhalb eines Bereiches operiert, in dem sie ein verfassungskräftiges Vorrecht hat." 428 Zu einer unterschiedlichen Beurteilung eines Falles, der einen Grundrechtseingriff im national security-Umfeld zum Gegenstand hatte, gelangte eine 6:3-Mehrheit des Supreme Court in Rostker v. Goldberg 429 Dabei stand die Frage auf dem Prüfstand, ob der Kongreß zwar Männer, aber nicht Frauen der Wehrerfassung unterwerfen durfte, ohne dadurch gegen den (bundesrechtlich im 5. Amendment verankerten) Gleichheitsgrundsatz zu verstoßen.430 Eingriffe in das Gleichheitsrecht, die an der Geschlechtszugehörigkeit als Unterscheidungskriterium ansetzen, wurden seit einer sich in den 70er Jahren entwickelnden Rechtsprechung 431 einem mittleren Prüfungsmaßstab, dem sogenannten intermediate review, unterworfen. Dieser spielte jedoch in der von Justice Rehnquist formulierten Entscheidung nur eine ganz untergeordnete Rolle. Das Gericht stellte insoweit ohne weitere Argumentation lediglich fest, daß niemand bestreiten könne, daß das Interesse der Regierung an der Aufstellung und dem Unterhalten einer Armee ein bedeutsames öffentliches Interesse sei und daß demnach die in Craig v. Boren aufgestellte Rechtfertigungsschwelle überschritten sei. 432
428 A.a.O., S. 758. Bemerkenswerterweise stützte sich auch einer der Angehörigen der Gerichtsmehrheit, Richter Marshall, auf Überlegungen zu den Grenzen richterlicher Kontrollbefugnis. Da der Kongreß im Angesicht der der nationalen Sicherheit durch die Veröffentlichung möglicherweise drohenden Gefahr nichts unternommen und den Präsidenten nicht zum Veröffentlichungsverbot ermächtigt habe, dürfe der Supreme Court eine derartige Entscheidung nicht nun seinerseits erneut treffen, sondern müsse das Ergebnis des bewußten Nichthandeins seitens der Legislative respektieren, a.a.O., S. 741 ff. Je nachdem, auf wessen Entscheidungsspielraum man abhebt, kann man so mit derselben Begründungsfigur - der auf der Gewaltenteilung beruhenden eingeschränkten richterlichen Kontrollkompetenz - verschiedene Ergebnisse begründen. 429
453 U.S. 57 (1981).
430
Die unter Gleichheitsgesichtspunkten besonders zugespitzte und politisch umstrittene Frage danach, ob Frauen in den Streitkräften von bestimmten Verwendungen, insbesondere in den Kampftruppen ausgeschlossen werden dürfen, wurde an dieser Stelle nicht aufgeworfen. 431 Vgl. Reed v. Reed, 404 U.S. 71 (1971), Craig v. Boren, 429 U.S. 190 (1976), Michael M. v. Superior Court of Sonoma County , 450 U.S. 464 (1981). 432
453 U.S. 57, 70 (1981).
1
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
Im wesentlichen stützte Rehnquist die Entscheidung jedoch auf Erwägungen verminderter richterlicher Kompetenz bei der Beurteilung militärischer Zusammenhänge: Grundsätzlich sei bei allen Maßnahmen des Kongresses den von ihm getroffenen Entscheidungen bereits ein beträchtliches Gewicht beizumessen. Im vorliegenden Kontext gelte dies in einem ganz besonderen Ausmaß: „Dies ist nicht, ..., nur ein Fall, der den üblichen Respekt betrifft, der Entscheidungen des Kongresses entgegengebracht wird. Der Fall stellt sich im Rahmen der Kompetenzen des Kongresses für nationale Verteidigung und militärische Angelegenheiten, und in wohl keinem Bereich hat sich das Gericht dem Kongreß mehr untergeordnet." 433 Mit der umfassenden Kompetenz der Legislative in diesem Bereich korrespondiere ein besonderer Mangel an Kompetenz auf Seiten der Gerichte. 434 Zwar sei das Einräumen einer Einschätzungsprärogative zugunsten des Kongresses nicht gleichbedeutend mit dem gänzlichen Verzicht auf gerichtliche Kontrolle. Doch liege die Verantwortung für alle Angelegenheiten, die mit den Streitkräften zu tun haben, beim Kongreß und beim Präsidenten. „(J)udges are not given the task of running the Army. ..." 4 3 5 Der Versuch des Obersten Gerichtshofs, in Fragen der nationalen Sicherheit einen Prüfungsstandard zu finden, der den anderen Gewalten, namentlich der Exekutive, den für die Erfüllung ihrer Funktion notwendigen Spielraum läßt und dennoch den Verfassungsnormen, insbesondere den Grundrechten hinreichend Rechnung trägt, ist auch in United States v. Nixon 436 erkennbar. Präsident Nixon hatte in der Kontroverse um die Herausgabe der Tonbandaufnahmen für sich ein „executive privilege" in Anspruch genommen, das gerichtlich nicht überprüfbar sei oder ihn zumindest gegenüber dem Herausgabeverlangen immun mache. Der Supreme Court betonte die Justitiabilität des Streitgegenstandes und kam nach einer Abwägung zwischen dem — im Grundsatz anzuerkennenden - präsidentiellen Geheimhaltungsinteresse und den für ein Strafverfahren geltenden Prinzipien zum Ergebnis, daß Nixon die Tonbänder herausgeben müsse. Bei der Einordnung der Entscheidung darf trotz des spektakulären und viel zitierten Ergebnisses nicht übersehen werden, daß das Gericht in Gestalt eines „presumptive privilege for Presidential communications (which is) ... fundamental to the operation of Government and inextricably rooted in the separation of powers under the Constitution . . . " 4 3 7 durchaus eine Sphäre schuf, in der zunächst einmal eine Vermutung für das 433
A.a.O., S. 64 f.
434
A.a.O., wobei Rehnquist Gilligan v. Morgan, 413 U.S. 1 (1973), den einzigen „erfolgreichen" political question-Fall aus neuerer Zeit, zitiert. 435
A.a.O., S. 71, Orloff
436
418 U.S. 683 (1974). Zum Sachverhalt vgl. oben I.2.d).
437
A.a.O., S. 708.
v. Willoughby,
345 U.S. 93 f. (1953) zitierend.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
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Geheimhaltungsinteresse des Präsidenten spricht, in das nicht ohne weiteres von Gerichten eingegriffen werden darf. Rechtstatsächlich ist zu berücksichtigen, daß in der damaligen zugespitzten Situation und angesichts des herausfordernden Verhaltens von Präsident Nixon dem Supreme Court kaum eine andere Wahl blieb, als zu der getroffenen Entscheidung zu kommen, wollte er nicht seine Rolle als „ultimate arbiter of the Constitution" aufs Spiel setzen. Die Auswahl an Beispielsfallen zeigt, daß auswärtige Angelegenheiten und Fragen der nationalen Sicherheit grundsätzlich einer verminderten Intensität richterlicher Kontrolle unterliegen und somit in die Kategorie des low level review gehören. Differenzierungen ergeben sich einerseits daraus, daß sich die Kontrolle bei Eingriffen, die für sich betrachtet einem strict scrutiny Standard unterworfen werden, wieder verdichtet. Andererseits nimmt die Kontrolldichte in dem Maße ab, in dem der außenpolitische Gehalt der Probleme wächst. Am geringsten dürfte sie bei Fragen militärischer Planung und Organisation und in Kriegszeiten sein. 438 cc) „ Judicial Federalism " — Akte der Einzelstaaten und bundesgerichtliche
Kontrolle
439
Eine weitere Grenze in der Rechtsprechung des Supreme Court ergibt sich aus der staatsrechtlichen Organisation der Vereinigten Staaten als Bundesstaat. Nach der dual sovereignties-Lehre haben sowohl die Einzelstaaten wie auch der Bundesstaat Staatsqualität und stehen mit je eigenständigem Gebiet, eigenem Volk und originärer öffentlicher Gewalt gleichberechtigt nebeneinander. 440 Entsprechend gibt es state law und federal law als Ausdruck der jeweiligen Gesetzgebungskompetenzen und zwei Gerichtssysteme, wobei der United States Supreme Court die Spitze der Bundesgerichtsbarkeit bildet. 441 Der Supreme Court trägt dem von der Verfassung angeordneten Dualismus von Bund und Einzelstaaten in mehrfacher Hinsicht Rechnung. Zum einen entscheidet er, auf der Grundlage von Letztentscheidungen des höchsten Einzelstaatsgerichts, nur „substantial federal questions" 442 , also Verstöße gegen die Bundesverfassung und sonstiges bindendes Bundesrecht. Darüber hinaus beschränkt er mit Hilfe verschiedener Doktrinen seinen Einfluß auf Einzel438
Vgl. Richter Brennans Concurrence in New York Times Co. v. United States; United States v. Washington Post Co., 403 U.S. 713, 726 (1971), wonach in Kriegszeiten sogar Zensurmaßnahmen ausnahmsweise verfassungsmäßig sein könnten. 439
Vgl. zum Ganzen Tribe , Constitutional Law, § 3-22-3-30, S. 155 ff.
440
Vgl. Brugger, Einführung, § 4.I., S. 25.
441
Vgl. oben B.LI.
442
Vgl. dazu Holt, in: Oxford Companion, S. 287 m.w.N.
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
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staatsrecht und Streitigkeiten vor Einzelstaatsgerichten auf das bundesverfassungsrechtlich notwendige Maß. 443 Im Rahmen unserer Untersuchung sind vor allem die sogenannten „abstention doctrines" relevant — Rechtsfiguren, durch die das Gericht seine verfassungsrechtliche Kontrolle grundsätzlich jedenfalls vorübergehend nicht wahrnimmt, um nicht ungebührlich in einzelstaatliches Recht oder einzelstaatliche Gerichtsverfahren einzugreifen. Eine Einordnung in die Kategorie des low level review erscheint insofern gerechtfertigt, als sich der Supreme Court im Wege einer Art Evidenzkontrolle vorbehält, in bestimmten Situationen doch selbst in die Sachprüfung einzutreten. Die nach einer frühen Leitentscheidung, Railroad Commission of Texas v. Pullman Co. 444 , Pullman-Ooktnn genannte Rechtsprechung besagt, daß Bundesgerichte dann nicht entscheiden sollen, wenn die Klärung von umstrittenem einzelstaatlichem Recht dem eigentlichen bundesverfassungsrechtlichen Problem als entscheidungserhebliche Vorfrage vorausgeht. Unnötige Reibungen mit legislativen oder administrativen Zielen der Einzelstaaten sollten unbedingt vermieden werden, schrieb Justice Frankfurter, der Autor von Pullman, und stellte fest, die entsprechenden Präzedenzfalle „reflect a doctrine of abstention appropriate to our federal system whereby the federal courts, ,exercising a wise discretion', restrain their authority because of ,scrupulous regard for the rightful independence of the state governments' and for the smooth working of the federal judiciary." 445 Voraussetzung für die Zurückhaltung des Supreme Court ist allerdings, daß das Einzelstaatsgesetz „hinreichend unklar" und somit einer Interpretation durch die Gerichte des jeweiligen Staates zugänglich ist. 446 Verstößt das Gesetz in flagranter Weise gegen Grundrechte, ist ein Eingreifen der Bundesgerichtsbarkeit ebenfalls zuläs-
443 Angesichts der bei der Verabschiedung der amerikanischen Verfassung weitverbreiteten Furcht vor einer übermächtigen Zentralgewalt, der sich Einzelstaaten und Bürger nur mit Hilfe der in der Bill of Rights niedergelegten Grundrechte würden erwehren können, mag es erstaunlich scheinen, daß viele Bürger sich heute bei einzelstaatlichen Akten der öffentlichen Gewalt an Bundesgerichte wenden, von denen sie sich - nicht immer zu Recht - einen intensiveren Schutz ihrer verfassungsmäßigen Rechte erhoffen als von den Gerichten des jeweiligen Staates. Indessen ist neben den weitreichenden Garantien, die sich aus der Bill of Rights entwickelt haben, auch die Tatsache zu beachten, daß viele Richter an einzelstaatlichen Gerichten im Gegensatz zu Bundesrichtern nicht ernannt, sondern gewählt werden, was sie in den Augen vieler Rechtssuchender weniger unparteilich und anfälliger für Stimmungen in der Öffentlichkeit macht. 444
312 U.S. 496 (1941).
445
A.a.O., S. 501 unter Bezugnahme auf mehrere precedents.
446
Vgl. Wisconsin v. Constantineau, 400 U.S. 433 (1971).
447
Vgl. Walker,
in: Oxford Companion, S. 6.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
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Ergänzt wird Pullman durch die sogenannte Younger- Doktrin, die auf der Entscheidung Younger ν. Harris 448 aufbaut. John Harris, der in einem state court von California wegen angeblichen Aufrufs zum gewaltsamen Umsturz angeklagt war, hatte sich an das zuständige Bundesbezirksgericht gewandt und eine einstweilige Verfugung gegen den Fortgang des Strafverfahrens erwirkt. Das Bundesbezirksgericht hatte festgestellt, daß das der Anklage zugrundeliegende kalifornische criminal syndicalism statute ungenau und zu weitgehend sei und demnach gegen den ersten und vierzehnten Verfassungszusatz der Bundesverfassung verstoße. Der Supreme Court hob diese Entscheidung mit 5 : 4 Stimmen auf und verwies sie zurück. Nur unter besonderen Umständen, nämlich dann, wenn ein nicht wiedergutzumachender Schaden drohe, dürfe ein Bundesgericht in schwebende Verfahren vor Einzelstaatsgerichten eingreifen. Wo wie im vorliegenden Fall nicht ersichtlich sei, daß die Strafverfolgung nur zu Schikanezwecken eingesetzt werde oder daß das zugrundeliegende Gesetz evident verfassungswidrig sei 449 , sei für die Intervention eines Bundesgerichts kein Raum. Im Gefolge von Younger ist vor allem umstritten, ob die Sperrwirkung der Verfahren vor Einzelstaatsgerichten auch bei anderen als bei Strafverfahren (und möglicherweise auch bei Verwaltungsverfahren) gilt und ab welchem Verfahrensstadium eine derartige Sperrwirkung angenommen werden kann. 450 Festzuhalten bleibt jedoch, daß jedenfalls ein laufendes Gerichtsverfahren vor einem Einzelstaatsgericht die Kontrollkompetenz der Bundesgerichte und damit auch des Supreme Court auf eine Evidenzkontrolle schrumpfen läßt. dd) Rechtsakte von Verwaltungsbehörden
451
Bei der Überprüfung administrativer Endentscheidungen stößt der Supreme Court an weitere Grenzen seiner Rechtsprechungskompetenz. Sie unterscheiden sich von den bisher genannten insofern, als sie im wesentlichen gesetzlich fixiert sind 452 , wobei beachtet werden muß, daß derartige gesetzliche Be448
401 U.S. 37 (1971).
449
„flagrantly and patently violative of express constitutional prohibitions in every clause, sentence and paragraph ...", a.a.O., S. 53, Watson v. Buck , 313 U.S. 387, 402 (1941) zitierend. 450 Vgl. zum Ganzen Tribe , Constitutional Law, § 3-30, S. 201 ff., und Lockhart, Constitutional Law, Kapitel 13, Section 2, II, S. 1639 ff. 451 Vgl. Brugger, Einführung, §§ 22, 23, S. 202 ff. (212 ff.); Linneweber, S. 145 ff. Die hier zufindenden Rechtsprechungsgrenzen werden, weit mehr als andere, durch gesetzliche Vorgaben beeinflußt und sind insofern nur eingeschränkt als selbst entwickelte anzusehen. 452 S. §§ 701-706 des Federal Administrative Procedure Act (APA), 5 USC §§ 701 — 706; abgedruckt bei Brugger, Einfuhrung, Anhang B, S. 242 f. Wegen der gegenüber Gerichtsentscheidungen geringeren Bedeutung von Kodifikationen in der amerikanischen
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grenzungen ihrerseits verfassungsgemäß sein müssen und insbesondere nicht gegen Grundrechte verstoßen dürfen 453 , was der Supreme Court, etwa im Wege einer verfassungskonformen Interpretation, selbst sicherstellt. Da es in den Vereinigten Staaten keine besondere Verwaltungsgerichtsbarkeit gibt, und da die erstinstanzliche Gerichtskontrolle von Verwaltungsentscheidugen meist in den Händen der Bundesberufungsgerichte liegt 454 , wird der Supreme Court immer wieder in die Lage versetzt, sich mindestens implizit zu Fragen des gerichtlichen Prüfungsumfangs bei der Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen zu äußern. Grundsätzlich sind alle abgeschlossenen Verwaltungshandlungen gerichtlich überprüfbar. 455 Im Anschluß an Brugger ist zunächst festzuhalten, daß neben einer eher seltenen kompletten gerichtlichen Kontrolle im Wege des „de novo review" und einer ebenfalls unüblichen ausnahmsweisen Nichtkontrolle vor allem ein mittlerer Prüfungsmaßstab in Gestalt eines sogenannten substantial evidence-Tests und eines Willkürtests, demzufolge eine Entscheidung nicht „arbitrary, capricious" oder „an abuse of discretion" sein darf, vorherrscht. 456 Der Prüfungsmaßstab ist im einzelnen weiterhin abhängig von dem Grad an legislativer Präzision, mit dem eine Ermächtigungsgrundlage für Verwaltungshandeln gefaßt ist, und davon, für wie leistungsfähig, gewissenhaft, unparteiisch und gleichmäßig in ihrer Entscheidungspraxis eine bestimmte Behörde vom überprüfenden Gericht eingeschätzt wird. Gegenstand richterlicher Kontrolle des Behördenhandelns sind erstens Tatsachenermittlungen, zweitens Rechtsauslegung und drittens Rechtsanwendung und Ausübung von Ermessen. Für die vorliegende Untersuchung sind insbesondere die erste und dritte Kategorie beachtenswert. Im Rahmen der Kontrolle von Tatsachenermittlungen (questions of fact) werden formelle Verwaltungsentscheidungen dem oben erwähnten substantial evidence-Test unterzogen. Danach muß die Behördenentscheidung auf wesentlichem Tatsachenmaterial aufbauen und zwar „such relevant evidence as a reasonable mind might accept as adequate to support a conclusion". 457 DieRechtsquellenhierarchie und angesichts der Auslegungsbedürftigkeit der Normen erscheint es gerechtfertigt, diese Fallgruppe im Rahmen der vom Supreme Court selbst entwickelten Grenzen seiner Rechtsprechungsbefugnis mitzubehandeln. 453
Brugger, a.a.O., § 22 III.2., S. 204.
454
A.a.O., § 22 II., S. 203.
455
A.a.O., § 22 III., S. 204, unter Verweis auf § 703 f. des APA und die Leitentscheidung Abbott Laboratories v. Gardner, 387 U.S. 136 (1967). 456 457
A.a.O., § 23 I., S. 209.
A.a.O., § 23 IL, S. 213 unter Verweis auf die Formulierung in Consolidated Edison Co. v. National Labor Relations Board, 305 U.S. 197, 229 (1938). Ein anschauliches Bei-
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
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se Formel besagt für sich allein recht wenig. Ob die gerichtliche Kontrolle intensiver oder lockerer ist, hängt dann von der der Behörde zugestandenen Expertise, Unparteilichkeit und bisherigen „Verläßlichkeit" ab. Verwaltungsentscheidungen, die auf informellen Verfahren beruhen, werden dann akzeptiert, wenn sie nicht „arbitrary" oder „capricious" sind. Dieser Test wurde früher vom Supreme Court wie der weiter oben 458 erwähnte verfassungsrechtliche rational basis test behandelt459 und stellte damit keine echte Hürde dar. Neuerdings wurden die Anforderungen verschärft und damit der arbitrary and capricious-Test inhaltlich dem substantial evidence-Test angenähert. 460 Die Auslegung von Rechtsfragen (legal interpretation) durch Verwaltungsbehörden begegnet grundsätzlich einer intensiven gerichtlichen Kontrolle. Diese lockert sich jedoch in dem Maße, wie der Gesetzgeber der Verwaltung durch flexible Zielsetzung Spielräume eröffnet. Darüber hinaus können erneut Sachkenntnis, Verfahrensfairness und Konsistenz der behördlichen Praxis zu einer Absenkung des Kontrollmaßstabs bis etwa auf das Niveau eines arbitrary and capricious-Tests führen. Behördliche Rechtsanwendung (legal conclusion) und die Ausübung von administrativem Ermessen (discretion) bilden jenen Teilbereich des Behördenhandelns, der am ehesten dem low level review, also der gegen Null tendierenden richterlichen Kontrolle zugeordnet werden kann. Findet bei Rechtsanwendungsfragen, die auf gesetzlich eingeräumtem Ermessen basieren, noch eine Willkürprüfung statt 461 , so soll gemäß § 701 (a) (2) des Federal Administrative Procedure Act bei „agency action ... committed to agency discretion by law" eine gerichtliche Kontrolle ausgeschlossen sein. Diese Vorschrift wird allerdings vom Supreme Court eng ausgelegt462 spiel für die Anwendung des substantial evidence-Test bietet die Entscheidung American Textile Manufacturers Inst v. Donovan , 452 U.S. 490 (1981). 458
S.o. aa).
459
In Rochester Tel Corp. v. U.S., 307 U.S. 125 (1939) hatte die Federal Communications Commission (FCC) festgestellt, daß sich eine Telefongesellschaft „unter der Kontrolle" einer anderen befinde. Dieser „issue of fact" wurde vom Gericht so akzeptiert. „The judicial function is exhausted when there is found to be a rational basis for the conclusions approved by the administrative body", a.a.O., S. 146 unter Verweis auf mehrere precedents. 460
Brugger, a.a.O., § 23 II., S. 214. Vgl. auch die Einschätzung des damaligen Court of Appeals-Richters Scalia, der feststellt, daß der Unterschied zwischen dem substantial evidence-Test und dem arbitrary and capricious-Test nach allgemeiner Auffassung der Bundesberufungsgerichte wie auch der Literatur „largely semantic" sei. Assoctiation of Data Processing Service Organizations ν. Board of Governors , 745 F.2d 677 (D.C. Cir. 1984), zitiert nach Schwartz , Administrative Law, Kap. 7, S. 816. 461 462
A.a.O., § 23 IV., S. 216.
„This is a very narrow exception", Citizens to Preserve U.S. 402, 410 (1971).
Overton Park v. Volpe , 401
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und findet nur dann Anwendung, wenn die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für das Verwaltungshandeln keine Rechtsmaßstäbe erkennen läßt, an denen die Verwaltung sich orientieren könnte. 463 Beispielhaft dafür ist der Fall Heckler v. Chaney m, in dem die Entscheidung der Food and Drug Administration, keine Maßnahmen wegen angeblichen Verstoßes gegen das Lebensmittelrecht zu unternehmen, vom Supreme Court unter Zugrundelegung des „no law to apply"-Tests von Overton einmütig für gerichtlich nicht überprüfbar gehalten wurde. 465 Zweierlei ist jedoch zu beachten, um den Ausnahmecharakter dieses gänzlichen Verzichts auf gerichtliche Kontrolle nicht aus den Augen zu verlieren: zum einen werden sich, und sei es nur in Form interner Verwaltungsvorschriften, häufig doch „law to apply" and damit Kriterien ergeben, anhand deren ein Gericht das Verwaltungshandeln kontrollieren könnte. 466 Zum zweiten geht der Supreme Court offenbar davon aus, daß gerichtliche Kontrolle bei Nichthandeln der Verwaltung weniger erforderlich sei, da vom Verhalten der Behörde dann normalerweise keine Zwangswirkung auf grundrechtlich geschützte Positionen ausgehe.467 Im Umkehrschluß bedeutet dies, daß bei aktivem Verwaltungshandeln eine gerichtliche Überprüfung angezeigt ist. Insgesamt stelle die erwähnte Passage von § 701 (a) (2) eine widerlegbare Vermutung der Nichtjustitiabilität dar. Es bleibe letztlich dem Gesetzgeber überlassen, im einzelnen die Grenzen der Justitiabiltät derartigen Verwaltungshandelns festzulegen. 468 Insgesamt ergibt sich somit bei der Frage nach der höchstrichterlichen Kontrolldichte administrativer Entscheidungen ein differenziertes Bild: Ausgehend vom Grundsatz, daß alle Behördenentscheidungen kontrolliert werden könnnen, überwiegt ein mittlerer Prüfüngsmaßstab, der in Abhängigkeit von der der jeweiligen Ermächtigungsgrundlage zugrundeliegenden gesetzgeberischen Zielsetzung verschärft oder gelockert werden kann. Fachkompetenz der Behörde, Fairness im Verwaltungsverfahren und Konsistenz in der behördlichen Praxis führen tendenziell zu einer verringerten Kontrolldichte. In eng umgrenzten Ausnahmefällen ist bei ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung und unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Mindestgarantien für richterliche Kontrolle gar kein Platz. 463
„... where statutes are drawn in such broad terms that in a given case there is no law to apply", a.a.O. 464
470 U.S. 821 (1985).
465
A.a.O., S. 830 ff.
466
Darauf hatte sich unter anderem die abweichende Meinung der Untergerichte gestützt, a.a.O., S. 835 f. 467 „... we note that when an agency refuses to act it generally does not exercise its coercive power over an individual's liberty or property rights, and thus does not infringe upon areas that courts often are called upon to protect", a.a.O., S. 832 (Hervorh. i.O.). 468
A.a.O., S. 838.
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c) Zusammenfassung Low level review, ein auf eine Evidenzkontrolle zurückgenommener gerichtlicher Prüfüngsmaßstab, beherrscht die neuere Rechtsprechung des Supreme Court vor allem in Fragen der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung, bei auswärtigen Angelegenheiten und Problemen der nationalen Sicherheit und gegenüber Akten der Einzelstaaten. Zur dogmatischen Begründung dieser Praxis bieten sich der Grundsatz der Gewaltenteilung und das Prinzip des Föderalismus an. Danach, so kann man argumentieren, ist der politisch-legislative Prozeß grundsätzlich besser als Gerichte dazu in der Lage, komplexe Steuerungs- und Verteilungsprobleme zu lösen. In Fragen der auswärtigen Beziehungen und, häufig damit in Verbindung stehend, der nationalen Sicherheit kommt im Gegensatz dazu dem Präsidenten als einsamer Spitze der Exekutive, dessen Autorität und Handlungsbereitschaft nicht durch gerichtliche Intervention geschwächt werden soll, eine traditionell weitreichende Einschätzungs- und Entscheidungsprärogative zu. Die bundesstaatliche Ordnung der USA gebietet es, so läßt sich fortfahren, daß die Bundesgerichtsbarkeit nur in Ausnahmefallen in Verfahren, die vor Einzelstaatsgerichten anhängig sind, eingreift und daß sie sich auch einer Entscheidung legislativer oder administrativer Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Einzelstaaten weitgehend enthält.
4. Judicial Self-Restraint a) Einleitung Die Idee des judicial self-restraint, oder judicial restraint, wie sie manchmal genannt wird, ist kein allgemein anerkanntes verfassungsrechtliches Konzept. Terminologie und Systematik sind uneinheitlich und schwankend. So gerne der Terminus in der deutschen Diskussion verwendet wird 4 6 9 , so wenig konturiert zeigt er sich in seinem Ursprungsland. 470 Zum Teil wird judicial 469 470
Vgl. dazu unten C.II.5.a).
Es ist bezeichnend, daß noch nicht einmal die amerikanischen Standardlehrbücher zum Verfassungsrecht von Tribe, Stone und Lockhart ein Kapitel haben, in dem sie sich ausdrücklich der Thematik des judicial restraint unter dieser oder ähnlicher Überschrift widmen würden. Eine Annäherung an die Problematik findet, wenn überhaupt, im allgemeinen im Anschluß an Bickels Idee von den „passive virtues" (vgl. The Least Dangerous Branch, Kapitel 4, S. I l l ff. ) statt. So Stone I.E., S. 84 ff., wo aber etwa die Leitentscheidung Ashwander v. Tennessee Valley Authority , 297 U.S. 288 (1936) noch nicht einmal erwähnt wird. Vgl. auch Tribe , Constitutional Law, § 3-8, S. 69 ff., der die Thematik des judicial self-restraint im Rahmen von „Nonconstitutional Aspects of Justiciability Doctrine" lediglich streift, daneben aber eine Reihe von Beispielsfallen anfuhrt, in denen der Supreme Court mit unterschiedlichen Begründungen eine Entscheidung ablehnt. Zu einem Versuch, die damals noch junge bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung für Vergleichs-
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self-restraint als allgemeine Rechtsfigur verstanden, die, aufbauend auf den Grundsätzen von Gewaltenteilung und republikanischer Regierungsform, die bereits oben ausdifferenzierten relativen und absoluten Justitiabilitätsschranken umfaßt. 471 Darüber hinaus wird der Begriff self-restraint oft mit dem Postulat in Verbindung gebracht, die Richter sollten sich auf die Rechtsanwendung beschränken und nicht ihre verfassungsrechtlichen Vorstellungen an die Stelle dessen setzen, was in der Verfassung steht.472 Letzteres führt unweigerlich zu der sowohl innerhalb des Supreme Court als auch in der amerikanischen Verfassungsrechtslehre heftig umstrittenen Kontroverse um Inhalt und Fortentwicklung der Verfassung und um die zulässigen Methoden der Verfassungsinterpretation. Judicial self-restraint writ small wird hier als eine weitere, neben zahlreichen Argumentationsfiguren verstanden, die Nichtentscheidungen in der Sache oder reduzierte Kontrolldichte legitimieren helfen sollen. 473 So wird die Idee, zumindest inhaltlich, wohl auch vom Supreme Court überwiegend verstanden, wobei in Fällen, in denen der Exekutive und insbesondere der Legislative ein Einschätzungsspielraum gewährt wird, häufig Erwägungen des selfrestraint mitschwingen und mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck gebracht werden. b) Äußerer Aspekt Bereits in frühen Entscheidungen des Supreme Court wurde die auf den Grundsatz der Gewaltenteilung gestützte Idee richterlicher Zurückhaltung angesprochen. 474 Dabei ist allerdings zu beachten, daß der Supreme Court damals erst im Begriff war, vorsichtig tastend seine Position im Gefüge der neugeschaffenen Bundesgewalten zu finden. Insofern kann, ja muß auch zwecke fruchtbar zu machen, vgl. Mc Whinney , Judicial Restraint and the West German Constitutional Court, 75 Harvard Law Review 5 (1961). 471
Vgl. Brubaker , in: Oxford Companion, S. 470.
472
A.a.O., S. 470 f. Die allgemeine Idee von der richterlichen Zurückhaltung als komplementärer Kehrseite richterlicher Kontrollkompetenz betont bereits im Jahre 1893 Thayer , American Doctrine of Constitutional Law, 7 Harv. L. Rev. 129 (S. 142: ... „cautious exercise of this judicial check" ...) , der damit die - auf der Grundlage der nun allmählich allgemein anerkannten richterlichen Normenkontrollkompetenz - wohl herrschende amerikanische Meinung im 19. Jahrhundert zum Ausdruck bringt. „The doctrine of judicial restraint concerns the substance as well as the timing of judicial decisions", Stevens , Judicial Restraint, 22 San Diego Law Review 437, 446 (1985). 474 Vgl. Hayburns Case, 2 U.S. (2 Dall.) 409 (1792): ... „None can be more sensible than we are of the necessity of judges being in general extremely cautious in not intimating an opinion in any case extra-judicially, because we well know how liable the best minds are, notwithstanding their utmost care, to a bias, which may arise from a pre-conceived opinion, even unguardedly, much more deliberately, given", a.a.O., S. 415, Votum von Justice Iredell.
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Marbury v. Madison, die Entscheidung, mit der der Supreme Court seine Normenkontrollkompetenz begründete 475, inhaltlich unter dem Aspekt des judicial restraint gesehen werden. Durch eine restriktive Interpretation der in Art. III, Section 2, Clause 2 der Verfassung enthaltenen Zuständigkeitsnormen gelangte Chief Justice Marshall in seiner Entscheidung zu einem Widerspruch mit dem einfachgesetzlichen Judiciary Act, nach dem der Supreme Court für die Anordnung der Übergabe von William Marburys Ernennungsurkunde zuständig gewesen wäre. Angesichts der Höherrangigkeit der Verfassung, verbunden mit der postulierten Normenkontrollkompetenz des Supreme Court, konnte somit das die gerichtliche Zuständigkeit begründende Gesetz für verfassungswidrig erklärt werden. Gleichzeitig - und darin liegt Marshalls geniale Instrumentalisierung des Zurückhaltungsgedankens 476 — konnte sich der Supreme Court für die an sich rechtlich geschuldete Übergabe der Ernennungsurkunde für nicht zuständig erklären und somit einen offenen Konflikt mit dem Kongreß vermeiden. Auch Brown II 477, die 9:0-Entscheidung, in der sich der Supreme Court 1955 zu den Konsequenzen aus seiner ein Jahr zuvor gefällten Leitentscheidung, wonach die Rassentrennung an öffentlichen Schulen wegen Gleichheitswidrigkeit gegen die Verfassung verstößt 478, äußerte, kann als Ausdruck von judicial restraint verstanden werden. 479 Der Supreme Court wies die Untergerichte an, die Aufhebung der Rassentrennung „with all deliberate speed" 480 , also besonnen und wohlüberlegt ins Werk zu setzen. Für das „all deliberate speed"-Kriterium, „a remedy unusual in its imprecision" 481 wurden Chief Justice Earl Warren und seine Kollegen hart kritisiert. 482 Auch fiel auf, daß der Supreme Court für geraume Zeit den Schulbehörden und Untergerichten die Umsetzung der neuen Linie überließ und sich selbst erst wieder in 475
5 U.S. (1 Cranch) 137 (1803). Vgl. dazu Brugger, Grundrechte, § 2, S. 5 ff.
476
Nach Ansicht von Robert McCloskey versetzte Marshall das Gericht mit seiner Begründung „in die wunderbare Lage ... in einem einzigen Atemzug Kompetenzen abzulehnen und zu ergreifen", Robert McCloskey, The American Supreme Court, S. 42, zitiert nach Tribe , Constitutional Law, § 3-3, S. 26. 477
Brown ν. Board of Education (of Topeka), 349 U.S. 294 (1955), sog. Brown II.
478
Brown v. Board of Education (ofTopeka), 347 U.S. 483 (1954), Brown I. Wegen der zu erwartenden Kontroverse um die Entscheidung beschränkte sich das Gericht zunächst darauf, die Rassentrennung für verfassungswidrig zu erklären und verschob die Entscheidung der Frage, wie diesem Zustand abzuhelfen sei (Brown II), auf einen späteren Zeitpunkt. 479 So etwa Heller, S. 105, dessen andere Beispielsfälle Dred Scott, a.a.O. S. 96 f., und Lochner, a.a.O. S. 104, allerdings höchstens vordergründig, in der Sache jedoch wohl gerade keine richterliche Zurückhaltung widerspiegeln. 480
349 U.S. 294, 301 (1955).
481
Tribe , Constitutional Law, § 16-18, S. 1489.
482
Nachweise bei Stone , Constitutional Law, V.A.3., S. 505.
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
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Cooper v. Aaron 483 zu Wort meldete. Jedoch dürfte es erneut eben jene schon bei Marbury zu beobachtende Mischung aus Kühnheit und Zurückhaltung gewesen sein, mit der der Supreme Court zu einer Zeit, als der Kongreß und die amerikanische Gesellschaft zu einer Aufhebung der Rassentrennung auf breiter Front (noch) nicht bereit waren, eine epochale Entscheidung traf und durch die flexible und delegative Vollziehung sich selbst davor bewahrte, ins Abseits gesellschaftlich nicht konsensfahiger Positionen zu geraten und damit seine eigene Stellung zu gefährden. c) Innerer Aspekt Marbury und Brown II sind Beipielsfalle dafür, wie ein geschlossener Supreme Court gegenüber den anderen Regierungsgewalten und der Öffentlichkeit, also „nach außen", eine gewisse inhaltliche Zurückhaltung zum Zwecke des Ausbaus bzw. der Erhaltung der eigenen Macht instrumentalisierte. Als Ausgangspunkt der Idee vom judicial self-restraint wird jedoch im allgemeinen das Sondervotum von Justice Harlan Fiske Stone in United States v. Butler 484 angesehen, dem sich seine Kollegen Brandeis und Cardozo anschlossen. In ihm wird jene gegen eine bestimmte Auffassung innerhalb des Gerichts, mithin „nach innen" gewandte Argumentationsrichtung sichtbar, deren sich Mitglieder des Supreme Court unter Berufung auf self-restraint in der Folgezeit häufiger bedienten. In Butler erklärte das Gericht mit einer Mehrheit von 6 Richtern eine durch den Agricultural Adjustment Act von 1933 eingeführte Steuer, mit deren Hilfe Bauern für Flächenstillegungen subventioniert werden sollten, für verfassungswidrig. Stone wehrte sich gegen die seiner Ansicht nach unzulässige Anmaßung quasilegislativer Gewalt durch den Supreme Court mit folgenden Worten: „The power of courts to declare a statute unconstitutional is subject to two guiding principles of decision which ought never to be absent from judicial consciousness. One is that courts are concerned only with the power to enact statutes, not with their wisdom. The other is that while unconstitutional exercise of power by the executive and legislative branches of the government is subject to judicial restraint, the only check upon our own exercise of power is our own sense of self-restraint. For the removal of unwise laws from the statute books appeal lies not to the courts but to the ballot and to the processes of democratic government." 485 Während der Hinweis auf den politischen Prozeß und die Wahlen als eigentliches Instrument zum Schutz der Verfassung mittlerweile wohlvertraut klingt, fallt auf, daß der Au483
358 U.S. 1 (1958).
484
297 U.S. 1 (1936).
485
A.a.O., S. 78 f.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
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tor der Mehrheitsmeinung, Justice Roberts, möglicherweise selbst von einer begrenzten richterlichen Entscheidungskompetenz ausging. Er schrieb, die richterliche Kontrollfunktion bestehe darin, „to lay the Article of the Constitution which is invoked beside the statute which is challenged and to decide whether the latter squares with the former." 486 Mag dies auch eine griffige Umschreibung fur den juristischen Vorgang der Subsumtion sein, gewonnen ist damit im Grunde nichts. Jedoch erhellt aus dem Vergleich der beiden Textstellen, daß der bloße Hinweis auf judicial self-restraint keine eigene normative Kraft entfaltet und der inhaltlichen Ausfüllung und Determinierung bedarf. Einen solchen Versuch unternahm kurz darauf Justice Brandeis in Ashwander v. Tennessee Valley Authority ,487 Minderheitsgesellschafter eines Versorgungsunternehmens hatten versucht, den Vorstand am Kauf von Strom von der Tennessee Valley Authority, eines im Rahmen des New Deal unter anderem zur Arbeitsbeschaffung errichteten Staudammprojekts, zu hindern und hatten damit inzident die Kompetenz des Kongresses zur Errichtung derartiger Projekte in Frage gestellt. Der Supreme Court hieß mit 8: 1 Stimmen den Tennessee Valley Authority Act gut. Justice Brandeis stimmte zwar dem Ergebnis, nicht aber der Begründung zu. Seiner Ansicht nach hätte das Gericht angesichts einer bloßen gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzung von Aktionären zu Fragen des Verfassungsrechts nicht Stellung nehmen dürfen. Anhand von sieben thesenartigen Regeln, den sogenannten Ashwander rules, verdeutlichte er sein Verständnis von der angemessenen Rolle des Supreme Court bei der Lösung verfassungsrechtlicher Fragen. Danach soll (1) das Gericht in Verfahren, in denen nicht zwei Parteien einander als Gegner gegenüberstehen (nonadversary proceedings) keine verfassungsrechtliche Normenkontrolle durchführen; das Gericht soll (2) die Entscheidung von Verfassungsfragen nicht vorwegnehmen, sondern sie erst dann entscheiden, wenn dies erforderlich ist; (3) autoritative Aussagen des Gerichts zum Verfassungsrecht sollen nicht weitreichender sein, als es die Tatsachen des jeweiligen Falles unbedingt erfordern; (4) das Gericht soll sich nicht zu Fragen des Verfassungsrechts äußern, wenn es auch eine andere Möglichkeit zur Entscheidung eines Rechtsstreits gibt; (5) über die Gültigkeit eines Gesetzes soll nur dann entschieden werden, wenn die Klage führende Partei glaubhaft machen kann, durch das Gesetz verletzt worden zu sein; (6) auf Veranlassung einer Partei, die von einem Gesetz profitiert hat, soll ein Gesetz nicht für verfassungswidrig erklärt werden; (7) das Gericht soll immer prüfen, ob nicht eine vernünftige (verfassungskonforme) Interpretation eines Gesetzes es möglich macht, die Frage einer etwaigen Verfassungswidrigkeit zu vermeiden. 488 486
A.a.O., S. 62.
487
297 U.S. 288 (1936).
488
A.a.O., S. 346-348.
9 Rau
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
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Obwohl sie den Eindruck erwecken, als könnten sie dem vagen Bild von judicial self-restraint schärfere Umrisse verleihen, sind die Ashwander rules innerhalb des Supreme Court nicht zum dogmatischen Allgemeingut geworden, auf dem aufzubauen gewesen wäre. Vielmehr überwiegen in der Folgezeit die eher persönlich geprägten, auf einer individuellen Anschauung von Funktion und Reichweite des Supreme Court basierenden Zwischenrufe, die sich, insbesondere zur Begründung von Minderheitsvoten, ausdrücklich oder unausgesprochen auf die Idee von judicial self-restraint stützen. Daß diese Idee allein als argumentative Basis nicht ausreicht, um in Begründung und Ergebnis zu übereinstimmenden Ansätzen zu gelangen, belegen die folgenden beiden Beispiele. 489 In Rochin v. California 490 ging es um die Frage, ob einem Beschuldigten gegen seinen Willen der Magen ausgepumpt werden durfte, um ihn so des unerlaubten Drogenbesitzes zu überfuhren. Der Supreme Court hielt dies einstimmig für verfassungswidrig und hob die Verurteilung von Rochin auf. Richter Frankfurter, ein ausgeprägter Anhänger richterlicher Zurückhaltung 491 , formulierte die Entscheidung des Gerichts. Er stellte fest, daß die auf der Zulassung dieser Beweismethode beruhende Verurteilung gegen die due process clause des 14. Verfassungszusatzes verstoße. Die vagen Konturen dieser Klausel würden durch ungeschriebene Grundsätze des Verfassungsrechts, „which, ..., are so rooted in the traditions and conscience of our people as to be ranked as fundamental, ..., or are i m plicit in the concept of ordered liberty'" 4 9 2 konkretisiert. Angesichts des als flagrant empfundenen Eingriffs in verfassungsrechtlich schützenswerte Sphären mochte Frankfurter trotz eines Bekenntnisses zum Primat der Einzelstaaten bei der Strafverfolgung nicht zurückstecken: das Verhalten der Polizeibeamten „shocks the conscience" und sei „too close to the rack and screw to permit of constitutional differentiation". 493 Sein Kollege Hugo Black, der ebenfalls ein Anhänger richterlicher Zurückhaltung war, dies aber auf eine streng an Wortlaut der Verfassung und historischem Willen der Verfassungsgeber orientierten Verfassungsinterpretation gründete 494 , stimmte zwar dem Ergebnis zu, wollte die Argumentation aber an einer Verfassungsnorm, nämlich dem 5. Verfassungszusatz 495 festma489
Vgl. dazu Brubaker, in: Oxford Companion, S. 470 f.
490
342 U.S. 165 (1952).
491
Vgl. z.B. seine concurrence in Dennis v. U.S., 341, 517 ff. (1951): „Free-speech cases are not an exception to the principle that we are not legislators, that direct policy-making is not our province", a.a.O., S. 539. 492
A.a.O., S. 169.
493
A.a.O., S. 172.
494
Vgl. Brugger, Grundrechte, § 33 I, S. 348 f.
495
Danach darf unter anderem niemand in einem Strafverfahren zur Aussage gegen sich selbst gezwungen werden.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
131
chen, anstatt sich wie die Mehrheitsmeinung in seiner Ansicht nach „nebulösen" 496 und letztlich fur den Grundrechtskatalog sogar gefahrlichen Begründungen zu ergehen. Während die „restrainists" in Rochin wenigstens, wenn auch auf unterschiedlichen Wegen, zum gleichen Ergebnis gelangten, so führten ihre unterschiedlichen Sichtweisen in Griswold v. Connecticut 97 sowohl zu unterschiedlichen Begründungen wie auch zu verschiedenen Ergebnissen. Eine von mehreren concurrences durchsetzte Mehrheit von 7 Richtern erklärte das ominöse Gesetz von Connecticut, wonach die Benutzung empfängnisverhütender Mittel bei Strafe verboten war, für verfassungswidrig. Richter Harlan, der wie sein mittlerweile zurückgetretener Kollege Frankfurter grundsätzlich gegenüber dem Gesetzgeber eine zurückhaltende Position einnahm 498 , stimmte dem Ergebnis dennoch zu. Zur Begründung zog er in seiner concurring opinion wie vor ihm Frankfurter in Rochin das Prinzip der in der due process clause enthaltenen „basic values implicit in the concept of ordered liberty" 499 heran. Völlig anders dagegen Richter Blacks Dissent: Obwohl auch er seine instinktive Ablehnung gegen das Gesetz nicht verhehlen wollte, sah er keine verfassungsrechtliche Grundlage, um es zu kippen: „ I like my privacy as well as the next one, but I am nevertheless compelled to admit that government has a right to invade it unless prohibited by some specific constitutional provision." 500 Im übrigen seien die Begründungen der Mehrheitsmeinung von Beliebigkeit und einem falschen Verständnis von der gerichtlichen Funktion geprägt: „Use of any such broad, unbounded judicial authority would make of this Court's members a day-to-day constitutional convention. ... (T)here is no provision of the Constitution which either expressly or impliedly vests power in this Court to sit as a supervisory agency over acts of duly constituted legislative bodies and set aside their laws because of the Court's belief that the legislative policies adopted are unreasonable, unwise, arbitrary, capricious or irrational. The adoption of such a loose, flexible, uncontrolled standard for holding laws unconstitutional, ..., will amount to a great unconstitu-
496
342 U.S. 165, 175 (1952).
497
3 81 U.S. 479 (1965). Bekannt wurde die Entscheidung nicht nur wegen der divergierenden Urteilsbegründungen, sondern vor allem wegen der erstmaligen höchstrichterlichen Anerkennung eines verfassungsmäßigen Rechtes auf Privatspäre („right of privacy"). 498
Vgl. nur seinen Dissent in Shapiro ν. Thompson , wo er, den Ausgangsfall von judicial self-restraint, U.S. v. Butler , zitierend feststellt: „Congressional enactments come to this Court with an extremely heavy presumption of validity", Shapiro v. Thompson, 394 U.S. 618, 675 (1969). 499
381 U.S. 479, 500 (1965).
A.a.O., S. 10.
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tional shift of power to the courts which ... will be bad for the courts and worse for the country." 501 d) Zusammenfassung Zusammenfassend kann daher judicial self-restraint nicht als eine von einem innergerichtlichen Konsens getragene, objektivierbare Rechtsfigur angesehen werden, von der eine nennenswerte normative Kraft ausginge. Nach dem hier Gesagten bieten sich drei mögliche Deutungen an, um die Idee richterlicher Selbstbeschränkung zu umschreiben. Zunächst kann man den Terminus als allgemeinen Oberbegriff verwenden, der relative und absolute Justitiabilitätsschranken wie das „case and controversy"-Erfordernis und die political question doctrine und darüber hinaus möglicherweise das Phänomen des low level review umfaßt. Weiterhin ist es denkbar, von richterlicher Selbstbeschränkung immer dann zu sprechen, wenn ein in sich geschlossener Supreme Court unter Berufung auf den gewaltenteiligen oder/und föderalen Aufbau des amerikanischen Staates politisch und gesellschaftlich umstrittene Probleme einer gerade noch konsensfähigen Lösung zuführt und um des Ergebnisses willen scheinbaren oder echten Verzicht übt (äußerer Aspekt). 502 A m häufigsten wird schließlich unter judicial self-restraint jedoch die von jedem Richter, nötigenfalls auch gegen seine Kollegen, zu erbringende Fähigkeit verstanden, die Grenzen richterlicher Entscheidungsmacht zu (er)kennen und sie sich stets vor Augen zu führen. Dabei ist jedoch zu beobachten, daß die individuelle „Verfassungsphilosophie" der Richter im Zweifel stärker ist als ein gemeinsames Verständnis davon, was richterliche Selbstbeschränkung ausmacht (innerer Aspekt). So bleiben am Ende nicht viel mehr als wohlklingende Appelle an Erfahrung, Augenmaß und Fähigkeit zur Selbstprüfung angesichts weitreichender richterlicher Kompetenzen. Der ehemalige Supreme Court-Richter Benjamin Cardozo beschrieb diese Aufgabe als Erfahrungs- und Reifeprozeß, wenn er von den Richtern verlangte: „Their conclusions must, indeed, be subject to constant testing and retesting, revision and readjustment; but i f they act with conscience and intelligence, they ought to attain in their conclusions a fair average of truth and wisdom." 503 Justice Stevens äußert sich in seinem Aufsatz über judicial restraint verhalten optimistisch über das Gelingen richterli501 A.a.O., S. 520 f. Black gibt sich hier auch deutlich als Anhänger der Auslegungsmethode des „originalism" zu erkennen. Vgl. dazu sogleich unten 5. 502 Insoweit ist die Einschätzung gerechtfertigt, daß der Grundsatz richerlicher Zurückhaltung nur dann gelte, wenn sich das Gericht daran halten wolle. So Brugger, Einfuhrung, § 2 I., S. 8. 503
Cardozo , The Nature of the Judicial Process, Yale University Press, 2. Aufl., 1961, S. 136, zitiert nach Heller , S. 102.
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eher Gratwanderung zwischen Rechtsanwendung und Rechtsschöpfung, weist aber zu Recht auf die trotz allgemein guten Willens bestehende Vielzahl möglicher Konfliktherde hin: „It is, of course, axiomatic that the judge is obligated to apply the law as he understands it to be rather than as he thinks it ought to be. I believe that every judge with whom I have served has conscientiously endeavored to perform that obligation. Judges often differ, however, not only with respect to the merits of particular issues, but also with respect to the number or the scope of the issues that should be decided in a particular case." 504 Zitierenswert ist schließlich eine Passage aus der schon oben erwähnten concurring opinion von Justice John M. Harlan in Griswold v. Connecticut: „... Judicial self-restraint ... will be achieved ... only by continual insistence upon respect for the teachings of history, solid recognition of the basic values that underlie our society, and wise appreciation of the great roles that the doctrines of federalism and separation of powers have played in establishing and preserving American freedoms." 505 Dem wird man kaum widersprechen können. Dennoch gilt leider auch für diesen Definitionsversuch das, was Harlan im gleichen Atemzug über eine andere Begründungsformel fur judicial self-restraint gesagt hatte: „While I could not more heartily agree that judicial ,self-restraint 4 is an indispensable ingredient of sound constitutional adjudication, I do submit that the formula suggested for achieving it is more hollow than real." 506
5. Originalism — Restriktive Verfassungsauslegung als selbstauferlegte Begrenzungsstrategie507 Bereits an anderer Stelle wurde darauf hingewiesen, daß der vom Gericht gewählte Kontrollmaßstab für das inhaltliche Ergebnis der Verfassungsprü504 Stevens, Judicial Restraint, 22 San Diego Law Review, 437, 446 (1985). Stevens Versuch, die richterliche Zurückhaltung an die Zurückhaltung der Verfassungsschöpfer anzubinden, wirkt jedoch reichlich paradox: „But just as the Framers themselves decided to say no more than was necessary to complete the task they had set out to perform, is it not fair to infer that their silence was a command to the judges of the future to exercise comparable self-restraint?" (a.a.O., S. 452). Wie sollten Richter bei der Ausfüllung von Verfassungslücken eine Zurückhaltung an den Tag legen, die mit derjenigen vergleichbar ist, die sich die Urheber eben dieser Lücken auferlegt haben? 505
3 81 U.S. 479, 501 (1965).
506
A.a.O.
507 Vgl. zur Verfassungsauslegung und zum Phänomen des Originalism bereits eingehend Brugger, Grundrechte, 10. Teil, S. 344 ff., 347 ff. („Interpretivistische Deutung der Verfassung") m.w.N.; ders., Verfassungsinterpretation, JöR NF 42 (1994), S. 571 ff. m.w.N. Zur Verfassungsauslegung allgemein vgl. auch Rotunda /Nowak, Constitutional Law - Substance and Procedure, Volume 4, Chapter 23, S. 618 ff.
134
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
fting maßgeblich ist. 508 Ähnliches gilt auf einer generelleren Ebene fur die vom Gericht oder einer Mehrzahl seiner Richter gewählte Methode der Verfassungsauslegung. Diese bestimmt nicht nur in casu die Wertigkeit der im Streit befindlichen Verfassungspostulate, was sich auf Kontrollmaßstab und Abwägungsergebnis auswirken wird. 5 0 9 Sie kann vielmehr in einem grundlegenderen Sinn auch ein allgemeines Instrument zur Verringerung gerichtlicher Kompetenz im Verhältnis zu anderen Entscheidungsträgern in der gewaltenteiligen Ordnung darstellen. In der Sache wie auch in seiner pluralistischen Struktur ist das dem deutschen Juristen vertraute Quartett der Auslegungsmethoden grundsätzlich auch in den USA anerkannt, wobei sich gewisse Modifikationen aus der spezifischen gerichtlichen Dogmatik des Supreme Court ergeben können. 510 Brugger beschreibt daher fünf anerkannte methodische Ansätze zur amerikanischen Verfassungsinterpretation: (1) Text, (2) Kontext, Struktur, Systematik, (3) Geschichte, (4) Ziel und Zweck sowie (5) Dogmatik. 511 Bemerkenswert ist indessen, daß sich in den USA die der Thematik gleichsam automatisch innewohnende Auseinandersetzung darüber, in welchem Verhältnis die einzelnen Auslegungsmethoden zueinander stehen, in jüngerer Zeit erneut zu einem erbitterten Methodenstreit ausgewachsen hat. Zahlreiche Partikulartheorien zielen darauf ab, den anerkannten Interpretationskanon zu sprengen und an seine Stelle mehr oder weniger monofunktionale Auslegungsmethoden zu setzen.512 Für die hier zu behandelnde Problematik ist dabei insbesondere jene auch innerhalb des Supreme Court vertretene Denkschule von Bedeutung, die man mit dem Oberbegriff „originalism" charakterisieren kann. 513 Sie gewichtet die heranzuziehenden Auslegungsmethoden dergestalt, daß sie dem Wortlaut von Verfassungsnormen und dem historischen Willen (original intent) der Verfassungsgeber Priorität einräumt und die teleologische Auslegung, insbesondere von verfassungsrechtlichen Generalklauseln weitgehend zurückdrängt. Schweigt sich die Verfassung zu einem bestimmten Problem aus, so können die Gerichte - jenseits eines zweifelsfrei erkennbaren Willens des Verfassungsgebers — den angegriffenen Akt öffentlicher Gewalt nicht für verfas-
508
Vgl. oben 3.a).bb).
509
Auf diesen Zusammenhang weist auch Schuppert, Self-restraints, DVB1. 1988, 1191, 1194 f. hin. 510 Hier ist etwa der Grundsatz des stare decisis zu nennen, der die Methodenproblematik überlagern kann. Vgl. dazu oben l.f), und Brugger, Verfassungsinterpretation, S. 572, 576. 511
A.a.O., S. 577.
512
Vgl. die anschauliche Übersicht, a.a.O., S. 580.
513
Vgl. Brugger, a.a.O., S. 583 ff.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
135
sungswidrig erklären. Die Kompetenz des Supreme Court soll dementsprechend verringert, die des - auch verfassungsgebenden — Gesetzgebers gestärkt werden. Dieser Ansatz zur Verfassungsinterpretation kann daher als eine weitere selbst entwickelte Strategie zur Begrenzung der Rechtsprechungskompetenz des Supreme Court angesehen werden. Hintergrund des originalist approach ist einerseits das politisch eher wertneutrale Motiv der Suche nach einer allgemein akzeptablen Legitimierung gerichtlicher Entscheidungen. Daneben geht es aber vielen originalists auch darum, die von einer liberalen Gerichtsmehrheit in den 50er, 60er und 70er Jahren vor allem mithilfe teleologischer Argumente begründeten grundrechtsausdehnenden Entscheidungen in Frage zu stellen und möglicherweise in Zukunft umzukehren. So ist es nicht erstaunlich, daß innerhalb des Gerichts die Exponenten des konservativen Flügels, Chief Justice Rehnquist, der von Beginn seiner Amtszeit an gegen die Entscheidungen der damaligen liberalen Mehrheit votierte, und insbesondere Justice Scalia zu den prononciertesten Anhängern von originalism gehören. 514 Während Rehnquists immer wieder zur Schau getragene Auffassung von der angeblich begrenzten Kompetenz des Supreme Court 515 ihn nicht daran hindert, in „Herzensangelegenheiten" 516 auch jenen gerichtlichen Aktivismus an den Tag zu legen, den er sonst gern selbst kritisiert, ist Scalias Position von mehr Konsistenz geprägt. 517 Beispielhaft für Scalias Verfassungsinterpretation ist seine Haltung in der Abtreibungsfrage. Da die Verfassung dazu schweige, solle es dem Gesetzgeber, insbesondere den Gesetzgebern der Einzelstaaten überlassen bleiben, die Problematik angemessen zu regeln; eine gerichtliche Intervention sei nichts anderes als „self-awarded sovereignty over a field where it has little proper business since the answers to most of the cruel questions posed are
514
Vgl. dazu auch den geschichtlichen Überblick, oben I.2.d) a.E.
