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German Pages [265] Year 2012
© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593578 — ISBN E-Book: 9783647593579
Novum Testamentum et Orbis Antiquus / Studien zur Umwelt des Neuen Testaments In Verbindung mit der Stiftung „Bibel und Orient“ der Universität Fribourg/Schweiz herausgegeben von Max Küchler (Fribourg), Peter Lampe, Gerd Theißen (Heidelberg) und Jürgen Zangenberg (Leiden)
Band 98
Vandenhoeck & Ruprecht
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Ines Pollmann
Gesetzeskritische Motive im Judentum und die Gesetzeskritik des Paulus
Vandenhoeck & Ruprecht
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Mit 11 Tabellen und 6 Grafiken
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Inhalt
Inhalt
Vorwort ........................................................................................................11 1. Einleitung .................................................................................................13 2. Das tyrannische Gesetz. Der Aufstand des Apostaten Simri gegen das Gesetz in Ios.ant.Iud. 4,141–155...........................................25 2.1 Zur Quelle Ios.ant.Iud. 4,145–149 ...................................................25 2.1.1 Übersetzung Ios.ant.Iud. 4,145–149 ..................................26 2.1.2 Zum Verfasser Flavius Josephus........................................27 2.1.3 Datierung der Quelle ..........................................................28 2.1.4 Adressaten der Quelle ........................................................29 2.1.5 Form: Prosopopoeia ...........................................................29 2.1.6 Gliederung Ios.ant.Iud. 4,127–164 ....................................31 2.2 Die Gesetzeskritik des Apostaten Simri ..........................................32 2.2.1 Der Vorwurf der Repressivität und Tyrannei des Gesetzes.................................................33 2.2.2 Der Vorwurf der Partikularität des Gesetzes .....................34 2.2.3 Der Vorwurf des Betrugs durch das Gesetz .......................34 2.2.4 Der Vorwurf der Doppelmoral des Gesetzgebers ..............34 2.3 Die in der Episode vertretenen Positionen zum Gesetzesgehorsam ...............................................................35 2.3.1 Der Gesetzeseiferer Pinehas in der Tradition und bei Josephus .........................................................36 2.3.2 „Sitz im Leben“ der Gesetzeskritik des Simri ...................42 2.3.3 Moses besonnene Zurückweisung der Gesetzeskritik .......43 2.3.4 Josephus’ Stellung zum Gesetz ..........................................45 2.4 Interpretation: Zurückweisung der Gesetzeskritik eines rebellischen Apostaten .......................................................46 2.5 Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike ......................................................47 2.5.1 Analogie im hellenistischen Judentum ..............................47 2.5.2 Analogien in der griechisch-römischen Antike .................50
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Inhalt
3. Das unerfüllbare Gesetz. Der Sündenpessimismus des Sehers Esra in 4Esr 8,20–36 ............................................................67 3.1 Zur Quelle 4. Esra ............................................................................68 3.1.1 Datierung, Ort und Verfasser der Quelle ...........................68 3.1.2 Adressaten der Quelle ........................................................68 3.1.3 Form und Gliederung .........................................................69 3.2 Die „Gesetzeskritik“ des Sehers Esra ..............................................69 3.2.1 Übersicht über Esras Gesetzeskritik und ihre Zurückweisung durch den Engel ................................70 3.2.2 Die Sünde der Menschen – ein der Verheißung widersprechendes Verhängnis?...................................72 3.2.3 Literarische und liturgische Traditionen hinter dem Esragebet...................................................79 3.3 Die Position des Verfassers zu Esras Gesetzeskritik .......................82 3.3.1 Die Verfasserposition hinter den Aussagen des Engels Uriel ..........................................................83 3.3.2 „Sitz im Leben“ der gesetzeskritischen Stimmen hinter der Esrafigur .....................................................85 3.4 Interpretation: Zurückweisung der „Gesetzeskritik“ eines skeptischen Apokalyptikers ........................................................87 3.5 Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike ......................................................90 3.5.1 Analogien im palästinischen Judentum .............................90 3.5.2 Analogien in der griechisch-römischen Antike: Der Topos „Keiner ist perfekt“ ...................................96 4. Das ritualistische Gesetz. Die Verinnerlichung von rituellen Geboten bei den „radikalen Allegoristen“ in Philo migr. 89–93..........................99 4.1 Zur Quelle Philo migr. 89–93 ..........................................................99 4.1.1 Übersetzung .....................................................................100 4.1.2 Zum Verfasser ..................................................................101 4.1.3 Die Stellung von migr. 89–93 im Philocorpus und in der Schrift De migratione Abrahami .............102 4.2 Die Gesetzeskritik der „radikalen Allegoristen“............................104 4.2.1 Der Gedankengang der Rede ...........................................105 4.2.2 Charakterisierung der „radikalen Allegoristen“...............107 4.3 Philos Verhältnis zu den „radikalen Allegoristen“ ........................112 4.4 Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike ....................................................113
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4.4.1 Analogien im Judentum der alexandrinischen Diaspora und Palästinas ............................................114 4.4.2 Analogien in der griechisch-römischen Antike ...............122 5. Das sekundäre Gesetz. Die Posteriorität der Staatsgesetze in Philo, De Josepho 28–31..................................................................127 5.1 Zur Quelle Philo, De Josepho 28–31 .............................................128 5.1.1 Übersetzung .....................................................................129 5.1.2 Zum Verfasser und zur Datierung der Quelle ..................132 5.1.3 Adressaten und Form der Quelle .....................................132 5.1.4 Die Stellung von De Josepho 28–31 im Philocorpus und in der Schrift De Josepho (bi,oj politikou/) .......132 5.2 Philos Kritik an „hinzugefügten“ Staatsgesetzen ..........................134 5.2.1 prosqh,kh und prosqh/kai in Philos Gegenüberstellung des einen Naturgesetzes und der vielen Staatsgesetze .....................................135 5.2.2 Philos allegorische Deutung des Namens Joseph als „Zusatz“ ...............................................................136 5.2.3 Philosophische Traditionen hinter der Gegenüberstellung des einen universalen Naturgesetzes und der vielen partikularen Staatsgesetze .........................................143 5.3 Die Überlegenheit des mosaischen Gesetzes bei Philo .................156 5.3.1 Die sprachliche Überwindung der Antithese von Natur und Gesetz in Bezug auf das jüdische Gesetz bei Philo (no,moj fu,sewj; qe,smoi fu,sewj) ......157 5.3.2 Konzepte eines sittlichen Lebens ohne (geschriebenes) Gesetz bei Philo und in der Tradition ..................................................160 5.3.3 Rückbindung des mosaischen Gesetzes an Konzepte eines „Higher Law“ bei Philo ...................165 5.4 Interpretation: Kritik an „hinzugefügten“ partikularen Volksgesetzen fremder Völker..................................................167 5.5 Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike ....................................................167 5.5.1 Analogien im Judentum der alexandrinischen Diaspora und Palästinas ............................................168 5.5.2 Analogien in der griechisch-römischen Antike ...............173
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6. Das Bewusstwerden des Gesetzeskonflikts des Paulus aufgrund von Damaskus.......................................................................181 7. Das tyrannische Gesetz bei Paulus. Die Kritik an der Repressivität und am Betrug des Gesetzes ...............................183 7.1 Die Kritik an der Repressivität des Gesetzes in Gal 3f..................183 7.1.1 Die Aufgabe des Gesetzes als „Zuchtmeister“: Bewachen oder Bewahren? .......................................184 7.1.2 Die „Zuchtmeister“-Metapher im Kontext des Galaterbriefs ....................................186 7.1.3 Fazit: Bewahrung durch Bewachung ...............................188 7.2 Die Kritik am Betrug über den Charakter des Gesetzes in 2Kor 3,13 und Röm 7,11.......................................................189 7.2.1 Die täuschende Funktion der Decke in 2Kor 3,13 ...........189 7.2.2 Der Betrug durch Sünde und Gebot in Röm 7,11 ............191 7.3 Vergleich der Kritik an der Tyrannei des Gesetzes bei Josephus’ Simri, in der jüdischen und nicht-jüdischen Umwelt und bei Paulus....................................192 8. Das unerfüllbare Gesetz bei Paulus. Der Sündenpessimismus des Paulus mit Blick auf den unerlösten Menschen in Röm 3,10–18 und Röm 7,15–24 ...................195 8.1 Der Sündenpessimismus des Paulus mit Blick auf den unerlösten Menschen am Beispiel der Katene Röm 3,10–18 ..........................................................195 8.1.1 Die Stellung der Katene im Römerbrief ..........................196 8.1.2 Die Form der Katene ........................................................196 8.1.3 Die Funktion der Katene ..................................................198 8.1.4 Anthropologie ..................................................................198 8.2 Der Widerstreit zwischen Wollen und Tun in Röm 7,14–25 .........................................................................199 8.2.1 Gedankengang in Röm 7,14–23 .......................................200 8.2.2 Identifikation und Situation des „Ich“ in Röm 7,7–24 ....201 8.2.3 Traditionen hinter dem Widerstreit zwischen Wollen und Tun ........................................204 8.2.4 Das Bewusstwerden des Konflikts...................................207 8.2.5 Exkurs: Der erlöste Christ als „simul iustus et peccator“? ..................................208 8.3 Vergleich des Sündenpessimismus in 4. Esra, in den HôdƗMôt und im Römerbrief ...........................................209
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9. Das ritualistische Gesetz bei Paulus. Die Kritik an einer veräußerlichten Beachtung von Ritualgesetzen ...................................211 9.1 Über die wahre Beschneidung .......................................................211 9.1.1 Das Halten der Gebote (1Kor 7,19; Röm 2,25–27; Röm 4,9–12) ..................212 9.1.2 Die Beschneidung des Herzens durch den Geist (Röm 2,28f) ...............................................................214 9.1.3 Die Christen als die wahrhaft Beschnittenen (Phil 3,3) ...................................................................215 9.2 Über die wahre Beachtung von Speisevorschriften .......................215 9.3 Vergleich der Verinnerlichung von Geboten bei den „radikalen Allegoristen“, in der jüdischen und griechisch-römischen Umwelt und bei Paulus ..........................216 10. Das sekundäre Gesetz bei Paulus. Die Kritik an der Posteriorität des Gesetzes in Gal 3,19 und Röm 5,20 ..........................219 10.1 Der Vorrang der Verheißung gegenüber dem Gesetz ..................219 10.1.1 Das Argument der Posteriorität des Gesetzes in Gal 3,1–18 .................................................................219 10.1.2 Ziel und Wertung des „später beigegebenen“ Gesetzes in Gal 3,19 .................................................221 10.2 Vergleich der Kritik an sekundären Volksgesetzen bei Philo, in der jüdischen und griechisch-römischen Antike und bei Paulus ............................230 11. Gesetzeskritische Motive und die Gesetzeskritik des Paulus ..............233 Zusammenfassung ......................................................................................239 Literatur ......................................................................................................241 Quellen .................................................................................................241 Sekundärliteratur ..................................................................................244 Register.......................................................................................................253 Stellenregister.......................................................................................253 Sachregister ..........................................................................................261 Inhalt
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Vorwort
Die vorliegende Arbeit, Gesetzeskritische Motive im Judentum und die Gesetzeskritik des Paulus, ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im März 2011 bei der Theologischen Fakultät der Ruprecht-KarlsUniversität eingereicht habe. Das Thema der Arbeit wurde von meinem Doktorvater Prof. Dr. Gerd Theißen angeregt. Ihm gilt mein erster und größter Dank: für seine hervorragende fachliche und persönliche Begleitung. Viele seiner Gedanken sind in diese Arbeit eingeflossen. Ein Dank gilt auch apl. Prof. Dr. Peter Busch für sein Zweitgutachten und dem Herausgeberkreis von NTOA/Studien zur Umwelt des Neuen Testaments für die Aufnahme meiner Arbeit in diese Reihe. Zu danken habe ich auch dem Dekanat der Theologischen Fakultät Heidelberg für die Beschäftigung als Wissenschaftliche Hilfskraft im Prüfungsamt der Theologischen Fakultät, durch die ich diese Dissertation finanzieren konnte und allen, mit denen ich im Zuge der Prüfungsorganisation zusammengearbeitet habe, namentlich Prof. Christoph Strohm und Prof. Jan Christian Gertz. In einzelnen Übersetzungsfragen durfte ich Frau Dr. Anna TzvetkovaGlaser und Herrn Prof. Dr. Knut Usener zu Rate ziehen. Auch Ihnen sei herzlich gedankt! Für einen Druckkostenzuschuss bedanke ich mich bei der Evangelischen Kirche im Rheinland, bei der EKD und beim Förderverein der Theologischen Fakultät Heidelberg. Dank auch an Herrn Felix Alze-Plagge, der die Anpassung der Arbeit an die Verlagsvorgaben, sowie die Registererstellung professionell übernommen hat. Besonders große persönliche Unterstützung habe ich in der Zeit der Dissertation durch meine Familie, meine Studienfreundin Pfarrerin z.A. Britta Bongartz und Familie Meuthen erfahren. Meinem Mentor Pfr. Michael Gallach gilt ein besonderer Dank für seine wertvolle Unterstützung des Abschlusses der Dissertation während meines Vikariats. Kempen, im April 2012
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Ines Pollmann
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1. Einleitung
Einleitung
In den paulinischen Briefen des Neuen Testaments begegnet eine Vielzahl von Aussagen, in denen Paulus mit verschiedenen Argumenten Kritik am jüdischen Gesetz übt. Seine Kritik zielt auf sehr heterogene Aspekte: auf die Repressivität des Gesetzes, die Unerfüllbarkeit des Gesetzes, eine nur äußerliche Beachtung von Ritualgesetzen, die Posteriorität des Gesetzes und eine nomistische Fehlhaltung, die der Mensch im Bestreben, das Gesetz zu erfüllen, einnehmen kann. In den letzten Jahrzehnten der Paulusforschung, die von der „New Perspective on Paul“ dominiert waren, herrschte die Tendenz, zum einen die Gesetzeskritik des Paulus zu mildern und zum anderen das Judentum gegen den Vorwurf, eine vom Gesetz bestimmte Religion der Werkgerechtigkeit zu sein, zu verteidigen. Neu war an der „New Perspective on Paul“ die Beschreibung des Judentums als Gnadenreligion, in der die Erwählung durch Gottes Gnade der Forderung des Gesetzes vorausgeht. Damit wandte sich das neue Paulusbild gegen das von der lutherischen Antithese von lex und evangelium geprägte Bild des Verhältnisses zwischen Judentum und Paulus. Das entlutheranisierte Paulusbild der „New Perspective“ ist forschungsgeschichtlich gesehen ein Wiederaufleben des Paulusbilds der liberalen Theologie Anfang des 20. Jahrhunderts (W. WREDE und A. SCHWEITZER). 1 Die Entlutheranisierung des Paulusbildes vollzieht sich weitgehend als Abmilderung der Gesetzeskritik des Paulus. Sie geschieht mit folgenden Argumenten: ޤDie traditionelle Darstellung des Judentums als Religion der Werkgerechtigkeit wird als verzerrte Wahrnehmung des Judentums zurückgewiesen. Zum ersten Mal geschah das in systematischer Weise durch G.F. MOORE, Judaism in the First Centuries of the Christian Era: The Age of the Tannaim 3 Bde, Cambridge 1927–1930.2 In seiner Nachfolge entwarf E.P. SANDERS ein al-
1 Vgl. W. WREDE, Paulus, Halle 1904; wiederabgedruckt in: K.H. Rengstorf (Hg.), Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung, WdF 24, Darmstadt 1964 = 1967, 1–97; A. SCHWEITZER, Die Mystik des Apostels Paulus. Mit einer Einführung von Werner Georg Kuemmel, UTB 1091, Neudruck der 1. Aufl. von 1930, Tübingen 1981. 2 Vgl. G.F. MOORE, Christian Writers on Judaism, HThR 14, 1921, 197–254.
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Einleitung
ternatives Bild vom Judentum, das er auf den Begriff eines „Bundesnomismus“ brachte.3 ޤFerner wird betont: Paulus hatte in seiner vorchristlichen Zeit kein Problem mit dem Gesetz. Er litt sowenig unter dem Gesetz wie die anderen Pharisäer. Er war vielmehr ein selbstbewusster Jude. Erst aufgrund seiner Hinwendung zum Christentum wird für ihn retrospektiv das Judentum zum Problem. Nach E.P. SANDERS hat sich das Denken des Paulus „von der Lösung hin zur Notlage“ (from solution to plight) bewegt.4 Er postuliert ein Leiden an der Nichterfüllung des Gesetzes erst im Nachhinein. ޤSchon vor E.P. SANDERS hatten K. STENDAHL5 und U. WILCKENS6 bestritten, dass Paulus eine nomistische Fehlhaltung kennt – also eine Kritik am Willen, das Gesetz erfüllen zu wollen. Auch sein Stolz auf das Gesetz sei ihm nachträglich nur indirekt zum Problem geworden. Für Paulus sei der Gedanke unmöglich gewesen, dass das Gesetz von sich her zur Sünde verführt. Sünde sei für ihn immer Gesetzesbruch. Das Gesetz sei ante Christum natum kein Problem und keine Verführung zur Gesetzlichkeit gewesen. Erst post Christum natum habe es Juden daran gehindert, Christus anzuerkennen. Es sei so erst nachträglich zum Problem geworden.7 ޤWas nun die Theologie des Paulus in seiner christlichen Zeit angeht, so hatte man schon lange vor diesen neueren Ansätzen zur Revision des Paulusbildes die These vertreten, dass die Gesetzeskritik beziehungsweise die Rechtfertigungslehre sachlich gesehen ein „Nebenkrater“ der paulinischen Theologie sei, in deren Mittelpunkt das neue Sein in Christus stehe, dass sie zeitlich gesehen erst sekundär in „Grabenkämpfen“ mit Gegnern der paulinischen Mission entstanden sei: Paulus habe mit ihr das Leben seiner heidenchristlichen Gemeinden, in denen nicht mehr alle Gesetzesforderungen gehalten wurden, gegen den Versuch verteidigt, diese Gemeinden wieder in das Judentum zu integrieren (G. STRECKER8 in der Nachfolge W. WREDES). 3 Vgl. E.P. SANDERS, Paulus und das palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen, StUNT 17, Göttingen 1985 und ders., Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion, London/Philadelphia 1977. 4 Vgl. zu dieser Aussage E.P. SANDERS, Paulus und das palästinische Judentum, 451.509 und ähnlich 457.459.460 (unter Verweis auf Phil 3).486. Vgl. zur inzwischen zur Formel gewordenen englischen Wendung „from solution to plight“ ders., Paul and Palestinian Judaism, 475.548. 5 Vgl. K. STENDAHL, Der Apostel Paulus und das „introspektive“ Gewissen des Westens, KuI 11, 1996, 19–33; erstmals englisch: The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West, HThR 56, 1963, 199–215. 6 Vgl. U. WILCKENS, Was heißt bei Paulus: „Aus Werken des Gesetzes wird kein Mensch gerecht“?, in: ders., Rechtfertigung als Freiheit. Paulusstudien, Neukirchen-Vluyn 1974, 77–109. 7 Vgl. U. WILCKENS, Der Brief an die Römer. 2. Teilband (Röm 6–11), EKK VI/2, Zürich 2 1987, 217ff, zu Röm 10,2ff. 8 Vgl. G. STRECKER, Befreiung und Rechtfertigung. Zur Stellung der Rechtfertigungslehre in der Theologie des Paulus, in: ders., Eschaton und Historie. Aufsätze, Göttingen 1979, 229–259.
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Einleitung
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Einleitung
Entgegen dieser Tendenz sollen in der vorliegenden Arbeit die gesetzeskritischen Aussagen des Paulus, auch sofern sie sich nicht auf die Kritik am Legalismus (Werkgerechtigkeit) beschränken, als kritische Aussagen ernst genommen werden. Die Gesetzeskritik des Paulus soll als wirkliche Kritik verstanden und historisch plausibel gemacht werden. Wenn sie bei Paulus vorhanden ist, muss sie auch historisch vorbereitet gewesen sein. Selbst wenn man sie auf eine Offenbarung direkt vom Himmel zurückführen wollte, müsste Paulus sie doch sprachlich mit Begriffen und Wendungen formulieren, die andere verstehen können. Daher ist es notwendig, nach Vorläufern dieser Gesetzeskritik zu suchen – sowohl in der Sache als auch in der Sprache. Dabei darf man nicht erwarten, dass man die paulinische Gesetzeskritik schon vor Paulus findet, wohl aber einzelne potenziell gesetzeskritische Motive, an die er sachlich und sprachlich anknüpfen konnte. Diese gesetzeskritischen Motive sind insofern potenziell, als sie in den jüdischen Schriften meist zurückgewiesen werden und vereinzelt begegnen, ohne zu einer Gesetzeskritik systematisiert zu werden. Wenn im Folgenden die Rede von „gesetzeskritischen Motiven“ im Judentum ist, sind also potenzielle gesetzeskritische Motive gemeint, die erst bei Paulus zu einer aktuellen Gesetzeskritik werden. Seit E.P. SANDERS’ Werk „Paulus und das palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen, StUNT 17, Göttingen 1985“ (engl. Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion, London/Philadelphia 1977) wurde der Begriff „covenantal nomism“ (Bundesnomismus) das dominierende Label, mit dem die Religionsstruktur (pattern) des Judentums auf den Punkt gebracht werden sollte und das Judentum als Gnadenreligion charakterisiert wurde. 9 Hinter diesem Begriff verbirgt sich der Gedanke eines Synergismus von Gott und Mensch, der zur Rettung des Menschen führt und bei dem der barmherzige Gott der in erster und letzter Instanz Rettende ist: Gottes Bundesschluss mit dem Volk Israel ist die Bedingung für den Eintritt in die Religion, das „getting in“. Auf den Bundesschluss reagieren die Menschen durch Gesetzesgehorsam, welcher die Bedingung für das „staying in“, das Bleiben in der Religion, ist. Gottes Barmherzigkeit zeigt sich erstens in der Erwählung des Volkes Israel, die den Eintritt in den Bund ermöglicht, und zweitens in der Rettung, die Gott seinem Volk garantiert. Der Tora kommt in der Religionsstruktur (pattern)
Die Befreiungsbotschaft von Tod, Sünde und altem Äon war zuerst da und wurde erst sekundär durch Befreiung vom Gesetz ergänzt. 9 Vgl. zur Struktur des „Bundesnomismus“ E.P. SANDERS kurze Zusammenfassung in ders., Paulus und das palästinische Judentum, 400.
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Einleitung
des „Bundesnomismus“ nicht die Funktion eines Heilswegs zu. Ihre Funktion beschränkt sich auf das Bleiben im Bund. Die Gabe der Tora beinhaltet zweierlei: die Verheißung, dass Gott an der Erwählung festhält, und die Forderung, dass der Mensch das Gesetz hält. Außerdem stellt sie Sühnemittel bei Übertretungen bereit. Der Bundesnomismus wird durch einen milden Synergismus gekennzeichnet: Das Tun des Menschen kann den Bund nicht herstellen, wohl aber kann es dazu führen, dass jemand nicht in ihm bleibt. Dieser Synergismus ist zwar die vorherrschende soteriologische Struktur im Judentum, aber nicht die einzige Struktur. Die Religionsstruktur des Judentums ist bei der Kausalattribuierung des Heils an Gott oder den Menschen flexibler, als E.P. SANDERS Bundesnomismus suggeriert. Josephus kennt in seiner Darstellung der jüdischen Religionsparteien (ant.Iud. 13,171–173; bel.Iud. 2,162–166;) drei mögliche Muster. Einen milden Synergismus zwischen Gott und Mensch schreibt er den Pharisäern zu. Daneben kennt er zwei weitere Muster: den Prädestinationsglauben, bei dem Gottes Aktion im Vordergrund steht und der für die Essener charakteristisch sei, und eine den Sadduzäern zugeordnete Haltung, bei der die Aktion des Menschen im Vordergrund steht. Er entscheidet durch sein Handeln über sein Heil. Das wäre nach der traditionellen Deutung des Judentums in der Tat Legalismus. Die drei Muster können zwar in ihrer Tendenz einigen Gruppierungen eher zugeschrieben werden als anderen, kommen aber als variable Akzentuierungen in ein und denselben religiösen Texten und im religiösen Leben vor. Man muss sich daher nicht an die sozialen Zuschreibungen dieser drei Muster bei Josephus halten. Für unsere Zusammenhänge reicht es, wenn man (wie Josephus) mit ihrer Existenz im Judentum prinzipiell rechnet. Der „Bundesnomismus“ ist nur eine Variante in diesem ethischen Monotheismus, wenn auch die am weitesten verbreitete Variante. Es wurde erkannt, dass der Begriff des „Bundesnomismus“ für die Beschreibung der Religionsstruktur des Judentums unzureichend ist. So hat G. THEISSEN als passenderen Oberbegriff, der alle Varianten des Judentums umfasst und den Gesetzesgehorsam nicht negativ als „Werkgerechtigkeit“ wertet, in Weiterführung einer alten Tradition den Begriff „ethischer Monotheismus“ statt „Bundesnomismus“ vorgeschlagen. 10 Im Jahr 2001 haben D.A. CARSON, PETER T. O’BRIEN und MARK A. SEIFRID Beiträge unter dem Titel „Justification and Variegated Nomism, Vol. 1. The Complexities of Second
10 Vgl. G. THEISSEN, The New Perspective on Paul and Its Limits: Some Psychological Considerations, PSB XXVIII, No 1, New Series 2007, 64–85, 71.
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Einleitung
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Temple Judaism“ 11 veröffentlicht, in denen jüdische Schriften aus der hellenistisch-römischen Zeit auf ihr Gesetzesverständnis hin untersucht wurden und die Tragfähigkeit des Konzepts eines „Bundesnomismus“ erprobt wurde. Die Funktion des Gesetzes und der Gesetzesobservanz konnte mit diesen Beiträgen differenzierter bestimmt werden. Aufgrund dieser und weiterer Untersuchungen 12 ist es angebracht, statt von „Bundesnomismus“ und „common judaism“ von einem „variegated nomism“ innerhalb des Judentums zu sprechen. Das erste Muster, das Konzept des „Bundesnomismus“ (milden Synergismus) bedarf, wie beispielsweise die Beiträge von D. FALK zu den Psalmen Salomos, P. ENNS zum Jubiläenbuch, R. BAUCKHAM zu apokalyptischen Schriften und CRAIG A. EVANS zu Joseph und Aseneth zeigen, häufig der Modifikation. Die Psalmen Salomos können so interpretiert werden, dass sie einen „covenantal nomism“ mit Blick auf ganz Israel repräsentieren und gleichzeitig einen „legalism“ mit Blick auf die Gerechten innerhalb Israels. Das Gesetz ist laut D. FALK zwar nicht das „means of gaining the status of righteousness“. 13 Aber „law is everywhere assumed [...] in the groupdistinctiveness that pervades these psalms: ‚we‘ are a law-keeping group and ‚they‘ are a law-breaking group.“14 P. ENNS 15 stimmt E.P. SANDERS Einschätzung des Jubiläenbuchs als Beleg für den „Bundesnomismus“ grundsätzlich zu, möchte aber zwischen individuellem Abfall und nationaler Bewahrung differenzieren. Zwar werde dem Jubiläenbuch zufolge das Volk Israel aufgrund von Gottes Treue niemals zerstört, dies heiße aber nicht, dass individuelle Israeliten nicht ihren Bundesstatus verlieren können. Nach P. ENNS trifft es für das Jubliläenbuch eher zu, dass Erwählung durch Gnade geschieht, aber Rettung durch Gehorsam. 16 Es bleibe dabei, dass das Heil 11
D.A. CARSON/PETER T. O´BRIEN/MARK A. SEIFRID (Hg.), Justification and Variegated Nomism, Bd. 1, The Complexities of Second Temple Judaism, WUNT II/140, Tübingen/Grand Rapids 2001. 12 Vgl. M. HENGEL/R. DEINES, E.P. Sanders’ „Common Judaism“, JThS 46 (1 Ap), 1995, 1–70 und N. NEUSNER, From Judaism to Judaisms. My Approach to the History of Judaism, in: ders., Ancient Judaism. Debates and Disputes, Atlanta (Ga.) 1990, 181–221. 13 Vgl. D. FALK, Prayers and Psalms, in: D.A. Carson/Peter T. O´Brien/Mark A. Seifrid (Hg.), Justification and Variegated Nomism, Bd. 1, The Complexities of Second Temple Judaism, WUNT II/140, Tübingen/Grand Rapids 2001, 7–56, insbes. 35–51, 51. 14 Vgl. D. FALK, Prayers and Psalms, insbes. 35–51, 51. 15 Vgl. P. ENNS, Expansions of Scripture, in: D.A. Carson/Peter T. O´Brien/Mark A. Seifrid (Hg.), Justification and Variegated Nomism, Bd. 1, The Complexities of Second Temple Judaism, WUNT II/140, Tübingen/Grand Rapids 2001, 73–98, 92–98 und die Zusammenfassung von D.A. CARSON, Summaries and Conclusions, in: ders./Peter T. O´Brien/Mark A. Seifrid (Hg.), Justification and Variegated Nomism, Bd. 1, The Complexities of Second Temple Judaism, WUNT II/140, Tübingen/Grand Rapids 2001, 505–548, 510–512. 16 Vgl. P. ENNS, Expansions of Scripture, 98.
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letztlich auf mehr basiert als auf dem initiatorischen Einschluss in den Bund. 17 Darüber hinaus hält er es mit Blick auf die israelitischen Adressaten für angemessener, von „being in“ statt von „getting in“ zu sprechen. 18 Ausgerechnet dem Buch 4. Esra, das nach Meinung von E.P. SANDERS aufgrund seiner starken Werkgerechtigkeit aus dem Schema des „Bundesnomismus“ herausfällt, möchte R. BAUCKHAM nicht den „Bundesnomismus“ absprechen, da Gott die Gerechten aus Barmherzigkeit rettet (4Esr 12,34; 14,34). Gott rette jene Mitglieder seines erwählten Volkes, die die Bedingungen seines Bundes gehalten haben und daher die im Bund versprochene Rettung verdienen. Während in formaler Hinsicht die Struktur des „Bundesnomismus“ beibehalten werde, müsse eschatologische Belohnung durch anspruchsvollen Gesetzesgehorsam verdient werden. 4. Esra illustriere wie das grundlegende und sehr flexible Muster des „Bundesnomismus“ Formen annehmen kann, in denen Rettung als Verdienst von Gesetzesgehorsam so sehr betont wird, dass die menschliche Leistung die Hauptstufe einnimmt und Gottes Gnade, zwar vorausgesetzt, aber de facto marginalisiert wird. 19 R. BAUCKHAM schreibt mit Blick auf den von E.P. SANDERS für 2. Baruch vertretenen „Bundesnomismus“, es sei treffender, zu sagen, dass Gott Barmherzigkeit für die Gerechten aufgrund ihrer guten Werke habe, als dass Gott den Gerechten Barmherzigkeit schenke. 20 „Justification and Variegated Nomism, Vol. 1. The Complexities of Second Temple Judaism“ zeigt, dass es auch Texte im Judentum gibt, die dem dritten Muster des Legalismus entsprechen, da in ihnen die Aktion des Menschen im Vordergrund steht. Das slawische Henochbuch ist ein Zeugnis für „legalistic work-righteousness“. 21 In 2Hen werden weder Erwählung noch Bundesverheißung betont, sondern nur Gottes Belohnungen und Bestrafungen für die Observanz beziehungsweise Vernachlässigung von Gesetzen. In dieser Schrift findet sich die Vorstellung, Menschen oder ihre 17
Vgl. ebd., 98. Vgl. ebd., 98. 19 Vgl. R. BAUCKHAM, Apocalypses, in: D.A. Carson/Peter T. O´Brien/Mark A. Seifrid (Hg.), Justification and Variegated Nomism, Bd. 1, The Complexities of Second Temple Judaism, WUNT II/140, Tübingen/Grand Rapids 2001, 135–187, 174: „But 4 Ezra does rather importantly illustrate how the basic and very flexible pattern of covenantal nomism could take forms in which the emphasis is overwhelmingly on meriting salvation by works of obedience to the Law, with the result that human achievement takes center-stage and God´s grace, while presupposed, is effectively marginalized.“ 20 Vgl. R. BAUCKHAM, Apocalypses, 182: „With reference to 2 Baruch, it would be more accurate to say not simply that God bestows mercy on the righteous, but that God has mercy on the righteous because of their good works.“ 21 Vgl. R. BAUCKHAM, Apocalypses, 135–187, insbes. 151–156. 18
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Taten auf der Waagschale der Gerechtigkeit zu wiegen (44,5; 49,2; 52,15; vgl. 1Hen 41,1; 61,8; ApkZeph 8,5). 2Hen weitet das biblische Motiv vom Wiegen und Rückzahlen gemäß den Taten auf das Wiegen der Taten aus. Durch das Bild einer Waage auf dem Marktplatz (44,5) wird diesem Gedanken Nachdruck verliehen. Nur in 2Hen findet sich die Vorstellung, dass für jede Person schon vor ihrer Existenz, eine Waagschale auf dem Gerichtsplatz bereitet ist (49,2–3). CH. BÖTTRICH unterstreicht die universalistische Tendenz dieser Schrift, womit er den Legalismus positiv würdigt. 22 In der Apokalypse des Zephanja, für die eine christliche Herkunft nicht ganz ausgeschlossen werden kann, qualifizieren sich die Gerechten durch ihre Gerechtigkeit, in das Volk Gottes eingeschlossen zu werden; die Fürsprache der Patriarchen für die Sünder könnte allerdings auf der Grundlage von Gottes Bund mit Israel erfolgen. 23 C.A. EVANS schreibt über das Buch Joseph und Aseneth, man habe den Eindruck, dass der Wandel des Lebensstils und die Änderung der Nahrung eine große Rolle in der Erlösung von Aseneth spielen. Gottes Gnade sei zwar die Voraussetzung für die Erlösung, aber ohne die Übernahme von jüdischen Speise- und Reinheitsgeboten hätte die Bekehrung von Aseneth nicht stattfinden können. EVANS stellt heraus, dass es Elemente in den „Scripture-Based Stories in the Pseudepigrapha“ gibt, wie zum Beispiel Aseneths Weg, ein Mitglied des Volkes Gottes zu werden, die die Art von Werkgerechtigkeit widerspiegeln, mit der der Apostel Paulus nicht übereingestimmt hätte. 24 Paulus lebte in seiner vorchristlichen Zeit in Kontexten, in denen das Aufkommen eines Wetteiferns im ethischen Handeln (Legalismus) Plausibilität gewinnt: Die Diasporasituation konnte ein Wetteifern mit Heiden und einen Druck im gesetzestreuen Juden nach innen erzeugen; bei Paulus’ Aufenthalt in Palästina kann die Rivalität von jüdischen Gruppen zum Eifer für das Gesetz und zum Druck nach außen gegen die christliche Minderheit geführt haben. 25 Den überlieferten Schriften aus dem Judentum des Zweiten Tempels ist gemeinsam, dass sie das Gesetz grundsätzlich positiv bewerten. Dezidiert gesetzeskritische Äußerungen sind in den überlieferten jüdischen Schriften erwartungsgemäß kaum zu finden. Will man die Gesetzeskritik des Paulus historisch plausibel machen, so kann bereits die in „Justification and 22 CH. BÖTTRICH, Das slavische Henochbuch, JSHRZ V/7, Gütersloh 1996; ders., Weltweisheit– Menschheitsethik–Urkult. Studien zum slavischen Henochbuch, WUNT II/50, Tübingen 1992. 23 Vgl. R. BAUCKHAM, Apocalypses, 135–187, insbes. 156–160. 24 Vgl. C.A. EVANS, Scipture-Based Stories in the Pseudepigrapha, in: D.A. Carson/Peter T. O´Brien/Mark A. Seifrid (Hg.), Justification and Variegated Nomism, Bd. 1, The Complexities of Second Temple Judaism, WUNT II/140, Tübingen/Grand Rapids 2001, 57–72. 25 Vgl. G. THEISSEN, The New Perspective on Paul and Its Limits, 74–77.
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Variegated Nomism, Vol. 1“ vorgenommene differenzierte Betrachtung der Funktion des Gesetzes und des Gesetzesgehorsams die potenziell negativen Auswirkungen des Gesetzesgehorsams zutage treten lassen. Zwei der von Paulus benannten Kritikpunkte am Gesetz, die Repressivität und Partikularität des Gesetzes, sind als negative Kehrseite eines legalistischen und exklusiven Gesetzesverständnisses, von dem einige der von D.A. CARSON, P.T. O’BRIEN und M.A. SEIFRID herausgegebenen Untersuchungen zeugen, historisch plausibel. Es liegt auf der Hand, dass der dort erhobene Legalismus sowohl für diejenigen, die das Gesetz befolgen wollen und sich dazu in der Lage sehen als auch für diejenigen, die das Gesetz aus verschiedenen Gründen nicht befolgen können, problematisch werden kann. Wahrscheinlich war Paulus nicht der erste und einzige Jude, der die Ambivalenz des Gesetzes spürte und kritisierte. Es ist damit zu rechnen, dass negative Implikationen des Gesetzes schon vor ihm vereinzelt am Rande des Judentums kritisiert wurden. Das Aufkommen von Kritik am Bestehenden kann, wie beispielsweise die Lutherforschung gezeigt hat, historisch erklärt werden. Auch Luther stand mit seiner Kritik an der Kirche nicht allein. Zur historischen Plausibilisierung der paulinischen Gesetzeskritik muss die Darstellung der Komplexität des Judentums des Zweiten Tempels um unpopuläre, zurückgewiesene gesetzeskritische Stimmen im Judentum erweitert werden. 26 Die vorliegende Arbeit, „Gesetzeskritische Motive im Judentum und die Gesetzeskritik des Paulus“, macht es sich zur Aufgabe, die „Lücke“ gesetzeskritischer Stimmen im Judentum in zeitlicher Nähe zu Paulus zu füllen. Im Vordergrund dieser Arbeit soll die Interpretation von jüdischen Texten aus der hellenistisch-römischen Zeit stehen, in denen das Gesetz mit einem (oder mehreren) der paulinischen Gesetzeskritik vergleichbaren Motiv(en) kritisiert wird. Angeregt wurde die hier vorgelegte Interpretation der paulinischen Gesetzeskritik durch eine Zusammenstellung von Quellen, die G. THEISSEN zuerst in „Die Religion der ersten Christen“ vorgenommen hat. 27 Zu vier jüdischen Quellen (Ios.ant.Iud. 4,145–149; 4Esr 8,20–36; Philo migr. 89–93; Philo Jos. 28–31), die von gesetzeskritischen Stimmen und Motiven im Judentum zeugen, finden sich sowohl Analogien in der jüdischen und griechisch-römischen Umwelt als auch verwandte gesetzeskritische Argumente bei Paulus.
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Entgegen der Skepsis von E.P. SANDERS, Paulus und das palästinische Judentum, 473. Vgl. G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 290–294.304–308; ders., Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007, 472–479; ders., The New Perspective on Paul and Its Limits, 77–79. 27
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Im ersten Teil dieser Arbeit (Kap. 2–5) werden die vier jüdischen Hauptquellen dargestellt, auf gesetzeskritische Motive hin analysiert und auf den „Sitz im Leben“ der Gesetzeskritik sowie die Position des Verfassers zur Gesetzeskritik hin befragt. Im Anschluss an die Untersuchung jeder Hauptquelle werden Texte aus dem Judentum vorgestellt, die zeigen, dass vergleichbare gesetzeskritische Motive bereits vor (manchmal auch nach) Paulus in der Geschichte des Judentums Resonanz fanden und offen vorgebracht wurden. Die jüdischen Hauptquellen und ihre Analogien im (hellenistischen) Judentum könnten bewusst oder unbewusst populärphilosophische Versatzstücke aus der griechisch-römischen Umwelt rezipiert haben. Daher werden neben Analogien im Judentum auch Analogien aus der griechisch-römischen Antike aufgeführt. Den vier im ersten Teil (Kap. 2–5) erhobenen gesetzeskritischen Motiven aus dem Judentum und der griechisch-römischen Tradition, werden im zweiten Teil (Kap. 7–10) gesetzeskritische Aussagen des Paulus zugeordnet. Die Darstellung jedes der vier gesetzeskritischen Motive bei Paulus wird mit einem Vergleich mit der im ersten Teil (Kap. 2–5) herausgestellten Gesetzeskritik im Judentum und der paganen Umwelt vor oder nach Paulus abgeschlossen. Auch M. TIWALD hat in seiner Habilitationsschrift „Hebräer von Hebräern. Paulus auf dem Hintergrund frühjüdischer Argumentation und biblischer Interpretation“ 2008 einige der von G. THEISSEN zusammengestellten Quellen aufgenommen und interpretiert. 28 Gesetzeskritische Motive finden sich – in chronologischer Reihenfolge der vier zu interpretierenden Hauptquellen – in zwei Schriften des Philo von Alexandrien (1. Hälfte des 1. Jh. n.Chr.), in den Antiquitates Iudaicae des Josephus (93/94 n.Chr.) sowie im Buch 4. Esra (ca. 100 n.Chr.). Streng genommen wird die Gesetzeskritik in den angeführten Werken teils erst nach der paulinischen Gesetzeskritik manifest, unabhängig davon, ob man diese früh in den 30er Jahren oder spät in den 50er Jahren ansetzt. Auch die Gattung der Schriften, die Abfassungsorte und damit einhergehend die sozialen und politischen Kontexte der genannten Schriften, sind nicht mit denen des Paulus identisch. Inwiefern ist es dennoch berechtigt, ausgehend von den vier jüdischen Hauptquellen nach gesetzeskritischen Motiven im Judentum vor Paulus zu fragen? Zum einen ist der „Sitz im Leben“ zweier Quellen (Ios.ant.Iud.; Philo migr.) das Problem der Assimilation von Juden an die nichtjüdische Umwelt, ein Problem, das lange vor Abfassung der beiden Schriften beEinleitung
28 Vgl. M. TIWALD, Hebräer von Hebräern. Paulus auf dem Hintergrund frühjüdischer Argumentation und biblischer Interpretation, HBS 52, Freiburg/Basel/Wien et al. 2008, 303–383.
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stand. Darüber hinaus lassen die Quellen auf verarbeitete deutlich ältere personale Traditionen (Pinehastradition), liturgische Traditionen (Bußliturgie) und philosophische (sophistische und stoische) Traditionen schließen. Allen gesetzeskritischen Äußerungen der vier jüdischen Hauptquellen können Analogien aus dem Judentum zugeordnet werden, die mit Ausnahme der schwer zu datierenden Schrift Ps.-Phokylides, mit großer Wahrscheinlichkeit in die Zeit vor Paulus, häufig in die Zeit vor der Jahrhundertwende zu datieren sind (die hellenistischen Reformer, die HôdƗMôt aus Qumran, der Aristeasbrief, Ps-Phokylides, Aristobulos, Jesus von Nazareth, Johannes der Täufer, die Gemeinderegel aus Qumran). Diese Analogien zeigen, dass gesetzeskritische Motive schon vor Paulus im Judentum Resonanz fanden. Es darf davon ausgegangen werden, dass teils sehr viel ältere, teils zeitgenössische Traditionen als populäre (religions-)philosophische Versatzstücke auf die gesetzeskritischen Stimmen im hellenistischen Judentum vor Paulus eingewirkt haben. Die Rezeption von gesetzeskritischen Äußerungen bei Paulus und im Urchristentum dürfte eher über den Umweg des hellenistischen Judentums geschehen sein als direkt über den Weg der griechisch-römischen Antike. Gesetzeskritische Motive in der griechisch-römischen Antike, 29 die deutliche Parallelen zu gesetzeskritischen Motiven bei Paulus aufweisen, werden daher zur Kenntnis genommen, aber nicht einer gründlichen Exegese unterzogen. Dabei handelt es sich um griechische und römische philosophische Ideen wie die Tyrannei und die Posteriorität von Gesetzen sowie um anthropologische und religiöse Ideen wie den Sündenpessimismus und die Verinnerlichung ritueller Gebote. Bei Paulus selbst ist eine unmittelbare Übernahme solcher gesetzeskritischen populärphilosophischen Gedanken aus der heidnischen Welt nicht auszuschließen, etwa durch seinen Dialog mit den Korinthern. GERD THEISSEN geht davon aus, dass Gesetzeskritik im Judentum meist zurückgewiesen wurde und deutet diesen Mechanismus kulturpsychologisch als Verdrängung von Außenseiterstimmen, die keine Chance hatten sich durchzusetzen. 30 Dabei ist für eine historische Bewertung der paulinischen Gesetzeskritik wichtig, dass im Judentum weit verstreute und vereinzelte gesetzeskritische Motive bei Paulus zusammenfinden. Eine weitere individualpsychologische Annahme, der sich die vorliegende Arbeit anschließt, ohne sie in den Vordergrund zu stellen, ist die These eines unbe29 K. HAACKER, Der „Antinomismus“ des Paulus im Kontext antiker Gesetzestheorie, in: H. Cancik/M. Lichtenberger/P. Schäfer (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion (FS M. Hengel), Tübingen 1996, 387–404. 30 Vgl. G. THEISSEN, The New Perspective on Paul and Its Limits, 78.
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wussten Gesetzeskonflikts des vorchristlichen Paulus. Die These eines bei Paulus verdrängten Gesetzeskonflikts ist eine mögliche, aber nicht notwendige Zusatzannahme zur hier vertretenen kulturpsychologischen These einer zurückgewiesenen Gesetzeskritik im Judentum vor Paulus. Zwar steht die historische Plausibilisierung der paulinischen Gesetzeskritik im Vordergrund der Arbeit. Dies soll jedoch keinesfalls vergessen machen, dass das Gesetz im hellenistischen Judentum und in der griechischrömischen Antike vor allem eine positive Würdigung erfahren hat und es auch für Paulus unaufgebbarer Bestandteil seiner Frömmigkeit blieb. Das Gesetz ist für Paulus ambivalent, „zweiwertig“. Ihm wird ein positiver und ein negativer Aspekt zugeschrieben. Paulus hat diese Ambivalenz pointiert dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er den Dienst des Mose als tötenden „Buchstaben“ und als lebendig machenden „Geist“ bezeichnete (2Kor 3,6). Indem gesetzeskritische Tendenzen im Judentum selber aufgedeckt werden, wird das Potenzial des Judentums zur Selbstkritik deutlich, ein Potenzial, das auch das Christentum in Bezug auf sich selber nicht vernachlässigen darf. Die Größe des Judentums besteht darin, dass es das Gesetz liebte und sehr hoch schätzte und doch eine Kritik an ihm historisch ermöglichte, die bei Paulus zutage tritt. Die Größe des Paulus besteht darin, dass er diese Kritik artikulierte, ohne den positiven Wert des Gesetzes grundsätzlich infrage zu stellen.
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2. Das tyrannische Gesetz. Der Aufstand des Apostaten Simri gegen das Gesetz in Ios.ant.Iud. 4,141–155
Das tyrannische Gesetz
Das prägnanteste, aber nicht das einzige gesetzeskritische Motiv, in dem sich Paulus und eine Stimme im Werk des Josephus ähnlich sind, ist die Kritik an der Tyrannei des Gesetzes. Flavius Josephus, ein Apologet des Judentums, erzählt in seinen Antiquitates Iudaicae (Jüdischen Altertümern) alttestamentliche Geschichten nach, darunter auch die Simriepisode aus Numeri 25, in der sich Simri dem Gesetz des Mose widersetzt und eine Midianiterin zur Frau nimmt. In seiner Variation auf diese biblische Geschichte legt Josephus dem Apostaten Simri, griechisch Zambrias, in Ios.ant.Iud. 4,145–149 eine lange und eindrucksvolle Rede in den Mund, in der Simri das Gesetz des Mose aufs Schärfste kritisiert. Im Anschluss an die Rede wird die Gesetzeskritik des Simri gewaltsam durch Pinehas unterdrückt. Nach einer Darstellung der zu analysierenden Quelle Ios.ant.Iud. 4,141– 155 (2.1) werden die gesetzeskritischen Argumente der Simrirede herausgestellt (2.2). Anschließend soll nach den Positionen zum Gesetzesgehorsam gefragt werden, die sich hinter den Figuren der Simriepisode verbergen (2.3). Dabei soll aufgezeigt werden, dass der Autor Josephus die Gesetzeskritik des Simri zurückweist (2.4). Schließlich folgt ein Blick auf jüdische und heidnische Analogien zur Gesetzeskritik des Simri (2.5), wobei das Hauptaugenmerk auf der philosophiegeschichtlich prominent gewordenen Gesetzeskritik der Sophisten liegt.
2.1 Zur Quelle Ios.ant.Iud. 4,145–149 Zur Quelle Ios.ant.Iud. 4,145–149
145 VAnasta.j de. metV auvto.n Zambri,aj „avlla. su. me,n“° ei=pen° „w= Mwush/° crw/ no,moij oi-j auvto.j evspou,dakaj evk th/j tou,twn euvhqei,aj to. be,baion auvtoi/j pareschme,noj\ evpei. mh. tou/ton auvtw/n evco,ntwn to.n tro,pon polla,kij a'n h;dh kekolasme,noj e;gnwj a'n ouvk euvparalogi,stouj ~Ebrai,oujÅ 146 evme. dV ouvk a'n avko,louqon oi-j su. prosta,sseij turannikw/j la,boij\ ouv ga.r a;llo ti me,cri nu/n h' prosch,mati no,mwn kai. tou/ qeou/ doulei,an me.n h`mi/n avrch.n de. sautw/| kakourgei/j° avfairou,menoj h`ma/j to. h`du. kai. to. kata. to.n bi,on auvvtexou,sion° o] tw/n evleuqe,rwn evsti. kai. despo,thn ouvk evco,ntwnÅ 147
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Das tyrannische Gesetz
calepw,teroj dV a'n ou[twj Aivgupti,wn ~Ebrai,oij ge,noio timwrei/n avxiw/n kata. tou.j no,mouj th.n e`ka,stou pro.j to. kecarisme,non auvtw/| bou,lhsinÅ polu. dV a'n dikaio,teron auvto.j timwri,an u`pome,noij ta. parV e`ka,stoij o`mologou,mena kalw/j e;cein avfani,sai proh|rhme,noj kai. kata. th/j a`pa,ntwn do,xhj ivscura.n th.n seautou/ kateskeuakw.j avtopi,an\ 148 evgw. dV a'n steroi,mhn eivko,twj w-n pra,ttw nu/n° eiv kri,naj avgaqa. tau/tV e;peita peri. auvtw/n o`mologei/n evn tou,toij ovknh,saimiÅ gu,naio,n te xeniko,n° w`j fh|.j° h=gmai\ parV evmautou/ ga.r avkou,sh| ta.j evma.j pra,xeij w`j para. evleuqe,rou° kai. ga.r ouvde. laqei/n proeqe,mhn\ 149 qu,w te qeoi/j oi-j qu,ein moi nomi,zetai di,kaion h`gou,menoj para. pollw/n evmautw/| pragmateu,esqai th.n avlh,qeian° kai. ouvc w[sper evn turanni,di zh/n th.n o[lhn evx e`no.j evlpi,da tou/ bi,ou panto.j avnhrthko,ta\ carei,h tV a'n ouvdei.j kuriw,teron au`to.n peri. w-n pra,xaimi gnw,mhj th/j evmh/j avpofaino,menoj“Å 1 2.1.1 Übersetzung Ios.ant.Iud. 4,145–149 Ios.ant.Iud. 4,145: Nach ihm aber stand Zambrias auf und sagte: „Lebe du, Mose, nach den Gesetzen, für die du selbst so sehr geeifert hast und denen du durch deren (gemeint sind die Männer des Volkes) Unbedarftheit Geltung verschafft hast. 2 Wären sie nicht so, so wärst du selbst schon oft bestraft worden und hättest so gelernt, dass (die) Hebräer sich nicht so leicht hintergehen lassen. 146 Ich dürfte kaum (den Gesetzen) folgen, die du in tyrannischer Weise erlassen hast. Bis jetzt (hast du) nichts anderes (getan), als unter dem Vorwand der Gesetze und Gottes uns die Knechtschaft, dir selbst aber die Herrschaft auf üble Weise zu beschaffen, indem du uns das Angenehme 3 und die selbstbestimmte Lebensführung geraubt hast, was typisch für die Freien ist und für diejenigen, die keinen Herren haben. 147 Solltest du eine Gesetzgebung verlangen, die den Willen jedes einzelnen zu dem, was ihm gefällt, bestraft, wärst du wohl für die Hebräer schlimmer als die Ägypter. Es wäre wohl viel gerechter, würdest du selbst eine Strafe dafür verbüßen, dass du beschlossen hast, das zu verwerfen, was nach allge1 JOSEPHUS, FLAVIUS, Jewish Antiquities, Books I–IV, Josephus in nine Volumes, Bd. 4, The Loeb classical library 242, Reprint. London 1957, 546.548. 2 Andere Übersetzungsvorschläge: a) JOSEPHUS, FLAVIUS, Jüdische Alterthümer, übersetzt von Franz Kaulen, Köln 31892, 116: „an die du durch lange Uebung das Volk gewöhnt hast“; b) M. TIWALD, Hebräer von Hebräern, 315: „eigentlich: aus der Torheit dieser das Gewohnte für sie hinzugefügt habend“; c) JOSEPHUS, FLAVIUS, Des Flavius Josephus Jüdische Altertümer, Bd. 1, Buch I bis X, übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Heinrich Clementz, Halle a.d.S. ca. 1899, 219: „die du durch die Macht der Gewohnheit befestigt hast“. 3 JOSEPHUS, FLAVIUS, Jüdische Alterthümer, 116: „unser Vergnügen“.
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Zur Quelle Ios.ant.Iud. 4,145–149
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meiner Übereinstimmung gut ist und dass du deine eigene Extravaganz 4 gegen die Meinung aller anderen Menschen versuchst durchzusetzen. 148 Mir müsste zu Recht meine gegenwärtige Handlungsweise verwehrt werden, sollte ich zögern, über Dinge, die ich für gut befunden habe, öffentlich meine Meinung zu sagen. 5 Ich habe, wie du sagst, eine fremde Frau geheiratet; Von mir selbst nämlich sollst du meine Taten hören als von einem freien Mann, denn ich habe nicht vorgehabt, mein Tun geheim zu halten. 149 Ich opfere den Göttern, denen zu opfern mir gefällt, weil ich es für richtig halte, mir selbst die Wahrheit von vielen 6 zu beschaffen und nicht wie in einer Tyrannei zu leben und die Hoffnung des gesamten Lebens von einem Einzigen 7 abhängig 8 zu machen. Der lebe wohl, der behauptet, er habe mehr Autorität in den Dingen, die ich tue, als mein eigenes Urteil.“ 9 2.1.2 Zum Verfasser Flavius Josephus Der jüdisch-hellenistische Historiker Flavius Josephus wurde 37/8 n.Chr. in Jerusalem geboren und starb vermutlich 100 n.Chr. in Rom. 10 Seine Familie gehörte zur Priesteraristokratie, seine in vita 2 von ihm selbst in Anspruch genommene Verwandtschaft mit dem hasmonäischen Königshaus wird jedoch angezweifelt. 11 Obwohl Josephus als Priester eher der Partei der Sadduzäer nahe stand, schloss er sich dennoch den Pharisäern an. 12 Umstritten ist, ob er das nur aus Opportunismus oder aus innerer Überzeugung heraus 4 Ebd., 116: „auf deiner eigenen albernen Ansicht beharrest.“; JOSEPHUS, FLAVIUS, Jewish Antiquities, Books I–IV, 547: „own extravagances“. 5 JOSEPHUS, FLAVIUS, Jüdische Alterthümer, 116: „so müßte ich mit Recht meine Stellung einbüßen, wofern ich das, was ich gethan, für Unrecht hielte und mich scheute, dasselbe hier öffentlich zu bekennen.“ 6 Interpretationsmöglichkeiten: a) eigene neutrale Interpretation: von vielen Seiten für mich selbst die Wahrheit zu beschaffen; b) nach JOSEPHUS, FLAVIUS, Jüdische Alterthümer, 116: „unter den vielen“ (erg. Göttern); c) nach JOSEPHUS, FLAVIUS, Translation and Commentary. Bd. 3, Judean Antiquities 1–4, Steve Mason (Hg.), translation and commentary by Louis H. Feldman, Leiden/Boston/Köln 2000, 383, „to arrive at the truth for myself from many people“; nach P. SPILSBURY, The Image of the Jew in Flavius Josephus’ Paraphrase of the Bible, TSAJ 69, Tübingen 1998, 142 „from many persons“. 7 Interpretationsmöglichkeiten: a) nach JOSEPHUS, FLAVIUS, Jüdische Alterthümer, 116: der eine Gott; b) nach JOSEPHUS, FLAVIUS, Translation and Commentary. Bd. 3, Judean Antiquities 1–4, Steve Mason (Hg.), 383: „dependent [...] upon one person“ (gemeint ist Mose). 8 JOSEPHUS, FLAVIUS, Jüdische Alterthümer, 116: „so daß ich alle Hoffnung meines ganzen Lebens auf Einen setze.“ 9 Eigene Übersetzung. 10 Vgl. I. WANDREY, Art. Iosephos, [4] I. Flavios, DNP 5, 1998, Sp. 1089–1091, 1089. 11 Vgl. Ebd., Sp. 1089. 12 Vgl. Ebd., Sp. 1089.
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Das tyrannische Gesetz
getan hat. 13 Seine Muttersprache war Aramäisch, Griechisch wird er in früher Jugend erlernt haben. 14 Seine Lateinkenntnisse eignete er sich wahrscheinlich zwischen 64–66 n.Chr. in Rom an, wohin ihn seine diplomatische Mission führte, die Freilassung jüdischer Priester zu erwirken. 15 Im Jahr 66 n.Chr. stand er auf der Seite der jüdischen Aufständischen, die sich gegen den römischen Procurator Gessius Florus und den syrischen Statthalter Cestius Gallus erhoben. Im Krieg gegen Rom hatte er eine wichtige Position als General der Festung Iotapata inne. Seine politische und militärische Rolle sowie seine Loyalität zu Iohannes von Gischala und der Zelotenpartei sind umstritten. Auch in seiner Selbstdarstellung begegnen Widersprüche (vita 28, bell.Iud. 2,562–571). 16 „Nach der Einnahme von Iotapata durch Vespasian im Frühjahr 67 wurde“ Josephus „gefangengenommen“. Da er während seiner Gefangenschaft Vespasian das Kaiseramt geweissagt hatte, wurde er „69 n.Chr. nach der Ausrufung Vespasians zum Kaiser freigelassen“. 70 n.Chr. nahm er auf der Seite der Römer an der Eroberung Jerusalems durch Titus teil. 17 Ab 71 n.Chr. lebte er in Rom, „erhielt [...] das röm. Bürgerrecht, eine Jahrespension und Landgüter.“ 18 2.1.3 Datierung der Quelle Die Antiquitates Iudaicae sind wahrscheinlich 93/4 n.Chr. zusammen mit der Vita erschienen. 19 Sie schildern in zwanzig Bänden die jüdische Geschichte von der Weltschöpfung bis zum jüdisch-römischen Krieg. 20 In der ersten Hälfte (Bd. 1–10), die die Geschichte der Juden von der Schöpfung bis zur Perserherrschaft erzählt, liegt besonders die Bibel als Vorlage zugrunde, vor allem in Form der Septuaginta, aber auch in ihrer hebräischen und aramäischen Fassung und dazu in einer unbekannten griechischen Übersetzung. 21 Für die zweite Hälfte (Bd. 11–20), die Darstellung der jüdi13 S. MASON, Flavius Josephus on the Pharisees. A composition-critical study, StPB 309, Leiden/New York u.a. 1991, stellt fest, dass Josephus die Pharisäer für die einflussreichste Religionspartei hält (ebd. 300–308), dass Josephus sehr kritisch über die Pharisäer urteilen kann, ohne dass man diese Äußerungen einer Quelle zuschreiben muss und dass er sich an die Pharisäer mit dem Beginn seines politeu,esqai in vita 12 anschloss, um öffentlich Einfluss zu gewinnen (ebd. 356). 14 Vgl. auch zum Folgenden I. WANDREY, Art. Iosephos, [4] I. Flavios, DNP 5, 1998, Sp. 1089. 15 Vgl. Ebd., Sp. 1089. 16 Vgl. Ebd., Sp. 1089. 17 Vgl. Ebd., Sp. 1089. 18 Vgl. Ebd., Sp. 1089. 19 Vgl. I. WANDREY, Art. Iosephos, [4] I. Flavios, DNP 5, 1998, Sp. 1090. 20 Vgl. ebd., Sp. 1090. 21 Vgl. ebd., Sp. 1090.
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Zur Quelle Ios.ant.Iud. 4,145–149
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schen Geschichte von Alexander dem Großen bis zum Krieg gegen die Römer, sind unter anderem Nikolaos von Damaskus, Polybios, Strabon, 1. Makkabäer, der Aristeasbrief und auch jüdische Dokumente als weitgehend authentisch eingeschätzte Quellen nachweisbar. 22 2.1.4 Adressaten der Quelle Mit seinen Antiquitates wendet sich Josephus wahrscheinlich sowohl an Römer und Griechen, denen er das Judentum nahebringen wollte, als auch an hellenisierte Juden; 23 Gegenüber dem Bellum Judaicum ist der Wunsch erkennbar, das Judentum positiv darzustellen. Es behält auch im Römischen Reich seine eigene Geschichte so wie es diese eigene Geschichte unter persischer, seleukidischer und ptolemäischer Oberherrschaft behalten hat. 2.1.5 Form: Prosopopoeia Im alttestamentlichen Bericht über den Gesetzesverstoß des Simri (Num 25,6) heißt es schlicht: „Und siehe, ein Mann von den Söhnen Israel kam und brachte eine Midianiterin zu seinen Brüdern vor den Augen Moses und vor den Augen der ganzen Gemeinde der Söhne Israel, als diese am Eingang des Zeltes der Begegnung weinten.“ 24 Simris Name wird erst ein paar Verse später genannt (Num 25,14) und es wird auch nicht ausgeführt, weshalb die Midianiterin bei ihm war. 25 Der Apostat Simri ist bei Josephus dadurch exponiert, dass einer Figur, die im biblischen Bericht nicht selber zu Wort kommt, eine fiktive Rede in den Mund gelegt wird. Während Simri im biblischen Bericht von Pinehas’ Totschlag überrascht wird, ohne vorher zu Wort gekommen zu sein, räumt Josephus ihm in seiner „Rewritten Bible“ die Gelegenheit zu einer langen Rede ein. Josephus versucht in ant.Iud. 4,145–149, wie es typisch für ihn ist, eine plausible Rede für einen seiner Charaktere zu schaffen. 26 Solche fiktiven Reden werden in der literarischen Rhetorik allgemein als prosopopoeia oder sermocinatio bzw.
22
Vgl. ebd., Sp. 1090. Vgl. ebd., Sp. 1090. 24 Übersetzung nach: Die Heilige Schrift. Aus dem Grundtext übersetzt, Elberfelder Bibel, revidierte Fassung, Wuppertal6 1999. 25 Vgl. L.H. FELDMAN, The Portrayal of Phinehas by Philo, Pseudo-Philo, and Josephus, JQR 92, Nos. 3–4, January–April 2002, 315–345, 328. 26 Vgl. L.H. FELDMAN, The Portrayal of Phinehas, 328f. 23
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Das tyrannische Gesetz
ethopoieia bezeichnet.27 Wird die Rede, wie hier, menschlichen Charakteren und nicht unbelebten Gegenständen zugeschrieben, dann wird sie auch als ethopoieia bezeichnet.28 Eine ethopoieia stellt die Charakterzüge des Redenden heraus.29 Ihren historischen Ort hatten diese fiktiven Reden in der Schulausbildung.30 Dort waren sie eine von verschiedenen einzuübenden (Pro-)gymnasmata, zwischen Grammatik und Rhetorik angesiedelten Stilübungen für Schüler. 31 Aufgrund ihrer „Nähe zu literarischen Elementarformen und Textsorten“ haben die Progymnasmata „eine wichtige Brückenfunktion zwischen Rhetorik und Literatur“.32 Bei Josephus und im antiken Judentum finden sich viele Belege für derartige Reden, beispielsweise die beiden Reden des Widerstandsführers Eleazar vor dem Massensuizid bei Massada (bel.Iud. 7,323– 336.341–388) oder die Reden der sieben Brüder in 4Makk vor ihrem Märtyrertod (vgl. 9,10–12,19). Die Rede des Simri ist die letzte von vier Reden, die im Zusammenhang der Geschichte um die Sünde der Israeliten mit den Midianiterinnen in ant.Iud. 4 gehalten wird. Simris Rede gehen bereits zwei direkte Reden voraus, eine vom Seher Bileam (§127–130), eine von den midianitischen Frauen (§134–138) sowie eine indirekte Rede des Mose (§143–144). 33 Alle vier Reden begegnen nicht im biblischen Bericht. Zur Funktion der vier Reden in ant.Iud. 4,127–149 schreibt B. EBERHARDT zutreffend: „die Reden haben eine doppelte Funktion. Zum einen sind sie integrative Bestandteile der Geschichte, d.h. sie gliedern die Geschichte, steigern die Dramatik und führen mitunter sogar die Handlung fort. Zum anderen interpretiert Josephus in den Reden die Geschehnisse. In jeder Rede hat Josephus gleichzeitig eine message an seine Leserinnen und Leser verborgen.“ 34
27
Vgl. H. LAUSBERG, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 31990, 407–411, §§ 820–825. Nach V. HARTMANN, Art. Personifikation, HWR 6, 2003, Sp. 810–813, 811, wird prosopopoeia entweder in Abgrenzung zu sermocinatio und ethopoeia oder als Oberbegriff über alle Arten fiktiver Reden verwendet. 28 Vgl. G. NASCHERT, Art. Ethopoeia, HWR 2, 1994, Sp. 1512–1516, 1512: „Als Gedankenfigur unterscheidet sie (erg.: die Ethopoeia) sich von der proswpopoii,a (prosópopoiía) gewöhnlich dadurch, daß diese Gegenstände als redend darstellt, während die E. nur die Charakterisierung von Menschen betrifft.“ 29 Vgl. G. NASCHERT, Art. Ethopoeia, Sp. 1512. 30 Vgl. M. KRAUS, Art. Progymnasmata, Gymnasmata, HWR 7, 2005, Sp. 159–190, 159–162. 31 Vgl. ebd., Sp. 159–162. 32 Vgl. ebd., Sp. 160. 33 Vgl. B. EBERHARDT, Zwischen Toleranz und Kritik. Josephus’ Einstellung gegenüber anderen Religionen in A 4:126–155; 8:335–343; 9:132–139, in: Folker Siegert/Jürgen U. Kalms (Hg.), Internationales Josephus-Kolloquium Paris 2001. Studies on the Antiquities of Josephus (Études sur les Antiquités de Josèphe), Münsteraner Judaistische Studien 12, Münster/Hamburg/London 2002, 9–21, 11. 34 Ebd., 11. Zur message siehe 3.2 „Sitz im Leben“ der Gesetzeskritik des Simri.
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Zur Quelle Ios.ant.Iud. 4,145–149
2.1.6 Gliederung Ios.ant.Iud. 4,127–164 Ios.ant.Iud. 4,127–164, Israels Sieg über die Midianiter 35
Rede des Sehers Bileam
Rede der Midianiterinnen
Gesetzesübertretungen bzw. -kritik und die Art ihrer Zurückweisung
§ 127–130
Bileam rät Balak, wie die Hebräer zu besiegen sind: Midianiterinnen sollen Hebräer verführen.
§ 131–133
Die Midianiterinnen verführen junge Übertretung des Hebräer. Mischehenverbots
§ 134–138
Rede der Midianiterinnen: Sie bitten Übertretung des die jungen Hebräer, ihre Götter zu Fremdgötterverbots verehren.
§ 139
Die jungen Männer stimmen der Bitte der Midianiterinnen zu.
§ 140
Einige führende Hebräer fallen vom Übertretung des Gesetz ab. Mischehenverbots
§ 141
Simri, der Führer der Simeoniten, nimmt sich eine midianitische Prinzessin zur Frau.
Indirekte Rede des Mose
§ 142–144
Mose beruft eine Versammlung ein besonnene und ermahnt das Volk, den Leiden- Zurückweisung schaften zu widerstehen.
Rede des Simri
§ 145–147
Simri klagt Mose an, ein Tyrann zu offene sein. Gesetzeskritik
§ 148–149
Simri verteidigt seine Heirat einer fremden Frau.
§ 150–151
Mose möchte Simri nicht weiter pro- besonnene vozieren. Zurückweisung
§ 152–153
Pinehas tötet Simri und dessen Frau.
§ 154
aggressive Andere Gesetzesübertreter werden Zurückweisung von jungen Hebräern getötet.
§ 155
Die übrigen Gesetzesübertreter werden von der Pest getötet.
§ 156
Mose entsendet ein Heer gegen die Midianiter.
§ 157–158
Mose dankt Bileam für seine Prophezeiungen.
35 Die folgende Gliederung orientiert sich an den Randvermerken in JOSEPHUS, FLAVIUS, Translation and Commentary. Bd. 3, Judean Antiquities 1–4, Steve Mason (Hg.), 376–387.
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Das tyrannische Gesetz § 159–160
Mose setzt Pinehas zum Heerführer im Krieg gegen die Midianiter ein.
§ 161–162
Unzählige Midianiter, darunter ihre Könige, werden getötet.
§ 163–164
Pinehas kehrt mit unversehrtem Heer und reicher Beute zurück.
2.2 Die Gesetzeskritik des Apostaten Simri Die Gesetzeskritik des Apostaten Simri
Die Rede des Simri enthält im ersten Teil Vorwürfe gegen Mose und sein Gesetz (V. 145–147), im zweiten Teil eine Rechtfertigung des Simri für seine Gesetzesübertretung durch die Verbindung mit einer Midianiterin (V. 148–149). Folgende Vorwürfe an Mose, den Mitbegründer des Gesetzes, werden von Simri der Reihe nach explizit geäußert: Er solle selber nach den Gesetzen leben (V. 145), er habe die Hebräer durch das Gesetz betrogen (V. 145f), er habe sich gegen die Mehrheitsmeinung durchgesetzt (V. 147f). Darüber hinaus habe er sein Gesetz auf tyrannische Weise erlassen (V. 146) und führe die Israeliten in die Knechtschaft zurück (V. 146.147). Der eigene Lebensentwurf, den Simri insbesondere im zweiten Teil der Rede (V. 148f) dem Gesetzesgehorsam gegenüberstellt, vermag implizit e contrario die Problematik des Gesetzes zu verdeutlichen. Simri macht für die Menschen Handlungsfreiheit geltend (V. 146) und spricht das Bedürfnis aus, sich der Mehrheitsmeinung (V. 147) seiner Zeitgenossen anzuschließen. Er rechtfertigt hier seine Tat mit dem Argument der Mehrheitsmeinung, versteht sich aber zugleich als ein freier Mann (V. 148), der sich durch das Einholen verschiedener Ansichten seine eigene Meinung bilden kann (V. 149). Seine Ausführungen lassen im Umkehrschluss folgende Kritik am Gesetz zu: Das Gesetz macht Simri unfrei und bindet ihn an eine Minderheitsmeinung, die ihn nicht überzeugt. Im Folgenden (2.2.1–2.2.4) sollen die Argumente verschiedenen Motiven zugeordnet werden und es soll auf Traditionen hingewiesen werden.
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Die Gesetzeskritik des Apostaten Simri
33
2.2.1 Der Vorwurf der Repressivität und Tyrannei des Gesetzes Die Repressivität des Gesetzes lässt sich indirekt aus verschiedenen Motiven der Simrirede erschließen, wird aber im Stichwort der „Tyrannei“ 36 unmittelbar deutlich. Simri ist nicht der Erste in den Antiquitates, der Mose als „tyrannisch“ erlebt. Das Murren des ganzen Volkes gegen den tyrannischen Mose in ant.Iud. 4,1ff zeigt: Der Protest des Simri steht schon in der Darstellung des Josephus für einen weit verbreiteten Unwillen. Der Topos der durch das Gesetz erzeugten Tyrannei begegnet gleich zwei Mal in der Rede des Simri. Simri wirft Mose (V. 146) vor, er habe die Gesetze (no,moi) auf tyrannische Art erlassen (su. prosta,sseij turannikw/j). Später (V. 149) verteidigt er sein Freiheitsideal mit den Worten, er halte es für richtig, „nicht wie in einer Tyrannei zu leben“ (ouvc w[sper evn turanni,di zh/n). Die Repressivität des Gesetzes wird darüber hinaus im Motiv der Knechtschaft deutlich. Simri beklagt, Mose habe unter dem Vorwand der Gesetze und Gottes die Hebräer in die Knechtschaft (doulei,a) geführt, sich selber aber auf unmoralische Weise die Herrschaft (avrch,) gesichert (V. 146). Den Kontrast zwischen Knechtschaft und Freiheit (V. 146: to. kata. to.n bi,on auvvtexou,sion, o] tw/n evleuqe,rwn evsti.) verschärft Simri unter Verweis auf die Knechtschaft der Hebräer in Ägypten, aus der Mose die Hebräer bekanntlich befreit hat (vgl. Ios.ant.Iud. 3,300!). Simri wirft Mose vor, seine Knechtschaft durch Strafandrohung bei Gesetzesungehorsam sei schlimmer als die Knechtschaft in Ägypten (V. 147). Neben stoischen Gedanken klingen vor allem sophistische Gedanken an (s.u. 5.2). L.H. FELDMAN hebt das Wort „evleu,qeroj“ als einen wichtigen Topos heraus. 37 Im Zusammenhang der Handlungsfreiheit macht W.C. VAN UNNIK 38 auf den Sophisten Protagoras aufmerksam, für den der Mensch der Maßstab aller Dinge ist. Auch die Stoiker traten für die Freiheit des Individuums ein. Josephus war mit stoischem Gedankengut vertraut. Dies zeigt sich daran, dass er bei seiner Beschreibung der jüdischen Religionsparteien die Pharisäer mit den Stoikern ver-
36 Mose wird drei Mal zuvor in ant.Iud. 4 als tu,rannoj bezeichnet: von den Hebräern, die trotz Moses Warnung in den Kampf gegen die Kanaaniter ziehen (ant.Iud. 4,3), von Korach und dessen Anhängern wegen Moses eigenmächtiger Einsetzung Aarons zum Priester (ant.Iud. 4,16.22). Vgl. zum Gebrauch von tu,rannoj im Werk des Josephus, K.H. RENGSTORF (Hg.), A Complete Concordance to Flavius Josephus. Bd. 4, Rho – Omega, in co-operation with Bernhard Justus, Georgios Kontoulis, James R. Royse et al., Leiden 1983, 222–223. 37 Vgl. L.H. FELDMAN, The Portrayal of Phinehas, 328. 38 Vgl. W.C. VAN UNNIK, Josephus’ Account of the Story of Israels Sin with Alien Women in the Country of Midian (Num. 25:1ff.), in: M.S.H.G. Heerma van Voss (Hg.), Travels in the World of the Old Testament. Studies presented to Professor M.A. Beek on the occasion of his 65th birthday, SSN 16, Assen 1974, 241–261, 259.
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Das tyrannische Gesetz
gleicht (vita 12). Zentral für die stoische Ethik ist der Gedanke der oivkei,wsij, der Verwirklichung des je Eigenen. 2.2.2 Der Vorwurf der Partikularität des Gesetzes Mit Nachdruck spielt Simri die konsensfähige Mehrheitsmeinung des Volkes gegen die Einzelmeinung des Mose beziehungsweise gegen die Partikularität seiner Gesetze aus. So heißt es (V. 147), es sei strafwürdig, dass Mose beschlossen habe, das zu verwerfen, was von allen gutgeheißen wird (ta. parV e`ka,stoij o`mologou,mena kalw/j e;cein) und dass er seine exzentrische Ansicht (V. 148: avtopi,a) über die Meinung aller anderen Menschen (V. 147: kata. th/j a`pa,ntwn do,xhj) gestellt habe. Die Idee, dass der common sense einer Minderheitsmeinung vorzuziehen sei, war weit verbreitet. 39 2.2.3 Der Vorwurf des Betrugs durch das Gesetz Zweimal wirft Simri Mose vor, die Hebräer durch seine Gesetze zu betrügen. Die Torheit einiger Männer des Volkes sei Mose beim Erlassen seiner Gesetze zugute gekommen (V. 145). Als einer, der Moses betrügerische Absicht durchschaut hat, möchte Simri richtigstellen, dass sich die Hebräer gewöhnlich „nicht so leicht hintergehen lassen“ (V. 146: ouvk euvparalogi,stoi ~Ebrai,oi). Der Betrug besteht offensichtlich darin, dass Mose die Gesetze nur als Vorwand (V. 146: prosch,ma) genommen hat, um sich die Herrschaft zu sichern. 2.2.4 Der Vorwurf der Doppelmoral des Gesetzgebers Simri eröffnet seine Rede mit den Worten: „Lebe du, Mose, nach den Gesetzen, für die du so sehr eiferst“. Es stellt sich die Frage, ob Simri an dieser Stelle Mose für einen ernsthaft gesetzeseifrigen Menschen hält oder ob er in seinem Imperativ den Vorwurf der Doppelmoral 40 anklingen lässt, Mose lebe selber nicht nach dem Gesetz, für das er Gehorsam verlangt. Für Letzteres spricht, dass der Vorwurf, Mose habe sich eine nichtisraelitische Frau genommen, auch in Num 12,1 begegnet, als Mirjam und Aaron diese Ver39
Vgl. R. SCHIAN, Untersuchungen über das ‚argumentum e consensu omnium‘, Spudasmata 28, Hildesheim/New York 1973. 40 L.H. FELDMAN, The Portrayal of Phinehas, 330 spricht von Mose als „hypocrite“.
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Die in der Episode vertretenen Positionen zum Gesetzesgehorsam
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bindung kritisieren. Bei Josephus wäre dieser Vorwurf doppelt berechtigt. Nach ant.Iud. 2,252–253 hatte er nämlich eine äthiopische Prinzessin geheiratet, die sich in ihn verliebt hatte, als er im Auftrag des Pharaos die feindlichen Äthiopier aus Ägypten vertrieb und ihre Hauptstadt belagerte. Nachdem der Pharao den Retter Ägyptens aus Angst vor seiner Machtfülle töten lassen wollte, sei Mose in die Wüste entflohen und habe dort die Tochter des midianitischen Priesters Raguel geheiratet (ant.Iud. 2,258–263). Jedoch kritisiert Josephus diese Heiraten nicht. Es gibt dafür aber eine rabbinische Tradition, in der es Mose als Gesetzesverstoß entgegengehalten wird, dass er mit einer Midianiterin verheiratet war. 41 Blickt man auf das Proömium der Antiquitates zurück (ant.Iud. 1,19), so ist klar, dass Josephus selber Mose als einen Mann angesehen hat, der von sich selber nicht weniger Tugendhaftigkeit forderte als von anderen. Dem Apostaten Simri jedoch könnte Josephus den Vorwurf der Doppelmoral in den Mund gelegt haben.
2.3 Die in der Episode vertretenen Positionen zum Gesetzesgehorsam Die in der Episode vertretenen Positionen zum Gesetzesgehorsam
Die Figuren der Episode Simri, Mose, Pinehas und das Volk beziehen je unterschiedliche Positionen zum Gesetz beziehungsweise zum Umgang mit der Gesetzesübertretung. Simri gerät durch die Anziehung der Midianiterin Kosbi in einen Konflikt mit dem Mischehenverbot (4,141). Den Konflikt bewältigt er, indem er dem Gesetz und Mose die Schuld zuschreibt. Es handelt sich hier um eine extrapunitive Reaktion des Simri. Mose heißt den Ungehorsam des Simri zwar nicht gut, sieht aber von einer Bestrafung des Gesetzesübertreters ab (4,142–144.151). Das Volk ist nach der Rede des Simri still vor Angst (4,150). Es befürchtet entweder, dass sich Anhänger des Simri dessen Gesetzeskritik anschließen oder dass auf diesen Frevel ein Strafgericht Gottes kommen wird. Das Strafgericht Gottes wird durch Pinehas exekutiert. Pinehas möchte Simri nicht ungestraft davonkommen lassen und tötet ihn und seine midianitische Gefährtin (4,151–153). Im Folgenden sollen die in der Episode vertretenen Positionen zum Gesetzesgehorsam, die Haltungen von Pinehas, Simri und Mose (2.3.1–2.3.3) und die Verfasserposition (2.3.4) analysiert werden. Der Pinehastradition (2.3.1) kommt aufgrund ihrer großen Bedeutung im Judentum und der „Vorbild-
41 Laut L.H. FELDMAN in: JOSEPHUS, FLAVIUS, Translation and Commentary. Bd. 3, Judean Antiquities 1–4, Steve Mason (Hg.), 382 Anm. 423 spielt eine rabbinische Tradition (Sanhedrin 82a) darauf an, dass Mose selber eine Midianiterin zur Frau genommen hat, die Tochter des Jitro (vgl. Ex 3,1).
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Das tyrannische Gesetz
funktion“ der Pinehasfigur für den vorchristlichen Paulus größere Aufmerksamkeit zu. 2.3.1 Der Gesetzeseiferer Pinehas in der Tradition und bei Josephus 2.3.1.1 Pinehas Eifer für Jahwe im biblischen Bericht Das Alte Testament berichtet über Pinehas, dass er Simri und die Midianiterin Kosbi tötete (Num 25,7f), dass er von Gott für diese Tat gelobt (Num 25,11) und mit einem Bund des Friedens und ewiger Priesterschaft belohnt wurde (Num 25,12f). Der alttestamentliche Bericht benutzt vier Mal innerhalb von drei Versen die Wurzel anq [eifern] (Num 25,11–13) und bezieht sich dabei auf Pinehas’ Zelos. Pinehas begleitet das Heer der Israeliten beim Feldzug gegen die Midianiter (Num 31,6). Der Eifer für Jahwe richtet sich gegen Abtrünnige im eigenen Volk. 42 Lobend hervorgehoben wird Pinehas auch in Ps 106,3.29f , 1Chr 9,20 und Sir 45,23–26. 43 2.3.1.2 Pinehas Eifer für das Gesetz in der frühen Makkabäerzeit Besonders große Bedeutung erhielt die Pinehastradition in der Religionsnot zur Zeit Antiochus Epiphanes. 44 So findet Pinehas auch im 1. Makkabäerbuch, einer Schrift, die um 120 v.Chr. entstanden sein dürfte, 45 Erwähnung. Der Priester Mattathias wird mit Pinehas verglichen als er sowohl den Juden, der die Anordnung des Königs Antiochus Epiphanes, auf dem heidnischen Altar zu opfern, befolgen wollte als auch den bei dieser Tat anwesenden königlichen Beamten tötet (1Makk 2,26; vgl. auch V. 24.27). Kurz vor seinem Tod fordert Mattathias seine Söhne auf, für das Gesetz zu eifern (1Makk 2,50) und erinnert daran, dass Pinehas, „unser Vater“, für sein Eifern von Gott mit dem ewigen Priestertum belohnt wurde (2,54). Mattathias erwähnt nirgends Gottes Belohnung mit einem Bund des Friedens, was darauf hindeuten könnte, dass für ihn Frieden nicht in sich ein zu erstrebendes Ziel war.
42 Vgl. M. HENGEL, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n.Chr., AGJU 1, Leiden/Köln 21976, 154. 43 Vgl. ebd., 154f. 44 Vgl. ebd., 155. 45 Vgl. zur Entstehungszeit der Schrift K.-D. SCHUNCK, 1. Makkabäerbuch, JSHRZ I/4, Gütersloh 1980, 292.
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Die in der Episode vertretenen Positionen zum Gesetzesgehorsam
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Auch im 4. Makkabäerbuch, der zwischen 20 und 120 n.Chr. zu datierenden Schrift eines hellenistischen Diasporajuden, 46 wird an Pinehas erinnert. Als Hannah, die Mutter der sieben Söhne aus dem 4. Makkabäerbuch, die unter König Antiochus Epiphanes als Märtyrer litten, gegen Ende des Buches eine Rede 47 über das „Familienleben im Geist der Schrift“ 48 hält, erinnert sie daran, dass ihr Mann ihren Söhnen das Gesetz und die Propheten gelehrt hat (4Makk 18,10). Als einen Gegenstand der Lehre erwähnt sie den Eiferer Pinehas (4Makk 18,12). Sie sagt jedoch nicht ausdrücklich, dass ihr Mann Pinehas pries, wie beim folgenden Beispiel des Daniel (4Makk 18,13). Das Motiv des Eifers für Gott und sein Gesetz hat die Frühzeit der makkabäischen Erhebung beherrscht, trat jedoch nach Wiedererringung der Glaubensfreiheit gegenüber anderen Motiven, vor allem dem Streben nach politischer Unabhängigkeit, zurück. 49 2.3.1.3 Die Hochschätzung des Pinehas bei Philo und Pseudo-Philo Philo behandelt Pinehas an acht Stellen seines Werkes (LA III 242; post. 182–185; ebr. 73–76; conf. 57; mut. 108; Mos. I 301–304; spec. I 56–57; virt. 41). Den ausführlichsten Bericht stellt Mos. I 301–304 dar. Pinehas wird bei Philo hoch gelobt (vgl. insbes. spec. I 57). In Kontrast zum alttestamentlichen Joseph, der vor der Lust flieht, wird Pinehas als Bekämpfer sexueller Lust dargestellt (vgl. LA III 242). Pinehas erhält die doppelte Belohnung, Priesterschaft und ewigen Frieden (LA III 242; post. 183; Mos. I 304; spec. I 57; vgl. mut. 108; ebr. 74f). Dass Mose Pinehas im biblischen Bericht nicht belohnt, wandelt Philo zugunsten des Pinehas um. Er erklärt, Mose habe Pinehas belohnen wollen, Gott sei ihm mit der Belohnung jedoch zuvor gekommen (Mos. I 304). Philo spricht die von anderen vorgebrachte Kritik, Pinehas sei ein Mörder, zwar an (ebr. 74), weist sie aber zurück. Pinehas sei zu Recht von Gott mit Frieden und Priesterwürde belohnt worden, da er den Frieden in der Seele hergestellt habe und allein auf die Verehrung Gottes bedacht sei (ebr. 75). Niemand könne ein „Friedensmann“ sein, der nicht in Wahrheit und Aufrichtigkeit das Sein verehrt, das allein von Krieg ausgenommen ist und in ewigem Frieden verweilt (ebr. 76). Den scheinbaren Wi46 Vgl. zu Verfasser, Ort und Entstehungszeit der Schrift H.-J. KLAUCK, 4. Makkabäerbuch, JSHRZ III/6, Gütersloh 1989, 666–669. H.-J. KLAUCK hält Antiochia als Entstehungsort für wahrscheinlich (ebd., 667) und vermutet eine Entstehungszeit zwischen 90–100 n.Chr. (ebd., 669). 47 Zu den literarkritischen Schwierigkeiten dieser zweiten Rede der Mutter, vgl. H.-J. KLAUCK, 4. Makkabäerbuch, 657f. 48 So die Überschrift zur Rede bei H.-J. KLAUCK, 4. Makkabäerbuch, 754. 49 Vgl. M. HENGEL, Die Zeloten, 157.
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derspruch, dass der kriegerische Pinehas mit dem Preis des Friedens ausgezeichnet wird, rechtfertigt Philo damit, dass Pinehas das Böse bekämpft habe (conf. 57). Pinehas’ Lanze wird allegorisch mit dem „Zelos“ (LA III. 242) und mit der Vernunft (post. 182) identifiziert (vgl. auch mut. 108; ebr. 73). Pinehas wird als mutig dargestellt (spec. I 56) und tritt bei Philo sogar als Feldherr auf, wodurch er auf denselben Rang wie Mose gestellt wird (Mos. I 306). Philo schildert auch Pinehas’ Stimmung bei der Tat: „voller Grimm“ (Mos. I 301) und „in tiefer Erbitterung und von gerechtem Zorn erfüllt“ (Mos. I 302). Den Tod der 24.000 Israeliten in der Plage erklärt er dadurch, dass Gott Israeliten getötet habe, die in der Gefahr standen, Anhänger des Baal–Peor zu werden (virt. 41). Pinehas hat andere von der Apostasie abgeschreckt (spec. I 57). Philo scheut sich nicht, das Wort „Eifer“ mit Pinehas in Verbindung zu bringen (LA III. 242; post. 183; conf. 57; mut. 108; spec. I 57). Häufig stellt Philo heraus, dass Kosbi die Gebärmutter mit dem Schwert durchstoßen wurde (LA III. 242; post. 183; ebr. 73; mut. 108; vgl. Mos. I 302). Der Palästinajude 50 Pseudo-Philo behandelt in seinen Antiquitates Biblicae, die wahrscheinlich zwischen 70–132 n.Chr. entstanden sind, 51 Pinehas in sieben Passagen (24,4; 28,1–3; 46,1–47,10; 48,1–2; 50,3; 52,2; 53,6),52 erwähnt aber nicht, dass Pinehas während des Aufenthalts der Israeliten in der Wüste (18,14) Simri und Kosbi getötet hat. 53 Erst in der Episode des Krieges gegen die Benjaminiter erinnert Pinehas in einem Gebet (47,1) daran, dass er in seiner Jugend, als Simri sündigte, das Schwert gegen diesen erhob. 54 Auch die zweifache Belohnung des Pinehas mit ewiger Priesterschaft und Frieden wird von Pseudo-Philo nicht erwähnt. 55 Dennoch erhält Pinehas bei Pseudo-Philo einen höheren Platz als in der Bibel: Pseudo-Philo hat zum biblischen Bericht hinzugefügt, dass die Israeliten versuchten, Pinehas zu töten, nachdem er Simri und die Midianiterin durchbohrt hatte, Gott Pinehas aber dadurch rettete, dass er seinen Engel sandte, dieser 24.000 Männer heimsuchte und Pinehas aus der Hand der Israeliten befreite. 56 Auch nachdem Pinehas Gott gefragt hat, ob die Israeliten in den Krieg gegen die Benjaminiter ziehen sollen (46,1), ist Pinehas’ Rolle etwas aus50 Vgl. CHR. DIETZFELBINGER, Pseudo-Philo: Antiquitates Biblicae (Liber Antiquitatum Biblicarum), JSHRZ II/2, Gütersloh 1975, 96. 51 So CHR. DIETZFELBINGER, Pseudo-Philo: Antiquitates Biblicae (Liber Antiquitatum Biblicarum), 95. 52 L.H. FELDMAN, The Portrayal of Phinehas, 316. 53 Ebd., 324. 54 Vgl. ebd., 324. 55 Vgl. ebd., 326. 56 Vgl. ebd., 324.
