Geschlecht und Bildungsmigration: Lebensentwürfe und Weiblichkeitsbilder malaysischer Bildungsmigrantinnen in Singapur [1. Aufl.] 9783839429235

Educational migration and the transformation of femininity - this ethnography provides insights into hopes, strategies,

175 125 3MB

German Pages 298 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
Danksagung
1. Einleitung
2. Analyserahmen
3. Malaysia und Singapur – historische und aktuelle Entwicklungen von Geschlecht, Bildung und Migration
4. Bildungsmigration als Aspiration
5. Lokale Geschlechterdiskurse
6. Bildungsmigration als Aneignung und Distinktion
7. Grenzen weiblicher Transformationen
8. Fazit: Geschlecht und Bildungsmigration im Kontext gesamtgesellschaftlicher Transformationsprozesse
Abbildungsverzeichnis
Bibliographie
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Geschlecht und Bildungsmigration: Lebensentwürfe und Weiblichkeitsbilder malaysischer Bildungsmigrantinnen in Singapur [1. Aufl.]
 9783839429235

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Viola Thimm Geschlecht und Bildungsmigration

Kultur und soziale Praxis

2014-07-24 10-58-36 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372608798822|(S.

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4) TIT2923.p 372608798830

Für Harald

Viola Thimm (Dr. disc. pol.) ist Ethnologin und forscht am Asien-Afrika-Institut, Abt. für Sprachen und Kulturen Südostasiens, der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Mobilität und Identitätspolitiken, Geschlechtertheorien sowie religiöse Dynamiken in transnationalen Räumen.

2014-07-24 10-58-36 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372608798822|(S.

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4) TIT2923.p 372608798830

Viola Thimm

Geschlecht und Bildungsmigration Lebensentwürfe und Weiblichkeitsbilder malaysischer Bildungsmigrantinnen in Singapur

2014-07-24 10-58-37 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372608798822|(S.

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4) TIT2923.p 372608798830

Die vorliegende Arbeit wurde im Januar 2013 als Dissertation an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen mit dem Titel »Wechselwirkungen zwischen Geschlecht und Bildungsmigration. Lebensentwürfe und Weiblichkeitsbilder malaysischer Bildungsmigrantinnen in Singapur« eingereicht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Viola Thimm, The Deck Arts Canteen (National University of Singapore), 2009 Lektorat: Viola Thimm, Tanja Motzkau Satz: Viola Thimm Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2923-1 PDF-ISBN 978-3-8394-2923-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2014-07-24 10-58-37 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372608798822|(S.

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4) TIT2923.p 372608798830

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis Danksagung | 11

1. Einleitung | 15

1.1 Forschungsstand | 20 1.2 Methodik | 24 1.2.1 Multi-sited ethnography | 25 1.2.2 Verkörperte Feldforschung | 28 1.2.3 Lebensgeschichtliche Erzählungen und Erhebungsmethoden | 31 1.3 Forschungsthemen: Geschlecht, Bildung, Migration im Kontext von Multikulturalismus und Ethnizität | 33 1.4 Forschungsfragen | 40 1.5 Aufbau der Arbeit | 40 2. Analyserahmen | 43

2.1 Grundlagenmodell: Gendered Geographies of Power | 43 2.2 Theoretische Perspektive: Strukturen und Strukturierung | 45 2.3 Gendered Power Hierarchies in Space and Time | 46 2.3.1 Geschlecht | 48 2.3.2 Machthierarchien | 50 2.3.3 Raum und Zeit | 59 3. Malaysia und Singapur – historische und aktuelle Entwicklungen von Geschlecht, Bildung und Migration | 63

3.1 Sprache und regionale Küche als Schlüsselmomente zum Verständnis der multikulturellen Gesellschaften | 65 3.2 Kolonialismus in Malaya | 68 3.2.1 Immigrationen bestimmen Multikulturalität | 68 3.2.2 Ethnische und geschlechtliche Segregationen durch Bildung | 73 3.2.3 Rassismus zwischen malaiischer und chinesischer Bevölkerung | 78 3.3 Von der Unabhängigkeit bis zur Gegenwart | 83 3.3.1 Malaysia: Entwicklung einer frauengeprägten, muslimischmalaiischen Mittelklasse | 83 3.3.2 Malaysia: Rassistische Quoten im Bildungssystem als Migrationsfaktor | 92

3.3.3 Singapur: Land des Wohlstands | 99 3.3.4 Singapur: Foreign talents und Bevölkerungspolitik zum Erhalt der Nation | 103 4. Bildungsmigration als Aspiration | 111

4.1 Familie Hemmy: ,Moderne‘ Tochter, ,traditioneller‘ Sohn | 112 4.1.1 Elternhaus: Basis für Christentum, englische Sprache, Bildung und Migration | 113 4.1.2 Andrew: Fürsorglicher ,traditioneller‘ Bruder | 115 4.1.3 Doreen auf einer ,Landkarte‘ der Modernität | 118 4.1.4 Die Eltern: Häuslicher Vater, öffentlich agierende Mutter | 120 4.1.5 Tante Laura: Erste Bildungsmigrantin | 121 4.1.6 Großmutter: Schlüssel zur institutionellen Bildung für Frauen | 122 4.1.7 Die Bildungsmigration nach Singapur als Unabhängigkeitsauftrag der Mutter | 125 4.2 Familie Wong: ,Moderne‘ älteste Schwester, unterstützende jüngste Schwester | 127 4.2.1 Judith Wong: Migrationsziel Singapur zur Markierung von Differenz | 128 4.2.2 Geografische Nähe als Basis schwesterlicher Stütze | 130 4.2.3 Geschwistergrenzen sind Geschlechtergrenzen | 132 4.3 Fauzana: Erfahrungen einer Malaiisch-Malaysierin | 134 4.3.1 Vom ,traditionellen‘ kampung in die ,moderne‘ Hauptstadt | 134 4.3.2 Schwestern als Akteurinnen modernisierender Prozesse | 136 4.3.3 ,Absprung‘ in die Hauptstadt als Protagonistin der Großfamilie | 140 4.3.4 ,Modernes‘ Europa gegen ein ,chinesisches‘/,asiatisches‘ Singapur | 141 5. Lokale Geschlechterdiskurse | 145

5.1 Asian Values | 146 5.1.1 Debatten um Asian Values in Malaysia | 147 5.1.2 Debatten um Asian Values in Singapur | 149 5.2 Malaysia | 153 5.2.1 Familie, Ehe und Nationalismus | 154 5.2.2 Sexualität, Körperlichkeit und Moral | 159 5.3 Singapur | 165 5.3.1 Familie | 165 5.3.2 Bevölkerungspolitik und Nationalismus | 169 5.3.3 Romantische Liebe, Sexualität und Ehe | 172

6. Bildungsmigration als Aneignung und Distinktion | 177

6.1 Chinesisch-Malaysierinnen: Wunschziel – das singapurische Familienideal | 178 6.1.1 Lohnarbeit, Familie und hohe Ausbildung als Konzepte des Lebensentwurfs von Frauen | 181 6.1.2 Mittelklassezugehörigkeit als Entfaltungsmöglichkeit von Frauen | 185 6.2 Malaiisch-Malaysierinnen: Graduierung als Basis einer Ehe | 188 6.2.1 Flexibilität mittels Bildung für Mutterschaft, Ehe und Liebesbeziehung | 189 6.2.2 Ehe als Aushandlungsort von Karriere und Mutterschaft | 190 6.3 Chinesisch-Malaysierinnen: Möglichkeiten von heterosexuellem Begehren und romantischer Liebe | 198 6.3.1 Romantische Liebe als moralische Reglementierung der sexuellen Aktivität von Frauen | 198 6.3.2 Sexualität als Mittel ethnischer Grenzziehung | 203 6.4 Malaiisch-Malaysierinnen: Legitimierung von Sexualität und heterosexuellem Begehren durch die Ehe | 207 6.4.1 Ehe als legitimer Rahmen von Sexualität | 207 6.4.2 Ehe als Entwicklungsmöglichkeit einer romantischen Liebesbeziehung | 210 6.4.3 Brüche muslimisch-malaiischer Sexualitätspraxen | 213 6.5 Chinesisch-Malaysierinnen: Kleidungspraxen für Transformationen des Selbst | 217 6.5.1 Inszenierungen ,moderner‘ Weiblich- und Männlichkeit | 217 6.5.2 Exponieren weiblicher Körperteile in Singapur, Verhüllung weiblicher Körper in Malaysia | 221 6.5.3 Widersprüchliche modernisierte Körper | 224 6.6 Malaiisch-Malaysierinnen: Kleidungspraxen, Religion und Handlungsspielräume | 226 6.6.1 Spielräume muslimischer Bekleidungsarten | 226 6.6.2 Ethnische Identifizierung mittels weiblicher Bekleidung | 228 6.6.3 Religiöse Vorgaben und subjektive Handlungsstrategien | 229 7. Grenzen weiblicher Transformationen | 235

7.1 Klassenzugehörigkeit als Grenze für Bildung und romantische Partnerschaft | 236 7.1.1 Eine ,traditionelle‘ ArbeiterInnenfamilie | 236 7.1.2 Bildungsaufstieg | 239 7.1.3 Abwägung von Chancen und Risiken auf dem Bildungsweg | 241

7.1.4 Studium als Unterstützung der Familie | 242 7.1.5 Mittels Bildungsaufstieg zu einer ,modernen Frau‘ werden | 244 7.1.6 Sehnsucht nach ,moderner romantischer Liebe‘ | 246 7.2 Generationenzugehörigkeit als Grenze für die Karriere einer Tochter/Schwester | 248 7.2.1 Handlungsmächtige weibliche Verwandte als Basis für Bildungswege | 250 7.2.2 Bildungsmigration nach Singapur als Mittel zur Emanzipation | 253 7.2.3 Entfaltungsmöglichkeiten einer Frau in Singapur | 255 7.2.4 Der Weg zurück nach Malaysia als Wende für die Schwester- und Tochterrolle | 256 8. Fazit: Geschlecht und Bildungsmigration im Kontext gesamtgesellschaftlicher Transformationsprozesse | 261 Abbildungsverzeichnis | 267 Bibliographie | 269

Abkürzungsverzeichnis

AFRASO ASEAN AWARE AWAS BMBF CMIO CPF DEB DORISEA HDB JB JPA KL KLIA MARA MGS MNP MPAJA MRT MYR NCWO NDP NEP NTU

African’s Asian Options Association of Southeast Asian Nations Association of Women for Action and Research Angkatan Wanita Sedar (Kraft der erwachenden Frauen) Bundesministerium für Bildung und Forschung “Chinese, Malays, Indians, Other” Central Provident Fund Dasar Ekonomi Baru (Neue Wirtschaftspolitik – New Economic Policy) Dynamics of Religion in Southeast Asia Housing and Development Board Johor Bahru Jabatan Perkhidmatan Awam (Öffentliche Dienstleistungsabteilung) Kuala Lumpur Kuala Lumpur International Airport Majlis Amanah Rakyat (Treuhand-Rat für die Bevölkerung) Methodist Girls’ School Malay Nationalist Party Malayan People’s Anti-Japanese Army Mass Rapid Transport Malaysian Ringgit National Council for Women’s Organisation National Development Policy New Economic Policy Nanyang Technological University

NUS OWC PAP PAS PhD PR PSD RM SIS SMU SPH STPM SUTD UK UKM UM UMNO VJC WoC

National University of Singapore Obedient Wives Club People’s Action Party Parti Islam Se-Malaysia (Islamische Partei Malaysias) Philosophiae Doctor, Doctor of Philosophy Permanent Resident/Permanent Residency Public Service Department Ringgit Malaysia Sisters in Islam Singapore Management University Singapore Press Holding Sijil Tinggi Persekolahan Malaysia (Höherer Schulabschluss Malaysias) Singapore University of Technology and Design United Kingdom Universiti Kebangsaan Malaysia (Staatliche Universität Malaysias) Universiti Malaya (Universität Malayas) United Malays National Organisation Victoria Junior College Women of Colour