515
Dafür ist folgende Einschätzung Rehnquists durch Savage , Turning Right, S. 341, charakteristisch: „He had what could be called a modest view of the Constitution. For him, it decided little and left most of the decisions to others ...". Savage führt dafür die von Rehnquist formulierte Entscheidung Cruzan v. Director, Missouri Health Department , 110 S.Ct. 2841 (1990), als Beispiel an. Vgl. auch Savage , a.a.O., S. 453 ff. 516 Man denke etwa an seine Minderheitsvoten bei der Flaggenverbrennungsproblematik in Texas v. Johnson, 491 U.S. 397 (1989), und United States v. Eichman, 496 U.S. 310 (1990) sowie sein Engagement bei der Verteidigung von Kompetenzen der Einzelstaaten. 517 Ausführlicher dazu Scalia, Originalism: The Lesser Evil, 57 U. Cin. L. Rev. 849 (1989). Scalia wirft den Auslegungsmethoden, die nicht am historischen Willen des Gesetzgebers orientiert sind, folgenden grundlegenden und irreparablen Fehler vor: „... the impossibility of achieving any consensus on what, precisely, is to replace original meaning, once that is abandoned." a.a.O. S. 862 f. Vgl. dort auch die Beiträge von Pollak, a.a.O. S. 867 ff, und Hatch , a.a.O. S. 891 ff. zur Kontroverse um originalism.
136
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political and not juridical". 518 Die Kehrseite dieser an Wortsinn und historischer Interpretation orientierten Sicht der Verfassung ist bei Richter Scalias Abstimmungsverhalten zur Problematik der Flaggenverbrennung zu besichtigen. Da nach seiner Auffassung der erste Verfassungszusatz schon zu Zeiten seiner Verabschiedung außer der Redefreiheit auch andere Formen kommunikativen Verhaltens zu schützen bestimmt war, stimmte Scalia in Texas v. Johnson 519 und United States v. Eichmann 520 in seltener Eintracht mit seinen liberalen Kollegen Brennan, Marshall und Blackmun und dem gemäßigt konservativen Richter Kennedy dafür, Gesetze, die das Verbrennen und anderweitige Entehren der US-Flagge unter Strafe stellten, wegen Verstoßes gegen das erste Amendment für verfassungswidrig zu erklären. Dieses zuletzt genannte Beispiel zeigt, daß originalism bei konsequenter Handhabung also ausnahmsweise auch einmal zu einer Entscheidung führen kann, die grundrechtlich geschützte Positionen aufwertet. Weit häufiger wird diese Auslegungsmethode jedoch zu einem von seinen Anhängern politisch erwünschteren Ergebnis fuhren: Die dem Gericht präsentierte Problematik, seien es aktive Maßnahmen zur Gleichstellung der Rassen und Geschlechter, das Recht auf Privatsphäre oder das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, wird regelmäßig weder im Verfassungsdokument noch in den Überlieferungen und Motiven der Verfassungsgeber zu finden sein, so daß eine verfassungskräftige Bestätigung der eingeforderten Rechtsposition seitens des Gerichts nicht in Frage kommt und die Problematik dem demokratischen Prozeß überantwortet werden kann. Wenngleich originalism sicherlich nicht als herrschende Interpretationsmethode in den USA anzusehen ist, stellt sie doch eine prominent vertretene Mindermeinung dar 521 , die sich in vereinfachter Form auch in der amerikanischen Öffentlichkeit einer beachtlichen Beliebtheit erfreut. Dennoch überwiegen bei einer kritischen Bestandsaufnahme methodologische wie auch praktische Gesichtspunkte, die gegen diese Interpretationsmethode sprechen: Einer möglicherweise gesteigerten Objektivierbarkeit und Vörhersehbarkeit
518 Vgl. Webster v. Reproductive Health Services, 492 U.S. 490, 532 (1989) (Scalia, concurring in part and concurring in the judgment). Scalias Charakterisierung der abtreibungsbezogenen Fragen als „politisch" ist nicht im Sinne der political question doctrine gemeint, für die er selbst bekanntlich wenig übrig hat, vgl. oben 2.b).cc) am Ende. 5,9
491 U.S. 397 (1989).
520
496 U.S. 310 (1990).
521
Insofern unterschätzend und zu undifferenziert Vorländer, Forum Americanum, JöR NF 36 (1987), S. 451, 487: „Dieses Verfassungsverständnis, ..., widerspricht ... zeitgenössischen ... Interpretationsmethoden und konterkariert das historisch-evolutionäre Verfassungsverständnis, das für die amerikanische Verfassungstradition kennzeichnend und vom Supreme Court von Beginn an zur Maxime seiner Auslegungstätigkeit gemacht worden ist."
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gerichtlicher Entscheidungen steht insbesondere der Einwand gegenüber, daß sich der historische Wille des Verfassungsgebers bereits bei Problemen, die er kannte oder kennen konnte, oft nicht zuverlässig ermitteln läßt. 522 Bei seinerzeit noch nicht bekannten Problemen ist man dann doch auf - teleologisch beeinflußte — Spekulationen angewiesen, will man die Verfassung nicht zu einem historischen Dokument degradieren, das neuartige Verfassungsprobleme nicht zu lösen imstande ist. Von noch größerer potentieller Sprengkraft erweist sich für die Befürworter des originalism folgendes Problem: Ein beträchtlicher Teil der modernen Rechtsprechung des Supreme Court zu den Grundrechten läßt sich bei Zugrundelegung konsequent „originalistischer" Argumentation nicht rechtfertigen. Was soll mit diesen Entscheidungen, die zum Teil gesellschaftliches Gemeingut geworden sind, geschehen? Sollen sie alle außer Kraft gesetzt und somit „eine gänzlich neue Landkarte des Verfassungsrechts" entworfen werden? 523 Und wie ließe sich überzeugend begründen, einige, etwa Brown oder Griswold, aufrechtzuerhalten, andere wie etwa Roe aber fur nicht mehr maßgeblich zu erklären? Die im Rahmen der Richterberufung zum Supreme Court 524 stattfindenden Anhörungen vor dem Justizunterausschuß des Senats illustrieren das skizzierte Spannungsverhältnis zwischen gesamtgesellschaftlichem Konsens und dogmatisch-politischen Erneuerungsbestrebungen: Nachdem der überzeugte originalist Robert Bork 1987 unter anderem wegen seiner pointierten Aussagen zur restriktiven Verfassungsauslegung gescheitert war, geriet der konservative, aber juristisch-dogmatisch offenbar wenig gefestigte Clarence Thomas vier Jahre später in Erklärungsnöte: Die Anwendbarkeit von Griswold v. Connecticut, der Leitentscheidung zum Recht auf Privatsphäre, wollte er nicht in Zweifel ziehen, zur auf Griswold aufbauenden Abtreibungsentscheidung Roe v. Wade wollte er sich dagegen ausdrücklich nicht äußern. 525 Originalism in Reinform dürfte somit auch in absehbarer Zeit nicht zur maßgeblichen Interpretationsdoktrin des amerikanischen Verfassungsrechts werden. Ihr Anliegen kann jedoch im Rahmen eines auf mehreren Methoden beruhenden Auslegungsprozesses insoweit Berücksichtigung finden, als einer522
Vgl. dazu auch die bei Brugger, Verfassungsinterpretation, a.a.O., S. 587 Rn. 81 zitierte vernichtende Kritik von Leonard W. Levy : „In the entire history of the Supreme Court ... no Justice employing the intent theory has ever written a convincing and reliable study." 523
So treffend Brugger , a.a.O., S. 587.
524
Vgl. dazu oben 1.3.
525 Wobei er dies unter anderem mit der wenig glaubhaften Behauptung begründete, er habe sich über Roe noch keine Meinung gebildet und den Fall auch niemals (!) mit irgendjemandem diskutiert.
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seits der Wortlaut eines Textes regelmäßig Ausgangspunkt und Grenze der Auslegung sein sollte. Andererseits sollte - wo immer möglich - der tatsächliche oder hypothetische Wille des Verfassungsgebers auch im Rahmen teleologischer Überlegungen herangezogen werden.
6. Exkurs: Individuelle „Grenzen"526 Abschließend soll noch kurz einem Phänomen nachgegangen werden, das man als „individuelle Grenzen" einzelner Mitglieder des Supreme Court bezeichnen könnte. 527 In der Zusammenschau der zahlreichen bisher gegebenen Beispiele wird erkennbar, daß der United States Supreme Court aus neun Richterpersönlichkeiten besteht, die menschlich wie juristisch nicht selten ausgeprägte Individualisten sind und dies in ihrem Abstimmungsverhalten und in den von ihnen abgefaßten Voten auch markant zum Ausdruck zu bringen pflegen. Darüber kann weder der kollegiale, oft freundschaftliche Umgangston, der auch unter solchen Richtern herrscht, die selten einer Meinung sind 528 , hinwegtäuschen, noch die Tatsache, daß sich in vielen Bereichen des Verfassungsrechts eine gefestigte Rechtsprechung herausgebildet hat, die nicht ohne Not in Zweifel gezogen wird. Die Heterogenität der nordamerikanischen Gesellschaft, die sich, wenn auch mit beträchtlicher Phasenverzögerung, auch in seinem höchsten Gericht abzubilden beginnt, die oft jahrzehntelange Amtszeit vieler Richter des Supreme Court 529 , das permanente, investigative Medieninteresse 530 und nicht
526 Der Begriff „Grenzen" ist hier heuristisch gemeint. Die hier beschriebenen individuellen „Grenzen" der Richter führen nicht notwendig zu einem Eintreten für eine gelockerte gerichtliche Kontrolle. Vielmehr handelt es sich eher um eine Art persönlich-biographischpsychologischer Determinanten, die im Gegensatz zu den bisher herausgearbeiteten Feldern verminderter gerichtlicher Kontrolle auch den entgegengesetzten Effekt, nämlich das Eintreten für eine intensive Kontrolle, haben können. 527 Diese individuellen Grenzen spiegeln sich nicht notwendig in einer verminderten oder nicht mehr existenten Gerichtskontrolle wider. 528 Zum persönlichen Verhältnis langjähriger juristischer „Erzgegner" vgl. etwa Richter Brennans Aussage über seinen Kollegen Rehnquist: „I liked him the first day I met him, and we have been friends ever since", Savage , S. 361 f. Ähnlich Richter Scalias Bedauern über den Rücktritt Brennans: „We all regret that Bill is no longer on the Court, it was a lot of fun ...". Scalia, in einem „Supreme Court Seminar" des Georgetown University Law Center am 19.11.1991. 529 30 Jahre und mehr sind keine Seltenheit; Richter William O. Douglas übte sein Amt von 1939-1975 aus, mehr als 36 Jahre. Die Richter Hugo L. Black und William J. Brennan amtierten je 34 Jahre. Von den gegenwärtigen Richtern hat besonders der im Jahre 1991 als gerade 43jähriger ernannte Richter Clarence Thomas gute Chancen auf eine lange Amtszeit als Supreme Court-Richter.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
139
zuletzt die Offenheit der amerikanischen Rechtswissenschaft und Politologie fur Erklärungsmuster, die jenseits der uns in Deutschland vertrauten liegen, versetzen den Betrachter in die Lage, das Abstimmungverhalten bestimmter Supreme Court-Richter, jenseits simpler links—rechts-Konfigurationen, mit persönlichen Präferenzen oder biographischen Gegebenheiten in Beziehung zu setzen und so individualisierbare „Grenzen" zu benennen, denen diese Richter unterworfen sind und die sich in ihrer Rechtsprechung fortsetzen. Es mag niemanden erstaunen, daß Justice Thurgood Marshall, der jahrelang als Anwalt fur die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) gearbeitet und als Anwalt neben Brown zahlreiche andere Fälle erfolgreich vor dem Supreme Court vertreten hatte, seit seiner Ernennung als erster schwarzer Supreme Court-Richter im Jahre 1967 ein Verfassungsverständnis vertrat, das etwa im Namen des Gleichheitssatzes Förderprogramme und Quotenregelungen zugunsten ethnischer Minderheiten 531 fur geboten hielt. 532 Auch ist Richterin O'Connors ausgeprägte Sensibilität für Frauenbelange, zum Beispiel im Zusammenhang vergleichbarer Förderprogramme 533 nicht zuletzt wohl dadurch zu erklären, daß sie selbst im Jahre 1952 trotz eines erstklassigen Examens an einer der besten Jurafakultäten der USA keine Anstellung bei einer der größeren Rechtsanwaltskanzleien in Californien fand, weil diese damals ausnahmslos nur Männer einstellten. 534 Nicht zuletzt wegen dieser eingeschränkten beruflichen Perspektiven schlug sie zunächst eine andere Laufbahn ein, die sie 1969 in den Senat des Staates Arizona führte. Diese Erfahrung als Abgeordnete eines Einzelstaatsparlaments dürfte dazu beigetragen haben, daß Justice O'Connor als Supreme CourtRichterin, um die Regelungskompetenzen der Einzelstaaten zu bewahren, auch zur Anwendung eines strengeren gerichtlichen Kontrollmaßstabs bereit wäre, wie ihre dissenting opinion in Garcia erkennen läßt: „The Court today surveys the battle scene of federalism and sounds a retreat. ..., I would prefer to hold the field and, at the very least, render a little aid to the wounded." 535 ... (The) „principle (of state autonomy) requires the Court to enforce affirmative limits on federal regulation of the States to complement the judi530
Beispielhaft dafür seien die Bücher von Woodward /Armstrong, The Brethren, und von Savage, Turning Right, genannt, die einen interessanten Einblick in das Innenleben des Supreme Court vermitteln. 531 Von denen die Afroamerikaner (african-americans) mit etwa einem Achtel der USGesamtbevölkerung die zahlenmäßig stärkste stellen. 532
Vgl. z.B. seine dissenting opinion in City of Richmond v. J.A. Croson Co., 488 U.S. 469, 528 ff. (1989). 533 Vgl. etwa ihre concurrence in Johnson v. Transportation 647 ff. (1987). 534
Agency, 480 U.S. 616,
Vgl. Savage, S. 112. Der Universitätsabsolventin wurden durchaus Stellen angeboten ... als Anwaltssekretärin. 535
469 U.S. 528, 580 (1985).
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
140
cially crafted expansion of the interstate commerce power." 536 Persönlich erlebter Föderalismus verwandelt sich so, so könnte man argumentieren, in eine individuelle Überzeugung, wo der Legislativkompetenz des Bundes im Wege gerichtlicher Kontrolle Schranken zu setzen sind. 537 Überzeugungen und Erfahrungen anderer Art prägen den verfassungsrechtlichen Standpunkt und damit das Abstimmungsverhalten von Richter Scalia. Als strikter Anhänger der weiter oben 538 beschriebenen, an Wortlaut und historischem Willen des Verfassungsgebers orientierten Auslegung der Verfassung (originalism) gelangt er häufig zu der Auffassung, daß verfassungsrechtliche Petita — zumal im Grundrechtsbereich — unhaltbar seien, da sie im Verfassungstext keine Stütze fanden. Auch zu den erwähnten affirmative actionFördermaßnahmen für benachteiligte Bevölkerungsgruppen sagt weder die Verfassung, noch der Civil Rights Act von 1964 etwas. Letzterer verbietet lediglich die Diskriminierung aufgrund von Rassen-, Religions- oder Geschlechtszugehörigkeit, schreibt aber keine aktiven Maßnahmen zur Wiedergutmachung der langjährigen Diskriminierung vor. Insofern ist es konsequent, wenn Scalia in Entscheidungen, die affirmative action-Programme guthießen, dissentierte. 539 Seine Abneigung gegen staatliche Hilfsmaßnahmen, die an Hautfarbe oder Geschlecht anknüpfen, dürfte aber tiefersitzende Motive haben. Als Sohn eines italienischen Einwanderers 540, der ausschließlich dank eigener Anstrengungen beruflich erfolgreich war, erscheint es für Scalia nicht ohne weiteres verständlich, warum die allein auf persönlichen Leistungen und Verdiensten aufbauende Idee der „meritocracy" nicht auch für andere gelten soll. Das kollektive schlechte Gewissen gegenüber den jahrhundertelang systematisch diskriminierten Schwarzen, das zumindest unausgesprochen viele weiße Amerikaner für affirmative action-Programme relativ aufgeschlossen macht, plagt Scalia jedenfalls nicht: „ M y father came to this country when he was a teenager. Not only had he never profited from the sweat of any black man's brow, I don't think that he had ever seen a black man". 541 Derartige biographisch-psychologisch motivierte Beobachtungen ließen sich fortsetzen. 542 Sie sind in den USA sowohl in der interessierten Öffent536
A.a.O., S. 587.
537
Für die Möglichkeit einer solche Deutung auch Ingber,
in: Oxford Companion,
S. 604. 538
Vgl. oben 5.
539
Vgl. Johnson v. Transportation Agency , 480 U.S. 616, 657 ff. (1987); Metro Broadcasting v. Federal Communications Commission , 497 U.S. 547, 631 ff. (1990). 540
Savage , S. 23.
541
Aus einer Universitätsrede Scalias von 1979, zitiert nach Savage , S. 55 f.
542 Manches aus dem Leben der Supreme Court Richter ist fast zum Allgemeingut geworden, wie etwa das ausgeprägte Interesse des ehemaligen Richters Blackmun, des Autors
III. Zwischenergebnis USA
141
lichkeit wie auch in juristischen Fachkreisen weitverbreitet und werden auch in fachlichen Diskussionen mit großer Ernsthaftigkeit herangezogen. Nicht zufallig enthalten Lehrbücher zum Verfassungsrecht Kurzbiographien bedeutender Supreme Court-Richter 543 oder zumindest eine kurze Zusammenstellung der bis zur Richterberufung ausgeübten Tätigkeiten. 544 Zwar besteht über das Ausmaß, in dem sozialer Hintergrund, berufliche Vorerfahrungen und die Zugehörigkeit zu einer Partei das Abstimmungsverhalten der Richter beeinflussen, nach wie vor Uneinigkeit. Neuere Untersuchungen haben aber unbestreitbare Korrelationen nachgewiesen.545 Kurzschlüssige Vereinfachungen sind allerdings fehl am Platze. Weder bietet die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche Gewähr dafür, daß ein Richter in der Abtreibungsfrage eine besonders restriktive Haltung einnimmt 546 , noch führt eine konservative Grundhaltung automatisch zur Befürwortung einer verminderten Kontrolldichte gegenüber Legislativakten. 547 Insgesamt sollte daher beachtet werden, daß sozio-biographische und psychologische Determinanten für die hier als solche bezeichneten „individuellen Grenzen" in den Vereinigten Staaten ernst genommen werden, und daß sie teilweise dazu geeignet sind, Verfassungsverständnis und Abstimmungsverhalten einzelner Richter begründen zu helfen.
I I I . Zwischenergebnis USA Der United States Supreme Court kann auf eine mehr als 200jährige Geschichte zurückblicken. Schwerpunkt seiner gerichtlichen Funktion ist heute weniger seine Tätigkeit als Rechtsmittelgericht, als vielmehr seine seit 1803
von Roe ν. Wade, für medizinische Sachverhalte, das vor allem darauf zurückgeführt wird, daß er vor seiner Laufbahn als Bundesrichter fast 10 Jahre als Anwalt eines bekannten Chicagoer Krankenhauses, der Mayo Clinic, tätig war. 543
Stone , Constitutional Law, S. lvii ff.
544
Lockhart, Constitutional Law, Appendix A.
545
Vgl z.B. Grossman , Social Backgrounds and Judicial Decision-making, 79 Harv. L. Rev. 1551 (1966); Tate , Personal Attributes as Explanations of Supreme Court Justices' Decision Making, in: Courts in American Politics, herausgegeben von Henry M. Glick (1990), S. 261 ff.; beide zitiert nach Schmidhausen in: Oxford Companion, S. 801 f. S. dort auch die gegenteilige Auffassung von Justice Frankfurter. 546
Richter Brennan, ein „Irish-Catholic", stimmte in Roe und in allen folgenden Abtreibungsfällen zugunsten eines verfassungsmäßigen Rechts der Frau, selbst über Ende oder Fortsetzung einer Schwangerschaft zu entscheiden. 547
Vgl. z.B. Richter Rehnquists opinion in United States v. Lopez, 63 U.S. Law Weekly 4343 (1995), und in Hödel v. Virginia Surface Minin Ass η, 452 U.S. 264, 307 ff. (1981) (Rehnquist, J., concurring in the judgment), in der er der auf die interstate commerce clause gestützten Gesetzgebungskompetenz des Kongresses Grenzen zieht bzw. ziehen wollte.
142
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
im Wege der Inzidentprüfiing ausgeübte Verfassungskontrolle. Durch die namentlich seit den 50er Jahren dieses Jahrhunderts erfolgte Ausdifferenzierung, Entfaltung und Erweiterung der nur zum Teil in der Bill of Rights, den ersten zehn Verfassungszusätzen, enthaltenen Grundrechte hat sich das Gericht damit gleichzeitig einen beträchtlichen Machtzuwachs geschaffen. Dieser schlägt sich auch in einer Flut von jährlich mehreren tausend Verfahren nieder, in denen das Gericht so unterschiedliche Fragen entscheiden soll, wie etwa ob ein zum Tode Verurteilter vor der Exekution zu bewahren ist, ob dem Präsidenten verboten werden soll, amerikanische Truppen in ein Krisengebiet zu entsenden, oder ob das Gesetz eines Einzelstaates oder des Bundes für verfassungswidrig zu erklären ist. Der Supreme Court hat gegenüber den durch Verfahrensflut, richterliche Machtfülle und Komplexität vieler Fragen hervorgerufenen Problemen im wesentlichen drei Begrenzungsmechanismen 548 entwickelt: (1) Mit Hilfe eines Arsenals verfahrensrechtlicher Instrumente werden individuelle Fälle - gegenwärtig - nicht entschieden. Hervorzuheben sind hier insbesondere das für die Bescheidung von petitions for certiorari maßgebliche freie Annahmeverfahren und die Zulässigkeitskriterien standing und ripeness, mit denen sich der klagebefugte Personenkreis steuern und eingrenzen läßt. Im Zusammenwirken von Annahmeverfahren und Zulässigkeitsvoraussetzungen läßt sich auch der fur gesellschaftlich und somit politisch brisante Auseinandersetzungen günstige Entscheidungszeitpunkt steuern. Kennzeichnend für diese erste Grenze ist einerseits ihr verfahrensrechtlicher Charakter, wodurch lediglich eine Entscheidung über die Zulässigkeit getroffen wird, andererseits ihre Bezogenheit auf einzelne Fälle. Zwar geht zum Beispiel von einer verengten Definition des standing auch für künftige, ähnlich gelagerte Fälle eine gewisse Bindungswirkung aus. Jedoch ist es nicht schwierig, durch Hervorhebung tatsächlicher Unterschiede in casu zu einem anderen Ergebnis zu gelangen. (2) Einige (wenige) Streitfragen werden vom Supreme Court als political questions und damit als schlechthin nichtjustitiabel angesehen. Charakteristisch ist iur diese „politischen Fragen", daß das Gericht für eine Entscheidung nicht über die dafür notwendigen Informationen verfugt oder daß es sich einer Maßnahme der Exekutive gegenübersieht, durch die bereits praktisch irreversible Fakten geschaffen wurden. Aufgrund dieser beiden Charakteristika, die auch kumulativ auftreten können, ist bei der Fallgruppe der au-
548 Diese Dreiteilung ist bereits bei Scharpf in Umrissen erkennbar, der die political question doctrine exemplarisch sowohl von materiellrechtlichen Entscheidungen, die zur Aufrechterhaltung einer angegriffenen Norm führen, als auch von verfahrensrechtlich motivierten „Nicht-Entscheidungen" abgrenzt. Vgl. Scharpf Grenzen, S. 325 ff. bzw. S. 352 ff.
III. Zwischenergebnis USA
143
ßen- und sicherheitspolitischen Streitfragen die Wahrscheinlichkeit am größten, daß der Supreme Court sie als political questions ansieht und demnach eine Entscheidung in der Sache ablehnt. Nach einer relativen Blütezeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt die political question doctrine - nicht zuletzt wegen der gestiegenen Grundrechtsbedeutung — gegenwärtig eine untergeordnete Rolle. Auch die Einstufung einer Streitfrage als „politisch" ist eine Entscheidung, die diesseits der Begründetheitsebene angesiedelt ist. Im Gegensatz zu den unter (1) erfaßten Zulässigkeitskriterien umgreift sie jedoch regelmäßig nicht nur den zur Entscheidung anstehenden Einzelfall. Da die Definitionskriterien weiter gefaßt sind, ist es ungleich schwieriger und erfordert einen höheren Argumentationsaufwand, bei zwei einander ähnlichen Fällen den einen als nichtjustitiabel, den anderen hingegen als justitiabel einzuordnen. Vielleicht liegt in dem daraus entstehenden Zwang zu einer stärkeren Festlegung einer der Gründe für die gesunkene Popularität der political question doctrine. (3) Durch einen auf eine bloße Evidenz- und Willkürkontrolle verminderten richterlichen Prüfungsmaßstab, den low level review, hat sich der Supreme Court in bestimmten Bereichen sowohl gegenüber der Legislative als auch gegenüber der Exekutive von einer Verfassungskontrolle faktisch verabschiedet. Akte der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung, exekutivische Maßnahmen im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten und der nationalen Sicherheit und Akte der Einzelstaaten bilden die wichtigsten Fallgruppen dieser gerichtlichen Selbstbegrenzung, die sich dogmatisch auf ein extensives Verständnis von Gewaltenteilung und Föderalismus stützen läßt. Im Gegensatz zu den beiden oben genannten Grenzen wirkt sich die verminderte Kontrolldichte materiellrechtlich aus: das Gericht läßt die Streitfrage nicht in der Schwebe, sondern entscheidet sie autoritativ dahingehend, daß die angegriffene Maßnahme oder Regelung nicht für verfassungswidrig erklärt, sondern gutgeheißen wird. Folgt man der bisherigen Einteilung 549 , so kommt der Rechtsfigur des judicial self-restraint keine eigene normative Bedeutung zu. Sie dient lediglich als inhaltlich nicht näher konturierbare Argumentationsformel: entweder um gegenüber den anderen Gewalten, also nach außen, den verantwortungsvollen Umgang des Supreme Court mit seinen ihm im Rahmen einer gewaltenteiligen Verfassungsordnung zugewiesenen Kompetenzen zu unterstreichen, oder um innerhalb des Gerichts zu einer zurückhaltenden Überprüfung einer Streitfrage zu mahnen.
549
Und betrachtet man judicial self-restraint nicht als allgemeinen Oberbegriff, der die unter (1) bis (3) dargelegten Schranken umfaßt.
144
Β. Vereinigte Staaten von Amerika
Da es sich bei den genannten Rechtsprechungsgrenzen um solche handelt, die der Supreme Court selbst entwickelt hat, ist ihre Zukunft grundsätzlich offen. Wegen der kargen und wenig differenzierten verfassungstextlichen Vorgaben verfugt das Gericht über eine praktisch unumschränkte KompetenzKompetenz zur Festlegung der Reichweite der von ihm geschaffenen Zulässigkeitsschranken und inhaltlichen Kontrollmaßstäbe. Insbesondere die einzelnen Zulässigkeitsvoraussetzungen sind in ihrer Interpretation Schwankungen unterworfen, so daß die gegenwärtige, eher restriktive Anwendung eines Tages auch wieder einer großzügigeren Zugangspraxis weichen könnte, wie dies etwa zur Zeit des Warren-Court der Fall war. Die political question doctrine, deren das Gericht sich zur Eingrenzung seiner Tätigkeit hätte bedienen können, hat demgegenüber erheblich an Bedeutung verloren, und Zeichen für eine Renaissance in absehbarer Zeit sind nicht erkennbar. Schließlich hat sich der low level review als probates Mittel erwiesen, um einerseits durch eine Entscheidung in der Sache die richterliche Kontrollfunktion im Grundsatz zu betonen, andererseits aber durch ein — je nach Bedarf - grobmaschiges bis faktisch nichtexistentes Kontrollraster den Einfluß des Supreme Court gegenüber Legislative und Exekutive niedrig zu halten. Es steht nicht zu erwarten, daß die vor über 50 Jahren begründete, gefestigte Rechtsprechung zur Wirtschafts· und Sozialgesetzgebung sich ändert. Auch der traditionell weitgefaßte exekutivische Handlungs- und Entscheidungsspielraum dürfte kaum angetastet werden. Dogmatisch begründete Einbruchsteilen fur eine - fallweise oder generelle - Überwindung der geschilderten Grenzen könnten sich im Grundrechtsbereich ergeben, insbesondere in der für die heterogene amerikanische Gesellschaft besonders wichtigen Gleichheitsproblematik. Eine stärkere politische Betonung sozialstaatlicher Ideen würde diesen Trend verstärken. Daneben können aber auch politische Präferenzen neuer Richter, ebenso wie individuelle soziobiographische Prägungen wieder für eine aktivere Rolle des Supreme Court sorgen.
C. Bundesrepublik Deutschland I. Das Bundesverfassungsgericht 1 1. Entstehung, Struktur und Status2 Das Bundesverfassungsgericht ist ein Kind des Grundgesetzes.3 Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee hatte sich in seinem Entwurf eines Grundgesetzes fur die Schaffung eines Verfassungsgerichtshofs mit umfassenden Kompetenzen ausgesprochen. Seine diesbezüglichen Vorschläge wurden vom Parlamentarischen Rat aufgegriffen und weiterentwickelt. Die Parlamentarier entschieden sich für die Errichtung eines selbständigen Bundesverfassungsgerichts, das institutionell von dem Obersten Bundesgericht getrennt werden sollte. Der im Grundgesetzentwurf des Verfassungskonvents gesondert behandelte Abschnitt über das Bundesverfassungsgericht wurde in einen umfassenderen Abschnitt über „Gerichtsbarkeit und Rechtspflege" aufgenommen, was später gewisse statusrechtliche Probleme aufwerfen sollte.4 Hinsichtlich der bundesverfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten baute der Parlamentarische Rat auf dem Herrenchiemseer Kompetenzkatalog, der unter anderem Organstreit, Bund-Länder-Streit, Wahlprüfungsverfahren und konkrete Normenkontrolle umfaßt hatte, auf und erweiterte ihn um die abstrakte Normenkontrolle und einige andere Zuständigkeiten.5 1
In Anlehnung an die Gliederung des Kapitels über den Supreme Court soll hier ein knapper Überblick gegeben werden, der bei Richterwahl und Sondervoten, also bei Phänomenen, die aus „amerikanischer" und vergleichender Sicht besonders interessant sind, Schwerpunkte setzt. 2 Zur Entstehung vgl. ausführlich Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 35 ff, sowie Stern II, § 32 I, S. 330 ff. Zur Struktur vgl. Stern II, § 32 III, S. 348 ff. Zur Statusproblematik vgl. Schiaich, Rn. 25 ff.; Stern II, § 32 II, S. 341 ff.; Roellecke, in: HStR II, § 53 II, S. 668 ff., alle m.w.N. 3 Zum Einfluß der amerikanischen Verfassungsgerichsbarkeit auf die Schaffung des BVerfG vgl. die Informationen bei Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 93 ff. (96). Vgl. weiterhin Steinberger, der „unverkennbar" das amerikanische Beispiel Pate stehen sieht. Steinberger, Ausländische Einflüsse bei der Entstehung des Grundgesetzes, in: 40 Jahre Grundgesetz, S. 41 ff. (S. 53 Fn. 45 m.w.N., 64 ff.). Zurückhaltender Dolzer, Stellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 32 f., und v. Beyme, in: Landfried, Constitutional Review, S. 32 ff. Vorsichtig auch Stern, der mutmaßt, daß bei dem maßgeblich vom A^/se«-Schüler Nawiasky beeinflußten „Bayerischen Entwurf eines Grundgesetzes", der dem Verfassungskonvent von Herrenchiemsee vorlag, bis zu einem gewissen Grad „das Vorbild des Supreme Court der USA Pate gestanden haben mag", Stern II, § 32 I 1, S. 331. 4
Vgl. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 57; zum Statusproblem vgl. sogleich unten.
10 Rau
146
C. Bundesrepublik Deutschland
Fragen der inneren Organisation, der Richterwahl und der einzelnen bundesverfassungsgerichtlichen Verfahren wurden vom Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG), das am 12. März 1951 erging, geregelt. Am 28. September 1951, über zwei Jahre nachdem sich Bundestag und Bundesrat konstituiert hatten und nachdem Bundeskanzler und Bundespräsident gewählt worden waren, wurde das Bundesverfassungsgericht eröffnet. 6 Das Bundesverfassungsgericht ist ein „Zwillingsgericht": es besteht aus zwei einander gleichgeordneten Senaten mit je 8 Richtern. Jeder Senat hat gesetzlich festgelegte Zuständigkeiten7 und repräsentiert das Bundesverfassungsgericht als ganzes.8 Die Struktur als Zwillingsgericht war das Ergebnis eines Kompromisses: die SPD hatte ein kleines, aus 10 Richtern bestehendes Bundesverfassungsgericht vorgeschlagen, während der Regierungsentwurf 24 in einem roulierenden System amtierende Richter vorsah. Die gefundene Lösung war, abgesehen von der Personenanzahl9, gewissermaßen eine Doppelausführung des von der SPD angestrebten Modells. 10 Jedem der 16 Richter stehen heute bis zu drei wissenschaftliche Mitarbeiter 11 zur Seite, die die Richter „bei deren dienstlicher Tätigkeit unterstützen". 12 Die Mitarbeiter sind regelmäßig jüngere Volljuristen, die bereits über etwas berufliche Erfahrung als Richter, höhere Verwaltungsbeamte oder im Hochschulbereich verfugen 13 und für durchschnittlich drei bis vier Jahre an das Bundesverfassungsgericht abgeordnet werden. 14 Art. 92 GG weist die rechtsprechende Gewalt dem Bundesverfassungsgericht und anderen Gerichten zu und betont damit den Gerichtscharakter auch der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit. Andererseits ist das Bundesverfassungsgericht gemäß § 1 Abs. 1 BVerfGG ein allen übrigen Verfassungsorga-
5
Zur Urform des Grundgesetzes mit ausführlichen Erläuterungen vgl. JöR NF 1 (1951), insbes. S. 664 ff. (669 ff.). 6
Vgl. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 139.
7
Die Geschäftsverteilung zwischen den beiden Senaten mußte im Lauf der Zeit mehrmals dem ungleichmäßigen Arbeitsanfall, den die verschiedenen Verfahrensarten bedingten, angepaßt werden; vgl. Stern, § 32 III, S. 350 f. 8 Das BVerfG wird daher in seiner Entscheidungspraxis einheitlich behandelt, obwohl bei wichtigen Entscheidungen nachgewiesen wird, welcher Senat die jeweilige Entscheidung traf. 9 Anfangs umfaßte jeder Senat 12 Richter, später 10 Richter. Seit 1962 gilt die gegenwärtige Konfiguration von 8 Richtern pro Senat. 10
Vgl. Bryde, S. 148.
11
Vgl. Schiaich, Rn. 45a. Instruktiv auch Faller, F.A.Z. vom 26.08.1993, S. 8.
12
§ 13 I 1 der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts. Im Grundgesetz oder Bundesverfassungsgerichtsgesetz werden die Mitarbeiter hingegen nicht erwähnt. 13
Kommers , Constitutional Jurisprudence, S. 27.
14
Faller, a.a.O.
I. Das Bundesverfassungsgericht
147
nen gegenüber selbständiger und unabhängiger Gerichtshof des Bundes. Dem Kopfsatz des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes ist somit der besondere organisatorische Status des Gerichts als Verfassungsorgan zu entnehmen. Beide Normen zusammen umschreiben die Doppelnatur des höchsten deutschen Spruchkörpers als eines „richterlichen Verfassungsorgans". 15 Die auf diese Weise herausgehobene Position des Bundesverfassungsgerichts als Verfassungsorgan manifestiert sich in einer Reihe von Besonderheiten. So untersteht die Verwaltung des Gerichts nicht mehr dem Justizministerium, sondern ist organisatorisch selbständig. Das Gericht gibt sich wie die beiden Kammern des Parlaments seine eigene Geschäftsordnung. Weiterhin ist es auch finanziell autonom, wie an dem von ihm selbst aufgestellten Einzelplan im Bundeshaushalt deutlich wird. Schließlich sind die allgemeinen Richtergesetze auf die Richter am Bundesverfassungsgericht nicht anwendbar; ihre Rechtsstellung ist im BVerfGG gesondert geregelt. 16 Selbst in der Notstandsverfassung hat sich die besondere Stellung des Bundesverfassungsgerichts und seiner Richter niedergeschlagen.17 Im übrigen steht aber nach überwiegender Auffassung die Gerichtsqualität des Bundesverfassungsgerichts im Vordergrund. 18 Allein der politische Charakter des vom Bundesverfassungsgericht anzuwendenden Verfassungsrechts ändert nichts an der grundlegenden Tatsache, daß hier unparteiische, mit entsprechender Unabhängigkeit ausgestattete Richter anhand von Rechtsnormen verbindliche Entscheidungen treffen. 19 15 So Stern, in: Landesverfassungsgerichtsbarkeit I, S. 19, der den Begriff dort auf die Landesverfassungsgerichte bezieht. 16 Damit wird der Jetztzustand des bundesverfassungsgerichtlichen Status beschrieben. Diesen mußte das Gericht sich jedoch erst „erkämpfen". Vgl. zu diesem Kampf die Materialien um die Denkschrift des BVerfGs vom 27.06.1952, abgedruckt in JöR NF 6 (1957), S. 110 ff. (144 ff.), und ausführlich Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 278 ff. 17
Vgl. Art. 115g GG. Hierauf weist Kommers, Constitutional Jurisprudence, S. 19, hin.
18
Vgl. die Nachweise bei Stern II, § 32 II 4, S. 346 Fn. 80, 81, und Schiaich, Rn. 30 ff. (34 f.), der auch kurz auf die abweichenden Ansätze von Ebsen, Preuß und v. Brünneck eingeht. Eigene Wege geht inzwischen auch Roellecke, nach dessen Auffassung sich „die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht in das herkömmliche Gewaltenteilungsschema fugt". Die Verfassungsgerichtsbarkeit sei insbesondere „nicht einfach Rechtsprechung, sondern eine eigenständige vierte Gewalt", Roellecke, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und Politische Führung, S. 24 (42). 19 Vgl. Stern a.a.O., S. 348. Das grundsätzliche Überwiegen des Gerichtscharakters kommt auch in der Statusdenkschrift des BVerfGs vom 27.06.1952 zum Ausdruck: „Die Verfassungsgerichtsbarkeit unterscheidet sich von jeder anderen Gerichtsbarkeit (...) grundsätzlich dadurch, daß sie allein es mit einer besonderen Art von Rechtsstreitigkeiten, nämlich den politischen' Rechtsstreitigkeiten zu tun hat. Unter politischen Rechtsstreitigkeiten sind dabei solche Rechtsstreitigkeiten zu verstehen, bei denen über politisches Recht gestritten und das Politische selbst an Hand der bestehenden Normen zum Gegenstand der richterlichen Beurteilung gemacht wird"; Denkschrift, JöR NF 6 (1957), S. 144 ff. (144 f.).
148
C. Bundesrepublik Deutschland
2. Kompetenzen im Überblick20 Als die wichtigsten verfassungsgerichtlichen Aufgaben wird man die Streitschlichtung zwischen verschiedenen Staatsorganen und innerhalb einer gliedstaatlichen Ordnung, die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Normen, den Schutz der verfassungsmäßigen Rechte des Einzelnen und die Sicherung des Verfassungsbestandes ansehen können.21 Diese Kompetenzen sind für das Bundesverfassungsgericht im wesentlichen in Art. 93 GG niedergelegt, der durch die §§ 13, 36 ff. BVerfGG weiter ausgestaltet wird. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet demnach in Organstreitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch das Grundgesetz oder die Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. In föderativen Streitigkeiten entscheidet das Gericht verfassungsrechtliche Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern oder zwischen verschiedenen Ländern, die Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder zum Gegenstand haben.22 Bei Normenkontrollverfahren überprüft das Bundesverfassungsgericht „abstrakt", das heißt unabhängig davon, ob der Antragsteller von der Norm betroffen ist, deren Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Eine „konkrete" Normenkontrolle 23 nimmt das Bundesverfassungsgericht auf Vorlage eines anderen Gerichts, dessen Entscheidung von der Gültigkeit dieser Norm abhängt,
20 Dazu Schiaich, 4. Teil, Rn. 72 ff.; Löwer, in: HStR II, § 56, S. 737 ff.; Stern II, § 44 IV, S. 975 ff. Einen knappen Überblick bieten Hesse, Grundzüge, § 19 II, S. 265, sowie - in englischer Sprache - Kommers, S. 11 ff. 21 So Simon, in: HdbVerfR, S. 1639. Vgl. auch die praxisorientierte Einstufung der Mitarbeiter des BVerfGs, nach der die „vier Säulen", die die tägliche Arbeit des BVerfG prägen, die Verfassungsbeschwerden, die Richtervorlagen, die abstrakten Normenkontrollverfahren und die Organstreitverfahren sind. Clemens, in: BVerfGG-Mitarbeiterkommentar, § 13 Rn. 16. 22 Der bundesstaatlichen Ordnung entsprechend verfugen alle deutschen Länder mit Ausnahme von Schleswig-Holstein über ein Landesverfassungsgericht. Der Bereich dieser Landesverfassungsgerichtsbarkeit muß vom Bundesverfassungsgericht möglichst unangetastet bleiben. Insbesondere ist es nicht zur Prüfung der Vereinbarkeit von Landesrecht mit der jeweiligen Landesverfassung befugt. Hierin liegt eine sich ex negativo aus dem Kompetenzenkatalog von Art. 93 GG ergebende Grenze der Rechtsprechungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts. Vgl. BVerfGE 41, 88 (118 ff.); 60, 175 (208 f.). 23 24
Vgl. dazu Art. 100 I GG.
In der Sache können Normenkontrollentscheidungen ferner auf Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen ein Gesetz bzw. unmittelbar gegen ein Gerichtsurteil, dem ein verfassungswidriges Gesetz zugrundeliegt, ergehen. Vgl. dazu Schiaich, Rn. 113 f.
I. Das Bundesverfassungsgericht
149
Im Vordergrund des öffentlichen Interesses wie auch der gerichtlichen Statistik 25 steht die (Jedermann-)Verfassungsbeschwerde. Sie fand erst auf Umwegen ihren Platz im Grundgesetz: Nachdem der Parlamentarische Rat auf eine Aufnahme in die Verfassung verzichtet hatte, wurde sie 1951 in das neugeschaffene Bundesverfassungsgerichtsgesetz aufgenommen. 1969 wurde sie „als eines der Gegengewichte" zur damals geschaffenen Notstandsverfassung in Art. 93 I Nr. 4a GG verfassungsrechtlich verankert. 26 Mit der Verfassungsbeschwerde kann jeder Grundrechtsberechtigte 27 mit der Behauptung, durch einen Akt öffentlicher Gewalt selbst, gegenwärtig und unmittelbar in einem Grundrecht verletzt worden zu sein, vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, wenn er zuvor den Rechtsweg erschöpft hat. Jede Verfassungsbeschwerde muß ein besonderes Annahmeverfahren 28 durchlaufen: Aus jeweils drei Verfassungsrichtern bestehende Kammern entscheiden in einer ersten Stufe darüber, ob sie die Annahme der Verfassungsbeschwerde ablehnen 29 oder ob sie selbst, was unter engen Voraussetzungen möglich ist, der Verfassungsbeschwerde stattgeben.30 Diejenigen Verfassungsbeschwerden, deren Annahme nicht von der Kammer abgelehnt wurde und denen nicht von der Kammer stattgegeben wurde, gelangen in den zuständigen Senat, der nun seinerseits über Annahme oder Ablehnung entscheidet. Das für die Annahme erforderliche Quorum innerhalb des Senats beträgt drei Richterstimmen. 31 Gelangt der Senat weiterhin zu der Auffassung, daß der angegriffene Akt öffentlicher Gewalt verfassungswidrig ist und die Grundrechtsverletzung gerade auf ihm beruht oder jedenfalls auf ihm beruhen kann, so gibt er der Verfassungsbeschwerde statt. War Gegenstand der Verfassungsbeschwerde eine Gerichtsentscheidung, so hebt das Bundesverfassungsgericht sie auf und verweist die Sache an ein zuständiges Gericht zurück. Wurde hingegen mit der Verfassungsbeschwerde ein Gesetz angegriffen, so wird dieses grundsätzlich für nichtig erklärt. 32
25
Vgl. die Aufstellung bei Schiaich, Rn. 73.
26
Schiaich, Rn. 190.
27
Dazu Hesse, § 9, Rn. 284 ff.
28
Zum Annahmeverfahren vgl. unten II.2.a).
29
Etwa 97% der Verfassungsbeschwerden enden auf diese Weise; s. Schiaich, Rn. 257.
30
Dies ist nur der Fall, wenn die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist und wenn die maßgebliche Frage vom Bundesverfassungsgericht bereits entschieden wurde, Schiaich, Rn. 258. 31 32
§ 93d III 2 BVerfGG.
Vgl. § 95 BVerfGG. Zu anderen Entscheidungsvarianten als der Nichtigerklärung und deren Bedeutung für die selbst entwickelten Grenzen der bundesverfassungsgerichtlichen Kompetenzen vgl. unten II.4.
150
C. Bundesrepublik Deutschland
Zu erwähnen ist in gleichem Zusammenhang die sogenannte kommunale Verfassungsbeschwerde, bei der es sich in der Sache wohl eher um eine besondere Form eines Normenkontrollverfahrens handelt.33 Mit der kommunalen Verfassungsbeschwerde können Gemeinden und Gemeindeverbände gegen ein Bundes- oder Landesgesetz vorgehen, durch das sie sich in ihrem in Art. 28 II GG garantierten Recht auf gemeindliche Selbstverwaltung verletzt sehen. Der Sicherung des Verfassungsbestandes dienen schließlich eine Reihe weiterer Verfahren, für die das Bundesverfassungsgericht zuständig ist. 34 Es sind dies die in der Praxis immer wieder vorkommenden Wahlprüfungsverfahren 35, die außerordentlich seltenen Parteiverbotsverfahren 36 und Grundrechtsverwirkungsverfahren 37 und die bisher nicht praktisch gewordenen Anklageverfahren gegen Bundesrichter 38 und gegen den Bundespräsidenten. 39
3. Besetzung des Bundesverfassungsgerichts und Sondervotum 40 a) Besetzung des Bundesverfassungsgerichts Carlo Schmid, der als Vertreter des Landes Württemberg-Hohenzollern am Verfassungskonvent von Herrenchiemsee teilnahm, hatte sich die künftigen Richter des Bundesverfassungsgerichts als „politische Menschen" vorgestellt, die „ein qualifiziertes politisches Vertrauen genießen".41 Der parlamentarische 33
Stern II, § 44 IV 9 b, S. 1023 f.; Schiaich, Rn. 184; Löwer, in: HStR II, § 56 IV 3, S. 780. 34 Zur Häufigkeitsverteilung vgl. die bei Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, im Anhang zu § 20, S. 361 ff. abgedruckten Statistiken. 35
Vgl. Art. 41 II GG.
36
Vgl. Art. 21 II 2 GG.
37
Vgl. Art. 18 GG.
38
Vgl. Art. 98 II, V GG.
39
Vgl. Art. 61 GG.
40 Zur Besetzung vgl. Geck, in: HStR II § 55; Stern II, § 32 IV, S. 356 ff.; Schiaich, Rn. 39 ff.; Trautwein, Bestellung und Ablehnung von Bundesverfassungsrichtern, S. 3 ff.; zum Sondervotum vgl. Benda/Klein, Rn. 261 ff.; Schiaich, Rn. 49 ff.; ausfuhrlich und rechtsvergleichend Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts. 41 Zitiert nach Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 41. Ähnlich das 20 Jahre später von der Bundesverfassungsrichterin Rupp-v. Brünneck erhobene Petitum, das Bundesverfassungsgericht brauche „notwendig Persönlichkeiten, die aus einer hervorgehobenen verantwortungsvollen Tätigkeit im Landes- oder Bundesbereich eine vertiefte Kenntnis des politischen Raumes' mitbringen ...", um die Rechtsprechung des Gerichts davor zu bewahren, wirklichkeitsfremd zu werden. Rupp-v. Brünneck, Darf das BVerfG ...?, S. 355 (378).
I. Das Bundesverfassungsgericht
151
Gesetzgeber war zurückhaltender. Im Bundesverfassungsgerichtsgesetz von 1951 formulierte er, daß die Richter des Bundesverfassungsgerichts „sich durch besondere Kenntnisse im öffentlichen Recht auszeichnen und im öffentlichen Leben erfahren sein" müßten.42 Zehn Jahre später ließ er jedoch, gegen weitverbreiteten Widerstand nicht zuletzt innerhalb des Gerichts, diese Voraussetzung wieder fallen. Im übrigen ließen sich Verfassungsgeber und Bundesgesetzgeber bei der Schaffung der Normen zur Wahl der Bundesverfassungsrichter von den vier Eckpunkten eines „magischen Vierecks" 43 leiten. Diese vier Ecken sollten für (1) die demokratische Legitimation unter Wahrung des föderativen Elements, (2) den Ausschluß einseitiger parteipolitischer Einflüsse in den Berufungsorganen, (3) eine hohe fachliche und persönliche Qualifikation der Kandidaten und schließlich (4) deren Fähigkeit zur Distanz von den, in aller Regel politischen, Streitparteien stehen. (1) Die Richterwahl ist in Art. 94 GG und in den §§ 2 ff. des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes normiert. Danach werden die Mitglieder des höchsten deutschen Gerichts je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt, womit im Grundsatz sowohl der demokratischen Legitimation als auch der föderativen Repräsentation Rechnung getragen wird. Während der Bundesrat im Plenum wählt, hat das Bundesverfassungsgerichtsgesetz die Wahl durch den Bundestag auf einen zwölfköpfigen Wahlmännerausschuß übertragen, der nach den Regeln der Verhältniswahl zusammengesetzt ist und hinter verschlossenen Türen tagt. 44 Diese indirekte Wahl „verlängert die Legitimationskette zwischen Volk und Richtern um ein Glied" 45 und reduziert gleichzeitig in drastischer Weise die Zahl derer, die an der Auswahl der Richter beteiligt werden. (2) Immerhin verlangt das BVerfGG in beiden Wahlgremien eine 2 / 3 Mehrheit, was einen gänzlich einseitigen parteipolitischen Einfluß wohl unmöglich macht. Jedoch hat sich in der bisherigen Praxis ein „Entscheidungsoligopol der beiden großen Parteien" 46 herausgebildet. Sie überspielen häufig 42
So § 3 II BVerfGG von 1951.
43
Vgl. Lauf er, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 206 f.; geringfügig modifizierend Stern II, § 32 IV 1, S. 356. Kelsen hatte auf der Wiener Staatsrechtslehrertagung 1928 gefordert, daß bei der Zusammensetzung von Verfassungsgerichten „vor allem auf die Ausschaltung parteipolitischer Einflüsse und auf ... verfassungsrechtliche Fachkenntnisse" zu achten sei, VVDStRL 5 (1929), S. 30 (85). 44 Majer, in: BVerfGG-Mitarbeiterkommentar, § 6 Rn. 17, weist zu Recht darauf hin, daß sich die NichtÖffentlichkeit der Sitzungen nicht aus der Natur der Sache ergibt, wie etwa Geck, in: HStR II, § 55 I, S. 701, meint. Daß ein insoweit vergleichbares Befragungsund Berufungsverfahren durchaus auch (fernseh-)öffentlich sein kann, zeigt sich am Beispiel der USA; vgl. dazu oben B.I.3. 45
Geck, in: HStR II, § 55 I, S. 701.
46
Geck, a.a.O., S. 708.
152
C. Bundesrepublik Deutschland
die vom Bundesjustizminister zu fuhrenden, allerdings nicht verbindlichen Kandidatenlisten durch Vorschläge ihrer sogenannten „Findungskommissionen". Bei der Auswahl der Kandidaten arrangieren sie sich in der Weise, daß sie die vorhandenen Stellen wie „Erbhöfe" 47 untereinander aufteilen und sich gegenseitig das „Nominierungsrecht" für bestimmte Richterstellen zusichern. Dabei wird der Parteienproporz seit 1951 konsequent eingehalten.48 Das Erfordernis der 2/3-Mehrheit hat bei der bisherigen parlamentarischen Konstellation dazu gefuhrt, daß über den jeweiligen Kandidaten ein parteiübergreifender Konsens herrschen mußte. Die beiden großen Parteien werden dadurch dazu gezwungen, sich auf Kandidaten zu einigen, die ihnen beiden geeignet und parteipolitisch nicht zu profiliert erscheinen. Meistens geschieht die Einigung relativ geräuschlos bereits im Vorfeld der Nominierung der Richterkandidaten. Krisenhafte Situationen bei der Wahl oder Kandidaten, die nach ihrer Nominierung „duchfielen", kamen durchaus vor, waren aber bisher dennoch vergleichsweise selten.49 (3) Nach Abschaffung der oben genannten inhaltlichen Kriterien sind die Wählbarkeitsvoraussetzungen recht bescheiden. Die Kandidaten müssen ein Mindestalter von 40 Jahren haben, zum Bundestag wählbar sein und die Befähigung zum Richteramt besitzen; der Gesetzgeber hat sich für ein „reines Juristengericht" 50 entschieden. Um innerhalb der juristischen Fachleute das richterliche Element in der personellen Zusammensetzung des Gerichts zu stärken, sieht das Bundesverfassungsgerichtsgesetz vor, daß pro Senat (mindestens) drei Richter aus den Richtern an den obersten Gerichtshöfen des Bundes gewählt werden, die dort über eine mindestens dreijährige Berufserfahrung verfügen sollen. In der Praxis wird diese Mindestzahl oft überschritten. Im übrigen rekrutieren sich die Bundesverfassungsrichter überwie47
Stern II, § 32 IV 3, S. 362.
48
Vgl. Landfried, Bundesverfassungsgericht, S. 17 ff. mit zahlreichen illustrativen Beispielen zum Zusammenwirken der Parteien. Grundsätzlicher Bettermann, Opposition und Verfassungsrichterwahl, S. 723 ff. 49
Zwar haben die von Lauf er, S. 243 ff. hervorgehobenen krisenhaften Situationen im Zusammenhang mit Wiederwahl und verzögerter Nachwahl nach den Novellierungen des BVerfGG ihre Bedeutung verloren, jedoch dürften die politischen Auseinandersetzungen in den Vorentscheidungs- und Entscheidungsgremien auch in Zukunft nicht geringer werden. Auch kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß zwei Parteien für alle Zeiten über die erforderliche Zweidrittelmehrheit verfugen werden. Aktuelles Beispiel für eine gescheiterte Kandidatur war die von der SPD als Nachfolgerin für den 1993 aus dem Amt scheidenden Vizepräsidenten und Vorsitzenden des 2. Senats, Ernst Gottfried Mahrenholz, vorgeschlagene Bundestagsabgeordnete Herta Däubler-Gmelin, die von der CDU als nicht konsensfahig abgelehnt wurde. Nach monatelangem Tauziehen gab sie ihre Kandidatur im Dezember 1993 auf. Die Nachfolgekandidatin, die Berliner Justizsenatorin Jutta Limbach, wurde daraufhin ohne Schwierigkeiten gewählt. 50
Stern II, § 32 I V 2, S. 360.