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Die in der Episode vertretenen Positionen zum Gesetzesgehorsam
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geweitet: 57 Er fragt Gott, weshalb er den Israeliten gesagt habe, sie sollten in den Krieg gegen die Benjaminiter ziehen, und sie dann versagen ließ (46,4), und fordert Gott heraus, die Meinung der Leute, dass die Urim und Tummim lügten, zu widerlegen (47,2). 58 In einer weiteren Ergänzung zum biblischen Bericht (48,1) wird Pinehas mit Elia, dem Vorläufer des Messias, identifiziert. 59 Und schließlich erinnert der Hohepriester Eli aus Siloh seine schlechten Söhne daran, dass sein Amt ihm durch Pinehas übergeben worden ist, womit er implizit mahnt, sie sollten dem Vertrauen gerecht werden, das Pinehas in ihn und sie gesetzt hat (52,2). 60 2.3.1.4 Der zurückhaltende Gebrauch der Pinehastradition bei Josephus Nach der Schilderung der von Simri ausgehenden Bedrohung (4,151) kommt dessen Mörder Pinehas in den Antiquitates als strahlender Held zur Geltung. 61 In der Erzählung des Josephus ist Pinehas über den Gesetzesbruch des Simri tief bekümmert (4,152). Er ist den anderen jungen Männern in jeder Hinsicht überlegen (4,152), unerschrocken (4,153) und mutig (4,153). Vor dem Hintergrund von Num 31,6, wo Pinehas mit den Israeliten in den Kampf zieht, avanciert er bei Josephus zum Feldherrn (strathgo,j) der Strafexpedition gegen die Midianiter (4,159). Er ist ein tugendhaftes Vorbild (4,154) und hat den Hebräern ihr Gesetz bewahrt (4,159). 62 Im Unterschied zum biblischen Bericht (Num 25,11–13) vermeidet Josephus zur Charakterisierung der Figur des Pinehas das Wort „Eifer“ (zh/loj) und „Eiferer“ (zhlwth,j), obwohl – oder gerade weil – Pinehas in der Tradition zum Gesetzeseiferer par excellence geworden ist. 63 Die Bewegung der Zeloten, die eine große Rolle im Jüdischen Krieg spielte, war wie der religiöse Zelotismus in der Makkabäerzeit vom Vorbild des Pinehas beeinflusst. 64 Bezeichnenderweise erwähnt Josephus die Verbindung von Pinehas und dem Zelotismus nirgends im Bellum, wo sich 55 der 60 Belege des Wortes „Zeloten“ bei Josephus finden. 65 Wie M. HENGEL festgestellt hat, 57
Vgl. ebd., 324f. Vgl. ebd., 325. 59 Vgl. ebd., 325. 60 Vgl. ebd., 326. 61 Vgl. P. SPILSBURY, The Image of the Jew, 143. 62 Vgl. auch P. SPILSBURY, The Image of the Jew, 143. 63 Vgl. L.H. FELDMAN, The Portrayal of Phinehas, 327. 64 Ebd., 327. Die zeitliche Ansetzung der Bewegung der Zeloten ist umstritten (vgl. R. DEINES, Art. Zeloten, TRE 36, 2004, 626–630). Zu Gemeinsamkeiten der Makkabäer und Zeloten im Umgang mit der Pinehastradition sowie zu den Unterschieden dieser beiden Gruppen vgl. M. HENGEL, Die Zeloten, 176–178. 65 L.H. FELDMAN, The Portrayal of Phinehas, 327. Vgl. R. DEINES, Art. Zeloten, 628. 58
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weicht Josephus in den Antiquitates bei seiner Schilderung des Makkabäeraufstands (Ios.ant.Iud. 12,271) vom 1. Makkabäerbuch ab, an dem er sich bis Antiquitates 13,212 66 orientiert. 67 Während 1Makk in 2,26 und 2,54 Pinehas zuschreibt, eifernd für das Gesetz Gottes zu handeln, lässt Josephus diesen Hinweis auf Pinehas in ant.Iud. 12,271 weg. 68 Wo Josephus das Wort „Zelot“ in Zusammenhang mit Mattathias Ruf benutzt (Ios.ant.Iud. 12,271), der in die Revolte hineinführt (1Makk 2,27: „Dann ging Mattatias durch die Stadt und rief laut: Wer sich für das Gesetz ereifert und zum Bund steht, der soll mir folgen.“), benutzt er „Eifer“ eher adjektivisch und im Sinne hellenistischer Moralphilosophie als „eifriger Anhänger einer guten Sache“ als zur Bezeichnung eines Anhängers der Zelotenpartei. 69 Die Auslassung des Wortes „Zelos“ an Stellen in den Antiquitates, die eine Referenz auf Pinehas’ Zelos nahegelegt hätten, ist wohl auf das Dilemma zurückzuführen, in dem sich Josephus bei der Pinehasszene und der Schilderung des Makkabäeraufstandes gesehen haben wird: Er wollte Pinehas, der wie Josephus selber aus einem Priestergeschlecht stammte (vgl. vit.1–2), nicht mit der Gruppe der Zeloten in Verbindung bringen, die seit dem jüdischen Krieg einen schlechten Ruf bei den Römern besaßen. Schließlich hatte er den Römern viel zu verdanken. 70 In dieselbe Richtung könnte, wie M. HENGEL vermutet, die Auslassung des Todes Bileams bei Josephus weisen. Zu diesem zweiten negativen Befund schreibt M. HENGEL: „Man könnte sich fragen, ob diese, der spätjüdischen Tradition völlig widersprechende Haltung nicht mit der ebenfalls so bruchstückhaften Berichterstattung über Pinehas zusammenhängt. Vielleicht wollte Josephus dadurch die Berührung mit Vorstellungen vermeiden, die in radikalen jüdischen Kreisen besonders gepflegt wurden.“ 71 Es gibt gute Gründe, weshalb Josephus der Figur des Pinehas abgeneigt gewesen sein wird: die Feindschaft der Zeloten im Krieg gegen die Römer, aber auch Pinehas’ eigenmächtig vollstrecktes Urteil über den Apostaten Simri. 72 Die relativ geringe Aufmerksamkeit, die Josephus Pinehas schenkt, ist um so erstaunlicher als es, wie von L.H. FELDMAN gezeigt, einige Gemeinsamkeiten zwischen Pinehas und Josephus gibt, die Josephus Anlass hätten geben können, sich mit Pinehas zu identifizieren, so wie er sich offenbar 66
Vgl. K.-D. SCHUNCK , 1. Makkabäerbuch, 290. Vgl. M. HENGEL, Die Zeloten, 159f. 68 L.H. FELDMAN, The Portrayal of Phinehas, 327. Vgl. M. HENGEL, Die Zeloten, 160. 69 L.H. FELDMAN, The Portrayal of Phinehas, 327. Vgl. M. HENGEL, Die Zeloten, 159. 70 L.H. FELDMAN, The Portrayal of Phinehas, 326f. 71 Vgl. M. HENGEL, Die Zeloten, 166f. 72 Vgl. L.H. FELDMAN, The Portrayal of Phinehas, 326f.332. 67
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mit Joseph, Saul, Jeremia, Daniel, Esther und Mordechai identifiziert hat. 73 Erstens ähnelt Josephus Pinehas als Priester, da Josephus, wie er selber stolz schreibt (vit. 2), „von der ersten der vierundzwanzig Priesterklassen“ abstammt. 74 Vermutlich galt Pinehas der herrschenden priesterlichen Aristokratie, die mit Pinehas ihre Legitimität bekräftigen wollte, als einer der Stammväter. 75 Zweitens vermeidet Josephus wie Pinehas den Ausbruch von bürgerlichem Streit (vit. 100; bel.Iud. 2,638). 76 Drittens war er wie Pinehas ein sehr fähiger General (vit. 80–82). 77 Schließlich besaßen beide, Josephus und Pinehas (ant.Iud. 5,120), die Gabe der Prophetie (bel.Iud. 3,400–402). Josephus störte sich vermutlich daran, dass jemand, der auf eigene Initiative einen Akt der Gewalt begangen hat und dessen eifernde Tat einen Präzedenzfall für die Revolutionäre seiner eigenen Zeit darstellte, für seine Gewalttat belohnt wird. Bezeichnenderweise lässt Josephus die Erwähnung von Gottes Lob an Pinehas (Num 25,11) und die zweifache Belohnung für Pinehas, den Bund des Friedens und den Bund der ewigen Priesterschaft (Num 25,12f), weg. 78 In jedem Fall sagt Josephus (ant.Iud. 4,151), dass Simris Starrsinn zu größerem Schaden geführt hätte, wenn Pinehas ihn nicht gestoppt hätte. 79 2.3.1.5 Fazit Gemessen an positiven Aufnahmen (frühe Makkabäerzeit) und Ausweitungen der Pinehastradition, wie beispielsweise bei Philo und Pseudo-Philo, äußert sich Josephus zurückhaltend über Pinehas. 80 Für ihn verkörpert nicht die gewalttätige Reaktion des Pinehas den idealen Weg, um Konformität mit dem Gesetz herbeizuführen, sondern der gewaltfreie Versuch des Mose, durch Argumente die Israeliten für die Gesetzestreue zu gewinnen.
73
Ebd., 328. Ebd., 328; zitiert nach JOSEPHUS, FLAVIUS, Aus meinem Leben (Vita). Kritische Ausgabe, Übersetzung und Kommentar von Folker Siegert, Heinz Schreckenberg, Manuel Vogel und dem Josephus-Arbeitskreis des Institutum Judaicum Delitzschianum, Münster/Tübingen 2001, 23. 75 Vgl. M. HENGEL, Die Zeloten, 155. 76 L.H. FELDMAN, The Portrayal of Phinehas, 328. 77 Ebd., 328. 78 Vgl. ebd., 326f. 79 Ebd., 331. 80 Vgl. auch M. HENGEL, Die Zeloten, 160, Anm. 3. 74
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2.3.2 „Sitz im Leben“ der Gesetzeskritik des Simri Die Rede des Simri (ant.Iud. 4,145–149) klingt stark nach einer Zusammenfassung von Argumenten, die assimilierte Juden aus Josephus’ Tagen gegen das Gesetz vorgebracht haben könnten. 81 L.H. FELDMAN betitelt Josephus’ Auseinandersetzung mit der Verführung durch die Midianiterinnen in ant.Iud. 4 daher als ein „Preaching against assimilation“. 82 Wahrscheinlich wandten sich assimilierte Juden gegen die überlieferte Religion, da die „Tyrannei“ (vgl. ant.Iud. 4,146.149) der Gebote sie zu sehr einschränkte, ihnen Handlungsfreiheit verwehrte (evleuqe,rwn, ant.Iud. 4,146, ein Schlüsselwort in den Antiquitates) und gegen den common sense gerichtet war. 83 Ein vergleichbarer Vorwurf gegen die Gesetze der Juden findet sich auch bei Haman aus dem Buch Esther (Est 3,8), der kritisiert, dass die Gesetze der Juden anders seien als die aller anderen Leute. 84 Diese Aussage des Haman ist bei Josephus ausgearbeitet (ant.Iud. 11,212) und besagt, dass die Juden aufgrund ihrer anderen Riten und Praxis Feinde der Perser und der Menschheit seien. 85 Josephus war bei seiner Interpretation der Episode über die midianitischen Frauen mit einem Dilemma konfrontiert gewesen: hätte er die Verbindung der Israeliten mit den Midianiterinnen positiv porträtiert, wäre dies einer Duldung der Assimilation und der von der Tora verbotenen Mischehe (Dtn 7,3) gleichgekommen; ein zu energisch geäußerter Einwand gegen Mischehen hätte jedoch in die Hände derjenigen Opponenten der Juden gespielt, die sie der Misanthropie und des Illiberalismus beschuldigten. 86 Einerseits war Josephus bemüht, Angriffe auf Nichtjuden und deren Religion zu vermeiden; andererseits stellten Assimilation und Mischehen ein Problem für ihn dar. 87 Im Unterschied zu Philo (Mos. I 54.295–304), Pseudo-Philo (LibAnt 18,13–14) und den Rabbinern (San 106a), bei denen die große Sünde der Israeliten in der Hingabe an die Leidenschaft besteht, richtet sich Josephus’ Kritik gegen eine Mischehe zwischen jüdischen Männern 81 Vgl. L.H. FELDMAN, The Portrayal of Phinehas, 328 und ders., Studies in Josephus’ Rewritten Bible. Supplements to the journal for the study of Judaism 58, Leiden/Boston/Köln 1998, 131; W.C. VAN UNNIK, Josephus’ Account, 258f; S. SCHWARTZ, Josephus and Judaean Politics, Leiden 1990, 177. 82 L.H. FELDMAN, Studies, 130f. 83 Vgl. ebd., 131; ders., The Portrayal of Phinehas, 328.330. 84 Vgl. L.H. FELDMAN, The Portrayal of Phinehas, 330. 85 Vgl. ebd., 330 und R. SCHIAN, Untersuchungen über das ‘argumentum e consensu omnium’, wo berichtet wird, dass die Ausnahme zu einer allgemein anerkannten Meinung ipso facto als komplett falsch angesehen wurde. 86 L.H. FELDMAN, Studies, 130. 87 Ebd., 130.
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und moabitisch-midianitischen Frauen (ant.Iud. 4,135.148). 88 Dass Josephus die Gefahr der Mischehe im Hinterkopf hat, geht aus seiner Bemerkung hervor, die Israeliten hätten die midianitischen Frauen angefleht, ihre Bräute zu werden (ant.Iud. 4,132) und Letztere hätten im Gegenzug erklärt, dass sie froh wären, ihr Leben mit ihnen als Ehefrauen zu führen (ant.Iud. 4,135). 89 Josephus hat in seiner Erzählung die zeitgenössische Situation der Juden im Blick. Er lässt die speziellen Ortsangaben der Bibel, Schittim und Baal Peor, weg und macht so die Geschichte zu einer allgemeinen Erzählung, die eine direkte Anwendung auf die Zeit finden kann, in der er schreibt, als einige Juden ebenfalls durch die Verlockungen des Hellenismus verführt wurden. 90 Vergleichbar ist Josephus’ Bericht über Samsons Beziehungen zu fremden Frauen (Ri 14,1–16,31; ant.Iud. 5,286–313), den er vielleicht als eine Lektion an hellenistische Juden seiner Zeit ausgearbeitet hat, die sich durch Mischehen an Heiden assimilieren wollten. 91 Dass Assimilation durch Mischehen ein ernsthaftes Thema für Josephus war, wird durch Josephus’ Bemerkung zu verstehen gegeben, das Ergebnis der Verführung, der Aufstand (sta,sij) unter den Israeliten, sei viel schlimmer als der des Korach (ant.Iud. 4,140). 92 Auch die Tatsache, dass Josephus den Zwischenfall der Verführung nicht weggelassen hat, wie er es sonst häufig tut, zeigt Josephus’ Bedürfnis, die Episode zu benutzen, um zeitgenössischen Juden eine Lektion zu erteilen. 93 Er integriert die Episode nicht einfach, sondern weitet in seinem Bericht über die Sünde der Israeliten mit den midianitischen Frauen (Num 25,1–9) die Geschichte von 9 Versen auf 25 Paragraphen aus (ant.Iud. 4,131–155).94 2.3.3 Moses besonnene Zurückweisung der Gesetzeskritik Josephus hat vermutlich am stärksten mit der Position des Mose sympathisiert. Mose wird von Josephus in den Antiquitates als schöner Held von ehrwürdiger Herkunft und als begnadeter Führer vorgestellt, der die folgen-
88
L.H. FELDMAN, Studies, 131; ders., The Portrayal of Phinehas, 329. L.H. FELDMAN, Studies, 130. 90 Ebd., 130f; Vgl. L.H. FELDMAN, Josephus, the bible, and history, Leiden 1989, 66. 91 L.H. FELDMAN, Studies, 131; ders., The Portrayal of Phinehas, 329; vgl. L.H. FELDMAN, Josephus’ Version of Samson, JSJ 19, 1988, 171–214, insbes. 194–204, 210–214. 92 L.H. FELDMAN, Studies, 130. 93 Ebd., 130. 94 Ebd., 130. 89
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den fünf Tugenden verkörpert: Weisheit, Mut, Mäßigkeit, Gerechtigkeit und Frömmigkeit. 95 Das Ideal der Mäßigung, das Mose von den Israeliten fordert, ist diejenige Tugend, die in der Simriszene am stärksten zum Tragen kommt. Aber auch die Tugend der Gerechtigkeit scheint zuvor im Umgang mit den Midianiterinnen durch. In den beiden Szenen, in denen Moses Autorität angegriffen wird, zuerst von Korach, dann von Simri, stellt Mose die Notwendigkeit der Mäßigung heraus. 96 Josephus’ Mose verweist nach dem Aufstand des Korach auf die Notwendigkeit der Mäßigung (swfrosu,nh) und nach der Rede des Simri auf die Notwendigkeit der Überwindung von Leidenschaften. Das Ziel der Gesetze, die er dem Volk gegeben hat (4,184–186), und die Lektion, die die Israeliten aus den Klagen über ihn und den Angriffen auf ihn lernen sollen, ist Mäßigung (4,189). Barmherzigkeit, als ein Element der Gerechtigkeit, übt Josephus’ Mose insofern aus, als Moses Ärger gegen seinen Feldherrn, der die Midianiterinnen ungestraft gelassen hatte (Num 31,14–17), weggelassen wird (4,163). 97 Auch Moses Befehl an die Richter von Israel, diejenigen zu töten, die sich Baal-Peor angeschlossen haben (Num 25,5), fehlt. 98 Nach Simris Rede erwartet man, dass Mose seine Qualität als Führer zeigt, indem er sich gegen Simri erhebt und seine Vorwürfe systematisch zurückweist, wie er es bei Korach (Num 16,5–11) getan hat. 99 Nachdem Simri die midianitische Prinzessin zu seiner Frau genommen hat, beruft Mose in einer Ergänzung zum biblischen Text (ant.Iud. 4,142) die Israeliten zu einer Versammlung, und ohne Simri beim Namen zu nennen, möchte er die Sünder zur Buße bewegen (4,142–144). 100 Es ist auffällig, dass die Rede des Mose im Gegensatz zu der des Simri in indirekter Rede gehalten wird. Mose beklagt das unwürdige Verhalten derer, die mit einer Midianiterin zusammen gewesen seien (4,143). Er ist wie das Volk ruhig und entlässt die Versammlung, weil er Angst davor hat, dass andere Simri imitieren. 101 Dieses Verhalten soll nicht für Moses mangelndes Selbstbewusstsein sprechen,
95 L.H. FELDMAN, Josephus’ Portrait of Moses (I und II), JQR 82, 1992, 285–328 und JQR 83, 1993, 7–50. Vgl. zur Tugendhaftigkeit und stoischen Selbstbeherrschung des Mose bei Josephus auch H.W. ATTRIDGE, Josephus and His Works, in: Michael E. Stone (Hg.), Jewish Writings of the Second Temple Period. Apocrypha, Pseudepigrapha, Qumran Sectarian Writings, Philo, Josephus, CRI Bd. 2, Amsterdam/Assen 1984, 185–232, 224. 96 Vgl. zum Folgenden: L.H. FELDMAN, Josephus’ Portrait of Moses (I und II), JQR 83, 1993, 30. 97 Vgl. L.H. FELDMAN, Josephus’ Portrait of Moses (I und II), JQR 83, 1993, 35. 98 Vgl. P. SPILSBURY, The Image of the Jew, 141. 99 L.H. FELDMAN, The Portrayal of Phinehas, 330. 100 Ebd., 330f; vgl. auch P. SPILSBURY, The Image of the Jew, 141. 101 L.H. FELDMAN, The Portrayal of Phinehas, 331.
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Simri wirkungsvoll zurückweisen zu können. 102 L.H. FELDMAN glaubt vielmehr, dass Josephus zum Ausdruck bringen möchte, dass Mose weise Zurückhaltung zeigte. 103 2.3.4 Josephus’ Stellung zum Gesetz Das Werk des Josephus ist als Akkulturation, im Sinne einer Anpassung an die Umwelt ohne Aufgabe der eigenen Identität, zu verstehen. 104 „Die Thora kommt bei Josephus in zweifacher Hinsicht in den Blick“. Zum einen „als heilige Schrift der Juden“ und „grundlegende Geschichtsurkunde dieses Volkes“. Zum anderen als nomos, als jüdisches Kult- und Staatsgesetz, durch welches die Eigenart und die Kohärenz des gemeinschaftlichen Lebens der Juden in der Welt bestimmt wird. „Als Nomos ist die Tora das Gesetz des Mose, der es Israel von Gott her vermittelt hat“. Das Gesetz hat göttliche Dignität und Autorität, ist unzerstörbar, ewig, unveränderlich und bindend für den Juden, notfalls bis zum Martyrium (c.Ap. II 234f). Das Toraverständnis des Josephus lässt sich an seinen beiden Gesetzesepitomen in den Antiquitates ablesen (ant.Iud. 3,224–286; 4,196–301). Der jüdische Nomos ist für Josephus sowohl eine religiöse Größe (vgl. die erste Epitome) als auch eine sittliche Größe (vgl. die zweite Epitome). „In der Befolgung der durch den Nomos gesetzten Ordnung erfüllt der Mensch seine gottgewollte Bestimmung und findet damit seine Eudaimonia“. Das jüdische Volk, das den Nomos als sein Staatsgesetz verwirklicht, „verwirklicht damit das Ideal der Philanthropie“. „Dadurch wird Mose als der älteste und beste Gesetzgeber erwiesen und das jüdische Gesetz [...] als Urbild und nachahmenswertes Vorbild für alle erkennbar“. Schöpfungstheologisch gesehen bildet sich im Nomos der ganze Kosmos ab, denn das eine Gesetz geht auf den einen Gott zurück. Das durch Mose vermittelte Gesetz zielt letztlich auf die ganze Schöpfung und Menschheit. 105 102
Ebd., 331. Ebd., 331. 104 B. SCHRÖDER, Die „väterlichen“ Gesetze. Flavius Josephus als Vermittler von Halachah an Griechen und Römer, TSAJ 53, Tübingen 1996, 269. Vgl. auch CHR. GERBER, Von Jerusalem nach Rom. Flavius Josephus als Mittler zwischen den Kulturen, in: Matthias Konradt/Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Juden in ihrer Umwelt. Akkulturation des Judentums in Antike und Mittelalter, Basel 2009, 113–136. R. WEBER, Das „Gesetz“ bei Philon von Alexandrien und Flavius Josephus. Studien zum Verständnis und zur Funktion der Thora bei den beiden Hauptzeugen des hellenistischen Judentums, ARGU 11, Frankfurt am Main/Berlin/Bern [u.a.] 2001, 336, spricht für Josephus (und Philo von Alexandrien) vom Phänomen der Enkulturation und der Akkulturation. 105 Vgl. zu diesem Abschnitt: R. WEBER, Das „Gesetz“ bei Philon von Alexandrien und Flavius Josephus, 293.322f. 103
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Das tyrannische Gesetz
Im Proömium zu den Antiquitates (1,14) hält Josephus klar die moralische Lektion seines Werkes fest, 106 nämlich dass denjenigen, die Gottes Willen befolgen und seine wohlgemeinten Gesetze zu übertreten sich scheuen, alles wider Erwarten zum besten gedeiht und der Lohn der Glückseligkeit Gottes winkt, dass hingegen die, welche von der treuen Beobachtung der Gesetze abweichen, das unüberwindlich finden, was sonst leicht erscheint, und das Gute, das sie zu thun unternehmen, in heillosse (sic!) Verwirrung umschlagen sehen. 107
Im Umgang mit anderen Religionen vertritt Josephus selber eine milde Position. Drei Konfliktgeschichten aus dem ersten Teil der Antiquitates zeigen, dass Josephus eine andere, d.h. nicht-jüdische, Religion unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten betrachten kann. Geht es um die philosophische Frage nach der wahren Natur Gottes, nach Monotheismus und Polytheismus, dann ist Josephus sehr rigide in seinem Urteil. [...] Geht es Josephus jedoch um die praktische Frage des Zusammenlebens verschiedener Religionen im gleichen Land, egal ob es sich um das fremde Land Midian handelt oder um das eigene Land Israel, dann verhält er sich neutral gegenüber der anderen Religion. 108
2.4 Interpretation: Zurückweisung der Gesetzeskritik eines rebellischen Apostaten Interpretation
Josephus kennt wahrscheinlich gesetzeskritische Stimmen assimilierter Juden, die für Mischehen eintraten und legt diese Argumente dem Apostaten Simri in den Mund. Die eindrucksvolle Rede des Simri nimmt eine aktuelle Diskussion aus der Zeit des Josephus auf, soll aber keine Sympathie für Simri erzeugen, 109 sondern lediglich die Dramatik der Geschichte steigern. Josephus stellt in der Simriepisode zwei sehr unterschiedliche Arten des Umgangs mit Gesetzeskritik und der damit einhergehenden Gesetzesüber106
L.H. FELDMAN, The Portrayal of Phinehas, 328. Zitiert nach: JOSEPHUS, FLAVIUS, Des Flavius Josephus Jüdische Altertümer, Bd. 1, Buch I bis X, 16. 108 B. EBERHARDT, Zwischen Toleranz und Kritik, 19f. 109 Wahrscheinlich resultieren die einer anderen Person in den Mund gelegten scharfen Vorwürfe hier nicht in erster Linie aus der Furcht des Verfassers, andere durch seine eigene Meinung zu verletzen, und haben auch nicht wie in der aristotelischen Rhetorik (Aristot.rhet. 1365 b 27f) in erster Linie die Funktion der Glaubhaftmachung des eigenen tadellosen Charakters des Verfassers (vgl. zu dieser Funktion einer Rede G. NASCHERT, Art. Ethopoeia, Sp. 1513f). Die Funktion ausgeschmückter Reden wird im folgenden Kapitel auch für die Reden des Sehers Esra im 4. Esrabuch diskutiert werden. Möglicherweise sympathisiert dort der Verfasser des Buches mit dem Seher, dem er großen Redeanteil einräumt und dessen Position ebenfalls zurückgewiesen wird. 107
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Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike
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tretung vor: einerseits die besonnene Haltung des Mose, der in seiner Rede an Frömmigkeit und Verstand der Gesetzesübertreter appelliert und auf deren Buße hofft, und andererseits die aggressive Haltung des Pinehas, der Mut und Tugendhaftigkeit beweist, zum Schwert greift und dadurch das Gesetz bewahrt. Mose und Pinehas werden beide von Josephus positiv porträtiert. Josephus steht prinzipiell auf Seiten der biblischen Mosefigur. Doch die Bedrohung des jüdischen Gesetzes durch Simris rebellische Rede rechtfertigt in Josephus Darstellung die aggressive Tat des Pinehas. Gemessen an anderen Aufnahmen der Pinehastradition wie der bei Philo und PseudoPhilo ist Josephus auffallend zurückhaltend. Josephus vermeidet es, Pinehas an anderen Stellen seines Werkes als Vorbild für aggressiven Gesetzeseifer zu porträtieren. Kulturpsychologisch lässt sich an Josephus’ literarischer Verarbeitung von Gesetzeskritik im Judentum beobachten, dass gesetzeskritische Stimmen in der Literatur wie möglicherweise im realen Leben zurückgewiesen wurden.
2.5 Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike
Zu Simris Aufstand gegen das Gesetz finden sich Stimmen im hellenistischen Judentum und der heidnischen Antike (2.5.1 und 2.5.2), die in verschiedener Hinsicht mit einem oder mehreren Aspekten der Gesetzeskritik des Simri vergleichbar sind. So kritisieren lange zuvor die hellenistischen Reformer, ausgehend von einer sozialen Problematik, der Abgrenzung von anderen Völkern, die separatistische Funktion des Gesetzes (2.5.1.1). Bei den griechischen Sophisten findet sich sowohl Kritik an der Repressivität als auch an der separatistischen Funktion des Gesetzes (2.5.2.1–2.5.2.2). Ihre Lehre könnte die sprachlichen Mittel und populärphilosophischen Versatzstücke für die Gesetzeskritik des Simri und Paulus bereitgestellt haben. Lateinische, griechische und jüdische Literaten wissen vom psychologischen Prinzip zu berichten, dass das Verbotene erst recht zur Übertretung verführt und zum Aufstand gegen das einschränkende Gesetz reizt (2.5.2.3). 2.5.1 Analogie im hellenistischen Judentum 2.5.1.1 Der Aufstand gegen das Gesetz bei den hellenistischen Reformern Die Assimilation einiger Juden an die heidnische Umwelt stellte schon lange vor Josephus’ Zeit ein Problem für streng am Gesetz orientierte Juden dar. Seit dem 3. Jh. v.Chr. bahnten sich in Judäa assimilatorische Tendenzen des mächtigsten jüdischen Laiengeschlechts, der Tobiaden, mit der hel-
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lenistischen Kultur an. 110 Bis zum Regierungsantritt des seleukidischen Königs Antiochus IV. 175 v.Chr. wurde die Macht der Tobiaden erfolgreich durch das hohepriesterliche Geschlecht der Oniaden eingeschränkt. Um 175 v.Chr. kam es nach der Absetzung Onias III. unter dem proseleukidischen und modernitätsorientierten Hohenpriester Jason in Jerusalem zu einem Reformversuch der sogenannten „hellenistischen Reformer“. 111 Sie wollten Jerusalem in eine Polis umwandeln und in die hellenistische Kultur eingliedern. Die Verdrängung des vergleichsweise gemäßigten Jason aus seinem Amt gab einer noch radikaleren Gruppe hellenistischer Reformer mit Antiochus IV. als ihrem Verbündeten die Macht in Jerusalem. 112 Die Aristokraten dieser innerjüdischen Erneuerungsbewegung übernahmen zum Teil demonstrativ hellenistischen Lebensstil. Die hellenistischen Reformer wirkten bis zur Eroberung ihres Refugiums, der Akra, 141 v.Chr. In ihrer extremsten Ausprägung führte die Macht der Tobiaden zu einem Kampf gegen das jüdische Gesetz, das ihren Gegnern, den Oniaden, Rückhalt gegeben hatte: Der König schaffte auf Rat der hellenistischen Reformer das Gesetz ab, verfolgte die Gesetzestreuen und „reformierte“ den Tempelkult. 113 In ihrer gemäßigten Form war der hellenistische Reformversuch keine Assimilation, die zur Aufgabe der jüdischen Identität geführt hätte, „sondern eine begrenzte Akkulturation an den Hellenismus“. 114 Die hellenistischen Reformer wollten zurück zu einer nichtseparatistischen Haltung der Juden und zur reinen Gottesverehrung des Mose. Das Programm der Reformer ist uns im Mund ihrer Gegner, der Makkabäer, überliefert (1Makk 1,11): „Wir wollen einen Bund mit den fremden Völkern schließen, die rings um uns herum leben; denn seit wir uns von ihnen abgesondert haben, geht es uns schlecht.“ Darüber hinaus könnten in einem Bericht in Strabos Geographica (XVI,2,35–38) Gedanken der hellenistischen Reformer nachklingen. Über Mose berichtet Strabo lobend, er habe – abgestoßen von der ägyptischen Verehrung von Göttern in Tiergestalt und der griechischen Verehrung von Göttern in Menschengestalt – eine reine Gottesverehrung eingeführt. Er habe eine bilderlose Gottesverehrung des universalen Gottes gelehrt, der die ganze Schöpfung umfasst. Mose habe in Frieden mit den umgebenden Völkern gelebt und seinem Volk eine Gottesverehrung versprochen, die es nicht mit Abgaben, göttlicher Besessenheit oder ande-
110 Vgl. M. HENGEL, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh.s v.Chr., WUNT 10, Tübingen 31988, 555. 111 Vgl. ebd., 464–564. 112 Vgl. ebd., 556. 113 Vgl. G. THEISSEN, Der historische Jesus, 129f. 114 Vgl. G. THEISSEN, Der historische Jesus, 130.
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Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike
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ren unvernünftigen Sachen „belasten“ würde. Über die Nachfolger des Mose heißt es (V. 37): Seine Nachfolger blieben eine Zeitlang bei denselben Gebräuchen, denn sie waren rechtschaffene und wahrhaft gottesfürchtige Männer. Hernach aber gelangten zur Priesterwürde erst abergläubige (deisidaimo,nwn), dann herrschsüchtige Menschen (turannikw/n avnqrw,pwn). Die Folge des Aberglaubens war (evk me.n th/j deisidaimoni,aj), daß nun Enthaltung des Genusses gewisser Speisen ... ferner Beschneidung der männlichen, Exzision der weiblichen Individuen und anderes der Art in Aufnahme kam. Aus der Herrschaft der Gewalttätigen (evk de tw/n turanni,dwn) ergab sich eine Raubpolitik. Denn die (ihnen gegenüber) Abtrünnigen schädigten das eigene und angrenzende Gebiet, die den Herrschern Treugebliebenen rissen fremdes Land an sich und unterwarfen einen großen Teil Syriens und Phöniziens. 115
Hier kommen gleich mehrere gesetzeskritische Motive zum Ausdruck. Das Gesetz wird ähnlich wie in 1Makk 1,11 wegen seiner separatistischen Wirkung kritisiert, die im Bericht bei Strabo von Speisevorschriften und Beschneidung ausgeht. Die Entstehung dieser beiden Riten wird auf den „Abfall“ von der wahren Religion des Mose und den Aberglauben späterer Priester zurückgeführt (zur „Ideologie des Abfalls“ und zum philosophischen Hintergrund siehe 5.5.1.2). Die Priester, die die trennenden Ritualvorschriften eingeführt haben, werden als „tyrannische Menschen“ kritisiert. Der Gedanke, dass ihnen das Attribut der „Tyrannei“ bei Strabo deshalb zugelegt wurde, weil man ihre Gesetze als „tyrannisch“ empfand, liegt sehr nahe. Der Text bei Strabo geht auf diesen Zusammenhang jedoch nicht ein, sondern geht nach Benennung der „Tyrannei“ auf die Raubpolitik und den Krieg gegen die Nachbarn ein, den die Herrschaft der „tyrannischen“ Priester zur Folge hatte. Der Bericht bezieht sich in Geogr. XVI,2,37 auf den Bürgerkrieg von 167 v.Chr. bis zur Eroberung der Akra, der in Zusammenhang mit dem Reformversuch der Hellenisten stand sowie auf die anschließende Expansionspolitik der Makkabäer. 116 Selbst die hellenistischen Reformer, mit denen der Verfasser des Textes sympathisiert, trifft in letzter Konsequenz der Vorwurf der Raubpolitik. Auch sie, die „Abtrünnigen“, schädigten das eigene und das angrenzende Gebiet.
115 Deutsche Übersetzung nach M. HENGEL, Judentum und Hellenismus, 470. Zum eingefügten griechischen Text vgl. Strabo, Geographica, XVI,2,37, in: M. STERN, Greek and Latin Authors on Jews and Judaism. Bd. 1, From Herodotus to Plutarch, Jerusalem 1974, 295. 116 Vgl. M. HENGEL, Judentum und Hellenismus, 470f.
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Das tyrannische Gesetz
2.5.2 Analogien in der griechisch-römischen Antike Ausgangspunkt der nun folgenden Untersuchung ist die Frage, woher ein Jude wie Josephus mit der Stimme des Simri die Gedanken und sprachlichen Mittel nahm, das Gesetz (no,moj) zu kritisieren. Ein Vergleich mit griechischer Gesetzeskritik der Sophisten im 5. Jh. v.Chr. soll in dieser Frage Aufschluss geben. Es ist keine Rezeption ganzer philosophischer Gedankengebäude zu erwarten. Der Nachweis von ähnlichen Ideen in der Tradition, die als philosophische Versatzstücke rezipiert worden sein könnten, genügt bereits, um die sprachlichen Mittel für die Gesetzeskritik im Judentum historisch zu erklären. Zwei gesetzeskritische Argumente der Simrirede beschäftigten bereits die griechischen Sophisten Thrasymachos und Hippias, die uns durch Platon als Sokrates’ Gesprächspartner bekannt sind, sowie den Sophisten Antiphon. Thrasymachos stellte fest, die Gesetze würden immer vom Stärkeren zu seinem eigenen Nutzen erlassen (Platon, rep. 338e–339a). Gesetzesgehorsam zahle sich für die Schwachen nicht aus (vgl. Platon, rep. 343d–e). Hippias’ Gesetzeskritik ähnelt der des Simri im Vorwurf der Tyrannei durch das Gesetz (Platon, Prot. 337d). Antiphon beschreibt das Gesetz als eine „Fessel der Natur“ (DK 87 B 44 A, Cl. IV 1–6). Die Konsequenz, die Simri aus seiner Kritik am Gesetz zieht, die Absage des „Starken“ an den Gesetzesgehorsam, stellt Simri in die Nähe eines vierten Sophisten: Kallikles (Platon, Gorgias 484b). 2.5.2.1 Repressivität und Tyrannei des Gesetzes im sophistischen Rechtsdenken Bevor diese Sophisten zu Wort kommen und ihre gesetzeskritischen Argumente mit der Argumentation des Simri verglichen werden, sollen einige Gesichtspunkte vorgestellt werden, die zu einer differenzierteren Wahrnehmung ihrer gesetzeskritischen Äußerungen beitragen können: (a) die Antithese von no,moj und fu,sij als Voraussetzung der zu besprechenden Gesetzeskritik, (b) Unterschiede in Intention und dem anthropologischen beziehungsweise gesellschaftlichen Ideal der mit no,moj und fu,sij argumentierenden Sophisten und (c) eine Systematisierung der von den Sophisten kritisierten Wirkweise des Gesetzes.
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a) Die Antithese von no,moj und fu,sij als Voraussetzung der sophistischen Gesetzeskritik
Im Hintergrund der Gesetzeskritik der Sophisten steht die sogenannte no,moj-fu,sij-Debatte. Der no,moj (Gesetz oder Konvention), 117 den man sich seiner ursprünglichen Intention nach als ein Regulativ für die ungebändigte fu,sij (Natur des Menschen) vorstellen kann, wurde im ausgehenden 5. Jh. nicht mehr unbesehen als ein dem Leben zuträglicher Partner der fu,sij angesehen. In Zeugnissen sophistischer Denker begegnen no,moj und fu,sij in antithetischer Gegenüberstellung. Die frühesten Belege der sogenannten no,moj-fu,sij-Debatte lassen ca. 430/428 als terminus post quem vermuten.118 F. HEINIMANN hat die Entstehung der Antithese von no,moj und fu,sij, wie sie uns bei den Sophisten begegnet, untersucht und kommt zu dem Ergebnis, dass viele Faktoren auf die Entstehung des Gegensatzes eingewirkt haben. 119 Am Anfang habe die Einsicht in die Relativität des no,moj gestanden. 120 Diese habe sich „dem Einfluß der popularisierten Ergebnisse der Philosophie, der sophistisch ausgewerteten Erkenntnisse der Völkerkunde und der praktischen Politik“ 121 verdankt. Durch die „Einsicht der Normhaftigkeit der Physis“ sei „eine weitere negative Seite des Nomos aufgezeigt“ worden. 122 Diese Einsicht sei „von der ionischen Naturphilosophie und besonders von der Medizin“ gewonnen und von der Sophistik verbreitet worden. 123 Diese Faktoren hätten „schließlich zur Umwertung des im völkervergleichenden politischen Denken gewonnenen Begriffspaares NomosPhysis und zu scharfer Antithese der beiden Maßstäbe“ geführt. 124 In folgenden Punkten stimmen die Nomoskritiker Kallikles, Hippias und Antiphon 125 strukturell überein: Sie argumentieren auf dem Hintergrund der Antithese von no,moj und fu,sij und diskutieren das Machtverhältnis von no,moj und fu,sij. Bei der Analyse des Ist-Zustandes des Machtverhältnisses er117
Vgl. K.F. HOFFMANN, Das Recht im Denken der Sophistik, BzA 104, Stuttgart/Leipzig 1997, 378. 118 Ebd., 418. 119 So F. HEINIMANN, Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts, unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe, SBA 1, Basel 1945, Basel 1965, 125. 120 Vgl. ebd., 125. 121 Ebd., 125. 122 Vgl. ebd., 125. 123 Vgl. ebd., 125. 124 Vgl. ebd., 125. 125 Thrasymachos beruft sich laut Quellenlage nicht ausdrücklich auf die Antithese no,moj und fu,sij, so K.F. HOFFMANN, Sophistik, 418. Zu Kallikles (Gorg. 482e 5/6) vgl. K.F. HOFFMANN, ebd., 123.125. Zu Antiphon vgl. K.F. HOFFMANN, ebd., 419: „Obwohl Antiphon in den erhaltenen Zeugnissen nirgends no,moj und fu,sij als antithetisches Begriffspaar verwendet, zeigt sich in seinen Schriften die gesamte Leistungsfähigkeit dieser Antithese.“
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Das tyrannische Gesetz
scheint der no,moj als ein Konstrukt, das zu viel Macht über die fu,sij hat. Als Ideal schwebt den Sophisten ein „fu,sij-gemäßes“ Leben vor. Deshalb soll das faktische Machtverhältnis von fu,sij und no,moj umgekehrt werden. In der Argumentation, die zugunsten des Soll-Zustandes geführt wird, hat folglich die fu,sij den Vorrang über den no,moj.
b) Intention und anthropologisches bzw. gesellschaftliches Ideal
Möchte man der historisch geäußerten Gesetzeskritik der Sophisten gerecht werden und zwischen gemäßigter und radikaler Kritik unterscheiden, so reicht es nicht aus, bei der Untersuchung von gesetzeskritischen Äußerungen in der philosophischen Tradition ein ähnliches Problembewusstsein in Bezug auf das Gesetz aufzuzeigen. Es muss sich die Frage nach der Intention der Gesetzeskritik anschließen: Verbleibt die Kritik am Gesetz auf einer rein empirisch-deskriptiven Ebene oder ist mit ihr ein normativ-moralischer Impetus verbunden, der auf eine Veränderung in der Haltung zum Gesetz zielt? Ob die Aussagen des Thrasymachos als normativ-moralische oder als rein empirisch-deskriptive zu verstehen sind, wurde in der Forschungsgeschichte stark diskutiert. 126 Im ersten Fall könnte Thrasymachos als Verfechter einer Herrenmoral gelten, der die Meinung vertritt: „Es ist gerecht, dem Stärkeren zu nutzen“, 127 im zweiten Fall als kritischer Analytiker althergebrachter Vorstellungen. Die neuere Forschung tendiert zu der Annahme, die Aussagen des Thrasymachos seien rein empirisch-deskriptiv zu verstehen und weder moralisch-normativ noch subversiv und revolutionär. 128 Im Unterschied zu Thrasymachos wird für Kallikles eine auf Veränderung zielende Kritik am Gesetz, ein normativ-moralischer Impetus, angenommen. 129 Beide Sophisten sind sich in der Art ihrer Problemanzeige auf den ersten Blick ähnlich, divergieren aber in ihrer Intention. Eine weitere Fragestellung, die sich bei der Analyse sophistischer Gesetzeskritik als hilfreich erweist, ist die Frage nach der anthropologischen Prämisse beziehungsweise dem gesellschaftlichen Ideal für die Gesetzeskritik. So kann der Sophist entweder von einer physisgegebenen Ungleich126 Vgl. Chr. ROSSNER, Recht und Moral bei den griechischen Sophisten, Rechtswissenschaftliche Forschung und Entwicklung 595, München 1998, 200. 127 Hier würde „das Gerechte“ von Thrasymachos inhaltlich definiert, nicht als bereits Definiertes (z.B. die Befolgung der Gesetze) vorausgesetzt. Vgl. auch K.F. Hoffmann, Sophistik, 76. 128 Vgl. K.F. HOFFMANN, Sophistik: Das inhaltlich bereits vorausgesetzte Gerechte (86), das Befolgen der Gesetze, nützt dem Stärkeren (89). Bei Thrasymachos findet sich keine „naturrechtlich begründete moralische Verpflichtung zur Ungerechtigkeit“ (92). Thrasymachos ist ein Kritiker, der keine neue Weltsicht bereithält (93). 129 Vgl. K.F. HOFFMANN, Sophistik, 145.
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heit der Menschen ausgehen oder von einer physisgegebenen Gleichheit (siehe Abbildung unter c). Eine von Natur aus gegebene Ungleichheit der Menschen vertreten die Sophisten Thrasymachos und Kallikles durch ihre Rede vom „Stärkeren“ und „Schwächeren“. Hippias argumentiert mit einer von Natur aus gegebenen Gleichheit seiner Adressaten. Umstritten ist, wie weit der Kreis seiner Adressaten zu ziehen ist und wie groß der Kreis derer ist, für den er eine Gleichheit annimmt: Handelt es sich um eine elitäre Gleichheit der anwesenden Zuhörer oder um eine panhellenische Gleichheit, die Polisgrenzen überschreitet?130 Ein Gleichheitspostulat von Griechen und Barbaren kann für Hippias ausgeschlossen werden. 131 Für den Sophisten Antiphon hingegen wird dieser Gedanke für möglich gehalten. Er könnte mit einer solchen Annahme seiner Zeit voraus gewesen sein.132
c) Fazit: Systematisierung der von den Sophisten kritisierten Wirkweisen des Gesetzes
Bei der inhaltlichen Kritik am no,moj weichen die Sophisten erheblich voneinander ab. Zwar sind sie sich einig, der Vorrang der fu,sij über den no,moj sei erstrebenswert. Die Ausgestaltung des physisgemäßen Idealzustandes bzw. Urzustandes fällt jedoch unterschiedlich aus: Teils wird physisgemäße Gleichheit zum Ideal erhoben, teils physisgemäße Ungleichheit. Am no,moj, dem Antagonisten der erstrebten Physisherrschaft, werden folglich unterschiedliche, der fu,sij jeweils entgegengesetzte Wirkungen kritisiert. Für Kallikles, der im ursprünglichen Zustand eine physisgegebene Ungleichheit der Menschen vorfindet, welche er im Sollzustand erhalten möchte, ist der no,moj insofern problematisch als er versucht, die Unterschiede zwischen den Menschen einzuebnen. Für Hippias und Antiphon hingegen, die im ursprünglichen Zustand eine physisgegebene Gleichheit der Menschen vorfinden, welche es zu erhalten gilt, ist am no,moj zu kritisieren, dass er naturgemäß Zusammengehörendes trennt.
130 Vgl. F. REIMER, Natürliche Gleichheit und gesetzliche Unterscheidung, in: S. Kirste u.a. (Hg.), Die Sophistik, Stuttgart 2002, 83-103. 131 Vgl. K.F. HOFFMANN, Sophistik, 157. 132 Vgl. K.F. HOFFMANN, Sophistik, 419.
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Das tyrannische Gesetz Vorrang der fu,sij fu,sij-gemäßer Ur- oder Idealzustand
Gesetz sekundär
Ideal/Prämisse
Ideal/Prämisse
fu,sei
fu,sei
Kallikles
Gesetz sekundär
Gleichheit
Ungleichheit
Idealzustand
Hippias/Antiphon
es schafft
es schafft
Kritik am Gesetz Gleichheit
Ungleichheit
2.5.2.2 Vergleich: die Gesetzeskritik des Simri und der Sophisten a) Das Gesetz als repressives Machtmittel in der Simrirede und bei den Sophisten Thrasymachos und Kallikles
Um die Kritik am Gesetz als repressives Machtmittel in der oben dargestellten Simrirede mit der Kritik am Gesetz bei den Sophisten Thrasymachos und Kallikles zu vergleichen, soll zunächst die Gesetzeskritik der beiden Letztgenannten dargestellt werden. Platons Thrasymachos macht im ersten Buch der Politeia zwei allgemeine Aussagen über die Gerechtigkeit: 133 1. „das Gerechte sei nichts anderes als das dem Stärkeren Zuträgliche“ 134 (338 c 1–2) und 2. dass „das Gerechte 133
Vgl. K.F. HOFFMANN, Sophistik, 71. Zitiert nach: PLATON, Der Staat. Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Bd. 4, bearb. v. Dietrich Kurz, griech. Text v. Émile Chambry, dt. Übers. v. Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1971, 39. 134
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eigentlich ein fremdes Gut ist, [...] die Ungerechtigkeit aber ist das Gegenteil“ 135 (343 c 2–4). Die beiden Aussagen sind keine Definition des Gerechten, sondern setzen einen inhaltlich bereits bestimmten Begriff des Gerechten, das Befolgen der Gesetze oder anderer Vorschriften, voraus. 136 Thrasymachos leitet sein Gespräch mit Sokrates mit den Worten ein: „Ich nämlich behaupte, das Gerechte sei nichts anderes als das dem Stärkeren Zuträgliche“ 137 (338 c 1–2; ohne den Zusatz „nichts anderes als“ wieder aufgegriffen in 339 a 1–4; 341 a 3–4; 343 c 4; 344 c 7). 138 Diese wahrscheinlich deskriptiv-analytisch gemeinte Ausgangsthese (338 c 1–2) erläutert Thrasymachos durch die Behauptung, dass jede Regierung Gesetze zu ihren Gunsten erlasse (338 e): Und jegliche Regierung gibt die Gesetze nach dem, was ihr zuträglich ist, die Demokratie demokratische, die Tyrannei tyrannische und die anderen ebenso. Und indem sie sie so geben, zeigen sie also, daß dieses ihnen Nützliche das Gerechte ist für die Regierten. Und den dieses Übertretenden strafen sie als gesetzwidrig und ungerecht handelnd. 139
Die Vorstellung, dass die Regierung Gesetze erlässt, die ihrem Interesse entsprechen, ist dem griechischen Denken übrigens nicht fremd. 140 Die Ausgangsthese vom Nutzen des Gesetzes für den Stärkeren spezifiziert Thrasymachos durch die zweite These, dass „das Gerechte eigentlich ein fremdes Gut ist, [...] die Ungerechtigkeit aber [...] das Gegenteil“ 141 (343 c 2–5) oder anders gesagt, dass „der Gerechte überall schlechter daran ist als der Ungerechte“. 142 Auf diese zweite Aussage von der Unterlegenheit des Gerechten (343 d 2–3) lässt Thrasymachos gleich mehrere Beispiele folgen, nämlich das Nachsehen des Gerechten in alltäglichen Geschäften, bei Steuerzahlungen und bei der Verwaltung eines Amtes (343 d 3–e 7). Da aber die Aussagen des Thrasymachos als deskriptive, nicht als normative verstanden werden können, muss seine Lehre nicht notwendig als 135
Zitiert nach: PLATON, ebd., 55.57. Vgl. K.F. HOFFMANN, Sophistik, 86. 137 Zitiert nach: PLATON, Der Staat. Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Bd. 4, 39. 138 Vgl. K.F. HOFFMANN, Sophistik, 71. 139 Zitiert nach: PLATON, Der Staat. Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Bd. 4, 41. 140 Vgl. den Verweis auf Platon, Gesetze, 714 b–c, bei J. DE ROMILLY, La loi dans la pensée grecque. Des origines à Aristote, Paris 2001, 88, Anm. 22. Vgl. auch den Verweis von J. DE ROMILLY, ebd. 89, auf einen von Xenophon überlieferten Text, der zeigt, dass die athenischen Gesetze in sich selber schlecht sind, aber dem Zweck dienen, die Interessen des Demos zu unterstützen: „le petit traité qui nous a été transmis parmi les oeuvres de Xénophon, la Constitution d ´Athènes, se propose justement de montrer que les lois athénniens sont mauvaises en ellesmêmes, mais parfaitement adaptées à leur but, qui est de soutenir les intérêts du démos“. 141 Zitiert nach: PLATON, Der Staat. Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Bd. 4, 55.57. 142 Zitiert nach: PLATON, ebd., 57. 136
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Plädoyer für das Recht des Stärkeren verstanden werden. Seine Thesen lassen sich möglicherweise hinreichend als radikale Kritik an den herkömmlichen Gerechtigkeitsauffassungen verstehen. Den eindeutigen Forderungen nach einem natürlichen Recht des Stärkeren (wie es der platonische Kallikles vertritt) dürfte Thrasymachos aber zumindest den Weg bereitet haben. 143 Für die Annahme, dass Platon Thrasymachos im Wesentlichen getreu dem historischen Thrasymachos darstellt, sprechen ähnliche Aussagen in Frg. B 8 und in der Isokratesschrift „Über den Frieden“ (31) 144. Der Sophist Kallikles ist wahrscheinlich eine authentische Figur, 145 möglicherweise ein attischer Staatsmann aristokratischer Herkunft. 146 Seine Lehre vom Recht des Stärkeren und der Fähigkeit, den eigenen Lüsten zu folgen, findet sich bei Plato, Gorgias 482 c–484 c; 491 e–492 c. Kallikles schließt sich der Lehre des Polos an, das Unrechttun sei dem Unrechtleiden vorzuziehen. In seiner Unterhaltung mit Sokrates stellt er fest, dass sich Natur und Gesetz oft entgegen stünden. So sei das Unrechttun zwar nach dem Gesetz das Schlechtere, das Unrechtleiden aber das von Natur aus Schlechtere. Wer Unrecht leide, sei ein „Sklave“, kein „Mann“. Nach diesen Vorbemerkungen kommt Kallikles auf den Sinn der Gesetze zu sprechen (Gorg. 483 b–c): Allein ich denke, die die Gesetze geben, das sind die Schwachen und der große Haufe. In Beziehung auf sich selbst also und das, was ihnen nutzt, bestimmen sie die Gesetze und das Löbliche, was gelobt, das Tadelhafte, was getadelt werden soll; und um kräftigere Menschen, welche mehr haben könnten, in Furcht zu halten, damit diese nicht mehr haben mögen als sie selbst, sagen sie, es sei häßlich und unrecht für sich immer auf mehr auszugehen, und das ist nun das Unrechttun, wenn man sucht, mehr zu haben als die anderen. 147
Die Schwachen orientieren sich am Gesetzlichen und erklären die Haltung des Starken, der auf seinen Vorteil bedacht ist, für „Unrechttun“ (483 c): „Daher wird nun gesetzlich dieses unrecht und häßlich genannt, das mehr zu haben Streben als die meisten, und sie nennen es Unrechttun.“ 148 Von Natur sei es gerecht, dass die Stärkeren mehr haben (483 d): „Die Natur selbst aber [...] beweist dagegen, daß es gerecht ist, daß der Edlere mehr 143
Vgl. K.F. HOFFMANN, Sophistik, 418. Vgl. ebd., 100. 145 Vgl. ebd., 111. 146 Vgl. ebd., 112. 147 Zitiert nach: PLATON, Des Sokrates Apologie. Kriton. Euthydemos. Menexenos. Gorgias. Menon. Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Bd. 2, bearb. v. Heinz Hofmann, griech. Text v. Alfred Croiset (et.al.), dt. Übers. v. Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1973, 379. 148 Zitiert nach: PLATON, ebd., 379. 144
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habe als der Schlechtere und der Tüchtigere als der Untüchtige.“ 149 Der Starke verhalte sich nicht wie ein Sklave, sondern sage sich von allen Einschränkungen los (484 a): Wenn aber [...] einer mit einer recht tüchtigen Natur zum Manne wird, so schüttelt er das alles ab, reißt sich los, durchbricht und zertritt alle unsere Schriften und Gaukeleien und Besprechungen und widernatürlichen Gesetze und steht auf, offenbar als unser Herr, er, der Knecht, und eben darin leuchtet recht deutlich hervor das Recht der Natur. 150
Aus dieser Lehre vom Recht des Stärkeren entwickelt Kallikles seine „Lustlehre“ (491 e–492 a): Denn wie könnte wohl ein Mensch glückselig sein, der irgendwem diente? Sondern das ist eben das von Natur Schöne und Rechte [...], daß, wer richtig leben will, seine Begierden muß so groß werden lassen als möglich und sie nicht einzwängen [...] und worauf seine Begierde jedesmal geht, sie befriedigen. 151
K.F. HOFFMANN beschreibt den Zusammenhang treffend: „Es zeugt gleichermaßen von sklavischer Schwäche, die bestehenden no,moi zu befolgen, wie, sich von der Moral der Selbstbeherrschung beherrschen zu lassen.“ 152 Die „Schwachen“ werfen laut Kallikles den „Starken“ vor, „die Ungebundenheit sei etwas Schändliches“ (492 a). Sie zwängten die „Stärkeren“ ein und rühmten sich ihrer eigenen Besonnenheit (vgl. 492 a). Besonnenheit hält Kallikles für ein dem „Stärkeren“ unwürdiges Verhalten. „Üppigkeit und Ungebundenheit und Freigebigkeit“ hingegen für die wahre „Tugend und Glückseligkeit“ des „Stärkeren“ (492 b–c ): was wäre wohl unschöner und übler als die Besonnenheit für diese Menschen, wenn sie [...] sich selbst einen Herren setzten, nämlich des großen Haufens Gesetz, Geschwätz und Gericht. [...] Sondern der Wahrheit nach [...] verhält es sich so: Üppigkeit und Ungebundenheit und Freigebigkeit [...] sind eben Tugend und Glückseligkeit: Jenes andere aber sind Zierereien, widernatürliche Satzungen, leeres Geschwätz der Leute und nichts wert. 153
149
Zitiert nach: PLATON, ebd., 379. Zitiert nach: PLATON, ebd., 381. 151 Zitiert nach: PLATON, ebd., 401. 152 K.F. HOFFMANN, Sophistik, 133. 153 Zitiert nach: PLATON, Des Sokrates Apologie. Kriton. Euthydemos. Menexenos. Gorgias. Menon. Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Bd. 2, 401.403. 150
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Das tyrannische Gesetz
Folgende Ähnlichkeiten der Simrirede mit den Reden des Thrasymachos und des Kallikles lassen sich feststellen: Simri ähnelt in der Beschreibung der Gesetzesentstehung Thrasymachos, in der Konsequenz des Gesetzesungehorsams dem radikaleren Kallikles. Simri hat mit Thrasymachos die Vorstellung gemeinsam, dass das, was als gerechtes Tun gilt, dem Stärkeren nützt und sich für die gerecht Handelnden nicht auszahlt. Simri argumentiert vor allem im ersten Teil seiner Rede aus der Position des Unterdrückten. Wie Thrasymachos sieht Simri hinter Gesetzesbefolgung entweder Einfalt oder Furcht vor Strafe. Nachdem er die Repressivität des Gesetzes aufgedeckt hat und sich vom Gesetz emanzipiert hat, argumentiert er aus der Position eines Starken. Er würde im zweiten Teil seiner Rede Kallikles normativer Forderung zustimmen, der Starke solle nicht an das Gesetz gebunden sein.
Thrasymachos
Simri (Teil 1 der Rede)
Deskriptive Analyse Das Gerechte (das Befolgen der Gesetze) ist der Vorteil des Stärkeder Entstehung ren. Der Stärkere erlässt Gesetze zu des Gesetzes: seinen Gunsten. Gerechtigkeit zahlt sich nicht aus. Die Schwachen haben aber keine andere Wahl als sich an den no,moj zu halten: Entweder befolgen sie ihn aus Einfalt oder weil sie Strafe fürchten.
Mose als der Stärkere erlässt Gesetze zu seinen Gunsten. Die Masse befolgt die Gesetze des Mose aus Einfalt und weil sie Strafe fürchtet.
Intention:
Kritik am Bestehenden ohne (naturrechtlich begründete) Moral einer Verpflichtung zur Ungerechtigkeit. Kallikles
Simri (Teil 2 der Rede)
Deskriptive Analyse Gesetze sind Instrument der Schwächeren gegen die Stärkeren. der Entstehung des Gesetzes: Intention: Normativ
Der Starke soll nicht an das Gesetz Die Menschen sollen selbstgebunden sein, sondern frei, unge- bestimmt leben. bunden, autonom.
b) Die Tyrannei durch das Gesetz in der Simrirede und bei den Sophisten Hippias und Antiphon
Die Vorstellung des tyrannischen Gesetzes dürfte aus der sophistischen Kritik stammen. Sie begegnet jedoch nicht nur bei den Sophisten, sondern unter anderem auch bei Platon selber als turanniko.n evpi,tagma und im
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Sisyphosfragment V. 6 als i[na di,kh tu,rannoj h=.| 154 „Der no,moj wird der Tyrann der Demokratie, der als solcher bloss durch Befehle wirkt.“ 155 Ein prominenter Vertreter für die Charakterisierung des Gesetzes als Tyrann ist der Sophist Hippias von Elis. 156 Im Platondialog Protagoras bezeichnet Hippias das Gesetz als Tyrann der Menschen, der vieles gegen die Natur erzwingt. Nachdem sich Sokrates und Protagoras über den angemessenen Redestil ihrer Unterhaltung gestritten hatten, trat Hippias als Vermittler auf und riet Protagoras, weniger ausschweifend zu reden, um Sokrates, der ein Verfechter der knappen Rede war, auf diese Weise entgegen zu kommen. In diesem Kontext spricht Hippias folgende Worte zu den Anwesenden (Prot. 337 c–e): Ich denke, [...] ihr versammelten Männer, daß wir Verwandte und Befreundete und Mitbürger von Natur sind, nicht durch das Gesetz (fu,sei(ouv no,mw|). Denn das Ähnliche ist dem Ähnlichen von Natur verwandt, das Gesetz aber, welches ein Tyrann der Menschen ist, 157 erzwingt vieles gegen die Natur (to. ga.r o`moi/on tw/| o`moi,w| fu,sei suggene,j evstin(o` de. no,moj(tu,rannoj w'n tw/n anqrw,pwn(polla. para. th.n fu,sin bia,zetai). Für uns also wäre es schändlich, die Natur der Sache zwar zu kennen, uns aber dennoch, obgleich die Weisesten unter den Hellenen und eben deshalb in dieser Stadt als dem Hauptsitz hellenischer Weisheit und in diesem Hause als dem angesehensten und glänzendsten dieser Stadt versammelt, dieser Würde nicht würdig zu zeigen, sondern wie die gemeinsten Menschen untereinander uns zu veruneinigen.158
Hippias wird ein wenig satirisch dargestellt, sodass man überlegen kann, ob hier nur eine Position karikiert werden soll, ohne dass ein politisches Programm dahinter steht. 159 Aber unverkennbar ist, dass auch seine Ausführungen in einen Diskurs über die Antithese von no,moj und fu,sij hineingehören, der ganz gewiss ernst zu nehmen ist. Der no,moj wird hier als Konvention zu verstehen sein. 160 Hippias drückt mit dem Verb bia,zein ein repressives Verhältnis des no,moj gegenüber der fu,sij aus. Wie stark die Repressivität des Gesetzes ist, hängt davon ab, ob mit dem Begriff tu,rannoj abwertend ein 154
Vgl. R. HIRZEL, AGRAFOS NOMOS, ASGW.PH 20,1, Leipzig 1900, 49, Anm. 4. Vgl. ebd., 49. 156 Vgl. H.D. BETZ, Der Galaterbrief. Ein Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Gemeinden in Galatien. Aus dem Amerikanischen übersetzt und für die deutsche Ausgabe redaktionell bearbeitet von Sibylle Ann, Hermeneia, München 1988, 297, Anm. 28. 157 Zu weiteren Übersetzungsmöglichkeiten des Participium Coniunctum tu,rannoj w'n vgl. K.F. HOFFMANN, Sophistik, 155. 158 Zitiert nach: PLATON, Ion. Hippias II. Protagoras. Laches. Charmides. Euthyphron. Lysis. Hippias I. Alkibiades I. Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Bd. 1, bearb. v. Heinz Hofmann, griech. Text v. Louis Bodin (et. al.), dt. Übers. v. Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1977, 154f. 159 Vgl. K.F. HOFFMANN, Sophistik, 163. 160 Vgl. ebd., 156 mit Anm. 21. 155
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Das tyrannische Gesetz
„gewalttätiger Despot“ oder wertfrei ein „mächtiger Alleinherrscher“ bezeichnet werden sollte. 161 Für die Annahme, das Gesetz sei als Despot aufgefasst worden, spricht unter anderem, dass Hippias sich offensichtlich an Pindars frg. 169 orientiert hat 162 und den dortigen no,moj basileu,j in einen no,moj tu,rannoj umgeändert hat. Versteht Hippias das Gesetz als Despot, dann kann diese Änderung als eine bewusste Abgrenzung von Pindar angesehen werden. Der no,moj des Hippias tut der Natur dadurch Gewalt an, dass er „dort Unterscheidungen trifft, wo eine natürliche Affinität des Gleichen (o`moi/on) zum Gleichen besteht“. 163 Man muss dabei nicht an Kosmopolitismus oder Panhellenismus denken. Es könnte auch sein, dass Hippias nur die Elite der Weisen und Sophisten meint, die sich am Diskurs über das tyrannische Gesetz beteiligen. 164 Die Formulierung „polla. para. th.n fu,sin bia,zetai“ legt mit „polla.“ allerdings nahe, dass der no,moj der fu,sij nicht in jedem Fall entgegen steht, sondern nur „vieles“ gegen die Natur durchsetzt. 165 Die no,moj-fu,sij-Debatte findet mit Hippias insofern einen eher maßvollen Kritiker des no,moj. Hippias hat am no,moj zwar grundsätzliche Schwächen bemängelt (vgl. Stobaios Frgm. B 17),166 dürfte ihn aber nach den erhaltenen Zeugnissen nicht rigoros abgelehnt haben (vgl. Platon, Hippias maior 284 d 1–3).167 Der Sophist Antiphon scheint Hippias’ Kritik am no,moj auf die Spitze getrieben zu haben. 168 Er erklärt den no,moj zu einem grundsätzlichen Feind der fu,sij, 169 indem er das Adverb „feindlich“ (polemi,wj) auf ihr Verhältnis anwendet: „Die Untersuchung dieser Dinge geschieht deswegen, weil das, was nach der Norm gerecht ist, meistenteils feindlich zur Natur festgesetzt ist“ (... ta. polla. tw/n kata. no,mon dikai,wn polemi,wj th/| fu,sei kei/tai) und „Auch in diesen genannten Beispielen kann man vieles finden, was der Natur feindlich ist“ (... pollV a;n tij eu[roi pole,mia th/| fu,sei). 170 Gegenüber Hippias hat sich verändert, dass nicht mehr das Gesetz „Vieles“ gegen die 161
Vgl. zur Diskussion um eine rigorose oder gemäßigte no,moj-Kritik, K.F. HOFFMANN, ebd., 153–156. Vgl. ebd., 154; so auch CHR. ROßNER, Recht und Moral bei den griechischen Sophisten, 114. 163 K.F. HOFFMANN, Sophistik, 158. Die Akzentuierung im griechischen Text habe ich verändert. 164 Vgl. ebd., 157f. 165 So K.F. HOFFMANN, ebd., 159. 166 Vgl. ebd., 159. 167 Vgl. ebd., 160. 168 Ebd., 418. Vgl. zur Abhängigkeit von Hippias und Antiphon auch F. HEINIMANN, Nomos und Physis, 142. 169 K.F. HOFFMANN, Sophistik, 418. 170 Vgl. DIE SOPHISTEN. Ausgewählte Texte, Griechisch-Deutsch, herausgegeben und übersetzt von Thomas Schirren und Thomas Zinsmaier, Universal-Bibliothek Nr. 18264, Stuttgart 2003, 196f, Nr. 17: B 44 Oxyrhynchus Papyri 1364 + 3647, Fr. B, Sp. II +V. 162
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Natur durchsetzt, sondern umgekehrt, dass „Vieles“ in der Natur dem Gesetz direkt feindlich ist. Die Einschränkung auf „Vieles“ (polla,) lässt zwar auch hier die Möglichkeit offen, dass nicht alles in der Natur dem Gesetz feindlich gegenübersteht. Aber insgesamt gilt: Die Regelungen des no,moj entsprechen allenfalls zufällig der fu,sij. 171 Wie Hippias beweist auch Antiphon, „dass die Berufung auf den Gegensatz zwischen no,moj und fu,sij nicht notwendig in anarchische Forderungen münden“ muss.172 Seine in den Tetralogien vorausgesetzte anthropologische Maxime, dass der Einzelne dazu neige, „seinen Schaden zu minimieren“, könnte man als einen „Versuch verstehen, die radikalen Vorstellungen vom Recht des Stärkeren (erg. Kallikles) als unrealistisch zurückzuweisen und durch ein Konzept zu ersetzen, das die Interessen aller einzelnen Menschen [...] berücksichtigt und sich deswegen eher in die Tat umsetzen läßt“.173 Der Sophist Antiphon fügt dem Kritikpunkt der Repressivität einen weiteren hinzu, indem er das Gesetz als „Fessel der Natur“ (DK 87 B 44 A, Cl. IV 1–6) bezeichnet und so die Kontraproduktivität des Gesetzes kritisiert. Bei Antiphon finden wir nicht den reinen Gegensatz von Natur und Gebot (fu,sij-no,moj), sondern zwischen „von Natur aus Gebotenem“ und „vom Gesetz Gebotenen“. Auf den ersten Blick könnte man meinen, es gäbe eine Schnittmenge von Geboten der Natur und Geboten des Gesetzes, die den Gegensatz von fu,sij und no,moj beim Gehorsam einiger Gebote aufhebt. Antiphon vertritt aber die Ansicht, das Gesetz sei selbst dort, wo es dem Menschen Zuträgliches fordere, eine „Fessel der Natur“ (DK 87 B 44 A, Cl. IV 1–6: ta. de. zumfe,ronta ta. me.n u`po. tw/n no,mwn kei,mena desma. th/j fu,sew,j evsti).174 Das Gesetz erzeugt also einen Machtbereich. Selbst Handlungen, die den Geboten der Natur entsprechen, werden von Antiphon negativ qualifiziert, sofern sie unter dem Einfluss des no,moj erfolgten. Mit seiner Feststellung der Gleichheit aller Menschen scheint er seiner Zeit voraus gewesen zu sein.175 Der Sophist Antiphon behauptet, dass erst durch die 171
Vgl. K.F. HOFFMANN, Sophistik, 418. Vgl. ebd., 418. 173 Vgl. ebd., 418f. K.F. HOFFMANN, ebd., 419, fasst zusammen: Antiphon entwickelte „möglicherweise ein Gesellschaftsmodell, das ausgehend von einem an der zeitgenössischen Medizin orientierten Menschenbild Eigennutz und Schadensminimierung als Triebfedern menschlichen Verhaltens anerkennt, auf jeglichen eigenen Gerechtigkeitsbegriff [...] jedoch verzichtet.“ Antiphon verband „Ansätze der Medizin und die Erkenntnisse über die Grenzen herkömmlicher Moralauffassungen mit dem protagoreischen Gedanken, der Mensch stehe im Mittelpunkt des Geschehens und sei der wesentliche Nutznießer.“ Gleichzeitig „trachtete er danach, die Positionen allzu radikaler Zeitgenossen (sc. der Vertreter vom Recht des Stärkeren) zu überwinden.“ 174 Zitiert nach H. DIELS (Bearb.)/W. KRANZ (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch. Bd. 2, [59–90], Berlin 1972, 16. Aufl. = Unveränd. Nachdr., 349. Vgl. K.F. HOFFMANN, Sophistik, 180. 175 K.F. HOFFMANN, Sophistik, 419. 172
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unterschiedlichen Normen einzelner Völker die Abgrenzung von Barbaren und Hellenen ausgelöst wurde. Von Natur hätten alle die gleichen Voraussetzungen, entweder Barbaren oder Hellenen zu sein.176 Die „physisgemäße“ Gleichheit aller Menschen demonstriert Antiphon an physischen und psychischen Beschaffenheiten, die allen Menschen gemeinsam sind: „Denn wir blasen alle den Atem durch den Mund und durch die Nase in die Luft, und wir lachen, wenn wir uns im Herzen freuen, oder weinen, wenn wir traurig sind, und mit dem Gehör nehmen wir die Laute auf; und bei Licht sehen wir vermöge des Gesichtssinns; und mit den Händen arbeiten wir, und mit den Füßen gehen wir.“ 177
2.5.2.3 Populärphilosophische Kritik: Das Verbotene reizt Die Überlegung, dass ein Verbot trotz Strafandrohung zum Tun des Verbotenen, zur Übertretung des als repressiv empfundenen Gesetzes gerade anreizen kann, findet sich auch bei Cicero (Tull. 9; dom. 49. 127) und Seneca (clem. I 23,1). 178 Als Argument für die Milde in der Rechtsprechung schreibt Seneca (clem. I 23,1) seinem Zögling Nero ins Stammbuch: Außerdem wirst du sehen, oft werden die Vergehen begangen, die oft bestraft werden. Dein Vater (sc. Claudius) hat mehr Menschen innerhalb von fünf Jahren in den ledernen Sack einnähen lassen (sc. zur Hinrichtung durch Ertränken, der Strafe für Vatermord), als in allen Jahrhunderten eingenäht worden sind, wie wir vernommen haben. Viel weniger wagten die Kinder das äußerste Verbrechen zu begehen, solange das Verbrechen ohne Gesetz war. In ihrer außerordentlichen Klugheit wollten nämlich die höchsten und des Wesens der Dinge kundigsten Männer lieber ein gleichsam unglaubliches und außerhalb des Wagemutes stehendes Verbrechen übergehen als, indem sie es bestraften, zeigen, es könne geschehen. Daher gibt es Vatermörder im Zusammenhang mit diesem Gesetz, und ihnen hat die Strafe die Schandtat gezeigt. 179
Seneca dürfte diesen Gedanken von Cicero übernommen haben. In Pro M. Tullio 9 heißt es: bei unseren Vorfahren [...] sei nur äußerst selten jemand ermordet worden, und das habe als gemeines und unerhörtes Verbrechen gegolten. Daher habe man keines Verfahrens gegen die Gewalttätigkeit bewaffneter Banden bedurft. Denn wenn man ein 176 Zitiert nach: DIE SOPHISTEN. Ausgewählte Texte, 194f, Nr. 17: B 44 Oxyrhynchus Papyri 1364 + 3647, Fr. A, Sp. II. 177 Ebd. Sp. II–III. 178 Vgl. K. HAACKER, Der Brief des Paulus an die Römer, ThHK 6, Leipzig 1999, 143 mit Anm. 13. 179 L.A. SENECA, Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch. Bd. 5, Über die Milde. Über die Wohltaten. Lateinischer Text von François Préchac. Manfred Rosenbach (Hg.), Darmstadt 1989, 85.
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Gesetz oder ein Verfahren wegen eines Sachverhaltes einführen wollte, der gar nicht vorkommt, dann würde man nur erreichen, daß man ihn nicht so sehr unterdrückt wie dazu ermuntert. 180
Ähnlich heißt es in De domo sua ad pontifices oratio 127: Denn das war gänzlich verpönt, und niemand hatte es je getan, und es bestand kein Grund, ein Verbot zu erlassen, das, statt davon abzuschrecken, vielmehr dazu aufgefordert hätte. 181
Auf dieser Linie liegen „auch der Spruch des – äußerst populären, aus dem syrischen Antiochia stammenden und in Rom zur Zeit Caesars berühmt gewordenen – Publilius Syrus“ 182 sowie Gedanken bei Euripides und Ovid und Livius: Publilius Syrus (N 17) : Gerade nach Verbotnem geht Begierde. Nil magis amat cupiditas, quam quod non licet. 183
Euripides (Eur Sten fr 668 bei Plut mor 71 A): Getadelte Liebe drängt um so mehr nouqetou,menoj e;rwj ma/llon pie,zei 184
Ovid, Amores II 19,3: Reizlos ist das, was erlaubt ist; Verbotnes weckt heißere Sehnsucht Quod licet, ingratum est; quod non licet, acrius urit 185
Ovid, Amores III 4,9: Weniger sündigt, wer´s darf: Allein schon die Freiheit zu handeln/ Führt zur Schwächung der Kraft, die uns zu Fehltritten treibt./ Glaube mir dies: Hör auf, durch Verbote zum Laster zu reizen Cui peccare licet, peccat minus: ipsa potestas/ Semina nequitiae languidiora facit./ Desine, crede mihi, vitia inritare vetando 186 180 M.T. CICERO, Die Prozessreden. Bd. 1, lateinisch-deutsch, herausgegeben, übersetzt und erläutert von Manfred Fuhrmann, Sammlung Tusculum, Zürich/Düsseldorf 1997, 163. 181 M.T. CICERO, Die Prozessreden. Bd. 2, lateinisch-deutsch, herausgegeben, übersetzt und erläutert von Manfred Fuhrmann, Sammlung Tusculum, Zürich/Düsseldorf 1997, 151. 182 So K. HAACKER, Der Brief des Paulus an die Römer, 143, Anm. 13. 183 PUBLILIUS SYRUS, Die Sprüche. Lateinisch-deutsch. Hermann Beckby (Hg.), München 1969, 44f. 184 Vgl. G. THEISSEN, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, Göttingen 21993, 225f. 185 P. OVIDIUS NASO, Liebesgedichte. Lateinisch-deutsch, herausgegeben und übersetzt von Niklas Holzberg, Düsseldorf/Zürich 1999, 90f. 186 Ebd. 104f.
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Ovid, Amores III 4,17: Ständig begehrn wir Verbotnes und trachten nach dem, was versagt ist Nitimur in vetitum semper cupimusque negata 187
Die Erfahrung lehrt: Je mehr ermahnt wird, um so mehr wird die den Ermahnungen widersprechende Tendenz angestachelt (Ov met III 566). Im Bericht des Geschichtsschreibers Livius über die geplante Abschaffung des Gesetzes des C. Oppius aus dem Jahre 215 v.Chr., 188 welches die Prunksucht der Frauen einschränken sollte, vertritt Cato, ein Verfechter des oppischen Gesetzes die Ansicht, Einschränkungen würden auch noch nach ihrer Aufhebung das Verlangen vermehren (Liv 34,4). Cato schließt seine von Livius erfundene Rede mit der Bemerkung: „die Verschwendungssucht wäre, wenn man nicht daran gerührt hätte, erträglicher, als sie jetzt sein wird, wo sie durch die Fesseln, wie wilde Tiere, zunächst gereizt wurde und dann losgelassen.“ 189 Auch in Schriften des Judentums, in Vita Adae et Evae, dem 4. Makkabäerbuch und dem Proverbienbuch, findet sich der Gedanke, dass Verbotenes reizt. Die Schlange will gerade dadurch verführen, dass sie die zunächst versprochene Frucht zurückhält: „Das sagte sie aber [nur] in der Absicht, mich vollends zu berücken und ins Verderben zu stürzen.“190 (VitAd 19). An Speisegeboten wird aufgewiesen, dass der Sinn des Gebotes in der Absage an das Begehrenswerte kraft der Vernunft liegt (4Makk 1,33f): 33 Woher kommt es denn sonst, daß wir, selbst wenn wir uns hingezogen fühlen zu den verbotenen Nahrungsmitteln, doch die von ihnen zu erwartenden Freuden verschmähen? Geschieht das nicht deswegen, weil die Urteilskraft das Verlangen zu kontrollieren vermag? Ich denke, ja. 34 Wenn uns folglich nach Meerestieren gelüstet, nach Vögeln, Vierfüßlern und jedweden Speisen, die uns nach dem Gesetz verboten sind, üben wir doch Verzicht mit Hilfe der Kontrolle seitens der Urteilskraft. 191
187
Ebd., 104f. Vgl. T. LIVIUS, Römische Geschichte. Bd. 7/3, Buch XXXI–XXXIV. Lateinisch und deutsch, Hans Jürgen Hillen (Hg.), Darmstadt 31991, 505, Anm. I, 3. 189 Ebd., 329. 190 C. FUCHS, Das Leben Adams und Evas, in: E. Kautzsch (Hg.), Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments. Bd. 2, Die Pseudepigraphen des Alten Testaments, Tübingen 1900, 506–528, 521. C. FUCHS hat einen Mischtext geboten und folgt hier der Apokalypse des Mose 19. Vgl. zu den Handschriften, die diesen Gedanken bezeugen auch O. MERK/M. MEISER, Das Leben Adams und Evas, in: Unterweisung in erzählender Form, JSHRZ II/5, Gütersloh 1998, 737–870, 829 Anm. XIX, I b). 191 Zitiert nach H.-J. KLAUCK, 4. Makkabäerbuch, 694. 188
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In Spr 9,17 lockt die törichte Frau: „Gestohlenes Wasser ist süß, und heimliches Brot schmeckt lieblich.“192 Hinter dieser Beobachtung steht nicht bloß ein gängiges weisheitliches Sprichwort. 193 „Gestohlenes Wasser“ und „heimlich entwendetes Brot“ sind verhüllende Ausdrucksweise der Prostituierten und umschreiben den Geschlechtsverkehr. 194 Wir ziehen aus unseren Beobachtungen folgenden Schluss, um die Simriepisode zu deuten: Josephus artikuliert die Kritik des Simri am Gesetz des Mose mit Argumenten gegen das Gesetz, die einst in der Sophistik entwickelt und durch ihre Widerlegung in den platonischen Schriften weit verbreitet waren. Josephus setzt voraus, dass diese Argumente von heidnischen wie jüdischen Lesern abgelehnt werden. Indem er den Simri wie einen Sophisten argumentieren lässt – mit dem Unterschied, dass die Sophisten das Gesetz nur theoretisch infrage stellten, Simri es aber schon gebrochen hat –, wirbt er für eine Ablehnung des Gesetzesbruchs. Zwar zeichnet auch Josephus den Pinehas als Strafexekutor positiv, aber deutlich zurückhaltender als andere jüdische Autoren. Wir hören nichts vom Lohn Gottes für die Tat des Pinehas. Das passt gut dazu, dass Josephus den Aufstand des Simri gegen das Gesetz in den philosophischen Diskurs über die Repressivität des Gesetzes hineinstellt. Die Auflehnung des Simri gegen das Verbot der Heirat fremder Frauen wird so zu einer Fundamentalopposition gegen das Gesetz überhaupt – und damit setzt sich Simri ins Unrecht. Der eigentliche Gegenspieler des Simri wird Mose, der als weiser Gesetzgeber mit Argumenten für sein Gesetz eintritt. Er vertritt den Part, den bei der Widerlegung der Sophistik Plato einnimmt. Josephus macht deutlich: Eigentlich müssten die Argumente des Weisheitslehrers Moses ausreichen, um Gesetzesgehorsam zu bewirken. Erst als Argumente versagen, wurden Strafen und Zwang notwendig. Aber auch sie werden nicht von Gott gelobt. Wahrscheinlich führte eine zeitgeschichtlich bedingte Distanzierung von den Widerstandskämpfern und „Zeloten“ zur Abschwächung des Bildes des Pinehas. Ebenso wahrscheinlich ist aber auch, dass in die Schilderung des Simri zeitgeschichtliche Erfahrungen hineingeflossen sind: Auch hinter ihm dürfen wir verborgene Stimmen im Judentum vermuten – so wie hinter der gewalttätigen Reaktion des Pinehas die Erfahrung der Widerstandsbewegung steht. 192
Übersetzung nach: Die Heilige Schrift. Aus dem Grundtext übersetzt, Elberfelder Bibel. Vgl. C.H. TOY, A critical and exegetical commentary on the book of Proverbs, The international critical commentary on the Holy Scriptures of the Old and New Testament, Edinburgh 3 1914, 190f: „The inducement she offers is the delight of secret enjoyments, things prohibited by the law order condemned by society, more tempting because they are forbidden. [...] here the feasting is clandestine – the reference is to illicit sexual relations. Stolen waters (= any illicit thing) are sweet was probably a current proverbial saying“. 194 Vgl. B. LANG, Frau Weisheit. Deutung einer biblischen Gestalt, Düsseldorf 1975, 144 und R.J. CLIFFORD, Proverbs, 107. 193
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3. Das unerfüllbare Gesetz. Der Sündenpessimismus des Sehers Esra in 4Esr 8,20–36
Das unerfüllbare Gesetz
Ein weiteres gesetzeskritisches Argument, das sowohl bei Paulus als auch unabhängig von ihm in einer späteren Schrift des Judentums des Zweiten Tempels vorgebracht wird, besteht im Zweifel an der Erfüllbarkeit des Gesetzes. Dieses Argument ist der Gesetzeskritik des Simri fast entgegengesetzt. Simri rebelliert gegen eine erfüllbare Forderung des Gesetzes. Dabei wird in einer grundsätzlichen Generalisierung seine Kritik zu einer Kritik des Gesetzes als Ganzes. Im Buch 4. Esra sind die Forderungen des Gesetzes dagegen der Kritik entzogen. Hier richtet sich die Kritik gegen die Menschen, die seine Forderung nicht erfüllen. Ihr Versagen wird generalisiert: Keiner kann das Gesetz erfüllen. Dabei begegnen solche gesetzeskritische Äußerungen des Sehers Esra im Zuge der Auseinandersetzung mit der Spannung zwischen Gottes Verheißung an Israel einerseits und dem gegenwärtigen Leiden Israels andererseits. Esra hat mit Blick auf die Sünde des Menschen ein pessimistisches Menschenbild. Diese Haltung, die im Folgenden als „Sündenpessimismus“ bezeichnet wird, lässt ihn daher an der Erfüllbarkeit des Gesetzes zweifeln. Seine Zweifel werden allerdings von seinem Dialogpartner, dem Engel Uriel, zurückgewiesen. Nach einer kurzen Vorstellung der Quelle 4. Esra (3.1) sollen die mit der Sündhaftigkeit des Menschen verbundenen Klagen und Zweifel, die Esra im Dialog mit dem Engel Uriel vorbringt, analysiert werden (3.2). 1 Wie im vorangegangenen Kapitel soll auch hier die Frage nach der Position des Verfassers und nach dem „Sitz im Leben“ der gesetzeskritischen Stimme gestellt werden (3.3). Danach wird die Zurückweisung und narrative Überwindung von Esras Zweifeln untersucht (3.4). Als Analogie zum Sündenpessimismus im 4. Esrabuch werden die Niedrigkeitsdoxologie in den HôdƗMôt aus Qumran vorgestellt und einige sündenpessimistische Aussagen aus der griechisch-römischen Antike benannt (3.5).
1
Die ins Deutsche übersetzten Passagen aus 4. Esra richten sich im folgenden nach A.F.J. KLIJN, Die Esra-Apokalypse (IV. Esra). Nach dem lateinischen Text unter Benutzung der anderen Versionen ..., Berlin 1992.
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Das unerfüllbare Gesetz
3.1 Zur Quelle 4. Esra 3.1.1 Datierung, Ort und Verfasser der Quelle Zur Quelle 4. Esra
Der Verfasser des Buchs 4. Esra verlegt die Erzählsituation nach Babel und die Entstehungszeit des Buches ins 30. Jahr nach der Zerstörung Jerusalems 587 v.Chr. 2 Vom fiktiven Ort der Erzählung auf den realen Entstehungsort zu schließen, ist schwierig. Größere Einigkeit wird bei der zeitlichen Einordnung erzielt. Die genaue Datierung der Quelle ist jedoch umstritten. Geht man vom Text selber aus (3,1), so ist es naheliegend, die Entstehung des 4. Esrabuchs im 30. Jahr nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n.Chr. anzusetzen. 3 Aus der Adlervision, in der die Herrschaft von Vespasian, Titus und Domitian symbolisiert wird, folgert J. SCHREINER eine Entstehung nach dem Tod Domitians (96 n.Chr.). M. STONE gelangt zu einer unwesentlich früheren Datierung, indem er die Buchentstehung mit der Regierungszeit Domitians in Verbindung bringt. 4 3.1.2 Adressaten der Quelle Über die Adressaten der Schrift können wir nichts Sicheres sagen. Da sich Esra von jemandem, der getröstet wird, zu jemand wandelt, der Israel tröstet, und da er die zerstörten 94 Heiligen Schriften, 24 kanonische und 70 „apokryphe“ Bücher (4Esr 14,42) aufgrund göttlicher Eingebung neu schreiben darf, dürfen wir als Trägergruppe an Schriftgelehrte denken, die nach der Katastrophe der zweiten Tempelzerstörung die Tradition Israels bewahren wollen, nicht nur auf der Grundlage der kanonischen Schriften, sondern auch vieler neuer Offenbarungsschriften, die nicht allgemein zugänglich waren. Diese Gruppe wendet sich an eine Adressatenschaft, die an einer schriftgelehrten Kultur teilhat: an Schriftgelehrte und Weise. 5 Sie wendet sich dabei indirekt an ganz Israel. Denn sie vertritt zunächst die Position des „inclusive covenantalism“, 6 d.h., dass Gott auch Erbarmen mit den Israeliten hat, die das Gesetz übertreten haben.
2
Vgl. J. SCHREINER, 4. Esra-Buch, 291. Vgl. ebd., 301. 4 M.E. STONE, Fourth Ezra. A commentary on the Book of Fourth Ezra, Minneapolis 1990, 10: „The book was thus composed in the time of Domitian (81–96 C.E.), probably in the latter part of his reign, when his cruelty and oppression reached unprecedented heights“. 5 Vgl. R. BAUCKHAM, Apocalypses, 162. 6 Vgl. ebd., 164. 3
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Die „Gesetzeskritik“ des Sehers Esra
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3.1.3 Form und Gliederung Das 4. Buch Esra ist eine apokalyptische Schrift, die meist in Visio 1–7 eingeteilt wird, 7 obwohl nur der Mittelteil Visionen (Visio 4–6) im eigentlichen Sinne beinhaltet. Visio 1–3 sind Dialoge zwischen Esra und dem Engel Uriel, die mit kurzen Angaben über visionäres Erleben gerahmt sind. In Visio 7 erhält und erfüllt Esra einen Offenbarungsauftrag. In den Dialogen ist der Einfluss der Redeform des weisheitlichen Lehrgesprächs zu erkennen. 8 Als andere Redeformen, die in den Dialogteil eingebaut sind, sind die Form des Geschichtsüberblicks und der Klage zu nennen. 9 Der Visionsteil ist durch eine noch größere Vielzahl von Redeformen geprägt, zum Beispiel Geschichtsüberblicke, Parabeln, Klagen und Gebete. 10
3.2 Die „Gesetzeskritik“ des Sehers Esra Die „Gesetzeskritik“ des Sehers Esra
Angesichts der Zerstörung Jerusalems und des Wohlergehens der fremden Völker zweifelt der Protagonist Esra an der Verheißung Gottes für Israel. Die Esraapokalypse beschäftigt sich insgesamt mit der Frage, warum das Volk Israel gegenwärtig leiden müsse. Daran schließen sich die Fragen an, welchen Plan Gott für Israel hat und ob das Volk Israel gerettet wird. Das „Leben spendende“ Gesetz, mit dem Gott sein Volk Israel gegenüber den anderen Völkern auszeichnete, wird für Esra zu einem fragwürdigen Geschenk. Da Gott vollkommenen Gesetzesgehorsam von Israel verlangt, ist mit der Erfüllbarkeit des Gesetzes die Frage nach Heil oder Verdammnis verbunden. Esra stellt die Unfähigkeit des Menschen, das Gesetz zu halten, die Diskrepanz von Sollen und Nicht-Können, heraus und hinterfragt wer für das Versagen des Menschen verantwortlich ist. Der Sünder ist für Esra nicht „automatisch“ mit dem Schuldigen gleichzusetzen. 11 Esra sieht vielmehr Gott in der Verantwortung, den Schöpfer, der dem Menschen ein „böses Herz“ gegeben hat und so den Menschen der Sünde als einem Verhängnis ausgeliefert hat. Damit wird das „Leben spendende“ Gesetz zum Verhängnis stiftenden Gesetz. Nach einer Übersicht über die Passagen, in denen Esra seinen Sündenpessimismus zum Ausdruck bringt und in denen der Engel Uriel Esra zurückweist (3.2.1), soll die dialogische Auseinandersetzung der beiden Ge7
Vgl. J. SCHREINER, 4. Esra-Buch, 291. Vgl. ebd., 299. 9 Vgl. ebd., 299. 10 Vgl. ebd., 299. 11 Der Seher Esra schwankt zwischen intrapunitiver und externaler Kausalattribution. 8
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Das unerfüllbare Gesetz
sprächspartner um die Verheißung des Gesetzes und das Verhängnis der Sünde nachgezeichnet werden (3.2.2). Anschließend wird das Gebet Esras, seine Confessio, in welcher die sündenpessimistischen Aussagen zu ihrem Höhepunkt gelangen, auf mögliche Traditionen hin befragt werden (3.2.3). 3.2.1 Übersicht über Esras Gesetzeskritik und ihre Zurückweisung durch den Engel Pessimistische Äußerungen zur Sündenverfallenheit des Menschen und der damit einhergehenden Unmöglichkeit, das Gesetz zu erfüllen, finden sich, wie die nachfolgende Übersicht 12 zeigt, im eigentlichen Dialogteil der Schrift, Visio 1–3. Bereits in Esras erster Rede wird die Sündenverfallenheit des Menschen thematisiert. Visio 3 bildet mit der Confessio Esdrae den Höhepunkt von Esras Kritik und enthält mehrere Zurechtweisungen des Engels. Sündenpessimismus/ Gesetzeskritik Esras
Zurückweisung der Kritik durch den Engel
Visio 1 Einleitung
3,1–3
Anrede
3,4–36
3,20–22: Koexistenz von Gesetz und Wurzel des Bösen im Herzen des Menschen
Streit
4,1–25
4,12: Klage über Leben in Sünde und Leid
Offenbarung
4,26–52 4,30f: der böse Same; 4,38: Alle sind Sünder.
