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German Pages 109 [110] Year 2022
Jantine Nierop
Geschlecht und Kirche Praktische Theologie und Genderforschung
Verlag W. Kohlhammer
1. Auflage 2022 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-042214-8 E-Book-Format: pdf: ISBN 978-3-17-042215-5 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort .......................................................................................................
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Gender Mainstreaming als kirchliche Strategie Oder: die Geschlechterfrage im Spiegel biblischer Schöpfungstheologie .................................................................................
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„Es gibt keinen Menschen an sich“ – oder doch? Neue Überlegungen zum Geschlechterverständnis von Karl Barth
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Frauen in Führungspositionen auf der mittleren Ebene der evangelischen Kirche Eine Analyse und Reflexion statistischer Daten aus fünf evangelischen Landeskirchen .................................................................
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„Wissen Sie, dass Sie Ihre Kinder zu Waisen machen, Frau X?“ Die Persistenz stereotyper Rollenbilder in der Evangelischen Kirche als Ergebnis der Kulturanalyse „Kirche in Vielfalt führen“ (2017) ...
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Männer- und Frauensprache auf der Kanzel? Eine quantitativ-empirische Untersuchung von Genderunterschieden in deutscher Predigtsprache mit Implikationen für den homiletischen Unterricht ................................
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‚Predigen ist Reden‘ als homiletischer Ansatz Kompetenzorientiert und postliberal (und dadurch radikal gendersensibel) ..........................................................................................
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Inhaltsverzeichnis
Das Taufgespräch bei Säuglingstaufen als Ort genderkompetenter Seelsorge Oder: die Tendenz einer ungewollten Retraditionalisierung bei jungen heterosexuellen Eltern als Anfrage an die Kirche ..................
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Exkurs I: Gerechte Entlohnung (Predigt zu Mt 20,1–16 am 9. Februar 2020 in der Heidelberger Universitätsgemeinde) .............................................................................
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Exkurs II: Biblischer Realismus (Predigt zu 1. Mose 2,4b–9,15.18–25 am 12. September 2021 in der Heidelberger Universitätsgemeinde) .....................................................
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Bibliographie .............................................................................................. 101 Erstveröffentlichungsverzeichnis ........................................................... 107 Über die Autorin ........................................................................................ 109
Vorwort
Das vorliegende Buch enthält sieben Aufsätze zum Thema Praktische Theologie und Gender. Manche wurden bereits veröffentlicht, andere sind neu. Die ersten beiden Aufsätze lesen sich als eine Art Einführung. Sie behandeln Geschlechterfragen in biblisch- und systematisch-theologischer Perspektive. Im ersten Aufsatz geht es um Gender Mainstreaming als eine mögliche kirchliche Strategie. Hier wird erforscht, ob eine Dekonstruktion der Kategorien Mann und Frau biblischer Schöpfungstheologie entspricht und wenn ja, in welcher Form. Eine sehr frühe Version dieses Aufsatzes erschien im Jahr 2018 unter dem Titel „Über die Entbehrlichkeit von Geschlechtern in der Kirche“1. Für dieses Buch wurde der Text vollständig überarbeitet und um eine Auslegung der zweiten Schöpfungsgeschichte ergänzt. Auch die Pointe ist neu: Wer auf die Kategorien Mann und Frau ganz verzichtet, schneidet sich – gerade im Blick auf Chancengerechtigkeit – ins eigene Fleisch. Vermeintlich männliche oder weibliche Eigenschaften sollen jedoch als Geschlechterklischees entlarvt werden. Der zweite Aufsatz, im Jahr 2021 veröffentlicht, behandelt Karl Barths Geschlechterverständnis.2 Könnte es sein, dass er seine frühe und ziemlich rigide Geschlechterlehre im Laufe der Zeit stillschweigend revidiert hat? Ich schlage eine Lesart des Spätwerks vor, in der es Barth nicht mehr um Mann oder Frau geht, sondern um den ‚Menschen an sich‘. Damit wäre 1
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Über die Entbehrlichkeit von Geschlechtern in der Kirche. Eine Auslegung von Gen 1,27 sowie 1Kor 11,2–16, in: Gender im Disput. Dialogbeiträge zur Bedeutung der Genderforschung für Kirche und Theologie (Jantine Nierop, Hg.), Hannover 2018, 258–268. „Es gibt keinen Menschen an sich“ – oder doch? Neue Überlegungen zum Geschlechterverständnis von Karl Barth, in: Gotteserschütterung – Gottesvergewisserung. Die Gegenwartsrelevanz der Gotteslehre Karl Barths (Gregor Etzelmüller/ Georg Plasger, Hg.), Zürich 2021, 118–123.
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Vorwort
auch das kritische Potential eingeholt, das trotz allem in der frühen Geschlechterlehre steckt, indem sie letztendlich offenhält, worin die Unterschiede zwischen den Geschlechtern bestehen. Interessant ist die Frage, welche Rolle dabei das Konzept der Einwohnung des Heiligen Geistes spielt. Um Chancengerechtigkeit und eine individuelle Wahrnehmung von Menschen jenseits von Geschlechterstereotypen geht es auch im dritten und vierten Aufsatz – nun aber in dezidiert praktisch-theologischer Perspektive. Beide Aufsätze, veröffentlicht in den Jahren 2017 und 2018, gehören zur Subdisziplin der Kirchentheorie. Sie nehmen kirchliche Führungspositionen unter die Lupe und fokussieren dabei auf die mittlere (regionale) Leitungsebene. Der dritte Aufsatz analysiert statistische Daten aus dem Jahr 2015 aus fünf evangelischen Landeskirchen.3 Es lässt sich klar beobachten, dass Frauen in kirchlichen Führungspositionen unterproportional vertreten sind. Ein kurzer Nachtrag berücksichtigt die aktuelle Entwicklung bis 2020. Der vierte Aufsatz reflektiert auf die verblüffende Persistenz stereotyper Rollenbilder im kirchlichen Raum.4 Nach der EKD-Studie „Kirche in Vielfalt führen“ (2017) gilt sie als eine der Ursachen für die weibliche Unterrepräsentanz in Führungspositionen. Zum Kampf gegen Geschlechterstereotypen gehört meines Erachtens ebenso die Frage, welche unterschiedlichen Verhaltensweisen sich (aus welchen Gründen auch immer) tatsächlich bei den Geschlechtern feststellen lassen und wie man jedem Menschen zu mehr individueller Freiheit ermuntern kann. In einem quantitativ-empirischen Forschungsprojekt habe ich untersucht, ob Männer und Frauen unterschiedlich predigen. Die Ergebnisse sowie ihre Implikationen für die akademische
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Frauen in Führungspositionen auf der mittleren Ebene der evangelischen Kirche. Eine Analyse und Reflexion statistischer Daten aus fünf evangelischen Landeskirchen, in: Ökumenische Rundschau 66 (2017), 512–524. „Wissen Sie, dass Sie Ihre Kinder zu Waisen machen, Frau X?“ Die Persistenz stereotyper Rollenbilder in der Evangelischen Kirche als Ergebnis der Kulturanalyse „Kirche in Vielfalt führen“ (2017), in: Pastoraltheologie 107 (2018), 447–456.
Vorwort
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Predigtlehre werden im fünften Aufsatz dargestellt. Er wurde im Jahr 2018 veröffentlicht.5 Auch der sechste Aufsatz gehört zum Bereich der Homiletik. Hier wird ein neuer Ansatz vorgestellt. Wer Predigen wesentlich als Reden versteht, kann sowohl anknüpfen bei der Tendenz zur Kompetenzorientierung in der Hochschuldidaktik als auch bei Entwürfen postliberaler Theologie. Diese plädieren dafür, Jesus so zu verstehen, wie ihn die biblische Überlieferung in seiner absoluten Einmaligkeit darstellt, jenseits von allgemein-menschlichen (religiösen) Bedürfnissen und Erfahrungen. Dies ermöglicht radikale Gendersensibilität, die einer neuen eschatologischen sozialen Realität entspringt. Einige Abschnitte des Textes wurden bereits veröffentlicht in Artikeln, die unter dem Aufsatz in den Fußnoten angegeben sind. Die Zusammenführung der Thesen sowie die Gesamtausrichtung des Aufsatzes sind neu. Der letzte Aufsatz ist ganz neu und dem praktisch-theologischen Teilbereich der Seelsorge zuzuordnen. Er beschreibt die Tendenz einer ungewollten Retraditionalisierung bei jungen heterosexuellen Eltern als eine poimenische Anfrage an die Kirche. Überlegungen zur theologischen Legitimation der Säuglingstaufe spielen ebenfalls eine Rolle. Für eine sensible Thematisierung der familialen Arbeitsteilung in Taufgesprächen bei Säuglingstaufen leistet das Genogramm als Hilfsmittel gute Dienste. Dass es auch nach der Stillzeit häufig Mütter sind, die beruflich zurückstecken und mehr Zeit aufwenden für die Versorgung und Betreuung des Kindes als Väter, hängt nicht selten unter anderem damit zusammen, dass diese mit ihrer beruflichen Arbeit mehr Geld verdienen. Als Exkurs ist deshalb unter der Überschrift „Gerechte Entlohnung“ eine Predigt zu Mt 20,1–16 aufgenommen, die das Thema des Gender Pay Gaps aufnimmt: die verschiedentliche Entlohnung von Männern und Frauen. 5
Männer- und Frauensprache auf der Kanzel? Eine quantitativ-empirische Untersuchung von Genderunterschieden in deutscher Predigtsprache mit Implikationen für den homiletischen Unterricht, in: Ökumenische Rundschau 67 (2018), 263–273.
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Vorwort
Eine zweite Predigt (zu Gen 2,24) zeugt unter dem Titel „Biblischer Realismus“ vom hohen Wirklichkeitssinn der Bibel im Hinblick auf die Prozesse einer Familiengründung. Während Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit sind viele Frauen zeitweise körperlich geschwächt und darauf angewiesen, dass ihre Partner:innen mit ihnen und dem Nachwuchs „ein Fleisch werden“, das heißt: für sie eintreten und uneingeschränkt Verantwortung übernehmen. In diesen Lebenslagen gilt zwischen den Geschlechtern eine asymmetrische Schutzbedürftigkeit, die ohne falsche Scheu benannt werden soll.
Gender Mainstreaming als kirchliche Strategie Oder: die Geschlechterfrage im Spiegel biblischer Schöpfungstheologie Seit dem Jahr 2000 muss ‚Gender Mainstreaming‘ in Deutschland bei allen politischen, normgebenden und verwaltenden Maßnahmen berücksichtigt werden. Diese Verpflichtung geht zurück auf eine Entscheidung der Europäischen Union, festgelegt im Vertrag von Amsterdam, der 1997 beschlossen wurde und 1999 in Kraft trat. Was heißt Gender Mainstreaming? Der Begriff ist nicht leicht zu fassen. „Gender Mainstreaming bezeichnet die Verpflichtung, bei allen Entscheidungen die unterschiedlichen Auswirkungen auf Männer und Frauen in den Blick zu nehmen“1, schreibt das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf seiner Website. Gender Mainstreaming ist kein Ziel, sondern eine Strategie. Es geht darum, unter Berufung auf Geschlechtergerechtigkeit Ungleichbehandlungen von Frauen und Männern von vornherein in allen Lebensbereichen zu verhindern. Barbara Stiegler formuliert klar, dass „die Anwendung von Gender Mainstreaming durch den Gebrauch des Genderbegriffs zu einer Infragestellung von Vorstellungen über Geschlecht [führt], die keine Unterscheidung von ‚sex‘ und ‚gender‘ kennen“2. Diese Unterscheidung bildet ein
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https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/gleichstellung-und-teil habe/strategie-gender-mainstreaming (zuletzt abgerufen am 17.11.2021). Barbara Stiegler, Gender Macht Politik. 10 Fragen und Antworten zum Konzept Gender Mainstreaming, Friedrich-Ebert-Stiftung 2004, 22 (http://library.fes.de/ pdf-files/asfo/01411.pdf; zuletzt abgerufen am 17.11.2021).
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Gender Mainstreaming als kirchliche Strategie
(wenngleich umstrittenes3) Kernstück der konstruktivistischen Genderforschung. Während ‚sex‘ das biologische Geschlecht eines Menschen bedeutet, ist mit ‚gender‘ das soziale Geschlecht gemeint. Dieser Theorie nach ist das Geschlecht eines Menschen in vielerlei Hinsicht keine natürliche Gegebenheit, sondern wird vielmehr sozial hergestellt. Die zwei Geschlechter Mann und Frau werden – von den Beteiligten meist nicht wahrgenommen – im Alltag ständig neu konstruiert. Dies geschieht durch unzählige soziale Interaktionen, die auf der Mikroebene Praktiken des gesellschaftlichen Miteinanders reflektieren. Candace West und Don Zimmermann entwickelten hierfür im Jahr 1987 den Begriff „Doing Gender“.4 Hiermit verwandt ist die Theorie der Performativität des Geschlechts von Judith Butler. Geschlechtliche Binärität konstruiert sich demnach durch Wiederholung von Sprechakten. Im Jahr 1988 schrieb Butler aufschlussreich: „When Simone de Beauvoir claims, ‚one is not born, but, rather, becomes a woman,‘ she is appropriating and reinterpreting this doctrine of constituting acts from the phenomenological tradition. In this sense, gender is in no way a stable identity or locus of agency from which various
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Regine Gildemeister und Angelika Wetterer nennen die Unterscheidung Sex – Gender beispielsweise einen „bloß verlagerten Biologismus“ (Gildemeister/Wetterer, Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung, in: Traditionen Brüche. Entwicklungen feministischer Theorie (Gudrun-Axeli Knapp/Angelika Wetterer, Hg.), Freiburg 1992, 206). Vgl. West und Zimmermann: „Doing gender involves a complex of socially guided perceptual, interactional, and micropolitical activities that cast particular pursuits as expressions of masculine and feminine ‚natures.‘ When we view gender as an accomplishment, an achieved property of situated conduct, our attention shifts from matters internal to the individual and focuses on interactional and, ultimately, institutional arenas. In one sense, of course, it is individuals who ‚do‘ gender. But it is a situated doing, carried out in the virtual or real presence of others who are presumed to be oriented to its production. Rather than as a property of individuals, we conceive of gender as an emergent feature of social situations: both as an outcome of and a rationale for various social arrangements and as a means of legitimating one of the most fundamental divisions of society“ (Doing Gender, in: Gender and Society 1 (1987), 126).
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acts proceede; rather, it is an identity tenuously constituted in time-an identity instituted through a stylized repetition of acts.“5 Der konstruktivistischen Genderforschung geht es darum, das Geschlecht als soziale Konstruktion sichtbar zu machen und somit zu dekonstruieren. Die Dekonstruktion betrifft jede vermeintliche Differenz zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht. Nach manchen Genderforscher:innen sind sogar gemeinhin angenommene körperliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen (im chromosomalen, gonadalen, hormonellen oder anatomischen Bereich) davon nicht ausgenommen. Da es bei Gender Mainstreaming darum geht, Mechanismen zu entdecken, die Menschen vergeschlechtlichen, oder, wie Alexandra Rau schreibt, „Prozesse der Geschlechterkonstruktion zu Tage zu fördern, um sie dadurch verändern zu können“6, gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen Gender Mainstreaming und konstruktivistischer Genderforschung. Rau behauptet, dass Gender Mainstreaming „historisch und theoretisch auf dekonstruktivistische Überlegungen verweist“7. Verschiedene evangelische Landeskirchen, wie beispielsweise die Nordkirche oder die Evangelische Kirche im Rheinland, haben sich für Gender Mainstreaming entschieden.8 Braucht die Kirche eine Strategie, die Geschlechtergerechtigkeit fördert, indem sie die Kategorien Mann und Frau dekonstruiert? Oder andersherum gefragt: Braucht die Kirche Geschlechter? Die Antwort müsste bejahend lauten, wenn Geschlechter
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Judith Butler, Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory, in: Theatre Journal 40 (1988), 519. Alexandra Rau, Gender Mainstreaming jenseits von Repräsentation und Identität, oder: Was ist politisch an der Dekonstruktion?, in: Gender Mainstreaming. Von der Frauen- und Geschlechterforschung zur Forderung nach neuen Geschlechterverträgen (Margarethe Herzog, Hg.), Düsseldorf 2004, 58 (https://www.boeck ler.de/pdf/p_edition_hbs_126.pdf; zuletzt abgerufen am 17.11.2021). Rau 2004, 54. Vgl. für die Nordkirche: www.geschlechtergerechtigkeit-nordkirche.de (zuletzt abgerufen am 17.11.2021). Für die Evangelische Landeskirche im Rheinland vgl.: https://www.ekir.de/www/service/6972.php (zuletzt abgerufen am 17.11.2021).
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Bestandteil biblischer Schöpfungstheologie sind. Sind sie das? Meine Antwort lautet ja.
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„männlich, weiblich schuf er sie“ (Gen 1,27)
Die erste biblische Schöpfungsgeschichte wird oft als Beleg dafür benutzt, dass Gott die Menschen als zwei verschiedene Geschlechter geschaffen hat. Als Gott die Menschen männlich und weiblich machte, schuf er sie nach meinem Verständnis fähig zur Reproduktion. Ich folge hier der Auslegung von Gen 1,27 durch den niederländischen Alttestamentler Karel Deurloo (1936 – 2019).9 In einer detaillierten Exegese von Gen 1,26–28 erklärt er, was es bedeutet, dass der Mensch als Bild Gottes geschaffen wurde.10 Er nimmt dabei Bezug auf Vers 27: „männlich, weiblich schuf er sie“. Gen 1,26 Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich. Und sie sollen herrschen über die Fische des Meers und über die Vögel des Himmels, über das Vieh und über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die sich auf der Erde regen.
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Für die theologische Einordnung von Karel Deurloo als einem der Hauptvertreter der sogenannten ‚Amsterdamer Schule‘ vgl. Benedikt Hensel, Die Vertauschung des Erstgeburtssegens in der Genesis. Eine Analyse der narrativ-theologischen Grundstruktur des ersten Buches der Tora, Berlin/New York 2011, 23–27. Vgl. zum Folgenden Karel Deurloo, De mens als raadsel en geheim. Verhalende antropologie in Genesis 2–4, Baarn 1988, 18–28 sowie Karel Deurloo/Martin Kessler, A Commentary on Genesis. The Book of Beginnings, New York 2004, 1–94 und Karel Deurloo, Scheppping: Van Paulus tot Genesis. Kleine Bijbelse Theologie Deel IV, Kampen 2008, 115–117. Deurloo greift bei seiner Auslegung von Gen 1,27 auf Einsichten von Frans Breukelman zurück (aus: Frans Breukelman, Bijbelse Theologie. Het eerstelingschap van Israel, Kampen 1992, 19 und 47) [Übersetzung aller niederländischen Zitate JN]
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1,27 Und Gott schuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes schuf er ihn; männlich, weiblich schuf er sie. 1,28 Und Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie untertan, und herrscht über die Fische des Meers und über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf der Erde regen. Deurloo zufolge bildet die Schöpfung des Menschen den Höhepunkt der Schöpfungsgeschichte. Er weist darauf hin, dass der Ausdruck „als unser Bild, uns ähnlich“ (1,26) eine einmalige Wortkombination darstellt. Bei den anderen Geschöpfen hieß es stets, sie wurden geschaffen ‚nach seiner oder ihrer Art(en)‘. Was bedeutet diese Gottebenbildlichkeit? Was unter der imago dei zu verstehen ist, lässt sich nach Deurloo ableiten aus den zwei Aspekten, die im Text explizit genannt werden, um das Wesen des Menschen zu beschreiben: erstens seine Herrschaft, zweitens seine Fruchtbarkeit. Die menschliche Herrschaft über die Erde wird zunächst in der göttlichen Vorüberlegung thematisiert (1,26) und dann in der Aufgabenbeschreibung (1,28) wiederholt, allerdings erst an zweiter Stelle. Die männliche und weibliche Fruchtbarkeit wird bei den Aufgaben dagegen als Erstes genannt und bildet nach Deurloo eine „direkte Erklärung der Gottebenbildlichkeit“11. Dennoch wurde traditionell nur das Herrschen über die Erde als Konkretisierung der Gottebenbildlichkeit des Menschen aufgefasst, da Tiere ja auch fruchtbar sind. Dass die Fortpflanzungsfähigkeit des Menschen an dieser Stelle eine große Rolle spielt, folgt allerdings schon aus dem unerwarteten Plural „sie“ in Gen 1,27. Deurloo schreibt: „Der Plural ‚sie‘ blickt auf den Menschen, der sich mehren wird aufgrund seiner Fruchtbarkeit, die aus der Terminologie männlich-weiblich her-
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Deurloo 1988, 21.
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vorgeht.“12 Die große Frage lautet: Inwiefern ist der Mensch gerade in seiner Fortpflanzungsfähigkeit gottebenbildlich? Die Antwort auf diese Frage findet Deurloo in Gen 5,1–3. Gen 5,1 Dies ist das Verzeichnis der Toledot13 Adams: Am Tag, da Gott den Menschen schuf, machte er ihn Gott ähnlich. 5,2 Männlich, weiblich schuf er sie, und er segnete sie und rief ihren Namen: Mensch! am Tag, da sie geschaffen wurden. 5,3 Und als Adam hundertdreißig Jahre alt war, zeugte er einen Sohn, ihm ähnlich, der wie sein Bild war, und er rief seinen Namen: Schet! Diese Sätze zeigen folgende Analogie: So wie Gott den Menschen schuf, so zeugte Adam seinen Sohn Schet. So wie Gott danach den Namen des Menschen rief, so rief Adam danach den Namen seines Sohnes Schet. Das göttliche Schaffen und Rufen findet sozusagen seine Fortsetzung im menschlichen Zeugen und Rufen.14 Nota bene: „Allerdings gibt es einen ‚unendlich qualitativen Unterschied‘. Adam schafft seinen Sohn nicht, sondern er zeugt ihn.“15 Dennoch fasst Deurloo die Zeugung Schets durch Adam auf als eine Spiegelung der initiierenden Schöpfungstat Gottes.16 Dies bindet 12
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Deuroo 1988, 23. Vgl. dazu Deurloo/Kessler 2004: „The expression ‚male and female‘ describes humans in their fertility and therefore in their plurality“ (32). Für die Verwendung des hebräischen Wortes ‚Toledot‘ anstatt der üblichen Übersetzungen ‚Genealogien‘ und ‚Geschlachtsregister‘ vgl. Hensel 2011, 37. Hier erklärt sich auch, warum Tiere, trotz ihrer Fruchtbarkeit, nicht als Bild Gottes geschaffen wurden. Dazu schreiben Deurloo und Kessler (2004): „As creatures, human have the power of generating by means of their fertility, yet they were created after God’s image and likeness. Is this true of the animals that are also male and female and therefore fertile? Surely, but the animals cannot call out names as God does and as humans do“ (74). Deurloo 1988, 25. Vgl. dazu Deurloo/Kessler 2004: „Is human generating comparable to God’s creating? Not directly but as the language suggests, by way of analogy“ (74). Und: „The generating of the human is thus a reflection of God’s original creating; the human
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er zurück an Gen 1,27: „Was bedeutet ‚männlich, weiblich‘? Was bedeutet es, dass die menschliche Fruchtbarkeit die Gottebenbildlichkeit erklärt? So rätselhaft wie die Sache in Gen 1 daherkam, so verheißungsvoll erscheint sie nun in Gen 5.“17 Die Verheißung, um die es hier nach Deurloo geht, ist die ‚Geburt‘ des Volkes Israel. Sie bildet ihm zufolge das Hauptthema des Buches Genesis.18 Auf die Entstehung von Israel inmitten der Völker läuft das Zeugen und Gebären von Söhnen (und Töchtern – wie die Bibel in gerechter Sprache sachgemäß übersetzt) über viele Generationen hinweg hinaus.19 Sie bildet das Ziel und Hauptmotiv des ganzen ersten Bibelbuches. Die traditionelle Bezeichnung ‚Urgeschichte‘ für die ersten Genesis-Kapitel lehnt Deurloo deswegen ab: „Von Anfang an ist Israel im Blick, allerdings bis 32,28 nicht mit Namen genannt.“20 Auch wenn Deurloos Auslegung von Gen 1,27 einige originelle Pointen enthält, besteht in der internationalen alttestamentlichen Forschung mittlerweile Konsens über die thematische Fokussierung des Buches Genesis auf die Entstehung des Volkes Israel. Stellvertretend für viele nenne
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is gifted by God with this power. It is a reflection because, by giving his son a name, he is placing him in history to fill the role of that name“ (74). Deurloo 1988, 25. Vgl. dazu Deurloo/Kessler 2004: „‚male and female he created them‘ is cited from Genesis 1: Significantly, this phrase stands in the exact center, for the subject of this pericope is fertility, aimed at generating; therefore, the human must be male and female“ (73). Deurloo und Kessler (2004) behaupten „that the book of Genesis narrates the ‚becoming of Israel among the nations‘“ (5). Vgl. dazu Deurloo/Kessler 2004: „Creation is a fundamental part of the witness of the Old Testament; it is also, as part of the Torah, a preface to the story of Israel: It opens the narrative of Israel’s origin and growth into the people of God’s choosing, the people in whom all the world’s people are promised a blessing“ (13). Deurloo 1988, 14. Vgl. dazu Deurloo/Kessler 2004: „The so-called primeval history (Urgeschichte) of the book Genesis treats the coming into being of Israel in the midst of the nations, but it also portrays the essence of Israel“ (10, 11). Und: „Genesis is a work of proclamation. Its narrative intends to convey the beginnings of God’s acts on behalf of his people, Israel. Thus, its orientation is particular in spite of its ‚universal‘ opening“ (ix). Gleichwohl gilt, dass diese Literatur keine reine Volksgeschichte darstellt, denn: „Genesis is […] a book with a heartbeat, narrating the story of the God who created the world for the people he chose, and beyond that, for all of humanity“ (xi). Dem liegt das folgende urbiblische, theologische Konzept zugrunde: „Israel is the firstborn among the nations“ (ix).