I. Das Bundesverfassungsgericht
153
gend aus den Reihen der Universitätslehrer, hohen Beamten sowie - erheblich seltener - der Politiker und Rechtsanwälte.51 Diese Mischung gilt als „glückliche Lösung". 52 Nicht zuletzt ihr dürfte es zu verdanken sein, daß sich die Richter des Bundesverfassungsgerichts in der Öffentlichkeit 53 wie auch in Fachkreisen im allgemeinen hoher Wertschätzung erfreuen. Bei aller Kritik am Wahlmodus und insbesondere am parteipolitischen Einfluß bei der Wahl der Bundesverfassungsrichter 54, auf dessen Auswirkungen im folgenden kurz eingegangen werden soll, wird ihre fachliche und persönliche Qualifikation kaum in Zweifel gezogen. (4) Unter dem vierten Gesichtspunkt des oben erwähnten magischen Vierecks, das die Idealpersönlichkeit eines Bundesverfassungsrichters umspannt, stellt sich die Frage nach der Distanz der Bundesverfassungsrichter zu den (politischen) Streitparteien. Anders gewendet: Angesichts des Wahlmodus für die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts, der die beiden großen Parteien potentiell in die Lage verfassungspolitischer „Königsmacher" versetzt hat, fragt sich, inwieweit sich das politische Profil der Gewählten, die regelmäßig Mitglied einer Partei sind oder ihr zumindest erkennbar nahestehen55, in ihrem Verhalten bei Gericht niederschlägt. Die zu dieser Frage angestellten Untersuchungen kommen zu einem klaren Ergebnis: Parteipolitik spielt im Bundesverfassungsgericht nur eine sehr untergeordnete Rolle. 56 Zwar seien, etwa in der Entscheidung zum Grundlagenvertrag und in der Fristenlösungsentscheidung zum § 218 StGB, parteipolitisch motivierte Konturen innerhalb des Gerichts sichtbar geworden. 57 Ins51
Näher dazu die Aufstellung bei Landfried, Bundesverfassungsgericht, S. 32 ff. Weitverbreitet seien „gemischte Juristenkarrieren", a.a.O., S. 40. Zurückhaltender insoweit Bryde, S. 153. 52
Simon, in: HdbVerfR, S. 1659.
53
So weit sie dort überhaupt individuell wahrgenommen werden; zur Reputation des BVerfGs als ganzem vgl. Landfried, Bundesverfassungsgericht, S. 152. 54 Einen guten Überblick über die verschiedenen Kritikpunkte bietet Geck, in: HStR II, § 55 II 2, S. 706 ff. Vgl. andererseits Simon, a.a.O., S. 1659, und Stern, Gedanken zum Wahlverfahren für Bundesverfassungsrichter, in: ders., Der Staat des Grundgesetzes, S. 370 ff. Beide sprechen sich insgesamt für eine Beibehaltung des gegenwärtigen Wahlmodus aus. 55 Vgl. die empirischen Angaben bei Landfried, (17 ff.).
Bundesverfassungsgericht, S. 15 ff.
56 Vgl. Landfried, Bundesverfassungsgericht, S. 15 f.; Bryde, S. 177 ff., der zu Recht darauf hinweist, daß es die Art des richterlichen Berufungsverfahrens ist, die geradezu zwangsläufig die Frage nach parteipolitischen Überzeugungen der Richter aufkommen läßt. Von amerikanischer Seite aus ist es nicht respektlos, sondern üblich, dieser Frage nachzugehen. Vgl. Kommers, Judicial Politics, Kapitel 4, S. 113 ff. 57
Landfried,
a.a.O., S. 16.
154
C. Bundesrepublik Deutschland
gesamt sorgen aber das 2/3-Quorum bei der Wahl und der vergleichbare „Hintergrund an Sachverstand, Lebens- und Berufserfahrung" 58 fur den weitgehenden Ausschluß parteipolitisch bedingter extremer Positionen. Viel mehr als strikt parteipolitisch zuordnungsfahige Affinitäten dürften es individuelle Wertvorstellungen und Ansichten sein, die das Abstimmungsverhalten prägen. 59 Schließlich sollte man das persönliche Bewußtsein von richterlicher Unabhängigkeit und die Atmosphäre bei Gericht nicht unterschätzen. Beide zusammen bilden Gegengewichte zur parteipolitischen Herkunft der Verfassungsrichter. Deutlich wird dies etwa in einem Beitrag des ehemaligen Richters am Bundesverfassungsgericht Simon. Über die institutionellen Sicherungen richterlicher Unabhängigkeit hinaus dränge „der tägliche Umgang mit der Verfassung und der Argumentationszwang in einem qualifiziert zusammengesetzten Beratungsgremium die etwaige parteipolitische Herkunft ganz in den Hintergrund; tatsächlich wechseln die Abstimmungsmehrheiten ständig. Am ehesten könnte sich die jeweilige - vereinfachend als mehr liberal, konservativ und/oder sozial umschreibbare — Grundhaltung bei zweifelhaften Streitfragen auswirken sowie eine mehr oder weniger machtbewußte Persönlichkeitsstruktur. Zusammenhänge zwischen der Besetzung des Gerichts und dem Schicksal einiger Reformgesetze der sozialliberalen Koalition lassen sich jedenfalls wesentlich schwieriger konstruieren, wie manche Spekulationen vermuten. Insgesamt dürfte sich die Rechtsprechung des letzten Jahrzehnts auf einer vermittelnden verfassungspolitischen Linie bewegt haben."60 Zusammenfassend läßt sich daher festhalten, daß die Richter des Bundesverfassungsgerichts durch einen beide Kammern des Parlaments paritätisch berücksichtigenden Wahlmodus ins Amt gelangen, wodurch ihre demokratische Legitimation unter Wahrung des föderativen Elements sichergestellt wird. Parteipolitische Einflüsse in den Berufungsorganen sind evident. Dies führt sowohl zu einer unnötigen Konzentration der Entscheidung bei ganz wenigen Personen, als auch zu einer unerfreulichen Verengung des Kandidatenkreises. Angesichts des - demzufolge essentiellen, leider nur einfachgesetzlich festgeschriebenen - Erfordernisses einer 2/3-Mehrheit sind die Einflüsse immerhin nicht gänzlich einseitig ausgerichtet, jedoch begünstigen sie, zumindest bei der gegenwärtigen Parteienkonstellation, die beiden großen Parteien CDU und SPD zu sehr. Der starke parteipolitische Einfluß bei Nominierung und Wahl hat jedoch in der Regel weder der hohen fachlichen und 58
Bryde, S. 178.
59
Kommers , Judicial Politics, S. 150 ff.
60 Simon, in: HdbVerfR, S. 1659 f. mit Hinweis auf Biehler, Sozialliberale Reformgesetzgebung und BVerfG, 1990, der im Gegensatz dazu „einen massiven Einbruch des Gerichts in die sozialliberale Reformpolitik" feststelle.
I. Das Bundesverfassungsgericht
155
persönlichen Qualifikation der Kandidaten Abbruch getan, noch hat er deren Fähigkeit zur Distanz von Parteipolitik und deren Repräsentanten unter den Streitparteien in nennenswerter Weise beeinträchtigt. Der deutsche Wahlmodus zur Bestimmung der Mitglieder des höchsten Gerichts wird daher insgesamt den an ihn zu stellenden Erwartungen gerecht. Wünschenswert wäre es, die Wahl aus dem Wahlmännerausschuß des Bundestages ins Plenum zurückzuverlagern, um mehr Abgeordnete am Entscheidungsprozeß zu beteiligen. Diskussionswürdig erscheinen ferner Überlegungen, das Wahlverfahren, etwa durch öffentliche Anhörungen, transparenter zu gestalten.61 Im Vergleich zum Wahlmodus der Richter zum United States Supreme Court 62 erscheint das deutsche Modell, insbesondere wegen seines Erfordernisses konsensbildender qualifizierter Mehrheiten, auch in seiner gegenwärtigen Gestalt vorzugswürdig. b) Sondervotum Seit einer entsprechenden Änderung des Bundesverfassungsgerichsgesetzes von 1970 werden die Richter des Bundesverfassungsgerichts einmal ohne die Möglichkeit einer Wiederwahl auf 12 Jahre gewählt. Ihre Amtszeit endet jedoch in jedem Fall mit der Vollendung des 68. Lebensjahres. Dieser Modus trat an die Stelle der bis dahin bestehenden Zweiteilung in Richter „auf Lebenszeit" und „Richter auf Zeit", die sich im Lauf der Zeit wachsender Kritk gegenüber gesehen hatte.63 Zusammen mit der Novellierung der Amtszeitregelung wurde die Möglichkeit des Sondervotums eingeführt. Danach kann ein Richter des Bundesverfassungsgerichts seine in der Beratung vertretene abweichende Meinung zu der Entscheidung oder zu deren Begründung in einem Sondervotum niederlegen, das der Entscheidung anzuschließen ist. 64 Die neue Amtszeitregelung und die Einführung des Sondervotums waren als Paketlösung gedacht. Durch das Sondervotum wurde einer, nicht zuletzt dem damaligen Zeitgeist entsprechenden Forderung nach größerer Transparenz und
61 Zu derartigen Reformvorschlägen vgl. Trautwein, Bestellung und Ablehnung von Bundesverfassungsrichtern, S. 18 ff., 35 ff.; Stern, Gedanken zum Wahlverfahren für Bundesverfassungsrichter, in: ders., Der Staat des Grundgesetzes, S. 373 f., 380. 62
Vgl. oben B.I.3.
63
Nach der ursprünglichen Regelung von 1951 hatte es hinsichtlich der Amtszeit zwei Gruppen von Richtern gegeben: Einerseits diejenigen, die aus den Richtern an den obersten Bundesgerichten gewählt wurden. Sie amtierten auch im Bundesverfassungsgericht „auf Lebenszeit", d.h. bis zur Vollendung des 68. Lebensjahres. Alle anderen Richter amtierten als „Richter auf Zeit". Sie wurden für acht Jahre gewählt, konnten danach aber wiedergewählt werden. Zur Kritik daran vgl. Laufer, S. 215 ff. Zu Problemen bei der Wiederwahl vgl. Lauf er, S. 249 ff.; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 148 Fn. 5. Zur Beurteilung der jetzigen Regelung vgl. Geck, in: HStR II, § 55, S. 711 ff. 64
§ 30 II 1 BVerfGG.
156
C. Bundesrepublik Deutschland
Offenheit der juristischen Meinungen Rechnung getragen. 65 Da sich einzelne Mitglieder des Gerichts durch ein Sondervotum ungleich stärker individuell exponieren, war es folgerichtig, durch die neue Amtszeitregelung, insbesondere den Ausschluß einer Wiederwahlmöglichkeit, die richterliche Unabhängigkeit entsprechend abzusichern. Die Einfuhrung des Rechtsinstituts des Sondervotums war seinerzeit heftig umstritten. 66 Inzwischen haben sich die Wogen geglättet, wenngleich sich noch heute kritische Stimmen und Befürworter gegenüberstehen.67 Stellvertretend für die Kritiker ist etwa die Einschätzung von Stern, der anmerkt, daß von der Befugnis zur Abgabe eines Sondervotums „reger — vielleicht zu reger - Gebrauch gemacht" werde. 68 Es sei nach wie vor zweifelhaft, ob das Sondervotum der „Funktion und Autorität der Verfassungsgerichtsbarkeit zuträglich" sei. Das Sondervotum schwäche „die Überzeugungskraft und die Befriedungswirkung des Urteils". Im übrigen sei noch kein Sondervotum später zur Mehrheitsmeinung geworden. 69 Dieser Kritik wird man kaum folgen können. Kommers, der als Amerikaner besonders berufen ist, sich zu dieser Thematik zu äußern, stellt fest, daß trotz der Möglichkeit von Sondervoten weit über 90% der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts einstimmig ergehen 70, so daß von (allzu) regem Gebrauch wohl nicht die Rede sein kann. Schiaich weist auf die zahlenmäßig abnehmende Tendenz hin 71 und kommt zu dem Schluß, daß insgesamt Sondervoten auch 20 Jahre nach ihrer gesetzlichen Ermöglichung das Bild der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „nur in geringem Maße prägen." 72 Darüber hinaus muß sich die Befürchtung, daß Sondervoten mit der Verfassungsgerichtsbarkeit schlechthin unvereinbar seien, das Beispiel des United States Supreme Court entgegenhalten lassen. Praktisch von An65
Vgl. Benda/Klein,
Rn. 262.
66
Vgl. Millgramm, S. 65 ff. (73 ff.). Der 47. Deutsche Juristentag sprach sich 1968 mit 371 zu 31 Stimmen für die Einführung eines Sondervotums bei Verfassungsgerichten aus. Vgl. 47. DJT, Bd. II, Rn. 144. 67 Nachweise bei Benda/Klein, Rn. 263 Fn. 35; Stern II, § 44 V 3, S. 1043 Fn. 543. Eine komprimierte Zusammenschau der Argumente auch bei Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rn. 72 ff, der dem Sondervotum (a.a.O., Rn. 76) insgesamt eine „ambivalente Wirkung" zuspricht. 68 Stern II, § 44 V 3, S. 1042. Die letzte Aussage kann im Hinblick auf die geänderte Rechtsprechung zur Parteienfinanzierung nicht aufrechterhalten werden. Vgl. BVerfGE 73, 40 (103) - Sondervotum Böckenförde, sowie BVerfGE 85, 264 (286, 314); vgl. dazu Schiaich, Rn. 49. 69
Stern, a.a.O., S. 1043.
70
Kommers , Constitutional Jurisprudence, S. 31.
71
Vgl. dazu auch detailliert Millgramm,
72
Vgl. Schiaich, Rn. 50.
S. 87 ff.
I. Das Bundesverfassungsgericht
157
beginn bestand dort für jeden Richter die Möglichkeit, seine abweichende Rechtsansicht durch eine „separate opinion" zum Ausdruck zu bringen. Nach anfanglicher Zurückhaltung wurden Sondervoten in der Rechtsprechung des Supreme Court so selbstverständlich, daß einstimmige Entscheidungen mittlerweile die Ausnahme sind. 73 Sicherlich geht von einstimmigen Entscheidungen eines Verfassungsgerichts eine besondere Überzeugungskraft und Befriedungswirkung aus. Eingedenk dessen ergingen Entscheidungen des Supreme Court in gesellschaftlich und politisch besonders schwierigen Fällen auch mit 9 : 0 Stimmen.74 Jedoch ist ein Verfassungsgericht kein monolithischer Block. Auch in ihm bestehen, was nicht nur Juristen einleuchten wird, zu manchem Problem unterschiedliche Meinungen und Überzeugungen, die sich nicht im Wege eines Kompromisses lösen lassen. Diese Unterschiede nach innen deutlich zu machen und, wenn sie gravierend sind, auch nach außen mit dem eigenen Namen zu vertreten, erfüllt eine doppelte Funktion. Das Sondervotum wirkt nach innen, indem es die die Entscheidung tragende Mehrheit zu einem intensiveren Überdenken ihrer Ansicht und zur Auseinandersetzung mit bestimmten Argumenten bewegt.75 Es wirkt aber auch nach außen, deckt Widersprüche in der bisherigen Rechtsprechung 76 sowie nicht selten die eigentlich strittigen Probleme eines Falles auf, kann dadurch aber auch „zum Verstehen der Mehrheitsentscheidung beitragen." 77 Im Rechtsinstitut des Sondervotums kann man daher durchaus eine besondere Form des pluralistischen Minderheitenschutzes und ein wichtiges Element der Selbstkritik des Bundesverfassungsgerichts als einer von anderen Gewalten im Einzelfall nicht kontrollierbaren Institution erblicken: „In umstrittenen Fällen stärken Sondervoten eher die Akzeptierbarkeit der Entscheidungen und den Respekt vor einem Gericht, das harten Auseinandersetzungen nicht ausweicht und das dem Unterlegenen zu erkennen gibt, daß sein Standpunkt nicht aus dem Spektrum des Vertretbaren herausfällt. Nicht ganz zu Unrecht wird solchen Sondervoten eine den politischen Konflikt entschärfende ,systemstabilisierende' Wirkung zugeschrieben." 78
73
Vgl. Millgramm,
S. 63 ff.
74
Vgl. z.B. die Leitentscheidung zur Verfassungswidrigkeit der Rassentrennung an öffentlichen Schulen, Brown v. Board of Education („Brown I"), 347 U.S. 483 (1954), oder die Entscheidung U.S. v. Nixon, 418 U.S. 683 (1974), die zum Rücktritt von Präsident Nixon führte. Zur Einordnung dieser Entscheidungen siehe auch den historischen Überblick oben B.I.2.d). 75
Benda/Klein, Rn. 264. Ob ein dann veröffentlichtes Sondervotum später einmal kausal für einen Schwenk in der Rechtsprechung sein wird, ist demgegenüber zweitrangig. 76
Schiaich, Rn. 49.
77
Benda/Klein,
78
Rn. 264.
Simon, in: HdbVerfR, S. 1661; ähnlich v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 48 ff. (49 f.), der der dissenting opinion eine „eher integrierende Funktion" zuspricht.
158
C. Bundesrepublik Deutschland
Insgesamt stellt die Einfuhrung des Sondervotums eine Bereicherung der argumentativen wie auch der kommunikativen Fähigkeiten des Bundesverfassungsgerichts dar. Sein maßvoller Einsatz hat die Geschlossenheit und Autorität des Gerichts nicht geschwächt, letztere wahrscheinlich sogar eher erhöht. Die Möglichkeit, bei gravierenden Meinungsunterschieden eine abweichende richterliche Meinung zu Protokoll zu geben, ist ein Ausdruck von Reife, Gelassenheit und wissenschaftlicher Redlichkeit, die das Bundesverfassungsgericht sich leisten kann und die ihm gut zu Gesicht steht.
II. Gerichtlicher Prüfungsumfang, Grenzen der Rechtsprechung und ihre Begründung 1. Ausgangspunkt a) Gesetzlich vorgegebene Kompetenzen Ausgangspunkt des Versuchs, vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Grenzen seiner Rechtsprechungskompetenz aufzuzeigen, zu systematisieren und zu erklären, ist die Feststellung, daß das Gericht bereits nach dem Willen von Verfassungs- und Gesetzgeber über weitreichende Kompetenzen verfügt. Sein im Grundgesetz verankerter und im Bundesverfassungsgerichtsgesetz ausdifferenzierter Zuständigkeitskatalog79 ist umfangreich. Neben Verfassungsbeschwerde, Normenkontrolle und Organstreit als den häufigsten Verfahrensarten sieht § 13 BVerfGG mehr als zehn weitere Zuständigkeiten vor: Es ist „kaum eine verfassungsrechtliche Streitfrage denkbar, die (dem Bundesverfassungsgericht) nicht zur letztverbindlichen Entscheidung angetragen werden könnte. Findet sich ein Antragsteller, sichern die einander ergänzenden und überschneidenden Verfahrensarten dem Gericht das letzte Wort in solchen Fragen selbst dann, wenn es — wie etwa für die verfassungskonforme Gesetzesauslegung — nicht ausschließlich zuständig ist. Da ferner das Gericht die Vorschriften über seine Zuständigkeiten selbst auslegt, fällt ihm faktisch die Kompetenz-Kompetenz zu." 80 Darüber hinaus ist dem Bundesverfassungsgericht durch Auslegung und Ausfüllung „offener Normen" und insbesondere durch die Entwicklung der Grundrechtsdogmatik ein weiteres Mehr an Kompetenz zugewachsen. Da das Grundgesetz gemäß Art. 1 III, 20 III GG unmittelbar geltendes Recht ist und als solches alle staatliche Gewalt bindet, nehmen die nachfolgend geschilderten veränderten Grundrechtsinterpretationen auch an der verfassungsrechtlichen Bindungswirkung teil. 79
Der oben 1.2. skizziert wurde.
80
Simon, in: HdbVerfR, S. 1647.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
159
b) Kompetenzzuwachs kraft veränderter Grundrechtsdogmatik Maßgeblich für den Kompetenzzuwachs war zum einen die Ausdehnung und „Verallgemeinerung" 81 des Schutzbereichs von Art. 2 I GG 8 2 , wodurch dieses Grundrecht zur Gewährleistungsnorm der allgemeinen Handlungsfreiheit und zum Auffanggrundrecht gegenüber den speziellen Grundrechtsgewährleistungen mutierte. Als Folge davon hat sich die auf Art. 2 I GG gestützte Verfassungsbeschwerde „tendenziell zur allgemeinen Normenkontrolle" 8 3 ausgeweitet, da jedes verfassungswidrige Gesetz jedenfalls den weit gedehnten Schutzbereich von Art. 2 I GG tangiert und somit jedes vermeintliche gesetzgeberische Fehlverhalten grundsätzlich auch vom Bürger vor dem Bundesverfassungsgericht gerügt werden kann. Noch wichtiger für den Kompetenzzuwachs des Bundesverfassungsgerichts ist die von ihm wesentlich mitgeprägte Doktrin von der objektiv-rechtlichen Funktion der Grundrechte. 84 Danach sind Grundrechte sowohl subjektive Freiheitsrechte des einzelnen Grundrechtsträgers als auch objektive Grundsatznormen bzw. Wertentscheidungen.85 Aus diesem objektiv-rechtlichen Charakter hat das Bundesverfassungsgericht unter anderem die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das „einfache Recht" und eine begrenzte Drittwirkung von Grundrechten in den Rechtsbeziehungen Privater abgeleitet.86 Eine noch bedeutsamere Konsequenz dieses Grundrechtsverständnisses ist die Rechtsfigur der aus den Grundrechten abzuleitenden staatlichen Schutzpflichten. 87 Danach darf der Staat nicht nur ohne verfassungsrechtliche Rechtfertigung nicht in die Grundrechte seiner Bürger eingreifen. Vielmehr ist er darüber hinaus zur vorbeugenden Verhinderung von Grundrechtsverletzungen verpflichtet. 88 Je nach betroffenem Grundrecht, nach Art und Ausmaß der 81
Schiaich, Rn. 14.
82
Grundlegend BVerfGE 6, 32 (36) - Elfes. Vgl. zuletzt BVerfGE 80, 137 (152 ff.) Reiten im Walde. 83 Treffend Bundesverfassungsrichter Grimm in seinem Sondervotum zur letztgenannten Entscheidung Ε 80, 137 (164, 168), wo er er die „vom Grundgesetz nicht vorgesehene Banalisierung der Grundrechte und die damit verbundene Ausuferung der Verfassungsbeschwerde" beklagt. 84
Vgl. dazu Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen ..., AöR 110 (1985), 363 ff.; Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29 (1990), 1 ff., bzw. ders., Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz (Vortrag in der v. SiemensStiftung am 19.10.1989). 85
Grundlegend BVerfGE 7, 198 (204 ff.) - Lüth.
86
Vgl. Pieroth /Schlink,
Rn. 98 ff.
87
Vgl. Böckenförde, a.a.O., S. 12, der die (rhetorische) Frage stellt, ob nicht „die Schutzpflicht, ..., systematisch gesehen den zentralen Begriff der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte darstellt." 88
Pieroth/Schlink,
Rn. 103.
160
C. Bundesrepublik Deutschland
drohenden Gefahr und nach den schon getroffenen staatlichen Maßnahmen ist die Pflicht zum Tätigwerden unterschiedlich intensiv, wobei normalerweise den staatlichen Organen bei der Wahl von Methode und Medium eine gewisse Entscheidungsfreiheit zukommt. Im Extremfall kann sich jedoch die staatliche Schutzpflicht, wie die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum § 218 StGB zeigen 89 , sogar soweit verdichten, daß ihr nach der insoweit allein maßgeblichen Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nur durch den Erlaß ganz bestimmter strafrechtlicher Normen Genüge getan werden kann. Schutzpflichten des Staates kann im Grundsatz auch der einzelne im Wege der Verfassungsbeschwerde einfordern. Deren Erfolgsaussichten sind jedoch eher gering, da sich eine staatliche Schutzpflicht nur ganz ausnahmsweise einmal in der Weise verengen wird, daß der Bürger gegen den Staat einen grundrechtlichen Anspruch auf Vornahme gerade einer ganz bestimmten Maßnahme hat. 90 Die Auswirkungen dieser objektiv-rechtlichen Ausgestaltung der Grundrechte können kaum überschätzt werden 91: Als objektive Grundsatznormen lösen sich die Grundrechte vom Konzept der das gestufte Staat-Bürger-Verhältnis prägenden Prinzipien und Gewährleistungen. Sie „entfalten ihre Wirkung in alle Richtungen und Rechtsbereiche, auch und gerade horizontal unter den Rechtsgenossen, und ... sind in ihrer Ausdehnung und Intensität aus sich unbestimmt" 92 , was zum Ausgleich der konsequent daraus resultierenden, ebenso vielfältigen wie vielstimmigen Reklamationen von Grundrechtspositionen eine vom Bundesverfassungsgericht zu leistende Abwägung erforderlich macht. Dadurch werden die verfassungsgerichtlichen Entscheidungsspielräume erweitert. 93 Des weiteren ist „(d)ie objektive Grundsatzwirkung der Grundrechte ... universal gerichtet, ergreift potentiell alle Rechtsgebiete; sie ist zugleich aus sich nicht vorab bestimmt und festgelegt, sondern nach Umfang und Intensität offen, der Ausdehnung und Entwicklung zugänglich." 94
89 BVerfGE 39, 1 sowie BVerfGE 88, 203. In der ersten dieser Entscheidungen (E 39, 1) wurde die Idee staatlicher Schutzpflichten maßgeblich entwickelt; Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen ..., S. 378. 90 Anschaulich BVerfGE 77, 170 (214 f.), wo die auf Art. 2 II GG gestützten Verfassungsbeschwerden gegen die Lagerung chemischer Waffen im wesentlichen unter Hinweis auf den eingeschränkten Schutzpflichtcharakter zurückgewiesen wurden. Zur Problematik vgl. auch unten 3.d). 91
Vgl. dazu Böckenförde,
92
Böckenförde,
93
Heun, S. 10.
94
Böckenförde,
a.a.O., S. 19 ff.; Heun, S. 10 f.
a.a.O., S. 19. a.a.O., S. 21.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
161
Aus enumerierten subjektiv-rechtlichen Freiräumen mit — allgemein oder zumindest fallweise - abgrenzbarem Inhalt werden somit „oberste Prinzipien der Rechtsordnung insgesamt".95 Dadurch büßen sie von ihrer außerhalb des Bundesverfassungsgerichts stehenden und ihm teilweise, zeitlich wie auch inhaltlich, vorausliegenden normativen Kraft ein, die das Gericht bisher band und über die es sich nicht ohne weiteres hinwegsetzen konnte. Somit gerät die gewaltenteilige Funktionszuordnung zwischen Bundesverfassungsgericht, Legislative und auch Exekutive in Gefahr. In letzter Konsequenz wird durch die „Entfaltung der Grundrechte als objektive Grundsatznormen und die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zu deren Konkretisierung" der Tätigkeitsschwerpunkt des Bundesverfassungsgerichts tendenziell weg von einer richterlich-kontrollierenden und hin zu einer gesetzgeberisch-gestaltenden Tätigkeit verschoben. 96 c) Zusammenfassung Die dargelegte Weiterentwicklung der Grundrechtsdogmatik hat somit den ,jede mögliche Streitfrage nahezu lückenlos abdeckenden Zuständigkeitskatalog" 9 7 noch beträchtlich erweitert. Es steht kaum zu erwarten, daß eine Mehrheit des Bundesverfassungsgerichts die in der Grundrechtsdogmatik erfolgte Entwicklung rückgängig machen oder auch nur eindämmen wird. Vor diesem Hintergrund viel beargwöhnter 98 kompetenzieller Omnipotenz sind die — teils vom Gesetzgeber, teils vom Gericht unternommenen — im nachfolgenden Abschnitt beschriebenen Maßnahmen zu sehen. Von ihrer Zwecksetzung sind sie vor allem auf eine Eindämmung der Verfahrensflut, namentlich im Bereich der Verfassungsbeschwerden, gerichtet. Vom Standpunkt unserer Fragestellung aus markieren sie Kompetenzgrenzen der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung.
95
A.a.O., S. 23.
96
So Böckenförde, S. 24 ff., der (ebd., S. 25) von einem „gleitenden Übergang vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat" spricht. 97
Heun, S. 9.
98
Vgl. die umfangreichen Nachweise bei Lee, S. 182 ff. Vgl. auch Sendler, NJW 1994, 1519, der vom - letzte Worte verkündenden - „Zuchtmeister der Nation" spricht, wohl aber vor allem das Verhältnis zwischen BVerfG und den (Verwaltungs-)Gerichten im Auge hat. 11 Rau
162
C. Bundesrepublik Deutschland
2. Prozessuale Maßnahmen zur Kompetenzbegrenzung Im Gegensatz zu dem einheitlichen Kanon von Zulässigkeitsvoraussetzungen, den der Supreme Court aus der in Art. III, Section 2 der amerikanischen Verfassung verankerten cases and controversies-Doktrin entwickelt hat", sind die Zulässigkeitsvoraussetzungen fur die verschiedenen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht unterschiedlich. Diese Zulässigkeitsvoraussetzungen sind im GG und insbesondere im Bundesverfassungsgerichtsgesetz kodifiziert. Da dies jedoch nicht lückenlos der Fall ist, und da das Bundesverfassungsgericht sowohl das GG als auch das BVerfGG verbindlich auslegt, hat das Gericht auf die nähere Ausgestaltung von Zulässigkeitsvoraussetzungen Einfluß genommen, sie geformt und neue entwickelt. Vor allem anhand der Verfassungsbeschwerde als bei weitem häufigster Verfahrensart sollen derartige Einflüsse aufgezeigt und Parallelen zu den in den USA geltenden Zulässigkeitsvoraussetzungen, die dort auf alle vor den Supreme Court gebrachten Fälle Anwendung finden, gezogen werden.
a) Der Kampf um das richtige Annahmeverfahren Das oben 100 für den United States Supreme Court beschriebene certiorariVerfahren ist ein freies Annahmeverfahren; dadurch steht es letztlich im Belieben des Gerichts, ob es einen Fall zur Entscheidung annimmt, selbst wenn dieser ein wichtiges und strittiges verfassungsrechtliches Problem aufwirft. Daraus ergibt sich ein für das Gericht wichtiges Regulativ, um die Zahl der von ihm zu entscheidenden Fälle zu steuern. Darüber hinaus wird es in die Lage versetzt, sich in einer bestimmten Situation einer verfassungsrechtlichen Problematik noch nicht zu stellen, sondern zuzuwarten, bis ihm in der Zukunft ein ähnlicher Fall präsentiert wird. Dadurch hat es, vereinfacht gesagt, die Möglichkeit, die „richtigen Fälle zur richtigen Zeit" 1 0 1 zu entscheiden.102 Für das Bundesverfassungsgericht ist der Gesetzgeber (bisher?) einen anderen Weg gegangen, wie der nachfolgende Überblick zeigt:
99
Vgl. oben B.II.l.
100
Vgl. B.I.l.
101
Vgl. Wieland, Zugang des Bürgers, S. 353, der auch beim Bundesverfassungsgericht für ein freies Annahmeverfahren nach amerikanischem Vorbild plädiert. Unter Timing-Gesichtspunkten ist allerdings zu beachten, daß wegen ihrer gerichtsförmigen Natur weder dem Supreme Court noch dem Bundesverfassungsgericht ein Initiativrecht zukommt; die gerichtliche Kontrollkompetenz ist eine rein reaktive. Sie kann daher nur auf Initiative der Streitparteien bzw. der Antragsteller zum Einsatz kommen. 102
Vgl. oben B.II.l.f).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
163
Das Bundesverfassungsgericht wird seit seiner Gründung im Jahre 1951 von einer jährlich steigenden Zahl von Verfassungsbeschwerden überflutet. 103 Waren es im Gründungsjahr 423 Verfassungsbeschwerden, so hat sich deren Zahl im Laufe von 40 Jahren verzehnfacht: 1992 wurden nicht weniger als 4.214 Verfassungsbeschwerdeverfahren registriert. 104 Angesichts der in den neuen Bundesländern zu erwartenden erheblichen Zunahme ist, bei gleichzeitig ungebrochener Popularität in den alten Ländern, mit weiter deutlich wachsenden Zahlen zu rechnen. 105 Die durch die Verfahrensflut hervorgerufene Situation führte, da das ursprüngliche BVerfGG von 1951 nur unter sehr engen Voraussetzungen eine nicht begründungspflichtige Verwerfung von Verfassungsbeschwerden ermöglichte 106 , praktisch von Anfang an zu einer Überlastung des Gerichts. Schon früh wurde daher der Ruf danach laut, ein dem vor dem Supreme Court praktizierten certiorari-Verfahren nachgebildetes freies Annahmeverfahren einzuführen. 107 1956 führte der Gesetzgeber demgegenüber ein besonderes Annahmeverfahren für Verfassungsbeschwerden ein, das eine Vorprüfung durch mit drei Verfassungsrichtern besetzte Ausschüsse vorsah. Diese waren jedoch in der Möglichkeit der Ablehnung nicht frei, sondern konnten Verfassungsbeschwerden nur einstimmig und auch nur dann verwerfen, „wenn weder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage zu erwarten ist noch dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entsteht." 108 Eine weiter anwachsende Zahl von Verfahrenseingängen machte den von der Novelle zunächst ausgehenden Entlastungseffekt zunichte, so daß Bundesverfassungsrichter Federer 1963 erneut die Forderung erhob, das Bundesverfassungsgericht solle „die Befugnis erhalten, ohne vorherigen Hinweis und ohne Begründung über die Zulassung von Verfassungsbeschwerden zu beschließen."109 Dieser abermalige Ruf nach Einführung eines dem freien richterlichen Ermessen unterworfenen Annahmeverfahrens, das es dem Gericht ermöglicht hätte, die Verfahren nach Bedeutung und geeignetem Zeitpunkt zu steuern, verhallte ungehört. Es blieb trotz mehrerer Änderungen des Annahmeverfahrens in den Jahren 1956, 1963, 1970 und
103
Daneben hat das Bundesverfassungsgericht pro Jahr über etwa 100 andere Verfassungsstreitigkeiten zu entscheiden. Vgl. Wieland, Zugang des Bürgers, S. 333. 104 Zu den Zahlenangaben vgl. Winter, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 93a Rn. 2, 8. Eine differenzierte Statistik über Eingangs- und Erledigungszahlen von Verfassungsbeschwerden von 1987 bis 1990 enthält Benda/Klein, Anlage II, S. 530. 105
Winter,
a.a.O., Rn. 8.
106
Es bestand nur die Möglichkeit der a-limine-Abweisung nach § 24 BVerfGG; vgl. die Erstfassung des BVerfGG vom 12.3.1951, BGBl. I S. 243 ff. 107
Vgl. Winter,
108
So § 91a II BVerfGG id.F. von 1956; abgedruckt bei Winter,
109
Federer,
a.a.O., Rn. 2. a.a.O.
Das Bundesverfassungsgericht, S. 55; zitiert nach Winter,
a.a.O., Rn. 3.
164
C. Bundesrepublik Deutschland
1985 1,0 bei einem Modus, der das Bundesverfassungsgericht unter bestimmten, wenn auch interpretationsfähigen Bedingungen zur Annahme verpflichtete. Selbst die durch die Aufwertung und Kompetenzerweiterung der zur Vorprüfung berufenen Spruchkörper durch das Änderungsgesetz von 1985 erhoffte Entlastung wurde durch den weiter wachsenden Geschäftsanfall des Bundesverfassungsgerichts egalisiert, so daß sein damaliger Präsident Roman Herzog 1992 in drastischen Worten warnte: „... wenn man uns nicht hilft, dann saufen wir ab". 111 Die 1993 verabschiedete, fünfte Novelle zur Modifizierung des Annahmeverfahrens 112 sucht ihr Heil in einer Neuformulierung der Annahmegründe. Eine Verfassungsbeschwerde ist danach zur Entscheidung anzunehmen, wenn ihr „grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt" oder wenn eine Entscheidung in der Sache „zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 genannten Rechte angezeigt ist". m Zwar öffnen die neuformulierten Kriterien dem Gericht erhebliche Entscheidungsspielräume. Dennoch bleibt es dabei, daß ein echtes Ermessen des Bundesverfassungsgerichts bei der Entscheidung über die Annahme einer Verfassungsbeschwerde nicht besteht.114 §§ 93a ff. BVerfGG räumen demjenigen, der eine Verfassungsbeschwerde erhebt, einen Justizgewährungsanspruch ein, der lediglich durch unbestimmte Rechtsbegriffe eingeschränkt ist. Im Gegensatz dazu erfolgt die Zulassung einer Klage im certiorari-Verfahren vor dem United States Supreme Court aufgrund einer freien gerichtlichen Ermessensentscheidung.115 Darin besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen deutscher und amerikanischer Verfassungsgerichtsbarkeit.
110 Zu den Novellen vgl. Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 129 ff. Auch 1985 entschied sich der Gesetzgeber gegen ein freies Annahmeverfahren, für das sich diesmal unter anderem der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Zeidler ausgesprochen hatte. Vgl. H.J. Vogel, Zugang zum Verfassungsgericht, S. 78. 111
dpa-Meldung Nr. 177 vom 21.02.1992; zitiert nach H.J. Vogel, a.a.O., S. 74.
112
Zum Annahmeverfahren in seiner jetzigen Gestalt vgl. oben 1.2.
1.3
§ 93a II BVerfGG (Hervorh. nicht i.O.).
1.4
Schiaich, Rn. 254, relativierend allerdings Rn. 256 a.E. Demgegenüber zweifelnd und sehr kritisch Zuck, NJW 1993, 2641: „Die Annahmevoraussetzungen sind entweder so schwer zu erfüllen oder so vage formuliert, daß es sich nunmehr um ein fast freies Verfahren nach amerikanischem Vorbild handelt." 1.5 Vgl. Winter, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 93a Rn. 11; ähnlich H.J. Vogel, Zugang zum Bundesverfassungsgericht, S. 78. Nach wie vor gibt es zahlreiche Stimmen, die für das Bundesverfassungsgericht die Übernahme des amerikanischen Modells eines freien Annahmeverfahrens fordern. Vgl. etwa Wieland: „Wer den Verfassungsrichtern die Macht verleiht, das Grundgesetz mit verbindlicher Wirkung für alle Zeit zu interpretieren, sollte ihrer Klugheit auch darin vertrauen, daß sie die richtigen Fälle zur richtigen Zeit entscheiden", Wieland, Zugang des Bürgers, S. 353. Wie er Vogel, a.a.O., S. 79. Weitere Nachweise bei Schiaich, Rn. 254 Fn. 556.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
165
b) Gerichtlich entwickelte Zulässigkeitsschranken Das vom Gesetzgeber mehrmals veränderte Annahmeverfahren hat also, jedenfalls bisher, nicht die erwünschte Filterfunktion im Vorfeld des eigentlichen Verfassungsprozesses gehabt und somit nicht die erwartete zahlenmäßige Entlastung des Bundesverfassungsgerichts bewerkstelligt. Eine funktionell äquivalente Alternative hat das Bundesverfassungsgericht auf andere Weise geschaffen: durch eine strenge Interpretation geschriebener und durch die autonome Entwicklung ungeschriebener Zulässigkeitsvoraussetzungen. 116 aa) Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde — das Erfordernis des Selbst-, Unmittelbar- und Gegenwärtigbetroffenseins Als besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde nennen die §§ 90 I I 1, 92, 93 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes insbesondere die Erschöpfung des Rechtsweges und die Einhaltung einer einmonatigen Frist, binnen derer die Verfassungsbeschwerde eingelegt und begründet werden muß. Zweck des in § 90 II 1 BVerfGG enthaltenen Gebotes der Rechtswegerschöpfung ist die Entlastung des Bundesverfassungsgerichts. 117 Diesem Zweck entsprechend hat das Gericht sowohl den Begriff des Rechtsweges als auch das Kriterium der Erschöpfung des Rechtsweges weit ausgelegt. 118 Des weiteren hat das Bundesverfassungsgericht die Norm als Ausdruck eines Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde interpretiert. 119 Um diesem Grundsatz zu genügen, wird vom Beschwerdeführer verlangt, daß er „über das Gebot der Rechtswegerschöpfüng im engeren Sinne hinaus die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erreichen oder sie gar zu verhindern (...)." 1 2 ° Jede „Chance ..., der verfassungsrechtlichen Beschwer abzuhelfen", muß von dem Beschwerdeführer genutzt werden, es sei denn, daß ihm dies „nicht zumutbar ist". 121 Auch die Qualifizierung der Monatsfrist des § 93 BVerfGG als Ausschlußfrist 122 dient dazu, die vom Gesetz-
116 Dies dürfte eine Erklärung dafür sein, wie es dem Gericht gelungen ist, „unbeirrt über all die Jahre hinweg eine mehr oder weniger konstante Zahl von Verfassungsbeschwerden in den beiden Senaten (zu) beraten und (zu) entscheiden", Schiaich, Rn. 266. 1.7
Vgl. nur Kley, in: BVerfGG-Mitarbeiterkommentar, § 90 Rn. 78.
1.8
A.a.O., Rn. 81 ff. bzw. 84 ff.
119 Grundlegend BVerfGE 5, 9 (10); 22, 287 (290). Sehr eingehend Posser, Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, und Warmke, Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde. Vgl. auch Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 15 ff.; ders., NJW 1986, 1451 ff.; Zuck, Subsidiarität, S. 213 ff.; ders., Verfassungsbeschwerde, Rn. 29 ff. 120
BVerfGE 79, 275 (278 f.).
121
A.a.O.
166
C. Bundesrepublik Deutschland
geber zur Verfügung gestellten Begrenzungsmöglichkeiten voll auszuschöpfen. Die dogmatische Einordnung und Herleitung dieses vom Bundesverfassungsgericht autonom entwickelten Subsidiaritätstopos ist trotz eingehender Untersuchungen nach wie vor uneinheitlich. 123 Seine wichtigste Funktion ist hingegen klar: Er bildet ein flexibles Zugangsregulativ, mit dem das Gericht selbst seine Arbeitsbelastung dosieren kann. Daneben dient er der Kompetenzwahrung der Fachgerichte 124 und der Verwaltung 125 und signalisiert dem potentiellen Beschwerdeführer, daß es sich bei der Verfassungsbeschwerde nicht um eine - gleichsam routinemäßig einzukalkulierende — prozessuale Option, sondern um einen außerordentlichen Rechtsbehelf handelt. In rechtsvergleichender Hinsicht besonders bemerkenswert ist die Ausgestaltung der vom Bundesverfassungsgericht aus dem Subsidiaritätscharakter der Verfassungsbeschwerde abgeleiteten, nicht im Gesetzestext enthaltenen besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen. Danach muß der Beschwerdeführer von dem von ihm angegriffenen Akt öffentlicher Gewalt selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen sein. Dieses dreifache ungeschriebene Zulässigkeitserfordernis hat das Bundesverfassungsgericht - für Gesetze — zuerst in BVerfGE 1, 97 (101 ff.) aufgestellt und seitdem in ständiger Rechtsprechung bestätigt. Das Gericht begründete mit einem raschen, der Abgrenzung dienenden Seitenblick auf die bayerische Popularklage und die Verfassungspraxis des schweizerischen Bundesgerichts die derart herbeigeführte Beschränkung der Verfassungsbeschwerde mit „dem Grundgedanken des § 90 I I BVerfGG und dem Zweck der Verfassungsbeschwerde". Angesichts des umfassenden Rechtsschutzes durch die ordentliche und die Verwaltungsgerichtsbarkeit solle kein zusätzlicher, wahlweiser Rechtsbehelf zur Verfügung gestellt, sondern lediglich dann die Möglichkeit zur Verfassungsbeschwerde eröffnet werden, „wenn sie trotz Erschöpfung der regelmäßigen verfahrensrechtlichen Möglichkeiten zur Verhinderung einer Grundrechtsverletzung erforderlich wird." 1 2 6 Die Voraussetzung, selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen zu sein, muß bei allen Verfassungsbeschwerden erfüllt sein; sie wird jedoch vor allem bei Verfassungsbeschwerden gegen Rechtsnormen relevant. 127 122 Vgl. dazu Wieland, Zugang des Bürgers, S. 335 m.w.N. Mit der 1993er Novelle wurde allerdings in Absatz 2 der Nonn die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geschaffen. 123
Vgl. Posser, S. 134 ff.; Warmke, S. 76 ff.
124
Der Subsidiaritätstopos ist ein prozessuales Mittel zur Abgrenzung zwischen Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit. Mit ihm korrespondiert auf der materiellen Ebene das Phänomen der „Begrenzung der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrollkompetenz auf die Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht". Vgl. dazu unten 3.e). 125
Vgl. dazu Schenke, NJW 1986, 1451, 1452.
126
BVerfGE 1, 97 (103).
127
Benda/Klein,
Rn. 482.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
167
Das Selbstbetroffensein setzt voraus, daß der Beschwerdeführer behaupten kann, in einem eigenen Grundrecht bzw. grundrechtsgleichen Recht verletzt worden zu sein. Eine rein objektiv-rechtliche Popularklage 128 wird damit ebenso ausgeschlossen wie die prozeßstandschaftliche Geltendmachung subjektiver fremder Rechte. Damit ähnelt das bundesverfassungsprozessuale Kriterium des Selbstbetroffenseins dem vor dem United States Supreme Court zu erfüllenden Zulässigkeitskriterium des standing. Eine der Tatbestandsvoraussetzungen des standing ist es, daß der klagenden Partei ein persönlicher Schaden drohen müsse.129 Unmittelbare Betroffenheit liegt dann vor, wenn der angegriffene Akt, regelmäßig ein Gesetz, selbst in Grundrechte des Beschwerdeführers eingreift, ohne „zu seiner Durchführung rechtsnotwendig oder auch nur nach der tatsächlichen Verwaltungspraxis eines besonderen, vom Willen der vollziehenden Gewalt beeinflußten Vollziehungsakts" zu bedürfen. 130 Bedarf es eines Vollzugsakts, so muß zunächst dieser abgewartet und dann gegebenenfalls gegen ihn der Rechtsweg beschritten werden, wobei dabei dann eine Inzidentprüfung des möglicherweise verfassungswidrigen Gesetzes erfolgt. Das Kriterium der unmittelbaren Betroffenheit spielt offenbar in der neueren bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung eine etwas geringere Rolle. 131 Doch auch bei ihm ist die Parallele zum gerade erwähnten standing unverkennbar: auch die standing-Definition enthält eine Unmittelbarkeitskomponente. 132 Schließlich muß der Beschwerdeführer auch gegenwärtig von dem von ihm gerügten staatlichen Verhalten betroffen sein. Gegenwärtigkeit heißt, daß er entweder schon oder noch betroffen sein muß. Nicht ausreichend ist es, wenn ein Beschwerdeführer „irgendwann einmal in der Zukunft (,virtuell 4 ) von der beanstandeten Gesetzesvorschrift betroffen sein könnte(n)". 133 Auch hier soll wieder die Möglichkeit einer Popularklage ausgeschlossen und das Bundesverfassungsgericht davor bewahrt werden, „was wäre, wenn ..."-Überlegungen anzustellen. Nach Definition und insbesondere nach Zielsetzung kann daher das Gegenwärtigkeitskriterium mit den amerikanischen Zulässigkeitsvoraussetzungen ripeness und mootness verglichen werden. 134 128
Bzw. Popularbeschwerde.
129
Vgl. oben B.II.l.b).
130
BVerfGE 1, 97 (102); vgl. dazu Schiaich, Rn. 230.
131
Vgl. Pieroth / Schlink, Rn. 1253, die dies der Erweiterung des Eingriffsbegriffs zuschreiben. Auch Schiaich, Rn. 232, notiert eine insoweit zurückhaltendere Rechtsprechung des BVerfG. 132
Vgl. oben B.II.l.b).
133
BVerfGE 60, 360 (371).
134
Vgl. oben B.II.l.c) und d).
168
C. Bundesrepublik Deutschland
bb) Einschränkungen bei anderen Verfahrensarten Das Bundesverfassungsgericht hat somit bei der Verfassungsbeschwerde einige ungeschriebene Zulässigkeitsvoraussetzungen entwickelt, um die Spreu vom Weizen zu trennen und um nur in einem Bruchteil der Fälle mit einem ganzen Senat in die Sachprüfung eintreten zu müssen. Auch bei anderen, zahlenmäßig weniger gewichtigen Verfahrensarten ist zum Teil die Tendenz erkennbar, den Zugang zum Bundesverfassungsgericht durch gesteigerte Zulässigkeitsbedingungen zu beschränken: So interpretiert das Gericht im Organstreitverfahren 135 Parteifähigkeit und auch Streitgegenstand eher extensiv. Bei der Antragsbefugnis hingegen wird die weithin interpretationsfahige textliche Grundlage in § 64 I BVerfGG dahingehend ausgelegt, daß zwar Parlamentsfraktionen, nicht aber Ausschüsse oder Einzelabgeordnete prozeßstandschaftlich die Verletzung von Rechten des Bundestages geltend machen können, was mit „Erwägungen, den Zugang zum Verfahren zu begrenzen," 136 erklärt wird. Auch bei föderativen Streitigkeiten 137 als einer weiteren traditionell bedeutsamen Fallgruppe bundesverfassungsrechtlicher Rechtsprechung hat das Gericht die Zugangsvoraussetzungen verschärft. Während das Grundgesetz in Art. 93 I Nr. 3 von „Meinungsverschiedenheiten" über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder spricht, verlangt das Bundesverfassungsgericht als tauglichen Streitgegenstand einen „konkreten Streit". 138 Ähnliche Verschärfungen der geschriebenen Bedingungen sind schließlich im Rahmen des konkreten Normenkontrollverfahrens 139 zu beobachten. Nach Art. 100 I 1 GG ist ein Gericht vorlagepflichtig, wenn es ein Gesetz für verfassungswidrig hält. Dieses Erfordernis wurde in ständiger bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung insoweit verschärft, als danach das Gericht von der Verfassungswidrigkeit des zur Vorlage anstehenden Gesetzes überzeugt sein muß.]40 Besteht eine Möglichkeit „zur Rettung" des zweifelhaften Gesetzes im Wege der verfassungskonformen Auslegung, so hat diese gegenüber der Vorlage Vorrang. 141 Noch wichtiger ist unter dem Gesichtspunkt der
135
Vgl. Art. 93 I Nr. 1 GG, §§13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG.
136
Schiaich, Rn. 86.
137
Gemeint sind hier die Bund-Länder-Streitigkeiten verfassungsrechtlicher Art nach Art. 93 I Nr. 3 GG, §§ 13 Nr. 7, 68 ff. BVerfGG. 138
Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 9 II.2. a. aa., S. 135.
139
Art. 100 I GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG.
140
Ständige Rechtsprechung; vgl. nur BVerfGE 68, 352 (359) unter Verweis auf Ε 48, 40 (45 f.). 141
BVerfGE 85, 329 (333 f.).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
169
Zugangsbeschränkung jedoch das Tatbestandsmerkmal der Entscheidungserheblichkeit. Dieses Zulässigkeitskriterium kommt zwar bereits in Art. 100 I 1 GG zum Ausdruck 142 , wird aber vom Bundesverfassungsgericht besonders betont und auf folgendes Anforderungsniveau gebracht: „(D)er Vorlagebeschluß (muß) aus sich heraus ohne Beiziehung der Akten erkennen lassen, aus welchen Erwägungen das vorlegende Gericht die von ihm als verfassungswidrig erachtete Vorschrift im Ausgangsverfahren für entscheidungserheblich hält. Entscheidungserheblich ist eine Norm aber nur dann, wenn die £Wentscheidung von der Gültigkeit des für verfassungswidrig gehaltenen Gesetzes abhängt (...). Der Vorlagebeschluß muß mit hinreichender Deutlichkeit erkennen lassen, daß das vorlegende Gericht bei Gültigkeit der Regelung zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Fall ihrer Ungültigkeit (...). In dem Vorlagebeschluß müssen ferner der verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab angegeben und die Überzeugung des vorlegenden Gerichts von der Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Norm näher dargelegt werden. Der Beschluß hat sich eingehend mit der Rechtslage auseinanderzusetzen und dabei die in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen zu berücksichtigen, die für die Auslegung der zur Prüfung vorgelegten Norm von Bedeutung sind (...)." 1 4 3 Durch diese verschärften Zulässigkeitsbedingungen, zu denen noch eine Begründungspflicht hinsichtlich der Entscheidungserheblichkeit tritt 1 4 4 , hat sich das Bundesverfassungsgericht ein „flexibles Instrument" 145 geschaffen, das es ihm gestattet, auf eine Vorlagefrage einzugehen oder sie beiseitezuschieben. Zu Recht bemerkt Schiaich, daß der Eindruck entstehe, „daß das Gericht die Richtervorlage eher erschweren und dadurch einschränken will". 1 4 6 c) Zusammenfassung Es gibt also Beispiele dafür, wie das Bundesverfassungsgericht - durch eine enge Auslegung gesetzlich fixierter, insbesondere aber auch durch die Schaffung nicht enumerierter Zulässigkeitsvoraussetzungen - den Verfahrensfluß steuert und damit gleichzeitig seiner Gerichtsmacht Schranken setzt. 147 Angesichts der Fülle der vor ihm durchführbaren Verfahren nimmt sich sein prozessuales Instrumentarium im Vergleich zu dem des Supreme Court dennoch recht bescheiden aus: 142
„... ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, ..."
143
BVerfGE 79, 240 (243 f.).
144
BVerfGE 65, 265 (277 ff.).
145
Schiaich, Rn. 138.
146
A.a.O.
147
Zum gegenläufigen Phänomen, der Kompetenzerweiterung durch Verfahrensrecht, vgl. Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rn. 125.
170
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Das zwar gelockerte, aber noch immer an gesetzliche Bedingungen gebundene Annahmeverfahren ermöglicht kein freies Auswählen unter den Verfassungsbeschwerden, um diejenigen herauszugreifen, die verfassungsrechtlich wesentliche Fragen aufwerfen, deren Behandlung gerade zum jetzigen Zeitpunkt sinnvoll erscheint. Da dem Bundesverfassungsgericht also dieser Vorfilter nicht zur Verfügung steht, es also auf jede zulässige Verfassungsbeschwerde in der Sache eingehen muß, hat es sich auf der Zulässigkeitsebene Luft verschafft: Es hat mit dem von ihm richterrechtlich entwickelten Subsidiaritätstopos und dem damit in Verbindung stehenden Erfordernis des Selbst-, Unmittelbar- und Gegenwärtigbetroffenseins Zulässigkeitshürden geschaffen, die eine definitorische wie auch funktionale Nähe zu den amerikanischen Kriterien von standing, ripeness und mootness aufweisen und von ähnlicher Flexibilität sind. 148 Die amerikanische Doktrin des stare decisis, die, wie oben anhand der Entscheidung Planned Parenthood of Southeastern Pennsylvania v. Casey gezeigt 149 , offen auch dafür instrumentalisiert werden kann, um den Kompetenzen des Supreme Court Grenzen zu ziehen, existiert in Deutschland nicht. Abgesehen davon, daß eine rechtlich zwingende 150 Präjudizienbindung dem deutschen Recht fremd ist, hat das Bundesverfassungsgericht stets eine Selbstbindung an frühere Entscheidungen abgelehnt und mehrfach frühere Beurteilungen geändert. 151 Was die political question doctrine anlangt, deren heutige Bedeutung nach allem nicht überschätzt werden darf 1 5 2 , so hat ein Mitglied des Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck gebracht, daß sie dem Bundesverfassungsgericht „nicht zur Verfugung stehe". 153 Inwieweit Elemente von ihr dennoch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Rolle spielen, wird weiter unten untersucht. 154 Demgegenüber hat die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Verfassungsinterpretation, insbesondere die extreme Ausweitung von Art. 2 I GG und die ausdifferenzierte Rechtsprechung zur objektiv-rechtlichen Bedeutung 148
Die Wechselwirkung zwischen dem Grad der Freiheit des Annahmeverfahrens und der Bedeutung des Subsidiaritätstopos betont Zuck, Subsidiarität, S. 223 f. 149
Vgl. oben B.II.l.e).
150
Nicht jedoch eine faktische.
151
Vgl. Simon, in: HdbVerfR, S. 1658 m.w.N. Vgl. dazu auch BVerfGE 77, 84 (103 f.).
152
Vgl. oben B.II.2.b).cc).
153 Redebeitrag von Bundesverfassungsrichter Böckenförde bei einem gemeinsamen Kolloquium des American Institute for Contemporary German Studies und der Friedrich EbertStiftung in Washington D.C. über „Foreign Policy and the Courts" am 29. September 1992. 154
Vgl. unten 3., passim, und 5.b).
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der Grundrechte mit der daraus abzuleitenden Wertordnung und dem Staat obliegenden Schutzpflichten ein übriges getan, um seinen Wirkungsbereich nicht zu begrenzen, sondern beträchtlich auszuweiten. Nachfolgend soll überprüft werden, ob und inwieweit das Bundesverfassungsgericht auf andere Weise seinen Kompetenzen Schranken setzt. Dabei wird es zum einen um die Problematik der Kontrolldichte, andererseits um das Phänomen unterschiedlicher Rechtsfolgeanordnungen durch differenzierte Tenorierungstechniken gehen.