Danksagung

Auf dem Weg von der Konzipierung bis zur Fertigstellung dieser Arbeit haben mich zahlreiche Menschen begleitet und unterstützt. Ihnen allen gilt mein besonderer Dank. Zuerst möchte ich mich bei meinen malaysischen GesprächspartnerInnen bedanken, ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Sie alle hießen mich herzlich willkommen und waren äußerst hilfsbereit – und zeigten auch Neugierde dafür, vieles auch über mich in Erfahrung zu bringen. Die Gespräche mit ihnen bildeten nicht nur, ganz nüchtern gesehen, die Grundlage für das Datenmaterial der vorliegenden Arbeit. Sie bereicherten auch meine Gedanken und Perspektiven auf verschiedenste gesellschaftspolitische und moralische Fragestellungen. Die gemeinsamen Erfahrungen mit ihnen möchte ich nicht missen, ich habe mich ungemein an ihnen weiterentwickelt. Huan und Jia danke ich für ihre Hilfe bei meiner Zimmersuche in Malaysia und der Einführung in die Kultur der Mamak Stalls, die dank Maggi Goreng und Thosai Masala zu meinen Lieblingsorten in Malaysia wurden. Abrianna und Hemraj gilt mein Dank für ein ausgesprochen angenehmes und interessantes Wohnumfeld in Singapur, das sich um gemeinsame Kochabende, Jogging-Touren und Gay-Bars drehte. Besonders Doreen, Masjaliza und Ramli danke ich für die tiefe Freundschaft, die sich im Laufe der Jahre zwischen uns entwickelt hat. Masjalizas und Ramlis Sohn Slamet machte außerdem die teils ewig langen Autofahrten durch Malaysia erträglich, die wir mit Chips und Keropok Lekor so oft gemeinsam unternommen haben und immer noch unternehmen. Doreens außerordentlich kritisches Denken in Bezug auf gesellschaftspolitische Themen in Malaysia und Singapur wie soziale Bewegungen und repressive Regierungspolitiken hat mein Verständnis der Gesellschaften in beiden Ländern sehr bereichert. Ich danke dem Institute for Southeast Asian Studies (ISEAS) in Singapur und dem Institut Kajian Malaysia dan Antarabangsa – Institute of Malaysian and International Studies (IKMAS) der Universiti Kebangsaan Malaysia (UKM) für

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die administrative Unterstützung während der Feldforschung. Im ersten Fall gilt mein Dank Dr. Terence Chong, der das Regional Social and Cultural Studies Programme koordinierte, in das mein Forschungsprojekt aufgenommen wurde. Im zweiten Fall danke ich Prof. Norani Othman und Prof. Azizah Kassim, die mich besonders in der Anfangsphase der Feldforschung in Malaysia unterstützt haben. Ferner danke ich Prof. Brenda Yeoh und Associate Professor Goh Beng Lan für ihre Anregungen zu meinen Forschungsthemen, speziell zu bildungsspezifischen intergenerationalen Dynamiken zwischen Müttern und Töchtern. Ebenso gebührt mein Dank Kerry Wilcock von der Association of Women for Action and Research (AWARE) in Singapur und Masjaliza Hamzah von den Sisters in Islam (SIS) in Malaysia, die mit ihren kritischen Standpunkten mein Verständnis für Geschlechterverhältnisse in beiden Ländern erweitert haben. Die Promotion wurde mir anfangs durch ein Promotionsstipendium der Hans-Böckler-Stiftung ermöglicht. Abgeschlossen habe ich sie im DFG-geförderten Graduiertenkolleg „Dynamiken von Raum und Geschlecht“ der Universitäten Göttingen und Kassel. Betreut wurde sie in diesen beiden Phasen von Prof. Dr. Andrea Lauser. Ich danke ihr für ihre Unterstützung. Der HansBöckler-Stiftung und der DFG danke ich für die zahlreichen materiellen Möglichkeiten, die meinen wissenschaftlichen Weg mit gestaltet haben. Doch nicht nur die finanziellen Ressourcen, sondern auch die fruchtbaren Diskussionen im Graduiertenkolleg waren wertvoll für mich, indem sie meinen analytischen Blick an manchen Stellen geschärft haben. Ich schätze besonders die kollegiale Atmosphäre, die wir unter uns Doktorandinnen immer wieder hergestellt haben. Meiner Kollegin Solveig Lena Hansen danke ich in diesem Zusammenhang für die interessanten und lustigen Gespräche in unserem damaligen Büro! Dem Graduiertenkolleg verdanke ich auch eine Verbindung, die sich als besonders wichtig für mich herausgestellt hat: zu Associate Professor Sarah J. Mahler, die ich zu einem Vortrag und einem Workshop ins Graduiertenkolleg einladen durfte. Aus dem ersten Kontakt zu Sarah entwickelte sich eine vertrauensvolle Arbeitsgrundlage zwischen uns sowie eine Unterstützung ihrerseits auch nach meiner Promotion, die ich außerordentlich zu schätzen weiß. Dafür danke ich Dir, Sarah! Meine Dissertation wäre nicht das, was sie heute ist, ohne die kritischen Diskussionen in der Dok-AG des Instituts für Ethnologie der Universität Göttingen. Die Dok-AG war für mich immer eine wichtige Institution der gegenseitigen Unterstützung und ich erinnere mich auch gerne an die unterschiedlichen Kuchensorten, die ich in diesem Rahmen probieren konnte! Ich danke besonders Meike, Julia und Paul für ihre Geduld, meine Kapitel über die Jahre hinweg immer wieder kritisch zu lesen und zu kommentieren. Judith und Krissi danke ich für ihr akribisches Lesen in der letzten Phase der Dissertation.

D ANKSAGUNG

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Meiner Familie danke ich für ihre unendliche Unterstützung. Durch meine Forschung erlangte ich einige Erkenntnisse über Geschlechterverhältnisse, Bildungsaufträge und diesbezügliche intergenerationale Dynamiken in meiner eigenen Familie. Auch in dieser Hinsicht war die Forschung wertvoll für mich. Meinen Eltern danke ich für ihr Vertrauen und ihren Glauben an mich. Während der letzten Züge der Feldforschung in Singapur haben sie mir wichtige Hilfe zuteil werden lassen, die ich ihnen nicht vergessen werde. Dafür danke ich Euch. Mit meiner Schwester, meinem Schwager und allen voran mit meinen beiden Nichten habe ich während der sechs Monate in Singapur so manche schöne und witzige freie Nachmittage oder Abende verlebt. Ich danke Euch für die wunderschöne Zeit, die uns sonst leider nicht möglich ist, gemeinsam zu verbringen! Mein größter Dank, den ich aus tiefstem Herzen aussprechen möchte, gilt meinem langjährigen Lebenspartner Harald. Er war Quelle jeder Motivation während der Promotion, durchlitt mit mir die schwierigen Phasen und teilte mit mir die freudigen Erfolgserlebnisse. Ohne ihn an meiner Seite wäre mir die notwendige Ausdauer nicht möglich gewesen. Ich widme Dir, Harald, dieses Buch.

Abbildung 1: Karte von Festland-Malaysia und Singapur

1. Einleitung

Im Dezember 2008, in der siebten Woche meines Feldforschungsaufenthaltes in Singapur, chattete ich1 ausgiebig mit Abbie.2 Abbie: my dad wants to see me graduate with a good degree, that’s y i m here […] Abbie: NUS [National University of Singapore] is ranked 30th among universities.. but malaysia university has fallen out of 200th Abbie: he already planned that long time ago for me… studying at nus..

1

„V“ oder im weiteren Verlauf der Arbeit auch „V.T.“

2

Alle verwendeten Namen der vorliegenden Arbeit sind Pseudonyme. Ich habe christliche, chinesische, indische und malaiische Namensgebungen bei den Anonymisierungen beibehalten. Diese Namengebungen gestalten sich unterschiedlich: In chinesischen Familien steht der Familienname an erster Stelle, darauf folgen zwei Vornamen wie z. B. bei KHOR Cui Hong. Viele englischsprachige ChinesInnen stellen ihrem chinesischen Namen noch einen englischen voran, der dann zusätzlich vor den chinesischen Nachnamen gestellt wird, z. B. Judith Khor C. H. In der malaiischen Bevölkerung wird gemäß arabischer Namensgebung kein Nachname verwendet. MalaiInnen werden mit ihrem ersten Namen adressiert und in wissenschaftlichen Kontexten auch so zitiert. Nach dem oder den ,Vornamen‘ folgt formal ,binte‘ bei Frauen und ,bin‘ bei Männern und daran anschließend der Name des Vaters: z. B. Saliha binte Abdul Wahid. ,Binte‘ und ,bin‘ stehen für ‚Tochter/Sohn von‘ und werden in der Praxis oftmals weggelassen. In der vorliegenden Arbeit haben die malaiisch-malaysischen AkteurInnen deshalb ausschließlich Vornamen, während Chinesisch-MalaysierInnen auch mit Nachnamen vorgestellt werden.

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V: why Abbie: to make the family proud Abbie: it sound better to graduate from nus than from a malaysian university Abbie: i keep up for my family […] Abbie: he also sent me to Singapore cos its similar to malaysia Abbie: means that it’s easier to survive for us chinese (Chat mit Abbie, 8.12.2008) Abbie ist 2008 von Melaka, einer alten Hafenstadt an Malaysias Westküste, für ihre Universitätsausbildung nach Singapur migriert.3 Im Chat-Ausschnitt thematisierte Abbie die Vaterrolle, die dieser für ihre eigene Bildungsmigration nach Singapur eingenommen hatte. Er stellte gewisse Erwartungen an sie, da sie das Prestige ihrer Familie durch hohe Bildung in Singapur aufbauen sollte. Als Chinesisch-Malaysierin sollte ihr dies in Singapur gelingen. Im Chat deutete Abbie dementsprechend an, dass sich ihre Familie mit ihrer ethnischen Identifizierung hinsichtlich einer Bildungslaufbahn nach bestimmten Faktoren aufgestellt hat. Wie wird die Familienkonstellation diesbezüglich gestaltet? Welche genaue Rolle spielen dabei der Vater und welche die Tochter? Wie werden Geschlecht und der Erwerb von Bildung in einem intergenerationalen, familiären Beziehungsgeflecht ausgehandelt? Szenenwechsel: Meine chinesisch-malaysische Gesprächspartnerin Kristy, die bereits 1994 von Malaysia nach Singapur migriert ist, schrieb mir im September 2007 eine E-Mail mit folgendem Ausschnitt:

3

Grundsätzlich setze ich alle Beschreibungen und Aussagen meiner GesprächspartnerInnen in die Formen der Vergangenheitstempora. Dadurch werden die entsprechenden Situationen zeitlich kontextualisiert und es wird verdeutlicht, dass die Erfahrungen der lokalen AkteurInnen die spezifische Zeit meiner Forschung abbilden. Umstände, die sich nicht verändern, wie die Herkunft oder die Geschwisterfolge meiner Gesprächspartnerinnen, sowie allgemeine und analytische Aussagen werden im Präsens dargestellt. Zur Kennzeichnung aller Geschlechter verwende ich im Folgenden die Binnengroßschreibung, also AkteurInnen, MalaysierInnen etc.