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ich Jan Christian Gertz, der „die Entstehung und das Geschick des Volkes Israel“21 ein Hauptaugenmerk von Genesis nennt. Ich halte fest: Damit Israel inmitten der Völker entstehen kann, müssen die ersten, direkt von Gott geschaffenen Menschen reproduktionsfähig sein, das heißt konkret: männlich und weiblich. Dass diese Fortpflanzungsfähigkeit und damit die Geburt des Volkes Israel keine profane Nebensächlichkeit darstellt, zeigt die Tatsache, dass die menschliche Fruchtbarkeit über das Motiv der Gottebenbildlichkeit an Gott selbst rückgekoppelt, ja, als direkte Entsprechung der göttlichen Schöpfungsarbeit dargestellt wird. Israels ‚Geburt‘ ist mithin gottgewollt. Israel ist das Volk Gottes schlechthin – wie kein anderes Volk in der Welt. Dies erzählt das Buch Genesis. Die Ausgangsfragen waren ‚Braucht die Kirche Geschlechter? Kennt sie die biblische Schöpfungstheologie?‘ In Anbetracht einer textimmanenten Interpretation des ersten Kapitels des Buches Genesis lautet meine vorläufige Antwort: In der ersten biblischen Schöpfungsgeschichte werden die zwei Geschlechter Mann und Frau über ihre (Ausrichtung auf) Reproduktionsfähigkeit definiert.22 21
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Jan Christian Gertz, I. Tora und Vordere Propheten, in: Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments (Jan Christian Gertz, Hg.), Göttingen 2010, 195. Die Fokussierung auf die Reproduktion bei der bipolaren Unterscheidung der Geschlechter deckt sich mit aktuellen sexualmedizinischen Erkenntnissen: „Geschlechtsspezifische Unterschiede finden sich einzig bei denjenigen Funktionen und/oder Strukturen, die unmittelbar mit den spezifischen Funktionen der Geschlechter im Prozess der biologischen Reproduktion verbunden sind, also mit der Tatsache, dass nur biologische Frauen menstruieren, Kinder empfangen, gebären und stillen können, während biologische Männer die hierfür notwendigen Strukturen bzw. Funktionen nicht haben, dafür aber diejenigen, die es ihnen ermöglichen, Kinder zu zeugen. Geschlechtsspezifische Unterschiede sind bipolar-dichotom geteilt, d. h. im Normalfall nur als männlich oder weiblich möglich. [...] Übergänge kommen zwar vor, haben dann aber – als Intersex-Syndrome, die zu mehr oder weniger gravierenden Beeinträchtigungen der definitorisch benutzten Reproduktionsfunktion führen – den Charakter einer Störung bzw. Krankheit“ (Klaus M. Beier, Hartmut A. G. Bosinski, Kurt Loewit, Sexualmedizin. Grundlagen und Klinik sexueller Gesundheit, München 2021, 66).
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„Viel vervielfachen werde ich deine Mühsal und deine Schwangerschaft, mit Mühe/ Schmerz wirst du Kinder gebären“ (Gen 3,16)
Die erste biblische Schöpfungsgeschichte gehört zum Kernbestand der so genannten Priesterschrift.23 Diese ehemals selbstständige Quellenschrift wurde von den Redaktoren des Buches Genesis mit nichtpriesterlichen Einzelkompositionen zusammengefügt. Darunter befindet sich eine zweite Schöpfungsgeschichte: Gen 2,4b–3,24. Sie ist auch bekannt unter dem Namen Paradieserzählung. Wo die Theologie der Priesterschrift vor allem den Anfang und Fortgang der Heilsgeschichte unter Gottes Führung hervorhebt24, setzen die nichtpriesterlichen Einzelkompositionen andere Akzente. Dies gilt auch für die zweite Schöpfungsgeschichte. In der zweiten Schöpfungsgeschichte werden ebenfalls von Gott zwei Geschlechter geschaffen (Gen 2,18–23). Gerade angesichts des ätiologischen Charakters der Erzählung stellt sich die Frage, welcher gegenwärtige Zustand durch den Hinweis auf seine Entstehung hier zu erklären versucht wird.25 Nach Auffassung von Detlef Dieckmann, dessen Übersetzungsvarianten der Bibelstelle Gen 3,16 ich im Folgenden darstelle, sind es sowohl die Doppelrolle der Frau als Mutter und als Mitarbeiterin in der Selbstversorgungswirtschaft, die sie vom Mann unterscheidet, als auch die Mühe und Schmerzen, die Frauen erleben beim Austragen und Gebären von Kindern. Bezeichnenderweise tritt das Verb ‚gebären‘ im Alten Testament zum ersten Mal in der Paradieserzählung auf. Rätselhaft und faszinierend nennt Dieckmann sie.26 Vieles bleibt unklar. Das gilt besonders für Gen 3,16. „Ich 23 24 25 26
Vgl. Gertz 2010, 237. Vgl. Gertz 2010, 244–245. Vgl. Gertz 2010, 265. Vgl. Detlef Dieckmann, „Viel vervielfachen werde ich deine Mühsal – und deine Schwangerschaft. Mit Mühe wirst du Kinder gebären.“ Die Ambivalenz des Gebärens nach Gen 3,16, in: „Du hast mich aus meiner Mutter Leib gezogen“. Beiträge
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will dir viel Schmerzen schaffen, wenn du schwanger wirst; du sollst mit Schmerzen Kinder gebären“ übersetzte Luther wirkungsvoll im Jahr 1545. In seiner Übersetzung erscheinen die Geburtsschmerzen als Strafe Gottes für Evas Sündenfall. Dagegen fragt Dieckmann: „War die Frau von Anfang so geschaffen, dass sie Kinder gebären kann, haben sich also in Gen 3,16 nur die Umstände des Gebärens geändert? Oder ist mit 3,16 die Geburtlichkeit erst entstanden?“27 Für Dieckmann ist Gen 3,16 ein polyvalenter Text, der verschiedene Lesarten zulässt – auch letztere. Als mögliche Interpretation schlägt er vor, Gebären als gottgeschenkter „Ausgleich für die Sterblichkeit“28 zu verstehen. Nachdem sie von der verbotenen Frucht gegessen hatten, waren die Menschen ja – wie es ihnen von Gott angedroht worden war (Gen 2,17) – zu sterblichen Wesen geworden. Dieckmann schreibt: „Damit das Projekt Mensch […] nicht mit dem Tod des ersten Menschen endet, gab Gott in Gen 3,16 der Frau rechtzeitig die Fähigkeit, Nachkommen zu gebären“29. In Anknüpfung bei Luzia Sutter Rehmann versteht er Gebären als „Arbeit gegen den Tod“30. Dabei spielt eine besondere Rolle, dass Gen 3,16 als Verheißung formuliert ist.31 Anstatt Luthers „Ich will dir viel Schmerzen schaffen, wenn du schwanger wirst“ möchte Dieckmann übersetzen „Viel vervielfachen werde ich deine Mühsal und deine Schwangerschaft“32. Aus Luthers Strafspruch wird damit eine (im Blick auf die Mühsal zwar ambivalente33) Verheißung. Eva werden sowohl die Mühsal der Arbeit (wie später auch ihrem Mann – Gen
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zur Geburt im Alten Testament (Detlef Dieckmann/Dorothea Erbele-Küster, Hg.), Neukirchen-Vluyn 2006, 11. Dieckmann 2006, 12. Dieckmann 2006, 19. Dieckmann 2006, 19. Dieckmann 2006, 19. Den mit „vervielfachen, vervielfachen werde ich“ übersetzten infinitivus absolutus erkennen informierte Leser:innen als geprägte Einleitung einer Mehrungsverheißung (vgl. Gen 16,10 und Gen 22,17). Vgl. Dieckmann 2006, 28. Dieckmann 2006, 29. Dieckmann begründet seine Übersetzung mit einem Verständnis, das im Gegensatz zu Luther „in Gen 3,16 kein Hendiadyoin, sondern zwei durch ‚und‘ miteinander verknüpfte Objekte sieht“ (23). Ambivalent ist die Verheißung auch im Blick auf die letzte Aussageeinheit von Gen 3,16: „Und zu deinem Mann geht dein Verlangen, und er – er dominiert über dich.“ Es mehren sich gleichwohl die Versuche zu zeigen, dass diese Verse nicht
Gender Mainstreaming als kirchliche Strategie
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3,17) als auch viele Schwangerschaften zugesagt. Diese Verheißung hat auch eine ätiologische Funktion: „Eva [wird] in einer Weise arbeiten, die der Mühsal ihres Mannes nicht unähnlich ist […] Evas soziale und ökonomische Rolle ist also nicht auf das Kindergebären beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf Arbeit außerhalb der Kinderbetreuung. Damit wird Eva jene Doppelrolle als Mutter und Arbeiterin in der NahrungsmittelHerstellung vor Augen gestellt, die Frauen nach Auskunft der sozialgeschichtlichen Forschung seit dem Umbruch zwischen der Bronze- und Eisenzeit in der Selbstversorgungswirtschaft tatsächlich ausgefüllt haben.“34 Evas Gebären wird indes mit Schmerzen einhergehen, wie Gen 3,16 zum Schluss hervorhebt: „mit Mühe/Schmerz wirst du Kinder gebären“35. Als Fazit halte ich fest: Da sich Frauen im alten Israel sowohl durch ihre Doppelrolle als auch durch ihre mühevollen und schmerzhaften Geburten deutlich von Männern unterscheiden, werden in der Paradiesgeschichte zwei verschiedene Geschlechter geschaffen.
3.
Braucht die Kirche Geschlechter?
Braucht die Kirche Geschlechter? Im Spiegel biblischer Schöpfungstheologie fällt die Antwort auf diese Frage klar aus. In der ersten biblischen Schöpfungsgeschichte steht die (Ausrichtung auf) die Fortpflanzungsfähigkeit bei der Erschaffung von Mann und Frau im Fokus. Gerade diese Fähigkeit führte bei zeugenden und gebärenden Menschen im alten Israel zu sehr unterschiedlichen Körper- und Lebenserfahrungen. Diese werden in der zweiten Schöpfungsgeschichte beschrieben und erklärt. Auch in der Gegenwart haben viele Frauen durch mühevolle und/oder schmerzhafte Phänomene wie Menstruation, Schwangerschaft, Geburt
34 35
als Herrschaftsaussage des Mannes über die Frau zu verstehen sind. Vgl. Dieckmann 2006, 35, 36. Dieckmann 2006, 29. Dieckmann 2006, 31.
22
Gender Mainstreaming als kirchliche Strategie
und Stillzeit signifikant andere Körper- und Lebenserfahrungen als Männern. Um diese anderen Erfahrungen in Seelsorge, Verkündigung und kirchentheoretischen Überlegungen zur Sprache bringen zu können, braucht die Kirche Geschlechter. Die Kategorien Mann und Frau dürfen deswegen nur so weit dekonstruiert werden, dass vermeintlich männliche und weibliche Eigenschaften und Begabungen als Geschlechterklischees entlarvt werden. Wer darüber hinaus auf ‚Frauen‘ und ‚Männer‘ verzichten würde, nimmt sich die Chance, die kraft unterschiedlicher Körper unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten der Geschlechter unmissverständlich thematisieren zu können – und somit auch die damit verbundenen Hindernisse und Nachteile für Frauen im privaten und öffentlichen Leben. Hier würde sich das Konzept Gender Mainstreaming im Blick auf Chancengerechtigkeit ins eigene Fleisch schneiden.
„Es gibt keinen Menschen an sich“ – oder doch? Neue Überlegungen zum Geschlechterverständnis von Karl Barth Dieser Artikel möchte das berühmt-berüchtigte Geschlechterverständnis von Karl Barth in ein neues Licht stellen.1 Obwohl Barth seine im dritten Band der Kirchlichen Dogmatik (erschienen im Jahr 1945) dargelegte Geschlechterlehre nie explizit revidiert hat, geben spätere Äußerungen – zum Glück – Anlass zu der Vermutung, es könnte sich an seinem Verständnis der Geschlechter noch etwas Grundlegendes geändert haben.
1.
Kirchliche Dogmatik III / 1, 2 und 4 (1945–1951)
Im ersten Teil des dritten Bandes der KD beschreibt Barth im Kontext seiner Überlegungen zur Schöpfung als äußerem Grund des Bundes, wie Gott laut dem ersten Schöpfungsbericht in Gen 1 den Menschen zu seinem Partner schuf, „verhandlungsfähig und bündnisfähig für ihn“2. Gott hat den Menschen geschaffen, um mit ihm reden und handeln zu können. Gott wollte einen Partner, mit dem er umgehen konnte. Partner Gottes ist der Mensch nun aber nicht einfach so als Mensch, sondern Barth zufolge gerade darin, „dass Gott ihn als Mann und Frau geschaffen hat“3. Alles, was sonst im ersten Schöpfungsbericht über den Menschen gesagt 1
2 3
Zuerst veröffentlicht in: Gotteserschütterung – Gottesvergewisserung. Die Gegenwartsrelevanz der Gotteslehre Karl Barths (Gregor Etzelmüller/Georg Plasger, Hg.), Zürich 2021, 118–123. Hier mit geringfügigen Änderungen. Karl Barth, Band III/1. Kirchliche Dogmatik, Zürich 1932–1967, 207. Barth III/1, 208.
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„Es gibt keinen Menschen an sich“ – oder doch?
wird, bezieht sich auf diese grundlegende Unterscheidung: dass er als Mann und Frau existiert. Diese menschliche Existenz in der Zweiheit von Mann und Frau bindet Barth an die eigene Existenz Gottes zurück: „Der Mensch ist so wenig einsam wie Gott. […] So ist er Gottes Abbild und Nachbild. So wiederholt er in seinem Gegenüber zu Gott und in seinem Gegenüber zu seinesgleichen das Gegenüber, das in Gott selber ist.“4 Dieses Gegenüber, das in Gott selber ist, beschreibt er als „ein reales, aber einmütiges Sichbegegnen und Sichfinden, ein freies Zusammensein und Zusammenwirken, ein offenes Gegeneinander und Füreinander“5. Dieses Gegenüber wird gerade im geschlechtlichen Verhältnis des Menschen wiederholt. Das macht das geschlechtliche Verhältnis grundlegend. Es ist sozusagen das Tiefste, was über den Menschen gesagt werden kann. Alles andere ist sekundär im Vergleich zu dieser primären Unterscheidung. Barth: „Die Menschen sind Mann und Frau und nur das: alles Andere nur in dieser Unterscheidung und Beziehung.“6 Interessant ist, dass Barth diese grundlegende, primäre Unterscheidung der Menschen mit einer spitzen, überaus kritischen Pointe verknüpft, nämlich mit der Ablehnung, oder zumindest großen Relativierung, aller sonstigen Kategorien. Denn was bedeutet die Erschaffung des Menschen als Mann und Frau? „Dass eben die geschlechtliche Differenzierung die einzige ist, in welcher der Mensch geschaffen ist, dass eine Erschaffung und Existenz des Menschen in Gruppen und Arten, in Rassen, Völkern und dergl. nicht in Frage kommt“7. Interessant ist auch, dass Barth bei der Vorstellung des innergöttlichen Sich-Begegnen und Zusammensein – eben bei der Vorstellung von Einem, der allein Gott, aber nicht einsam ist – ganz unverblümt auf die Trinität anspielt: „Wer hier an die Dreieinigkeit Gottes nicht einmal denken will, der sehe zu, ob er dazu auch in der Lage ist!“8 4 5 6 7 8
Barth III/1, 208. Barth III/1, 207. Barth III/1, 209. Barth III/1, 208. Barth III/1, 216.
„Es gibt keinen Menschen an sich“ – oder doch?
25
An anderer Stelle greift er auf die Terminologie ‚Ich und Du‘ zurück: „ist es nicht greifbar, dass wir es zwischen jenem Merkmal des Wesens Gottes: daß er ein Ich und ein Du in sich schließt, und dem Wesen des Menschen: daß er Mann und Frau ist, mit einer nun wirklich einfachen und klaren Entsprechung […] zu tun haben?“9 Dass das menschliche Ich und Du, mithin sein Mann- und Frau-Sein, „die einzige zwischen Mensch und Mensch reale Wesensverschiedenheit bildet“10, begründet laut Barth – als innersten Kern der menschlichen Gottebenbildlichkeit – auch seine Herrschaft über die Tiere, die man im Gegensatz zum Menschen in Gruppen und Arten aufteilen kann. Diese Einsichten wiederholt Barth in KD III/2 (1948), wenn er behauptet, „dass wir nicht Mensch sagen können, ohne entweder Mann oder Frau und ohne zugleich Mann und Frau sagen zu müssen. Der Mensch existiert in dieser Differenzierung, in dieser Zweiheit. Man bemerke sofort: sie ist die einzige strukturelle Differenzierung, in der er existiert“11. Logisch auf den Punkt gebracht heißt dies für Barth: „Es gibt […] keinen Menschen an sich“12. Allerdings soll man sich, auch wenn es überall nur das konkret männliche oder weibliche Sein gibt, vor psychologischen Generalisierungen hüten, „etwa als wäre der Mann im allgemeinen mehr äußerlich, die Frau mehr innerlich, der Mann mehr objektiv, die Frau mehr subjektiv interessiert, der Mann mehr auf Freiheit, die Frau mehr auf Abhängigkeit eingestellt, der Mann mehr mit dem Erobern oder Bauen, die Frau mehr mit dem Schmücken beschäftigt, der Mann von Natur aus ein Wanderer, die Frau eine Wohnende. Das und dergleichen mehr mag als Hypothese gelegentlich gewagt, kann aber als Wissenschaft oder als Dogma sicher nicht vertreten werden, weil der wirkliche Mann und die wirkliche Frau immer noch viel komplexer und widerspruchsvoller sind, als dass sie sich in solchen Bildern erschöpfen ließen. Was weiß schließlich der Mann von der 9 10 11 12
Barth III/1, 220. Barth III/1, 221. Karl Barth, Band III/2. Kirchliche Dogmatik, Zürich 1932–1967, 344. Barth III/2, 345.
26
„Es gibt keinen Menschen an sich“ – oder doch?
Frau, die Frau vom Mann und beide von sich selber? Dass irgend ein Stärkersein und irgend ein damit im Zusammenhang stehendes Vorangehen des Mannes und irgend ein Schwächersein und ein dementsprechendes Nachfolgen der Frau als allgemeinste Charakteristik des als Mann und Frau differenzierten Menschen in Frage kommt, ist wohl schon von der Physiologie und vor allem von den Aussagen der Bibel her nicht zu bestreiten. Aber schon in was hier die Stärke und dort die Schwäche, hier das Vorangehen und dort die Nachfolge besteht […] das wird man, wenn man allgemein reden will, besser offen lassen.“13 Den Gedanken, dass es keinen Menschen an sich gibt, sondern nur den Menschen als Mann oder Frau, nimmt Barth in KD III/4 (1951) noch einmal auf.14 Mit höchst möglicher Klarheit schreibt er: „Dass Gott den Menschen als Mann und Frau schuf und so zu seinem Ebenbild, so zum Gleichnis des Gnadenbundes, des Verhältnisses zwischen ihm und sein Volk, zwischen Christus und seiner Gemeinde, das zielt aber nicht auf ein neutrales Es, das begründet also keine bloß äußerliche und zufällige, sondern eine innerliche und wesentliche und also auch keine bloß vorübergehende, sondern die dauernde Ordnung ihres Seins als Er und Sie: gültig für alle Zeit, aber gültig auch für die Ewigkeit. Dass sie Mann und Frau sind, das hebt nicht auf, das verschwindet nicht darin, dass sie Menschen sind. Sondern sie sind Menschen, indem sie Mann und Frau sind“.15
2.
‚Die Menschlichkeit Gottes‘ (1956)
Fünf Jahre nach dem Erscheinen des letzten Teils des dritten Bandes der KD hält Barth im Jahr 1956 einen Vortrag mit dem Titel ‚Die Menschlichkeit Gottes‘. Hier äußert er sich explizit und durchaus kritisch zu den Anfängen seiner Dogmatik. Er fordert sogar eine ganz neue Wendung im
13 14 15
Barth III/2, 346, 347. Vgl. Karl Barth, Band III/4. Kirchliche Dogmatik, Zürich 1932–1967, 173–177. Barth III/4, 175.
„Es gibt keinen Menschen an sich“ – oder doch?