3. Grenzen im Prüfungsmodus 155 Anhand von exemplarischen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die sich mit auswärtigen Angelegenheiten, exekutivisch geprägten Binnenentscheidungen und dem Verhältnis zum Gesetzgeber, insbesondere den ihm vom Gericht eingeräumten Spielräumen, beschäftigen 156, soll gezeigt werden, wie das Gericht mit Hilfe eingeschränkter Kontrollintensitäten seinen Prüfungsbefugnissen Grenzen setzt. Die dafür herangezogenen argumentativen Instrumente sind vielfältig; manche Erklärungsmuster entsprechen, zum Teil wortidentisch, den vom Supreme Court im Rahmen der political doctrine verwandten; nicht immer sagt das Gericht offen, daß es eine verminderte Kontrolldichte zur Anwendung kommen läßt. a) Auswärtige Angelegenheiten157 aa) Zwischenstaatliche
und innerdeutsche Beziehungen
Als erstes Beispiel zur Analyse der bundesverfassungsgerichtlichen Prüfung von Sachverhalten, die die Außenbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland betreffen, bietet sich die Kontroverse um das Saarstatut an. 158 Zur Regelung des nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen Frankreich und der 155 Die gegenüber dem US-Teil veränderte Reihenfolge der fallgruppenweisen Darstellung ergibt sich daraus, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu auswärtigen Angelegenheiten und binnenexekutivischen Entscheidungen weniger komplex und leichter darzustellen ist als die differenzierungsbedürftigere Rechtsprechung gegenüber gesetzgeberischen Akten. Außerdem wird in letzerer der Bogen geschlagen zu den im Anschluß daran tu behandelnden Grenzen in der Entscheidungsform. 156 Diese unter dem gemeinsamen Ausgangspunkt niedriger Kontrolldichte gewählte Einteilung ist nicht die einzig mögliche. Sie bietet sich aber zum Zwecke des Vergleichs mit der Analyse der Rechtsprechung des Supreme Court an. 157 Der Begriff der auswärtigen Beziehungen ist hier weit zu verstehen. Er soll, wenngleich insofern inkorrekt, auch die ehemaligen innerdeutschen Beziehungen umfassen. 158 BVerfGE 4, 157 (1955), 1. Senat. Eingehend zur Vorgeschichte des Falles und zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Schuppert, Kontrolle, S. 88 ff.
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Bundesrepublik umstrittenen staatsrechtlichen Schicksals des Saargebiets schlossen die beiden Staaten am 23. Oktober 1954 ein Abkommen, das dem Saargebiet im Rahmen der Westeuropäischen Union ein „europäisches Statut" geben sollte. Bundestag und Bundesrat nahmen das entsprechende Vertragsgesetz im darauffolgenden Frühjahr an. Es wurde am 24. März 1955 im Bundesgesetzblatt verkündet. Daraufhin wandte sich ein Drittel der Mitglieder des Bundestages im Wege der abstrakten Normenkontrolle gegen dieses Gesetz, um es wegen angeblichen Verstoßes gegen die Artikel 5, 9, 16, 23, 116, 144 und 146 des Grundgesetzes zu Fall zu bringen. Die Bundesregierung vertrat demgegenüber die Auffassung, daß der Antrag nicht nur in der Sache fehlerhaft, sondern daß das Vertragsgesetz als Bestandteil eines Aktes der auswärtigen Gewalt seinem Wesen nach der Prüfung im Normenkontrollverfahren nicht zugänglich sei. Das Bundesverfassungsgericht hielt das Vertragsgesetz schon wegen seines Gesetzescharakters für justitiabel. Zusätzlich betonte es allerdings, daß sich aus dem Inhalt des Gesetzes und wegen des damit verbundenen Rückgriffs auf den völkerrechtlichen Vertrag eine sachliche Begrenzung der Prüfung im Normenkontrollverfahren ergeben könne. Eine solche Begrenzung nahm das Gericht dann in zweifacher Weise vor; zum einen durch Anerkennung eines „Gültigkeitsbonus" (favor conventionis) zugunsten eines völkerrechtlichen Vertrages 159: wann immer jener so interpretiert werden könne, daß er vor dem Grundgesetz Bestand habe, sei diese Interpretation zu wählen. Zum zweiten, und hier näherte sich das Bundesverfassungsgericht in der Sache einer Art low level review an, wurde der exekutivische Gestaltungsspielraum betont, den auch das Gericht zu respektieren habe: „Vor allem darf das Bundesverfassungsgericht, wenn es einen völkerrechtlichen Vertrag, der politische Beziehungen des Bundes regelt (Art. 59 Abs. 2 GG), am Grundgesetz messen soll, die politische Ausgangslage, aus der der Vertrag erwachsen ist, die politischen Realitäten, die zu gestalten oder zu ändern er unternimmt, nicht aus dem Blick verlieren." 160 Dies gelte insbesondere im Hinblick auf die vom - insoweit von rechtsstaatlichen Idealzuständen ausgehenden — Grundgesetz weitgehend ignorierten Fakten des ehemaligen Besatzungsregimes. Eine „Grundtendenz zur Verfassungsmäßigkeit hin" müsse demzufolge ausreichen: „Erkennt man dies aber im Grundsatz an, so ergibt sich die weitere Folge, daß ... hinsichtlich der Auswahl der im einzelnen im Vertrage vorzusehenden Maßnahmen für die vertragschließenden Organe der Bundesrepublik Deutschland ein breiter Bereich politischen Ermessens bestehen muß, zumal der Kreis der an sich zur Wahl stehenden vertraglichen Lösungen sich praktisch auf das dem jeweiligen Vertragspartner gegenüber poli-
159
Vgl. Stern II, § 44 II 3, S. 959.
160
BVerfGE 4, 157 (168).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
173
tisch Erreichbare verengt. Diese Grundsätze können in ihrer Gesamtheit im praktischen Ergebnis bedeuten, daß politische Verträge, die eine besatzungsrechtliche Ordnung schrittweise abbauen, ohne zugleich eine auf Dauer berechnete völlige Neuordnung an ihre Stelle zu setzen, fur ein Verfassungsgericht weithin in den Bereich der Nichtjustitiabilität rücken. Die verfassungsrechlichen Grenzen, die auch in diesem Fall gezogen sind und deren Überschreitung die Ungültigkeit des Vertragsgesetzes zur Folge hätte, liegen dort, wo unverzichtbare Grundprinzipien des Grundgesetzes klar verletzt würden, also etwa die in Art. 79 Abs. 3 oder Art. 19 Abs. 2 GG bezeichneten Grundsätze. ... Bis zu den angedeuteten Grenzen sind die vertragschließenden Organe der Bundesrepublik für die von ihnen vertraglich vereinbarten Maßnahmen nur politisch verantwortlich." 161 Auf die vorliegende Problematik des Saarstatuts angewandt, kam das Bundesverfassungsgericht zu dem dann nicht mehr erstaunlichen Schluß, daß weder das Abkommen noch das Vertragsgesetz gegen das Grundgesetz verstoße. 162 Daß das Saarstatut-Urteil ein maßgeblich von den politischen Zwängen der Besatzungs- und unmittelbaren Nachkriegszeit geprägter Fall war, zeigt die im folgenden zu behandelnde Entscheidung zum sogenannten Grundlagenvertrag. 163 Im Zuge der sogenannten Ostpolitik hatte die sozialliberale Koalitionsregierung unter Bundeskanzler Brandt zu Beginn der 70er Jahre mit mehreren osteuropäischen Staaten Verträge geschlossen164, um — auf der Grundlage von Gewaltverzicht und gegenseitiger Achtung der territorialen Integrität - die gegenseitigen Beziehungen zu normalisieren und weiterzuentwickeln. Vor diesem Hintergrund war es im Dezember 1972 auch zu einer vertraglichen Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik und der DDR gekommen 165 ; der sogenannte Grundlagenvertrag ging von zwei deutschen Staa-
161
A.a.O., S. 169 f.
162
„Wenn die vertragschließenden Organe der Bundesrepublik erklären, daß andere und bessere Lösungen der Saarfrage politisch nicht erreichbar waren, so muß dies für das Bundesverfassungsgericht dann genügen, wenn die vereinbarten Lösungen die Schranken des Ermessens nicht überschreiten. Da dies, wie dargetan, nicht der Fall ist, kann nicht festgestellt werden, daß das Abkommen dem Grundgesetz widerspreche", a.a.O., S. 178. 163
BVerfGE 36, 1 (1973), 2. Senat.
164
Unter den Begriff dieser sog. Ostverträge fallen drei Vertrags werke: zum einen die mit der UdSSR und Polen abgeschlossenen Verträge, die auch Gegenstand eines bundesverfassungsgerichtlichen Verfahrens waren - BVerfGE 40, 141 (1975), dazu sogleich-, zum anderen der Vertrag mit der Tschechoslowakei über die Unwirksamkeit des sog. Münchner Abkommens von 1938, der nicht umstritten war. 165 Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 21.12.1973 - genannt Grundlagenvertrag oder Grundvertrag - . Vgl. die umfassende Dokumentation von Cieslar /Hampel/ Zeitler, Der Streit um den Grundvertrag, sowie - aus gewissem zeitlichem Abstand - Zieger (Hrsg), Fünf Jahre Grundvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts.
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ten aus und betonte neben den oben genannten Grundsätzen unter anderem, daß keiner der beiden deutschen Staaten den anderen international vertreten oder in seinem Namen handeln könne, und daß die Hoheitsgewalt jedes der beiden Staaten sich auf sein Staatsgebiet beschränke. Die Regierung des Freistaats Bayern rief im Frühjahr 1973 das Bundesverfassungsgericht an und wandte sich in einem abstrakten Normenkontrollverfahren gegen das auf den Grundlagenvertrag bezogene Vertragsgesetz. Um die Ratifizierung des Vertrages zu stoppen, stellte Bayern zweimal erfolglos einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung. Kern der bayerischen Argumentation war der Vorwurf, daß der Vertrag gegen das Gebot der Wahrung der staatlichen Einheit Deutschlands und gegen das grundgesetzliche Wiedervereinigungsgebot verstoße. Die Bundesregierung wies die Vorwürfe in ihrer Stellungnahme zurück und unterstrich die eingeschränkte Justitiabilität völkerrechtlicher und zwischenstaatlicher Maßnahmen. Im übrigen gebe es keine Alternative zu diesem Vertrag. Nachdem der zweite Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung am 18. Juni 1973 zurückgewiesen worden war, setzte die Bundesregierung den Vertrag zwei Tage später in Kraft. Die Entscheidung im Hauptsacheverfahren erging am 31. Juli 1973. Darin erklärte das Bundesverfassungsgericht den Grundvertrag und das Vertragsgesetz im Ergebnis für verfassungsgemäß, hob aber hervor, daß der Vertrag im Lichte des verfassungskräftigen Wiedervereinigungsgebots, an dem prononciert festgehalten werde, auszulegen sei. Im Hinblick auf die hier im Vordergrund stehende Frage nach Justitiabilität und Kontrolldichte von Akten öffentlicher Gewalt im Bereich auswärtiger Beziehungen bestätigte ein einstimmiges 166 Bundesverfassungsgericht auf den ersten Blick die im Saarstatut-Urteil eingeschlagene Linie. Zunächst stellte es allerdings die Bedeutung der Entscheidung des Grundgesetzes für eine „umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit" heraus und betonte, daß es Sache des Bundesverfassungsgerichts sei, das Grundgesetz „verbindlich auszulegen" und die „Durchsetzung dieser Verfassungsordnung" 167 zu gewährleisten, Äußerungen, die trotz einer gewissen papiernen Nüchternheit an das Zitat aus Marbury v. Madison erinnern, wonach „es ganz entschieden das Wesen und die Pflicht der Gerichtsbarkeit (ist), zu sagen, was das Recht ist . . . " , 6 8 Nachdem das Gericht auf diese Weise zunächst eine grundsätzlich umfassende Prüfüngskompetenz postuliert hatte, konnte es diese daraufhin im konkreten Fall in differenzierter Form zur Anwendung bringen. Zunächst galt es, 166 Seit der Änderung des BVerfGG von 1970 bestand gemäß § 30 II 1 BVerfGG die Möglichkeit, ein Sondervotum abzugeben. An der Entscheidung wirkten nur 7 Verfassungsrichter mit, da Richter Rottmann wegen Befangenheit abgelehnt worden war. 167
BVerfGE 36, 1 (13 f.).
168
Marbury v. Madison , 5 U.S. (1 Cranch) 137, 177 (1803).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
175
die Exekutive, die den Vertrag hatte in Kraft treten lassen, ohne das Verdikt des Verfassungsgerichts abzuwarten, daran zu erinnern, daß ein derartiges Überspielen des Primats der Verfassungsgerichtsbarkeit grundsätzlich unzulässig sei. Zur Begründung dafür bediente sich das Bundesverfassungsgericht neben der aus der Saarstatut-Entscheidung bekannten Rechtsfigur des „favor conventionis" nunmehr auch nominell erstmals der Idee des judicial self-restraint 169 , die es wie folgt interpretierte: „Der Grundsatz des judicial self-restraint, den sich das Bundesverfassungsgericht auferlegt, bedeutet nicht eine Verkürzung oder Abschwächung der eben dargelegten Kompetenz [zur Durchsetzung der Verfassungsordnung, C.R.], sondern den Verzicht ,Politik zu treiben 4, d.h. in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Er zielt also darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten." 170 Der Exekutive sollte damit offenbar signalisiert werden, daß sich das Bundesverfassungsgericht den von ihr politisch als erreichbar erscheinenden Verhandlungzielen nicht verschließen werde, daß man aber in Zukunft doch bitte davon Abstand nehmen möge, das Gericht mit derartigen faits accomplis zu brüskieren. Bei der inhaltlichen Kontrolle von Vertrag und Vertragsgesetz griff das Gericht auffallenderweise nicht mehr auf die Idee des judicial self-restraint zurück. Vielmehr wandte es eine Art Doppelstrategie an. Einerseits betonte es den „breiten Raum politischen Ermessens", der insbesondere dem Gesetzgeber zustehe, so daß das Bundesverfassungsgericht erst eingreifen könne, wenn die Legislative dieses Ermessen „eindeutig" überschreite. 171 Auch sei der Grundlagenvertrag „ein Stück einer umfassenderen Politik" und stelle „eine historische Weiche". 172 Die Abschätzung der Chancen ihrer Politik sei Sache der Bundesregierung und der sie tragenden parlamentarischen Mehrheit. 173 Andererseits stellte das Gericht gesetzgeberisches Handeln wie auch das Handeln aller anderen Verfassungsorgane unter den strikten Vorbehalt des grundgesetzlichen Wiedervereinigungsgebots, über dessen Einhaltung letztlich das Bundesverfassungsgericht zu wachen habe. Darauf aufbauend unterzog es den Vertrag wie auch seine Begleitdokumente einer intensiven Prüfung und legte gewissermaßen vorbeugend die zulässige Marschroute für weitere auf dem Vertrag aufbauende rechtliche Schritte fest: „Als Grundlage
169
Die allererste Verwendung des Begriffes judicial self-restraint hatte in dem Urteil, das auf das zweite einstweilige Anordnungsverfahren am 18.06.1973 ergangen war, stattgefunden, BVerfGE 35, 257 (261 f.). 170
BVerfGE 36, 1 (4 f.).
171
A.a.O., S. 17.
172
A.a.O., S. 20.
1
A.a.O., S. 1 .
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für die neuen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten erwächst aus ihm [dem Vertrag, C.R.] in der kommenden Zeit mit Notwendigkeit eine Vielzahl von rechtlichen Konkretisierungen des neuen Neben- und Miteinander der beiden Staaten (...). Jeder dieser weiteren rechtlichen Schritte muß nicht nur vertragsgemäß, sondern auch grundgesetzmäßig sein. Es bedarf also heute schon der Klarstellung, daß alles, was unter Berufung auf den Vertrag an weiteren rechtlichen Schritten geschieht, nicht schon deshalb rechtlich in Ordnung ist, weil die vertragliche Grundlage (der Vertrag) verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Deshalb sind schon in diesem Normenkontrollverfahren, soweit übersehbar, die verfassungsrechtlichen Grenzen aufzuzeigen, die für das ,Ausfullen 4 des Vertrags durch spätere Vereinbarungen und Abreden bestehen. 44,74 Nach Prüfung und Interpretation einzelner Vertragsartikel und des Vertrags als Ganzem betonte das Bundesverfassungsgericht, um der etwaigen Herabstufung mancher seiner Äußerungen als obiter dicta von vornherein einen Riegel vorzuschieben, daß „(a)lle Ausfuhrungen der Urteilsbegründung, auch die, die sich nicht ausschließlich auf den Inhalt des Vertrags selbst beziehen, ... nötig, also im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Teil der die Entscheidung tragenden Gründe 44 seien. 175 Die Entscheidung zum Grundlagenvertrag hinterläßt daher einen zwiespältigen Eindruck. Das Bundesverfassungsgericht ließ das Vertragswerk mit der DDR zwar im Ergebnis passieren, füllte es aber gleichzeitig mit einem zumindest für die bundesdeutsche Seite verbindlichen und zum Teil detaillierten Inhalt. Inwieweit der Richterspruch aber wirklich die evozierte richterliche Zurückhaltung atmet, ist sehr zweifelhaft: Das Gericht griff das Schlagwort vom judicial self-restraint auf und gab ihm mit der daraus abgeleiteten Pflicht des Gerichts „keine Politik zu treiben 44 eine eigene Deutung. Charakteristisch für die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit ist der Versuch der begrifflichen Rückbindung auch eines neuartigen Argumentes an die Verfassung selbst. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der vom Gericht angesprochene „von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierte Raum freier politischer Gestaltung44 keine normative Größe darstellt, sondern in hohem Maße ausfüllungsbedürftig ist und - von niemand anderem als dem Bundesverfassungsgericht - von Fall zu Fall neu zu vermessen sein wird. Auffallend ist des weiteren, daß eine Bestimmung dieses Raumes noch nicht einmal im vorliegenden Fall stattfand. Das Gericht wandte sich nach dessen abstrakter Erwähnung sogleich einer zum Teil sehr detaillierten Inhaltskontrolle und Interpretation des Grundvertrages zu und schloß mit einem weniger juristisch als vielmehr politischen Petitum, indem es feststellte, daß die ge-
174
A.a.O., S. 21 (Hervorhebung i.O.).
175
A.a.O., S. 36. Sehr kritisch dazu Schenke, NJW 1979, 1321 (1329).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
177
genwärtige Praxis an der innerdeutschen Grenze mit dem Vertrag „schlechthin unvereinbar" sei. 176 Zusammenfassend kann das Grundlagenvertragsurteil daher nur bei oberflächlicher Betrachtung als eine von judicial self-restraint geprägte Entscheidung angesehen werden. Gesetzgeberisches Ermessen und, damit korrespondierend, gerichtliche Zurückhaltung werden zwar beschworen und mit einem vermeintlich griffigen Terminus belegt, in der Sache aber weithin nicht geübt. 177 Insofern ist es auch unverständlich, wenn der 1. Senat in der Mitbestimmungsentscheidung das Grundlagenvertragsurteil als Beispiel einer bloßen „Evidenzkontrolle" gesetzgeberischer Prognosen seitens des Bundesverfassungsgerichts anführt. 178 Es läßt sich darüber spekulieren, warum sich das Bundesverfassungsgericht ausgerechnet in seiner Entscheidung zum Grundlagenvertrag inhaltlich so weit vorwagte 179 und auch, warum es die Entscheidung ausgerechnet als eine von richterlicher Zurückhaltung getragene apostrophierte. Zwei Jahre später lehnte sich der 1. Senat in seiner Ostverträgeentscheidung 180 wieder stark an jene Rechtsprechung an, die er bereits in der Saarstatut-Entscheidung vertreten hatte. Er verwarf mehrere, auf eine angebliche Verletzung der Artikel 14, 16, 6 und 2 I GG gestützte Verfassungsbeschwerden gegen die mit der UdSSR und Polen geschlossenen Verträge, denen er einen „hochpolitischen Charakter" 181 attestierte, mit folgender Begründung bereits als unzulässig: „ I m Hinblick auf derartige Verträge ist von vornherein zu berücksichtigen, daß im außenpolitischen Bereich der Bundesregierung wie allen anderen zu politischem Handeln berufenen Stellen allgemein ein breiter Raum politi176
A.a.O., S. 35.
177
Vgl. auch Simon, in: HdbVerfR, S. 1665.
178
Vgl. BVerfGE 50, 290 (333) (1979). Auf einem anderen Blatt steht die Frage, ob man, unter Heranziehung „wissenschaftlicher Objektivität" dem Bundesverfassungsgericht eine „wohl abgewogene Rechtsprechung attestieren" kann, „die den politischen Organen zuerkennt, was ihnen im Verkehr mit anderen Staaten notwendig zuzukommen hat, ohne die Gebote verfassungsrechtlicher Bindung zu negieren" (so Stern II, § 44 II 3, S. 960). Die Entscheidung beweist sicherlich politisches Augenmaß; sie als Beispiel für niedrige Kontrolldichte oder richterliche Selbstbeschränkung anzuführen erscheint jedoch, gerade im Vergleich zu Entscheidungen des Supreme Court im Bereich der Außenpolitik, nicht gerechtfertigt. 179 Es ist anzunehmen, daß sich das Gericht in der innerdeutschen Problematik für kompetenter hielt als in genuin auswärtigen Angelegenheiten. Indiz dafür ist die Tatsache, daß es versuchte, auch die DDR auf die Verbindlichkeit der bundesverfassungsgerichtlichen Vertragsinterpretation zu verpflichten, a.a.O., S. 36. Im übrigen stand dem Gericht mit dem in der Präambel des Grundgesetzes verankerten und auch aus Art. 23 und 146 abzuleitenden Wiedervereinigungsgebot eine für sonstige „auswärtige" Beziehungen seltene normative Basis zur Verfügung. 180 1
BVerfGE 40, 141 (1975), 1. Senat. A.a.O., S. 1
12 Rau
eit
.
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sehen Ermessens zusteht und daß namentlich bei internationalen Vertragsverhandlungen der Kreis der möglichen Verhandlungsergebnisse sich auf das dem Verhandlungspartner gegenüber politisch Erreichbare verengt. Deshalb kann eine Verfassungsbeschwerde nicht als zulässig angesehen werden, die gegenüber einem solchen Vertrag die verfassungsgerichtliche Feststellung erstrebt, daß eine bestimmte sachliche Regelung zugunsten des Beschwerdeführers bei den Vertragsverhandlungen hätte erreicht werden müssen ... (Andernfalls) würde das Bundesverfassungsgericht, ..., sich in einem Bereich bewegen, in dem den Trägern der auswärtigen Gewalt eine Bewegungsfreiheit vorbehalten bleiben muß, deren Nutzung legitimerweise vorwiegend von politischen Zielsetzungen und Wertungen bestimmt wird. Die hier zu treffenden Entscheidungen über die Begrenzung des Inhalts und der rechtlichen Tragweite eines Vertrages entziehen sich ihrer Natur nach richterlicher Beurteilung." 182 Beim Vergleich zwischen der Grundlagenvertrags- und der Ostverträgeentscheidung sollte allerdings bedacht werden, daß erstere anläßlich eines Normenkontrollantrags, letztere aufgrund von Verfassungsbeschwerden erging. Im Gegensatz zum rein „objektiven" Normenkontrollverfahren, in dem das Gericht bei Kontrolle und Interpretation eines bestimmten bereits existierenden Gesetzes- bzw. Vertragstexts mehr oder weniger intensiv zu Werke gehen kann, ist kaum zu erwarten, daß eine Verfassungsbeschwerde, die vor allem prozeßförmiger Ausdruck des grundrechtlichen status negativus ist 1 8 3 , dazu führt, daß das Bundesverfassungsgericht die Exekutive zu einem bestimmten positiven Tun verpflichten wird. Die Beobachtung, daß eine auf eine Verpflichtung der Exekutive zu einem bestimmten außenpolitischen Handeln gerichtete Verfassungsbeschwerde wohl kaum jemals Erfolg haben dürfte, wird durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Fall Rudolf Heß bestätigt.184 Rudolf Heß, der langjährige Stellvertreter Adolf Hitlers, war 1946 vom Nürnberger Internationalen Militärtribunal zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Seit der Entlassung der letzten Mithäftlinge im Jahr 1966 war er der letzte Gefangene des von den vier Siegermächten umschichtig betriebenen und von der Bundesrepublik finanzierten Alliierten Gefängnisses in Berlin-Spandau. Nachdem andere rechtliche Schritte erfolglos geblieben waren, wandte sich Heß 1980 mit einer Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht. Sie zielte im wesentlichen darauf ab, die Bundesregierung durch eine verbindliche Ent182
A.a.O., S. 178 f.
183
A.a.O., S. 178. In diesem Sinne auch Benda/Klein, Rn. 331 ff. (335); anders Schiaich, Rn. 197, der subjektive und objektive Funktion der Verfassungsbeschwerde wohl in etwa gleich gewichtet. 184
BVerfGE 55, 349 (1980), 2. Senat.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
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Scheidung des Bundesverfassungsgerichts zu aktiveren diplomatischen Anstrengungen hinsichtlich seiner Freilassung zu bewegen. Das Gericht hielt die Verfassungsbeschwerde für teilweise zulässig, gab ihr aber keine Folge. Es bestätigte vielmehr die untergerichtliche Einschätzung, wonach der Bundesregierung hinsichtlich der Frage, ob und in welcher Weise sie den Schutz deutscher Staatsangehöriger und ihrer Interessen gegenüber fremden Staaten gewähre, ein weites Ermessen zustehe, das von den Gerichten lediglich auf Ermessensfehler hin überprüft werden könne. Unter ausdrücklicher Berufung auf seine Ostverträgeentscheidung stellte es fest: „Diese Auffassung entspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach namentlich im außenpolitischen Bereich der Bundesregierung wie allen anderen insoweit zum politischen Handeln berufenen staatlichen Organen allgemein ein breiter Raum politischen Ermessens eingeräumt ist (...). Die Weite des Ermessens im auswärtigen Bereich hat ihren Grund darin, daß die Gestaltung auswärtiger Verhältnisse und Geschehensabläufe nicht allein vom Willen der Bundesrepublik Deutschland bestimmt werden kann, sondern vielfach von Umständen abhängig ist, die sich ihrer Bestimmung entziehen. Um es zu ermöglichen, die jeweiligen politischen Ziele der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des völkerrechtlich und verfassungsrechtlich Zulässigen durchzusetzen, gewährt das Grundgesetz den Organen der auswärtigen Gewalt einen sehr weiten Spielraum in der Einschätzung außenpolitisch erheblicher Sachverhalte wie der Zweckmäßigkeit möglichen Verhaltens." 185 Daß sich die Bundesregierung gegenüber den Gewahrsamsmächten nur auf humanitäre und nicht auch auf rechtliche Gründe für die Freilassung von Rudolf Heß berufe, könne von Verfassungs wegen nicht beanstandet werden. Es lasse sich nicht feststelllen, daß die Haltung der Bundesregierung auf einem offensichtlichen Rechtsirrtum oder einer willkürlichen Einschätzung der politischen Wirkung rechtlicher Argumente auf die Gewahrsamsmächte oder die Weltöffentlichkeit beruhe. Da es eine obligatorische internationale Gerichtsbarkeit zur verbindlichen Feststellung von Rechtsauffassungen nicht gebe, sei es „für die Wahrung der Interessen der Bundesrepublik Deutschland von erheblicher Bedeutung, daß sie auf internationaler Ebene mit einer einheitlichen Stimme auftritt, wahrgenommen von den zuständigen Organen der auswärtigen Gewalt. Im Hinblick darauf obliegt den Gerichten größte Zurückhaltung, etwaige völkerrechtlich fehlerhafte Rechtsauffassungen dieser Organe als Ermessensfehler zu bewerten." 186 Die vom Bundesverfassungsgericht herangezogene Überlegung, wonach die Bundesrepublik zur Wahrung ihrer Interessen international mit einer Stimme sprechen müsse, was dazu führe, daß ihr Verhalten vom Gericht nur 185
A.a.O., S. 365.
186
A.a.O., S. 368.
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unter größter Zurückhaltung überprüft werden dürfe, kommt dem rechtsvergleichenden Betrachter bekannt vor. Die amerikanische Leitentscheidung zur political question doctrine, Baker ν. Carr 1 8 7 , benannte die „potentiality of embarrassment from multifarious pronouncements by various departments on one question" 188 als eines der Kriterien, das zur Einordnung einer Streitigkeit als political question und damit zu deren Nichtjustitiabilität führe. In Deutschland ist die Folge „lediglich" eine zur Willkürkontrolle heruntergestufte verfassungsgerichtliche Kontrolldichte, die regelmäßig in die Aufrechterhaltung der angegriffenen Maßnahme münden wird. Man mag sich fragen, ob und wenn ja welchen Unterschied es für den Antragsteller macht, bei einem identischen Vorbringen entweder bereits an einer Zulässigkeitshürde oder erst im Rahmen der Begründetheitsprüfung an einer gelockerten Kontrolldichte zu scheitern. Dieses Phänomen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen werden weiter unten aufgegriffen werden. 189 Als letztes Beispiel für den weiten Spielraum, den das Bundesverfassungsgericht insbesondere der Exekutive in Sachverhalten mit außenpolitischer Bedeutung zugesteht, soll noch kurz auf das im Zuge der deutschen Vereinigung ergangene Bodenreformurteil 190 eingegangen werden, wobei das Verfahren erneut durch Verfassungsbeschwerden in Gang gesetzt wurde. Kern der Auseinandersetzung war die Frage, ob die im Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik enthaltene Regelung, wonach die in der Sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1949 auf besatzungsrechtlicher bzw. besatzungshoheitlicher Grundlage erfolgten Enteignungen nicht mehr rückgängig gemacht werden würden, gegen die Artikel 14 I, 19 II, 3 I oder 20 III des Grundgesetzes verstieß. Das Bundesverfassungsgericht wies die Verfassungsbeschwerden zurück. Es folgte den Einlassungen der Bundesregierung, wonach die Unantastbarkeit der sowjetischen Enteigungen eine nicht verhandelbare Vorbedingung für einen erfolgreichen Abschluß der Verhandlungen mit der Sowjetunion dargestellt habe und enthielt sich insoweit, noch unterhalb der Schwelle einer Evidenzkontrolle, gänzlich einer eigenen Beurteilung: „Die Einschätzung dessen, was nach der Verhandlungslage erreichbar war, unterlag dabei der eigenverantwortlichen, pflichtgemäßen Beurteilung der Bundesregierung und entzieht sich der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung (,..)." 1 9 1 Der Gesetzgeber wurde im Hinblick auf Art. 3 I GG zwar zur Schaffung einer Ausgleichs187
369 U.S. 186 (1962). Vgl. dazu oben B.II.2.a) und b).aa).
188
A.a.O., S. 217 - Baker-Kriterium Nr. 6.
189
Vgl. unten D.IV.
190
BVerfGE 84, 90 (1991), 1. Senat.
191
A.a.O., S. 128.
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regelung verpflichtet. Andererseits räumte ihm das Bundesverfassungsgericht noch über den ihm ohnehin zustehenden „besonders weiten" Gestaltungsraum für Fragen der Wiedergutmachung früheren, von einer anderen Staatsgewalt zu verantwortenden Unrechts 192 hinaus die Möglichkeit ein, die Ausgleichsregelung innerhalb der finanziellen Möglichkeiten zu halten, die er unter Berücksichtigung der sonstigen Staatsaufgaben, etwa des Wiederaufbaus in den neuen Bundesländern, habe. Bei der Einschätzung der wirtschaftlichen und finanziellen Lage des Staates und der Gewichtung der einzelnen Staatsaufgaben komme ihm dabei ein besonders weiter Beurteilungsraum zu. 193 bb) Militärisch relevante Entscheidungen Aufschlußreich für Prüfüngskompetenz und Prüfungsintensität des Bundesverfassungsgerichts im Teilbereich militärpolitischer Fragen innerhalb der Außenpolitik sind zunächst einige Ausführungen des Gerichts zur militärischen Landesverteidigung in einer 1978 ergangenen Normenkontrollentscheidung zur „Postkartennovelle" des Wehrpflichtgesetzes. 194 Zwar dürften die Äußerungen als obiter dicta einzustufen sein 195 , jedoch vermitteln sie einen guten Eindruck von der in späteren Entscheidungen relevant werdenden Teilproblematik: „Nach der gewaltenteilenden Verfassungsordnung des Grundgesetzes ist es Sache des Gesetzgebers und der für das Verteidigungswesen zuständigen Organe des Bundes, diejenigen Maßnahmen zu beschließen, die zur Konkretisierung des Verfassungsgrundsatzes der militärischen Landesverteidigung erforderlich sind. Welche Regelungen und Anordnungen notwendig erscheinen, um gemäß der Verfassung und im Rahmen bestehender Bündnisverpflichtungen eine funktionstüchtige Verteidigung zu gewährleisten, haben diese Organe nach weitgehend politischen Erwägungen in eigener Verantwortung zu entscheiden. Das Bundesverfassungsgericht könnte unter diesem Blickpunkt nur dann korrigierend eingreifen, wenn einzelne Maßnahmen die im Grundgesetz getroffene Entscheidung für eine funktionsfähige Landesverteidigung evident beeinträchtigen sollten." 196 In seinen Entscheidungen zur Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II machte das Bundesverfassungsgericht dann mit 192
A.a.O., S. 125 f.
193
A.a.O., S. 130 f.
194
BVerfGE 48, 127 (1978), 2. Senat. Das geänderte Gesetz sah unter anderem vor, daß sich verweigerungswillige Wehrpflichtige „per Postkarte" für den Zivildienst entscheiden konnnten, wodurch das bis dahin geltende Verfahren zur Überprüfung der für die Entscheidung geltend gemachten Gewissensgründe abgeschafft werden sollte. 195
Zur Problematik der obiter dicta vgl. Schiaich, Rn. 452.
196
A.a.O., S. 160 (Hervorh. nicht i.O.).
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dem auf eine Willkürprüfung reduzierten Kontrollmaßstab ernst. 197 Im Dezember 1979 hatte das nordatlantische Verteidigungsbündnis NATO den sogenannten Doppelbeschluß gefaßt, der vorsah, daß im Falle des Scheiterns der Vertragsverhandlungen mit der Sowjetunion über eine angemessene Reduzierung ihrer Mittelstreckenraketen entsprechende amerikanische Raketen stationiert würden. Nach dem Fehlschlagen der Verhandlungen im November 1983 erklärte die Bundesregierung ihre Zustimmung zur Stationierung von Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Daraufhin wandte sich zunächst eine Reihe von Bürgern mit im einstweiligen Rechtsschutzverfahren geltend gemachten und im wesentlichen auf Artikel 2 II S 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerden gegen die Aufstellung der Raketen. Das Bundesverfassungsgericht lehnte die Anträge ab. Der Zustimmung der Bundesregierung zur Stationierung komme keine Eingriffsqualität im Hinblick auf Artikel 2 II S 1 GG zu. Die von der Zustimmung ausgehenden mittelbaren Folgen, wie etwa die Gefahr eines Präventivschlages seitens der Sowjetunion seien verfassungsgerichtlich nicht feststellbar, da es hierfür an rechtlich maßgebenden Kriterien fehle, und selbst im Falle ihres Eintretens seien sie der Bundesrepublik grundrechtlich nicht zurechenbar. „Einschätzungen dieser Art obliegen den für die Außen- und Verteidigungspolitik der Bundesrepublik Deutschland zuständigen Bundesorganen. Im Rahmen der Zielvorgaben des Grundgesetzes, ..., und im Rahmen des völkerrechtlich Zulässigen schließt ihre verfassungsrechtliche Kompetenz zur Außen- und Verteidigungspolitik die Kompetenz ein, die Bundesrepublik Deutschland wirksam zu verteidigen. Welche Maßnahmen hierfür erfolgversprechend sind, obliegt ihrer pflichtgemäßen politischen Entscheidung und Verantwortung. Sofern dabei, wie es nicht selten der Fall sein wird, nicht mehr abschätzbare Risikobereiche verbleiben, ist dies von den verfassungsrechtlich zuständigen politischen Entscheidungsorganen des Bundes in ihre Erwägungen einzubeziehen und politisch zu verantworten; es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, jenseits rechtlich normierter Vorgaben in diesem Bereich seine Einschätzungen an die Stelle der Einschätzungen und Erwägungen der zuständigen politischen Organe des Bundes zu setzen." 198 Wenig später strengte die Bundestagsfraktion der Partei Die Grünen ein Organstreitverfahren in gleicher Sache an. In dessen Mittelpunkt stand die Streitfrage, ob die Bundesregierung durch ihre Zustimmung zur Stationierung ohne spezielle gesetzliche Ermächtigung Rechte des Bundestages verletzt oder gefährdet habe. Das Bundesverfassungsgericht verneinte auch diese Frage, da die angegriffene Zustimmung zu Recht - ohne den Erlaß eines besonderen Gesetzes - im 197
BVerfGE 66, 39 (1983), 2. Senat, bzw. BVerfGE 68, 1 (1984), 2. Senat.
198
BVerfGE 66, 39 (60 f.).
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Rahmen des nordatlantischen Verteidigungssystems habe erteilt werden dürfen. Die Zustimmungserklärung unterfalle nicht den legislativen Zustimmungserfordernissen gemäß Art. 59 II S 1 GG sondern sei ein „verteidigungspolitischer A k t " 1 9 9 , der auf der Einschätzung gegründet habe, daß angesichts des sowjetischen Übergewichts an Raketen der Bundesregierung und der NATO keine andere Wahl geblieben sei. Unter Anlegung des weitestgehend reduzierten Kontrollmaßstabs des Bundesverfassungsgerichts bei der Überprüfung derartiger Einschätzungen sei eine Verfassungsverletzung nicht feststellbar: „Einschätzungen und politische Wertungen dieser Art obliegen der Bundesregierung. Das Grundgesetz zieht dieser Beurteilungsmacht nur die Grenze offensichtlicher Willkür. Das Bundesverfassungsgericht hat innerhalb dieser äußersten Grenze nicht nachzuprüfen, ob Einschätzungen und Wertungen dieser Art zutreffend oder unzutreffend sind, da es insoweit rechtlicher Maßstäbe ermangelt; sie sind politisch zu verantworten." 200 Mehrere Dinge fallen bei der Einordnung dieser Entscheidungen auf. Da ist erstens der bereits erwähnte Drang des Bundesverfassungsgerichts, seine Argumentation auf die Verfassung selbst zurückzufuhren, um die Legitimität der Entscheidung vom erkennenden Spruchkörper zu trennen und sich als Hüter der Verfassung gegenüber dem Verfassungsrecht selbst in den Hintergrund treten zu lassen. Außerdem ist unter rechtsvergleichendem Blickwinkel zu bemerken, daß sich bei den Pershing Ii-Entscheidungen erneut „amerikanisches Argumentationsmaterial" wiederfindet: Mit der in der ersten Entscheidung getroffenen Feststellung, das Bundesverfassungsgericht dürfe im außen- und verteidigungspolitischen Bereich seine Einschätzungen nicht an die Stelle der von den „zuständigen politischen Organen des Bundes" getroffenen Erwägungen setzen, verwenden die deutschen Richter eine Begründungsfigur, die bei ihren amerikanischen Kollegen in ähnlicher Form als allerdings pauschaler und undifferenzierter - Ausdruck von judicial self-restraint verstanden werden könnte. 201 Noch bedeutsamer ist, daß sich das Bundesverfassungsgericht eines aus der amerikanischen political question doctrine bekannten Prüfkriteriums bedient: Mit der Feststellung, daß die der Regierungshandlung zugrundeliegende Einschätzung bestenfalls auf Willkürfreiheit überprüft werden könne, da das Bundesverfassungsgericht insoweit „rechtlicher Maßstäbe ermangele", greift das Gericht in der zweiten Entscheidung fast wortidentisch das zweite jener 6 Kriterien auf, die in den USA seit Baker v. Carr Prüfstein für das Vorliegen einer „nonjusticiable political question" sein sollen: „ A lack of
199
BVerfGE 68, 1 (80).
200
A.a.O., S. 97.
201
Vgl. oben B.II.4.a).
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judicially discoverable and manageable standards". 202 Andererseits fuhrt ein der artiger Mangel an rechtlich handhabbaren Kriterien nicht zu der in Deutschland aus den oben genannten Gründen unmöglichen Folge, daß der Rechtsstreit damit, wenigstens teilweise, unzulässig ist. 203 Vielmehr zieht sich das Bundesverfassungsgericht auf die, funktional freilich äquivalente, Evidenzkontrolle zurück. Das political question-Argument findet sich eingebettet in eine systematisch aufgebaute, im zweiten Fall über 100 Seiten lange Entscheidung, die die Rechtsprechung zu den Artikeln 24 und 59 des GG verfeinert und weiterentwickelt. Mag der Antragsteller auch in der Sache erfolglos sein, er kann sicher sein, daß sich das Bundesverfassungsgericht seines Antrags mit Sorgfalt annehmen wird. 2 0 4 Dies gilt auch für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr und den dafür geltenden grundgesetzlichen Anforderungen. 205 Maßgebliche Gegenstände der vier zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen Organstreitverfahren waren drei Fragen: Erstens, ob die Teilnahme von deutschen Marineeinheiten an Maßnahmen zur Überwachung des von den Vereinten Nationen gegen Restjugoslawien (Serbien und Montenegro) verhängten Embargos verfassungsgemäß war. Zweitens ging es um die Verfassungsmäßigkeit des Beschlusses der Bundesregierung über die Beteiligung deutscher Soldaten an der Durchsetzung des von den Vereinten Nationen verhängten Flugverbotes im Luftraum von Bosnien-Herzegowina in AWACS-Aufklärungsflugzeugen. Das letzte Verfahren schließlich betraf die Verfassungsmäßigkeit der Beteiligung deutscher Soldaten an UNOSOM II, einer vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aufgestellten multinationalen Truppe zur Befriedung der Verhältnisse im von Hungersnot und politischen Unruhen geschüttelten Somalia. Das Bundesverfassungsgericht erklärte die den Aktionen zugrundeliegenden Beschlüsse der Bundesregierung im Lichte einer aus einer Zusammenschau von Art. 24 II, 59 II 1, 87a GG gewonnenen Verfassungsinterpretation für verfassungsgemäß, verpflichtete die Regierung jedoch darauf, fur jeden Einsatz bewaffneter Streitkräfte die grundsätzlich vorherige Zustimmung des 202
Vgl. Baker v. Carr, 369 U.S. 186, 217 (1962).
203
Immerhin ist bemerkenswert, daß Teile des Beweisantrags der Antragsteller vom Gericht mit der Begründung zurückgewiesen wurden, daß „(w)as in die Beurteilungsmacht der Regierung fällt, ... nicht den Grundsätzen der Gewaltenteilung zuwider über eine Beweisaufnahme in den Entscheidungsbereich der rechtsprechenden Gewalt übergeführt werden" dürfe (a.a.O., S. 111). 204 Vgl. Franck , Political Questions/Judicial Answers, S. 118: „In Germany it is not difficult to be heard in a case purporting to hold the government to a vaguely defined legal standard, but it is quite hard to win". Vgl. dazu auch unten D.IV. 205
BVerfGE 90, 286 (1994), 2. Senat. Zur Entscheidung im AWACS-Streit vgl. auch das im einstweiligen Anordnungsverfahren ergangene Urteil BVerfGE 88, 173 (1993).
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Bundestages einzuholen 206 , wobei eine einfache Abstimmungsmehrheit genügt. Unter Berücksichtigung dieses Erfordernisses, das angesichts der von der parlamentarischen Demokratie bedingten weitgehenden politischen Interessenidentität von Regierung und Mehrheitsfraktion(en) keine sonderlich hohe Hürde darstellt, sind Einsätze207 bewaffneter Streitkräfte der Bundesrepublik im Rahmen von Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit wie etwa der Vereinten Nationen oder der NATO weltweit möglich. Unter dem Gesichtspunkt der Kontrolldichte fallt auf, daß das Gericht das Regierungsverhalten - ganz im Gegensatz zu der 10 Jahre zuvor ergangenen Pershing Ii-Entscheidung - einer vollen und umfassenden Kontrolle unterzog. Hinweise auf exekutivische Spielräume, mit denen eine verminderte gerichtliche Kontrollintensität korrespondiert hätte, finden sich ebensowenig wie eine Begründung für das ungewöhnliche Abgehen von der zurückhaltenden Spruchpraxis in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Man könnte argumentieren, daß es im vorliegenden Fall im Gegensatz zu Pershing II, wo es um die militärisch-strategische Frage der Stationierung eines bestimmten Raketentypus als Antwort auf eine von der Exekutive im Verbund mit den Bündnispartnern als bedrohlich eingeschätzte sowjetische Raketenrüstung ging, nicht an rechtlich maßgeblichen Kriterien mangelte. In der Tat sah sich das Bundesverfassungsgericht in der Auslandseinsätzeentscheidung auch differenzierteren Verfassungsvorwürfen ausgesetzt als in der Pershing Ii-Entscheidung. 208 Noch wichtiger dürfte freilich gewesen sein, daß es weniger um sicherheitspolitische Details innerhalb eines bestehenden Bündnissystems, sondern vielmehr, wie bereits die vom Gericht vorgenommene Verbindung der Verfahren zeigt, um die umfassendere Frage nach der allgemeinen verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Einsätzen deutscher Soldaten außerhalb des Territoriums der Bundesrepublik und seiner Bündnispartner in der NATO ging. Bei der Entscheidung dieser in juristischen Fachkreisen und mehr noch in der Politik äußerst umstrittenen Frage, zweifellos einer der wichtigsten seit Herstellung der vollen Souveränität und außenpolitischen Handlungsfreiheit der Bundesrepublik, mochte das Bundesverfassungsgericht nicht durch eine zurückhaltende oder auch nur differenzierte Kontrolle des Regierungshandelns seine eigene Autorität gefährden. Möglicherweise wollte man auch nicht in dieser zentralen Frage durch das Einräumen nur be206
Was in den drei Situationen, die den Verfahrensgegenstand bildeten, nicht geschehen
war. 207
„Traditionelle Blauhelmeinsätze" ebenso wie solche „mit der Befugnis zu bewaffneten Sicherungsmaßnahmen", worunter wohl auch reine Kampfeinsätze zu verstehen sind. 208 In der Auslandseinsätzeentscheidung ging es konkret um die behauptete Verletzung von Art. 87a II GG, die auch nicht über Art. 24 II GG zu rechtfertigen sei. Bei der Pershing II-Kontroverse hingegen waren insbesondere die allgemeineren Normen der Art. 79 I, 20 III GG ins Felde gefuhrt worden.
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schränkt überprüfbarer exekutivischer Spielräume falsche Signale in Richtung einer in Zukunft vielleicht zu Alleingängen neigenden Exekutive aussenden. Gleichzeitig sorgt die klare Sprache der Entscheidung dafür, daß das Bundesverfassungsgericht in Zukunft wohl nicht mit Einzelfragen, wie etwa der jeweils zulässigen Einsatzform deutscher Truppen, befaßt werden wird; das Gericht hat den Ball insoweit wieder in die Arena von Parlament und Regierung gespielt. Schließlich waren sich die Richter der Tatsache bewußt, daß niemand außer ihnen die Kontroverse um die Auslandseinsätze deutscher Soldaten mit befriedender oder gar konsensstiftender Wirkung würde beenden können. Aus dem Gesagten wird deutlich, daß die verfassungsgerichtliche Kontrolle sich auch im Bereich von Außen- und Sicherheitspolitik zu unerwarteter Intensität aufschwingen kann ... und daß auch die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts sich der politischen Folgen ihres Tuns durchaus bewußt sind. b) Exekutivisch geprägte Binnenentscheidungen Trotz parlamentarischer Mitwirkung ist die Pflege und Entwicklung der auswärtigen Beziehungen eine zuvorderst von der Exekutive zu erfüllende Aufgabe. Das Bundesverfassungsgericht trägt, wie oben gezeigt, den dafür erforderlichen politischen Gestaltungsspielräumen in weitem Maße Rechnung. Jedoch wurde es auch mit Problemen richterlicher Kontrollintensität bei exekutivisch dominierten innenpolitischen Sachverhalten konfrontiert. Anhand der beiden folgenden Beispiele, der Schleyer-Entscheidung 209 und der Entscheidung zur Bundestagsauflösung 210, wird deutlich, daß auch im Bereich von „domestic executive decisions" ein zurückhaltenderer Prüfungsmaßstab angelegt wurde. Im September 1977 entführten Terroristen der sogenannten Rote Armee Fraktion (RAF) den Arbeitgeberpräsidenten Hans-Martin Schleyer, nachdem sie seine Begleitpersonen ermordet hatten. Die Kidnapper drohten mit der Tötung ihrer Geisel, falls die Bundesregierung nicht 11 in Haftanstalten einsitzende „Gesinnungsgenossen" freilassen und deren sicheres Verlassen der Bundesrepublik gewährleisten werde. Als sich abzeichnete, daß die Regierung den Forderungen nicht nachgeben würde, wandte sich Schleyers Sohn in Vertretung seines Vaters mit einem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung an das Bundesverfassungsgericht. Gestützt auf das in Artikel 2 II GG verankerte Recht auf Leben, das in der ersten Abtreibungsentscheidung 211
209
BVerfGE 46, 160 (1977), 1. Senat.
2,0
BVerfGE 62, 1 (1983), 2. Senat.
211
BVerfGE 39, 1 (1975) 1. Senat.
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in seiner objektiv-rechtlichen Bedeutung zur Schutzpflicht ausgeformt worden war, argumentierte er, daß die Behörden zur Erfüllung der Forderungen der Entführer verpflichtet seien. Eine Weigerung komme „einem bewußten Einwirken der staatlichen Gewalt auf Leib und Leben" des Entführten gleich. Im übrigen sei der Staat auch im Hinblick auf Artikel 3 I GG zur Freilassung verpflichtet, weil er zwei Jahre zuvor im Entführungsfall Peter Lorenz auch so verfahren habe. Das Bundesverfassungsgericht hielt den Antrag zwar für zulässig, wies ihn in der Sache aber zurück. Es schloß sich zwar nicht ausdrücklich der Argumentation der Bundesregierung an, die unter Berufung auf das vom Gericht in der Grundvertragsentscheidung verwandte judicial self-restraint-Argument verlangt hatte, daß „den verantwortlichen staatlichen Organen ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum verbleiben" 212 müsse. Jedoch kam es dieser Position inhaltlich sehr nahe: „Wie die staatlichen Organe ihre Verpflichtung zu einem effektiven Schutz des Lebens erfüllen, ist von ihnen grundsätzlich in eigener Verantwortung zu entscheiden."213 Die grundgesetzliche Schutzpflicht bestehe nicht nur gegenüber dem Einzelnen, sondern auch gegenüber der Gesamtheit aller Bürger. Eine Festlegung des Staates auf ein bestimmtes Verhalten komme angesichts der Notwendigkeit situationsangemessenen Handelns unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht in Betracht. Auch könnten nicht alle Entführungsfalle schematisch gleich behandelt werden. „Angesichts dieser verfassungsrechtlichen Lage kann das Bundesverfassungsgericht den zuständigen staatlichen Organen keine bestimmte Entschließung vorschreiben. Es liegt in der Entscheidung der Antragsgegner, welche Maßnahmen zur Erfüllung der ihnen obliegenden Schutzpflichten zu ergreifen sind." 214 Im Oktober 1982 verließ die F.D.P. die sozialliberale Koalitionsregierung unter Bundeskanzler Schmidt. Im Anschluß daran wurde der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl im Wege eines konstruktiven Mißtrauensvotums nach Art. 67 GG zum neuen Bundeskanzler gewählt. Da die neue Regierung nicht durch Wahlen, sondern im parlamentsinternen Wege an die Macht gekommen war, bestand unter allen Parteien ein Konsens darüber, daß so bald wie möglich Neuwahlen abgehalten werden sollten. In Ermangelung eines verfassungsmäßigen Selbstauflösungsrechts des Parlaments sah die neue Regierungskoalition nur die Möglichkeit, über eine manipulierte Vertrauensfrage
212
A.a.O., S. 163.
213
A.a.O., S. 164.
214
A.a.O., S. 165. Auch für diesen Binnensachverhalt bestätigt sich die oben im Bereich der auswärtigen Beziehungen gemachte Beobachtung, daß es für den einzelnen praktisch ausgeschlossen ist, mit Hilfe einer Verfassungsbeschwerde staatliche Organe zu einem ganz bestimmten Tun zu veranlassen.
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gemäß Art. 68 GG zur Auflösung des Bundestages zu kommen. A m 17. Dezember 1982 enthielten sich bei der Vertrauensabstimmung nach Art. 68 GG die Mehrzahl der Mitglieder der Regierungsfraktionen CDU /CSU und F.D.R der Stimme; die SPD Parlamentarier stimmten geschlossen mit Nein. Noch am selben Tag schlug Bundeskanzler Kohl Bundespräsident Carstens vor, den Bundestag zum Zwecke von Neuwahlen aufzulösen. Dieser entsprach dem Vorschlag am 7. Januar 1983, nachdem er die ihm von der Verfassung eingeräumte Bedenkzeit von 21 Tagen voll ausgeschöpft hatte, und setzte Neuwahlen für den 6. März 1983 an. Noch im Januar 1983 riefen mehrere Mitglieder des Bundestages im Wege des Organstreits das Bundesverfassungsgericht mit dem Ziel an, die Auflösungsanordnung wegen Verstoßes gegen Art. 68 I S 1 und Art. 38 I GG für verfassungswidrig erklären zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht befand sich in einer schwierigen Lage. Praktisch alle Parteien hatten, aus durchaus unterschiedlichen Gründen, ein Interesse an baldigen Neuwahlen, so daß eine entgegengesetzte Entscheidung sich gegen einen breiten politischen Konsens hätte behaupten müssen. Andererseits lief das Gericht, falls es diesen ungewöhnlichen Weg zur Parlamentsauflösung passieren ließ, Gefahr, daß auf diese Weise ein von der Verfassung nicht vorgesehenes Selbstauflösungsrecht nun gewissermaßen durch die Hintertür eingeführt und in künftigen Situationen möglicherweise einseitig instrumentalisiert werden würde. Die Mehrheit des Gerichts entschied sich für einen Kompromiß: Sie erklärte unter Anwendung eines gelockerten Prüfüngsmaßstabs die Anordnungen des Bundespräsidenten zu Bundestagsauflösung und Ansetzung von Neuwahlen für verfassungsgemäß, betonte aber andererseits die besonderen Umstände und die verfassungskritische Situation dieses Einzelfalles, um etwaige Nachahmer von vornherein in die Schranken zu weisen. Vertrauen im Sinne von Art. 68 GG sei „die im Akt der Stimmabgabe förmlich bekundete gegenwärtige Zustimmung der Abgeordneten zu Person und Sachprogramm des Bundeskanzlers ..." 2 1 5 Einem Recht zur freien Auflösung des Bundestages erteilte das Gericht allerdings eine klare Absage. Erneut erkannte das Bundesverfassungsgericht nach eigener Aussage in der Verfassung selbst die Grenzen seiner Rechtsprechungskompetenz. Es interpretierte das von Art. 68 I S 1 GG vorgesehene procedere als ein mehrstufiges Verfahren, an dem Regierung, Bundestag und Bundespräsident beteiligt seien. Namentlich dem Bundeskanzler und dem Bundespräsidenten stünden Einschätzungs- und Beurteilungsspielräume zu; letzterem komme bei der von ihm zu treffenden politischen Leitentscheidung ein gerichtlich nur beschränkt überprüfbarer Ermessensspielraum zu: „Der Senat verkennt nicht, daß das Grundgesetz selbst in Art. 68 GG durch die Einräumung von Ein215 A.a.O., S. 37; anders die Richter Rinck und Rottmann in ihren abweichenden Meinungen, a.a.O., S. 70 ff., 108 ff.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre B e g r ü n d u n g 1 8 9
schätzungs- und Beurteilungsspielräumen sowie von Ermessen zu politischen Leitentscheidungen an drei oberste Verfassungsorgane die verfassungsgerichtlichen ^ β φ Γ ϋ Α ι η ς β η ^ Ι ώ Ι ά β ϋ β η weiter zurückgenommen hat als in den Bereichen von Rechtsetzung und Normvollzug; das Grundgesetz vertraut insoweit in erster Linie auf das in Art. 68 GG selbst angelegte System der gegenseitigen politischen Kontrolle und des politischen Ausgleichs zwischen den beteiligten politischen Verfassungsorganen. Allein dort, wo verfassungsrechtliche Maßstäbe für politisches Verhalten normiert sind, kann das Bundesverfassungsgericht ihrer Verletzung entgegentreten." 216 ... „Es kann nicht festgestellt werden, daß dem Bundespräsidenten bei der Ausübung des ihm eingeräumten weiten politischen Ermessens ein Verstoß gegen das Grundgesetz unterlaufen wäre. ... Der Einschätzung des Bundespräsidenten kann eine andere, die Auflösung verwehrende Einschätzung nicht eindeutig vorgezogen werden; mehr hatte das Bundesverfassungsgericht nicht zu prüfen." 217 Daß diese Auffassung nicht zwingend ist, wird anhand des skizzenhaften Sondervotums von Richter Rottmann deutlich, in dem er die Auffassung vertritt, die Senatsmehrheit habe die Kontrollkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts zu sehr eingeschränkt. 218 In der Tat fragt sich, was im einzelnen die Grundlage und was die tieferliegende Motivation der zurückhaltenden Beurteilung seitens des Bundesverfassungsgerichts war: die Kann-Bestimmung in Artikel 68 GG? Das Zusammenwirken mehrerer Verfassungsorgane, Bundestag, Bundeskanzler und Bundespräsident, deren Konsens das Bundesverfassungsgericht glaubte nicht konterkarieren zu dürfen? Oder möglicherweise das Risiko, das Staatsoberhaupt, zumal einen habilitierten Verfassungsrechtler, durch eine Zurechtweisung zu brüskieren und sein Ansehen zu beschädigen? Festhaltenswert ist bei vergleichender Betrachtung, daß zur Charakterisierung der vom Bundesverfassungsgericht verwandten Argumentationsfiguren erneut aus Baker v. Carr bekannte Kriterien fruchtbar gemacht werden können. Erstens verwies das Bundesverfassungsgericht zur Begründung seines eingeschränkten richterlichen Prüfungsrechts auf das Fehlen verfassungsrechtlicher Maßstäbe, mithin das Äquivalent des bei Baker an zweiter Stelle genannten „lack of judicially discoverable and manageable standards". Des weiteren soll Artikel 68 GG zu entnehmen sein, daß drei obersten Verfassungsorganen Ermessen zu politischen Leitungsentscheidungen eingeräumt werde,
216
A.a.O., S. 51 (Hervorhebung i.O.).