Offenbarung
5,1–13
Schluss
5,14–20
12 Vgl. zur Gliederung M.E. STONE, Fourth Ezra, 51. Vgl. zur Kapitel- und Verszählung J. SCHREINER, 4. Esra-Buch, 291: Die Kapitel- und Verszählung entspricht der der Vulgata, wo Esdras IV die Schrift bezeichnet, die von den christlichen Büchern V (= Kap. 1 und 2) und VI (= Kap. 15 und 16) gerahmt wird.
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Die „Gesetzeskritik“ des Sehers Esra Visio 2 Einleitung
5,21–22
Anrede
5,23–30
Streit
5,31–40
Offenbarung
5,41–6,10
Offenbarung
6,11–29
Schluss
6,30–34
6,32: Gott zählt Esra zu den Gerechten.
Visio 3 Einleitung
6,35–37
Anrede
6,38–59
Streit
7,1–25
Offenbarung
7,26–44
Streit
7,45–74
Offenbarung
7,75–115
Streit
7,116–8,3
7,17f: Esras Mitleid mit den Gottlosen 7,45f: Wer ist es [...], der nicht gesündigt hätte? 7,48: Das böse Herz hat „fast alle“ vom Leben entfernt. 7,64: Klage über die wissend zugrunde gehenden 7,68: Alle sind Sünder. 7,76f: Esra soll sich nicht zu den Verächtern zählen. 7,116–118: Sündenverhängnis seit Adam über allen Menschen; 7,119–126: Esra beklagt die Sünder, denen die Verheißung nicht zuteil wird.
8,3: „Viele sind zwar geschaffen, aber wenige werden leben.“
Monolog
8,4–19
„Fehltritte“ der Menschen.
Gebet
8,20–36
8,31–36: Bekenntnisteil des Gebets
Streit
8,37–62
8,47–49: Esra soll sich nicht den Sündern gleichstellen.
Offenbarung
9,1–22
9,14 Esra bedauert, dass die meisten Engel ermahnt Esra, keine Rettung erfahren. nicht nach der Strafe für die Ungerechten zu forschen.
Schluss
9,23–25
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Das unerfüllbare Gesetz
3.2.2 Die Sünde der Menschen – ein der Verheißung widersprechendes Verhängnis? Im ersten Dialog (Visio 1: 3,1–5,20) beginnt die Anrede von Esra an Gott (3,4–36) mit einem Rückblick auf die Geschichte des Volkes Israel, von Adam und Noah über die Stammväter und David bis zum babylonischen Exil. Er erfolgt unter der Frage der Sündhaftigkeit der Menschen. Nach einem weiteren Rückblick auf die Gesetzgebung am Sinai benennt Esra das Problem des Gesetzesgehorsams: Im Herzen Adams und seiner Nachkommen koexistieren das Gesetz und die Wurzel des Bösen (3,20–22; vgl. zum bösen Samen auch 4,30f). So heißt es (3,20–22): 20 Und du nahmst das böse Herz nicht von ihnen, daß dein Gesetz in ihnen Frucht brachte. 21 Denn der erste Adam trug ein böses Herz, übertrat und ist besiegt, aber auch alle, die von ihm geboren sind. 22 Und es geschah, daß eine Schwäche blieb und das Gesetz, mit dem Herzen des Volkes, [und dies] mit der bösen Wurzel; und was gut ist, entfernte sich und das Böse blieb.
Mehrfach spricht der Seher Esra bei seiner Problemanzeige vom „bösen Herzen“ (3,20.21.22.26; 7,48). Der Engel hingegen spricht nur einmal vom „bösen Herzen“ (4,4), als er Esras Formulierung aufnimmt. Sonst spricht er vom „bösen Trieb“ (7,92). Er vertritt dadurch im Gegensatz zu Esra die Vorstellung einer Macht, der sich der Mensch entweder widersetzen oder der er unterliegen kann. Hinter den vor allem vom Engel verwendeten Ausdrücken malignitas radicis, granum seminis mali und plasmatum cogitamentum malum steht die aus rabbinischen Schriften bekannte aber schon früher bezeugte Vorstellung vom „bösen Trieb“ ([r'h' rc,ye). 13 Der [r'h' rc,ye ist nicht mit Esras Rede vom „bösen Herzen“ gleichzusetzen, sondern stellt lediglich eine Vorstufe des „bösen Herzens“ dar. 14 Aus dem „bösen Trieb“ muss sich nicht notwendig ein „böses Herz“ entwickeln. Er kann auch im „Streit“ gegen das ebenfalls ins Herz gesäte Gesetz unterliegen. Im anschließenden Streit zwischen dem Offenbarungsengel und Esra (4,1–25) lehrt der Engel den Seher Esra, dass die Frage nach dem „Weg des Höchsten“ und dem Grund für das „böse Herz“ (4,4) von den vergänglichen Wesen dieser Welt nicht zu begreifen ist. Diese unbefriedigende Antwort lässt Esra klagen (4,12): „Es wäre besser, wenn wir nicht da wären, als zu kommen und in Gottlosigkeiten zu leben und zu leiden und nicht zu wissen, warum.“ 13 14
Vgl. E. BRANDENBURGER, Adam, 34. Vgl. ebd., 34.
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Die „Gesetzeskritik“ des Sehers Esra
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Seinen Sündenpessimismus spricht Esra auch im folgenden Offenbarungsteil (4,26–52) aus. Er vermutet, dass die Sündhaftigkeit der Menschen schuld daran sein könnte, dass Gott das neue Zeitalter noch nicht anbrechen lässt, und antwortet dem Engel (4,38): „O Herr Herr, aber auch wir sind alle voll von Gottlosigkeit.“ Im zweiten Dialog (Visio 2: 5,21–6,34) werden Gesetzesgehorsam und Sündhaftigkeit des Menschen nicht problematisiert. Esra beklagt Israels Ausgeliefertsein an andere Völker, das in Spannung zu Gottes Erwählung und zur Privilegierung des Volkes Israel durch die Gabe des Gesetzes steht. Der Dialog endet mit dem Hinweis des Engels an Esra (6,32): „Denn gewißlich gehört worden ist deine Stimme bei dem Höchsten. Denn geschaut hat der Starke deine Gradheit und vorhergesehen die Reinheit, die du hast von deiner Jugend.“
Die Solidarität Esras mit den Ungerechten und seine demütige Selbsteinschätzung als Sünder werden sich als Streitpunkt durch den dritten Dialog ziehen. Im dritten Dialog (Visio 3: 6,35–9,25) vergleicht der Engel das Leiden in der gegenwärtigen Welt mit einem engen Pfad, der zur zukünftigen Welt führt (7,3–9). Seit Adams Gebotsübertretung seien die „Zugänge dieser Welt [...] eng und traurig und mühsam“ (7,11f). Der Hinweis auf die breiten Wege in der künftigen Welt ist für Esra jedoch kein Trost. Er macht sich zum Anwalt der Gottlosen, indem er sich um deren Gegenwartsbewältigung sorgt und fragt (7,17f): Herr, Herr, siehe, in deinem Gesetz hast du bestimmt, daß die Gerechten diese Dinge erben sollen, die Sünder aber umkommen. Die Gerechten aber können die Engen (i.e. das Leiden) 15 ertragen, da sie hoffen auf die Weiten; die gottlos handeln aber haben zwar die Engen erduldet, werden aber die Weiten nicht sehen.
Diesen Einspruch für die sogenannten Gottlosen lässt der Engel nicht gelten. Er scheint den Verhängnisgedanken Esras, wonach die Sünde ein allen Menschen inhärentes Übel ist, nicht zu teilen. Den Gottlosen wirft er mehrfach vor, das Gesetz Gottes zu „verachten“ (7,20. 24.37.79). Er versteht wie Esra den Menschen als ein mit Verstand ausgestattetes Geschöpf (vgl. 7,64.72). Im Unterschied zu Esra scheint er dem Menschen jedoch Handlungsfreiheit und dadurch Schuldfähigkeit zuzusprechen. Wenn er von den Gebotsübertretungen der Menschen spricht, hat er bewusst begangene „Tatsünden“ vor Augen (7,21–24). Esra hingegen möchte seine sündenpessimistische Ansicht auf dem Hintergrund einer wesensmäßigen Sündhaftigkeit 15
Eigene Ergänzung.
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des Menschen verstanden wissen. Für Esra dürfte jeder Mensch zwangsläufig und ohne willentliche Missachtung des Gesetzes ein „Verächter“ des Gesetzes sein. Esra und der Engel haben in der Frage, wer zu den Ungerechten gehören wird, aneinander vorbei geredet. Daher muss Esra dem Engel gegenüber deutlicher werden, wie seine Einleitung zu den sündenpessimistischen Äußerungen im zweiten Streit des dritten Dialogs beweist (7,45f): Aber damals, Herr, habe ich gesagt, und sage es nun: Selig die Seienden und die, die halten, was von dir aufgestellt ist. Aber darauf ging meine Frage: Wer ist es denn von den Seienden, der nicht gesündigt, oder wer von den Geborenen, der deinen Bund nicht übertreten hätte?
Das „böse Herz“ der Menschen habe „fast alle“ (!), die erschaffen wurden, vom Leben entfernt (7,48). Während der Engel kein Mitleid für diejenigen zeigt, die kein Heil erlangen werden (7,60), beklagt Esra die Menschen, die „wissend [i.e. mit Verstand] untergehen“ (7,64). Seine Klage mündet in die Einsicht (7,68): „alle Geborenen sind mit Ungerechtigkeiten befleckt und voller Sünden und frevelbeschwert.“ Esra verfügt nicht über eine kohärente Sündenlehre: Mal hält er „fast alle“ für Sünder, mal steigert sich sein Pessimismus zu der Verallgemeinerung, „alle Geborenen“ seien Sünder. Auch in der Confessio Esdrae (8,20–36) redet er einerseits von Menschen, die das Gesetz halten, und stimmt andererseits in die Generalisierung ein, alle Menschen hätten gesündigt. Die Schattierungen, die es in der Erfüllung des Gesetzes gibt, verliert er im Gebet aus dem Blick und erweist sich insofern als ein depressiv gestimmter Mensch, der sich in eine (falsche) Generalisierung hineingesteigert hat. Der angelus interpres wird in der folgenden Offenbarung wieder mit der Unterscheidung von Sündern und Gerechten operieren, die Schattierungen des Gesetzesgehorsams benennen und, einem Therapeuten gleich, dem Beter helfen, die aus seiner Sicht falsche Generalisierung, alle seien Sünder, aufzulösen. Bevor der Engel dem Seher Esra erneut eine Offenbarung zuteil werden lässt (7,78–115), nun eine Offenbarung darüber, was die Seelen der Gerechten und Ungerechten in der Zeit zwischen dem Tod und Gottes neuer Schöpfung erwartet, warnt er Esra, sich nicht zu den Verächtern zu zählen (7,76f): Du aber vermische dich nicht mit den Verächtern, und zähle dich nicht zu denen, die gepeinigt werden. Denn für dich ist ein Schatz von Werken bei dem Höchsten niedergelegt.
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Der Sündenpessimismus des Esra wird hier zum ersten Mal deutlich zurückgewiesen. 16 In seiner Offenbarung erklärt der Engel, welche Stufen der Qual die „Verächter“ erwarten und welche Stufen auf dem Weg zur Ruhe die Gerechten erwarten. In der Beschreibung des Engels wird deutlich, dass einige wenige Menschen, „die die Wege [erg. des Höchsten] bewahrt haben“ (7,88) und ihm „in (sic!) Leben gedient haben“ (7,98), auf dem Weg zu ihrer Ruhe auf ein Leben zurückblicken werden, in dem sie unter Mühen dem Höchsten dienten und in jeder Stunde Gefahren auf sich nahmen, um das Gesetz des Gesetzgebers vollkommen zu beachten (vgl. 7,89). Auf der ersten Stufe zur Ruhe werden sie darauf zurückblicken, „daß sie mit vieler Mühe gekämpft haben, um den ihnen Miterschaffenen (sic!) bösen Sinn zu besiegen, daß er sie nicht verführe vom Leben zum Tode“ (7,92). Aus Sicht des Engels ist der „böse Sinn“ im Herzen des Menschen offensichtlich kein unüberwindbares Hindernis für den Menschen zum Heil zu gelangen. Auch die dritte Stufe auf dem Weg zur Ruhe zeugt davon, dass das Gesetz gehalten werden kann. Die Gerechten werden dort „das Zeugnis sehen, das ihr Schöpfer ihnen ausstellt, weil sie in ihrem Leben das ihnen anvertraute Gesetz gehalten haben“ (7,94). Im nachfolgenden Streit (7,116–8,3) ereifert sich Esra erneut über das Sündenverhängnis, das seit Adams Sünde allen Menschen gilt (7,116–118). In Antithesen stellt er die Heilsverheißung und die Sünde des Menschen gegenüber. Wieder zählt er sich durch den Gebrauch des „wir“ zu den Sündern und ignoriert damit die wiederholte Beteuerung des Engels, Esra werde das Heil erlangen. Esra klagt in 7,119–126: Denn was nützt es uns, daß uns verheißen ist unsterbliche Zeit, wir aber sterbliche Werke getan [...], und daß bewahrt sind Kammern von Genesung und Sicherheit, wir aber übel gewandelt sind, und daß die, die sich rein erhalten haben, des Höchsten Glanz beschirmen soll, doch wir sehr schlimme Wege gegangen sind [...]. Denn wir haben im Leben nicht daran gedacht, als wir Ungerechtigkeit übten, was wir nach dem Tode erleiden sollten.
Wie zuvor teilt der Engel nicht Esras Mitleid für diejenigen, die das Heil nicht erlangen werden (7,131). Mit einem freien Zitat von Dtn 30,19 17 erinnert er (7,129) an Moses Worte „Erwähle dir das Leben, auf daß du lebest“. Wieder zeigt sich, dass der Engel von der Handlungsfreiheit des Menschen ausgeht. Der unbarmherzigen Theologie des Engels begegnet Esra durch die Aufzählung von positiven Gottesattributen, deren er gewiss ist (7,132–139). 16
Vgl. die Zurückweisung zuvor in 6,32 und danach in 8,49. „Das Leben und den Tod habe ich dir vorgelegt, den Segen und den Fluch! So wähle das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen“. 17
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Er wisse, dass Gott der „Barmherzige“, der „Gnädige“, der „Geduldige“, der „Geber“ und der „Erbarmungsreiche“ genannt werde. Würde Gott sich nicht durch diese Eigenschaften auszeichnen, dann „würde (sic!) vielleicht von der zahllosen Menge nur ganz wenige übrig bleiben.“ In diesem Streit behält der Engel das letzte Wort. Er lässt sich nicht auf das Mitgefühl mit den sogenannten Ungerechten ein, sondern beendet den Redegang mit den Worten (8,3): „Viele zwar sind geschaffen, aber wenige werden leben.“ Eingeleitet durch einen inneren Monolog wendet sich Esra im Gebet an Gott (8,4–19). Er erinnert Gott daran, mit welcher Mühe er, der Schöpfer, sein Geschöpf erschaffen, schließlich durch das Gesetz erzogen und durch die Weisheit belehrt hat. Wie Hiob (Hi 10,8) appelliert er an den Schöpfer (4Esr 8,14): „Wenn also du leichthin das verdirbst, was mit solchem Mühen auf deinen Befehl gebildet wurde, wozu hast du es geschaffen?“
Angesichts der „Fehltritte“ der Menschen auf Erden fürchtet Esra den Urteilsspruch Gottes und hebt zu einer Fürbitte im Stil eines Bußgebets an (8,20–36). Im „Bekenntnisteil“ des Gebets heißt es (8,31–36) : 18 18 Aufgrund der Textgeschichte von 4. Esra ist es unmöglich, einen ursprünglichen Text zu rekonstruieren (vgl. A.F.J. KLIJN, Die Esra-Apokalypse (IV. Esra), XIII.XIV). Ursprünglich war 4. Esra in aramäisch oder hebräisch verfasst (vgl. A.F.J. KLIJN, Die Esra-Apokalypse, XIII). Darauf folgten griechische Textvarianten, auf welche vier Hauptübersetzungen (vgl. A.F.J. KLIJN, Die Esra-Apokalypse, VIII.XIV) mit je eigener Textgeschichte folgten, die von derselben griechischen Textfamilie abhängig sind: lateinischer Text, syrischer Text, äthiopischer und georgischer Text. BRUNO VIOLET hatte die verschiedenen Texte, die laut A.F.J. KLIJN als selbständige Rezensionen zu betrachten sind, in einer Synopse dargestellt (vgl. A.F.J. KLIJN, Die Esra-Apokalypse, VII.VIII.XIII). Für die Ausgabe des deutschen Textes durch A.F.J. KLIJN hingegen „wurde beschlossen, vom lateinischen Text auszugehen“ und die Varianten in den anderen Übersetzungen in einem Apparat anzuzeigen, weil der lateinische Text der bekanntest Text aus 4. Esra sei, „der bestimmt ein guter Repräsentant der zugrunde liegenden griechischen Textfamilie“ genannt werden könne (vgl. A.F.J. KLIJN, Die Esra-Apokalypse, VIII). Zur Herstellung eines lateinischen Textes wurden nur Handschriften herangezogen, die einen „langen Text“ aufweisen (vgl. A.F.J. KLIJN, Der lateinische Text der Apokalypse des Esra. Mit einem Index Grammaticus von G. Mussies, TU 131, Berlin 1983, 13). „Die Handschriften mit dem ganzen Text fallen in zwei Gruppen auseinander, eine sogenannte französische Gruppe (F) und eine spanische (Y)“ (A.F.J. KLIJN, Der lateinische Text, 16). „Die Confessio Esrae hat ihre eigene Textgeschichte. Hier trifft man wieder eine spanische Gruppe (Y) mit den Handschriften M N E P V L. […] Weiter gibt es eine französische Gruppe (F), die auseinanderfällt in F I mit den Handschriften A S und in F II mit dem Text, wie er in den liturgischen Schriften gefunden wird“ (A.F.J. KLIJN, Der lateinische Text, 16). In der Ausgabe des lateinischen Textes von 4. Esra bietet A.F.J. KLIJN für die Confessio Esrae daher den Text in zwei Spalten: links einen Text der französischen Gruppe und rechts einen Text der spanischen Gruppe (vgl. A.F.J. KLIJN, Der lateinische Text, 57–61 samt den beiden Anm. 20, S. 57). In der Ausgabe der deutschen Übersetzung nach dem lateinischen Text beschränkt sich A.F.J. KLIJN bei der Confessio Esrae auf eine einzige deutsche Übersetzung. Er legt dabei den Text der spanischen Gruppe zugrunde mit der Begründung: „In der Übersetzung der Confessio Esrae wird dem Text gefolgt, wie dieser in den Handschriften MNE usw. gefunden wird, weil
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31 Quoniam nos et patres nostri mortalibus Quia nos et qui ante nos corruptum locum moribus egimus, tu autem propter nos egimus, tu enim propter nos, qui peccavimus peccatores misericors vocatus es. misericors vocatus es. Denn wir und die vor uns haben Werke der Vergänglichkeit getan, du aber bist wegen uns, die gesündigt haben, der Barmherzige genannt worden. 32 Si enim desideraveris ut nostri miserearis, Nostri enim qui non habemus facta bona, si tunc misericors vocaberis, nobis enim non desideraveris misereri, tunc miserator vocaberis, habentibus opera iusticiae. Denn wenn du unser dich erbarmen willst, die wir keine guten Werke haben, so wirst du der Erbarmer genannt werden. 33 Iusti enim, quibus sunt operae multae quia iusti, quibus sunt opera multa reposita repositae apud te, ex propriis operibus recipi- apud te, de suis operibus habent mercedem recipere. ent mercedem. Denn die Gerechten, die viele Werke bei dir liegen haben, können aus ihren eigenen Werken Lohn empfangen. 34 Quid est enim homo, ut ei indigneris, aut Aut quid est homo, ut ei irasceris vel genus genus corruptibile, ut ita amariceris de ipso? corruptum, ut indigneris eis? Oder was ist denn der Mensch, daß du ihm zürnest, oder das vergängliche Geschlecht, daß du darüber grollest? 35 In veritate enim nemo de genitis est qui non Enimvero nemo est eorum qui nati sunt qui impie gessit, et de confitentibus qui non non iniquitatem fecerit, neque horum qui deliquit. increverunt qui non peccaverit. Denn in Wahrheit, von den Geborenen ist keiner, der kein Unrecht getan hat und von den Gewordenen keiner, der nicht gesündigt hat. 36 In hoc enim adnuntiabitur iusticia tua et In hoc enim ostendetur bonitas tua, Domine, bonitas tua, Domine, cum misertus fueris eis quando misertus fueris illorum qui non habent qui non habent substantiam operum bonorum. substantiam operum. Darin eben wird deine Güte, Herr, gezeigt, wenn du derer dich erbarmt (sic!), die keinen Vorrat von Werken haben.
Der Engel reagiert auf das Gebet, indem er Esras Bitte an Gott, nicht auf die Sünden seines Volkes zu sehen, zynisch aufgreift. Esras Bitte, die auf ein
diese am meisten mit den anderen Übersetzungen übereinstimmen“ (A.F.J. KLIJN, Die EsraApokalypse, 67, Anm. 20, zweiter Apparat; vgl. auch A.F.J. KLIJN, Die Esra-Apokalypse, XIV, Anm. 18).
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barmherziges Hinwegsehen über die Sünden zielte, verdreht der Engel zur Bestätigung eines unbarmherzigen Hinwegsehens über die Sünder (8,37f): Einiges hast du recht gesagt, und gemäß deinem Worte wird es auch geschehen. Denn ich werde nicht wirklich denken an die Schöpfung derer, die gesündigt haben oder an den Tod oder Gericht oder Verderben.
Der Engel bleibt bei seiner Gleichgültigkeit gegenüber den sogenannten Ungerechten. Er vergleicht sie mit nicht aufgehender Saat. Über diesen Vergleich des Engels empört sich Esra mit einem Appell an Gott als Schöpfer (8,44): Der Mensch, der von deinen Händen geschaffen ist, und nach deinem Bilde gemacht ist, weil er ähnlich ist, um dessentwillen du alles geschaffen hast – (und) hast du ihn dem Samen des Landmannes gleichgestellt?
Den Streit (8,37–62) führt der Engel durch einen Machtspruch 19 zu Ende, mit dem er seine vorige Ermahnung an Esra, sich nicht zu den Sündern zu zählen, nochmals bekräftigt und Lohn und Strafe für Gerechte und Sünder kommentiert. Noch einmal weist er Esra zurück, betont aber in dieser letzten Zurückweisung, dass Esra mit seinem Sündenpessimismus eine Demut gezeigt hat, wie sie für ihn angebracht ist (8,47–49): Du aber hast dich selbst oft den Ungerechten gleichgestellt. Nicht so! Aber gerade darum wirst du bewundernswert vor dem Höchsten, weil du dich gedemütigt hast, wie es dir ziemt, und dich nicht zu den Gerechten gerechnet hast, auf daß du um so mehr geehrt bist.
Zum Lohn der Gerechten zählt der Engel, dass „die Wurzel [erg. des Bösen]“ von ihnen versiegelt ist (8,53). Die Strafe für die Ungerechten ist nach Ansicht des Engels verdient, weil auch die Ungerechten Freiheit besaßen (8,56), das Gesetz aber dennoch nicht beachtet haben (8,56), sondern undankbar gegen den Schöpfer waren (8,60). In der folgenden Offenbarung über die Zeichen der Endzeit (9,1–22) besteht der Engel wieder auf der Schuldfähigkeit und Freiheit der Frevler und ermahnt Esra, nicht weiter danach zu forschen, wie diese bestraft werden. Während Esra weiterhin bedauert, dass die meisten keine Rettung erfahren werden (9,15), stellt der Engel in gewohnter Gleichgültigkeit fest, „die Menge, die nutzlos geboren ist“, werde zugrunde gehen (9,22). Der Engel bemerkt, zur Zeit der Schöpfung habe niemand Gott widersprochen (9,18). Ob der Engel sich mit dieser Äußerung auf die Einwände Esras zurückbe19
Dieser Machtspruch führt allerdings noch nicht die Wende herbei, sondern bereitet sie vor: Die eigentliche Wende geschieht mit dem Übergang von Dialogen zu Visionen. Esra erhält mit diesem Übergang eine neue Rolle.
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zieht oder die Sünde der Menschen als Einwand gegen Gott wertet, lässt sich nicht eindeutig sagen. Wir sahen, dass in 4. Esra mit den beiden Dialogpartnern, Esra und dem Engel Uriel, zwei Charaktere aufeinandertrafen, die sich in ihrer Einstellung zur Erfüllbarkeit des Gesetzes, zur Sündhaftigkeit des Menschen und zur Schuldfähigkeit des Menschen konträr positionieren. Der strenge, den sogenannten „Verächtern“ des Gesetzes gegenüber bisweilen zynisch eingestellte Engel ergreift zunächst die Rolle des orthodoxen, unbarmherzigen Lehrers. Dabei besteht er auf der Schuldfähigkeit des Menschen und der Erfüllbarkeit des Gesetzes und behält im Streit mit Esra das letzte Wort. Aber gerade in diesem letzten Wort gibt er Esra teilweise recht: Aus der Perspektive des Menschen hat Esra recht getan, sich zu den Sündern zu stellen. Esra hingegen zeigt sich in Bezug auf die Sündhaftigkeit des Menschen und die Erfüllbarkeit des Gesetzes als pessimistisch, womit er eine unorthodoxe Ansicht vertritt. Er wirkt depressiv und unzugänglich für die belehrenden Worte des Engels, zeigt sich im Gegenzug aber empathisch für die Sünder, denen die Verdammnis droht. 3.2.3 Literarische und liturgische Traditionen hinter dem Esragebet Zu Esras Bekenntnisaussagen über die Sündhaftigkeit des Menschen (8,31.34.35) gibt es verwandte Aussagen in der jüdischen Tradition. Ungewöhnlich ist die Kombination von Fürbitte (8,26–30) und Bekenntnis (8,31). 20 Der Vers 4Esr 8,31, der den Bekenntnisteil des Gebetes eröffnet, hat mit Dan 9,4–6 und Ps 106,6 alttestamentliche Vorläufer. 21 In Dan 9,4–6 heißt es: Und ich betete zum HERRN, meinem Gott, und ich bekannte und sprach: Ach, Herr, du großer und furchtbarer Gott, der Bund und Güte denen bewahrt, die ihn lieben und seine Gebote halten! 5 Wir haben gesündigt und haben uns vergangen und haben gottlos gehandelt, und wir haben uns aufgelehnt und sind von deinen Geboten und von deinen Rechtsbestimmungen abgewichen. 6 Und wir haben nicht auf deine Knechte, die Propheten, gehört, die in deinem Namen zu unseren Königen, unseren Obersten und unseren Vätern und zum ganzen Volk des Landes geredet haben. 22
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Vgl. M.E. STONE, Fourth Ezra, 271. Ebd., 274. 22 Übersetzung nach: Die Heilige Schrift. Aus dem Grundtext übersetzt, Elberfelder Bibel. 21
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Und Ps 106,6 lautet: „Wir haben gesündigt samt unseren Vätern, haben Unrecht getan, haben gottlos gehandelt.“ 23
Das Sündenbekenntnis in V. 35 erinnert an Spr 20,9 und Pred 7,20. Es scheint die Basis für die griechische Esraapokalypse 5,27 gewesen zu sein.24 Das Motiv der Nichtigkeit des Menschen gegenüber Gottes Macht, wie es in 4Esr 8,34 zum Ausdruck kommt, ist typisch für Gebete.25 Es ist aus Ps 8,4 und Hi 7,17 bekannt, taucht in den HôdƗMôt aus Qumran auf (siehe 3.5.1.1) und später in 2Bar 48,14.17 sowie in der griechischen Esraapokalypse 1,17.26 Bußgebete, die dem Gebet Esras vergleichbar sind, finden sich in Esr 9, Neh 9 und Dan 9.27 Verglichen mit Gebeten aus dem Talmud könnte man das Esragebet als Bekenntnis bezeichnen, das zur größeren Klasse der Bittgebete in Zeiten der Not gehört. 28 Bei der Frage nach der Herkunft des Esragebets als Ganzes sind prinzipiell zwei Varianten denkbar: Das Gebet Esras ist als Ganzes ein vormals eigenständiges Gebet, das vom Autor in sein Werk integriert wurde oder es wurde erst für den Kontext verfasst. D. FLUSSER urteilt zu Recht, dass die erste Variante, ein vormals eigenständiges Gebet, nicht ausgeschlossen werden kann, aber sehr unwahrscheinlich ist. 29 Das Gebet ist kein Zitat eines synagogalen Gebets, das von der rabbinischen Tradition überliefert wurde. Der Vergleich mit anderen jüdischen Schriften aus der Zeit des Zweiten Tempels ergibt laut D. FLUSSER den negativen Befund, dass sich auch dort keine Zitate aus Gebeten finden, die in der Synagoge gebetet und von der rabbinischen Tradition überliefert wurden. 30 Das kleine Gebet in 2Makk 1,2–5 bildet dabei eine Ausnahme. 31 D. FLUSSER folgert, dass die Autoren von 2. Baruch, 4. Esra und dem Liber Antiquitatum Biblicarum keine Gelegenheit hatten, die übli-
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Übersetzung nach: Die Heilige Schrift. Aus dem Grundtext übersetzt, Elberfelder Bibel. Ebd., 275. 25 Ebd., 275. 26 Vgl. hierzu abgesehen vom Hinweis auf die HôdƗMôt M.E. STONE, ebd., 275. 27 Vgl. ebd., 271. M.E. STONE führt ebd., Anm. 1 versehentlich Esra 8 statt Esra 9 auf. 28 Vgl. ebd., 271. 29 D. FLUSSER, Psalms, Hymns and Prayers, in: Michael E. Stone (Hg.), Jewish Writings of the Second Temple Period. Apocrypha, Pseudepigrapha, Qumran Sectarian Writings, Philo, Josephus, CRI / publ. under the auspices of the Foundation Compendia Rerum Iudaicarum ad Novum Testamentum, Amsterdam/Assen 1984, 551–577, 576: „The possibility cannot be excluded that the ‘Confession of Ezra’ stems from an originally independent Jewish prayer or that the Confession itself was once accepted in unknown Jewish circles, but this seems to me very improbable“. 30 Vgl. ebd., 576. 31 Vgl. ebd., 576. 24
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chen gottesdienstlichen Gebete zu zitieren. 32 Das Fehlen solcher Zitate erklärt er dadurch, dass die synagogalen Gebete mündlich gewesen seien und dass es verboten gewesen sei, sie aufzuschreiben. 33 Es ist kein älteres Gebet gleichen Wortlauts bekannt, das der Verfasser von 4. Esra aus der Tradition übernommen haben könnte. Das Gebet wurde später literarisch isoliert überliefert, fand als Canticum vielfach Verwendung und erscheint in zwei mittelalterlichen Rezensionen aus dem 9. und 11. Jahrhundert. 34 Diese Tatsache beweist jedoch nicht, dass sich das Esragebet einer älteren Tradition verdankt, die unabhängig von 4. Esra Eingang in spätere Handschriften fand. Vielmehr ist mit einem Exzerpt des Esragebets in den mittelalterlichen Schriften zu rechnen. Bewiesen scheint allein die Popularität des Gebets im jüdischen und christlichen Kontext, nicht die Herkunft von einem alten jüdischen Gebet. Wir dürfen mit der zweiten Variante rechnen, dass das Gebet für den Kontext geschrieben wurde. G. MAYER 35 kommt nach der Untersuchung von Gebeten in alttestamentlichen Apokryphen zu dem Ergebnis, dass sie für den Kontext geschrieben sind. Das Esragebet ist durch inhaltliche Bezüge gut mit seinem literarischen Kontext verbunden. Mit dieser Beobachtung ist nicht erwiesen, dass das Gebet für den Kontext verfasst wurde. Der Kontext könnte auch an das Gebet angepasst worden sein. Aufgrund der Untersuchungen von D. FLUSSER und G. MAYER darf aber eher angenommen werden, dass es sich auch bei der Confessio Esdrae um ein Gebet handelt, das für den Kontext geschaffen wurde. Die Einbindung in den Kontext ist durch mehrere Stellen hergestellt. So findet sich, wie wir sahen, Esras Pessimismus hinsichtlich der Fähigkeit des Menschen, das Gesetz zu halten, nicht nur im Esragebet, sondern auch in 4Esr 7,45f.48 und 7,67f. 4Esr 8,31 scheint zum Teil eine Kombination aus 7,119.122 zu sein 36 und V. 34 steht in Bezug zu 4,24 und 4,11. 37 In 4Esr 7,65f begegnet dieselbe Erwähnung von zahmen und wilden Tieren wie in 8,29. 38 Das Studium der Tora, ebenfalls in 8,29 angesprochen, ist laut 4Esr 13,54 eine von Esras Tugenden. 39 Die Frage nach Traditionen hinter dem Esragebet berührt die Frage nach dem „Sitz im Leben“. Neben einer literarischen Abhängigkeit ist insbesondere im Fall von Gebeten auch eine liturgische Tradition zu bedenken. Das 32
Vgl. ebd., 577. Vgl. ebd., 577. 34 Vgl. J. SCHREINER, 4. Esra-Buch, 292 und 365 Anm. 20. 35 Vgl. G. MAYER, Die Funktion der Gebete in den alttestamentlichen Apokryphen, in: W. Dietrich u.a. (Hg.), Theokratia. 2 (FS K.H. Rengstorf), Leiden 1973, 16–25. 36 Vgl. M.E. STONE, Fourth Ezra, 274. 37 Vgl. ebd., 275. 38 Vgl. ebd., 274. 39 Vgl. ebd., 274. 33
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Gebet entstammt vermutlich nicht einer einzigen Tradition, sondern ist durch eine Vielzahl von Traditionen geprägt. Zum einen lassen sich, wie bereits aufgezeigt, vielfach Bezüge zu Texten des Alten Testaments herstellen. Zum anderen hat D. BOYARIN 40 festgestellt, dass man innerhalb eines bemerkenswert kurzen und kompakten Abschnittes von 4. Esra (7,102 bis 8,36) beinahe alle Elemente des ältesten bekannten Bußgottesdienstes vorfindet. Er hält es nicht für unwahrscheinlich, dass der Apokalyptiker ein liturgisches Modell aus dem Bußgottesdienst vor seinem inneren Auge hatte, als er den Abschnitt komponiert hat. Seine Analyse gewinnt an Plausibilität durch den Hinweis, dass die Visionen und Gebete Esras alle im Kontext des Fastens (vgl. 5,13.20; 6,31.35) stehen, was seinen Ursprung ebenfalls in der Bußliturgie, den Selihot, hat. Da in 4. Esra die Krisenerfahrung der Tempelzerstörung 70 n.Chr. aufgearbeitet wird und die Frage nach der Gültigkeit von Gottes Verheißung an Israel gestellt wird, dürfen wir davon ausgehen, dass der Sündenpessimismus in 4. Esra ein echt empfundener Pessimismus ist und nicht etwa eine bloße Demutsfloskel. 41 Dieser Pessimismus, der von der eigenen Unvollkommenheit überzeugt ist, wird allerdings im Gebet durch die Hoffnung aufgebrochen, trotz der eigenen Unwürdigkeit von Gott gerettet zu werden. Zum einen lässt sich die echte persönliche Betroffenheit Esras aus dem Anlass des Gebets erahnen, der Zerstörung des Jerusalemer Tempels und der Heilsungewissheit für das Volk Israel. Zum anderen ist es auch über die Gattungsfrage möglich, sich dem Identifikationsgrad des Beters mit dem vorgetragenen Sündenpessimismus zu nähern. Die Ich-Aussagen im Gebet haben einen hohen Grad an Authentizität. Das „Ich“ wirkt performativ. Ritualdynamisch wird der Sünde allein durch den Vollzug des Gebets eine Realität eingeräumt. 42
3.3 Die Position des Verfassers zu Esras Gesetzeskritik Die Position des Verfassers zu Esras Gesetzeskritik
Während vordergründig leicht festzustellen ist, dass der Verfasser den Engel nach dem Streit mit Esra Recht behalten lässt, ist es nicht gleich offensichtlich, dass der Verfasser tatsächlich und ausschließlich auf Seiten des Engels steht. Ein Blick auf verschiedene Interpretationen zur Verfasserposi40
Vgl. D. BOYARIN, Penitential Liturgy in 4 Ezra, 30. Andere Arten der Aufarbeitung der Tempelzerstörung hat HEINZ-MARTIN DÖPP in seiner Arbeit „Die Deutung der Zerstörung Jerusalems und des Zweiten Tempels im Jahre 70 in den ersten drei Jahrhunderten n.Chr., TANZ 24, Tübingen 1998“ herausgearbeitet. 42 Vgl. Paulus’ Warnung in 1Kor 8 vor Götzendienst, mit dem man durch die bloße rituelle Beteiligung den Götzen, an die man nicht glaubt, eine Realität gibt. 41
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tion zeigt, dass die hier vertretene Interpretation von E. BRANDENBURGER und W. HARNISCH, wonach sich die Verfasserposition hinter den Aussagen des Engels verbirgt, nicht die einzige ist (3.3.1). Obwohl sich der Verfasser auf der Seite des Engels positioniert, könnten darüber hinaus auch reale Stimmen hinter der Esrafigur, die der Gesetzeskritik möglicherweise einen „Sitz im Leben“ gegeben haben, Sympathie beim Verfasser hervorgerufen haben (3.3.2). 3.3.1 Die Verfasserposition hinter den Aussagen des Engels Uriel Ein Blick auf die Forschungsgeschichte zur Esraapokalypse zeigt, dass die Frage, ob sich die Position des Verfassers hinter den Äußerungen des Sehers oder denen des Deuteengels verbirgt, die Exegeten schon lange beschäftigt hat. Exegeten von L. COUARD bis E. BRANDENBURGER stellten unterschiedliche Thesen zur Position des Verfassers auf. Dabei wurden folgende drei Verortungen der Verfasserposition prominent: 43 Die Position des Verfassers verbirgt sich (a) hinter Esra, (b) sowohl hinter den Aussagen Esras als auch hinter denen des Engels Uriel und schließlich (c) hinter Uriels Äußerungen. Die erste These, die Verfasserposition verberge sich hinter Esra (a) scheint schon allein deshalb naheliegend, weil Esra eine im Judentum angesehene Prophetengestalt ist, die sich dem Verfasser und seinen Lesern als Identifikationsfigur anbietet. Diese These wurde von A.P. HAYMAN kritisiert, der beanstandet, dass die Wahl von Esra als ein Sprachrohr sehr problematisch sei, wenn der Autor einen häretischen Gesichtspunkt präsentieren wollte. 44 Eine stärker auf die Psyche des Verfassers bedachte Exegese, die die zweite These (b) vertrat, wollte die Verfasserposition aus den Gesamtaussagen der Apokalypse ermitteln. Sie deutete den Dialog als Projektion des Widerstreits zwischen Erfahrung und Glaube beziehungsweise Skepsis und Hoffnung im Bewusstsein des Apokalyptikers. 45 Auch in der neueren englischsprachigen Exegese findet diese zweite Stufe der Forschungsge43 Vgl. den forschungsgeschichtlichen Überblick bei W. HARNISCH, Verhängnis und Verheißung der Geschichte. Untersuchungen zum Zeit- und Geschichtsverständnis im 4. Buch Esra und in der syrischen Baruchapokalypse, FRLANT 97, Göttingen 1969, 60–64; siehe dazu auch E. BRANDENBURGER, Verborgenheit, 148–154. 44 A.P. HAYMAN, The Problem of Pseudonymity in the Ezra Apocalypse, JSJ 6, 1975, 47–56. 45 Vgl. E. KAUTZSCH (Hg.), Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments. Bd. 2, Die Pseudepigraphen des Alten Testaments, Neudruck der Ausgabe 1900, Tübingen 1921, 335ff; J. KEULERS, Die eschatologische Lehre des vierten Esrabuches, Bst 20, H. 2 und 3, Freiburg 1922; J. KÖBERLE, Sünde und Gnade im religiösen Leben des Volkes Israel bis auf Christum. Eine Geschichte des vorchristlichen Heilsbewußtseins, München 1905.
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schichte (b) Zuspruch. So geht B.W. LONGENECKER davon aus, dass der Prozess, den Esra durchläuft, sein Streit mit Uriel, seine Bekehrung zur Position des Engels und seine bessere Einsicht den eigenen Dialog des realen Autors mit sich selber spiegelt und die Art und Weise wie sich sein eigenes Denken veränderte und entwickelte. Die sich aus der Dialogform ergebenden Interpretationsschwierigkeiten hat als erster W. MUNDLE erkannt. 46 Er differenzierte stärker zwischen den Fragen des Sehers und den Antworten des Offenbarers und brachte dabei zu Recht das sachliche Übergewicht der Weisungen des Engels zur Geltung. Ihm war bewusst, dass sich die Position des Verfassers vor allem vom Ende einer Erzählung her erschließt. Daher wies er darauf hin, dass das letzte Wort, das der Verfasser den Lesern zu sagen hat, aus dem herauszuhören ist, „was den Fragen des Sehers als Gegenäußerung der himmlischen Welt gegenüber steht“. 47 W. MUNDLE erwies sich einerseits noch der traditionellen Exegese verbunden, bahnte aber bereits These (c), der frühen Position von E. BRANDENBURGER den Weg, wonach sich die Verfasserposition (vor allem) hinter den Aussagen des Engels findet. Diese Einschätzung gewann E. BRANDENBURGER aus der Beobachtung, dass der Seher unaufhörlich durch seinen himmlischen Gesprächspartner korrigiert oder in die Schranken gewiesen wird. Mit der Esrafigur verbindet sich die Verfasserposition erst zum Zeitpunkt der Wende in Visio 4, als sich die Gegenüberstellung von Esra und dem Engel auflöst und Esra die Position des Engels zu seiner eigenen macht. W. HARNISCH hat sich der Position E. BRANDENBURGERS angeschlossen. Wenn man sich methodisch dieser Position anschließt und in den Aussagen des Engels die Position des Verfassers annimmt, muss man so konsequent sein, auch die Revision ernst zu nehmen, die der Engel in seiner letzten Äußerung zu Esras Sündenpessimismus vornimmt: „Aber gerade darin bist du bewundernswert vor dem Höchsten, dass du dich gedemütigt hast, wie es dir geziemt, und dich nicht unter die Gerechten gerechnet hast. So wirst du noch mehr geehrt werden“ (4Esr 8,28f). Esras sündenpessimistische Aussagen werden mit dieser Aussage im Nachhinein gerechtfertigt. Sie stimmen objektiv nicht, waren subjektiv aber notwendig.
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Vgl. W. MUNDLE, Das religiöse Problem des IV. Esrabuches, ZAW 47, 1929, 222–249. Vgl. zum letzten Wort auch W. HARNISCH, „Der Prophet als Widerpart und Zeuge der Offenbarung: Erwägungen zur Interdependenz von Form und Sache im 4. Buch Esra“, in: David Hellholm (Hg.), Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East, Proceedings of the International Colloquium on Apocalypticism, Uppsala, August 12–17, 1979, Tübingen 1983, 461– 493. 47
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3.3.2 „Sitz im Leben“ der gesetzeskritischen Stimmen hinter der Esrafigur Wenn wir somit annehmen, dass Esras Zweifel in den Augen des Verfassers legitim, wenn auch nicht sachlich gerechtfertigt sind, so ist es unwahrscheinlich, dass es sich bei Esras Zweifeln um einen rein innerlichen Widerstreit in der Psyche des Verfassers handelt. Es stellt sich vielmehr die Frage nach der historischen Einordnung der kritischen Stimmen hinter der Stimme Esras. Durch seine These, der Verfasser „polemisiere“ 48 mit seiner Schrift gegen ein „ganzes Seinsverständnis“, 49 warf E. BRANDENBURGER die Frage nach den Denkströmungen auf, mit denen sich der Verfasser auseinandergesetzt haben mag. Aber diese bleiben undeutlich. W. HARNISCH musste feststellen, dass sich „über den geschichtlichen Hintergrund der kritischen Position, als deren Sprecher Esra auftritt [...] kaum etwas Sicheres ausmachen“ 50 lässt. In den Klagereden Esras findet er eine gewisse Nähe zur Skepsis, die am drastischen Eingreifen Gottes in die Geschichte zweifelt. 51 W. HARNISCH 52 schließt sich dabei E. BRANDENBURGERS Ergebnis an, wonach die „Front“, die hinter den Worten des Visionärs steht, „bereits stark vom Verhängnisgedanken bestimmt“ 53 ist, der alttestamentlichem Denken noch fremd ist und am ehesten „bestimmten Partien in Vit. Ad. bzw. Apok. Mos“ entspricht, „die sich gnostischem Selbstverständnis nähern“. 54 Die religionsgeschichtliche Zuordnung eines solchen vom Verhängnisgedanken bestimmten Denkens zur Gnosis ist freilich problematisch. 4. Esra bejaht die Schöpfung so sehr, dass er sich nach deren Vollendung in einer neuen Welt sehnt. Die Frage nach den Stimmen hinter der Esrafigur hat sich nun bei W. HARNISCH erneut mit der Frage nach der Verfasserposition verbunden. So korrigierte W. HARNISCH, der die Verfasserposition bekanntlich grundsätzlich hinter der Figur des Engels sah, E. BRANDENBURGER mit den Worten: Man wird freilich nicht übersehen dürfen, daß die Position, mit der sich der Verfasser von 4Esr auseinandersetzt, eine für ihn selber (bzw. seine Gemeinde) äußerst naheliegende Einstellung repräsentiert. Sie wird keineswegs aus der Distanz gesichtet und in überlegener Polemik abgewiesen, sondern kommt als Möglichkeit eigenen Existenzverständnisses in den Blick. Der Verfasser ist durch das Selbstverständnis der Skep48
Vgl. E. BRANDENBURGER, Adam, 39, Anm. 1. Vgl. ebd., 30. 50 Vgl. W. HARNISCH, Verhängnis, 65. 51 Ebd., 65. 52 Vgl. ebd., 66f. 53 E. BRANDENBURGER, Adam, 36. 54 Ebd., 36, Anm. 2. 49
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sis, dem er sich konfrontiert sieht, offensichtlich selber zutiefst angefochten und bedrängt. 55
W. HARNISCH begründet diese Annahme mit der Beobachtung, dass der Verfasser „seinem Widerpart innerhalb der gesamten Schrift einen unverhältnismäßig breiten Raum zubilligt und die Gestalt des Sehers immer wieder zu Wort kommen läßt (vgl. die wiederholten Anklagen Esras, die auf den ersten Blick eine dominierende Stellung einzunehmen scheinen und die Gegenargumente des angelus interpres fast überdecken).“ 56 Auch J. SCHREINER und R. BAUCKHAM 57 gehen von einer Betroffenheit des Verfassers durch Esras Zweifel aus. J. SCHREINER schreibt über den Verfasser: „Er berichtet aber nicht über ihn (erg. Esra), sondern spricht mit dem Ich des Sehers. Dadurch zeigt er, wie sehr er [...] das Problem ernst nimmt und seine ganze Schwere mitempfindet. [...] Seine eigene Position, die ihm gewiss nicht leicht fällt, kleidet er zunächst in die Reden des Engels Uriel“. 58 Darüber hinaus spricht eine zweite Beobachtung für die Annahme, dass der Verfasser eine gewisse Sympathie für die Gedanken hegt, die er Esra äußern lässt: Esras Gedanken sind weitaus innovativer als die konventionellen Antworten des Engels, die eher zurechtweisen als überzeugen. 59 Schließlich sei noch einmal auf den in bisherigen Auslegungen übersehenen Schlussakzent in der letzten Stellungnahme des Engels zum Sündenpessimismus verwiesen: Aus menschlicher Perspektive ist der Sündenpessimismus des Esra gerechtfertigt und verschafft ihm durch seine Demut Ansehen bei Gott – obwohl dieser Pessimismus objektiv ungerechtfertigt ist. Dasselbe Phänomen, dass ein jüdischer Verfasser einer unorthodoxen Position, 60 der er im Grunde widerspricht, breiten Raum gewährt und sie gut argumentierend auftreten lässt, ist uns bereits in Josephus’ Simriszene begegnet. Während in den Antiquitates des Josephus Simri die Gelegenheit zum Reden gegeben wird, um die Dramatik zu steigern, und wahrscheinlich nicht, um Sympathie mit dem Redenden zu erzeugen, ist die Frage der Sympathieverteilung des Verfassers auf die Dialogpartner in 4. Esra weniger klar. Die Dialogform, in der sich Rede und Gegenrede abwechseln, erschwert die Einschätzung der Verfasserposition.
55
W. HARNISCH, Verhängnis, 67, Anm. 2. Ebd., 67, Anm. 2. 57 Vgl. R. BAUCKHAM, Apocalypses, 164. 58 Vgl. J. SCHREINER, 4. Esra-Buch, 303. 59 Ebd., 303. 60 Anders A.P. HAYMAN: Die „häretischen“ Ansichten, die in Esras Mund gelegt werden, sind, wie A.P. HAYMAN, Pseudonymity, 52, behauptet, „perfectly acceptable in the mouth of an orthodox Jew. They are neither heretical nor gnostic“. 56
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Interpretation
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Der Verfasser steht zwar theologisch auf der Seite des Engels. Er räumt jedoch Esra viel Platz in seiner Schrift ein und bietet ihn seinen Lesern als Identifikationsfigur an. Von den innovativen Argumenten, die er Esra aussprechen lässt, ist er wahrscheinlich selber nicht unberührt. Wahrscheinlich hegt er ebenso Sympathie für Esra wie am Ende der Engel, wenn er dessen Sündenpessimismus als Ausdruck menschlicher Demut akzeptiert. Vielleicht bekämpft der Autor sogar bei seiner Zurückweisung der Gesetzeskritik einen Teil von sich selbst.
3.4 Interpretation: Zurückweisung der „Gesetzeskritik“ eines skeptischen Apokalyptikers Interpretation
Was wir intuitiv bereits wissen, bestätigt uns die Narratologie: Eine Erzählung ist in der Lage beziehungsweise gezwungen, ein abschließendes Urteil zu fällen. 61 Am Ende des geschlossenen Systems „Erzählung“ steht eine Bewertung. Wir sahen, dass die (Gesetzes-)Kritik Esras aus dem Dialogteil (insbes. Visio 3) wiederholt vom Engel zurückgewiesen wurde und erst am Ende teilweise akzeptiert wird, um auch diesen Sündenpessimismus Esra zur Gerechtigkeit anzurechnen und ihn damit zu widerlegen. Betrachtet man den Ausgang der Esraapokalypse, so wird klar, dass die Position des Engels das letzte Wort behält, die Zurückweisung der Kritik also Erfolg hat und vom Verfasser als etwas Positives bewertet wird. Offensichtlich hat Esra zuletzt die Position des Engels angenommen und sich dadurch mit W. HARNISCHS Worten gesprochen vom „Widerpart zum Zeugen der Offenbarung“ entwickelt. 62 Unstrittig ist, dass Esra bis zum Schluss eine Entwicklung durchläuft. Bei der Interpretation der Entwicklung, die Esra erfährt, gehen die Meinungen hingegen auseinander. Umstritten ist dabei, zu welchem Zeitpunkt und wie der Meinungswechsel des zweifelnden Widerparts Esra ausgelöst wurde. Während M. STONE annimmt, Esra werde (bereits vor der offenkundigen Wende in Visio 4) schrittweise überzeugt, führt E. BRANDENBURGER den Meinungswechsel des Visionärs eher auf eine religiöse Bekehrung, anderes gesagt, „eine mysteriöse Verwandlung“, zurück. Laut M. STONE akzeptiert Esra bereits ab Kapitel 4 (Visio 1) sukzessive die Position des Engels. M. STONES Interpretation stützt sich dabei vor allem auf die Struktur des Dialogteils (Visio 1–3). In Visio 1, 2 und 3 findet sich je ein 61
Vgl. M. RICHTER, Das narrative Urteil. Erzählerische Problemverhandlungen von Hiob bis Kant, Narratologia 13, Berlin 2008, 43. 62 Vgl. W. HARNISCH, Der Prophet als Widerpart, 461–493.
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Streit, auf den eine dialogische Offenbarung folgt. Den wiederholten Wechsel von Streit zu dialogischer Offenbarung wertet M. STONE als Esras Bereitschaft, sich auf die Argumente des Engels einzulassen.63 Gliederung von Visio 4 in Anlehnung an E. BRANDENBURGER 64 9,26–37:
Aufbau analog zum Dialogteil
9,26–28: 9,29–37:
Einleitende Rahmenerzählung Eingangsklage = Höhepunkt von Esras Kritik
9,38–10,24:
Abbruch des Dialogs zwischen Esra und dem Engel Rollenwechsel Esras
9,38–10,24: 10,25ff: 10,25–28: 10,29–39: 10,40–49: 10,50–59:
Dialog zwischen Esra und der Frau Beginn des Visionsteils Zionvision (entspricht Visionen), darin: Epiphaniereaktionen Esras Zwischendialog (Wiederaufnahme des Dialogs zwischen Esra und dem Engel) Deutung der Vision durch den angelus interpres Rahmenstück
Demgegenüber hat E. BRANDENBURGER in einer früheren Arbeit überzeugend gezeigt, dass sich in Visio 4 Esras Wende vom klagenden Widerpart zum tröstenden Ermahner vollzieht. Esra behält bis zum Abbruch des Dialogteils in Visio 4 (9,38) die Rolle des Widerparts. E. BRANDENBURGERS Analyse zufolge wird Esra nicht durch die Argumente des Engels umgestimmt. Im Gegenteil: Die dem Abbruch des Dialogs unmittelbar vorausgehende Klage (9,29– 37) wertet er als den Höhepunkt von Esras Hadern mit Gott. Die Spitzfindigkeit, der sich Esra in dieser letzten Klage bedient, sieht E. BRANDENBURGER als Beweis, dass Esra bis zum Schluss ein hartnäckiger Widerpart im Streit mit 63 M.E. STONE, Fourth Ezra, 24: „This structure implies a development on Ezra’s part, for each instance of shift from dispute to dialogic prediction implies that he accepts in some measure the arguments that the angel has presented. The seer’s requests for further clarification of specific points in the Prediction 1 dialogue (erg. = revelatory dialogue) are based upon his acceptance of the matters he wants explained.“ Ähnlich äußert sich W. HARNISCH, Verhängnis, 64, Anm. 4. 64 Vgl. E. BRANDENBURGER, Verborgenheit, 58–74.
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Interpretation
dem Engel beziehungsweise in der Klage vor Gott bleibt. 65 Narratologisch ausgedrückt, finden wir hier vielleicht das Phänomen der sogenannten stasis vor. Literarische Dialoge, in denen ein Problem (argumentativ) verhandelt wird, werden bisweilen an einen Punkt geführt, an dem Aussage gegen Aussage steht (stasis). Die Problemlösung wird dann mitunter durch ein „narratives Urteil“ herbeigeführt, das eine höhere Instanz, zum Beispiel Gott, fällt. Einer Untersuchung von M. RICHTER zufolge, lässt sich dieses Phänomen bei mehreren narrativen Problemverhandlungen des Theodizeeproblems von Hiob bis Kant verfolgen.66 Als entscheidenden Wendepunkt des 4. Esrabuchs stellt E. BRANDENBURGER Esras Rollenwechsel heraus, vom klagenden, trostbedürftigen und durch den Engel ermahnten Widerpart zum ermahnenden Tröster einer klagenden Frau. Der Rollenwechsel findet sich zwischen dem Abbruch des Dialogs von Esra und Uriel (9,38–10,24) und dem Beginn des eigentlichen Visionsteils, welcher mit der Zionsvision (10,25–28) eröffnet wird. Esra wechselt die Rolle und spricht sich beziehungsweise Israel dadurch unbewusst selbst das Urteil. Erst die Erscheinung der klagenden Frau lässt ihn Distanz zu seiner eigenen Klage gewinnen. Klagender Widerpart
ermahnend
Esra
Engel
Rollenwechsel
Esra
Frau
Klagender Widerpart
65 66
ermahnend
Vgl. ebd., 66. Vgl. M. RICHTER, Das narrative Urteil.
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Im 4. Esrabuch ist der Engel bis zum Abbruch des Dialogs in 9,38 der Dialogpartner, der argumentativ verhandelt. Da Esras Fragen rund um das Theodizeeproblem sich auf diesem Weg nicht lösen lassen, greift der Verfasser demonstrativ zu einem anderen Mittel. Das von ihm herbeigeführte „narrative Urteil“ äußert sich im Fall der Esraapokalypse zuerst subtil im Vollzug des Rollenwechsels und wird danach durch die Zionsvision verstärkt. Der vormalige Dialog- und Streitpartner Esras wird im Zuge dessen zum angelus interpres, zum Interpreten des göttlichen Urteils in Form der Visionen. In der Frage nach der Art und Weise wie Esras Kritik überwunden wird, ist festzuhalten, dass die Kritik nicht argumentativ entkräftigt wurde, sondern durch ein sich subtil anbahnendes „göttliches Urteil“ zum Schweigen gebracht wurde.
3.5 Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike
Das Gesetz zu befolgen, kann – wie am Beispiel von 4. Esra gezeigt – im Blick auf die Unzulänglichkeit des Menschen zu einem Problem werden. Neben dem Seher Esra, der angesichts der Sündhaftigkeit des Menschen und der damit einhergehenden Unerfüllbarkeit des Gesetzes mit Gott hadert, sind uns andere Stimmen aus dem Judentum bekannt, die den Menschen als Sünder schildern. Eindrucksvoll bekennen zuvor die Qumranfrommen in ihren Bekenntnisliedern die Sündhaftigkeit des Menschen (3.5.1). Sie gehen zwar nicht so weit, aufgrund ihrer Sündhaftigkeit an der Erfüllbarkeit des Gesetzes zu zweifeln, sie sollen hier jedoch als Zeugen für sündenpessimistische Stimmen vorgestellt werden, die mit denen des Sehers Esra und des Apostel Paulus konvergieren. Neben solchen religiösen Sündenbekenntnissen lassen sich in der griechisch-römischen Antike moralpsychologische und populärphilosophische Aussagen zur Unvollkommenheit des Menschen aufzeigen (3.5.2). Paulus’ sündenpessimistische Aussagen könnten sowohl von jüdischen als auch nicht-jüdischen Aussagen über die Natur des Menschen bestimmt sein.
3.5.1 Analogien im palästinischen Judentum 3.5.1.1 Sündenpessimismus in den Niedrigkeitsdoxologien der HôdƗMôt In den HôdƗMôt, den Lobliedern aus Qumran, finden sich sogenannte Niedrigkeitsdoxologien beziehungsweise Elendsbetrachtungen, in denen der
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Mensch als wesensmäßig sündhaft dargestellt wird. Die HôdƗMôt werden in „Danklieder des Einzelnen“ und „Hymnische Bekenntnislieder“ eingeteilt. 67 In den „Dankliedern“ (auch „Lehrerlieder“ genannt) spiegelt sich vermutlich persönliches Leid des Lehrers der Gerechtigkeit wider. Die „Hymnischen Bekenntnislieder“ (Gemeindelieder) hingegen sind unpersönlicher geschrieben. Sie dürften zwischen 150 und 100 v.Chr. entstanden sein. 68 In ihnen finden sich die für unsere Untersuchung maßgeblichen „Niedrigkeitsdoxologien“: 69 1QH 11,7–10; 1QH 17,19–21; 1QH 13,13–18; 1QH 15,14; 1QH 15,21–22; 1QH 13,5–6 (zu fragmentarisch); 1QH 1,21–27; 1QH 4,29– 33; 1QH 7,28–33; 1QH 10,2–12; 1QH 12,24–36; 1QH 18,16–33; 1QH 3,6– 13; 1QH 4,10–15; 1QH 2,4ff. In den HôdƗMôt werden wesensmäßige „Sündhaftigkeit“ und ausgeführte „Sünden“, Sein und Tun, gedanklich unterschieden, aber nicht getrennt, sondern aufeinander bezogen. Die „Sünden werden auf die sündige Beschaffenheit“ des Menschen „zurückgeführt“. 70 Sündhaftigkeit aktualisiert sich im Sündigen (vgl. 1QH 13,14ff). 71 Ein Blick auf die verwendeten Termini, mit denen Niedrigkeit und Sündhaftigkeit des Menschen beschrieben werden, zeigt: Beide werden insbesondere mithilfe der Schöpfungsterminologie als Kreatürlichkeit dargestellt. Dies lässt sich exemplarisch besonders gut an zwei Niedrigkeitsdoxologien zeigen: 1QH 1,21–27 und 1QH 12,24–36. Besonders gedrängt finden sich Niedrigkeitsaussagen in 1QH 1,21–27, einer Stelle, die H. LICHTENBERGER 72 einer genaueren Untersuchung unterzogen hat. 1QH 1,21–27: Dieses erkannte ich aus Deiner Einsicht, denn Du hast mein Ohr aufgedeckt für wunderbare Mysterien. Aber ich, das Lehmgebilde (rmxh rcy) 73 und Wassergemenge (~ymh lbgm), 74 (22) das Schamgeheimnis (hwr[h dws), die Unreinheitsquelle (hdnh rwqm), 75 der Ofen der Schuld (!ww[h rwk) und das Sündengebäude (hajxh hnbm), der Irrtums-Geist (h[wth xwr), verkehrt ohne (23) Einsicht und erschreckt durch gerechte Gerichte – Was kann ich sprechen, wenn es nicht kundgemacht wurde? Und vernehmen lassen, wurde es nicht erzählt? Das Ganze (24) 67
Vgl. A. LANGE, Art. Qumran, Abschnitt 1, TRE 28, 1997, 45–65, 63. Vgl. ebd., 64. 69 H. LICHTENBERGER, Studien zum Menschenbild in Texten der Qumrangemeinde, StUNT 15, Göttingen 1980, 74. 70 Ebd., 90. 71 Ebd., 90. 72 Ebd., 75–87. 73 Vgl. innerhalb des Gattungselements Niedrigkeitsdoxologie/Elendsbetrachtung auch 1QH 3,23; 4,29; 12,26.32, so H. LICHTENBERGER, ebd., 79. 74 Vgl. auch 1QH 3,24; 12,25; 13,15, so H. LICHTENBERGER, ebd., 81. 75 Vgl. auch 1QH 12,25. 68
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ist eingeschrieben vor Dir mit Gedächtnisgriffel für alle ewigen Zeiten, und (auch) die Zyklen der Anzahl der Jahre der Ewigkeit mit allen ihren Terminen. (25) Und sie sind nicht verborgen und gehen nicht verloren vor Dir! Wie soll ein Mensch sein Vergehen (wtajx) aufzählen, wie rechtfertigen seine Verschuldungen (wytwnww[), (26) und was erwidert der Missetäter (lw[) auf jedes gerechte Gericht? Dein sind, Du Gott der Erkenntnisse, alle gerechten Werke (27) und das Geheimnis der Wahrheit, doch den Menschenkindern sind (zu eigen) der Dienst der Verschuldung (!ww[h tdwb[) und die Werke des Trugs (hymrh yf[m). 76
Auch in 1QH 12,24–36 finden sich Aussagen zur Niedrigkeit in konzentrierter Form. Wir begegnen mit „Quelle der Unreinheit“ und „mit Wasser geknetet“ denselben Termini wie in 1QH 1,21ff. Bemerkenswert ist, dass hier Kreatürlichkeitsaussagen und Aussagen über die Sündhaftigkeit nicht einfach parallel nebeneinander stehen, sondern durch l verbunden sind. Die Schöpfung geschah „zur“ Sündhaftigkeit. 77 1QH 12,24–28: Und ich – von Staub hast [Du mich genommen (ytxql rp[m) und aus Lehm] hast Du mich [geformt] (ytcrwq rmxm) (25) zu einer Quelle von Unreinheit (hdn rwqml) und schändlicher Schmach (!wlq twr[), ein Häufchen Staub (rp[ ywqm) und gekne[tet mit Wasser (~ym lbgm) [...] und eine Wohnung (26) von Finsternis ($vwx rwdm). Rückkehr zum Staub ist dem Lehmgebilde (verhängt), zur Zeit . [.........] im Staub, (27) zu dem, von dem her er genommen. Und was erwidert Staub, und [.............] und [wie] kann er verstehen (28) Seine [Wer]ke? Wie soll er hintreten vor seinen Zurechtweiser und [.............der Hei]ligkeit? 78
Es überrascht, dass gerade die Schöpfung die Nichtigkeit und Unwürdigkeit des Menschen begründet. Laut R. ALBERTZ „geht diese Motivkombination in genau entgegengesetzte Richtung zur Menschenschöpfungstradition der Klage“ alttestamentlicher Texte. 79 Ein Vergleich der Verwendung von „Gebilde von Lehm“ in 1QH (in den Niedrigkeitsdoxologien: 1QH 1,21; 4,29; 12,26; 12,32 und in der Elendsbetrachtung: 3,23) und Hi 10,9 vermag die gegensätzliche Funktion von Kreatürlichkeitsaussagen in den HôdƗMôt und im Hiobbuch zu verdeutlichen: in den HôdƗMôt wird die Unwürdigkeit des 76 Übersetzung nach J. MAIER, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer, Bd. I: Die Texte der Höhlen 1–3 und 5–11, München/Basel 1995, 62, unter der neueren Zählung 1QH Kol. IX. „der Ofen der Schuld“ wurde von MAIER versehentlich ausgelassen, Übersetzung nach dem hebräischen Text. Zur hebräischen Terminologie – allerdings ohne Punktation – , vgl. E. LOHSE (Hg.), Die Texte aus Qumran. Hebräisch und Deutsch. Mit masoretischer Punktation. Übersetzung, Einführung und Anmerkungen, Darmstadt 21971, 114. 77 Vgl. H. LICHTENBERGER, Menschenbild, 88. 78 Übersetzung nach J. MAIER, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer, Bd. I, 104, unter der neueren Zählung 1QH Kol. XX. Zur hebräischen Terminologie – allerdings ohne Punktation – , vgl. E. LOHSE (Hg.), Die Texte aus Qumran, 158. 79 Vgl. R. ALBERTZ, Weltschöpfung und Menschenschöpfung. Untersucht bei Deuterojesaja, Hiob und in den Psalmen, CThM 3, Stuttgart 1974, 166.
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Menschen betont, bei Hiob wird der Schöpfer durch die Erinnerung an sein fürsorgliches, liebevolles Bilden zur Rettung motiviert. 80 Die priesterschriftliche Vorstellung, dass die Schöpfung „sehr gut“ ist, spielt in den HôdƗMôt keine Rolle. 81 Hingegen scheint die pessimistischere Sicht des sogenannten Jahwisten bestimmend. 82 Weiterhin ist auffallend, dass die Frage nach der Herkunft der Sünde nicht durch Sünden- oder Engelfall beziehungweise durch dualistische Vorstellungen erklärt wird, sondern allein den Kreatürlichkeitsaussagen entnommen wird. 83 3.5.1.2 Die terminologische Vielfalt für die Kreatürlichkeit und die Sünde des Menschen in Qumrantexten Die Häufigkeit und die terminologische Vielfalt, mit der in Qumrantexten sowohl die Kreatürlichkeit als auch die Sünde des Menschen beschrieben werden, zeigt, dass sich die Qumranfrommen mit Nachdruck als Sünder bekannten. H. BRAUN hat eine Auflistung der Terminologie in den Qumrantexten samt Stellenangaben vorgenommen, die für das Verständnis des Sündenpessimismus relevant ist. Zur Terminologie, mit der die Kreatürlichkeit des Menschen in Qumrantexten zur Sprache gebracht wird, zählt: 84 „Staub“, „Lehmgebilde“, „Lehm“, „vom Bildner abgekniffen“, „Asche“, „ein Gebilde“, „geknetet aus/im Wasser“, „geknetet aus Staub“, „Fleisch“, „ein Hauch“, „ein Wüstes“, „zur Menge des Gewürms gehörig“, „ein Fraß des Gewürms“, einer, der „heimkehrt“ zu seinem Staube, seine „Rückkehr“ geschieht zum Staub, er ist „Erde“. Die Sünde des Menschen wird in Qumrantexten mit folgender Terminologie bekannt: 85 „Sünde“, „Sünden“, „Schuld“, „Verschuldungen“, „Fundament der Schande“, „schmachvolle Schande“ als Fundament, zur „Menge des frevelnden Fleisches“ und zur „Menge des Gewürms“ gehörig, „Quelle der Unreinheit“, „Ofen der Sünde“, „Gebäude der Sünde“, „Gebäude des Staubes“, „Irrtumsgeist“, „Behausung der Finsternis“, zur „boshaften Menschheit“ gehörig, sich im „Gebiet der Bosheit“ befindend, den „Fangschnüren der Bosheit“ ausgesetzt, „unter viel Verwirrungen“, „in Treu80
Vgl. H. LICHTENBERGER, Menschenbild, 79f. Vgl. ebd., 90. 82 Vgl. ebd., 90. 83 Vgl. ebd., 90. 84 Die Auflistung samt Stellenangaben findet sich bei H. BRAUN, Röm 7, 7–25 und das Selbstverständnis des Qumran-Frommen, ZThK 56, 1959, 1–18, 6. 85 Die Auflistung samt Stellenangaben findet sich bei H. BRAUN, Röm 7, 7–25, 4f. 81
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bruchschuld“ lebend, sich „in schmachvoller Schande“ und „menschlicher Unreinheit“ befindend, mit einem „Steinherz“, in „Verkehrtheit des Herzens“. Der Mensch ist verkehrt, er handelt böse und bekennt dies beim jährlichen Bundeserneuerungsfest, was auch für die Väter und ihren Treubruch gilt. Er verschuldet sich durch Werke, die Werke des Truges sind, durch seinen Wandel, der sich in der Finsternis vollzieht, er schwankt und strauchelt. Ihm fehlen: Gerechtigkeit, rechte Taten, Vollkommenheit, Vergebung (Gottes) und Heilswissen. Er lebt im Dienst der Sünde und wird von einem verkehrten Geist beherrscht. 3.5.1.3 Kontext und Funktion der Niedrigkeitsdoxologien der HôdƗMôt Anders als in 4. Esra wird der Sündenpessimismus in den HôdƗMôt nicht durch eine situative Krise ausgelöst. Wie bei Paulus in Röm 3,10–18 sind die negativen Aussagen die dunkle Folie für eine Erwählungsgewissheit, die Gottes Größe um so mehr ins Licht stellt. J. BECKER 86 hat den Kontext der Niedrigkeits- und Sündenaussagen untersucht und gezeigt, dass einige Niedrigkeits- und Sündenaussagen aus Gottes Größe in Schöpfung, Erlösung oder Gericht abgeleitet werden. Niedrigkeitsdoxologien im Anschluss an Schöpfungsaussagen sind 1QH 1,21– 27 87 sowie 1QH 13,13–18 88 und möglicherweise 1QH 10,1–3a. 89 Erlösungsaussagen gehen der Elendsbetrachtung 1QH 3,23–25 90 voraus sowie den Niedrigkeitsdoxologien 1QH 4,29–33 91 und 1QH 7,28–33. 92 Die Textgrundlage für Niedrigkeitsaussagen im Anschluss an Gerichtsaussagen ist mit 1QH 4 93 sehr dünn. Der Kontext der Niedrigkeitsdoxologien gibt auch Auskunft über deren Funktion, den Lobpreis Gottes. Die Niedrigkeitsdoxologien besitzen eine Grundstruktur, die von dem Gegensatz geprägt ist: „Der große, gerechte Gott – der geringe, sündige Mensch.“ 94 Mit H. LICHTENBERGER gesprochen, wird die „menschliche Sündhaftigkeit und Verworfenheit“ „formal instrumentalisiert, um die Größe, Erhabenheit und Barmherzigkeit Gottes
86 J. BECKER, Das Heil Gottes. Heils- und Sündenbegriffe in den Qumrantexten und im Neuen Testament, StUNT 3, Göttingen 1964, 138–142. 87 Vgl. ebd., 138–140. 88 Vgl. ebd., 140. 89 Vgl. ebd., 140. 90 Vgl. ebd., 141. 91 Vgl. ebd., 141. 92 Vgl. ebd., 141. 93 Vgl. ebd., 142. 94 H. LICHTENBERGER, Menschenbild, 90.
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zu preisen“. 95 Dieselbe Deutung vertritt J. BECKER. Die Niedrigkeitsaussagen sind nach ihm „alles andere als Darstellung subjektiver Verzweiflung, sondern dienen innerhalb der Bekenntnislieder dazu, Gott nur noch höher zu preisen, daß er selbst dieser Ausweglosigkeit Herr wurde. Weiter dürfen diese Bekenntnisse nicht als bewußte oder unbewußte Übertreibung aufgefasst werden, sondern sie wollen in sachlicher Weise den tatsächlichen Zustand schildern.“ 96 Die Niedrigkeitsaussagen dienen aber nicht nur dazu, den Kontrast zwischen Mensch und Gott zu verschärfen, sondern auch den Kontrast zwischen der eigenen Gruppe und allen anderen Menschen. Nach D. FALK ist die Funktion solcher Gebete primär, den Platz im Bund von jemandem zu bestätigen und die Grenze zwischen Insidern und Outsidern zu verstärken. Daher sind diese Psalmen (es sind wahrscheinlich nicht nur die HôdƗMôt gemeint) trotz der Betonung von menschlicher Sündhaftigkeit und Unwürdigkeit in den HôdƗMôt nicht so sehr Bußschreie oder Petitionen um Hilfe als Dankeshymnen für empfangene Barmherzigkeit. Dazu kommt noch eine dritte Funktion. Niedrigkeitsaussagen betonen den Kontrast zwischen dem verlorenen und dem erwählten Menschen: „Niedrigkeits- und Heilsaussagen beziehen sich [...] nicht auf ein Nacheinander in dem Sinne, als beschrieben die Niedrigkeitsbekenntnisse die vergangene sündige Existenz, der die Heilsaussagen als Ausdruck einer neuen sündlosen Existenz gegenübergestellt wären. Vielmehr verbleibt dieser Menschen in seiner ganzen Kreatürlichkeit mit all ihren Implikationen, aber die Sünde wird vergeben, er wird kraft der göttlichen Hilfe zu einem neuen Wandel befähigt.“ 97 Das Mitglied der Qumrangemeinde ist „simul iustus et peccator“. 98 3.5.1.4 Die Rolle des Gesetzes für die Erkenntnis der Sünde in den HôdƗMôt „Auffällig [...] ist, daß nirgends das Gesetz als Erkenntnisgrund der Sündenverfallenheit feststellbar ist.“ 99 Es zeigt sich „daß das Gesetz heilsnotwendige Grundlage für das Leben der Ordensmitglieder ist“. 100 Auf das 95
Vgl. A. LANGE, Art. Qumran, Abschnitt 1, 63. J. BECKER, Das Heil Gottes, 137f. 97 H. LICHTENBERGER, Menschenbild, 93. 98 H. BRAUN, Röm 7,7–25, 12; vgl. auch ebd. 4 die Rede vom „Sündersein in dem gewonnenen Heilsstand“ und dem „simul iustus et peccator“ zustimmend H. LICHTENBERGER, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit. Studien zum Menschenbild in Römer 7, WUNT 164, Tübingen 2004, 174. 99 J. BECKER, Das Heil Gottes, 142. 100 Ebd., 143. 96
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Das unerfüllbare Gesetz
Gesetz „fällt auch nicht der leiseste Verdacht einer Unzulänglichkeit“. 101 Das ist der große Unterschied zwischen dem Sündenpessimismus in Qumran und im Buch 4. Esra.
3.5.2 Analogien in der griechisch-römischen Antike: Der Topos „Keiner ist perfekt“ Auch in der Antike wusste man, dass der Mensch nicht perfekt ist. Manchmal findet sich das auch in generalisierten Aussagen über alle Menschen. Horaz fasst diese Einsicht beinahe sprichwörtlich so zusammen: Nam vitiis nemo sine nascitur; optimus ille est / qui minimis urgetur [...] (Horaz, serm. 1,3,65f). Bei dem platonischen Philosophen Krantor (ca. 340/35–275 v.Chr.) begegnet die allgemein-menschliche Unvollkommenheit als ein Trostmotiv. Plutarch zitiert ihn in seiner Trostschrift an Apollonius § 6: 102 Denn dieses sagt die ganze alte Philosophie und legt es nahe; wenn wir davon auch anderes nicht annehmen, dieses aber ist sehr wahr. In vielfacher Hinsicht ist das Leben mühselig und schwierig. Denn wenn es auch nicht von Natur aus diese Beschaffenheit hat – von uns selbst her ist es bis zu diesem Maß von Verderbtheit gekommen. Und diese ungewisse Geschichte ist uns von ferne her und schon von Anbeginn an (sc. von Geburt an) gefolgt, aber nie zu unserem Heil (wörtl.: aber nicht zu einem einzigen Gesunden), und wenn wir entstehen, mischt sich mit uns in (uns) allen ein Stück Böses. Denn die Samen, die sogleich sterblich sind, haben an dieser Ursache teil, aus der Verdorbenheit der Seele, Krankheiten und zehntausend Sorgen der Sterblichen [von dort] für uns hervorgehen.
Krantor entlastet die Natur von der Verantwortung für die allgemeine Beschwerlichkeit und Bosheit des Lebens. Der Mensch ist selbst dafür verantwortlich. Aber sie begann schon mit der Geburt, ist also unentrinnbar. Wir finden hier dasselbe Dilemma wie in 4. Esra und bei Paulus: Die allgemeine Verbreitung der Sünde scheint den Menschen von Verantwortung zu entlasten, aber sie darf kein Geschick sein, sonst wäre sie nicht Sünde. Versuchen wir zusammenfassend eine Gesamtdeutung des Befundes: Die sophistisch gefärbte Gesetzeskritik des Simri und der Sündenpessimismus des 4. Esra sind fast einander entgegengesetzte Haltungen. Dort wird das Gesetz als tyrannisch kritisiert. Seine Forderungen sind unberechtigt. Das Gesetz muss kritisiert werden. Hier dagegen werden die Forderungen des 101
Ebd., 143. Zitiert nach K. BERGER/C. COLPE, Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament, Texte zum Neuen Testament 1, Göttingen 1987, Nr. 368, 206f. 102
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Gesetzes anerkannt, aber sie scheinen unerfüllbar. Der Mensch muss kritisiert werden, der angesichts des Gesetzes versagen muss. Aber hier wie dort geht es um das Verhältnis zwischen Juden und Heiden. Simri rebelliert gegen deren Trennung durch ein Heiratsverbot. Er möchte Juden und Heiden zusammenführen. 4. Esra aber sieht zwischen Juden und Heiden wegen ihrer Gesetzesübertretungen kaum noch einen Unterschied und hadert deswegen mit Gott. Wir befinden uns hier wie dort in einem ganz verschiedenen Milieu. Und doch sind beide Schriften fast zur gleichen Zeit Ende des 1. Jh. n.Chr. entstanden. Beide bezeugen einen innerjüdischen Dialog und lassen dabei Stimmen zu Worte kommen, die nur deshalb in jüdischen Schriften zu Wort kommen konnten, weil sie zurückgewiesen werden. Der Dialog im Buch 4. Esra verrät einen Einblick in Dialoge im damaligen Judentum. Der Sündenpessimismus des Esra wird zwar zunächst vom Engel schroff zurückgewiesen, aber er vertritt eine authentische Stimme: Einerseits bringt Esra gerade in diesem Punkt etwas Neues zum Ausdruck und tut das mit einer solchen Emphase, dass es sich kaum um eine Konstruktion ohne geschichtlichen Hintergrund handeln kann. Andererseits verändern sich beide Seiten in diesem Dialog: Der Engel akzeptiert in seiner letzten Stellungnahme den Sündenpessimismus des Esra als legitimen, aber sachlich nicht zutreffenden Ausdruck menschlicher Demut. Esra wiederum wechselt aus der Rolle des Getrösteten in die Rolle des Tröstenden. Sein Trost für Zion wirkt umso glaubhafter, als er vorher selbst die Trostlosigkeit der Lage Israels bitter beklagt hat. Esra darf sogar am Ende die verbrannten Heiligen Schriften mit Hilfe göttlicher Inspiration erneuern – und zeigt eben dadurch, welche tiefe Krise das Judentum zu seiner Zeit durchlaufen muss. Mit dem Verlust der Schriften hätte auch das Judentum seine Identität verloren.
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4. Das ritualistische Gesetz. Die Verinnerlichung von rituellen Geboten bei den „radikalen Allegoristen“ in Philo migr. 89–93
Das ritualistische Gesetz
Bisher hatten wir zwei Formen der Gesetzeskritik kennengelernt, bei denen die Härte des Gesetzes in sehr verschiedener Weise zum Problem geworden war: Simri lehnt sich gegen das Gesetz auf, weil es von ihm die Trennung von seiner midianitischen Frau verlangt. Esra zweifelt, weil niemand die Gebote des Gesetzes erfüllen kann. Ein ganz anderer Weg besteht darin, die Härte des Gesetzes „aufzuweichen“, indem man einen Weg findet, die Gesetze nur im übertragenen Sinne zu verstehen. Diese Möglichkeit bietet die allegorische Interpretation der Gesetze. Auf diese Möglichkeit stoßen wir in den Schriften des Exegeten und Religionsphilosophen Philo von Alexandrien. In seiner Schrift De migratione Abrahami setzt sich Philo kritisch mit den sogenannten „radikalen Allegoristen“ auseinander, die – ähnlich wie Paulus – der buchstäblichen Befolgung von Ritualgesetzen eine Verinnerlichung von Ritualgesetzen entgegensetzen. 1 Nach kurzen Vorbemerkungen zum Verfasser und zur Quelle De migratione Abrahami (4.1) soll die „Gesetzeskritik“ der „radikalen Allegoristen“ vorgestellt werden (4.2), Philos Verhältnis zu ihnen erwogen werden (4.3) und Philos argumentative Zurückweisung der Position der „radikalen Allegoristen“ in migr. 89–93 herausgestellt werden (4.4). Für die Betonung des ethischen Gehalts von Geboten finden sich zahlreiche Analogien im Judentum der alexandrinischen Diaspora und Palästinas sowie in der griechisch-römischen Antike (4.5).
4.1 Zur Quelle Philo migr. 89–93 Zur Quelle Philo migr. 89–93
89 eivsi. ga,r tinej oi] tou.j r`htou.j no,mouj su,mbola nohtw/n pragma,twn u`polamba,nontej ta. me.n a;gan hvkri,bwsan(tw/n de. r`a|qu,mwj wvligw,rhsan\ ou]j memyai,mhn a'n e;gwge th/j euvcerei,aj\ e;dei ga.r avmfote,rwn 1 Vgl. P. BORGEN, Philo of Alexandria. A Critical and Synthetical Survey of Research since World War II, ANRW II.21.2, 1984, 98–154, 106.
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Das ritualistische Gesetz
evpimelhqh/nai(zhth,sew,j te tw/n avfanw/n avkribeste,raj kai. tamiei,aj tw/n fanerw/n avnepilh,ptouÅ 90 nuni. dV w[sper evn evrhmi,a| kaqV e`autou.j mo,noi zw/ntej h' avsw,matoi yucai. gegono,tej kai. mh,te po,lin mh,te kw,mhn mh,tV oivki,an mh,te suno,lwj qi,ason avnqrw,pwn eivdo,tej(ta. dokou/nta toi/j polloi/j u`perku,yantej th.n avlh,qeian gumnh.n avuth.n evfV e`auth/j evreunw/sin\ ou]j o` i`ero.j lo,goj dida,skei crhsth/j u`polh,yewj pefrontike,nai kai. mhde.n tw/n evn toi/j e;qesi lu,ein(a] qespe,sioi kai. mei,zouj a;ndrej h' kaqV h`ma/j w[risanÅ 91 mh. ga.r o[ti h` e`bdo,mh duna,mewj me.n th/j peri. to. avge,nhton(avpraxi,aj de. th/j peri. to. genhto.n di,dagma, evsti(ta. evpV auvth/| nomoqethqe,nta lu,wmen(w`j pu/r evnau,ein h' gewponei/n h' avcqoforei/n h' evgkalei/n h' dika,zein h' parakataqh,kaj avpaitei/n h' da,neia avnapra,ttein h' ta. a;lla poiei/n(o[sa kavn toi/j mh. e`ortw,desi kairoi/j evfei/tai\ 92 mhdV o[ti h` e`orth. su,mbolon yucikh/j euvfrosu,nhj evsti. kai. th/j pro.j qeo.n euvcaristi,aj(avpotaxw,meqa tai/j kata. ta.j evthsi,ouj w[raj panhgu,resi\ mhdV o[ti to. perite,mnesqai h`donh/j kai. paqw/n pa,ntwn evktomh.n kai. do,xhj avnai,resin avsebou/j evmfai,nei(kaqV h]n u`pe,laben o` nou/j i`kano.j ei=nai genna/n diV e`autou/(avne,lwmen to.n evpi. th/| peritomh/| teqe,nta no,mon\ evpei. kai. th/j peri. to. i`ero.n a`gistei,aj kai. muri,wn a;llwn avmelh,somen(eiv mo,noij prose,xomen toi/j diV u`ponoiw/n dhloume,noijÅ 93 avlla. crh. tau/ta me.n sw,mati evoike,nai nomi,zein(yuch/| de. evkei/na\ w[sper ou=n sw,matoj(evpeidh. yuch/j evstin oi=koj(pronohte,on(ou[tw kai. tw/n r`htw/n no,mwn evpimelhte,on\ fulattome,nwn ga.r tou,twn avridhlo,teron kavkei/na gnwrisqh,setai(w-n eivsin ou-toi su,mbola(pro.j tw/| kai. ta.j avpo. tw/n pollw/n me,myeij kai. kathgori,aj avpodidra,skeinÅ 2 4.1.1 Übersetzung 89 Es gibt nämlich Leute (sic!) die in der Annahme, die verkündeten Gesetze seien nur Symbole von Gedachtem, letzterem (dem Gedachten) mit höchstem Eifer nachgehen, erstere leichtsinnig vernachlässigen; diese muß ich wegen ihrer Leichtfertigkeit tadeln. Denn sie hätten an beides 3 denken sollen: sowohl das Unsichtbare (den Sinn) recht genau zu erforschen, alsdann auch das Offene (den Wortlaut) tadellos zu beachten. 90 Jetzt leben sie aber [in Wahrheit] 4 so, als wären sie in der Einsamkeit für sich, oder als wären sie körperlose Seelen geworden, als wüßten sie nichts von Stadt, Dorf, Haus, überhaupt von menschlicher Gesellschaft, sehen über das hin2 PHILO ALEXANDRINUS, Philonis Alexandrini Opera quae supersunt, recogn. Leopoldus Cohn/Paulus Wendland, Ed. minor, Bd. 2, 1897, 277f. 3 Abweichend von PHILO VON ALEXANDRIEN, Die Werke in deutscher Übersetzung, Leopold Cohn/Isaak Heinemann u.a. (Hg.), Bd. 5, 21962, 176, der avmfot,erwn mit Zwiefaches übersetzt. 4 Eigene Klammersetzung, IP.
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weg, was die Allgemeinheit billigt, und suchen die nackte Wahrheit für sich allein zu erforschen. Sie belehrt die heilige Schrift, auf einen usus iustus 5 zu achten und nichts von den Satzungen aufzuheben, die gottbegnadete, uns überlegene Männer gegeben haben. 91 Denn weil die Sieben uns die Macht des Ungeschaffenen (= Gottes) und die Unwirksamkeit der Geschöpfe lehrt, so dürfen wir deshalb die Gesetze für diesen Tag nicht aufheben, etwa so, daß wir Feuer anzündeten oder den Acker bearbeiteten oder Lasten trügen oder Prozesse führten und Urteile fällten oder aufbewahrtes Gut zurückverlangten oder geliehenes Geld eintrieben, oder anderes sonst täten, was an nichtfestlichen Tagen freigegeben ist. 92 Und weil der Feiertag ein Symbol seelischer Freude und des Dankes gegen Gott ist, sind die jahreszeitlichen Festversammlungen nicht aufzugeben. Auch weil die Beschneidung darauf hinweist, daß wir alle Lust und Begierde aus uns „herausschneiden“ sollen und gottlosen Wahn entfernen müssen, als ob der Nus aus sich heraus Eigenes zu zeugen verstände, dürfen wir nicht das über die Beschneidung 6 gegebene Gesetz aufheben. Denn auch den Dienst im Tempel und vieles andere müßten wir vernachlässigen, wenn wir nur das symbolisch Gemeinte achten wollten. 93 Vielmehr muß man glauben, daß diese dem Körper, jenes der Seele gleicht. Wie man nun für den Körper, der ja die Wohnstätte der Seele ist, Vorsorge trifft, so muß man auch auf den Wortlaut der Gesetze achten. Werden sie nämlich recht beobachtet, so wird auch das klarer erkannt, wofür sie Symbole sind, abgesehen davon, daß man dann auch den Vorwürfen und Anklagen vieler entgeht. 7 4.1.2 Zum Verfasser Über das Leben des Philo von Alexandrien ist wenig bekannt. 8 Einziger Anhaltspunkt für die Datierung seiner Lebenszeit ist seine Reise nach Rom zu Kaiser Gaius Caligula als Führer einer alexandrinischen Gesandtschaft. Philo spricht in Legatio ad Gajum von sich als Verfasser (legat. 1) und Teilnehmer der Audienz um das Jahr 39/40 n.Chr. (legat. 182) als von ei-
5 Abweichend von PHILO VON ALEXANDRIEN, Die Werke in deutscher Übersetzung, Leopold Cohn/Isaak Heinemann u.a. (Hg.), Bd. 5, 21962, 176, der crhsth/j u`polh,yewj mit eine gute Meinung übersetzt. 6 Abweichend von PHILO VON ALEXANDRIEN, Die Werke in deutscher Übersetzung, Leopold Cohn/Isaak Heinemann u.a. (Hg.), Bd. 5, 21962, 177, der h` peritomh, kurz mit sie wiedergibt. 7 Die Übersetzung folgt, sofern nicht anders angegeben, PHILO VON ALEXANDRIEN, Die Werke in deutscher Übersetzung, Leopold Cohn/Isaak Heinemann u.a. (Hg.), Bd. 5, 21962, 176f. 8 Vgl. S. SANDMEL, Philo of Alexandria. An Introduction, New York [u.a.] 1979, 5.