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Denken evangelischer Theologie.16 Ein zentrales Anliegen ist ihm, dass die Menschlichkeit Gottes mehr Aufmerksamkeit bekommt. Barth schreibt: „Unsere Aufgabe ist diese: eben auf Grund der Erkenntnis der Göttlichkeit Gottes, eben von ihr her die Erkenntnis seiner Menschlichkeit.“17 Rückblickend auf die Anfänge seiner Theologie meint Barth, dass er über die Göttlichkeit Gottes zu abstrakt geschrieben hat. Er hat Gott auf Kosten des Menschen großgemacht. Vieles, was er über die Göttlichkeit Gottes behauptet hat, war „doch ein bisschen arg unmenschlich und teilweise […] häretisierend gesagt“18. Hätte er damals die Erkenntnis der Göttlichkeit Gottes sorgfältiger und vollständiger vollzogen, wäre es nicht möglich gewesen, Gottes Zusammensein mit dem Menschen theologisch zu vernachlässigen; denn: „Eben Gottes recht verstandene Göttlichkeit schließt ein: seine Menschlichkeit.“19 Barth begründet dies mit der Christologie, indem er die Einheit der zwei Naturen Jesu Christi betont: Jesus Christus ist als wahrer Gott getreuer Partner des Menschen und als wahrer Mensch getreuer Partner Gottes, „beides unverworren, aber auch unzertrennt, ganz das Eine und ganz das Andere“20. Calvin habe die bleibende Verschiedenheit der beiden Naturen zu sehr hervorgehoben, schreibt Barth. Dagegen hat er Verständnis für die Betonung der Einheit der beiden Naturen durch Luther und die Lutheraner: „Nicht die fatale lutherische Lehre von den beiden Naturen und ihren Idiomen, wohl aber ihr wesentliches Anliegen ist hier nicht abzuweisen, sondern aufzunehmen.“21 Hieraus schließt Barth, dass die Göttlichkeit Gottes seine Menschlichkeit in sich enthält; mit der Göttlichkeit Gottes begegnet uns seine Menschlichkeit.
16
17 18 19 20 21
Vgl. dazu ausführlicher Jantine Nierop, Die Gestalt der Predigt im Kraftfeld des Geistes. Eine Studie zu Form und Sprache der Predigt nach Rudolf Bohrens Predigtlehre, Wien/Zürich/Berlin 2008, 64–66. Karl Barth, Die Menschlichkeit Gottes, in: ThSt(B) 48 (1956), 4. Barth 1956, 8. Barth 1956, 10. Barth 1956, 11. Barth 1956, 14.
28
„Es gibt keinen Menschen an sich“ – oder doch?
Für das christliche Denken und Reden hat diese Erkenntnis wichtige Konsequenzen. Das christliche Denken und Reden soll nämlich der Menschlichkeit Gottes entsprechen; Barth spricht hier sogar von einer Analogie. Die erste Konsequenz ist nach ihm „eine ganz bestimmte Auszeichnung des Menschen als solchen“22. Nota bene: des Menschen als solchen – wo es doch angeblich gar keinen ‚Menschen an sich‘ gab!
3. Kirchliche Dogmatik IV/3 (1959) Diese neue Einsicht und offensichtliche Akzentverschiebung muss unweigerlich Folgen haben für Barths Theologie. In KD IV/3 (1959) erfährt das Menschenwerk der Bezeugung Jesu Christi in der Tat eine auffällig große Wertschätzung. Hierbei spielt die Verheißung des Heiligen Geistes eine große Rolle. Der Geist stellt für Barth eine Gestalt der Wiederkunft Jesu Christi dar: nicht seine Wiederkunft unmittelbar nach seiner Auferstehung oder seine letzte Wiederkunft am jüngsten Tag, sondern seine Wiederkunft hier und jetzt. Barth beschreibt sie näher als die direkte, unmittelbare Gegenwart und Aktion Jesu Christi unter, bei und in uns. Sie bezieht uns in die Heilsgeschichte ein. Durch Jesu Geist werden wir an ihr beteiligt. Dies ist für Barth ein wichtiger Punkt. In der menschlichen Beteiligung an der Heilsgeschichte sieht er sogar den einzigen Grund für die Tatsache, dass es die Zeit zwischen Ostern und dem Eschaton gibt. Diese Zwischenzeit wurde von Jesus Christus eingeschaltet, um damit den mit ihm versöhnten Menschen Zeit und Raum neben sich zu gönnen und zu verschaffen: „Raum und Zeit dazu nämlich, an der der Saat ihrer Versöhnung folgenden Ernte nicht nur als Zuschauer, sondern aktiv teilzunehmen“23. Der Mensch ist ja in Jesus Christus gerade nicht erwählt, um nur Gegenstand seines Wirkens zu sein. Vielmehr soll der Mensch in und durch 22 23
Barth 1956, 16. Karl Barth, Band IV/3. Kirchliche Dogmatik, Zürich 1932 – 1967, 383.
„Es gibt keinen Menschen an sich“ – oder doch?
29
Jesus Christus Gottes freies Geschöpf sein. Da der Mensch durch das Geschehen der Versöhnung von Gott gerade auf seine Füße gestellt wird, will Jesus Christus die Menschen bei der Bezeugung seines Versöhnungswerkes „nicht nur als Objekte seines Tuns, sondern als selbständig tätige, freie Subjekte“24 dabeihaben. An der Bezeugung der Versöhnung nehmen sie teil „als Empfänger, Träger und Besitzer des Geistes und der […] durch den Geist verheißenen Lichter, Kräfte und Gaben“25. Mit anderen Worten: Die Kraft des Geistes selbst ist in ihnen wirksam. Auf diese Weise treten sie Jesus Christus bei der Bekanntmachung der Versöhnung als „verantwortliches Subjekt“26 zur Seite. Auf diese Weise sind sie „sein kleiner oder großer, geschickter oder ungeschickter Zeuge“27. Es ist eine interessante Frage, welche Folge Barths neue Erkenntnis der Menschlichkeit Gottes und im Zuge dessen die Auszeichnung des Menschen als solchen für sein Verständnis der Geschlechter haben könnte. Leider hat er sich in dieser späten Phase seines Werkes nicht mehr zu Thema geäußert. Auffällig ist allerdings, dass er in seinen Passagen über den Christ als Zeugen immer vom Menschen redet, beispielsweise, wenn er schreibt: „Er [Gott JN] legt sein Wort in den Mund der Menschen […], d. h. er gibt ihrem Mund, ihrem menschlichen Erkennen und Bekennen, ihrer menschlichen Stimme die Macht, sein Wort, und durch sein Wort sein Werk, und durch sein Werk sich selbst zu bezeugen.“28 Auffällig ist diese Redeweise deswegen, weil Barth nicht mehr spezifisch von Pfarrern oder Predigern redet, wie vorher oft, wenn es um christliche Verkündigung ging, aber auch deshalb, weil es ja nach seiner eigenen Geschlechterlehre den ‚Menschen an sich‘ gar nicht gibt. Es ist davon auszugehen, dass die Berufung in den Zeugenstand den Menschen in seinem tiefsten Wesen betrifft. Gerade dort aber existiert er der Barthschen Geschlechterlehre zufolge doch nur als Mann und Frau – oder …?
24 25 26 27 28
Barth IV/3, 383. Barth IV/3, 422. Barth IV/3, 423. Barth IV/3, 424. Barth IV/3, 843.
30
4.
„Es gibt keinen Menschen an sich“ – oder doch?
Offene Fragen
Könnte es sein, dass Barth seine Geschlechterlehre stillschweigend revidiert hat? Könnte es sein, dass die Entdeckung der Menschlichkeit Gottes sozusagen die Entdeckung der Menschlichkeit des Menschen miteinschließt? Könnte es sein, dass Menschen in dieser späten Phase des Barthschen Werkes nicht mehr nur als Mann oder Frau existieren? Damit würde Barth das kritische Potential einholen, dass von Anfang an auch in seiner Geschlechterlehre steckt: die Ablehnung der Aufteilung von Menschen in Gruppen und Arten, Rassen und Völkern sowie die Feststellung, dass man letztendlich offenhalten soll, worin die Unterschiede der Geschlechter bestehen. Eine weitere interessante Frage ist, welche Rolle die Verheißung des Geistes bei einer solchen revidierten Geschlechterlehre spielen könnte. Im Kontext der Überlegungen zu der Bezeugung Jesu Christi spielt das Konzept der ‚Einwohnung des Geistes‘ eine große Rolle. Wenn Christus die Menschen zu seinen Zeugen beruft, werden sie in eine Gemeinschaft mit ihm versetzt: „eine in der Vollkommenheit der gegenseitigen Zuwendung der beiden Partner einzigartig nahe, ja unmittelbare und so mit keiner anderen zu verwechselnde Gemeinschaft.“29 Diese Gemeinschaft zwischen Christus und dem von ihm berufenen Christen wird von Barth auch beschrieben als eine „vollkommene, d. h. wirkliche, nicht bloß ideale, totale, nicht bloß partielle, unauflösliche, nicht bloß temporäre Gemeinschaft, ja Einheit“30. In dieser Einheit wohnt Christus im Christen und dadurch wohnt auch der Christ in Christus, das heißt: Christus ist wirksam im Denken, Reden und Wirken des Christen. Dies nun, so Barth, löscht die menschliche Person nicht aus, sondern lässt sie ganz im Gegenteil voll und ganz zu Ehren kommen.31 Könnte es sein, dass gerade dadurch der ‚Mensch an sich‘ erscheint, nämlich als die Summe seiner individuellen Eigenschaften und Begabungen, unabhängig davon, ob er Mann oder Frau ist? Es ist eine Frage, die mich nicht loslässt. 29 30 31
Barth IV/3, 619. Barth IV/3, 682. Vgl. Barth IV/3, 630.
Frauen in Führungspositionen auf der mittleren Ebene der evangelischen Kirche Eine Analyse und Reflexion statistischer Daten aus fünf evangelischen Landeskirchen Frauen in Führungspositionen auf der mittleren Ebene In allen evangelischen Landeskirchen in Deutschland, mit Ausnahme von Bremen, gibt es eine sogenannte ‚mittlere Ebene‘.1 Diese mittlere Ebene meint die Leitungsebene des Kirchenbezirks, in manchen Landeskirchen auch Kirchenkreis genannt. Sie wird gemeinhin als die erste Ebene über den Gemeinden und die letzte vor dem höchsten landeskirchlichen Leitungsgremium gesehen – obwohl schon diese Terminologie eine Sicht auf Kirche verrät, die man diskutieren könnte. Aber auch wenn man die evangelischen Kirchen klassisch reformatorisch bottom-up statt top-down versteht, liegt die Ebene des Kirchenbezirks in der Mitte zwischen Landeskirche und Gemeinde. Auf dieser Ebene gibt es Handlungsbedarf. Der erste Gleichstellungsatlas, im Jahr 2015 vom Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie herausgegeben (in Kooperation mit der Konferenz der Frauenreferate und Gleichstellungsstellen in den Landeskirchen), machte deutlich, wie gering in den meisten Landeskirchen der Frauenanteil auf der mittleren Leitungsebene noch immer ist. Lediglich 21 % betrug der Anteil an Dekaninnen/Superintendentinnen/Pröbstinnen im Durchschnitt – gegenüber einem Frauenanteil von 33 % auf der Ebene der Theolog:innen im aktiven Dienst.2 1
2
Dieser Artikel wurde zuerst veröffentlicht in: Ökumenische Rundschau 66 (2017), 512–524. Hier mit geringfügigen Änderungen. Vgl. Atlas zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der evangelischen Kirche in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, Hannover 2015, 28 und 48 (Online abrufbar unter www.gender-ekd.de). Vgl. Simone Mantei, Mehr als ein Gleichstellungsatlas. Potenziale kirchlicher Statistik für Forschung und Lehre, in: PrTh 51 (2016), 42–49.
32
Frauen in Führungspositionen auf der mittleren Ebene
Leitungsämter auf mittlerer kirchlicher Ebene (Stand: 31.12.2013) Quelle: Atlas zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der evangelischen Kirche in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, Hannover 2015
1.
EKD-Synodenbeschluss 2014
Bereits im November 2014 war der Gleichstellungsatlas der 11. Synode der EKD auf ihrer Tagung in Dresden präsentiert worden. Diese fasste daraufhin folgenden Beschluss zur Geschlechtergerechtigkeit in der evangelischen Kirche: Der Rat der EKD wurde gebeten, das Studienzentrum für Genderfragen zu beauftragen, die Anforderungsprofile auf der mittleren Leitungsebene der evangelischen Kirche zu analysieren.3 Auf dieser Grundlage sollten Anregungen für eine Organisationskultur entwickelt werden, die es Männern und Frauen gleichermaßen ermöglicht, Führungsverantwortung zu übernehmen. Ebenso wurde bekanntgegeben, dass die Synode in der 12. Amtsperiode einen Bericht über den Stand der weiteren Entwicklung der Geschlechtergerechtigkeit in der evangelischen Kirche erwartet. In seiner Sitzung im Juli 2015 in Berlin hat der Rat 3
Vgl. https://www.ekd.de/synode2014/beschluesse/s14_xiv_14_geschlechterge rechtigkeit_in_evangelischer_kirche.html (zuletzt abgerufen am 17.11.2021).
Frauen in Führungspositionen auf der mittleren Ebene
33
der EKD das Studienzentrum für Genderfragen dann tatsächlich beauftragt, eine Studie durchzuführen, die die oben genannten Forschungsdesiderate untersucht. Das Studienzentrum für Genderfragen hat daraufhin in Kooperation mit dem Fraunhofer Center for Responsible Research and Innovation (CeRRI) in Berlin eine Studie durchgeführt unter dem Titel: „Kirche in Vielfalt führen. Eine Kulturanalyse der mittleren Leitungsebene in der evangelischen Kirche“. An der Studie, die im Jahr 2015 anfing und im Jahr 2017 fertiggestellt wurde, haben sich folgende Landeskirchen beteiligt: die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, die Evangelische Landeskirche in Württemberg, die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers sowie die Evangelische Kirche von Westfalen.
2.
Fraunhofer CeRRI
Die Kooperation mit dem Fraunhofer CeRRI hat sich als Glücksfall erwiesen. Nachdem sein Kompetenzteam Diversity and Change, gefördert durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, schon neun Großunternehmen (darunter BASF, Deutsche Bahn, Bayer, Bosch und Microsoft) analysiert und wissenschaftlich fundiert beraten hat, berät es nun erstmals das ‚Großunternehmen Kirche‘. Auch wenn die Kirche theologisch vorrangig als Gemeinde Jesu Christi zu verstehen ist, stellt sie in ihrer verfassten Gestalt eine Organisation dar, die einem Großunternehmen gleicht. Die Kooperation mit dem Fraunhofer CeRRI steht für eine unabhängige Außensicht auf Kirche als Organisation – eine Sicht, die blinde Flecken aufdecken kann, die kirchenintern aus unterschiedlichsten Gründen unsichtbar bleiben. Sie kann mithilfe der hauseigenen, vielfach erprobten Expertise eine Betriebsblindheit aufdecken, die gerade im Bereich Diversity wesentliche Fortschritte verhindert, auch wenn alle guten Willens sind. So gesehen stellt die Zusammenarbeit mit den Expert:innen vom Fraunhofer CeRRI eine einmalige Chance für die Kirche dar, die Selbstwahrnehmung mit der Fremdwahrnehmung abzugleichen.
34
Frauen in Führungspositionen auf der mittleren Ebene
Die Ergebnisse der Studie „Kirche in Vielfalt führen“ wurden zur 4. Tagung der 12. EKD-Synode veröffentlicht. Unter https://www.genderekd.de/publikationen.html ist eine PDF-Datei der Studie abrufbar.
3.
Checklisten
Für die Studie „Kirche in Vielfalt führen“ füllten alle fünf beteiligten Landeskirchen eine ausführliche ‚Checkliste‘ mit Fragen zur mittleren Leitungsebene aus. Die auf diese Weise erhobenen Daten sind in die Studie organisch eingeflossen. Sie bilden die Basis, auf der die qualitative Kulturanalyse aufbaut. In diesem Aufsatz findet erstmals eine gesonderte Auswertung und grafische Aufbereitung der (absoluten) Zahlen der Checklisten statt. Um die Größenordnung der Sachverhalte, von denen hier die Rede ist, einschätzen zu können, gibt die erste Grafik eine Antwort auf die Frage, wie viele Menschen in den fünf beteiligten Landeskirchen in Leitungsämtern auf der mittleren Ebene tätig sind. Für das Jahr 2015 ergaben sich für die beteiligten Kirchen folgende Zahlen bezüglich Frauen und Männern auf der mittleren Leitungsebene: 140 120 100
69
80 60 40 20
15
5
22
45
38 15
23 5
6
0
Frauen und Männer auf der mittleren Leitungsebene
Anzahl Frauen (insgesamt 46) Anzahl Männer (insgesamt 197)
Frauen in Führungspositionen auf der mittleren Ebene
35
Vergleich prozentualer Anteile von Frauen und Männern Um die Anteile von Frauen und Männern in verschiedenen kirchlichen Ämtern vergleichen zu können, braucht man bekanntlich relative Zahlen. Wenn man die absoluten Zahlen bezüglich Frauen und Männern in mittleren Leitungsämtern in prozentuale Anteile umwandelt, sieht die Grafik so aus: 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0
82
18
81
19
72
28
88
82
18
12
81
19
Frauen Männer
Frauen und Männer auf der mittleren Leitungsebene in % der Gesamtzahl der mittleren Leitungsämter4
Alle fünf an der Studie beteiligten Landeskirchen kennen das Stellvertretungsamt auf der mittleren Ebene. Zum Vergleich zeigt die nächste Grafik die prozentualen Anteile von Frauen und Männern unter den Stellvertreter:innen.
4
In Württemberg gibt es als einzige Landeskirche auch Leitungsämter auf der mittleren Ebene, die als Funktionsdienst gestaltet sind (beispielsweise als Schuldekanat). Im Jahr 2015 waren 6 Frauen und 19 Männer in solchen Funktionsdekanaten tätig. Der Frauenanteil im Funktionsdekanat liegt damit bei 24 %. Das ist doppelt so hoch wie der Frauenanteil von Dekan:innen in den württembergischen Flächendekanaten (12 %).
36 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0
Frauen in Führungspositionen auf der mittleren Ebene 85
80
73
78
75
59 41
27
20
15
25
22
Frauen Männer
Frauen und Männer als Stellvertreter:innen in % der Gesamtzahl der stellvertretenden mittleren Leitungsämter
Von den fünf an der Studie beteiligten Landeskirchen kennen nur die bayerische und die württembergische Landeskirche die Institution des geschäftsführenden Pfarramtes. Die untenstehende Grafik zeigt den Prozentsatz an Pfarrerinnen und Pfarrern mit geschäftsführenden Aufgaben in Prozent der Gesamtzahl der Pfarrer:innen. Der berechnete Durchschnitt bezieht sich auf Bayern und Württemberg. 80 70 60 50 40 30 20 10 0
76
72
28
24
74
26 Frauen Männer
Frauen und Männer mit geschäftsführenden Aufgaben in % der Gesamtzahl der Pfarrer:innen im geschäftsführenden Pfarramt
Frauen in Führungspositionen auf der mittleren Ebene
37
Wenn man nach den prozentualen Anteilen von Frauen und Männern unter den Pfarrer:innen in den fünf beteiligten Landeskirchen fragt, ergibt sich für Pfarrerinnen ein Durchschnittswert von 37 % Frauen und für Pfarrer ein Durchschnittswert von 63 %. Das Fazit des Vergleichs der Anteile von Frauen und Männern in verschiedenen kirchlichen Ämtern lautet: Man kann deutlich beobachten, dass der durchschnittliche prozentuale Anteil von Frauen zunimmt, wenn die Leitungsebene abnimmt (19 % auf der mittleren Leitungsebene – 25 % bei den Stellvertreter:innen – 26 % im geschäftsführenden Pfarramt – 37 % bei den Pfarrer:innen).
Teildienst In der Bayerischen sowie in der Hannoverschen Landeskirche arbeiten Frauen und Männer auf der mittleren Leitungsebene teilweise im Teildienst. Dies gilt in Bayern für 20 % der Frauen und 4 % der Männer. In Hannover arbeiten 7 % der Frauen sowie 3 % der Männer auf der mittleren Ebene im Teildienst. Wie viele von den Pfarrer:innen im Teildienst arbeiten, zeigt die folgende Grafik in Prozent der Gesamtzahl der Pfarrerinnen beziehungsweise Pfarrer. Hieraus geht hervor, dass Teildienst im Pfarramt – im Gegensatz zu den Leitungsämtern auf der mittleren Ebene – etabliert ist. 60 50 40 30 20 10 0
48
47
15
34
24 6
38
36 11
10
15
11
Pfarrer:innen im Teildienst in % der Gesamtzahl der Frauen bzw. Männer
Frauen Männer
38
Frauen in Führungspositionen auf der mittleren Ebene
Als Fazit kann man sagen, dass der geringe Frauenanteil auf der mittleren Ebene auch mit dem Thema ‚Vereinbarkeit von Beruf und Familie‘ zu tun haben könnte.
Alter Die an der Studie beteiligten Landeskirchen machten zum Durchschnittsalter der Leitungspersonen auf der mittleren Ebene im Jahr 2015 folgende Angaben: 59 58 57 56 55 54 53 52 51 50
58 55 55
57 55
53
56 53
57 57
56 56 Frauen
Männer
Durchschnittsalter von Frauen und Männern auf der mittleren Leitungsebene in Jahren (Stand: 01.01.2016)
Frauen in Führungspositionen auf der mittleren Ebene
39
Das Durchschnittsalter ihrer Stellvertreter:innen zeigt untenstehende Grafik. 56 55 54 53 52 51 50 49 48 47
55 52
54 51
52
52
55
54
53
54 52
50 Frauen Männer
Durchschnittsalter der Stellvertreter:innen in Jahren (Stand: 01.01.2016)
In der Checkliste wurde auch das Durchschnittsalter der Leitungspersonen zum Zeitpunkt ihrer Wahl abgefragt (nur für die Stellenbesetzungen der letzten fünf Jahre, also im Zeitraum 01.01.2011–01.01.2016). Interessant ist es, diese Daten zu vergleichen mit dem Durchschnittsalter der Stellvertreter:innen. Auffällig ist dann, dass in den fünf Landeskirchen das Durchschnittsalter der Stellvertreter:innen bei den Frauen im Durchschnitt gleich hoch ist (52 Jahre) wie bei den Leitungspersonen zum Zeitpunkt ihrer Wahl und bei den Männern im Durchschnitt sogar noch höher (54 Jahre gegenüber 51 Jahren).5 Somit deuten die Daten darauf hin, dass das Stellvertretungsamt im Moment kein Qualifikationsamt darstellt.
5
Nota bene: Im Zeitraum 01.01.2011–01.01.2016 wurden in der EKBO keine Frauen gewählt. Ebenso fehlen die Angaben für das Durchschnittsalter der Amtsinhaber:innen zum Zeitpunkt ihrer Wahl für die Westfälische Landeskirche. Sie fehlen daher auch beim berechneten Durchschnitt.