217
A.a.O., S. 62 f.
218
„Unbeschadet eines Beurteilungsspielraums des Bundespräsidenten kann das Bundesverfassungsgericht nachprüfen, ob hinreichende Anhaltspunkte für die genannten Voraussetzungen einer Ermessensentscheidung des Bundespräsidenten vorlagen oder ob eine Würdigung des gesamten Sachverhalts in diesem Sinne ausgeschlossen war" (a.a.O., S. 112).
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so daß für eine verfassungsgerichtliche Prüfung entsprechend weniger Raum blieb. Dem Sinn nach entspricht dies dem ersten der sechs political questionStandards aus Baker, wonach der Supreme Court dort nicht eingreifen kann, wo er auf ein „textually demonstrable constitutional commitment of the issue to a coordinate political department" stößt. Schließlich stellt auch das vom Bundesverfassungsgericht in Art. 68 GG erkannte „System der gegenseitigen politischen Kontrolle und des politischen Ausgleichs zwischen den beteiligten politischen Verfassungsorganen" eine deutsch-amerikanische Argumentationsparallele dar: Es ist eine deutsche Umschreibung für das gewaltenteilige amerikanische Bild der „checks and balances".
c) Prognose-, Einschätzungs- und Entscheidungsspielräume des Gesetzgebers aa) Einleitung Im oben behandelten Fragenkomplex stand das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Exekutive im Vordergrund unseres Interesses. Anknüpfungspunkt für die verfassungsgerichtliche Kontrolle waren zwar auch parlamentarische Akte, wie etwa die Ratifikationsgesetze zu Saarstatut, Grundlagenvertrag und den Ostverträgen. Da jedoch das Aushandeln der zugrundeliegenden Verträge in den Händen der Regierung lag 219 , waren es bei den entsprechenden Normenkontrollentscheidungen Kompetenzen und Spielräume der Exekutive, die vom Bundesverfassungsgericht festgelegt und eingegrenzt wurden. Im folgenden soll in exemplarischer Form 220 auf das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber eingegangen und der Frage nach der gerichtlichen Kontrolldichte gegenüber der gesetzgebenden Gewalt 221 nachgegangen werden. 222 Auch hier wird deutlich werden, daß der Kontrollanspruch gegenüber Akten der öffentlichen Gewalt kein durchgängig umfassender ist, sondern in mehrfacher Form abgemildert und ausdifferenziert wird.
219 Zur begrenzten Mitwirkung des Parlaments bei der Gestaltung der auswärtigen Beziehungen vgl. auch BVerfGE 68, 1 (85 f.) (1984). 220 Eine eingehendere Untersuchung findet sich bei K. Vogel, S. 168 ff. (172 ff), der stärker differenziert und zum Teil mit anderen Oberbegriffen arbeitet. 221 Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rn. 14 sieht in dieser Frage „(d)as Grundproblem jeder Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Verfassungsstaat". 222 Vgl. dazu auch Ossenbühl, Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Prognoseentscheidungen, S. 458 ff. (502 ff.).
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bb) Chronologie Das Eröffnen von „Spielräumen" ist dabei das Leitmotiv zur Lockerung verfassungsgerichtlicher Kontrolldichte auch gegenüber dem Gesetzgeber. 223 Besonders markant trat dieses Phänomen im Laufe der Entwicklungsgeschichte des Bundesverfassungsgerichts unter dem Begriff der Prognoseproblematik in Erscheinung. 224 Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung hat sich im Laufe der Zeit dahin entwickelt, dem Gesetzgeber in einer Vielzahl von Bereichen, insbesondere aber dem der Wirtschaft, nur bedingt überprüfbare Diagnose-, Einschätzungs- und Prognosespielräume zu eröffnen „und Maßnahmen hinzunehmen, die nach gewöhnlichem verfassungsrechtlichen Maßstab kaum noch als verfassungsgemäß anzusehen wären". 225 Erwähnenswert ist im Rahmen eines chronologischen Abrisses insofern zunächst das Apothekenurteil 226 , in dem sich die Frage stellte, ob die im bayerischen Gesetz über das Apothekenwesen von 1952 enthaltenen Niederlassungsbeschränkungen vor Art. 12 I GG Bestand haben konnten. Das Gericht nahm eine intensive Nachprüfung der dem Gesetz zugrundeliegenen Prognosen vor, kam selbst zu anderen Einschätzungen und erklärte den die Niederlassungsfreiheit der Apotheker beschränkenden Teil des Gesetzes für nichtig. Bach stellt zutreffend fest, daß sich das Gericht darüber, ob und inwieweit es Prognosen des Gesetzgebers überprüfen durfte, offenbar keine Gedanken gemacht habe. Vielmehr sei es von einem umfassenden Prüfungsrecht ausgegangen und habe auch in der Kontrolldichte „keinerlei Beschränkung" erkennen lassen.227 Daß dem Bundesverfassungsgericht jedoch bereits damals die Idee einer eingeschränkten Kontrolle aufgrund „gesetzgeberischen Ermessens" vertraut war, zeigt die im darauffolgenden Jahr ergangene Erftverband-Entscheidung 228, in der der erste Senat die gesetzliche Errichtung einer Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Zwangsmitgliedschaft für verfasssungsgemäß hielt und ausführte, daß „die Art und Weise der organisatori-
223
Neben den im Anschluß geschilderten Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht Gestaltungsspielräume der zuständigen Organe von Bund und Ländern unter anderem in folgenden Bereichen betont: Schulrecht - BVerfGE 59, 360 (377) (1982); Fremdenrecht - BVerfGE 76, 1 (51 f.) (1987); Berufsausübungsregelungen - BVerfGE 77, 308 (332) (1987). 224
Vgl. dazu Bach, S. 49 ff.
225
Pestalozza, Noch verfassungsmäßige ... Rechtslagen, S. 541. Die vom Autor hergestellte Verbindung zwischen der Prognoserechtsprechung und den Appellentscheidungen wird unten 4.c) aufgenommen und diskutiert. 226 BVerfG 7, 377 (1958), 1. Senat. Die Entscheidung erlangte vor allem durch die in ihr entwickelte Dreistufentheorie zu Art. 12 GG verfassungsrechtliche Prominenz. 227
Bach, S. 51.
228
BVerfGE 10, 89 (1959), 1. Senat.
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sehen Bewältigung öffentlicher Aufgaben Sache des gesetzgeberischen Ermessens (sei). In einem Staat, der den Gedanken der Selbstverwaltung bejaht und in seiner Gesetzgebung weitgehend verwirklicht, kann die Wahl der Organisationsform einer Körperschaft nicht schon als solche verfassungswidrig sein." 229 Die im Jahr 1968 ergangene, später oft zitierte Entscheidung zum Mühlengesetz 230 deutete dann auch in der Prognosefrage eine Abkehr von der kontrollintensiven Haltung im Apothekenurteil und entsprechenden in den Folgejahren ergangenen Entscheidungen231 an. Auf dem Prüfstand des Art. 12 I GG standen Normen des Mühlengesetzes von 1957, durch die Kapazitätserweiterungen und Neuerrichtungen von Mühlen nur unter engen, schwer zu erfüllenden Voraussetzungen erlaubt wurden. Der argumentative Ausgangspunkt des Bundesverfassungsgerichts war ähnlich wie beim Apothekenurteil; es stellte fest, daß die Gründe, mit denen der Gesetzgeber seinen Eingriff in Grundrechte rechtfertige, „der verfassungsgerichtlichen Würdigung" unterlägen. 232 Dann jedoch machte das Gericht gegenüber dem Gesetzgeber ein Zugeständnis, indem es dessen ex-ante Sicht für die Beurteilung für maßgeblich erklärte und feststellte, „(e)ine auf Grund einer Fehlprognose ergriffene Maßnahme (könne) nicht schon deshalb als verfassungswidrig angesehen werden." 233 Konkret auf das Mühlengesetz angewandt heiße das: „Die Vorstellungen des Gesetzgebers ... widersprechen nicht in dem Maße wirtschaftlichen Gesetzen oder praktischer Erfahrung, daß sie vernünftigerweise keine Grundlage für gesetzgeberische Maßnahmen abgeben könnten." Gerichte dürften dem nicht ihre eigenen Überzeugungen über den voraussichtlichen Verlauf einer wirtschaftlichen Entwicklung entgegensetzen.234 Auch bei der Überprüfung auf Verhältnismäßigkeit legte das Gericht keinen strengen Maßstab mehr an und erklärte das Mühlengesetz für verfassungsgemäß. „Ansätze zu einer Beschränkung des verfassungsgerichtlichen Prüfungsrechts legislativer Prognosen zugunsten einer Respektierung von Spielräumen des Gesetzgebers" 235 waren nun erkennbar. 236 229
A.a.O., S. 104.
230
BVerfGE 25, 1 (1968), 1. Senat.
231
Vgl. z.B. BVerfGE 11, 30 (45) - Kassenärzte; 17, 269 (276) - Arzneimittelgesetz.
232
BVerfGE 25, 1 (12).
233
A.a.O., S. 13.
234
A.a.O., S. 17.
235
Bach, S. 53.
236
Diese Entwicklung wurde vom Bundesverfassungsgericht selbst offenbar entweder nicht erkannt oder zumindest nicht hinreichend gewürdigt, wenn es im Rahmen der Mühlenstrukturgesetzentscheidung - BVerfGE 39, 210 (225) (1975) - Apothekenurteil und Mühlengesetzentscheidung undifferenziert nebeneinander zitierte und - a.a.O., S. 226 von einer irgendwie eingeschränkten gerichtlichen Kontrollkompetenz ausging, ohne kon-
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193
Die Tendenz zu einer gelockerten gerichtlichen Kontrolle angesichts gesetzgeberischer Prognosen setzte sich im Erdölbevorratungsbeschluß 237 fort. Darin wurde das Gesetz über Mindestvorräte an Erdölerzeugnissen von 1965 für überwiegend verfassungsgemäß erklärt. Das Gericht gelangte im Rahmen seiner Ausführungen zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur bis dahin umfassendsten Anerkennung gesetzgeberischer Einschätzungsprärogativen : „Bei gesetzlichen Eingriffen in das Wirtschaftsleben ist es zunächst Sache des Gesetzgebers, auf der Grundlage seiner wirtschaftspolitischen Vorstellungen und Ziele und unter Beachtung der Sachgesetzlichkeiten des betreffenden Gebiets zu entscheiden, welche Maßnahmen er im Interesse des Gemeinwohls ergreifen will. Auch bei der Prognose und Einschätzung gewisser der Allgemeinheit drohenden Gefahren, zu deren Verhütung der Gesetzgeber glaubt tätig werden und in die Freiheitsbereiche der Einzelnen eingreifen zu müssen, billigt ihm die Verfassung einen Beurteilungsspielraum zu, den er nur dann überschreitet, wenn seine Erwägungen so offensichtlich fehlsam sind, daß sie vernünftigerweise keine Grundlage für gesetzgeberische Maßnahmen abgeben können (...)." 2 3 8 Abgesehen von der Einführung des Begriffs „Beurteilungsspielraum", der wohl untechnisch zu verstehen ist 239 , fallt bei dieser Entscheidung besonders auf, wie weit das Bundesverfassungsgericht den Rahmen zieht, innerhalb dessen gesetzgeberische Entscheidungen nur eingeschränkt zu kontrollieren seien. Die „sweeping language" des Bundesverfassungsgerichts erinnert ein wenig an die Rechtsprechung des Supreme Court zur Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung, ein Bereich, in dem sich das amerikanische Gericht nach allgemeiner Auffassung in der Zeit nach 1937 fast gänzlich aus einer nachvollziehenden Kontrolle legislativer Entscheidungen zurückgezogen hat. 240 Dennoch sollte man sich vor einem kurzschlüssigen Vergleich hüten. Während der Supreme Court es häufig bei einer formelhaften Erklärung, etwa dergestalt, Vor- und Nachteile wirtschafts- und sozialpolitscher Maßnahmen müßten vom Gesetzgeber gegeneinander abgewogen werden 241 , bewenden läßt, nimmt das Bundesverfassungsgericht fast ausnahmslos - anhand und aufgrund der verfassungstextlichen Schranken — eine vergleichsweise differenzierte Prüfung der gesetzlichen Vorschriften vor. Im vorliegenden Fall wurde krete begrenzende Parameter zu benennen. Im Mitbestimmungsurteil - Ε 50, 290 (332 f.) (1979) - stufte das Gericht die Mühlengesetzentscheidung in die Kategorie mittlerer Kontrolldichte, die sog. Vertretbarkeitskontrolle, ein. 237
BVerfGE 30, 292 (1971), 1. Senat.
238
A.a.O., S. 317.
239
Vgl. Bach, S. 55 Fn 178.
240
Vgl. zum Beispiel Williamson v. Lee Optical of Oklahoma, 348 U.S. 483 (1955), und Ferguson v. Skrupa , 372 U.S. 726 (1963). 241
348 U.S. 483, 487 (1955).
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trotz der erwähnten stark verminderten gerichtlichen Kontrolldichte in einem Teilbereich des Mindestvorratsgesetzes eine Verletzung von Artikel 12 I in Verbindung mit 3 I GG festgestellt. 242 cc) Die Herausbildung der für die Kontrolldichte relevanten Parameter
243
Nicht zu Unrecht wird das Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts 244 als „Höhepunkt der Prognoserechtsprechung" 245 bezeichnet. Darin erklärte das Gericht die erweiterte Mitbestimmung der Arbeitnehmer nach dem Mitbestimmungsgesetz vom 4. Mai 1976 fur mit den Grundrechten der von dem Gesetz erfaßten Gesellschaften, der Anteilseigner und der Koalitionen der Arbeitgeber vereinbar und machte einige grundlegende Ausfuhrungen zur Prognoseproblematik und ihrer gerichtlichen Handhabung: „Wie sich das Mitbestimmungsgesetz in seinem dargelegten rechtlichen Inhalt in der Zukunft auswirken wird, ist ungewiß. Darin tritt der Grundtatbestand jeder Prognose zutage, deren Unsicherheit um so größer wird, je weiterreichend und komplexer die Zusammenhänge sind, auf die sie sich bezieht." 246 ... „Anders als die Beschwerdeführer ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, daß die Wirkungen, die er mit dem Gesetz verfolgt, auch tatsächlich eintreten und daß sich mit ihnen nachteilige Folgen fur die Funktionsfähigkeit der Unternehmen und fur die Gesamtwirtschaft nicht verbinden werden. Das Bundesverfassungsgericht könnte von einer anderen Einschätzung nur dann ausgehen, wenn der Gesetzgeber den von Verfassungs wegen an seine Prognose zu stellenden Anforderungen nicht gerecht geworden wäre. Das ist jedoch nicht der Fall." 2 4 7 ... „Ungewißheit über die Auswirkungen eines Gesetzes in einer ungewissen Zukunft kann nicht die Befugnis des Gesetzgebers ausschließen, ein Gesetz zu erlassen, auch wenn dieses von großer Tragweite ist. Umgekehrt kann Ungewißheit nicht schon als solche ausreichen, einen verfassungsgerichtlicher Kontrolle nicht zugänglichen Prognosespielraum des Gesetzgebers zu begründen. ... Im einzelnen hängt die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers von Faktoren verschiedener Art ab, im besonderen von 242
Vgl. dazu BVerfGE 30, 292 (326 ff.).
243
Vgl. dazu die eingehende und sehr differenzierte Analyse von Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, NJW 1980, 2103 (2106 ff.). Schneider geht auch auf andere Begrenzungsphänomene wie etwa die - unten 4. behandelten - verschiedenen Rechtsfolgeanordnungen ein. 244
BVerfGE 50, 290 (1979), 1. Senat.
245
Bach, S. 60.
246
BVerfGE 50, 290 (331).
247
A.a.O., S. 332.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
195
der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter. Demgemäß hat die Rechtsprechung des Bundesverfassugsgerichts, wenn auch im Zusammenhang anderer Fragestellungen, bei der Beurteilung von Prognosen des Gesetzgebers differenzierte Maßstäbe zugrunde gelegt, die von einer Evidenzkontrolle (etwa BVerfGE 36, 1 (17) - Grundvertrag; 37, 1 (20) - Stabilisierungsfonds; 40, 196 (223) - Güterkraftverkehrsgesetz) über eine Vertretbarkeitskontrolle (etwa BVerfGE 25, 1 (12 f., 17) - Mühlengesetz; 30, 250 (263) - Absicherungsgesetz; 39, 210 (225 f.) — Mühlenstrukturgesetz) bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen (etwa BVerfGE 7, 377 (415) - Apotheken; 11, 20 (45) Kassenärzte; 17, 269 (176 ff.) - Arzneimittelgesetz; 39, 1 (46, 51 ff.) §218 StGB; 45, 187 (238) - Lebenslange Freiheitsstrafe). ... Das Mitbestimmungsgesetz bewirkt wesentliche Veränderungen auf dem Gebiet der Wirtschaftsordnung. Bei dieser Sachlage kann jedenfalls nicht gefordert werden, daß die Auswirkungen des Gesetzes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit oder gar Sicherheit übersehbar sein müßten, zumal Rechtsgüter wie das des Lebens oder der Freiheit der Person nicht auf dem Spiele stehen. Ob das Bundesverfassungsgericht sich auf eine bloße Evidenzkontrolle zu beschränken hätte, bedarf keiner Entscheidung. Denn die Prognose des Gesetzgebers ist vertretbar. Dieser Maßstab verlangt, daß der Gesetzgeber sich an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung des erreichbaren Materials orientiert hat. Er muß die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausgeschöpft haben, um die voraussichtlichen Auswirkungen seiner Regelung so zuverlässig wie möglich abschätzen zu können und einen Verstoß gegen Verfassungsrecht zu vermeiden. Es handelt sich also eher um Anforderungen des Verfahrens. Wird diesen Genüge getan, so erfüllen sie jedoch die Voraussetzung inhaltlicher Vertretbarkeit; sie konstituieren insoweit die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, die das Bundesverfassungsgericht bei seiner Prüfung zu beachten hat." 248 ... „Insgesamt hat der Gesetzgeber sich mithin an dem derzeitigen Stand der Erfahrungen und Einsichten orientiert. Wenn er sich auf dieser Grundlage für die Lösung des Mitbestimmungsgesetzes entschieden hat, so ist die damit verbundene Beurteilung der Auswirkungen des Gesetzes als vertretbar anzusehen, mag sie sich später auch teilweise oder gänzlich als Irrtum erweisen, so daß der Gesetzgeber zur Korrektur verpflichtet ist ... Das Bundesverfassungsgericht kann nicht von einem anderen Verlauf der Entwicklung ausgehen und prüfen, ob die angegriffenen Vorschriften des Mitbestimmungsgesetzes bei Zugrundelegung eines solchen Verlaufs verfassungsrechtlich zu beanstanden wären. Im gegenwärtigen Zeitpunkt kann die Frage nur dahin gehen,
248
A.a.O., S. 332 ff. (Hervorh. nicht i.O.).
196
C. Bundesrepublik Deutschland
ob diese Vorschriften bei Zugrundelegung der vertretbaren Prognose des Gesetzgebers mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Das Mitbestimmungsgesetz technisch zu verbessern, offengebliebene Fragen zu regeln und etwaige Friktionen abzumildern, obliegt dem Gesetzgeber." 249 Der in der Mitbestimmungsentscheidung zum Ausdruck kommende Versuch des Bundesverfassungsgerichts, seine bisherige Rechtsprechung zu gesetzgeberischen Prognosen und Einschätzungsspielräumen in den drei Kategorien „Evidenzkontrolle", „Vertretbarkeitskontrolle" und „intensivierte inhaltliche Kontrolle" zu systematisieren, sollte zurückhaltend beurteilt werden. 250 Das Gericht setzt in statischer Weise Entscheidungen aus einem Zeitraum von fast 20 Jahren nebeneinander, ohne die augenfällige chronologische Entwicklung von einer anfanglichen umfassenden Inhaltskontrolle legislativer Akte hin zu einer Einräumung gesetzlicher Einschätzungsspielräume deutlich zu machen. Desweiteren hat etwa die Entscheidung zum Grundlagenvertrag weniger das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zum - insoweit nur ratifizierend tätigen — Gesetzgeber, sondern vielmehr sein Verhältnis zur Exekutive, die den Vertrag aushandelte und ihm ihren Stempel aufdrückte, zum Gegenstand. Davon abgesehen ist die (absichtsvolle?) Einordnung dieser Entscheidung unter die Rubrik Evidenzkontrolle kaum nachvollziehbar. Auch andere Einordnungen, wie etwa die der Entscheidung zum Güterkraftverkehrsgesetz 251 (ebenfalls Evidenzkontrolle), sind zweifelhaft, da sie der vom Bundesverfassungsgericht geschaffenen Ordnung nicht gerecht werden: In der Güterkraftverkehrsentscheidung erklärte das Bundesverfassungsgericht die Festsetzung einer Höchstzahl von Kraftfahrzeugen für den allgemeinen Güterfernverkehr 252 für verfassungsgemäß und wies die dagegen gerichteten Verfassungsbeschwerden zurück. Die Entscheidung hinterläßt einen etwas widersprüchlichen Eindruck. In der Kontingentierung lag eine objektive Bedingung für die Berufszulassung. Ein derartiger Eingriff war nach der in der Apothekenentscheidung begründeten Dreistufentheorie zu Art. 12 nur zur Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut zulässig. Das Gericht sah jedoch offenkundig keine Schwierigkeit darin, das Güterkraftverkehrsgesetz diese hohe Hürde nehmen zu lassen, sondern begnügte sich mit der lapidaren Feststellung: „... Daß in der Erhaltung des Bestandes, der Funktionsfahigkeit und der Wirtschaftlichkeit der Deutschen Bundesbahn ein Gemeinschaftsgut von 249
A.a.O., S. 335 f.
250
Darin, daß er die vom Bundesverfassungsgericht vorgeschlagenen Kontrollmaßstäbe zu unkritisch übernimmt, liegt der einzige Mangel von Schneiders bemerkenswerter Analyse. Vgl. NJW 1980, 2103 (2105 f.). 251
BVerfGE 40, 196 (1975), 1. Senat.
252
Nicht jedoch für Fahrzeuge des Möbelfernverkehrs zu Umzugszwecken (sie!).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
197
dieser Bedeutung zu erblicken ist, hat das Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach ausgesprochen (...)." 2 5 3 Nachdem es damit einen gravierenden Angriff auf ein wichtiges Grundrecht mit leichter Hand beiseitegewischt und sich insoweit eines differenzierten gerichtlichen Grundrechtsschutzes begeben hatte, sah sich das Bundesverfassungsgericht auch daran gehindert, die gesetzliche Maßnahme einer anderweitigen stringenten Verfassungskontrolle zu unterziehen. Unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten bemerkte es lediglich, daß die Eignung einer derartigen wirtschaftspolitischen Maßnahme zurückhaltend zu prüfen sei. Das Ergebnis der Prüfung sei, daß keiner der genannten Alternativvorschläge den erstrebten Zweck in gleich wirksamer aber grundrechtsschonenderer Weise würde erfüllen können. 254 Die gesetzgeberische Höchstzahlbegrenzung sei daher nicht zu beanstanden. Neuerdings ist denn auch erkennbar, daß das Bundesverfassungsgericht wohl selbst mit der von ihm zum Problem des Kontrollmaßstabs kreierten „Drei-Stufen-Lehre" 255 nicht ganz glücklich ist. In der im Mai 1993 ergangenen zweiten Entscheidung zu § 218 StGB 256 wird die Mitbestimmungsentscheidung als Leitentscheidung zu Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielräumen zwar zitiert. Jedoch hält sich das Gericht mit einem Aufgreifen und Weiterentwickeln der dort vorgestellten Idee von drei ganz bestimmten Kontrollintensitäten auffallend zurück: „Ob sich hieraus für die verfassungsrechtliche Überprüfung drei voneinander unterscheidbare Kontrollmaßstäbe herleiten lassen (vgl. BVerfGE 50, 290 [333]), bedarf keiner Erörterung; . . . " 2 5 7 Abgesehen von mehr oder weniger gelungenen Systematisierungsversuchen bleibt festzuhalten, daß die grundsätzliche Zuerkennung von Einschätzungsprärogativen bzw. das Einräumen von Prognose-, Gestaltungs- und Wertungsspielräumen zugunsten des Gesetzgebers zu einem festen Bestandteil der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung geworden ist. Die Kontrolldichte selbst läßt sich nicht in klar abgrenzbare, schematische Kategorien einordnen, sondern erfolgt wohl eher auf einem Kontinuum. Maßgeblich für die jeweilige Kontrollintensität ist jedoch, und darin liegt der festhaltenswerte dogmatische Kern der Mitbestimmungsentscheidung, (1) der vom
253 BVerfGE 40, 196 (218). Es dürfte mehr als zweifelhaft sein, ob Bestand, Funktionsfahigkeit und Wirtschaftlichkeit der Bundesbahn tatsächlich ein „überragend wichtiges Gemeinschaftsgut" darstellen. An diesem Beispiel wird überdeutlich, wie sich eine anerkannte Argumentationsfigur wie die Dreistufentheorie zu Art. 12 durch beliebiges Verschieben der Parameter entwerten läßt. 254
BVerfGE 40, 196 (222 f.).
255
Schiaich, Rn. 496.
256
BVerfGE 88, 203 (1993), 2. Senat.
2
A . a . O . , S. 2 .
198
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Gesetzgeber zu regelnde Sachbereich, (2) die Möglichkeit für das' Gericht, sich selbst ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden und (3) die Bedeutung der tangierten Rechtsgüter. 258 Im Anschluß sollen diese drei abstrakten Parameter mit Leben erfüllt werden. dd) Die kontrollrelevanten
Parameter in Aktion
Die Schwierigkeiten einer autonomen gerichtlichen Beurteilung komplexer technischer Zusammenhänge und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Kontrolldichte werden anhand des Kalkar-Beschlusses 259 deutlich. Das Bundesverfassungsgericht wurde durch einen Vörlagebeschluß des OVG Nordrhein-Westfalen unter anderem mit der Frage nach der Verfassungsmäßigkeit einer Norm des Atomgesetzes im Lichte der neuartigen Technologie atomarer Brutreaktoren konfrontiert. Die Verfassungsrichter betonten, im Hinblick auf die erst in Zukunft zu beurteilende Frage, ob der Einsatz der Brutreaktertechnik eher nützlich oder eher schädlich sei, sei seitens der Gerichte Zurückhaltung geboten: „In dieser, notwendigerweise mit Ungewißheit belasteten Situation liegt es zuvorderst in der politischen Verantwortung des Gesetzgebers und der Regierung, im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen die von ihnen für zweckmäßig erachteten Entscheidungen zu treffen. Bei dieser Sachlage ist es nicht Aufgabe der Gerichte, mit ihrer Einschätzung an die Stelle der dazu berufenen politischen Organe zu treten. Denn insoweit ermangelt es rechtlicher Maßstäbe." 260 Da ist er wieder, der vom Gericht proklamierte „lack of judicially discoverable and manageable standards". Er führt jedoch erneut nicht, wie in den Vereinigten Staaten, zur Nichtjustitiabilität der Streitfrage. Vielmehr sieht sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Sachentscheidung insoweit an der Grenze seiner justitiellen Kompetenz angekommen. Gewissermaßen zum Ausgleich erfolgt dann ein Appell an den Gesetzgeber, die umstrittene Technologie weiter zu beobachten und gegebenenfalls zu handeln.261 Schwierige, zumal technisch umstrittene Sachverhalte, über die sich das Gericht - auch nicht mittels Gutachten und anderer Hilfsmittel — kein hinreichend sicheres eigenes Urteil zu bilden vermag, führen also konsequent zu 258 So die ständige Rechtsprechung seit der Mitbestimmungsentscheidung, zuletzt zitiert in BVerfGE 88, 203 (262) (1993) m.w.N. Zum Teil wird vorgeschlagen, auch die Eingriffsintensität als für die Kontrolldichte wesentlichen Parameter hinzuzufügen. Vgl. Hesse, Grenzen, S. 266; Schuppert, Self-restraints, DVB1. 1988, 1191 (1193 f.), und - insofern mit letzterem übereinstimmend - Heun, S. 37. 259
BVerfGE 49, 89 (1978), 2. Senat.
260
A.a.O., S. 131.
261 A.a.O., S. 132. Zur Qualifizierung des „Appellelementes" dieser Entscheidung vgl. unten 4.c).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre B e g r ü n d u n g 1 9 9
einer Zurücknahme der Kontrolldichte, nicht aber zu einer gänzlichen Abdankung von der richterlichen Kontrollfünktion. Problematisch wird diese Haltung, wenn das dritte der oben genannte Kriterien in Gestalt eines überragend wichtigen Rechtsgutes in den Vordergrund tritt. Das Bundesverfassungsgericht gerät dann in die schwierige Lage, trotz eines komplexen, fachlich umstrittenen Problems, das eine zurückhaltende gerichtliche Kontrolle nahelegen würde, dem Grundrechtsschutz als seiner ureigenen Funktion gerecht werden zu müssen. Exemplifizieren läßt sich dieses verfassungsgerichtliche Dilemma anhand der Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe für Mörder. 262 Einerseits lagen dem Gericht einander diametral entgegengesetzte wissenschaftliche Gutachten zur Bewertung des Einflusses langer Haftstrafen auf die Persönlichkeitsstruktur von Gefangenen vor. Andererseits erhob sich die Frage, inwieweit eine lebenslange Haftdauer mit der Würde des Menschen und der in Art. 2 II S 2 GG garantierten Freiheit der Person zu vereinbaren sei. Die beschriebenen Schwierigkeiten klingen in der Entscheidung an: Angesichts der unterschiedlichen gutachterlichen Bewertungen, von denen jede schwerwiegende Gesichtspunkte für sich verbuchen könne, sei für die verfassungsgerichtliche Nachprüfung Zurückhaltung geboten. „Zwar ist dem Bundesverfassungsgericht der Schutz der Grundrechte gegenüber dem Gesetzgeber übertragen. Das Gericht ist daher bei seiner Prüfung nicht an die Rechtsauffassung des Gesetzgebers gebunden. Soweit dabei jedoch Wertungen und tatsächliche Beurteilungen des Gesetzgebers von Bedeutung sind, kann sich das Gericht über sie grundsätzlich nur hinwegsetzen, wenn sie widerlegbar sind. Allerdings erscheint es bedenklich, daß auch dann, wenn schwere Grundrechtseingriffe in Frage stehen, Unklarheiten in der Bewertung von Tatsachen zu Lasten des Grundrechtsträgers gehen sollen." 263 Im Ergebnis hielt das Gericht dennoch die lebenslange Freiheitsstrafe für verfassungsgemäß, machte ihre Verhängung aber von einem die notwendige grundrechtliche Komplementarität herstellenden menschenwürdigen Strafvollzug, der die grundsätzliche Möglichkeit der Wiedererlangung der Freiheit beinhalten müsse, und einer restriktiven Interpretation mehrerer Mordmerkmale abhängig. Trotz eingeschränkter Kontrolldichte gelang es somit dem Bundesverfassungsgericht — vor allem durch die Rechtsfigur der verfassungskonformen Interpretation 264 - grundrechtlich geschützte Interessen zur Geltung zu bringen.
262
BVerfGE 45, 187 (1977), 1. Senat.
263
A.a.O., S. 237 f.
264
Vgl. dazu näher unten 4.d).
200
C. Bundesrepublik Deutschland
Der im Zuge der soeben referierten Entscheidung gewonnene Eindruck, wonach das Hervortreten grundrechtlich geschützter Positionen tendenziell zu einer Intensivierung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle führt, wird durch das folgende Beispiel in drastischer Weise bestätigt: Auch die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum § 218 StGB 265 , mit der die vom Gesetzgeber verabschiedete Fristenlösung zu Fall gebracht wurde, bewegte sich in dem spannungsgeladenen Dreieck, als dessen Eckpunkte erstens ein komplexer Sachverhalt, zweitens die damit für das Gericht verbundene Schwierigkeit, sich ein sicheres eigenes Urteil zu bilden, und drittens die angemessene Berücksichtigung der Grundrechte angesehen werden können. Behielten jedoch in der Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe letztlich die beiden erstgenannten Gesichtspunkte die Oberhand, so war im Fristenlösungsurteil der überragende Wert, den das Bundesverfassungsgericht dem werdenden Leben zusprach, der ausschlaggebende Faktor. Ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Prognoserechtsprechung stellte hier das Gericht die gesetzgeberische Prognose, wonach sich nämlich durch die Fristenlösung die Zahl der Abtreibungen verringern werde, in Frage. 266 Gleichzeitig wurde die objektiv-rechtliche Bedeutung der Grundrechte auf Leben und auf Achtung der Menschenwürde zu einer ungewöhnlich weitreichenden Schutzpflicht ausgeformt, der der Gesetzgeber allein mit dem Mittel des Strafrechts nachkommen könne. Damit stellte das Bundesverfassungsgericht nicht nur eine traditionelle, überwiegend am abwehrrechtlichen Charakter des status negativus orientierte Grundrechtsdogmatik auf den Kopf. Es durchbrach nach Ansicht vieler auch die ihm von der Verfassung und seiner eigenen Entscheidungspraxis gezogenen Grenzen gegenüber dem Gesetzgeber in einer Materie, in welcher eigentlich letzterem ein Einschätzungsspielraum hätte zustehen müssen. In ihrem Sondervotum brachten Richterin Rupp-v. Brünneck und Richter Simon diese Kritik auf folgenden Nenner: „Die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts, Entscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebers zu annullieren, erfordert einen sparsamen Gebrauch, wenn eine Verschiebung der Gewichte zwischen den Verfassungsorganen vermieden werden soll. Das Gebot richterlicher Selbstbeschränkung (judicial self-restraint), das als das ,Lebenselexier 4 der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezeichnet worden ist 267 , gilt vor allem, wenn es sich nicht um die Abwehr von Übergriffen der staatlichen Gewalt handelt, sondern wenn dem vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgeber im Wege der verfassungsgerichtlichen Kontrolle Vorschriften fur die positive Gestaltung der Sozialordnung gemacht werden sollen. Hier darf das Bundesverfassungsgericht nicht der Versuchung erliegen, selbst die Funktion des zu kontrollierenden Organs zu übernehmen, soll nicht 265
BVerfGE 39, 1 (1975), 1. Senat.
266
A.a.O., S. 59 f.
267
Leibholz, VVDStRL 20 (1963), S. 119.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
201
auf lange Sicht die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit gefährdet werden." 268 Im Gegensatz zur langjährigen Rechtsprechung des Gerichts habe die Mehrheit der Richter sich über die Auffassung des Gesetzgebers hinweggesetzt, ohne diese zuvor als „offensichtlich irrig" widerlegt zu haben. 269 Auch ohne daß man auf die mehr schlagwortartige, vom Bundesverfassungsgericht selbst kaum benutzte Argumentationsfigur des judicial self-restraint zurückgreift, stellt das Fristenlösungsurteil eine auffällige Durchbrechung der im Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber entwickelten Grundsätze dar. Es fragt sich, inwieweit diese Entscheidung dahingehend verallgemeinerungsfahig ist, daß das Bundesverfassungsgericht immer dann, wenn einem Grundrecht vom Gesetzgeber die ihm nach Überzeugung des Gerichts gebührende Bedeutung vorenthalten wird, sich auch über tatsächliche oder prognostische Schwierigkeiten hinwegsetzen und eine von Zurückhaltung geprägte Position aufgeben wird. 2 7 0 Immerhin läßt sich in der neueren bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Gleichheitssatz offenbar eine Tendenzwende hin zu einer intensiveren gerichtlichen Kontrolle feststellen. 271 Hauptanwendungsfeld ist dabei der wirtschafts- und finanzpolitische Sektor. Früher beschränkte sich das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes auf eine bloße Willkürkontrolle, zumal im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit.272 Der Gesetzgeber hatte weitgehende Gestaltungsfreiheit. Er brauchte demnach im konkreten Fall nicht die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen, vielmehr genügte es, wenn sich für eine Differenzierung „irgendein sachlich vertretbarer, zureichender Grund" anführen ließ. 273 Ein erstes Indiz für die Eingrenzung der weiten Spielräume war die Einführung einer strengeren Gleichheitsformel. 274 In der neueren Rechtsprechung begann das Bundesverfassungsgericht zunächst einen höheren argumentativen
26K
BVerfGE 39, 1 (69 f.).
269
A.a.O., S. 78.
270 Für einen Versuch, zwischen gesetzgeberischem Gestaltungsspielraum und objektivrechtlicher Bedeutung von Grundrechten eine angemessene Balance in der richterlichen Kontrolldichte zu finden, vgl. BVerfGE 76, 1 (51 f.) (1987), 2. Senat - Nachzug von ausländischen Familienangehörigen in die Bundesrepublik. 271
Vgl. v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 122 f.
272
Vgl. nur BVerfGE 49, 280 (283) - Zeugenentschädigung: „Der Gesetzgeber besitzt im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit größere Gestaltungsfreiheit als innerhalb der Eingriffsverwaltung ...". 273
Vgl. etwa BVerfGE 33, 41 (51) - Unterhaltszuschuß für Beamte auf Widerruf.
274
Vgl. BVerfGE 55, 72 (88) - Verfassungsmäßigkeit von § 528 III ZPO.
202
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Aufwand zu treiben 275 , ohne allerdings in seinen materiellen Anforderungen erkennbar über das Erfordernis eines vernünftigen, einleuchtenden Grundes 276 bzw. eines sachlich einleuchtenden Grundes 277 für die gesetzliche Differenzierung hinauszugehen. Die folgenden Beispiele deuten jedoch einen Trend zu einer strengeren inhaltlichen Gleichheitskontrolle gesetzgeberischer Akte an: 1986 erklärte das Bundesverfassungsgericht den § 118a Abs. 1 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) insoweit für verfassungswidrig und nichtig, als er Studenten vom Bezug des Arbeitslosengeldes generell ausschloß.278 Die Gerichtsmehrheit verwarf dabei die zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung angeführten Gründe, obwohl diese einen stark prognostischen Charakter hatten. Eine dogmatische Rückbindung fand nicht statt, obwohl das Gericht einen möglichen Weg dahin aufgezeigt hatte. Es hatte nämlich bezüglich des Kontrollmaßstabs die bekannten Formeln insofern modifiziert, als es dem Gesetzgeber dort nur einen eingeschränkteren gesetzgeberischen Spielraum einräumen wollte, wo durch die zu überprüfende Regelung neben dem Gleichheitsrecht auch andere Grundrechte tangiert würden. Statt diesen Ansatz in casu aufzugreifen, mögliche Friktionen der umstrittenen Norm des AFG mit Art. 12 oder Art. 14 GG zu ermitteln und so — dogmatisch relativ problemlos — die Kassation der Vorschrift zu rechtfertigen, stützte sich die Mehrheit allein auf den von ihr diagnostizierten Verstoß gegen Art. 3 I GG. Es blieb dem Sondervotum des Richters Katzenstein279 vorbehalten, mit Hilfe des alternativen Prüfungsweges über Art. 14 GG zu einem wohl systemgerechteren Ergebnis zu gelangen. Die Nichtigerklärung der Norm nach Art. 3 I GG, so Katzenstein, bewirke eine erhebliche Einschränkung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers für die Zukunft, die verfassungsrechtlich nicht geboten sei. Das Gericht habe durch die neuere Rechtsprechung zum Gleichheitssatz seine Kontrolle bereits von einer Willkürkontrolle zu einer Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausgedehnt. „Der darin liegenden erhöhten Kontrolldichte korrespondiert eine Einschränkung der vom Bundesverfassungsgericht ständig betonten Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers (...). ... Die Auffassung der Mehrheit beschränkt die Gestaltungsfreiheit aber mehr als geboten. Der vorliegend betroffene Bereich der vornehmlich durch Gesetze vollzogenen Sozialpolitik ist gegenüber Einschränkungen der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers empfindlich; die sich im Bereich der Sozialpolitik ständig wandelnden Verhältnisse erfordern es, dem einfachen Gesetzgeber möglichst viel Freiheit zu belassen (vgl. BVerfGE 39, 302 (315)). So hat das Bundesverfassungsgericht stets darauf zu achten, daß seine Rechtsprechung 275
Vgl. z.B. BVerfGE 71, 39 (58 f.) - Besoldungsrecht.
276
A.a.O., S. 58.
277
BVerfGE 75, 108 (157) - Künstlersozialversicherung.
278
BVerfGE 74, 9 (1986), 1. Senat.
279
A.a.O., S. 28 ff.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre B e g r ü n d u n g 2 0 3
dem Gesetzgeber die Anpassung des Rechts an die Veränderungen der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht unzumutbar erschwert (...)." 2 8 ° In den beiden 1990 ergangenen Entscheidungen zur steuerlichen Behandlung von Kindergeld 281 und Kinderfreibeträgen 282 trug dann das Bundesverfassungsgericht der in der eben zitierten Entscheidung zum Ausdruck gekommenen, auf eine kumulative Beeinträchtigung von Grundrechten gestützten intensivierten Kontrolldichte Rechnung. In der Kindergeldentscheidung stellte es fest, daß § 10 I I Bundeskindergeldgesetz (BKGG) mehrere Jahre nicht mit Art. 3 I, 6 I GG vereinbar gewesen sei. Die Bundesverfassungsrichter betonten zwar einerseits die Gestaltungsfreiheit, die dem Gesetzgeber bei der Entscheidung darüber zustehe, auf welche Weise er die aus Art. 6 I GG resultierende Pflicht des Staates, Ehe und Familie zu fördern und zu schützen, verwirklichen wolle. Auch müsse sich das Gericht bei der Nachprüfung, ob das nach § 10 Abs. 2 BKGG gekürzte Kindergeld hinsichtlich seiner steuerlichen Entlastungsfunktion den verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen gerecht werde, auf eine „Evidenzkontrolle" 283 beschränken. Dennoch gelangte das Gericht durch detailliertes Nachvollziehen von Steuersätzen und Vergleichsrechnungen zu der zeitweiligen Verfassungswidrigkeit der Norm, so daß von einer bloßen Evidenzkontrolle wohl kaum gesprochen werden kann. Entsprechendes gilt für die Kinderfreibetragsentscheidung, in der das Bundesverfassungsgericht unter weitgehender Verweisung auf die Kindergeldentscheidung eine Norm des Einkommensteuergesetzes für mit Art. 3 I in Verbindung mit Art. 6 I GG fur unvereinbar erklärte. Besonders tief stieß das Bundesverfassungsgericht in seiner im darauffolgenden Jahr ergangenen Entscheidung zur Besteuerung von Zinseinkünften 284 in die Sphäre des Gesetzgebers vor. Ein Ehepaar hatte sich, nachdem es in letzter finanzgerichtlicher Instanz unterlegen war, mit Verfassungsbeschwerden gegen die seiner Ansicht nach gleichheitswidrige Besteuerung von Kapitaleinkünften gewandt. Der verfassungsrechtliche Vorwurf zielte im Kern weniger auf die einschlägige steuerrechtliche Norm des § 20 Abs. 1 Nr. 8 EStG 1979, als vielmehr auf die nach Ansicht der Beschwerdeführer eklatant unvollständige und ungleichmäßige Ermittlungs- und Erhebungspraxis der Finanzverwaltung. Das Bundesverfassungsgericht wies die Verfassungsbeschwerden zurück, da die Beschwerdeführer durch die - eingestandenermaßen bestehende - Un280
A.a.O., S. 30.
281
BVerfGE 82, 60 (1990), 1. Senat - Kindergeld.
282
BVerfGE 82, 198 (1990), 1. Senat - Kinderfreibetrag.
283
BVerfGE 82, 60 (91).
284
BVerfGE 84, 239 (1991), 2. Senat.
204
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gleichheit „gegenwärtig noch nicht in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt" seien.285 Im gleichen Atemzug nahm es allerdings den Fall zum Anlaß, dem Gesetzgeber den inhaltlich genau bestimmten Auftrag zum Erlaß praktisch wirksamer Vorschriften über die Besteuerung von Zinseinnahmen zu erteilen 286 : Der Gleichheitssatz des Art. 3 I GG sei bereichsspezifisch anzuwenden. Er verlange für das Steuerrecht, daß die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich zu belasten seien.287 Der Gesetzgeber habe zwar bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden Entscheidungsspielraum. „Bei der Ausgestaltung dieses Ausgangstatbestandes hat er die einmal getroffene Belastungsentscheidung dann aber folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umzusetzen."288 Das materielle Steuergesetz müsse in ein normatives Umfeld eingebettet sein, das die Gleichheit der Belastung auch hinsichtlich des tatsächlichen Erfolges prinzipiell gewährleiste. Die steuerliche Lastengleichheit fordere, daß das materielle Steuergesetz die Gewähr seiner regelmäßigen Durchsetzbarkeit so weit wie möglich in sich selbst trage. 289 Zwar führten Vollzugsmängel allein noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der materiellen Norm. Wenn sich jedoch dem Gesetzgeber die Erkenntnis habe aufdrängen müssen, daß für die in Frage stehende Steuer hinsichtlich Erhebungsart und Ausgestaltung des Erhebungsverfahrens das von Verfassungs wegen vorgegebene Ziel der Gleichheit im Belastungserfolg prinzipiell nicht zu erreichen sei, könne eine Zurechnung eines derartig vorprogrammierten Vollzugsdefizits an den Gesetzgeber erfolgen und daher die an sich akzeptable Gesetzesnorm als verfassungswidrig anzusehen sein. 290 Ob dies auch im vorliegenden Fall so gewesen sei, könne offenbleiben, da selbst im Bejahensfalle die bestehende Rechtslage — ob verfassungswidrig oder nicht — für eine Übergangszeit noch hingenommen werden müsse.291 Da andererseits die Gleichheitswidrigkeit jetzt jedoch offensichtlich geworden sei, müsse der Gesetzgeber bis spätestens zum 1. Januar 1993 für eine auch in ihrem Vollzug den Gleichheitsanforderungen genügende Besteuerung von Kapitaleinkünften sorgen. 292
285
A.a.O., S. 268.
286
Vgl. v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 122.
287
BVerfGE 84, 239 (268).
288
A.a.O., S. 271.
289
A.a.O., S. 271.
290
A.a.O., S. 272.
291
A.a.O., S. 275.
292
A.a.O., S. 284 f., was dieser dann auch fristgemäß tat.
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d) Erweiterung der kontrollrelevanten Parameter Die vom Bundesverfassungsgericht seit der Mitbestimmungsentscheidung für das Problem der Kontrolldichte gegenüber gesetzgeberischen Akten als maßgeblich anzusehende Kriterien-Trias kann wohl auch bei anderen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen fruchtbar gemacht werden. Allerdings bedarf sie zu ihrer Abrundung der Erweiterung um zwei Gesichtspunkte: erstens des der Verfahrensart, wobei die Verfassungsbeschwerde besonders zu berücksichtigen ist, und zweitens des der Funktionsart des geltend gemachten Grundrechts im Hinblick auf die objektiv-rechtliche Funktion von Grundrechten. Die vor dem Bundesverfassungsgericht eingeschlagene Verfahrensart kann sich, zumindest beim Zusammentreffen mit einer die Kontrolldichte reduzierenden Fallgruppe, auf die Intensität der gerichtlichen Kontrolle, ja sogar bereits auf die Frage der Zulässigkeit als vorgelagerter Ebene auswirken. Erkennbar wurde dies anhand der Ostverträgeentscheidung, in der Verfassungsbeschwerden, die sich gegen die mit der UdSSR und Polen geschlossenen Verträge richteten, bereits auf der Zulässigkeitsebene scheiterten. 293 Zwei Jahre zuvor war der Normenkontrollantrag des Freistaats Bayern gegen den Grundlagenvertrag ausführlich auf seine Begründetheit geprüft worden und hatte dank der weitreichenden verfassungskonformen Interpretation des Vertragswerks sogar einen — faktischen - Teilerfolg errungen. 294 Auch die Verfassungsbeschwerde von Rudolf Heß war immerhin teilweise zulässig, scheiterte dann aber an der durch das weite außenpolitische Ermessen der Bundesregierung bedingten verfassungsgerichtlichen Zurückhaltung. 295 Beachtenswert ist freilich, daß sowohl in der Ostverträgeentscheidung wie auch im Fall Heß die Verfassungsbeschwerden darauf abzielten, die Exekutive im Gerichtswege zur Vornahme bestimmter Handlungen, nämlich der Aufnahme bestimmter sachlicher Regelungen in die Ostverträge bzw. der Vornahme diplomatischer Demarchen zugunsten des Gefangenen zu verpflichten. Für das Verhältnis zur Legislative hatte das Bundesverfassungsgericht bereits 293 Vgl. BVerfGE 40, 141. Vordergründig fehlte es nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts am Erfordernis des unmittelbaren Betroffenseins der Beschwerdeführer (a.a.O., S. 156). Entscheidender dürften jedoch letztendlich das Verständnis von der subjektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde und Erwägungen der Staatsraison gewesen sein: „So weit kann die Abwehrfunktion der Verfassungsbeschwerde nicht gehen; die Interessen eines Einzelnen oder einer Gruppe würden dem politischen Gesamtinteresse des Staates, das die Bundesregierung zu wahren hat, in unangemessener Weise vorgeordnet, wenn die Verfassungsbeschwerde dazu benutzt werden könnte, statt effektive Beeinträchtigungen grundrechtlicher Positionen Einzelner zu beseitigen, erwünschte Verbesserungen dieser Positionen zu erzwingen" (a.a.O., S. 178). 294
BVerfGE 36, 1.
295
BVerfGE 55, 349.
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im ersten Jahr seiner Tätigkeit entschieden: „Der einzelne Staatsbürger hat grundsätzlich keinen mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbaren Anspruch auf ein Handeln des Gesetzgebers." 296 Heutzutage, im Zeitalter eines vollends entfalteten objektiv-rechtlichen Charakters der Grundrechte 297, werden Verfassungsbeschwerden, die auf ein bestimmtes staatliches Tätigwerden gerichtet sind, im allgemeinen auf eine Schutzpflicht des Staates als Ausdruck eben dieses objektiv-rechtlichen Charakters gestützt. Doch auch dann stößt der Antragsteller an vom Bundesverfassungsgericht gegenüber seinem Begehren gezogene Grenzen. Die Funktionsart des geltend gemachten Grundrechts beeinflußt die gerichtliche Kontrolldichte hin zu einer Lockerung, ein Phänomen, das auch vom Bundesverfassungsgericht selbst gesehen wird. Dies wird etwa anhand der C-WaffenEntscheidung298 deutlich. Eine Reihe von Bürgern hatte sich gegen die Lagerung chemischer Waffen auf dem Gebiet der Bundesrepublik gewandt und Bundesregierung und Bundestag eine Verletzung von Art. 2 II GG vorgeworfen. Das Bundesverfassungsgericht verwarf die Beschwerden teilweise als unzulässig, teils wies es sie als unbegründet zurück. Von besonderem Belang waren seine Aussagen zur eingeschränkten Kontrollintensität bei auf Schutzpflichten gestützten Verfassungsbeschwerden: „Dem Gesetzgeber wie der vollziehenden Gewalt kommt bei der Erfüllung dieser Schutzpflichten [aus Art. 2 II 1 GG, C.R.] ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu, ... Diese weite Gestaltungsfreiheit kann von den Gerichten je nach Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden und der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter nur in begrenztem Umfang überprüft werden [Verweis auf die Mitbestimmungsentscheidung]. ... Nur unter ganz besonderen Umständen kann sich diese Gestaltungsfreiheit in der Weise verengen, daß allein durch eine bestimmte Maßnahme der Schutzpflicht Genüge getan werden kann." 299 Mit ähnlicher Argumentation und unter Verweis auf diese Entscheidung wies der Nachbarsenat im darauffolgenden Jahr eine gegen einen Bebauungsplan gerichtete Verfassungsbeschwerde zurück und unterstrich die begrenzte Nachprüfbarkeit von Entscheidungen von Legislative und Exekutive über die Ausgestaltung staatlicher Schutzpflichten. 300
296 BVerfGE 1, 97 (1951), Leitsatz 1. Entsprechendes dürfte für das Verhältnis BürgerRegierung (im engeren Sinne des Begriffs) gelten. 297
Vgl. oben l.b).
298
BVerfGE 77, 170 (1987), 2. Senat.
299
A.a.O. S. 214 f.
300
BVerfGE 79, 174 (201 f.) (1988), 1. Senat.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
207
e) Der Begrenzungstopos der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts 301 Aus der Zwitterstellung des Bundesverfassungsgerichts, das zugleich ein oberstes Verfassungsorgan und ein Gerichtshof ist 302 , ergeben sich fur den Umfang der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolldichte besondere funktionelle Probleme, die bei Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungen von Fachgerichten deutlich hervortreten. 303 Da die Freiheitsgrundrechte, wie das Bundesverfassungsgericht seit der Elfes-Entscheidung 304 in ständiger Rechtsprechung betont, den Bürger vor allen rechtswidrigen, in seine Freiheitssphäre eingreifenden belastenden Hoheitsakten schützen, stellt jede fehlerhafte gerichtliche Entscheidung strenggenommen zugleich eine Grundrechtsverletzung dar. Dabei kommt es weder darauf an, ob die Entscheidung auf einem verfahrensrechtlichen oder einem materiellrechtlichen Fehler beruht, noch ob das Fachgericht bei der Sachverhaltsermittlung oder bei der Rechtsanwendung geirrt hat. 305 Das Bundesverfassungsgericht müßte demzufolge, wenn es seinen Auftrag zum Schutz der so verstandenen Grundrechte ganz eng interpretierte, die angegriffene Entscheidung in vollem Umfang auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen; es würde zu einer Superberufüngs-, oder zumindest zu einer Superrevisionsinstanz. Die Folge wäre ein weiteres Anschwellen der Flut von Verfassungsbeschwerden, gepaart mit der Gefahr einer „Aushöhlung der Rechtskraft" der Entscheidungen von Fachgerichten, die ihrerseits dadurch abgewertet würden. 306 Das Bundesverfassungsgericht war sich dieses Dilemmas offenbar schon früh bewußt, wie etwa eine Passage aus eben jenem Elfes-Urteil zeigt, das durch die höchstrichterliche Bestätigung der ausufernden Interpretation des Schutzbereichs von Art. 2 I GG einen Grundstein für die skizzierte Kontrollproblematik bildete: „Das Bundesverfassungsgericht hat des öfteren ausge301 Vgl. dazu Schiaich, Rn. 271 ff. m.w.N.; Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 27 ff.; Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 528 f., 586 ff; Herzog, Das Bundesverfassungsgericht und die Anwendung einfachen Gesetzesrechts, S. 431 ff.; Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 129 ff; ausführlich Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht und einfaches Recht; dazu Schuppert, Nachprüfung, AöR 103 (1973), S. 43 ff.; Scherzberg, Grundrechtsschutz und „Eingriffsintensität"; umfassend und mit ganz eigenem Lösungsansatz M. Bender, Die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zur Prüfung gerichtlicher Entscheidungen. 302
Vgl. oben 1.1.
303
Häufig ist in diesem Zusammenhang - etwas vergröbernd und inkorrekt - von sog. Urteilsverfassungsbeschwerden die Rede. 304
BVerfGE 6, 32 (40 ff.).
305
Zum Problemaufriß vgl. Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 27; Vgl. auch Pieroth/Schlink, Rn. 1281 ff., die die Problematik an Art. 20 III GG (Vorrang des Gesetzes) anknüpfen. 306
Vgl. Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 57.