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„The traditional Malaysian upbringing remains juxtaposed with our [my female Malaysian friend’s in Singapore and my] westernised thinking (a by product of our overseas tertiary educational environment).“ (E-Mail von Kristy, 10.9.2007) In ihrer E-Mail verband Kristy ihre Sozialisierung in Malaysia mit Traditionalität. Diese Traditionalität wollte sie durch ihren Weg des Bildungserwerbs im Ausland mittels westlichen Denkens überwunden wissen. Wie genau ist der Bildungsmigrationsweg von Malaysia nach Singapur mit dem Aspekt des Modernseins verbunden? Was Abbie und Kristy thematisierten – ethnische Identifizierungen, Geschlechterrollen (nicht nur) in der Familie, soziale Mobilität durch den Bildungserwerb im Ausland, ein modernes Singapur vs. ein traditionelles Malaysia – begegnete mir auch in meinen anderen Gesprächen immer wieder. Mal wurde betont, dass der einzige Bruder in Malaysia bei den Eltern lebte und eben nicht in Singapur an einer Prestigeuniversität studierte. Der Universitätsabschluss von der singapurischen Universität sei das Karrieresprungbrett für die eigene Zukunft, das dem Bruder nicht in solcher Art offen stünde. Ein anderes Mal ging es darum, sich als ,moderne‘, freizügig kleidende chinesische Frau vom langärmeligen ,muslimisch-traditionellen‘ Kleidungsstil der Malaiisch-Malaysierinnen abzugrenzen. In wieder anderen Gesprächen machten malaiisch-malaysische Studentinnen deutlich, dass ihr Universitätsabschluss die Voraussetzung für das Eingehen einer Liebesbeziehung war. Diese Einblicke führen zum Thema der vorliegenden Arbeit: den Wechselwirkungen zwischen Geschlecht und Bildungsmigration. Diese Wechselwirkungen werden im Kontext gesamtgesellschaftlicher Transformationsprozesse, wie ethnischen Identifizierungen und Modernitätsaspirationen, untersucht. Wie die Formulierung des Themas impliziert, lässt sich als These der Arbeit formulieren, dass im lokalen Kontext Wechselwirkungen zwischen Geschlecht und Bildungsmigration existieren: Das heißt, dass entsprechende aufeinander bezogene soziale Interaktionen manifest werden, die sich gegenseitig beeinflussen. Durch das dialektische Verhältnis von Wechselwirkungen gestaltet sich die Kernfragestellung der Arbeit doppelter Natur: Auf der einen Seite gilt es herauszuarbeiten, wie Geschlecht als grundlegende gesellschaftliche Kategorie Bildungsmigrationen beeinflusst. Auf der anderen Seite ist zu analysieren, wie Bildungsmigration wiederum die vergeschlechtlichten Identifizierungen und Handlungspraxen der Akteurinnen transformiert. Die zunehmende Wichtigkeit von Bildung ist in den multikulturellen Staaten Malaysias und Singapurs mit veränderten Ideologien und Praxen von Geschlechterverhältnissen verbunden. Dieser Zusammenhang offenbart sich in verschiede-

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nen Migrationsentscheidungen. In den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Geschlecht und Bildungsmigration werden verschiedene lokale, nationalstaatliche und globale Diskurse und Praxen verhandelt und miteinander kombiniert. Mich interessiert, wie und mit welcher Bedeutungszuweisung lokale Akteurinnen diese Diskurse und Praxen für sich auf lokaler Ebene nutzen. Für eine höhere Bildung zu migrieren bedeutet für die meisten ChinesischMalaysierinnen wie Abbie und Kristy, sich mithilfe von ethnischer Differenzierung im malaiisch-dominierten Herkunftsland Malaysia und durch gleichzeitige Aneignung ethnisch konnotierter Diskurse im chinesischen Singapur als Frau weitergehender entfalten zu können. Dabei greifen sie auf von ihnen als ,modern‘ erachtete Identifizierungen zurück. In diesem dynamischen gesellschaftlichen Gefüge stellt die Bildungsmigration von Malaysia nach Singapur das Mittel für Transformationen von geschlechtlich normierten Handlungen und Identifizierungen für die Akteurinnen dar. Sie erlangen individuell Handlungsmacht und soziale Mobilität durch Bildung. Neben diesen subjektiven Motiven stellen modernisierende Staatspolitiken in Malaysia und Singapur, die Handlungserweiterungen für Frauen miteinschließen, einen wesentlichen Motor für die aktuell höhere Frequenz von Bildungsmigrationen dar. Mit diesem Hintergrund können die Akteurinnen als Repräsentantinnen individueller „movement of women“ (McRobbie 2009:7) verstanden werden, die sowohl aus eigenen Motiven und Strategien heraus in Bewegung sind als auch staatlich gewollt in Bewegung gesetzt werden. Diese Formulierung der „movement of women“ verstehe ich in Anlehnung an McRobbie in Abgrenzung zu einem kollektiven feministischen Moment im Sinne einer „women’s movement“. Dieses Moment stellt im gegenwärtigen lokalen Kontext gerade keinen Motor für eine Transformation der Ressource Bildung in handlungsermächtigende Optionen dar. Die Entscheidung, (junge) Frauen in den Mittelpunkt einer Studie über Geschlecht und Bildungsmigration zu rücken, erklärt sich nicht darüber, dass sie im Gegensatz zu ihren Brüdern derzeit mehrheitlich diejenigen sind, die die aktiven Bildungsmigrationsschritte gehen. Vielmehr werden lokal Diskurse um Bildung, Modernität und Fortschritt mit Weiblichkeit verknüpft. In diesem Spannungsfeld verstehen sich die Frauen auf Grundlage ihrer Bildungsmigrationsschritte als aktive Protagonistinnen von als ,modern‘ imaginierten Prozessen. Um dieses Spannungsfeld von Aneignung, Abgrenzung, In- und Exklusionen entlang geschlechtsspezifischer, aber auch ethnischer, klassenspezifischer und religiöser Linien erfassen zu können, lasse ich verschiedene AkteurInnengruppen zu Wort kommen: die vorwiegend chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen in Singapur, ihre Familien in Malaysia sowie malaiisch-malaysische Studentinnen

E INLEITUNG

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in Malaysia, die explizit nicht nach Singapur migrieren. Die Erfahrungen, Erlebnisse und Entscheidungen meiner unterschiedlichen Gesprächspartnerinnen in Singapur und Malaysia bilden einen bestimmten Ausschnitt ihres Lebens ab und waren während ihres temporären Lebensausschnitts einer Prozesshaftigkeit unterworfen. Je nach biografischen, gesellschaftspolitischen, räumlichen und zeitlichen Umständen verändern sich auch die Lebensgeschichten der Akteurinnen. Meine Fallbeispiele begreife ich nicht als repräsentativ, sondern stelle sie beispielhaft in einen Diskussionszusammenhang, der sich u. a. auf statistischen Daten und Sekundärliteratur aufbaut. Dabei erörtere ich, wie sich die Akteurinnen in diesem Kontext mit ihren Alltagshandlungen positionieren. Die Narrationen der dreizehn chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen ermöglichen ein Verständnis der verwobenen Motive, Entscheidungen und Bedeutungen aus der Perspektive der Akteurinnen bzgl. ihrer Bildungsmigrationsschritte nach Singapur. Durch Gespräche mit ihren Familien in Malaysia wurden die komplexen Aushandlungsprozesse von geschlechtsspezifischen Bildungsfragen auf einer relationalen Familienebene deutlich. Die ergänzende Darstellung der Erwartungen und Anforderungen der Eltern (und in einem Fall der Großeltern) an ihre Töchter und Söhne (und die Enkelin und den Enkel) sowie die Beziehungen zwischen den Schwestern und Brüdern erweitern das Verständnis der Motive und Entscheidungen der bildungsmigrierenden Akteurinnen. Infolge einer vielperspektivischen multi-sited fieldwork in Singapur und in Malaysia ergibt sich eine Multilokalität der Bedeutungsebenen, wodurch außerdem transnationale Aushandlungsprozesse mit in den Blick gerückt werden. Die Erfahrungen und Strategien der chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen werden mit denen von muslimischen malaiisch-malaysischen Studentinnen kontrastiert. Von deren ethnisch-religiösen Werten und Handlungspraxen grenzten sich die chinesischmalaysischen Bildungsmigrantinnen mit ihren Wegen nach Singapur aktiv als ,moderne Frauen‘ ab. Die sieben Malaiisch-Malaysierinnen der vorliegenden Studie verfolgten hingegen eigene Ideen und Strategien in ihren Bildungs(migrations-)wegen. Aus ihren gesellschaftspolitischen Positionierungen heraus konstituierten sie andere ,moderne‘ Identifizierungen als die chinesischmalaysischen Akteurinnen. Mit der kontrastierenden Gegenüberstellung wird sowohl ein Einblick in Zuweisungen und Abgrenzungen entlang ethnischreligiöser Linien ermöglicht als auch verschiedene Perspektiven auf denselben Gegenstand beleuchtet. Durch die Darstellung der verschränkten Betrachtungsweisen der verschiedenen Akteurinnen-Gruppen werden nicht nur die jeweils eigenen Ziele und Motive in puncto Bildungsmigration und Vorstellungen von Weiblichkeit im Rahmen von Multikulturalismus und Modernität herausgearbei-

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tet. Anhand der Thematik wird auch die Komplexität der gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesse Malaysias und Singapurs verdeutlicht. Ziel meiner Arbeit ist es, Geschlecht als Identitätskategorie in den Aushandlungsprozessen um Bildung und Migration in ihren lokalen, vielseitigen Bedeutungen zu erfassen und zu vermitteln. Damit leistet die Arbeit einen Beitrag zu den Debatten um Migration und Geschlecht, die mit Fragen um den Einfluss des Bildungsfaktors erweitert und ausdifferenziert werden.

1.1 F ORSCHUNGSSTAND Innerhalb der letzten vier bis fünf Dekaden hat das Thema ,Migration und Geschlecht‘ in den wissenschaftlichen Debatten große Aufmerksamkeit erfahren. Ein Desiderat stellen Forschungen zu intellektuellen4 Frauen dar: zur Elitenforschung im Allgemeinen und zu hochqualifizierten (highly skilled) Arbeitsmigrantinnen sowie zu Bildungsmigrantinnen im Speziellen. Die komplexe Zusammenführung der Themen ,Geschlecht, Migration und Bildung‘ fehlt bisher. Allein zur Bildungsmigration sind Forschungen rar, gerade im kulturwissenschaftlichen Bereich. In rezenten Studien wird aus einem erziehungswissenschaftlichen Blickwinkel die Internationalisierung von höherer Bildung sowie Muster von Bildungsmigrationen meist unter dem Stichwort ‚student mobility‘ in verschiedenen regionalen Kontexten untersucht (Bhandari/Belyavina/Gutierrez 2011; Brooks, R./Waters 2011; Macready/Tucker 2011; Sidhu 2011; Kell/Vogl 2010; Byram/Dervin 2008; Adams/Kirova 2007; Kuroda 2007). Speziell im deutschsprachigen Raum werden in derselben Fachdisziplin Bildungslaufbahnen von zweiten Einwanderergenerationen in den Blick genommen (Hummrich 2006, 2001; King 2005). Mit einem latent Ökonomie fokussierenden Blick wird die ,student mobility‘ im Kontext von Bildungssystemen und Wirtschaftspolitiken analysiert (Delpierre/Verheyden 2011; Haupt/Krieger/Lange 2011; Kahanec/Králiková 2011). Sozialwissenschaftliche Forschungen, die auf der Mikroebene angesiedelt sind, lassen sich hingegen sehr schwer finden. Speziell für den südostasiatischen Kontext haben die Forschungen zu jungen Menschen, die für höhere Bildung migrieren, gerade erst begonnen: Eine ethnologische, soziologische und islam-

4

Der Intellekt wird gegenwärtig bspw. durch die Akademia formalisiert. Nach Antonio Gramsci (1996:1500ff.) gehe ich in diesem Sinne davon aus, dass alle Menschen intellektuell sein können, aber nur wenige die Möglichkeiten haben, die Funktion als Intellektuelle – wie durch eine Position an der Universität – auch einnehmen zu können.

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wissenschaftliche ForscherInnengruppe der schwedischen Universitäten Göteborg und Lund, die zu innerasiatischer Bildungsmigration arbeitet, hat bisher leider noch keine Ergebnisse veröffentlicht.5 Eine ethnologische Studie zur Bildungsmigration von jungen Menschen aus arabischen Ländern nach Malaysia, das am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführt wird, ist noch nicht abgeschlossen.6 Ein Forschungsprojekt zu Migration von afrikanischen StudentInnen nach Malaysia, das in den Südostasienwissenschaften der Universität Frankfurt am Main angesiedelt ist, hat erst kürzlich begonnen.7 Diese rezent initiierten Forschungsprojekte verweisen auf die Relevanz und Aktualität des Themas der Bildungsmigration, speziell in Südostasien. Es gibt zwei abgeschlossene ethnografische Studien zu Bildungsmigration, beide sind regional zwischen Deutschland und Afrika angesiedelt: Jeannett Martin (2005) behandelt Fragen nach Rückkehrmigration von ghanaischen Bildungsmigranten, die v. a. in den 1960er Jahren in Deutschland studiert haben. Martin (2005:272-292) fokussiert die Bildungsmigrationsfragen in einem Unterkapitel mit einer geschlechtsspezifischen Perspektive, indem sie zu Fragen nach Rückkehrmotiven auch einige Frauen zu Wort kommen lässt.8 Die zweite ethnografische Studie zu Bildungsmigration wurde von Wiebke Aits (2008) durchgeführt und befasst sich mit Bildungsmigration von jungen Männern aus den maghrebinischen Staaten nach Deutschland. Die gesellschaftlichen Dynamiken in Asien bedürfen in einer ethnografischen Studie zu Geschlecht, Bildung und Migration eigener Schwerpunktsetzungen. Sie können nicht einfach an Dynamiken von Bildungsmigrationen in bzw. 5

Das Projekt Transnational mobility of higher education within Asia: an interdisciplinary study of strategies and educational conditions among young persons lief vom 1.1.2011–31.12.2013.