40
Frauen in Führungspositionen auf der mittleren Ebene
Freiwerdende Stellen Alle fünf Landeskirchen wurden um eine Einschätzung gebeten, wie viele Stellen auf der mittleren Ebene in den nächsten fünf Jahren wahrscheinlich nachzubesetzen sind. Ihre Einschätzung geht aus der folgenden Grafik hervor. Dargestellt wird die Zahl in Prozent des Gesamtstellenanteils auf der mittleren Leitungsebene. Es stellt sich heraus, dass in den befragten Landeskirchen zwischen einem Fünftel und knapp der Hälfte der Leitungsstellen auf mittlerer Ebene in den nächsten fünf Jahren nachzubesetzen sind. 46
50 40 30 20 10 0
23
20
25
24
28 nachzubesetzende Stellen in % des Gesamtstellenanteils auf der mittleren Leitungsebene
Nachzubesetzende Stellen auf der mittleren Leitungsebene bis 2021 – schätzungsweise
Frauen in Führungspositionen auf der mittleren Ebene
41
Die letzte Grafik zeigt, welcher Prozentsatz der Pfarrer:innen 45 Jahre alt oder älter ist. Diese haben, mit anderen Worten, das inoffizielle ‚ephorable Alter‘. 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0
87 84 82 80 77 79 76 70 69 69
93 89 91 85 78
75
86
82
Frauen Männer Männer und Frauen
Pfarrer:innen 45 Jahre alt oder älter in % der Gesamtzahl der Frauen/Männer/Pfarrer:innen
Fazit: Es gibt in allen fünf an der Studie beteiligten Landeskirchen genug Frauen im ‚ephorablen Alter‘, die auf die bis 2021 freiwerdenden Stellen gewählt werden können. Welche Weichen man stellen muss, um den Frauenanteil auf der mittleren Ebene zu erhöhen, darüber informiert die ab November 2017 vorliegende Studie „Kirche in Vielfalt führen“. Dabei hat sich das ursprüngliche Ziel des Projektes, die Förderung von Frauen in Leitungspositionen auf mittlerer Ebene unter dem Einfluss der Kooperation mit dem Kompetenzteam Diversity and Change vom Fraunhofer CeRRI im Laufe der Studie erweitert zur – der Titel der Studie sagt es schon – Förderung von Menschen mit vielfältigen Lebensentwürfen.
42
4.
Frauen in Führungspositionen auf der mittleren Ebene
Qualitative Tiefenbohrung
Kann denn ein Fremder – sprich: ein säkulares Forschungsinstitut – die Kirche verstehen? Schnell ist man geneigt, die Frage zu verneinen. Zu eigen ist die Kirche, zu sehr historisch gewachsen sind ihre Strukturen, zu kompliziert und mehrdimensional ist ihr Leitungsverständnis. Methodisch liegt die große Chance der Studie in ihrem betont qualitativen Charakter. Nur durch ausführliche, tiefgehende Interviews mit Personen in unterschiedlichen Funktionen und Positionen kann man der Kultur einer solchen Organisation wirklich auf die Spur kommen. Nur eine solche ‚Tiefenbohrung‘ sichert die Wahrnehmung der vielen Aspekte, die alle zusammen die Kultur der evangelischen Kirche ausmachen. Als qualitative Tiefenbohrung ist die Kulturanalyse der beteiligten Landeskirchen nicht repräsentativ im statistischen Sinn, dafür aber – über die Methode der sogenannten ‚theoretischen Sättigung‘ bei der Auswahl der Interviewpartner:innen – inhaltlich vielschichtig, formal multiperspektivisch und dadurch in vielen Bereichen aussagekräftig. An die Kulturanalyse – das Herzstück der Studie – schließen sich differenzierte und kontextsensible Handlungsempfehlungen vom Fraunhofer CeRRI an. Fein abgestimmt auf die spezifische evangelisch-landeskirchliche Kultur wollen sie auf struktureller Ebene Stärken nutzen und Schwächen beheben, damit Kirche in Zukunft ‚in Vielfalt‘ geführt werden kann. Die Empfehlungen sind breitgefächert und regen zum Umdenken in verschiedenen Bereichen an. Die verfremdende Außenperspektive vom Fraunhofer CeRRI ist dabei Herausforderung und Chance zugleich.
5.
Stärkung der mittleren Leitungsebene
Die Ursprungsgeschichte des Projektes „Kirche in Vielfalt führen“, die Auswahl des Kooperationspartners sowie das spezifische Forschungsdesign machen zusammen den besonderen, ungewöhnlichen Charakter der Studie aus. Eine solche Studie gibt es noch nicht. Ihr potentieller Ge-
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winn liegt neben der Förderung von Vielfalt in Bezug auf kirchliche Leitungspositionen auch darin, dass sie auf der theoretischen Ebene aktuelle kirchentheoretische und ekklesiologische Debatten um eine neue Dimension bereichert. Eine solche aktuelle Debatte betrifft beispielsweise die Diskussion um eine Stärkung der mittleren Leitungsebene in den evangelischen Kirchen und damit verbunden die Frage, wie Führung in der Kirche unter den neuen strukturellen Bedingungen aussehen soll. Allgemein wird das EKDImpulspapier „Kirche der Freiheit“ von 2006 als Startpunkt der Debatte gesehen, obwohl in einzelnen Landeskirchen schon vorher vergleichbare Papiere eingebracht worden waren. „Kirche der Freiheit“ plädierte für einen Paradigmen- und Mentalitätswechsel, der eine Offenheit für neue kirchliche Formen sowie für weitreichende Strukturveränderungen umfasst. Ein wichtiger Fokus liegt dabei auf der Region statt auf den Ortsgemeinden: „Aus Parochialgemeinden entwickeln sich in Situationen der Regionalisierung oder der Fusion Regionalkirchen, die Kräfte einer Region zusammenfassen und zugleich die geistliche Versorgung in der Region sicherstellen. Regionalkirchen bündeln die Ressourcen dort, wo Gemeinden in Stadt oder Land aus demografischen Gründen kleiner werden.“6 In den vergangenen zehn Jahren sind in vielen Landeskirchen (beispielsweise in der Hannoverschen wie auch in der Bayerischen Landeskirche) tatsächlich weitreichende strukturelle Veränderungsprozesse auf den Weg gebracht worden, die den Schwerpunkt kirchlichen Lebens aus den Ortsgemeinden heraus in die übergeordnete Ebene der Region verlagern wollen. Mit dem Stichwort der Regionalisierung verbindet sich auf der Personalebene die Diskussion um eine neue, kirchliche Leitungskultur. Der Prozess der Regionalisierung bedeutet ja faktisch eine Stärkung der mittleren Ebene, da Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnisse, die ehemals den Gemeinden vor Ort zugeordnet waren, nun auf Bezirksebene geregelt werden. Mit dem Prozess einer Regionalisierung geht darum eine Professionalisierung des kirchlichen Führungsverständnisses auf der 6
https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/kirche-der-freiheit.pdf (5) (zuletzt abgerufen am 17.11.2021).
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Frauen in Führungspositionen auf der mittleren Ebene
mittleren Ebene einher. Aus dem ehemals ‚Pfarrer unter Pfarrern‘ wird ein Vorgesetzter, aus der ehemals kirchlichen Repräsentationsfigur auf Bezirksebene wird eine Entscheidungsträgerin, aus ehemals Seelsorger:innen für Kolleg:innen werden Chef:innen.
6.
Dritte Stimme
Die Debatte um eine Stärkung der mittleren Leitungsebene kennt sowohl vehemente Kritiker:innen als auch begeisterte Fürsprecher:innen.7 Argumentationen pro oder kontra eine solche Stärkung berühren fast immer auch die Diskussion über das Leitungsverständnis auf der mittleren Ebene sowie die faktische Ausgestaltung ihrer Leitungspositionen. In diesen Diskussionen meldet sich nun eine dritte Stimme zu Wort. Die dritte Stimme plädiert freilich nicht für oder gegen Stärkung der mittleren Ebene bzw. für oder gegen Professionalisierung der hier verorteten Führungsrolle. Diese Stimme plädiert für Förderung von Vielfalt. Nicht zu vermeiden ist freilich, dass die Empfehlungen vom Fraunhofer CeRRI die Argumentationen pro oder kontra Professionalisierung an der einen oder anderen Stelle streifen. Die dritte Stimme, die das Fraunhofer CeRRI mit seiner Kulturanalyse und mit seinen anschließenden Empfehlungen einbringt, macht die Debatten um die mittlere Leitungsebene nicht leichter, wohl aber aspektreicher. Die dritte Stimme steht für eine Dimension, die bisher kaum Aufmerksamkeit bekommen hat in den Debatten und doch eine enorme Tragweite besitzt. Denn die Dimension der Vielfalt steht für Anteilhabe und Ein7
Für Kritik vgl. beispielsweise Andreas Dreyer, „Stärkung der mittleren Ebene“. Wie sich die Hannoversche Landeskirche von ihren Kirchengemeinden distanzierte, in: Kirche der Reformation? Erfahrungen mit dem Reformationsprozess und Notwendigkeit der Umkehr (Gisela Kittel/Eberhard Mechels, Hg.), Göttingen 2016, 128–139. Eine positive Darstellung kirchlicher Regionalisierungsprozesse findet sich beispielsweise bei Uta Pohl-Patalong/Eberhard Hauschildt, Kirche verstehen, Gütersloh 2016 (vor allem 6.2).
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flussnahme von Gruppierungen, die nicht dem traditionell gewachsenen, durch Stereotype geprägten Verständnis von Leitung entsprechen. Ohne die Anteilhabe und Einflussnahme von Menschen mit vielfältigen Lebensentwürfen (Frauen, Mütter, Transgender*, Homosexuelle …) wird Kirche in Zukunft nicht schlagfertig sein, weder auf der lokalen noch auf der regionalen Ebene. Die Dimension der Vielfalt als kirchliche Ressource zu entdecken und sie zu fördern bis in die Leitungsfunktionen hinein – dabei hilft die Studie „Kirche in Vielfalt führen“ vom Fraunhofer CeRRI.
Nachtrag (2021) Erfreulicherweise konnte das EKD-Studium für Genderfragen in Kirche und Theologie mittlerweile eine Erhöhung des Frauenanteils in den mittleren Leitungsämtern feststellen. Im Jahr 2020 lag der durchschnittliche Frauenanteil bei 25 %.8
8
Vgl. https://www.gender-ekd.de/download/Wer%20leitet%20die%20Kirche.pdf (zuletzt abgerufen am 17.11.2021).
„Wissen Sie, dass Sie Ihre Kinder zu Waisen machen, Frau X?“ Die Persistenz stereotyper Rollenbilder in der Evangelischen Kirche als Ergebnis der Kulturanalyse „Kirche in Vielfalt führen“ (2017) In diesem Beitrag wird die Studie „Kirche in Vielfalt führen. Eine Kulturanalyse der mittleren Leitungsebene der evangelischen Kirche“ schwerpunktmäßig vorgestellt.1 Sie erschien als zweiter Band der Reihe „Schriften zu Genderfragen in Kirche und Theologie“ des EKD-Studienzentrums für Genderfragen.2 Eines der wichtigsten Ergebnisse der Studie ist die Persistenz stereotyper Rollenbilder im Bereich der evangelischen Kirche. Die evangelische Leitungskultur wird von ihnen maßgeblich beeinflusst.
1.
Mittlere Leitungsebene im Fokus
Im Fokus der Studie „Kirche in Vielfalt führen“ steht die sogenannte ‚mittlere Leitungsebene‘. Spätestens seit dem Erscheinen des EKD-Impulspapiers „Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“ (2006) ist die Ebene in der Mitte zwischen Gemeinden und Landeskirchen ins Zentrum kirchenleitender und kirchentheoretischer Aufmerksamkeit gerückt. Das Impulspapier kritisierte
1
2
Zuerst veröffentlicht in: Pastoraltheologie 107 (2018), 447–456. Hier mit geringfügigen Änderungen. Vgl. Jantine Nierop/Simone Mantei/Martina Schraudner, Hg., Kirche in Vielfalt führen. Eine Kulturanalyse der mittleren Leitungsebene der evangelischen Kirche, Hannover 2017 (online abrufbar unter www.gender-ekd.de). Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Veröffentlichung.
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„Wissen Sie, dass Sie Ihre Kinder zu Waisen machen, Frau X?“
„ungutes Kirchturmdenken in Gemeinden und Arbeitsbereichen“3 sowie „überzogene Autonomievorstellungen im Pfarramt“4. Es regte Regionalisierungsprozesse an in der Form von Kooperationen oder Fusionen von Gemeinden. Dies geschah unter anderem mit der Absicht, einer drohenden Milieuverengung entgegenzuwirken. Auch sollte ein vielfältiges Angebot an kirchlichen Aktivitäten gesichert werden. Das Impulspapier wurde zwar heftig kritisiert5, blieb aber nicht ohne Einfluss. In der Praxis werden die Regionalisierungsprozesse koordiniert von den Leitungspersonen auf mittlerer Ebene (je nach Landeskirche Dekan:innen/Pröpst:innen/Superintendent:innen genannt), die hiermit eine erhebliche Erweiterung ihres Aufgabenspektrums einhergehen sahen. Oder anders formuliert: Es fand auf der mittleren Ebene eine – in unterschiedlichen Landeskirchen im unterschiedlichen Tempo vollzogene – Schwerpunktverlagerung statt: vom Kerngeschäft, die Kirche zu verwalten, zur Hauptaufgabe, die Kirche zu gestalten. Unter dem Stichwort ‚Stärkung der mittleren Ebene‘ bekamen die Ephoren (so der Terminus technicus für Personen in mittleren Leitungsämtern) die hierfür erforderlichen Kompetenzen zugesprochen. Die strukturelle Debatte um eine solche Stärkung kennt sowohl vehemente Kritiker:innen als auch begeisterte Fürsprecher:innen.6
3
4 5
6
Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, Hannover 2006, 45 (https://www.kirche-imaufbruch.ekd.de/downloads/kirche-der-freiheit.pdf; zuletzt abgerufen am 17.11.2021). Kirche der Freiheit, 45. Vgl. dazu den Sammelband Isolde Karle, Hg., Kirchenreform. Interdisziplinäre Perspektiven, Leipzig 2009, sowie Isolde Karle, Kirche im Reformstress, Gütersloh 2011. Für Kritik vgl. beispielsweise Andreas Dreyer, „Stärkung der mittleren Ebene“. Wie sich die Hannoversche Landeskirche von ihren Kirchengemeinden distanzierte, in: Kirche der Reformation? Erfahrungen mit dem Reformationsprozess und Notwendigkeit der Umkehr (Gisela Kittel/Eberhard Mechels, Hg.), Göttingen 2016, 128–139. Eine positive Darstellung kirchlicher Regionalisierungsprozesse findet sich beispielsweise bei Uta Pohl-Patalong/Eberhard Hauschildt, Kirche verstehen, Gütersloh 2016 (vor allem Abschnitt 6.2).
„Wissen Sie, dass Sie Ihre Kinder zu Waisen machen, Frau X?“
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Im Licht dieser intensiv geführten Debatte überrascht es nicht, dass im Jahr 2017 die Leitungspersonen der mittleren Ebene selbst in den Mittelpunkt rückten: Es fand eine großangelegte Vollbefragung aller Ephor:innen statt mitsamt ihren Stellvertreter:innen. Die Befragung (Nettostichprobe 1.029 Personen, 749 Personen beantworteten den Fragebogen) geschah als Kooperationsprojekt der TU Dresden, der Gemeindeakademie Rummelsberg sowie des Lehrstuhls für Praktische Theologie an der Universität Göttingen (Prof. Dr. Jan Hermelink). Die Ergebnisse wurden veröffentlicht in „Erfahrung – Entscheidung – Verantwortung. Auswertungen der mittleren Leitungsebene der evangelischen Kirche Deutschlands“ (2017). Das Juli-Heft der Zeitschrift „Pastoraltheologie“ war ganz der Studie gewidmet.7 Eines der auffälligsten Ergebnisse von „Erfahrung – Entscheidung – Verantwortung“ ist die relativ hohe Zufriedenheit der Ephor:innen und ihrer Stellvertreter:innen: Viele Personen in Ämtern auf der mittleren Leitungsebene sind überdurchschnittlich zufrieden. Genauer gesagt: 82% der Befragten sind ‚eher zufrieden‘ bis ‚ganz und gar zufrieden‘.8 Ein anderes wichtiges Ergebnis ist der geringe Frauenanteil unter den Befragten. Janina-Kristin Müller, eine der Autor:innen der Studie, schreibt: „Drei Viertel der Befragten sind Männer und nur etwa ein Viertel Frauen. Unter den Ephor:innen (22,6 %) ist der Frauenanteil deutlich geringer als unter den Stellvertreter:innen (26,4 %).“9 7
8
9
Vgl. Pastoraltheologie 106 (2017), 266–355. Für einen Vergleich zwischen „Erfahrung – Entscheidung – Verantwortung“ und „Kirche in Vielfalt führen“ vgl. Jan Hermelink, Ephorale Leitung: vielfältig, anspruchsvoll, frei gestaltbar – auch für Frauen? Kommentar zur Studie „Kirche in Vielfalt führen“ aus Sicht einer quantitativen Befragung von Ephor/innen und Stellvertretenden in den deutschen Landeskirchen (2017), in: Kirche in Vielfalt führen (Jantine Nierop/Simone Mantei/Martina Schraudner, Hg.), Hannover 2017, 108–112. Vgl. Janina-Kristin Müller / Stefan Fehser, Arbeits(un)zufriedenheit auf der mittleren Leitungsebene, in: Erfahrung – Entscheidung – Verantwortung, Schwarzenbruck/Göttingen/Dresden 2017, 35 (https://www.gemeindeakademie-rummels berg.de/system/files/dateien/auswertungsbroschuere_umfrage_mittlere_ebene .pdf; zuletzt abgerufen am 17.11.2021). Vgl. Janina-Kristin Müller, Die Situation der Frauen auf der mittleren kirchlichen Leitungsebene, in: Erfahrung – Entscheidung – Verantwortung, Schwarzenbruck/ Göttingen/Dresden 2017, 40.
50
2.
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Atlas zur Gleichstellung von Männern und Frauen (2015)
Der erste Prozentsatz 22,6 % deckt sich ungefähr mit dem Prozentsatz, den der Atlas zur Gleichstellung von Männern und Frauen in der evangelischen Kirche in Deutschland (2015) für die mittlere Leitungsebene festgestellt hat: EKD-weit gab es, bezogen auf das Jahr 2013, einen durchschnittlichen Frauenanteil von 21 %.10 Der Anteil aktiver Theologinnen lag dagegen im Durchschnitt bei 33 %. Es stellte sich also heraus, dass Frauen auf der mittleren Leitungsebene deutlich unterproportional vertreten sind. Diese Tatsache führte bei der Präsentation des Gleichstellungsatlasses auf der EKD-Synode in Dresden (2014) zum Auftrag an das Studienzentrum für Genderfragen, „Anregungen für eine Organisationskultur zu entwickeln, die es Männern und Frauen gleichermaßen ermöglicht, Führungsverantwortung zu übernehmen“11. Für diesen Auftrag gewann das Studienzentrum für Genderfragen mit dem Center for Responsible Research and Innovation (CeRRI) am Fraunhofer AIO einen Kooperationspartner, der sich auf das Thema „Diversity in Organisationen“ spezialisiert hat. Gefördert durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hatte das Fraunhofer CeRRI schon neun Großunternehmen (darunter BASF, Deutsche Bahn, Bayer, Bosch und Microsoft) analysiert und im Blick auf eine diversitätsoffene Organisationskultur wissenschaftlich fundiert beraten. Von 2015 bis 2017 führte das CeRRI in Form einer qualitativen Kulturanalyse die Studie „Kirche in Vielfalt führen“ durch. Die folgenden fünf Landeskir10
11
Vgl. Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie und die Konferenz der Frauenreferate und Gleichstellungsstellen in den Gliedkirchen der EKD, Hg., Atlas zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der evangelischen Kirche in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, Hannover 2015, 28f. (Online abrufbar unter www.gender-ekd.de). Vgl. dazu auch Simone Mantei, Mehr als ein Gleichstellungsatlas. Potenziale kirchlicher Statistik für Forschung und Lehre, in: Praktische Theologie 51 (2016), 42–49. https://www.ekd.de/synode2014/beschluesse/s14_xiv_14_geschlechtergerech tigkeit_in_evangelischer_kirche.html (zuletzt abgerufen am 17.11.2021).
„Wissen Sie, dass Sie Ihre Kinder zu Waisen machen, Frau X?“
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chen beteiligten sich an der Untersuchung: die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, die Evangelische Landeskirche in Württemberg, die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers sowie die Evangelische Kirche von Westfalen. Inhaltlich begleitet wurde die Studie vom Studienzentrum für Genderfragen in Kooperation mit einem Forschungsbeirat.12
3.
Qualitative Kulturanalyse
Im Gegensatz zur oben genannten Studie „Erfahrung – Entscheidung – Verantwortung“ hat „Kirche in Vielfalt führen“ einen qualitativen Ansatz. Einem so schwer greifbaren Phänomen wie der Kultur einer Organisation kommt man nur mit hermeneutischen Methoden auf die Spur. Man kann sich Kultur vorstellen als eine tiefliegende Schicht, die meistens unsichtbar bleibt und doch vieles bestimmt. Sie besteht vor allem aus Grundannahmen, die als gegeben angesehen werden und deswegen nicht mehr diskutiert werden (vgl. 23 f.).13 Diese Schicht hat das Forscherteam von Fraunhofer CeRRI (Florian Schütz, Franziska Baum, Vivien Iffländer und Martina Schraudner) mithilfe von Tiefeninterviews aufgedeckt. Damit lenkt erstmals eine Studie den Blick gezielt auf die innerkirchliche Organisationskultur und deren Auswirkungen auf die Attraktivität der Leitungsämter auf mittlerer Ebene. Dahinter steckt die Überzeugung: Erst wenn kulturinhärente Mechanismen sichtbar werden, können Problemlösungsstrategien definiert und Maßnahmen vorgeschlagen werden. In jeder der fünf beteiligten Landeskirchen führte das Forscherteam mit neun Personen Einzelinterviews durch. Insgesamt fanden also 45 In12
13
Die Mitglieder des Forschungsbeirates waren: OKR Jens Böhm, Personaldezernent der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau; Prof. Dr. Jan Hermelink, Universität Göttingen; Dr. Silke Köser, Führungsakademie für Kirche und Diakonie zu Berlin; Prof. Dr. Sylka Scholz, Universität Jena. Vgl. dazu auch Edgar Schein, Organizational Culture and Leadership: A Dynamic View, San Francisco 1985.
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terviews statt. Zehn Ephorinnen und fünf Ephoren wurden befragt, außerdem zehn Pfarrerinnen und zehn Pfarrer als potenzielle Bewerber:innen, davon jeweils die Hälfte bereits Stellvertreter:in. Weil die evangelische Organisations- und Führungskultur in entscheidendem Maße von Ehrenamtlichen mitgeprägt wird, wurde das Sample ergänzt durch fünf Frauen und fünf Männer, die ehrenamtlich auf der mittleren Ebene tätig sind. Für die konkrete Auswahl der Interviewpartner:innen wurde ein Stichprobenplan erstellt (26).14 Der halbstrukturierte Interviewleitfaden wurde erarbeitet, nachdem sich das Forscherteam mithilfe von Checklisten und Umfeldinterviews detailliertes Wissen über Leitungsämter in der evangelischen Kirche angeeignet hatte. Das inhaltsoffene Vorgehen halbstrukturierter Interviews half dabei, neue und bisher unbekannte Elemente kirchlicher Leitungskultur aufzuspüren und als belastbares Datenmaterial zutage zu fördern. Die Interviews wurden anschließend inhaltsanalytisch (nach Mayring) ausgewertet sowie mittels einer deduktiv-induktiven Kategorienbildung (nach Gläser und Laudel) interpretiert (27).15 Eine solche theoretische Abstraktion ermöglicht es, „die Ergebnisse so zu verdichten, dass sie nicht nur für einen Fall, sondern typischerweise für den untersuchten Sinnzusammenhang und die identifizierten Einflussfaktoren bestehen können. Die Verallgemeinerung erfolgt durch ein Extrahieren der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den gemachten Aussagen im Hinblick auf die Regeln und Kulturen der Landeskirchen.“ (27) Einer der Reize dieser Studie liegt sicherlich in der dezidierten Außenperspektive, die die Forscher von Fraunhofer in Bezug auf Kirche vertraten. Durch ihre fremde Brille und das in Studien über andere Organisationen angeeignete Wissen konnten innerkirchliche Selbstverständ-
14
15
Vgl. dazu auch Hans Merkens, Auswahlverfahren, Sampling, Fallkonstruktion, in: Qualitative Forschung. Ein Handbuch (Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Ines Steinke, Hg.), Reinbek 2010, 286–299. Vgl. dazu auch Philip Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim 2010, sowie Jochen Gläser / Grit Laudel, Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse als Instrumente rekonstruierender Untersuchungen, Wiesbaden 2009.