208
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sprochen, daß es auf Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen diese nicht in vollem Umfang nachprüft, sondern nur unter dem Gesichtspunkt, ob spezifisches Verfassungsrecht verletzt ist." 3 0 7 Damit ist der vom Gericht gewählte Topos zur Lösung des Problems umschrieben: Mit der Einschränkung des verfassungsgerichtlichen Prüfungsumfangs auf die Verletzung sogenannten spezifischen Verfassungsrechts 308 will das Bundesverfassungsgericht deutlich machen, daß es gerade kein Superrevisionsgericht ist und daß es sich bei der Verfassungsbeschwerde um kein zusätzliches Rechtsmittel, sondern vielmehr um einen außerordentlichen, grundrechtsorientierten Rechtsbehelf handelt. Wann liegt nun eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts vor? 1964 hat das Bundesverfassungsgericht in einer Leitentscheidung309 versucht, den von ihm postulierten Grenzen seiner Überprüfungskompetenz bei Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsentscheidungen Konturen zu verleihen. Danach soll die Verfahrensgestaltung, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes sowie die Auslegung und Anwendung des „einfachen Rechts" grundsätzlich Sache der Fachgerichte und damit der bundesverfassungsgerichtlichen Nachprüfung entzogen sein; „nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen (...)." 3 , ° Dieser zur ständigen Rechtsprechung gewordene Konkretisierungsversuch wird heute zusammenfassend allgemein dahin verstanden, daß das Bundesverfassungsgericht erst dort kontrollierend eingreift, wo das Fachgericht ein Grundrecht entweder ganz übersehen hat oder zumindest dessen Bedeutung, insbesondere den Umfang seines Schutzbereichs grundlegend falsch eingeschätzt hat. Des weiteren werden solche Entscheidungen überprüft, in denen die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschritten wurden und schließlich auch solche, bei denen sich dem Bundesverfassungsgericht der Schluß aufdrängt, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruhen und daher willkürlich sind. 311 Ist zumindest eines der genannten Kriterien nach Überzeugung des Bundesverfassungsgerichts erfüllt, wird dies gemäß § 95 II BVerfGG regelmäßig zur Aufhebung und Zurückverweisung der angegriffenen Entscheidung führen. Ein bestimmter, einheitlicher Prüfüngsmaßstab ist dabei nicht erkennbar. Vielmehr macht das Bundesverfassungsgericht selbst deutlich, daß die Kon307
BVerfGE 6, 32 (43).
308
Man müßte wohl besser von der „spezifischen Verletzung von Verfassungsrecht, insbesondere von Grundrechten" sprechen. Zur zumindest mißverständlichen, aber nach wie vor weitverbreiteten Terminologie vgl. Schiaich, Rn. 273. 309
BVerfGE 18, 85 (92 f.) - Patent-Beschluß.
3,0
A.a.O.
311
Vgl. im einzelnen Schiaich, Rn. 283 ff. mit zahlreichen Beispielsfallen.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre B e g r ü n d u n g 2 0 9
trolldichte parallel zur Intensität des durch die Entscheidung hervorgerufenen Grundrechtseingriffs zunimmt 312 und somit ein flexibler Prüfungsmaßstab zur Anwendung kommt. Demnach findet insbesondere bei strafgerichtlichen Verurteilungen, desweiteren bei Entscheidungen - auch von Zivilgerichten - , die besonders nachhaltig in das Grundrecht der Meinungsfreiheit nach Art. 5 I GG eingreifen, und schließlich bei möglichen Verletzungen des rechtlichen Gehörs nach Art. 103 I GG eine intensive verfassungsgerichtliche Nachprüfung statt. Sie wird vom Bundesverfassungsgericht als vollumfangliche Nachprüfung verstanden und kann sich „auch im einzelnen" auf die Überprüfung „der Feststellung und Würdigung des Tatbestandes sowie der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts" erstrecken. 313 Die Vielzahl und die Gewichtung der vom Bundesverfassungsgericht verwendeten Prüfkriterien machen es außerordentlich schwer, dem Begrenzungstopos des Verstoßes gegen spezifisches Verfassungsrecht klare Konturen zu verleihen. In der verfassungsrechtlichen Literatur wird dies mit sehr unterschiedlichen Ideen und Modellen versucht. 314 Es ist jedoch nicht erkennbar, daß sich das Bundesverfassungsgericht insoweit festlegen lassen will. Vielmehr hat es von Anfang an selbst für eine besonders flexible Handhabung seines Prüfungsumfangs Sorge getragen: „Freilich sind die Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts nicht immer allgemein klar abzustecken; dem richterlichen Ermessen muß ein gewisser Spielraum bleiben, der die Berücksichtigung der besonderen Lage des Einzelfalls ermöglicht." 315 Damit risiert das Gericht zwar, wie Schenke316 zu Recht vermerkt, die Erosion, ja „die Aufgabe der Formel von der spezifischen Verfassungsrechtsverletzung'". Jedoch ist zu bedenken, daß diese Formel eine Eigenschöpfüng des Bundesverfassungsgerichts ist. Sie liegt ihm somit nicht voraus und hat sich — auch mangels eines entsprechenden Konsenses in der verfassungsrechtlichen Literatur - nicht so weit verselbständigt, als daß das Bundesverfassungsgericht sie nicht mühelos von Fall zu Fall seinen Notwendigkeiten hätte anpassen können. Mit der Öffnung und Erweiterung des Art. 2 I GG zum Auffanggrundrecht hat das Bundesverfassungsgericht auch seine Kontrollkompetenzen erweitert 317 ; materiellrechtlich gab es nun „vor einem Abrutschen in eine Superre3.2
A.a.O., Rn. 298 ff. Zur Intensitätsrelation BVerfGE 42, 143 (147 ff.); 66, 116 (131).
3.3
Vgl. BVerfGE 43, 130 (136); 82, 43 (50 f.).
3.4
Vgl. hierzu den Überblick bei Schiaich, Rn. 301 ff.
3.5
BVerfGE 18, 85 (93). Schiaich, Rn. 297, bemerkt treffend, „... daß sich das Bundesverfassungsgericht ... die Möglichkeit, einzugreifen oder dies zu unterlassen, offenhalten will." 316
Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 54.
317
Und damit eine Kompetenz-Kompetenz in Anspruch genommen; sehr kritisch hierzu Schenke, a.a.O., S. 54 f. 14 Rau
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vision keinen sicheren Halt mehr". 318 Damit stellt sich der vom höchsten deutschen Gericht gegenüber Verfassungsbeschwerden gegen fachgerichtliche Entscheidungen entwickelte Topos der Einschränkung des verfassungsgerichtlichen Prüfungsumfangs auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts als funktionell-rechtlich begründetes Instrument zur Aufgabenverteilung zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit dar 319 , der vom Bundesverfassungsgericht flexibel gehandhabt wird, um fachgerichtliche Defizite im Grundrechtsbereich auszugleichen. Wegen der besonderen Stellung des Bundesverfassungsgerichts als (Auch-)Verfassungsorgan ist er eine deutsche Besonderheit, für die es in der Rechtsprechung des Supreme Court, der formal ein reines Rechtsmittelgericht ist, keine Entsprechung gibt.
f) Zusammenfassung Bei einer Zusammenschau der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Rechtsprechung zu den Modi richterlicher Kontrolldichte fallt ins Auge, daß sie vieles von dem im Vergleich zum U.S. Supreme Court im Bereich von Annahmeverfahren und Zulässigkeitsbedingungen oben diagnostizierten Begrenzungsdefizit wettmacht. Zwar muß das Bundesverfassungsgericht auf jeden zulässigen Antrag, mit dem es konfrontiert wird, in der Sache eingehen. Dies erfordert einen erheblichen zeitlichen und insbesondere argumentativen Aufwand. Jedoch hat das Gericht die darin andererseits auch liegende Chance genutzt, um in differenzierter Weise die Grenzen seiner verfassungskontrollierenden Funktion zu bestimmen. Der Bereich der auswärtigen Angelegenheiten war von Anfang an von einer niedrigen Kontrolldichte geprägt. Außen- und verteidigungspolitisches Handeln, sei es tatsächlicher Natur oder in Gestalt von Verträgen, ist von der — insoweit vorrangig zuständigen — Exekutive weitgehend in eigener Verantwortung zu entscheiden und lediglich politisch zu verantworten. Die Kontrollfunktion des Bundesverfassungsgerichts beschränkt sich insoweit, trotz etwas uneinheitlicher Terminologie, in der Sache auf eine Evidenz- bzw. Willkürkontrolle, die sich an den in Art. 79 III GG niedergelegten unverzichtbaren Grundprinzipien der Verfassung orientiert. Ähnliches gilt für exekutivisch geprägte Binnenentscheidungen. Über die von der Verfassung zugewiesenen Entscheidungsspielräume hinaus erstreckt sich ein Raum, der dort nur eingeschränkt justitiabel ist, wo ein Mangel an verfassungsrechtlichen Maßstäben herrscht. 318 319
Dieses anschauliche Bild stammt von Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 137.
Dieser funktionell-rechtliche Aspekt wird besonders in BVerfGE 22, 93 (98) angesprochen.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre B e g r ü n d u n g 2 1 1
Kennzeichnend für das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber ist eine Entwicklung in der Rechtsprechung, die zu einer — inwischen in ständiger Praxis gefestigten - grundsätzlichen Anerkennung von Prognose-, Einschätzungs- und Entscheidungsspielräumen, insbesondere im Bereich der wirtschaftslenkenden Gesetzgebung, führte. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Mitbestimmungsentscheidung, der wir drei wichtige Parameter, die für die Festlegung der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte von Bedeutung sind, verdanken. Demnach richtet diese sich nach der Eigenart des Sachbereichs, der gerichtlichen Möglichkeit zur Bildung eines hinreichend sicheren eigenen (fachlichen) Urteils und insbesondere nach der Bedeutung der in casu relevanten grundrechtlichen Rechtsgüter. Der Versuch der Einteilung der Kontrolldichte in drei feste Stufen und die Zuordnung anderer Entscheidungen zu einer bestimmten Stufe ist demgegenüber weniger überzeugend ausgefallen. Bei der Überprüfung der drei kontrollrelevanten Parameter auf ihre individuelle wie auch auf ihre Bedeutung im Zusammentreffen zeigt sich, daß das Vorliegen komplexer Sachbereiche und die daraus meist resultierende Schwierigkeit des Gerichts, zu einem autonomen fachlichen Urteil zu kommen, tendenziell zu einer Absenkung der Kontrollintensität führt. Dies gilt jedoch dort nicht, wo wesentliche Grundrechte tangiert werden. Als derartige Grundrechte können traditionell die Menschenwürde und das Recht auf Leben gelten. Neuerdings ist jedoch auch bei intensiveren Eingriffen in den Schutzbereich von Gleichheitsrechten eine Intensivierung der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle erkennbar, ein Trend, der sich angesichts des Spannungsverhältnisses zwischen sozialstaatlicher Verpflichtung einerseits und wachsender Verteilungskämpfe um knappe staatliche Leistungen andererseits noch verstärken dürfte. Neben dieser Parameter-Trias sind für die Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte Verfahrensart und - oft damit in Zusammenhang stehend Funktionsart des ins Felde geführten Grundrechts maßgeblich. Verfassungsbeschwerden führen im Zweifel gegenüber anderen Verfahrensarten jedenfalls dann zu einer verminderten Kontrolldichte, und damit zu einem verminderten Grundrechtsschutz, wenn man ihre Funktion überwiegend subjektiv interpretiert. 320 Noch stärker wirkt sich diese verfahrensimmanente Schwäche aus, wenn sich die Verfassungsbeschwerde auf ein Grundrecht in seiner objektivrechtlichen Funktion stützt, namentlich wenn unter Berufung auf eine Schutzpflicht des Staates von diesem ein bestimmtes Tätigwerden verlangt wird. In
320 Angesichts der Verstärkung der Wirkung von Grundrechten im Wege der Entfaltung ihrer objektiv-rechtlichen Funktion erscheint es konsequent, auch dem eigens zum Grundrechtsschutz dienenden Verfahren, der Verfassungsbeschwerde, eine auch objektive Funktion beizumessen.
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diesen Fällen tritt zu der durch komplexe Sachverhalte und Schwierigkeiten der Urteilsbildung ohnehin gelockerten Kontrollintensität ein weiterer Faktor hinzu, der justitiabilitätsbegrenzend wirkt. Die fur die eingeschränkte Verfassungskontrolle vom Bundesverfassungsgericht im einzelnen herangezogenen Begründungsansätze sind unterschiedlich. Es fallt auf, daß das Gericht in jeder der untersuchten Fallgruppen auch Argumente fruchtbar macht, die sich - zum Teil praktisch wortidentisch - in der 1962 ergangenen amerikanischen Leitentscheidung zur political question doctrine, Baker v. Carr, finden. Ob es sich um das vor allem für das Auftreten staatlicher Gewalten nach außen wesentliche Sprechen mit einer Stimme handelt 321 , ob der Verfassungstext mehr oder weniger eindeutig die Entscheidungskompetenz oder einen entsprechenden Entscheidungsspielraum an eine andere als die Gerichtsgewalt verwiesen hat 322 oder ob es an einem verfassungsrechtlichen Maßstab zur gerichtlichen Lösung des Problems fehlt 323 , überall argumentiert das Bundesverfassungsgericht — wohl unbewußt — mit „amerikanischen" Begründungsfiguren. Der Idee des judicial self-restraint hingegen, deren Herkunft aus dem amerikanischen Rechtskreis bekannt ist und gelegentlich besonders betont wird, widmete das oberste deutsche Gericht lediglich einen etwas halbherzigen und inhaltlich überdies nicht zutreffenden Übernahme- und Konkretisierungsversuch. 324 Keine Verbindungslinien ergeben sich bei der Rechtsfigur der Beschränkung der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrollkompetenz auf Verstöße gegen spezifisches Verfassungsrecht. Sie wurde vom Bundesverfassungsgericht als Korrelat zu seiner verfassungsorganschaftlichen Stellung und zu dem von ihm propagierten weiten Grundrechtsverständnis entwickelt und ist ein „spezifisch" deutsches Beispiel für eine gänzlich selbst entwickelte Grenze der Rechtsprechungskompetenz.
321
Vgl. BVerfGE 55, 349 (368) - Heß, wo sich Baker-Kriterium Nr. 6 wiederfindet.
322
Vgl. BVerfGE 62, 1 ( 5 1 ) - Bundestagsauflösung, eine Begründung, die Baker-Ksiteùum Nr. 1 widerspiegelt. 323
Vgl. BVerfGE, a.a.O. - Bundestagsauflösung, Ε 49, 89 (131) - Kalkar, wo BakerKriterium Nr. 2 zum Einsatz kommt. 324
BVerfGE 36, 1 (14 f.) - Grundlagenvertrag. Vgl. oben 3.a).aa).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
213
4. Grenzen in der Entscheidungsform die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten verschiedenen Rechtsfolgeanordnungen 325 Im vorangegangenen Abschnitt standen die durch den Prüfungsmodus errichteten Grenzen der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung im Mittelpunkt der Betrachtung. Es wurde deutlich, wie sich das Gericht bei der Kontrolle von Akten öffentlicher Gewalt durch Reduzierung seiner Kontrolldichte Grenzen zog. Im folgenden soll analysiert werden, inwieweit das Bundesverfassungsgericht durch die von ihm entwickelte ausdifferenzierte Formenvielfalt bei den Entscheidungsaussprüchen in Normenkontrollverfahren 326 seine Rechtsmacht eingrenzt. Leitmotiv für die Abstufung in der Tenorierung ist dabei regelmäßig die Schonung des Gesetzgebers. a) Die Nichtigerklärung Ausgangspunkt der Betrachtung ist der gesetzliche Regelfall einer negativ verlaufenen Normenkontrolle, das heißt die Nichtigerklärung bzw. Teilnichtigerklärung eines Gesetzes. Gelangt das Bundesverfassungsgericht zu der Überzeugung, daß ein von ihm zu überprüfendes Gesetz ganz oder in Teilen gegen das Grundgesetz verstößt, so erklärt es das Gesetz insoweit für „mit dem Grundgesetz unvereinbar und daher nichtig". 327 Die Nichtigkeit der Norm ist nach traditioneller deutscher Auffassung eine rückwirkende (extunc-Wirkung) und tritt ipso iure, also ohne einen weiteren gestaltenden Akt ein. 328 b) Die Unvereinbarerklärung Daneben hat das Bundesverfassungsgericht in freier Rechtsschöpfung das Rechtsinstitut der Unvereinbarerklärung 329 geschaffen. In dieser Variante des Entscheidungsausspruchs wird das angegriffene Gesetz für unvereinbar mit der Verfassung, also für verfassungswidrig erklärt, nicht jedoch für nichtig. Die inkriminierte Norm ist dann in der Regel bis zur gesetzlichen Neuregelung nicht anwendbar.
325 Vgl. dazu ausführlich Schiaich, Rn. 335 ff.; Lee, V. Abschnitt, S. 293 ff.; K. Vogel, S. 214 ff. 326
Zu Entscheidungsaussprüchen in anderen Verfahren vgl. Schiaich, Rn. 335-342.
327
Zitiert nach Schiaich, Rn. 344.
328
Schiaich, a.a.O.
329
Eingehend dazu Hein, Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze durch das Bundesverfassungsgericht.
214
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Hauptanwendungsfeld solcher Unvereinbarerklärungen ist die Rechtsprechung zu Art. 3 I GG, insbesondere in der Variante des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses. Triebfeder dieser verfassungsgerichtlichen Eigenkreation war die Idee, trotz Wahrnehmung der verfassungsmäßigen Kontrollkompetenz dem Gesetzgeber die Wahl zu überlassen, ob er die Begünstigung auf die bisher Ausgeschlossenen ausdehnen, die Tatbestandsvoraussetzungen umdefinieren oder die Begünstigung ganz abschaffen will. 3 3 0 Korrelat zum Verzicht auf eine kassatorische Entscheidung ist andererseits, daß das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung331 den Gesetzgeber, z.T. unter Setzung einer Frist 332 , dazu verpflichtet, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen. Das Gericht beschränkt sich also grundsätzlich darauf, den Gleichheitsverstoß festzustellen. 333 Angesichts des besonderen Charakters von Art. 3 GG, der die Feststellung eines verfassungswidrigen Verhaltens nicht isoliert, sondern erst im Vergleich zweier Normadressaten ermöglicht, erscheint es funktionsgerecht, daß sich das Bundesverfassungsgericht darauf beschränkt, eine Regelung, die dem einen etwas gibt, dem anderen aber dasselbe gleichheitswidrig vorenthält, lediglich für verfassungswidrig zu erklären. Es ist Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob beide, keiner, oder gar ein Dritter in den Genuß der Begünstigung kommen soll(en). Insoweit wird man diese Spruchpraxis nicht als Ausdruck einer besonderen richterlichen Selbstbeschränkung ansehen können. Dennoch ist sie als vom Bundesverfassungsgericht praeter legem geschaffene Grenze seiner Tenorierungspraxis, in der das Gericht die Kompetenzgrenzen zwischen Gesetzgeber und Gesetzeskontrolleur nachzeichnet, beachtenswert. Das Bundesverfassungsgericht hat mit unterschiedlichen, häufig dürftigen Begründungen die Tenorierungsvariante der Unvereinbarerklärung auch auf zahlreiche Fälle jenseits der weithin akzeptierten Fallgruppe des gleichheitswidrig begünstigenden Gesetzes ausgedehnt.334 Das Gericht argumentierte, daß die Verletzung des Grundgesetzes durch eine gesetzliche Regelung zwar grundsätzlich zur Nichtigerklärung dieser Regelung führe. Das gelte jedoch 330 Vgl. BVerfGE 22, 349 (1967), 1. Senat - kein Anspruch für Waisen auf Erstattung von Versicherungsbeiträgen im Angestelltenversicherungsgesetz. „Welche dieser Möglichkeiten im konkreten Fall gewählt werden soll, muß grundsätzlich der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen bleiben ..." (a.a.O., S. 361). 331
Also in seinem Urteil, wenn die Entscheidung auf eine mündliche Verhandlung ergeht, was selten ist, ansonsten in seinem Beschluß (vgl. § 25 II BVerfGG). 332 Nach Benda/Klein, 9 Monaten und 4 Jahren. 333 334
Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1190, variieren die Fristen zwischen
Zu Ausnahmen vgl. Hein, a.a.O., S. 111 ff.
Vgl. z.B. BVerfGE 57, 361 (388 f.) - § 1579 II BGB unvereinbar mit Art. 2 I GG; BVerfGE 58, 137 (152) - Pflichtexemplare, § 9 hess. LandespresseG unvereinbar mit Art. 14 I 1 GG; BVerfGE 62, 374 (391) - Gesetzesnovelle des bremischen Besoldungsgesetzes unvereinbar mit Art. 33 V GG.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre B e g r ü n d u n g 2 1 5
dann nicht, wenn dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit zur Verfugung stünden. In solchen Fällen sei nur die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Norm festzustellen. 335 Meist wurde dafür in stereotyper Wiederkehr die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Begründung herangezogen, obwohl auch mit einer Nichtigerklärung dieser Gestaltungsfreiheit Rechnung getragen worden wäre. 336 Insofern könnte man hier — im Gegensatz zu den an Art. 3 GG zu messenden Fällen — von richterlicher Zurückhaltung sprechen, die über das von der Verfassung vorgegebene Maß hinausgeht. Allerdings befindet sich das Bundesverfassungsgericht bei seiner Unvereinbarrechtsprechung, soweit sie über Gleichheitsverstöße hinausgeht, in jüngster Zeit offenbar auf dem Rückzug. 337 c) Das „noch verfassungsmäßige44 Gesetz / Die Appellentscheidung aa) Der Normalfall Von der eben behandelten Unvereinbarerklärung zu unterscheiden ist die Entscheidungsvariante des „noch verfassungsmäßigen Gesetzes", die auch als Appellentscheidung bezeichnet wird. Anschaulich wird diese Fallgruppe zum Beispiel anhand der Entscheidung zum Versorgungsausgleich nach Ehescheidung. 338 1977 hatte der Gesetzgeber im Zuge der Reform des Scheidungsrechs auch das Scheidungsfolgenrecht novelliert und dabei durch den sogenannten Versorgungsausgleich im Scheidungsfalle die Aufteilung der während der Ehe erworbenen Versorgungsanwartschaften geregelt. Veranlaßt durch zahlreiche Vorlagebeschlüsse und eine Verfassungsbeschwerde hatte sich das Bundesverfassungsgericht zur Verfassungsmäßigkeit des Versorgungsausgleichs zu äußern. 339 Das Gericht erklärte die angegriffenen Normen über den Versorgungsausgleich für verfassungsgemäß, gab dem Gesetzgeber aber auf, „alsbald" eine Regelung für bestimmte versorgungsausgleichsbedingte Härtefalle zu treffen, in denen sonst eine verfassungswidrige Situation entstehe. Diese Praxis, so die Richter, entspreche „einer ständigen Rechtspre335
Vgl. zuletzt BVerfGE 81, 242 (263) (1990), 1. Senat - genereller Ausschluß einer Karenzentschädigung bei Wettbewerbsverboten für Handelsvertreter bis zur 1989er Novelle des HGB ist mit Art. 12 1 GG unvereinbar. 336
Vgl. Hein, S. 116 f. Unausgesprochen spielte wohl auch immer wieder der Gesichtspunkt eine Rolle, daß das Gericht das in manchen Fällen einer rückwirkenden Feststellung der Nichtigkeit drohende Chaos vermeiden wollte. Dieser Gesichtspunkt findet sich im Kern auf amerikanischer Seite in Baker-YLiiterium Nr. 6. 337 So Schiaich, Rn. 369, der allerdings noch Rechtsprechungsnachweise bis ins Jahr 1990 nennt, aus denen ein Kurswechsel in der Rechtsprechung zur Unvereinbarerklärung nicht ersichtlich ist. 338
BVerfGE 53, 257 (1980), 1. Senat.
339
Gerügt worden waren Verstöße gegen Art. 1 I, 2 I, 3 I, 6 I, 14 I und 33 V GG.
216
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chung des Bundesverfassungsgerichts, wonach einzelne Mängel einer umfassenden Neuregelung schwieriger und komplexer Sachverhalte erst dann Anlaß zum verfassungsgerichtlichen Eingreifen geben, wenn der Gesetzgeber eine spätere Überprüfung und Verbesserung trotz ausreichender Erfahrungen für eine sachgerechtere Lösung unterläßt (...)." 3 4 0 Auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Fehlbelegungsabgabe341 weist die für diese Fallgruppe typischen Strukturmerkmale auf: Hier handelte es sich um einen komplexen Sachverhalt, der sich erst in seinem Anfangsstadium befand. Gegenstand des Verfahrens war die Frage, ob der Modus einer Fehlbelegungsabgabe, die aufgrund eines Gesetzes aus dem Jahr 1981 von nicht als bedürftig einzustufenden Mietern öffentlich geforderter Wohnungen erhoben wurde, verfassungsgemäß sei. Da sich die entsprechende gesetzliche Regelung nur auf Städte bzw. Ballungsräume von mehr als 300.000 Einwohnern bezog, der geregelte Tatbestand, die Fehlbelegung von Sozialwohnungen, aber auch anderswo vorkommt und demnach vom Gesetz nicht erfaßt wurde, lag grundsätzlich ein nicht zu rechtfertigender Gleichheitsverstoß vor. Dennoch erklärte das Bundesverfassungsgericht die einschlägige Norm für „derzeit noch mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar". 342 Angesichts des komplexen Sachverhalts sei es vertretbar, dem Gesetzgeber zunächst eine angemessene Zeit zur Sammlung von Erfahrungen einzuräumen. Bei Erlaß des Gesetzes habe der Gesetzgeber zunächst einen sicheren und mit relativ geringerem Verwaltungsaufwand erfaßbaren Adressatenkreis ins Auge gefaßt, statt sich auf Schätzungen zu verlassen. Auf der Grundlage der inzwischen gewonnenen Erkenntnisse sei er jedoch jetzt verpflichtet, spätestens ab 1990 den Adressatenkreis des Gesetzes in einer Weise zu erweitern, der dem Gleichheitssatz Genüge tue. 343 bb) Der Brückenschlag zur Prognoserechtsprechung Weitere Problemfalle, die eine Nähe zur Fallgruppe der komplexen und dynamischen gesetzgeberischen Probleme aufweisen, erfassen die Kapazitätsberechnung von Hochschulstudienplätzen344 und die Pflicht des Gesetzgebers, Regelungen zur Bekämpfung des Fluglärms nachzubessern. 345 In der letzt340
A.a.O., S. 312 f.
341
BVerfGE 78, 249 (1988), 2. Senat.
342
A.a.O., S. 286.
343
A.a.O., S. 288 f.
344
BVerfGE 54, 173 (202, 206 f.).
345
BVerfGE 56, 54 (78 ff). Bei dieser Entscheidung ist zu beachten, daß sie auf staatliches Handeln gerichtete Verfassungsbeschwerden zum Gegenstand hatte. Für weitere Beispielsfälle vgl. auch Schiaich, Rn. 399 ff.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre B e g r ü n d u n g 2 1 7
genannten Entscheidung nimmt das Bundesverfassungsgericht auch Bezug auf die bereits oben 346 erörtertem Entscheidungen zum Mühlengesetz und zum Atomgesetz und bekräftigt die darin vertretene Auffassung, wonach der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet sein kann, eine ursprünglich als verfassungsmäßig angesehene Regelung im Wege der Nachbesserung neu zu gestalten.347 Die Entscheidung zum Mühlengesetz, mit der das Bundesverfassungsgericht den Weg für die Anerkennung gesetzgeberischer Prognosespielräume ebnete (s.o.), wird von Rupp-v. Brünneck, die als Bundesverfassungsrichterin selbst an der Entscheidung beteiligt war, zu Recht auch in die Gruppe der Appellentscheidungen eingeordnet 348: Indem das Gericht erklärte, daß das im Mühlengesetz enthaltene Errichtungs- und Erweiterungsverbot angesichts des in Kürze zu erwartenden vollständigen Abbaus der überschüssigen Mühlenkapazität „für eine nicht allzu lang bemessene Zeitspanne" 349 zuzumuten sei, signalisierte es dem Gesetzgeber seine Bereitschaft, im Hinblick auf die schwierige, von Überkapazitäten gekennzeichnete Situation auf dem Mühlensektor eine an sich verfassungswidrige Situation für eine Übergangszeit hinzunehmen. Dieser verstand den unausgesprochenen Appell offenbar richtig und setzte das Mühlengesetz Ende 1971 außer Kraft. Die Mühlengesetz-Entscheidung ist somit unter zwei Aspekten bemerkenswert: Erstens dem des gesetzgeberischen Prognosespielraums, mit dem eine verminderte Kontrolldichte korrespondiert. Die dadurch vom Bundesverfassungsgericht sich selbst gezogene Grenze seiner Entscheidungsmacht liegt im Prüfungsmodus begründet. Zweitens bildet die Entscheidung eine, wenngleich noch etwas diffuse, Frühform der oben diskutierten Appellrechtsprechung. Das Gericht verzichtet auf eine Verfassungswidrigkeitserklärung, gibt dem Gesetzgeber aber zu erkennen, daß dieser den status quo im Auge behalten und gegebenenfalls handeln muß, um dem ansonsten unausweichlichen Verdikt der Verfassungswidrigkeit zu entgehen. Das Bundesverfassungsgericht nimmt sich hier somit im Wege eines besonderen Entscheidungsausspruchs zurück. Die Grenze seiner Kompetenz beruht demnach insoweit auf der Entscheidungsform. An diesem wie auch an den folgenden Beispielen wird deutlich, wie sich zwei Ausformungen der vom Bundesverfassungsgericht selbst entwickelten Grenzen seiner Rechtsprechungskompetenz berühren und durchdringen.
346
Vgl. 3.c).bb).
347
A.a.O., S. 78.
348
Darf das BVerfG ...?, S. 357 f.
349
BVerfGE 25, 1 (22).
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Der oben in der Prognosekategorie diskutierte Kalkar-Beschluß 350 , in dem das Bundesverfassungsgericht angesichts komplexer technischer Zusammenhänge und in Ermangelung rechtlicher Maßstäbe Gesetzgeber und Regierung folgte, selbst Zurückhaltung übte und § 7 des Atomgesetzes, angewandt auf Betriebsgenehmigungen von Reaktoren des Typs „Schneller Brüter", passieren ließ, enthält auch Elemente einer Appellentscheidung. Zum Ausgleich der verminderten richterlichen Kontrollfunktion erfolgt der Aufruf an den Gesetzgeber zur Beobachtung der von der Kernenergie ausgehenden Gefahren und nötigenfalls zum Tätigwerden: „In einer Situation, in der vernünftige Zweifel möglich sind, ob Gefahren der ... befürchteten Art eintreten oder nicht eintreten werden, sind die staatlichen Organe, mithin auch der Gesetzgeber, aus ihrer verfassungsrechtlichen Pflicht, dem gemeinen Wohl zu dienen, ..., gehalten, alle Anstrengungen zu unternehmen, um mögliche Gefahren frühzeitig zu erkennen und ihnen mit den erforderlichen, verfassungsmäßigen Mitteln zu begegnen. Sollten sich in der Zukunft Anzeichen dafür einstellen, daß von Kernkraftwerken des Typs Schneller Brüter Gefahren dieser Art mit einiger Wahrscheinlichkeit ausgehen werden — dies abzuschätzen gehört, wie dargelegt, zunächst in den Verantwortungsbereich der politischen Staatsorgane —, wäre der Gesetzgeber zu einem neuerlichen Tätigwerden verpflichtet." 351 Auch das Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts 352, oben als besonders prägnantes Beispiel für die Prognoserechtsprechung vorgeführt, verströmt zwischen den Zeilen ein wenig von dem Fluidum einer Appellentscheidung. Im Vordergrund des Urteils steht zwar das Zurücktreten der verfassungsgerichtlichen Kontrolle gegenüber der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers und demzufolge das Plazet für die erweiterte Mitbestimmung der Arbeitnehmer nach dem neuen Mitbestimmungsgesetz. Dennoch mochte das Gericht nicht darauf verzichten, den Gesetzgeber für die künftige Entwicklung in die Pflicht zu nehmen. Auf der Grundlage des derzeitigen Standes der Erfahrungen und Einsichten sei die Entscheidung für die im Mitbestimmungsgesetz getroffene Lösung als vertretbar anzusehen. Sollte sie sich allerdings später teilweise oder ganz als Irrtum erweisen, sei der Gesetzgeber „zur Korrektur verpflichtet". 353 Es obliege dem Gesetzgeber, „(d)as Mitbestimmungsgesetz technisch zu verbessern, offengebliebene Fragen zu regeln und etwaige Friktionen abzumildern". 354 Während die Kalkar- und Mitbestimmungsgesetzrechtsprechung unter dem Gesichtspunkt gerichtlicher Kompetenzgrenzen ihren Schwerpunkt im Pro350
BVerfGE 49, 89 (1978), 2. Senat.
351
A.a.O., S. 132.
352
BVerfGE 50, 290 (1979), 1. Senat.
353
A.a.O., S. 335 (unter Hinweis auf die Mühlengesetz-Rechtsprechung).
354
A.a.O., S. 336.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
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gnosebereich hatte und von dort gewissermaßen in das Feld der die bundesverfassungsgerichtliche Kompetenzen ebenfalls begrenzenden Appellentscheidungen hineinragte, ist auch, zumindest in Ansätzen, das umgekehrte Phänomen zu beobachten. Beispielhaft sei dafür eine Entscheidung genannt, die sich erneut mit dem Versorgungsausgleich, nunmehr in novellierter Form, auseinanderzusetzen hatte. 355 Zur Abmilderung von Härten hatte der Gesetzgeber 1986 die Möglichkeit eingeführt, bei der Scheidung getroffene Entscheidungen über den öffentlichrechtlichen Versorgungsausgleich abzuändern, hatte diese Abänderungsmöglichkeit aber unter einen zehnprozentigen Wesentlichkeitsvorbehalt gestellt. Das Bundesverfassungsgericht erklärte diesen Passus für „mit dem Grundgesetz - noch — vereinbar" 356 , gab aber in der uns inzwischen bekannten Appellform dem Gesetzgeber auf, er müsse „die Auswirkungen der Vorschrift weiter beobachten und die Regelung gegebenenfalls nachbessern." 357 Man wird daher diese Entscheidung zu Recht als eine typische Appellentscheidung einstufen. 358 Dabei sollte jedoch nicht übersehen werden, daß die Entscheidung auch Charakteristika der Prognoserechtsprechung aufweist. So bemerkt das Gericht etwa, daß die nähere Ausgestaltung der Vorschriften über den Versorgungsausgleich und seine Durchfuhrung in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers sei 359 , gesteht ihm also einen grundsätzlichen Gestaltungsspielraum zu. Dieser wird durch Prognoseelemente konkretisiert, wenn das Gericht feststellt, die gesetzgeberische Einschätzung hinsichtlich der Wesentlichkeitsgrenze sei nicht zu beanstanden360, wobei bei der gerichtlichen Beurteilung auch zu berücksichtigen sei, daß der Gesetzgeber die Auswirkungen der Regelung noch nicht im einzelnen habe übersehen können. 361 Insgesamt kommt das Bundesverfassungsgericht zu dem Schluß:„Der Gesetzgeber hat sich mit der Konkretisierung der Wesentlichkeitsgrenze ... noch im Rahmen seiner Gestaltungsbefugnis gehalten." 362 Prognoserechtsprechung und Appellentscheidungen sind mithin zwei Rechtsprechungsbereiche, in denen das Bundesverfassungsgericht an von ihm selbst geschaffene Grenzen stößt. Diese Bereiche dürfen nicht isoliert neben355 BVerfGE 87, 348 (1992), 1. Senat. Die erste, 1983 verabschiedete Gesetzesnovelle zur Regelung von Härtefällen beim Versorgungsausgleich war eine Reaktion auf die oben beschriebene Entscheidung Ε 53, 257. 356
A.a.O., S. 355.
357
A.a.O., S. 358.
358
Vgl. etwa Schiaich, Rn. 403.
359
A.a.O., S. 356 (Hervorh. nicht i.O.).
360
A.a.O., S. 359 (Hervorh. nicht i.O.).
361
A.a.O., S. 361.
362
A.a.O., S. 358.
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einander gesehen werden. Vielmehr ähneln sie zwei sich schneidenden Kreisen. 363 Dies ist nicht weiter erstaunlich, denn, wie das zuletzt genannte Beispiel zeigt, sind „noch verfassungsmäßige" Gesetze geradezu eine logische Funktion von Prognose- und Entscheidungsspielräumen des Gesetzgebers. Je weiter das Gericht dessen Gestaltungsbefugnis zieht, umso unwahrscheinlicher wird es dessen Gebrauchmachen von einer entsprechend umfangreichen Befugnis als verfassungswidrig rügen können. Vielmehr ist es dann konsequent, das Tun 3 6 4 des Gesetzgebers als noch verfassungsgemäß einzustufen und ihn auf Verfassungspositionen hinzuweisen, die er in Zukunft wird besonders berücksichtigen müssen. Alternativ dazu bietet sich die Rechtsfigur der verfassungskonformen Interpretation an, die im Anschluß behandelt werden soll. d) Die verfassungskonforme Interpretation 365 Als letzte für die Grenzen bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung wesentliche Entscheidungsform ist die der verfassungskonformen Interpretation von Gesetzen zu nennen. Die verfassungskonforme Interpretation kommt immer dann zur Anwendung, wenn eine gesetzliche Bestimmung ihrem Wortlaut nach unterschiedliche Auslegungen ermöglicht, die nicht alle mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Das Bundesverfassungsgericht gelangt in so einem Falle nicht, etwa wegen Unbestimmtheit, zur (Teil-)Nichtigkeit des Gesetzes, sondern verfahrt wie folgt: „... (D)as Gebot verfassungskonformer Gesetzesauslegung verlangt, von mehreren möglichen Normdeutungen, die teils zu einem verfassungswidrigen, teils zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führen, diejenige vorzuziehen, die mit dem Grundgesetz in Einklang steht (...)." 3 6 6 Innerhalb des Wortlauts und des Zwecks des zu überprüfenden Gesetzes besteht also das verfassungsrechtliche Gebot für jeden Rechtsanwender, die mit der Verfassung zu vereinbarende Auslegungsvariante zu wählen. Die Rechtsfigur der verfassungskonformen Interpretation ist auch in den USA bekannt 367 , wenngleich dogmatisch dort nicht sonderlich durchgearbeitet. 363
Vgl. dazu auch Pestalozzi Noch verfassungsmäßige ... Rechtslagen, S. 541 ff, der im Rahmen seines Abschnitts über Appellentscheidungen eine eigene, „Diagnose- und Prognosespielräume" genannte Fallgruppe bildet und somit die Verknüpfung der beiden Problematiken zum Ausdruck bringt. 364
Oder auch das Unterlassen.
365
Vgl. dazu Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung; Schiaich, Rn. 405 ff; Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 1198 ff.; Zippe lius, Verfassungskonforme Auslegung, S. 108 ff.; Lee, S. 336 ff. (350 ff.) m.w.N. 366 BVerfGE 32, 373 (383 f.); st. Rspr. seit Ε 2, 266 (282). Dort hatte es noch selbstbewußt geheißen: „... Daß dabei nicht der Gesetzeszweck außer acht gelassen werden darf, versteht sich von selbst ..." (a.a.O., S. 282). 367
Vgl. Brugger, Grundrechte, § 3 II 5, S. 20 f.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
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Hauptanliegen der verfassungskonformen Interpretation soll es sein, den demokratisch legitimierten Gesetzgeber vor unnötigen Korrekturen durch das Bundesverfassungsgericht zu verschonen. 368 Damit würde auch diese Rechtsfigur eine der vom Gericht gezogenen Kompetenzgrenzen markieren, mit denen die gesetzgeberische Funktion respektiert werden soll. Statt mit einer Kassation seine maximale Kompetenz auszuschöpfen, beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht, so könnte man argumentieren, auf ein Minus in Gestalt der verfassungskonformen Auslegung. Allerdings kann die unter Gewaltenteilungsgesichtspunkten grundsätzlich wohlmeinende Idee von der Schonung des Gesetzgebers 369 auch Probleme aufwerfen und sich im Extremfall sogar in ihr Gegenteil verkehren, wie etwa die von Schiaich 370 zusammengetragenen Beispiele zeigen: In BVerfGE 19, 342 (352) legte das Bundesverfassungsgericht die §§ 112, 116 StPO im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dahingehend aus, daß auch bei Haftbefehlen, die auf dem Haftgrund der Schwere der Tat beruhen, eine Aussetzung des Haftvollzuges in entsprechender Anwendung des § 116 StPO möglich sei. Über den Wortlaut der Norm (hier des § 116 StPO), der nach praktisch einhelliger Ansicht sowohl Anfangs- als auch Endpunkt jeder Interpretation sein muß 371 , setzte sich das Gericht nonchalant hinweg 372 und erklärte, nach der Entstehungsgeschichte des Gesetzes erscheine es „nicht ausgeschlossen", daß die vom Gericht vorgenommene Auslegung dem „wahren Willen" des Gesetzgebers entspreche. 373 Daß § 116 StPO ohne die Kenntnis der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nun nicht mehr sachgerecht angewendet werden kann 374 , ist unerfreulich, aber angesichts zahlreicher, auch fachgerichtlicher, „korrigierender" Normauslegungen in praktisch allen Rechtsgebieten nichts Ungewöhnliches. Problematischer ist demgegenüber die von derartigen Entscheidungen ausgehende Vorwirkung: „Der Gesetzgeber wird sich auch künftig darauf 368 Vgl. etwa, in casu aber nur als Lippenbekenntnis, BVerfGE 86, 288 (320): „Respekt vor der gesetzgebenden Gewalt (Art. 20 Abs. 2 GG)". 369 Das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und anderen Gerichten geht über den Themenkreises dieser Arbeit hinaus. Zu den durch die verfassungskonforme Interpretation verursachten Problemen zwischen Bundesverfassungsgericht und Instanzgerichten vgl. Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung, S. 46 ff. (50 ff). 370
Rn. 415.
371
Vgl. dazu Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung, S. 115 f., und die Nachweise bei Löwer, in: HStR II, S. 810 Fn. 515. 372 „Demgegenüber können Bedenken aus dem Wortlaut des § 116 StPO zurücktreten", BVerfGE 19, 342 (352). 373
A.a.O.
374
Schiaich, Rn. 415.
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verlassen, daß das BVerfG unverhältnismäßige 375 Spitzen seiner Gesetze abschleift." 376 BVerfGE 85, 69 (75), in der eine verfassungskonforme Auslegung der gesetzlichen 48-Stunden Anmeldefrist bei Eilversammlungen dazu führte, daß diese anzumelden seien, „sobald die Möglichkeit dazu besteht" und BVerfGE 86, 288 (315 ff), in der das Gericht kraft verfassungskonformer Interpretation eine vom Gesetz der Strafvollstreckungskammer vorbehaltene Kompetenz dem Schwurgericht zuwies, bilden weitere Beispiele dafür, wie sich das Bundesverfassungsgericht über Wortlaut und Normzweck hinwegsetzte.377 Es bewendet nicht bei der bereits angedeuteten Vorwirkungsproblematik, die dazu führen kann, daß der Gesetzgeber - je nach Kompetenz und Selbsteinschätzung verärgert oder hoffnungsfroh — davon ausgeht, daß das Bundesverfassungsgericht legislatorische Fehlleistungen der Einfachkeit halber selbst korrigieren werde. Dies ist nur die eine Seite der Medaille. Das Bundesverfassungsgericht läuft vielmehr durch die extensive Nutzung der verfassungskonformen Interpretation Gefahr, durch eine autoritative verfassungskonforme Interpretation einer Gesetzesnorm eine Bedeutung zu geben, die zwar seiner Ansicht nach mit dem GG in Einklang steht, sich vom ursprünglich gesetzgeberisch Gewollten aber weit entfernt hat. Statt dem Gesetzgeber durch eine unmißverständliche Kassation die Möglichkeit zu einem neuen Wurf zu geben, verfestigt das Gericht dann etwas, was dieser niemals im Sinn hatte. Dadurch überspielt das Bundesverfassungsgericht die Rechtsetzungsfunktion des Gesetzgebers und maßt sie sich teilweise selbst an: „ A n die Stelle der größtmöglichen Respektierung des gesetzgeberischen Willens droht dann die Ersetzung des Willens des Gesetzgebers durch den des BVerfG zu treten. Das BVerfG überschreitet hiermit die ihm prinzipiell zugewiesene, kassatorische Funktion." 378 Die Rechtsfigur der verfassungskonformen Auslegung stellt somit zwar dem Grundsatz nach eine vom Bundesverfassungsgericht errichtete Schranke seiner richterlichen Kompetenz dar, deren Motivation, die Funktion des Gesetzgebers im gewaltenteiligen Gefüge des Grundgesetzes zu respektieren, 375
Und anderweitig verfassungswidrige (C.R.).
376
Schiaich, a.a.O.
377
Vgl. dazu die Sondervoten von Seibert und Henschel, BVerfGE 85, 69 (77 ff.), bzw. von Mahrenholz, BVerfGE 86, 288 (340 ff.). 378 Schenke, NJW 1979, 1321 (1325). Drastisch Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung, S. 55: „Laßt dem Gesetzgeber die Freiheit, wie er auf die Verwerfung seines Werkes reagiert: vergewaltigt ihn nicht durch verfassungskonforme Auslegung!" Kritisch auch Schupper/, Grenzen, S. 7: „So wird statt Gewolltes als verfassungswidrig aufzuheben (oder nicht), das verfassungsrechtlich Zulässige zum wirklich Gewollten erklärt und somit Recht gesetzt statt Recht an der Verfassung gemessen." Ebenfalls kritisch, aber zurückhaltender Simon, in: HdbVerfR, S. 1669; ders. EuGRZ 1974, 85, 89 ff.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre B e g r ü n d u n g 2 2 3
systemgerecht und billigenswert ist. Die selbstbeschränkende Wirkung verkehrt sich jedoch dort in ihr Gegenteil, wo sich das Bundesverfassungsgericht über eindeutigen Wortlaut und Zweck der zu prüfenden Gesetzesnorm hinwegsetzt und an ihre Stelle eine Auslegung stellt, die zwar der Verfassung näher steht, dafür aber das nun eigentlich notwendige erneute Tätigwerden des Gesetzgebers verhindert. e) Zusammenfassung und Kritik Im Wege freier Rechtsschöpfung hat das Bundesverfassungsgericht eine differenzierte Auswahl verschiedener Entscheidungsaussprüche geschaffen, die sich bei Normenkontrollverfahren voll entfaltet. Vor allem die Rechtsfigur des „noch verfassungsmäßigen" Gesetzes (vgl. 2) und die der verfassungskonformen Interpretation (vgl. 3) sind für die dieser Arbeit zugrundeliegende Fragestellung von Bedeutung. (1) In Abweichung vom Normalfall rückwirkender Nichtigkeit verfassungswidriger Normen erklärt das Gericht eine Regelung lediglich für mit dem Grundgesetz unvereinbar, was nicht zu ihrer Nichtigkeit, wohl aber zu ihrer Unanwendbarkeit bis zu einer Novellierung führt. Zumindest bei der mit dieser Tenorierungsvariante ursprünglich in den Blick genommenen Fallgruppe gleichheitswidrig begünstigender Regelungen ist die Unvereinbarerklärung Ausdruck einer fünktionsgerechten Achtung der dem Gesetzgeber unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung zugewiesenen Aufgabe und somit keine besonders hervorhebenswerte selbst elaborierte Kompetenzgrenze des Bundesverfassungsgerichts. (2) Anderes gilt hingegen für die Tenorierungspraxis des „noch verfassungsmäßigen" Gesetzes, die auch als Appellentscheidung bezeichnet wird. Durch sie wird eine gesetzliche Regelung, deren Verfassungsmäßigkeit zumindest äußerst zweifelhaft ist, für „noch verfassungsmäßig" erklärt und einstweilen aufrechterhalten. Gleichzeitig appelliert das Bundesverfassungsgericht an den Gesetzgeber, die bestehende oder zu erwartende Verfassungswidrigkeit abzustellen. Derartige Appellentscheidungen ergehen häufig, wenn die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Regelung nicht offensichtlich ist, wenn ein Gesetzgebungsauftrag bisher unerfüllt geblieben ist oder wenn es sich um einen schwierigen und komplexen Sachverhalt handelt, der noch im Fluß ist. Geht man mit Benda/Klein davon aus, daß das Bundesverfassungsgericht bei derartigen Appellentscheidungen meist bereits im Zeitpunkt der Entscheidung von der Verfassungswidrigkeit der geprüften Norm überzeugt ist 379 , so 379
A.a.O., Rn. 1195.
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kann man den Appell an den Gesetzgeber als eine „Vermeidungsstrategie" 380 interpretieren, mit der das Gericht einer eigentlich gebotenen Kassation der Norm ausweicht. Daß in dem Verzicht darauf, den Gesetzgeber durch eine Nichtigerklärung zu desavouieren, ein Ausdruck richterlicher Zurückhaltung zu erblicken sei 381 , mag angesichts der praktisch wohl äquivalenten Wirkungen der Appellentscheidung zweifelhaft und ein wenig formal erscheinen. Jedoch ist nicht zu bestreiten, daß sich das Bundesverfassungsgericht mit der nach wie vor umstrittenen 382 Figur der Appellentscheidung sein abgestuftes Begrenzungsinstrumentarium erweitert und verfeinert hat. Mit seinen Appellentscheidungen und den darin enthaltenen Weiterbeobachtungs- und Nachbesserungspflichten 383 fuhrt das Gericht einen regelrechten Dialog mit dem Gesetzgeber. Von der Fallgruppe der Appellentscheidungen läßt sich eine Brücke zur bundesverfassungsgerichtlichen Prognoserechtsprechung schlagen; eine Reihe von Fällen kann beiden Kategorien zugeordnet werden. Unter dem Gesichtspunkt der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grenzen seiner Rechtsprechung überschneiden sich somit zwei der von ihm geschaffenen Begrenzungphänomene: Das Gericht kann, um seine Kompetenzen zu beschränken, entweder seine Kontrolldichte lockern. Das geschieht dadurch, daß es dem Gesetzgeber Prognose- und Entscheidungsspielräume gewährt, innerhalb derer lediglich eine Evidenzkontrolle stattfindet. Andererseits kann das Bundesverfassungsgericht auch eine Regelung, die bei stringenter Prüfung eigentlich als verfassungswidrig beanstandet werden müßte, für noch verfassungsmäßig erklären und gleichzeitig dem Gesetzgeber die verfassungsrechtlich notwendige Marschroute anzeigen. (3) Auch die letzte Tenorierungsvariante, die verfassungskonforme Interpretation, kann grundsätzlich als selbst entwickeltes Instrument zur Begrenzung der Macht des Bundesverfassungsgerichts verstanden werden: Ist die Bedeutung einer Norm nicht eindeutig und läßt unterschiedliche Auslegungen zu, die teils mit der Verfassung vereinbar, teils nicht mit ihr vereinbar sind, so kassiert das Bundesverfassungsgericht diese Norm nicht, sondern legt sie verbindlich so aus, daß sie grundgesetzkonform ist. Da eine autoritative Bedeutungsfestlegung ein Minus zur Kassation darstellt, schöpft das Gericht somit seine Kompetenz nicht voll aus. Problematisch wird diese Praxis jedoch, wenn sich das Bundesverfassungsgericht, wie bereits mehrfach geschehen, nicht an die - jeder Auslegung gesetzten - Grenzen von Wortlaut oder 380
A.a.O.
381
So Schenke, NJW 1979, 1321 (1325 f.).
382
Die Bewertungen reichen von „inakzeptabel", so Benda/Klein, a.a.O., Rn. 1196, bis hin zu pragmatisch oder gar „optimal". Zum Streitstand vgl. Lee, S. 326 f. 383
Vgl. zuletzt BVerfGE 87, 348 (358) (1992), 1. Senat.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
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Gesetzeszweck hält und der gesetzlichen Regelung eine von der Legislative so nicht gewollte Bedeutung gibt. In diesem Fall verkehrt sich die kompetenzunterschreitende Selbstbegrenzung in eine die verfassungsmäßigen Grenzen sprengende Kompetenzanmaßung. Das vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Arsenal an Tenorierungsvarianten ist seit geraumer Zeit umstritten. Der gelegentlich an den Gesetzgeber herangetragene Vorschlag, es sei an der Zeit, im Wege einer Kodifikation den Variantenreichtum der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen zu zähmen 384 , hat bisher zu keinen greifbaren Ergebnissen gefuhrt. In der Literatur stehen sich Befürworter und Gegner der vom Bundesverfassungsgericht geübten Praxis gegenüber. 385 Erstere bedienen sich eines gemischt dogmatisch-pragmatischen Argumentes. Da das Bundesverfassungsgericht zur Kassation berechtigt sei, könne man ihm den Rekurs auf Entscheidungsformen, die lediglich ein Minus dazu darstellten, nicht verwehren. Dies gelte zumal dann, wenn es dem Gericht darum gehe, in verantwortlicher Weise die andernfalls schwerwiegenden Folgen einer Nichtigerklärung, also etwa einen gegenüber der verfassungswidrigen Regelung noch verfassungswidrigeren Zustand, zu vermeiden. Da derartige Bemühungen des Bundesverfassungsgerichts unverkennbar sind, und da die Wahl der von ihm geschaffenen Entscheidungsvarianten im allgemeinen mit Augenmaß erfolgt und nachvollziehbar ist, gehen Befürworter so weit, ihm zu bescheinigen, mit „Mut und Erfolg" das „starre Dogma der Nichtigkeit verfassungswidriger Normen" überwunden zu haben.386 Die Gegner verlangen demgegenüber, daß die möglichen Rechtsfolgeanordnungen jedes Gerichts im Gesetz vorgegeben sein müßten. Daher dürfe auch für das Bundesverfassungsgericht nichts anderes gelten. Auch leide unter der Vielzahl der Entscheidungsvarianten und ihrer Appendices wie Fristsetzungen und Übergangsregelungen die Vorhersehbarkeit der bundesverfassungsgerichtlichen Reaktionsweisen. Schließlich sei zweifelhaft, ob sich durch die abgestuften Entscheidungsvarianten nicht die Schwelle der gerichtlichen Intervention absenke und sich dadurch das ursprüngliche Anliegen, die Schonung des Gesetzgebers, durch häufigere, wenngleich weniger intensive gerichtliche Eingriffe in sein Gegenteil verkehre. 387
384 Vgl. z.B. Gerontas, DVB1. 1982, 486, 490 f.; Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rn. 132. 385
Vgl. die konzise Gegenüberstellung bei Schiaich, Rn. 417 ff. m.w.N.
386
Pestalozza, Noch verfassungsmäßige ... Rechtslagen, S. 566, der jedenfalls 1976 die Zeit für eine Kodifizierung für noch nicht für gekommen sah. 387
Schiaich, Rn. 419.
15 Rau
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5. Die Grenzendiskussion in Rechtsprechung und Rechtslehre388 Innerhalb des Bundesverfassungsgerichts und insbesondere in der verfassungsrechtlichen Literatur hat die Frage nach den Grenzen der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung regen Widerhall gefunden. 389 Die Bundesverfassungsrichter Rupp-v. Brünneck und Simon kritisierten in ihrem Dissent zu der 1975 ergangenen ersten Entscheidung zum § 218 3 9 0 die nach ihrer Ansicht von Seiten der Gerichtsmehrheit vorgenommene Überschreitung der dem Gericht gegenüber dem Gesetzgeber gesetzten Grenzen und bemerkten: „(D)ie Erarbeitung eines geeigneten, die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers respektierenden Instrumentariums wird möglicherweise zu den Hauptaufgaben der Rechtsprechung in den nächsten Jahrzehnten gehören." 391 Bei einer anhaltenden Mißachtung von Gestaltungsfreiheit und Wertentscheidungen des Gesetzgebers drohe eine Preisgabe des Gebotes richterlicher Selbstbeschränkung (judicial self-restraint). Im übrigen dürfe das Bundesverfassungsgericht nicht über die grundrechtsdogmatische Figur der objektiven Wertentscheidung spezifisch gesetzgeberische Funktionen bei der Gestaltung der Sozialordnung übernehmen, eine Rolle, für die es „weder kompetent noch ausgerüstet" sei. 392 Zur Begründung zogen die beiden Bundesverfassungsrichter somit zwei Argumente heran, die gewissermaßen zum Standardrepertoire der Grenzendiskussion gehören: das Gebot richterlicher Selbstbeschränkung und die Idee von der gerichtlichen Funktion des Bundesverfassungsgerichts als Kompetenzgrenze.
388 Im Gegensatz zum Supreme Court ist zu beachten, daß angesichts der deutschen Praxis, stets mehrere Bundesverfassungsrichterstellen mit Professoren zu besetzen, zwischen Rechtsprechung und Lehre keine Lücke klafft, sondern sogar eine Teilidentiät besteht. 389 Eine Zusammenstellung neuerer Literatur zu diesem Thema findet sich bei Schiaich, S. 289, und Heun, S. 85 ff. Die Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer hat sich dreimal mit der Problematik der Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit beschäftigt: 1928, 1950 und 1980. Vgl. die Referate von Triepel und Kelsen, VVDStRL 5 (1929); Kaufmann und Draht, VVDStRL 9 (1952), sowie von Korinek, Jörg P. Müller und Schiaich, VVDStRL 39 (1981). 390
Vgl. oben 3.c).dd).