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nem alten Mann. 9 Ausgehend von diesen Informationen wird damit gerechnet, dass Philo zwischen 25/20 v.Chr. und 50 n.Chr. lebte. 10 Philos Schriften wurden von der Forschung aufgrund der in ihnen behandelten Thematik und aufgrund ihrer Form verschiedenen Corpora zugeordnet: dem Kommentar Quaestiones, den beiden exegetischen Abhandlungen Expositio legis und „allegorischer Kommentar zur Genesis“ sowie philosophischen, historischen und apologetischen Schriften. 11 Über die genaue Zeit und Reihenfolge der Entstehung der Schriften kann die Forschung keine Aussagen machen. Man wird die Schriften mit einiger Sicherheit alle auf die erste Hälfte des ersten Jh. n.Chr. datieren dürfen. 12 4.1.3 Die Stellung von migr. 89–93 im Philocorpus und in der Schrift De migratione Abrahami Philos Schrift De migratione Abrahami gehört zum sogenannten „allegorischen Kommentar“ zur Genesis, von dem 19 Traktate erhalten sind. Der Name „allegorischer Kommentar“ rührt daher, dass die zitierten biblischen Texte fast ausschließlich auf der allegorischen Interpretationsebene behandelt werden. Wahrscheinlich waren die Traktate des „allegorischen Kommentars“ für fortgeschrittene Studierende gedacht. Die Schrift De migratione Abrahami kommentiert Gen 12,1–4.13
9 Vgl. auch M. KONRADT, Tora und Naturgesetz. Interpretatio graeca und universaler Geltungsanspruch der Mosetora bei Philo von Alexandrien, in: ders./Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Juden in ihrer Umwelt. Akkulturation des Judentums in Antike und Mittelalter, Basel 2009, 87–112, 87f. 10 Vgl. S. SANDMEL, Philo of Alexandria, 3. 11 Vgl. F. SIEGERT, Chapter Four. Early Jewish Interpretation in a Hellenistic Style, in: M. Sæbø (Hg.), Hebrew Bible/Old Testament. The History of Its Interpretation, Bd. 1 From the Beginnings to the Middle Ages (Until 1300). Part 1 Antiquity, Göttingen 1996, 130–198, 166–168. Vgl. P. BORGEN, Philo, 117ff. 12 Vgl. F. SIEGERT, Early Jewish Interpretation, 166. 13 L. COHN nennt in PHILO VON ALEXANDRIEN, Die Werke in deutscher Übersetzung, Leopold Cohn/Isaak Heinemann u.a. (Hg.), Bd. 5, 152, als biblische Textgrundlage Gen 12,1–6.
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Gliederung Philo, De migratione Abrahami 14 Auslegung von Gen 12,1–3 Gottes Wille, die Seele des Menschen zu reinigen (§§ 1–6) § 1–6
Gott will die Seele des Menschen reinigen. Daher muss sich Abraham trennen – vom Körper (Land) – von den Sinneswahrnehmungen (Verwandtschaft) – von der Rede (dem väterlichen Gemach)
Der Vorrang des Unkörperlichen (§§ 7–35) § 7–16
Forderung: – alles Körperliche, Irdische hinter und unter sich zu lassen – sich über den Schein der Rede zu erheben – zur Selbsterkenntnis zu gelangen
§ 17–25
Josephs Gebeine, die aus Ägypten mitgenommen werden sollen, versinnbildlichen die Ideale, die der Vater Israel allein an seinem Sohn bewunderte.
§ 26–35
Das Volk Israel verlässt Ägypten, das Symbol des Körperlichen in Eile. Ihm ist „Gottes Hilfe immer nahe“.
Die sechs Gaben Gottes an Abraham (§§ 36–126) § 36–52
1. Durch ein Überströmen des göttlichen Geistes wird Israel ein fast himmlisches Schauen zu eigen.
§ 53–69
2. Wachstum des Menschen (Abraham) in der Erkenntnis des Guten, da aus der Seele alle Leidenschaften des Hasses und der Begierde entfernt sind
§ 70–85
3. Segen, der den Menschen (Abraham) befähigt, das Beste zu denken und das von ihm als Bestes Erkannte auch anderen mitzuteilen. Allgemeiner Gedanke (§ 76–85): Die Weisen geben sich nicht allein mit der Erkenntnis des Wahrscheinlichen oder mit einer Fähigkeit allein zufrieden, sondern mit der Weitergabe an andere.
§ 86–105
4. Der große Name, der Ruf in der Umwelt. In diesem Kontext: Polemik gegen die „radikalen Allegoristen“ (§ 89–93). Allgemeiner Gedanke (§ 95– 105): Wer anderen ein Vorbild sein will, muss gut sein und gut scheinen.
§ 106–117 5. Segen, den der Mensch (Abraham) erhält, weil er segenswert ist § 118–126 6. Segen für alle Teile der Seele. Der gesunde Nus erhält die gesamte Menschheit. Allgemeiner Gedanke (§ 124–126): Der von Gott so begnadete Mensch ist die Säule der menschlichen Gesellschaft. Es soll daher für ihn gebetet werden. Auslegung des folgenden Verses § 127–147
Auslegung von Gen 12,4: Wenn Abraham „geht, wie Gott ihm befohlen hat“, so folgt er der stoischen Forderung, „gemäß der Natur zu leben“; dieser Weg führt über die Selbsterkenntnis hin zu dem Ziel, das Gott für den Menschen im Auge hat.
14 Die Grobgliederung folgt PHILO VON ALEXANDRIEN, Die Werke in deutscher Übersetzung, Leopold Cohn/Isaak Heinemann u.a. (Hg.), Bd. 5, 152–154.
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§ 148–157
Lot, der Abraham begleitet, ist Symbol des Schwankens. Auch der Weise schwankt noch im Anfang seiner Vervollkommnung und auch die aus Ägypten ausziehenden Israeliten werden noch von dem vernunftlosen „Mischvolk“ begleitet.
§ 158–175
Wer sich von dieser Begleitung verführen lässt, verfehlt das Ziel; wer aber die anderen noch zu seiner Höhe bringt, erreicht das Glück des Weisen, das Glück der Schauenskraft.
§ 176–186
Abraham muss Chaldäa, das Land der Astrologen, die die Welt mit Gott gleichsetzen, verlassen.
§ 187–191
Abraham muss Charan, das Höhlenland, das das wahrnehmbare Schauen versinnbildlicht, verlassen.
§ 192–195
Abraham gelangt zur Erkenntnis des ungeschaffenen Schöpfers.
§ 196–207
Abrahams Alter, seine 75 Jahre, bezeichnen mit „70“ das Denkende und Unvergängliche, mit „5“ die fünf vergänglichen Sinne.
§ 208–215
Der vollkommene Weise kommt erst dann zur Gottesfurcht, wenn er sich von allem Sinnlichen vollends befreit hat.
§ 216–225
Abrahams Weggang von Charan: der Nus sagt sich von allem Irdischen los und erstrebt trotz Anstrengungen allein die Ideale des Schönen und Wahren.
4.2 Die Gesetzeskritik der „radikalen Allegoristen“ Die Gesetzeskritik der „radikalen Allegoristen“
Das geschriebene Wort der Buchreligionen ist prinzipiell offen für übertragene, spirituelle Deutungen, die neben oder an die Stelle der wörtlichen Auslegung treten. Zwischen ausschließlich wörtlicher und ausschließlich spiritueller Auslegung gibt es alle möglichen Abstufungen des Mischungsverhältnisses von wörtlicher und spiritueller Auslegung. Philo, der selber für seine allegorische Exegese bekannt ist, bezieht sich in seinem Werk oft auf andere Allegoristen, sei es unter Benennung ihrer spezifischen Merkmale oder als allgemein gehaltene Anspielungen. 15 Unter den vielen Referenzen auf vorangegangene oder zeitgenössische Allegoristen nimmt die Passage migr. 89–93 eine Sonderstellung ein: migr. 89ff ist die einzige Stelle, an der Philo explizit von Allegoristen spricht, die wörtliche Observanz von Ritualgesetzen ignorieren (ovligwre,w: gering schätzen migr. 89; lu,w: auflösen migr. 91). 16 An diese Allegoristen richtet Philo im Zusammenhang seiner Erklärung über die Bedeutung eines guten Rufs bei
15 Vgl. D.M. HAY, Philo’s References to Other Allegorists, Studia Philonica 6, 1979–1980, 41– 75, 42–44. 16 Vgl. ebd., 49. Vgl. zur Verwendung von lu,w auch Mt 5,19 und zu katalu,w die Polemik in Gal 2,18.
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den Mitmenschen eine kleine Mahnrede und wehrt dabei wiederholt der Auflösung des Gesetzes. Im Folgenden soll zuerst der Gedankengang seiner Mahnrede nachgezeichnet werden (4.2.1) und dann der Versuch einer Charakterisierung der angesprochenen Allegoristen (4.2.2) vorgenommen werden. 4.2.1 Der Gedankengang der Rede Als vierte der sechs Gaben, die Gott Abraham beziehungsweise den Menschen zuteil werden ließ, führt Philo den „großen Namen“ aus Gen 12,2 an. Diesen „großen Namen“ versteht Philo als den guten Ruf bei den Mitmenschen (migr. 86–105). Der „große Name“ beziehungsweise der gute Ruf realisiere sich für den Menschen, wenn er ein sittlich guter Mensch sei und auch für einen solchen gelte (vgl. migr. 86–88). Voraussetzung für dieses Sein und Gelten sei die Zufriedenheit mit den bestehenden Gesetzen und die Sorge für ihren Fortbestand (migr. 88). Gefährdet sieht Philo den guten Ruf für extreme Allegoristen, die nur den symbolischen Sinn der Gesetze beachten und den wörtlichen vernachlässigen. Über diese extremen Allegoristen schreibt er: Es gibt nämlich Leute (sic!) die in der Annahme, die verkündeten Gesetze seien nur Symbole von Gedachtem, letzterem (dem Gedachten) mit höchstem Eifer nachgehen, erstere leichtsinnig vernachlässigen (wvligw,rhsan); diese muß ich wegen ihrer Leichtfertigkeit tadeln. (migr. 89) 17
Philo besteht auf der Beachtung beider Gesetzesinterpretationen, der allegorischen wie der wörtlichen: Denn sie hätten an beides denken sollen: sowohl das Unsichtbare (den Sinn) recht genau zu erforschen, alsdann auch das Offene (den Wortlaut) tadellos zu beachten. (migr. 89)
Für die Beachtung des wörtlichen Sinns führt Philo im Folgenden zwei Hauptargumente an: die Bedeutung des Gemeinschaftssinns und den Zusammenhang von wörtlicher und allegorischer Auslegung. 18
17 Der griechische Text ist zitiert nach PHILO ALEXANDRINUS, Philonis Alexandrini Opera qvae svpersvnt, recogn. Leopoldvs Cohn/Pavlvs Wendland, Ed. minor, Bd. 2, Berolini 1897. Der deutsche Text folgt der oben angegebenen Übersetzung. 18 Vgl. zur hier vorgestellten Argumentationsstruktur L. DOERING, Schabbat, 348 mit Anm. 306.
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1) Das erste Hauptargument zielt auf den bei der Wahrheitssuche unverzichtbaren Gemeinschaftssinn, den die extremen Allegoristen vernachlässigen. Philo charakterisiert sie daher als unsozial. Jetzt leben sie aber [in Wahrheit] so, als wären sie in der Einsamkeit für sich, oder als wären sie körperlose Seelen geworden, als wüßten sie nichts von Stadt, Dorf, Haus, überhaupt von menschlicher Gesellschaft, sehen über das hinweg, was die Allgemeinheit billigt, und suchen die nackte Wahrheit für sich allein zu erforschen. (migr. 90)
Philo fordert unter Verweis auf die Autorität der Heiligen Schrift sowie auf Alter und Herkunft des Gesetzes, auf einen guten Ruf zu achten und die Satzungen zu bewahren, statt sich von der Gemeinschaft abzusondern und den wörtlichen Gesetzessinn zu missachten. Sie belehrt die heilige Schrift, auf einen usus iustus zu achten und nichts von den Satzungen aufzuheben (mhde.n tw/n evn toi/j e;qesi lu,ein), die gottbegnadete, uns überlegene Männer gegeben haben. (migr. 90)
Es folgen drei Beispiele allegorischer Gesetzesdeutung, deren Richtigkeit Philo zwar bestätigt, an die sich aber jeweils die Mahnung anschließt, über die richtige allegorische Deutung nicht das wörtliche Verständnis des Gesetzes zu vergessen. Die von Philo thematisierten Gesetze sind (a) das Halten des Sabbaths und (b) der Feiertage im Allgemeinen sowie (c) die Praxis der Beschneidung. a) Denn weil die Sieben uns die Macht des Ungeschaffenen (= Gottes) und die Unwirksamkeit der Geschöpfe lehrt, so dürfen wir deshalb die Gesetze für diesen Tag nicht aufheben (lu,wmen), etwa so, daß wir Feuer anzündeten etc. (migr. 91) b) Und weil der Feiertag ein Symbol seelischer Freude und des Dankes gegen Gott ist, sind die jahreszeitlichen Festversammlungen nicht aufzugeben. (migr. 92) c) Auch weil die Beschneidung darauf hinweist, daß wir alle Lust und Begierde aus uns ‚herausschneiden‘ sollen und gottlosen Wahn entfernen müssen, als ob der Nus aus sich heraus Eigenes zu zeugen verstände, dürfen wir nicht das über die Beschneidung gegebene Gesetz aufheben. (migr. 92)
Auf die drei Beispiele folgt als abschließendes Wort zur Konsequenz von ausschließlich symbolischer Auslegung: Denn auch den Dienst im Tempel und vieles andere müßten wir vernachlässigen, wenn wir nur das symbolisch Gemeinte achten wollten. (migr. 92)
2) Philos zweites Hauptargument für die Beachtung der wörtlichen Bedeutung des Gesetzes besteht im Zusammenhang von wörtlicher und allegorischer Auslegung: Vielmehr muß man glauben, daß diese dem Körper, jenes der Seele gleicht. Wie man nun für den Körper, der ja die Wohnstätte der Seele ist, Vorsorge trifft, so muß man auch auf den Wortlaut der Gesetze achten. (migr. 93)
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Sein Argument verstärkt Philo durch zwei Begründungen für das Festhalten an der wörtlichen Auslegung: a) Werden sie nämlich recht beobachtet, so wird auch das klarer erkannt, wofür sie Symbole sind, b) abgesehen davon, daß man dann auch den Vorwürfen und Anklagen vieler entgeht. (migr. 93)
4.2.2 Charakterisierung der „radikalen Allegoristen“ Aufgrund einer gewissen Nähe zur Verinnerlichung von Gesetzesvorschriften bei Jesus von Nazareth und beim Apostel Paulus hat die Passage (migr. 89–93) in der Forschungsgeschichte großes Interesse geweckt. 19 Moderne Exegeten gaben den Allegoristen aus migr. 89ff, die uns nur über Philo bekannt sind, den Namen „radikale Allegoristen“, „extreme Allegoristen“ oder „konsequente Allegoristen“. 20 Doch inwiefern waren die „radikalen Allegoristen“ radikal? Genauer gesagt: In welchen Punkten werden sie von Philo, dem einzigen Zeugen dieser „Gruppierung“, als radikal dargestellt? Die allegorische Gesetzesauslegung war für Philo an sich kein Stein des Anstoßes. Allegorie war eine zu Philos Zeit verbreitete und geschätzte Methode der Exegese. Sie bezeichnet für Philo „nicht-wörtliche“ Exegese. Die Alternative „wörtliche“ oder „nicht-wörtliche“ Exegese war wahrscheinlich weit verbreitet und daher keiner Erklärung bedürftig. 21 Vermutlich praktizierte die Mehrzahl der Allegoristen diesen speziellen Exegesestil als Zusatz, nicht als Alternative zur wörtlichen Interpretation. 22 Philos Kritik zielt auf den Ausschluss des Literalsinns, nicht auf die Allegorie an sich. Problematisch wurde die Allegorie in Philos Augen erst, wenn sie zur einzigen Methode erhoben wurde, wie es im Fall der von ihm in migr. 89ff kritisierten Allegoristen geschah. Über die Existenz einer Gruppe radikaler Allegoristen, über ihre Anzahl und ihr Auftreten in der Öffentlichkeit lässt sich nur mutmaßen. Die „radikalen Allegoristen“ werden von Philo keiner bestimmten Gruppe von Allegoristen zugeordnet oder eigens benannt und teilen insofern das Schicksal der Anonymität mit den meisten anderen Allegoristen, auf die
19
Vgl. P. BORGEN, Philo, 106. Als „konsequente Allegoristen“ werden sie von M. KONRADT, Tora und Naturgesetz, 89 bezeichnet. 21 Vgl. D.M. HAY, Allegorists, 42. 22 Vgl. ebd., 50. 20
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Das ritualistische Gesetz
sich Philo bezieht. 23 Möglicherweise gehörten die „radikalen Allegoristen“ gar keiner Gruppe von radikalen Allegoristen an, sondern setzten sich aus Individuen mit ähnlicher Einstellung zum Gesetz zusammen. Denkbar ist darüber hinaus, dass sie ihre Einstellung nicht öffentlich lehrten, sondern sie schlicht praktizierten. Auch über die Größe der „Gruppierung“ lassen sich nur Vermutungen anstellen. Die von Philo kritisierten Allegoristen waren immerhin so zahlreich, dass er sich veranlasst sah, sich mit ihrer Position auseinander zu setzen. Andererseits legt die Milde seiner Kritik nahe, dass er ihre Position als nicht sehr gefährlich ansah. Philo verzichtet auch auf die Forderung einer Verklagung oder Bestrafung. 24 Seine Haltung wäre um so verständlicher, wenn es sich um eine kleine Anzahl extremer Allegoristen handelte. 25 Zudem ist migr. 89ff die einzige Stelle, an der sich Philo über die sogenannten „radikalen Allegoristen“ äußert. Dass sich die „extremen Allegoristen“ von den übrigen Juden isoliert haben und dabei politisch unauffällig blieben, wie V.A. TCHERIKOVER 26 und D.M. HAY 27 vermuten, ist zwar nicht bewiesen, 28 aber naheliegend. 29 Radikal waren die Allegoristen also nach allem, was wir ausgehend von Philos Bericht sagen können, lediglich darin, dass sie die Allegorie zur einzig gültigen Auslegungsmethode erhoben. Wichtig ist die Feststellung, dass in der Passage nur der Ausschluss von Ritualgesetzen angesprochen wird. 30 Es kann durchaus sein, dass sie bereit waren, rituelle Gebote in gewissen Situationen zu halten, aber dass sie sich frei fühlten, auf ihre Praxis dort zu 23 Vgl. ebd., 44 und 46: Die einzigen Allegoristengemeinden, die Philo detailliert beschreibt, sind Therapeuten und Essener. Vgl. ebd., 47: Gegen das Postulat einer als Physikoi bezeichneten Allegoristengruppe, erklärt D.M. HAY, physikos werde oft in Beschreibungen von Allegoristen und allegorischer Interpretation benutzt, aber nirgends um eine bestimmte Klasse von jüdischen Allegoristen zu identifizieren, die darauf ausgerichtet ist, stoische Wissenschaft in den Büchern des Mose zu finden. In einigen Fällen unterscheide Philo physikos-Allegorie von anderen Typen: iatrikos und ethikos. 24 Vgl. L. DOERING, Schabbat, 348. 25 Vgl. D.M. HAY, Allegorists, 49, gegen M. FRIEDLÄNDER, Die religiösen Bewegungen innerhalb des Judentums im Zeitalter Jesu, 287, der die radikalen Allegoristen für „ebenso volksschädlich als zahlreich“ hielt. 26 Vgl. V.A. TCHERIKOVER, in: Alexander Fuks/Menahem Stern (Mitarb.), Corpus papyrorum Judaicarum. With an epigraphical contribution by David M. Lewis, Bd. 1, Cambridge, Mass. 1957, 77, Anm. 61. 27 Vgl. D.M. HAY, Allegorists, 48f. 28 Vgl. L. DOERING, Schabbat, 348: „Wenn er (erg.: Philo) auch behauptet, diese Menschen hätten sich in die gesellschaftliche Isolation begeben, spricht er sie doch nicht als Renegaten an.“ Zu weit geht laut L. DOERING, ebd., Anm. 310, D.M. HAY, „der annimmt, daß die >extremen Allegoristen< bereits vom Judentum abgeschnitten sind.“ 29 Vgl. die Gruppe der Therapeuten. 30 Vgl. D.M. HAY, Allegorists, 47.
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Die Gesetzeskritik der „radikalen Allegoristen“
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verzichten, wo sie hinderlich waren – wo sie das Zusammenleben von Juden und Nicht-Juden allzu sehr erschwerten. Auch ein solcher „flexibler“ Umgang mit Ritualgeboten konnte von ihren Gegnern als eine „grundsätzliche“ Aufkündigung des Gesetzesgehorsams gedeutet werden. Im Judentum war die Aufhebung von Ritualgesetzen in Ausnahmefällen gestattet. Als König Izates aus dem Königshaus Adiabene vor der Beschneidung zurückschreckt, erklärt ihm ein Jude, auf sie komme es nicht an (vgl. Ios.ant.Iud. 20,41f). Wahrscheinlich musste das Ritualgesetz in diesem Fall nicht wörtlich ausgeführt werden, weil sich der König dadurch in Gefahr gebracht hätte. Die radikalen Allegoristen haben eine solche Bestimmung für eine Ausnahmesituation auf das normale Leben ausgeweitet. Man darf annehmen, dass die Allegoristen von migr. 89–93 alle nicht-rituellen Vorschriften gehalten haben. Andernfalls hätte sich das in der Polemik gegen sie niedergeschlagen. Vielleicht standen Selbst- und Außenwahrnehmung der „radikalen Allegoristen“ einander diametral gegenüber: Die Nichtbeachtung der rituellen Vorschriften konnte (a) von orthodoxen Juden als Verrat am Judentum aufgefasst werden, konnte aber (b) aus Sicht der „radikalen Allegoristen“ als Verteidigung des Judentums durch Integration in die hellenistisch geprägte Umwelt verstanden werden. Beide Sichtweisen beziehen sich auf dasselbe Phänomen, werten es jedoch in entgegengesetzter Weise. a) Politisches Kalkül und Streben nach Macht 31 ist als Motivation der „radikalen Allegoristen“ zwar eher auszuschließen, könnte aber indirekt eine Rolle gespielt haben. Gut bezeugt ist nämlich der Wunsch einiger Juden, das alexandrinische Bürgerrecht zu erlangen. Er konnte nach Ansicht von E.M. SMALLWOOD 32 zum Prüfstein der Orthodoxie erhoben werden und aufgrund des Zusammenhangs von Bürgerrecht und griechischer Bildung und Erziehung sowie Wettkämpfen als Verrat am Judentum gelten. Einige wenige Juden, darunter Philos Bruder Alexander, 33 besaßen das alexandrinische Bürgerrecht, andere erbaten es von Kaiser Claudius (siehe Claudiusbrief II.89–90). 34 Das alexandrinische Judentum war vermutlich aufgrund 31 Vgl. I. HEINEMANN, Philons griechische und jüdische Bildung. Kulturvergleichende Untersuchungen zu Philons Darstellung der jüdischen Gesetze, Darmstadt 1962, 456. 32 E.M. SMALLWOOD, Legatio, 14. P. BORGEN, Philo 110, geht hingegen davon aus, dass nicht nur liberale Juden sondern auch orthodoxe Juden am Bürgerrecht interessiert gewesen sein können. 33 E.M. SMALLWOOD, Legatio, 4. 34 Zum Text vgl. V.A. TCHERIKOVER, in: Alexander Fuks/Menahem Stern (Mitarb.), Corpus papyrorum Judaicarum. With an epigraphical contribution by David M. Lewis, Bd. 2, Cambridge, Mass. 1960, 41. Vgl. V.A. TCHERIKOVER, in: ders. (Hg.), Corpus papyrorum Judaicarum, Bd. 2, 50, Anm. 89–90: „plh,wi w-n pro,teron e;scon: i.e. in the time of Augustus. Claudius is probably referring here to the persistent efforts of the Jews to get Alexandrian citizenship by any means.“ V.A. TCHERIKOVER geht davon aus, dass sich Claudius in seinem Brief an die Alexandrier auf das
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Das ritualistische Gesetz
einer verschiedenen Bereitschaft, sich in die Umwelt zu integrieren oder an sie anzupassen, in ein orthodoxes und ein hellenisiertes Judentum gespalten. 35 Letzteres war wahrscheinlich vor allem in der jüdischen Oberschicht anzutreffen, die 38 n.Chr. bei den Pogromen unter Flaccus ihren sozialen Status verloren hatte und in der Gefahr stand, zugunsten des Judentums auf eine Karriere zu verzichten. Karriere in der Aristokratie war nur durch Heeresdienst möglich, von dem die Juden de facto befreit waren, da sie sich weigerten, an heidnischen kultischen Äußerungen teilzunehmen. Aus seiner Familie kennt Philo das Phänomen der Assimilation und der damit einhergehenden Apostasie vom Judentum. Sein Neffe, Tiberius Alexander, wurde Berater von Titus und hat sich vom Judentum getrennt. 36 Ob die Anpassung an die Umwelt nun politisch motiviert war oder nicht, das Verhalten der „radikalen Allegoristen“ konnte in jedem Fall von (orthodoxen) Juden als Verrat am Judentum gewertet werden. Der Text selber enthält mit dem Argument für die Beachtung der Ritualvorschriften „den Vorwürfen und Anklagen vieler“ zu entgehen einen entsprechenden Hinweis. Die Spaltung des alexandrinischen Judentums wurde in der Krisenzeit unter Flaccus unübersehbar. Als damals die Alexandriner Aufstände gegen die Juden (38 n.Chr. z.Zt. des Gaius Caligula und des Präfekten Flaccus) und umgekehrt die Juden 37 Aufstände gegen andere Alexandriner (z.Zt. von Claudius 41 n.Chr.) provozierten, wäre Solidarität der Juden untereinander geboten gewesen. Die Juden aber schickten gerade in dieser Krisenzeit, im Jahr 41 n.Chr., zwei getrennte Delegationen nach Rom (siehe Claudiusbrief II.90–91), 38 die Claudius vorwurfsvoll mit den Worten kommentiert, die Juden verhielten sich, als lebten sie in getrennten Städten. 39 E.M. SMALLWOOD und H. WILLRICH sehen in der Forderung des Bürgerrechts den Grund für die Spal-
Bestreben einiger Juden, das Bürgerrecht zu erlangen, bezieht, sieht aber in der Bürgerrechtsthematik nicht den Anlass der griechischen Delegation von zwölf Männern, die Claudius zu Beginn seines Schreibens anspricht. Er schreibt ebd., 50, Anm. 88: „So we may conclude that the inquiry as to the status of the Jews in Alexandria, resulting in the publication of the edict ant. 19. 280 sqq., preceded the avntikata,stasij and, consequently, had nothing to do with the embassy of the twelve men known to us from the Letter.“ 35 Vgl. R. BARRACLOUGH, Philo´s Politics: Roman Rule and Hellenistic Judaism, in: ANRW II, 21,1, 417–553, 435f. 36 Vgl. K. BRINGMANN, Art. Alexandros [18] Tiberius Iulius A., DNP 1, 1996, Sp. 477–478. 37 Vgl. die dem Claudiusedikt bei Josephus vorangehenden Worte Ios.ant.Iud. 19,280. 38 Zum Text vgl. V.A. TCHERIKOVER, in: ders. (Hg.), Corpus papyrorum Judaicarum, Bd. 2, 41. Vgl. R. BARRACLOUGH, Philo´s Politics, 435f. Vgl. V.A. TCHERIKOVER, in: ders. (Hg.), Corpus papyrorum Judaicarum, Bd. 2, 51: „So far reasons have been given to prove the presence in Rome of two Jewish embassies from Alexandria.“ 39 „Crux interpretationis“ laut V.A. TCHERIKOVER, in: ders. (Hg.), Corpus papyrorum Judaicarum, Bd. 2, 50.
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Die Gesetzeskritik der „radikalen Allegoristen“
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tung in zwei Delegationen. 40 Wer wie V.A. TCHERIKOVER die Bürgerrechtsthematik als zentrale Frage des Claudiusbriefs ausschließt und die Frage nach der Verantwortlichkeit der Aufstände von 41 für die Leitfrage hält, 41 wird als Grund für die Spaltung in zwei Delegationen die Politik gegenüber den Alexandriern sehen können. In den beiden Delegationen kämen dann zwei verschiedene Schichten im alexandrinischen Judentum mit verschiedenen Strategien zum Ausdruck: die zur Waffengewalt neigende jüdische Unterschicht auf der einen Seite, die ihrer Diplomatie vertrauende jüdische Oberschicht auf der anderen Seite. 42 Nun sind in der Regel zu einer Delegation nur Oberschichtmitglieder fähig. Nur sie besitzen die rhetorische Gabe, ein Anliegen wirksam zu vertreten. Daher sollte man mit einer Spaltung in der Oberschicht rechnen: Philo führt eine Gesandtschaft an, die das Judentum auch in seiner sichtbaren Erscheinungsform in allen seinen Merkmalen bewahren will. Mit ihm konkurrierte möglicherweise eine andere Gesandtschaft, die zu einer weitergehenden Akkulturation an die Umwelt bereit war. Sie könnte Gruppen vertreten haben, zu denen auch die „radikalen Allegoristen“ gehörten. Sicher können wir das freilich nicht wissen. b) Die „radikalen Allegoristen“ vertreten auf jeden Fall eine andere Einstellung als Philo. Sie reagierten mit ihrer weiter gehenden Anpassung an die nicht-jüdische Umwelt möglicherweise auf den Vorwurf der Absonderung, der amixia gegen die Juden, der uns von Tacitus überliefert ist: „et quia apud ipsos obstinata, misericordia in promptu, sed adversus omnes alios hostile odium“. 43 Vielleicht waren sie bestrebt, die amixia aufzuheben, um sozial zu erscheinen. Philo würde ihnen dann gerade das zum Vorwurf machen, was sie nach ihrer eigenen Intention überwinden wollten: Nicht die Juden, die das Gesetz wörtlich nehmen, seien „unsozial“, sondern sie, die Allegoristen, die ihre Religion durch Verzicht auf äußerlich sichtbare Riten „unsichtbar“ machten und damit der (jüdischen) Gemeinschaft entzögen. Philo misst sie möglicherweise an ihren eigenen Maßstäben. 44 Wenn das die Motivation hinter der Argumentation Philos ist, würde das zeigen: Er kann diese Allegoristen gut verstehen und bemüht sich weiterhin um sie. 40
So H. WILLRICH, Hermes, lx, 1925, 482ff. Laut V.A. TCHERIKOVER, in: ders. (Hg.), Corpus papyrorum Judaicarum, Bd. 2, 43.47, Anm. 75.48, geht es im Claudiusbrief l. 75 (!) nicht um die Forderung des Bürgerrechts für die Juden, sondern um die Verantwortlichkeit für die Aufstände des Jahres 41. Die Meinung, es handele sich um die Aufstände seit 38 weist V.A. TCHERIKOVER, ebd., 48, zurück. 42 So ebd., 52. 43 Tac.hist. 5,1, zitiert nach M. STERN, Greek and Latin Authors on Jews and Judaism. Bd. 2, From Tacitus to Simplicius, Jerusalem 1980, 19. 44 Vgl. G. THEISSEN, Erleben und Verhalten, 473. 41
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Das ritualistische Gesetz
Wenn der allegorische Kommentar zur Genesis, zu dem auch De migratione Abrahami gehört, nun noch vor der Krise des alexandrinischen Judentums entstanden ist, und das ist sehr wahrscheinlich, dann könnte man sich vorstellen, dass die 39–41 n.Chr. erscheinenden Unterschiede Philo noch nicht in all ihren Konsequenzen bewusst waren. Möglicherweise traten diese Unterschiede erst in dieser Krisenzeit hervor.
4.3 Philos Verhältnis zu den „radikalen Allegoristen“ Philos Verhältnis zu den „radikalen Allegoristen“
Als ein Allegorist stimmt Philo grundsätzlich mit dem Exegesestil der Mitglieder dieser „Gruppe“ überein. Immer wenn Philo sich selber einer Gruppe zuordnet, dann ordnet er sich den Allegoristen zu, nicht den Exegeten des Literalsinns. 45 So akzeptiert er die von den sogenannten „radikalen Allegoristen“ vorgenommene symbolische Auslegung des Sabbats als ein Lehrstück über „die Macht des Ungeschaffenen (= Gottes) und die Unwirksamkeit der Geschöpfe“, sowie die symbolische Auslegung der Beschneidung als Hinweis darauf, „daß wir alle Lust und Begierde aus uns 'herausschneiden' sollen und gottlosen Wahn entfernen müssen“, besteht aber gleichzeitig auf der Beachtung der wörtlichen Gesetzesforderung. Dass Philo der Position der „radikalen Allegoristen“, ohne sie zu teilen, sehr nahe steht, zeigt beispielsweise QE II 2, wo es heißt, Proselyt sei nicht der an der Vorhaut Beschnittene, sondern der an den Lüsten und Begierden und den anderen Leidenschaften der Seele Beschnittene. Auch kann Philo die Reinheitsgebote verinnerlichen, ohne sie deshalb außer Kraft setzen zu wollen. 46 Philos Gebrauch des „wir“ und sein generell positiver Tonfall, der die Allegoristen ermutigt, nicht „so nachlässig“ zu sein, lässt zum einen darauf schließen, dass Philo Sympathie für diese Gruppe hegte, 47 und zum anderen vermuten, dass sich diese Allegoristen „der Konsequenzen ihres Handelns bislang nicht bewusst waren“. Philo weist die indirekte Gesetzeskritik der „radikalen Allegoristen“, die diese durch ihr Verhalten zum Ausdruck bringen, argumentativ zurück. Der unaufgebbare Wert des Literalsinns ritueller Gebote besteht für Philo in einem Zweifachen: Zum einen vertritt Philo die These, der Literalsinn helfe, den allegorischen Sinn zu verstehen: „Werden sie (erg. die Gesetze) nämlich recht beobachtet, so wird auch das klarer erkannt, wofür sie Sym45
Vgl. D.M. HAY, Allegorists, 46. Zu spec. III 208f s.u. 4.1.1b). 47 Vgl. D.M. HAY, Allegorists, 47 gegen M. FRIEDLÄNDER, Die religiösen Bewegungen, 285, der vom schweren Tadel Philos spricht. 46
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Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike
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bole sind“ (migr. 93). Zum anderen ist sich Philo der sozialen Dimensionen wörtlicher Gesetzesobservanz bewusst. Die Sorge um einen guten Ruf dominiert den Kontext dieser Passage (migr. 86–105). 48 Philo argumentiert, dass äußere Ehre ein reales, wenn auch untergeordnetes Gut ist, und zwar eines, das für das Glück in der Welt wichtig sei. Die wörtliche Befolgung insbesondere von Ritualgesetzen wurde gerade in Zeiten der Judenverfolgung zum Prüfstein der Loyalität gegenüber dem eigenen Volk (vgl. migr. 88). 49 Rituale als „identity marker“ haben neben ihrer sozialen Funktion auch eine politische Funktion. Die „radikalen Allegoristen“ liefen sowohl aus religiösen als auch politischen Gründen Gefahr, zum Anlass für Tadel anderer Juden zu werden. 50 Daher besteht ein Wert wörtlicher Auslegung darin, dass „man dann auch den Vorwürfen und Anklagen vieler entgeht.“
4.4 Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike
Eine Betonung des ethischen Gehalts von Geboten, wie sie bei den alexandrinischen „radikalen Allegoristen“ in Philo migr. 89ff begegnete, war dem Judentum der alexandrinischen Diaspora und Palästinas und der Religion der griechisch-römischen Antike nicht fremd (4.4.1 und 4.4.2). Sie findet sich zuvor mindestens ansatzweise bei den ebenfalls aus dem alexandrinischen Diasporajudentum stammenden Autoren Aristobulos (Mitte 2. Jh. v.Chr.), Pseudo-Aristeas (Mitte-Ende 2. Jh. v.Chr.), Pseudo-Phokylides (1. Jh. v.Chr.1. Jh. n.Chr.) und schließlich bei Philo selber (4.4.1.1). Für das palästinische Judentum vor Philo und Paulus kann das in Bezug auf Intention und Authentizität kontrovers diskutierte Reinheitslogion Jesu in Mk 7,1551 als Analogie zur Konzentration auf den ethischen Gehalt von Geboten erwogen werden sowie ein Bericht über Johannes den Täufer bei Josephus und Auszüge aus der Gemeinderegel aus Qumran (4.4.1.2). Den jüdischen Quellen, die im Folgenden vorgestellt werden, ist gemeinsam, dass sie sich – am Beispiel der Reinheitsfrage – mit der wahren Gottesverehrung im Gegensatz zu einer veräußerlichten Gottesverehrung auseinandersetzen. Mit ihrer Kritik an veräußerlichter Gottesverehrung stehen sie unter anderem in der Tradition
48 Vgl. D.M. HAY, Allegorists, 48 und PHILO VON ALEXANDRIEN, Die Werke in deutscher Übersetzung, Leopold Cohn/Isaak Heinemann u.a. (Hg.), Bd. 5, 153. 49 Vgl. D.M. HAY, Allegorists, 48. 50 D.M. HAY, ebd., 48, spricht vom „target of censure“. 51 Vgl. G. THEISSEN, Das Reinheitslogion Mk 7,15 und die Trennung von Juden und Christen, in: K. Wengst/G. Saß (Hg.), Ja und nein. Christliche Theologie im Angesicht Israels (FS Wolfgang Schrage), Neukirchen-Vluyn 1998, 235–251.
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Das ritualistische Gesetz
der alttestamentlichen Propheten. 52 Das Phänomen der Verinnerlichung von rituellen Geboten ist auch in der griechisch-römischen Antike breit bezeugt. Eine Reihe von Texten, die sich mit der wahren Reinheit vor Gott beschäftigen (4.4.2), betont die seelische Dimension von Reinigungsriten und Opfern. Paulus könnte bei seiner Kritik an einer veräußerlichten Beachtung von Ritualgesetzen bewusst oder unbewusst sowohl von jüdischer als auch von griechisch-römischer Tradition beeinflusst gewesen sein. 4.4.1 Analogien im Judentum der alexandrinischen Diaspora und Palästinas 4.4.1.1 Verinnerlichung von rituellen Geboten in der alexandrinischen Diaspora a) Der Beginn metaphorischer Bibelauslegung bei Aristobulos
Von Aristobulos, einem alexandrinischen intellektuellen Juden, sind uns nur fünf kurze Fragmente überliefert. 53 Als Zeugnisse beginnender allegorischer Interpretation von biblischen Texten sind die Fragmente 2, 4 und 5 von Interesse. In Fragment 2 54 legt Aristobulos die Anthropomorphismen Gottes „Hand“, Gottes „Stehen“ und sein „Hinuntergehen“ auf den Berg Sinai metaphorisch aus. Zuvor begründet er seine Auslegungsweise mit dem Argument, man müsse das Wort des Mose nicht immer nach der äußerlichen Erscheinung nehmen (kata. th.n evpifa,neian), da Mose von anderen Dingen (evfV e`te,rwn pragma,twn) reden könne als die Worte zu meinen scheinen. Er klagt über diejenigen, die nur „am Buchstaben haften“ (tw/| graptw/| mo,non proskei,menoi) und sich nicht darum kümmern, ob etwas Bewundernswertes (= Göttliches) darin ist. In vergleichbarer Weise legt Aristobulos in Fragment 4 den Anthropomorphismus „göttliche Stimme“ aus. 55 Fragment 5 56 beschäftigt sich mit der Auslegung des Sabbatgebots und mit der Bedeutung von Gottes „Ruhen“ am siebten Tag. Nach einer Auslegung auf der konkreten Ebene bietet Aristobulos zusätzlich eine metaphorische Deutung an, mit der er die eigentliche (fusikw/j) Bedeutung ermitteln möchte. Dabei wird „Licht“ metaphorisch (metafe,roito dV a;n) als „Weisheit“ gedeutet. Texte paganer Autoren, auf die sich Aristobulos anschließend bezieht, zeigten Aristobulos, dass 52 Vgl. die Kultkritik in Am 4,4f.; 5,21–27; Hos 6,6; Mi 6,6–8; Jes 1,10–17; Jer 7,1ff.21ff. Vgl. auch Ps 50,7–15; 51,18f (20f!); 40,7; 69,31f. 53 Vgl. die deutsche Übersetzung von N. WALTER, in: Unterweisung in lehrhafter Form, JSHRZ III/2, Gütersloh 1975, 269–279. 54 Vgl. die Darstellung von F. SIEGERT, Early Jewish Interpretation, 156. 55 Vgl. ebd., 157. 56 Vgl. ebd., 157f.
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Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike
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die Dichter mehr meinen konnten (shmai,nein), als der Kontext vorgibt, und wurden von Aristobulos mit Zahlenmystik uminterpretiert. Die Beschäftigung mit dem mehrfachen Schriftsinn bei paganen Autoren kann als Anfangspunkt für die Übertragung einer solchen Hermeneutik auf die Heilige Schrift gelten. 57 Von der Uminterpretation paganer Texte mit Hilfe von Zahlenmystik war es nur noch ein kleiner Schritt, die Zahlenspekulation auf biblische Texte zu übertragen. 58 Bei Aristobulos schließen wörtliches und metaphorisches Verständnis einander nicht aus. 59 Seine Auslegungsmethode erlaubte jüdischen Intellektuellen, sich sowohl vom Vorwurf der „Unfrömmigkeit“ seitens der Heiden als auch vom jüdischen „Haften am Buchstaben“ zu distanzieren. 60
b) Das Nebeneinander von buchstäblicher und allegorischer Auslegung im Aristeasbrief und in Philo spec. III 208f
Der Aristeasbrief ist ein fiktiver Bericht des heidnischen Beamten Aristeas über die Umstände der Entstehung der Septuaginta in Form eines Briefromans, der wahrscheinlich von einem alexandrinischen Juden gegen Mitte oder Ende des 2. Jh. v.Chr. verfasst wurde. 61 Da es sich um eine apologetische Schrift des hellenistischen Judentums handelt, könnte der Aristeasbrief in einer Situation der Judenverfolgung entstanden sein. Mangels einer sicheren Datierung der Schrift und direkter Bezüge zu Verfolgungen bleibt der politische Hintergrund jedoch unklar. Die Schrift hat wahrscheinlich zwei Adressaten: „die nicht-jüdischen, denen die jüdische Religion in dem Vokabular ihrer eigenen Vorstellungswelt erklärt wird, und die jüdischen, denen erklärt wird, wie sie in einer heidnischen Umgebung als Juden, und zwar als angesehene Bürger einer griechischen polis, leben können.“ 62 R. FELDMEIER beschreibt den Aristeasbrief als „eine Synthese, die sich griechischem Denken weit öffnet und zugleich die eigenen Wurzeln in der Tora 57 F. SIEGERT, ebd., 158, schreibt zum Bezug auf pagane Dichter in Fragment 5: „This is indeed the starting point of the hermeneutics of multiple meanings as observed also in the threefold exposition in §§ 9–10.“ 58 F. SIEGERT, ebd., 158, schreibt zur Zahlenspekulation in Fragment 5: „In most of Aristobulos’ quotations the number seven does not bear the weight of the phrase; it is the interpreter who makes it do so. From here there is only a short step to transfer this truly allegorical hermeneutics to Scripture.“ 59 Vgl. ebd., 160. 60 Vgl. ebd., 162. 61 Vgl. A.M. SCHWEMER, Art. Aristeas [2, Aristeasbrief], DNP 1, 1996, Sp. 1094 und G.S. OEGEMA, Unterweisung in erzählender Form, JSHRZ VI/1, 53. F. SIEGERT, Early Jewish Interpretation, 145: „at the mid-2nd or near the end of the 2nd cent. BCE“. 62 G.S. OEGEMA, Unterweisung in erzählender Form, 55.
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nicht preisgibt, sondern diese allem Assimilierungsdruck zum Trotz ganz zentral in den Mittelpunkt des jüdischen Selbstverständnisses rückt.“ 63 Der Aristeasbrief bezeugt zugleich eine Separation der Juden von den Heiden und eine Öffnung der Juden für die Heiden: Der Stolz auf das Gesetz und die Separation von heidnischen Völkern äußert sich darin, dass das Gesetz als eine „Mauer“ (§ 139) bezeichnet wird. Nichtsdestotrotz nehmen Tischgespräche der 72 jüdischen Gesandten mit dem heidnischen König Ptolemaios II. Philadelphos mehr als ein Drittel 64 des Aristeasbriefes ein (§§187–295) und zeugen auf diese Weise bereits auf der Handlungsebene des Briefromans von einer Öffnung für einen Heiden. Im Aristeasbrief werden die rituellen Gebote der Juden vom Hohenpriester Eleazar allegorisch ausgelegt (§§128–171). 65 Speise- und Reinheitsgebote sind auf zwei Ebenen zu verstehen: Das jüdische Volk soll sie auf der buchstäblichen Ebene beachten, für andere Völker sind sie auf der allegorischen Ebene lehrreich. 66 Neben der erwähnten allegorischen Gesetzesauslegung durch den Hohenpriester, in der sich eine Öffnung für die Heiden zeigt, findet sich im Aristeasbrief eine Aussage über die wahre Gottesverehrung, die sich ebenfalls den Heiden öffnet, indem sie die Reinheit der Seele dem äußerlichen Opfer überordnet. Im Rahmen seines siebentägigen Gastmahls stellt der heidnische König reihum jedem seiner jüdischen Gäste eine Frage. Den Zehnten in der Reihe fragt er (§234): 67 „Was ist der höchste Ruhm?“ Der antwortete: „Gott zu ehren! Dies geschieht aber nicht durch Gaben und Opfer, sondern durch die Reinheit der Seele und der frommen Auffassung, wie von Gott alles nach seinem Willen bereitet und verwaltet wird. Diese Überzeugung vertrittst auch du beharrlich, wie für alle aus deinen früheren und jetzigen Taten ersichtlich ist.“ 68
Dieser Antwort des zehnten Gasts sind Aussagen bei Pseudo-Phokylides (V. 228) und Philo (spec. III 208f) verwandt. Philo selbst hat Ansätze von Spiritualisierung ritueller Gebote, wie beispielsweise die bereits zitierte Interpretation der Beschneidung (siehe 4.3) 63 R. FELDMEIER, Weise hinter „eisernen Mauern“. Tora und jüdisches Selbstverständnis zwischen Akkulturation und Absonderung im Aristeasbrief, in: M. Hengel/A.M. Schwemer (Hg.), Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum, WUNT 72, Tübingen 1994, 36, Hervorhebungen im Original. 64 Vgl. N. MEISNER, Aristeasbrief, in: Unterweisung in erzählender Form, JSHRZ II, Gütersloh 1973, 35–87, 40. 65 Vgl. A.M. SCHWEMER, Art. Aristeas [2, Aristeasbrief], DNP 1, 1996, Sp. 1094. 66 Vgl. G.S. OEGEMA, Unterweisung in erzählender Form, 62. 67 Vgl. P.W. VAN DER HORST, Pseudo-Phocylides Revisited, 28. 68 N. MEISNER, Aristeasbrief, 75.
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und Philo spec. III 208f belegen. In spec. III 208f kommentiert er eine Reinheitsvorschrift mit den Worten: Es soll aber auch, so heisst es (ebd. V. 22), alles unrein sein, was der Unreine berührt, weil es durch die Berührung mit dem Nichtreinen befleckt ist. Dieser Spruch scheint eine allgemeinere Lehre zu verkünden, er bezieht sich nicht bloss auf das Körperliche, sondern geht auch auf die Beschaffenheit und Eigentümlichkeit der Seele ein (ouvk evpi. sw,matoj auvto. mo,non i`sta,menoj, avlla. h;qh kai. tro,pouj prosdiereunw,menoj yuch/j). Denn unrein ist recht eigentlich der Ungerechte und Gottlose, der weder vor Menschlichem noch vor Göttlichem Scheu empfindet.
Das „ouvk ... mo,non“ bei Philo deutet darauf hin, dass Philo „noch nicht den Gedanken einer antithetischen Ausschließung formuliert hat: nicht körperliche, sondern seelische Reinheit.“ 69 Bei ihm stehen wie bei Pseudo-Phokylides wörtlicher und spiritueller (allegorischer) Sinn noch nebeneinander.
c) Die Konzentration auf den spirituellen Sinn eines Ritus in Pseudo-Phokylides Vers 228
Den Epilog der „Sprüche des Pseudo-Phokylides“ leitet der Verfasser in Vers 228 mit Worten ein, die die Reinheit der Seele fordern. Bei den Sprüchen des Pseudo-Phokylides handelt es sich um ein Gedicht mit ethischer Unterweisung, das wahrscheinlich auf die Zeit zwischen dem 1. Jh. v.Chr. und dem 1. Jh. n.Chr. zu datieren ist, 70 möglicherweise von einem Juden in Alexandria verfasst wurde 71 und unter dem Pseudonym des bekannten griechischen Dichters Phokylides veröffentlicht wurde. In Vers 228 heißt es: ~Agnei,h fuch/j, ouv sw,mato,j eivsi kaqarmoi,.
Bereits der Textbestand bereitet Schwierigkeiten: Einige Lesarten gehen von einer Verneinung mit ouv aus (1–3), in anderen Lesarten (4–5) geht man vom Textbestand sou beziehungsweise tou/ aus. 1) Liest man den Text nach D. YOUNG 72 wie oben wiedergegeben, dann kann man mit K. BERGER übersetzen: „Die Reinheit betrifft die Seele, nicht auf den Körper beziehen sich die Reinigungen“. 73 69 H. HÜBNER, Mark. VII.1–23 und das ‘jüdisch-hellenistische’ Gesetzesverständnis, NTS 22, 1975–76, 337. HÜBNER sieht allerdings im ouvvk ... mo,mon bei Philo einen entscheidenden Unterschied zum späteren Ps-Phok V. 228, dessen Spruch er als antithetische Ausschließung interpretiert. 70 Vgl. I. WANDREY, Art. Phokylides, [2] Ps.-Ph., DNP 9, 2000, Sp. 948. 71 Vgl. ebd., Sp. 948. 72 Vgl. D. YOUNG, Theognis, Ps-Pythagoras, Ps-Phocylides, Chares, Anonymi Aulodia, fragmentum teleiambicum, BSGRT, Leipzig 21971, 112.
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Das ritualistische Gesetz
2) P.W. VAN DER HORST 74 liest im Anschluss an A. LUDWICH 75 den Dativ a`gnei,h| und übersetzt: „Reinigungsriten sind für die Reinheit der Seele, nicht des Körpers (bestimmt/dienlich).“ 3) Wenn man mit P a`gnei,ai liest, könnte man dies als Subjekt und kaqarmoi, als Prädikatsnomen auffassen und mit „Reinheiten der Seele, nicht des Körpers, sind die (wahren!) rituellen Reinigungen“ übersetzen. 4) D. YOUNG 76 schlägt im textkritischen Apparat die Lesart a`gnei,h fuch/j sou\ sw,mato,j klt. vor [puritas proprium est animae tuae. ad corpus pertinant purgationes (vel purgamenta) = Die Reinheit betrifft deine Seele, auf den Körper beziehen sich die Reinigungen]. 5) A. FARINA 77 liest: a`gnei,h fuch/j, tou/ sw,mato,j klt. [questa è castità dell’anima, purezza del corpo = „Heiligung ist eine Angelegenheit der Seele, während die Waschungen (nur) den Körper betreffen.“] In den Lesarten, die die Negation mit ouv enthalten (1–3), wird die Antithese zwischen Körper und Seele betont. Aber auch in den Lesarten ohne Negation (4–5) stehen sich Körper und Seele beziehungsweise Reinigungen und Reinheit antithetisch gegenüber. In allen Fällen ist die Gegenüberstellung von Körper und Seele mit einer Abwertung des Körpers und dessen Reinigung und einer Aufwertung der Seele und deren Reinheit verbunden. Unabhängig von der Lesart einer Negation mit ouv darf man also PseudoPhokylides als Zeugen für ein spirituelles Verständnis einer rituellen Vorschrift, der Reinigung des Körpers, heranziehen. Mit H. RÄISÄNEN kann man feststellen, dass Ps-Phok 228 die wahre Bedeutung äußerer Riten, ihre spirituelle und internalisierte Bedeutung, herausstellen wollte, sodass es zwar eine starke Konzentration aber keine Reduktion auf die moralische Seite des Gesetzes gibt. 78 Bei Pseudo-Phokylides wird die reinigende Kraft der Riten nicht bestritten. Die Riten werden auch nicht durch ethische Gebote abgelöst. Allein die Wirkung der Riten wird neu bestimmt: Sie beziehen sich nicht auf den Körper, sondern auf die Seele. 73
Vgl. K. BERGER , Die Gesetzesauslegung Jesu, Teil 1, 467. Vgl. PHOCYLIDES (angebl. Verf.), The Sentences of Pseudo-Phocylides. With Introduction and Commentary by P.W. van der Horst, SVTP 4, Leiden 1978, 258: „Purifications are for the purity of the soul, not (for the purity) of the body.“ 75 Vgl. A. LUDWICH, Über das Spruchbuch des falschen Phokylides, Königsberg 1904, 23. 76 Vgl. D. YOUNG, Theognis, Ps-Pythagoras, Ps-Phocylides, Chares, Anonymi Aulodia, fragmentum teleiambicum, 112. 77 Vgl. A. FARINA, Silloge pseudofocilidae, introd., testo critico, traduzione, commento, Collana di studi greci 37, Neapel 1962. 78 Das Lehrgedicht enthält vor allem Unterweisungen für das tägliche Leben. Diese Beobachtung ist mit zwei Adressatenkreisen vereinbar. 74
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Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike
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Die Aussagekraft des kurzen Verses 228 wird durch dessen Stellung am Ende des Lehrgedichts verstärkt. So folgert K. BERGER aus der Endstellung, Pseudo-Phokylides wolle am Ende seines Gedichts sagen, dass alle kultischen Gesetze des Alten Testaments, die in seinem Gedicht keinen Platz fanden, „auf die Reinheit der Seele hin umzudeuten“ 79 sind.
d) Fazit: Alexandrinisches Judentum
Im Aristeasbrief erfahren Speise- und Reinheitsgebote eine Öffnung für einen allegorischen Sinn bei Wahrung der Riten für die Juden; Opfer werden spirituell gedeutet. Auch bei Philo (spec. III 208f) stehen buchstäblicher und allegorischer Sinn gleichbedeutend nebeneinander. PseudoPhokylides bezeugt eine Konzentration auf den spirituellen Sinn von Reinigungsriten. 4.4.1.2 Verinnerlichung von rituellen Geboten in Palästina a) Das Reinheitslogion Jesu in Mk 7,15: Kritik am Ritus und Respektierung des Ritus
In Mk 7,15 reagiert Jesus auf die Frage der Pharisäer, weshalb seine Jünger entgegen der Überlieferung der Väter mit unreinen Händen essen (V. 5), mit einer Belehrung an das Volk durch ein Gleichniswort: Nichts, was von außerhalb des Menschen in ihn hineinkommt, kann ihn verunreinigen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das verunreinigt den Menschen.80
ouvde,n evstin e;xwqen tou/ avnqrw,pou eivsporeuo,menon eivj auvto.n o] du,natai koinw/sai auvto,n(avlla. ta. evk tou/ avnqrw,pou evkporeuo,mena, evstin ta. koinou/nta to.n a;nqrwponÅ 81
Mit Blick auf das Reinheitslogion in Mk 7,15 sind die Schärfe und damit einhergehend die Reichweite der Aussage umstritten. Zielt die Aussage auf eine antinomistische Reduktion auf den ethischen Gehalt von Geboten und damit auf eine Absage an Ritualgesetze? Oder handelt es sich um eine den Ritus respektierende Konzentration auf den ethischen Gehalt von Geboten? So wird der Aussage, dass es faktisch keine unrein machenden Speisen gibt, von einigen Exegeten ihre Schärfe genommen, indem sie den Gegensatz ouv ... avlla, analog zu Mk 9,37 als „nicht nur ... sondern (noch viel mehr)“ 79
Vgl. K. BERGER, Die Gesetzesauslegung Jesu, Teil 1, 260. Übersetzung nach J. GNILKA, Das Evangelium nach Markus. 1. Teilband (Mk 1–8,26), 275. 81 Der griechische Text des Neuen Testaments richtet sich im Folgenden nach: E. UND E. NESTLE, Novum Testamentum Graece, hg v. K. Aland/B. Aland, Stuttgart 271998. 80
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Das ritualistische Gesetz
uminterpretieren. 82 Auch vor der Drastik, „das, was aus dem Menschen herauskommt“ als Ausscheidung der Speisen zu verstehen, schrecken einige Exegeten zurück, mitunter mit dem Hinweis, die Aussage ziele auf eine Warnung vor Zungensünden. 83 Die Beantwortung der Frage, ob es sich um ein Jesuslogion handelt, muss sich daran orientieren, was im jüdischen Kontext plausibel ist und die Entstehung des Urchristentums verständlich macht. 84 Jüdische Kontextplausibilität gewinnt die Aussage als Jesuslogion zum einen durch die radikale Jüngernachfolge als möglichen „Sitz im Leben“ (vgl. ThEv 14), zum anderen durch – die weniger radikalen – Analogien im alexandrinischen und palästinischen Judentum, Philo spec. III 208f, Ps-Phokylides 5. 228, Ios.ant.Iud. 18,117 und 1QS 3. 85 Die Authentizität des Logions wird von den meisten Exegeten mit dem Hinweis auf die Wirkungsgeschichte bestritten: Hätte Jesus eine klare Aussage zu den Reinheitsgeboten gemacht, so wäre der nachösterliche Streit um die Reinheitsgebote unverständlich. 86 Gegen dieses Argument ist jedoch geltend zu machen, dass es sich nicht um eine Verhaltensanweisung handelt, sondern im Gegenteil um eine als Rätselwort deklarierte indikativische Aussage. 87 Möglicherweise hat Jesus die Überzeugung, nichts, was von außerhalb des Menschen in den Menschen hineinkommt, könne den Menschen verunreinigen, geteilt und trotzdem die Reinheitsgebote aus Respekt vor der Tradition oder um Ärgernis zu vermeiden beachtet. 88 K. BERGER, der Mk 7,15 nicht für ein Jesuslogion hält, sah in Mk 7,15 ein jüdisch-hellenistisches Toraverständnis am Werk, das die sozialen Gebote betonte und die kultischen ignorierte. Dieses Toraverständnis sei von der christlichen Gemeinde in ihrer Kontroverse mit dem pharisäischen Judentum übernommen worden. 89 Auch K. BERGERs These stützt sich neben Ps-Phokylides 228 auf Philo spec. III. 208–209 als Analogie zu Mk 7,15. Beide Stellen sind jedoch weniger radikal als Mk 7,15.
82
Vgl. G. THEISSEN, Reinheitslogion, 238. Vgl. J. GNILKA, Das Evangelium nach Markus. 1. Teilband (Mk 1–8,26), 275ff. 84 Vgl. G. THEISSEN, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 32001, 29. 85 Vgl. G. THEISSEN, Reinheitslogion, 246f. 86 Vgl. ebd., 237. 87 Vgl. ebd., 243.245f. 88 Vgl. ebd., 242f samt Hinweis auf die Reinheitserklärung in Mk 1,41ff und die Tempelsteuerentrichtung in Mt 17,24ff. 89 Vgl. K. BERGER, Gesetzesauslegung Jesu I, 461–483 sowie das Referat von H. HÜBNER, Mark. VII.1–23, 337. 83
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b) Die Bedeutung des Taufritus für Johannes den Täufer (Ios.ant.Iud. 18,117)
Josephus berichtet über Johannes den Täufer, dass dieser zwischen dem äußeren Taufritus zur Heiligung des Leibes und der Bedeutung der Taufe für die Lebensführung des Menschen unterschied (Ios.ant.Iud. 18,117): Dann werde die Taufe Gott angenehm sein, indem sie selbe (sic!) bloß zur Heiligung des Leibes, nicht zur Entsündigung der Seele anwendeten, die dann schon durch ein gerechtes Leben geheiligt sei. 90 ou[tw ga.r dh. kai. th.n ba,ptisin avpodekth.n auvtw/| fanei/sqai mh. evpi, tinwn a`marta,dwn paraith,sei crwme,nwn, avllV evfV a`gnei,a| tou/ sw,matoj, a[te dh. kai. th/j yuch/j dikaiosu,nh| proekkekaqarme,nhj. 91
Diese Darstellung der Taufe ist gewiss an den Adressaten orientiert. Josephus stellt den Täufer als einen Weisheitslehrer dar, der die Menschen den Kanon der zwei Tugenden lehrt: Frömmigkeit gegen Gott und Gerechtigkeit unter den Menschen. Bei der Darstellung der Taufe scheint er einer anderen Auffassung entgegentreten zu wollen, als würden durch die Taufe ohne vorherige Umkehr Sünden vergeben. Dennoch zeigt Josephus, wie ein jüdischer Zeitgenosse die Taufe des Johannes erleben und deuten konnte. Jesus könnte die Lehre von Johannes dem Täufer weiter geführt haben: Er bindet die Sündenvergebung nicht mehr an die Taufe. Er hat selber nicht getauft (trotz Joh 3,21), wenigstens war die Taufe kein wesentliches Merkmal seines Wirkens. 92
c) Die Reinigung durch Geist und Wasser in der Qumrangemeinde (1QS 3)
Für die Qumranessener spielten sowohl die levitische als auch die sittliche Reinheit eine große Rolle. 93 Die Ruinen von Badeanlagen in Qumran zeugen noch heute davon, dass in Qumran Tauchbäder praktiziert wurden. 94 Vor den gemeinschaftlichen, rituell geprägten Mahlzeiten nahmen die Gemeindemitglieder ein Tauchbad. 95 Trotz der Bedeutung der rituellen Reinheit galt den Qumranessenern die Beachtung von Gottes Satzungen als Garant der eigentlichen Reinheit:
90
Zitiert nach JOSEPHUS, FLAVIUS, Jüdische Alterthümer, 603, Ios.ant.Iud. 18,5,2. Zitiert nach: JOSEPHUS, FLAVIUS, Jewish Antiquities, Books XVIII–XX. General Index to Volumes I–IX, Louis H. Feldman (Hg.), Josephus in nine Volumes, Bd. 9, The Loeb classical library 433, with an English translation by Louis H. Feldman, London 1965, 82. 92 Vgl. G. THEISSEN, Der historische Jesus, 194. 93 Vgl. J. GNILKA, Das Evangelium nach Markus. 1. Teilband (Mk 1–8,26), 280. 94 Vgl. ebd., 280. 95 Vgl. ebd., 280. 91
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Das ritualistische Gesetz
„Nicht wird er entsühnt durch Sühnungen, und nicht darf er sich reinigen durch Reinigungswasser, und nicht darf er sich heiligen in Meereswasser 5 oder Flüssen, und nicht darf er sich reinigen durch irgendein Wasser der Waschung. Unrein, unrein soll er sein alle Tage, da er verwirft die Satzungen 6 Gottes, ohne sich zurechtweisen zu lassen in der Gemeinschaft seines Rates.“ (1QS 3,4–6) 96
Wer in die Gemeinde eintritt, wird zuerst durch „heiligen Geist“ von seinen Verschuldungen gereinigt, danach erfolgt die rituelle Reinigung (vgl. 1QS 3,7–9). 97
d) Fazit: palästinisches Judentum
Im palästinischen Judentum vor Paulus ist keine völlige Absage an rituelle Gesetzesobservanz belegt. Jesus könnte die Unreinheit von Speisen angezweifelt haben. Sein Verständnis von Reinheit (Mk 7,15) könnte mit dazu beigetragen haben, dass er selber nicht taufte. 4.4.2 Analogien in der griechisch-römischen Antike Die Verinnerlichung von rituellen Geboten begegnet auch als Topos in (kultischen) Texten der griechisch-römischen Antike. Wir machen das im Folgenden am Topos der wahren Reinheit vor Gott klar, die unabhängig von ritueller Reinheit ist. Dieser Topos der „wahren Reinheit vor Gott“ ist, wie die nachfolgend aufgeführten Zeugnisse belegen, auch in der griechischrömischen Antike über mehrere Jahrhunderte hinweg ein zentrales Thema.98 Häufig wird dieses Thema mit einer Körper-Seele-Dichotomie verbunden. 1) Vom Vorsokratiker Ps.-Epicharmos ist eine Sentenz überliefert (DK 23 B 26), von der noch Clemens Alexandrinus 99 zu berichten weiß:
96
Vgl. ebd., 280. Zitiert nach E. LOHSE (Hg.), Die Texte aus Qumran, 9.11. Vgl. G. THEISSEN, Das Reinheitslogion, 246. 98 Vgl. zu den im Folgenden aufgeführten Parallelstellen zu den Versen des Ps-Phok den Anhang „Passages Parallèles“, PHOKYLIDES, MILESIUS, Les Sentences, texte, traduction, commentaire par Pascale Derron, Paris 1986, 53. 99 CLEMENS ALEXANDRINUS bezieht sich in Stromateis 7,27,4 auf Ps.-Epicharmos. Vgl. CLEMENS ALEXANDRINUS, Des Clemens von Alexandreia ausgewählte Schriften. Bd. 5, Des Clemens von Alexandreia Teppiche wissenschaftlicher Darlegungen entsprechend der wahren Philosophie (Stromateis), Buch VII. Register zu Band III–V, BKV 2,20, München 1938, 33, mit Verweis auf Platon, Defin. p. 414 A. in der Anmerkung des Herausgebers: „4. Denn in der Tat ist die Reinheit nichts anderes als die Enthaltung von Sünden. 5. Trefflich sagt daher auch Epicharmos: ‚Wenn du rein dein Herz dir wahrest, ist dein ganzer Körper rein.‘“ 97
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Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike
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Wenn du einen reinen Geist hast, bist du am ganzen Körper rein. 100
kaqaro.n a'n to.n nou/n e;chij, a[pan to. sw/ma kaqaro.j ei=. 101
2) Inschriften griechischer Städte102 bezeugen kultische Vorschriften, die die Reinheit von Körper und Seele (Nr. 91), reine Hände und eine reine Seele (Nr. 59) oder einen reinen Geist (Nr. 108) fordern. In Nr. 91 (Lindos, kultische Regel, 3. Jh. n.Chr.) geht es um körperliche und seelische Reinheit beim Betreten eines Tempels: [Ka]qaro[u].j [kai. a`gnou.j] [p]eriranthri,wn ei;sw kai. tw/n tou/ naou/ [pulw/n] [...] mh. to. [sw/] ma mo,non avlla. kai. th.n yuch.n 103 kekaqarme,nouj \ 104
In Nr. 59,13 (Delos, Regel für den Kult des Zeus Kynthios und der Athene Kynthia, römische Zeit) wird von reinen Händen und einer reinen Seele gesprochen: ce]rsi.n kai. yuch/| kaqa -]ra/| 105
Nr. 108,4–7 (Rhodos, kultische Regel, 1. Jh. n.Chr.) enthält die Forderung, man müsse, wenn man in den wohlriechenden Tempel hinein schreite, nicht durch das Bad, sondern durch die Einstellung rein sein: a`gno.n crh. naoi/o q[u]w,deoj evnto.j ivo,nt[a] e;nmenai \ ouv loutro/i avlla. no,w| kaqaro,n. 106
3) In der Anthologia Palatina (= Anthologia Graeca) 14,71 wird überliefert: Fremdling, mit lauterer Seele betritt den Tempel der keuschen Gottheit, benetze dich nur fromm aus dem Nymphenquell erst! 100
Eigene Übersetzung. H. DIELS (Bearb.)/W. KRANZ (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch. Bd. 1, [1–58], Dublin/Zürich 1972, 16. Aufl., unveränd. Nachdr. d. 6. Aufl., 202. 102 F. SOKOLOWSKI, Lois sacrées des cités grecques. Supplément, Travaux et mémoires des anciens membres étrangers de l'École et de divers savants, Fasc. XI / École Française d'Athènes, Paris 1962. 103 F. SOKOLOWSKI, ebd., 161, bemerkt zu dieser Stelle: „La mention de l´âme trahit une influence philosophique et morale qui apparaît dans les cultes orientaux surtout“. 104 Zitiert nach F. SOKOLOWSKI, Lois sacrées, 159f. 105 Zitiert nach F. SOKOLOWSKI, Lois sacrées, 114. F. SOKOLOWSKI, ebd., 114, bemerkt zu dieser Stelle: „L ´allusion à la pureté morale trahi l´influence philosophique de l´époque tardive“. 106 Zitiert nach F. SOKOLOWSKI, Lois sacrées, 177. F. SOKOLOWSKI, ebd., 177, bemerkt unter Anführung weiterer Vergleichsstellen: „La tendance morale apparaît dans plusieurs règlements de la basse époque“. 101
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Das ritualistische Gesetz
Reicht doch für gute Menschen ein Tropfen schon; aber die bösen reinigt mit sämtlichem Naß selbst der Okéanos kaum. 107
~Agnh/j eivj te,menoj kaqaro,j(xe,ne(dai,monoj e;rcou yuch.n numfai,ou na,matoj a`ya,menoj\ w`j avgaqoi/j avrkei/ baih. liba,j\ a;ndra de. fau/lon ouvvdV a'n o` pa/j ni,yai na,masin wvkeano,jÅ 108
4) In den Sentenzen des Sextus (Sext. Pyth., Sent. 23) von circa 200 n.Chr. heißt es: Die beste Form der Reinigung ist es, niemandem Unrecht zu tun. 109
:Ariston h`gou/ kaqarmo.n to. mhde,na avdikei/n. Optimam purificationem putato nemini nocere. 110
5) Von Demophilos ist Sent. 45 (Fr. Phil. Gr. 1,499 Mul.) 111 überliefert: Gott hat keine heimischere Wohnstatt auf der Erde als eine reine Seele. 112
Yuch/j a`gnh/j to,pon oivkeio,teron evpi. gh/j ouvvk e;cei qeo,jÅ
6) Cicero (106–43 v.Chr.) schreibt in De natura deorum II,71: 113 Die vollkommenste und zugleich geziemendste, heiligste und frömmste Art der Verehrung (erg.: der Götter) ist die, daß wir ihnen immer mit reinem, unbeflecktem und unverdorbenem Geist und Wort nahen. Denn nicht nur die Philosophen, sondern auch unsere Vorfahren haben den Aberglauben von der Religion abgetrennt. cultus autem deorum est optimus idemque castissimus atque sanctissimus plenissimusque pietatis, ut eos semper pura integra incorrupta et mente et voce veneremur. non enim philosophi solum verum etiam maiores nostri superstitionem a religione separaverunt.
107
Übersetzung in Anlehnung an: Die Griechische Anthologie in drei Bänden. Bd. III, Buch XI–XVI, Dietrich Ebener (Hg.), Berlin/Weimar 1981, 214. 108 Anthologia Graeca. Buch XII–XVI mit Namen- und Sachverzeichnis und anderen vollständigen Registern. Griechisch-deutsch, Hermann Beckby (Hg.), München 21965, 206. 109 Eigene Übersetzung. 110 SEXTUS PYTHAGOREUS, Sexti Pythagorici, Clitarchi, Evagrii Pontici Sententiae. Bd. 1, Sexti sent. 1–451 cum versione Rufini, Antonio Elter (Hg.), Gnomica 1, Bonnae 1892, VI. 111 Fragmenta Philosophorum Graecorum. Bd. 1, Poeseos philosophicae caeterorumque ante Socratem philosophorum quae supersunt, collegit, recensuit, vertit, annotationibus et prolegomenis illustravit, indicibus instruxit Fr. Guil. Aug. Mullachius, Paris 1860, 499. 112 Eigene Übersetzung. 113 M.T. CICERO, Vom Wesen der Götter. Lateinisch-deutsch, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Olof Gigon und Laila Straume-Zimmermann, Sammlung Tusculum, Zürich/Düsseldorf 1996, 150 (lat.). 151 (dt.).
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7) Porphyrius (ca. 234–305/10 n.Chr.) schreibt in De Abstinentia 2,19 114 man müsse vor dem Opfern sein Wesen reinigen (V. 4: dei/ toi,nun kaqhrame,nouj to. h=qoj ive,nai qu,sontaj). Nach der allgemein herrschenden Ansicht der Leute reiche es nicht aus, beim Opfern ein sauberes Gewand über einem unreinen Körper zu tragen. Auch ein reiner Körper und reine Kleidung seien unzureichend, wenn man die Seele nicht von allem Bösen gereinigt habe (mh. kaqara.n kakw/n th.n yuch.n e;contej). Porphyrius weist auf die Inschrift aus Epidauros hin, in der es heißt, wer in den Tempel gehe, wo der Weihrauch brennt, solle rein sein. Die Reinheit bestehe darin, fromm zu denken (a`gno.n crh. naoi/o quw,deoj evnto.j ivo,nta e;mmenai\ a`gnei,a dV evsti. fronei/n o[sia). 115 Dieser Vorrang der wahren Gottesverehrung vor ritueller Reinheit bezieht sich in der Antike nicht nur auf Reinheitsriten, sondern auf alle kultischen Akte, auch auf die Opfer. So lehrt der Redner Isokrates 116 (436– 338 v.Chr.) über die religiösen Bräuche (Ad Nicoclem 20): Handle in der Verehrung der Götter so, wie es dir deine Vorfahren gezeigt haben. Betrachte es als das schönste Opfergeschenk und die größte Huldigung für die Götter, wenn du dich selbst als möglichst gut und gerecht erweist (a'n w`j be,ltiston kai. dikaio,taton sauto.n pare,ch|j). Wer dies tut, hat bessere Aussichten, von den Göttern Gutes zu erfahren, als alle, die viele Opfertiere schlachten (ma/llon ga.r evlpi.j tou.j toiou,touj h' tou.j i`erei/a polla. kataba,llontaj pra,xein ti para. tw/n qew/n avgaqo,n). 117
Wir können nun eine zusammenfassende Interpretation versuchen: In der Antike hat man religiöse Traditionen sehr oft durch allegorische Interpretation angeeignet. Im Judentum Alexandriens hat auch das hellenistische Judentum diese Auslegungsstrategie auf die eigenen Traditionen angewandt. Das gilt sowohl für mythische Vorstellungen (wie die Rede von den „Händen Gottes“) als auch für rituelle Normen. Gerade sie erwiesen sich für das Verhältnis zur Umwelt als ein Problem, insbesondere die jüdischen identity marker Beschneidung, Speisegebote (also der Unterschied zwischen reinen und unreinen Speisen) und die Festtage. Für Philo haben sie einen tieferen Sinn, aber er insistierte darauf, dass man sie auch wörtlich nahm. „Radikale Allegoristen“ in seiner Umgebung aber haben unter Berufung auf diesen tieferen Sinn deren Praxis vernachlässigt und zumindest dann auf sie ver114 PORPHYRIUS, Opuscula selecta. Augustus Nauck (Hg.), BSGRT, reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1886, Hildesheim 1963, 148f. 115 In Anlehnung an: PORPHYRIUS, De l´abstinence. Tome II, Livres II et III, texte établi et traduit par Jean Bouffartigue et Michel Patillon, Paris 1979, 86f. 116 Vgl. I. HEINEMANN, Bildung, 472. 117 Übersetzung: ISOCRATES, Sämtliche Werke. Bd. I, Reden I–VIII, übersetzt von Christine Ley-Hutton, eingeleitet und erläutert von Kai Brodersen, BgrL 36, Stuttgart 1993, 23. Griechischer Text: ISOCRATES, Opera omnia. Bd. II, edidit Basilius G. Mandilaras, München/Leipzig 2003, 34.
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Das ritualistische Gesetz
zichtet, wenn diese Praxis zu Schwierigkeiten führte. Mit solch einer Einstellung konnten sie im Judentum wie in der nicht-jüdischen Antike auf Verständnis hoffen. Dass die Götter nicht an äußerer Reinheit und Opfern interessiert waren, sondern an einer wahren Gottesverehrung durch Tun des Guten und durch eine innere Reinheit, war eine weitverbreitete Überzeugung. Bei solch einer allegorischen und spirituellen Gesetzesinterpretation handelt es sich nach der Absicht ihrer Träger nicht um Gesetzeskritik, sondern um eine Erfüllung des Gesetzes entsprechend ihrem tieferen Sinn. Faktisch aber wurde ihre Haltung zum Gesetz zur Gesetzeskritik, wenn sie den tieferen Sinn gegen den Buchstaben ausspielten und diese Position im Dialog mit Gruppen vertraten, für die eine buchstäbliche Erfüllung unverzichtbar war. Es könnte im alexandrinischen Judentum darüber in der Krisenzeit der Jahre 39/41 n.Chr. zu einer Spaltung gekommen sein: Vielleicht stecken Differenzen über die Gesetzespraxis und die Abgrenzung von der Umwelt hinter der Spaltung der dortigen Judenschaft, die im Jahr 41 n.Chr. zu zwei Delegationen an den Kaiser Gaius Caligula führen. Jedoch lässt sich das nur vermuten.
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5. Das sekundäre Gesetz. Die Posteriorität der Staatsgesetze in Philo, De Josepho 28–31
Das sekundäre Gesetz
Das Motiv des durch eine allegorische Auslegung verinnerlichten Gesetzes ist von dem vierten hier zu behandelnden Motiv des sekundär hinzugekommenen Gesetzes deutlich unterschieden: Die äußere Beschneidung geschieht einmal im Leben eines Menschen, die dadurch symbolisierte Überwindung der Affekte ist dagegen eine zeitlose Aufgabe. Der symbolische Sinn der Gesetze zielt immer auf eine zeitlose Aufgabe. Bei dem Motiv des sekundären Gesetzes ist dagegen die zeitliche Dimension entscheidend: Ein ursprüngliches Gesetz wird durch neu hinzugekommene Gesetze verändert und beide sind wörtlich gemeint. Dennoch gibt es eine formale Gemeinsamkeit: Das Verhältnis von symbolischem und wörtlichem Sinn und von ursprünglichem und hinzugekommenem Gesetz impliziert keine eindeutige Gesetzeskritik. Nur in bestimmten Konstellationen wird ihr Verhältnis zur Kritik des Gesetzes – dann, wenn der symbolische Sinn der Gesetze gegen ihren wörtlichen Sinn oder wenn das ursprüngliche Gesetz gegen das sekundäre Gesetz ausgespielt wird. Theoretisch könnte auch das wörtlich praktizierte Gesetz als überlegen bewertet werden und das später hinzugekommene Gesetz als Erfüllung und Überbietung des ursprünglichen Gesetzes gelten. In beiden Fällen kommt es also auf die konkrete Interpretation des Verhältnisses von Buchstabe und Sinn, Ursprünglichem und Sekundärem an, damit aus ihrem Verhältnis Gesetzeskritik entsteht. Philo entfaltet den Gegensatz eines ursprünglichen und sekundär hinzugekommenen Gesetzes am Beispiel von Joseph. Ausgehend von der allegorischen Auslegung dieses Namens geht Philo in De Josepho 28–31 auf das Verhältnis von Naturgesetz und hinzugefügten Staatsgesetzen ein. 1 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die zeitliche Nachordnung, die Posteriorität von Gesetzen, bei Philo eindeutig eine Kritik an diesen posterioren Gesetzen zum Ausdruck bringt.
1 Auf die Stelle De Josepho 28–31 haben neben G. THEISSEN (ders., Die Religion der ersten Christen, 290–294.304–308; ders., Erleben und Verhalten, 472–479; ders., The New Perspective on Paul and Its Limits, 77–79) bereits H.D. BETZ, Der Galaterbrief, 298f samt Anm. und F. VOUGA, An die Galater, HNT 10, Tübingen 1998, 83, im Zuge der Interpretation von Gal 3,19 hingewiesen.
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Das sekundäre Gesetz
Nach einer Vorstellung der zu analysierenden Textstelle De Josepho 28–31 (5.1) soll Philos Kritik an Staatsgesetzen analysiert und auf (rechts-)philosophische Traditionen hin befragt werden (5.2). Anschließend wird dargestellt, weshalb das mosaische Gesetz den Gesetzen anderer Völker überlegen ist und sich Philos Kritik an Einzelgesetzen nur auf Gesetze anderer Völker bezieht und nicht etwa Kritik am eigenen jüdischen Volksgesetz beinhaltet (5.3). Auf den Nachweis von Kritik an partikularen Volksgesetzen bei Philo (5.4) folgt (5.5) die Darstellung von Gedankengut im Judentum und der griechisch-römischen Antike, das spätere Entwicklungen im Vergleich zu etwas vorher Dagewesenem abwertend beurteilt.
5.1 Zur Quelle Philo, De Josepho 28–31 Zur Quelle Philo, De Josepho 28–31
De Josepho 28–31: 28 :Axion me,ntoi meta. th.n r`hth.n dih,ghsin kai. ta. evn u`ponoi,aij prosapodou/nai\ scedo.n ga.r ta. pa,nta h' ta. plei/sta th/j nomoqesi,aj avllhgorei/taiÅ o` toi,nun evpikrino,menoj tro,poj para. me.n ~Ebrai,oij VIwsh.f kalei/tai(para. d {Ellhsi „kuri,ou pro,sqesij“(euvqubolw,taton o;noma kai. tw/| dhloume,nw| pra,gmati oivkeio,taton\ prosqh,kh ga,r evsti th/j to. ku/roj a`pa,ntwn avnhmme,nhj fu,sewj h` kata. dh,mouj politei,aÅ 29 h` me.n ga.r megalo,polij o[de o` ko,smoj evsti. kai. mia/| crh/tai politei,a| kai. no,mw| e`ni,\ lo,goj de, evsti fu,sewj prostaktiko.j me.n w=n prakte,on(avpagoreutiko.j de. w=n ouv poihte,on\ ai` de. kata. to,pouj au-tai po,leij avperi,grafoi, te, eivsin avriqmw/| kai. politei,aij crw/ntai diaferou,saij kai. no,moij ouvci. toi/j auvvtoi/j(a;lla ga.r parV a;lloij e;qh kai. no,mima parexeurhme,na kai. prosteqeime,naÅ 30 ai;tion de. to. a;mikton kai. avkoinw,nhton ouv mo,non ~Ellh,nwn pro.j barba,rouj h' barba,rwn pro.j {Ellhnaj(avlla. kai. to. e`kate,rou ge,nouj ivdi,a| pro.j to. o`mo,fulon\ ei=qV w`j e;oike ta. avnai,tia aivtiw,menoi(kairou.j avboulh,touj(avgoni,an karpw/n(to. lupro,gewn(th.n qe,sin o[ti para,lioj h' meso,geioj h' kata. nh/son h' kata. h;peiron h' o[sa tou,toij o`moio,tropa(tavlhqe.j h`suca,zousin\ e;sti dV h` pleonexi,a kai. h` pro.j avllh,louj avpisti,a(diV a]j ouvk avrkesqe,ntej toi/j th/j fu,sewj qesmoi/j ta. do,xanta sumfe,rein koinh/| toi/j o`mognw,mosin o`mi,loij tau/ta no,mouj evpefh,misanÅ 31 w[ste eivko,twj prosqh/kai ma/llon ai` kata. me,roj politei/ai mia/j th/j kata. th.n fu,sin\ prosqh/kai me.n ga.r oi` kata. po,leij no,moi tou/ th/j fu,sewj ovrqou/ lo,gou(prosqh,kh de, evsti politiko.j avnh.r tou/ biou/ntoj kata. fu,sinÅ 2
2 Zitiert nach: PHILO ALEXANDRINUS, Philonis Alexandrini Opera quae supersunt, recogn. Leopoldus Cohn/Paulus Wendland, Ed. minor, Bd. 4, Berolini 1902, 67f.
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Zur Quelle Philo, De Josepho 28–31
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5.1.1 Übersetzung 28 Es lohnt sich, nachdem wir diese Begebenheiten nach dem Wortlaut (der h. Schrift) erzählt haben, auch die allegorischen Implikate beizufügen; denn nahezu alles oder das meiste in der Gesetzgebung (des Moses) hat eine allegorische Bedeutung. Die Lebensrichtung, um deren Deutung es sich hier handelt, heißt bei den Hebräern Joseph, bei den Griechen „Zusatz zum 3 Herrn“, eine zutreffende und für die so dargetane Sache sehr passende Bezeichnung; denn ein Zusatz zur 4 Natur, welche die Herrschaft über alles inne hat, ist die bei den einzelnen Völkern herrschende Staatsverfassung. 29 Der „Grossstaat“ nämlich ist diese Welt, und er hat eine einzige Verfassung und ein einziges Gesetz: es ist der Logos der Natur, der gebietet, was getan werden muss, und verbietet, was nicht getan werden soll. Diese territorial geschiedenen Staaten aber sind an Zahl unbestimmt und haben verschiedene Verfassungen und nicht dieselben Gesetze; denn bei den einen Völkern wurden diese, bei den anderen jene Sitten und Gebräuche erfunden oder später hinzugefügt. 30 Die Ursache davon ist der Mangel an Vermischung und Austausch nicht nur der Hellenen mit den Barbaren und der Barbaren mit den Hellenen, sondern auch (erg.: der innere Mangel an Vermischung und Austausch) jeder der beiden Volksstämme mit ihren stammverwandten. Indem sie gewöhnlich als Ursache angeben was nicht schuld ist, unerwünschte Zeitumstände, Unfruchtbarkeit des Landes, steinigen Boden, die Lage am Meere oder im Binnenlande, auf einer Insel oder auf dem Festlande, und anderes dergleichen, verschweigen sie die wahre Ursache: die Habgier und das gegenseitige Misstrauen ist es, weshalb sie, nicht zufrieden mit den Satzungen der Natur, das, was den gleichgesinnten Massen gemeinhin von Nutzen zu sein scheint, „Gesetze“ nennen. 31 Darum sind die Einzelverfassungen im Grunde eher Zusätze zu der einen Naturverfassung; denn die Gesetze in den Einzelstaaten sind Zusätze zu der rechten Vernunft der Natur; und so ist auch der Staatsmann ein Zusatz zu demjenigen, der gemäß der Natur lebt. 5
3 Mit V. NIKIPROWETZKY, Kuri,ou pro,sqesij. Note critique sur Philon d´Alexandrie, De Iosepho, 28, REJ 127, 1968, 387–392, abweichend von L. COHN: PHILO VON ALEXANDRIEN, Die Werke in deutscher Übersetzung, Leopold Cohn/Isaak Heinemann u.a. (Hg.), Bd. 1, 164. 4 Abweichend von L. COHN: PHILO VON ALEXANDRIEN, ebd., 164. 5 Eigene Übersetzung in Anlehnung PHILO VON ALEXANDRIEN, Die Werke in deutscher Übersetzung, Leopold Cohn/Isaak Heinemann u.a. (Hg.), Bd. 1, 164f; PHILO ALEXANDRINUS, De Iosepho, Les oeuvres de Philon d'Alexandrie 21, par Jean Laporte, Paris 1964, 55; V. NIKIPROWETZKY, Kuri,ou pro,sqesij, 387–392.
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Das sekundäre Gesetz
Die Übersetzung der die Namensallegorie eröffnenden Wendung kuri,ou pro,sqesij (Jos. 28) durch „Zusatz zum Herrn“ verdient einige Beachtung. Sie geht auf VALENTIN NIKIPROWETZKY zurück und bietet eine interessante Alternative zu den Übersetzungen von J. LAPORTE, F.H. COLSON und L. COHN. Während J. LAPORTE mit „addition d´un seigneur“6 übersetzt, F.H. COLSON mit „addition of a lord“ 7 und L. COHN mit „Zusatz des Herrn“, 8 spricht sich V. NIKIPROWETZKY 9 für die Übersetzung von kuri,ou pro,sqesij mit „addition au Seigneur“ („Zusatz zum Herrn“) aus. Seine Übersetzung basiert auf zwei noch zu erläuternden Annahmen: Erstens handelt es sich bei der Konstruktion um einen Genitiv, der hier die Funktion eines Dativs übernimmt und die Sache bezeichnet, der etwas hinzugefügt wird und zweitens ist mit ku,rioj der Gott der Juden gemeint. Mit diesen beiden Annahmen distanziert sich V. NIKIPROWETZKY von den Übersetzungen von J. LAPORTE (addition d´un seigneur) und F.H. COLSON (addition of a lord). Die Übersetzungen von J. LAPORTE und F.H. COLSON halten zum einen an einem Genitiv fest – und sind dabei prinzipiell sowohl für einen Genitivus Subjectivus (Zusatz, den ein Herr bewirkt) als auch für einen Genitivus Objectivus [es wird ein Herr (= Joseph?) hinzugefügt] 10 offen – und verzichten zum anderen in der Übersetzung von ku,rioj auf den bestimmten Artikel, da sie ku,rioj nicht mit Gott dem Herrn identifizieren. Eine der beiden Fehlannahmen bei J. LAPORTE und F.H. COLSON sieht V. NIKIPROWETZKY in L. COHNS Übersetzung „Zusatz des Herrn“ beseitigt, da L. COHN den ku,rioj zu Recht mit dem Gott der Juden identifiziert. 11 Für die Identifikation des ku,rioj mit dem Gott der Juden spricht laut V. NIKIPROWETZKY, dass Philo Gott in Übereinstimmung mit der LXX als ku,rioj oder o` ku,rioj bezeichnet, sowie die Erklärung des Namens Josua bei Philo (Mut 121), die sich ebenfalls des Genitivs ku,riou bedient. Gegen die Übersetzung mit einem Genitiv beziehungsweise zugunsten der Übersetzung mit einem Dativ kann V. NIKIPROWETZKY keine gramma-
6
PHILO ALEXANDRINUS, De Iosepho, Les oeuvres de Philon d'Alexandrie 21, 55. PHILO ALEXANDRINUS, Philo in ten volumes (and two supplemantary volumes). Bd. VI, with an English translation by F.H. Colson, The Loeb classical library, Cambridge/Massachusetts/London repr. 1984, 155. 8 PHILO VON ALEXANDRIEN, Die Werke in deutscher Übersetzung, Leopold Cohn/Isaak Heinemann u.a. (Hg.), Bd. 1, 164. 9 Vgl. V. NIKIPROWETZKY, Kuri,ou pro,sqesij, 387–392. 10 Vgl. ebd., 388: „Faut-il penser que Colson voyait dans ce «seigneur» le maître tempérant que s’acquiert l ´eunuque [...], alors même qu´il pense acheter un esclave hébreu?“ 11 Vgl. ebd., 389. 7
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Zur Quelle Philo, De Josepho 28–31
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tikalischen Argumente anführen, 12 sondern muss die Logik des unmittelbaren Kontextes als Argument geltend machen. V. NIKIPROWETZKY stellt fest, dass Philo drei Substantive für „Zusatz“ kennt (pro,sqema, pro,sqesij, prosqh,kh) und zeigt daraufhin das Problem an, dass ein syntaktischer Unterschied pro,sqesij und prosqh,kh trennt: Nach pro,sqesij steht in der Regel die zugefügte Sache im Genitiv und die Sache, der man etwas hinzufügt im Dativ; bei prosqh,kh bezeichnet das Nomen im Genitiv das Objekt, dem man etwas hinzufügt (vgl. prosqh,kh ... fu,sewj: „Zusatz zur Natur“). 13 Den Regeln der Grammatik folgend müsste man ku,riou pro,sqesij also mit J. LAPORTE, F.H. COLSON und J. COHN mit „Zusatz eines Herrn“ beziehungsweise „Zusatz des Herrn“ übersetzen, eine Übersetzung, die sich laut V. NIKIPROWETZKY nicht sinnvoll in den näheren Kontext fügt. 14 V. NIKIPROWETZKY vermutet, dass sich eine Uniformierung zwischen den Konstruktionen von pro,sqesij und prosqh,kh, den im Text nah beieinander stehenden Begriffen, vollzogen hat. 15 Untermauert wird seine These durch die Beobachtung, dass sich bei Philo drei Beispiele finden, in denen prosqh,kh wie pro,sqesij konstruiert ist. 16 V. NIKIPROWETZKY geht für die Stelle in De Josepho vom umgekehrten, zwar analogielosen, aber dennoch plausiblen Fall aus, dass hier pro,sqesij wie prosqh,kh konstruiert ist und folglich mit „Zusatz zu...“ zu übersetzen ist. 17 Zudem hat V. NIKIPROWETZKY beobachtet, dass Philo auf das Wort ku,rioj in seiner anschließenden Erläuterung „prosqh,kh ga,r evsti th/j to. ku/roj a`pa,ntwn avnhmme,nhj fu,sewj h` kata. dh,mouj politei,a“ mit to. ku/roj zur Bezeichnung der Herrschaft der Natur, welcher die Staatsverfassung der Völker hinzugefügt wird, ein sehr ähnliches Wort folgen lässt. 18 Hieraus folgert V. NIKIPROWETZKY, dass der Gott der Juden schon in der Wendung kuri,ou pro,sqesij im stoischen Sinne als Natur aufgefasst wird. 19
12
Vgl. ebd., 389. Vgl. ebd., 389f. 14 Vgl. ebd., 388.389.391. 15 Vgl. ebd., 391. 16 Vgl. ebd., 391. 17 Vgl. ebd., 391. 18 Vgl. ebd., 391f. 19 Vgl. ebd., 392. 13
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Das sekundäre Gesetz
5.1.2 Zum Verfasser und zur Datierung der Quelle Über das Leben von Philo, dem Verfasser der Schrift De Josepho, ist, wie bereits im vorangehenden Kapitel bemerkt, wenig bekannt. 20 Auch über die Datierung seiner Schriften lässt sich nichts Genaueres sagen, als dass sie alle in der ersten Hälfte des 1. Jh. entstanden sein dürften. 21 5.1.3 Adressaten und Form der Quelle Der Stil der sogenannten „Gesetzesauslegung“ (Expositio legis), welcher die Schrift De Josepho zugeordnet wird, hat oft zur Vermutung Anlass gegeben, dass die Expositio legis zumindest auch, wenn nicht sogar primär, für ein nicht-jüdisches Publikum gedacht war. 22 Sie enthält vergleichsweise wenig Allegorisches und viel Apologetisches, setzt die universale Gültigkeit der Gesetze voraus und möchte eine Anleitung zu einem guten Leben für alle Menschen bieten. 5.1.4 Die Stellung von De Josepho 28–31 im Philocorpus und in der Schrift De Josepho (bi,oj politikou/) Philo behandelt in De Josepho 28–31 das Verhältnis von Welt- und Staatsgesetzen beziehungsweise Welt- und Staatsverfassung. Die Schrift De Josepho ist Teil eines Philocorpus, das die Forschung rekonstruiert und mit dem künstlichen Titel Expositio legis versehen hat. 23 Möglicherweise wollte Philo mit diesem Corpus das „Gesetz“ von der Schöpfung bis zum Eschaton darstellen. 24 De opificio mundi, eine Schrift zur Kosmogonie, war als Einleitung des Corpus vorgesehen (vgl. De praemiis et poenis 1–2). 25 Darauf folgen mit De Abrahamo, De Josepho, De vita Mosis I und II vier historische Schriften. 26 An die historischen Schriften schließen sich sieben gesetzliche Schriften (De Decalogo; De specialibus 20
Vgl. F. SIEGERT, Early Jewish Interpretation, 164. Vgl. ebd., 166. 22 Vgl. zu den Adressaten von Mos. I.II und opif. P. BORGEN, Philo of Alexandria, in: Michael E. Stone (Hg.), Jewish Writings of the Second Temple Period. Apocrypha, Pseudepigrapha, Qumran Sectarian Writings, Philo, Josephus, CRI / publ. under the auspices of the Foundation Compendia Rerum Iudaicarum ad Novum Testamentum, Amsterdam/Assen 1984, 233–282, 235f. 23 Vgl. F. SIEGERT, Early Jewish Interpretation, 166f. 24 Vgl. ebd., 180. 25 Vgl. ebd., 180. 26 Vgl. ebd., 167.180. 21
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Zur Quelle Philo, De Josepho 28–31
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legibus I–IV; De virtutibus; De praemiis et poenis) an, deren letzte sich mit dem Eschaton beschäftigt. 27 Die Abhandlungen der Patriarchen Isaak und Jakob, die im Corpus ursprünglich auf De Abrahamo folgten, sind nicht erhalten. 28 Joseph war – wie uns Philo selber lehrt (De Josepho 1) – ursprünglich nach den drei Patriarchen die vierte biblische Gestalt, der Philo eine eigene Schrift im Corpus widmete. Dass die Patriarchen und Joseph, Figuren, die vor der Offenbarung des mosaischen Gesetzes lebten, überhaupt einen Platz in der Expositio legis fanden, mag zunächst überraschen. Philo hat sich mit dem gedanklichen Problem, wie ein vorbildliches Leben vor der Sinaigesetzgebung möglich war, auseinander gesetzt. Er kam zu dem Schluss, dass den Patriarchen keineswegs ein vom Gesetz bestimmtes Leben abzusprechen ist. Im Gegenteil: Abraham gilt ihm als Patriarch, der das Gesetz Gottes schon vor der Sinaigesetzgebung verkörpert hat (siehe 5.3.2.1 zu no,moj e;myucoj). Bei Joseph wird die Bindung an ein Gesetz in anderer Hinsicht problematisiert als bei den Patriarchen. Eine Bindung an den göttlichen no,moj wird ihm zwar nicht abgesprochen, aber auch nicht ausdrücklich zugeschrieben. Die Gestalt des Joseph, der im Exil zum Landesverweser von Ägypten bestellt wurde, gibt Philo Anlass zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Naturgesetz beziehungsweise Tora und Staatsgesetzen. Ursprünglicher Titel von De Josepho und Programm der Schrift ist „Lebensbeschreibung eines Staatsmannes“ (bi,oj politikou/), Josephs Charakterisierung als idealer Staatsmann. Die Passage De Josepho 28–31 eröffnet den ersten allegorischen Teil der Schrift (§ 28–36). Mit ihrer kritischen Reflexion über Staatsgesetze und den Beruf des Staatsmannes greift sie der späteren Einsetzung Josephs als Landesverweser (§ 116–124) voraus. Diese frühe Problematisierung des Berufs des Staatsmannes entspricht insofern der Logik von De Josepho als das Leben Josephs von Jugend an unter der Perspektive der Vorbereitung auf den Beruf des Staatsmannes geschildert wird. Philo legt im ersten Teil seiner Schrift Josephs Eigenschaften als Hirte (§ 2–3), Hausverwalter (§ 37–39) und enthaltsamer Jüngling (§ 40–57) 29 allegorisch als Eigenschaften des idealen Staatsmannes aus und deutet auch Josephs Eigenschaft als Traumdeuter als Eigenschaft des Staatsmannes (§ 125–150).