„Wissen Sie, dass Sie Ihre Kinder zu Waisen machen, Frau X?“
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lichkeiten aufgedeckt werden, die einen großen Einfluss auf die Leitungskultur der Kirche haben.
4.
Handlungsempfehlungen
Die von den Landeskirchen ausgefüllten Checklisten halfen nicht nur bei der Erstellung eines Interviewleitfadens, sondern lieferten auch brauchbare Zahlen. Es zeigte sich, dass der durchschnittliche Frauenanteil in Ämtern auf der mittleren Leitungsebene bei den fünf Kirchen im Jahr 2015 mit 19 % noch unter dem EKD-weiten Durchschnitt von 21 % aus dem Jahr 2013 lag.16 Aus den Checklisten ging außerdem hervor, dass in den fünf Kirchen bis 2021 schätzungsweise zwischen einem Fünftel und knapp der Hälfte der Ämter auf der mittleren Leitungsebene nachzubesetzen sind.17 Im Durchschnitt lag der Anteil an neu zu besetzenden mittleren Leitungspositionen bei geschätzten 28 %. Schließlich zeigten die Checklisten: Es gibt in allen fünf Kirchen für diese Stellen genug Frauen im inoffiziellen ‚ephorablen‘ Alter (ab 45 Jahre).18 An der Altersfrage kann die Berufung von Frauen auf freiwerdende Stellen also nicht scheitern. Um tatsächlich eine höhere Frauenquote in Ämtern auf der mittleren Leitungsebene zu erreichen, spricht das Forscherteam von Fraunhofer am Ende der Studie „Kirche in Vielfalt führen“ zwölf Handlungsempfehlungen aus. Diese zwölf Handlungsempfehlungen decken zusammen vier Bereiche ab. Erstens geht es darum, durch verschiedene Maßnahmen die Attraktivität von mittleren Leitungsämtern zu erhöhen und diese Attraktivität nach außen deutlich zu kommunizieren (84–90). Zweitens sollen Hindernisse, die die Übernahme eines mittleren Leitungsamtes erschweren oder gar gänzlich unmöglich machen, gezielt beseitigt werden (91–95). Drittens müssen klare Qualifikationswege für das Amt ermög16
17 18
Vgl. Jantine Nierop, Frauen in Führungspositionen auf der mittleren Ebene der evangelischen Kirche. Eine Analyse und Reflexion statistischer Daten aus fünf evangelischen Landeskirchen, in: Ökumenische Rundschau 66 (2017), 516. Nierop 2017, 520. Nierop 2017, 521.
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licht und potenziellen Interessent:innen frühzeitig kommuniziert werden (95–97). Schließlich ist es nötig, die Transparenz im Stellenbesetzungsprozess durch verschiedene Maßnahmen zu erhöhen (98–103). Im Fokus dieses Artikels steht eine Handlungsempfehlung aus dem zweiten Bereich „Hindernisse beseitigen“, nämlich die Empfehlung, allgemein in der evangelischen Kirche, aber ganz speziell im Blick auf die Leitungskultur, die Wirkung von stereotypen Rollenbildern, die Männer und Frauen auf ein vermeintlich männliches oder weibliches Verhalten festlegen, zu minimieren (93–95).
5.
Stereotype Rollenbilder
Wie kam es zu dieser Empfehlung? Alle 45 Interviews wurden ausgewertet im Blick auf die Wirkung von Geschlechterbildern. Ein wichtiges Ergebnis der Studie lautet: „Über alle Landeskirchen und Funktionsebenen hinweg bestehen klare Vorstellungen darüber, was Männer und Frauen in Leitung ausmacht: Frauen leiten kommunikativer, Männern fällt es hingegen leichter mit Kritik und Unsicherheit umzugehen, sie sind durchsetzungsfähiger und leitungsaffin“ (48). Die zwei folgenden Zitate von Befragten zeigen sehr deutlich, welche spezifischen Eigenschaften Frauen typischerweise zugeschrieben werden: „Das ist für mich zum Beispiel, ja, mehr dieses Umsichtige, dieses Einbeziehen von vielen Bereichen. Zugänglich auch für dieses Emotionale, wenn es jetzt um Verwaltung geht“ (49). Und: „Ich denke, dass wir Frauen stärker durch das Gespräch leiten oder durch die Art, wie wir interagieren. Bei Männern habe ich oft den Eindruck, die stellen sich hin und die… Ich glaube, grundsätzlich kann man sagen, dass der Großteil der Männer dominante Leitungsfiguren sind, die wissen, was sie wollen, und das machen sie einfach. Die reden dann schon mit den anderen. Und ich glaube, dass wir Frauen stärker die Menschen mit einbinden und zusammen die Dinge entwickeln. Das ist, glaube ich, ganz deutlich“ (49). Cordelia Fine weist darauf hin, dass solche Geschlechtervorstellungen nicht nur eine deskriptive, sondern auch eine normative Seite haben.
„Wissen Sie, dass Sie Ihre Kinder zu Waisen machen, Frau X?“
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Beide Seiten sind problematisch: „both the descriptive (‚women are gentle‘) and the prescriptive (‚women should be gentle‘) elements of gender stereotypes create a problem for ambitious women.“19 Unweigerlich werden Frauen Irritationen hervorrufen, sobald sie mit ihrem Verhalten dem Stereotype nicht entsprechen – und das ist in einer Führungsposition oft unabdingbar.
6.
Queen Clara
Solche Irritationen beschreibt Fine anschaulich, indem sie an Deborah Camerons Bericht über ‚Queen Clara‘ referiert: „Deborah Cameron, discussing the work of Janet Holmes who recorded and analyzed about 2,500 workplace interactions, describes how Clara, the team leader in a multinational company, uses a typically masculine style of leadership. It’s firm, abrupt, and direct. So, to deal with being issued orders by her, the team has developed a running joke whereby she is referred to as Queen Clara. For instance, when Clara says ‚it’s a no‘, one of her team members responds that it’s a ‚royal no‘. As Cameron points out: ‚Would a man in Clara’s position who behaved in a similar way have to make the same concessions? Would he be dubbed ‚the King‘ by his subordinates, and teased about his ‚royal‘ manner? Arguably, the humorous ‚Queen Clara‘ persona is needed to render Clara’s style of management acceptable precisely because she is not a man. A woman who displays authority as unabashedly as Clara still makes a lot of people feel uncomfortable or threatened.‘“20 Dass es solche Queen-Clara-Reaktionen auch im Bereich der evangelischen Kirche gibt, zeigt das folgende Zitat aus der Studie sehr deutlich: „Oft gehen ja Frauen in Leitungspositionen, die dann … wie soll ich denn
19
20
Cordelia Fine, Delusions of Gender. How our Minds, Society, and Neurosexism create Difference, New York/London 2010, 56. Vgl. dazu auch Madeline Heilman, Description and prescription: How Gender stereotypes prevent women’s ascent up the organizational ladder, in: Journal of Social Issues 57 (2001), 657–674. Fine 2010, 63f.
56
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das sagen … mit einer gewissen männlichen Verbissenheit das dann angehen. Weil, mir scheint da immer auch so ein kleines … irgendwas da hinten drin zu sitzen, ich muss das jetzt noch besser machen als die männlichen Kollegen. Und die dann oft eine gewisse Härte dann auch ausstrahlen, eine stärkere Härte eigentlich fast als die männlichen Leitenden. Sie können es manchmal schon an der Stimme hören, dass das so eine … ja, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Vielleicht haben Sie auch Erfahrung entsprechend, dass da schon so eine Verkrampfung irgendwo drin ist. Dass man immer so das Gefühl hat, ja, ja, die muss sich jetzt unbedingt durchsetzen und die kann dann mit Widerspruch oder Widerstand noch schlechter umgehen eigentlich. Was ich eigentlich blöd finde. Weil, wenn ich das Selbstbewusstsein habe oder wenn ich mir das zutraue, dann sollte es keine Rolle spielen, ob ich jetzt das als Mann oder als Frau mache. Ich denke, das Weibliche könnte schon sein, das mehr… also, auch das mehr Verbindende. Und jetzt nicht irgendwie stur nach Paragraf irgendwas durchzusetzen und es einfach irgendwie durch zu verwalten. Sondern schon auch bisschen … ja, die Dinge freundlich und bestimmt nach vorne zu bringen“ (49). Das Queen-Clara-Phänomen ist keineswegs harmlos. Seine Folgen für die Inhaberinnen anspruchsvoller Leitungspositionen werden von Isolde Karle eindrücklich beschrieben: „Fügen sich Frauen nicht in das Schema der Andersheit, sondern beweisen sie insbesondere in Leitungspositionen Führungsstärke und Autorität, wird dies schnell als unterkühlt und machtversessen wahrgenommen. Einsamkeit und mangelnde Loyalität und Sympathie sind nicht selten die Folge davon. Versuchen Frauen umgekehrt die ‚weibliche‘ Rolle der Anderen, der emotional Fürsorglichen und damit die Rolle derjenigen, die Hierarchisierungen vermeidet, zu praktizieren, werden sie zwar als Frauen anerkannt, aber kommen in Konflikt mit ihrer Berufsrolle, die von ihnen verlangt, Interessen durchzusetzen, Entscheidungen zu treffen und unwillige oder säumige Mitarbeiter zur Ordnung zu rufen.“21
21
Isolde Karle, „Da ist nicht mehr Mann noch Frau …“. Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz, Gütersloh 2006, 154f.
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7.
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Bewerbungen
Die Studie „Kirche in Vielfalt führen“ zeigt: Geschlechterstereotype beeinflussen in der evangelischen Kirche nicht nur die Wahrnehmung von Frauen in Führungspositionen, sondern auch die Chance, sich als Frau für eine solche Position erfolgreich zu bewerben. Die Autoren der Studie schreiben, dass die Befragten „geschlechtsspezifische Zuordnungen von Eigenschaften sowie ein unreflektiertes Verhalten in Auswahlprozessen als wichtige Mechanismen [benennen], die zu der geringen Anzahl von Frauen im ephoralen Amt führen“ (51). Dazu gehört auch die Tatsache, dass Auswahlgremien die Frage nach familiärer Vereinbarkeit mit einem Leitungsamt ausschließlich Frauen stellen – wie viele Befragte berichteten (51). Ein besonders krasses Beispiel für diese Frage (weil sie mit einem impliziten Vorwurf fehlender Fürsorge und Verantwortungsübernahme für die Familie kombiniert wird) bietet das nächste Zitat: „Dann werden Sie da [im Landeskirchenausschuss] gefragt: ‚Sie wissen, dass, wenn Sie sich für so ein Amt bewerben, Sie Ihre Kinder zu Waisen machen‘“ (74). Die besondere Stärke der Untersuchung „Kirche in Vielfalt führen“ liegt darin, dass sie zeigt, dass nicht nur Frauen, sondern auch Männer bei der Bewerbung um ein mittleres Leitungsamt negative Auswirkungen der Geschlechterstereotypen spüren – insbesondere sogenannte ‚aktive Väter‘, die die Betreuung ihrer Kinder mit übernehmen und dieses Thema im Bewerbungsprozess von sich aus thematisieren. Das zeigt das folgende Zitat eines befragten Pfarrers, der auf ein Stellenbesetzungsverfahren zurückblickt: „Ja. In dem ersten Prozess hat Familie beziehungsweise die berufliche Situation der Partnerin eine ganz erhebliche Rolle gespielt, weil unsere Vorstellung von gleichberechtigter Partnerschaft in Familie und Beruf und die Vorstellung der Landeskirche hinsichtlich der Anforderungen an das familiäre Umfeld des Superintendenten nicht zusammenzubringen waren“ (50).
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8.
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Dekonstruktion als Daueraufgabe
Geschlechterstereotype sind in der evangelischen Kirche, insbesondere was ihre Leitungskultur angeht, mithin in höchstem Maß virulent. Erfreulicherweise weist das Fraunhofer-Forscherteam aber auch auf folgende Begebenheit hin: „Die wahrgenommenen Geschlechterunterschiede werden von den Befragten auf vermeintliche Naturgegebenheiten – öfter jedoch auf eine geschlechtsspezifische Sozialisation zurückgeführt“ (50). Sie bescheinigen den Befragten sogar eine „ausgeprägte Reflexionskompetenz bezüglich kultureller Fragestellungen“ (14). Deswegen überrascht es nicht, dass die Autoren der Studie für den Abbau der Genderstereotypen in der evangelischen Kirche Vorschläge machen, die auf der Reflexionskompetenz der Befragten aufbauen. Dabei denken sie konkret an Tools und/oder Trainings, die für unbewusste Geschlechterstereotypen sensibilisieren. Damit soll der Daueraufgabe einer Dekonstruktion von Geschlecht als Bewertungskategorie entsprochen werden (50). An dieser Aufgabe wird sich das Studienzentrum für Genderfragen aktiv beteiligen. Von der EKD-Synode in Bonn (2017) wurde es beauftragt, die Rezeption der Studie „Kirche in Vielfalt führen“ in den Landeskirchen zu begleiten. Dabei geht es auch um die Entwicklung von wirksamen Formaten, die den Abbau von Genderstereotypen im Raum der evangelischen Kirche fördern können.
9.
Wie komme ich hier raus?
Die größte Gefahr bei der Sensibilisierungsaufgabe wäre, die Macht der inneren Bilder zu unterschätzen. Sie sind hartnäckig und auch die aufgeklärtesten Personen sind vor ihnen nicht gefeit. Davon hat wohl kaum eine so eindrücklich erzählt wie die Schauspielerin Maria Fürtwängler: „Mein Aha-Moment war schon vor vielen Jahren. Ich sitze in einem Flugzeug, man muss sagen, ich bin eine ängstliche Passagierin, und höre zum
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ersten Mal eine weibliche Stimme, die sagt: ‚Guten Tag, ich bin Frau Meier, ich bin ihre Kapitänin auf dem Flug nach Berlin.‘ Und mein Reflex war: Scheiße, wie komm ich hier raus. Und ich war empört von mir und sagte mir: Maria, selbstverständlich, warum soll eine Frau nicht Pilotin sein können, ist doch lächerlich. Aber in mir, in meinem tiefsten Innern, in meinem Unterbewusstsein war eben kein Bild von einer Pilotin.“22
22
https://www.ndr.de/kultur/Femme-fatale-Frauenbilder-zwischen-Deutschlandund-Frankreich-buchmesse358.html (zuletzt abgerufen am 05.03.2018 / Interview leider nicht mehr abrufbar).
Männer- und Frauensprache auf der Kanzel? Eine quantitativ-empirische Untersuchung von Genderunterschieden in deutscher Predigtsprache mit Implikationen für den homiletischen Unterricht Predigen Männer und Frauen verschieden? In diesem Aufsatz werden die Ergebnisse einer quantitativ-empirischen Untersuchung von 224 deutschsprachigen Predigten vorgestellt.1 Sie wurden auf Genderunterschiede analysiert mithilfe des Software-Programms Linguistic Inquiry and Word Count (LIWC), das in den 1990er Jahren vom amerikanischen Sozialpsychologen und Sprachexperten James W. Pennebaker an der Universität Texas in Austin entwickelt wurde. Somit gibt dieser Aufsatz nebenbei auch Einblick in die neuen Möglichkeiten digitaler Predigtforschung (und ihre natürlichen Beschränkungen). Die Frage nach einer möglichen Männer- und Frauensprache auf der Kanzel konnte zuvor nur im Rahmen kleinerer, qualitativ-empirisch ausgerichteter Projekte gestellt werden. Dieser Aufsatz zeigt die Ergebnisse der ersten großangelegten Untersuchung von deutschsprachigen Männer- und Frauenpredigten.
1.
Forschungsgeschichtlicher Überblick zum Thema Homiletik und Gender
Birgit Klostermeier-Wulff war im Jahr 1991 die Erste, die sich mit einem wissenschaftlichen Beitrag zum Thema Homiletik und Gender zu Wort meldete. Aufgrund einer qualitativ-empirischen Analyse von 22 Predig-
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Zuerst veröffentlicht in: Ökumenische Rundschau 67 (2018), 263–273.
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ten von Männern und 26 Predigten von Frauen kam sie zu den folgenden Einsichten: – Frauen predigten persönlicher. – Frauen benutzten mehr „ich“ und weniger „wir“. – Frauen tendierten dazu, mehr zu fragen und weniger zu antworten. – Frauen boten mehr ihre menschlich-emotionale und weniger ihre theologische Kompetenz an. – Frauen tendierten dazu, mehr zu trösten und weniger zu unterrichten. – Frauen betonten öfter den Wert der Gemeinschaft.2 Vier Jahre später, im Jahr 1995, kommentierte Isolde Karle diese Untersuchung kritisch. Thematisierung der Geschlechterdifferenz sei eine heikle Sache, so Karle. Dadurch könne alten Klischees neue Plausibilität verliehen werden.3 Als Beispiel solcher Klischees zitierte sie Worte von Ernst-Rüdiger Kiesow, langjähriger Hochschullehrer für Praktische Theologie in Rostock, aus dem Jahr 1991: „Die Predigten von Studentinnen erwiesen sich häufig als lebensnäher, anschaulicher, gefühlsbetonter und im guten Sinne schlichter als die ihrer männlichen Kommilitonen; sie wirkten in der Regel weniger abstrakt, weniger dogmatisch und hatten stärkere persönliche Färbung. […] Die Frau hat vom Lebensanfang der Kinder an für deren elementare Bedürfnisse zu sorgen, muss Wärme, Nahrung und Zuwendung geben etc. Und dasselbe tut sie als Predigerin nun auch noch von der Kanzel herab, denn psychologisch sei es für Männer wie für Frauen ein neues, sie tief berührendes Erlebnis, die weibliche bzw. mütterliche Stimme von der Kanzel zu vernehmen.“4 Die Gefahr ist groß, dass solche 2
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Vgl. Birgit Klostermeier-Wulff, Geschlechtsspezifische Verkündigung? Beobachtungen an Frauen- und Männerpredigten, in: ZGP 4 (1991), 30–35. Für eine qualitativ-empirische Analyse englischsprachiger Predigten unter dem gleichen Blickwinkel vgl. Anna Katharina Röllmann, Und das Word ward weiblich? Unterschiede in Predigten von Frauen und Männern der United Church of Christ (USA) und ein möglicher Umgang mit den Ergebnissen, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 65 (2014), 32–34. Vgl. Isolde Karle, Zur Unterscheidung von Prediger und Predigerin, in: PthI 15 (1995), 293. Kiesow zitiert nach Karle 1995, 292.
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klischeehaften Beobachtungen durch eine naive Erforschung der Geschlechterdifferenz in deutscher Predigtsprache eher bestätigt als widerlegt werden, schrieb Karle. Stattdessen sollte es vielmehr darum gehen, „herauszuarbeiten, wie sich Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in subtiler Form in den Predigtstilen und dem Rollenverständnis von PredigerInnen niederschlagen und damit sichtbar machen, wie die Geschlechterdualität immer wieder neu hergestellt wird“5. Karle erwies sich hiermit als Rezipientin konstruktivistischer Gendertheorie. Konstruktivistische Gendertheorie unterscheidet zwischen einem biologischen Geschlecht (sex) und einem sozialen Geschlecht (gender). Geschlecht ist in vielen Hinsichten kein natürliches – oder, theologisch gesagt, ‚gottgegebenes‘ – Phänomen, sondern wird sozial hergestellt. Das heißt: Es wird immer wieder neu konstruiert durch unzählbare soziale Interaktionen, die sich in vielen kleinen Alltagshandlungen ereignen. Wichtig ist nun, das Geschlecht als soziale Konstruktion sichtbar zu machen, also zu dekonstruieren. Dies gilt für jede vermeintliche Differenz zwischen Mann und Frau, die über die körperlichen Unterschiede hinausgeht. Über die Zielsetzung einer gendertheoretischen Dekonstruktion männlicher und weiblicher Predigtstile (sollte es solche geben) war Karle klar: Es geht um die größtmögliche Freiheit auf der Kanzel für individuelle Prediger und Predigerinnen. Durch Reflexion und Distanznahme entstehen Entscheidungsfreiräume. Dann kann jeder für sich entscheiden, wie er sich auf der Kanzel präsentieren möchte, was tradierte Weiblichkeit oder Männlichkeit gegenwärtig für ihn oder sie bedeutet.6 Im Jahr 1996 formulierte Wiebke Köhler als spezifische Bedingung für die empirische Erforschung von Geschlechterdifferenzen in der Predigtsprache die Erstellung eines Predigtkorpus von Frauenpredigten. Sie warnte vor Vorurteilen und Schnellschlüssen: „Vor einer gründlichen Auswertung der Predigten von Frauen besteht kein Spekulationsbedarf darüber,
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Karle 1995, 303. Vgl. Karle 1995, 303–305.
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wie diese Predigten zeigen, dass sie von Frauen verfasst und gehalten worden sind.“7 Drei Jahre später reflektierte Andrea Bieler die Rolle des binären Geschlechtersystems nicht speziell in der Homiletik, sondern in der Praktischen Theologie als Ganzer und nahm dabei Worte von Michel Foucault aus dem Jahr 1967 als Ausgangspunkt. Damals sagte er: „In dem Augenblick, in dem man sich darüber klar geworden ist, dass alle menschliche Erkenntnis […] in Strukturen eingebettet ist […] hört der Mensch sozusagen auf, das Subjekt seiner selbst zu sein. Man entdeckt, dass das, was den Menschen möglich macht, ein Ensemble von Strukturen ist, die er zwar denkt und beschreiben kann, deren Subjekt, deren souveränes Bewusstsein er jedoch nicht ist.“8 Als eine (soziale) Struktur ist das binäre Geschlechtersystem kein natürliches Phänomen, sondern das Ergebnis spezifischer historischer Machtverhältnisse. Andrea Bieler formulierte daraufhin als zentrale Aufgabe der Praktischen Theologie die Dekonstruktion der Herstellungspraktiken von Geschlecht im Kontext christlicher Religiosität mithilfe von empirischer Analyse.9 Susanne Wolf-Withöft sprach im Jahr 2004 in Bezug auf das Thema Homiletik und Gender sogar von einer „phänomenalen Lücke“10. In ihrem Aufsatz griff sie auf folgende Worte von Judith Butler zurück: „If feminism presupposes that ‚women‘ designates an undesignatable field of differences, one that cannot be totalised or summarised by a descriptive identity category, then the very term becomes a site of permanent openness and resignifiability.“11 Diese Einsicht verband Wolf-Withöft mit einem 7
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Wiebke Köhler, Homiletik – feministisch?! Predigerin und Hörerin als überfälliges Thema der Homiletik, in: WzM 48 (1996), 138 (vgl. dazu auch 148). Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens, Frankfurt am Main 1987, 14. Vgl. Andrea Bieler, Das Denken der Zweigeschlechtlichkeit in der Praktischen Theologie, in: ZPTh 88 (1999), 283, 284. Susanne Wolf-Withöft, Homiletik und Gender. Beobachtungen zu einer phänomenalen Lücke, in: PT 39 (2004), 171. Judith Butler, Contingent Foundations: Feminism and the Question of ‚Postmodernism‘, in: Feminist Contentions: A Philosophical Exchange (edited by Seyla Benhabib, Judith Butler, Drucilla Cornell and Nancy Fraser), New York 1995, 50.