391
BVerfGE 39, 1 (72).
392
A.a.O. Die Reihenfolge der beiden Argumente ist in dem Sondervotum umgekehrt. Auf die Folgen, die von einer Erweiterung des Grundrechtsverständnisses um eine objektiv-rechtliche Komponente für die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts und für die gesamte gewaltenteilige Ordnung des Grundgesetzes ausgehen, hat insbesondere Böckenförde nachdrücklich hingewiesen. Vgl. dazu oben l.b) sowie unten c).cc).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
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a) Richterliche Selbstbeschränkung (Judicial Self-Restraint) Die mangelnde normative Leistungsfähigkeit der Rechtsfigur des judicial self-restraint wurde oben bereits fur ihr Ursprungsland, die USA, dargelegt. 393 Auch in Deutschland scheint, nachdem der Begriff insbesondere in den 70er Jahren einen regelrechten Boom erlebte 394 , sich allmählich die Erkenntnis durchzusetzen, daß die Idee richterlicher Selbstbeschränkung als normative, gerichtlichen Entscheidungen vorausliegende Grenze, die die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Gewaltengefuge und seine Kontrollintensität hinsichtlich der an es herangetragenen Problemen determinieren helfen soll, nicht geeignet ist. 395 Die Idee der richterlichen Selbstbeschränkung muß sich zweierlei vorwerfen lassen. Zum einen verlagert sie eine Kompetenzgrenze, die gerade außerhalb des Gerichts liegen soll, in das Gericht, ja in den einzelnen Richter hinein und beraubt sie damit jedweder Objektivität. 396 Zum anderen läuft sie Gefahr, dem Verfassungsauftrag nicht gerecht zu werden, ihn möglicherweise sogar zu konterkarieren: Das Grundgesetz verlangt nicht, daß die Richter in jedem Fall, gewissermaßen prophylaktisch, Zurückhaltung üben sollen. Vielmehr müssen sie, etwa um einem Grundrecht zum Durchbruch zu verhelfen, ihre Kontrollkompetenz oft auch in voller Intensität wahrnehmen, so daß Zurückhaltung in solchen Fällen auf eine Art Justizverweigerung hinausliefe. 397 Somit scheidet die Rechtsfigur der richterlichen Selbstbeschränkung (judicial self-restraint) als selbständige, normative Grenze der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung aus. 398 Diese Vorstellung hat sich offenbar auch innerhalb des Bundesverfassungsgerichts durchgesetzt. Das Gericht beließ es bei nur einem, inhaltlich dazuhin fragwürdigen Versuch, der Entscheidung zum Grundlagenvertrag, die Idee des self-restraint für seine Zwecke fruchtbar zu machen.399 Von dem 393
Vgl. oben B.II.4. Der dem Begriff dort beigegebene Sinn wird hier beibehalten.
394
Vgl. z.B. die Nachweise bei Schiaich, Rn. 469 Fn. 11, und bei K. Vogel, S. 4 Fn. 1. Aus rechtsvergleichender Sicht interessant von der Heydte, S. 909 ff, der allerdings judicial self-restraint als Oberbegriff verwendet. 395
In diesem Sinne auch Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rn. 92; Schuppen, Self-restraints, DVB1. 1988, 1191; Hesse, Grenzen, S. 264; Schiaich, Rn. 469. Um Mißverständnisse zu vermeiden, empfiehlt es sich nicht, bei ansonsten funktioneller Argumentationsrichtung den Begriff des judicial self-restraint als Oberbegriff für verschiedenartige Begrenzungsphänomene zu verwenden, wie dies Schenke, NJW 1979, 1321 ff. (1324 ff.), und Stern II, § 44 II 3, S. 958 ff.; ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 28 ff., tun. 396
Vgl. Böckenförde,
397
Vgl. Murswiek,
Der Staat 29 (1990), 1, 26.
DÖV 1982, 529 ff. (532); ihm folgend Heun, S. 12.
398
Ebenso Jarass /Pieroth,
399
BVerfGE 36, 1 (14 f.); vgl. dazu oben 3.a).aa).
Grundgesetz, Art. 93 Rn. 3.
228
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ehemaligen Bundesverfassungsrichter Simon, der seinen oben erwähnten Dissent unter anderem auf das Selbstbeschränkungsargument stützte, stammt inzwischen eine der treffendsten Einschätzungen von judicial self-restraint: „Nun ist Selbstbeschränkung für eine Institution, die ihre Kompetenzen und Einwirkungsmöglichkeiten weitgehend selbst bestimmt und bei deren Entscheidungen auch voluntative Elemente mitspielen, zweifellos eine hohe Tugend. ... Zudem ist dieser Begriff irreführend, da es nicht im Belieben des Richters steht, Selbstbeschränkung zu üben. Einerseits ist er zur Einhaltung bestehender Grenzen verpflichtet, andererseits kann der Rechtsuchende verlangen, daß das Gericht im konkreten Streitfall seine Kompetenzen notfalls bis zum äußersten Rand ausschöpft. Die Verfassung selbst und nicht das Gericht ist in ihren Postulaten entweder zurückhaltend oder deutlich befehlend." 400 Den Appell zum self-restraint sollte man tatsächlich eher an diejenigen richten, „die das Bundesverfassungsgericht zu häufig und möglicherweise mehr aus Gründen politischer Opportunität anrufen". 401 Gegenüber den Richtern vermag der Grundsatz jedenfalls nicht mehr zu leisten, als sie „zur Reflexion ihrer Vörverständnisse" und zur Disziplinierung, mindestens jedoch zur Offenlegung der von ihnen verwendeten Interpretationsmethoden aufzufordern. 402 b) Political Question Doctrine403 „Die political question doctrine steht dem Bundesverfassungsgericht nicht zur Verfügung." 404 Diesen, möglicherweise nicht ohne einen bedauernden Unterton geäußerten Worten des Bundesverfassungsrichters Böckenforde wäre eigentlich nichts hinzuzufügen. Das Bundesverfassungsgericht hat die amerikanische political question doctrine offiziell nicht übernommen und könnte dies aus den im folgenden darzulegenden Gründen verständigerweise auch nicht tun. 405 Dennoch gaben in einer 1983 durchgeführten Befragung drei Mitglieder des 2. Senats an, die political question doctrine werde praktiziert, 400 Simon, in: HdbVerfR, S. 1665. Unabhängig davon ist deutlich zu merken, daß Simon um die Anwendung einer pragmatisch orientierten Form richterlicher Zurückhaltung bemüht ist; vgl. a.a.O., S. 1669 ff. 401
A.a.O., S. 1665.
402
Vgl. Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rn. 92.
403
Vgl. zum ganzen oben B.II.2.
404
Redebeitrag bei einem gemeinsamen Kolloquium des American Institute for Contemporary German Studies und der Friedrich Ebert-Stiftung in Washington D.C. über „Foreign Policy and the Courts" am 29.09.1992. 405
Für eine Übernahme hatte sich noch Dolzer, Stellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 100 ff. (108 ff.) ausgesprochen.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre B e g r ü n d u n g 2 2 9
bzw. sie sei in anderer Form vorhanden. Zwei weitere Richter des 2. Senats sprachen sich für die Einführung einer political question doctrine aus. Die drei verbleibenden Mitglieder des 2. Senats und sämtliche Richter des 1. Senats waren dagegen und begründeten dies überwiegend damit, die political question doctrine passe nicht zur deutschen Verfassung. 406 Die Untersuchungen zum Prüfüngsmodus des Bundesverfassungsgerichts haben gezeigt, daß das Bundesverfassungsgericht mehrfach auf Argumentationsfiguren zurückgriff, die zusammen mit anderen in Baker v. Carr, der amerikanischen Leitentscheidung, die der political question doctrine dogmatische Konturen verleihen sollte, den Kriterienkatalog für das Vorliegen einer nichtjustitiablen „politischen Frage" bildeten. 407 Mochte dieser Umstand auch den Autoren der jeweiligen Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen nicht bekannt sein, so ist es dennoch zutreffend, davon zu sprechen, daß Begründungselemente der political question doctrine auch in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Anwendung finden. 408 Andererseits gilt es jedoch die Umstände zu beachten, die einer Übernahme der political question entgegenstehen, wobei einmal davon abgesehen werden soll, daß sie seit über 20 Jahren 409 von einer Mehrheit der Supreme Court-Richter nicht zur Anwendung gebracht wurde. Wie oben 410 gezeigt, sind die Konturen der political question wenig ausgeprägt. Bei den zu ihrer Charakterisierung herangezogenen Kriterien handelt es sich mehr um ex postBeschreibungen als um verläßliche Randbedingungen für die Zukunft. Diese beschreibende Definition der Doktrin gruppiert sich um Fallgruppen, von denen nur eine, die „außenpolitische", hinreichend verallgemeinerungsfähig ist, um in ein fremdes Verfassungsgefüge transponierbar zu sein. Probleme der guarantee clause gemäß Art. IV, Section 4 der US-Verfassung sind dem deutschen Verfassungsrecht ebenso fremd wie das amerikanische Verfahren zur Verfassungsänderung. Noch bedeutsamer dürfte der folgende methodische Unterschied sein: Die amerikanische political question doctrine ist eine absolute Justitiabilitätsschranke, die sich im Vorfeld der Begründetheitsebene auswirkt. Mit der Einstufung einer Streitfrage als political question läßt der Supreme Court diese
406
Vgl. Landfried,
Bundesverfassungsgericht, S. 153.
407
Vgl. oben 3.d) Auf Berührungen bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung (Kalkar, Heß) mit Begründungsfiguren der political question doctrine hat bereits zu Recht Dolzer, Verfassungskonkretisierung, S. 29 f., hingewiesen. 408
Differenzierend Bryde, S. 309 ff. (312).
409
Diese machen immerhin etwa das halbe bisherige „Lebensalter" des Bundesverfassungsgerichts aus. 4,0
B.II.2.b).cc).
230
C. Bundesrepublik Deutschland
unentschieden, eine Auseinandersetzung in der Sache findet nicht statt. 411 Im Gegensatz dazu ist eine Kategorie, die dies ermöglichen würde, dem deutschen Verfassungsprozeßrecht fremd. Trotz der Kreativität des Bundesverfassungsgerichts bei der Erweiterung der Zulässigkeitsgrenzen 412 erscheint es nicht vorstellbar, daß es gänzlich freischwebend auch eine Kategorie von „politischen Fragen" schüfe, über die es in der Sache nicht entscheidet. Folgerichtig hat das Gericht die political question-Kriterien auf der Begründetheitsebene aufgegriffen und zur Begründung einer verminderten Kontrolldichte herangezogen. Die political question doctrine, wie sie in den USA verstanden wird, stellt somit keine für das Bundesverfassungsgericht taugliche Kompetenzgrenze dar. Sie ist konturenarm, weder inhaltlich noch methodisch kompatibel und überdies in ihrem Ursprungsland in neuerer Zeit von nur untergeordneter Bedeutung. Ein Versuch der Übernahme wäre terminologisch widersinnig und würde zu nicht mehr als der Verwendung eines nur vermeintlich klaren, tatsächlich aber irreführenden und weitgehend inhaltsleeren Etiketts führen. 413 Im übrigen erscheint ein krampfhafter Versuch einer Übernahme auch nicht nötig. Das Bundesverfassungsgericht hat in Fällen verminderter Kontrolldichte Argumente verwandt, die den normativen Gehalt der political question doctrine weitgehend ausschöpfen. Insbesondere die von ihm verwandte Argumentationsfigur des „Mangels an verfassungsrechtlichen Maßstäben" 414 verweist auf mögliche in der Funktion des Bundesverfassungsgerichts liegende Grenzen, ein Phänomen, das im nachfolgenden Abschnitt näher untersucht werden soll.
4.1
Vgl. Scharpf Grenzen, S. 350.
4.2
Vgl. oben 2.b).
413
Gegen die Übernahme spricht sich die herrschende Meinung in Deutschland aus; vgl. nur Stern II, § 44 II 3, S. 961 f.; Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rn. 91. Vgl. auch K. Vögel, S. 23 ff. m.w.N., der mit ähnlichen wie den hier genannten Argumenten zum gleichen Ergebnis kommt. 4,4 Vgl. einerseits BVerfGE 49, 89 (131) - Kalkar, und Ε 62, 1 (51) - Bundestagsauflösung, andererseits das in Baker v. Carr, 369 U.S. 186, 217 (1962) genannte zweite political question-Kriterium, nämlich das Fehlen eines gerichtlich entdeckbaren und handhabbaren Standards zur Lösung der Frage.
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
231
c) Funktionell-rechtliche Grenzen415 aa) Einleitung Angesichts der offenkundig geringen normativen Leistungsfähigkeit der bisher gezeigten Ansätze zur Festlegung von Grenzen der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung versucht die Rechtslehre seit den 70er Jahren vermehrt Gesichtspunkte fruchtbar zu machen, die an der Funktion des Gerichts im deutschen Verfassungsgefuge ansetzen. Für diesen Topos hat sich im Lauf der Zeit die Bezeichnung funktionell-rechtliche Grenzen eingebürgert, die begrifflich wohl auf Ehmke 416 zurückgeht. Nachfolgend soll versucht werden, die zum Teil recht unterschiedlichen Ausprägungen des funktionellrechtlichen Ansatzes auf gemeinsame Argumentationsmuster zurückzufuhren und diese auf ihre Leistungsfähigkeit hinsichtlich der gestellten Aufgabe, normative, dem Gericht möglichst vorausliegende Kompetenzgrenzen zu liefern 417 , zu überprüfen. bb) Einzelne funktionell-rechtliche Grenzen und ihre normative Leistungsfähigkeit (1) Als zentralen Ansatzpunkt fünktionell-rechtlicher Überlegungen kann man den Grundsatz der Gewaltenteilung ansehen, auf dem die grundgesetzliche Kompetenzenordnung aufbaut. 418 Da das Bundesverfassungsgericht nach Art. 92 GG der rechtsprechenden Gewalt zugeordnet ist, erblicken viele Autoren in seiner Gerichtsformigkeit eine, wenn nicht die wesentliche funktionell-rechtliche Grenze. 419 Das Bundesverfassungsgericht hat demnach nicht das Recht zur Eigeninitiative, es ist auf einen enumerierten Kanon von An415 Vgl. dazu besonders Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit (Grenzen), S. 261; Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit; Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rn. 98 ff.; Schiaich, Rn. 470 ff; Schupperl, Funktionellrechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation (Grenzen); ders., Self-restraints der Rechtsprechung (Self-restraints), DVB1. 1988, 1191. 416
Ehmke sprach von „funktionell-rechtlichen Interpretationsprinzipien". Darunter faßte er, zum Teil vom amerikanischen Verfassungsrecht inspiriert, im wesentlichen den Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung, die political question doctrine und die heute als solche nicht mehr existierende „preferred freedoms doctrine", wonach Wirtschaftsgesetze vor allem im Wege des „freien demokratischen Prozesses" beseitigt oder modifiziert werden und gerichtlich nur auf ihre Willkürfreiheit überprüft werden können. Vgl. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 73 ff. 417
Für diese Definition fünktionell-rechtlicher Grenzen plädiert auch Heun, S. 83.
4.8
Vgl. Hesse, Grenzen, S. 265; Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rn. 85, Heun, S. 13.
4.9 Vgl. etwa Schiaich, Rn. 476; Simon, in: HdbVerfR, S. 1668; Heun, S. 83 f., demzufolge die Idee der funktionell-rechtlichen Grenzen in der Gerichtsformigkeit ihren „eigentlichen Kern" hat.
232
C. Bundesrepublik Deutschland
trags- und Verfahrensarten beschränkt und einem spezialisierten, geordneten Verfahren unterworfen. 420 Rinken hebt darüber hinaus die aus der Gerichtseigenschaft und aus der Eigenheit des judikativen Entscheidungsprozeß fließenden Grundsätze der Unparteilichkeit, der Unabhängigkeit und der Verfassungsbindung hervor. 421 (2) Doch die von Schiaich konstatierte „reaktiv-nachträgliche, punktuelle, kontrollierende Rolle" 4 2 2 reicht als funktionell-rechtliche Grenze nicht aus. Wesentliches Instrument zur Durchsetzung seiner ihm vom Grundgesetz zugewiesenen Kontrollfünktion ist die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Überprüfung und gegebenenfalls zur Kassation gesetzgeberischer Akte. Somit ist es konsequent, auch jenseits des Gerichtsförmigkeitserfordernisses funktionell-rechtliche Grenzen zu suchen. Hier bietet sich als Oberbegriff etwa der Grundsatz der Respektierung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit an. 423 Praktische Spitze dieses Grundsatzes ist die oben dargestellte Prognoserechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die sich vor allem in der Mitbestimmungsentscheidung um eine Systematisierung und theoretische Untermauerung bemühte. Auch die Prognoserechtsprechung wird daher zum Teil als Ausdruck einer funktionell-rechtlichen Schranke angesehen. 424 Im Gegensatz zur Gerichtsformigkeit, die dem Bundesverfassungsgericht von außen aufgeprägt wird, handelt es sich bei der in der Prognoserechtsprechung zum Ausdruck kommenden Respektierung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit um eine vom Bundesverfassungsgericht selbst entwickelte Grenze, über die es demzufolge auch, wenn auch nur mit einem gewissen argumentativen Aufwand, selbst verfügen kann. Definiert man funktionellrechtliche Grenzen als Phänomene, die jedenfalls in ihrem Bestand vom Gericht nicht angetastet werden können, schiede demnach diese Grenze aus. Dennoch ist sie inhaltlich nicht ohne einen gewissen funktionell-rechtlichen Gehalt: Insbesondere der zweite vom Bundesverfassungsgericht in der Mitbestimmungsentscheidung hervorgehobene und für die Kontrolldichte wesentliche Parameter - die gerichtliche Möglichkeit zur Bildung eines hinreichend sicheren eigenen fachlichen Urteils - trägt unverkennbar funktionsorientierte Züge. Immer dort, wo das Gericht, sei es aufgrund von (gegenwärtig) nicht überschaubaren komplexen Sachverhalten, von Informationsdefiziten oder 420
Schiaich, a.a.O.
421
A.a.O., Rn. 104, 106.
422
Rn. 476.
423
Vgl. Hesse, Grenzen, S. 267.
424
Hesse, a.a.O., S. 268; zurückhaltender und mit der erwähnten mißverständlichen begrifflichen Engfuhrung mit der Idee des judicial self-restraint Stern II, § 44 II 3, S. 958 ff. (961); ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 28 ff. (S. 31).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
233
von anderen Erkenntnisgrenzen nicht in der Lage ist, mit seinen Mitteln zu einer argumentativ absicherbaren und nachvollziehbaren Lösung zu kommen, stößt es an eine Grenze seiner Prüfkompetenz. Dies muß sich in einer gelokkerten Kontrolldichte niederschlagen, die im Extremfall, bei einem gänzlichen Mangel an juristisch handhabbaren Standards, faktisch einer Nichtentscheidung in der Sache entsprechen wird. 4 2 5 Konsequenterweise wird man freilich auch dieser Überlegung vorwerfen müssen, daß sie nicht außerhalb des Bundesverfassungsgerichts vollzogen werden kann. Ist das Gericht der Auffassung, daß es sich ein eigenes fachliches Urteil bilden kann 426 , so wird es, ohne daß jemand etwas dagegen würde tun können, für eine Verringerung seiner Prüfungsintensität keine Veranlassung sehen. (3) Auch die oben 427 erörterten verschiedenen Arten von Entscheidungsaussprüchen werden zum Teil als funktionell-rechtliche Grenzen interpretiert, wobei Hesse als Oberbegriff den „Gesichtspunkt der Folgenverantwortung" vorgeschlagen hat. 428 Im einzelnen werden die Unvereinbarerklärung 429, die Appellentscheidung 430 und zum Teil auch die verfassungskonforme Auslegung 431 als mögliche Ausprägungen genannt. Während Appellentscheidung und verfassungskonforme Auslegung als weitgehend der Gestaltungsfreiheit des Bundesverfassungsgerichts unterworfene Eigenkreationen gelten können, läßt sich die Unvereinbarerklärung in ihren ursprünglichen Anwendungsfällen unmittelbar auf gewaltenteilige und damit funktionell-rechtliche Grundsätze zurückführen. 432 Dennoch teilt sie, da sie ursprünglich gesetzlich nicht vorgesehen war und noch heute vom Bundesverfassungsgericht nach Belieben modifiziert werden kann, mit den beiden anderen Tenorierungsvarianten das Schicksal einer dem Gericht nicht vorausliegenden Grenze.
425 Scharpf.\ dem wir die „Funktionalisierung" der amerikanischen political question doctrine verdanken, würde in so einem Fall wohl davon sprechen, daß das Gericht in casu die Verantwortung für eine Entscheidung nicht würde übernehmen können. Vgl. Scharpf Grenzen, S. 405. 426 Zu einer derartigen Auffassung gelangt das Gericht, wie oben 3.c).cc) und dd) gezeigt, nicht isoliert, sondern immer auch in Abhängigkeit von den betroffenen Rechtsgütern. 427
Vgl. oben 4.
428
A.a.O., S, 269. Im Gegensatz zur hiesigen Darstellung ordnet Hesse (a.a.O., S. 268 f.) jedoch die verfassungskonforme Auslegung offenbar einer eigenen Kategorie zu. 429
Heun, S. 84. Jeweils unter mißverständlicher Überschrift Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 30, und Schenke, NJW 1979, 1321 (1326). 430
Heun, a.a.O.; Stern, a.a.O.; Schenke, a.a.O., S. 1325 f.
431
Hesse - mit dem soeben erwähnten caveat - , a.a.O., S. 268 f.; Simon, in: HdbVerfR, S. 1669; Stern, a.a.O., S. 28 f.; Schenke, a.a.O., S. 1325. 432
Vgl. oben 4.b). und e).
234
C. Bundesrepublik Deutschland
(4) Ausgehend von der klassischen bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 3 des Grundgesetzes, nach der der Gleichheitssatz für den handelnden Gesetzgeber ein Optimierungsgebot, für das kontrollierende Gericht aber lediglich ein Willkürverbot umfaßte, hat Hesse die Frage aufgeworfen, ob nicht wichtige funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit im Bereich der Interpretation des materiellen Verfassungsrechts zu suchen seien.433 Insbesondere Schuppert hat diesen, ursprünglich auf Ehmke zurückgehenden Gedanken vertieft und versucht, ihm Konturen zu verleihen. 434 Er will zwischen typisch eindimensionalen und typisch mehrdimensionalen Freiheitsproblemen 435 unterscheiden und ordnet tendenziell erstere dem Schutzbereich klassischer Abwehrrechte, letztere dem Schutzbereich mehr organisatorisch orientierter Grundrechte zu. 436 Eindimensionale Freiheitsprobleme bedingten eine intensive verfassungsgerichtliche Kontrolldichte. Mehrdimensionale Freiheitsprobleme erforderten hingegen die Ausbalancierung mehrerer von der Verfassung angestrebter Ziele und die Beantwortung von in der Verfassung nicht vorgezeichneten Abwägungsfragen. Je mehr dies der Fall sei, umso eher sei der Gesetzgeber zur Lösung solcher Probleme berufen; die Intensität der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle müsse in entsprechendem Maß reduziert werden. 437 Als insofern mißlungenes Rechtsprechungsbeispiel stuft Schuppert die Fristenlösungsentscheidung, als gelungen hingegen das Mitbestimmungsurteil ein. Unter Verarbeitung von Erkenntnissen aus dem amerikanischen Verfassungsrecht hat Schuppert in einem neueren Beitrag nochmals zur Problematik der funktionell-rechtlichen Grenzen Stellung genommen.438 Darin weist er, für die USA zutreffend, auf die Auswirkungen des jeweiligen Kontrollmaßstabs auf das Ergebnis der Verfassungsprüfung 439 und den Zusammenhang zwischen Verfassungsinterpretation, Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit und Kontrolldichte 440 hin, verzichtet aber von vornherein ausdrücklich darauf, die funktionell-rechtlichen Grenzen von Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit im einzelnen zu bestimmen441 und beläßt es am Ende bei dem 433
Hesse, a.a.O., S. 270.
434
Schuppert, Grenzen.
435
Zu diesem neuen Begriff vgl. a.a.O., S. 26 ff.
436
A.a.O., S. 46 ff.
437
A.a.O., S. 52 ff. (56 f.).
438
Schuppert, Self-restraints, DVB1. 1988, 1191.
439
A.a.O. S. 1192 f. Vgl. dazu für die USA oben B.II.3.a).bb). Daß in Deutschland auch höchste Eingriffsintensität nicht ohne weiteres zur Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Regelung führt, wird z.B. aus der zweifelhaften Güterkraftverkehrsentscheidung deutlich. Vgl. dazu oben 3.c).cc) am Ende. 440 4
A.a.O., S. 1195 f. A.a.O., S.
1 .
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
235
Fazit, daß ,jedwede Verfassungsinterpretation ... eine funktionell-rechtliche Dimension" habe. Dies gelte nicht nur fur einzelne Grundrechtstheorien, sondern auch für die Bestimmung der Interpretationsbefugnisse der Verfassungsgerichtsbarkeit überhaupt. 442 Den von Schuppert gemachten Beobachtungen wird man sich ohne Zögern anschließen können. Der Terminus „mehrdimensionale Freiheitsprobleme" bietet eine knappe Formel zur Rechtfertigung einer reduzierten richterlichen Kontrolldichte bei komplexen Sachverhalten, in denen mehr als Grundrecht tangiert ist. Dennoch ist auch sie mehr deskriptiv als normativ, dient mehr der argumentativen Absicherung eines diagnostizierten Ergebnisses als der determinierenden Grenzziehung für zukünftige Fragen. 443 Dies gilt, wie im folgenden deutlich werden wird, auch für den von Schuppert geforderten Rückgriff auf die (funktionell-rechtliche) Interpretation der inhaltlichen Aussagen der Verfassung. cc) Kritik
und die Suche nach Alternativen
Die normative Schwäche der soeben unter (2) bis (4) erörterten, wie auch weiterer jenseits der Gerichtsformigkeit liegender fünktionell-rechtlicher Grenzen 444 kann bei näherem Hinsehen nicht verborgen bleiben und hat daher (Selbst-)Kritik erfahren. Hesse hat eingeräumt, daß sich die funktionell-rechtlichen Grenzen nicht „mit voller Trennschärfe" ziehen ließen, was freilich nicht bedeuten dürfe, daß man sich nicht mehr um sie bemühen solle. 445 Markant ist die Kritik von Schiaich und Heun. Schiaich will das Begrenzungsproblem rein materiell-rechtlich lösen: „Funktionell-rechtlich formulierte Sätze können als systematische Beschreibungen der Rechtsprechung verwendet werden. Aus Beschreibungen heraus lassen sich aber nicht Kompetenzen zuoder absprechen." 446 „Der Schlüssel für die Bestimmung der Kontrolldichte und Reichweite des BVerfG muß — bei allen Schwierigkeiten mit der Interpretation der Verfassung - die Verfassung sein und bleiben: Nicht das Gericht, sondern die Verfassung als Prüfungsmaßstab des Gerichts ist entweder zurückhaltend oder deutlich greifend." 447 Diese Position kann sich darauf be-
442
A.a.O., S. 1197.
443
Vgl. die Kritik von v. Brünneck, S. 154 ff; zweifelnd gegenüber dem Schuppertschen Ansatz auch Hesse, Grenzen, S. 271. 444
Vgl. dazu Schiaich, Rn. 478, 483 ff.
445
A.a.O., S. 271 f.
446
Rn. 490 (Hervorh. i.O.).
447
Rn. 491 (Hervorh. i.O.).
236
C. Bundesrepublik Deutschland
rufen, daß sich das Bundesverfassungsgericht selbst mehrfach auf eine materiell-rechtlich orientierte Argumentation gestützt hat. 448 Noch schärfer äußert sich Heun. Er hält im Gegensatz zu Schuppert die, bekanntlich zuerst in der Mitbestimmungsentscheidung vorgenommene, Abstufung der Kontrolldichte nicht für den Ausdruck einer funktionell-rechtlichen Zuordnung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, sondern betont, die Abstufung der Kontrolldichte werde „ausschließlich mit materiellrechtlichen Argumenten" vorgenommen 449, funktionell-rechtliche Gedanken seien für die Bestimmung der Kontrolldichte irrelevant. 450 Auch Böckenförde sieht den Kern der Begrenzungsproblematik auf der materiell-rechtlichen Ebene. Die Rechtsfigur der funktionell-rechtlichen Grenzen hält er insoweit für untauglich: „Der Gedanke funktionellrechtlicher Begrenzung verfangt sich in sich selbst. Die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit läßt sich nicht unabhängig von den ihr zugewiesenen Kompetenzen, sondern erst aus ihnen heraus bestimmen. Mithin kommt es auf die konkreten, im Grundgesetz festgelegten Aufgaben und Befugnissen an. ... Allenfalls bleibt die Berufung auf die Gerichtsformigkeit und ,Richterlichkeit' in der Wahrnehmung der zugewiesenen Aufgaben." 451 Nachdem somit fünktionellrechtlicherseits keine Hilfe zu erwarten ist, verbleibt es bei der materiellrechtlichen Problematik, die Böckenförde aus grundrechtsdogmatischem Blickwinkel auf einen gerichtskompetenziellen Dualismus zwischen Demokratie und Rechtsstaat zuspitzt: wenn man die Grundrechte auf ihren klassischen Charakter als subjektive Freiheitsrechte, die im unmittelbaren Verhältnis Staat-Bürger gelten, zurückführe, verlagere sich die Gestaltung der substantiellen Rechtsordnung wieder auf den parlamentarischen Gesetzgeber. „Der ,Kampf ums Recht' spielt sich primär im Parlament und in der parlamentarischen Auseinandersetzung ab, begleitet von und unter Beteiligung der Öffentlichkeit, nicht primär vor den Schranken des BVerfG." 452 Halte man demgegenüber am objektiv-rechtlichen Verständnis der Grundrechte fest und entwickele man das so entstandene Geflecht von Wertentscheidungen und daraus fließenden Schutzpflichten fort, sei „das stete Fortschreiten zum ver448 Vgl. BVerfGE 62, 1 (51) - Bundestagsauflösung, dazu oben 3.b) - , und, wenn auch nicht ganz so ausdrücklich, die beiden Pershing Ii-Entscheidungen Ε 66, 39 (60 f.) und Ε 68, 1 (80); dazu oben 3.a).bb). 449 S. 37. Im Ergebnis ebenso Schiaich, Rn. 502. Zuwenig Aufmerksamkeit widmet Heun, a.a.O., S. 38, jedoch dem für die Kontrolldichte maßgeblichen Parameter der gerichtlichen Möglichkeit zur Bildung eines hinreichend sicheren eigenen fachlichen Urteils. Es ist für sich betrachtet ein fünktionell-rechtlicher Gesichtspunkt, der lediglich materiellrechtlich, nämlich von der Bedeutung des in Rede stehenden Grundrechts, überlagert wird. 450
A.a.O., S. 39.
451
Der Staat 29 (1990), 1, 26 f.
452
A.a.O., S. 28. Kritisch dazu Heun, S. 61 ff. (63 f.).
II. Prüfungsumfang, Rechtsprechungsgrenzen und ihre Begründung
237
fassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat", in der der Gesetzgeber immer mehr zu einem bloßen Verordnungsgeber verkümmere, nicht aufzuhalten. Am Ende dieses Weges nehme ein „gourvernement des juges constitutionnels" immer mehr den Platz des parlamentarischen Gesetzgebers ein. 453 Für die von Böckenförde offengelassene Entscheidung in Richtung einer der beiden von ihm alternativ entworfenen Szenarien kommt es mithin auf die - maßgeblich vom Gericht entwickelte - Grundrechtsdogmatik an. Im Hinblick auf die hier aufgeworfene Frage ist allerdings festzuhalten, daß auch die Grundrechtsdogmatik keine außerhalb des Bundesverfassungsgericht stehende Grenze darstellt. Im Gegenteil: Wer entscheidet letztverbindlich über die geltende Grundrechtsdogmatik? Wer hat verbindlich die objektiv-rechtliche Seite der Grundrechte entfaltet, wer daraus Schutzpflichten abgeleitet, die sich bis zur verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Erlaß bestimmter, detaillierter Strafrechtsnormen verdichten können? Allein das Bundesverfassungsgericht könnte, zwar im konsensstiftenden Dialog mit der Rechtslehre, aber doch letztlich in eigener Verantwortung, die kompetenzerweiternde objektiv-rechtliche Grundrechtsfünktion wieder begrenzen. Wird eine Mehrheit der Richter dies wollen? Oder ist es nicht vorteilhafter, den geschafffenen richterlichen Spielraum beizubehalten, sich fallweise mit funktionell-rechtlichen Argumenten auf eine bloße Evidenzkontrolle zurückzuziehen und sich so „letztlich alle Entscheidungsmöglichkeiten" offenzuhalten? 454 Auch jenseits der grundrechtlichen Verfassungsnormen liegt die letztverbindliche Interpretationskompetenz beim Bundesverfassungsgericht. Wer wie Schiaich meint, der Schlüssel fur die Bestimmung von Kontrolldichte und Reichweite des Bundesverfassungsgerichts sei die Verfassung, die entweder zurückhaltend oder deutlich greifend sei, muß bedenken, daß in Zweifelsfragen die Verfassung demjenigen gerade keine Grenzen setzen kann, der zu ihrer letztverbindlichen Auslegung und Konkretisierung berufen ist. Zwar haben staatsorganisationsrechtliche Verfassungsnormen unter Begrenzungsgesichtspunkten oft den Vorteil größerer sprachlicher Bestimmtheit gegenüber den offeneren und interpretationsbedürftigeren Grundrechten. Wenn aber das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zur Bundestagsauflösung eine zumindest eigenwillige Definition des Vertrauensbegriffs im Sinne von Art. 68 GG vornimmt und in der Norm im übrigen ein System gegenseitiger politischer Kontrolle mit nur begrenzt überprüfbaren politischen Leitentscheidungen und Ermessensspielräumen angelegt sieht 455 , so ist dies zwar vertretbar, 453 Böckenförde, a.a.O., S. 29 f., S. 26. Vgl. dazu auch oben l.b). Zu weiteren aus einer Überbetonung der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte resultierenden Gefahren vgl. Schenke, NJW 1979, 1321 (1327 f.). 454
Vgl. Heun, S. 69.
455
BVerfGE 62, 1 (37, 51); vgl. oben 3.b).
238
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aber doch, wie nicht nur die Sondervoten zeigen, keineswegs zwingend. An der Feststellung, daß das Bundesverfassungsgericht hier über die KompetenzKompetenz, das heißt über die Kompetenz verfügt, Intensität, Reichweite und Grenzen seiner Prüfungskompetenz selbst zu bestimmen, führt kein Weg vorbei. dd) Zusammenfassung; andere „ Grenzen " Rechtslehre und Bundesverfassungsgericht bemühen sich in letzter Zeit verstärkt um die Herausarbeitung eigenständiger Argumentationsfiguren zur Begrenzung der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts. Unbestritten ist, daß der von der grundgesetzlichen Funktionenordnung vorgegebene Gerichtscharakter das Bundesverfassungsgericht zu einer fallorientierten Kontrollinstanz macht, die kein Initiativrecht hat und in ihrem Tun an den Kontrollmaßstab Grundgesetz gebunden ist. Darüber hinausgehende funktionellrechtliche Überlegungen betonen die durch die bundesverfassungsgerichtliche Prognoserechtsprechung zum Ausdruck kommende Respektierung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers und die unter dem Gesichtspunkt der Folgenverantwortung zu würdigende Differenzierung der Entscheidungsaussprüche. Die so gefundenen „Grenzen" liefern wertvolle Erkenntnisse zur Einordnung und Systematisierung der Rechtsprechung und tragen zu einer gewissen Vorhersehbarkeit künftiger Entscheidungen bei. Dennoch müssen sie sich den Vorwurf gefallen lassen, daß sie mehr nachträglich beschreibende Analysen als dem Gericht vorausliegende, normative Grenzen sind. Andererseits fuhrt auch der Versuch, das Bundesverfassungsgericht auf materiell-rechtlichem Wege normativ in die Pflicht zu nehmen, nur zu der Erkenntnis, daß jenseits von zweifelsfreiem Wortsinn und Normzweck das Bundesverfassungsgericht sich selbst seine Grenzen setzt. Da jedoch Verfassungsinterpretation nicht allein Sache dieses Gerichts ist, bleiben die anderen an diesem Prozeß Beteiligten, insbesondere die Verfassungsrechtslehre aufgefordert, sich an der materiell-rechtlichen Verfassungsdiskussion, namentlich im Hinblick auf den in der Grundrechtsdogmatik einzuschlagenden Weg, intensiv zu beteiligen. Da somit das nicht der Kreations-, Modifikations- und Interpretationsmacht des Bundesverfassungsgericht unterliegende Begrenzungspotential gering ist, sollten auch andere Mechanismen, die zumindest durch die von ihnen ausgehenden Vorwirkungen zur Begrenzung der Machtfulle des Gerichts beitragen können, in den Kreis der Überlegungen mit einbezogen werden. Derartige „Meta-Grenzen" könnte man unter die Begriffs-Trias Diskurs, Kritik, Kontrolle fassen. 456
456 Vgl. dazu Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rn. 127 ff.; Bryde,, S. 351 ff. (Hervorh. nicht i.O.).
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Öffentlichkeit und Mündlichkeit von Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ermöglichen es auch anderen als den unmittelbar Verfahrensbeteiligten, (constitutional) „law in action" zu erleben und ebnen somit den Weg zur Auseinandersetzung mit der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung. Für Verfahrensbeteiligte kann die Möglichkeit, ihr Anliegen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vorzubringen und somit, im wahrsten Sinne des Wortes, „richterliches Gehör" zu finden, maßgeblich dazu beitragen, auch eine negative Entscheidung zu akzeptieren. Zur Akzeptanz trägt auch die im internationalen Vergleich erfreulich ausführliche, sachliche und klar strukturierte Begründungspraxis des Bundesverfassungsgerichts bei. „Die offene und durch ihre Argumente überzeugende Begründung ist geeignet, Mißtrauen gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre Entscheidungen abzubauen; sie ist Voraussetzung der Zustimmung, ohne die verfassungsrechtliche Entscheidungen ihre Wirkung verfehlen müssen." 457 Diese unverändert richtige Aussage hat angesichts des durch die deutsche Vereinigung bedingten Hinzutretens von 16 Millionen potentiell Verfahrensbeteiligten 458 eine unerwartete Aktualisierung erfahren. Mag auch das Bundesverfassungsgericht letztverbindlich über Verfassungsfragen entscheiden, so ist die Verfassungsinterpretation nicht ausschließlich seine Sache. Eine sachliche Kritik aus Parlament, Fachkreisen und allgemeiner Öffentlichkeit an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist zulässig. Das Gericht bedarf dieser Art von Rückbindung und sollte nicht meinen, darüber erhaben zu sein. „Richterliche Unabhängigkeit korrespondiert funktional nicht mit einer besonderen Empfindlichkeit, sondern gerade mit einer gesteigerten Offenheit für Kritik." 4 5 9 Mit der Einfuhrung des Sondervotums wurde ein Instrument geschaffen, das strukturell sowohl die gerichtsinterne als auch die Kommunikation „nach außen" fördert. Es dient der Offenlegung und Intensivierung der Diskussion strittiger Fragen und hat sich für die Diskussion zwischen Rechtsprechung und Rechtslehre als fruchtbar erwiesen. Was die Kontrolle angeht, so müssen etwaige Einwirkungsmöglichkeiten von außen460 rasch an die Grenze richterlicher Unabhängigkeit stoßen. Lediglich im Vorfeld besteht über die Wahl der Verfassungsrichter die Möglichkeit der Einflußnahme. Persönliche Integrität, fachliche Kompetenz und — wo immer möglich — parteipolitische Unabhängigkeit sollten bei der Kandi457
Hesse, Grenzen, S. 272.
458
Und, man denke nur an die zweite Entscheidung zum § 218 vom Mai 1993, vielen aktuell Verfahrensbetroffenen, die dem Bundesverfassungsgericht kritisch gegenüberstehen. 459 460
Rinken, a.a.O., Rn. 129.
Das Sondervotum kann man als „ein Stück institutionalisierter Selbstkontrolle" auffassen; vgl. Rinken, a.a.O., Rn. 128.
240
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datenkür vorrangig berücksichtigt werden. Sie haben bisher zu der hohen Akzeptanz der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ebenso beigetragen wie zu dem beachtlichen Ansehen, das seine Mitglieder genießen.
I I I . Zwischenergebnis Deutschland Das Bundesverfassungsgericht wurde im Gegensatz zum United States Supreme Court als institutionell verselbständigter Verfassungsgerichtshof, der ausschließlich für Verfassungsfragen zuständig ist, geschaffen. Der deutsche Verfassungsgesetzgeber sah in ihm eine Verkörperung der Rechtsstaatsidee, der man, insbesondere nach den Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur, in dem neuen Staat ein besonderes Gewicht verleihen wollte. So wurde das Bundesverfassungsgericht in die Reihe der Verfassungsorgane aufgenommen und mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet. Diese sollten das Recht zur Streitschlichtung zwischen verschiedenen Staatsorganen und innerhalb der föderalen Ordnung ebenso umfassen wie die Befugnis zur Normenkontrolle und zur Sicherung des Verfassungsbestandes. Durch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz als Organisationsstatut wurde außerdem die Verfassungsbeschwerde in den Zuständigkeitskatalog aufgenommen. Sie macht inzwischen quantitativ den weitaus größten Teil der anhängigen Verfahren aus und hat für die überragende Bedeutung der Grundrechte gesorgt, die diese nicht nur im Verfassungs- und „einfachen" Recht, sondern auch im öffentlichen Bewußtsein genießen. Die Richterwahl hat das Grundgesetz in die Hände der beiden Kammern des Parlaments gelegt. Das Erfordernis von 2/3-Mehrheiten führt zur Kür von Kandidaten, über deren fachliche und persönliche Eignung Konsens herrscht. Andererseits hat sich angesichts der bisherigen parteipolitischen Konstellation ein von Parteienproporz geprägtes Denken breitgemacht; Kandidaten, die keiner der beiden großen Parteien nahestehen, sind benachteiligt. 1970 hat der Gesetzgeber, dem amerikanischen Beispiel folgend, für die Bundesverfassungsrichter die Möglichkeit geschaffen, abweichende Meinungen in Form eines Sondervotums offenzulegen. Dieses Rechtsinstitut, von dem im Vergleich zu den USA bisher eher sparsamer Gebrauch gemacht wurde, hat dazu beigetragen, strittige Verfassungsfragen ans Licht der (Fach-) Öffentlichkeit zu holen und die wissenschaftliche Diskussion innerhalb und außerhalb des Gerichts anzuregen. Ohne daß seine Autorität dadurch erkennbar gelitten hätte, erscheint das Bundesverfassungsgericht nun weniger als monolithischer, zur Einstimmigkeit verdammter Block und mehr als ein aus Fachleuten zusammengesetztes Richterkollegium, das gelassen genug ist, die Diskussion sachbezogener Auffassungsunterschiede auch außerhalb des Beratungszimmers zuzulassen.
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Die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts haben sich inzwischen weit über die von Verfassungs- und Gesetzgeber ursprünglich vorgesehenen Grenzen hinaus entwickelt. Maßgeblichen Anteil daran hatte die grundrechtsdogmatisch motivierte Entwicklung von Art. 2 I GG zur allgemeinen Handlungsfreiheit und, mehr noch, die Entfaltung der objektiv-rechtlichen Funktion der Grundrechte schlechthin. Daraus resultiert zum einen eine inhaltliche Verschiebung der bundesverfassungsgerichtlichen Kompetenzen über die Idee nachträglich-punktueller richterlicher Kontrolle hinaus, andererseits sieht sich das Gericht einer noch immer anschwellenden Flut von Verfassungsbeschwerdeverfahren gegenüber. Sowohl der Gesetzgeber als auch das Bundesverfassungsgericht haben sich um eine Eindämmung der Verfahrensflut bemüht, was gleichzeitig auch als Versuch zur Begrenzung der gewachsenen Kompetenzen interpretiert werden kann. Das für Verfassungsbeschwerden obligatorische Annahmeverfahren wurde vom Gesetzgeber mehrfach novelliert, hat aber bisher nicht zu einer wesentlichen Entlastung des Gerichts geführt. Dem verschiedentlich, auch aus der Mitte des Bundesverfassungsgerichts geäußerten Wunsch auf Einführung eines freien Annahmeverfahrens nach Vorbild des Supreme Court hat der Gesetzgeber bisher nicht entsprochen; das Gericht hat nach wie vor bei der Entscheidung über die Annahme einer Verfassungsbeschwerde kein Ermessen. Als erfolgreicher haben sich vom Gericht selbst entwickelte Begrenzungsmechanismen erwiesen. Ausgehend vom Prinzip der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht das ungeschriebene dreiteilige Zulässigkeitshindernis des Selbst-, Unmittelbar- und Gegenwärtigbetroffenseins errichtet. Hier sind definitorische wie auch funktionale Ähnlichkeiten zur amerikanischen Zulässigkeitspraxis, namentlich zu den Kriterien Standing und ripeness erkennbar. Auch bei anderen Verfahrensarten zeigen sich die deutschen Richter restriktiv und legen die — überwiegend kodifizierten — Zulässigkeitsbedingungen eng aus. Bemerkenswerter und unter Vergleichsgesichtspunkten fruchtbarer sind die vom Bundesverfassungsgericht auf der materiellen Ebene entwickelten Grenzen seiner Rechtsprechungskompetenz. Diese äußern sich regelmäßig darin, daß das Gericht Verhaltensweisen der anderen Gewalten bzw. ihrer Organe Bereichen zuweist, in denen sie über gerichtlich nur eingeschränkt, d.h. mit verminderter Kontrolldichte, nachprüfbares „Ermessen" 461 verfügen. Fallgruppenweise lassen sich hier auswärtige Angelegenheiten, von der Exekutive bestimmte Entscheidungen im Innern und schließlich dem Gesetzgeber eingeräumte Prognose-, Einschätzungs- und Entscheidungsspielräume unterscheiden. 461
Im weiten, untechnischen Sinn des Wortes.
16 Rau
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Im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten räumt das Bundesverfassungsgericht der Exekutive einen breiten Raum politischen Ermessens ein, innerhalb dessen Handlungen allenfalls einer Evidenzkontrolle unterzogen werden und im übrigen politisch zu verantworten sind. Als verallgemeinerungsfahige Begründung wird unter anderem das internationale Auftreten Deutschlands mit einheitlicher Stimme deutlich. Dies gilt grundsätzlich für Vertragsverhandlungen ebenso wie für Einschätzungen innerhalb der Verteidigungspolitik. Aus dem Rahmen fallen insoweit lediglich die Entscheidung zum Grundlagenvertrag mit der ehemaligen DDR, die sich mit der Besonderheit der innerdeutschen Situation erklären läßt, und die Entscheidung zu Auslandseinsätzen deutscher Soldaten, bei der das Bundesverfassungsgericht offenkundig der Auffassung war, die zugrundeliegende grundsätzliche Kontroverse durch eine von jeder Zurückhaltung freie, unzweideutige Entscheidung lösen zu müssen. Auch im Rahmen innenpolitischer Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht exekutivische Einschätzungsspielräume geschaffen, mit denen eine verminderte gerichtliche Kontrolldichte korrespondiert. Das gilt insbesondere dann, wenn es dem Gericht nach eigener Auffassung an verfassungsrechtlich greifbaren Maßstäben fehlt oder wenn die Verfassung selbst — nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts - die Ausübung eines nur eingeschränkt justitiablen Ermessens einräumt. Dem Gesetzgeber gegenüber hat das Bundesverfassungsgericht im Lauf der Zeit vor allem im Bereich der Wirtschaftsgesetzgebung seine Kontrollintensität in differenzierter Weise zurückgenommen und spiegelbildlich dazu der Legislative eine, terminologisch recht „bunte" Vielzahl von Prognose-, Einschätzungs- und Entscheidungsspielräumen eröffnet. Nach dem Mitbestimmungsurteil als maßgeblicher Leitentscheidung sind fur die jeweils anzuwendende Kontrolldichte die Eigenart des Sachbereichs, die Möglichkeit zur Bildung eines eigenen Urteils und die Bedeutung der tangierten Rechtsgüter maßgeblich. Während die im gleichen Atemzug genannte Dreiteilung der Kontrollmaßstäbe in Evidenzkontrolle, Vertretbarkeitskontrolle und intensivierte inhaltliche Kontrolle angesichts angreifbarer Zuordnungen inzwischen auch vom Bundesverfassungsgericht selbst in Zweifel gezogen wird, erweisen sich die drei für die Kontrolldichte relevanten Parameter als vergleichsweise geeignet. Komplexe Sachbereiche, die mit rechtlichen Maßstäben schwer zu erfassen und somit einer autonomen richterlichen Entscheidungsfindung kaum zugänglich sind, begegnen grundsätzlich einer verminderten Kontrolldichte. Diese intensiviert sich jedoch - im Zweifel ohne Rücksicht auf Komplexität und gesetzgeberische Prognosen — dort wieder, wo fundamentale Grundrechte, insbesondere das Grundrecht auf Leben und neuerdings immer mehr auch das auf Gleichheit, tangiert werden.
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Neben der seit dem Mitbestimmungsurteil gängigen Parameter-Trias wirken sich auch die Art des bundesverfassungsgerichtlichen Verfahrens und, oft damit in Verbindung stehend, die Funktionsart eines etwa geltend gemachten Grundrechts auf die gerichtliche Kontrolldichte aus. Dabei kann es auch zu Überschneidungen kommen, durch die die Kontrolldichte weiter gelockert wird. Extrembeispiel ist insoweit die auf eine grundrechtliche Schutzpflicht des Staates gestützte individuelle Verfassungsbeschwerde, mit der ein ganz bestimmtes Handeln staatlicher Organe begehrt wird. Insgesamt zeigt die unter dem Gesichtspunkt unterschiedlicher Prüfungsmodi analysierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zahlreiche argumentative Ähnlichkeiten zu Begründungsfiguren, die in den USA zum Kriterienkanon der political question doctrine gehören und demzufolge bei ihrer Anwendung nach amerikanischer Auffassung zur vollständigen Nichtjustitiabilität des jeweiligen Problems führen müßten. Die Konsequenz, die das Bundesverfassungsgericht zieht, ist eine andere: Es tritt in die Sachprüfung ein und übt somit die ihm aufgegebene richterliche Funktion aus. Jedoch bedient es sich dazu eines Kontrolldichtekontinuums, bei dem eine faktische Nichtkontrolle das eine, eine die gesetzgeberische Funktion faktisch ersetzende, detailregelnde Kontrolle das andere Ende der Skala markiert. Als deutsches Spezifikum können die verschiedenen der vom Bundesverfassungsgericht bei Normenkontrollen entwickelten Entscheidungsvarianten gelten, durch die das Gericht vom gesetzlich vorgesehenen Normalfall der rückwirkenden Nichtigerklärung abgeht und somit gleichzeitig seine Rechtsfolgekompetenzen nicht voll ausschöpft. Die wesentlichen Grundformen sind die Unvereinbarerklärung, die Appellentscheidung und die verfassungskonforme Interpretation. Erstere ist weniger Ausdruck eines Zurückführens an sich bestehender Kompetenzen auf selbst entwickelte Grenzen, sondern eher eine funktionsgerechte Reaktion gegenüber dem Gesetzgeber. Appellentscheidungen sind hingegen charakteristisch für das vom Bundesverfassungsgericht selbst gewählte kompetenzielle Minus, das Nichtausschöpfen der ihm eigentlich zustehenden Befugnisse. Eine der für Appellentscheidungen maßgeblichen Fallgruppen umschreibt komplexe, im Fluß befindliche Sachverhalte. Von ihr läßt sich eine Brücke zur weiter oben behandelten Prognoserechtsprechung schlagen und zeigen, daß manche Fallbeispiele beiden Kategorien zugeordnet werden können. Somit überschneiden sich an dieser Stelle zwei vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Begrenzungsphänomene, eines der Kontrolldichte und eines des Entscheidungsausspruchs. Die letzte Entscheidungsvariante, die verfassungskonforme Interpretation, ist demgegenüber hinsichtlich ihres Begrenzungscharakters zweifelhaft. Achtet das Gericht nicht genau auf Wortlaut- und Normzweckgrenze der von ihm verfassungskonform ausgelegten Vorschrift, besteht die Gefahr, daß an die Stelle der Schonung des Gesetzgebers dessen Bevormundung tritt.
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In der rechtswissenschaftlichen Literatur sind zahlreiche Versuche unternommen worden, die Grenzen der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung systematisch zu erfassen. Dabei erweist sich zunächst, daß der Versuch, Rechtsfiguren aus dem amerikanischen Verfassungsrecht einfach zu importieren, zu kurz greift. Judicial self-restraint und political question doctrine sind entweder zu unbestimmt oder inkompatibel — oder beides. Als - nur vermeintlich treffende - Oberbegriffe eignen sie sich daher nicht, mag auch im einzelnen das der political question doctrine innewohnende Argumentationsmaterial vom Bundesverfassungsgericht in manchmal verblüffender Ähnlichkeit verwandt worden sein. Der von der Funktion des Bundesverfassungsgerichts ausgehende Ansatz zur Bestimmung seiner Kompetenzgrenzen hat neben der Gerichtsformigkeit zum Teil auch die in der Prognoserechtsprechung zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit und die sich in der abgestuften Tenorierungspraxis manifestierende Folgenverantwortung als „funktionell-rechtliche" Grenzen interpretiert. Versteht man unter diesem Begriff allerdings Grenzen, die in ihrem Bestand und in ihrer wesentlichen Gestalt dem Bundesverfassungsgericht vorausliegen, es also in seiner Spruchpraxis festlegen und für das Gericht indisponibel sind, bleibt jenseits des Gerichtscharakters und der sich daraus unmittelbar ergebenden Konsequenzen nicht viel übrig. Bei den sonst ermittelten „Grenzen" handelt es sich um vom Bundesverfassungsgericht selbst entwickelte, mithin um solche, die dem Gericht gerade nicht vorausliegen, sondern von ihm selbst verändert, eingeschränkt und grundsätzlich auch wieder abgeschafft werden können. Nur durch eine Kodifizierung, etwa der verschiedenen Rechtsfolgeanordnungen, könnte man diese „Grenzen" der Verfügungsmacht des Bundesverfassungsgerichts entziehen. Diesbezügliche gesetzgeberische Vorhaben konnten sich, bisher jedenfalls, nicht durchsetzen. Auch der Versuch, auf materiell-rechtlichem Wege Rechtsprechungsgrenzen festzulegen, ist von begrenztem Wert. Zwar stellt das Grundgesetz, zumal im Vergleich zur amerikanischen Verfassung, eine umfassende, systematische, junge und überdies relativ leichter zu reformierende Verfassung dar. Wortlaut, Sinnzusammenhang, Entstehungsgeschichte und meist auch historisches Telos lassen sich vergleichsweise zuverlässig ermitteln. Doch auch das Grundgesetz regelt nicht alles. In Zweifelsfragen ist gerade das Bundesverfassungsgericht zur autoritativen, letztverbindlichen Interpretation des materiellen Verfassungsrechts berufen, so daß dieses gerade keine ihm vorausliegende Grenze darstellen kann. Dies gilt für alle der Auslegung zugänglichen Normen des Grundgesetzes, in besonderen Maße jedoch für die Grundrechte, deren dogmatische Einordnung maßgeblich über Rolle und Grenzen des Bundesverfassungsgerichts entscheidet.
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Die vom funktionell-rechtlichen wie vom materiell-rechtlichen Begrenzungsansatz ausgehenden normativen Wirkungen erweisen sich somit als eher bescheiden. Dennoch helfen sie dabei, das vom Gericht geschaffene Gerüst seiner Rechtsprechungsgrenzen zu erkennen, zu systematisieren und zu überprüfen. Gleichzeitig führen sie der Rechtslehre, dem Gesetzgeber und nicht zuletzt auch dem Bundesverfassungsgericht selbst vor Augen, wie weit die Kompetenzen des höchsten deutschen Gerichts reichen und in welch hohem Maße sie von ihm selbst mitbestimmt werden. Für die beiden anderen Gewalten, wie auch für die Bürger, die Ausgangs- und Zielpunkt unserer Verfassungsordnung sind, wird gleichzeitig deutlich, daß das Bundesverfassungsgericht unserer aller Aufmerksamkeit, unserer Kontrolle und auch unserer Kritik bedarf.