27
Vgl. ebd., 167.180. Vgl. ebd., 180, Anm. 249. 29 Vgl. zusammenfassend Philo, De Josepho 54 nach PHILO VON ALEXANDRIEN, Die Werke in deutscher Übersetzung, Leopold Cohn/Isaak Heinemann u.a. (Hg.), Bd. 1, 170: „Drei Kennzeichen des Staatsmannes hat Moses nun bereits geschildert, (indem er ihn nach einander) als Hirten, als Hausverwalter und als enthaltsamen Jüngling (vorführt).“ 28
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Das sekundäre Gesetz
Gliederung Philo, De Josepho 30 §1
Hinweis auf die vorausgehenden Lebensbeschreibungen der drei Erzväter
§ 2–27
Gen 37: – Joseph als Hirte (Vorbereitung für den Beruf des Staatsmannes) (§ 2–3) – Bevorzugung durch den Vater (§ 4); Neid und Hass der Brüder (§ 5); Josephs Träume und seine Zeit daheim (§ 6–11); Josephs Verkauf an die Kaufleute und die Nachricht seines angeblichen Todes an den Vater (§ 12–27)
§ 28–36
Allegorische Erläuterung: – des Namens Joseph (= Zusatz). Hieraus wird die Anschauung von dem Verhältnis der Einzelstaaten zum Kosmos etc. entwickelt (§ 28–31) – des bunten Rockes (§ 32–34) – der Versklavung Josephs und seiner Tötung durch wilde Tiere (§ 35–36)
§ 37–57
Gen 39: Erlebnisse Josephs im Hause Potiphars – Joseph als guter Hausverwalter (Vorbereitung für den Beruf des Staatsmannes) (§ 37–39) – Joseph als standhafter Jüngling in Bezug auf Potiphars Frau (Enthaltsamkeit als Kennzeichen eines guten Staatsmannes) (§ 40–57)
§ 58–79
Allegorische Erläuterung: – Vergleich des Eunuchen Potiphar mit dem Volk eines Staates, in dem Ochlokratie herrscht – Vergleich der Frau Potiphars mit der sinnlichen Begierde – Vergleich Josephs mit dem ernsten Staatsmann, der Demagogie verabscheut und der sinnlichen Begierde des Pöbels entgegen tritt
§ 80–98
Josephs Verhalten im Gefängnis; Gen 40: Deutung der Träume des Obermundschenks und des Oberbäckers
§ 99–124
Gen 41: – Die Träume Pharaos – Die Deutung der Träume durch Joseph – Josephs Einsetzung als Landesverweser (§ 116–124)
§ 125–150 Allegorische Erläuterung: – Der Staatsmann als Traumdeuter: Es handelt sich um den Traum der Wachen, das ganze menschliche Leben. § 151–156 Allegorische Erläuterung: – Der König von Ägypten als Symbol des menschlichen Geistes § 157–270 Hauptsächlich Auslegung von Gen 42–45 Philos Kritik an „hinzugefügten Staatsgesetzen“
5.2 Philos Kritik an „hinzugefügten“ Staatsgesetzen Zu Beginn der Untersuchung von Philos Kritik an „hinzugefügten“ Staatsgesetzen in De Josepho 28–31 soll die Dominanz der Begriffe pro,sqesij 30
Die Grobgliederung folgt PHILO VON ALEXANDRIEN, ebd., 155–157.
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Philos Kritik an „hinzugefügten Staatsgesetzen“
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beziehungsweise prosqh,kh und prosqh/kai aufgezeigt und deren Funktion, die Gegenüberstellung des einen universalen Naturgesetzes und der vielen partikularen Staatsgesetze, in den Blick genommen werden (5.2.1). Anschließend wird der allegorischen Deutung des Namens Joseph als „Zusatz“ nachgegangen (5.2.2). In einem dritten Teil (5.2.3) wird untersucht, ob Begriffe der Passage De Josepho 28–31 der (rechts-)philosophischen Tradition entnommen worden sind. 5.2.1 prosqh,kh und prosqh/kai in Philos Gegenüberstellung des einen Naturgesetzes und der vielen Staatsgesetze
megalo,polij mi,a politei,a § 28
h` kata. dh,mouj politei,a
prosqh,kh
th/j to. ku/roj a`pa,ntwn avnhmme,nhj fu,sewj
§ 31
ai` kata. me,roj politei/ai
prosqh/kai
mia/j th/j kata. th.n fu,sin
§ 31
oi` kata. po,leij no,moi
prosqh/kai
tou/ th/j fu,sewj ovrqou/ lo,gou
§ 31
politiko.j avnh.r
prosqh,kh
tou/ biou/ntoj kata. fu,sin no,moj ei-j
In seiner allegorischen Auslegung des Namens Joseph (De Josepho 28) stellt Philo die vielen partikularen Staatsgesetze dem einen universalen Naturgesetz gegenüber. Dabei erweisen sich „Zusatz“ beziehungsweise „Zusätze“ (prosqh,kh beziehungsweise prosqh/kai) als zentrale Stichworte.
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Das sekundäre Gesetz
Nachdem mit dem Namen Joseph (= kuri,ou pro,sqesij) das Stichwort „Zusatz“ gefallen ist, werden viermal Zusätze benannt, die der einen Natur hinzugefügt werden. Die Zusätze zur Natur bestehen in der Vielzahl von Verfassungen (h` kata. dh,mouj politei,a; ai` kata. me,roj politei/ai), einer Vielzahl von Gesetzen (oi` kata. po,leij no,moi) und Staatsmännern (politiko.j avnh,r). Der durch die Zusätze bewirkten Vielzahl wird die Einheit der Natur (h` to. ku/roj a`pa,ntwn avnhmme,nh fu,sij etc.) gegenübergestellt, die einem „Großstaat“ (megalo,polij), einer Verfassung (mi,a politei,a) und einem Gesetz (no,moj ei-j) entspricht. 5.2.2 Philos allegorische Deutung des Namens Joseph als „Zusatz“ Philos Kurzabhandlung über das Naturgesetz und die Staatsgesetze nimmt ihren Ausgang bei der allegorischen Deutung des Namens Joseph. Seine Auslegung beginnt mit der Übersetzung des Namens „Joseph“, hebräisch @sy (hinzufügen), mit pro,sqesij, „Zusatz“ (De Josepho 28). Im Folgenden soll die allegorische Deutung des Namens Joseph erhellt werden, indem der Herkunft von Philos Übersetzung des Namens Joseph mit pro,sqesij, „Zusatz“, der Wertung von „Zusatz“ bei Philo und dem Zusatzcharakter des Staatsmannes nachgegangen wird. 5.2.2.1 Die Herkunft von pro,sqesij in der Erklärung des Namens Joseph Wahrscheinlich hat Rahels Namenserklärung (Gen 30,24) in der Septuaginta, prosqe,tw o` qeo,j moi ui`on. e[teron, Philo veranlasst, den Namen Joseph mit kuri,ou pro,sqesij widerzugeben. Philo, der des Hebräischen kaum kundig gewesen sein soll, könnte sich andernfalls bei der allegorischen Auslegung des Namens Joseph wie bei seinen zahlreichen anderen Namenserklärungen einer onomastischen Quelle bedient haben. Das Postulat einer etymologischen Quelle für Philos allegorische Deutung vieler biblischer Eigennamen, das E. STEIN 31 aufgestellt hat, wurde in der Forschung eingehender untersucht 32 und gilt heute als sicher. 33 Die Verfasser einer solchen, als Onomastica bezeichneten Quelle und die Entstehungszeit müssen im Dunkeln bleiben. Mit der Existenz einer solchen Quelle darf früh gerechnet werden. Schließlich gab es Onomastica in der griechischen Welt schon seit 31
E. STEIN, Die allegorische Exegese des Philo aus Alexandreia, BZAW 51, Gießen 1929. Vgl. D. INSTONE-BREWER, Techniques and Assumptions in Jewish Exegesis before 70 CE, TSAJ 30, Tübingen 1992, 207f. 33 Vgl. F. SIEGERT, Early Jewish Interpretation, 165: „the only safe assumption is that he drew upon Onomastica of Hebrew terms and names.“ 32
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Philos Kritik an „hinzugefügten Staatsgesetzen“
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dem 3. Jh. vor Christus. 34 Trotz solcher offenen Fragen gilt L.L. GRABBE, der den hebräischen Namen bei Philo eine Monographie widmete, „the Onomastical List“ als „a workable Model“, das ihn zu einer Rekonstruktion von Philos onomastischer Quelle veranlasst hat. 35 L.L. GRABBE zeigt, dass sich der Name „Joseph“ im Heidelberg Papyrus 87 36 sowie in von LAGARDE und HIERONYMUS 37 herausgegebenen Quellen findet. 5.2.2.2 Die Wertung von pro,sqesij, prosqh,kh und pro,sqema bei Philo Die Übersetzung des Namens Joseph mit „Zusatz“ mag für heutige Ohren wertneutral oder sogar positiv klingen. Doch ein Blick auf die Wertung der Gesetze und der Staatsverfassung in Jos. 28–36 sowie auf den Wortgebrauch von „Zusatz“ in Philos griechischem Werk wird den tendenziell negativen Klang des Wortes „Zusatz“ erweisen. Dass Philo die Einzelgesetze negativ bewertet, geht aus Jos. 28–31 hervor. Die aufgeführten Zusätze, die verschiedenen Staatsverfassungen mit ihren je eigenen Gesetzen, führt Philo in De Josepho 30 ähnlich wie Plato 38 auf die Unvollkommenheit der Menschen zurück: „die Habgier und das gegenseitige Misstrauen ist es, weshalb sie, nicht zufrieden mit den Satzungen der Natur, das, was den gleichgesinnten Massen insgemein von Nutzen zu sein scheint, ‚Gesetze‘ nennen.“ Deutlich favorisiert Philo in §§ 28–31 das 34
Vgl. D. INSTONE- BREWER, Techniques, 208. Vgl. L.L. GRABBE, Etymology in Early Jewish Interpretation. The Hebrew Names in Philo, BJS 115, Atlanta 1988, 225–231. 36 Vgl. ebd., 239: Heidelberger Papyrus: (i)wshf ȧaw prosqema 37 Vgl. ebd., 241: Lagarde: 171.16 (Coisl): Iwshf Iaw prosqh,kh, avora,tou e;xodoj, avora,tou dexia, e;xodoj, i;ama, pro,sqema. 173.53 (VGr): VIwsh.f ovnei,dou avfai,resij. 175.17 (VGr): VIwsh.f prostiqw/n. 177.83 (VGr): VIwsh.f prosqh,kh h' ovnei,douj avfai,resij. 178.8 (VGr): VIwsh.f pro,sqesij. 193.10 (Lex): VIwsh.f pro,sqema kuri,ou h' ovnei,douj avfai,resij. 203.96 (Colb): VIwsh.f pro,sqesij. Hieronymus: 7.20: Ioseph augmentum. 62.4: Ioseph adposuit siue adponens. 69.4: Ioseph auctus. 78.5: Ioseph addens siue augmentum. 80.22: Ioseph adaugens. 38 L. COHN verweist in PHILO VON ALEXANDRIEN, Die Werke in deutscher Übersetzung, Leopold Cohn/Isaak Heinemann u.a. (Hg.), Bd. 1, 165, auf eine ähnliche Aussage bei Plato, Gorgias 483 b. 35
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Das sekundäre Gesetz
eine Naturgesetz gegenüber der Vielzahl der Einzelgesetze. Philo äußert sich differenziert über das Staatswesen und den Beruf des Staatsmannes. Die Pluralität im Staatswesen deutet Philo im Folgenden durchaus positiv. Unvermittelt geht er nach seiner Namensauslegung, die mit dem Wort „Zusatz“ und dem Thema der Vielzahl einen negativen Ton anschlug, zu einer allegorischen Auslegung von Josephs „bunten Rock“ über (Jos. 32), den er positiv als Symbol für die Buntheit und Mannigfaltigkeit einer Staatsverfassung auffasst. Indem er den Staatsmann mit einem Steuermann und einem Arzt vergleicht, die für eine „gute Fahrt“ beziehungsweise für die „Rettung“ der Gesundheit verschiedene Mittel benötigen (Jos. 33), kommt er zu dem Schluss, ein Staatsmann müsse „vielseitig und vielgestaltig sein“ (Jos. 34). Am Ende des allegorischen Teils § 28–36 stellt Philo in § 35f negative Aspekte des Lebens als Staatsmann heraus. Der Staatsmann werde, wie Joseph, versklavt, von wilden Tieren zerrissen und wechsele seinen Herrn. Philo benutzt den Ausdruck „Zusatz“ auch außerhalb von De Josepho häufig in seinem Werk. Pro,sqesij findet sich 16 mal, prosqh,kh 22 mal und pro,sqema drei Mal. 39 An zehn 40 dieser Stellen wird das Wort „Zusatz“ als etwas Negatives gebraucht, an den übrigen Stellen ohne spezifische Wertung. Philo greift bei der negativen Verwendung des Wortes „Zusatz“ verschiedene Traditionen auf. In De specialibus legibus, Buch IV 143 interpretiert Philo die sogenannte Kanonisierungsformel des Deuteronomiums 41 mit den Worten: Höchst bewundernswert ist auch jene Vorschrift, dass man nichts hinzusetzen und hinwegnehmen (mhde.n prostiqe,nai kai. avfairei/n) (5 Mos 4,2.13,1), sondern in gleichem und unverändertem Zustand unverrückt die von jeher geltenden Gesetze (ta. evx avrch/j o`risqe,nta no,mima) erhalten solle; es würden ja doch wohl nur ungerechte Bestimmungen hinzugefügt (th.n me.n pro,sqesin tw/n avdi,kwn), [gerechte aber hinweggenommen werden]; denn nichts hat der weise Gesetzgeber fortgelassen, was zum Besitze der vollen und ungeschmälerten Gerechtigkeit gehört. 39 Vgl. G. MAYER (Hg.), Index Philoneus, Berlin/New York 1974, 248 und den Index zum griechischen Text, PHILO ALEXANDRINUS, Philonis Alexandrini Opera quae supersunt. 7,2, Indices ad Philonis Alexandrini Opera, Pt. 2, comp. Ioannes Leisegang, unveränd. Nachdr. von 1930, Berolini 1963, 687, der etwas weniger Stellen aufführt als der Wortindex von G. MAYER. 40 Vgl. Philo spec. IV 143.144.146.147; Philo aet. 113; Philo Deus 19; Philo plant. 128; Philo somn. II 47.63; Philo mut. 89. In Philo spec. III 167 fällt das Wort prosqh,kh zwar in einem Vers, der sich zur Gesetzgebung äußert, bezeichnet hier jedoch lediglich das Mitbüßen für die Sünden anderer. 41 Vgl. Dtn 4,2 LXX ouv prosqh,sete pro.j to. r`h/ma o] evgw. evnte,llomai u`mi/n kai. ouvk avfelei/te avpV auvtou/; Dtn 13,1 LXX ouv prosqh,seij evpV auvto. ouvde. avfelei/j avpV auvtou/. Zum Text der LXX vgl. im Folgenden: A. Rahlfs (Hg.), Septuaginta, id est Vetus Testamentum graece iuxta LXX interpretes; duo volumina in uno, ed. Altera/quam recognovit et emendavit Robert Hanhart, Stuttgart 2006. Vgl. auch 1Makk 8,30 und Apk 22,18.
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Dass Philo der Vorschrift, dem göttlichen Gesetz nichts hinzuzufügen oder von ihm hinwegzunehmen, Bedeutung beimaß, zeigt auch seine Schilderung der Übersetzung des mosaischen Gesetzes ins Griechische im Auftrag des Ptolemaeus Philadelphus in Mos. II 34: In Erwägung der Grösse der Aufgabe, durch göttliche Verkündigung offenbarte Gesetze zu übertragen, wobei man weder etwas hinwegnehmen noch hinzufügen oder ändern kann, sondern ihren ursprünglichen Gedanken und ihren Charakter beibehalten muss, spähten sie ausserhalb der Stadt nach dem reinsten Ort in ihrer Umgebung aus.
In De specialibus legibus, Buch IV 144.146.147 wendet Philo die aristotelische Mesoteslehre an. So schreibt er in Buch IV 144 über die Tugenden und deren Verlust: jede von ihnen ist lückenlos und abgerundet, da sie aus sich ihre Vollendung schöpft, so dass sie sich durch eine etwaige Hinzufügung (prosqh,kh) und Hinwegnahme (avfai,resij) völlig ins Gegenteil verkehrt und verändert.
Als Beispiele führt er Tapferkeit (145f) und Frömmigkeit (147) an: Wenn nun aber jemand der Torheit nachgibt, wie sie der Hochmut erzeugt, wenn er sich für einen besonderen Menschen und für fähig hält, das (tatsächlich) Fehlerlose zu verbessern, und sich unterfängt etwas hinzuzufügen oder hinwegzunehmen (prostiqe,nai h' avfairei/n), so ändert er das ganze Bild und wandelt das schöne Gepräge in ein hässliches um; denn durch Hinzufügung (th/| me.n prosqe,sei) schafft er Verwegenheit, durch Wegnahme (th/| dV avfaire,sei) Feigheit, sodass er von der höchst förderlichen Tapferkeit nicht einmal den Namen übrig lässt. (De specialibus legibus, Buch IV 146). Ebenso (verhält es sich) mit der Königin der Tugenden, der Frömmigkeit: wer ein klein wenig oder zuviel zusetzt (prosqh/|) oder wegnimmt (avfe,lh|), wird in jedem Falle ihre Gestalt ändern und umwandeln; denn die Hinzufügung (pro,sqesij) wird Aberglauben, die Wegnahme (avfai,resij) Unglauben aus ihr machen, sodass wiederum die Frömmigkeit verschwindet, deren Aufgehen und Leuchten ein ersehnenswertes Gut ist (De specialibus legibus, Buch IV 147).
In De aeternitate mundi 113 stellt Philo eine Argumentation anderer vor, die in der Tradition pythagoräischer Zahlenmystik steht und bei der eine „Hinzufügung“ deutlich negativ bewertet wird: Einige von denen, welche annehmen, die Welt sei ewig, verwenden in ihrer Ingeniosität auch folgendes Argument als Beweis: es gibt vier Hauptweisen der Zerstörung, nämlich Hinzufügung (pro,sqesin), Wegnahme (avfai,resin), Umstellung und qualitative Veränderung. So wird die Zwei durch Hinzufügung (prosqe,sei) der Eins zerstört und wird Drei, bleibt also nicht mehr Zwei; die Vier wird durch Wegnahme (avfaire,sei) der Eins zerstört und wird Drei.
In Quod Deus sit immutabilis 19 gehört es zum Charakter der prosqh,kh, größeren Werten untergeordnet zu sein. Man solle nicht „Vater, Mutter,
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Weib, Kinder, Vaterland und das Menschengeschlecht“ sowie „Himmel, Erde, die ganze Welt, Erkenntnisse, Tugenden, den Vater und Lenker das Alls [...] als ein Anhängsel an sich selbst (mh. ta. pa,nta prosqh,khn e`autou/), sondern sich selber als ein Anhängsel an alles andere betrachten.“ In De plantatione 128 heißt es, die Gotteswerke bedürften „keines äußeren Zusatzes (prosqh,khj) zu ihrer Verherrlichung, sondern die schlichte Wahrheit (to. avyeude.j th/j avlhqei,aj)“ diene „ihnen als vollkommenster Preis.“ Besonders aufschlussreich für die im Namen Joseph anklingende Wertung sind zwei weitere allegorische Auslegungen dieses Namens bei Philo. An beiden Stellen, in somn. II 47 (pro,sqesij) und mut. 89 (pro,sqema) wird der Name Joseph mit „Zusatz“ übersetzt. Lässt uns die Auslegung des Namens Joseph in De Josepho bisher noch etwas im Unklaren über die mit der Auslegung verbundene Wertung von Joseph als Zusatz, so zeigen diese anderen beiden Namensauslegungen deutlich, dass Philo dem Namen Joseph zwei mal eine negative Bedeutung zulegt. In somn. II 47 symbolisiert Joseph „den Zusatz von Arroganz“, „den Zusatz von Gefräßigkeit“, „bunter Kleidung“ und „verschwenderischen Gebäuden und Betten“. 42 Dort heißt es: Seine Lebensanschauung und sein Streben im Leben aber bezeugt nicht zum wenigsten auch sein Name. Joseph nämlich bedeutet ‘Zusatz’ (pro,sqesij). Der leere Wahn aber setzt dem Echten immer das Unechte zu, dem Eigenen das Fremde, dem Wahren die Lüge, dem Selbstgenügsamen das Übermaß, dem Lebensunterhalt die Schwelgerei, dem schlichten Lebenswandel die Hoffahrt.
Offensichtlich wird durch „Zusatz“ nicht das Wesen der Dinge positiv verstärkt, sondern das wahre, ursprüngliche Wesen der Dinge verfremdet und sogar ins Gegenteil verkehrt. Erklärtes Ziel ist an dieser Stelle laut R. BARRACLOUGH, „to decry excess in accumulating the necessities of life“. 43 R. BARRACLOUGH hält es zwar für möglich, dass Joseph ein Beispiel für die Arroganz der Römer ist, wie es E.R. GOODENOUGH annimmt, vertritt aber die Meinung, dass der Kontext generell auf die Arroganz der Heiden zielt. 44 Die Namensallegorie in mut. 89f lautet: Nicht so steht es mit dem Vorsteher der körperlichen Bedürfnisse, mit Joseph; er wechselt den Namen, vom König des Landes Psonthomphanech zubenannt (1 Mos. 41, 45). Was es aber auch damit für eine Bewandtnis hat, muß gezeigt werden. Joseph bedeutet ‘Zusatz’ (pro,sqema), Zusatz aber des Natürlichen ist das Künstliche (prosqh,kh dV evsti. tw/n fu,sei ta. qe,sei), Gold, Silber, Besitztümer, Einkünfte, Die42
Vgl. R. BARRACLOUGH, Philo´s Politics, 492. Vgl. ebd., 492. 44 Vgl. ebd., 492f. 43
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nerschaften, unendliche Materien von Wertgegenständen, Geräten und sonstigem (90) Luxus, unfaßbar viele Zurüstungen lustbereitender Dinge. Ihr Vermittler und Beaufsichtiger Joseph ist mit treffendem Namen ‘Zusatz’ (pro,sqema) genannt worden, da er sich die Vorstandschaft über das von außen Eingeführte und dem Natürlichen Zugesetzte (tw/n e;xwqen evpeisodiazome,nwn kai. prostiqeme,nwn toi/j kata. fu,sin prostasi,an) verschafft hat. Es bezeugen dies die Offenbarungen, die zeigen, daß er die Nahrungsmittel des ganzen körperlichen Gebietes, Ägyptens, aufbewahrte und darüber gebot (1 Mos. 41, 48).
Philo schreckt also offensichtlich nicht davor zurück, den Patriarchen Joseph, der ihm und der Tradition prinzipiell als Symbol positiver Eigenschaften gilt, 45 durch allegorische Ausdeutung seines Namens stellenweise in Misskredit zu bringen (mut. 89; somn. II 47). Ähnlich heißt es in somn. II 63f: Daher hat die heilige Schrift ganz treffend den, der Feind der Anspruchslosigkeit, aber Genosse des eitlen Dunstes ist, eine Zugabe (prosqh,khn) genannt. (64) Wie nämlich an den Bäumen überflüssige Zweige als große Schädlinge der edlen (Reiser) wachsen, die die Gärtner entfernen und abschneiden aus Vorsorge für das Nötige, so wächst an dem wahren und anspruchslosen Leben das falsche und verblendete, für das sich bis zum heutigen Tage kein Gärtner gefunden hat, der den schädlichen Zuwachs mit den Wurzeln selbst abschnitt.
Für das Phänomen der Änderung des naturgegebenen Zustandes ohne explizite Verwendung des Wortes „Hinzufügung“ beziehungsweise „hinzufügen“ bei Philo können mit J.W. MARTENS 46 die folgenden Beispiele angeführt werden: die Natur, die nichts Unnützes leistet (post. 4–5; 47 Mos. I 117), 48 von Menschen erfundene Gesetze, die eine Hinzufügung zum Na45 F. SIEGERT, Early Jewish Interpretation, 186, nennt als symbolische Deutung des Namens „Joseph“ bei Philo „increase, bodily health, prosperity; the politician“. Es fällt auf, dass er nur positive Eingenschaften nennt. 46 Vgl. J.W. MARTENS, One God, one law. Philo of Alexandria on the Mosaic and Greco-Roman law, Studies in Philo of Alexandria and Mediterranean antiquity 2, Boston/Leiden 2003, 77. 47 „Es folgt aber mit Notwendigkeit aus der Menschenähnlichkeit auch menschliche Bedürftigkeit, weil ja auch diese (Organe) nichts Überflüssiges und Nebensächliches sind, vielmehr hat sie die Natur in Rücksicht auf die Schwäche derer, die sie besitzen, geschaffen und danach das, was zum eigenen Gebrauch und zur Hilfeleistung dient, entsprechend eingerichtet. Gott aber braucht nichts, so daß, wenn er den Nutzen aus den Teilen nicht braucht, er überhaupt keine Teile haben dürfte. [2] Er entweicht; aber woraus? Etwa aus dem Palast des Allherrschers? Was aber könnte Gottes sinnlich wahrnehmbares Haus anderes sein als diese unsere Welt, die zu verlassen ganz unmöglich ist? Denn alle Kreatur umschlingt der Himmelskreis und hält sie in sich fest. Werden doch auch die in ihre Elemente zerfallenden Toten wiederum in die Kräfte des Alls aufgelöst, aus denen sie entstanden, indem die Anleihe, die jedem zu ungleichen Terminen gewährt wurde, der Natur als der Gläubigerin zurückgezahlt wird, wenn sie ihr Guthaben einzuziehen wünscht.“ 48 „Die Natur aber leistet nicht unnütze Arbeit, sodass sie Regen einem Lande liefern sollte, das seiner nicht bedarf, und hat andrerseits ihre Freude an der Mannigfaltigkeit und Abwechslung ihrer kunstreichen Werke, indem sie die Harmonie des Alls aus Gegensätzen passend herstellt; und
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turgesetz darstellen (QG IV 90.184), 49 Homosexualität (spec. I 325)50 und Sklaverei (vgl. spec. II 84f; 51 cont. 70). 52 5.2.2.3 Der Staatsmann als prosqh,kh Joseph als „Zusatz“ wird in Jos. 28ff zum einen mit „Einzelstaaten“ und „Einzelgesetzen“ in Verbindung gebracht und zum anderen mit einem „Staatsmann“. Häufig sucht man vergeblich nach einer kausallogischen Verbindung der Stichworte in Philos allegorischen Auslegungen. 53 Auch hier scheint der von Philo hergestellte Vergleich zwischen Joseph als „Zusatz“ und „Einzelstaaten“ als „Zusätzen“ aufgrund eines Bruchs zwischen personaler und abstrakter Ebene schwer nachvollziehbar. Gegen Ende der allegorischen Auslegung von Joseph als „Zusatz“ findet sich mit „Staatsmann“ ein leicht nachvollziehbarer, ungebrochener Vergleich auf personadeshalb gewährt sie den einen von oben aus dem Himmel, den andern von unten aus Quellen und Flüssen den Nutzen des Wassers.“ 49 R. MARCUS übersetzt in PHILO ALEXANDRINUS, Supplement 1. Questions and answers on Genesis, translated from the ancient Armenian version of the original Greek by Ralph Marcus, The Loeb classical library 380, Repr. London/Cambridge/Massachusetts 1961, 371, die alte armenische Version des griechischen Originals von QG IV 90 mit: „For law is an invention of nature, not of men.“ Der in Anmerkung h wiedergegebene griechische Text lautet: no,moj ga,r evsti fu,sewj eu[rhma avllV ouvvk avnqrw,pwn. QG IV 184 übersetzt R. MARCUS, ebd., 468, mit: „But the other two, (namely) ‘the rights and laws’ are virtues toward men, concerning whom it is fitting and proper to have great care of laws and rights, for rights can somehow exist and consist by nature, while laws (do so) by convention. But those things (existing) by nature are older than those (existing) by convention, and so, rights (are older) than laws.“ In Anmerkung i weist R. MARCUS auf ein ähnliches griechisches Fragment hin (Dam. Sacra Par., identifiziert durch HANS LEWY, Neue Philontexte in der Ueberarbeitung des Ambrosius, etc., Berlin, 1932, 59): diafe,rei dikaiw,mata nomi,mwn\ ta. me.n ga,r pwj du,nantai suni,sqasqai (sic) fu,sei, ta. de. no,mima qe,sei. presbu,tera de. tw/n qe,sei ta. fu,sei, w[ste kai. to. di,kaion no,mou. 50 Das Gesetz schließe „alle Unwürdigen aus der heiligen Versammlung aus, in erster Linie die weibischen Männer, die an der sogenannten ‘Frauenkrankheit’ leiden, die das von der Natur ihnen aufgeprägte Kennzeichen verfälschen und zu Benehmen und Aussehen sittenloser Weiber sich drängen lassen“. 51 Bei J.W. MARTENS, One God, one law, 77, ist statt spec. II 85 wahrscheinlich spec. II 84f gemeint: „Wenn er dir aber sechs Jahre, eine vollkommen ausreichende Zeit, gedient hat, und mit dem siebenten Jahre die heilige Zahl sich einzustellen beginnt, so lasse ihn frei, der von Natur frei ist [...]. Freudig gib daher überdies von jedem Teil deines eigenen Besitzes dem (mit der Freiheit) Beschenkten etwas mit auf den Weg (5 Mos. 15,13f. ). Denn dir gereicht es zum Lobe, wenn er nicht als armer Mann dein Haus verlässt, sondern mit Mitteln zur Bestreitung der Lebensbedürfnisse reichlich versehen, sodass er nicht wieder aus Not ins alte Elend zurückfällt und aus Mangel an Lebensmitteln wieder Sklave werden muss, wodurch deine Wohltat zunichte gemacht würde.“ 52 „Sie lassen sich nicht von Sklaven bedienen, da sie den Besitz von Sklaven für gänzlich naturwidrig ansehen. Die Natur nämlich brachte alle als Freie hervor, die Ungerechtigkeit jedoch und die Habgier einiger, die nach Ungleichheit, der Quelle allen Übels, strebten, brachte die Menschen unter ihr Joch und gab den Mächtigeren Gewalt über die Schwächeren.“ 53 Vgl. F. SIEGERT, Early Jewish Interpretation, 187.
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ler Ebene, der Vergleich von Joseph mit einem Staatsmann, welcher ebenfalls ein „Zusatz“ ist, und zwar ein „Zusatz“ zum Weisen, der nach der Natur lebt: prosqh,kh de, evsti politiko.j avnh.r tou/ biou/ntoj kata. fu,sin. Vergegenwärtigt man sich nochmals die Überschrift und die ersten beiden Sätze aus Philos Werk De Josepho, so wird klar, dass Joseph mit dem Staatsmann nicht nur verglichen, sondern identifiziert werden soll. Die eigentliche Überschrift zu De Josepho, bi,oj politikou/, verrät Philos Blickwinkel auf die biblische Josephgestalt als „Typus des Staatsmannes“. Philo eröffnet die Schrift De Josepho in § 1 mit den Worten: Drei Dinge sind es, durch die das höchste Ziel erreicht wird, Unterricht, Naturanlage, Uebung, und die drei ältesten Weisen sind nach Moses die Vertreter dieser Dinge. Nachdem ich deren Leben beschrieben habe, nämlich das durch Belehrung, das durch Selbstunterricht und das durch Uebung gewonnene, will ich als viertes in der Reihe das staatsmännische Leben schildern.
Die „Lebensbeschreibung des Staatsmannes“ ist nicht nur vordergründig in der Chronologie der Philowerke ein Zusatz zu der „Lebensbeschreibung der Weisen“. Der Staatsmann an sich ist ein Zusatz zum Weisen, der keiner Autorität bedarf. Hat der Leser die Identifikation von Joseph mit dem „Staatsmann“ vorgenommen, so wird ihm der Bezug von Joseph zu den Einzelgesetzen verständlich. Joseph beziehungsweise der Staatsmann ist aufgrund seiner Bindung an einen Einzelstaat mit Einzelgesetzen ein Zusatz zum Weisen, der nur an das Naturgesetz gebunden ist. Die Namensallegorie in Jos. 28–31 distanziert den Staatsmann Joseph von den Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob, die ihm als Weise gelten. 5.2.2.4 Fazit: die negative Auslegung des Namens Joseph Wie der Vergleich mit weiteren allegorischen Auslegungen des Namens Joseph bei Philo zeigte, ist dieser Namen bei Philo negativ konnotiert. „Joseph“ ist – wie wir auf diesem Hintergrund annehmen dürfen – auch in Jos. 28ff das Stichwort, das eine Kette von negativ assoziierten Zusätzen anführt. Gemildert wird die negative Assoziation mit „Joseph“ dadurch, dass sie in De Josepho eingebettet sind in die positive Darstellung Josephs als vorbildlichem Staatsmann. 5.2.3 Philosophische Traditionen hinter der Gegenüberstellung des einen universalen Naturgesetzes und der vielen partikularen Staatsgesetze Im Folgenden sollen zwei Traditionen untersucht werden, die des Naturgesetzes (5.2.3.1) und die Antithese von qe,sij und fu,sij (5.2.3.2).
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Es wird sich zeigen (5.2.3.1), dass die Gegenüberstellung von Einzelstaatengesetzen und Naturgesetz der stoischen Tradition entnommen ist. Die vielfach vertretene Annahme, prosqh,kh sei ein von der Stoa geprägter Begriff, wird als Fehlannahme aufgedeckt. Anschließend wird die im „Bindeglied“ pro,sqesij (siehe 5.2.1) nachklingende Tradition der Antithese von qe,sij und fu,sij vorgestellt (5.2.3.2). Lagen bei den Sophisten Gesetz und Natur in Streit miteinander, so finden sie sich in der Stoa als Naturgesetz (lo,goj fu,sewj) versöhnt, da fu,sij und Weltvernunft (lo,goj) miteinander identifiziert wurden. Es darf davon ausgegangen werden, dass Philo die Vorstellung eines Naturgesetzes aus stoischer Tradition schöpfte. Offensichtlich gab es, wie schon R.A. HORSLEY 54 gezeigt hat, eine gemeinsame geistige Grundlage von Philos Idee eines Naturgesetzes (das er in Jos. 29 mit lo,goj [...] fu,sewj bezeichnet) mit Ciceros lex natura. Die von Philo an anderer Stelle verwendete Formel für „Naturgesetz“, no,moj fu,sewj, geht laut H. KOESTER möglicherweise auf Philo selber zurück.55 Beweisen lässt sich dies aufgrund der dünnen Quellenlage allerdings nicht. R.A. HORSLEYS synoptische Zusammenstellungen von Texten mit ähnlichem stoischem Gedankengut ist im Sinne einer Bestandsaufnahme für unsere Untersuchung sehr hilfreich. Seine Annahme einer gemeinsamen Quelle von Philo und Cicero kann hier nicht abschließend beurteilt werden. Etwas vorsichtiger wird man von gemeinsamem stoischen Gedankengut bei Philo und Cicero ausgehen dürfen. R. WEBER spricht davon, dass in De Josepho 28ff „wie in einem Brennglas eine ganze Reihe der wichtigsten Basisanschauungen der Stoa konzentriert“ 56 sind. Die Antithese von qe,sij und fu,sij, eine Variante der sophistischen Antithese von no,moj und fu,sij, kommt in Philos Gegenüberstellung von Naturgesetz und partikularen Gesetzen zum Zuge. 5.2.3.1 Zur Tradition des Naturgesetzes in der Stoa a) Stoische Gegenüberstellung von Naturgesetz und Staatsgesetzen
Philo teilt viele seiner in De Josepho 28–31 geäußerten Vorstellungen zum Naturgesetz mit Cicero, der zwei Generationen vor ihm lebte. Die Gemeinsamkeiten in Philos und Ciceros Gedanken zum Naturgesetz lassen sich 54
R.A. HORSLEY, The Law of Nature in Philo and Cicero, HThR 71, 1978, 35–59. Gegen M. BOCKMUEHL, Natural Law in Second Temple Judaism, 44. BOCKMUEHL kommt zu dem Schluss, dass Philos Theorie eines Naturgesetzes nicht nur auf stoische Theorien der zwei vorangehenden Generationen zurückzuführen ist, sondern auch auf eine gut bezeugte und lange Tradition im Judentum des Zweiten Tempels. 56 R. WEBER, Das Gesetz im hellenistischen Judentum. Studien zum Verständnis und zur Funktion der Thora von Demetrios bis Pseudo-Phokylides, ARGU 10, Frankfurt am Main/Berlin/Bern [u.a.] 2000, 431. 55
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besonders gut an der Gegenüberstellung von der Philopassage (insbesondere V. 29) einerseits und Ciceros rep. III 33 im Verbund mit Ciceros leg. I 24 andererseits erkennen. 57 Cicero und Philo stehen mit ihren Gedanken zum Naturgesetz in der Tradition der alten und mittleren Stoa. 58 Zwar gibt es vor Cicero keinen Stoikertext, der alle Argumente der Stoiker zum Naturgesetz enthält, doch in Fragmenten erhaltene Aussagen der Stoiker Zenon von Kition, Kleanthes, Chrysipp und Poseidonius lassen darauf schließen, dass es eine verbreitete stoische Tradition zum Naturgesetz gab, auf die Philo und Cicero rekurrieren konnten. 59 Besondere Aufmerksamkeit verdient bei der Frage nach stoischen Zeugnissen für die Gegenüberstellung von Naturgesetz und Staatsgesetzen Zenons Schilderung eines Idealstaates, die bei Plutarch überliefert ist. 60 In seiner Politeia hat sich Zenon von Kition der Überlieferung zufolge gegen sich abgrenzende lokal gültige Gesetze und für ein allen gemeinsames Gesetz ausgesprochen.
57 Eine Gegenüberstellung findet sich bei R.A. HORSLEY, The Law of Nature in Philo and Cicero, 37f. 58 Vgl. ebd., 38–40, 38: „It is evident that there was a well-established common tradition concerning the law of nature upon which both Cicero and Philo, like Arius and Dio, depend.“ 59 Vgl. ebd., 40. 60 R.A. HORSLEY, ebd., 39 schreibt im Anschluss an ein Zitat aus der Zenonüberlieferung bei Plutarch: „This concern about the unity of mankind provides the context and the point of the Stoic argument regarding the reason or law of nature.“ R.A. HORSLEY macht ebd., Anm. 13 darauf aufmerksam, dass sich Cicero in nat.deor. 1.36 direkt auf Zenon bezieht.
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Zenon von Kition nach der Überlieferung des Plutarch 61 (1) Die viel bewunderte Schrift Zenons Der Staat ... zielt auf diesen einen Punkt, daß wir unser Haushaltungswesen nicht auf der Grundlage von Städten oder Gemeinden organisieren sollten, die sich jeweils durch eine eigene Gesetzgebung abgrenzen (ivdi,oij e[kastoi diwrisme,noi dikai,oij); vielmehr sollten wir alle Menschen als Mitglieder unserer Gemeinde und als Mitbürger ansehen, und es sollte eine Art zu leben und eine Ordnung geben, ähnlich wie bei einer Herde, die zusammen weidet und durch ein gemeinsames Gesetz (sunno,mou no,mw| koinw/|) genährt wird. (2) Zenon schrieb dies und malte sozusagen einen Traum oder ein Bild von der guten Gesetzgebung und dem Staat eines Philosophen. Alexander indes lieferte zu der Rede die Tat. Cicero rep. III 33 62
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Es ist aber das wahre Gesetz die richtige Vernunft, die mit der Natur in Einklang steht (Est quidem vera lex recta ratio, naturae congruens), sich in alle ergießt, in sich konsequent, ewig ist, die durch Befehle zur Pflicht ruft, durch Verbieten von Täuschung abschreckt, die indessen den Rechtschaffenen nicht vergebens befiehlt oder verbietet (quae vocet ad officium iubendo, vetando a fraude deterreat, quae tamen neque probos frustra iubet aut vetat), Ruchlose aber durch Geheiß und Verbot nicht bewegt. Diesem Gesetz etwas von seiner Gültigkeit zu nehmen, ist Frevel, ihm irgend etwas abzudingen, unmöglich, und es kann ebensowenig als Ganzes außer Kraft gesetzt werden. Wir können aber auch nicht durch den Senat oder das Volk von diesem Gesetz gelöst werden, es braucht als Erklärer und Deuter nicht Sextus Aelius geholt werden, noch wird in Rom ein anderes Gesetz sein, ein anderes in Athen, ein anderes jetzt, ein anderes später, sondern alle Völker und zu aller Zeit wird ein einziges, ewiges und unveränderliches Gesetz (sed et omnes gentes et omni tempore una lex et sempiterna et inmutabilis continebit) beherrschen und einer wird der gemeinsame Meister gleichsam und Herrscher aller sein: Gott! Er ist der Erfinder dieses Gesetzes, sein Schiedsrichter, sein Antragsteller, wer ihm nicht gehorcht, wird sich selber fliehen und das Wesen des Menschen verleugnend wird er gerade dadurch die schwersten Strafen büßen, auch wenn er den übrigen Strafen, die man dafür hält, entgeht.
Der „Grossstaat“ nämlich ist diese Welt, und er hat eine Verfassung und ein Gesetz (no,mw| e`ni,): es ist das Naturgesetz (lo,goj de, evsti fu,sewj), das gebietet, was zu thun, und verbietet, was zu unterlassen (prostaktiko.j me.n w-n prakte,on(avpagoreutiko.j de. w-n ouv poihte,on). Die Einzelstaaten aber sind an Zahl unbegrenzt und haben verschiedene Verfassungen und ungleiche Gesetze (ai` de. kata. to,pouj au-tai po,leij avperi,grafoi, te, eivsin avriqmw/| kai. politei,aij crw/ntai diaferou,saij kai. no,moij ouvci. toi/j auvvtoi/j);
61 Zitiert nach A.A. LONG/D.N. SEDLEY, Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare, übersetzt von Karlheinz Hülser, Stuttgart/Weimar 2000, 512f. Vgl. auch H. V. ARNIM, SVF I Nr. 262. 62 Sprecher ist der Stoiker Laelius. Der deutsche und lateinische Text ist zitiert nach M.T. CICERO, Der Staat. Lateinisch und deutsch, herausgegeben und übersetzt von Karl Büchner, Sammlung Tusculum, München/Zürich 41987, 204f; vgl. zum lateinischen Text auch H. V. ARNIM, SVF III Nr. 325.
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Cicero (rep. III 33 und leg. I 8,24) und Philo (Jos. 28–31) sind folgende fünf Grundannahmen gemeinsam: 1. Das Universum ist ein „Großstaat“. 2. Der „Großstaat“ besitzt ein Gesetz (beziehungsweise eine Verfassung). 3. Diese Verfassung ist a) die rechte Vernunft beziehungsweise b) das mit dieser Vernunft identische Naturgesetz. 4. Die positiven Gesetze der Einzelstaaten variieren von Ort zu Ort. 5. Zum Wesen des Gesetzes gehört es, zu befehlen, was getan werden soll und zu verbieten, was nicht getan werden soll. Zu 1: Die Vorstellung eines „Großstaates“ (megalo,polij) aus Jos. 29, 63 die Philo in opif. 143 mit dem Begriff „Großbürger“ (megalopoli,thj) anspricht, findet sich bei Cicero in leg. I 8,24 als in alle Welt verstreutes Menschengeschlecht (generis humani, quod sparsum in terras). 64 Die drei weiteren aufgeführten Parallelen zwischen Ciceros und Philos Gedankengut sind allein der Gegenüberstellung von Jos. 29–31 mit rep. III 33 zu entnehmen. Zu 2: Das „eine Gesetz“ heißt bei Philo no,moj ei-j, bei Cicero „una lex“ und „vera lex“. Zu 3: Das Gesetz/die Verfassung ist die rechte Vernunft bzw. das Naturgesetz, die Cicero zusammenfassend mit „recta ratio naturae congruens“ benennt. Der „recta ratio“ entspricht bei Philo der ovrqo.j lo,goj. Philo gibt Ciceros Gedanken mit dem Satz „lo,goj de, evsti fu,sewj“ (Jos. 29) und mit der Wendung „tou/ th/j fu,sewj ovrqou/ lo,gou“ (Jos. 31; vgl. auch opif. 143f) wieder. Zu 4: Die Feststellung, dass die Einzelgesetze der Staaten variieren, stimmt bei Cicero und Philo von der Sache her überein, nicht jedoch bis in die Formulierung hinein. Während Cicero das Ideal äußert, in Rom möge kein anderes Gesetz gelten als in Athen, heißt es bei Philo: „die Einzelstaaten aber sind an Zahl unbegrenzt und haben verschiedene Verfassungen und ungleiche Gesetze“. Philos Zurückweisung der üblichen Erklärung der Existenz von Einzelgesetzen nimmt mit der Erwähnung der
63 Vgl. zur Verwendung von megalo,polij bei Philo auch die Verweise von G. MAYER (Hg.), Index Philoneus, 180 auf: opif. 19; Mos. II 51; decal. 53; spec. I 34; Flacc. 163 (mit Bezug auf Alexandrien). 64 M.T. CICERO, Über die Gesetze. Stoische Paradoxien, lateinisch-deutsch, herausgegeben, übersetzt und erläutert von Rainer Nickel, Sammlung Tusculum, München/Zürich 1994, 28f; vgl. zu „Bürger der Welt“ auch A.A. LONG/D.N. SEDLEY, Die hellenistischen Philosophen, 520.
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Verkehrsverhältnisse Bezug auf einen Begründungsversuch, der sich schon bei Xenophon findet. 65 Zur Unbeständigkeit und Divergenz der Staatsgesetze äußert sich Philo auch zweimal im zweiten Buch von De vita Mosis und einmal in De ebrietate. Philo führt in Mos. II 13 als Gründe für die Unbeständigkeit von Gesetzen Kriege, Befehle von Alleinherrschern und Schicksalsschläge an. Zur Aufhebung von Gesetzen sei es oft durch „übertriebenes Wohlleben infolge von Wohlhabenheit und reichem Ueberfluss“ gekommen, „da die Menge ein ‘Zuviel des Guten’ nicht ertragen konnte, sondern aus Uebersättigung übermütig wurde“, Übermut aber sei „der Feind des Gesetzes“. Philo hält es in Mos. II 17 für „eine ganz besondere Auszeichnung“ der Juden, „dass nicht nur Juden, sondern auch fast alle übrigen und vor allem die, die besonderes Gewicht auf Tugend legen, sich für ihre (ergänze: gemeint sind die jüdischen Gesetze) Hochschätzung und Verehrung geheiligt haben“. Möglicherweise denkt Philo bei den Nichtjuden, die die Tugend schätzen und die jüdischen Gesetze beachten, an die Proselyten. Als Beweis für die Auszeichnung des jüdischen Gesetzes führt Philo (Mos. II 18–20) an: „in Hellas und im Barbarenlande gibt es, möcht´ ich sagen, keine Stadt, die die Gesetze einer andern Stadt ehrt, ja kaum die eigenen für immer beibehält, sondern sie treffen Aenderungen nach dem Wandel von Zeit und Umständen. [...] fast vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang steht jedes Land und Volk und Staatswesen den fremden Bräuchen mit Abneigung gegenüber und vermeint die Schätzung der eigenen Einrichtungen durch Missachtung der anderen zu erhöhen. Nicht so verhält es sich mit unseren Gesetzen.“ Er warnt in ebr. 193 davor, der unterschiedlichen Erziehung, den väterlichen Bräuchen und den alten Gesetzen „allzusehr im Voraus Glauben zu schenken“, da „nichts davon ist, wie zugegeben wird, bei allen gleich, sondern nach Ländern und Völkern und Städten, ja vielmehr in jedem einzelnen Dorfe und Hause, also bei Mann und Frau und kleinem Kinde in Gänze verschieden“ sei und stellt fest (ebr. 194), dass das, was den Juden als gut oder schlecht gelte, anderen als das Gegenteil gelte. Die „Tugend“ der Juden ist für Nichtjuden demnach anschlussfähiger als die „väterlichen Bräuche“ der Juden. Zu 5: In der Definition der Aufgabe des Gesetzes zu Befehlen und zu Verbieten, „iubere“ und „vetare“ 66 bzw. „prosta,ssw“ und „avpagoreu,w“ sind 65 Vgl. I. HEINEMANN, Bildung, 449, Anm. 4: Philo gibt eine „seit Xenophon Mem. IV 4, 19 beliebte Deutung der Verschiedenheiten der Gesetze aus den schlechten Verkehrsverhältnissen.“ Darüber hinaus nimmt I. HEINEMANN (ebd.) an, dass Philo eine Quelle wiedergibt, die „echt kynisch, nur die diastrofh, [...] als Ursache der Differenzierung gelten lassen wollte.“ 66 Vgl. auch Cic. leg. I 6,18 bzw. H. V. ARNIM, SVF III Nr. 315.
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sich Cicero und Philo auffallend ähnlich. Bei der Definition handelt es sich offensichtlich um eine stoische Tradition, wie das bis in den Wortlaut gleiche Chrysippfragment bei Marcian 67 beweist.
b) Stoische Ethik im Bereich der Politik: gemäß der Natur leben
Den Stoikern galt die Natur als Maßstab für ein sittlich gutes Leben. Der oberste Leitsatz der stoischen Ethik lautete: „gemäß der Natur leben“ (o`mologoume,nwj th/| fu,sei zh/n). 68 Der Grund für eine solche kosmologisch fundierte Ethik lag in der Identifizierung von fu,sij und göttlichem lo,goj, verstanden als Weltvernunft. Die zenonische Telosformel o`mologoume,nwj zh/n (in Übereinstimmung leben) bzw. in der (möglicherweise durch Kleanthes) abgewandelten Form o`mologoume,nwj th/| fu,sei zh/n (in Übereinstimmung mit der Natur leben) erschien bereits den Stoikern aufgrund des weiten Physisbegriffs einer Auslegung bedürftig. So hat Kleanthes laut Diogenes Laertius unter Natur ausschließlich die Allnatur verstanden, Chrysipp hingegen sowohl die Allnatur als auch die spezifisch menschliche Natur. Auf Kritik seitens der Akademie reagierten Chrysipps Nachfolger mit Präzisierungsversuchen, die Poseidonius zu folgender Auslegung führten: „Leben, indem man die Wahrheit und Ordnung des Alls betrachtet und sie nach Kräften mitverwirklicht, ohne von dem Unvernünftigen der Seele getrieben zu werden.“ 69 Die normative Kraft der fu,sij bzw. der Vernunft für die Ethik erstreckt sich auch auf den Bereich der Gesetzgebung. 70 So kommt Cicero zu folgenden Aussagen: „Wie gesagt, den größten Gelehrten gefiel es, vom Gesetz 67 H. V. ARNIM, SVF III Nr. 314; deutsch: A.A. LONG/D.N. SEDLEY, Die hellenistischen Philosophen, 517: „Chrysipp beginnt in dem Buch, was er über das Gesetz verfaßte, so: ‚Das Gesetz ist der König aller Dinge, der göttlichen wie der menschlichen. Es muß allem Rechtschaffenen und Schändlichen vorstehen, als Herrscher und als Führer, und muß demgemäß die Richtschnur (kanw,n) des Gerechten und Ungerechten sowie dasjenige sein, was den von Natur aus politischen Lebewesen gebietet, was zu tun, und verbietet, was zu lassen ist (prostaktiko.n me.n w-n poihte,on, avpagoreutiko.n de. w-n ouv poihte,on).‘“ Eine vergleichbare alte Definition findet sich schon bei Xen. mem. I 2,42; vgl. C. KAUFFMANN, Art. nomos, in: Christoph Horn, Christof Rapp (Hg.), Wörterbuch der antiken Philosophie, 293. 68 Vgl. auch H. V. ARNIM, SVF III Nr. 317 und 325, sowie Diog.Laert. VII 88, übersetzt von K. HÜLSER in: A. A. LONG/D.N. SEDLEY, Die hellenistischen Philosophen, 471. 69 Vgl. zur Telosformel: K. BORMANN, Art. Stoa/Stoizismus/Neustoizismus, TRE 32, Spurgeon–Taylor, 2001, 179–190. 70 Vgl. A.A. LONG/D.N. SEDLEY, The Hellenistic philosophers. Volume 1, Translations of the Principal Sources with Philosophical Commentary, Cambridge 1995, 434: In den erhaltenen Stoikertexten findet sich selten eine eigenständige politische Theorie losgelöst von der Ethik.
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auszugehen, vielleicht zu Recht, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß das Gesetz, wie sie es definieren, die höchste Vernunft ist, die in der menschlichen Natur liegt und alles befiehlt, was getan werden muß, und das Gegenteil verbietet. [...] Dieses verkörpert nämlich das Wesen der Natur, dieses entspricht dem Geist und der Vernunft des Klugen, dieses ist die Richtschnur für Recht und Unrecht“ (leg. I 6,18f 71 = H. V. ARNIM, SVF III Nr. 315), „Es gibt nämlich nur ein einziges Recht, dem die menschliche Gemeinschaft verpflichtet ist und dem ein einziges Gesetz eine Grundlage gibt: Dieses Gesetz ist die richtige Vernunft im Bereich des Befehlens und Verbietens“ (leg. I 15,42 72 = H. V. ARNIM, SVF III Nr. 319), „Folglich gibt es überhaupt keine Gerechtigkeit, wenn sie nicht von Natur aus vorhanden ist“ (leg. I 15,42 73 = H. V. ARNIM, SVF III Nr. 320). Cicero nennt die Natur ausdrücklich den Maßstab 74 für gute Gesetze: „Doch wir können ein gutes Gesetz von einem schlechten nur dann unterscheiden, wenn wir den Maßstab der Natur (naturae norma) anlegen.“ (leg. I 16,44 = H. V. ARNIM, SVF III Nr. 321) und „Es ist aber das wahre Gesetz die richtige Vernunft, die mit der Natur in Einklang steht“ (rep. III 33 75 = H. V. ARNIM, SVF III Nr. 325). Bei Seneca finden wir die ethische Maxime „secundum naturam vivere“. 76
c) Zur Rezeption von Jos. 28ff als Fragment des Stoikers Chrysipp
Es ist davon auszugehen, dass sich die Form pro,sqesij in Jos. 28–31 in erster Linie der griechischen Übersetzung des Namens Joseph in der Septuaginta verdankt (s. 5.2.2.1). Darüber hinaus ist es wahrscheinlich, dass sich Philo bei seiner Ausdeutung des Namens Joseph als „Zusatz“ durch den Begriff pro,sqesij von der stoischen Gegenüberstellung von Natur- und Staatsgesetzen leiten ließ (s. 5.2.3.1). Die naheliegende Vermutung, dass Philo in Jos. 28–31 bei seiner Ausdeutung des Namens Joseph als „Zusatz“ auch terminologisch mit dem Begriff pro,sqesij an einen traditionell gebrauchten typischen Ausdruck für den rechtsphilosophischen Gedanken des „Zusatzes“ von positiven Gesetzen zum Naturgesetz angeknüpft haben könnte, lässt sich meines Wissens nicht bestätigen. In einer Zeit, als die 71
Zitiert nach: M.T. CICERO, Über die Gesetze. Stoische Paradoxien, lateinisch-deutsch, 23.25. Zitiert nach: M.T. CICERO, ebd., 47. 73 Zitiert nach: M.T. CICERO, ebd., 49. 74 Vgl. auch das Chrysippfragment bei Marcian (H. V. ARNIM, SVF III Nr. 314), welches von dem Gesetz als „Richtschnur“ (kanw,n) „des Gerechten und Ungerechten“ spricht. 75 Zitiert nach: M.T. CICERO, Der Staat. Lateinisch und deutsch, 205. 76 Vgl. De Otio IV, 2: „Solemus dicere summum bonum esse secundum naturam vivere“ / „Wir sagen gewöhnlich, das höchste Gut sei ein naturgemäßes Leben.“, zitiert nach: L.A. SENECA, Die kleinen Dialoge. Bd. 2, Lateinisch-deutsch, Herausgegeben, übersetzt und mit einer Einführung versehen von Gerhard Fink, Sammlung Tusculum, München/Zürich 1992, 84f. 72
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quellenkundlich orientierte Forschung damit rechnete, in den Primärtexten ein Konglomerat an Zitaten von Philosophen ausfindig machen zu können, hat H. VON ARNIM De Josepho 28ff in seiner Stoikerfragmentensammlung, die bis heute ein Standardwerk ist, als ein Fragment des Stoikers Chrysipp zitiert. 77 So kommt es, dass man bei von H. V. ARNIMS Rezipienten 78 die Aussage findet, der Gedanke des „Zusatzes“ (prosqh,kh) von Staatsgesetzen sei ein typisch stoischer Gedanke. Es lässt sich jedoch meines Wissens kein Gebrauch von pro,sqesij als Terminus Technicus im rechtsphilosophischen Kontext der Stoiker nachweisen, der als Analogie für Philo angeführt werden kann. 79 In den bei H. V. ARNIM unter der Überschrift „De lege aeterna et de legibus singularum civitatium“ zusammengestellten Textstellen 80 von Marcian, Cicero, Diogenes und Plutarch findet sich weder das griechische pro,sqesij/prosqh,kh/pro,sqema noch ein lateinisches Äquivalent (additamentum).
77
H. V. ARNIM, SVF III Nr. 323. Vgl. A. DIHLE, Der Begriff des Nomos in der griechischen Philosophie, 129. Vgl. O. BEHRENDS, Gesetz und Sprache, 187. Vgl. auch R. WEBER, Das Gesetz im hellenistischen Judentum, 431. Vgl. dagegen die differenzierte Behandlung der Philostelle bei W. KULLMANN, Antike Vorstufen des modernen Begriffs des Naturgesetzes, in: O. Behrends/W. Sellert (Hg.), Nomos und Gesetz. Ursprünge und Wirkungen des griechischen Gesetzesdenkens,... Symposion der Kommission Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart/Akademie der Wissenschaften Göttingen 6; Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse Folge 3, 209, Göttingen 1995, 36–111, 65.69. 79 a) In folgenden Quellensammlungen wurde nach pro,sqesij/prosqh,kh/pro,sqema oder einem lateinischen Äquivalent zur Beschreibung des Zusatzes von positiven (Staats-)gesetzen zum Naturgesetz gesucht: Im Sachregister des Quellenbandes von A.A. LONG/D.N. SEDLEY, Die hellenistischen Philosophen, 618, findet sich hinter dem Stichwort „Gesetz“ (Stoiker) keine Quelle, in der von positiven Gesetzen als „Zusatz“ die Rede ist. Unter der Überschrift „Politische Theorie“, ebd., 512–519, findet sich außer dem bereits erwähnten Zenontext kein Text, in dem von positiven Gesetzen als „Zusatz“ die Rede ist. Auch im „Index of Topics“ des englischsprachigen Quellenbandes von A.A. LONG/D.N. SEDLEY, The Hellenistic philosophers. Volume 1, 509–512, finden sich hinter den Stichworten „law“, „nature: as ethical guide“, „nature: universal and particular“ keine Stoikertexte, in denen von positiven Gesetzen als „Zusatz“ die Rede ist. b) In H. V. ARNIM, SVF IV, dem Index zu SVF I–III, findet sich kein Eintrag zu pro,sqesij/pro,sqema, sondern lediglich ein einziger Eintrag zu prosqh,kh, der auf SVF III Nr. 323 (= Philo, De Jos 28ff) hinweist. c) TLG-online, Suchergebnisse für prosqh in Kombination mit fus innerhalb von vier Zeilen (near 4 lines, order by date) enthielten keine relevanten Texte. d) TLG-online, Suchergebnisse für prosqh in Kombination mit nomo innerhalb von vier Zeilen (near 4 lines, order by date) enthielten keine relevanten Texte. e) H.G. LIDDELL, Art. pro,sqema, in: ders., A Greek-English Lexicon, comp. by H.G. Liddell and R. Scott, New (9.) ed., [repr.] / revised and augmented throughout by Henry Stuart Jones, Oxfort 1996, 1513; Art. pro,sqesij, ebd., 1514; Art. prosqh,kh, ebd. 1514. 80 H. V. ARNIM, SVF III, 77–80. 78
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5.2.3.2 Die Antithese fu,sei-qe,sei Ein Rekurs auf die Tradition findet sich nicht in den Komposita pro,sqesij/prosqh,kh/pro,sqema, sondern in dem Simplex qe,sij. Philo aktiviert durch den Begriff pro,sqesij den verwandten Begriff der qe,sij und mit ihm die Antithese von qe,sij und fu,sij. Dass für ihn im Hintergrund des Begriffs prosqh,kh die Antithese von qe,sij und fu,sij steht, zeigt die Namensauslegung in mut. 89, wo es heißt: VIwsh.f e`rmhneu,etai pro,sqema\ prosqh,kh dV evsti. tw/n fu,sei ta. qe,sei (Joseph bedeutet „Zusatz“, Zusatz aber des Natürlichen ist das Künstliche). 81 Die Vorsilbe pro,j verstärkt allenfalls den tendenziell negativ konnotierten Begriff qe,sij (vgl. hierzu mut. 90). Philo rückt qe,sij damit noch weiter von fu,sij ab. Da wir Grund zur Vermutung haben, dass im Hintergrund des Begriffs pro,sqesij die Antithese von fu,sei (durch Setzung) und qe,sei (von Natur aus) steht, soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, in welchem Kontext in der Antike die Antithese von qe,sei und fu,sei gebraucht wurde. Die Gegenüberstellung von fu,sij und qe,sij ist ein Vorläufer der sophistischen Antithese fu,sei-no,mw|, welche ihrerseits auf der eleatischen Gegenüberstellung von Sein und Schein fußt. 82 Die Untersuchung führt zurück zum Vorsokratiker Demokrit (470–360), in dessen Sprachentstehungslehre sich die Antithese von qe,sij und fu,sij erstmalig nachweisen lässt. 83 Demokrit beschäftigte sich mit der Frage, ob die Namen durch Setzung beziehungsweise Konvention (qe,sei) geschaffen wurden oder von Natur aus (fu,sei) entstanden sind. Wie Proklos im Kratylos referiert, erweist Demokrit den konventionellen Ursprung der Sprache unter anderem 84 durch den Hinweis auf das Phänomen des gleichen Namens für verschiedene Sachen: Demokrit, der einen konventionellen Ursprung der Wörter behauptet, hat diesen mit vier Beweisen untermauert: (1) Aus der Gleichnamigkeit; denn verschiedene Sachen werden mit demselben Namen bezeichnet, also hat der Name keinen natürlichen Ursprung.
81
Die Antithese von fu,sij und qe,sij gebraucht Philo auch an anderer Stelle. Vgl. F. HEINIMANN, Nomos und Physis, 163. 83 TLG-online, Suchergebnisse für fusei in Kombination mit qesei innerhalb von vier Zeilen (near 4 lines), von Zeno Phil. Eleaticus 5. Jh. v.Chr. bis Philo Judaeus Phil. 1.–2. Jh. n.Chr. (order by date). 84 Vgl. H. DIELS (Bearb.)/W. KRANZ (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch. Bd. 2, [59–90], 148. 82
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o` de. Dhmo,kritoj qe,sei le,gwn ta. ovno,mata dia. tessa,rwn evpiceirhma,twn tou/to kateskeu,azen\ evk th/j o`mwnumi,aj\ ta. ga.r dia,fora pra,gmata tw/| auvtw/| kalou/ntai ovno,mati\ ouvk a;ra fu,sei to. o;noma\ 85
In Platons Kratylos (vgl. inbes. 383a–384e und 434c–435d) bitten Hermogenes und Kratylos Sokrates um Hilfe bei der Klärung der Frage, ob die Benennungen ihre Bedeutung von Natur aus haben (vgl. 383a; 384d: fu,sei) oder durch Übereinkunft (vgl. 384d.434e.435a: sunqh,kh). Auch im Corpus Hippocraticum De arte 2 wird die Antithese im Kontext der Sprachentstehungslehre gebraucht: ta. me.n ga.r ovno,mata fu,sioj nomoqeth,mata, evstin, ta. de. ei;dea ouv nomoqeth,mata, avlla. blasth,mata. „Namen nämlich sind Bestimmungen der Natur, Erscheinungsformen aber sind keine Bestimmungen, sondern Bildungen (der Natur).“ 86 Die Ausdrücke qe,sij und fu,sij begegnen in Platons Kratylos (Krat. 390d.397b.401b), als Sokrates mit Hermogenes Kriterien für die Richtigkeit von Benennungen bespricht. Sokrates benutzt in diesem Zusammenhang zwar die Ausdrücke qe,sij und fu,sij, gebraucht sie aber nicht in der zu untersuchenden Antithese, durch Setzung oder von Natur aus. Gegensatz zur Benennung von Natur aus (fu,sei) ist hier im Kratylos nicht durch Setzung (qe,sei), sondern avpo. tou/ auvtoma,tou, „aufs Geratewohl“. Laut F. HEINIMANN wird qe,sij tw/n ovnoma,twn hier in Analogie zu no,mouj tiqe,nai gebraucht. 87 In Platons Leges (889d–e) findet sich ebenfalls kein direkter Gegensatz fu,sei-qe,sei, sondern fu,sei-te,cnh|. Die te,cnh (Kunst) bezieht sich hier jedoch auf Satzungen (qe,seij) in der Gesetzgebung, sodass über den Begriff der te,cnh indirekt ein Gegensatz von fu,sij und qe,seij (Satzungen) hergestellt wird. Zu beachten ist, dass laut Sokrates die Verankerung der Gesetzgebung in der Natur Garant für eine wahrheitsgemäße Gesetzgebung ist, und dass auf Satzungen beruhendes Recht und Gesetz sich von der wahrheitsgemäßen Gesetzgebung entfernen. In Platons Leges 889d–e heißt es: [Der Athener:] „Und so behaupten sie auch, von der Staatskunst hänge nur ein kleiner Teil mit der Natur (fu,sei) zusammen, mit der Kunst (te,cnh|) dagegen der größte; und so beruhe auch die Gesetzgebung (nomoqesi,an) insgesamt nicht auf der Natur (fu,sei), sondern auf der Kunst (te,cnh|), deren Satzungen (qe,seij) nicht wahr seien. 85 DK 68 B 26 zitiert nach: J. MANSFELD (Hg.), Die Vorsokratiker. Bd. 2, Zenon, Empedokles, Anaxagoras, Leukipp, Demokrit. Griechisch-deutsch, Auswahl der Fragmente, Übersetzung und Erläuterungen von Jaap Mansfeld, Universal-Bibliothek Nr. 7966, Stuttgart 2000, 340f. Vgl. auch DK 68 B 5 (= Diod. I 8,3) in H. DIELS (Bearb.)/W. KRANZ (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch. Bd. 2, [59–90], 135. 86 Griechischer Text und Übersetzung: HIPPOCRATES, Ausgewählte Schriften. Herausgegeben und übersetzt von Charlotte Schubert und Wolfgang Leschhorn, Düsseldorf/Zürich 2006, 108f. 87 Vgl. F. HEINIMANN, Nomos und Physis, 162, Anm. 39.
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Kleinias: Wie meinst du das? Der Athener: Die Götter, mein Bester, so lautet die erste Behauptung dieser Leute, verdankten ihr Dasein der Kunst (te,cnh|) und nicht der Natur (fu,sei), sondern bestimmten Gesetzen (no,moij), und diese seien jeweils verschieden, je nachdem wie die einzelnen Gesetzgeber hierbei miteinander übereingekommen seien; und so sei auch das Schöne etwas anderes nach der Natur (fu,sei) und etwas anderes nach dem Gesetz (no,mw|); das Gerechte (di,kaia) vollends beruhe überhaupt nicht auf der Natur (fu,sei), sondern die Menschen würden darüber fortwährend streiten und es ständig neu festsetzen; was sie aber festsetzten und sobald sie es einmal festgesetzt hätten, das sei dann jeweils gültig, obwohl es auf der Kunst (te,cnh|) und auf den Gesetzen (no,moij) beruhe, aber gewiss nicht auf irgendeiner Ordnung der Natur (fu,sei).“ 88
Eine unmittelbare Gegenüberstellung der beiden Begriffe Natur und Setzung, wie sie vorsokratisch bezeugt war, wird erst wieder im Zusammenhang der Sprachentstehungslehre bei Epikur (341–271 v.Chr.) greifbar. Im Unterschied zu Demokrit, der einen konventionellen Ursprung der Wörter vertreten hatte, geht Epikur davon aus, dass die Namen in einem ersten Stadium nicht durch Konvention, 89 sondern durch die Natur der Menschen entstanden sind. Die Konvention kommt erst im zweiten Schritt der Sprachentstehungslehre ins Spiel: die Sprache entsteht fu,sei, entwickelt und bereichert sich aber qe,sei und logismw/|. 90 Epikur, Epistula ad Herodotum (75): Außerdem muss man annehmen, dass die Natur Vieles und Vielfältiges von den Dingen selbst gelehrt bekam und zu ihnen gezwungen wurde und dass später die Überlegung das ihr von der Natur Nahegelegte genauer ausarbeitet und zusätzliche Entdeckungen dazu macht – bei manchen schneller, bei manchen langsamer und in manchen Epochen und Zeiten [mit größerem Erfolg], in manchen mit geringerem. Daher sind auch nicht die Wörter von Beginn an durch Setzung entstanden, sondern die (verschiedenen) Naturen selbst der Menschen, gemäß der einzelnen Völker, waren eigentümlichen Empfindungen ausgesetzt, nahmen eigentümliche Vorstellungen auf und sandten dann die Luft auf eigentümliche Weise aus, geprägt von den einzelnen Empfindungen und Vorstellungen, so wie auch immer der Unterschied gemäß den Orten der verschiedenen Völker sein mag. 91 VAlla. mh.n u`polepte,on kai. th.n fu,sin polla. kai. pantoi/a u`po. auvtw/n tw/n pragma,twn didacqh/nai, te kai. avnagkasqh/nai\ to.n de. logismo.n ta. u`po. tau,thj paregguhqe,nta 88 Zitiert nach: PLATON, Gesetze. Buch VII–XII. Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Bd. 8.2, bearb. v. Klaus Schöpsdau, griech. Text v. Auguste Diès u. Joseph Souilhé, dt. Übers. v. Klaus Schöpsdau u. Hieronymus Müller, Darmstadt 1977, 276f. 89 Vgl. F. HEINIMANN, Nomos und Physis, 163: „qe,sei“ als Konvention ist hier fast gleichbedeutend mit „no,mw|“. 90 Vgl. die Anmerkungen zu epist. 1,75 in: EPICURUS, Lettres et maximes. Texte établi et trad. avec une introd. et des notes par Marcel Conche, Paris 1987, 178. 91 Zitiert nach EPICURUS, Ausgewählte Schriften. Übersetzt und herausgegeben von Christof Rapp, Kröners Taschenausgabe 218, Stuttgart 2010, 61.
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u[steron evpakribou/n kai. prosexeuri,skein evn me,n tisi qa/tton evn de, tisi bradu,teron kai. evn me,n tisi perio,doij kai. cro,noij [avpo. tw/n avpo. tou/ avpei,rou] (evn de, tisi kat evla,ttoujÅ {Oqen kai. ta. ovno,mata evx avrch/j mh. qe,sei gene,sqai(avllV avuta.j ta.j fu,seij tw/n avnqrw,pwn kaqV e[kasta e;qnh i;dia pascou,saj pa,qh kai. i;dia lambanou,saj fanta,smata ivdi,wj to.n ave,ra evkpe,mpein stello,menon u`fV e`ka,stwn tw/n paqw/n kai. tw/n fantasma,twn(w`j a;n pote kai. h` para. tou.j to,pouj 92 tw/n evqnw/n diafora. ei;h\ 93
Die Antithese beziehungsweise eine Variation des Konzepts von qe,sei und fu,sei wurde also von Demokrit und Epikur bei der Diskussion um die Entstehung der ovno,mata benutzt und begegnet abgeschwächt auch bei Platon. Laut Origenes (c.Cels. I 24) diente diese Antithese auch noch stoischen Überlegungen zur Sprachentstehung: Und im folgenden sagt er (erg. Kelsos), „es mache nichts aus, ob man den über allen waltenden Gott Zeus nenne, wie die Griechen es tun, oder ob man ihm den zum Beispiel bei den Indern oder den bei den Ägyptiern üblichen Namen gebe“. Wir erwidern darauf: Bei der vorliegenden Frage kommt die tiefe und geheimnisvolle Lehre von dem Wesen der Namen in Betracht; ob, wie Aristoteles meint, die Namen ihr Dasein dem Übereinkommen verdanken (qe,sei eivsi. ta. ovno,mata), oder, wie die Stoiker glauben, einen natürlichen Ursprung (fu,sei) haben, wonach die ersten Laute die Dinge, für die die Namen bestimmt waren, nachgeahmt hätten, weshalb sie auch gewisse Grundlehren der Worterklärung nach Wurzeln oder Stämmen einführen; oder ob, wie Epikur, abweichend von den Stoikern, lehrt, die Namen daher einen natürlichen Ursprung (fu,sei) haben, daß die ersten Menschen bei (dem Anblick) der Gegenstände gewisse Laute ausgestoßen hätten. Wenn wir nun in einer besonderen Untersuchung die Natur wirksamer Namen darlegen können, [...] dann werden wir sagen dürfen, daß die Namen Sabaoth, Adonai und alle die andern, die bei den Hebräern mit großer Feierlichkeit überliefert werden, nicht für beliebige und gewordene Dinge, sondern mit Rücksicht auf eine gewisse geheimnisvolle Theologie gebildet worden sind, die sich auf den Schöpfer des Weltalls bezieht. 94
Über solche Theorien zur Sprachentstehung hinaus findet die Antithese beim Stoiker Chrysipp von Soloi (um 280 – um 205 v.Chr.) Eingang in die Ethik, wie uns ein Fragment des Diogenes Laertius überliefert. Chrysipp wandte die Formel auf das di,kaion, den no,moj und den ovrqo.j lo,goj an:
92
Vgl. Philo Jos. 29: ai` de. kata. to,pouj au-tai po,leij. Zitiert nach: EPICURUS, Lettres et maximes, 120. 94 Übersetzung nach: ORIGENES, Gegen Kelsos. Deutsche Übersetzung von Paul Koetschau, ausgewählt und bearbeitet von Karl Pichler, Schriften der Kirchenväter Bd. 6, München 1986, 44f. Griechischer Text zitiert nach: ORIGENES, Contre Celse, Bd. 1. Livres I et II. Introduction, texte critique, traduction et notes par Marcel Borret, s. j., SC 132, Paris 1967, 136. 93
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Das sekundäre Gesetz
fu,sei te to. di,kaion ei-nai kai. mh. qe,sei, w`j kai. to.n no,mon kai. to.n ovrqo.n lo,gon, kaqa, fhsi Cru,sippoj evn tw/| peri. tou/ Kalou/. 95
Zwar ist – wie wir sahen – mit fu,sei in der antithetischen Gegenüberstellung zu qe,sei nicht per se ein positiveres Werturteil verbunden als mit qe,sei. Vermutlich ist mit ihr aber tendenziell ein altehrwürdiger Klang verbunden. So heißt es noch bei Gregor von Nazianz lobend über den Heiligen Geist (De spiritu sancto 29,18): avgaqo,n(euvvqe,j(h`gemoniko,n(fu,sei ouvv qe,sei a`gia,zon „Er ist gut [...], gerade [...], leitend [...], heiligt von Natur, nicht als Beiwerk“ 96
Neben Sprachentstehung und Ethik fand die Antithese später 97 ein drittes, häufiges Anwendungsgebiet bei der Bezeichnung von Kindschaft oder Bürgerschaft durch Adoption (qe,sei) im Gegensatz zur leiblichen Kindschaft (fu,sei). So benutzt Apollodor laut Diogenes Laertius in seiner „Chronik“ die Antithese bei seiner Beschreibung des Vorsokratikers Zenon von Elea: „Zenon aus Elea. Dieser, so Apollodor in seiner ‘Chronik’, sei ein leiblicher Sohn des Teleutagoras, aber ein adoptierter des Parmenides.“
Zh,nwn VElea,thjÅ tou/ton VApollo,dwro,j fhsin ei=nai evn Cronikoi/j fu,sei me.n Teleutago,rou(qe,sei de. Parmeni,douÅ 98
5.3 Die Überlegenheit des mosaischen Gesetzes bei Philo Die Überlegenheit des mosaischen Gesetzes bei Philo
Philo zeigt die Überlegenheit des mosaischen Gesetzes gegenüber anderen Gesetzen auf. Man gewinnt den Eindruck Philo, antizipiere gedanklich mögliche Kritik am jüdischen Gesetz. Er setzt sich mit anderen antiken Gesetzeskonzeptionen auseinander und schützt das mosaische Gesetz vor dem Verdacht, anderen antiken Gesetzen unterlegen zu sein. Der Nachweis der Überlegenheit der Tora gelingt Philo zum einen durch die sprachliche Überwindung der Antithese von Natur und Gesetz in Bezug auf das jüdische Gesetz (5.3.1) und zum anderen durch die Rückbindung des mosai-
95
H. V. ARNIM, SVF III Nr. 308; Diog.Laert. VII 128. Zitiert nach: GREGORIUS NAZIANZENUS, Orationes theologicae. Griechisch-deutsch. Übers. und eingeleitet von Hermann Josef Sieben, FChr 22, Freiburg/Basel/Wien et.al. 1996, 330f. 97 Vgl. F. HEINIMANN, Nomos und Physis, 163, Anm. 2. 98 Diog.Laert. IX 25; Apollodor FgrH 244 F 30a (DK 29 A 1); zitiert nach: J. MANSFELD (Hg.), Die Vorsokratiker. Bd. 2, Zenon, Empedokles, Anaxagoras, Leukipp, Demokrit, 26f. Vgl. auch DK 29 A 1 in: H. DIELS (Bearb.)/W. KRANZ (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch. Bd. 1, [1–58], 247. 96
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Die Überlegenheit des mosaischen Gesetzes bei Philo
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schen Gesetzes an antike Konzeptionen eines ungeschriebenen höheren Gesetzes (5.3.2–5.3.3). 5.3.1 Die sprachliche Überwindung der Antithese von Natur und Gesetz in Bezug auf das jüdische Gesetz bei Philo (no,moj fu,sewj; qe,smoi fu,sewj) Durch die Bezeichnung des jüdischen Gesetzes beziehungsweise dessen Einzelgesetze als no,moj fu,sewj beziehungsweise qe,smoi fu,sewj hat Philo einen Ausgleich gefunden zwischen der Tora als konkreter, geschichtlicher, religiöser, für Israel erlassene Rechtsordnung einerseits und dem universalen und ewigen Naturgesetz der Philosophen andererseits. 99
Faktische, historisch gebundene Sonderexistenz des jüdischen Volkes, das sich an der Thora orientiert, einer konkret geschichtlichen Ordnung, der mosaischen Rechtsstiftung am Sinai
Weltbürgerschaft des Philosophen der dem Weltgesetz folgt, der Schöpfungsordnung des Anfangs
Bei Philo findet sich häufig 100 die Wendung no,moj fu,sewj (Naturgesetz), präzise oder dem Sinn nach. 101 Dass diese Wortverbindung auf Philo selber zurückgeht, wie H. KOESTER 102 annimmt, ist Philo zwar zuzutrauen, aber nicht sehr wahrscheinlich und aufgrund der dünnen Quellenlage nicht zu beweisen. Die Stoa hatte sich zuvor mit der Idee des Naturgesetzes beschäftigt und die Antithese von no,moj und fu,sij überwunden, tat dies aber nicht unter Verwendung derselben griechischen Begriffe, sondern ähnlicher beziehungsweise lateinischer Begriffe. So finden sich zwar die Ausdrücke ovrqo.j lo,goj, lo,goj fu,sewj, koino.j no,moj in der Stoa, 103 der griechische Ausdruck no,moj fu,sewj findet sich jedoch nicht bei den älteren Stoikern, sondern erst 99 Vgl. zur Gegenüberstellung: R. WEBER, Das „Gesetz“ bei Philon von Alexandrien und Flavius Josephus, 84. 100 Vgl. Die Überschneidungen von no,moj und fu,sij in G. MAYER (Hg.), Index Philoneus, 197.299f. 101 Vgl. R. WEBER, Das „Gesetz“ bei Philon von Alexandrien und Flavius Josephus, 78. 102 Vgl. H. KOESTER, NOMOS FUSEWS: The Concept of Natural Law in Greek Thought, in: Jacob Neusner (Hg.), Religions in Antiquity. Essays in Memory of Erwin Ramsdell Goodenough, SHR 14, Leiden 1968, 521–541. 103 Vgl. R. WEBER, Das „Gesetz“ bei Philon von Alexandrien und Flavius Josephus, 80.
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Das sekundäre Gesetz
bei Epiktet. 104 Das lateinische Äquivalent zu Naturgesetz, lex naturae, ist, wie wir sahen, bei Cicero belegt. 105 Philos originäre oder von der Stoa adaptierte Wortverbindung von fu,sij, einem typischen Begriff der griechischen Philosophie, und no,moj, einem typischen Begriff des Judentums, kann als „Synthetisierungsversuch“ von griechischem und jüdischem Denken verstanden werden. 106 Das logische Bindeglied zwischen fu,sij und no,moj ist Gott, der Schöpfer der Natur (fu,sij) und Stifter einer Weltordnung (no,moj). Als Schöpfung bekommt die Natur bei Philo durch Gott einen personalen Hintergrund. 107 fu,sij kann bei Philo sogar zu einem Wechselbegriff zu Gott werden. 108 Das Naturgesetz (no,moj fu,sewj) ist für Philo vor allem ein Sittengesetz, das den Patriarchen bereits vor der Sinaigesetzgebung Orientierung für ein sittlich gutes, gottgefälliges Leben gab. Diese Vorstellung eines den weisen Patriarchen inhärenten ungeschriebenen Gesetzes brachte Philo auch durch die traditionellen Ideen des no,moj e;myucoj und des a;grafoj no,moj zum Ausdruck (siehe 5.3.2). Die Wendung qesmoi. fu,sewj (Jos. 30) fällt „aus der ansonsten gut stoischen Terminologie“ heraus. Qe,smoj ist „ein archaisches Wort, das den Akt der Gesetzgebung“ besonders hervorhebt und dabei die Vorstellung eines Gesetzgebers impliziert. 109 Laut R.A. HORSLEY 110 verdankt sich die Wendung hier platonischem Einfluss. H. KOESTER hingegen sah in der Wendung typisch jüdischen Einfluss am Werk. 111 Man wird sagen dürfen, dass der jüdische Glaube das archaische und von Platon verwendete Wort qesmo,j in seine Vorstellungswelt gut integrieren konnte. War die Antithese von no,moj und fu,sij durch die Wendung no,moj fu,sewj von Philo überwunden worden, so wird hier die sachlich ähnliche, ältere Antithese von qe,sij und fu,sij überwunden. 112 Trotz der beiden synthetisierenden Wortverbindungen (no,moj fu,sewj, qe,smoi fu,sewj) sahen einige Interpreten die Spannungen von Universalität des Naturgesetzes und Partikularität der Tora in Philos Gesetzesverständnis nicht völlig überwunden. E.R. GOODENOUGH (und Y. AMIR) sprachen mit Blick auf das ungeschriebene Gesetz, das seit der Schöpfung galt einerseits und das am Sinai sanktionierte positive Gesetz, den Pentateuch, andererseits 104
Vgl. ebd., 81. Vgl. ebd., 81. 106 Vgl. ebd., 81. 107 Vgl. ebd., 82. 108 Vgl. ebd., 82. 109 Vgl. ebd., 89. 110 Vgl. R.A. HORSLEY, The Law of Nature in Philo and Cicero, 35ff. 111 Vgl. H. KOESTER, NOMOS FUSEWS, 532. 112 Vgl. R. WEBER, Das „Gesetz“ bei Philon von Alexandrien und Flavius Josephus, 89. 105
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Die Überlegenheit des mosaischen Gesetzes bei Philo
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von „erster“ und „zweiter“ Tora, R. WEBER von „protologischer Schöpfungsthora“ und „Sinaithora“. Philos platonisch dualistisches Denken oder auch nur eine konsequente Fortführung seiner stoisch motivierten Kritik an positiven Gesetzen hätte prinzipiell dazu führen können, dass für Philo auch das positive Gesetz in der Form der Sinaitora nur den Charakter der Abschattung vom Naturgesetz besitzt. 113 Folgende Stellen gaben R. WEBER Anlass für eine solche Interpretation: Philos Rede von den Erzvätern als Urbildern der allgemeinen Gesetze einerseits und von den speziellen Gesetzen als deren Abbildern andererseits (Abr. 3) sowie seine Bezeichnung des no,moj als eivkw,n der Weltverfassung (Mos. II 51) lassen die Sinaitora als etwas Zweitrangiges erscheinen. Sie besteht aus „u`pomnh,mata“ (Abr. 5), hat also gegenüber der Schöpfungstora „Kommentarcharakter“. 114 R. WEBER möchte hier einen „Ausläufer“ der sophistischen Unterscheidung und Wertung von no,moj und fu,sij nicht ausschließen. 115 Trotz der genannten Aussagen, die sich als Abschattung interpretieren lassen, sah Philo eine Harmonisierung von Naturgesetz und Tora gegeben. 116 Da Philos Gott, der, wie wir sahen, die Einheit von fu,sij und no,moj verbürgt, nicht nur Stifter eines no,moj im Sinne einer Weltordnung, sondern auch der Geber des no,moj im Sinne des jüdischen Gesetzes, des Pentateuchs, ist, tritt die fu,sij auch mit dem no,moj als Pentateuch in Verbindung. 117 Die Tora zeichnet sich durch ihre Rückbindung an den Schöpfergott aus. Gott, der Schöpfer des Alls, ist identisch mit Gott, dem Gesetzgeber, sodass auch Weltgesetz und Tora identisch sind. Die Auszeichnung des jüdischen no,moj gegenüber den Gesetzen der Völker begründet Philo mit der Eigenart des Anfangs des Pentateuchs (opif. 3): Dieser Anfang ist, wie ich sagte, höchst bewunderungswürdig, da er die Weltschöpfung schildert, um gleichsam anzudeuten, dass sowohl die Welt mit dem Gesetze als auch das Gesetz mit der Welt im Einklang steht und dass der gesetzestreue Mann 113 Vgl. R. WEBER, ebd., 108, Anm. 244: der Sinaitora kommt nur der zweite Platz zu; ebd. 110: die Sinaitora hat abgeleiteten sekundären Charakter. 114 Vgl. ebd., 112f. 115 Vgl. ebd., 112. 116 R. WEBER, der in seiner Darstellung des philonischen Gesetzesverständnisses Naturgesetz und Schöpfungstora in ihrem jeweiligen Verhältnis zur (Sinai-)Tora getrennt behandelt, konstatiert zuerst eine Gleichrangigkeit und Identität von Naturgesetz und Tora, dann eine Zweitrangigkeit der Sinaitora gegenüber der von ihm sogenannten „protologischen Schöpfungstora“ (vgl. R. WEBER, ebd., 112f). Das Fazit, Philo habe dem ursprünglichen, urbildhaften Naturgesetz eine höhere Dignität zugeschrieben als der Sinaitora, ist m.E. eher R. WEBERS künstlicher Unterscheidung zwischen Naturgesetz und protologischer Schöpfungstora geschuldet als Philo. Zur Harmonie zwischen Naturgesetz und Tora bei Philo vgl. M. KONRADT, Tora und Naturgesetz, 87–112. 117 Vgl. R. WEBER, Das „Gesetz“ bei Philon von Alexandrien und Flavius Josephus, 82.