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Plädoyer für eine spieltheoretisch inspirierte Homiletik: Predigten sollen kreative ‚An-Spiele‘ sein, die Männer und Frauen von Geschlechterstereotypen befreien.12 Kornelia Sammet machte im Jahr 2005 darauf aufmerksam, dass, bezogen auf das Pfarramt, die Rolle des Geschlechts „bisher kaum systematisch empirisch erforscht“13 wurde. Eine kritische empirische Erforschung des Geschlechts erfordert Sammet zufolge spezifische Methoden: die Kategorie ‚Geschlecht‘ darf keine subjektive Kategorie der befragten Männer und Frauen sein.14 Wiebke Köhler wiederholte im Jahr 2006 ihren Aufruf für empirische Forschung im Bereich von Homiletik und Gender.15 Diese empirische Forschung sollte sich jedoch nicht beschränken auf die Analyse weiblicher Predigtsprache, sondern ebenso männliche Predigtsprache untersuchen. Somit würde man die perspektivische Verzerrung durchbrechen, die sich stets auf die Frau als das Andere des Mannes fokussiert.16 Um hervorzuheben, dass eine solche Verzerrung auf die existierende Machtungleichheit zwischen Männern und Frauen zurückgeht, griff Köhler zurück auf Worte von Pierre Bourdieu: „Die männliche Herrschaft konstituiert die Frauen als symbolische Objekte, deren Sein (esse) ein Wahrgenommenwerden (percipi) ist. Das hat zur Folge, dass die Frauen in einen andauernden Zustand körperlicher Verunsicherung oder, besser, symbolischer Abhängigkeit versetzt werden: Sie existieren zuallererst für und durch die
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Vgl. Wolf-Withöft 2004, 171–173. Kornelia Sammet, Frauen im Pfarramt: Berufliche Praxis und Geschlechterkonstruktion, Würzburg 2005, 150. Vgl. Sammet 2005, 151. Vgl. Wiebke Köhler (unter Mitarbeit von René Enzenauer, Indra Hesse, Renata Jung und Daniel Ruf), „Wir haben ja jetzt eine Pastorin, sie predigt ganz gut“. Protestantische Predigtkultur aus der Genderperspektive, in: Kontrapunkte. Katholische und protestantische Predigtkultur (Erich Garhammer/Ursula Roth/HeinzGünther Schöttler, Hg.), München 2006, 258. Vgl. Köhler 2006, 255.
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Blicke der anderen, d. h. als liebenswürdige, attraktive, verfügbare Objekte.“17
2.
Genderunterschiede in 224 Predigten (2010–2015) – erforscht mit LIWC
Die im Folgenden dargestellte quantitativ-empirische Studie überprüfte den Einfluss der Variable ‚Geschlecht‘ in 224 Predigten. Der Datensatz enthielt 110 Predigten von Männern sowie 114 Predigten von Frauen. Veröffentlicht wurden die Predigten in den Jahren 2010 bis 2015. Um die ceteris-paribus-Klausel so weit wie möglich einzuhalten – diese fordert, dass die Untersuchung von Sachverhalten ‚unter sonst gleichen Bedingungen‘ stattfindet – wurden nur sogenannte ‚Lesepredigten‘ ausgewählt. Diese wurden nicht für eine spezifische Gemeinde geschrieben. Für das umfassende Predigtkorpus gab es drei Quellen: die Reihe „Er ist unser Friede. Lesepredigten“18 Predigten herausgegeben vom Prädikantenpfarramt der Evangelischen Landeskirche in Württemberg19 Predigten herausgegeben von der pietistisch geprägten Ludwig-Hofacker-Vereinigung (in beiden Gruppen jeweils 15 %)20 Um den Einfluss der Variable ‚Geschlecht‘ festzustellen, wurden alle 224 Predigten einer linguistischen Analyse auf einer Wort-für-Wort-Basis unterzogen mithilfe des Programms LIWC – genauer gesagt: mithilfe der im Jahr 2003 entstandenen deutschen Übersetzung des internen Wörterbuchs von LIWC 2001.21 Die Gleichwertigkeit der deutschen Übersetzung 17 18
19 20 21
Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft, Frankfurt am Main 2005, 117. Vgl. Er ist unser Friede. Lesepredigten (Wilfried Engemann, Hg. / ab 2012 Helmut Schwier, Hg.), Leipzig 2011–2016. Vgl. https://www.predigtvorlagen.de/startseite/ (zuletzt abgerufen am 17.11.2021). Vgl. https://www.predigtvorlagen.de/startseite/ (zuletzt abgerufen am 17.11.2021). Zu GERMAN LIWC 2003 vgl. C. Brand, A. B. Horn, M. R. Mehl & J. W. Pennebaker, GERMAN LIWC 2003: Ein deutsches Diktionär zu den basislinguistischen, psychologischen Prozess- und Relativitätskategorien des LIWC. Technical Report. Austin: University of Texas, Department of Psychology (2003).
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mit dem Originalprogramm wurde untersucht und zweifelsfrei nachgewiesen: „the results show that most of the LIWC categories display high equivalence to their English counterparts. […] The findings indicate the usefulness of the LIWC for analyzing German texts.“22 Wie funktioniert LIWC? Das Programm klassifiziert die Wörter eines Textes in 22 linguistische Kategorien (beispielsweise Pronomen, Verben, Tempora …), 32 psychologische Kategorien (beispielsweise Affekte, Erkenntnisse, soziale Wörter …) und 7 persönliche Kategorien (beispielsweise Arbeit, Familie, Freizeit …). Außerdem berechnet das Programm, wie viel Prozent der Wörter eines Textes zu jeder Kategorie gehören. Nota bene: das LIWC-Programm zählt die Wörter, ohne ihren Sinn zu erfassen. Deshalb werden Ironie und Metaphern vom Programm nicht erkannt.23 Ebenso wenig versteht es Verneinungen. Nachdem das LIWC-Programm die Wörter der Predigten kategorisiert und pro Predigt die Prozentsätze der Kategorien berechnet hatte, fand anschließend eine statistische Analyse der Ergebnisse statt. Mithilfe des nicht-parametrischen Mann-Whitney-U-Testes wurde untersucht, bei welchen Kategorien sich die Mittelwerte von Männern und Frauen signifikant voneinander unterscheiden. Eine signifikante Differenz bedeutet eine Differenz, die höchstwahrscheinlich überzufällig ist. Gewählt wurden zwei Signifikanzniveaus, nämlich p < 0,05 (wie üblich in den Sozialwissenschaften) sowie p < 0,1 (im Blick auf den explorativen Charakter der Studie auch verteidigbar). Ein Signifikanzniveau von 0,05 bedeutet eine Irrtumswahrscheinlichkeit von 5 %. Das heißt: Mit einer Wahrscheinlichkeit von nur 5 % ist der beobachtete Unterschied zwischen Männern und Frauen doch zufällig und liegt auf diese Weise nicht auch in der Wirklichkeit vor – mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % aber schon.
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23
Markus Wolf, Andrea B. Horn, Matthias R. Mehl, Severin Haug, James W. Pennebaker und Hans Kordy, Computergestützte quantitative Textanalyse Äquivalenz und Robustheit der deutschen Version des Linguistic Inquiry and Word Count, in: Diagnostica 54 (2008), 85. Vgl. James W. Pennebaker, The Secret Life of Pronouns. What Our Words Say About Us, Dexter/Michigan 2011, 8.
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Signifikante geschlechtsspezifische Unterschiede fand das LIWC-Programm in neun sprachlichen Kategorien sowie in vier Satzzeichen-Kategorien. Die untenstehende Tabelle zeigt, in welchen Kategorien signifikante Differenzen festgestellt wurden. Hinter den Kategorien stehen stets einige Beispielwörter aus der spezifischen Kategorie, darunter das jeweilige Signifikanzniveau sowie schließlich ein Indikator (Plus/Minus), ob Frauen im Durchschnitt relativ mehr oder weniger Wörter aus dieser Kategorie benutzen. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.
Gesamtwortzahl p < 0,1 Optimismus p < 0,05 + Freundschaft p < 0,05 + Einsicht p < 0,05 Vermutung p < 0,1 + inklusiv p < 0,05 + exklusiv p < 0,05 Metaphysik p < 0,05 Religion p < 0,1 Komma p < 0,1 + Doppelpunkt p < 0,1 Fragezeichen p < 0,05 + Ausrufezeichen p < 0,05 -
(Hoffnung, begeistert, erfolgreich …) (Bekannte, Freundin, Partner …) (bemerken, bewusst, Entscheidung …) (raten, vielleicht, Zweifel …) (und, mit, zusammen …) (aber, ohne, sondern …) (Gott, Himmel, Sarg …) (Altar, Kirche, Moschee …) (,) (:) (?) (!)
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Die folgende SPSS-Tabelle zeigt für alle dreizehn Kategorien die Mittelwerte der zwei Gruppen, Männer (1) und Frauen (2).
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Die konkrete Bedeutung der Zahlen in dieser Tabelle kann man anhand einer fiktionalen Lesepredigt von insgesamt 1465 Wörtern klarmachen. Die untenstehende Tabelle zeigt die absolute Zahl von Wörtern aus den oben beschriebenen Kategorien 2–9, die Männer und Frauen im Durchschnitt für diese Predigt benutzen würden, vorausgesetzt die analysierten Predigten sind repräsentativ für Lesepredigten im Allgemeinen: 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Optimismus Freundschaft Einsicht Vermutung inklusiv exklusiv Metaphysik Religion
M: 10 M: 2,1 M: 37 M: 18 M: 100 M: 35 M: 56 M: 51
F: 13 Wörter F: 2,5 Wörter F: 34 Wörter F: 19 Wörter F: 105 Wörter F: 32 Wörter F: 50 Wörter F: 45 Wörter
Die Kategorie Religion ist strenggenommen eine Subkategorie der Kategorie Metaphysik. Das bedeutet, dass die Differenz zwischen einer 1465Wörter-Predigt von einem Mann und einer 1465-Wörter-Predigt von einer Frau im Durchschnitt bei 21 Wörtern liegt (1,4 % von der Gesamtwortzahl).
3.
Diskussion der Ergebnisse mit Implikationen für den Predigtunterricht
Ein auffälliger Befund ist die Tatsache, dass in vielen Kategorien – teilweise im Gegensatz zu früheren qualitativen Untersuchungen – überhaupt keine Unterschiede gefunden wurden, zum Beispiel in den Kategorien 1. Person singular, 1. Person plural, soziale Wörter, affektive Wörter, negative Gefühle, positive Gefühle, Familie, Körper, Leistung, Macht und Geld. Darüber hinaus ist es wichtig, zu betonen, dass es sich bei allen beobachteten geschlechtsspezifischen Unterschieden um sehr kleine Differenzen handelt: Alle Differenzen sind kleiner als 1 %. Die größte Differenz
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betrifft den Gebrauch sogenannte ‚metaphysischer‘ Wörter: In den Predigten der Frauen gehören 3,4% der Wörter der Kategorie Metaphysik an, bei den Predigten der Männer sind es 3,8%. Dennoch gilt: Auch wenn die Unterschiede nur sehr klein sind, müssen sie interpretiert werden. Um den Befund zu erklären, werden auf der Basis von Pennebakers Einsichten über typische Schreibstile die folgenden zwei Erklärungen vorgeschlagen24: Männer benutzen mehr Wörter aus den Kategorien Einsicht, exklusiv (für Differenzierungen), Metaphysik und Religion sowie mehr Doppelpunkte und Ausrufezeichen, weil sie etwas expliziter als Frauen theologische Themen behandeln auf eine analytische und demonstrative Art. Frauen benutzen mehr Wörter aus den Kategorien Optimismus, Freundschaft, inklusiv (für Verbindungen) und Vermutung sowie mehr Kommata und Fragezeichen, weil sie etwas öfter als Männer Geschichten über Hoffnung und Freundschaft erzählen, die sie umsichtig interpretieren. Es könnte sein, dass es sich hierbei um eine Nachwirkung dessen handelt, was Isolde Karle im Jahr 2001 im Blick auf die feministische Theologie behauptet hat, nämlich dass „sich die feministische Theologie teilweise recht deutlich von den Zentralinhalten der biblisch-christlichen Überlieferung distanziert“25. Auf diese Weise werde, so Karle, „die christliche Tradition mehr oder weniger Männern überlassen“26. Viel früher schon, im Jahr 1984, hatte Christine Janowski feministische Theologie davor gewarnt, durch die Rezeption naturreligiöser Traditionen „ihre Anschlußfähigkeit an eine Kirche des ‚Wortes vom Kreuz‘ zu verlieren“27.
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Vgl. Pennebaker 2011, 80–82, 295–296. Isolde Karle, Der Pfarrberuf als Profession. Eine Berufstheorie im Kontext der modernen Gesellschaft, Gütersloh 2001, 309. Karle 2001, 309. Christine Janowski, Umstrittene Pfarrerin. Zu einer unvollendeten Reformation der Kirche, in: Das Evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte (Martin Greiffenhagen, Hg.), Stuttgart 1984, 86.
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Die Ausgangsfrage dieses Artikels war, ob Männer und Frauen unterschiedlich predigen. Bezogen auf die Sprache der untersuchten Lesepredigten lautet die Antwort: Ja, das trifft in mancher Hinsicht zu, denn mit dem LIWC-Programm wurden 13 (kleine) signifikante Unterschiede gefunden. (In vielen anderen Hinsichten predigen Männer und Frauen aber nicht unterschiedlich.) Männer scheinen etwas analytischer zu predigen, Frauen etwas narrativer. Es ist durchaus möglich, dass dies über die Lesepredigt hinaus für die Predigtsprache im Allgemeinen gilt. Welche Implikationen ergeben sich daraus für die homiletische Ausbildung? Über den spezifischen Sprachgebrauch in Predigten von Studierenden schreibt Birgit Weyel aufschlussreich im Jahr 2015: „Jahrzehntelange Predigtroutine scheint aus ihr [der Predigt JN] zu sprechen, dabei ist es ihre erste Predigt. Dies zeigt, dass die erste Predigt […] häufig […] vor dem Hintergrund eines lange Jahre währenden persönlichen Predigthörens zu stehen kommt. Nicht nur der Glaube kommt aus dem Hören, auch die erste eigene Predigt ist maßgeblich von vorgängigen Hörerfahrungen geprägt. Meistens ist diese Prägung mimetisch und als Modell des eigenen Predigens nur selten bewusst. Ziel des Homiletischen Seminars ist es, diese Vorbilder des Predigens […] bewusst zu machen und durch Reflexion Bewegung in die Auseinandersetzung mit ihnen zu bringen.“28 Bezogen auf die Genderthematik hieße dies konkret: Um die mimetischen und teils unbewussten Prägungsprozesse bei den Studierenden in einem wichtigen Punkt zu unterbrechen, sollen in Homiletik-Seminaren alle Teilnehmenden sowohl intensiv mit einem narrativen als auch mit einem analytischen Predigtstil experimentieren. Um die Zielsetzung solcher gendersensibler Homiletik-Seminare zu formulieren, kann man gut bei Paulus anknüpfen: In seinem Brief an die Galater schreibt er: „Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist […] nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Gal 3,27–28). Gendersensible Homiletik28
Birgit Weyel, Lernort Homiletisches Seminar. Predigen auf der Schwelle zwischen Predigthören und Selberpredigen, in: Predigen lehren. Methoden für die homiletische Aus- und Weiterbildung, Leipzig 2015, 45.
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Seminare wollen erreichen, dass auf der Kanzel kein Mensch – also kein Mann und keine Frau – unbewusst und unreflektiert predigt wie ein Mann oder wie eine Frau. Durch spielerische Übungen, die Bewusstwerdung und Reflexion fördern, nähert man sich der Vision einer genderneutralen Kirche: Jeder Mensch predigt gemäß seiner eigenen individuellen Begabung und seiner eigenen freien Entscheidung bezüglich des Predigtstils.
‚Predigen ist Reden‘ als homiletischer Ansatz Kompetenzorientiert und postliberal (und dadurch radikal gendersensibel) Was tut man, wenn man den christlichen Glauben öffentlich verkündigt? Was macht die Kommunikation des Evangeliums an Nicht-Christen im Wesen aus? Und gilt dies nur für die Missionspredigt oder für jede Predigt? In diesem Aufsatz vertrete ich die These, dass Predigen letztendlich nichts anders als Reden ist. Dieser Ansatz bietet Chancen in vielerlei Hinsicht – nicht zuletzt im Hinblick auf einige hochaktuelle homiletische Herausforderungen.
1. Apostelgeschichte 17: Paulus führt ein Gespräch Von einer der bekanntesten Missionspredigten in der Bibel erzählt Apg 17. Um zu wissen, was die Missionspredigt ihrem Wesen nach charakterisiert, lohnt es sich, hier genau hinzuschauen. Was Paulus auf dem Areopag in Athen tut, ist schlicht und einfach reden. Wer redet, führt ein Gespräch. Für die Sprachform des Gesprächs ist eine ausgeprägte soziale Orientierung typisch. Diese unterscheidet es von anderen verbalen Sprachformen wie etwa ‚eine Ansage machen‘ oder ‚eine Mitteilung tun‘. Über die Taktiken der Gesprächsführung hat Niklas Luhmann Folgendes geschrieben: „Im Grund ist jedes soziale Verhalten an Konsensmöglichkeiten interessiert und darauf bedacht, den offenen Meinungsausdruck so zu steuern, dass genügend Übereinstimmung für die Fortsetzung des Kontaktes erhalten bleibt. Die Taktiken der Gesprächsführung sind wesentlich durch diese Rahmenbedingungen bestimmt.“1 Genauso verhält sich Paulus gegenüber den Athenern auf dem Areopag. 1
Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1972, 70.
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‚Predigen ist Reden‘ als homiletischer Ansatz
Er lässt sich vollständig auf sie ein, sucht das Gemeinsame und knüpft daran an.2 Konkret macht Paulus den heidnischen Athenern den biblischen Schöpfergott damit plausibel, dass er an ihnen bereits geläufige Gedanken anknüpft. Er verbindet die Schöpfungstheologie gekonnt mit damals verbreiteten populärphilosophischen Ideen, vor allem der Stoiker. Irgendwann stößt Paulus mit diesem Vorgehen freilich an eine Grenze. Das ist der Punkt, wo es keine Anknüpfungsmöglichkeiten mehr gibt. Der biblische Gott ist einzigartig und geht zu Menschen eine Beziehung ein, die sich aus nichts ableiten und durch nichts begründen lässt. Er ist, um mit dem niederländischen Theologen Kornelis Heiko Miskotte (1925–1976) zu sprechen, „grundlos – in der Mitte“3. Ebenso gibt es für den Glauben an seinen Sohn Jesus kein einziges Argument, außer jenes, dass Jesus selbst sich glaubwürdig zeigt. Am Ende seiner Rede erzählt Paulus von einem Mann, der von Gott von den Toten auferweckt und zum Richter bestimmt wurde. Die Reaktionen variieren von Spott bis höflichem Desinteresse. Die sonst nicht um Superlative verlegene Apostelgeschichte erzählt auffällig sparsam vom Missionserfolg auf dem Areopag. Sie nennt zwei Menschen, die sich Paulus anschlossen, beim Namen – Dionysius und Damaris – und redet ansonsten nur von „einigen Männern […] and andere mit ihnen“ (Apg 17,34). Ich halte fest: Zur Kommunikation des christlichen Glaubens an NichtChristen gehört das Gespräch. (Wer mit ihnen über den Glauben redet, muss allerdings in Rechnung stellen, dass Gott ‚grundlos in unserer Mitte‘ ist.)
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Vgl. zum Folgenden: Jantine Nierop, Von Risiken und Nebenwirkungen des Predigens: Apg 17,22–28a (28b–34), in: Göttinger Predigtmeditationen 68 (2014), 245– 250. Kornelis Heiko Miskotte, Wenn die Götter schweigen. Vom Sinn des Alten Testaments, München 1966, 189.
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2.
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Gerrit de Kruijf (1952–2013): ‚Preken is praten‘
Gilt dies nur für die Missionspredigt? Die Einsicht, dass jede Predigt wesentlich ein Gespräch darstellt, findet man nirgendwo so deutlich wie beim niederländischen Theologen Gerrit de Kruijf.4 In einem Aufsatz aus dem Jahr 1999 schreibt er: „Predigen ist reden: direkt ansprechen. Es ist nicht ‚eine Geschichte präsentieren‘. Die Menschen müssen nicht etwas anhören, sondern sollen das Gefühl haben, dass du mit ihnen im Gespräch bist.“5 Das wiederholt er im Jahr 2011 aufs Neue, wenn er schreibt: „Predigt ist ein Monolog, der erlebt werden will als Gespräch.“6 Predigen ist reden, oder, wie es im Original heißt: Preken is praten. Sicherlich schreibt De Kruijf hier eine reformierte Tradition weiter. Von Predigt als Anrede sprach im Jahr 1953 der Schweizer Theologe Rudolf Bohren (1920–2010) und stellte die These auf, „dass Predigen ein Fischen ist“7. Ergänzend fügt er hinzu: „Bei klarem Wasser sieht man die Forellen, und die Kunst ist die, den Köder dem Tier so vorzusetzen, dass es beißen kann. Und das gilt besonders für den Menschenfischer.“8 Bohren behauptet sogar, dass eine Predigt, die keine Hörer:innen findet, inhaltlich „nicht stimmt“, ja „doketisch verseucht“9 ist. Die Idee der Predigt als Anrede findet man auch bei Karl Barth.10 4
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Vgl. zum Folgenden: Jantine Nierop, Die biblische Geschichte als unsere Geschichte. Reformierte Schrift- und Predigtfrömmigkeit, in: Glaubensleben. Wahrnehmungen reformierter Frömmigkeit (Margit Ernst-Habib/Hans-Georg Ulrichs, Hg.), Wuppertal 2018, 113–123. Maarten Den Dulk / Gerrit de Kruijf, Leren preken met Augustinus, in: Postille 1999–2000, Zoetermeer 1999, 26 [Übersetzung aller niederländischen Zitate JN]. https://www.theologie.nl/blogs/geloofsverdieping/het-heilige-en-de-preekdoor-prof-dr-gerrit-de-kruijf/ (zuletzt abgerufen am 17.11.2021). Rudolf Bohren, Die Gestalt der Predigt, in: Aufgabe der Predigt (Gert Hummel, Hg.), Darmstadt 1971, 220. Bohren 1971, 220. Bohren 1971, 221. Vgl. beispielsweise Karl Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 1985, 199.