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Dr. Olivia Kilias forscht seit 2011 mit ihrem Projekt The Politicisation of Religion in the Context of Educational Migration to Malaysia innerhalb des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Kompetenznetzwerkes Dynamics of Religion in Southeast Asia (DORISEA).

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Die Studie Migration of African students to Malaysia unter der Leitung von Prof. Dr. Arndt Graf ist Teil des BMBF-geförderten Forschungsprojektes AFRASO – Africa’s Asian Options: New Interactions between Africa and Asia und hat am 1.2.2013 begonnen.

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An dieser Stelle möchte ich kritisch anmerken, dass Martin die Kategorie Geschlecht in ihrer Studie leider typisch unkritisch gedacht hat. Sie behandelt keine allgemeine Geschlechtsspezifik, sondern betrachtet Männer als universal und gedenkt eine Geschlechtsspezifik über die Erzählungen einiger Frauen abdecken zu können.

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aus anderen Kontinenten angeschlossen werden. Asien als geografisch weit ausgedehnte und facettenreiche Region beheimatet etwa die Hälfte der Weltbevölkerung und fast zwei Drittel der weltweiten Arbeitskräfte (Wong, T. et al. 2003:13). Die besondere Geschwindigkeit und das besondere Ausmaß an ökonomischen, politischen, sozialen und demografischen Veränderungen in Asien führten zu grundlegendem Wandel von Migrationswegen und -arten in den letzten vier Dekaden. Dies trifft auf internationale wie auf innerstaatliche Ebenen zu. In Asien sind Arbeitsmigrationen seit langer Zeit weit verbreitet. Im Gegensatz zu Bildungsmigrationen findet diese Spezifik der Migration in der wissenschaftlichen Literatur breite Beachtung. Von den frühen 1950ern bis in die frühen 1970er Jahre wurden in dieser Region wenig internationale Arbeitsmigrationsschritte verzeichnet, weder innerhalb Asiens noch aus Asien heraus (Wong, T. et al. 2003:13). Eine Besonderheit waren hingegen eigenständige Land-StadtMigrationen von Frauen in Malaysia und auf den Philippinen, die bereits für die frühen 1960er Jahre verzeichnet wurden (Ariffin 1984; Eviota/Smith, P. 1984; Khoo S.E./Pirie 1984). Eine ,Feminisierung von Migration‘ wurde damit in Südostasien zumindest für den Bereich der arbeitsbasierten Land-Stadt-Migration früh benannt. In der südostasiatischen Forschung wird die Relevanz von arbeitsmigrierenden Frauen in den letzten drei Dekaden weiter fokussiert. Arbeitsmigrantinnen bilden unter den asiatischen Migrantinnen den größten Teil, speziell die unqualifizierten Arbeitskräfte (Yamanaka/Piper 2005:2). Diese arbeiten in der Regel im schlecht bezahlten und kaum abgesicherten Dienstleistungssektor, wie die live-in domestic worker, bzw. maids (Yeoh/Huang, S. 2010; Huang, S. 2006; Huang, S./Yeoh/Jackson 2004; Lim/Oishi 1996; Wong, D. 1996). In Europa und den USA werden Frauen erst seit den 1980er Jahren als aktive Migrantinnen wahrgenommen – auch hier v. a. im Bereich der Arbeitsmigration (Jenson/Hagen/Reddy 1988; Pessar 1986; Sassen 1984). Angestoßen durch die neuen Frauenbewegungen entwickelte sich das Bedürfnis nach einem Aufbrechen des „main- und malestream-Diskurses“ (Hess/Lenz 2001) auch in der Wissenschaft. Eine politische Ausrichtung jener Forschungen zielte auf das Aufzeigen patriarchaler Strukturen. Vor den 1980er Jahren wurden Frauen in Europa und den USA in Migrationszusammenhängen entweder gar nicht oder als passiv wahrgenommen. Während männliche Familienangehörige als aktiver Part dargestellt wurden, sollten Frauen diejenigen gewesen sein, die ihnen ausschließlich nachfolgten. Frauen wurden in der südostasiatischen (seit den 1960er Jahren) und der europäischen und US-amerikanischen (seit den 1980er Jahren) Migrationsforschung nicht nur sichtbar gemacht, sondern Geschlecht selbst wurde zu einer

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analytischen Strukturkategorie weiterentwickelt. Trotz der Interdisziplinarität der Themenfelder wurde Migration von Frauen in der Migrationsforschung lange als ,Genderspezifik‘ und in der Geschlechterforschung als ,Ethnizitätsspezifik‘ erachtet, wie Helma Lutz (2004:476) konstatiert. In der Migrationsforschung wurden Konstruktionen von Ethnizität in den Mittelpunkt gerückt und Konstruktionen von Geschlecht dafür in der Geschlechterforschung kaum auf Migrantinnen bezogen. Erst seit Mitte der 1990er Jahre wird die geschlechtliche Identifizierung als maßgebend für Migrationsziele, -schritte und -orte verstanden, so dass die Herangehensweisen der Geschlechter- und Migrationsforschung zu komplexen analytischen Ansätzen verwoben wurden (z. B. George 2005; Lauser 2004; Lutz 2004; Salih 2003). Dennoch werden in der europäischen und USamerikanischen sozialwissenschaftlichen Forschung die analytischen Zusammenführungen der Migrations- und Geschlechterforschung (auch im Sinne frauenzentrierter Studien) weiterhin verhandelt, da die Anerkennung von Geschlecht als strukturgebende Kategorie in Migrationsprozessen nach wie vor ein umkämpftes Feld darstellt (Bereswill/Rieker/Schnitzer 2012; Fink/Lundqvist 2010; Pessar/Mahler 2010; Lutz 2009). Mit Blick auf Südostasien wurde Geschlecht als analytische Strukturkategorie im Zusammenhang mit Migration v. a. im Themenfeld der Familie untersucht. In bestimmten südostasiatischen Geschlechterstudien liegen die Schwerpunkte auf der Transformation von Familienkonstellationen durch Migrationsschritte (Ng, T. 2005, Chattopadhyay 1997). Die Verschiebungen von individuellen Unabhängigkeiten (Yamanaka/Piper 2005) und von familiären Rollen (Parreñas 2005, 2003; Huang, S./Yeoh/Jackson 2004) bieten das Potential für vielfältige Veränderungen in geschlechtlich normierten Familiengefügen. Mittlerweile wird sich in der südostasiatischen feministischen Migrationsforschung derart auf Frauen konzentriert, dass Männer in den Migrationskonstellationen aus dem Blick geraten sind. Das Begreifen von Geschlecht als Kategorie der Geschlechterverhältnisse erfordert mittlerweile eine Korrektur dieses frauenfixierten Blickes. Jüngere Studien befassen sich daher mit der Schnittstelle von Männlichkeitskonstruktionen und Migration (Kay Hoang 2010; Yeoh/Willis 2004; Pingol 2001). Dies bedeutet nicht, Männer allein in den Mittelpunkt zu rücken. Es wird untersucht, wie Männer von den Migrationsschritten ihrer Ehefrauen, Schwestern oder Töchter beeinflusst werden bzw. wie migrierende Männer lokale Männlich- und Weiblichkeitsentwürfe auf ihren Wegen für sich nutzen. Der ungleich auf Frauen zentrierte Blick in der migrationsbezogenen Südostasienforschung gilt allerdings nur für explizit feministisch ausgerichtete Bereiche der entsprechenden Fachrichtungen. Der Blick über den Tellerrand macht

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tiefe Lücken in geschlechtsbezogenen Fokussierungen zu Südostasien aus: Die Südostasien-Politikwissenschaftlerin Susan Blackburn (2009) konstatiert, dass in von ihr gesichteter politikwissenschaftlicher, Überblick gebender Literatur zu Südostasien der letzten Dekade keinerlei Frauen-, geschweige denn Geschlechterfragen behandelt werden. „[Authors writing about Southeast Asian Politics] have not accepted [the] relevance [of feminist literature] to their work. It is as if most political scientists categorize books about Southeast Asian women as a specialised field for women’s eyes only“ (Blackburn 2009:68).

Frauen- und Geschlechterfragen werden nach wie vor nicht als grundlegend für gesellschaftliche Auseinandersetzungen in jedweder wissenschaftlichen Literatur (und gesellschaftlicher Praxis) verstanden. Solange dies der Fall ist, erklärt sich ein weiterer Bedarf an (feministischer) Forschung, in der Frauen als Akteurinnen mit ihren Lebensentwürfen in relationale Geschlechterverhältnisse eingeordnet werden, von selbst. Nach dieser Einordnung meiner Arbeit in die aktuelle Forschungslage lege ich nun die methodischen Überlegungen und Herangehensweisen meiner Arbeit dar.

1.2 M ETHODIK Die Erkenntnisse dieser Studie basieren auf einer einjährigen, multilokalen Feldforschung in Singapur und Malaysia von September 2008 bis August 2009. Diese Feldforschung habe ich im Dezember 2009, Juli 2010 und November 2011 insgesamt sieben Wochen in Deutschland, Singapur und Malaysia fortgesetzt, um die gesammelten Daten in einen längeren zeitlichen Kontext stellen zu können. Den Feldzugang erlangte ich maßgeblich dadurch, dass ich zu Beginn der Forschung ausführliche Beschreibungen meines Forschungsvorhabens verbunden mit dem Wunsch, mit interessierten malaysischen Bildungsmigrantinnen darüber ins Gespräch zu kommen, auf den Universitäts-Campus der National University of Singapore (NUS) und der Nanyang Technological University (NTU) in Singapur aushängte. Ein halbes Jahr später brachte ich ähnliche Schreiben auf öffentlichen Flächen des Campus der Universiti Malaya (UM) in der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur an. Mit diesem Vorgehen überließ ich es der Eigeninitiative der Akteurinnen, ob sie an meiner Forschung teilneh-

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men wollten oder nicht. An dem Tag, an dem ich die Beschreibungen meines Vorhabens in der NUS öffentlich aufgehängt hatte, meldeten sich sogleich fünf interessierte Malaysierinnen per E-Mail. Weitere Gesprächspartnerinnen lernte ich anschließend über das ,Schneeball-System‘ kennen. Aber auch durch direkte Kontaktaufnahmen zu Repräsentantinnen malaysischer Studierendenorganisationen der NTU lernte ich Interviewpartnerinnen kennen. Darüber hinaus führte ich ExpertInneninterviews mit SüdostasienwissenschaftlerInnen, z. B. mit Brenda Yeoh, einer wichtigen Migrations- und Geschlechterforscherin an der NUS. In den folgenden Abschnitten wird der Forschungsprozess mit besonderer Berücksichtigung der Multilokalität der Forschung, der Rolle meiner Verkörperungen, der lebensgeschichtlichen Erzählungen und der Erhebungsmethoden vorgestellt. 1.2.1 Multi-sited ethnography Eine ethnografische Studie zu malaysischen Bildungsmigrantinnen in Singapur behandelt globale Themen, die die einzelnen AkteurInnen auf lokaler Ebene in räumlichen und zeitlichen Dimensionen verhandeln. Um die Komplexität einer Studie, die nationalstaatliche Grenzüberschreitungen behandelt, erfassen zu können, ist nach Ulf Hannerz methodologisch eine „transnational anthropology“ (1998:246) unabdingbar. Diese sieht er maßgeblich auf Grundlage einer multisited ethnography nach George Marcus umgesetzt (Hannerz 1998:247). Wesentliches Merkmal einer multi-sited ethnography ist die Feldforschung an vielfältigen, miteinander verbundenen Orten mit einhergehender Erfassung verschiedener Perspektiven auf denselben Gegenstand (vgl. Lauser 2005). In rezenten Sammelbänden von Simon Coleman und Pauline von Hellermann (2011) sowie von Mark-Anthony Falzon (2009) wird dieses Herangehen unter den Fragestellungen ,Verwässerung ethnografischer Praxis‘ und ,oberflächliche vs. tiefgehende Informationen‘ diskutiert, jedoch als Postulat für globalisierungsbezogene Studien nicht in Frage gestellt. Die grundlegenden Überlegungen für das Konzept der multi-sited ethnography lieferte Marcus (1995, vgl. 2011) als Antwort auf die „transformed locations of cultural production“ (1995:97). Durch die wachsenden globalen Einflüsse auf lokale Situationen gibt es laut dem Autor (Marcus 1995:98) keine isolierten Orte mehr, die gänzlich ohne äußere Einflusse existieren. Die Untersuchungsgegenstände ethnografischer Forschungen sollten deshalb als mobile Begebenheiten betrachtet werden, die vielfältig situiert werden müssen (1995:102). Mit diesem Verständnis von Verknüpfungen zwischen Globalem und Lokalem

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empfiehlt Marcus schließlich das methodische Herangehen, Feldforschung auf multiple Orte auszuweiten. Die/der EthnologIn sollte in den dynamischen, multilokalen Forschungsprozessen die Reflexionsleistung erbringen können, die Verknüpfungen der einzelnen globalen und lokalen Phänomene an den verbindenden Linien und Elementen zu erkennen: „Multi-sited research is designed around chains, paths, threads, conjunctions, or juxtapositions of locations in which the ethnographer establishes some form of literal, physical presence, with an explicit, posited logic of association or connection among sites that in fact defines the argument of the ethnography“ (Marcus 1995:105).