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Das sekundäre Gesetz
ohne weiteres ein Weltbürger ist, da er seine Handlungsweise nach dem Willen der Natur regelt, nach dem auch die ganze Welt gelenkt wird.
Die Verbindung von Schöpfung und Gesetz besteht also von Anfang an! Das Gesetz nimmt seinen Anfang mit der Weltschöpfung und besitzt dadurch eine Beziehung zum Gesetz der Natur. No,moj und ko,smoj sind wechselseitig aufeinander bezogen. Eine weitere Auszeichnung des jüdischen Gesetzes besteht darin, dass Gott als Schöpfer des ganzen Kosmos seinem Gesetz eine universale Ausrichtung gibt. Ist jüdisches Staatsgesetz mit dem allgemeinen Weltgesetz identisch, so ist folglich derjenige, der das jüdische Gesetz befolgt, ein Weltbürger. Da die Sinaitora selbst eine positive Gesetzgebung ist, muss sich Philo mit der Frage auseinandersetzen, ob die an den positiven Gesetzen der Einzelstaaten geübte Kritik in gleicher Weise für die Sinaitora gilt. Der Pentateuch ist höherwertiger als andere Staatsgesetze. Die Sinaitora wurde in der Wüste offenbart und ist vielleicht auch aus diesem Grund kein Staatsgesetz. 118 Ist die Sinaitora durch die Rückbindung an die Schöpfungstora die einzige positive Gesetzgebung für ein Volk, die des Verdachts der Abschattung vom wahren Gesetz enthoben ist? Bei den Gesetzen anderer Völker ist die Rückbindung an das wahre Gesetz intendiert, aber nicht garantiert (siehe 5.3.3). 5.3.2 Konzepte eines sittlichen Lebens ohne (geschriebenes) Gesetz bei Philo und in der Tradition In der griechisch-römischen Antike finden wir außer der stoischen Tradition des Naturgesetzes (no,moj fu,sewj) drei prominente Traditionen, in denen das Ideal eines sittlichen Lebens ohne geschriebenes Gesetz zum Ausdruck gebracht wurde: erstens die hellenistisch-pythagoräische Tradition des Weisen als „lebendiges Gesetz“ (no,moj e;myucoj), zweitens die Rede vom „ungeschriebenen Gesetz“ (no,moj a;grafoj), drittens das kynisch-stoische Ideal des Weisen ohne Gesetz. Die Konzepte no,moj fu,sewj, no,moj e;myucoj und no,moj a;grafoj finden sich alle modifiziert bei Philo, der sie miteinander gleichsetzt und zum Urbild des mosaischen Gesetzes erklärt.
118
Vgl. zum Gedanken der Wüste als „Niemandsland“ R. WEBER, ebd., 105, Anm. 237.
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Die Überlegenheit des mosaischen Gesetzes bei Philo
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5.3.2.1 Das „lebendige Gesetz“ (no,moj e;myucoj) Philo spricht drei mal vom no,moj e;myucoj: 119 einmal nennt er die Patriarchen e;myucoi kai. logikoi. no,moi (Abr. 5), zwei mal gilt ihm Mose als no,moj e;myucoj (Mos. I 162; Mos. II 4). Mit dem Gebrauch des Ausdrucks no,moj e;myucoj knüpft Philo an ein hellenistisch-pythagoräisches Königsideal 120 an, das er in zweifacher Weise für seine Zwecke modifiziert: 121 er hebt erstens die Alternative zwischen einem Leben nach einem geschriebenem oder nach einem ungeschriebenem beziehungsweise lebendigem Gesetz auf und wendet zweitens den Ausdruck no,moj e;myucoj nicht allein auf eine königliche Person an. Während nach einer Archytas von Tarent zugeschriebenen Quelle aus hellenistischer Zeit das geschriebene Gesetz, das a;yucoj ist, und der König, der e;myucoj ist, 122 einander gegenübergestellt werden und dabei dem no,moj e;myucoj die Autorität zugestanden wird, das geschriebene Gesetz zu ersetzen – eine Vorstellung, die auch für andere pythagoräische Traktate aus hellenistischer Zeit charakteristisch ist 123 –, wird bei Philo die Gegenüberstellung eines Gesetzes, das entweder geschrieben oder e;myucoj ist, aufgebrochen. 124 Philos no,moi e;myucoi, die Patriarchen, ersetzen nicht das geschriebene Gesetz, sondern befolgen das mosaische Gesetz. In der Beschreibung der Patriarchen (Abr. 5–6) verbindet Philo gleich drei verschiedene antike Konzepte eines „höheren“ Gesetzes miteinander: erstens das 119 Vgl. zur Thematik die ausführliche Darstellung zum no,moj e;myucoj in der Antike von J.W. MARTENS, One God, one law, 31–66, in seinem Kapitel mit der Überschrift: „'Higher Law': The Living Law“ und seine Untersuchung des Konzepts bei Philo, ebd., 90–95. Eine kurze Zusammenfassung zum no,moj e;myucoj vor und bei Philo findet sich bei J. MARTENS, Nomos Empsychos in Philo and Clement of Alexandria, in: Wendy E. Helleman (Hg.), Hellenization Revisited. Shaping a Christian Response within the Greco-Roman World, Lanham/New York/London 1994, 323–338, 324–326. 120 Vgl. J.W. MARTENS, One God, one law, 38–42. 121 Vgl. zu den Modifikationen durch Philo, vgl. ebd., 94. 122 „Nun gibt es zwei Arten von Gesetzen: das lebendige (e;myucoj) Gesetz, das der König verkörpert, und das leblose, das geschriebene Gesetz. Das Gesetz ist also primär; denn in bezug darauf ist der König gesetzmäßig (no,mimoj), die Herrschaft angemessen (avko,louqoj), die Beherrschten frei und das ganze Gemeinwesen glücklich.“ Zitiert nach E.R. GOODENOUGH, Die politische Philosophie des hellenistischen Königtums, in: H. Kloft, Ideologie und Herrschaft in der Antike, WdF 528, Darmstadt 1979, 27–89, 33. 123 Vgl. die als Fragmente bei Stobaios enthaltenen Abhandlungen „Über das Königtum“ des Diotogenes (Stobaios IV 7, 61.62), Sthenonidas (Stobaios IV 7, 63) und Ekphantos (Stobaios IV 7, 64–66). Dazu E.R. GOODENOUGH, The Political Philosophy of Hellenistic Kingship, Yale Classical Studies 1, 1928, 55–102 = Die politische Philosophie des hellenistischen Königtums, in: H. Kloft, Ideologie und Herrschaft in der Antike, WdF 528, Darmstadt 1979, 27–89 (mit Übersetzung der wichtigsten Fragmente). 124 Vgl. zur Alternative „Leben nach einem geschriebenen Gesetz“ versus „Leben nach einem lebendigen Gesetz“ J.W. MARTENS, One God, one law, 38.65.123 und ders., Nomos Empsychos in Philo and Clement of Alexandria, 325.
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Das sekundäre Gesetz
Naturgesetz, dem die Patriarchen folgen, zweitens das ungeschriebene Gesetz und drittens das lebendige Gesetz. 125 Hier lässt sich in nuce Philos Verteidigung des Mosegesetzes gegen den Vorwurf der Inferiorität erkennen, dem er durch die Rückbindung des mosaischen Gesetzes an Konzepte eines „Higher Law“ entgeht (siehe 5.3.3). Die Pythagoräer wendeten den Ausdruck no,moj e;myucoj ausschließlich auf einen König an. Bei Philo hingegen wird dieser exklusive Gebrauch aufgehoben. Er kennt zwei Arten des no,moj e;myucoj: einen königlichen no,moj e;myucoj, Mose, und weise no,moi e;myucoi, die Patriarchen. In Mos. I 148–162 ist das pythagoräische Königsideal deutlich wiederzufinden. 126 5.3.2.2 Das „ungeschriebene Gesetz“ (no,moj a;grafoj) Das Phänomen, nach einem ungeschriebenen Gesetz zu leben, findet Philo 127 bei den Patriarchen im Allgemeinen (Abr. 5: avgra,fw| th/| nomoqesi,a| ... evcrh,santo oi` prw/toi; Abr. 16: avgra,fw| me.n no,mw| de. pa,lin auvtomaqei/ th.n avreth.n tau,thn pepai,deutai, o]n h` fu,sij e;qhke; decal. 1: no,mouj avgra,fouj; vgl. virt. 194) und bei Abraham im Besonderen (Abr. 275: avgra,fw| th/| fu,sei; 276: no,moj auvto.j w'n kai. qesmo.j a;grafoj) vor. Das ungeschriebene Gesetz, nach dem die Patriarchen leben, ist mit dem Naturgesetz identisch (vgl. Abr. 16.275). Darüber hinaus verkörpern die Patriarchen das ungeschriebene Gesetz und werden selber zum no,moj e;myucoj beziehungsweise qesmo.j a;grafoj (Abr. 5–6). Abrahams Fähigkeit, von der Natur gelehrt, selber zum qesmo.j a;grafoj zu werden und ein gottgefälliges Leben zu führen, nennt Philo (Abr. 275) das „krönende Ende“ der Lobsprüche, die Mose über Abraham geschrieben hat. Daher stellt Philo das Lob auf Abrahams Gabe, selbst Gesetz zu sein, pointiert ans Ende seiner Schrift De Abrahamo. Neben dem Gebrauch des no,moj a;grafoj als einem Gesetz, das am „Higher Law“ partizipiert, begegnet der Ausdruck bei Philo auch im Sinne von „Vätersitte“ (spec. IV 149.150). Die Vätersitte hat gegenüber geschriebenen (Staats-)gesetzen den Vorzug, dass sie erstens in die „Herzen der Teilnehmer an der gleichen Staatsordnung“ eingeschrieben wird und „nicht auf Säulen eingegraben und auf Papier, das von Motten verzehrt wird“ und zweitens von denjenigen treu beachtet wird, die einen „freien Willen zur Tugend“ besitzen (spec. IV 149f).
125
Vgl. J.W. MARTENS, One God, one law, 91. Vgl. ebd., 31f. 127 Vgl. R. WEBER, Das „Gesetz“ bei Philon von Alexandrien und Flavius Josephus, 106, 108. 126
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Die Überlegenheit des mosaischen Gesetzes bei Philo
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Das „ungeschriebene Gesetz“ wird bei Philo also nicht einheitlich gebraucht, sondern besitzt in einigen Fällen universalen Charakter, in anderen eher partikularen Charakter. Als Naturgesetz, das die Patriarchen befolgen, hat es universalen Charakter, als Vätersitte oder gar als „ungeschriebene Staatsverfassung“ (her. 295) hat es partikularen Charakter. 128 In seiner Untersuchung zum a;grafoj no,moj hat R. HIRZEL ausgehend von Aristoteles’ Sprachgebrauch im ersten Buch der Rhetorik, Kapitel 10–15, nachgewiesen, dass der a;grafoj no,moj in der Antike von Thukydides 129 bis Kaiser Justinian 130 in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet wurde: In seiner älteren Form stand er dem Naturgesetz nahe und hatte eine universale Bedeutung, in einer späteren Form wurde er mitunter als Teil des partikularen Gesetzes aufgefasst. 131 Philo ist nur einer von vielen Zeugen für diesen doppelten Sinn des Ausdrucks a;grafoj no,moj. Nachteil des no,moj a;grafoj
I. Vorteil des no,moj gegramme,noj
konservativ räumlich allgemeingültig
partikular „Kampf“
unbständig starr tyrannisch
Nachteil des no,moj gegramme,noj
In Gott verankert, räumlich und zeitlich allgemeingültig
Im Menschen veranktert, partikular individuell
II. a) konservativ
II. b) kritisch
II. Vorteil des no,moj a;grafoj
Neben dem unterschiedlichen Gebrauch des Ausdrucks a;grafoj no,moj hat R. HIRZEL den Wechsel der Wertung nachgewiesen, den der Ausdruck in der 128
Vgl. R. HIRZEL, AGRAFOS NOMOS, 16f. Vgl. ebd., 20. 130 Vgl. ebd., 14. 131 Vgl. zur Analyse des a;grafoj no,moj bei Aristoteles, R. HIRZEL, ebd., 1–14, zu verwandten späteren Theorien, ebd., 14–23 und zu verwandten früheren Theorien, 23–31. 129
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Das sekundäre Gesetz
Antike erfuhr. Während wir bei Philo eine fast ausnahmslos positive Haltung zum „ungeschriebenen Gesetz“ vorfinden (mit Ausnahme von her. 295),132 zeugt die Geschichte der Antike mit R. HIRZEL gesprochen von einem „Kampf der geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze“, 133 bei dem mal das geschriebene, mal das ungeschriebene Gesetz als Sieger hervorgeht. Das ungeschriebene Gesetz (no,moj a;grafoj) hatte ursprünglich universalen Charakter, nahm aber in späterer Zeit einen partikularen Charakter im Sinne von Volksgesetzen (e;qh/patria,) an. Beide Auffassungen, die universale und die partikulare, finden sich bei Aristoteles. Die Partikularität des ungeschriebenen Gesetzes wurde zu verschiedenen Zeiten verschieden beurteilt:
I. Zum Vorrang des geschriebenen Gesetzes (no,moj gegramme,noj)
Der Vorteil des geschriebenen Gesetzes (no,moj gegramme,noj) gegenüber dem ungeschriebenen Gesetz war dessen räumliche Universalität, die die räumliche Partikularität des ungeschriebenen Gesetzes überwand.
II. Zum Vorrang des ungeschriebenen Gesetzes (no,moj a;grafoj)
In konservativen Zeiten (II. a) der Rückbesinnung auf die ursprüngliche universale Bedeutung des in Gott verankerten no,moj a;grafoj wurde die Partikularität des ungeschriebenen Gesetzes als negativ empfunden, sodass die ursprüngliche Universalität dem ungeschriebenen Gesetz wieder zum Vorrang verhelfen konnte. Umgekehrt verhalf in Zeiten einer individualisierten Gesetzesauslegung (II. b) die Partikularität des ungeschriebenen Gesetzes dem ungeschriebenen Gesetz zum Vorrang gegenüber dem geschriebenen. Die konservative Einstellung zum Gesetz (II. a) sah als Vorteil des ungeschriebenen Gesetzes dessen räumliche und beziehungsweise oder zeitliche Allgemeingültigkeit an, die die Unbeständigkeit des geschriebenen Gesetzes überwand. Die kritischere Einstellung zum Gesetz (II. b) sah als Vorteil des ungeschriebenen Gesetzes dessen partikular-individuellen Charakter an (Stichwort „Billigkeit“), der die Starrheit und „Tyrannei“ des geschriebenen Gesetzes überwand.
132
„Denn der Lehrer von Verfehlungen gibt es viele: Ammen, Erzieher und Eltern und die geschriebenen und ungeschriebenen Staatsgesetze; die hochschätzen, was man verspotten muß“. 133 Vgl. R. HIRZEL, AGRAFOS NOMOS, 49–65.
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Die Überlegenheit des mosaischen Gesetzes bei Philo
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5.3.2.3 Das Leben des Weisen ohne Gesetz Für die Stoa war das freiwillige Akzeptieren von Gesetzen ein Charakteristikum des Freien. So ist bei Cicero parad. V,33f zu lesen: es wurde also von Männern mit höchster Bildung gesagt, daß nur der Weise wirklich frei sei. (34) Was ist denn Freiheit? Die Möglichkeit zu leben, wie man will. Wer lebt demnach wie er will, außer dem, der das Richtige verfolgt, der Freude hat an der Erfüllung seiner Pflicht, der den Lauf seines Lebens gut überlegt und vorausschauend geplant hat, der auch den Gesetzen nicht aus Angst gehorcht, sondern ihnen folgt und sie achtet, weil er diese Einstellung für ausgesprochen vernünftig hält, der nichts sagt, nichts tut und schließlich auch nichts denkt, wenn er es nicht gern und freiwillig tut, dessen Überlegungen und Handlungen allesamt von ihm selbst ausgehen und sich wieder auf ihn selbst beziehen und bei dem es nichts gibt, was größere Bedeutung für ihn haben könnte als sein eigener Wille und sein eigenes Urteil? 134
In seinem inneren Wesen erhebt sich der stoische Weise über die Staatsgesetze und bringt sich in den höheren Einklang mit der Natur bzw. dem a;grafoj no,moj. In seinem äußeren Wesen passt er sich aus sozialer Gesinnung der rechtlich gegebenen Polisstruktur bzw. dem imperialen römischen ius an.135 Das sekundäre Gesetz
5.3.3 Rückbindung des mosaischen Gesetzes an Konzepte eines „Higher Law“ bei Philo Alle drei Konzepte eines „höheren Gesetzes“ integriert Philo in das geschriebene mosaische Gesetz. Dadurch stellt er das mosaische Gesetz über die bekannten antiken Konzeptionen eines „höheren Gesetzes“ und schützt es zugleich gegen potenzielle kritische Stimmen, 136 die das „höchste Gesetz“ nicht mit dem mosaischen Gesetz identifizieren. Der Vorzug der Gesetze des Mose gegenüber geschriebenen Gesetzen anderer Völker besteht für Philo darin, dass sie ein perfektes Abbild des Naturgesetzes sind. Mose, der beste Gesetzgeber (vgl. Mos. II 12) leitete „sein Werk mit der Schöpfung des grossen Staatswesens (des Weltalls) ein in der Ueberzeugung, dass seine Gesetze das ähnlichste Abbild der Verfassung des Weltalls seien“ (Mos. II 51; vgl. auch 134
Zitiert nach M.T. CICERO, Über die Gesetze. Stoische Paradoxien, lateinisch-deutsch, 229. Vgl. R. WEBER, Das „Gesetz“ bei Philon von Alexandrien und Flavius Josephus, 83. 136 J.W. MARTENS beschreibt Philos Motivation zur Integration aller wichtigen antiken Konzepte zu ungeschriebenen Gesetzen wie folgt: „While the idea of the law of nature, and other forms of higher law, may have posed no real threat to the law of Moses, theoretically ist did, and some in Alexandrian community might have argued for its transcendent nature“ (ders., One God, one law, 126) und „The impetus to take account of the unwritten law, instead of ignoring it, as most do in the Hellenistic period, must depend upon the need to leave no loose ends, no oppurtunity for someone to ignore their written law in the service of a higher law“ (ders., ebd., 123f). 135
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Das sekundäre Gesetz
opif. 3.69.71; Abr. 3; Mos. II 11.13.48). Eine Rückbindung an den ovrqo.j lo,goj kann bei den Gesetzen anderer Völker intendiert sein, sie ist aber nicht garantiert. Andere Volksgesetze finden Philos Zustimmung meist 137 nur unter der Bedingung, dass sie mit dem Gesetz des Mose übereinstimmen. Dies ist der Fall bei den Gesetzen des Zeno (prob. 57), Heraklit (QG IV 152) und Sokrates (QG II 6; spec. IV 619), deren Gesetze alle laut Philo vom Gesetz des Mose abhängig sind. 138
no,moj a;grafoj
no,moj fu,sewj
no,moj e;myucoj
Perfektes Abbild des Naturgesetzes: Mosaisches Gesetz
Volksgesetze
in Entsprechung zum Gesetz des Mose/ Naturgesetz
137 138
abweichend vom Naturgesetz
In Abr. 16 gesteht Philo Gesetzen allgemein einen guten Nutzen zu. Vgl. J.W. MARTENS, One God, one law, 99f.
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Interpretation
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5.4 Interpretation: Kritik an „hinzugefügten“ partikularen Volksgesetzen fremder Völker Interpretation
Offensichtlich wurden in der Stoa Volksgesetze kritisiert. Philo schließt sich in De Josepho 28–31 einer solchen Kritik an, allerdings nur bezogen auf die Gesetze nichtisraelitischer Völker. Seine Kritik zielt in De Josepho vermutlich zuerst auf das ägyptische Volksgesetz. Die Tora ist in Philos Expositio legis vom Vorwurf, nur ein Volksgesetz für Israel zu sein, enthoben. Philos Kritik an Volksgesetzen richtet sich gegen vier Eigenschaften dieser Gesetze: 1) Sie sind Zusatz zu einem wahren, universal geltenden Gesetz. 2) Sie sind unbeständig, also zeitlich begrenzt. 3) Sie sind partikular. 4) Sie sind aus einem Mangel entstanden; der Anlass ihrer Einführung ist die Sündhaftigkeit der Menschen. Mit dem Anlass ihrer Einführung ist auch ihre positive Funktion bestimmt, die Sünde der Menschen einzuschränken.
5.5 Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike
Die Abwertung von später hinzugekommenen kulturellen Errungenschaften ist ein Phänomen, das nicht erst bei Philo und in der stoischen Gesetzeskritik begegnet. Zum Phänomen der Abwertung von später hinzugekommenen Bräuchen im Allgemeinen und Gesetzen im Besonderen lassen sich vergleichbare Analogien im alexandrinischen und palästinischen Judentum und der griechisch-römischen Antike aufzeigen (5.5.1 und 5.5.2). Solches Gedankengut kann in der Summe bewusst oder unbewusst auf Paulus eingewirkt haben und die Rezeption von Paulus Aussagen über die Posteriorität des Gesetzes gesteuert haben. Dass das Ältere das Bessere sei, ist eine seit Aristobulos im Judentum bezeugte Denkfigur mit einer bis auf Herodot zurückreichenden Vorgeschichte (5.5.1.1). Darüber hinaus könnten die hellenistischen Reformer die jüdischen Ritualgesetze als einen Abfall vom ursprünglichen Gesetz des Mose gewertet haben (5.5.1.2). Im Markusevangelium misst Jesus das Ehescheidungsgebot des Mose am ursprünglichen Willen Gottes (5.5.1.3). Vereinzelt wird in den uns überlieferten Texten die Zeit, in der es noch keine Gesetze gab, als friedliche Zeit verklärt, in der man noch keiner geschriebenen Gesetze bedurfte; häufig werden Gesetze als kulturelle Errungenschaften begrüßt, die aus einem barbarischen Zustand herausführen (5.5.2.1).
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Das sekundäre Gesetz
5.5.1 Analogien im Judentum der alexandrinischen Diaspora und Palästinas 5.5.1.1 Der Altersbeweis im hellenistischen Judentum, seine griechischen und jüdischen Voraussetzungen und zeitgenössische römische Parallelen Der sogenannte „Altersbeweis“ ist eine apologetisch verwendete Argumentationsfigur, deren Prämisse auf der Gleichsetzung von Alter und Wahrheit beruht, welche PETER PILHOFER in Anlehnung an einen pythagoreischen Text auf die Formel presbu,teron krei/tton 139 brachte. Es handelt sich beim „Altersbeweis“ um einen Topos, der in der griechischen und römischen Antike weit verbreitet und kaum bestritten war. 140 So bezeugen in der griechischen Literatur Herodot 141 (mit Hekataios von Milet 142 als Wegbereiter), Aristophanes 143 und Platon 144 vom Vorzug des Älteren gegenüber dem Jüngeren. Die negative Konnotation von Worten wie ne,oj, newteri,zw etc. deutet darauf hin, dass die Abwertung des Neueren sogar bis in den alltäglichen Sprachgebrauch hineinwirkte. Die römische Literatur zeugt im Zweifelsfall von einer noch positiveren Einstellung gegenüber dem Alten als die griechische. 145 Zeugnisse für eine solche Einstellung sind die von Cicero bis Augustin zitierte Sentenz des Ennius 146 „moribus antiquis res stat Romana virisque“, das bei Caesar 147 und den Censoren Cn. Domitius Ahenobarbus und L. Licinius Crassus 148 klassisch belegte Festhalten am mos maiorum 139 Vgl. P. PILHOFER, Presbyteron kreitton. Der Altersbeweis der jüdischen und christlichen Apologeten und seine Vorgeschichte, WUNT II/ 39, Tübingen 1990, 18. 140 Vgl. ebd., 293. 141 Vgl. ebd., 34–46: In seinem zweiten Buch (vgl. die programmatischen Worte Herodot II 51,1) stellt Herodot die Ägypter als das älteste Volk dar und leitet unter anderem die Namen einiger griechischer Götter, das Orakel von Dodona, die spartanischen Könige (Buch VII mit Buch II und VI) und wesentliche wissenschaftliche und kulturelle Errungenschaften (darunter die Gesetzgebung des Solon!) von den Ägyptern ab. 142 FgrHist 1 F 300, überliefert bei Herodot II 143–145, so P. PILHOFER, ebd., 27. Zur Bedeutung des Hekataios für die Geschichte des „Altersbeweises“ siehe P. PILHOFERS Zusammenfassung, ebd., 31f. 143 Vgl. ebd., 50–52: Die Argumentation der Praxagora in den „Ekklesiazusen“, die Frauen als Vertreterinnen des avrcai/oj no,moj seien besser geeignet, die Staatsgeschäfte zu führen als die Männer (eccl. 216ff.221ff) und die Argumentation des Pisthetairos in den „Vögeln“, den Vögeln als den Älteren gebühre die Herrschaft (av. 467–470.477f). 144 Vgl. ebd., 54–63: Protagoras bezeichnet die Sophistik als „eine alte Kunst“, die bis auf Homer und Hesiod zurückreicht (Prot. 316 d 3f); Minos in Ps. Platon, Minos 319 c 3–4 erklärt Zeus zum Ahnherrn der Sophistik. Im Symposion lobt Phaidros Eros als den ältesten Gott (Symp. 178 a 6–b 1; 178 c 2–3; 180 b 6–7). Im Timaios liefert Platon einen Altersbeweis für den Staat in Politeia I–V (Tim. 23 d 6–e 2). 145 Vgl. P. PILHOFER, Presbyteron kreitton, 78. 146 Ennius F 467 Warmington (= F Skutsch), so P. PILHOFER, ebd., 78. 147 Caesar wendet sich beispielsweise in Bellum Gallicum III 10,3 gegen die Neuerungssucht der Gallier, so P. PILHOFER, ebd., 79. 148 Edikt bei Aulus Gellius: Noctes Atticae XV 11,2, so P. PILHOFER, Presbyteron kreitton, 80.
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und die Kritik des Q. Horatius Flaccus, 149 das römische Volk sei in das Alte vernarrt (fautor veterum). Unter den römischen Autoren bedienen sich die frühen Annalisten Quintus Fabius Pictor 150 und Marcus Porcius Cato, 151 Autoren der Pythagorasrenaissance 152 und Cicero 153 des apologetischen Altersbeweises. Im hellenistischen Judentum finden wir den „Altersbeweis“ bei Aristobul, 154 Philo 155 und Josephus, 156 wo der „Beweis“ auf die Priorität des 149
Epistulae II 1,23, so P. PILHOFER, ebd., 81. Der erste römische Geschichtsschreiber, Senator Quintus Fabius Pictor stattet das römische Volk mit einer altehrwürdigen Geschichte aus, indem er Rom auf Aeneas zurückgehen lässt (FGrHist 809 F 1 und 2), so P. PILHOFER, ebd., 87f. 151 Marcus Porcius Cato führt die Latiner auf Aeneas und zudem über die Aborigines auf die Griechen zurück (Cato F 5 und 6, Peter HRR), so P. PILHOFER, ebd., 91. Er leitet den Beinamen des Romulus aus ku,rioj her (Cato F 19) und führt sogar den mos maiorum populi Romani auf die Spartaner zurück (Cato F 5, Peter HRR), so P. PILHOFER, ebd., 92–95. 152 L. Cassius Hemina erklärt Numa Pompilius, den Nachfolger des Romulus, zum Schüler des Pythagoras (L. Cassius Hemina, F 37 Peter; vgl. auch Varro, zitiert bei Augustin, De civitate dei VII 34 und Livius XL 29,3–14), so P. PILHOFER, ebd., 96–136. 153 Cicero führt das Alter der römischen Religion gegen die Griechen an (De haruspicum responso 19), er wendet den Altersbeweis auf die lateinische Sprache (Tusc. III 8) und auf König Numa als alten römischen Philosophen an (De orat. II 154), so P. PILHOFER, ebd., 122.126.127.129. 154 Laut Aristobul ist Platon der jüdischen nomoqesi,a gefolgt [F 3 = Euseb: P.E. XIII 12,1–2; § 1 (Denis, S. 221b–222, Z. 12)] und wie Sokrates [F 4, Denis, S. 223, Z. 1–14 (Euseb § 4)], Pythagoras [F 3, Denis, S. 222, Z. 12–16 (Euseb § 1)], Homer und Hesiod [F 5, Denis, S. 225, Z. 6– 14 (bei Euseb § 13)] und weitere nicht namentlich genannte Griechen [F 2 = Euseb: P.E. VIII 10,1–17, § 4 (Denis, S. 218, Z. 6–10)] literarisch vom Pentateuch abhängig, so P. PILHOFER, ebd., 164f.168.170f. 155 Auf der politischen Ebene ist Philo Neuerungen gegenüber konservativ eingestellt (vgl. Flacc. 18.24.41.43.44 (unter Verwendung des Wortes prosqh,kaij).73; sobr. 6; Mos. I 31; legat. 190.194, so P. PILHOFER, ebd., 174. Philo bestreitet den Vorrang des Älteren aber aus theologischen Gründen (vgl. sacr. 76.79), so P. PILHOFER, ebd., 176. Es finden sich auch Aussagen bei Philo wonach das Ältere das Bessere ist (vgl. spec. II 140; decal. 69), so P. PILHOFER, ebd., 178f. In QG II 6 hält Philo es für möglich, dass Sokrates Wissen von Mose abhängig ist, so P. PILHOFER, ebd., 179f. Von der Abhängigkeit einer Gruppe von Philosophen von Mose spricht Philo in QG IV 167, so P. PILHOFER, ebd., 183. Mose wird indirekt über Hesiod zum Vater der platonischen Lehre erhoben (vgl. aet. 7ff), so P. PILHOFER, ebd., 186. Der Altersbeweis fehlt bei Philo gerade da, wo man ihn am ehesten erwarten würde, in De Abrahamo und in De vita Mosis. In De vita Mosis wird der Altersbeweis dadurch ad absurdum geführt, dass Mose griechischer und ägyptischer Lehrer bedarf (Mos. I 21.23–24), so P. PILHOFER, ebd., 188f. 156 Den Altersbeweis wendet Josephus sehr häufig an, vor allem in Contra Apionem, wo er sich auf seine Antiquitates, bezieht, in denen er die zeitliche „Priorität des Mose im Vergleich zu allen Griechen“ dargelegt hat (c.Ap. I 1; vgl. ant.Iud. 1,13.16) und beklagt, einige würden das jüdische Volk immer noch als jung einstufen (c.Ap. I 1–2), so P. PILHOFER, ebd., 193f. Den Griechen fehlt nach Josephus aufgrund von mangelndem Alter, später Schrifteinführung, späten schriftlichen Werken und mangelndem Quellenmaterial die Kompetenz, über die alten Dinge Auskunft zu geben (vgl. c.Ap. I 6–15.20f.27), so P. PILHOFER, ebd., 195–198. Vom Alter der Juden zeugen Ägypter und Phönikier (vgl. c.Ap. I 69–160), so P. PILHOFER, ebd., 199f. Pythagoras hat sich jüdische Sitten angeeignet (vgl. c.Ap. I 162.165) und die griechischen Philosophen, namentlich Pythagoras, 150
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Mose gegenüber den Griechen zielt. Zuvor versuchten einige jüdische Historiker 157 „die zeitliche und sachliche Priorität der eigenen h[rwej vor den einschlägigen griechischen Gestalten zu erweisen“. 158 Bei ihnen „werden Abraham und Mose als prw/toi eu`retai, erwiesen, von denen die Griechen abhängig sind, angefangen bei der Schrift über technische Errungenschaften bis hin zu Geometrie, Astrologie und Philosophie.“ 159 Bei Aristobul, Philo und Josephus findet der „Altersbeweis“ auch – was für die Interpretation der Passage Philo, Jos. 28ff und des Gesetzesverständnisses im hellenistischen Judentum von besonderem Interesse ist – Anwendung auf die Gesetzgebung der Juden im Vergleich zur Gesetzgebung der Heiden beziehungsweise der Griechen. So ist Platon laut Aristobul der jüdischen Gesetzgebung (nomoqesi,a) gefolgt. 160 Bei Philo ist Heraklit vom Gesetz des Mose abhängig. 161 Auch von Zenon 162 und einigen griechischen Gesetzgebern 163 heißt es bei Philo, sie seien von der Gesetzgebung (nomoqesi,a) der Juden beziehungsweise des Mose abhängig. An anderen Stellen kann Philo die griechischen Gesetzgeber dem Mose gegenüberstellen „ohne die Priorität des einen bzw. die Abhängigkeit der anderen zu erwähnen“. 164 Verständlich werden solche Behauptungen, wenn man bedenkt, dass Ägypten, die Heimat des Mose, den Griechen als „Land der Bildung“ 165 galt, dass „schon Herodot behauptet, daß Solon in mindestens ei-
Anaxagoras und Platon (c.Ap. II 168; in Bezug auf Platon auch c.Ap. II 257), sind Nachfolger des Mose (vgl. c.Ap. II 280f), so P. PILHOFER, ebd., 200f.204f. 157 Als Vorläufer des jüdischen Altersbeweises sind vier jüdische Historiker zu nennen: Der samaritanische Anonymus bildet mit seiner in F 1 erhaltenen Aussage, Abraham und die Babylonier seien die Erfinder der Astrologie, eine Vorstufe zum jüdischen Altersbeweis bei Aristobul u.a., so P. PILHOFER, ebd., 152. Bei Eupolemos (F1 in den Überlieferungen des Clemens von Alexandrien und des Euseb) wird zum ersten Mal Mose mit drei herausragenden Eigenschaften der nichtjüdischen Überlieferung gegenübergestellt. Er gilt als der erste Weise, der Erfinder des Alphabets und als der erste Gesetzgeber, so P. PILHOFER, ebd., 154–156. Nach der Darstellung des Artapanos gehen weite Teile der ägyptischen Kultur auf die Juden zurück. Abraham lehrte die Astrologie (F 1), Joseph förderte die Landwirtschaft (F 2) und Mose, dessen Schlüsselstellung stark ausgebaut ist, wird unter anderem der Erfinder der Philosophie, die er über Orpheus (F 3) den Griechen vermittelte, so P. PILHOFER, ebd., 157–158. Kleodemos Malchas (F 1 nach der Überlieferung des Euseb) stellt einen genealogischen Zusammenhang zwischen Abraham und den Nachkommen des Herakles her, so P. PILHOFER, ebd., 160. 158 P. PILHOFER, Presbyteron kreitton, 162. 159 Ebd., 162. 160 S.o. Anm. 590. 161 Vgl. QG III 5; LA I 105; QG IV 152 unter Bezugnahme auf „law and opinions“; her. 214, so P. PILHOFER, Presbyteron kreitton, 180f. 162 Vgl. prob. 57, so P. PILHOFER, ebd., 183. 163 Vgl. spec. IV 59–60, so P. PILHOFER, ebd., 185. 164 Vgl. spec. IV 102; Mos. II 12, so P. PILHOFER, ebd., 185, Anm. 45. 165 So P. PILHOFER, ebd., 71.
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nem Punkt seiner Gesetzgebung von den Ägyptern abhängig ist“ 166 und dass auch die Liste der Ägyptenreisenden 167 die Gesetzgeber Solon und Lykurg enthält. Laut Josephus haben (griechische) Gesetzgeber jüdische Gesetze gekannt oder waren von ihnen abhängig. 168 Prominent wurde der „Altersbeweis“ auch durch die christlichen Apologeten des 2. Jh. Justin, Tatian, Theophilus und Tertullian sowie später durch Clemens Alexandrinus, Hippolyt und Euseb. 169 Die christlichen Apologeten wollten die „neue“ Religion durch Anknüpfung an die „alte“ Tradition dieser Religion verteidigen. Fragt man jedoch nach der theologischen Legitimität der Anwendung des „Altersbeweises“ auf das Christentum, so wird man schnell der Unangemessenheit dieser Argumentationsfigur gewahr: „der Apologet, der den Altersbeweis führt, übernimmt die Voraussetzung seiner Gegner, und diese Voraussetzung ist keine christliche“ 170 wie uns einige Stellen des Neuen Testaments, die positiv vom Neuen reden, lehren. Das Ältere begegnet im Neuen Testament zwar mitunter als etwas Ehrwürdiges, Wahrhaftiges. So erfährt das Gesetz des Mose bei Paulus durch Rückgriff auf ein noch älteres heilsgeschichtliches Ereignis, die Verheißung Gottes an Abraham, eine deutliche Abwertung. Das 430 Jahre nach Abraham erlassene Gesetz des Mose kam erst sehr viel später hinzu und büßt allein dadurch an Wert gegenüber der Verheißung an Abraham ein. Neben dieser Wertschätzung des Älteren steht im Neuen Testament jedoch eine deutliche Wertschätzung des „Neuen“. 171 So spricht Paulus von einer „neuen Schöpfung“ (kainh. kti,sij; 2Kor 5,17) und von der „Erneuerung des Sinnes“ (avnakai,nwsij tou/ noo.j; Röm 12,2) und auch in der Bergpredigt im Matthäusevangelium überbringt Jesus neue Lehren, die den Anspruch haben, das Bisherige zu überbieten (vgl. Mt 5,21ff). 5.5.1.2 Die Theorie des Abfalls bei den hellenistischen Reformern Möglicherweise verbirgt sich hinter der Theorie des Abfalls vom ursprünglichen Gesetz des Mose, die bei Strabo überliefert ist (siehe 2.5.1.1), eine von den hellenistischen Reformern vertretene Ansicht.172 Da man hinter der bei Strabo überlie166
So P. PILHOFER, ebd., 185, Anm. 43. Vgl. ebd., 72. 168 Vgl. c.Ap. I 166f; II 154f.168, so P. PILHOFER, ebd., 202f. 169 Vgl. ebd., 221–291.294. 170 Ebd., 300. 171 Vgl. ebd., 297f. 172 Vgl. E.J. BICKERMAN, Der Gott der Makkabäer, 126–133. Vgl. auch M. HENGEL, Judentum und Hellenismus, 532ff. 167
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Das sekundäre Gesetz
ferten Quelle einen Bericht des Philosophen Poseidonius aus Apamena (ca. 135– 50 v.Chr.) vermuten darf, könnte die Theorie des Abfalls auch erst nach der makkabäischen Erhebung mit Poseidonius aufgekommen sein. 173 Plausibilität gewinnt die Vermutung, dass sich schon die hellenistischen Reformer des Arguments des Abfalls bedienten, durch die vergleichbare ältere Vorstellung vom Goldenen Zeitalter bei den Peripatetikern Theophrast und Dikaiarch (siehe 5.5.2.1) sowie durch verwandte Vorstellungen bei den Stoikern und bei Hesiod.174 Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike
5.5.1.3 Das Ehegesetz als Zusatz bei Jesus (Mk 10,2ff) In Mk 10,4.5–9 antwortet Jesus auf die Frage der Pharisäer, ob es einem Mann erlaubt sei, seine Frau zu entlassen. Während sich die Pharisäer auf die Erlaubnis des Mose aus Dtn 24,1ff, einen Scheidungsbrief auszustellen, berufen, argumentiert Jesus mit zwei Schriftargumenten aus den ersten beiden Kapiteln des Genesisbuches (Gen 1,27; Gen 2,24 LXX) gegen die Erlaubnis der Ehescheidung: 5 Jesus aber sprach zu ihnen: Hinsichtlich eures verhärteten Herzens schrieb Mose dieses Gebot nieder. 6 Von Schöpfungsbeginn an aber erschuf er sie als Mann und Frau. 7 Deshalb wird der Mann seinen Vater und die Mutter verlassen, 8 und die zwei werden ein Fleisch sein, so daß sie nicht mehr zwei sind, sondern ein Fleisch. 9 Was also Gott zusammengefügt hat, darf der Mensch nicht trennen. 175
Der ursprüngliche Gedanke Gottes „von Schöpfungsbeginn an“ steht hier gegen das sekundär hinzugetretene Gebot des Mose. Dem Willen Gottes, der den Menschen als Mann und Frau erschuf, dabei eine konkrete Zusammenführung zweier Menschen verfügte und deren Gemeinschaft als untrennbar konzipierte, 176 steht das Gebot des Mose gegenüber, das erst aufgrund der Hartherzigkeit der Menschen nötig geworden ist. Der markinische Jesus argumentiert zugunsten einer Bewahrung des ursprünglichen Zustandes. 177 Möglicherweise sollte der Gegensatz Gott – Mensch (V. 9) rückwirkend das Gebot des Mose als Menschensatzung abstempeln. 178 Ein vergleichbarer Rückgriff auf die Schöpfungsurzeit begegnet möglicherweise auch in Jesu Lehre über den Sabbat und seiner Lehre über die 173 So I. HEINEMANN, „Wer veranlasste den Glaubenszwang der Makkabäerzeit?“, MGWJ 82, 1938, 145–172, 156. 174 Vgl. M. HENGEL, Judentum und Hellenismus, 471, Anm. 14. 175 Übersetzung nach J. GNILKA, Das Evangelium nach Markus. 2. Teilband (Mk 8,27–16,20), 69. 176 Vgl. ebd., 73. 177 Vgl. ebd., 73. 178 Vgl. ebd., 74.
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Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike
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Reinheit als weisheitlich-ethisches Argument. 179 In der zeitgenössischen jüdischen Theologie gab es ebenfalls das Bestreben, Schöpfung und Gesetz in Einklang zu bringen. 180 Die Abwertung mosaischer Gesetze erfolgte, wie K. BERGER aufgezeigt hat, bereits im Judentum. 181 Mk 10,1–9 spiegelt die Diskussion einer judenchristlichen Gemeinde wider. 182 Das Logion in Vers 11 könnte in der Fassung, die in Lk 16,18 vorliegt, auf Jesus zurückgehen. 183 Analogien im Judentum und in der griechisch-römischen Antike
5.5.2 Analogien in der griechisch-römischen Antike 5.5.2.1 Gesetzesfreies Paradies beziehungsweise „Goldenes Zeitalter“ Die Vorstellung, dass Gesetze den Menschen erst „später“, nach der Phase eines gesetzesfreien Urzustands, gegeben wurden, ist auch in der griechisch-römischen Antike bezeugt. Die Zeit „ohne Gesetz“ wurde allerdings nicht immer als friedliche Zeit verklärt. Sie ist prinzipiell offen für zwei gegensätzliche Interpretationen: Entweder wird sie als friedlicher paradiesischer Zustand beschrieben, in dem man noch keiner geschriebenen Gesetze bedurfte und von dem die Menschheit abfallen wird oder als animalisch-wilder Zustand, 184 der nach kulturellem Aufstieg und nach der Einführung von Gesetzen verlangt. Das Gesetz kann demnach auf eine goldene Urzeit folgen oder wie bei Vergil (Aen. 8,314–325)185 zu einer goldenen Urzeit hinführen. 179
Vgl. G. THEISSEN, Der historische Jesus, 333f. Vgl. J. GNILKA, Das Evangelium nach Markus. 2. Teilband (Mk 8,27–16,20), 73. 181 Vgl. K. BERGER, Hartherzigkeit und Gottes Gesetz. Die Vorgeschichte des antijüdischen Vorwurfs in Mc 10,5, ZNW 61, 1970, 1–47. 182 Vgl. J. GNILKA, Das Evangelium nach Markus. 2. Teilband (Mk 8,27–16,20), 70, 76. 183 Vgl. ebd., 75, 76. 184 Vgl. auf die bei B. GATZ, Weltalter, 231, im Register unter der Überschrift „Ferarum more vel sine legibus viventes“ verwiesenen Quellen. 185 Vergil (Aen. 8,314–325) lässt zu den Bewohnern Latiums Gesetz und Kultur erst durch Saturn kommen. Das Goldene Zeitalter ist bei Vergil nicht wie sonst das erste, und es findet in der menschlichen Entwicklung zuerst ein Auf- und dann ein Abstieg statt. „Diese Haine bewohnten einheimische Faune und Nymphen und ein Menschengeschlecht aus dem Stamm harter Eichen geboren, [315] das weder Gesittung noch Lebensart besaß, das Stiere nicht unters Joch zu spannen wusste, nicht Vorräte anzulegen, nicht mit Erworbenem sparsam umzugehen, sondern sich von Sträuchern und dem harten Lebensunterhalt der Jagd ernährte. Als erster kam ins Land vom himmlischen Olymp Saturnus, auf der Flucht vor Iuppiters Waffen und heimatlos, seines Reiches beraubt. [320] Er einte die noch unkultivierten Menschen, die auf hohen Bergen verstreut lebten, gab ihnen Gesetze und wählte den Namen Latium für das Land, weil er sich an dieser Küste sicher hatte verbergen können. Golden war, so heißt es, unter seiner Herrschaft die Zeit: Also lenkte er in Ruhe und Frieden die Völker, [325].“ bis allmählich eine minderwertige und farblose Zeit folgte 180
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Das sekundäre Gesetz
Antike griechische Autoren haben sich seit Homer mit der Frage der Kulturentstehung beschäftigt und sich im Zuge dessen die Entwicklung der Menschheit entweder als eine absteigende, als eine aufsteigende oder als eine Mischform 186 der beiden Konzeptionen vorgestellt. 187 Die antiken Kulturentstehungslehren sind häufig mit Zeitaltervorstellungen verbunden. Die Idee eines moralischen Abstiegs, der hier nachgegangen werden soll, bezeugte zuerst Hesiod um 700 v.Chr. (Hes. erg. 106–201; 188 erg. 225– 237: 189 das Gemeinwesen wird vom Rechtsprinzip beherrscht). Sie darf auch bei den Sophisten im Kontext der no,moj-fu,sij Debatte angenommen werden. Die Idee eines „Goldenen Zeitalters“ unter Kronos beziehungsweise Saturnus, 190 die im 5. Jh. kaum eine Rolle spielt, beginnt im 4. Jh. auf die Kulturentstehungslehre einzuwirken. 191 Deszendenz und Goldenes Zeitalter finden sich bei den Peripatetikern Theophrast (fr. 584A Fortenbaugh) und Dikaiarch (fr. 49 Wehrli [19] ). 192 Laut R. HIRZEL gibt Platon das erste literarische Zeugnis von der Umwandlung der Kronossage für die eigene Zeit. 193 Er erzählt im Weltalter des Kronos lebten die Menschen in Poleis, ihre Könige und Herrscher waren Götter und als Gesetz galt das ungeschriebene der Vernunft. 194 Diese Zu-
mit Kriegswut und Gier nach Besitz. Zitiert nach P. Vergilius Maro. Aeneis. Lateinisch-deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Edith und Gerhard Binder, Stuttgart 2008, 415. 186 Vgl. R. HIRZEL, AGRAFOS NOMOS, 92: Die Ansicht Platons, der Peripatetiker und der Stoiker war ein Kompromiss: „Von der Ansicht, die an den Eingang der Geschichte den Kampf Aller gegen Alle setzte, entnahm sie die Entwicklung des Menschen [...], von der anderen, die ein Herabsinken des Menschen [...] behauptete, den friedlichen Zustand der Natur, der aller Cultur vorauslag.“ 187 Vgl. den Abschnitt „Streit der historischen Theorien, ob die Entwicklung des Menschengeschlechts eine auf- oder absteigende ist“ bei R. HIRZEL, ebd., 78–96. 188 H. HECKEL, Art. Kulturentstehungstheorien, II. Griechenland und Rom, DNP 6, 1999, Sp. 910–914, 910 und H. HECKEL, Art. Zeitalter, DNP. Brill Online. Universitätsbibliothek Heidelberg. 31 October 2009 . 189 H. HECKEL, Art. Zeitalter, DNP. 190 Ebd. Vgl. R. HIRZEL, AGRAFOS NOMOS, 85f: Die Vorstellung eines irdischen Paradieses haftete auch an Kypris (bei Empedokles), Zeus (bei Platon, Kritias) und Dike (beim Stoiker Aratos). 191 H. HECKEL, Art. Kulturentstehungstheorien, Sp. 911. 192 Vgl. zum Peripatos H. HECKEL, Art. Zeitalter, DNP und H. HECKEL, Art. Kulturentstehungstheorien, Sp. 912. Vgl. zur „Idealisierung des rohen Urzustandes der Menschheit in der 'Schule des Aristoteles'“ das gleichnamige Kapitel bei K. KUBUSCH, Aurea saecula: Mythos und Geschichte. Untersuchung eines Motivs in der antiken Literatur bis Ovid, Studien zur klassischen Philologie 28, Frankfurt a.M./Bern/New York 1986, 43–54. 193 Vgl. R. HIRZEL, AGRAFOS NOMOS, 84f unter Bezug auf leg. IV 713c–d. 194 Platon leg. IV 713cff. Vgl. zu weiteren Schilderungen eines gesetzesfreien Urzustandes bei Platon leg. 677a–680e und polit. 271a–274d.
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stände des Kronos sollten allen späteren Staaten und Verfassungen als Vorbild dienen. In den Phainomena des Stoikers Aratos aus Soloi, V. 96–136, ordnet sich das Dasein des goldenen Geschlechts nach ungeschriebenen Rechten und Gesetzen: Unter beiden Füßen des Bootes betrachte die Jungfrau, die in der Hand die glänzende Ähre trägt. Ob die nun ein Kind des Astraios ist, der nach den Alten der Vater der Gestirne gewesen sein soll, oder eines anderen, möge sie ungestört ihre Bahn ziehen! Bei den Menschen läuft eine andere Sage um, daß sie – versteht sich! – früher auf der Erde weilte, und sie herrschte über die Menschen von Angesicht zu Angesicht; niemals verschmähte sie die Gesellschaft der Männer noch der Frauen der Urzeit, sondern mitten unter ihnen hatte sie sich niedergelassen, obgleich sie eine Unsterbliche war. Und man nannte sie Dike (Recht); sie versammelte die Alten irgendwo auf dem Markt oder auf einer geräumigen Straße, und sang, die Menschen anspornend, volksfreundliche Rechtssprüche. Noch verstanden sie sich damals nicht auf unseligen Hader, nicht auf scheltende Auseinandersetzung und Waffenlärm, sie lebten so hin; fern lag ihnen das gefährliche Meer, und noch führten nicht Schiffe den Lebensunterhalt von ferne herbei, sondern Rinder und Pflüge und sie selbst, die Herrin des Volks, gewährte ihnen alles tausendfältig, Dike, die Rechtschenkende. Das war damals, als die Erde noch das Goldene Geschlecht nährte. Mit den Silbernen verkehrte sie wenig und nicht mehr ganz bereitwillig, sie sehnte sich nach den Sitten des alten Volkes zurück; dennoch kam es noch vor beim Silbernen Geschlecht; sie kam aber abendlich von den Echohallenden Bergen herab, alleine, und gesellte sich zu niemandem mit freundlichen Worten, sondern wenn sie große Hügel mit Menschen angefüllt hatte, sprach sie Drohreden, schalt sie wegen ihrer Schlechtigkeit und sagte, sie werde nicht mehr sichtbar zu ihnen kommen auf ihr Rufen hin. „Wieviel minder ist das Geschlecht, das die goldenen Väter hinterlassen haben! Und ihr werdet noch schlechtere Kinder gebären. Und also werden wohl Kriege, und also auch feindseliges Blutvergießen sein unter den Menschen, und über dem Übel wird der Schmerz lasten.“ So sprach sie und strebte zu den Bergen; das ganze Volk aber spähte noch immer nach ihr, als sie es verließ. Aber als dann auch diese tot waren, entstanden die andern, das Eherne Geschlecht, heillosere Menschen als die vorigen; die schmiedeten als erste das übeltäterische, wegelagernde Schwert, genossen als erste das Fleisch von Pflugstieren. Da flog Dike, voll Haß über das Geschlecht dieser Menschen, zum Himmel und nahm Wohnung an dem Ort, wo sie nächtlich noch den Menschen erscheint, die Jungfrau, dicht beim vielbetrachteten Bootes. 195
Auch der Stoiker Poseidonius, dessen Lehre aus Senecas Brief 90 rekonstruiert werden muss, kennt die beglückende Herrschaft des Kronos. Er hatte sich mit dem Goldenen Zeitalter eingehend befasst (mit dem Hauptbericht darüber bei Seneca Epist. 90,3ff lässt sich verbinden Sext. Emp. Adv. 195 Zitiert nach ARATUS SOLENSIS, Phainomena. Sternbilder und Wetterzeichen. Griech.deutsch, Manfred Erren (Hg.), München 1971, 11, 13.
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Das sekundäre Gesetz
dogm. III 28). Sein Goldenes Zeitalter war ein Zeitalter der unverdorbenen Natur, dessen Menschen die späteren sowohl durch Eigenschaften des Charakters als auch durch Intelligenz überragten und dessen Frieden noch nicht durch Habsucht gestört wurde (Eigentum gab es noch nicht). Ebenso natürlich und normal war die politische Verfassung, eine Herrschaft der Besten und ausgeübt nach ungeschriebenen Gesetzen, während das geschriebene Gesetz erst der Entartung späterer Zeiten seinen Ursprung verdankte. Poseidonius ist mit dieser Theorie der Lehrer der Römer geworden. 196 In der augusteischen Epoche erlangte das Zeitaltermotiv die größte Bedeutung. 197 Die Idee des „Goldenen Zeitalters“ drückte in dieser Epoche den Wunsch nach Frieden und Restauration aus. 198 Die Deszendenzvorstellung und die spätere Einführung von Gesetzen werden, verbunden mit der Idee eines „Goldenen Zeitalters“, von Ovid in augusteischer Zeit und von Seneca in der Kaiserzeit vertreten. Ovid (met. 1,89–92) 199 schildert das „Goldene Zeitalter“ zu Beginn der Menschheitsgeschichte als eine Zeit ohne Gesetz: Als erstes entstand das goldene Geschlecht, das keinen Rächer kannte und freiwillig, ohne Gesetz, Treue und Redlichkeit übte. Strafe und Furcht waren fern, keine drohenden Worte las man auf öffentlich angebrachten Erztafeln. 200
Seneca, Epist. 90,5–6 201 (teilw. Poseidonios Frg. 284 E.–K.) 202 5 In jenem Zeitalter also, das man das goldene nennt, ist in der Hand der Weisen gewesen die Herrschaft, urteilt Poseidonios. Sie bändigten Übergriffe und schützten den Schwächeren vor den Stärkeren, rieten und warnten und lehrten Nützliches und Unnützes. Ihre Klugheit sorgte dafür, daß den Ihren nichts fehlte, ihre Tapferkeit hielt Gefahren fern, ihre Großzügigkeit erhob und verschönte das Leben ihrer Untertanen. Ihre Pflicht war es zu herrschen, nicht ihr Wille zur Macht. Niemand versuchte gegen die eine Machtprobe, durch die er fähig zu sein begonnen hatte, und niemand hatte Sinn oder Anlaß für Gewalttat, weil man dem vernünftig Herrschenden einsichtig gehorchte und der Herrscher nichts Schlimmeres Ungehorsamen androhen konnte, als 196
Vgl. A.A. LONG/D.N. SEDLEY, Die hellenistischen Philosophen, 519. „Aufstieg“ laut H. HECKEL, Art. Kulturentstehungstheorien, Sp. 910–914. 197 H. HECKEL, Art. Zeitalter, DNP. 198 Ebd. 199 Vgl. K. HAACKER, „Antinomismus“, 398. H. HECKEL, Art. Zeitalter DNP, schreibt: Ovid, Met. 1,89–150 „verbindet Motive aus Hesiod und Arat mit Topoi der Kulturentstehungstheorien“ und „Anschluß an Ov. met. sucht [...] Ps.-Seneca, Octavia 385–435.“ Vgl. zu Ovid auch H. HECKEL, Art. Kulturentstehungstheorien, Sp. 913. 200 Zitiert nach: P. OVIDIUS NASO, Metamorphosen. Lateinisch-deutsch, übersetzt und hrsg. von Michael von Albrecht, mit 30 Radierungen von Pablo Picasso und einem kunsthistorischen Nachwort von Eckhard Leuschner, Stuttgart 2010, 19. 201 H. HECKEL, Art. Kulturentstehungstheorien, Sp. 913 spricht von der Ambivalenz der Kulturtechniken. 202 Vgl. A.A. LONG/D.N. SEDLEY, Die hellenistischen Philosophen, 519.
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von seinem Herrscheramte zurückzutreten. 6 Doch weil sich Fehlhaltungen einschlichen und in Gewaltherrschaft das Königstum umgeschlagen war, begann man Gesetze zu brauchen, und auch sie gaben zunächst die Weisen. Solon, der Athen auf die Grundlage der Rechtsgleichheit stellte, unter die Sieben gehört er, die in diesem Zeitalter wegen ihrer Weisheit berühmt waren: wenn den Lykurgos dieselbe Zeit hervorgebracht hätte, wäre er zu dieser ehrwürdigen Zahl als achter hinzugetreten; des Zaleukos Gesetze und des Charondas werden gerühmt. Sie haben nicht auf dem Forum und nicht in der Halle von Rechtsgelehrten, sondern in des Pythagoras stiller und ehrwürdiger Abgeschiedenheit sich die Rechtskenntnisse angeeignet, die sie dann Sizilien in seiner Blüte und den Griechenstädten in Italien Gesetze geben ließ.203
In der augusteischen Zeit und in der Kaiserzeit richtete man gern den Blick auf das Goldene Zeitalter und pries dessen Menschen, weil sie noch nicht des geschriebenen Gesetzes bedurften. 204 R. HIRZEL fasst als Entwicklung zusammen, dass das, was bei Poeten wie Vergil (Aen. 6,791–805) und Ovid (Ov. fast. 1,185–254; met. 1,89–150) ein Spiel der Phantasie scheinen könnte, Mitte des 1. Jh. v.Chr. beim Historiker Pompeius Trogus (Iustinus epit. P. Trogus 1,1) und im 1. Jh. n.Chr. beim Historiker Tacitus (ann. 3,26) als wissenschaftliche Überzeugung entgegentritt. 205 Eine schöne Kurzfassung dieser Theorie findet sich bei Tacitus (ann. 3,26) als Exkurs nach einem Stoßseufzer über die Flut neuer Gesetze unter Tiberius: 206 Die ältesten Menschen lebten, da sie noch keinen Trieb zum Bösen hatten, ohne Schuld und Verbrechen und damit ohne Strafe oder Zwangsmittel. Auch brauchte man keine Belohnungen, da man nach dem sittlich Guten aus eigenem Antrieb strebte; und weil sie nichts Sittenwidriges begehrten, mußte man ihnen nichts durch Einschüchterung verbieten. Aber seit das Empfinden für Gleichheit schwand und anstelle von Bescheidenheit und Ehrgefühl das Streben nach Macht und der Geist der Gewalt zum Vorschein kamen, da entstanden Despotien und haben sich bei vielen Völkern dauernd behauptet. Einige zogen sofort, oder nachdem sie der Könige überdrüssig geworden, Gesetze vor. 207
Iustinus epit. P. Trogus 1,1: Am Anfang aller Volks- und Stammesgeschichte lag die Herrschergewalt in Händen von Königen, welche auf die Höhe solcher Machtstellung nicht durch bloße Massengunst, sondern durch ihre bei allen redlichen Menschen anerkannte Rechtlichkeit 203 L.A. SENECA. Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch. Bd. 4, An Lucilius. Briefe über Ethik 70–124, [125]. Lateinischer Text von François Préchac, Manfred Rosenbach (Hg.), Darmstadt 1984, 345. 204 Vgl. R. HIRZEL, AGRAFOS NOMOS, 87. 205 Vgl. ebd., 87. 206 Vgl. K. HAACKER, „Antinomismus“, 398. 207 TACITUS. Annalen. Übersetzt und erläutert von Erich Heller. Mit einer Einführung von Manfred Fuhrmann, München 1991; Zürich/München 1982, 152.
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Das sekundäre Gesetz
emporgetragen worden waren. Das Volk selbst war an keinerlei Gesetze gebunden, das Gutdünken der Führenden galt an Gesetzes statt. Seinen Herrschaftsbereich zu schützen mehr als zu erweitern, war Brauch; innerhalb des eigenen Vaterlandes fand jegliche Königsmacht ihre Grenze. Als allererster hat Ninus, der Assyrerkönig, diese alte und gleichsam angestammte Völkersitte durch neue Herrschsucht geändert. Er überzog zuerst seine Nachbarn mit Krieg und machte sich die zum Widerstand noch ungeschickten Völker bis an die Grenzen Libyens hin untertänig. 208
Die Antike dachte jedoch nicht nur in den Kategorien einer Verfallsgeschichte. Bei Sophokles finden sich gegensätzliche Ansichten zu den ersten Menschen: Im Inachos lebten sie in einer glücklichen Zeit; in der Antigone arbeitet sich der Mensch „erst allmählig zu Cultur und einem staatlich geordneten Dasein“ empor. 209 Ein ähnlicher Widerspruch begegnet in der orphischen Literatur und bei Empedokles: Einerseits kennt Empedokles „die Heiligkeit des ungeschriebenen Naturgesetzes“, eine „goldene Zeit“, in der Kypris war die herrschende Göttin war; andererseits nimmt er einen Kampf aller Wesen am Anfang an, erst spät kommt – laut Lukrez, dem Verehrer des Empedokles – „Gesetz und Recht unter die Menschen“. 210 Wir können nun zusammenfassen: Dass ein Gesetz später zu einem ursprünglichen Zustand ohne dieses Gesetz hinzugekommen ist, enthält an und für sich keine Gesetzeskritik, sondern nur dann, wenn der ursprüngliche Zustand als ein heilvoller Zustand erinnert wird – etwa als das Goldene Zeitalter, in dem die Menschen noch nicht von Gesetzen eingeschränkt wurden. Für das Judentum war es eigentlich naheliegend, das erst nach der Urgeschichte, Väter- und Exodusgeschichte erlassene Sinaigesetz positiv zu werten. Umso bemerkenswerter ist es, wenn wir auch in ihm bei Philo von Alexandrien Gedanken finden, einen Urzustand ohne Gesetz mit einem späteren Zustand mit Gesetz zu kontrastieren: Die Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob lebten ohne Sinaigesetz – und doch in einer tiefen Übereinstimmung mit ihm, weil Philo drei philosophische Gedanken auf ihr Leben überträgt: den Gedanken des ungeschriebenen Gesetzes (no,moj a;grafoj), des Naturgesetzes (no,moj fu,sewj) und des „lebendigen Gesetzes“ (no,moj e;myucoj). Sie lebten damit in Übereinstimmung mit einem universalen Gesetz. Mit ihnen wird Joseph kontrastiert, der den Ägyptern ihre partikularen Gesetze gab. Diese sind Zusätze zu dem Naturgesetz, wie es die Patriarchen verkörpern. Sie sind nicht mit der Schöpfung gegeben, sondern reagieren schon auf die Unvollkommenheit der Menschen: auf einen Zustand von 208 M.I. IUSTINUS, Weltgeschichte von den Anfängen bis Augustus. Im Auszug des Justin, Pompeius Trogus, eingeleitet, übersetzt und erläutert von Otto Seel, Bibliothek der Alten Welt: Römische Reihe, Zürich/München 1972, 85. 209 Vgl. R. HIRZEL, AGRAFOS NOMOS, 94. 210 Vgl. ebd., 94f.
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Neid und Konflikt. Philo nutzt die Namensetymologie von Joseph = „Zusatz“, um diesen Gedanken evident zu machen. Irrtümlicherweise hat man in dieser Terminologie (einer pros-thesis zum Naturgesetz) eine Philo vorgegebene stoische Terminologie gesehen. Wahrscheinlich stammt sie erst von Philo, der sie in die große Tradition der Entgegensetzung von fu,sij und qe,sij einbettet. Er konnte erwarten, mit solch einem Gedanken Resonanz zu finden. Denn er entspricht verbreiteten antiken Überzeugungen. Philo wendet diesen Gedanken eines (negativ bewerteten) Zusatzes zu einem ursprünglichen idealen Zustand auf die Gesetze der Heiden (der Ägypter) an. Schon vor ihm hatten die hellenistischen Reformer, die den Makkabäeraufstand im 2. Jh. v.Chr. provozierten, einen ähnlichen Gedanken auf jüdische Ritualgesetze angewandt: Die einschränkenden Ritualgesetze seien später zur reinen Gottesverehrung des Mose hinzugekommen. Jesus wendet eine solche Gedankenfigur schließlich sogar auf Mose selbst an: Gegen die Schöpfungsordnung habe Mose um der Unvollkommenheit der Menschen willen die Ehescheidung erlaubt.
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6. Das Bewusstwerden des Gesetzeskonflikts des Paulus aufgrund von Damaskus
Das Bewusstwerden des Gesetzeskonflikts des Paulus
Möglicherweise nimmt die Gesetzeskritik des Paulus, die er in seinen Briefen artikuliert und in zunehmendem Maße thematisiert, bereits in der vorchristlichen Zeit des Paulus ihren Anfang. Paulus könnte vor seiner Bekehrung einen Konflikt mit dem Gesetz verdrängt haben, der ihm erst bei seinem Damaskuserlebnis bewusst wurde. Eine solche These eines persönlich zurückgewiesenen Gesetzeskonflikts gewinnt nicht nur durch den Nachweis von zurückgewiesener Gesetzeskritik im Judentum an Plausibilität. Eine genauere Untersuchung der vier paulinischen Selbstzeugnisse seines Damaskuserlebnisses (1Kor 15,8; Gal 1,15f; 1Kor 8,1; 2Kor 4,6; vgl. auch Phil 3) lässt die Aussage in 2Kor 4,6 als die erfahrungsadäquateste Darstellung des Damaskuserlebnisses erscheinen. Im Gegensatz zu 1Kor 15,8 und Gal 1,15f ist 2Kor 4,6 nicht durch Traditionen vorgeprägt und enthält im Unterschied zu den anderen drei Berichten keinen christologischen Hoheitstitel. Dieser Befund deckt sich mit der Beobachtung, dass sich 2Kor 4,6, gefolgt von Phil 3, beide in ihrer Schilderung im Gegensatz zu 1Kor 15,8 und Gal 1,15f durch eine stärkere Subjektivierung auszeichnen als die anderen drei Berichte. 1 Das erfahrungsadäquateste, persönlichste Zeugnis des Paulus, 2Kor 4,6, findet sich im Kontext einer gesetzeskritischen Abhandlung. Daher legt sich die Vermutung nahe, dass sich bereits in der Damaskusvision eine vorchristliche Gesetzeskritik des Paulus niederschlägt: „Als Erfahrungshintergrund dieser Schilderung [erg. 2Kor 4,6] konnte der Übergang der do,xa tou/ qeou/ von der Gestalt des Mose auf die Jesu Christi und somit wohl die zumindest partielle Abrogation der Mosetora ausgemacht werden. Für eine psychologische Erklärung der paulinischen Damaskusvision legt sich somit [...] die in der Forschungsgeschichte immer wieder vertretene Annahme eines Konfliktes des vorchristlichen Paulus mit dem jüdischen Gesetz nahe, der in Form des Damaskuserlebnisses visionär gelöst wurde.“ 2 Von den verschiedenen psy1 Eine Ordnung der Berichte des Damaskuserlebnisses im Blick auf eine zunehmende Subjektivierung sieht wie folgt aus: 1Kor 15,8; Gal 1; 1Kor 9,1; 2Kor 4,6; Phil 3. 2 M. REICHARDT, Psychologische Erklärung der paulinischen Damaskusvision? Ein Beitrag zum interdisziplinären Gespräch zwischen Exegese und Psychologie seit dem 18. Jahrhundert, SBB 42, Stuttgart 1999, 225.
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chologischen Deutungsmöglichkeiten lässt sich die Damaskusvision des Paulus am besten mit tiefenpsychologischen Theorien, kognitiven Theorien oder einem bewältigungstheoretischen Ansatz deuten. 3 Im Folgenden interessiert uns aber weniger diese individualpsychologische These eines verdrängten Gesetzeskonflikts bei Paulus, den wir nur indirekt erschließen können, als vielmehr die Frage, ob die manifeste Gesetzeskritik des Paulus die im Judentum vorher nur latent vorhandene Gesetzeskritik manifest gemacht hat. Diese manifeste Kritik am Gesetz zielt bei Paulus auf verschiedene negative Eigenschaften des Gesetzes, die schon in der Tradition vor Paulus und auch nach ihm bedacht wurden. Diese Eigenschaften des Gesetzes sollen im Folgenden unter den bereits bekannten vier Kritikpunkten (a) der Repressivität und des Betrugs, (b) der Überforderung beziehungsweise des Sündenpessimismus, (c) der Äußerlichkeit von Ritualvorschriften und (d) der Posteriorität und Partikularität vorgestellt werden. Bei jedem dieser vier gesetzeskritischen Motive ist im Einzelnen zu fragen, ob Paulus nicht nur sachlich verwandte Argumente wie die bisher im Judentum nachgewiesenen bringt und ob er dabei an schon vorhandene Gesetzeskritik anknüpfen kann, die im Judentum bisher immer zurückgewiesen wurde – im Falle des Sündenpessimismus des Esra durch einen Engel vom Himmel, im Falle der Gesetzeskritik des Simri durch Mose und Pinehas, im Fall der radikalen Allegoristen durch Philo selbst. Oder aber sie richtete sich gar nicht gegen das Gesetz des Mose, sondern gegen das Gesetz der Ägypter, wie es Joseph erlassen hatte.
3 Vgl. M. REICHARDT, ebd., 150f, der lerntheoretische, sozialpsychologische und persönlichkeitspsychologische Theorien unberücksichtigt lassen möchte.
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7. Das tyrannische Gesetz bei Paulus. Die Kritik an der Repressivität und am Betrug des Gesetzes
Das tyrannische Gesetz bei Paulus
Bei Paulus begegnet das Gesetz nicht expressis verbis als Tyrann. Die Kritik an der Repressivität des Gesetzes lässt sich jedoch deutlich an der Metaphorik im Galaterbrief erkennen, mit der Paulus das Gesetz und das Sein „unter dem Gesetz“ beschreibt (7.1). Zudem wirft Paulus in 2Kor 3,13 und Röm 7,11 dem Gesetz Betrug vor (7.2), eine Wirkweise, die sich zwar nicht auf die Handlungsfreiheit des Menschen repressiv auswirkt, aber die Erkenntnis des Menschen einschränkt. Nach der Darstellung der Tyrannei des Gesetzes bei Paulus erfolgt (7.3) ein Vergleich dieses gesetzeskritischen Motivs bei Paulus mit den im ersten Hauptteil untersuchten Quellen zum tyrannischen Gesetz.
7.1 Die Kritik an der Repressivität des Gesetzes in Gal 3f Die Kritik an der Repressivität des Gesetzes in Gal 3f
Die Frage, ob und in welchem Maß der no,moj von Paulus als repressiv kritisiert wird, entzündet sich in der Forschung besonders an Paulus’ Rede vom no,moj als paidagwgo,j in Gal 3,24: „So ist das Gesetz unser Zuchtmeister gewesen (w[ste o` no,moj paidagwgo.j h`mw/n ge,gonen) auf Christus hin, damit wir durch den Glauben gerecht würden.“ 1 Die Schwierigkeit der Beschreibung der Aufgabe des „Zuchtmeisters“ liegt sowohl im semantischen Doppelgehalt der Verben des näheren Kontexts, sugklei,ein und frourei/n, begründet als auch in der ambivalenten Bewertung des paidagwgo,j in der Antike (7.1.1). Die Rezeption der Metapher im Galaterbrief wird durch Wörter mit „Signalfunktion“ gesteuert (7.1.2), die ihn, wenn nicht ausschließlich, zumindest auch als repressiven Bewacher erscheinen lassen (7.1.3).
1 Übersetzung nach: Die Bibel. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984, nach der Übersetzung Martin Luthers, Hrsg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland..., Stuttgart 1991.
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7.1.1 Die Aufgabe des Gesetzes als „Zuchtmeister“: Bewachen oder Bewahren? sugklei,ein und frourei/n können im Sinne von „einsperren“ (sugklei,ein) und „bewachen“ (frourei/n) Haftmetaphern sein oder im Sinne von „einschließen“ (sugklei,ein) und „bewahren“ (frourei/n) neutral bis positiv verstanden werden. 2 So gilt den einen Exegeten der paulinische paidagwgo,j eher als Bewahrer, 3 den anderen eher als Bewacher. 4 Die beiden in ihrem Aussagegehalt umstrittenen Verben sugklei,ein und frourei/n gehen in Gal 3,22f der Bezeichnung des no,moj als paidagwgo,j (V. 24) voran. In Gal 3,22f heißt es: Aber die Schrift hat alles eingeschlossen unter die Sünde (sune,kleisen h` grafh. ta. pa,nta u`po. a`marti,an), damit die Verheißung durch den Glauben an Jesus Christus gegeben würde denen, die glauben. 23 Ehe aber der Glaube kam, waren wir unter dem Gesetz verwahrt und verschlossen (u`po. no,mon evfrourou,meqa sugkleio,menoi) auf den Glauben hin, der dann offenbart werden sollte. 5
Vom Gefangensein durch das Gesetz spricht Paulus in vergleichbarer Weise im Römerbrief (Röm 7,6) unter Verwendung des Verbs kate,cw: Nun aber sind wir vom Gesetz frei geworden und ihm abgestorben, das uns gefangenhielt, so daß wir dienen im neuen Wesen des Geistes und nicht im alten Wesen des Buchstabens (nuni. de. kathrgh,qhmen avpo. tou/ no,mou avpoqano,ntej evn w-| kateico,meqa(w[ste douleu,ein h`ma/j evn kaino,thti pneu,matoj kai. ouv palaio,thti gra,mmatoj). 6
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Vgl. W. BAUER, Art. sugklei,w, Griechisch-deutsches Wörterbuch, 19886, Sp. 1544; ders.: Art. froure,w, Griechisch-deutsches Wörterbuch, 19886, Sp. 1728f. 3 Als Bewahrer vor Vermischung mit den Heiden gilt der no,moj den Exegeten, die den no,moj als „boundary marker“ verstehen (vgl. zu den Vertretern dieser Position CHR. BURCHARD, Noch ein Versuch zu Galater 3,19 und 20, in: Thomas Podella/Peter Riede (Hg.), Spuren eines Weges (FS B. Janowski), Heidelberg 1993, 63–81, 77, Anm. 82 und 80, Anm. 95). CHR. BURCHARD, ebd., 80, hält es für erwägenswert, die „bewahrende Funktion“ des no,moj (ebd., 79) im Jerusalemer Tempelkult oder den Geboten zu sehen. CHR. BURCHARD, ebd., 81, sieht den „Sitz im Leben“ des paidagwgo,j im Synagogengottesdienst. 4 So tendenziell D. SÄNGER, „Das Gesetz ist unser paidagwgo,j geworden bis zu Christus“ (Gal 3,24), in: ders./Matthias Konradt (Hg.), Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament (FS Chr. Burchard), NTOA 57, Göttingen/Fribourg 2006, 236–260, 260; vgl. H.-J. ECKSTEIN, Verheißung und Gesetz. Eine exegetische Untersuchung zu Galater 2,15–4,7, WUNT 86, Tübingen 1996, 215f. 5 Übersetzung nach: Die Bibel. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984, nach der Übersetzung Martin Luthers. 6 Übersetzung nach: Die Bibel. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984, nach der Übersetzung Martin Luthers.
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Die Kritik an der Repressivität des Gesetzes in Gal 3f
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Für die Möglichkeit, den paidagwgo,j in Gal 3,24 repressiv zu verstehen, hat sich jüngst DIETER SÄNGER in kritischer Auseinandersetzung mit der Position seines Lehrers CHRISTOPH BURCHARD ausgesprochen. 7 CHR. BURCHARD plädiert für ein „neutrales Verständnis“ von sugklei,ein. In sugklei,ein schlage der „bildspendende Bereich“ kaum stärker durch als in unserem „einschließen“; 8 im verwandten Satz Röm 11,32 sune,kleisen ga.r o` qeo.j tou.j pa,ntaj eivj avpei,qeian sei er gar nicht mehr spürbar. 9 Ohnehin hält CHR. BURCHARD nicht den no,moj qua Gesetz oder den paidagwgo,j, sondern die Schrift aus V. 22a für das zu ergänzende Subjekt hinter dem Partizip Passiv sugkleio,menoi in V. 23. 10 Auch D. SÄNGER hält die Schrift aus V. 22 für das Subjekt in V. 23, versteht das Gesetz aber zu Recht als einen Teil der Schrift. 11 Dieser positiven Einschätzung von sugklei,ein entgegnet D. SÄNGER, dass Röm 11,32 keine direkte Parallele zu Gal 3,23 darstellt, da das Verb dort nicht als sune,kleisen ... u`po. begegnet, sondern als sune,kleisen ... eivj, was in Anlehnung an paganen und LXX-Sprachgebrauch „ausliefern an, preisgeben an“ bedeute. 12 Sugklei,ein könne auch in Verbindung mit eivj (!) zur Haftmetapher werden (vgl. 1Makk 5,5).13 Für CHR. BURCHARDS Verständnis von frourei/n im Sinne von „bewahren“ sprechen Phil 4,7 und vor allem 1Petr 1,5, sowie der – freilich erst spät im 4. Jh. belegte 14– Vergleich des paidagwgo,j mit schützenden Aufpassern, Wächtern und festen Mauern. 15 Der unbestritten positiven Bedeutung von frourei/n in Phil 4,7 und 1Petr 1,5 steht laut D. SÄNGER 1Kor 11,32 entgegen, wo frourei/n „bewachen“ heißt. 16 Der paidagwgo,j wurde in der Antike einerseits als Erzieher und Beschützer geschätzt 17 und andererseits als züchtigender Spielverderber karikiert und kritisiert. 18 7
D. SÄNGER, paidagwgo,j, 256–260. Vgl. CHR. BURCHARD, Versuch, 78. 9 Vgl. ebd., 78. 10 Vgl. ebd., 76, 78f. 11 Vgl. D. SÄNGER, paidagwgo,j, 245, 257f, 260. 12 Vgl. ebd., 258. 13 Vgl. ebd., 258. 14 Vgl. ebd., 257. 15 Vgl. CHR. BURCHARD, Versuch, 78f. 16 Vgl. D. SÄNGER, paidagwgo,j, 258. 17 N.H. YOUNG, Paidagogos: The Social Setting of a Pauline Metaphor, NT XXIX, 2, 1987, 150–176, 158, beschreibt die Aufgabe des paidagwgo,j in erster Linie als „preventive and protective“; vgl. zu „Affection and praise for pedagogues“ ebd., 165–168. 18 N.H. YOUNG, Paidagogos, beschreibt die Diskrepanz zwischen dem idealen und dem realen paidagwgo,j (159–161) und führt Texte an, die den paidagwgo,j als Spielverderber zeichnen, der seinen Schützlingen befiehlt mit gesenktem Kopf zu gehen und ihnen Lachen und Liebesgeschichten verbietet (161f). N.H. YOUNG geht auch auf die körperlichen Züchtigungen des paidagwgo,j 8
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Das tyrannische Gesetz bei Paulus
Die Frage nach der Wertung des paidagwgo,j muss auch nach dem Vergleich mit außerbiblischen Belegen offen bleiben. Da sowohl der sprachliche Befund als auch das Verständnis von paidagwgo,j in der Antike keine Klarheit für die Interpretation des paidagwgo,j und die ihn (bzw. laut CHR. BURCHARD die Schrift) spezifizierenden Verben gibt, muss der Bedeutungsgehalt in Gal 3,23 aus dem Kontext erschlossen werden. D. SÄNGER weist auf den Sprachgebrauch bei Paulus hin: Der paidagwgo,j ist bei Paulus im paränetischen Abschnitt 1Kor 4,14–21 jemand, der „mit dem Stock“ (evn r`ab, dw|) züchtigt und dem liebenden Vater entgegengesetzt ist. 19 „Mit dem Stock“ gewinnt in 1Kor „den Charakter eines die Rezeption der Metapher steuernden Interpretaments“. 20 Der paidagwgo,j wird dort zum „Drohmittel“. 21 Auch im Galaterbrief lassen sich Strukturelemente und Wörter finden, die „Signalfunktion“ haben und die Rezeption des paidagwgo,j steuern. In Gal 2f sind die mit der Tora verbundenen Negationen (2,16f; 3,10–12.15–18.20) und die Rede vom „Fluch des Gesetzes“ (Gal 3,10.13) zu nennen. Am Ende der von Antithesen durchzogenen Argumentation in Gal 3 steht der paidagwgo,j – mit D. SÄNGER gesprochen – als „summierende Metapher“. 22 7.1.2 Die „Zuchtmeister“-Metapher im Kontext des Galaterbriefs Auch die nachfolgende Rede von der Unmündigkeit zur Zeit der Vormundschaft des „Zuchtmeisters“ (a), die Warnung vor einem Rückfall „unter“ das Gesetz (b) und der Gegensatz von Knechtschaft und Freiheit in Gal 4 (c) haben „Signalfunktion“ und steuern die Rezeption der Metapher. Der Eindruck eines Leidens unter dem Gesetz verstärkt sich. 7.1.2.1 Die Unmündigkeit zur Zeit der Vormundschaft des „Zuchtmeisters“ Für Paulus ist die Zeit unter dem Gesetz eine Zeit der Unmündigkeit, in der die Menschen „unter (u`po,) Vormündern und Verwaltern“ stehen. Der Ausdruck „unter der Macht von etwas sein“ (u`po, tina ei=nai) begegnet zehn Mal allein in Gal 3,10–5,18 und bestimmt dadurch stark den Ton der Kapi-
ein, die mitunter missbraucht wurden und dem paidagwgo,j einen zweifelhaften Ruf einbrachten (162–164). 19 Vgl. D. SÄNGER, paidagwgo,j, 254f. 20 Vgl. ebd., 256. 21 Vgl. ebd., 256. 22 Vgl. ebd., 259.
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Die Kritik an der Repressivität des Gesetzes in Gal 3f
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tel 3 und 4 des Galaterbriefs. 23 An acht 24 von zehn 25 Stellen, an denen Paulus davon spricht, dass Menschen unter der Macht von etwas sind, führt Paulus die versklavende Macht direkt oder indirekt auf das Gesetz zurück. Direkt vom Sein des Menschen „unter dem Gesetz“ (u`po. no,mon) spricht Paulus in Gal 3,23; Gal 4,4; Gal 4,5; Gal 4,21a und Gal 5,18. Indirekt beschreibt er das Sein unter dem Gesetz durch einen Vergleich des Gesetzes mit einem „Fluch“ (Gal 3,10: u`po. kata,ran), einem „Zuchtmeister“ (Gal 3,25: u`po. paidagwgo,n) oder mit „Vormündern und Verwaltern“ (Gal 4,2: u`po. evpitro,pouj evsti. kai. oivkono,mouj), unter denen der Mensch steht. Im 1. Korintherbrief bezeichnet Paulus die Juden zweimal als diejenigen, die „u`po. no,mon“ sind und betont, dass er selber nicht „u`po. no,mon“ sei (1Kor 9,20). Im Römerbrief stellt Paulus zweimal hintereinander das Sein „u`po. no,mon“ dem Sein „u`po. ca,rin“ entgegen (Röm 6,14f). Man kann sagen: Wenn Paulus davon spricht, dass die Christen vor ihrer Bekehrung unter dem Gesetz wie unter Vormündern und Verwaltern standen, so meint er einen Zustand der Unerlöstheit. 7.1.2.2 Die Warnung vor einem Rückfall „unter“ das Gesetz Das wird durch die Warnung vor einem Rückfall „unter“ das Gesetz noch einmal verstärkt: „Aber zu der Zeit, als ihr Gott noch nicht kanntet, dientet ihr denen, die in Wahrheit nicht Götter sind. Nachdem ihr aber Gott erkannt habt, ja vielmehr von Gott erkannt worden seid, wie wendet ihr euch dann wieder den schwachen und dürftigen Elementen (oder: Mächten) zu, denen ihr von neuem dienen wollt? Ihr haltet bestimmte Tage ein und Monate und Zeiten und Jahre“ (Gal 4,8–10). Hier wird die Rückkehr unter das Gesetz mit dem Rückfall in das Heidentum gleichgesetzt. Der Begriff „Elemente“ (stoicei/a tou/ ko,smou) dient dazu, das jüdische Gesetz (Gal 4,3) und die heidnischen Götter (Gal 4,9) auf einen Begriff zu bringen; und das ist ganz unabhängig davon, ob man stoicei/a als „Elemente“ oder in Analogie zu Kol 2,8.20 als „Mächte“ versteht. In beiden Fällen gilt: „Dabei rücken Hei-
23 Vgl. J.L. MARTYN, Galatians. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB 33A, New York/London/Toronto et.al. 1997, 360, 370–373. Vgl. auch D. SÄNGER, paidagwgo,j, 259. 24 Gal 3,10: u`po. kata,ran; Gal 3,23: u`po. no,mon; Gal 3,25: u`po. paidagwgo,n; Gal 4,4: u`po. no,mon; Gal 4,2: u`po. evpitro,pouj evsti. kai. oivkono,mouj; Gal 4,5: u`po. no,mon; Gal 4,21a: u`po. no,mon; Gal 5,18: u`po. no,mon. 25 An folgenden Stellen bezieht sich u`po, tina ei=nai auf andere Mächte als das Gesetz: Gal 3,22: u`po. a`marti,an; Gal 4,3: u`po. ta. stoicei/a tou/ ko,smou.
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Das tyrannische Gesetz bei Paulus
dentum und Judentum ... nahe zusammen.“ 26 Wenn die Abhängigkeit vom Gesetz mit der Abhängigkeit von paganen Göttern verglichen werden kann, dann wird sie eindeutig negativ bewertet. 7.1.2.3 Die versklavende Macht des Gesetzes Der Galaterbrief ist so aufgebaut, dass sein Gedankengang im zentralen Mittelteil zwei Mal variiert wird (Gal 3,1–4,11 / 4,12–5,12). Beim ersten Mal ist Abraham der Vater aller Gläubigen. Durch Glauben werden bei seiner ganzen Nachkommenschaft alle Unterschiede überwunden (Gal 3,28f). Beim zweiten Gedankengang ist Abraham der Vater von Ismael und Isaak. Bei ihnen werden die Unterschiede nicht aufgehoben, sondern es wird ihr Gegensatz betont; es ist ein Gegensatz von Knechtschaft und Freiheit in Gal 4,21–5,1. Wenn Paulus in Gal 5,1 die Galater davor warnt, sich wieder unter das „Joch der Knechtschaft“ zu begeben, von dem Christus sie befreit hat, dann hat das Gesetz eindeutig ein repressives Element. 7.1.3 Fazit: Bewahrung durch Bewachung Eine strenge Alternative, ob es bei der Metapher auf den positiven Zweck des paidagwgo,j, das Beschützen und Erziehen der Kinder und Jugendlichen oder auf die negativen Zuchtmittel, dessen sich der paidagwgo,j bedienen konnte, und auf die Bewachung ankommt, wird der Metapher nicht gerecht. Der no,moj als paidagwgo,j wacht streng über die Sünder, indem er die Sünden benennt und aufdeckt. Seine Bewachung ist jedoch nicht Selbstzweck, sondern das Ziel der Bewachung ist die Bewahrung vor weiteren Sünden. Mittel und Zweck lassen sich nicht trennen. Mag man die gute Absicht des paidagwgo,j, das Bewahren, auch noch so sehr betonen und die körperliche Züchtigung für den in Frage stehenden paidagwgo,j aus Gal 3,24 ausschließen wollen, sein repressiver Charakter bleibt bestehen. Die Bewahrung geschieht durch Bewachung.
26
PH. VIELHAUER, Gesetzesdienst und Stoicheiadienst im Galaterbrief, in: J. Friedrich (Hg.), Rechtfertigung (FS E. Käsemann), Tübingen 1976, 543–555 = PH. VIELHAUER, Oikodome. Aufsätze zum Neuen Testament 2, TB 65, München 1979, 182–195, 195.