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‚Predigen ist Reden‘ als homiletischer Ansatz
‚Predigen ist reden‘ – bei De Kruijf entspricht der bodenständigen Nüchternheit dieser Sicht auf Predigen auf der anderen Seite ein tiefer Glauben daran, dass Gott selbst durch Menschenworte spricht. Im Jahr 2011 spricht De Kruijf von der Predigt als das ‚protestantische Sakrament‘. Er zitiert dabei Miskotte. Dieser hatte im Jahr 1941 die Predigt mit der Eucharistie verglichen: „In dem Augenblick, in dem die Wandlung [bei der Eucharistie, JN] sich vollzieht, läutet eine helle, kräftige Glocke durch die Kirche, und alle fallen auf die Knie: sie erleben die wirkliche, greifbare Gegenwärtigkeit […] Beim Dienst am Wort kann auch, durch die Menschenworte hindurch, eine helle Glocke in den Herzen läuten: Gott ist gegenwärtig, lasset uns anbeten und in Ehrfurcht vor ihn treten.“11 De Kruijf nennt Miskottes Beschreibung der Predigt typisch niederländisch. Er schreibt: „Predigt zielt auf die Seele […] Die Verbindung zwischen Mystik und Predigt findet man in Deutschland und England nicht […] Ich denke, auch Karl Barth hatte dafür kein Gespür. Aber in unserer Tradition ist diese Verbindung so tief verankert, dass niederländische Kirchgänger immer noch mit einer verborgenen Erwartung auf die Predigt hören: eine Erwartung, die auf die Predigt als mystischem Ereignis hofft. Bewusst oder unbewusst hoffst du, in deiner Seele angesprochen zu werden.“12 De Kruijf zufolge geht diese Erwartung zurück auf die Bewegung der ‚naderen reformatie‘. Diese pietistische Bewegung des 17. und 18. Jahrhunderts hat die niederländisch-reformierte Predigtfrömmigkeit tiefgehend beeinflusst.13 Dennoch hat das Bewusstsein für die ‚mystische‘ Kraft der Predigt in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen. Aktuell plädieren die niederländischen Theologen Bert de Leede und Ciska Stark dafür, die sakramentale Dimension der Predigt wieder ‚zurückzugewinnen‘. Sie heben hervor, dass die Predigt, wie die Eucharistie, das Heil bereitstellt
11
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Kornelis Heiko Miskotte, Das Wagnis der Predigt, Stuttgart 1998, 50 f. (Zitat aus dem Lied „Gott ist gegenwärtig“ von Gerhard Tersteegen, EG 165,1) https://www.theologie.nl/blogs/geloofsverdieping/het-heilige-en-de-preekdoor-prof-dr-gerrit-de-kruijf/ (zuletzt abgerufen am 17.11.2021). https://www.theologie.nl/blogs/geloofsverdieping/het-heilige-en-de-preekdoor-prof-dr-gerrit-de-kruijf/ (zuletzt abgerufen am 17.11.2021).
‚Predigen ist Reden‘ als homiletischer Ansatz
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– und nicht nur beschreibt. Ansonsten führten Predigt und Gottesdienst zu Intellektualismus und Langeweile.14
3.
Kompetenzorientierung in der Predigtdidaktik
Eine Sicht auf Predigen als Reden bietet meines Erachtens große Chancen für die Predigtdidaktik.15 Eine solche Sichtweise macht sie nämlich leicht anschlussfähig an aktuelle Entwicklungen im Bereich der Hochschuldidaktik. Hier bildet die Idee der Kompetenzorientierung einen der wichtigsten Pfeiler. Kompetenzorientierung ist im Hochschulbereich freilich nicht unumstritten. Für einige ist sie ein rotes Tuch. Man kann sie so oder so verstehen. Für mich stellt sie keinen Gegensatz zum Wissen dar. Denn auch Wissen kann man als eine Fähigkeit verstehen, beispielweise als die Fähigkeit, die wichtigsten homiletischen Ansätze der Gegenwart benennen und in ihren Hauptzügen beschreiben zu können. Die Kompetenzorientierung hielt bei der sogenannten Bologna-Reform Einzug in die internationale Hochschullandschaft.16 Um eine europaweite Harmonisierung von Studiengängen sowie eine internationale Mobilität von Studierenden zu gewährleisten, werden seit 1999 Lernziele gebraucht, die klar beschreiben, welche Fähigkeit die Studierenden am Ende des Studiengangs beherrschen. In den Worten von John Biggs und Catherine Tang: „‚Intended learning outcome‘ clarifies what the student should be able to perform after teaching that couldn’t be performed previously. […] Verbs like ‚understand‘, ‚comprehend‘, ‚be aware of‘ are 14
15
16
Bert de Leede / Ciska Stark, Ontvouwen. Protestantse prediking in de praktijk, Zoetermeer 2017, 16. Vgl. zum Folgenden: Jantine Nierop, Predigen ist reden. Plädoyer für eine kompetenzorientierte Predigtdidaktik, in: Deutsches Pfarrerblatt 118 (2018), 136–140. Vgl. John Biggs und Catherine Tang, Teaching for Quality Learning at University, New York 2011, 3–15.
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‚Predigen ist Reden‘ als homiletischer Ansatz
unhelpful in ILOs because they do not convey the level of performance we require if the ILO is to be met. Even the quite common ‚demonstrate an understanding of‘ leave important questions unanswered: what does the student have to do to demonstrate ‚an‘ understanding? What level of understanding does the teacher have in mind – simple acquaintance? Able to point to an instance of? Apply in a real-life situation? One of the key criteria of a good ILO ist hat the student, when seeing a written ILO, would know what to do and how well to do it in order to meet the ILO.“17 Damit die erworbene Fähigkeit überprüfbar ist, soll man für die Formulierung der Lernziele action verbs benutzen, die eine konkrete und sichtbare Tätigkeit beschreiben. Reden beziehungsweise präziser gesagt die Fähigkeit, einen öffentlichen Gesprächsbeitrag zu gestalten, ist eine solche konkrete, sichtbare Aktivität, die man gezielt einüben und dann auch überprüfen kann. Eine kompetenzorientierte Sichtweise auf Predigen knüpft erfreulicherweise an bei Fähigkeiten, die im Alltag schon längst sicher beherrscht werden. Diese Tatsache macht den Erwerb der Grundkompetenz des Predigens überschaubar und realistisch. Sicherlich gilt, dass Predigen in bestimmter Hinsicht ein ‚lebenslanges Lernen‘ darstellt – dennoch halte ich es für entscheidend wichtig, dass den Studierenden in homiletischen Seminaren ein erreichbares Ziel vermittelt wird, das nicht manche in die Überforderung führt (wie es teilweise beim Ansatz der Dramaturgischen Homiletik der Fall ist18).
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Biggs und Tang 2011, 118, 119. Vgl. dazu Martin Nicol und Alexander Deeg, Im Wechselschritt zur Kanzel. Praxisbuch Dramaturgische Homiletik, Göttingen 2005. Um die Überforderung mancher Studierenden zu verstehen, sollte man bedenken, dass Dramaturgie als Fach einen Master-Studiengang darstellt.
‚Predigen ist Reden‘ als homiletischer Ansatz
4.
81
Charles Campbell: postliberale Homiletik
Die Idee, dass die Predigt einen öffentlichen Gesprächsbeitrag darstellt, lässt sich verbinden mit postliberalen Ansichten zur Identität der Kirche und zur Aufgabe der Predigt.19 Der amerikanische Theologe Charles Campbell betont im Zuge seiner Darstellung postliberaler Homiletik ausführlich den gemeinschaftlichen Aspekt der Predigt.20 Als eine genuin soziale Aktivität ist sie integraler Bestandteil vom fortlaufenden Diskurs in der Kirche. Dieser Diskurs fokussiert auf die Frage nach der Identität von Jesus Christus, den Menschen überliefert durch das alt- und neutestamentliche Zeugnis der Bibel. Nach dem amerikanischen Theologen Hans Frei (1922–1988), einem der Begründer der sogenannten ‚postliberal theology‘, ist es genau dieser Diskurs, der die Kirche in erster Linie konstituiert, und nicht gemeinsame religiöse Erfahrungen.21 Religiöse Erfahrungen konstituieren die Kirche nur sekundär. Primär sind es die spezifische Sprache und die typischen Praktiken, die die Kirche benutzt, um die einmalige Identität von Jesus Christus zu interpretieren. Die Kirche ist ihrem Wesen nach eine Auslegungsgemeinschaft.22 Dementsprechend ist es nach Campbell die erste und eigentliche Aufgabe der Predigt, die Kirche aufzubauen. Dies geschieht, indem spezifische ‚language skills‘ eingeübt werden (konkret: Deutungen der Person Jesu Christi).23 Campbell schreibt: „In general, the purpose of preaching becomes not to explain the meaning (much less prove the „truth“) of the Christian gospel in terms of cognitive propositions. Nor does preaching seek primarily to create an existential, experiential event for individual hearers (though there is nothing to prevent this from happening from time to time). Rather, preaching models the use of Christian language and 19
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21
22 23
Vgl. zum Folgenden: Jantine Nierop, [Response to Roser], in: Preaching the Fear of God in a Fear-Filled World (Dawn Ottoni-Wilhelm, Hg.), Zürich 2020, 80–82. Vgl. Charles Campbell, Preaching Jesus. News Directions for Homiletics in Hans Frei’s Postliberal Theology, Grand Rapids 1997, 221–257. Vgl. Hans Frei, Types of Christian Theology (Georg Hunsinger/William C. Placher, Hg.), New Haven 1992, 22, 54. Vgl. Campbell 1997, 247. Vgl. Campbell 1997, 231–241.
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‚Predigen ist Reden‘ als homiletischer Ansatz
thereby plays a role in nurturing believers in that language usage. Sermons become a means through which the Christian community enters more deeply into ist own distinctive speech, so that Christian ideas, beliefs, and experience become possible.“24 So gesehen erscheint die Predigt als eine Art ‚Sprachschule‘. Dabei ist es wichtig, dass die Geschichte von Jesus nicht auf die Erfüllung von allgemein-menschlichen Bedürfnissen reduziert wird. In der liberalen Theologie wird Jesus, so Campbell, geradezu absorbiert in allgemeinmenschlichen Erfahrungen.25 Dadurch wird ihm sein einmaliger Charakter geraubt. Campbell plädiert für eine postliberale Homiletik, die die Geschichte Jesu Christi als genau diese besondere Geschichte weitererzählt. Hörer sollen eingeladen werden, sich selbst als Figuren in dieser besonderen Geschichte zu verstehen.26 Das gilt genauso für alttestamentliche Geschichten über das Volk Israel, die Gottes Handeln bezeugen, bevor er sich in der Person Jesu Christi offenbart hat. „In ‚grammatical‘ terms, one might say that God in Jesus Christ is not primarily the predicate of individual human needs or experience, but rather the active subject who gathers and builds up the eschatological people of God in and for the world“, so Campbell. Gerade im Genderbereich Predigt bietet eine postliberale Einbettung des Konzepts ‚Predigen ist Reden‘ große Chancen. Indem die postliberale Predigt Jesus nicht im Rahmen des Vorfindlichen versteht, sondern ganz im Gegenteil die Predigthörer dazu einlädt, sich mit Figuren in der Geschichte Jesu Christi zu identifizieren, inszeniert sie eine neue (eschatologische) soziale Realität.27 Hierin werden Macht und Ohnmacht neu definiert. Kulturelle Bilder von Dominanz und Subordination werden dadurch konsequent infrage gestellt.28 Dies gilt nach Campbell für die Bereiche „races, classes, and genders“29. Das ist 24 25 26 27 28 29
Campbell 1997, 233, 234. Vgl. Campbell 1997, 141–145, 200. Vgl. Campbell 1997, 200, 259–264. Vgl. Campbell 1997, 200. Vgl. Campbell 1997, 218–220. Campbell 1997, 230.
‚Predigen ist Reden‘ als homiletischer Ansatz
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der Grund, warum ein postliberales Predigtverständnis die kirchliche Verkündigung eo ipso radikaler macht. Postliberale Predigten versuchen durch „counter-imagery“30 eine alternative Gemeinschaft zu bilden: eine „contrast society“.31
5. Fazit Predigen ist Reden. Nicht nur gibt es hierfür biblisch- und systematischtheologisch gute Gründe, es ermöglicht außerdem einen Anschluss an aktuelle Entwicklungen in der Hochschuldidaktik. Denn hiermit rückt eine klar sichtbare Aktivität in den Mittelpunkt, die zielgerichtet unterrichtet und trainiert werden kann. Die Idee von Predigt als öffentlichen Gesprächsbeitrag lässt sich gut verbinden mit postliberaler Theologie und Homiletik. Diese verstehen die Kirche primär als eine Gesprächsgemeinschaft. In ihr werden durch Identifikation mit biblischen Gegenbildern alternative Definitionen von Macht und Ohnmacht entworfen – nicht zuletzt im Genderbereich: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28).
30 31
Campbell 1997, 219. Campbell 1997, 200.
Das Taufgespräch bei Säuglingstaufen als Ort genderkompetenter Seelsorge Oder: die Tendenz einer ungewollten Retraditionalisierung bei jungen heterosexuellen Eltern als Anfrage an die Kirche Das Taufgespräch bei Säuglingstaufen Wenn Eltern ihr neugeborenes Kind in einem evangelischen Gottesdienst taufen lassen wollen, besucht sie oftmals der Pfarrer bzw. die Pfarrerin zu Hause. Das Gespräch mit den Taufeltern dient nicht nur der Taufkatechese, sondern auch dem gegenseitigen Kennenlernen sowie der gemeinsamen Vorbereitung des Taufgottesdienstes. Nach der Meinung einiger Theolog:innen hat das Taufgespräch bei Säuglingstaufen auch eine seelsorgliche Funktion.1 Am ausführlichsten hat Christoph Morgenthaler das Taufgespräch als Ort der Seelsorge beschrieben. Er plädiert für eine Sicht auf Kasualfeiern, die sie auch als „Ansatzpunkte einer präventiven […] Seelsorge in der Gemeinde“2 versteht. Dem Kasualgespräch kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Morgenthaler sieht das Kasualgespräch als eine Gelegenheit, „über Herausforderungen und Entwicklungsanforderungen zu sprechen, die mit der spezifischen Phase im Familienlebenszyklus verbunden sind“3. Hinter dem Begriff ‚Familienlebenszyklus‘ steckt die Idee, dass Fa-
1
2 3
Vgl. Michael Klessmann, Pastoralpsychologie. Ein Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn 2004, 346, 347 und Regina Sommer, Kindertaufe – Elternverständnis und theologische Deutung, Stuttgart 2009, 260 sowie Christoph Morgenthaler, Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis, Stuttgart 2014, 193–198. Morgenthaler 2014, 193. Morgenthaler 2014, 195.
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Das Taufgespräch bei Säuglingstaufen
milien im Normalfall mehr oder weniger dieselben ‚normalen Entwicklungsstufen‘ durchlaufen, von unerwartbaren Krisen und Katastrophen einmal abgesehen. Nach Morgenthaler beziehen sich sämtliche Kasualien wie Trauung, Taufe, Konfirmation und Trauerfeier auf kritische Phasen im Familienlebenszyklus.4 Er beschreibt dieses Phänomen näher mit folgenden Worten: „Alle Kasualien haben einen biologischen und psychosexuellen Hintergrund, was in der kirchlichen Kasualpraxis häufig übersehen wird. Neue Rollen werden geschaffen und alte neu definiert, Grenzen verschoben und neu gezogen. Es werden Beziehungen bestätigt, neu aufgenommen oder reaktiviert.“5 Außerdem werden in diesen Phasen oft Einflüsse aus früheren Generationen sichtbar, beispielsweise durch „unterschiedliche Modelle des Vater- resp. Mutterseins [oder] unterschiedliche Erziehungsstile“6. Der spezifische familiendynamische Hintergrund der Säuglingstaufe bildet nach Morgenthaler die Geburt eines Kindes. Sie verursacht als ein Ereignis ganz eigener Art „tiefgreifende Umstellungen im Familiensystem“7. Die Geburt stellt einen kritischen Übergang dar im Leben des Elternpaares mit verschiedenen großen Herausforderungen. An erster Stelle nennt er folgendes Phänomen: „Trotz besserer Absichten scheidet häufig die Frau doch (zumindest teilzeitlich) aus dem Berufsprozess aus. Traditionelle Rollenvorstellungen und Hierarchien leben in der Folge auf, nicht zuletzt weil Prägungen durch die Rollenbilder der Eltern aus einer früheren Zeit reaktiviert werden.“8 Das Taufgespräch bei Säuglingstaufen nennt Morgenthaler ein „konstitutives dialogisches Teilelement des Taufprozesses“9. Als solches ist es auch ein Ort präventiver Seelsorge. Morgenthaler behauptet: „Das Ge-
4 5 6 7 8 9
Vgl. Morgenthaler 2014, 193. Morgenthaler 2014, 194. Morgenthaler 2014, 194. Morgenthaler 2014, 196. Morgenthaler 2014, 196, 197. Morgenthaler 2014, 197.
Das Taufgespräch bei Säuglingstaufen
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spräch […] gibt viele Möglichkeiten, familiendynamische Prozesse anzusprechen und niederschwellig zu besprechen, Entwicklungsanforderungen zu diskutieren, zu würdigen, wie sich die Familie mit ihnen auseinander setzt, und gemeinsam zu überlegen, wie diese Motive in der Taufe aufgenommen werden können, inhaltlich und in der Inszenierung.“10 Im Folgenden wird zuerst die Tendenz einer ungewollten Retraditionalisierung bei jungen heterosexuellen Eltern näher erkundet. (Nota bene: Junge Elternschaft unterscheidet sich von früher Elternschaft, die sich auf das Alter der Eltern bezieht. In der Literatur wird aber nicht immer so klar unterschieden.) Danach stelle ich Überlegungen von Günter Thomas dar. Er verknüpft die Legitimation der Säuglingstaufe auf interessante Weise mit elterlicher Fürsorge. Im letzten Teil dieses Aufsatzes ziehe ich daraus praktische Konsequenzen für die Gestaltung des Taufgesprächs. Aus diesem Dreierschritt ergibt sich mein Verständnis der Aufgaben des Faches Praktische Theologie: Es geht (erstens) um empirische Erforschung einer Situation, (zweitens) um ihre theologische Interpretation sowie (drittens) um Empfehlungen im Blick auf eine Verbesserung der Praxis.11
1.
Retraditionalisierung der Geschlechterrollen
Die von Morgenthaler beschriebene Tendenz einer Retraditionalisierung der Geschlechterrollen beim Übergang zur Elternschaft möchte ich näher beschreiben mit Hilfe einiger empirischer Studien. Sie beschreiben die Tatsache, dass Frauen nach der Geburt des ersten Kindes oftmals mehr Care-Aufgaben (Aufgaben im Bereich Hausarbeit, Pflege und Fürsorge) übernehmen als ihr Partner, während sie sich diese Arbeit vor der Geburt 10 11
Morgenthaler 2014, 197. Vgl. Fritz Lienhard, Grundlegung der Praktischen Theologie. Ursprung, Gegenstand und Methoden, Leipzig 2012.
88
Das Taufgespräch bei Säuglingstaufen
noch paritätisch aufgeteilt haben. Nicht selten passiert eine solche Retraditionalisierung sogar trotz beiderseitig vorhandener Zustimmung zu egalitären Diskursen. Das Phänomen wurde schon vielfach festgestellt, ohne dass die präzisen Ursachen bekannt sind.12 Die Soziologinnen Marion Müller und Nicole Zillien sprechen diesbezüglich vom einem „soziologischen Dauerbrenner“13 und einem „Rätsel“14. Besonders rätselhaft sei das Phänomen angesichts anderer gegenläufiger Prozesse. Als Beispiele solcher Prozesse gesellschaftlicher Modernisierung nennen Müller und Zillien „die zunehmende Durchsetzung des Ideals der Gleichstellung von Mann und Frau, ein Relevanzverlust des bürgerlichen Ehe- und Familienmodells sowie die wachsende normative Selbstverständlichkeit weiblicher Erwerbstätigkeit“15. Aufgrund einer explorativen ethnographischen Untersuchung von Geburtsvorbereitungskursen in Kombination mit einer inhaltsanalytischen Auswertung von Lehr-, Informations- und Werbematerial von Hebammen stellen sie die These auf, „dass die heutigen Geburtsvorbereitungskurse durch ihre Ausgestaltung Geschlechterdifferenzen hervorheben, diese weiterhin mit geschlechterdifferenzierenden Zuschreibungen häuslicher Arbeit koppeln und durch eine wissenschaftlich gestützte Naturalisierung legitimieren. Geburtsvorbereitungskurse bahnen demnach bereits in der pränatalen Phase eine geschlechterdifferenzierende Arbeitsteilung an und lassen sich deshalb als Institutionen der Retraditionalisierung interpretieren.“16 Es ist wenig überraschend, dass eine ungewollte Retraditionalisierung der Geschlechterrollen bei jungen heterosexuellen Elternpaaren zu Un-
12
13 14 15 16
Vgl. Marion Müller und Nicole Zillien, Das Rätsel der Retraditionalisierung – Zur Verweiblichung von Elternschaft in Geburtsvorbereitungskursen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 68 (2016), 410, 411. Müller und Zillien 2016, 410. Müller und Zillien 2016, 410. Müller und Zillien 2016, 410, 411. Müller und Zillien 2016, 410.
Das Taufgespräch bei Säuglingstaufen
89
zufriedenheit führen kann.17 Dies gilt naturgemäß in erster Linie für Mütter. Für die Beziehung der Eltern untereinander ergibt sich ein hohes Konfliktpotenzial. Rüdiger Peuckert beschreibt die Aufgabenverteilung als „Quelle von Irritationen, Spannungen und Auseinandersetzungen in der Partnerschaft“18. Letztlich bleiben auch die Kinder davon nicht unberührt. Repräsentative Daten aus einer großen, deutschen Langzeitstudie zeigen, dass speziell das subjektive Wohlbefinden von Müttern mit dem sozio-emotionalen Verhalten von Kindern korreliert.19
2.
Die Säuglingstaufe als Verpflichtung
Sicherlich führt es zu weit zu sagen, dass nur zufriedene und glückliche Eltern gut für ihr Kind sorgen können. Dass es zwischen elterlichem Wohlbefinden und der Qualität ihrer Fürsorge einen Zusammenhang gibt, ist jedoch unumstritten. Die Gesundheitswissenschaftlerin Elisabeth Holoch weist darauf hin, dass elterliche Kompetenzen zwar universell, intuitiv und (vermutlich) biologischen Ursprungs, aber dennoch störanfällig sind.20 Sie greift dabei vor allem zurück auf Forschungsarbeiten der Ärztin Mechthild Papousek. Diese schreibt: „Vor allem die elterlichen Verhaltensbereitschaften, die auf Erfahrungsintegration, Kommunikation und Sprache des Säuglings ausgerichtet sind, stellen in der Phylogenese der Arten eine relativ späte Errungenschaft dar und sind von daher womöglich noch störanfälliger 17
18
19
20
Vgl. Julia Foltys, Geburt und Familie. Zugänge zur impliziten Logiken des Paarerlebens, Wiesbaden 2014, 51–55. Rüdiger Peuckert, Zur aktuellen Lage der Familie, in: Handbuch Familie (Jutta Ecarius, Hg.), Wiesbaden 2007, 51. Vgl. Eva Berger, Frauke Peter und Katharina Spieß, Wie hängen familiäre Veränderungen und das mütterliche Wohlbefinden mit der frühkindlichen Entwicklung zusammen?, Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 79 (2010), 27–44. Vgl. Elisabeth Holoch, Grundlegende Konzepte, in: Gesundheitsförderung und Prävention bei Kindern und Jugendlichen. Lehrbuch für die Gesundheits- und Kinderkrankenpflege (Elisabeth Holoch/Maria Lüdeke/Elfriede Zoller, Hg.), Stuttgart 2017, 43.