Die praktische Umsetzung dieser methodischen Vorannahmen schlägt Marcus mit den Handlungsanleitungen Follow the People; Follow the Thing; Follow the Metaphor; Follow the Plot, Story, or Allegory; Follow the Life or Biography und Follow the Conflict (1995:106-110) vor. Der methodologische Imperativ des ,Dortseins‘ in der Feldforschung wird folglich erweitert um das Verfolgen sowohl von materiellen Dingen wie auch von immateriellen Lebensgeschichten, Konflikten usw. Mit diesem von Marcus beschriebenen Herangehen folgte ich während meiner Feldforschung meinen Gesprächspartnerinnen auf ihren Spuren von Singapur aus nach Malaysia. Die ersten sechs Monate meiner Feldforschung von September 2008 bis Februar 2009 weilte ich in Singapur, um die dreizehn chinesischmalaysischen Bildungsmigrantinnen dieser Studie 9 intensiv zu begleiten. Ich verbrachte mit ihnen ihren Alltag in den Wohnheimen, den Mensen und den Hörsälen der Universität – in der Regel der NUS. Ich interviewte sie in Kneipen und Restaurants. Ihre Geschichten und die Themen, mit denen sie sich auseinandersetzten, nahm ich als Basis, um anhand dessen auch entsprechende Diskurse und Strukturen der singapurischen und malaysischen Gesellschaften zu begreifen. Nachdem ich mehrere Monate mit den malaysischen Bildungsmigrantinnen in ihrem Zielland verlebt hatte, folgte ich von März bis August 2009 ihren biografischen Spuren im Sinne von Marcus’ Follow the People und Follow the Biography sowie ihren thematischen Wegen in Anlehnung an Follow the Plot. Ihre biografischen Spuren verfolgte ich, indem ich ihre Heimatorte in Malaysia aufsuchte. Damit erlangte ich Zugang zu ihren Lebensumfeldern in ihrer Herkunfts9

Es handelt sich um Doreen Hemmy, Yue Yan, Shireen, Judith, Elizabeth, Lin Lam, Abrianna, Jingfei, Ai Ling und Margaret aus Kuala Lumpur, Chun Hua aus Penang, Cui Hong aus Melaka und Annapoorna aus Johor Bahru.

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gesellschaft, v. a. in der Hauptstadt Kuala Lumpur. Dort führte ich Gespräche mit ihren Eltern, Großeltern, Brüdern und Schwestern. Teilweise waren die Bildungsmigrantinnen dabei, meistens aber nicht. Ihren thematischen Spuren spürte ich in erster Linie anhand der Verbindungen von Bildungsmigrationsentscheidungen und ethnischen Identifizierungen auf. Ich suchte die alternativen Schauplätze für die Migrantinnen in Malaysia: Wo würden sie sich bewegen, wenn sie für den Bildungserwerb nicht nach Singapur gegangen wären? Die Universiti Malaya (UM) in Kuala Lumpur oder die Universiti Kebangsaan Malaysia (UKM) im Einzugsgebiet der Hauptstadt wären als die beiden besten staatlichen Universitäten des Landes mögliche Alternativen gewesen. Nach Singapur schafft es durch die hohen Anforderungen nur die ,Crème de la Crème‘. Dieser Schritt würde folglich nur für die ,exzellenten‘ Studierenden dieser beiden malaysischen Prestige-Universitäten in Frage kommen. Gleichzeitig suchte ich auf den thematischen Spuren an diesen Universitäten sieben malaiisch-malaysische Studentinnen10 auf. Ich begleitete sie intensiv, um zu begreifen, warum ihre Bildungswege nicht nach Singapur führten. Dies war nicht nur für das Erfassen der Komplexität der ethnisch basierten Prozesse wichtig, die die Bildungsmigration der einen Bevölkerungsgruppe erleichtern und die der anderen verunmöglichen. Ich habe so auch die inter-ethnischen Beziehungen der malaysischen Gesellschaft anhand von gegenseitigen Vorurteilen der Chinesisch-Malaysierinnen und Malaiisch-Malaysierinnen verstehen gelernt. Der bewegte Forschungsprozess führte mich also von Singapur aus zunächst auf den Spuren der Chinesisch-Malaysierinnen in ihre Herkunftsorte, in die malaysischen Städte. Auf Grundlage meiner engen Kontakte zu malaiischmalaysischen Studentinnen begab ich mich im Forschungsprozess danach weiter in ländliche Gebiete Malaysias, die wiederum deren Herkunftsorte darstellen. Mein anfänglicher Forschungsort – in erster Linie die NUS in Singapur – weitete sich im Verlauf des Forschungsjahres räumlich immer weiter aus. Ähnlich vergrößerte sich auch mein Netz an GesprächspartnerInnen immer mehr. Über das Schneeballsystem erweiterte es sich nicht nur von Bildungsmigrantin zu Bildungsmigrantin, sondern auch zu ihren Familienangehörigen – sowie zu denen, die auf Grund der gesellschaftspolitischen, ethnischen Konflikte indirekt in die Themen um Geschlecht und Bildungsmigration von Malaysia nach Singapur involviert sind. Die konkreten, wenn zuweilen auch fragmentierten, Orte sowie die verschiedenen Gespräche machten in ihrer Gesamtheit schließlich den Schlüssel zum Begreifen der komplexen, gesellschaftlich präsenten Forschungsthemen 10 Es handelt sich hierbei um Adilah aus Hutan Melintang in Perak, Fauzana und ihre Schwester Noraini aus Kuala Terengganu, Afifah aus einem Dorf in Negeri Sembilan, Siti aus Kajang in Selangor und Masjalizah sowie Safinaz aus Kelantan.

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aus. Eine multi-sited ethnography zeichnet sich demnach nicht nur durch die Multilokalität, sondern auch durch die daraus folgende Multiperspektivität aus. Welche Rolle meine Verkörperungen während der multilokalen Feldforschung gespielt haben und wie sich die Beziehungen zwischen mir und meinen Gesprächspartnerinnen interaktiv ausgestaltet haben, wird im Folgenden erläutert. 1.2.2 Verkörperte Feldforschung In den 1980er Jahren formulierten Women of Colour (WoC) die Kritik, dass Frauen aus ,dem Westen‘ mit ihren privilegierten Erfahrungen die Situationen und Bedürfnisse der WoC nicht erkennen könnten und deshalb ihre Stimmen weder verbal noch schriftlich für sie erheben sollten (z. B. Mohanty 1991). Einen solchen Anspruch erhob ich nicht. In den Beziehungen zu meinen Gesprächspartnerinnen ließ sich die Dominanz der Kategorie ,race‘, womit ich die Differenz auf Grundlage meiner europäischen Herkunft meine, dennoch nicht ignorieren. Viele Gesprächspartnerinnen sagten mir oft, dass ich so schlank, groß, schön und so modern sei, was für mich als Europäerin fast schon eine Selbstverständlichkeit sein müsse. Meine Nachbarin Jia in Malaysia riet mir einst, Model zu werden, mir würden doch wegen meines Aussehens so viele Möglichkeiten offenstehen. Diese Gesprächspartnerinnen imaginierten in mir als Europäerin eine Art von Freiheit, die sie mit Schönheit und Modernität definierten. Mit dieser konstruierten Differenz, die wenig mit den Schwerpunkten meines eigenen Selbstbildes gemein hatte, war es für mich oft schwierig, die Beziehungen mit meinen Gesprächspartnerinnen zu gestalten. Die Relationen, die ich zu ihnen einging, gründeten sich für mich auf grundsätzlicher Anerkennung, für sie in manchen Fällen auf einer Zurücknahme und Abwertung ihrer selbst. In diesen Situationen wurden ungleiche Relationen in Bezug auf die Kategorie ,race‘ sehr wohl deutlich. In Bezug auf die Kategorie ,Klasse‘ hingegen konturierte ich mein Forschungsfeld auf eine Weise, mit der ich in das Fahrwasser von Bevormundung, Abhängigkeiten und Machtverhältnissen nicht von vornherein geriet: Mit Ausnahme einer jungen Frau sind meine Gesprächspartnerinnen Teil der lokalen Mittelklasse und Bildungselite. Die Schere zwischen Arm und Reich in einer Gesellschaft, die für viele EthnologInnen in ihrem Forschungsprozess eine Rolle spielt, hatte auf mein Beziehungsgeflecht (fast) keine Auswirkungen. Meine verkörperten Identifizierungen waren insbesondere bei der Kontaktaufnahme und beim Feldzugang bedeutsam. Für die Kontaktaufnahmen seitens der Bildungsmigrantinnen war meine verschränkte Rolle als eine Frau, die rela-

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tiv jung ist, an der Universität arbeitet, Englisch spricht und aus Europa kommt, wesentlich. Viele Aspekte, die in meinem Leben eine Rolle spielten, waren mit denen meiner Gesprächspartnerinnen verbunden. Mit meinen 26 bzw. 27 Jahren während des einjährigen Feldaufenthalts war ich nur einige Jahre älter als die Studentinnen Anfang 20. Diese Ähnlichkeit machte sich nicht nur am biologischen Alter fest. Mit meinem Alter war ich im Sinne der lokalen Normen und Regeln gerade noch nicht zu alt für den entscheidenden Schritt, zu heiraten. In Singapur heiraten Frauen mit Universitätsausbildung zwischen 25 und 29 Jahren (Singapore Department of Statistics 2010a:4). Tatsächlich war ich unverheiratet. Wäre ich nur wenige Jahre älter gewesen und hätte damit das übliche Alter, in dem geheiratet wird, überschritten, hätten die Gesprächspartnerinnen in mir eine ,alte Jungfer‘ sehen können. Doch so blieb es bei der Gemeinsamkeit zwischen mir als junger Promotionsstudentin und meinen Gesprächspartnerinnen als jungen Bachelor- oder Masterstudentinnen. Ich komme wie sie aus einem Bildungsumfeld, das sich in meiner Rolle als Forscherin an einer Universität manifestierte. Auch wenn ich in einem anderen (kulturellen) Teil der Welt aufgewachsen war, berührten mich die Themen der jungen Studentinnen, die sich um Leistungsdruck, Liebe, Sexualität, Familie, Konsum usw. drehten, unmittelbar. So fand ich mich schnell in einer Rolle zwischen Forscherin und Freundin wieder, was sich in einem regelmäßigen „This is my friend Viola“, wie mich verschiedene GesprächspartnerInnen anderen gegenüber vorstellten, oder in einem „Hi Viola! Do you also stay here in the hall?“ ausdrückte. Mit dieser Nähe in unseren Beziehungen versuchte ich immer wieder eine Distanz herzustellen, indem ich bewusst die Relationen reflektierte. So hoffte ich den Erkenntnisgewinn durch Differenzerfahrungen zu erhalten, der durch die (vermutete) Nähe aus dem Blick geraten kann. Meine Gesprächspartnerinnen verfolgten mit mir und durch das, was ich verkörperte, eine eigene Strategie. Die Chinesisch-Malaysierinnen in Singapur und die malaiisch-malaysischen Studentinnen in Malaysia, die von sich aus aktives Interesse an meiner Forschung zeigten, kontaktierten mich nicht mir zuliebe, sondern zur Gestaltung ihrer eigenen Identifizierungen. Sie waren nie passive ,Forschungsobjekte‘, sondern nahmen selbst eine aktive Haltung zum Geschehen ein. Alle Chinesisch-Malaysierinnen hatten auch vor dem Kontakt mit mir bereits einen gewissen Bezug zu Deutschland oder Europa durch Reisen oder Sprachkurse. Durch die Kontaktaufnahme mit mir sollte an vielen Stellen ein Zugang zur ,westlichen Welt‘ und zu Mobilität – gekoppelt an Wissenschaft und Bildung durch meine Funktion als Forscherin – hergestellt werden. So war es der chinesisch-orientierten Bildungsmigrantin Doreen 11 2009 möglich, durch mich 11 Doreen wird in Kap. 4.1 ausführlich vorgestellt.