D. Vergleich I. Zur Vergleichbarkeit von Supreme Court und Bundesverfassungsgericht Die Unterschiede zwischen dem United States Supreme Court und dem Bundesverfassungsgericht sind nicht zu übersehen1: Auf der einen Seite steht ein über 200 Jahre altes, ursprünglich nur als Rechtsmittelinstanz gedachtes „allgemeines" Bundesgericht. Es mußte sich eine bis dahin nicht nur im Rechtskreis des Common Law umstrittene und unübliche verfassungsrechtliche Normenkontrollbefugnis erst selbst erstreiten und überprüft bis heute die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen nur im Wege von Inzidentprüfungen von „cases or controversies". Auf der anderen Seite steht ein 160 Jahre später geschaffener, institutionell verselbständigter Verfassungsgerichtshof, dessen — umfassende - Kompetenzen, der Tradition seines Rechtskreises entsprechend, kodifiziert sind und unter anderem die abstrakte Normenkontrolle und die Verfassungsbeschwerde umfassen. Doch trotz der Unterschiede in Entstehungsgeschichte, Rechtskreis und ursprünglich zugewiesenen Aufgaben überwiegen heute die Gemeinsamkeiten, so daß ein Vergleich zwischen den beiden Spruchkörpern gerechtfertigt ist. Beide Gerichte befassen sich mit einer eminent politischen Materie. 2 Bereits Alexis de Toqueville hatte beobachtet, daß „(t)here is hardly a political question in the United States that does not sooner or later turn into a judicial one."3 Der Supreme Court war sich dessen auch von Anfang an bewußt, wie etwa seine Entscheidung in Marbury v. Madison zeigt.4 Felix Frankfurter, einer der intellektuellen Köpfe des Supreme Court in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, befand, daß „(t)he process of constitutional interpretation compels the translation of policy into judgment" 5 und sein Kollege Jackson bemerkte: „ A l l constitutional interpretations have political consequences."6 1 Vgl. auch v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 28 f. m.w.N., der im Anschluß an Cappelletti und Ritterspach zwischen „diffuser" und „konzentrierter" Verfassungskontrolle unterscheidet. 2 Anhand der Grundsatzentscheidungen der beiden Gerichte ließe sich eine politische Geschichte des jeweiligen Staates schreiben. 3
Democracy in America, S. 270, zitiert nach Stone , Constitutional Law, S. 114.
4
Vgl. dazu oben B.I.2.a).
5
Frankfurter, The Supreme Court, in: Aspects of American Government, London, 1950, S. 33 ff. (45), zitiert nach Rupp-v Brünneck, Verfassungsgericht und gesetzgebende Gewalt, AöR 102 (1977), S. 1 ff. (2).
I. Zur Vergleichbarkeit von Supreme Court und BVerfG
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Auch in Deutschland ist der enge Bezug zwischen Verfassungsrecht und Politik anerkannt. Auf der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer im Jahre 1928 hatte Triepel zum Thema Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit unter anderem formuliert, daß Verfassungsstreitigkeiten „immer politische Streitigkeiten" seien; in dieser Tatsache liege das Problematische der ganzen Einrichtung.7 Die Haltung des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Frage kommt zum Beispiel in der von ihm 1952 verfaßten Statusdenkschrift zum Ausdruck, in der es betont, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit es mit „politischen Rechtsstreitigkeiten" zu tun habe.8 Auch in seiner Rechtsprechungspraxis betonte das Gericht von Anfang an, daß sich seine Entscheidungen „ i m politischen Raum" bewegten.9 Auch haben beide Gerichte auf die Grundrechtsentwicklung im jeweiligen Land entscheidenden Einfluß gehabt, wobei dieser Vorgang in einem ähnlichen Zeitraum stattfand. In den USA war es vor allem der Supreme Court der 50er und 60er Jahre, der unter Führung seines Chief Justice Earl Warren die in den Verfassungszusätzen enthaltenen Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte entwickelte, deren Schutzbereiche ausdehnte und ihnen, über die verfassungstextlichen Grundlagen hinaus, grundrechtsgleiche fundamentale Rechte an die Seite stellte.10 Nicht zuletzt dank dieser Entwicklung ist das Grundrechtsbewußtsein in weiten Teilen der amerikanischen Bevölkerung, etwa was Meinungsäußerungsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz und Schutz der Privatsphäre angeht, hoch entwickelt. In der Bundesrepublik hatte bereits der Verfassungsgeber in Art. 1 III GG festgelegt, daß es sich bei den Grundrechten um unmittelbar anwendbares, für alle Gewalten gleichermaßen verbindliches Recht handelt. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz stellte mit der für jedermann offenen Verfassungsbeschwerde ein besonderes Verfahren zur Durchsetzung der Grundrechte zur Verfügung. Innerhalb dieses Rahmens war es jedoch das Bundesverfassungsgericht, das Funktion und Reichweite der Grundrechte entscheidend erweiterte. Dies geschah insbesondere durch die Entfaltung der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte, durch deren Ausgestaltung zu Teilhabe- und Leistungsrechten, durch die Entwicklung staatlicher Schutzpflichten und 6
The Supreme Court in the American System of Government, S. 56.
7
VVDStRL 5 (1929), S. 2 ff. (28).
8
Vgl. JöR NF 6 (1957), S. 144 f.
9
Vgl. BVerfGE 1, 208 (269). Die jüngste einschlägige Äußerung stammt von den Richtern Böckenförde und Kruis in ihrem Sondervotum zur im Juli 1994 ergangenen, oben C.II. 3.a).bb) diskutierten Auslandseinsätzeentscheidung: „... Rechtsfragen hören nicht auf, Rechtsfragen zu sein, weil sie eine politische Dimension haben ...", BVerfGE 90, 286 (391). Vgl. auch Simon, in: HdbVerfR, S. 1639, der das „Spannungsverhältnis von Recht und Politik" als „Kernproblem aller Verfassungsgerichtsbarkeit" bezeichnet. 10
Vgl. dazu oben B.I.2.d).
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D. Vergleich
durch die den Grundrechten zugesprochene Auswirkung und Ausstrahlung auf Organisations-, Verfahrens- und anderes „einfaches" Recht. Heute bestimmen und beeinflussen die Grundrechte jeden Bereich der deutschen Rechtsordnung; im Bewußtsein der deutschen Bevölkerung sind sie präsent wie nie zuvor und ähnlich stark verankert, wie dies in den Vereinigten Staaten der Fall ist. Auch über den Grundrechtsbereich hinaus, in dessen Mittelpunkt nach wie vor der subjektiv-individuelle Rechtsschutz steht, treten Supreme Court und Bundesverfassungsgericht für die Wahrung der jeweiligen Verfassung ein. So entscheiden beide etwa über Inhalt und Reichweite der Kompetenzen einzelner Regierungsgewalten zueinander und grenzen Bundes- und Einzelstaatsbzw. Länderkompetenzen gegeneinander ab. Daß sich die Verfassungskontrolle in Deutschland im Rahmen eines kodifizierten Kanons von Verfahren abspielt, sich in den USA hingegen auf die vergleichsweise allgemeine Zuweisungsnorm von Art. III, Section 2 der Verfassung stützt, ändert nichts an der Tatsache, daß beide Gerichte eine „institutionell auf die Erhaltung und Durchsetzung einer Verfassung gerichtete Rechtsprechung" darstellen, die über verletztes oder bestrittenes Verfassungsrecht letztverbindlich entscheidet.11 Nach diesem für Zwecke der Rechtsvergleichung maßgeblichen Verständnis von Verfassungsgerichtsbarkeit 12 überwiegt somit die funktionale Identität der heutigen Aufgaben beider Gerichte die historischen, verfahrensmäßigen und rechtskulturellen Unterschiede bei weitem.
I I . Methodischer Vergleich — die vier Begrenzungsebenen Supreme Court und Bundesverfassungsgericht stehen für die Zwecke unseres Untersuchungsgegenstandes vor derselben Aufgabe, der Wahrung und Durchsetzung der Verfassung in einem gewaltenteilig organisierten und föderal strukturierten Gemeinwesen. Beide verfügen über weitreichende Kompetenzen, einschließlich derjenigen, über die genauen Grenzen dieser Kompetenzen selbst zu entscheiden. Beide werden mit mehreren tausend Verfahren pro Jahr überflutet. Beide sehen sich oft in die Lage versetzt, politische Probleme mit juristischen Mitteln lösen zu sollen. Beide müssen die Konsequen11 Vgl. die von Simon, in: HdbVerfR, S. 1640 aufgenommene Scheunersche Definition; darauf aufbauend Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rn. 8. 12 Vgl. auch die von v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 159 wieder aufgenommene Begründung der Verfassungsgerichtsbarkeit nach Kelsen. Danach hat die Verfassungsgerichtsbarkeit die spezifische Aufgabe, Mißbräuche der Verfassung durch andere Institutionen zu verhindern. Auch über diesen Ansatz gelangt man zur gleichwertigen Einordnung des Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts als Verfassungsgerichte.
II. Methodischer Vergleich — die vier Begrenzungsebenen
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zen ihrer jeweiligen Entscheidungen bedenken. Gegenüber diesen vielfältigen Anforderungen haben Supreme Court und Bundesverfassungsgericht vielfaltige Grenzen ihrer Rechtsprechungskompetenz entwickelt. Obwohl diese sich manchmal in erstaunlicher Weise ähneln, gibt es auch Unterschiede, denen eine für das Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat wesentliche Bedeutung zukommt. Für den Vergleich der Rechtsprechungsgrenzen und den von ihnen ausgehenden Konsequenzen bietet es sich an, vier Ebenen zu unterscheiden, die einer annähernd chronologischen, wenn auch nicht linearen 13 Ordnung folgen. Dabei markiert (1) die Annahmeebene das Vorfeld des eigentlichen verfassungsgerichtlichen Verfahrens. Es folgt (2) die prozessuale Ebene. Auf ihr entscheidet das jeweilige Gericht im wesentlichen über Zulässigkeitsfragen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Streitgegenstand findet noch nicht statt. Ebene (3) umfaßt die eigentliche inhaltliche Prüfung des Streitgegenstandes. Sie ist sowohl für den methodischen als auch für den materiellen Vergleich am interessantesten. Auf der (4) Tenorierungsebene entscheidet sich das Gericht schließlich nach erfolgter Sachprüfung für eine bestimmte Form des Entscheidungsausspruchs.
1. Die Annahmeebene Das für die meisten beim Supreme Court anhängig zu machenden Fälle maßgebliche Verfahren über eine petition for certiorari ist ein freies Annahmeverfahren. Hier kann das Gericht also ohne Rechtfertigungszwang Anzahl und Inhalt der Fälle auf diejenigen begrenzen, die es jetzt für erörternswert hält. Im Gegensatz dazu sieht das deutsche Verfassungsprozeßrecht ein Annahmeverfahren nur bei Verfassungsbeschwerden vor. Diese machen zwar den bei weitem größten Anteil aller beim Bundesverfassungsgericht eingehenden Verfahren aus. Jedoch scheidet damit für die deutschen Richter bereits die Möglichkeit aus, Organstreite, Normenkontrollen oder andere Verfahren nicht zur Entscheidung anzunehmen und somit unter Timinggesichtspunkten brisante Probleme zurückzustellen. Auch bei der Entscheidung über die Annahme einer Verfassungsbeschwerde besteht kein freies Ermessen, wenngleich die jüngste Reform dem Gericht insoweit einen größeren Entscheidungsspielraum eingeräumt hat.
13
D.h. der zeitliche Abstand zwischen den jeweiligen Phasen ist nicht gleich lang.
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D. Vergleich
2. Die prozessuale Ebene Auch auf der prozessualen Ebene ist zu beachten, daß die vom Supreme Court verwandten Rechtsprechungsgrenzen einheitlich sind, wohingegen sie beim Bundesverfassungsgericht von Verfahren zu Verfahren variieren. Unter Berücksichtigung dieses caveat sind immerhin für die Verfassungsbeschwerde Ähnlichkeiten mit amerikanischen Zulässigkeitskriterien ersichtlich. Die vom Bundesverfassungsgericht aus dem Prinzip der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde entwickelten Kriterien, wonach der Antragsteller selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen sein muß, finden sich in Definition und Zielsetzung in den allgemeinen amerikanischen Zulässigkeitsvoraussetzungen standing, ripeness und mootness wieder. Bei der Ausgestaltung dieser Voraussetzungen ist die Schwankungsbreite des Supreme Court größer; einer Phase, während der es zum Beispiel einfach war, die Hürde des standing zu überwinden, folgte in den letzten Jahren eine sichtbare, offenbar auch von politisch motivierten Restriktionstendenzen beeinflußte Anhebung dieser Schwelle durch das Gericht. Solch gravierende Schwankungen waren beim Bundesverfassungsgericht bisher nicht festzustellen. Ebenfalls auf der prozessualen Ebene wirkt sich die Nichtannahme einer Streitigkeit infolge des Vorliegens einer political question aus. Während standing und ripeness einzelne Fälle auf der prozessualen Ebene zu Fall bringen, sorgt die Einordnung eines Falles als political question regelmäßig dafür, daß die sich um ihn herum gruppierende Kategorie ähnlicher Fälle ebenfalls als nicht justitiabel angesehen wird. Die political question doctrine ist ein amerikanisches Spezifikum. Gut 100 Jahre lang, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis etwa zu den Jahren des Warren-Court, schlossen die Richter mit Hilfe dieser Doktrin auswärtige und militärische Sachverhalte, aber auch Klagen, die sich auf die guarantee clause stützten, von ihrer Rechtsprechung aus. Während der „rechtsprechungsfreudigen" 50er und 60er Jahre wurde letztere Fallgruppe wegen einer alternativen, auf Grundrechte gestützten Klagebegründung obsolet. Im übrigen ist die political question doctrine seit über 20 Jahren in einen Dornröschenschlaf verfallen, dessen Ende derzeit nicht abzusehen ist. Statt sich ihrer zu bedienen, wich der Supreme Court seitdem entweder auf die vorgelagerte Annahmeebene oder auf die nachfolgende Sachebene aus: Entweder er gewährte kein certiorari, oder er nahm den Fall zur Entscheidung an, beschränkte aber in der Sachprüfüng seine Kontrolldichte weitestgehend. Unter dogmatischen Gesichtspunkten wird die Vielzahl der Fälle zur political question doctrine von der 1962 ergangenen Entscheidung Baker v. Carr überstrahlt, in der der Supreme Court einen Kriterienkatalog aufstellte, anhand dessen politische Fragen zu ermitteln seien.14 Einige
14
Die in Baker zur Entscheidung stehende Frage der Wahlkreiseinteilung wurde von der Gerichtsmehrheit nicht als political question eingestuft.
II. Methodischer Vergleich — die vier Begrenzungsebenen
251
der Zto&er-Kriterien finden sich, wörtlich oder sinngemäß, auf der Sachebene in der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts wieder.
3. Die Sachebene A u f der Sachebene erfolgt die Begrenzung der Rechtsprechungskompetenz über den Prüfüngsmodus, das heißt durch eine im Rahmen der Verfassungsprüfung verminderte Kontrolldichte. Das Phänomen reduzierter Kontrolldichte ist sowohl beim Supreme Court (als low level review) als auch beim Bundesverfassungsgericht zu beobachten. Auch gibt es bei den Sachgebieten, die vom jeweiligen Gericht einer eingeschränkten Kontrolle unterzogen werden, signifikante Übereinstimmungen. Methodisch folgen allerdings die amerikanischen Richter durchgängig einer zumindest begrifflich klar abgegrenzten Trias von Kontrollmaßstäben, während sich das Bundesverfassungsgericht insoweit weniger festlegen lassen will. a) Amerikanisches und deutsches Verständnis von Kontrolldichte und Kontrollmaßstäben Der Supreme Court unterscheidet bei allen Verfassungsfragen traditionell zwischen einem intensiven Kontrollmaßstab (strict scrutiny test), der regelmäßig zur Verfassungswidrigkeit führt, und einer weitestgehend gelockerten Kontrolle (rational basis test), die in aller Regel dazu führt, daß die angegriffene Maßnahme für verfassungsgemäß erklärt wird. Ein mittlerer Prüfüngsmaßstab (intermediate scrutiny), der mehr Raum für Abwägungen läßt, ist in neuerer Zeit hinzugetreten. Diese, manchmal etwas schematisch wirkende Zwei- bzw. Dreiteilung beherrscht die amerikanische Verfassungsrechtsprechung. Nach deutscher Terminologie ist eine reduzierte Kontrolldichte regelmäßig das Spiegelbild eines einem bestimmten Organ einzuräumenden Spielraums, der nur eingeschränkt überprüfbar ist. Auch in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung wurde im Mitbestimmungsurteil der Versuch unternommen, drei voneinander unterscheidbare Kontrollmaßstäbe festzulegen, die Evidenzkontrolle, die Vertretbarkeitskontrolle und die intensivierte inhaltliche Kontrolle. Im Gegensatz zu den USA sollte diese Unterteilung allerdings nur für die Überprüfung gesetzgeberischer Akte gelten. Auch ließ sich keine so deutliche Beziehung zwischen dem jeweiligen Kontrollmaßstab und dem Ergebnis der Verfassungsprüfung herstellen wie bei dem traditionellen amerikanischen „Alles-oder-Nichts"-approach. Als angreifbar und problematisch erwies sich die vom Gericht selbst vorgenommene Zuordnung bisheriger Entscheidungen in eine der drei Kategorien. Dadurch wurde die Tauglichkeit der
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neugeschaffenen Dreiteilung von Anfang an in Zweifel gezogen. Neuerdings hat auch das Bundesverfassungsgericht selbst ein Abrücken von dieser Dreiteilung der Kontrollmaßstäbe angedeutet. Dadurch wurde das gegenüber den USA insoweit bestehende erstaunliche dogmatische Defizit umso deutlicher, zumal ein überzeugender Neuansatz nicht in Sicht ist. b) Felder reduzierter Kontrolldichte im Vergleich aa) Auswärtige Angelegenheiten
15
Im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten räumen sowohl Supreme Court als auch Bundesverfassungsgericht der insoweit vorrangig tätigen Exekutive weite Einschätzungs-, Verhandlungs- und Entscheidungsspielräume ein und beschränken sich dementsprechend auf einen low level review bzw. eine Evidenzkontrolle. Eine Erhöhung der Kontrollintensität des Supreme Court läßt sich allenfalls dort feststellen, wo grundrechtsrelevante Belange tangiert werden, ein nachahmenswerter Effekt, da er Grundrechten jene Bedeutung verleiht, die ihnen grundsätzlich auch nach deutschem Verständnis zukommt. Ein Unterschied ist allerdings bei der Beurteilung militärischer Sachverhalte festzustellen. Während dort, wenn der Fall nicht bereits als political question eingestuft wird, die Kontrolldichte des Supreme Court grundsätzlich gegen Null tendiert, weist zumindest die von voller Verfassungskontrolle geprägte Auslandseinsätzeentscheidung des Bundesverfassungsgerichts in die entgegengesetzte Richtung. Es bleibt abzuwarten, inwiefern es sich hierbei um einen „Ausreißer" handelt, der der Tatsache zuzuschreiben ist, daß die Bundesrepublik in diesem Bereich nach jahrzehntelanger militärischer Zurückhaltung verfassungspolitisch umstrittenes, klärungsbedürftiges Neuland betrat. bb) Wirtschafts-
und Sozialgesetzgebung
Auch wirtschafts- und sozialgesetzgeberische Maßnahmen führen beide Gerichte an die von ihnen selbst entwickelten Grenzen ihrer Kontrollmöglichkeiten. Dabei treten jedoch zahlreiche Unterschiede hervor, die eine im Vergleich zu den auswärtigen Angelegenheiten differenziertere Betrachtung erfordern. Die Rechtsprechung des Supreme Court läßt sich insoweit in zwei inhaltlich einander entgegengesetzte Perioden einteilen, diejenige vor und diejenige nach 1937. In jenem Jahr nahm das Gericht — unter beträchtlichem Druck 15 Vgl. dazu Zeitler, Judicial Review und Judicial Restraint gegenüber der auswärtigen Gewalt, JöR NF 24 (1976), 621.
II. Methodischer Vergleich — die vier Begrenzungsebenen
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von Präsident Roosevelt und weiter Kreise der Öffentlichkeit - Abschied von seinem seitherigen liberalistischen Wirtschaftsverständnis, mit Hilfe dessen es bis dahin einschlägige Normen einer intensiven gerichtlichen Kontrolle unterzogen und insbesondere die New Deal-Gesetzgebung reihenweise zu Fall gebracht hatte. An die Stelle einer materiell geprägten „Wirtschaftsphilosophie" trat der seitdem in fast ermüdender Stereotypie wiederholte Hinweis auf eine umfassende Prärogative des Gesetzgebers. Gebe dieser für seine Regelung irgendwelche vernünftigen Gründe an, so reiche dies zur Bejahung der Verfassungsmäßigkeit aus. Motivforschung dürfe der Supreme Court insoweit ebensowenig betreiben, wie er seine eigenen Anschauungen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers treten lassen dürfe. Allenfalls flagrante Verstöße könnten zur Verfassungswidrigkeit führen. Angesichts eines derart zurückgenommenen, teilweise nurmehr formelhaft existierenden Prüfüngsmaßstabs findet heute eine Verfassungskontrolle amerikanischer Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung in der Sache praktisch nicht mehr statt. Dies gilt grundsätzlich unabhängig von den Verfassungsbestimmungen anhand derer die Kontrolle erfolgt. Allenfalls dann, wenn neben einem Gleichheitsverstoß noch eine andere grundrechtliche oder grundrechtsgleiche Position berührt wird, besteht im Wege eines verschärften Prüfungsmaßstabes Aussicht auf eine strengere Verfassungskontrolle seitens des Supreme Court. Im Gegensatz dazu ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zunächst eine kontinuierliche Entwicklung von einer intensiven Verfassungskontrolle entsprechender gesetzgeberischer Maßnahmen hin zu einer Lockerung der Kontrollintensität zu beobachten. Mit ihr ging eine Schaffung immer neuer gesetzgeberischer Prognose-, Einschätzungs- und Entscheidungsspielräume einher. Mochte auch das Bundesverfassungsgericht mit einer gegenüber dem Supreme Court im Ergebnis vergleichbar niedrigen Kontrolldichte zu vergleichbaren Ergebnissen kommen, so trieb es doch stets einen relativ höheren argumentativen Aufwand, statt seiner Kontrollfunktion weitgehend zu entsagen. Zum Teil verwendeten die deutschen Richter hier Argumente, die ihre amerikanischen Kollegen seit Baker v. Carr auf der prozessualen Ebene fruchtbar gemacht haben, ein Effekt, der über eine bloß methodische Inkongruenz zwischen den beiden Gerichten hinausgeht.16 Während der Versuch der Übertragung eines konturlosen Kontrollkontinuums auf drei klar voneinander unterscheidbare Kontrollmaßstäbe weniger überzeugend war, benannte das Bundesverfassungsgericht Parameter, die auch über den deutschen Wirkungskreis hinaus — bei der Bestimmung der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte von Nutzen sein können. Danach leiten erstens die Eigenart des dem Verfassungsproblem zugrundeliegenden Sachverhalts, zweitens die, häufig davon abhängigen, Möglichkeiten des Ge16
Vgl. dazu unten IV.
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D. Vergleich
richts, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden und drittens und insbesondere die Bedeutung der tangierten Rechtsgüter die deutschen Verfassungsrichter bei der Suche nach der geeigneten Kontrollintensität. Demzufolge ist die Kontrolldichte umso geringer, je komplexer und unwägbarer der Regelungstatbestand ist. Treten jedoch Grundrechtsinteressen hinzu, die das Bundesverfassungsgericht als wesentlich einstuft, führt dies, häufiger noch als beim Supreme Court, wieder zu einer Verdichtung der Kontrolle. Der für staatliche Verteilungsprobleme ebenso wie für an ethnische Zugehörigkeit anknüpfende Maßnahmen in hohem Maße relevante Bereich der Gleichheitsrechte erscheint insofern besonders geeignet, die Intensität verfassungsgerichtlicher Kontrolle bei Bundesverfassungsgericht und Supreme Court zu befördern. 4. Die Tenorierungsebene Auch auf der letzten, der Tenorierungsebene, lassen sich selbst entwickelte Rechtsprechungsgrenzen nachweisen. Sie werden dadurch charakterisiert, daß das Gericht hinter der vorgesehenen Rechtsfolgeanordnung zurückbleibt und somit seine Kompetenzen nicht voll ausschöpft. Diese Begrenzungsebene stellt, zumindest gegenüber dem Gesetzgeber, ein deutsches Spezifikum dar. Der Supreme Court erklärt eine Norm — entweder als solche oder in der Art, in der sie im konkreten Fall angewandt wird - für verfassungswidrig, was deren Nichtanwendung17 zur Folge hat. Im Gegensatz dazu ist das Bundesverfassungsgericht bei der Normenkontrolle von der Regel abgewichen, als verfassungswidrig erachtete Normen für nichtig zu erklären. Es vermeidet diese Rechtsfolge häufig mit den praeter legem18 entwickelten Instituten der Unvereinbarerklärung und der Appellentscheidung sowie mit der Rechtsfigur der verfassungskonformen Auslegung. Bei den beiden letzteren steht dem auf eine Schonung des Gesetzgebers angelegten Tenorierungsminus die Gefahr eines anderweitigen, möglicherweise intensiveren Übergreifens in den gesetzgeberischen Bereich gegenüber. Dies und ihre mangelnde gesetzliche Grundlage sorgen für erhebliche Bedenken gegen die Eigenkreationen des Bundesverfassungsgerichts. Auch der Supreme Court kennt die Rechtsfigur der verfassungskonformen Auslegung, setzt sie aber nicht als Grenze im hier gemeinten Sinn ein. Die Übernahme einer appellativen Entscheidungsvariante, die eine Norm für noch verfassungsgemäß erklärt, dem Gesetzgeber aber — womöglich detaillierte und fristgebundene - Nachbesserungspflichten auferlegt, erscheint hingegen weder mit der historisch bedingten „diffusen" Verfassungskontrolle, noch mit dem funktionellen Selbstverständnis des Supreme Court vereinbar. 17
Nicht etwa deren Nichtigkeit; vgl. Brugger, Grundrechte, § 3, S. 20 f.; vgl. aber die Hinweise in ders., Einführung, S. 23. 18
Und somit strenggenommen contra legem.
III. Materieller Vergleich — gemeinsame Begründungsfiguren
255
I I I . Materieller Vergleich — gemeinsame Begründungsfiguren für die Begrenzung auf der Sachebene Erste und wesentliche Gemeinsamkeit zwischen Supreme Court und Bundesverfassungsgericht ist die Tatsache, daß beide Spruchkörper ihren Rechtsprechungskompetenzen überhaupt Grenzen ziehen. Die Gründe dafür sind vielfaltig und reichen von der Flut von Verfahren, die jedes Jahr über die Gerichte hereinbricht, über die Schwierigkeit, mit den Mitteln richterlicher Erkenntnis politische Entscheidungssituationen, komplexe technische Sachverhalte und umfangreiche gesetzgeberische Regelungswerke zu würdigen bis hin zu der Frage, welche Folgen die Entscheidung des Gerichts für die Verfahrensbeteiligten und für die Rechtsgemeinschaft als Ganzes haben wird. Gemeinsame, übergreifende Gründe für die auf der Sachebene liegenden Grenzen sollen nachfolgend zusammengefaßt werden.
1. Auswärtige Angelegenheiten Beide Gerichte erachten Außen- und Sicherheitspolitik als nur eingeschränkt überprüfbar. Begründen läßt sich dies mit mehreren Argumenten. Die beiden Verfassungen zugrundeliegende Idee der Gewaltenteilung weist diesen Bereich mehr oder weniger ausdrücklich der Exekutive zu. Diese handelt und schafft nicht selten Tatsachen, die, etwa wegen damit eingegangener völkerrechtlicher Bindungen, nicht ohne weiteres reversibel sind. Die — regelmäßig nachträglich erfolgende - verfassungsgerichtliche Kontrolle ist daher für die Richter nicht ohne Risiko. Billigen sie eine verfassungsrechtlich zweifelhafte Maßnahme, könnte dies von der Exekutive als Freibrief für künftige Übertretungen mißverstanden werden. Erklären sie sie hingegen für verfassungswidrig, laufen sie Gefahr, einerseits die Autorität der Regierung des eigenen Staates international zu diskreditieren und andererseits „zu Hause" Zeuge des den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen innewohnenden Vollstreckungsdefizits zu werden: Die Exekutive könnte die Entscheidung ignorieren, zumal dann, wenn sie die öffentliche Meinung auf ihrer Seite hat. Verschärft wird das Problem dadurch, daß beide Verfassungen arm an präzisen verfassungstextlichen Vorgaben zur Kontrolle außenpolitischen Verhaltens sind. Dort wo es sie gibt, können sie wie etwa in der Grundlagenvertragsentscheidung eine intensivere Prüfung rechtfertigen.
256
D. Vergleich
2. Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung — über „mehrpolige Rechts- und Interessenlagen", „mehrdimensionale Freiheitsprobleme" und „Polyzentrizität" Auffallend ist auch die zurückhaltende Rechtsprechungspraxis von Supreme Court und Bundesverfassungsgericht im Bereich von Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung, ein Phänomen, das v. Brünneck in seinem internationalen Verfassungsvergleich allgemein als „relative Schwäche der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber wirtschaftlichen Interessen" 19 interpretiert hat. Während der Supreme Court, wohl immer noch unter dem Eindruck des iyLochner-Trauma", wenig Bemühungen zu einer Begründung seiner überwiegend nur noch formal existierenden Verfassungskontrolle unternommen hat, sind der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zumindest Anhaltspunkte zu entnehmen, die den Weg zu einer übergreifenden Erklärung dieser „Schwäche" weisen. Ausgehend von der im Mitbestimmungsurteil aufgestellten allgemeinen Regel, wonach die Kontrolldichte unter anderem in Abhängigkeit von den Eigenarten des zu regelnden Sachbereichs zu bestimmen ist, ließ sich anhand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nachweisen, daß „komplexe Sachverhalte", zumal solche, deren künftige Entwicklung oder Endstadium noch nicht abzusehen ist, nur einer zurückhaltenden Verfassungskontrolle unterzogen werden. Komplex wird ein Sachverhalt zum Beispiel dadurch, daß in seinem Mittelpunkt ein bisher unbekanntes Problem oder ein bisher unbekannter gesetzgeberischer Lösungsansatz steht, dessen Auswirkungen getestet werden sollen. Als komplex sind auch Fragestellungen anzusehen, die von Fachleuten unterschiedlich bewertet werden oder neue Technologien, deren Folgen schwer abzuschätzen sind. Komplex sind schließlich Tatbestände, von denen potentiell oder aktuell viele Menschen mit verschiedenen schutzwürdigen Interessen betroffen sind. In bezug auf den letzten Aspekt hat das Bundesverfassungsgericht einmal von »„mehrpoligen 4 Rechts- und Interessenlagen" gesprochen, angesichts derer die gerichtliche Funktion zu beschränken sei. 20 In der neueren deutschen Rechtslehre wurde die Idee, wonach derart komplexe Sachverhalte einer entsprechend weniger intensiven verfassungsgerichtlichen Nachprüfung zu unterziehen sind, vor allem von Schuppert thematisiert. 21 Er verwendet den Begriff der „mehrdimensionalen Freiheitsprobleme" und plädiert dafür, die Lösung dieser in der Verfassung nicht vorgezeichneten Abwägungsprobleme der Legislative zu überlassen, deren Gesetzgebungsver19
Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 88 und passim (insbes. S. 66 f., 70 f., 81, 126 ff.).
20
Vgl. BVerfGE 61, 82 (114) - Atomkraftwerk Whyl. Verfahrensgegenstand waren allerdings keine gesetzgeberischen Maßnahmen. 21 S. insbesondere Schuppert, Grenzen, S. 38 ff. (S. 40 f., 48 ff.). Vgl. dazu oben C.II. 5.c).bb).(4).
III. Materieller Vergleich — gemeinsame Begründungsfiguren
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fahren den unterschiedlichen Gesichtspunkten und Interessen in geeigneter Weise Rechnung trage und der richterlichen—Entscheidungsfindung insofern überlegen sei. Daß der Gesetzgeber und der politische Prozeß insgesamt besser als die Gerichte in der Lage sei, komplexe Probleme der Wirtschafts- und Sozialordnung zu lösen, ist eine in den USA weitverbreitete Ansicht, die, in allerdings wenig differenzierter Form, auch mehrfach in der im Rahmen dieser Arbeit zitierten Rechtsprechung des Supreme Court zum Ausdruck kommt. Versucht man hierfür theoretische Ansätze zu finden, stellt man fest, daß die in Deutschland von Schuppert formulierten Gedanken, unbewußt, in erstaunlicher begrifflicher und teilweise auch inhaltlicher Nähe zu dem von dem amerikanischen Juristen Lon Fuller bereits in den 60er Jahren vorgestellten Konzept der „Polycentricity" 22 stehen. Danach sind „polyzentrische" Probleme solche, die auf dem Gerichtswege schlecht oder überhaupt nicht gelöst werden können. Obwohl Fullers ex-negativo-Definition sich noch schemenhaft ausnimmt, sind ihr als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Elemente erstens die Komplexität des zugrundeliegenden Sachverhalts und zweitens die Vielzahl der vom jeweiligen Problem erfaßten Personen zu entnehmen. Als Beispiele für „polyzentrische" Probleme nennt Fuller unter anderem die Neueinteilung von Wahlkreisen 23 und die Zuweisung von Radio- und Fernsehfrequenzen. Hier wird der von Schuppert geschlagene Bogen zum Kreis: der Rundfunk, so Schuppert, sei ein „typisch mehrdimensionales" Regelungsproblem. 24 Gleichviel, ob man von „mehrpoligen Rechts- und Interessenlagen", von „mehrdimensionalen Freiheitsproblemen" oder von „polyzentrischen Problemen" spricht, jedes Mal wird deutlich, daß die Verfassungsgerichte bei der Überprüfung komplexer gesetzgeberischer Regelungsmaterien an Grenzen stoßen, die ihnen durch ihre Funktion und das ihnen zur Verfügung stehende Verfahren gezogen werden. Bundesverfassungsgericht und Supreme Court haben diese Grenzen mehr oder weniger reflektiert nachgezeichnet und damit der Sache nach anerkannt.
22 Vgl. Fuller , 1960 Proceedings of the American Society of International Law 1 (3 ff.); Nachdruck in Lon Fuller , The Principles of Social Order, ed. by Kenneth I. Winston, 1981, S. 86 ff. Fuller entnimmt seine Begriffsbestimmung einem Werk von Michael Polanyi , The Logic of Liberty; Reflections and Rejoinders, London 1951. Der Versuch, Fullers Konzept auch in anderen Rechtsbereichen fruchtbar zu machen, wird etwa deutlich in James A. Henderson , Judicial Review of Manufacturers' Conscious Design Choices: The Limits of Adjudication, 73 Columbia Law Review 1531 (1973). 23
Eine Problematik, die der Supreme Court ironischerweise zwei Jahre später in Baker v. Carr für justitiabel erachtete. 24
Schuppert, Grenzen, S. 48.
258
D. Vergleich
IV. Die unterschiedliche Schwerpunktsetzung der beiden Gerichte auf den Grenzebenen 1. Befund Bemerkenswerte Unterschiede und somit ein markanter Kontrast zu den bisher ermittelten Gemeinsamkeiten zwischen Supreme Court und Bundesverfassungsgericht ergeben sich, wenn man die vier oben entfalteten Grenzebenen unter dem Gesichtspunkt miteinander vergleicht, wo die Schwerpunkte des jeweiligen Gerichts liegen. Zunächst fallt auf, daß die vom Supreme Court verwandten Rechtsprechungsgrenzen auf den ersten drei Ebenen liegen, die vom Bundesverfassungsgericht verwandten hingegen auch die vierte Ebene umfassen. Weiterhin hat die Untersuchung gezeigt, daß dem Supreme Court mit dem freien Annahmeverfahren, den einheitlichen, von ihm weitgehend modulierbaren Zulässigkeitsschranken und der zumindest latent wirksamen political question doctrine ein umfangreicheres prozessuales Begrenzungsinstrumentarium zur Seite steht als dem insoweit sehr viel stärker gesetzlich gebundenen Bundesverfassungsgericht. Auf der Sachebene ergeben sich inhaltlich die dargelegten Ähnlichkeiten. Jedoch ist hier von Bedeutung, daß der Supreme Court im Verhältnis zum Gesetzgeber seine eingeschränkte Kontrolle eher stereotyp begründet, während das Bundesverfassungsgericht wenigstens zum Teil einen erhöhten argumentativen Aufwand treibt und sich um Differenzierungen bemüht. Dies wird auch daran deutlich, daß die deutschen Richter versuchen, auf der Sachebene bestehende Kontrollprobleme im Wege einer variablen Tenorierungstechnik zu lösen. Die dadurch geschaffene Tenorierungsebene ist ihren amerikanischen Kollegen als Schauplatz selbst entwickelter Rechtsprechungsgrenzen fremd. Eine Zusammenschau der jeweiligen Gewichtungen ergibt, daß der Akzent des Supreme Court mehr auf den „vorderen", der des Bundesverfassungsgerichts mehr auf den „hinteren" Ebenen liegt. Während der Supreme Court die Begrenzung seiner Rechtsprechung also stärker im prozessualen Bereich vornimmt, beschränkt das Bundesverfassungsgericht seine Kompetenzen mehr auf der Sach- und der Tenorierungsbene. Dieser Effekt ist nicht darauf beschränkt, daß jedes Gericht mit den für die jeweilige Ebene typischen Argumentationsfiguren operiert. Vielmehr läßt sich nachweisen, daß identische Argumente vom Supreme Court auf der prozessualen, vom Bundesverfassungsgericht hingegen auf der Sachebene fruchtbar gemacht werden. Augenfälligster Beleg dafür ist die Tatsache, daß wort- oder sinnidentische verfassungstextliche, funktionelle und an die Staatsraison anknüpfende Argumente vom Supreme Court — in Gestalt der in Baker v. Carr entwickelten Kriterien - im Rahmen der political question doctrine, also auf der prozes-
IV. Die unterschiedliche Schwerpunktsetzung auf den Grenzebenen
259
sualen Ebene, vom Bundesverfassungsgericht hingegen auf der Sachebene verwendet werden. 25
2. Konsequenzen Für den Bereich der auswärtigen Angelegenheiten hat Franck aus amerikanischer Sicht auf die Unterschiede hingewiesen, die sich daraus ergeben, daß inhaltlich vergleichbare Verfahren beim Supreme Court kaum die prozessuale Ebene überwinden, vor dem Bundesverfassungsgericht hingegen regelmäßig die Sachebene erreichen, mag der Antragsteller auf ihr auch unterliegen. 26 Seine Feststellung, wonach „(t)he judicial results in the two systems are about as similar as the judges' conceptual formulations are different" 27 , kann in eingeschränkter Form auch für das Verhältnis zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber gelten, wenn man die „abdicationist attitude" des Supreme Court in der Wirtschaftsgesetzgebung mit den argumentativen Bemühungen und der Tenorierungstaktik des Bundesverfassungsgerichts vergleicht. Franck attestiert den deutschen Verfassungsrichtern, einen überzeugenden „mittleren Kurs" zwischen völligem Verzicht auf Verfassungskontrolle und gewaltenteilungswidriger Einmischung in fremde Kompetenzen zu steuern. Sein etwas an Bickel erinnerndes Resümee, wonach man die von einer nicht nur Entscheidungen fallenden, sondern auch Vorbild gebenden Gerichtsbarkeit ausgehenden heilsamen Wirkungen auf die Rechtskultur einer Gesellschaft nicht unterschätzen dürfe 28 , verdient auf der Grundlage der zwischen Supreme Court und Bundesverfassungsgericht gefundenen Unterschiede eine präzisierende Zuspitzung. Vereinfacht ausgedrückt stoßen die Verfahrensbeteiligten beim Supreme Court eher auf der prozessualen Ebene auf Grenzen, beim Bundesverfassungsgericht hingegen mehr auf der Sachebene. Die daraus zu ziehende Schlußfolgerung betrifft die jeweilige Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur in ihrer Vorbildfünktion, sondern auch in ihrer Rolle als Konsensstifter und Wahrer des Rechtsfriedens. Wenn man sich vor Augen führt, daß sich mit dem Erreichen der zweiten Ebene die Türen des Gerichts schon einen Spalt weit öffnen und daß auf der dritten Ebene eine, wie intensiv auch immer geartete, inhaltliche Auseinandersetzung mit den Vorbringen der Verfahrensbeteiligten stattfindet, ist es für diese nicht gleichgültig, ob ihr Antrag überhaupt nicht zur Entscheidung angenommen wird, ob er, möglicherweise mit spärlicher Begründung, für unzulässig erklärt wird oder ob ihm erst auf der 25
Vgl. dazu eingehend oben B.II.2.b) sowie C.H.3., passim, und C.II.3.e).
26
Political Questions /Judicial Answers, Kap. 7, S. 107 ff. (116 ff.).
27
A.a.O., S. 124.
28
A.a.O., S. 125.
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D. Vergleich
Begründetheitsebene der Erfolg versagt bleibt. Je weiter die Verfahrensbeteiligten vordringen, umso stärker werden sie und ihre Anliegen in die verfassungsgerichtliche Prozedur einbezogen und eingebunden. Über das Transparenz und Gleichbehandlung verbürgende, gerichtsförmige Verfahren hinaus kommt es für die Erfüllung der der Verfassungsgerichtsbarkeit zu Recht zugesprochenen Aufgabe, Rechtsfrieden und Konsens zu stiften 29 , entscheidend darauf an, daß eine inhaltliche Auseinandersetzung mit verfassungsrechtlich relevanten Argumenten stattfindet. Dies gilt gleichermaßen für Staatsorgane und Bürger. Ort dieser Auseinandersetzung ist die mündliche Verhandlung, mehr aber noch die Entscheidungsbegründung. Von deren Qualität und Überzeugungskraft hängt es maßgeblich ab, ob die unterlegene Seite neben einem gleichgültig-friedlichen Verhalten nach außen auch innerlich bereit ist, den Richterspruch zu akzeptieren. Je größer demzufolge die Chancen sind, bei einem Verfassungsgericht bis auf die Sachebene vorzudringen, desto größer ist dessen Beitrag zur Wiederherstellung eines Verfassungskonsenses und zur Integration potentieller Verfassungsskeptiker. 30 Insofern ist die konsensstiftende Leistung des Bundesverfassungsgerichts höher einzuschätzen als die des Supreme Court. 31 In ihr manifestiert sich ein wesentlicher, über die Frage nach den Rechtsprechungsgrenzen hinausweisender Unterschied zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik und in den Vereinigten Staaten.
V. Schluß Der United States Supreme Court ist aus den Vereinigten Staaten, der Wiege der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit, ebensowenig wegzudenken wie das Bundesverfassungsgericht aus dem Land, das mit dem für ihn offenbar charakteristischen Sinn fur Organisation und Perfektion die Verfassungsgerichtsbarkeit mit international beispiellosen Kompetenzen ausgestattet hat. 29
Vgl. v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 144 ff.; Stern II, § 44 I 3, S. 967.
30
Nicht von Hand zu weisen ist freilich auch das mögliche Gegenargument: Die Nichtbefassung mit der Begründetheit einer Klage, wie sie häufig in den USA zu beobachten ist, könnte auch dazu führen, daß jedem klar ist, wo die Verantwortlichkeit für einen Mißstand liegt, nämlich allein beim politisch-parlamentarischen Prozeß. Dies wiederum könnte zu einer Stärkung politischer Verantwortlichkeit führen. 31 Dem wird man nicht entgegenhalten können, daß die Bundesrepublik wegen ihrer historischen Bürden und ihres fragilen nationalen Selbstbewußtseins einer derartigen konsensstiftenden Instanz mehr bedürfe als die USA, wo statt des in Deutschland erzeugten „Verfassungspatriotismus" ein „normaler" Patriotismus für Zusammenhalt sorge. Gerade die ethnisch und kulturell äußerst heterogene amerikanische Gesellschaft ist auf integrative, konsensstiftende Instanzen angewiesen.
V. Schluß
261
Zugleich bewahrender „Hüter" und innovativer „Künder" 32 der Verfassung zu sein, bringt nicht zuletzt wegen deren begrenzter Normativität eine große Verantwortung für beide Gerichte mit sich, mit der andererseits eine auf beiden Seiten des Atlantik konstatierte „Ungefährlichkeit", bzw. „Schwäche" der (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit kontrastiert. 33 Durch eine Vielzahl von Mechanismen begrenzen Supreme Court und Bundesverfassungsgericht die teils von ihnen errungenen, teils ihnen zugewiesenen und teils ihnen zugewachsenen Kompetenzen. Diesen Begrenzungsmechanismen liegt zum ersten die Einsicht zugrunde, daß die Kapazität des jeweiligen Gerichts begrenzt ist, was für pragmatische Grenzen auf der Annahme· und der prozessualen Ebene spricht. Weitere wesentliche Erwägungen sind die aus dem gerichtlichen Verfahren resultierenden Erforschungs- und Erkenntnisgrenzen. Diese wirken sich, ebenso wie die sich aus Gewaltenteilungsüberlegungen ergebenden funktionellen Grenzen, auf der Sachebene, beim Bundesverfassungsgericht auch auf der Tenorierungsebene aus. Dabei erweist sich das amerikanische Verfassungsgericht als Meister prozessualer „avoidance techniques". Nur wer das freie Annahmeverfahren und die zahlreichen Justitiabilitätshürden, von denen die political question doctrine derzeit wohl die harmloseste ist, übersteht, kann auf eine Entscheidung in der Sache hoffen. Von einer Verfassungskontrolle im Bereich auswärtiger Angelegenheiten und wirtschafts- und sozialgesetzgeberischer Maßnahmen hat sich der Supreme Court seit langer Zeit weitgehend verabschiedet. Er versteht sich derzeit offenbar vorwiegend als ein Verfassungsgericht, dessen vordringliche Aufgabe darin besteht, Eingriffe in klassische Freiheitsrechte im Staat-Bürger Verhältnis zu kontrollieren. Nur sie und die Durchsetzung der fur die friedliche Koexistenz innerhalb der amerikanischen Gesellschaft wesentlichen Gleichheitsrechte können eine intensivere Verfassungskontrolle auch in den obengenannten Bereich auslösen. Auch das Bundesverfassungsgericht, ausgestattet mit einer noch eindrucksvolleren Kompetenzfulle, begrenzt seine Rechtsprechung und scheint damit diejenigen zu widerlegen, die in ihm eine Verkörperung des Supeijustizstaa32
Zu diesem Begriffspaar vgl. v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 186 f.
33
Alexander Hamilton definierte die Gerichtsbarkeit als „unvergleichlich schwächste" aller Gewalten so: „The judiciary ..., has no influence over either the sword or the purse; no direction either of the strength or the wealth of the society; and can take no active resolution whatever: It may truly be said to have neither force nor will but merely judgment and must ultimately depend on the aid of the executive arm even for the efficacy of its judgments"; Federalist Nr. 78, zitiert nach v. Beyme , in: Landfried, Constitutional Review, S. 24. Simon bezeichnet (in: HdbVerfR, S. 1639) mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsgerichtsbarkeit als „das schwächste aller Verfassungsorgane"; ihr Funktionieren hänge wesentlich von einem tragfähigen verfassungspolitischen Grundkonsens und von der Überzeugungskraft und Augenmaß ihrer Entscheidungen ab. 17 Rau
262
D. Vergleich
tes oder eine Art Nebenregierung sehen. Kennzeichnend fur die von ihm entwickelten Grenzen ist jedoch, daß diese die gerichtliche Kontrolle in einem bestimmten Fall kaum einmal ausschließen. Die Kontrolle wird vielmehr zurückgenommen und häufig nicht auf eine bloße Entscheidung über Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit beschränkt. Zur eigentlichen Entscheidung treten Auslegungsregeln oder Vorgaben an den Gesetzgeber, die nicht nur wenig mit gerichtlicher Kontrolle zu tun haben, sondern bisweilen eher als Erweiterungen denn als Einschränkungen der gerichtlichen Kompetenz wirken. Die somit vom Bundesverfassungsgericht übernommene Funktion geht über die Kassation weit hinaus und stellt ein Stück Mitgestaltung, eine Teilhabe an der Staatsleitung dar. Der Supreme Court ist vor 200 Jahren aus einer schwachen verfassungsgerichtlichen Position gestartet und hat sich zusammen mit der amerikanischen Demokratie entwickelt. Der Glaube an die Funktionsfähigkeit des demokratischen Prozesses ist in den USA mindestens so stark wie der an die Notwendigkeit eines verfassungsgerichtlichen Korrektivs. Daher ist es nicht erstaunlich, daß selbst im Hinblick auf die gegenwärtige Zurückhaltung des Supreme Court bei der Kontrolle an ihn herangetragener Fälle wenig grundlegende Kritik zu hören ist. Dennoch drängt sich aus vergleichender Sicht der Schluß auf, daß die amerikanischen Richter insbesondere auf der Sachebene einen zu extensiven und unreflektierten Gebrauch von ihren Begrenzungsmechanismen machen. Nach Ansicht von Laurence Tribe beinhaltet zwar auch das unkalkulierbare Zurückstellen der eigenen Entscheidungskompetenz zugunsten der Entscheidung einer anderen Regierungsgewalt einen Ausdruck von Machtausübung. Jedoch blieben die Verfassungsrichter grundsätzlich zur (inhaltlichen) Entscheidung jedes Einzelfalles verpflichtet: „As long as judges do not fully and irrevocably repudiate the mission of occasionally rejecting majoritarian political choices, there is no honest way for them to escape the burdens of substantive judgment in every case."34 Eine intensivere inhaltliche Auseinandersetzung mit den von ihm als wichtig erachteten und demzufolge zur Entscheidung zugelassenen Fällen könnte — zusammen mit einem auf Integration statt auf Partikularismus angelegten verfassungsrechtlichen Interpretationskanon 35 und einer stärkeren Berücksichtigung der Problemlösungen vergleichbarer Staaten — die Autorität des Supreme Court stärken und zum in den USA dringend notwendigen Verfassungskonsens beitragen. 36 34
Tribe , Constitutional Law, § 8-7, S. 585.
35
Vgl. oben B.II.5.
36 Vgl. zur Notwendigkeit eines Verfassungskonsenses und zur Fruchtbarkeit von rechtsvergleichenden Untersuchungen Mary Ann Glendon, Rights Talk, besprochen von Brugger, JZ 1992, 411 f.
V. Schluß
263
Als Reaktion auf ein doppeltes historisches Trauma, das der sich unter beträchtlichem Druck der nationalsozialistischen Machthaber selbst abschaffenden Demokratie und das der Pervertierung des Rechts, hat man sich in Deutschland für eine besonders starke Verfassungsgerichtsbarkeit entschieden. Die Anhäufung der umfassenden Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts ist somit das Produkt eines demokratieskeptischen Verfassungsgebers. Ausgehend von dieser Voraussetzung hätte der fortschreitenden Festigung und Bewährung der jungen deutschen Demokratie ein Zurücktreten des rechtsstaatlichen Hüterorgans entsprochen, und in der Tat könnte man die sich entwickelnde Prognoserechtsprechung als ein Indiz dafür sehen, mochte auch die Grundrechtsentwicklung in die entgegengesetzte Richtung deuten. Auch die der differenzierten Tenorierungstechnik zugrundeliegende Idee von der „Schonung des Gesetzgebers" könnte dafür sprechen, daß das Bundesverfassungsgericht die in der Verfassung zu seinen Gunsten eingebaute kompetentielle Schieflage allmählich auszugleichen trachtete. Dennoch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das Gericht immer wieder der durch die neugewonnene Flexibilität eben auch geschaffenen Versuchung erlag, allzusehr in seiner Ansicht nach fehlerhafte oder unzureichende Gesetzgebungswerke hineinzuregieren. Heute stellt sich daher die Frage, ob durch die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grenzen tatsächlich der Gegensatz zwischen Rechtsstaat und Demokratie ausbalanciert wird, oder ob sie nicht vielmehr falsche Signale an den Gesetzgeber aussenden: Entweder nimmt er seine Aufgabe nicht mehr ernst, da er weiß, daß Karlsruhe etwaige Defizite sowieso korrigieren wird, oder er bricht unter der Last der von der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ausgehenden, vom jeweiligen politischen Gegner geschickt inszenierten Vorwirkungen zusammen. Bisher bestand nur wenig Anlaß, am Gespür der Bundesverfässungsrichter für die Folgen ihrer Entscheidungen zu zweifeln, noch weniger an einem generell vorhandenen guten Willen, an einer fünktionsgerechten Zuordnung gesetzgeberischer und richterlicher Aufgaben mitzuwirken. Ob es dabei bleibt oder ob eines Tages, möglicherweise befördert durch politische Deformationsprozesse, ein von der eigenen juristischen wie möglicherweise auch politischen Omnikompetenz überzeugtes Richterkollegium an ihre Stelle tritt, hängt nicht nur davon ab, ob auch weiterhin integre und kompetente Personen zu Bundesverfassungsrichtern gewählt werden. Ebenso wichtig ist es, daß ihnen in bezug auf Fachkompetenz, Integrität und Verantwortungsbewußtsein in etwa ebenbürtige Parlamentarier gegenüberstehen, was angesichts der gegenwärtigen Entwicklung hin zum „Berufspolitiker" nicht ohne weiteres gewährleistet erscheint. Daß die Grenzen seiner Rechtsprechung ganz überwiegend solche sind, die das Bundesverfassungsgericht selbst entwickelt hat, muß nicht notwendigerweise ein Grund zur Beunruhigung sein. Dennoch weist eine der wenigen
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D. Vergleich
ihm nicht disponiblen Grenzen auch einen Weg in Richtung einer stärkeren Rückverlagerung der Entscheidungsmacht in die Parlamente. Da das Bundesverfassungsgericht über kein Initiativrecht verfügt, liegt es auch an den potentiellen Verfahrensbeteiligten selbst, „self-restraint" zu üben, das heißt die Problemlösung dem politischen Prozeß zu überlassen, statt bei jeder unerwünschten Mehrheitsentscheidung das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Auch daran zeigt sich, daß der Schlüssel zu einer angemessenen Begrenzung der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts nicht nur in Karlsruhe, sondern auch in Bonn, respektive in Berlin, liegt.
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Sachregister Appellentscheidung 215 ff. Bundesverfassungsgericht - Annahmeverfahren 162 ff. - Besetzung 150 ff. - Entstehung 145 ff. - Kompetenzen (Überblick) 148 ff. - Kompetenzzuwachs kraft veränderter Grundrechtsdogmatik 159 ff. - Materieller Vergleich mit dem Supreme Court 255 ff. - Methodischer Vergleich mit dem Supreme Court 248 ff. - Prozessuale Maßnahmen zur Kompetenzbegrenzung 162 ff. - Sondervotum 155 ff. - Subsidiarität d. Verfassungsbeschwerde 165 ff. - Vergleichbarkeit mit dem Supreme Court 246 ff. Funktionell-rechtliche Grenzen 231 ff. Intermediate Scrutiny Test 95 ff. Judicial Self-Restraint - in den USA 125 ff. - in Deutschland 227 f. Low Level Review 94 ff. - Fallgruppen 98 ff. Mootness 59 Originalism 133 ff. Political Question Doctrine - in den USA 64 ff. - Chronologie 65 ff. - Einschätzung durch die Rechtslehre 82 ff. - Heutige Bedeutung 92 ff. - Systematisierung 78 ff. - in Deutschland 228 ff. Rational Basis Test 95 ff. Ripeness 57 ff.
Spezifisches Verfassungsrecht 207 ff. Standing 55 ff. Stare Decisis 60 ff. Strict Scrutiny Test 95 ff. Supreme Court - Aufbau 17 ff. - Geschichte 22 ff. - Kapazitätsgrenzen 63 ff. - Materieller Vergleich mit dem BVerfG 255 ff. - Methodischer Vergleich mit dem BVerfG 248 ff. - Richterberufung 50 ff. - Verfahren 17 ff. - Vergleich mit dem BVerfG 246 ff. - Zuständigkeiten 17 ff. Unvereinbarkeitserklärung 213 ff. Verfassungskonforme Interpretation 220 ff. Verminderte gerichtliche Kontrolldichte - im Vergleich Supreme Court-BVerfG 252 ff. - in Deutschland 171 ff. - bei auswärtigen Angelegenheiten 171 ff. - bei militärisch relevanten Entscheidungen 181 ff. - bei zwischenstaatlichen und innerdeutschen Beziehungen 171 ff. - bei exekutivisch geprägten Binnenentscheidungen 186 ff. - bei Prognose-, Eisnchätzungs- und Entscheidungsspielräumen des Gesetzgebers 190 ff. - in den USA 94 ff. - bei auswärtigen Angelegenheiten und nationaler Sicherheit 113 ff. - bei bundesgerichtlicher Kontrolle von Akten der Einzelstaaten 119 ff. - bei Rechtsakten von Verwaltungsbehörden 121 ff. - in der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung 98 ff.