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Die Kritik am Betrug über den Charakter des Gesetzes
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7.2 Die Kritik am Betrug über den Charakter des Gesetzes in 2Kor 3,13 und Röm 7,11 Die Kritik am Betrug über den Charakter des Gesetzes
An zwei Stellen, in denen sich Paulus möglicherweise mit seiner vorchristlichen Zeit auseinandersetzt, klagt er, über den wahren Charakter des Gesetzes betrogen worden zu sein. Das Betrugsmotiv wird zuerst im 2. Korintherbrief durch das Symbol der Decke auf dem Angesicht des Mose zum Ausdruck gebracht (7.2.1) und begegnet in anderer Form erneut im 7. Kapitel des Römerbriefs (7.2.2). 7.2.1 Die täuschende Funktion der Decke in 2Kor 3,13 In 2Kor 3 finden wir ein ambivalentes Bild des Mose vor. 27 Zunächst entsteht ein negatives Mosebild durch die schroffe Antithese vom neuen Bund und dem Dienst des Paulus einerseits und dem alten Bund und dem Dienst des Mose (2Kor 3,6–11). Das negative Bild wird durch den Vorwurf der betrügerischen Funktion der Decke auf dem Angesicht des Mose (2Kor 3,13) verstärkt. Positiv wird Mose anschließend dadurch gezeichnet, dass er göttliche do,xa hat und zum Typos des gläubigen Christen wird, der unverhüllten Angesichts vor Gott tritt (2Kor 3,16). Im Anschluss an seine Gegenüberstellung der Herrlichkeit des alten Bundes und der größeren Herrlichkeit des neuen Bundes schreibt Paulus in 2Kor 3,12f: Weil wir eine solche Hoffnung haben, treten wir mit großem Freimut auf, nicht wie Mose, der über sein Gesicht eine Hülle legte, damit die Israeliten das Verblassen des Glanzes nicht sahen. 28
Paulus’ Vorwurf an Mose ist erschreckend hart: Die Decke über dem Gesicht des Mose sei Instrument eines Betrugs an den Israeliten. Vor ihnen solle die Vergänglichkeit des Gesetzes geheim gehalten werden. Das Verblassen des Gesetzes ist hier ein Ausdruck für den Interimscharakter des Gesetzes, 29 seine Gültigkeit bis zum Kommen Christi, vor den Israeliten (vgl. Röm 10,4 und Gal 3,24). Beschränkt sich die Kritik an der Decke auf dem Gesicht des Mose allein auf diesen Aspekt der Verhüllung, dann könnte die Schuld des Mose insofern gemildert sein, als er mit der Verhüllung am göttlichen Heilsplan teilhatte beziehungsweise dadurch, dass die Ver27
Vgl. G. THEISSEN, Psychologische Aspekte, 137. Übersetzung nach: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe; Psalmen und Neues Testament; Ökumenischer Text, Katholische Bibelanstalt [u.a.], Stuttgart 1980. 29 Vgl. M.E. THRALL, A critical and exegetical commentary on the second epistle to the Corinthians. Bd. 1, Introduction and commentary on II Corinthians I–VII, Edinburgh 1994, 258. 28
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Das tyrannische Gesetz bei Paulus
hüllung eine pädagogische Aufgabe hatte. 30 Darüber hinaus könnte jedoch auch der Vorwurf impliziert sein, Mose täusche die Israeliten über einen weiteren Charakterzug des Gesetzes hinweg: seine „tötende“ Macht. 31 In diese Richtung weist die Rede vom „tötenden Buchstaben“ (2Kor 3,6f) und vom „Dienst des Todes“ und „Dienst der Verurteilung“ im näheren Kontext. Die Kritik an der Verurteilung durch das Gebot berührt sich sachlich mit der sündenpessimistischen Klage über die Unvollkommenheit des Menschen und die daraus resultierende Unerfüllbarkeit des Gesetzes. Dass es sich beim Motiv der Verhüllung tatsächlich um starke Polemik handelt, zeigt sich auch ein paar Verse später in 2Kor 4,2f als Paulus sich gegen den Vorwurf verteidigt, er habe sein Evangelium „verhüllt“ verkündigt. Hier assoziiert Paulus „Verhüllung“ negativ mit „Verfälschung“. So verwahrt Paulus sich in 2Kor 4,2f mit den Worten: „Wir haben uns von aller schimpflichen Arglist losgesagt; wir handeln nicht hinterhältig und verfälschen das Wort Gottes nicht, sondern lehren offen die Wahrheit. [...] Wenn unser Evangelium dennoch verhüllt ist, ist es nur denen verhüllt, die verloren gehen.“ wahrscheinlich gegen den Vorwurf der unverständlichen Verkündigung. 32 Die Vorwürfe gegen Paulus könnten von jüdischen Gegnern 33 vorgebracht worden sein und judenchristliche 34 oder auch heidenchristliche Gemeindeglieder der korinthischen Gemeinde verunsichert haben. 35 Dass die do,xa des Mose zwischen den direkten Begegnungen des Mose mit Gott, in der Zeit, als er weder mit Gott noch zu Israel sprach, abgenommen hat, könnte eine Interpretation des Paulus sein, zu der er durch eine Exegese von Ex 34 gekommen ist. Auf die Annahme einer verarbeite-
30
Vgl. ebd., 258.261. M.E. THRALL, ebd., 240, macht darauf aufmerksam, dass beim Qual-Wachomer-Schluss die Prostasis eine Aussage enthält, die von Autor und Adressaten für wahr gehalten wird. Paulus kann demnach damit rechnen, dass seine Adressaten eine exegetische Tradition kannten, die Moses Herrlichkeit pries und eine Lehre, darüber, dass der Bund des Mose ein Dienst des Todes und der Verurteilung war. Vgl. auch M.E. THRALL, ebd., 235. 32 Vgl. G. THEISSEN, Psychologische Aspekte, 129–132. Zu möglicher vorausgegangener Kritik an Paulus vgl. M.E. THRALL, ebd., 255. 33 Vgl. M.E. THRALL, ebd., 248. Zum Versuch einer Einheitsdeutung der Gegner des Paulus, die z.T. zur Einhaltung des Claudiusedikts das pragmatische Ziel einer Reintegration der Christen in das Judentum verfolgten, vgl. G. THEISSEN, Die Gegenmission zu Paulus in Galatien, Philippi und in Korinth. Versuch einer Einheitsdeutung, in: W. Kraus (Hg.), Beiträge zur urchristlichen Theologiegeschichte (FS U.B. Müller), BZNW 163, Berlin 2009, 277–306. 34 Vgl. M.E. THRALL, Introduction and commentary on II Corinthians I–VII, 248. 35 G. THEISSEN, Die Gegenmission zu Paulus, 277–306, rechnet prinzipiell mit der Möglichkeit, dass Gegnerschaft von außen im Inneren der Gemeinde auf Resonanz stoßen konnte. So ist es denkbar, dass die jüdische Lehre über die Herrlichkeit des Mose auch enthusiastisch gesinnte Korinther ansprach. Die Kritik judaistischer Gegner am Auftreten des Paulus kann bei jüdischen und ehemals heidnischen, enthusiastischen Gemeindeglieder Akzeptanz gefunden haben. 31
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ten Quellen kann verzichtet werden. 36 Auch die positive Bewertung des „Unverhüllten“ könnte Paulus ehemals mit Mose in Verbindung gebracht haben, der sich zwischenzeitlich verhüllte, im direkten Kontakt mit Gott jedoch unverhüllt war. Die stellenweise negative Überzeichnung eines positiven Mosebildes ist so zu erklären, dass Paulus – ausgelöst durch Vorwürfe judaistischer Gegner – in 2Kor 3 sein eigenes vorchristliches Mosebild korrigiert. 37 An die Stelle von Moses unverhüllter Gottesschau tritt die unverhüllte Gottesschau Christi. 7.2.2 Der Betrug durch Sünde und Gebot in Röm 7, 11 In Röm 7,11 spricht Paulus von einem Betrug der Sünde, der darin besteht, dass diese das Gesetz, welches eigentlich zum Leben gegeben war, als Vorwand nahm und in ein todbringendes Gesetz verwandelte. Im Hintergrund der Passage Röm 7,7–13 steht eine Auslegung der Sündenfallgeschichte Gen 2–3. 38 Dass die Sünde den Menschen betrügt, entspricht der Rolle der Schlange in Gen 3,13. 39 Auch in Röm 7,7–13 spricht Paulus möglicherweise selbst. Umstritten ist die Annahme, Paulus schildere einen persönlichen Konflikt mit dem Gesetz vor allem aufgrund der Aussage in Röm 7,9, die in faktischem Widerspruch zur eigenen Biographie steht. Die Aussage Röm 7,9 passt biographisch weder auf Paulus noch auf sonst einen Juden. Und auch von den Heiden könne man nicht sagen, dass das Gesetz zu ihnen kam und tötete. Die Frage nach dem Subjekt in Röm 7,7ff bedarf einer Lösung. G. THEISSEN geht davon aus, dass Paulus die Rolle Adams annimmt, um seine eigene Situation bearbeiten zu können. „Wohl ist Adam das Modell der Aussagen in Röm 7,7ff., nicht aber ihr Subjekt.“ 40 Die Übernahme der Adamrolle habe Paulus dazu gedient, „seinen persönlichen Gesetzeskonflikt als einen allgemein menschlichen Konflikt darzustellen“. Paulus sei eine repräsentative Person gewesen, in deren individuellen Geschick sich ein neues Erlebens- und Verhaltensmuster zeige. 41 Bei der Rollenübernahme nimmt Paulus den Widerspruch zur eigenen Biographie „Ich lebte einst ohne das Gesetz“ in Kauf. Da „Paulus sein Leben im Lichte der 36 Vgl. M.E. THRALL, Introduction and commentary on II Corinthians I–VII, 239, „the structure of 2.14–4.6 does not suggest that 3.7–18 originally had an independent existence“ und 258, „the veil motif from the Exodus story may well be due entirely to Paul himself“; vgl. auch ebd., 246f. 37 Vgl. G. THEISSEN, Psychologische Aspekte, 137.142. Wer die Überarbeitung einer Quelle annimmt (vgl. ebd., 136f), wird damit die Ambivalenz des Mosebildes erklären können. 38 Vgl. K. HAACKER, Der Brief des Paulus an die Römer, 144. 39 Vgl. ebd., 144. 40 So G. THEISSEN, Psychologische Aspekte, 253. 41 Vgl. ebd., 262.
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Das tyrannische Gesetz bei Paulus
Adamrolle deutet, muß er mit innerer Notwendigkeit sich selbst einen gesetzesfreien Zustand zuschreiben – auch gegen die faktische Biographie.“ 42 Die Möglichkeit einer solchen Uminterpretation des eigenen Lebens im Lichte übernommener Rollen lässt sich historisch-kritisch durch drei Analogien im paulinischen Schrifttum nachweisen: Gal 1,15f; Phil 3,12ff; 1Kor 9,19–23. 43 Die zuletzt genannte Rollenübernahme ist wie in Röm 7 in der 1. Person Singular in präteritalen Aussagesätzen formuliert, jedoch ohne explizites evgw,. An beiden Stellen spricht Paulus selbst und an „beiden Stellen geraten die Aussagen in Spannung zur biographischen Realität“. 44 Auch die moderne Psychologie hat „antike Rollen wie die des Ödipus und des Narziß aufgenommen, um in ihrem Lichte Probleme des eigenen Lebens zu deuten“, wahrscheinlich mitunter in Spannung zur Realität, die durch die Rollenübernahme kreativ umgestaltet wurde. 45 Bereits der Übergang von der zur Gesetzesübertretung provozierenden evpiqumi,a zum umfassenderen Sündenbegriff a`marti,a öffnet die Passage für die Lesart eines nicht nur antinomistischen, sondern auch nomistischen Gesetzeskonflikts. 46 Noch deutlicher sprechen die beiden bei Paulus verinnerlichten Motive der Sündenfallgeschichte, das Betrugsmotiv (V. 11) und das Todesmotiv (V. 10) für die Annahme, dass Paulus „in den Gesetzeskonflikt Adams seinen nomistischen Gesetzeskonflikt hineinlegt“. 47
7.3 Vergleich der Kritik an der Tyrannei des Gesetzes bei Josephus’ Simri, in der jüdischen und nicht-jüdischen Umwelt und bei Paulus Vergleich der Kritik an der Tyrannei des Gesetzes
Die im ersten Kapitel des ersten Hauptteils untersuchten Texte zeugen alle von dem Wissen darum, dass Gesetze unterdrückend wirken können. Während die Gesetzeskritik des Apostaten Simri von Josephus literarisch zurückgewiesen wird, begegnete uns bei den hellenistischen Reformern Kritik am Gesetz, die zwar von Gegnern zurückgewiesen, aber offen im Judentum geäußert wurde, dort Resonanz fand und lange wirksam war. Philosophiegeschichtlich prominente Vertreter von Gesetzeskritik sind die griechischen Sophisten. Wahrscheinlich stehen ihre Lehren hinter der von Josephus konstruierten Rede des Simri. Ihre Lehre könnte vermittelt durch das hellenistische Judentum oder direkt auch auf Paulus gewirkt haben. 42
Vgl. ebd., 253f. Vgl. ebd., 254. 44 Vgl. ebd., 255. 45 Vgl. ebd., 255f. 46 Vgl. ebd., 211. 47 Vgl. ebd., 211. 43
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Vergleich der Kritik an der Tyrannei des Gesetzes
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Das Motiv der „Tyrannei“ des Gesetzes beziehungsweise der Gesetzgeber findet sich in leicht variierter Begrifflichkeit bei Josephus’ Simri, bei den hellenistischen Reformern, beim Sophisten Hippias von Elis und mit einer stark variierten Begrifflichkeit bei Paulus. So spricht Simri in Ios.ant.Iud. 4,146 von auf „tyrannische Weise erlassenen Gesetzen“, Worte in Strabos Geographica, die möglicherweise den hellenistischen Reformern zuzuschreiben sind von „tyrannischen Priestern“, der Sophist Hippias von Elis im Platondialog Protagoras vom „Gesetz als Tyrann“ und Paulus vom Sein „unter“ (u`po,) der Vormundschaft des Gesetzes als „Zuchtmeister“ (paidagwgo,j). Die „Tyrannei“ des Gesetzes wird mitunter durch seine separierende Wirkung spezifiziert: das Problem der durch das Mischehenverbot erzwungenen Trennung von Juden und Nichtjuden steht im Hintergrund der Simriepisode; der Assimilationsversuch beziehungsweise der Wunsch nach Akkulturation an die griechische Umwelt wurde bei den radikalen beziehungsweise gemäßigten hellenistischen Reformern deutlich; die Sophisten Hippias von Elis und Antiphon kritisierten, dass das Gesetz Ungleichheit zwischen naturgemäß Zusammengehörigem herstellt; Paulus, der die Funktion des Gesetzes als „boundary marker“ im Blick hatte, stellt fest, dass seit dem Kommen Christi alle, die an Christus glauben, gleich sind (Gal 3,28). Neben der Eigenschaft des Gesetzes, die Handlungsfreiheit des Menschen zu beschränken, wird vereinzelt eine Eigenschaft des Gesetzes kritisiert, die den Menschen in seiner Erkenntnisfähigkeit beschränkt: In Ios.ant.Iud. 4,1–6 wird dem Gesetzgeber Mose vorgeworfen, die Israeliten über seine wahren Absichten zu betrügen. Mose wird von seinem Volk vorgeworfen, er sei ein Tyrann (tu,rannon), der die Israeliten betrüge (evxapatwme,nouj) (ant. 4,3), als habe Gott ihm allein seine Absichten über ihr Schicksal offenbart. Gewiss handelt es sich hier um das murrende Volk, das sich gegen Mose auflehnt. Josephus gibt ihm Unrecht. Aber hier finden wir die Verbindung der Motive des „tyrannischen“ Charakters des Mose mit einem Betrugsmotiv. In dieser Tradition steht Paulus, wenn er in 2Kor 3,13 und Röm 7,11 den Betrug durch das Gesetz anspricht. Der große Unterschied zwischen allen hier aufgeführten jüdischen Traditionen und Paulus aber bleibt: Die Gesetzeskritik des Simri und die Kritik des Volkes an Moses wird bei Josephus eindeutig zurückgewiesen. Paulus aber identifiziert sich mit seiner Kritik am Gesetz. Er bringt eine im Judentum zurückgewiesene Stimme zum Ausdruck.
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8. Das unerfüllbare Gesetz bei Paulus. Der Sündenpessimismus des Paulus mit Blick auf den unerlösten Menschen in Röm 3,10–18 und Röm 7,15–24
Das unerfüllbare Gesetz bei Paulus
Paulus vertritt mit Blick auf den unerlösten Menschen eine eindeutig pessimistische Anthropologie. Der Mensch ist Sünder und kann von sich aus keine guten Werke vollbringen. Seine pessimistische Einschätzung des unerlösten Menschen lässt sich zum einen an seinem Sprachgebrauch in Bezug auf diesen Menschen festmachen (evpiqumi,a, a`marti,a), zum anderen an seinen Klagen über unmoralisches Verhalten des unerlösten Menschen (vgl. Röm 1,18ff; Röm 3,10–18). Umstritten ist, an welchen Stellen Paulus sich im Einzelnen auf die Situation des erlösten oder unerlösten Menschen bezieht. Der Sündenpessimismus des Paulus mit Blick auf den unerlösten Menschen soll hier anhand zweier längerer Passagen demonstriert werden: Röm 3,10–18 und Röm 7,14–25. Die Situation des unerlösten Menschen thematisiert Paulus eindeutig in Röm 3,10–18 (8.1). Da kein Mensch gerecht ist (Röm 3,10), sondern im Gegenteil unter der Sünde steht, kann niemand durch die Werke des Gesetzes gerecht werden (Röm 3,20; vgl. Gal 3,11). Möglicherweise bezieht Paulus sich auch mit seinen sündenpessimistischen Aussagen in Röm 7,14–23 auf die Situation des unerlösten Menschen (8.2). Im Anschluss an die Darstellung des Sündenpessimismus bei Paulus erfolgt ein Vergleich mit den im ersten Teil (Kap. 3) vorgestellten sündenpessimistischen Aussagen (8.3).
8.1 Der Sündenpessimismus des Paulus mit Blick auf den unerlösten Menschen am Beispiel der Katene Röm 3,10–18 Paulus bringt seine ersten prägnanten sündenpessimistischen Aussagen im Römerbrief an exponierter Stelle des Briefes an (8.1.1) und verleiht ihnen durch die Wahl der Katenenform (8.1.2) besonderen Nachdruck. Sowohl Stellung als auch Form der sündenpessimistischen Aussagen unterstützen ihre Funktion im Römerbrief (8.1.3), die Erlösungsbedürftigkeit des sündigen Menschen (8.1.4) zu betonen und dem Heilshandeln Gottes voranzustellen.
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Das unerfüllbare Gesetz bei Paulus
8.1.1 Die Stellung der Katene im Römerbrief Der Sündenpessimismus des Paulus
Nachdem Paulus in Röm 1,1–18 das Thema seines Briefs, die Gerechtigkeit aus Glauben, benannt hat, führt er in 1,18–3,20 einen Nachweis der Universalität der Sünde, auf welchen er im Gegenzug in 3,21–5,21 den Nachweis der Universalität des Heils folgen lässt. Seinen Erweis der Universalität der Sünde schließt Paulus in Röm 3,10–20 mit einer Reihe von Schriftzitaten aus dem Alten Testament ab, die von der Sündhaftigkeit des Menschen handeln. Dieser Zitatenreihe, auch Katene genannt, stellt Paulus in Röm 3,9 programmatisch voran: „wir haben soeben bewiesen, daß alle, Juden wie Griechen, unter der Sünde sind“. Hier begegnet zum ersten Mal im Römerbrief das Wort „Sünde“ (a`marti,a), 1 das insbesondere in Röm 6 (16 mal) und Röm 7 (14 mal) zu einem Schlüsselwort wird. 2 8.1.2 Die Form der Katene Die Zitatenreihe besteht, wie die nachfolgende Synopse zeigt, aus sieben Septuagintazitaten: fünf Psalmenzitaten, einem Predigerzitat und einem Jesajazitat. 3
1 Diese Beobachtung hat auch E. LOHSE, Der Brief an die Römer. Übersetzt und erklärt von Eduard Lohse, KEK 4, Göttingen 152003, 1. Auflage dieser Auslegung, 121, gemacht. 2 a`marti,a im Singular (Nom, Gen, Dat, Akk) begegnet insgesamt 52 mal in den Paulusbriefen: 45 mal im Römerbrief und 7 mal in anderen Paulusbriefen. Der Plural a`marti,ai (Nom, Gen, Dat, Akk) findet sich nur 7 mal in den Paulusbriefen (Röm 4,7; 1Kor 15,17; Röm 7,5; 1Kor 15,3; Gal 1,4; Röm 11,27; 1Thess 2,16). In 1Kor 15,3 und Gal 1,4 handelt es sich um traditionelle Formeln, in Röm 4,7 um ein Psalmzitat. 3 J.D.G. DUNN, Romans 1–8, WBC 38A, Dallas, Tex. 1988, 149.
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Der Sündenpessimismus des Paulus
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Römer 3,10–18 4
LXX
10 ouvk e;stin di,kaioj ouvde. ei-j(
Pred 7,20 5 – a;nqrwpoj ouvk e;stin di,kaioj evn th/| gh/|(o]j poih,sei avgaqo.n kai. ouvc a`marth,setaiÅ
11 ouvk e;stin o` suni,wn( ouvk e;stin o` evkzhtw/n to.n qeo,nÅ
Ps 13,2–3 6 – ... eiv e;stin suni,wn h' evkzhtw/n to.n qeo,nÅ
12 pa,ntej evxe,klinan a[ma hvcrew,qhsan\ ouvk e;stin o` poiw/n crhsto,thta( Îouvk e;stinÐ e[wj e`no,jÅ
pa,ntej evxe,klinan(a[ma hvcrew,qhsan( ouvk e;stin poiw/n crhsto,thta( ouvk e;stin e[wj e`no,jÅ
13 ta,foj avnew|gme,noj o` la,rugx auvtw/n( tai/j glw,ssaij auvtw/n evdoliou/san( ivo.j avspi,dwn u`po. ta. cei,lh auvtw/n\
Ps 5,10 – ta,foj avnew|gme,noj o` la,rugx auvtw/n( tai/j glw,ssaij auvtw/n evdoliou/sanÅ Ps 139,4 – ivo.j avspi,dwn u`po. ta. cei,lh auvtw/nÅ
14 w-n to. sto,ma avra/j kai. pikri,aj ge,mei(
Ps 9,28 – ou- avra/j to. sto,ma auvtou/ ge,mei kai. pikri,aj kai. do,louÅ
15 ovxei/j oi` po,dej auvtw/n evkce,ai ai-ma(
Jes 59,7–8 – oi` de. po,dej auvtw/n evpi. ponhri,an tre,cousin tacinoi. evkce,ai ai-ma\
16 su,ntrimma kai. talaipwri,a evn tai/j o`doi/j auvtw/nÅ
su,ntrimma kai. talaipwri,a evn tai/j o`doi/j auvtw/nÅ
17 kai. o`do.n eivrh,nhj ouvk e;gnwsan
kai. o`do.n eivrh,nhj ouvk oi;dasinÅ
18 ouvk e;stin fo,boj qeou/ avpe,nanti tw/n ovfqalmw/n auvtw/nÅ
Ps 35,2 – ouvk e;stin fo,boj qeou/ avpe,nanti tw/n ovfqalmw/n auvtou/Å
In der Forschung wurde die Möglichkeit diskutiert, ob Paulus die Katene vorgefunden oder selber komponiert hat. 7 Da sich bei Justin Mitte des 2. Jh. n.Chr. eine ähnliche Kollektion alttestamentlicher Belegstellen (Iust.dial. 27,3) findet, wurde die These vertreten, den Katenen bei Paulus und Justin habe eine gemeinsame Quelle zugrunde gelegen. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass Justin die Katene von Paulus übernommen hat. Der formale Charakter der Katene legt die Vermutung nahe, dass Paulus die Schriftstellen nicht erst spontan beim Diktieren des Römerbriefs zusammengestellt, sondern bereits vorher einander zugeordnet hat. 8 Möglicherweise hat er die Schriftstellen zuvor in seiner mündlichen Unterweisung verwendet. 9 4 Vgl. J.D.G. DUNN, Romans 1–8, 149. Vgl. auch H. HÜBNER, Vetus Testamentum in Novo. Bd. 2, Corpus Paulinum, Göttingen 1997, 52–55. 5 Entgegen der häufigen Interpretation von Röm 3,10 als Aufnahme von Ps 13,1 versteht J.D.G. DUNN, ebd., 150, V. 10 als Aufnahme von Pred 7,20. 6 J.D.G. DUNN, ebd., 150, sieht zudem Ps 52,3–4 (LXX) hinter V. 11f. 7 Vgl. E. LOHSE, Der Brief an die Römer, 123 und J.D.G. DUNN, Romans 1–8, 150. 8 Vgl. J.D.G. DUNN, ebd., 150. 9 Vgl. E. LOHSE, Der Brief an die Römer, 123.
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Das unerfüllbare Gesetz bei Paulus
8.1.3 Die Funktion der Katene Den von Paulus ausgewählten Psalmenzitaten ist gemeinsam, dass sie in ihrem ursprünglichen Zusammenhang Feindesanklagen sind. In den Psalmen stehen diese Klagen über die „Narren“, die „Ungerechten“, die „Gesetzlosen“, die „Frevler“ und die „Sünder“ in Antithese zu den Betern, die sich als die „Gerechten“ betrachten. 10 Die beklagte Sündhaftigkeit betrifft ursprünglich die Feinde, nicht den Beter selbst. Im Römerbrief allerdings werden diese Feindesanklagen, von Paulus isoliert und in einen neuen Kontext gestellt, zu Selbstanklagen. 11 Die Kohelet- und die Jesajapassage sind in ihrem ursprünglichen Kontext Klagen über Israel. 12 Wird die klare Unterscheidung von Gerechten und Ungerechten wie in Paulus’ Katene bei der Schriftauslegung aufgehoben, so verdammt die Schrift alle Menschen. 13 Auch ein Vergleich mit den sündenpessimistischen Aussagen in den HôdƗMôt aus Qumran kann die Wirkung von Paulus’ Dekontextualisierung der Feindesanklagen verdeutlichen. In den HôdƗMôt fanden sich die sündenpessimistischen Aussagen eingebettet in ein Gebet, das im Bewusstsein der Erwählung gesprochen wurde. Darüber hinaus bestand die Funktion der pessimistischen Aussagen darin, Gottes Majestät im Gegenüber zur Niedrigkeit des Menschen um so heller erstrahlen zu lassen. Löst man, wie Paulus, solch pessimistische Aussagen aus dem Gebetskontext, so kommt der Pessimismus in seiner ganzen Schärfe zur Geltung. Aufgehoben wird diese Schärfe im Römerbrief anschließend durch das Heilshandeln Gottes im Christusgeschehen (Röm 3,21–5,21) und durch die Wirkmächtigkeit des heiligen Geistes (Röm 8). 8.1.4 Anthropologie Die Katene kann als Entfaltung des Eingangsverses verstanden werden, der Pred 7,20 oder Ps 13,1 entnommen wurde: „Da ist keiner, der gerecht ist,
10 Vgl. J.D.G. DUNN, Romans 1–8, 151, 157. In einer für seine Paulusinterpretation charakteristischen Weise schreibt J.D.G. DUNN, ebd., 151: „Paul intended the Psalm citations as a turning of the tables on Jewish overconfidence in their nation´s favored status before God.“ 11 Vgl. ebd., 150: „Jewish condemnation of Gentiles becomes self-accusation“. 12 Vgl. zum Kontext der Jesajapassage J.D.G. DUNN, ebd., 151. 13 Ebd., 149.
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Der Widerstreit zwischen Wollen und Tun in Röm 7,14–25
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auch nicht einer“ (V. 10). 14 Eine sachliche Parallele zu diesem Vers findet sich in Qumrantexten: 15 „daß beim Menschen keine Gerechtigkeit ist und nicht beim Menschenkind vollkommener Wandel. Beim höchsten Gott sind alle Werke der Gerechtigkeit, aber der Wandel des Menschen steht nicht fest, es sei denn durch den Geist, den Gott ihm schuf, um den Wandel der Menschenkinder vollkommen zu machen.“16 (1QH 4,30– 32) und „Denn niemand ist gerecht in deinem Ge[richt], und niemand un[schuldig in] deinem Prozeß.“ 17 (1QH 9,14f).
Seinem Pessimismus verleiht Paulus Nachdruck, indem er das durch zwei Psalmzitate (Ps 13,2–3 LXX; Ps 35,2 LXX) vorgegebene ouvk e;stin sechs Mal aufgreift und meist als Negation vorausschickt: es gibt keinen, der gerecht ist (V. 10), keinen der verständig ist (V. 11), keinen der nach Gott fragt (V. 11), keinen, der Gutes tut (zweimalige Verneinung V. 12), es gibt keine Gottesfurcht (V. 18). 18 In der Mitte der Katene (V. 13–15) werden die „Glieder des Menschen als Subjekt seines verderbten Handelns“ 19 aufgeführt: Rachen, Zunge, Mund und Füße. Als Folge des verderbten Handelns bleiben der Weg des Friedens und die Gottesfurcht den Menschen unbekannt (V. 16–18).
8.2 Der Widerstreit zwischen Wollen und Tun in Röm 7,14–25 Der Widerstreit zwischen Wollen und Tun in Röm 7,14–25
Auf seine Kritik am Betrug durch Sünde und Gebot, bei der sich Paulus der Adamtradition bediente, lässt Paulus in Röm 7,14–23 eine Reflexion über den Widerstreit zwischen Wollen und Tun folgen. In einem parallel konstruierten Gedankengang (8.2.1) geht Paulus einem Widerstreit im Menschen nach, wie er ihn möglicherweise selber vor seiner Bekehrung erfahren hat (8.2.2). Auch in Röm 7,14ff greift Paulus auf eine Tradition zurück: die Tradition der Medea (a), die E. WASSERMAN um die Tradition des Seelentods (b) ergänzen möchte (8.2.3). Wie in 2Kor 3, könnte sich auch in Röm 7,14ff Paulus’ Bewusstwerden seines vormals unbewussten Konflikts mit dem Gesetz niedergeschlagen haben (8.2.4). Jenseits des Nachweises einer indirekten Problematisierung des Gesetzes durch eine sündenpessi14
Vgl. ebd., 150. Vgl. E. LOHSE, Der Brief an die Römer, 124, der desweiteren auf 1QH VII,17.28f.; XII,31f.; XIII,16f.; XVI,11 verweist; J.D.G. DUNN, Romans 1–8, 150 verweist neben 1QH 4.30–31 auf folgende verwandte Qumranstellen: 1QH 7.17,28–29; 13.16–17; 16.11; 11QPsa 155.8. 16 Zitiert nach E. LOHSE (Hg.), Die Texte aus Qumran, 129. 17 Zitiert nach E. LOHSE (Hg.), ebd., 147. 18 Vgl. E. LOHSE, Der Brief an die Römer, 124. 19 Ebd., 124. 15
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Das unerfüllbare Gesetz bei Paulus
mistische Sicht auf den vorchristlichen unerlösten Menschen stellt sich die Frage, ob und in welchem Maß der Sündenpessimismus des Paulus auch auf den erlösten Menschen zutrifft und als anthropologische Konstante andauert. Daher soll abschließend ein kurzer Ausblick auf mögliche Verhältnisbestimmungen des iustus et peccator in der christlichen Existenz aus Sicht des Paulus erfolgen (8.2.5). 8.2.1 Gedankengang in Röm 7,14–23 Nachdem Paulus in Röm 7,7–13 die Täuschung durch Sünde und Gebot beklagt hat (siehe 7.2.2), schildert er anschließend in zwei parallelen Gedankengängen die Schwierigkeit, das vom Gesetz geforderte Gute zu vollbringen. 20 Paulus konstatiert einen Widerstreit im Menschen zwischen Wollen und Tun (V. 15; vgl. V. 19, ergänzt um eine Bewertung des Gewollten als gut und des Ausgeführten als böse). Die Einsicht in diesen Widerstreit (V. 16; vgl. auch V. 20) ermöglicht das Eingeständnis, dass es eine gute Norm gibt, auf die der Wille zuvor gerichtet ist, die der Wille jedoch wider besseren Wissens verfehlt (V. 16). Diese Selbsterkenntnis mündet in eine Distanzierung zum eigenen Fehlverhalten. 21 Das einsichtige Ich schreibt das Fehlverhalten einer Macht zu, die zwar über ihn und in ihm herrscht, die jedoch nicht vollständig mit seinem Ich identisch ist. Diese Macht ist die Sünde (V. 17; vgl. V. 20). Die Sünde wird als eine im Körper des Menschen herrschende Macht erfahren (V. 18). Die eingangs beschriebene Diskrepanz zwischen Wollen und Tun wird also auf die Macht der Sünde zurückgeführt (V. 18; vgl. V. 21). Paulus wiederholt seinen Gedankengang aus V. 15–18 leicht verändert in V. 19–21. In V. 23 fügt er als einen entscheidenden weiterführenden Gedanken an: Wollen und Tun werden zwei verschiedenen Gesetzen zugeordnet. Der Wille richtet sich auf das Gesetz Gottes, das Tun auf das Gesetz der Sünde. Die Interpretation dieser beiden „Gesetze“ ist stark umstritten. G. THEISSEN sieht hier die Ambivalenz des Gesetzes auf die Spitze getrieben: Es ist als Buchstabe tötend und angstauslösend, als Geist dagegen lebensdienlich. J.D.G. DUNN sieht hier dagegen auf der einen Seite das Gesetz im alten Äon, auf der anderen das Gesetz im neuen Äon.
20
Vgl. G. THEISSEN, Psychologische Aspekte, 190f. G. THEISSEN, ebd., 263, geht nicht davon aus, das sprechende Ich wolle sich durch solch eine transsubjektive Kausalattribuierung entlasten: „Die transsubjektiven Kausalattribuierungen sind also keine Entlastungsversuche, sondern beleuchten die Hoffnungslosigkeit der Situation.“ 21
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Der Widerstreit zwischen Wollen und Tun in Röm 7,14–25
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Paulus Gedankengang mündet in Röm 7,24 in Klage und Dank: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen aus diesem todverfallenen Leibe? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!“ 8.2.2 Identifikation und Situation des „Ich“ in Röm 7,7–24 Der wohl markanteste Unterschied zwischen der Interpretation von Röm 7,7–24 unter der alten und der „Neuen Perspektive auf Paulus“ besteht in der Zuordnung der im zweiten Teil, Röm 7,14ff, beschriebenen Situation zu einem persönlich-typischen vorchristlichen Konflikt des Paulus oder zu einem nachchristlichen Konflikt des Paulus. Mit der zeitlichen Ansetzung des Konflikts steht und fällt die Dimension von Paulus’ Konflikt mit dem Gesetz. Die Interpretationen der Identifikation und Situation des „Ich“ in Röm 7,7–24 gehen bis heute in zwei entscheidenden Punkten weit auseinander:22 a) Handelt es sich um ein vorchristliches „Ich“ des unerlösten23 Menschen oder um ein christliches „Ich“ des erlösten 24 Menschen? Und b) Sind biographische 25 Züge des Paulus in dem „Ich“ zu erwarten oder rein allgemeinmenschliche26 Aussagen? Die nachfolgende Übersicht verdeutlicht die Komplexität der diskutierten Interpretationen des „Ich“ in Röm 7 aus alter und neuer Perspektive auf Paulus. Der Position von G. THEISSEN, die das „Ich“ in Röm 7 durchgehend retrospektiv auf die Situation des unerlösten vorchristlichen Menschen und des vorchristlichen Paulus selbst bezieht, steht die Position von J.D.G. DUNN, einem Vertreter der „New Perspective on Paul“ entgegen, die den ersten Teil, Röm 7,7–13, auf den vorchristlichen Menschen bezieht und den zweiten Teil, Röm 7,14–23, unter Berufung auf Phil 3,4–6 auf die nachchristliche Situation des Paulus. Die „New 22
Vgl. auch R. JEWETT, Romans. A Commentary, Hermeneia, Minneapolis 2007, 441. Vgl. G. THEISSEN, Psychologische Aspekte, 236; R. JEWETT, Romans, 444f und J. LAMBRECHT, The wretched "I" and its liberation: Paul in Romans 7 and 8, Louvain theological & pastoral monographs 14, Louvain 1992, 90, der seine These mit den Worten zusammenfasst: „In Romans 7 Paul has depicted his pre-Christian, not his Christian, situation. We, present-day Christians, cannot agree with the Lutheran simul iustus et peccator (at the same time righteous and sinner). The adage, at least in the way most commentators understand it, is incorrect and, moreover, dangerous. The indwelling Spirit will never admit a compromise between righteousness and sin. Christians should not resign themselves to evil as if it were unavoidable.“ T. ENGBERGPEDERSEN, The Reception of Graeco-Roman Culture in the New Testament: The Case of Romans 7.7–25, in: New Testament as Reception, Mogens Müller/Henrik Tronier (Hg.), JSNT.S 230, Copenhagen International Seminar 11, London/New York 2002, 32–57, 37; E. LOHSE, Der Brief an die Römer, 215f. 24 So in der Tradition Martin Luthers für V. 14–25 z.B. heute J.D.G. DUNN, Romans 1–8, 411f. 25 So für V. 7–24 G. THEISSEN, Psychologische Aspekte, 204; vgl. R. JEWETT, Romans, 444f; J. LAMBRECHT, The wretched "I" and its liberation, 90 und T. ENGBERG-PEDERSEN, Reception, 37. 26 So für Röm 7,7–13, J.D.G. DUNN, Romans 1–8, 404 und C.E.B. CRANFIELD, Romans I–VIII, 342f. 23
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Perspective on Paul“ vertritt damit nicht nur einen Bruch in der Situation, auf die sich Röm 7,7–23 bezieht, sondern auch einen Wechsel in der Identifikation des „Ich“. Während G. THEISSEN nach kritischer Auseinandersetzung mit W.G. KÜMMELS älterer, klassischer These eines fiktiven „Ich“ in Röm 7, ein „Ich“ vermutet, das in beiden Teilen „persönliche und typische Züge“,27 also Züge des Paulus und aller Menschen vereint, bezieht J.D.G. DUNN den ersten Teil (V. 7– 13) auf alle Menschen28 und nur den zweiten Teil (V. 14ff) vorrangig auf die Person des Paulus.29 Gegen diesen von J.D.G. DUNN vorausgesetzten „Wechsel“ in der Person des „Ich“ vom allgemeinmenschlichen zum persönlichen „Ich“ ist einzuwenden, dass Paulus vom damaligen Hörer nicht erwarten konnte, einen solchen Wechsel zu bemerken. J.D.G. DUNN schneidet diesen kritischen Punkt selber an: „perhaps the first listeners would not notice it straightaway“.30 Wenngleich dieselben „Beweise“ für die Interpretation von Röm 7 zugrunde gelegt werden, die paulinischen Aussagen in Röm 7,9 und Phil 3,4–6 sowie der wechselnde Gebrauch von Präteritum und Präsens in Röm 7, gelangen die Interpreten doch zu sehr verschiedenen Ergebnissen. Obwohl Röm 7,9 in Spannung zur faktischen Biographie des Paulus steht, der Zeit seines Lebens nie „ohne Gesetz“ lebte, kann die Stelle mit G. THEISSEN als Auseinandersetzung mit einem persönlichen vorchristlichen Gesetzeskonflikt des Paulus interpretiert werden. Sie muss sich nicht, wie von J.D.G. DUNN vertreten, ohne spezifischen Bezug auf Paulus auf Schöpfung und Fall des Menschen beziehen. Paulus Beteuerung seines „untadeligen“ Gesetzesgehorsams in Phil 3, die einer offenen Problematisierung seines Gesetzesgehorsams entbehrt, ist kein Garant für ein tatsächlich unproblematisches Verhältnis zum Gesetz. Während G. THEISSEN seine Interpretation auf die Beobachtung stützt, dass das im ersten Teil verwendete Präteritum stärker individualisiert als das Präsens und dass das im zweiten Teil verwendete Präsens eher verallgemeinert,31 führt J.D.G. DUNN die Verwendung des Präsens im zweiten Teil als Indiz für eine nachchristliche Situation an. Bereits in Auseinandersetzung mit der Position von W.G. KÜMMEL hat G. THEISSEN belegt, dass es, über die 16 von W.G. KÜMMEL als Analogie zu Röm 7,9 angeführten Stellen hinaus, 18 weitere Ich-Aussagen mit den drei Merkmalen von Röm 7,9 (explizites evgw, unbedingter Aussagesatz, Präteritum) gibt, in denen das Ich fast überall eindeutig persönlich ist.32 Darüber hinaus führt er sechs Stellen mit
27
G. THEISSEN, Psychologische Aspekte, 204. Vgl. J.D.G. DUNN, Romans 1–8, 404. 29 Vgl. ebd., 404, 407. 30 Ebd., 405. 31 Vgl. G. THEISSEN, Psychologische Aspekte, 199. 32 Vgl. ebd., 202. 28
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Der Widerstreit zwischen Wollen und Tun in Röm 7,14–25
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präteritalen evgw,-Aussagen in den Gesprächen Epiktets an, die alle eindeutig autobiographisch zu verstehen seien.33 Das „Ich“ in Röm 7
Situation V. 7–13
Identifikation
alle Menschen
vorchristlich J.D.G. DUNN: 34 „The contrast between life before the law came, and sin and death consequent upon its coming, is too sharp to serve as a description of any period of human (or Israelite) history, whereas it makes clear and good sense as a reference pointing back to man’s created state and fall (Gen 2,7.16–17).“ „I“ = Adam = man, every human being, no specific self-reference to Paul. G. THEISSEN: 35
&
Paulus
typisches Ich; mithilfe der Adamrolle deutet Paulus seinen eigenen Konflikt als einen allgemeinmenschlichen. G. THEISSEN: persönliches Ich; Begründung: Präteritum individualisiert stärker als das Präsens; Paulus übernimmt die Rolle Adams zur Strukturierung eines persönlichen Konflikts.
V. 14ff
vorchristlich
alle Menschen
G. THEISSEN: Präsens verallgemeinert eher. G. THEISSEN: existenzieller Konflikt
&
Paulus
nachchristlich
J.D.G. DUNN: 36 „Paul probably intended the universal ‚I‘ of Adam to be kept in mind, but the following verses are clearly a personal testimony“; Wegen Phil 3,4–6 muss dies nachchristlich sein; „present“.
Das unerfüllbare Gesetz bei Paulus
33
Vgl. ebd., 202f. Vgl. J.D.G. DUNN, ROMANS 1–8, 401.404. 35 Vgl. G. THEISSEN, Psychologische Aspekte, 194–204. 36 Vgl. J.D.G. DUNN, Romans 1–8, 404.407. 34
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Das unerfüllbare Gesetz bei Paulus
8.2.3 Traditionen hinter dem Widerstreit zwischen Wollen und Tun 8.2.3.1 Medea Medea, die Heldin der gleichnamigen Tragödie des griechischen Dichters Euripides, wurde in der Antike zum Paradigma des Widerstreits zwischen guter Einsicht und schlechtem Handeln im Menschen. 37 Im Wissen um die Schlechtigkeit ihrer Tat lässt sich Medea von leidenschaftlichen Rachegefühlen wegen der Untreue ihres Mannes Iason dazu hinreißen, ihre Kinder zu ermorden. Euripides’ pessimistische These, der Mensch handle auch wider bessere Einsicht schlecht, erregte den Widerspruch des Sokrates. Sokrates vertrat gegen Euripides die These des „Tugendwissens“, nach der der Mensch das, was er als gut erkannt hat, auch in der Praxis umsetzt. Schlechtes Handeln kommt laut Sokrates nur durch Unwissenheit oder durch Täuschung um das größere Gut zustande. Offensichtlich ließ sich Euripides von seiner Überzeugung der überwältigenden Macht der Leidenschaft nicht abbringen. Wenige Jahre nach Aufführung seiner „Medea“, lässt Euripides im „Hippolytos“ seine Phaidra eine ähnlich verzweifelte Rede wie seine Medea halten. Auch bei Chrysipp ist Euripides’ Ansicht, der Mensch handle oft wider besseres Wissen, bezeugt. Eine zeitliche und sachliche „Brücke“ bis zum 7. Kapitel des Römerbriefs bilden Texte von Plautus, Diodor und Ovid, in denen das Tun schlechter Handlungen wider besseren Wissens thematisiert wird. 38 Epiktet ist Vertreter einer kognitiven Deutung (von Medeas Konflikt), Ovid ist Vertreter einer affektiven Deutung. 39 8.2.3.2 Seelentod In der jüngeren Forschung hat EMMA WASSERMAN in ihrer Dissertation „The Death of the Soul in Romans 7: Sin, Death, and the Law in Light of Hellenistic Moral Psychology“ eine Interpretation von Röm 7,7–25 als „Seelentod“ vorgelegt. Ihre These stützt sich vor allem auf die Vorstellung des „Seelentods“ bei Philo von Alexandrien, der dieses Phänomen an mehreren Stellen behandelt. Als Paradigma für die Vorstellung des Seelentodes
37 Vgl. H. HOMMEL, Das 7. Kapitel des Römerbriefes im Licht antiker Überlieferung, ThViat VIII, 1961/1962, 90–116, 106–116. Vgl. G. THEISSEN, Psychologische Aspekte, 214–223. H. JACOBSON, Ovid´s Heroides, Princeton 1974, 109–123, führt mindestens 17 griechische und lateinische Autoren an, von denen er annimmt, dass sie sich auf Medea beziehen. 38 Vgl. H. HOMMEL, Das 7. Kapitel des Römerbriefes im Licht antiker Überlieferung, 110–112. 39 Vgl. G. THEISSEN, Psychologische Aspekte, 218f.
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Der Widerstreit zwischen Wollen und Tun in Röm 7,14–25
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bei Philo dient E. WASSERMAN LA I 105–108, eine Auslegung von Gen 2,17 in der Sündenfallgeschichte. 40 E. WASSERMAN wendet jedoch ausschließlich Philos platonisch inspirierte Gedanken auf Röm 7 an und vernachlässigt typisch jüdisches Gedankengut. In LA I 105–108 entwickelt Philo auf dem Hintergrund platonischer Moralpsychologie die Vorstellung des Seelentodes. 41 Gott droht in LA I 105–108 Adam als Strafe für das Essen der verbotenen Frucht den Seelentod an. Unter Seelentod versteht Philo das Unterliegen der positiven Seelenteile gegenüber den negativen Seelenteilen zu Lebzeiten des Menschen. Der Gedanke des Seelentodes geht wahrscheinlich auf Philo selber zurück. Er ist außerhalb von Philo nicht belegt. Zwar bezieht sich Philos Seelentod auf die Situation des Menschen zu Lebzeiten und nicht auf die Situation nach dem Tod, doch allein der Gedanke an einen „Tod der Seele“ wird für platonisch geprägte Denker sperrig gewesen sein.42 E. WASSERMAN findet einige Parallelen zwischen LA I 105–108 und Röm 7, die es ihr erlauben, den philonischen Gedanken des Seelentodes auf Röm 7,7–25 zu übertragen: beiden Stellen gemeinsam ist der metaphorische Gebrauch von „Tod“43 und der Kampf der guten und schlechten Teile der Seele. Als Analogien für den Kampf der Seelenteile und den Sieg des schlechten Teils über den guten, zieht E. WASSERMAN platonische Texte heran, die die Situation eines akolastes beschreiben. Ein akolastes ist laut E. WASSERMANS Definition eine Person, für die unmoralisches Verhalten normativ geworden ist und deren Verstand ohnmächtig ist, das schlechte Verhalten, welches er missbilligt und beklagt, zu ändern. Gegenüber den meisten bisherigen Interpretationen von Röm 7 hat die Interpretation von E. WASSERMAN den Vorzug, dass sie ein und dieselbe Tradition hinter dem gesamten Monolog Röm 7,7–25 sieht und nicht zwischen verschiedenen Traditionen in Röm 7,7–13 einerseits und Röm 7,14–25 andererseits trennen muss. Bisher wurde in der Forschung eher zwischen einer Adam40 Neben LA I 105–108 führt E. WASSERMAN, The Death of the Soul in Romans 7. Sin, Death, and the Law in Light of Hellenistic Moral Psychology, 2005, 99f (http://proquest.umi.com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/pqdweb?index=0&did=1063793901& SrchMode=1&sid=1&Fmt=6&VInst=PROD&VType=PQD&RQT=309&VName=PQD&TS=125 1386781&clientId=21097), QG I 16; det. 74f und LA III 52 als Belegstellen für den „Seelentod“ bei Philo an. Zu einer eingehenderen Analyse des „Seelentodes“ bei Philo vgl. D. ZELLER, „The Life and Death of the Soul in Philo of Alexandria: The Use and Origin of the Metaphor.“ Studia Philonica Annual 7 (1995). 41 Vgl. E. WASSERMAN, The Death of the Soul, 89–91. 42 Vgl. ebd., 94: „Zeller provides a partial explanation, arguing that the other writers probably avoided using the language of death and dying because it would seem at odds with maintaining the soul´s immortalilty.“ 43 Vgl. ebd., 98f.
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Das unerfüllbare Gesetz bei Paulus
tradition im ersten Teil Röm 7,7–13 und der Medeatradition Röm 7,14–25 im zweiten Teil unterschieden. Das Problem des Selbstwiderspruchs, für das Medea paradigmatisch geworden ist, steht auch für E. WASSERMAN im Hintergrund von Röm 7. Sie kritisiert lediglich, dass der Selbstwiderspruch bisher als Problem eines avkrath,j44 gedeutet wurde, obwohl es auch auf einen avko,lastoj45 angewandt werden kann und symptomatisch für eine Person ist, die unter dem Tod der Seele leidet. Obwohl sich die als Beispiel für den Seelentod bei Philo angeführte Stelle LA I 105–108 auf eine gegen Adam gerichtete Strafandrohung bezieht, unterlässt E. WASSERMAN eine Interpretation des ersten Teils von Röm 7 auf dem Hintergrund der jüdischen Adamtradition und verfolgt ausschließlich ihre These, eine Interpretation von Röm 7 als „Tod der Seele“. Die von E. WASSERMAN vorgenommene Trennung von „Adam“ und „Seelentod“ ist nicht nur deshalb zu kritisieren, weil die jüdische Tradition zugunsten der platonischen ausgeblendet wird. Sie ist auch zu beanstanden, weil Adam von Philo an mehreren Stellen mit dem „Seelentod“ in Verbindung gebracht wird: in QG I 16 findet sich eine weitere Auslegung von Gen 2,17 und in LA III 52 legt Philo die von Gott an Adam gerichtete Frage „Wo bist du?“ mithilfe des „Seelentodes“ aus. Durch das Nichtberücksichtigen der Adamtradition wendet sich WASSERMAN nicht nur gegen eine Identifikation des Ich in Röm 7,7–14 mit dem Ich Adams, sondern gegen die mit der Adamtradition verbundene Vorstellung, dass Gebote zur Übertretung anstacheln. Einen Hinweis auf das allgemeinpsychologische Phänomen „Das Verbotene reizt“ lässt E. WASSERMAN als Analogie zum ersten Teil von Röm 7 nicht gelten. Sie kritisiert, dass H. RÄISÄNEN auf Augustin im 4. nachchristlichen Jh. zurückgreifen muss, um eine Analogie für das Prinzip zu finden, dass das Gebot zur Sünde anstachelt.46 Bis zur Tempelzerstörung fänden sich lediglich Traditionen, nach denen die Schlange zur Sünde anstachelt, nicht jedoch das Gesetz.47
44 Das Adjektiv avkrath,j wird von W. GEMOLL/K. VRETSKA (Hg.), Griechisch-deutsches Schulund Handwörterbuch, München 102006, 28, als „ohne Kraft, nicht enthaltsam, unmäßig, ausschweifend“ übersetzt. Vgl. auch F. BUDDENSIEK, Art. akrasia, in: Christoph Horn, Christof Rapp (Hg.), Wörterbuch der antiken Philosophie, München 2002, 29f, wo akrasia mit „Unbeherrschtheit, Mangel an Selbstkontrolle, [Willens-] Schwäche“ wiedergegeben wird. 45 Vgl. auch F. BUDDENSIEK, Art. akolastos, in: Christoph Horn, Christof Rapp (Hg.), Wörterbuch der antiken Philosophie, München 2002, 28, wo avko,lastoj mit „zügellos, ungezügelt“ übersetzt wird. 46 Vgl. E. WASSERMAN, The Death of the Soul, 167, Anm. 29. 47 Vgl. ebd., 168.
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Der Widerstreit zwischen Wollen und Tun in Röm 7,14–25
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8.2.4 Das Bewusstwerden des Konflikts Beide Teile von Röm 7,7ff schildern auf verschiedene Weise ein Bewusstwerden des Konflikts mit dem Gesetz. Der erste Teil, Röm 7,7–13, schildert das Getäuschtwerden durch die Sünde bis zum Offenbarwerden der Sünde. Der zweite Teil, Röm 7,14–24, schildert das Nichtverstehen des Konfliktes bis zum Aufspüren seiner Gesetzmäßigkeit.48 Der Grad des Bewusstseins über den Zusammenhang von Gesetz und Sünde lässt sich am Gebrauch kognitiver Verben festmachen. Der erste Teil enthält lediglich in V. 7 zwei kognitive Verben, in V. 8–11 finden sich keine kognitiven Verben, sondern im Gegenteil das Motiv eines durch die Sünde getäuschten Ich.49 Dass dem ersten Teil zwei kognitive Verben vorangestellt sind (ginw,skein und eivde,nai), spricht nicht gegen die These, dass Röm 7 das Bewusstwerden eines unbewussten Konflikts mit dem Gesetz schildert. Der Gedankengang des Paulus bildet den Prozess des Bewusstwerdens nicht chronologisch ab. Es ist anzunehmen, dass das Bewusstsein am Ende des Prozesses von Täuschung und Erkenntnis steht, sodass das Erkennen der Sünde aus V. 7 und die Schlusserkenntnis aus V. 13 faktisch zusammenfallen. Auch der zweite Teil setzt mit einem „Wissen“ ein. Doch dieses „Wissen“ berührt noch nicht die Tiefendimension des Konfliktes und wird im Folgenden Schritt für Schritt durch bewusste Einsicht ersetzt (su,mfhmi, V. 16; oi=da, V. 18).50 Während der erste Teil mit eu`re,qh im Passiv (Röm 7,10) ein objektives Geschehen schildert, zeigt das eu`ri,skw im Aktiv (Röm 7,21) einen subjektiven Verstehensvorgang an.51 Gegenüber dem ersten Teil findet sich im zweiten Teil auch in dieser Hinsicht ein Zuwachs an persönlicher Beteiligung am Erkenntnisprozess.
48
Vgl. G. THEISSEN, Psychologische Aspekte, 234f. Vgl. ebd., 232. 50 Vgl. ebd., 233. 51 Vgl. ebd., 235. 49
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Das unerfüllbare Gesetz bei Paulus
8.2.5 Exkurs: Der erlöste Christ als „simul iustus et peccator“? Aufgrund berechtigter Argumente ist umstritten, an welchen Stellen Paulus im Einzelnen den unerlösten Menschen im Blick hat, ob Paulus neben Röm 3 auch in Röm 7,14ff vom unerlösten Menschen spricht. An der Tatsache dass er für den unerlösten Menschen eine pessimistische Anthropologie unter dem Verdikt totus peccator vertritt, besteht jedoch kein Zweifel. Als schwieriger erweist sich die Frage nach der paulinischen Anthropologie mit Blick auf den erlösten Menschen. Wie verhalten sich beim erlösten Menschen „Sündenpessimismus“ (totus peccatus) und „Gerechtigkeitsoptimismus“ (totus iustus) zueinander? Wird der Mensch durch Christus und den Geist zu einem moralisch(er)en Leben befähigt? Inwiefern trifft die Formel simul iustus et peccator auf die paulinische Anthropologie zu? Die diskutierten Verhältnisbestimmungen von peccatus und iustus im erlösten Menschen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Verhältnis peccatus/iustus für erlöste Christen Gerechtigkeitsoptimismus ohne Sünde
Position und Vertreter
Begründung
Bedeutung des simul
Die Gemeinde wird als „sündenfreitotus iustus (H. UMBACH) er Raum“ interpretiert. 52
Gerechtigkeitsiustus nach optimismus peccatus zeitlich nach Sündenpessimismus
In Röm 7f hat die Herrschaft des Geistes die der Sünde im Fleisch definitiv abgelöst; übergeordnetes Argumentationsziel: die Wirklichkeit des Gerechtfertigtseins in einem gottwohlgefälligen Leben (8,1ff) soll gegenüber dem judenchristlichen Verdacht, Paulus’ „Rechtfertigungslehre“ entleere das Ethos der Tora, erwiesen werden.
Gerechtigkeitsoptimismus trotz Sünde
simul iustus et peccator
Notwendigkeit der Paränese potenzielle (Röm 6); unter eschatologischem Sünde Vorbehalt von der Sünde befreit
Gerechtigkeitsoptimismus und Sündenpessimismus
simul iustus et peccator (M. THEOBALD) 53
A) Gegenwärtiger Streit der beiden gegenMächte Geist und Fleisch unter dem wärtige Vorzeichen der Paränese („Prätext“: Anfechtung Gal 5,16–18)
52
Vgl. H. UMBACH, In Christus getauft – von der Sünde befreit. Die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus, Dissertation, Göttingen 1992. 53 Vgl. M. THEOBALD, Der Römerbrief, EdF 294, Darmstadt 2000, 249f.
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Vergleich des Sündenpessimismus
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B) Vergangener Streit der beiden vergegenMächte als erinnerte Klage (7,24) wärtigte und Danksagung (7,25 und 8,1) Sünde beschreiben zusammen/zugleich (simul) den Ort des Gerechtfertigten im Angesicht Gottes. Ritualdynamik: Das Zugleich wird im personalen Vollzug der Erinnerung und Danksagung vergegenwärtigt; E. LOHSE 54 schreibt zu V. 25: „Dieser Dank wird im Glauben an Christus ausgesprochen, der die Situation des unter Sünde und Gesetz geknechteten Menschen in der Gewißheit betrachtet, daß die Befreiung aus der Gefangenschaft schon erfolgt ist (vgl. 8,2).“
Die Interpretation der christlichen Gemeinde in den Paulusbriefen als „sündenfreier Raum“ ist wahrscheinlich zu einseitig. Einer solch optimistischen Interpretation, in der die Sünde für den Christen überwunden ist, wird man dann zustimmen können, wenn man berücksichtigt, dass Aussagen über die Sündlosigkeit eines Christen in Röm 7f im Dienst des übergeordneten Argumentationsziels stehen, das die Wirklichkeit des Gerechtfertigtseins in einem gottwohlgefälligen Leben erweisen und die Rechtfertigungslehre des Paulus vor dem judenchristlichen Verdacht bewahren soll, sie entleere das Ethos der Tora.
8.3 Vergleich des Sündenpessimismus in 4. Esra, in den HôdƗMôt und im Römerbrief Vergleich des Sündenpessimismus
Den im zweiten Kapitel des ersten Hauptteils vorgestellten Texten ist eine pessimistische Sicht auf die moralischen Fähigkeiten des Menschen gemeinsam. Wir fanden pessimistische Äußerungen sowohl als zurückgewiesene als auch als akzeptierte Äußerungen vor: zurückgewiesen wurden sie im Buch 4. Esra, offen geäußert und akzeptiert wurden sie in den HôdƗMôt aus Qumran. Im 4. Esrabuch, einer apokalyptischen Schrift aus der Zeit um 100 n.Chr., weist Uriel, der angelus interpres, die pessimistische, selbsterniedrigende Rede des Sehers Esra zurück und richtet sich damit gegen zeit54
Vgl. E. LOHSE, Der Brief an die Römer, 224.
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Das unerfüllbare Gesetz bei Paulus
genössische skeptische Äußerungen, von denen der Verfasser selber angesteckt gewesen sein könnte. Ihren Höhepunkt erreicht Esras pessimistische Sicht auf den Menschen im Sündenbekenntnis, der Confessio Esdrae, die sich an der Tradition der Bußgebete orientiert haben dürfte. Resonanz fanden pessimistische Beschreibungen der Natur des Menschen schon im zweiten vorchristlichen Jh. in den Niedrigkeitsdoxologien der Dankgebete aus Qumran. Die HôdƗMôt drücken die Niedrigkeit sprachlich vor allem als Kreatürlichkeit aus. Auch in nichtreligiösem Kontext führten moralpsychologische Beobachtungen Griechen und Römer zu der Erkenntnis, dass niemand ohne Sünde ist und der Mensch mehr oder weniger stark seinen Leidenschaften unterliegt. Die sündenpessimistischen Aussagen des Paulus speisen sich sowohl aus der jüdischen Tradition (Feindesklagen in Röm 3, Adamtradition in Röm 7) als auch aus Versatzstücken griechisch-römischer Moralpsychologie (Medeatradition und „Seelentod“ in Röm 7). In Röm 7,14–25 äußert sich die pessimistische Anthropologie des Paulus nicht durch eine reiche negative Attribuierung des Menschen wie in den HôdƗMôt und der Katene Röm 3,10–18, sondern schlicht durch die Variation des allgemeinpsychologischen Prinzips: Das Gute, das ich will, tue ich nicht. Die Kontexte, in denen der Sündenpessimismus im Judentum zum Ausdruck kommt, sind sehr verschieden: Die Skepsis im 4. Esrabuch entstand in einer situativen Krise, der Zerstörung des Zweiten Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n.Chr., die Niedrigkeitsdoxologien aus Qumran werden in dankbarer Gewissheit um Gottes Rettung im Gebet gesprochen und Paulus äußert seinen Pessimismus aufgrund persönlicher vorchristlicher Erfahrung, die er darüber hinaus – wie auch die antike Moralpsychologie zeigt –, als typische Erfahrung vieler Menschen verstanden haben wird. Nicht immer sind sündenpessimistische Aussagen mit einer Kritik an den Forderungen der Tora verbunden: Galt den Qumranfrommen das Gesetz unbestritten als Weg des Heils, so bestreitet Paulus angesichts der Sündhaftigkeit aller Menschen (Röm 3,10–18) und persönlich-typischer Erfahrung (Röm 7) die Möglichkeit, durch Befolgung des Gesetzes Heil zu erlangen. Mit seiner Feststellung, das Gute, das er wolle, tue er nicht, die in der Beschreibung der Tora als „Gesetz der Sünde und des Todes“ gipfelt, bezweifelt Paulus – ähnlich wie der Seher im Buch 4. Esra – die Erfüllbarkeit des Gesetzes angesichts der Unvollkommenheit des Menschen.
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9. Das ritualistische Gesetz bei Paulus. Die Kritik an einer veräußerlichten Beachtung von Ritualgesetzen
Das ritualistische Gesetz bei Paulus
Als Heidenmissionar setzt sich Paulus kritisch mit dem Wert von jüdischen Ritualgesetzen für Heiden auseinander. Dabei macht er deutlich, dass die innere Haltung stets höher zu bewerten ist als das bloße Befolgen von Riten und stellt mitunter polarisierend einer rein äußerlichen, ritualistischen Beachtung der Beschneidung die wahre verinnerlichte Beschneidung entgegen (9.1). Im Römerbrief bezieht Paulus anlässlich der Abstinenz von Fleischund Weingenuss einiger Gemeindeglieder Stellung zum wahren Umgang mit Speisevorschriften (9.2). Nach einer Darstellung von Paulus’ differenzierten Aussagen zu Ritualgesetzen erfolgt (9.3) ein Vergleich mit der Kritik an einer ritualistischen Gesetzesobservanz in der jüdischen und paganen Umwelt.
9.1 Über die wahre Beschneidung Über die wahre Beschneidung
Für Paulus wurde das Halten eines jüdischen Ritualgesetzes, und zwar der Beschneidung, im Zuge seiner Heidenmission zum Problem. Bei der Nabatäermission war die Frage der Beschneidung noch unproblematisch, da die Nabatäer, Verwandte der Juden, beschnitten waren. 1 Während seiner antiochenischen Mission wurde Paulus jedoch mit der Frage konfrontiert, ob sich Heidenchristen beschneiden lassen sollen. 2 Auf dem Apostelkonvent wurde ihm schließlich das Recht der beschneidungsfreien Heidenmission bestätigt (vgl. Gal 2,9; Apg 15,10–12.19). Paulus’ Kritik an der Beschneidung richtet sich in seinen Briefen gegen drei negative Begleiterscheinungen dieses Ritualgesetzes. Er kritisiert erstens die mit der Beschneidung als „boundary marker“ verbundene Gefahr der Ausgrenzung, zweitens eine nomistische Fehlhaltung, die im „Sich-derBeschneidung-Rühmen“ zum Ausdruck kommt (Phil 3,3 und Gal 6,13) und 1 Vgl. M. HENGEL/A.M. SCHWEMER, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels, WUNT 108, Tübingen 1998, 174–207. 2 Wann genau und wodurch der Konflikt ausgelöst wurde, lässt sich nicht sagen. Vgl. U. SCHNELLE, Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003, 120, Anm. 13.
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Das ritualistische Gesetz bei Paulus
drittens das Phänomen einer veräußerlichten, heuchlerischen Frömmigkeit, die sich zur Konfliktvermeidung 3 zwar an Riten hält (Gal 6,12), aber Gottes Gebote missachtet (Gal 6,13). Bei Paulus finden wir im Blick auf Heidenchristen und Juden verschiedene Bewertungen der Beschneidung: Die Beschneidung als jüdisches Bundeszeichen hält er für Heidenchristen, die durch Taufe und Geistempfang bereits vollwertiger und gleichberechtigter Teil des Volkes Gottes sind, 4 für bedeutungslos. Laut Paulus kann ein Christ seinem Heilsstand nichts durch Beschneidung hinzufügen (vgl. Gal 5,2). Der Beschneidung der Juden begegnet er nicht grundsätzlich abwertend, macht den Wert ihrer Beschneidung jedoch vom Halten der Gebote abhängig (vgl. Röm 2,25). Paulus’ besonnene und differenzierte Äußerungen zur Beschneidung konnten in der Auseinandersetzung mit Gegnern in scharfe Kritik umschlagen. Als hellenistische Judenchristen (oder beschnittene Heidenchristen) in den galatischen Gemeinden eine Gegenmission betreiben und die Beschneidung als heilsnotwendiges Zeichen predigen, lässt sich Paulus zu polemischen Äußerungen gegen die Beschneidung hinreißen. Er stellt die Beschneidung und das Ärgernis des Kreuzes als einander ausschließend gegenüber und verschmäht die Beschneidung der Gegner als „Kastration“ (vgl. Gal 5,12: :Ofelon kai. avpoko,yontai) und später im Philipperbrief als „Zerschneidung“ (Phil 3,2: katatomh,). Die Verinnerlichung der Beschneidung bei Paulus, der im Folgenden nachgegangen werden soll, äußert sich in drei Formen: in der Bindung der Beschneidung an das Halten der Gebote (9.1.1), in der Vorstellung einer Beschneidung des Herzens durch den Geist (9.1.2) und in der Identifikation der Christen mit den wahrhaft Beschnittenen (9.1.3). 9.1.1 Das Halten der Gebote (1Kor 7,19; Röm 2,25–27; Röm 4,9–12) Für Paulus ist die wahre Beschneidung an das Halten der Gebote Gottes und an einen Wandel im Glauben gebunden. So schreibt er: 1Kor 7,19: „Beschnitten sein ist nichts, und unbeschnitten sein ist nichts, sondern: Gottes Gebote halten.“ 5 h` peritomh. ouvde,n evstin kai. h` avkrobusti,a ouvde,n evstin(avlla. th,rhsij evntolw/n qeou/Å
3
Vgl. G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen, 302. Vgl. U. SCHNELLE, Paulus, 124. 5 Übersetzung nach: Die Bibel. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984, nach der Übersetzung Martin Luthers, Hrsg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland..., Stuttgart 1991. 4
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Über die wahre Beschneidung
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Röm 2,25–27: „Die Beschneidung ist nützlich, wenn du das Gesetz befolgst; übertrittst du jedoch das Gesetz, so bist du trotz deiner Beschneidung zum Unbeschnittenen geworden. 26 Wenn aber der Unbeschnittene die Forderungen des Gesetzes beachtet, wird dann nicht sein Unbeschnittensein als Beschneidung angerechnet werden? 27 Der leiblich Unbeschnittene, der das Gesetz erfüllt, wird dich richten, weil du trotz Buchstabe und Beschneidung ein Übertreter des Gesetzes bist.“ 6 Röm 4,9–12: „Gilt nun diese Seligpreisung nur den Beschnittenen oder auch den Unbeschnittenen? Wir haben gesagt: Abraham wurde der Glaube als Gerechtigkeit angerechnet. 10 Wann wurde er ihm angerechnet: als er beschnitten oder als er unbeschnitten war? Nicht als er beschnitten, sondern als er noch unbeschnitten war. 11 Das Zeichen der Beschneidung empfing er zur Besiegelung der Glaubensgerechtigkeit, die ihm als Unbeschnittenem zuteil wurde; also ist er der Vater aller, die als Unbeschnittene glauben und denen daher Gerechtigkeit angerechnet wird, 12 und er ist der Vater jener Beschnittenen, die nicht nur beschnitten sind, sondern auch den Weg des Glaubens gehen, des Glaubens, den unser Vater Abraham schon vor seiner Beschneidung hatte.“ 7
Es entspricht jüdischer Tradition, dass die Beschneidung nicht an sich ein Heilsmittel ist, sondern nur von Bedeutung ist, wenn sie als Zeichen und Beginn eines Lebens nach der Tora verstanden wird. 8 So bezeugt Josephus (ant.Iud. 13,257), dass die besiegten Idumäer im Land wohnen bleiben durften, wenn sie sich beschneiden ließen und bereit waren, nach den jüdischen Sitten zu leben. 9 Josephus (ant.Iud. 20,41) berichtet sogar von einer jüdischen Missionspraxis, die der Praxis des Apostel Paulus sehr nahe kam: Im Fall des Izates von Adiabene konnte auf dessen Beschneidung verzichtet werden, wenn der Bekehrte Gott verehrt und der jüdischen Tradition nacheifert. 10 Dies sei entscheidender sei als das Beschnittenwerden. 11 Das Halten der Gebote Gottes, die th,rhsij evntolw/n, von der Paulus in 1Kor 7,19 spricht, wird in vergleichbarer Weise im Buch Jesus Sirach 32,23 verinnerlicht. 12 Hier steht das Halten der Gebote sogar mit dem Vertrauen auf die eigene Seele in Zusammenhang: evn panti. e;rgw| pi,steue th/| yuch/| sou kai. ga.r tou/to, evstin th,rhsij evntolw/n.
6
Übersetzung nach: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Übersetzung nach: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. 8 Vgl. K. HAACKER, Der Brief des Paulus an die Römer, 72. 9 Vgl. ebd., 72. 10 Vgl. ebd., 72. 11 Vgl. ebd., 72. 12 Vgl. CHR. WOLFF, I Kor, 149. 7
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Das ritualistische Gesetz bei Paulus
9.1.2 Die Beschneidung des Herzens durch den Geist (Röm 2,28f) In Röm 2,28f gilt Paulus die „Beschneidung des Herzens“ durch den Geist als die wahre Beschneidung: Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, auch ist nicht das die Beschneidung, die äußerlich am Fleisch geschieht; sondern der ist ein Jude, der es inwendig verborgen ist, und das ist die Beschneidung des Herzens, die im Geist und nicht im Buchstaben geschieht. Das Lob eines solchen ist nicht von Menschen, sondern von Gott.13
Von der Beschneidung des Herzens ist außerhalb der Paulusbriefe im Neuen Testament nur in der Stephanusüberlieferung (Apg 7,51) die Rede. Im Alten Testament hingegen ist das Motiv der Beschneidung des Herzens vielfach bezeugt. Es hat eine lange Tradition, die bis in die vorexilische Zeit zurückreicht: 14 In Jer 4,4 15 und Dtn 10,16 16 ergeht die Forderung an die Juden, die Vorhäute ihrer Herzen zu beschneiden, in Dtn 30,6 17 begegnet das Motiv der Beschneidung des Herzens in Form einer Verheißung. Vom unbeschnittenen Herzen Israels beziehungsweise der Nationen sprechen Lev 26,41; Jer 9,25 und Ez 44,7.9. Als nachbiblische Belege für die Beschneidung des Herzens sind zu nennen: Jub 1,22f; 1QS 5,5; 4Q 184; 4Q 177 fragm. 9; 1QpHab 11,13; OdSal 11,1–3. Wenn die Israeliten dazu aufgefordert werden, ihr Herz zu beschneiden – obwohl sie doch schon beschnitten sind –, so ist mit der Metapher der inneren Beschneidung eine Umkehr mitten im Leben gemeint. Nur eine Stelle sei zitiert, um diesen Sinn der verinnerlichten Beschneidung zu belegen: Und nach diesem werden sie umkehren zu mir in aller Rechtschaffenheit und mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele. Und ich werde beschneiden die Vorhaut ihres Herzens und die Vorhaut des Herzens ihres Samens. Und ich werde ihnen schaffen
13
Übersetzung nach: Die Bibel. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984, nach der Übersetzung Martin Luthers. 14 Vgl. K. HAACKER, Der Brief des Paulus an die Römer, 73 sowie H. HÜBNER, Vetus Testamentum in Novo. Bd. 2, 44–47. 15 Jer 4,4: Beschneidet euch für den HERRN und entfernt die Vorhäute eurer Herzen, ihr Männer von Juda und ihr Bewohner von Jerusalem, damit mein Zorn nicht ausbricht wie ein Feuer und unauslöschlich brennt wegen der Bosheit eurer Taten! (Übersetzung nach: Die Heilige Schrift. Aus dem Grundtext übersetzt, Elberfelder Bibel). 16 Dtn 10,16: So beschneidet denn die Vorhaut eures Herzens und verhärtet euren Nacken nicht mehr! (Übersetzung nach: Die Heilige Schrift. Aus dem Grundtext übersetzt, Elberfelder Bibel). 17 Dtn 30,6: Und der HERR, dein Gott, wird dein Herz und das Herz deiner Nachkommen beschneiden, damit du den HERRN, deinen Gott, liebst mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele, daß du am Leben bleibst. (Übersetzung nach: Die Heilige Schrift. Aus dem Grundtext übersetzt, Elberfelder Bibel).
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Über die wahre Beachtung von Speisevorschriften
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einen heiligen Geist. Und ich werde sie rein machen, damit sie sich nicht von mir wenden von diesem Tag an bis in Ewigkeit. (Jub 1,22f)
9.1.3 Die Christen als die wahrhaft Beschnittenen (Phil 3,3) Aus dieser jüdischen Tradition, die bei denen, die zu Gott umgekehrt sind, von einer Beschneidung des Herzens spricht, ist zu erklären, weshalb Paulus die Christen die wahrhaft Beschnittenen nennt (Phil 3,3). Im Galaterund Römerbrief entfaltet Paulus, was für den Christen an die Stelle der Beschneidung getreten ist. Als neue Kreatur (Gal 6,15) erweist sich der Glaube des Christen in der Liebe (Gal 5,6), die des Gesetzes Erfüllung ist (Gal 5,14; Röm 13,10): Gal 5,6: Denn in Christus Jesus hat weder Beschneidung noch Unbeschnittensein irgendeine Kraft, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist. 18 Gal 6,15: Denn weder Beschneidung noch Unbeschnittensein gilt etwas, sondern eine neue Schöpfung. 19 Phil 3,3: Denn wir sind die Beschneidung, die wir im Geist Gottes dienen und uns in Christus Jesus rühmen und nicht auf Fleisch vertrauen. 20 h`mei/j ga,r evsmen h` peritomh,(oi` pneu,mati qeou/ latreu,ontej kai. kaucw,menoi evn Cristw/| VIhsou/ kai. ouvk evn sarki. pepoiqo,tej
9.2 Über die wahre Beachtung von Speisevorschriften Über die wahre Beachtung von Speisevorschriften
Jüdische Speisegebote wurden, im Unterschied zur Beschneidung, nach allem, was wir aus den Paulusbriefen erfahren, für Heidenchristen nicht zum Problem. Beim antiochenischen Zwischenfall (Gal 2,11–14) sind es Judenchristen, die die Tischgemeinschaft mit Heidenchristen infrage stellen. Für Paulus war die Tischgemeinschaft von Heidenchristen und Judenchristen unproblematisch und sogar erwünscht. In Röm 14 setzt sich Paulus mit innergemeindlichen Spannungen auseinander, die durch den Verzicht der sogenannten „Schwachen“ auf Fleisch- und Weingenuss hervorgerufen wurden. Bei solchem generellen Verzicht auf Fleisch- und Weingenuss
18 Übersetzung in Anlehnung an: Die Heilige Schrift. Aus dem Grundtext übersetzt, Elberfelder Bibel und: Die Bibel. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984, nach der Übersetzung Martin Luthers. 19 Übersetzung nach: Die Heilige Schrift. Aus dem Grundtext übersetzt, Elberfelder Bibel. 20 Übersetzung nach: Die Heilige Schrift. Aus dem Grundtext übersetzt, Elberfelder Bibel.
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Das ritualistische Gesetz bei Paulus
handelt es sich nicht um Erfordernisse jüdischen Toragehorsams. 21 Der Gebrauch des „judengriechischen“ Wortes koino,j in Röm 14,14 legt jedoch die Vermutung nahe, dass es sich bei den „Schwachen“ um Vertreter einer besonders strikten jüdischen Halakha handelte, 22 die durch den Verzicht auf Fleisch und Wein „sogar der versehentlichen Befleckung durch kultisch 'infizierte' Waren“ 23 vorbeugen wollten. Die „Schwachen“ „verurteilten“ (V. 3.10) die „Starken“ für ihren Konsum von Fleisch und Wein. Die „Starken“ wiederum, denen sich Paulus zurechnet (Röm 15,1), „verachteten“ (Röm 14,3.10) die Abstinenz der „Schwachen“. Obwohl Paulus unter Bezug auf das Jesuslogion Mk 7,15 (V. 14) theologisch der Position der „Starken“ zustimmte (V. 16), ermahnte er die „Starken“, nicht durch den Genuss von Fleisch und Wein bei den „Schwachen“ Ärgernis zu provozieren (V. 15). Wenngleich Paulus also der Verzehr von Fleisch und Wein theologisch unproblematisch erscheint, ruft er die „Starken“ um der „Schwachen“ willen zum Verzicht auf. Wieder ist für den wahren Gottesdienst nicht der äußerliche Vollzug beziehungsweise Verzicht einer Handlung entscheidend, sondern die Gesinnung (V. 23), die Nächstenliebe (V. 15) und ein friedliches Miteinander. So argumentiert Paulus (V. 17): „Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist.“
9.3 Vergleich der Verinnerlichung von Geboten bei den „radikalen Allegoristen“, in der jüdischen und griechisch-römischen Umwelt und bei Paulus Vergleich der Verinnerlichung von Geboten
Den im dritten Kapitel des ersten Hauptteils untersuchten Texten war gemeinsam, dass in ihnen rituelle Gebote verinnerlicht wurden. Verinnerlichung von rituellen Geboten kann als Vertiefung der Gesetzesobservanz geschehen, ohne die Praxis der Riten aufzugeben. Sie tritt dann additiv zum äußeren Vollzug der Riten hinzu. Die Beachtung des spirituellen Sinns von Gesetzen soll ursprünglich mit dem äußeren Vollzug einhergehen. Einige Texte zeigen aber, dass sich die Gewichtung auf den spirituellen Sinn verlagern kann, sodass dieser gegen die äußere Praxis ausgespielt werden kann. Die „radikalen Allegoristen“ sahen in der Beschneidung nicht nur einen tieferen Sinn, etwa den, dass der Mensch seine „Affekte und Begierden“ beschneiden muss, sondern sie verzichteten ganz auf die äußere Be21
Vgl. K. HAACKER, Der Brief des Paulus an die Römer, 277. Vgl. ebd., 277f. 23 Ebd., 278. 22
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Vergleich der Verinnerlichung von Geboten
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schneidung. Da rituelle Zeichenhandlungen als identity marker sozial verbinden und als boundary marker sozial trennen, kann Philo auf der einen Seite den „radikalen Allegoristen“ den Vorwurf fehlenden Gemeinschaftssinnes machen; er betont ihre Funktion als soziale identity marker, während Paulus auf der anderen Seite durch Rekurs auf die innere Beschneidung die Gemeinschaft von Juden und Heiden in seinen Gemeinden stärken kann; er beseitigt die Beschneidung als boundary marker. Die Frage nach dem Wert äußerlicher Beschneidung war aufgrund seiner Heidenmission virulent geworden und wurde von den Christianoi in der Gemeinde in Antiochien infrage gestellt. Im 1. Jh. wurde etwa gleichzeitig in Alexandrien, Adiabene (vgl. ant.Iud. 20,41ff) und Antiochien die Beschneidung aus verschiedenen Gründen zur Diskussion gestellt. Gemeinsam ist aber immer, dass rituelle Zeichenhandlungen eine soziale Funktion des Verbindens und Trennens haben.
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10. Das sekundäre Gesetz bei Paulus. Die Kritik an der Posteriorität des Gesetzes in Gal 3,19 und Röm 5,20
Das sekundäre Gesetz bei Paulus
Ein weiteres gesetzeskritisches Motiv besteht bei Paulus in der Posteriorität des Gesetzes. In Gal 3,19 und Röm 5,20 spricht Paulus davon, dass das Gesetz später „hinzugefügt/beigegeben“ worden (Gal 3,19) beziehungsweise „dazwischen hineingekommen“ (Röm 5,20) ist. Die Kritik an der Posteriorität des Gesetzes ist möglicherweise wie bei Philo auch bei Paulus mit einer Kritik an der Partikularität von Einzelgesetzen verbunden, sofern das Gesetz Israels vom universalen Segen Abrahams unterschieden wird. Ähnlich wie Philo von Alexandrien in De Josepho 28ff verwendet Paulus in Gal 3,19 zur Beschreibung des Zusatzcharakters eines partikularen Gesetzes, hier der Tora, das Verb prosti,qhmi. In Gal 3,19 heißt es: „Warum gibt es dann das Gesetz? Wegen der Übertretungen wurde es hinzugefügt (tw/n paraba,sewn ca,rin prosete,qh), bis der Nachkomme käme, dem die Verheißung gilt. Es wurde durch Engel erlassen und durch einen Mittler bekanntgegeben.“ 1 Hier ist das sekundär hinzugekommene Gesetz zwar „nur“ ein Zusatz, aber immerhin Zusatz auf ein Ziel hin. Sein Wert ist zwar durch Posteriorität, Partikularität und bloß mittelbare Kundgabe herabgesetzt, es behält aber eine Funktion in der Heilsgeschichte (10.1). Ein abschließender Vergleich der Wertung der Tora als Volksgesetz für Israel bei Philo und Paulus wird Gemeinsamkeiten in der Kritik an Volksgesetzen und Unterschiede in der Wertung der Tora verdeutlichen (10.2). Der Vorrang der Verheißung gegenüber dem Gesetz
10.1 Der Vorrang der Verheißung gegenüber dem Gesetz 10.1.1 Das Argument der Posteriorität des Gesetzes in Gal 3,1–18 Die Aussage des Paulus, das Gesetz sei „hinzugefügt/beigegeben“ worden (Gal 3,19), findet sich gegen Ende des theologisch-argumentativen Teils des Galaterbriefs (3,1ff), in dem Paulus die Rechtfertigung aus Glauben und nicht aus Werken des Gesetzes verteidigt und auf diese Weise den Galatern 1 Übersetzung nach: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe; Psalmen und Neues Testament; Ökumenischer Text, Katholische Bibelanstalt [u.a.], Stuttgart 1980.
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Das sekundäre Gesetz bei Paulus
darlegt, weshalb sie der Beschneidungsforderung der Gegner des Paulus nicht nachkommen sollen. Bei seiner Argumentation bedient sich Paulus verschiedener Mittel: zuerst eines Erfahrungsarguments (3,1–5), dann eines Schriftbeweises (3,6–14) und schließlich eines Qual wa-chomer-Schlusses 2 anhand eines Beispiels aus der profanen Rechtspraxis (3,15–18). In allen drei Argumentationsgängen findet sich mehr oder weniger nachdrücklich das Argument, dass das Gesetz beziehungsweise die Beschneidung als etwas später Hinzugekommenes weniger gewichtig ist als etwas früher Dagewesenes. 10.1.1.1 Posteriorität der Beschneidung im Erfahrungsargument Zu Beginn von Gal 3 erinnert Paulus die Galater an die Anfangserfahrung ihres Christseins und spielt diesen Anfang gegen eine Fortsetzung aus, indem er (V. 3) das Liebäugeln der Galater mit dem Gesetz zu einer Verleugnung der Anfangserfahrung erklärt: „Nachdem ihr im Geist angefangen habt, wollt ihr jetzt im Fleisch vollenden?“ 3 (evnarxa,menoi pneu,mati nu/n sarki. evpitelei/sqeÈ). 4 10.1.1.2 Implizite Posteriorität der Beschneidung im Schriftbeweis Anschließend argumentiert Paulus schrifttheologisch mit Abraham, dem Vater der Glaubensgerechtigkeit (Gal 3,6–14). Möglicherweise hatten sich Paulus’ Gegner mit ihrer Beschneidungsforderung auf Abraham berufen. Paulus lässt diese Rolle Abrahams unausgesprochen. Auf das Nacheinander von Abrahams Glauben und der späteren Beschneidung geht er nicht explizit ein. Es könnte jedoch im Hintergrund seiner Argumentation stehen und insofern als implizite Argumentation mit der Posteriorität der Beschneidung als etwas weniger Bedeutendem gelten. Paulus stellt die Segensverheißung an Abraham als eine universale Verheißung an alle Völker (Gal 3,8; vgl. Gen 12,3) heraus und betont die Tatsache, dass die Verheißung aufgrund von Abrahams Glauben – und so wird man ergänzen dürften – nicht aufgrund des späteren Werks der Beschneidung an Abraham erging (vgl. Gal 3,6; Gen 15,6). Die Logik, dass etwas Späteres negativ zu bewerten ist, greift allerdings nicht immer: Im Vordergrund der Argumentation stehen hier die an Abraham ergangene universale Segensverheißung und deren
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Vgl. H.-J. ECKSTEIN, Verheißung und Gesetz, 172.176f.185. Übersetzung nach: Die Heilige Schrift. Aus dem Grundtext übersetzt, Elberfelder Bibel. 4 Vgl. K. HAACKER, „Antinomismus“, 388, Anm. 7. 3
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Der Vorrang der Verheißung gegenüber dem Gesetz
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Erfüllung in Christus, die als etwas Früheres und etwas Späteres aufeinander bezogen sind. Das sekundäre Gesetz bei Paulus
10.1.1.3 Posteriorität des Gesetzes im Qual wa-chomer-Schluss In Gal 3,15–18 nimmt Paulus mit einem Qual wa-chomer-Schluss (a minore ad maius) eine kurze Verhältnisbestimmung der Verheißung (evpaggeli,a) an Abraham und des Gesetzes (no,moj) für Israel vor. Er vergleicht dabei die Verheißung an Abraham mit einer „Verfügung“ 5 (diaqh,kh). Zweimal spricht Paulus innerhalb dieses Abschnittes das Phänomen der späteren Hinzufügung an: einmal in Bezug auf das „Leichtere“, die „Verfügung“ eines Menschen, dann in Bezug auf das „Schwerere“, die Verheißung Gottes. Das „Leichtere“, die „Verfügung“ eines Menschen, kann weder aufgehoben noch durch eine Ergänzung (ouvdei.j avqetei/ h' evpidiata,ssetai) geändert werden (V. 15). Folglich kann auch das „Schwerere“, das 430 Jahre später (meta,) erlassene Gesetz des Mose, die von Gott zuvor bestätigte (prokekurwme,nhn) Verheißung nicht vernichten (V. 17). Die Sinaitora ist als andere, zweite diaqh,kh zu interpretieren (vgl. Gal 4,24; 2Kor 3,14), die der diaqh,kh der Verheißung entgegengesetzt ist. 6 Wenn ihr ein Zusatzcharakter zukommt, was zunächst in Spannung zu V. 15 steht, 7 aber in V. 19 bestätigt werden wird, dann handelt es sich um einen Zusatz, der keinen verändernden oder modifizierenden Einfluss 8 auf die erste diaqh,kh hat. CHR. BURCHARD schlägt daher eine Übersetzung von proseqe,th mit „beigeben“ 9 statt „hinzufügen“ vor. 10.1.2 Ziel und Wertung des „später beigegebenen“ Gesetzes in Gal 3,19 Nachdem Paulus so betont den Vorrang der Verheißung gegenüber dem Gesetz herausgestellt hat, ist er den Galatern eine Antwort auf die Frage Ti, ou=n o` no,mojÈ schuldig. Der auf diese Frage folgende Exkurs (Gal 3,19–25) über die zeitlich begrenzte Funktion und den Charakter des Gesetzes birgt 5 Zur Übersetzung durch „Verfügung“ vgl. H.-J. ECKSTEIN, Verheißung und Gesetz, 174f, der eine Analogie zur jüdischen Mattanah herstellt, die schon zu Lebzeiten des Erblassers gültig ist und unveränderlich ist. H.-J. ECKSTEIN weist darauf hin, dass eine Abänderung eines Testaments durch den Erblasser im römischen und hellenistischen Ebrecht möglich war (ebd., 173) und dass ein Testament erst nach dem Tod des Erblassers in Kraft tritt. 6 Vgl. H.-J. ECKSTEIN, Verheißung und Gesetz, 178f. 7 Die sekundäre Textvariante evte,qh deutet auf die Absicht, die Spannung zu Gal 3,15 zu vermeiden. 8 Vgl. H.-J. ECKSTEIN, Verheißung und Gesetz, 192. 9 Vgl. CHR. BURCHARD, Versuch, 67.
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Das sekundäre Gesetz bei Paulus
neben der schon behandelten Frage nach dem Charakter des paidagwgo,j (siehe Kap. 7) viele weitere exegetische Einzelprobleme: Inwiefern setzt Paulus in Gal 3,19 den Gedanken eines juridischen „Zusatzes“ zu einem rechtsgültigen Dokument fort (10.1.2.1)? Welche grammatikalische Funktion hat ca,rin in V. 19? Handelt es sich um ein kausales ca,rin im Sinne von „wegen der Übertretungen“ oder um ein finales ca,rin, das die Übertretungen erst auslöst (vgl. Röm 7,5ff; vgl. Röm 5,20)? Und wie wird die Funktion des Gesetzes interpretiert (10.1.2.2)? Wie wirkt sich die Erwähnung der Gesetzeserlassung durch Engel und der Mittlerschaft des Mose auf die Bewertung des Gesetzes aus? Bringen die Engel die Heiligkeit des Gesetzes zur Geltung oder dessen Minderwertigkeit (10.1.2.3)? 10.1.2.1 Die juridische Metaphorik in Gal 3,19 Allgemein wird anerkannt, dass Paulus in Gal 3,15–18 auf ein Beispiel aus der profanen Rechtssphäre zurückgreift: Ein Testament (diaqh,kh) wird nicht durch einen späteren Zusatz (epidiata,ssetai) 10 außer Kraft gesetzt (avqetei/), wenn es Rechtskraft (kekurwme,nhn) 11 hat (3,15). Das wird in 3,17 aufgegriffen, wenn es heißt, dass ein vorher in Kraft gesetztes Testament (diaqh,khn prokekurwme,nhn) seine Rechtskraft nicht mehr verliert (ouvk avkuroi/). Auch die Rede vom Erbe (klhronomi,a) in 3,18 lässt die juristische Metaphorik noch einmal aufleben. Dass Paulus generell mit juristischen Begriffen vertraut war, hat A. PAPATHOMAS am Beispiel des 1. Korintherbriefs überzeugend nachgewiesen. 12 Entscheidend ist, ob die juristische Metaphorik auch in Gal 3,19 weiter wirkt. Und das ist m.E. eindeutig der Fall. Juridische Begrifflichkeit ist der „Mittler“ (mesi,thj), der zwischen verfeindeten Parteien vermittelt (3,19.20), 13 ferner die Rede von „Übertretungen“ (tw/n paraba,sewn ca,rin). Wenn nun aber generell die juridische Metaphorik des Abschnitts 3,15–18 in 3,19 nachwirkt, dann wird man auch im Hinzufügen des Gesetzes (prosete,qh) Rechtsterminologie annehmen dürfen, wie sie in der Urkunde über den Vertrag zwischen Römern und Juden in 1Makk 8,23–30 10 W. BAUER, Art. evpidiata,ssomai, Griechisch-deutsches Wörterbuch, 19886, Sp. 592: „jurist. t.t., e. Testament mit e. Zusatz versehen“. 11 W. BAUER, Art. kuro,w, Griechisch-deutsches Wörterbuch, 19886, Sp. 935f: „bekräftigen, rechtskräftig machen“. 12 A. PAPATHOMAS, Juristische Begriffe im ersten Korintherbrief des Paulus. Eine semantischlexikalische Untersuchung auf der Basis der zeitgenössischen griechischen Papyri, Tyche: Supplementband 7, Wien 2009. 13 W. BAUER, Art. mesi,thj, Griechisch-deutsches Wörterbuch, 19715, Sp. 1002, spricht von einem „vieldeutigen t.t. aus der hellenist. Rechtssprache“.