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einen Teil Deutschlands kennen zu lernen. Meine malaiisch-malaysische Gesprächspartnerin Masjaliza12 erhoffte sich durch mich an der Universität Göttingen eine Arbeit zu finden, indem ich entsprechende Kontakte herstellen sollte.13 Meine Verkörperungen ermöglichten mir auf der einen Seite bestimmte Begegnungen, limitierten in anderen Zusammenhängen jedoch meine Forschung. Mehrmals fragte ich meine Gesprächspartnerin Cui Hong14 danach, ob ich ihre Familie in Malaysia besuchen könne. Sie hielt mich jedes Mal hin, bis sie schließlich ganz ablehnte. Cui Hong kommt aus einer ArbeiterInnenklassenfamilie.15 Ihre Absage begründete sie mit dem Hintergrund, dass ihre Familie kein Englisch sprechen würde und wir uns deshalb nicht unterhalten könnten. Mit meiner Verkörperung einer intellektuellen Frau von einer europäischen Universität erlangte ich keinen Zugang zu diesem Haushalt der ArbeiterInnenklasse. In Malaysia war in den muslimischen Zusammenhängen meine Rolle als Frau besonders relevant. Dadurch waren mir männliche Räume, d. h. sowohl physische Gebetsräume als auch soziale Räume von männlichen Gesprächskreisen, verschlossen. Als Nichtmuslima bekam ich während einer malaiischen Hochzeit zudem keinen Zugang zur Moschee, in der die Trauung stattfand.16 Der Problematik eines beschränkten Feldzugangs begegnete ich im Laufe des Forschungsprozesses mit unterschiedlichen Strategien. Um bspw. Zugang auch zu den männlichen Räumen im muslimischen Malaysia zu erhalten, reiste ich mit meinem langjährigen Lebenspartner, also einem männlichen Begleiter. In der malaiisch-malaysischen Familie meiner Gesprächspartnerin Masjaliza bekam er sogleich Informationen, die mir verschlossen waren: in männlichen Gesprächsrunden wurde immer wieder über Regierungspolitik debattiert. So wurde für mich über diese indirekte Quelle nicht nur allgemein deutlich, dass Regierungspolitik ein männliches Feld ausmacht. Konkret wurde mir durch diesen Umweg auch die politische Einstellung der männlichen Verwandten einer meiner engsten Gesprächspartnerinnen zugänglich.17 12 Masjaliza wird in Kap. 6.2.2, 6.4.1 und 6.4.2 ausführlich vorgestellt. 13 Sehr gerne hätte ich diese Kontakte hergestellt, aber im Endeffekt zögerte Masjaliza dann doch. 14 In Kap. 7.1 wird Cui Hong ausführlich vorgestellt. 15 Vgl. Kap. 7.1. 16 Vgl. Kap. 6.2.2. 17 Forschungsethisch muss überlegt werden, inwiefern diese Informationen an eine öffentliche LeserInnenschaft weiterzugeben sind, schließlich waren sie nicht für mich bestimmt. Ich beantwortete dieses Dilemma mit einem reinen Pragmatismus, denn die Informationen waren für die vorliegende Arbeit nicht relevant, weshalb mich eine Verwendung nicht weiter interessierte.

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Meine Rolle im Feld beeinflusste nicht nur, mit wem ich sprechen konnte, sondern auch, wie gesprochen wurde. Cui Hong bspw. konfrontierte mich bei jedem unserer Treffen mit ihrem Neid auf meine Liebesbeziehung. Als mich mein Freund im Feld besuchte, arrangierte ich deshalb ein Treffen zwischen uns dreien, weil ich an der möglichen Dynamik, die daraus entstehen könnte, interessiert war. Ich war geradezu enttäuscht darüber, dass sie nicht besonders interessiert an ihm zu sein schien, obwohl er in unseren vorherigen Zusammenkünften stetig Objekt ihres Interesses war. Sie redete auch nicht, wie sonst immer, emotional überschwänglich über Liebe und Romantik, sondern gab sich diesbezüglich sehr distanziert. Später realisierte ich, dass zum einen erst die Abwesenheit eines Mannes die Möglichkeit zu Gesprächen über Liebe und Romantik gab. Zum anderen sprach sie immer dann über diese Themen, wenn ich meinen Freund auch vermisste und ihre Gespräche darüber sozusagen auf ,fruchtbaren Boden’ fielen. So kommen zu den Dimensionen der Erzählkontexte und Erzählsituationen auch die der Erzählbarkeit – aber auch die der Resonanz und Empathie – hinzu. Es bleibt immer zu reflektieren, wie die Gesprächspartnerinnen ihre Geschichten erzählen, in welchen Beziehungsgeflechten über welche Themen berichtet werden kann, und auch, wie wir sie als ForscherInnen aufnehmen, wahrnehmen und am Ende darstellen. Diese Aspekte werde ich nachstehend weiter ausführen. 1.2.3 Lebensgeschichtliche Erzählungen und Erhebungsmethoden In der vorliegenden Studie bin ich daran interessiert, wie die von mir begleiteten AkteurInnen die gesellschaftlichen Prozesse um Weiblichkeit, Bildung und Migration für sich nutzten. Neben meinen themenbezogenen Fragen war ich mit diesem Erkenntnisinteresse im Forschungsprozess auch an lebensgeschichtlichen Erzählungen interessiert. Solche Erzählungen eignen sich, um Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungen der AkteurInnen in den Mittelpunkt zu rücken (Hermann/Röttger-Rössler 2003:2). Dabei stehen durch die Details der Narrationen gerade keine Generalisierungen im Vordergrund. Im Gegenteil, die detaillierten Geschichten erhalten ihren Wert erst über ihre Einzigartigkeit, da jede Erzählung das Verständnis über die Facetten und vielfältigen Möglichkeiten von Realitäten im spezifischen lokalen Kontext erweitert (Waterson 2007:30). Bei der Befragung nach solchen Erzählungen halte ich es für bedeutsam zu reflektieren, wie ErzählerInnen ihre Geschichte erzählen und damit konstruieren. Erlebnisse können von ein und derselben Person in unterschiedlichen Situationen ebenso widersprüchlich wiedergegeben werden wie auch dieselbe Situation von unterschiedlichen Personen diskrepant dargestellt werden kann. Jede le-

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bensgeschichtliche Erzählung beinhaltet Entscheidungen der/des ErzählerIn darüber, was wichtig, nötig, aufreibend oder belastend war. Sie wird von der/dem ErzählerIn nach den Kenntnissen über die Gesprächssituation und über die GesprächspartnerInnen mit ihren Intentionen und Hintergründen interaktiv ausgerichtet. So gesehen müssen Narrationen als Reflexionen über eine spezifische Situation zu einer spezifischen Zeit verstanden werden. Sie stellen die Forscherin vor die Herausforderung, die Bedeutung, die die GesprächspartnerInnen der Struktur ihrer Erzählungen beimessen, mit zu reflektieren. Das Konzept von Lebensgeschichten im Sinne von autobiographischen Erzählungen ist nicht ohne Weiteres für alle kulturellen Kontexte brauchbar. Nach ,westlichem Verständnis‘ wird die chronologisch-kohärente Geschichte eines Ichs erwartet, in der von der Zentriertheit eines Individuums ausgegangen wird (Lauser 2004:51). Konkrete biographische Erzählungen und Erinnerungen können zwar fragmentarisch oder inkongruent sein. Das dahinterstehende ,westliche‘ Konzept lebensgeschichtlichen Erzählens stützt sich allerdings auf eine Erlernung von ,Lebensläufen’. Das bedeutet, dass Lebensdaten benannt werden können, die als Erlebnisse und Erfahrungen des eigenen, individuellen Lebens geordnet und nach außen hin referiert werden können. In vielen asiatischen Kontexten ist allerdings die erweiterte Familie der wichtigere Bezug als das alleinstehende Individuum. Dieses kollektivistische Moment benennt auch Birgitt Röttger-Rössler: „Der einzelne wird [im malaiisch-indonesischen Archipel] als Teil einer Gesamtheit definiert, die über die Gegenwart hinausreicht. Sein Leben erhält nur durch seine Position innerhalb des sozialen Gefüges, nur in bezug auf andere Bedeutung und kann somit erzählerisch auch nur im Spiegel der anderen Konturen gewinnen“ (2000:151).

Bei lebensgeschichtlichen Erzählungen sollte deshalb das Konzept von Person und Selbst der jeweiligen Interviewten miteinbezogen werden (Hermann/Röttger-Rössler 2003:5). Im malaiischen Archipel gibt es traditionell kein Konzept von Autobiographie, also keine Erzählweise, in der die/der ErzählerIn und das ,Ich’ der Geschichte dieselbe Person darstellen (Röttger-Rössler 2000:136). Von GesprächspartnerInnen direkt Selbstdarstellungen einzufangen, gestaltet sich in diesem kulturellen Kontext als schwierig. In den Situationen, in denen ich an den lebensgeschichtlichen Erzählungen einer Gesprächspartnerin interessiert war, schrieb ich sie deshalb so auf, wie sie mir von verschiedenen Menschen berichtet wurden. Das Gesamtbild einer Person hat sich mir durch multiple Dialoge erschlossen, so dass sich am Ende polyphone Konstruktionen eines individuellen Lebenslaufs ergaben.

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Die zahlreichen Interviews in meiner Forschung habe ich meist offen narrativ geführt, wobei ich in der Regel Leitfragen vorbereitet hatte. Durch die interaktive Dynamik in Gesprächen vermischten sich meist offene und semistrukturierte Befragungsmethoden. Die Gespräche zitiere ich mit dem Datum der Aufnahme. Meinen Alltag in Singapur organisierte ich zudem über teilnehmende und systematische Beobachtungen auf dem Campus, in Kneipen und Restaurants, auf studentischen Feiern, in Gottesdiensten und in den Familien der Bildungsmigrantinnen. Während meiner Forschungsphase in Malaysia verabredete ich mich mit meinen Gesprächspartnerinnen zum Essen, Shoppen in einer Mall oder auf dem Markt, nahm an der Hochzeitsfeier einer malaiisch-malaysischen Gesprächspartnerin auf dem Land in ihrem Elternhaus und als Nichtmuslima vor der Moschee wartend teil. Die Beobachtungen und Gedanken dieser gesammelten Erfahrungen und Gespräche schrieb ich unmittelbar nieder und zitiere sie im Folgenden unter der Bezeichnung ,Gedächtnisprotokoll’ und dem entsprechenden Datum. Zudem sah ich statistische Zensusdaten aus Singapur und Malaysia durch und verfolgte aktuelle gesellschaftspolitische Diskussionen in den öffentlichen englisch- und malaiischsprachigen Medien. Seit ich zurück in Deutschland bin, halte ich den Kontakt zu fast allen Gesprächspartnerinnen per E-Mail aufrecht. Die E-Mails werden mit entsprechendem Datum zitiert. Durch die späteren, kurzen Feldforschungsphasen zwischen 2009 und 2011 setzte ich Forschungsgespräche für eine Vertiefung von bestimmten Biographien fort. Die nächsten Schritte in den Bildungsbiographien der jeweiligen jungen Frauen sind dadurch nachzuvollziehen. Die entsprechenden zeitlichen Verläufe ihrer Biographien werden mit der Benennung des jeweiligen Jahres des Interviews oder Gedächtnisprotokolls deutlich. Nach diesen Positionierungen meiner Arbeit in der wissenschaftlichen Literatur und in methodischen Herangehensweisen werde ich nachfolgend die inhaltlichen Diskussionen, die Geschlecht und Bildungsmigration in Malaysia und Singapur betreffen, skizzieren.