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Das Taufgespräch bei Säuglingstaufen
als das phylogenetisch ältere, auf die physiologischen Grundbedürfnisse Ernährung und Schutz ausgerichtete Fürsorgeverhalten.“21 Als möglichen Störfaktor nennt Papousek die psychische Verfassung der Eltern. Ebenso wichtig ist ein „entspannter, stressfreier Befindlichkeitszustand. Eltern brauchen Zeit, innere Ruhe und Muße, um sich auf die Perspektive des Babys einzulassen, auf das ihm eigene Zeitmaß abzustimmen und von seinen Bedürfnissen und Signalen leiten zu lassen.“22 Holoch bezieht sich weiter auf die Theorie der Dependenzpflege, die ebenfalls Faktoren für gelingende Fürsorge (Dependenzpflegekompetenz) nennt, „bspw. die soziale Einheit (Partnerschaft, Familie), in der Dependenzpflegende leben und die Beziehungen, Rollen, Verantwortlichkeiten, Werte etc., die in dieser Einheit existieren“23. Eine Beeinträchtigung des elterlichen Wohlbefindens beziehungsweise der Qualität ihrer Partnerschaft kann die Qualität ihrer Fürsorge mithin negativ beeinflussen. Im Folgenden geht es um eine tauftheologische Interpretation elterlicher Fürsorge. Nach Günter Thomas bedeutet jede Säuglingstaufe eine offene Zumutung gegenüber Gott, weil der Säugling den Glauben noch nicht besitzt, den die Taufe voraussetzt. Sie provoziert sozusagen Gott dazu, dem Kind diesen Glauben zu schenken. Eine Säuglingstaufe, die keine magische Handlung sein will, bedeutet freilich nicht nur eine Zumutung für Gott, sondern auch für die Eltern, und zwar, streng genommen, eine Verpflichtung.24 Konkret manifestiere sich, so Thomas, in jeder Säuglingstaufe die „Verpflichtung, dass dieses Kind in der förderlichen Umgebung einer christlichen Erziehung eines Tages zu einem bewussten und Verstehen suchenden Entdecker der Versöhnung werden möge“25. Was diese ‚förderliche Umgebung einer christlichen Erziehung‘ ausmacht, charakterisiert Thomas interessanterweise nicht mit bestimmten Glaubensinhalten. Er 21 22 23 24
25
Mechthild Papousek, Vom Schrei zum ersten Wort, Bern 2001, 6. Papousek 2001, 6. Holoch 2017, 47. Vgl. Günter Thomas, Was geschieht in der Taufe? Das Taufgeschehen – zwischen Schöpfungsdank und Inanspruchnahme für das Reich Gottes, Neukirchen-Vluyn 2011, 75. Thomas 2011, 75.
Das Taufgespräch bei Säuglingstaufen
91
benutzt dafür das Wort ‚Vertrauensraum‘. Für das getaufte Kind, so schreibt er, „öffnen die stellvertretend handelnden Eltern einen Vertrauensraum, eine förderliche Umgebung, innerhalb dessen sich im Leben dieses Menschen der reflektierte, der selbstbewusst aneignende Bezug auf die Versöhnung entwickeln kann“26. Auffällig ist, dass Thomas hier von stellvertretend handelnden Eltern spricht. Dies wird erst verständlich durch Thomas’ Verständnis der Pneumatologie. Seiner Ansicht nach wirkt Gottes Geist „stets an das ‚äußere Wort‘ gebunden“27. Dies geschieht „in sozialen Feldern der sprachlichen und nichtsprachlichen Kommunikation. Die körperliche Geste wie das vorgesungene Lied können zu Medien eines mächtigen Wirkens des Geistes des Trostes und der Hoffnung werden. In menschlicher Fürsorge ereignet sich die Fürsorge des Geistes Jesu Christi.“28 Durch menschliche (elterliche) Fürsorge lernen Kinder mithin Gott kennen. Sie entwickeln auf diese Weise nach und nach einen eigenen Bezug zur Versöhnung, der ihre Taufe nachträglich bestätigt als eine Taufe im Glauben (genauer gesagt: im vorausgreifenden Glauben). Somit bindet Thomas die theologische Legitimität der Säuglingstaufe an soziale Felder elterlicher Fürsorge. Diese können durch ihre Qualität und Intensität ein Medium für den fürsorglichen Geist Gottes sein.
3.
Genogramm
Im Taufgespräch mit jungen Eltern sollte die Zufriedenheit mit der familialen Aufteilung von Care-Arbeit thematisiert werden. Am besten und unaufdringlichsten gelingt genderkompetente Seelsorge an dieser Stelle
26 27 28
Thomas 2011, 76. Thomas 2011, 73. Thomas 2011, 73.
92
Das Taufgespräch bei Säuglingstaufen
mithilfe eines sogenannten ‚Genogramms‘.29 Ein Genogramm ist ein wichtiges Hilfsmittel der systemischen Seelsorge. Es handelt sich dabei um eine Zeichnung, die wie eine Art Stammbaum eine spezifische Familienkonstellation über mehrere Generationen hinweg graphisch abbildet. Ebenso kann es wichtige Fakten enthalten aus der jeweiligen Familiengeschichte – wie Scheidungen, Umzüge, Berufe etc. Während des Taufgesprächs kann ein Genogramm erstellt werden, indem man Taufeltern um Informationen bittet. Anhand des Genogramms kann man die beruflichfamiliale Situation der Tauffamilie mit den beruflich-familialen Situationen der jeweiligen Elternhäuser vergleichen. Wie fällt der Vergleich aus? Und sind die Taufeltern mit ihrer Situation zufrieden? Wird seitens der Taufeltern Unzufriedenheit signalisiert, arbeitet systemische Seelsorge stets ressourcenorientiert. Beispielsweise können im Genogramm familiale Ressourcen für andere Rollenbilder ausfindig gemacht werden. Leitfrage ist dann: Wo in der Familiengeschichte gibt es positive Beispiele einer alternativen familialen Arbeitsteilung? Wenn es solche Beispiele nicht in der Familie gibt, aber schon in der weiteren sozialen Umgebung des Paares, kann man das Genogramm selbstverständlich zum sogenannten Sozio-Genogramm erweitern. In der konstruktiven Auseinandersetzung mit anderen Lebensmodellen können Denkprozesse behutsam initiiert und Veränderungen möglich werden.
29
Zur Arbeit mit Genogrammen vgl. Jürgen Beushausen, Genogramm- und Netzwerkanalyse. Die Visualisierung familiärer und sozialer Strukturen, Göttingen 2012.
Exkurs I: Gerechte Entlohnung (Predigt zu Mt 20,1–16 am 9. Februar 2020 in der Heidelberger Universitätsgemeinde) In Mt 20 erzählt Jesus uns die Geschichte eines waschechten Pay Gaps, so sieht es zumindest aus auf den ersten Blick. Was ist ein Pay Gap? Es gibt, bekanntes Beispiel, den Gender Pay Gap: die Differenz des durchschnittlichen Bruttostundenverdienstes von Frauen im Verhältnis zum durchschnittlichen Bruttostundenverdienst von Männern. Laut dem statistischen Bundesamt verringert sich der Gender Pay Gap in Deutschland seit 2016 jedes Jahr leicht, nachdem er zuvor jahrelang konstant war.1 Im Jahr 2018 lag der durchschnittliche Bruttostundenverdienst von Frauen um 21 % niedriger als der Verdienst der Männer. Es werden zwei Hauptursachen genannt: Erstens haben Frauen und Männer häufig unterschiedliche Erwerbsbiografien. Zweitens wählen sie oftmals unterschiedliche Berufsfelder. Deswegen unterscheiden sich in vielen Fällen die Karriereverläufe von Frauen und Männern sowie ihre Verdienstmöglichkeiten. Das Ziel der Bundesregierung ist es, den Verdienstabstand innerhalb von zehn Jahren auf 10 % zu senken. Eine Sache der Gerechtigkeit. Langfristig soll der Gender Pay Gap natürlich ganz verschwinden. Wie sieht es aus mit dem Pay Gap in der Erzählung Jesu? Dieser Pay Gap bezieht sich auf das Himmelreich. In seinem Gleichnis vergleicht Jesus Gott mit einem Hausherrn, oder besser gesagt mit einem Grundbesitzer, der Arbeiter für seinen Weinberg einstellte. Am Ende des Tages bekommen die, die nur kurz geschafft haben, gleichviel ausgezahlt wie die, die den ganzen Tag für ihn tätig waren. Daraus ergibt sich ein klarer Unterschied zwischen den Arbeitern, was den durchschnittlichen Stundenverdienst angeht. Obwohl sie die gleiche Arbeit gemacht haben, haben die ersten Arbeiter im Schnitt deutlich weniger pro Stunde verdient als 1
Vgl. https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/ Dimension-1/gender-pay-gap.html (zuletzt abgerufen am 17.11.2021) Nota bene: Es handelt sich um den unbereinigten Gender Pay Gap.
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Exkurs I: Gerechte Entlohnung
die letzten. Hier liegt ein echter Pay Gap vor. Kein Gender Pay Gap, sondern ein First-Last Pay Gap. Die Ersten sind ganz klar benachteiligt worden. Dass sie sich beschweren, ist mehr als verständlich. Eine Frage der Gerechtigkeit. Warum sollen die, die später dazu kamen, im Schnitt einen höheren Stundenlohn empfangen als die, die früh angefangen haben? Die Reihenfolge der Einstellung darf bei der Entlohnung keine Rolle spielen. Ein First-Last Pay Gap ist ungerecht. Die Sache ist: Gottes First-Last Pay Gap wird nicht verschwinden. Dieser himmlische Pay Gap hat in Ewigkeit Bestand. Wenn es eine Bundesregierung im Himmelreich gäbe, hätte sie keine Chance. Die gute Nachricht ist: Es gibt sie dort nicht und es braucht sie dort auch niemand. Als Jesus sein Gleichnis erzählt, ist er gerade mit Petrus im Gespräch. Dieser fragt: „Sieh’, wir haben alles aufgegeben und sind dir nachgefolgt. Was wird denn uns zuteilwerden?“ Jesus antwortet darauf: „Wer um meines Namens willen Familie, sei es Brüder oder Schwestern, Mutter, Vater oder Kinder, oder auch Äcker verlassen hat, wird hundertfach empfangen und Anteil am ewigen Leben erhalten.“ Über diesen Anteil am ewigen Leben geht Jesus’ Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Vom Anteil am ewigen Leben bekommen alle gleich viel. Der Grundbesitzer sagt zu einem der frühen Arbeiter: „Ich will dem letzten Arbeiter dasselbe geben wie dir. Oder ist es etwa nicht erlaubt, mit meinem Eigentum zu machen, was ich will? Bist du etwa neidisch, weil ich gütig bin?“ Das ist wichtig: Die Letzten bekommen bei Gott nicht mehr, sondern gleich viel. Das, was sie bekommen, lässt sich gar nicht zu einem durchschnittlichen Verdienst pro Stunde umrechnen – weil das, was sie für Gott machen, keine wirkliche Arbeit im strengen Sinn ist, und sie auch keine wirkliche Entlohnung bekommen, sondern das, was sie am allermeisten zum Leben brauchen. Es ist wichtig zu sehen, dass die Erzählung Jesu gleichermaßen von innen aufgebrochen wird. Das Gleichnis spielt mit Bildern aus der Arbeitswelt, um sie durch einen neuen Bezugspunkt gleich wieder aufzubrechen. Es sagt, Gott ist wie ein Grundbesitzer, der seine Arbeiter entlohnt, aber dadurch, dass es Gott ist, sind die Arbeiter keine wirklichen Arbeiter und der Lohn ist kein Lohn, sondern seine Liebe.
Exkurs I: Gerechte Entlohnung
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Tatsächlich handelt Jesu Gleichnis also von keinem Pay Gap. Jeder bekommt am Ende dasselbe. Da dies so ist, dass wirklich alle dasselbe bekommen und keiner zu kurz kommt, braucht es keinen Neid. Dankbarkeit statt Neid, das ist angebracht. Dankbarkeit, dass Gott jeden Menschen zu sich holt. Was für schönes Bild ist dies: der Grundbesitzer, der immer wieder auf den Markt geht. Er hätte ja auch sagen können: „Jetzt reicht es mir, ich habe nun genug Leute. Mir egal, wer da noch müßig rumstehen. Mir egal, wer nicht weiß, was er mit seinem Leben anfangen soll.“ Nein, er geht immer wieder hin und holt alle zu ihm. „Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist.“ Gott holt jeden Menschen zu sich. Er gibt uns, was recht ist: seine Liebe. Auch dies ist wichtig: Wir sind sein Eigentum, so sagt es der Grundbesitzer im Gleichnis. Wir sind sein Eigentum, denn er hat uns geschaffen. Als Gottes Geschöpfe gehören wir zu ihm. Geschaffen hat er uns mit je eigenen individuellen Eigenschaften und Begabungen ganz unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, gesellschaftlicher Klasse oder was es sonst noch für Unterscheidungskriterien zwischen uns Menschen gibt. Geschaffen hat er uns bunt und vielfältig. So bunt und vielfältig, wie wir geschaffen sind, so bunt und vielfältig, wie wir gerade ihm gehören, so sollen wir alle in gleichem Maße teilhaben können an den Ressourcen, die er auch geschaffen hat – die materiellen Ressourcen wie beispielsweise Ernährung ebenso wie die immateriellen wie Wissen oder Macht. Niemals darf es so sein, dass ein Mensch, weil er ein anderes Geschlecht hat oder eine andere Hautfarbe, oder zu einer anderen Klasse gehört, nicht in gleichem Maße wie andere an den von Gott geschaffenen Ressourcen teilhaben kann. Ganz entschieden ist jede Form des Pay Gaps abzulehnen. Auf eine Art hat die Erzählung von Jesus einen doppelten Sinn und ist sehr witzig. Bei Gott gibt es – wie schön! – keinen Love Gap. Von Gottes Liebe gibt es kein mehr oder weniger. Der neidische Protest der frühen Arbeiter ist im Himmelreich ganz klar fehl am Platz. Gleichzeitig gilt dies: Bei den Menschen darf es keinen Pay Gap geben. Gerechte Entlohnung unabhängig von Geschlecht, Rasse und Klasse ist aus meiner Sicht ein unverzichtbares Element christlicher Politik. In der Welt sollen wir ganz genau hinsehen, zählen, rechnen, vergleichen und protestieren – witzig ge-
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Exkurs I: Gerechte Entlohnung
nug genauso wie es die frühen Arbeiter im Gleichnis machen, aber nicht aus Neid, sondern aus Dankbarkeit und Verantwortung.
Exkurs II: Biblischer Realismus (Predigt zu 1. Mose 2,4b–9,15.18–25 am 12. September 2021 in der Heidelberger Universitätsgemeinde) In der sogenannten zweiten Schöpfungsgeschichte klingen uralte Worte, die den Kern unseres Mensch-Seins berühren, den Kern auch des geschlechtlichen Zusammenlebens von Männern und Frauen, die Väter und Mütter werden. Sie sprechen quer durch Zeiten und Räume hindurch und geben Antworten auf wichtige Fragen: Wer bin ich? Was bin ich? Was soll ich tun? Staub von der Erde mit dem Odem des Lebens in der Nase bist du, sagt die Geschichte. Staub von der Erde – diese Worte drücken Verbundenheit aus, Zugehörigkeit auf tiefstem Niveau. Wir sind Erdwesen. Nur logisch, dass Gott den Menschen, den er gemacht hat, in einen Garten hineinsetzte – den Garten Eden, auf dass er ihn bebaute und bewahrte. Dann wird es spannend. Der Mensch, der bisher geschlechtsneutral Mensch genannt wird, ist allein. Und das gefällt Gott nicht. Er spricht: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Wie wahr. Der Mensch ist für’s Allein-Sein nicht geschaffen. Auch Menschen, die gern allein sein, brauchen letztendlich andere Menschen. Anrede, Kontakt, Berührung. Wir sind soziale Wesen. Gott sieht es und handelt. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht.“ Vielfach wurden diese Worte missverstanden. Genesis 2 kennt eine absolut problematische Auslegungsgeschichte. Die krasseste Fehlinterpretation lautet ungefähr so: Der arme, überforderte Mann im Garten Eden bekommt von Gott eine Frau als Haushaltshilfe. Aber hier ist (noch) nicht vom Mann die Rede, sondern vom Menschen! Das hebräische Wort für Mann klingt erst nach der Erschaffung der Frau.
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Exkurs II: Biblischer Realismus
Und das hebräische Wort für Hilfe wird an anderer Stelle für Gott selbst benutzt. Nichtdestotrotz führt die Fehldeutung ein hartnäckiges Eigenleben – wird sie doch angeblich gestützt durch den weiteren Verlauf der Erzählung: die Frau als ein vom Mann abgeleitetes Wesen, nach ihm, sogar aus ihm geschaffen, ihm nachgeordnet, ihm zugeordnet, ihm untergeordnet … Steht es nicht alles glasklar da? Nein, ganz im Gegenteil. Gen 2 begründet gerade die Ebenbürtigkeit und Solidarität zwischen den Geschlechtern. Dabei zeugt der Text von einem sehr realistischen Blick auf Fortpflanzung, Schwangerschaft und die Versorgung von Kleinstkindern. Es sind Bereiche, in denen die biologischen Geschlechter Mann und Frau sehr ungleich sind, werden Kinder doch von Frauen ausgetragen, geboren und danach noch (damals wohl ziemlich alternativlos) monatelang von ihnen gestillt. Es sind Lebensphasen, in denen Frauen körperlich natürlich nicht krank, aber häufig doch beeinträchtigt sind: schutzbedürftig und auf die Fürsorge Anderer angewiesen. Für die Sicherheit von Müttern und Kinder war es damals (und ist es in gewisser Weise natürlich bis heute) sehr wichtig, dass die Erzeuger der Kinder sich um die Familie kümmerten. Mit anderen Worten: Aus Männern müssen Väter werden. Und dafür muss der Mann – nach Sicht von Genesis 2 – „seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch“. Auffällig ist, dass dieser Satz nur im Hinblick auf den Mann klingt. Den Schritt zur neuen Familie, die ihn ganz und ungeteilt braucht, muss er aktiv machen, im Gegensatz zur Frau, die mit Anfang einer Schwangerschaft quasi automatisch zur neuen Familie wird, schlicht und einfach indem neues Leben in ihr heranwächst. Nun liest sich alles Weitere – also die Beschreibung der Erschaffung der Frau aus einem Körperteil des Mannes – von diesem Schritt her, diesem Schritt des Verlassens des Elternhauses und aktiver väterlicher Verantwortungsübernahme:
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Gen 2,21 Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. 22 Und Gott der Herr baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. 23 Da sprach der Mensch: Die ist nun Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist. 24 Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch. Da die Frau aus einem Körperteil des Menschwesens geschaffen wurde, kann der Mann sie als Bein von seinem Bein, ja, als Fleisch von seinem Fleisch empfinden und gerade so mit ihr zu einem Fleisch werden: zur neuen Familie, zum neuen Zuhause, zur neuen Heimat. Innige Vertrautheit begründet nach biblischer Sicht friedvolles und sicheres Zusammenleben der Geschlechter und ihrer Nachkommenschaft. Dies alles gilt zum Teil auch heute noch. Mindestens zeitweise setzen Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit Mütter außer Gefecht. Mindestens zeitweise brauchen sie Menschen, die voll und ganz für sie eintreten. Menschen, die ihnen so nahe sind, wie sie sonst keinem sind, da sie „Vater und Mutter verlassen haben“. Menschen, die mit Mutter und Kind ein Fleisch werden. Sehr realistisch tritt Genesis 2 für den Schutz von Müttern ein, ohne deren Lebensleistung es das Volk Israel nicht geben würde (und auch nicht die restliche Menschheit). Für den biblischen Realismus können wir dankbar sein – sowie dafür, wie wunderbar wir gemacht sind (Ps 139,14).
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Erstveröffentlichungsverzeichnis
In diesem Buch enthaltene Beiträge wurden (in Teilen) zuerst veröffentlicht in: Von Risiken und Nebenwirkungen des Predigens: Apg 17,22–28a (28b–34), in: Göttinger Predigtmeditationen 68 (2014), 245–250 Frauen in Führungspositionen auf der mittleren Ebene der evangelischen Kirche. Eine Analyse und Reflexion statistischer Daten aus fünf evangelischen Landeskirchen, in: Ökumenische Rundschau 66 (2017), 512–524 Männer- und Frauensprache auf der Kanzel? Eine quantitativ-empirische Untersuchung von Genderunterschieden in deutscher Predigtsprache mit Implikationen für den homiletischen Unterricht, in: Ökumenische Rundschau 67 (2018), 263–273 Predigen ist reden. Plädoyer für eine kompetenzorientierte Predigtdidaktik, in: Deutsches Pfarrerblatt 118 (2018), 136–140 Die biblische Geschichte als unsere Geschichte. Reformierte Schrift- und Predigtfrömmigkeit, in: Glaubensleben. Wahrnehmungen reformierter Frömmigkeit (Margit Ernst-Habib und Hans-Georg Ulrichs, Hg.), Wuppertal 2018, 113–123 „Wissen Sie, dass Sie Ihre Kinder zu Waisen machen, Frau X?“ Die Persistenz stereotyper Rollenbilder in der Evangelischen Kirche als Ergebnis der Kulturanalyse „Kirche in Vielfalt führen“ (2017), in: Pastoraltheologie 107 (2018), 447–456 Über die Entbehrlichkeit von Geschlechtern in der Kirche. Eine Auslegung von Gen 1,27 sowie 1Kor 11,2–16, in: Gender im Disput. Dialogbeiträge zur Bedeutung der Genderforschung für Kirche und Theologie (Jantine Nierop, Hg.), Hannover 2018, 258–268 Response to Roser], in: Preaching the Fear of God in a Fear-Filled World (Dawn Ottoni-Wilhelm, Hg.), Zürich 2020, 80–82 „Es gibt keinen Menschen an sich“ – oder doch? Neue Überlegungen zum Geschlechterverständnis von Karl Barth, in: Gotteserschütterung – Gottesvergewisserung. Die Gegenwartsrelevanz der Gotteslehre Karl Barths (Gregor Etzelmüller und Georg Plasger, Hg.), Zürich 2021, 118–123
Über die Autorin
PD Dr. Jantine Nierop wurde 1975 in Hoorn in den Niederlanden geboren. Sie studierte Evangelische Theologie in Amsterdam, Heidelberg und Leiden. Mit einer Dissertation über Rudolf Bohrens Predigtlehre wurde sie 2006 von der Universität Leiden promoviert. Anschließend war sie einige Jahre Pfarrerin in der Niederländischen Gemeinde zu Berlin sowie in der Evangelischen Gemeinde Mannheim-Feudenheim. 2010 wurde sie Assistentin am Lehrstuhl für Praktische Theologie an der Universität Heidelberg. Sie habilitierte sich hier 2014 mit einer Arbeit über das Teampfarramt. Von 2017 bis 2019 war sie Geschäftsführende Studienleiterin des EKD-Studienzentrums für Genderfragen in Kirche und Theologie in Hannover. Seit 2019 ist sie Hochschulpfarrerin bei der ESG Heidelberg / Universitätsgemeinde an der Peterskirche. Sie hat drei Töchter.