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Der Vorrang der Verheißung gegenüber dem Gesetz
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begegnet. Die Juden haben danach das Recht, den Vertrag noch zu ändern: „Falls aber nach (der Annahme) dieser Bestimmungen die einen oder anderen wünschen sollten, (etwas) hinzuzufügen oder zu streichen, sollen sie es nach ihrem Belieben tun, und was sie hinzufügen oder streichen, soll gültig sein (o[ a'n prosqw/sin h' avfelw/sin)“ (1Makk 8,30). Am bekanntesten war die Kanonisierungsformel, die besagt, dass man dem Gesetz nichts hinzufügen und von ihm wegnehmen darf (Dtn 4,2 LXX ouv prosqh,sete pro.j to. r`h/ma o] evgw. evnte,llomai u`mi/n kai. ouvk avfelei/te avpV auvtou/; vgl. Dtn 13,1; Apk 22,18). Philo hat sie in spec. IV 143 mit den Worten kommentiert: „Höchst bewundernswert ist auch jene Vorschrift, dass man nichts hinzusetzen und hinwegnehmen (mhde.n prostiqe,nai kai. avfairei/n), sondern in gleichem und unverändertem Zustand unverrückt die von jeher geltenden Gesetze erhalten solle; es würden ja doch wohl nur ungerechte Bestimmungen hinzugefügt (th.n me.n pro,sqesin tw/n avdi,kwn), ; denn nichts hat der weise Gesetzgeber fortgelassen, was zum Besitze der vollen und ungeschmälerten Gerechtigkeit gehört.“ Das „Hinzufügen“ ist hier also kein Allerweltsverb, sondern hat aufgrund des Kontextes juridische Bedeutung. 14 Nun könnte man dagegen einwenden, dass Paulus in 3,15 den Akt des „Hinzusetzens“ einer sekundären Klausel in einem Testament mit evpidiata,ssetai bezeichnet, während er in 3,19 das Verb prostiqe,nai benutzt. Aber evpidiata,ssetai von 3,15 klingt in diatagei,j in 3,19 nach. Außerdem wechselt die Metaphorik von einem rechtskräftigen „Testament“ (3,15) zum „Gesetz“, mit dem durch die Kanonisierungsformel die Verpflichtung verbunden ist, nichts hinzuzufügen. Das Gesetz selbst wird hier als ein „Zusatz“ bezeichnet. Darin liegt zweifellos eine Abwertung gegenüber dem „Testament“ der Verheißung. Daher stellt sich um so mehr die Frage: Welchen Sinn hat das Gesetz? 10.1.2.2 Die Frage nach dem Ziel des Gesetzes Grammatikalisch kann ca,rin entweder kausal als Angabe des Anlasses der Gesetzgebung oder final als Angabe des Zweckes der Gesetzgebung gemeint sein. Ein kausales Verständnis, „veranlasst wegen der Übertretungen“, kommt sachlich nur infrage, wenn angenommen wird, dass Sünden – nach der Gesetzgebung Übertretungen genannt – bereits vor der Gesetzgebung vorhanden waren. Unabhängig davon, ob man das ca,rin grammatikalisch kausal oder final auffasst, wird man bei der Interpretation von Gal 3,19 nach dem 14 Vgl. H.G. LIDDELL, Art. prosti,qemi, in: ders., A Greek-English Lexicon, 1527 III. Das Verb findet sich „especially of adding articles to statements or documents“.
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Ziel des Gesetzes fragen wollen. Die Annahme eines grammatikalisch kausalen ca,rin, das den Grund der Gesetzgebung angibt, schließt für den Interpreten die zusätzliche Frage nach dem Ziel der Gesetzgebung nicht aus. Selbst wenn also ca,rin kausal gemeint ist im Sinne von „das Gesetz wurde wegen der Übertretungen, die schon vor dem Kommen des Gesetzes da waren, hinzugefügt“, so weist dieses kausale ca,rin einen jeden Interpreten des Textes über die Feststellung des Anlasses der Gesetzgebung hinaus auf die Frage nach einem Ziel oder mehreren Zielen der Gesetzgebung. Sachlich ergibt sich jedoch eine Trennlinie zwischen denjenigen Interpreten, die ca,rin grammatikalisch kausal auffassen, weil sie Sünden schon vor der Gesetzgebung gegeben sehen und denjenigen, die ca,rin grammatikalisch final verstehen und als Ziel des Gesetzes die Entstehung oder Mehrung der Sünden angeben und folglich (vermehrte) Sünden erst nach der Gesetzgebung gelten lassen. Folgende Interpretationen der Funktion des Gesetzes wurden vorgebracht: Unter der Annahme, Übertretungen seien auch schon vor dem Gesetz in der Welt gewesen und ca,rin sei kausal zu verstehen als „wegen der Sünden“, finden sich die folgenden Interpretationen teils separat teils kombiniert: 15 a) finales positives Verständnis: um den Übertretungen zu wehren bzw. um die Übertretungen einzuschränken; 16 als Erzieherin des Menschengeschlechts auf Christus hin (heute nicht mehr vertreten); b) finales Verständnis: um die Übertretungen vorzuhalten, das heißt um Schuld als Grundlage für Gottes Todesurteil festzuschreiben; 17 c) finales Verständnis: um bei der Sünde zu behaften; 18 um Schuldfähigkeit und Schuldbewusstsein herzustellen; 19 d) finales Verständnis: um Schuld abzubauen oder zu sühnen. 20 15
Zum Forschungsüberblick vgl. F. VOUGA, An die Galater, 82; CHR. BURCHARD, Versuch, 66–69; H.-J. ECKSTEIN, Verheißung und Gesetz, 98. 16 Vgl. M. BACHMANN, Sünder oder Übertreter. Studien zur Argumentation in Gal 2,15ff., WUNT 59, Tübingen 1992, 74, Anm. 244; 146–149. 17 Ohne Abwertung der Tora, O. HOFIUS, Paulusstudien. Bd. 1, WUNT 51, Tübingen 1989, 61f; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments. Bd. 1, Grundlegung: von Jesus zu Paulus, Göttingen 1992, 265, führt neben dieser Funktion des Gesetzes wegen Röm 5,13.20–21als weitere Funktion des Gesetzes auf, Sünden zu provozieren. 18 Vgl. MARIE-JOSEPH LAGRANGE, Saint Paul. Épitre aux Galates, EtB, Paris 1950, 82. 19 Vgl. F. MUßNER, Der Galaterbrief, Freiburg/Basel/Wien 1974, 245f; H.-J. ECKSTEIN, Verheißung und Gesetz, 193. 20 Vgl. H. MERKLEIN, Die Bedeutung des Kreuzestodes Christi für die paulinische Gerechtigkeits- und Gesetzesthematik, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus. Bd. 1, WUNT 43, Tübingen 1987, 1–106, hier 69–71.
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Der Vorrang der Verheißung gegenüber dem Gesetz
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Unter der Annahme, Übertretungen gäbe es noch nicht oder noch nicht so stark vor dem Gesetz und ca,rin sei final zu verstehen, finden sich die folgenden Interpretationen: a) finales negatives Verständnis: um die Übertretungen herbeizuführen bzw. hervorzurufen; 21 b) finales negatives Verständnis: um die Sünde zu mehren bzw. zu steigern. 22 M. BACHMANNS Interpretation des Gesetzes in Gal 3 dürfte dem Kontext des Galaterbriefs gerecht werden.23 In seiner Interpretation werden sowohl der Anlass der Gesetzgebung als auch mehrere positive Ziele der Gesetzgebung berücksichtigt: Er geht zum einen von einem kausalen ca,rin aus und versteht daher die Sünden als Anlass für die Gesetzgebung und sieht zum anderen die Funktion des Gesetzes sowohl im „Behaften bei der Sünde“ als auch „im Verhindern der Sünden“. In Röm 5,20 stellt Paulus die Posteriorität des Gesetzes deutlich negativer dar als in Gal 3: „Das Gesetz aber ist hinzugekommen, damit die Übertretung mächtiger werde (no,moj de. pareish/lqen(i[na pleona,sh| to. para,ptwma)“. 24 Denn hier hat das Gesetz eindeutig den finalen Zweck, die Übertretung zu vermehren. Es geht in Röm 5,20 nicht nur um ein Erkennen
21 Ansatzweise H. SCHLIER, Der Brief an die Galater, KEK VII, 51971, 152–154; unter der Annahme eines nichtgöttlichen Ursprungs des Gesetzes H. HÜBNER, Das Gesetz bei Paulus. Ein Beitrag zum Werden der paulinischen Theologie, FRLANT 119, Göttingen 21980, 27; J.B. LIGHTFOOT, The Epistle of St. Paul to the Galatians. With Introduction, Notes and Dissertations, Grand Rapids, Michigan 21957,144f., H.D. BETZ, Der Galaterbrief, 302; P. STUHLMACHER, Bibilische Theologie des Neuen Testaments. Bd. 1, 265, in Verbindung mit: um „die Sünde (im Gericht) einklagbar“ zu machen. 22 M. LUTHER, WA 40, I, 487; H. LIETZMANN, An die Galater, HNT 10, Tübingen 31932, 21; J. ECKERT, Die urchristliche Verkündigung im Streit zwischen Paulus und seinen Gegnern nach dem Galaterbrief, BU 6, Regensburg 1971, 82; H. RIDDERBOS, Paulus. Ein Entwurf seiner Theologie, Wuppertal 1970, 114; M. ZERWICK/M. GROSVENOR, A Grammatical Analysis of the Greek New Testament, Rom 1981, 570; TH. ZAHN, Der Brief des Paulus an die Galater, KNT IX, Leipzig 3 1922, 174f; F.F. BRUCE, The Epistle to the Galatians. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Exeter 1982, 175; A. SUHL, Die Galater und der Geist. Kritische Erwägungen zur Situation in Galatien, in: Jesu Rede von Gott und ihre Nachgeschichte im frühen Christentum, FS W. Marxsen, hg. D.-A. Koch u.a., Gütersloh 1989, 267–296.289. 23 Vgl. M. BACHMANN, „Ermittlungen zum Mittler: Gal 3,20 und der Charakter des mosaischen Gesetzes“, in: ders., Antijudaismus im Galaterbrief? Exegetische Studien zu einem polemischen Schreiben und zur Theologie des Apostels Paulus, NTOA 40, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1999, 81–126, 118, Anm. 167 und ders., Sünder, 74, Anm. 244; 146–149. 24 Übersetzung nach: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe; Psalmen und Neues Testament; Ökumenischer Text, Katholische Bibelanstalt [u.a.], Stuttgart 1980.
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der Sünde oder ein Behaften bei der Sünde und erst recht nicht um ein Verhindern der Sünde. 10.1.2.3 Die Abwertung des Gesetzes durch die Mittlerschaft der Engel und Moses Die Aussage des Paulus, das Gesetz sei durch Engel erlassen worden (diatagei.j diV avgge,lwn) ließ Exegeten immer wieder nach Analogien oder Traditionen zu dieser Aussage im Judentum fragen. 25 Bei dem Hinweis auf eine angeblich verbreitete jüdische Tradition, wonach Engel die Tora erlassen haben, handelt es sich allerdings, wie eine genauere Betrachtung der Belegstellen zeigt, 26 um einen in der Forschung häufig rezipierten Fehler. 27 „Nur ein vorschnelles Aufzählen von sogenannten ‚Parallelen‘ hat“ laut M. MACH „dazu führen können, in der antiken jüdischen Literatur eine feste Tradition“ der Toravermittlung durch Engel zu finden. 28 Die prominenten Stellen Apg 7,38.53 entfallen nach M. MACH als Stützen für die Hypothese einer solchen Tradition, weil nur von einem (!) Engel die Rede ist, durch den das Gesetz erlassen wird und V. 53 zudem von Gal 3,19 abhängig sein könnte. 29 Lediglich die Anwesenheit 30 beziehungsweise Mitwirkung 31 von Engeln bei der Gesetzgebung war ein verbreitetes Motiv im Judentum. Für die Erklärung der paulinischen Vorstellung von der Toravermittlung durch Engel bleibt man nach diesem Befund auf Paulus angewiesen. 32
25 Vgl. M. MACH, Tora-Verleihung durch Engel, in: Matthias Augustin/Jürgen Kegler (Hg.), Das Alte Testament als geistige Heimat (FS. H.-W. Wolff), EHS.T 177, Frankfurt a.M./Bern 1982, 51–70, 54. 26 Vgl. die kritischen Beiträge von M. MACH, ebd. und L. GASTON, Paul and the Torah, Vancouver 1987, 35–44. 27 Vgl. L. GASTON, Paul and the Torah, 37.39. 28 Vgl. M. MACH, Tora-Verleihung, 58. 29 Vgl. M. MACH , ebd., 61. 30 In Dtn 33,2 LXX heißt es über den Mosesegen: kai. ei=pen ku,rioj evk Sina h[kei kai. evpe,fanen evk Shir h`mi/n kai. kate,speusen evx o;rouj Faran su.n muria,sin Kadhj evk dexiw/n auvtou/ a;ggeloi metV auvtou; in y 67,18 wird die Anwesenheit von Engeln auf dem Sinai durch Wagen angedeutet, die Gott begleiten: to. a[rma tou/ qeou/ muriopla,sion cilia,dej euvqhnou,ntwn o` ku,rioj evn auvtoi/j evn Sina evn tw/| a`gi,w;| IV Bas. 6,16f. Mt 26,53; PesR 21 (104a). Vgl. M. MACH, ebd., 55: die rabbinischen Midraschim sprechen lediglich von einer Begleitung Gottes durch die Engel. 31 Apg 7,38.53; Hebr 2,2: vgl. auch den Hinweis auf die richtende Funktion der Engel und die Verwendung des Wortes para,basij in Hebr 2,2 bei M. BACHMANN, Sünder, 147; PesR 21 (103b); Midr. HL, 1,2 (82a); Herm sim 8,3,3; zu PsClem H 18,12,1 vgl. DIE PSEUDOKLEMENTINEN, 1. Homilien, hrsg. von Bernhard Rehm, Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte 42, Berlin 1953, 246; Jub 1,27ff; Jub 2,1ff; Apk. Mos 1; Philo somn. I 140–144 und laut R.N. LONGENECKER, Galatians, WBC 41, Dallas, Texas 1990, 140 et.al. in Bezug auf Propheten oder Priester statt in Bezug auf Engel in Ios.ant.Iud. 15,136. 32 Vgl. M. MACH, Tora-Verleihung, 62.
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Neben der Frage nach Analogien zu den gesetzgebenden Engeln ist bei der Exegese von Gal 3,19 nach der Bewertung von Engeln im Judentum zu fragen. Die Präsenz der Engel beeinträchtigte nicht grundsätzlich die Heiligkeit des Gesetzeswerkes. 33 Sie könnte sogar, wie die rabbinische Tradition zeigt, dazu beigetragen haben, die Heiligkeit des Gesetzes zu betonen. 34 Auch die Apokalyptiker werteten Engel positiv und nahmen auf sie Bezug, um ihre Offenbarung zu legitimieren. 35 Paulus wendet „das gleiche Argument, mit dem die Apokalyptiker ihre neuen Offenbarungen legitimierten“, die Beteiligung von Engeln, „entgegengesetzt auf das alte Gesetz“ 36 an, um es in seinem Wert zu mindern. Für eine negative Wertung der Engel bei Paulus in Gal 3,19 sprechen auch die polemischen Aussagen des Paulus zu Engeln in Gal 1,9 und 1Kor 13,1. 37 Denkbar ist, dass solch eine Abwertung von Engeln bei Paulus auf zeitgenössischen Diskussionen um die Legitimität von Engeloffenbarungen basiert sowie auf jüdischen Traditionen, nach denen er Engel als etwas Negatives verstehen konnte. 38 Man muss allerdings nicht so weit gehen wie J. BECKER 39 und aufgrund der Gesetzesstiftung der Engel Gott die Urheberschaft des Gesetzes absprechen. Möglicherweise greift Paulus in Gal 3,19 die Völkerengelvorstellung 40 auf, nach der einzelne Engel über nichtisraelitische Völker herrschen. In33 J.D.G. DUNN, A Commentary on the Epistle to the Galatians, London 1993, 191: „association of angels in the giving of the law was quite familiar and unthreatening motif in Jewish thought of the time.“ 34 H.J. SCHOEPS, Paul, 182: „The presence of angels at the event of the giving of the law was a favourite bit of embroidery in rabbinic tradition, and was meant to enhance the glory of Sinai“. 35 Vgl. M. MACH, Tora-Verleihung, 51.63. 36 M. MACH, ebd., 63. 37 Vgl. M. MACH, ebd., 62. Man könnte ferner 1Kor 11,10 nennen: Wegen der Engel sollen die Frauen in der Gemeinde eine Hülle tragen. 38 Vgl. M. MACH, Tora-Verleihung, 62f. 39 J. BECKER, Der Brief an die Galater. Übersetzt und erklärt von Jürgen Becker, in: ders./U. Luz, Die Briefe an die Galater, Epheser und Kolosser. Übersetzt und erklärt von Jürgen Becker und Ulrich Luz, NTD 8/1, Göttingen 1998, 18. Auflage, Erstauflage dieser neuen Bearbeitung, 5– 103, 54: spricht sich gegen eine „Aufweichung“ der Aussage aus. Die Engel haben das Gesetz gestiftet. 40 Diese Annahme findet sich mit anderen Konsequenzen für die Interpretation der Tora und des Mittlers auch bei L. GASTON, Paul and the Torah, 43. J.D.G. DUNN, Galatians, 192, und L. GASTON, ebd., 200, Anm. 19, nennen folgende Texte zur Völkerengeltradition: 1) Dtn 32,8–9 (als Vorläufer der Tradition): „8 Als der Höchste den Nationen das Erbe austeilte, als er die Menschenkinder voneinander schied, da legte er fest die Grenzen der Völker nach der Zahl der Söhne Israel. 9 Denn der Anteil des HERRN ist sein Volk, Jakob das Maß seines Erbteils.“; 2) Sir 17,17: „Als er den Völkern die ganze Erde zuteilte, gab er einem jeden Volke einen Herrscher, aber das Eigentum des Herrn ist Israel.“ zitiert nach G. SAUER, Jesus Sirach (Ben Sira), JSHRZ III/5, Gütersloh 1981, 547f; 3) Jub 15,30–32: „Aber Israel hat er erwählt, daß sie ihm zum Volk seien. 31 Und er hat es geheiligt und gesammelt aus allen Menschenkindern. Denn es gibt viele Völker und viel Volk, und
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Das sekundäre Gesetz bei Paulus
alle sind sein. Und über alle läßt er Geister herrschen, damit sie sie weg von ihm verführen. 32 Aber über Israel läßt er sie nicht herrschen, niemand, weder Engel noch Geist. Denn er allein ist ihr Herrscher. Und er bewahrt sie, und er wird sie fordern für sich aus der Hand seiner Engel und von seinen Geistern und aus der Hand aller und aller seiner Gewalten, damit er sie bewahre und er sie segne und sie ihm gehören und er ihnen gehöre von jetzt an und bis in Ewigkeit.“ zitiert nach K. BERGER, Das Buch der Jubiläen, JSHRZ II/3, Gütersloh 1981, 408f; 4) 1Hen 20,1–7: „1 Und das sind die Namen der heiligen Engel, die wachen: 2 Uriel, einer von den heiligen Engeln, nämlich der der Welt und des Bebens; 3 Rufael (= Rafael), einer von den heiligen Engeln – der der Geister der Menschen; 4 Raguel, einer von den heiligen Engeln – der Rache nimmt an der Welt und den Lichtern; 5 Michael, einer von den heiligen Engeln, nämlich der Heerführer über den besten (Teil) der Menschen, über das Volk; 6 Sarakiel (= Suriel oder Sariel), einer von den heiligen Engeln – der, der über die Geister der Menschenkinder (gesetzt) ist, die an den Geistern sündigen; 7 Gabriel, einer von den heiligen Engeln – der über das Paradies, die Schlangen und die Kerubim (gesetzt) ist.“ zitiert nach S. UHLIG, Das äthiopische Henochbuch, JSHRZ V/6, Gütersloh 1984, 552; 5) TPs J zu Gen 11,7–8: „7. Alors Yahvé dit aux soixante-dix anges qui se tiennent devant lui: «Venez donc! Descendons pour confondre là-bas leur langage pour qu´ils n´entendent plus la langue les uns des autres.» 8. La Parole de Yahvé se manifeste sur la ville et avec lui les soixantedix anges correspondant aux soixante-dix peuples, chacun ayant avec lui la langue de son peuple et dans sa main les caractères de son écriture. Il les dispersa de là sur la surface de toute la terre en soixante-dix langues: l´un ne pouvait plus savoir ce que l ´autre voulait dire et ils se tuaient entre eux et ils cessèrent de bâtir la ville.“ zitiert nach LE DÉAUT, ROGER/JACQUES ROBERT, Targum du Pentateuque. Traduction des deux recensions palestiniennes complètes avec introduction, parallèles, notes et index. Tome I. Genèse, Sources chrétiennes 245, Paris 1978, 143.145; 6) PsClem R 2,42: „[...] est enim uniuscuiusque gentis angelus, cui credita est gentis ipsius dispensatio a deo, qui tamen cum apparuerit, quamvis putetur et dicatur ab his quibus praeest, deus, tamen interrogatus non sibi dabit ipse tale testimonium. deus enim excelsus, qui solus potestatem omnium tenet, in septuaginta et duas partes divisit totius terrae nationes eisque principes angelos statuit. [...]“, zitiert nach: DIE PSEUDOKLEMENTINEN, 2. Rekognitionen in Rufins Übersetzung, hrsg. von Bernhard Rehm, Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte 51, Berlin 1965, 76f. 7) Dan 12,1: Und in jener Zeit wird Michael auftreten, der große Fürst, der für die Söhne deines Volkes eintritt. Und es wird eine Zeit der Bedrängnis sein, wie sie noch nie gewesen ist, seitdem irgendeine Nation entstand bis zu jener Zeit. Und in jener Zeit wird dein Volk errettet werden, jeder, den man im Buch aufgeschrieben findet. (Übersetzung nach: Die Heilige Schrift. Aus dem Grundtext übersetzt, Elberfelder Bibel); 8) Zu TestNaph 8,3–9,3 vgl. J. BECKER, Unterweisung in lehrhafter Form, JSHRZ III/1, Gütersloh 1974, 104–106. 9) 1Hen 89,59; 90,22.25: „Und er rief siebzig Hirten und verstieß jene Schafe, daß sie sie weideten, und er sprach zu den Hirten und ihren Begleitern: Jeder einzelne von euch soll von jetzt an die Schafe weiden, und tut alles, was ich euch befehlen werde!“; „Und er sprach zu jenem Mann, der vor ihm schrieb, der einer von jenen sieben Weißen war, und er sprach zu ihm: ‚Ergreife diese siebzig Hirten, denen ich die Schafe übergeben hatte und die, indem sie sie nahmen, mehr töteten, als ich ihnen befohlen hatte.‘“; „Und jene siebzig Hirten wurden gerichtet und als Sünder (befunden), und sie wurden in diese Feuertiefe geworfen.“ Zitiert nach S. UHLIG, Das äthiopische Henochbuch, 693.701f. 10) Philo post. 91: „Nun nennt er wahrscheinlich den Vater unserer Seele die rechte Vernunft, die Ältesten aber dessen Genossen und Freunde. Diese setzten zuerst die Grenzen der Tugend fest, bis zu denen man wandern muß um des Unterrichts willen und der Unterweisung in dem, was not tut. Das Nötige aber ist folgendes: Als Gott die Völker der Seele zerteilte und zertrennte, indem er
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Der Vorrang der Verheißung gegenüber dem Gesetz
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dem Paulus die Engel die Tora, das Volksgesetz für Israel, verordnen lässt, zählt er zur Herrschaft dieser Engel ausdrücklich die Gesetzgebung, eine in der Völkerengeltradition allenfalls implizit vorausgesetzte Dimension der Engelherrschaft. Die Funktion der Engel, das Gesetz zu verordnen, wäre hiernach ein paulinisches Novum, das seinerseits für die Gnosis traditionsbildend wurde. In gnostischen Texten wird das Gesetz durch Engel erlassen, wenn deren Herrschaft als unterdrückend empfunden wird. 41 Eine Aussage der simonianischen Gnosis bei Irenäus ist für die Interpretation von Gal 3,19 von besonderem Interesse: Bei Irenäus (adv.haer. 1,23,2-4) sind die Völkerengel für die Werke beziehungsweise (Gesetzes-)vorschriften
die gleichsprachigen von denen mit fremder Sprache trennte und schied, und als er die Kinder der Erde zerstreute und von sich forttrieb, die er Adams Söhne nannte, da errichtete er die Grenzen für die Nachkommen der Tugend in gleicher Zahl wie die Engel; denn wieviel Vernunftkräfte Gottes es gibt, soviel gibt es auch Völker und Arten der Tugend.“; 11) Iren. adv.haer. 3,12,9 in Zusammenhang mit der Areopagrede des Paulus: „Auf diesem Platz verkündet er ihnen nicht nur Gott als den Schöpfer der Welt, als von den Juden keiner dabei war, sondern lehrt auch, daß er ein einziges Menschengeschlecht auf dem ganzen Erdkreis wohnen läßt, wie auch Mose sagt: ‚Als der Höchste die Völker teilte, wie er die Söhne Adams zerstreute, da bestimmte er die Grenzen der Völker nach der Zahl der Engel Gottes‘ (Dtn 32,8), und daß das Volk, das an Gott glaubt, schon nicht mehr unter der Gewalt der Engel, sondern unter der des Herrn steht: ‚Sein Volk Jakob wurde nämlich Anteil des Herrn, Israel die Meßschnur seines Erbes‘ (Dtn 32,9).“, zitiert nach IRENAEUS LUGDUNENSIS, Adversus haereses (Gegen die Häresien). Bd. 3, Griechisch, lateinisch, deutsch, übersetzt und eingeleitet von Norbert Brox, FChr 8/3, Freiburg/Basel/Wien et.al. 1995, 145. 12) Mekilta, Shirata 2 etc. 13) Vgl. Jes 63,9: Nicht Bote noch Engel – er selbst hat sie gerettet. In seiner Liebe und in seinem Erbarmen hat er sie erlöst. Und er hob sie auf und trug sie alle Tage der Vorzeit. (Übersetzung nach: Die Heilige Schrift. Aus dem Grundtext übersetzt, Elberfelder Bibel) 14) Vgl. 1QS 3,20–26: „20 In der Hand des Fürsten des Lichtes liegt die Herrschaft über alle Söhne der Gerechtigkeit, auf den Wegen des Lichtes wandeln sie. Aber in der Hand des Engels 21 der Finsternis liegt alle Herrschaft über die Söhne des Frevels, und auf den Wegen der Finsternis wandeln sie. Und durch den Engel der Finsternis geschieht Verirrung 22 aller Söhne der Gerechtigkeit, und alle ihre Sünde, Missetaten und Schuld und die Verstöße ihrer Taten kommen durch seine Herrschaft 23 entsprechend den Geheimnissen Gottes bis zu seiner Zeit. Und alle ihre Plagen und die festgesetzten Zeiten ihrer Drangsal kommen durch die Herrschaft seiner Anfeindung. 24 Und alle Geister seines Loses suchen die Söhne des Lichtes zu Fall zu bringen. Aber der Gott Israels und der Engel seiner Wahrheit helfen allen 25 Söhnen des Lichtes. Und er hat die Geister des Lichtes und der Finsternis geschaffen, und auf sie hat er jedes Werk gegründet 26 [und auf] ihre [Wege] jeden Dienst. Den einen (Geist) liebt Gott in alle“, zitiert nach E. LOHSE (Hg.), Die Texte aus Qumran, 11.13. 41 L. GASTON, Paul and the Torah, 40, schreibt: „There are explicit reference to the law administered by the angels of the nations only when that rule is experienced as oppressive.“ Als Beispiel führt L. GASTON die folgenden gnostischen Texte an: Papias Fragment 4 (Funk-Bihlmeyer); Simon Magus bei Hippolyt, Ref. 6.19.8; Iren.adv.haer. 1,23,3f; Valentinus bei Hippolyt, Ref. 6.34.3; Nag Hammadi-Text, Codex II, 105,12–16. Vgl. zur Verwendung von gnostischem Material für die Interpretation von Gal 3,19 auch H. SCHLIER, Der Brief an die Galater, 105–120.
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Das sekundäre Gesetz bei Paulus
verantwortlich, welche durch „Konvention“ entstanden sind, nicht „von Natur aus“. Dort heißt es in adv.haer. 1,23,3: Denn die Werke sind durch die Bedingungen gut und nicht ihrer Natur nach, wie die Engel unterstellen, die die Welt gemacht haben und die mit solchen Vorschriften die Menschen in die Knechtschaft zwingen (Nec enim esse naturaliter operationes iustas, sed ex accidentia, quemadmodum posuerunt qui mundum fecerunt angeli, per huiusmodi praecepta in servitutem deducentes homines.) 42
Dass das Gesetz den Charakter einer Abschattung besitzt, da es einer direkten Rückbindung an Gott entbehrt, macht Paulus in Gal 3,19.20 deutlich: Mose kommt bei der Gesetzgebung die Rolle eines Mittlers zu. Da ein Mittler immer ein Mittler von Vielen ist, Gott jedoch einer ist, und nicht etwa Viele, ist Mose bei der Gesetzgebung nicht Mittler Gottes, sondern ein Mittler von einer Vielzahl. Diese Vielzahl besteht aus den Engeln. 43
10.2 Vergleich der Kritik an sekundären Volksgesetzen bei Philo, in der jüdischen und griechisch-römischen Antike und bei Paulus Vergleich der Kritik an sekundären Volksgesetzen
Den im 5. Kapitel untersuchten Texten war eine Kritik an sekundären (Volks-)gesetzen oder an später hinzugekommenen Neuerungen allgemein gemeinsam. Bei Philo wurden Volksgesetze unter Verwendung der Wörter pro,sqesij/ prosqh,kh/ prosqh/kai/ pro,sqema, die in Philos Werk tendenziell negativ konnotiert sind. Die Wortwahl war bei Philo durch die allegorische Auslegung des Namens Joseph motiviert. Populärphilosophisch geschulte Ohren müssen in Philos kurzer Abhandlung über den Zusatz von Einzelgesetzen zum Naturgesetz die Antithese von qe,sij und fu,sij mitgehört haben. Im Unterschied zu den zuvor untersuchten jüdischen Hauptquellen bezeugt Philo, De Josepho 28ff keine literarische Zurückweisung von innerjüdischer Kritik am jüdischen Gesetz, der Tora, sondern Kritik an Staatsgesetzen anderer Völker. Die Tora wird in Philos Werk insgesamt als „Höchstes Gesetz“ aufgewertet und dadurch gegen mögliche Kritik von außen immunisiert. 42 Zitiert nach: IRENAEUS LUGDUNENSIS, Epideixis. Adversus Haereses (Darlegung der apostolischen Verkündigung. Gegen die Häresien). Bd. 1, Griechisch, lateinisch, deutsch, übersetzt und eingeleitet von Norbert Brox, FChr 8/1, Freiburg/Basel/Wien et.al. 1993, 292f. 43 M. BACHMANN schlägt in seinem Aufsatz, Ermittlungen, 81–126, die Interpretation vor, dass sich das verneinte e`no,j in V. 20 nicht auf den einen Gott im Gegensatz zu den vielen Engeln bezieht, sondern dass es sich auf V. 16 zurückbezieht, wo mit dem Einen der eine Same Christus im Gegensatz zu den vielen Nachkommen Abrahams gemeint ist. Dann könnte V. 20 aussagen, dass das Gesetz nicht an einen, Christus, übermittelt wurde, sondern an viele, das Volk Israel.
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Vergleich der Kritik an sekundären Volksgesetzen
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Offen im Judentum geäußerte Kritik an später hinzugekommenen jüdischen Einzelgesetzen (Ritualvorschriften; Ehescheidungsbrief) finden sich vereinzelt im Judentum (hellenistische Reformer; Mk 10,2ff) und in griechisch-römischen Verklärungen einer gesetzesfreien Vorzeit. Eine starke Tendenz zur Abwertung von kulturellen Neuerungen im Allgemeinen spiegelt sich im sehr weit verbreiteten „Altersbeweis“, einer griechischrömischen Argumentationsfigur, die vom hellenistischen Judentum übernommen wurde (und sich beispielsweise auch bei Philo wiederfindet). Bei Paulus wird die Posteriorität der Tora unter Verwendung des Wortes prosete,qh kritisiert. Die Verwendung des gleichen Wortstamms wie bei Philo kann Zufall sein. Es ist aber nicht auszuschließen, dass sich Paulus damit (un-)bewusst an die Antithese von Staatsgesetzen und Naturgesetz beziehungsweise qe,sij und fu,sij anlehnt und sie auf evpaggeli,a (Verheißung) und no,moj (Tora) überträgt. Eine leicht negative Konnotation erhielte prosete,qh dann in erster Linie vor dem Hintergrund des jüdischhellenistischen Sprachgebrauchs (De Josepho 28ff) und dem Sprachgebrauch der griechischen Antike (no,moj-fu,sij; qe,sij-fu,sij). In qe,sij, pro,sqesij und no,moj im Gegensatz zur fu,sij klingt die Abschattung vom Ursprünglichen, Eigentlichen und Wahren mit. Nur in zweiter Linie wirkt sich der „farblose“ Charakter des im Passiv gebrauchten Verbs negativ auf dessen Rezeption aus. 44 Bei Philo ist die Tora, das Volksgesetz für Israel, stark aufgewertet. Durch eine Universalisierung des mosaischen Gesetzes als für alle geltendes Naturgesetz gelingt der Einschluss der Heiden in das Heil, die „inclusion of the gentiles“. Das Naturgesetz galt von der Schöpfung an und konnte daher schon von Abraham und den anderen Patriarchen befolgt werden. Beim Heidenapostel Paulus hingegen kann die „inclusion of the gentiles“ nicht direkt über den no,moj, das Volksgesetz für Israel, geschehen. Sie geschieht statt dessen über die Verheißung (evpaggeli,a) an Abraham, welche Christus, der Same Abrahams, allen zuteilwerden lässt, die an ihn, der durch seinen Kreuzestod das Gesetz überwandt, glauben. Abraham ist sowohl bei Philo als auch bei Paulus Garant der Öffnung für die Heiden: Er ist bei Philo no,moj e;myucoj (vgl. Abr. 5), bei Paulus Empfänger von Gottes Verheißung (Gal 3; Röm 4) und der Vater aller Glaubenden. Anders als Philo, der die Tora von seiner stoischen Gesetzeskritik ausnimmt, könnte Paulus die stoische Kritik an Einzelgesetzen auf die Tora angewendet haben. Die Tora ist bei Paulus in Gal 3 nur ein für eine Zwi44
J.L. MARTYN, Galatians, 365: „Using strong ‘speaking’ and ‘giving’ verbs to attribute the Abrahamic promise directly and clearly to God, Paul refers to the Law´s genesis either by employing colorless verbs or by referring to the genesis of the Law as the act of angels.“
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Das sekundäre Gesetz bei Paulus
schenzeit „hinzugefügtes/beigegebenes“ Volksgesetz für Israel und kann als solches ohne den Erlösungsmittler Christus den Heiden kein Heil bringen. Der partikulare Charakter der Tora wird auch durch ihre Verbindung mit Hagar (Gal 4) deutlich, die stellvertretend für einen Stamm steht. Folgende Kritik, die Philo in ähnlicher Weise an Gesetzen anderer Völker übt, wird von Paulus in Gal 3 auf die Sinaitora als partikulares Volksgesetz angewendet: 1) Bei Paulus ist die Tora ein Zusatz zum eigentlichen Willen Gottes, den Gott in seiner Verheißung an Abraham ausgesprochen hat. Bei Philo sind die partikularen Gesetze von Einzelstaaten Zusätze zum Naturgesetz, wie es Abraham, Isaak und Jakob verkörpern. Dem Gegensatz von Abraham und Joseph bei Philo entspricht bei Paulus ein Gegensatz von Abraham und Mose. 2) Bei Paulus ist der Segen Abrahams universal. Er gilt für alle Völker. Das „hinzugefügte“ Gesetz ist dagegen partikular. Es gilt nur für Israel. Bei Philo verkörpert Abraham zusammen mit den anderen Patriarchen das universale Gesetz der Natur, Joseph dagegen das partikulare Gesetz für die Ägypter. 3) Die Tora ist bei Paulus als Volksgesetz für Israel zeitlich begrenzt, lebt aber in der christlichen Ethik weiter. Bei Philo ist die Tora ewig. Lediglich die partikularen Gesetze einzelner Staaten unterliegen der Veränderung und sind vergänglich. 4) Anlass von Gottes Erlassung der Tora waren laut Paulus die „Übertretungen“ Israels. Die positive Funktion der Tora besteht folglich darin, die Sünde aufzuweisen und dadurch einzuschränken. Philo sieht ebenfalls in der Sünde, mit seinen Worten gesprochen, in der „Habgier“ der Menschen den Grund dafür, weshalb Menschen Gesetze (im Sinne von Zusätzen zum natürlichen Gesetz) für nötig hielten und erfanden. 5) Die Kritik an der Gefahr der Abschattung vom göttlichen Willen, in der bei Philo und den Stoikern alle von Menschen erlassen Gesetze stehen, findet sich bei Paulus im Blick auf die Tora in gemilderter Form: Die erste und zweite „Verfügung“, Verheißung und Gesetz, haben im Galaterbrief denselben Urheber: Gott. Eine „Abschattung“ vom göttlichen Ursprung erfährt die Tora bei Paulus allenfalls durch die Mittlerschaft der Engel und Mose.
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11. Gesetzeskritische Motive und die Gesetzeskritik des Paulus
Gesetzeskritische Motive und die Gesetzeskritik des Paulus
Die für diese Arbeit leitende Frage nach potenziell gesetzeskritischen Äußerungen im Judentum vor Paulus oder in zeitlicher Nähe zu Paulus hat gezeigt, dass Gesetzeskritik nur vereinzelt geäußert und in solchen Fällen als unorthodox zurückgewiesen wurde. Der Nachweis von Gesetzeskritik am Rande des Judentums hat zugleich deutlich gemacht, dass das Gesetz im hellenistischen Judentum prinzipiell eine Hochschätzung erfuhr. Bei Paulus finden wir aber an vielen Stellen in wenigen Briefen, vor allem im Galaterund Römerbrief, diese gesetzeskritischen Motive in abgewandelter Form. Was ist das Proprium seiner Gesetzeskritik? Drei Merkmale machen m.E. deren Proprium aus: a) die Kombination und Kumulation bisher getrennter latenter und manifester gesetzeskritischer Motive, b) die persönliche Identifikation mit den gesetzeskritischen Motiven und c) die Radikalisierung der Gesetzeskritik durch die Aufdeckung einer nomistischen Fehlhaltung. Gesetzeskritische Motive und die Gesetzeskritik des Paulus
a) Die Kombination und Kumulation gesetzeskritischer Motive: Bei Paulus finden sich gesetzeskritische Motive, die schon vor Paulus am Rande des Judentums existierten und zu denen sich sowohl im antiken Judentum als auch in der griechisch-römischen Antike Analogien und Resonanzböden aufzeigen lassen, kombiniert und gehäuft. Die vor ihm nachweisbaren gesetzeskritischen Motive existierten alle unabhängig voneinander. Sie finden sich bei drei verschiedenen Autoren: Josephus, Philo und 4. Esra, zwischen denen es keine literarischen Beziehungen gibt. Bei Philo begegnen zwar beim selben Autor das Motiv der Spiritualisierung des Gesetzes wie der Posteriorität, aber die beiden Stellen (migr. 89–93 und De Josepho 28–31) haben nichts miteinander zu tun. Bei Paulus aber finden sich diese zerstreuten und sachlich voneinander unabhängigen gesetzeskritischen Motive in wenigen Briefen nebeneinander, als hätte er wie ein Magnet aus sehr verschiedenen Traditionen gesetzeskritische Motive an sich gezogen. Das verleiht seiner Gesetzeskritik Nachdruck. Es gelang Paulus nicht, die sachlich unabhängigen Motive der Gesetzeskritik in eine gedanklich kohärente Gesetzeskritik zu integrieren. Die Inkohärenz in den Aussagen zum Gesetz hat E.P. SANDERS für seine These von der ret-
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Gesetzeskritische Motive und die Gesetzeskritik des Paulus
rospektiven Gesetzeskritik angeführt. 1 Sie wird ihm zum Argument, dass die Gesetzeskritik nicht das eigentliche Anliegen des Paulus ist, sondern die Entfaltung der neuen Offenbarung. Dagegen sprechen zwei Argumente: Die Widersprüchlichkeit in seinen Aussagen zum Gesetz lässt sich teilweise dadurch erklären, dass Paulus heterogene Traditionen aufgenommen hat – etwa die vom zeitlosen ungeschriebenen Gesetz in den Herzen der Heiden (Röm 2,12ff) und einem sekundär dazugekommenen Gesetz (Röm 5,20). Diese Widersprüchlichkeit lässt sich zum Teil schon vor Paulus belegen. Ferner ist nicht nur die negative Gesetzeskritik widersprüchlich, sondern auch die positive Heilslehre: Das Heil durch Rechtfertigung und Glaube (Röm 4–5), durch Verwandlung (Röm 6–8) und durch Erwählung (Röm 9–11) sind keineswegs widerspruchsfreie Konzepte. Aus Widersprüchlichkeit lässt sich nicht ableiten, dass etwas für Paulus nur von sekundärer Bedeutung war. Plausibler ist die historisch-psychologische Deutung der Widersprüchlichkeit von H. RÄISÄNEN: 2 Paulus muss unter der Vorgabe einer grundsätzlichen Gesetzes- und Traditionstreue etwas Neues begründen und muss es so darstellen, als werde damit die eigentliche Intention des Alten verwirklicht. Aber er bringt die darin begründete Ambivalenz gegenüber dem Gesetz durch den Gegensatz von Gramma und Pneuma auf den Begriff – zuerst in 2Kor 3,6, dann im Römerbrief. Die Widersprüchlichkeit des Gesetzes ist insofern auch eine sachliche Erkenntnis des Paulus. b) Die Identifikation mit den gesetzeskritischen Motiven ist ein zweites Proprium der paulinischen Gesetzeskritik: Während Gesetzeskritik vor Paulus nur am Rande des Judentums geäußert wurde und in den untersuchten Quellen vom Verfasser meist literarisch als unorthodox zurückgewiesen wurde, identifiziert sich Paulus mit der in seinen Briefen geäußerten Gesetzeskritik. Die Instanzen, durch welche die Gesetzeskritik in den untersuchten jüdischen Texten zurückgewiesen wird, haben sehr verschiedenes Gewicht: Die gewichtigste Stimme hat der Engel, der im 4. Esrabuch den Sündenpessimismus des Esra zurückweist. Die Rebellion des Simri gegen das Gesetz wird in Ios.ant.Iud. 4,145–149 zuerst durch Mose, den Gesetzgeber der Juden, und dann durch Pinehas, deren eifernden Priester, zurückgewiesen. Schließlich ist es Philo selbst, der mit seinen eigenen Argumenten die „radikalen Allegoristen“ kritisiert. Am gewalttätigsten ist freilich die Unterdrückung des Aufstands gegen die 1 2
Vgl. Anm. 4. Vgl. H. RÄISÄNEN, Paul and the Law, WUNT 29, Tübingen 21987.
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Gesetzeskritische Motive und die Gesetzeskritik des Paulus
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Repressivität des Gesetzes durch Pinehas, dem Urbild für jenen „Eifer“ für das Gesetz, dem Paulus nach eigenen Aussagen in seiner vorchristlichen Zeit gefolgt ist. Wahrscheinlich ging auch bei Paulus der offenen Gesetzeskritik eine Zurückweisung von Gesetzeskritik voraus. Möglicherweise hat Paulus gesetzeskritische Motive der Christen schon kennengelernt, als er noch ein eifriger Pharisäer war. Er wird die Gesetzeskritik zurückgewiesen haben und ihr damit so begegnet sein, wie sie ihm in der jüdischen Tradition nur begegnen konnte: als zurückgewiesene Gesetzeskritik. Der Umschlag von zurückgewiesenen gesetzeskritischen Motiven zu einer grundsätzlicheren Gesetzeskritik dürfte auf seine Bekehrung zurückzuführen sein. c) Die Radikalisierung der Gesetzeskritik ist das dritte Proprium der paulinischen Gesetzeskritik, mit der er latente und manifeste gesetzeskritische Motive vor ihm weiterführt: Das Proprium und die eigentliche Schärfe der paulinischen Gesetzeskritik liegt in der Aufdeckung einer nomistischen Fehlhaltung. Die nomistische Fehlhaltung kann zwei Formen annehmen: Sie kann sich im „Rühmen“ (kauca,sqai) äußern und zur Abwertung einer Außengruppe (vor allem der Heiden) führen oder sie kann zum „Eifer“ (zh/loj) und damit zu einem starken Anpassungsdruck auf Abweichler in der eigenen Binnengruppe führen. 3 Dabei ist das „Sich Rühmen“ die weniger aggressive Form einer nomistischen Fehlhaltung. Sie bleibt im Bereich der Urteile und Wertungen. Der „Eifer“ ist dagegen eine aggressive Form der Überidentifikation mit dem Gesetz, das dabei zum Druckmittel gegen abweichende Minoritäten in der eigenen Gemeinschaft wird. Diese Überidentifikation mit dem Gesetz kontrastiert mit der Erkenntnis des Paulus als Christ, dass das Gesetz unerfüllbar ist. Die Unerfüllbarkeit des Gesetzes macht den Willen, es zu erfüllen, objektiv zu einer Illusion, auch wenn man nicht unterstellt, dass Menschen subjektiv die Intention haben, ihr Heil durch Werke verdienen wollen. Diese Illusion wird im Lichte der Erwählungssoteriologie von Röm 9–11 noch einmal vertieft, weil Gott vor jedem Tun und Lassen des Menschen seine Erwählung zum Heil oder Unheil vollzogen hat. 4 Die Radikalisierung der Gnade in dieser Erwählungslehre impliziert eine Radikalisierung der Gesetzeskritik des Paulus.
3
Vgl. G. THEISSEN, The New Perspective on Paul and Its Limits, 76. Vgl. den Vortrag: G. THEISSEN, Von Gesetzesfrömmigkeit zur Erwählungsgewissheit. Die theologische Entwicklung des Paulus im Spiegel des Römerbriefs, erscheint 2012 in japanisch in: Jesus und Paulus. Fundament und Architekt des Christentums. 4
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Gesetzeskritische Motive und die Gesetzeskritik des Paulus
Die Haltung des Paulus zum Gesetz ist ambivalent. So finden sich in seinen Briefen neben den kritischen Äußerungen zum Gesetz, die im Vordergrund dieser Arbeit standen, auch positive Äußerungen über das Gesetz. Trotz seiner Kritik am Gesetz hält Paulus am Gesetz fest. Das fällt ihm deshalb besonders leicht, weil für ihn im Zentrum des Gesetzes das Liebesgebot steht (vgl. Gal 5,14; Röm 13,8–10). Besonders deutlich tritt Paulus Wertschätzung des Gesetzes in Röm 7,12–22 hervor, wo es heißt: 5 „Das Gesetz ist heilig, und das Gebot ist heilig, gerecht und gut.“ (V. 12), „Wir wissen, daß das Gesetz selbst vom Geist bestimmt ist“ (V. 14), „Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, erkenne ich an, daß das Gesetz gut ist“ (V. 16) und „Denn in meinem Innern freu ich mich am Gesetz Gottes“ 6 (V. 22). Paulus beruft sich auch auf konkrete Aussagen des no,moj als verbindliche Norm (vgl. 1Kor 9,8; 14,21) oder auf das Gesetz im Ganzen (vgl. Röm 3,21). Er fordert von den Christen und beansprucht dadurch für die Christen, das Gesetz „aufzurichten“ (Röm 3,31) und zu „erfüllen“ (Röm 8,4; 13,8–10). Wenn Paulus dem Gesetz abspricht, lebendig machen zu können, so tut er dies in provokanter Abgrenzung von der jüdischen Tradition. 7 Sowohl in Gal 3,12 als auch in Röm 10,5 bezieht sich Paulus auf Lev 18,5: „Und meine Ordnungen und meine Rechtsbestimmungen sollt ihr halten. Durch sie wird der Mensch, der sie tut, Leben haben.“, um dem Tun des Gesetzes die Gerechtigkeit aus Glauben gegenüber zu stellen. Ein knappes Zugeständnis an die Lebensdienlichkeit von Geboten findet sich wiederum in Röm 7,10: h` evntolh. h` eivj zwh,n. 8 Seine Hochschätzung des Gesetzes teilt Paulus mit den Schriften des hebräischen Kanons, mit dem hellenistischen Judentum und den rabbinischen Schriften. In seiner Untersuchung der Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur des 2.–5. Jh. unter dem Titel „Tora und Leben“ weist F. AVEMARIE darauf hin, dass die für die frühe rabbinische Literatur typische Formel von der Tora als Garant von „Leben“ an biblische Traditionen, insbesondere Lev 18,5, anknüpft und sich auch in Apokryphen, Pseudepigraphen und Schriften der Qumrangemeinde findet. 9 Diese Hochschätzung des Gesetzes ist ein Gemeingut der Antike. Anstatt
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Übersetzung in Anlehnung an: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Zur Freude am Gesetz, die für einen frommen Juden pharisäischer Prägung selbstverständlich gewesen sein müsste vgl. K. HAACKER, „Antinomismus“, 387, Anm. 2. 7 Vgl. F. AVEMARIE, Tora und Leben. Untersuchungen zur Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur, Texte und Studien zum Antiken Judentum 55, Tübingen 1996, 377. 8 Vgl. ebd., 377. 9 Vgl. ebd., 104, Anm. 1; 376. 6
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vieler Belege sei hier nur auf die Lobrede des Dio Chrysostomos auf das Gesetz in seiner 75. Rede „PERI NOMOU“ hingewiesen. 10 Paulus ist also in einen allgemeinen Konsens eingebettet, wenn er das Ziel der durch Christus erneuerten Menschen darin sieht, dass sie das Gesetz durch den Geist erfüllen – d.h. spontan und von innen heraus, nicht motiviert durch den Buchstaben des Gesetzes, sondern direkt durch den Geist eben des Gottes, dessen Willen sich im Gesetz niedergeschlagen hat, in dessen Zentrum für Paulus das Liebesgebot steht. Aber der Weg zu dieser Gesetzeserfüllung „im Geiste“ geht über eine Gesetzeskritik, die auch dunkle und unvollkommene Seiten des Gesetzes offen legt: seine Repressivität und Unerfüllbarkeit, seine Äußerlichkeit und Posteriorität. Paulus Größe besteht vielleicht darin, dass er diese Spannung ausgehalten hat: Er sieht sehr klar die dunklen Seiten des Gesetzes als tötender Buchstabe, aber er hält weiterhin an ihm fest als dem lebendig machenden Geist. Die vorliegende Arbeit widerspricht der Paulusinterpretation der „New Perspective“, wo diese einen persönlichen Gesetzeskonflikt des Paulus in Abrede stellen will. Doch sie lässt sich auch mit Ergebnissen der „New Perspective“ in Einklang bringen, ja, bestätigt sie in einem wichtigen Punkt. Die „New Perspective“ hatte die Rechtfertigungslehre und die gesetzeskritischen Motive bei Paulus „sozial“ gedeutet – als einen Weg, das Judentum zu öffnen. 11 Die vier zusammengestellten jüdischen Texte mit gesetzeskritischen Motiven bestätigen das: Sie alle handeln direkt oder indirekt vom Verhältnis von Juden und Heiden. Diese soziale Beziehung ist der Sitz im Leben der gesetzeskritischen Motive im Judentum und der darauf aufbauenden radikalisierten Gesetzeskritik des Paulus. Die soziale Deutung der Rechtfertigungslehre steht aber nicht in einem unüberwindbaren Gegensatz 10 Vgl. DIO CHRYSOSTOM, V, Discourses 61–80, Fragments. Letters. With an english translation by H. Lamar Crosby, The Loeb Classical Library 385, Cambridge, Massachusetts, London, England, 42005, 240–249. 11 Auch M. WOLTER, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011 bestätigt das Recht der „New Perspective“. Er unterscheidet (ebd. 404) zwischen Entdeckungszusammenhang und Begründungszusammenhang der paulinischen Rechtfertigungslehre und schreibt (ebd. 405): „Entdeckungszusammenhang der paulinischen Rechtfertigungslehre ist die Existenz von Gemeinschaften [...] für deren Charakter zwei eng miteinander verbundene Elemente konstitutiv sind: zum einen spielt der Unterschied zwischen Juden und Heiden für ihr Selbstverständnis keinerlei Rolle und zum anderen sehen sie sich einzig und allein durch die Verbundenheit mit Jesus Christus mit Gott verbunden. [...] Integraler Bestandteil des Entdeckungszusammenhangs der paulinischen Rechtfertigungslehre ist [...] die weitergehende Frage: Wie verhält sich dieser Heilsstatus zum theologischen Selbstverständnis Israels, das sein Zentrum in der Gewissheit hat, dass Gott es sich aus allen Völkern zum Eigentumsvolk erwählt hat und ihm für die Veranschaulichung und Darstellung seiner Erwählung die Tora gegeben hat?“ Es sei, so M. WOLTER ebd. 409, „vor allem der unterschiedliche Entdeckungszusammenhang [...] der die Rechtfertigungslehre Martin Luthers von der paulinischen“ unterscheide.
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zu einer Deutung auf ein individuelles Sündenbewusstsein und Heilsverlangen. 12 Eine Revision des Sozialbezugs, wie Paulus sie in seiner Hinwendung zu den Heiden vollzogen hat, kann auch immer eine Krise des Selbstbezugs bedeuten. Darüber hinaus ist der veränderte Sozialbezug, das Verhältnis von Juden und Heiden, an den Kult gebunden. Schließlich geht es Paulus nicht nur um einen philosophischen Gottesglauben für alle Heiden, sondern um einen gemeinsamen Gottesdienst. Wahrscheinlich hat Paulus bis zuletzt an der Hoffnung auf eine Öffnung des Tempels für die Heiden festgehalten – und damit an der Einheit mit dem Judentum. 13 Die Gesetzeskritik geschieht auch dieser kultischen Öffnung wegen und ist schon deswegen nicht gegen das Judentum gerichtet. Man kann sogar vermuten: Gerade weil Paulus an dem Ziel eines gemeinsamen Gottesdienstes und Kultes von Juden und Christen bis zuletzt festgehalten hat, konnte er umso mehr das Gesetz kritisieren, sofern es dieser gemeinsamen Gottesverehrung im Wege stand. Man darf nie vergessen: Das Judentum seiner Zeit wird mit Recht das Judentum des Zweiten Tempels genannt. Das Gesetz war eine seiner Grundlagen. Erst nach der Zerstörung des Tempels wurde es zur einzigen Grundlage. Nach dem Wegfall dieses Symbols einer Hoffnung auf einen gemeinsamen Gottesdienst konnte die Gesetzeskritik des Paulus als grundsätzliche Kritik am Judentum missverstanden werden und die positiven Aussagen über das Gesetz zurücktreten.
12 Vgl. hierzu auch die Kurzdarstellung von J.D.G. DUNNS Paulusinterpretation bei: F. WILK, Gottesgerechtigkeit – Gesetzeswerke – eigene Gerechtigkeit. Überlegungen zur geschichtlichen Verwurzelung und theologischen Bedeutung paulinischer Rechtfertigungsaussagen im Anschluss an die „New Perspective“, ThLZ 135, 2010, Heft 3, 267-282. Vgl. zur individualpsychologischen Deutung des Gesetzeskonflikts auch G. THEISSEN, Erleben und Verhalten , 469-479. 13 Vgl. G. THEISSEN, Die Bedeutung der Tempelprophetie Jesu für die ersten Christen. Die Wirkungsgeschichte der Tempelprophetie im 1. Jh. n.Chr., in: ders./H. U. Steymans/Siegfried Ostermann et.al. (Hg.), Jerusalem und die Länder. Ikonographie – Topographie – Theologie (FS M. Küchler zum 65. Geburtstag), NTOA 70, Göttingen 2009, 149–201, 168–172.
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Zusammenfassung
Die Arbeit „Gesetzeskritische Motive im Judentum und die Gesetzeskritik des Paulus“ möchte die Entstehung der paulinischen Gesetzeskritik historisch plausibel machen und fragt, ob es im Judentum potenziell gesetzeskritische Motive gab, an die Paulus sachlich und sprachlich anknüpfen konnte. In vier Texten werden solche Motive manifest und in der Regel zurückgewiesen: Josephus schildert (ant.Iud. 4,145-149) die Rebellion des Simri gegen das tyrannische Gesetz des Mose, in 4Esr 8,20-36 klagt der Seher über die Unerfüllbarkeit des Gesetzes, Philo kritisiert (migr. 89-93) radikale Allegoristen, die das Gesetz spirituell verstehen und stellt (Jos. 28-31) Joseph als Gesetzgeber in Ägypten dar, dessen Volksgesetze ein „Zu-Satz“ zum natürlichen und ungeschriebenen Gesetz der Patriarchen sind. Die vier Motive können in breitere Mentalitätsströme im Judentum eingebettet und damit als repräsentativ und resonanzfähig erwiesen werden: Die Kritik des Simri spiegelt Akkulturationstendenzen im Judentum, pessimistische Aussagen über den Menschen finden sich in Qumrantexten, im Diasporajudentum gab es eine Tendenz zur spirituellen Auffassung der Tora, und auch die Abwertung eines später eingeführten Gesetzes ist im Judentum bezeugt. Diese innerjüdischen Strömungen sind ihrerseits in allgemein antike Traditionen eingebettet: in die sophistische Gesetzeskritik, in ein Bewusstsein der Unvollkommenheit des Menschen, in eine allegorisierende Auslegung religiöser Traditionen und eine Hochschätzung des Alten und Ursprünglichen. Paulus hat die verschiedenen Motive, die in jüdischen Schriften an sehr verschiedenen Stellen und jeweils isoliert begegnen, aufgegriffen, zum ersten Mal in seinen Briefen kombiniert und aufgrund seines Christusglaubens zu einer Gesetzeskritik zugespitzt. Seine Haltung zum Gesetz ist ambivalent und verbindet Hochschätzung vor dem Gesetz mit Kritik an seinen Schattenseiten. Seine Kritik ist aber zu seiner Zeit noch keine grundsätzliche Abgrenzung zum Judentum, sondern dient dem Ziel eines gemeinsamen Gottesdienstes von Juden und Heiden, an dem Paulus immer festgehalten hat.
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Literatur
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Stellenregister
Register Stellenregister
1. Altes Testament Genesis 1,27 ....................... 174 2,7 ........................ 205 2,16–17 ................. 205 2,17 ......................207f 2,24 LXX .............. 174 2–3 ........................ 193 3,13 ....................... 193 12,1–3 ................... 103 12,1–4 ................... 102 12,2 ....................... 105 12,3 ....................... 222 12,4 ....................... 103 15,6 ....................... 222 30,24 LXX ............ 138 37 ........................ 136 39 ........................ 136 40 ........................ 136 41 ........................ 136 41,45 ..................... 143 41,48 ..................... 143 42–45 .................... 136
25,14....................... 29 31,6................... 36, 39 31,14–17 ................. 44
Deuteronomium 4,2 LXX ....... 140, 225 7,3 .......................... 42 10,16..................... 216 10,16..................... 216 13,1............... 140, 225 15,13f ................... 144 24,1ff .................... 174 30,6....................... 216 30,19....................... 75 32,8–9................... 229 32,8f ..................... 231 33,2 LXX ............. 228
Richter
34 ........................ 192
18,5 ....................... 238 26,41 ..................... 216
9,17 ........................ 65 20,9 ........................ 80
Prediger 7,20 .........80, 199, 201
Jesaja 59,7–8 LXX ......... 199 63,9 ...................... 231
Jeremia 4,4 ........................ 216 9,25 ...................... 216
Ezechiel 9,20......................... 36
Hiob
Levitikus
Sprüche
14,1–16,31 .............. 43
1. Chronik
Exodus
106,29f ................... 36 139,4 .................... 199
7,17......................... 80 10,8......................... 76 10,9......................... 92
44,7 ...................... 216 44,9 ...................... 216
Daniel 9,4–6 ...................... 79 9 .......................... 80
Esra
Numeri
Psalmen
12,1 ......................... 34 16,5–11 ................... 44 25 .......................... 25 25,1–9 ..................... 43 25,5 ......................... 44 25,6 ......................... 29 25,7f ....................... 36 25,11 ................. 36, 41 25,11–13 ........... 36, 39 25,12f................ 36, 41
5,10....................... 199 8,4 .......................... 80 9,28....................... 199 13,1............... 199, 201 13,2–3 LXX ......... 201 13,2f ..................... 199 35,2....................... 199 35,2 LXX ............. 201 106,3....................... 36 106,6................. 79, 80
9 .......................... 80
Nehemia 9 .......................... 80
Ester 3,8 .......................... 42
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Register
2. Frühjüdische Literatur Aristeasbrief 128–171 ................ 116 139 ........................ 116 187–295 ................ 116 234 ........................ 117
Aristobulos Fragmente 2 ........................ 114 4 ........................ 115 5 ........................ 115
Buch der Jubiläen 1,22f ....................216f 15,30–32 ............... 229
4. Esra ... 46, 67f, 89f, 211 Visio 1 ........ 70, 72, 87 Visio 1–3 .........69f, 87 Visio 1–7 ................ 69 Visio 2 .............. 71, 73 Visio 3 ........ 70–73, 87 Visio 4 ............. 84, 87f Visio 4–6 ................ 69 3,1 .......................... 68 3,1–3 ....................... 70 3,1–5,20 .................. 72 3,4–36 ............... 70, 72 3,20 ......................... 72 3,20–22 ............. 70, 72 3,21 ......................... 72 3,22 ......................... 72 3,26 ......................... 72 4 .......................... 87 4,1–25 ............... 70, 72 4,4 .......................... 72 4,11 ......................... 81 4,12 ................... 70, 72 4,24 ......................... 81 4,26–52 ............. 70, 73 4,30f ................. 70, 72 4,38 ................... 70, 73 5,1–13 ..................... 70 5,13 ......................... 82 5,14–20 ................... 70 5,20 ......................... 82
5,21–22................... 71 5,21–6,34 ................ 73 5,23–30................... 71 5,31–40................... 71 5,41–6,10 ................ 71 6,11–29................... 71 6,30–34................... 71 6,31......................... 82 6,32................... 71, 73 6,35......................... 82 6,35–37................... 71 6,35–9,25 ................ 73 6,38–59................... 71 7,1–25..................... 71 7,3–9....................... 73 7,11f ....................... 73 7,17f ................. 71, 73 7,20......................... 73 7,21–24................... 73 7,24......................... 73 7,26–44................... 71 7,37......................... 73 7,45–74................... 71 7,45f ........... 71, 74, 81 7,48............ 71f, 74, 81 7,60......................... 74 7,64.................. 71, 73f 7,65f ....................... 81 7,67f ....................... 81 7,68................... 71, 74 7,72......................... 73 7,75–115 ................. 71 7,76f ................. 71, 74 7,78–115 ................. 74 7,79......................... 73 7,88......................... 75 7,89......................... 75 7,92................... 72, 75 7,94......................... 75 7,98......................... 75 7,116–118 ......... 71, 75 7,116–8,3 .......... 71, 75 7,119....................... 81 7,119–126 ......... 71, 75 7,122....................... 81 7,129....................... 75 7,131....................... 75 7,132–139 ............... 75 8,3 .................... 71, 76 8,4–19............... 71, 76 8,14......................... 76
8,20–36 ....... 6, 20, 67, 71, 74, 76 8,26–30 .................. 79 8,28f ....................... 84 8,29 ........................ 81 8,31 .................. 79, 81 8,31–36 ............ 71, 76 8,34 .................. 79–81 8,35 ....................... 79f 8,37–62 ............ 71, 78 8,37f ....................... 78 8,44 ........................ 78 8,47–49 ............ 71, 78 8,53 ........................ 78 8,56 ........................ 78 8,60 ........................ 78 9,1–22 .............. 71, 78 9,14 ........................ 71 9,15 ........................ 78 9,18 ........................ 78 9,22 ........................ 78 9,23–25 .................. 71 9,29–37 .................. 88 9,38 .................. 88, 90 9,38–10,24 ............ 88f 10,25–28 ................ 89 12,34 ...................... 18 13,54 ...................... 81 14,34 ...................... 18 14,42 ...................... 68
Griechische Esraapokalypse 1,17 ........................ 80 5,27 ........................ 80
Äthiopischer Henoch 20,1–7 .................. 230 41,1 ........................ 19 61,8 ........................ 19 89,59 .................... 230 90,22 .................... 230 90,25 .................... 230
Slawischer Henoch 44,5 ........................ 19 49,2–3 .................... 19 52,15 ...................... 19
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Stellenregister Jesus Sirach 17,17 ..................... 229 32,23 ..................... 215 45,23–26 ................. 36
Josephus Antiquitates Iudaicae 1,13 ....................... 171 1,14 ......................... 46 1,16 ....................... 171 1,19 ......................... 35 2,252–253 ............... 35 2,258–263 ............... 35 3,224–286 ............... 45 3,300 ....................... 33 4 .............. 30, 33, 42 4,1ff ........................ 33 4,1–6 ..................... 195 4,3 .................. 33, 195 4,16 ......................... 33 4,22 ......................... 33 4,127–130 ............... 30 4,127–149 ............... 30 4,127–164 ............... 31 4,131–155 ............... 43 4,132 ....................... 43 4,134–138 ............... 30 4,135 ....................... 43 4,140 ....................... 43 4,141 ....................... 35 4,141–155 ............... 25 4,142 ....................... 44 4,142–144 ......... 35, 44 4,143 ....................... 44 4,143–144 ............... 30 4,145 ................. 32, 34 4,145–147 ............... 32 4,145–149 .......20, 25f, 29, 42, 236, 241 4,145f...................... 32 4,146 ... 32–34, 42, 195 4,147 ................. 32–34 4,147f...................... 32 4,148 ........... 32, 34, 43 4,148–149 ............... 32 4,148f...................... 32 4,149 ................ 32f, 42 4,150 ....................... 35 4,151 ........... 35, 39, 41 4,151–153 ............... 35 4,152 ....................... 39 4,153 ....................... 39 4,154 ....................... 39 4,159 ....................... 39 4,163 ....................... 44
4,184–186 ............... 44 4,189....................... 44 4,196–301 ............... 45 5,120....................... 41 5,286–313 ............... 43 11,212..................... 42 12,271..................... 40 13,171–173 ............. 16 13,212..................... 40 13,257................... 215 15,136................... 228 18,117.................. 120f 19,280................... 110 20,41..................... 215 20,41f ................... 109 20,41ff .................. 219 Contra Apionem I 162 ..................... 171 I 165 ..................... 171 I 166f .................... 173 I 1f ........................ 171 I 20f ...................... 171 I 27 ....................... 171 I 6–15 ................... 171 I 69–160 ............... 171 II 154f................... 173 II 168 ................... 172f II 234f..................... 45 II 257 .................... 172 II 280f................... 172 De bello iudaico 2,162–166 ............... 16 2,562–571 ............... 28 2,638....................... 41 3,400–402 ............... 41 7,323–336 ............... 30 7,341–388 ............... 30 De vita sua 2 .......................... 27 12 .................... 28, 34 28 .......................... 28
1. Makkabäer 1,11................... 48, 49 2,24......................... 36 2,26................... 36, 40 2,27................... 36, 40 2,50......................... 36 2,54................... 36, 40 5,5 ........................ 187 8,23–30................. 224 8,30............... 140, 225
2. Makkabäer 1,2–5 ...................... 80
4. Makkabäer 1,33f ....................... 64 9,10–12,19 ............. 30 18,10 ...................... 37 18,12 ...................... 37 18,13 ...................... 37
Oden Salomos 11,1–3 .................. 216
Philo De Abrahamo 3 ................ 161, 168 5 ....... 161, 163f, 233 5–6 ...................... 163f 16 ........................ 164 275 ....................... 164 De aeternitate mundi 7ff ........................ 171 113 ....................... 140 De confusione linguarum 57 ......................... 37f De decalogo 1 ........................ 164 53 ........................ 149 69 ........................ 171 De ebrietate 73 .......................... 38 73–76 ..................... 37 74 .......................... 37 74f .......................... 37 75 .......................... 37 76 .......................... 37 193 ....................... 150 194 ....................... 150 De Josepho 1 ............... 135f, 145 2–3 ....................... 135 2–27 ..................... 136 28 ............... 132, 137f
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Register
28–31 ............ 20, 129f, 134–140, 145–149, 152, 169, 235, 241 28–36 ......... 135f, 139f 28ff ........... 144f, 152f, 172, 232f 29 ........ 146–149, 157 29–31 .................... 149 30 ................ 139, 160 31 ........................ 149 32 ........................ 140 33 ........................ 140 34 ........................ 140 35f ........................ 140 37–39 .................... 135 37–57 .................... 136 40–57 .................... 135 58–79 .................... 136 80–98 .................... 136 99–124 .................. 136 116–124 ................ 135 125–150 ................ 136 151–156 ................ 136 157–270 ................ 136 De migratione Abrahami 1–6 ........................ 103 7–35 ...................... 103 36–126 .................. 103 86–105 .......... 105, 113 86–88 .................... 105 88 ................ 105, 113 89 .......................104f 89–93 ....... 20, 99–104, 107–113, 235, 241 90 ........................ 106 91 ................ 104, 106 92 ........................ 106 93 ............... 106f, 113 127–147 ................ 103 148–157 ................ 104 158–175 ................ 104 176–186 ................ 104 187–191 ................ 104 192–195 ................ 104 196–207 ................ 104 208–215 ................ 104 216–225 ................ 104 De Mutatione nominum 108 .........................37f 89 ....... 140, 142f, 154 89f ........................ 142 90 ........................ 154
De opificio mundi 3 ................ 161, 168 69 ........................ 168 71 ........................ 168 143........................ 149 143f ...................... 149 19 ........................ 149 De plantatione 128........................ 140 De posteritate Caini 4–5........................ 143 91 ........................ 230 182.......................... 38 182–185 .................. 37 183......................... 37f De praemiis et poenis 1–2........................ 134 De somniis I 140–144 ............. 228 II 47 .............. 140–143 II 63 ...................... 140 II 63f..................... 143 De specialibus legibus I 325f .................... 144 I 34 ....................... 149 I 56 ......................... 38 I 56–57 ................... 37 I 57 ........................ 37f II 140 .................... 171 II 84f..................... 144 III 167................... 140 III 208................... 115 III 208f ......... 117–121 IV 102 .................. 172 IV 143 .......... 140, 225 IV 144 ................. 140f IV 145f ................. 141 IV 146 ................. 140f IV 147 ................. 140f IV 149 .................. 164 IV 149f ................. 164 IV 150 .................. 164 IV 59–60 .............. 172 IV 619 .................. 168 De virtutibus 41 .................... 37, 38 194........................ 164 De vita contemplativa 70 ........................ 144
De vita Mosis I 21 ....................... 171 I 23–24 ................. 171 I 31 ....................... 171 I 54 ......................... 42 I 117 ..................... 144 I 148–162 ............. 164 I 162 ..................... 163 I 295–304 ............... 42 I 301 ....................... 38 I 301–304 ............... 37 I 302 ....................... 38 I 304 ....................... 37 I 306 ....................... 38 If ........................ 134 II 4 ........................ 163 II 11 ...................... 168 II 12 ...................... 167 II 13 .............. 150, 168 II 17 ...................... 150 II 18–20 ................ 150 II 20 ...................... 172 II 34 ...................... 141 II 48 ...................... 168 II 51 .......149, 161, 167 Legatio ad Gaium 1 ........................ 101 182 ....................... 101 190 ....................... 171 194 ....................... 171 Legum allegoriae I 105 ..................... 172 I 105–108 ............ 207f III 52 ................... 207f III 242 ................... 37f Quaestiones in Exodum II 2 ........................ 112 Quaestiones in Genesim I 16 ....................... 208 I 16 ....................... 207 II 6................ 168, 171 III 5 ...................... 172 IV 90 .................... 144 IV 152 .......... 168, 172 IV 167 .................. 171 IV 184 .................. 144 Quis rerum divinarum heres sit 214 ....................... 172 295 ............... 165, 166
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257
Stellenregister Quod Deus sit immutabilis 19 ................ 140, 142
Pseudo-Phokylides 5 ........................ 120 228 ................ 117–121
Pseudo-Philo Liber antiquitatum biblicarum 18,13–14 ................. 42 18,14 ....................... 38 24,4 ......................... 38 28,1–3 ..................... 38 46,1 ......................... 38 46,1–47,10 .............. 38 46,4 ......................... 39 47,1 ......................... 38 47,2 ......................... 39 48,1 ......................... 39 48,1–2 ..................... 38 50,3 ......................... 38 52,2 ......................... 38 52,2 ......................... 39 53,6 ......................... 38
Qumran 1QH 1,21......................... 92 1,21–27....... 91, 92, 94 2,4ff ........................ 91 3,23......................... 92 3,23–25................... 94 3,23f ....................... 91 3,6–13..................... 91 4 .......................... 94 4,10–15................... 91 4,29................... 91, 92 4,29–33............. 91, 94 4,30–32................. 201 7,28–33............. 91, 94 9,14f ..................... 201 10,1–3a ................... 94 10,2–12................... 91 11,7–10................... 91 12,24–28 ................. 92 12,24–36 ........... 91, 92 12,24–36 ................. 91 12,25f ..................... 91 12,26....................... 92 12,32....................... 92 12,32....................... 91 13,13–18 ........... 91, 94 13,14ff .................... 91 13,15....................... 91 13,5–6..................... 91
15,14 ...................... 91 15,21–22 ................ 91 17,19–21 ................ 91 18,16–33 ................ 91 1QpHab 11,13 .................... 216 1QS 3 ................ 120, 122 3,4–6 .................... 122 3,7–9 .................... 122 3,20–26 ................ 231 5,5 ........................ 216 4Q 177 fragm. 9 ......... 216 184 ....................... 216
Syrischer Baruch 48,14 ...................... 80 48,17 ...................... 80
Vita Adae et Evae 19 .......................... 64
Apokalypse des Zephania 8,5 .......................... 19
3. Neues Testament Matthäusevangelium 5,21ff .................... 173
Markusevangelium 7,5 ........................ 119 7,15 ....... 113–122, 218 9,37 ....................... 120 10,1–9 ................... 175 10,2ff ............ 174, 232 10,4 ....................... 174 10,5–9 ................... 174 10,9 ....................... 174 10,11 ..................... 175
Lukasevangelium 16,18..................... 175
Johannesevangelium 3,21....................... 122
Apostelgeschichte 7,38....................... 228 7,51....................... 216 7,53....................... 228 15,10–12............... 213 15,19..................... 213
Römerbrief 1,1–18 .................. 198 1,18–3,20 ............. 198 1,18f ..................... 197 2,12ff .................... 236 2,25 ...................... 214 2,25–27 ........ 214, 215 2,28f ..................... 216 3 ................ 210, 212 3,9 ........................ 198 3,10 .............. 199, 201 3,10–18 ......... 94, 197, 199, 212 3,10–20 ................ 198 3,11 ...................... 201 3,12 ...................... 201 3,13–15 ................ 201
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258
Register
3,16–18 ................. 201 3,18 ....................... 201 3,20 ....................... 197 3,21 ....................... 238 3,21–5,21 ...... 198, 200 3,31 ....................... 238 4 ........................ 233 4,7 ........................ 198 4,9–12 ..................214f 4–5 ........................ 236 5,13 ....................... 226 5,20 .............. 221, 224, 227, 236 5,20–21 ................. 226 6 ................ 198, 210 6,14f ..................... 189 6–8 ........................ 236 7 ................. 95, 198, 204–208, 212 7,5 ........................ 198 7,5ff ...................... 224 7,6 ........................ 186 7,7 ........................ 209 7,7–13 ... 193, 202–209 7,7–14 ................... 208 7,7–24 ................... 203 7,7–25 ..................206f 7,7ff .............. 193, 209 7,8–11 ................... 209 7,9 ................ 193, 204 7,10 ....... 194, 209, 238 7,11 ....... 185, 190–195 7,12 ....................... 238 7,12–22 ................. 238 7,13 ....................... 209 7,14 ....................... 238 7,14–23 ................ 197, 201–204 7,14–24 ................. 209 7,14–25 ........ 197, 201, 207, 212 7,14f ..................... 201 7,14ff .... 202–205, 210 7,15 ....................... 202 7,15–24 ................. 197 7,16 ....... 202, 209, 238 7,17 ....................... 202 7,18 ............... 202, 209 7,19 ....................... 202 7,19–21 ................. 202 7,20 ....................... 202 7,21 ............... 202, 209 7,22 ....................... 238 7,23 ....................... 202 7,24 ............... 203, 211 7,25 ....................... 211
7f ....................... 210f 8 ........................ 200 8,1 ........................ 211 8,1ff ...................... 210 8,2 ........................ 211 8,4 ........................ 238 9 ........................ 236 9–11..................... 236f 10,2ff ...................... 14 10,4....................... 191 10,5....................... 238 11,27..................... 198 11,32..................... 187 12,2....................... 173 13,8–10................. 238 13,10..................... 217 14 ........................ 217 14,3....................... 218 14,10..................... 218 14,14..................... 218 14,15..................... 218 14,16..................... 218 14,17..................... 218 14,23..................... 218 15,1....................... 218
1. Korintherbrief 4,14–21................. 188 7,19...................... 214f 8,1 ........................ 183 9,1 ........................ 183 9,8 ........................ 238 9,19–23................. 194 9,20....................... 189 11,32..................... 187 13,1....................... 229 14,21..................... 238 15,3....................... 198 15,8....................... 183 15,17..................... 198
2. Korintherbrief 3
......... 23, 185, 191, 193, 202 3,6 .................. 23, 236 3,6–11................... 191 3,6f ....................... 192 3,12f ..................... 191 3,13...... 185, 190f, 195 3,14....................... 223 3,16....................... 191 4,2f ....................... 192 4,6 ........................ 183 5,17....................... 173
Galaterbrief 1 ........................ 183 1,4 ........................ 198 1,9 ........................ 229 1,15f ............. 183, 194 2,9 ........................ 213 2,11–14 ................ 217 2,15f ..................... 226 2,16f ..................... 188 2,18 ...................... 104 2f ........................ 188 3 ............... 188, 222, 227, 233 3,1–18 .................. 221 3,1–4,11 ............... 190 3,1–5 .................... 222 3,1ff ...................... 221 3,3 ........................ 222 3,6 ........................ 222 3,6–14 .................. 222 3,8 ........................ 222 3,10 ..................... 188f 3,10–12 ................ 188 3,10–5,18 ............. 188 3,11 ...................... 197 3,12 ...................... 238 3,13 ...................... 188 3,15 .............. 223–225 3,15–18 ............... 188, 222–224 3,16 ...................... 232 3,17 ..................... 223f 3,18 ...................... 224 3,19 .......129, 221–232 3,19–25 ................ 223 3,20 ............. 188, 224, 227, 232 3,22 .............. 187, 189 3,22f ..................... 186 3,23 .............. 187–189 3,24 .............. 185–191 3,25 ...................... 189 3,28 ...................... 195 3,28f ..................... 190 3f ........................ 185 4 ................ 188, 233 4,2 ........................ 189 4,3 ........................ 189 4,4 ........................ 189 4,5 ........................ 189 4,8–10 .................. 189 4,9 ........................ 189 4,12–5,12 ............. 190 4,21 ...................... 189 4,21–5,1 ............... 190 4,21a..................... 189
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259
Stellenregister 4,24 ....................... 223 5,1 ........................ 190 5,2 ........................ 214 5,6 ........................ 217 5,12 ....................... 214 5,14 ............... 217, 238 5,16–18 ................. 210 5,18 ....................... 189 6,12 ....................... 214 6,13 ....................... 213 6,15 ....................... 217
Philipperbrief 3 .......... 14, 183, 204 3,2 ........................ 214 3,3 ................ 213, 217 3,4–6.................... 204f 3,12ff .................... 194 4,7 ........................ 187
Kolosserbrief
1. Petrusbrief 1,5 ........................ 187
1. Thessalonicherbrief 2,16 ...................... 198
Apokalypse 22,18 ............ 140, 225
2,8 ........................ 189 2,20....................... 189
4. Frühchristliche Literatur Clemens Alexandrinus Sentenzen DK 23 B 26 .......... 123
Irenäus Adversus Haereses 1,23,2–4 ................ 231 1,23,3 .................... 231
1,23,3f .................. 231 3,12,9.................... 231
Iustin Dialogus cum Tryphone 27,3....................... 199
Origenes Contra Celsum I 24 ....................... 157
Thomasevangelium 14 ........................ 120
5. Griechisch–Römische Literatur Antiphon DK 87 B 44 A, Cl. IV 1–6 .............. 50, 61
Aratos Phainomena 96–136 .................. 177
Aristoteles Ars Rhetorica 10–15 .................... 165 1365 b 27f............... 46
De legibus I 15,42 .................. 152 I 16,44 .................. 152 I 24 ....................... 147 I 6,18f ................... 152 I 8,24 .................... 149
De domo sua ad pontifices oratio 49 .......................... 62 127 .........................62f
Claudiusbrief II.89–90 ................ 109 II.90–91 ................ 110
Demophilos De natura deorum II,71 ...................... 125 De republica III 33............. 147–152 Paradoxa Stoicorum V,33f .................... 167 Pro M. Tullio 9 .......................... 62
Cicero
Claudius
Sententiae 45 ........................ 125
Dikaiarch fr. 49 Wehrli ......... 176
Euripides Plutarchus Moralia 71 A ....................... 63
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260
Register
Hesiod Erga 106–201 ................ 176
Horaz Sermones 1,3,65f..................... 96
Isokrates Ad Nicolem 20 ........................ 126 Über den Frieden 31 .......................... 56
Iustinus Epitoma historiarum Philippicarum Pompei Trogi 1,1 ........................ 179
Ovid Ars Amatoria II 19,3 ..................... 63 III 4,17 .................... 64 III 4,9 ...................... 63 Fasti 1,185–254 ............. 179 Metamorphoses 1,89–150 ..............178f 1,89–92 ................. 178 III 566 ..................... 64
Pindar Fragmenta 169 .......................... 60
Platon Fragmenta B 8 .......................... 56
Gorgias 482 c–484 c ............ 56 482e ........................ 51 483 b..................... 139 483 b–c ................... 56 483 c ....................... 56 483 d....................... 56 484 a ....................... 57 484b........................ 50 491 c–492 c ............ 56 491 e–492 a ............ 57 492 a ....................... 57 492 b–c ................... 57 Hippias Maior 284 d 1–3 ................ 60 Politeia 338.......................... 54 338 c 1–2 ................ 55 338 e ....................... 55 338e–339a .............. 50 339 a 1–4 ................ 55 341 a 3–4 ................ 55 343 c 2–4 ................ 55 343 c 2–5 ................ 55 343 c 4 .................... 55 343 d 2–3 ................ 55 343 d 3–e 7 ............. 55 343d–e .................... 50 344 c 7 .................... 55 Protragoras 316 d 3f ................ 170 337 c–e ................... 59 337d........................ 50
Plutarch Trostschrift an Apollonius 6 .......................... 96
Porphyrius
Seneca De Clementia I 23,1 ...................... 62 Epistula ad Lucilium 90 ........................ 177 90,3ff .................... 177 90,5–6 .................. 178
Sextus Pythagoreus Sententiae 23 ........................ 125
Sisyphosfragment 6 .......................... 59
Stobaios Fragmentum B 17 ........................ 60
Strabo Geographica XVI,2,35–38 .......... 48 XVI,2,37 ................ 49
Tacitus Annales 3,26 ...................... 179
Theoprast fr. 584A Fortenbaugh ........................ 176
Vergil Aeneis 6,791–805 ............ 179 8,314–325 ............ 175
De Abstinentia 2,19....................... 126
Publilius Syrus Sententiae N 17 ........................ 63
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Sachregister
Sachregister
Abfallstheoriexxx49, 167, 171–174 Akkulturationxxx45, 48, 111, 193, 239 Allegoriexxx107f, 130, 140, 143 Allegorische Auslegungxxx38, 99, 102, 104–107, 112, 115f, 119, 125–127, 129, 132–136, 138, 140–143, 230 Altersbeweisxxx168–171, 231 Antiphonxxx50, 53f, 58, 60–62, 193 Antithese von nomos und physisxxx50f, 59, 156–159 Apokalyptikxxx17, 19, 69, 80, 82f, 87, 209, 227 Apostasiexxx25, 29, 32, 35, 40, 46, 110, 192 Assimilationxxx21, 42f, 46–48, 110, 193 Betrug durch das Gesetzxxx34, 182f,188f, 191–193, 199 Bewusstwerden des Gesetzeskonfliktsxx181, 200, 207 Damaskuserlebnisxxx181f Das „lebendige Gesetz“ (nomos empsychos) 160–162, 178 Das „ungeschriebene Gesetz“ (nomos agraphos)x 157f, 161–165, 174–176, 178, 234, 239 Das Ehegesetzxxx172 Das Leben des Weisen ohne Gesetz xx160, 165 Das mosaische Gesetzxxx128, 133, 139, 156f, 160–162, 165f, 173, 231 Das ritualistische Gesetzxxx13, 99, 211 Das sekundäre Gesetzxxx54, 127, 172, 219,223, 230, 234 Das tyrannische Gesetzxxx22, 25–27, 31–33, 49f, 55, 58–60, 96, 163f, 183, 192f Das unerfüllbare Gesetzxxx13, 67, 90, 97, 190, 195, 235, 237 Der Reiz des Verbotenenxxx47, 62–64, 206 Doppelmoral des Gesetzgebersxxx34f Gesetz als „Zuchtmeister“xxx183f, 186f, 193 Gesetzeseifer / Eiferxxx19, 26, 34, 36–41, 47, 234f Gesetzesgehorsam / Gesetzesobservanz 15–18, 20, 25, 32, 35, 50, 65, 69, 72f, 104, 109, 113, 122, 202, 211, 216 Goldenes Zeitalterxxx172–178
Hellenistische Reformerxxx22, 47–49, 167, 171f, 179, 192f, 230 Hinzugefügte Gesetzexxx127, 129, 134, 138, 167, 219, 223f, 231f Hippiasxxx50f, 53f, 58–61, 193 Kalliklesxxx50–54, 56–58, 61 Literalsinnxxx107, 112 Naturgesetzxxx127, 133, 135f, 138, 143–147, 150, 157–160, 162f,165f, 178f, 230–232 Niedrigkeitsdoxologiexxx67, 90–92, 94, 210 Partikulare Staatsgesetzexxx128, 135, 143f, 164, 167, 178, 231f Partikularität des Gesetzesxxx20, 34, 158, 163, 182, 219, 231f Pinehasxxx22, 25, 29, 31f, 35–41, 47, 65, 182, 234f Posteriorität der Gesetzexxx13, 22, 127, 167, 182, 219–221, 225, 231, 233, 237 Prosopopoeiaxxx29f Radikale Allegoristenxxx99, 103f, 107–113, 125, 182, 216f, 234, 239 Reinheitxxx19, 73, 112–114, 116–123, 125f, 173 Repressivität des Gesetzesxxx13, 20, 33, 47, 50, 54, 58–62, 65, 182f, 185, 188, 235, 237 Rituelle Gebotexxx22, 99, 108f, 112, 114, 116, 118f, 121f, 125, 216f Simrixxx25, 29–36, 38–42, 44–47, 50, 54, 57f, 65, 67, 86, 96f, 99,182, 192f, 234, 239 Sophistikxxx51, 65 Sophistisches Rechtsdenkenxxx50–52, 58, 96, 239 Spiritueller Sinnxxx104, 117–119, 126, 216, 237, 239 Stoaxxx144f, 157f, 165, 167 Sündenpessimismusxxx22, 67, 70, 73, 75, 78, 82, 84, 86f, 90, 93f, 96f,182, 195, 200, 208–210, 234 Taufexxx22, 113, 121, 212 Thrasymachosxxx50, 52–58
© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593578 — ISBN E-Book: 9783647593579
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Novum Testamentum et Orbis Antiquus / Studien zur Umwelt des Neuen Testaments Band 97: Heidrun Elisabeth Mader
Montanistische Orakel und kirchliche Opposition Der frühe Streit zwischen den phrygischen »neuen Propheten« und dem Autor der vorepiphanischen Quelle als biblische Wirkungsgeschichte des 2. Jh. n.Chr. 2012. 262 Seiten mit 64 Tab., gebunden ISBN 978-3-525-53979-8
Band 96: Andreas Grandy
Die Weisheit der Gottesherrschaft Eine Untersuchung zur jesuanischen Synthese von traditioneller und apokalyptischer Weisheit 2012. 266 Seiten mit 3 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-53978-1
Band 95: Martina Janßen / Stanley F. Jones / Jürgen Wehnert (Hg.)
Frühes Christentum und Religionsgeschichtliche Schule Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerd Lüdemann Mit einem Geleitwort von Eduard Lohse 2011. 218 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-53977-4
Band 94: Alan H. Cadwallader / Michael Trainor (Hg.)
Colossae in Space and Time
Band 92: Joseph Verheyden / Tobias Nicklas / Andreas Merkt (Hg.)
Ancient Christian Interpretations of „Violent Texts“ in The Apocalypse In Cooperation with Mark Grundeken 2011. 313 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-53976-7
Band 91: Michael Bachmann
Von Paulus zur Apokalypse – und weiter Exegetische und rezeptionsgeschichtliche Studien zum Neuen Testament 2011. 644 Seiten mit 15 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-53398-7
Band 90: Dieter Sänger (Hg.) Gerhard Sellin
Allegorie – Metapher – Mythos – Schrift Beiträge zur religiösen Sprache im Neuen Testament und in seiner Umwelt 2011. 306 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-55020-5
Band 89: Eric K.C. Wong
Evangelien im Dialog mit Paulus Eine intertextuelle Studie zu den Synoptikern 2011. 201 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-53037-5
Linking to an Ancient City 2011. 368 Seiten mit 67 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-53397-0
Band
© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593578 — ISBN E-Book: 9783647593579
Novum Testamentum et Orbis Antiquus / Studien zur Umwelt des Neuen Testaments Band 87: Christian Wetz
Eros und Bekehrung Anthropologische und religionsgeschichtliche Untersuchungen zu »Joseph und Aseneth« 2010. 256 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-54007-7
Band 86: Florian Herrmann
Strategien der Todesdarstellung in der Markuspassion Ein literaturgeschichtlicher Vergleich 2009. VIII, 407 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-55011-3
Band 83: Ursula Hackl / Bruno Jacobs / Dieter Weber (Hg.)
Quellen zur Geschichte des Partherreiches Textsammlung mit Übersetzungen und Kommentaren. Bd. 1: Prolegomena, Abkürzungen, Bibliografie, Einleitung, Indices, Karten, Tafeln 2010. CXLIII, 256 Seiten mit 77 Abb. und 5 Karten, gebunden ISBN 978-3-525-53386-4
Band 82: Stefan Schreiber
Weihnachtspolitik
Band 85: Ursula Hackl / Bruno Jacobs / Dieter Weber (Hg.)
Lukas 1-2 und das Goldene Zeitalter 2009. 174 Seiten mit 8 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-53392-5
Quellen zur Geschichte des Partherreiches
Band 81: Georg Schelbert
Textsammlung mit Übersetzungen und Kommentaren. Bd. 3: Keilschriftliche Texte, Aramäische Texte, Armenische Texte, Arabische Texte, Chinesische Texte 2010. VIII, 512 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-53388-8
Band 84: Ursula Hackl / Bruno Jacobs / Dieter Weber (Hg.)
Quellen zur Geschichte des Partherreiches Textsammlung mit Übersetzungen und Kommentaren. Bd. 2: Griechische und lateinische Texte, Parthische Texte, Numismatische Evidenz 2010. X, 639 Seiten mit 62 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-53387-1
ABBA Vater Der literarische Befund vom Altaramäischen bis zu den späten Midrasch- und HaggadaWerken in Auseinandersetzung mit den Thesen von Joachim Jeremias 2011. 413 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-55029-8
Band 80: Darina Staudt
Der eine und einzige Gott Monotheistische Formeln im Urchristentum und ihre Vorgeschichte bei Griechen und Juden 2011. 345 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-55015-1
© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525593578 — ISBN E-Book: 9783647593579