1.3 F ORSCHUNGSTHEMEN : G ESCHLECHT , B ILDUNG , M IGRATION IM K ONTEXT VON M ULTIKULTURALISMUS UND E THNIZITÄT In meiner Studie verknüpfe ich die Forschungsbereiche Geschlecht und Bildungsmigration wechselseitig miteinander. Im lokalen Kontext müssen diese Be-

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reiche als in Diskurse um Ethnizität und Multikulturalismus 18 eingebettet verstanden werden. Nachfolgend werden die Themen in ihrer Verschränktheit skizziert.19 Bei der Betrachtung der postkolonialen Staaten Malaysia und Singapur wird die öffentlich-mediale Aufmerksamkeit nach Goh, D. und Holden (2009:1) regelmäßig auf zwei scheinbar widersprüchliche Bereiche gerichtet: In bildungsspezifischer und ökonomischer Hinsicht werden beide Staaten als erfolgreiche Ergebnisse von Modernisierung bewundert. So sind in jüngster Zeit im deutschen Finanznachrichtendienst Berichte über das ,Wissenschaftsparadies‘ Singapur20 und in der staatlichen Presseagentur Chinas über Malaysias ultramoderne ,Space City‘ südlich der Hauptstadt Kuala Lumpur21 zu lesen. In politischer Hinsicht wird hingegen auf die großen Demokratiedefizite hingewiesen, deren Überwindung gemeinhin jedoch als ebenfalls aussagekräftiger Aspekt von Modernisierung angesehen wird. Es finden sich Medienberichte in konservativen deutschen Tageszeitungen über Prügelstrafen gegen muslimische MalaiischMalaysierinnen, die vor der Ehe Geschlechtsverkehr hatten,22 sowie in der staatlichen Rundfunkanstalt Australiens über Haftstrafen für Aktivisten in Singapur, die mittels Känguru-bedruckter T-Shirts gegen die singapurische Justiz protestierten.23 Ich füge einen dritten Bereich, auf den die öffentlich-mediale Aufmerksamkeit gerichtet wird, hinzu: Mit Blick auf die Kategorie Geschlecht werden Malaysia und Singapur als ,moderne‘ Staaten mit relativ gleichberechtigten Beziehungen hervorgehoben, denen wiederum Tendenzen, die als undemokratisch verstanden werden, entgegenstehen. So waren im französischen Auslandsfernsehen mit Schwerpunkt Nachrichten Medienartikel über muslimische Frauen, die in Malaysia Richterinnen am Syariah-Gericht werden können,24 ebenso zu lesen wie im regierungsnahen, englischsprachigen Nachrichtenkanal über singapuri18 Eine ausführliche Theoretisierung der Themen Geschlecht, Bildung, Migration, Ethnizität, Multikulturalismus u. a. erfolgt in Kap. 2 im Rahmen meines Analyserahmens Gendered Power Hierarchies in Space and Time. 19 Eine ausführliche historische und gegenwartsbezogene Herleitung der entsprechenden gesellschaftlichen Prozesse folgt in Kap. 3. 20 http://www.ad-hoc-news.de/wissenschaftsparadies-singapur-der-stadtstaat-steckt-viel-/de/News/21359094 vom 1.6.2010. 21 http://news.xinhuanet.com/english/2010-01/04/content_12751719.htm vom 4.1.2010. 22 http://www.welt.de/vermischtes/article6464032/Drei-Frauen-in-Malaysia-mitPruegeln-bestraft.html vom 19.2.2010. 23 http://www.abc.net.au/news/stories/2008/12/03/2436093.htm vom 3.12.2008. 24 http://www.france24.com/en/20100809-equal-powers-malaysias-women-islamicjudges vom 9.8.2010.

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sche Frauen, die gemessen an Bildung, Partizipation am Arbeitsmarkt und Einkommen den singapurischen Männern (fast) gleichauf sind.25 Anhand dieser gewissermaßen gegensätzlichen Berichte wird deutlich, dass die bildungsspezifischen, ökonomischen, politischen und geschlechtsspezifischen Elemente nur scheinbar im Widerspruch zueinander stehen. Vielmehr sind sie untrennbar miteinander verschränkt: durch ethnisch basierte Staatspolitiken beider Länder, die in zwei multikulturellen Gesellschaften verankert sind (vgl. Goh, D./Holden 2009). Konzept und Praxis des Multikulturalismus stellen die Basis sämtlicher gesellschaftlicher Prozesse in Malaysia und Singapur dar. TheoretikerInnen im ,Westen‘ bezeichnen das Konzept des Multikulturalismus seit den 1980er Jahren als einen ,positiven Rassismus‘. Denn eine Betonung ethnischer Distinktionen wird in einer gleichzeitigen Kritik an rassistisch exkludierenden Nationalstaaten aufrechterhalten (z. B. Köhler 2006:196-199; Wetzel 2002:37ff.). Kultur ersetze in einer multikulturalistischen Argumentation essentialisierende Biologismen. So kann Kultur zu einer Frage von Lebensentwürfen werden, anstatt die damit zusammenhängenden Kategorien ,race‘ (wie lokal in Malaysia und Singapur gebraucht) oder ,Ethnizität‘ zum Feld inhaltlicher Auseinandersetzungen zu machen. Das Multikulturalismuskonzept solle auf Grund der rassistischen Intonation und der mangelnden theoretischen Reflexion in gesellschaftlichen Untersuchungen nicht genutzt werden (Terkessidis 2010). ,Multikulturalismus‘ ist als Konzept für gesellschaftspolitische Analysen in Malaysia und Singapur allerdings von Nutzen. Es eignet sich nicht aus dem Grund, weil es in den postkolonialen Staaten Malaysia und Singapur mit den verbundenen Kategorien ,race‘ und Ethnizität von staatlichen Institutionen in aller Offenheit genutzt und eingesetzt wird. Eine multikulturelle Perspektive ist für die Analysen in Malaysia und Singapur hingegen deshalb hilfreich, weil sie die Verhandlung von kulturellen Identifizierungen anerkennt, die in den beiden kulturell-segregierten Gesellschaften Malaysia und Singapur stetig hervorgebracht wird. Ich folge in meiner Argumentation Gerd Baumann (1999:26), der Multikulturalität und Kultur als ein Set stetig zu belebender gesellschaftspolitischer Performances versteht. Soziale Beziehungen werden in einem durchkreuzenden und querschneidenden Netz von multiplen Identifikationen ausgehandelt, so dass kulturelle Identifikationen situational bedingt und flexibel sind (Baumann 1999:138f.). Die kulturellen Identifikationen versteht Baumann (1999:18-26) auf ethnischen und religiösen Differenzierungen sowie nationenbildenden Prozessen basierend. Diese interdependent miteinander verschränkten Differenzkategorien 25 http://www.channelnewsasia.com/stories/singaporelocalnews/view/1014419/1/.html vom 29.10.2009.

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der nationalen, ethnischen und religiösen Identitäten stellen nach Baumann die Hauptpfeiler von multikulturellen Gesellschaften dar: Durch das Konzept des Nationalstaats können Regierungseliten in Zusammenarbeit mit den von ihr kontrollierten Medien und einer dominanten Zivilgesellschaft definieren, wer zu einer Mehr- und wer zu einer Minderheit gehört. Auf Grundlage eines biologistischen Ethnizitätsbegriffs können die staatlichen AkteurInnen ethnische Identifizierungen an nationalstaatliche Territorien koppeln. Soziale Konflikte, die in pluralen Gesellschaften ausgefochten werden, werden durch Umwidmung in religiöse Konflikte entpolitisiert, was in ‚westlichen Gesellschaften‘ durch die Entwicklungen der Entkopplung von Staat und Religion möglich wurde. Mit diesen relationalen Verschränkungen verschiedener machtdurchdrungener Identitätsbildungsprozesse interessiert in der vorliegenden Arbeit, wie Kultur im Handeln hergestellt und inszeniert wird. Kulturelle Praktiken sind Prozesse der Sinnzuschreibung im Austausch mit Anderen, durch die AkteurInnen kulturelle Differenzierungen erst reflektieren. Mit der Verwendung des Konzeptes des Multikulturalismus geht es mir demzufolge nicht um eine Betonung von kultureller Identität oder kultureller Differenz. Ich erkenne mit der Verwendung von ,Multikulturalismus‘ die Komplexität und Diversität von Kultur in Malaysia und Singapur an und reflektiere dabei kritisch die Erzeugungen von und Bedeutungszuschreibungen an Kultur. Für die Untersuchung malaysischen und singapurischen Multikulturalismus leisten zwei Sammelbände, herausgegeben von Daniel P.S. Goh et al. (2009) und Robert W. Hefner (2001a), wichtige Bausteine. Die Aufsätze in Goh, D. et al. (2009) beschäftigen sich mit staatlich institutionalisierten ,race‘-Kategorien, anhand derer Multikulturalismus als Ideologie zur Aufrechterhaltung von Multikulturalität als sozialer Struktur in beiden Staaten festgeschrieben wird. In Hefners Aufsatzsammlung werden die multikulturellen Gesellschaften Malaysias, Singapurs und Indonesiens in ihren Entstehungs- und Transformationsprozessen anhand der vorkolonialen, kolonialen und postkolonialen pluralgesellschaftlichen Kontexte untersucht. Goh. D. et al. erörtern die „postcolonial cultural logics of state multiculturalism“ (Goh, D./Holden 2009:2) aus einer Perspektive der Cultural Studies und postkolonialer Theoriebildung heraus. Die Beiträge in Hefners Band gründen die multikulturellen Gesellschaften auch auf einem Liberalismus. Die spezielle Form des Neoliberalismus wird mit konstruierten ,Asiatischen Werten‘ (,Asian Values‘)26 ausgehandelt: So wird der ,Asiatische Wert‘ des ausgeprägten Gemeinschaftsgefühls vom neoliberalen Prinzip des individuellen Konkurrenzkampfes herausgefordert. Die vorliegende Studie bewegt sich in den Herangehensweisen beider Werke. Denn die Bedingungen der multikulturellen 26 Vgl. Kap. 5.1.

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Gesellschaften Malaysias und Singapurs können meines Erachtens mittels eines postkolonialen Blickwinkels, der ebenfalls neoliberale Wirkmächtigkeiten anerkennt, verstanden werden. Die Multikulturalität wird in Malaysia und Singapur staatlicherseits durch die exklusiven Kategorisierungen der Gesellschaften in ,Chinese, Malay, Indian and Others‘ (,CMIO‘) hervorgebracht und kontrolliert. Dieses Konzept bringt zwar verschiedene Möglichkeiten der kulturellen Anerkennung, gleichzeitig aber auch Ausschlüsse vieler anderer ethnischen Identifizierungen mit sich. Es bildet die Basis ethnischer Segregation. Die auf kolonialen Politiken beruhende Einteilung in CMIO wird biologistisch gedacht. Damit wird nicht nur die Inklusion anderer kultureller Identifizierungen in die einzelnen festgelegten Bevölkerungsgruppen verhindert, sondern infolge der kontrollierten Grenzziehung aufgrund vermeintlicher Biologie auch interkultureller Austausch (Goh, D./Holden 2009:3). Trotz kultureller Vielfalt in beiden Ländern wird in Singapur eine chinesische Mehrheitsgesellschaft und in Malaysia eine malaiische kulturelle Vorrangstellung (ketuanan Melayu) im Sinne von ,Erste unter Gleichen‘ legitimiert. Letztere Vorrangstellung wird zudem an Religionszugehörigkeit gekoppelt: Der sunnitische Islam mit Shafi’i-Rechtsschule (Norani 1998:170) dominiert im Staat als vorgeschriebene Religion der Malaiisch-MalaysierInnen (ketuanan Islam) (Hefner 2001b:29). Diese Entwicklungen der In- und Exklusionen gründen sich auf den kolonialen Kategorisierungen von ,race‘ und ,Kultur‘, die in der postkolonialen Phase bis heute nicht grundlegend transformiert wurden: „[S]ocial actors […] negotiate the colonial legacies of racialization and transform them into postcolonial multiculturalisms“ (Goh, D./Holden 2009:4). Die ethnischen Segregationen in Malaysia und Singapur wurden im britischen Kolonialismus eingeführt, u. a. indem sie ein Bildungssystem einrichteten, das mit einer Institutionalisierung von ethnisch basierten Identitätspolitiken zusammenwirkte. Zentral war dabei die Annahme, dass die Kolonialregierung die malaiische Bevölkerung im damaligen Malaya (heutiges Festlandmalaysia und Singapur) als ,einheimisch‘ im Gegensatz zu immigrierten ChinesInnen und InderInnen betrachtete. Sie verstanden die drei Bevölkerungsgruppen nicht als eine gesellschaftliche ,Einheit‘. Daraus folgernd richteten sie für jede Bevölkerungsgruppe ein eigenes Schulsystem ein (Lee H.G. 2009:208). Das gegenwärtige staatliche Bildungssystem wird im multikulturellen Malaysia zur sozialen und politischen Kontrolle gebraucht. Denn in den Bildungsinstitutionen werden ethnisch basierte Diskriminierungen der Chinesisch- und Indisch-MalaysierInnen und die gleichzeitige Bevorteilungen der MalaiischMalaysierInnen umgesetzt. Dies diskutiert Cynthia Joseph in ihrer bedeutsamen

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Studie über die Zusammenhänge zwischen dem malaysischen Schulsystem, Ethnizität und Geschlecht: „[…] [T]he [Malaysian] education system is used more as a political tool rather than a means of correcting social inequality and promoting social unity among the Malaysian populace. Education is used to ensure that the Malay ethnic group remains in power“ (2003:57).

Der moderne malaysische Staat „control[s][..] the Malay mind through ‘education’“ (Azly Rahman 2009:204). Das staatliche Ausbildungssystem wird konkret genutzt, um ökonomische Interessen der muslimischen malaiisch-malaysischen Bevölkerung zu stärken. Ein privates chinesisch-malaysische Schulsystem, das u. a. auf konfuzianischen Prinzipien basiert, wird im Speziellen genauso marginalisiert wie die ,chinesisch-malaysische Kultur‘ im Allgemeinen. Die Schulsysteme sind umkämpfte Felder gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Bildungsfragen sind bedeutende Konfrontationspunkte und immer wieder Ansatz von gesellschaftlichen Spannungen zwischen malaiisch-malaysischer und chinesischmalaysischer Bevölkerung. Die britisch-kolonialen, muslimischen und konfuzianischen Bildungseinrichtungen waren bis in die 1960er/1970er Jahre auf Jungen und Männer fokussiert (Singam 2004:14f.): Die männliche Bevölkerung wurde in schulischer Bildung bevorzugt, indem die entsprechenden Institutionen erst ausschließlich für sie und nicht für Mädchen geöffnet waren. Die später eingeführte Mädchenschulbildung war sodann anfangs nur auf die Ausbildung von ,guten Ehefrauen‘, die kochen und nähen konnten, ausgerichtet. 27 Die nach Geschlecht privilegierenden Bildungssysteme Malaysias und Singapurs führten ab Ende des Zweiten Weltkriegs im Zuge der Unabhängigkeitskämpfe zu Forderungen von Frauen auch nach formaler Bildung. Trotz eines Anti-Kolonialismus als gemeinsamem Ziel verliefen diese Kämpfe und Politiken entlang der ethnisch differenten Linien, die sich in den vorherigen Dekaden durch die Kolonialpolitik entwickelt hatten. Diese Betonung ethnischer Differenzen stand im Endeffekt möglichen Erfolgen von gemeinsamen frauenspezifischen Belangen entgegen (Maznah 2002b:84f.). Geschlechterfragen sind folglich seit der Kolonialzeit mit ethnisch basierter Bildungspolitik verschränkt und daher auch in Verbindung mit diesen zu analysieren. Bildungspolitik ist nur ein Bereich von vielen, in dem ungleiche Geschlechterverhältnisse geprägt werden. Bestimmte südostasiatische, bilateral ausgerichtete Verwandtschaftskonzepte verlaufen quer zu den religiösen und kolonialen 27 Vgl. die ausführlichen Erläuterungen hierzu in Kap. 3.2.2.

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Geschlechterbildern. So legt Wazir Jahan Karim dar, dass ,westliche‘ Konzepte von ungleichen Machtverhältnissen, die Geschlechterhierarchien hervorbringen, für die Region Südostasien nicht allumfassend zutreffen: „The assumption that one should begin with the premise of unequal power generating gender hierarchies is not necessarily relevant in non-Western civilizations in Southeast Asia, which derive a theory of knowledge from concepts and values of bilateralism: the need to maintain social relationships through rules of complementarity and similarity rather than hierarchy and opposition, and the need to reduce imbalances in power through mutual responsibility and cooperation rather than oppression and force“ (1995:16).

In großen Teilen Südostasiens verstehen sich Frauen angesichts ihrer vielfältigen Funktionen außerhalb des Haushalts als Selbstversorgerinnen, die sich mit unabhängigen Männern gleichstellen. Ihre ökonomischen Aktivitäten auf Märkten oder als Unternehmerinnen sind dafür wichtige Beispiele (Devasahayam 2009:2). Entsprechende südostasiatische Konzepte von Bilateralität, Komplementarität und Gemeinsamkeit sind von großer Bedeutung für Geschlechterbeziehungen. Sie sind gleichzeitig wirkungsmächtig mit den Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen, die auf Konfuzianismus, Islam und britischen Kolonialismus basieren. Das ökonomische Wachstum der letzten vier Dekaden in Singapur und in den städtischen Zentren Malaysias führte zu enormer sozialer Mobilität von Frauen. Als Ausdruck dessen erlangen mittlerweile mehr Frauen als Männer tertiäre Bildung (Department of Statistics, Malaysia 2007:130-134),28 viele Frauen arbeiten in hohen Positionen (Brooks, A. 2006) und Frauen können mittlerweile grundsätzlich zwischen ,Karriere‘ und ,Familie‘ wählen (Stivens 2007). Im muslimisch-malaiisch dominierten Malaysia und im chinesisch-dominierten Singapur differieren die Zugänge zu diesen Möglichkeiten für Frauen jedoch weiterhin nach ethnischer, religiöser und auch klassenspezifischer Zugehörigkeit. Infolge der ungleichen Möglichkeiten gehen junge Chinesisch-Malaysierinnen nicht nur Arbeitsmigrationswege nach Singapur, wie bisher in der Literatur beschrieben (z. B. Lam/Yeoh 2004; Lam/Yeoh/Law 2002). Die zwei alltagsweltlichen Schlaglichter zu Beginn der Einleitung haben gezeigt, dass sie nach Singapur ebenfalls bildungsmigrieren. Geschlecht bildet im Kontext von ethnischstrukturierten Prozessen eine strukturgebende Kategorie für bildungsspezifische Divergenzen zwischen beiden Ländern.

28 Vgl. https://share.nus.edu.sg/registrar/info/statistics/ug-enrol-20112012.pdf vom 12.04.2012.

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Aus diesem vorgestellten thematischen Rahmen bestimme ich nachfolgend detaillierte Forschungsfragen.

1.4 F ORSCHUNGSFRAGEN Bevor die detaillierten Forschungsfragen formuliert werden, weise ich zur Erinnerung auf die beiden grundlegenden Fragen meiner Arbeit hin: Erstens interessiert, inwieweit Geschlecht die Bildungsmigration von Malaysia nach Singapur beeinflusst. Im Sinne der Wechselwirkungen zwischen Geschlecht und Bildungsmigration gilt es ebenfalls herauszuarbeiten, in welchem Maße die Bildungsmigration wiederum Handlungspraxen und Bilder von Geschlecht transformiert. Nach der Einführung der thematischen Auseinandersetzung mit Geschlecht, Bildung, Migration, Ethnizität und Multikulturalismus im vorherigen Abschnitt lassen sich diese Kernforschungsfragen folgendermaßen ausdifferenzieren: • Was genau führt eine junge Malaysierin nach Singapur, um dort die weiterfüh•

• •

• • •

rende Schule oder Universität zu besuchen? Welche Hintergründe für diesen Schritt lassen sich in kollektive vergeschlechtlichte, ethnische, kulturelle und klassenspezifische Erfahrungen einbetten? Wie ist dieser Schritt in geschlechtlich normierte Beziehungen eingebettet und wie werden diese wiederum im Verlauf des Migrationsprozesses gestaltet? Wie beschreiben sich die Bildungsmigrantinnen über ihre Erfahrungen des Bildungsaufstiegs und wie ist der Bildungsmigrationsweg mit ihrer Selbstwahrnehmung als Frau sowie als Migrantin verbunden? Welche geschlechtlich codierten Identifikationen werden im Spannungsfeld zwischen Bildung und Migration erzeugt? In welchen Konstellationen werden die Geschlechternormen durchkreuzt, in welchen aufrechterhalten oder reproduziert? Und: Wie sind die Entscheidungen derer, die nicht migrieren, mit denen der aktiv nach Singapur Migrierenden verschränkt?

1.5 A UFBAU

DER

A RBEIT

Nach der bis hierhin erfolgten Annäherung an zentrale Themen meiner Arbeit – Geschlecht, Bildung, Migration, Ethnizität, Multikulturalismus – erläutere ich in

E INLEITUNG

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Kapitel 2 den Analyserahmen, mit dem ich die lokalen Prozesse um Geschlecht und Bildungsmigration systematisch untersuche. In dem anschließenden Kapitel 3 Malaysia und Singapur – historische und aktuelle Entwicklungen von Geschlecht, Bildung und Migration wird erläutert, wie die im Analyserahmen vorgestellten Kategorien in lokale historische und aktuelle gesellschaftspolitische Prozesse einzuordnen sind und wie Letztere wiederum den gesamtgesellschaftlichen Rahmen für die Handlungspraxen der bildungsmigrierenden Akteurinnen darstellen. Im ersten empirischen Kapitel 4 Bildungsmigration als Aspiration wird analysiert, wie konkrete Akteurinnen die bis dato vorgestellten Diskurse und Alltagsreden für sich verhandelten. Anhand von familienspezifischen Dynamiken wird erläutert, mit welchen Intentionen sich junge Malaysierinnen nach Singapur für den Bildungserwerb aufmachten. So werden Ziele und Ressourcen untersucht, die geschlechtlich normiert innerhalb von intergenerationalen Familienstrukturen erstritten wurden. Da entweder die einzige oder die älteste Schwester im Gegensatz zu ihren Brüdern für die Bildung nach Singapur gingen, wird in diesem Kapitel diskutiert, wie die Geschlechterzugehörigkeit im lokalen Kontext als Basis für Bildungsmigrationsschritte angesehen werden muss. In diesem Kapitel werden zudem In- und Exklusionen entlang ethnischer, klassenspezifischer und religiöser Linien in Anbetracht des Bildungserwerbs deutlich. Diese Zusammenhänge werden mittels eines ersten Perspektivwechsels von den bildungsmigrierenden chinesisch-malaysischen Akteurinnen auf die Bildungs(-migrations-)wege von muslimischen Malaiisch-Malaysierinnen verdeutlicht. Das folgende Kapitel 5 Lokale Geschlechterdiskurse dient als Hintergrundkapitel für die empirischen Analysen des Kapitels 6 Bildungsmigration als Aneignung und Distinktion. Ich verlasse in Kapitel 6 die Familienebene, um die aktiven Handlungsstrategien der Bildungsmigrantinnen fernab familiärer Bindungen zu fokussieren. Dabei widme ich mich gesellschaftspolitischen Geschlechterdiskursen, mit denen sich die chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen aktiv auseinandersetzten, um heterogen ihre Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Um sich als Frau weitergehend entfalten zu können, eigneten sich die Akteurinnen auf unterschiedliche Arten nationale Diskurse zum Familienbild, zu heterosexuellem Begehren und romantischer Liebe sowie zu Körperlichkeiten an. Gleichzeitig grenzten sich die Akteurinnen von entsprechenden Geschlechterordnungen in Malaysia ab. Die Themen und Zuschreibungen der chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen werden jeweils mit Perspektiven von malaiisch-malaysischen Studentinnen auf denselben Sachverhalt in Beziehung gesetzt. In diesem Kapitel wird der Fokus der wechselseitigen Beziehungen zwischen Geschlecht und Bildungsmigration verschoben: Es wird diskutiert, wie und mit welchen In-

42 | G ESCHLECHT UND B ILDUNGSMIGRATION

tentionen die Akteurinnen Lebensentwürfe und Weiblichkeitsbilder durch ihre Bildungsmigrationswege transformierten. Nach der Darstellung der grundsätzlichen Möglichkeiten von Bildungsmigrationsschritten nach Singapur sowohl im Sinne von ermöglichenden Ressourcen wie auch im Sinne von möglichen Transformationen von Weiblichkeitsvorstellungen werden in Kapitel 7 Grenzen weiblicher Transformationen erläutert. So wird deutlich, dass die in Kapitel 6 vorgestellten erweiterten Handlungsoptionen durch die Bildungsmigration nach Singapur nicht als unbegrenzte Möglichkeiten für junge Frauen missverstanden werden sollten. Sowohl die Klassenzugehörigkeit als auch die historische Situation, verkörpert in einer differenten Generationenzugehörigkeit, erschwerten die Transformationen von Handlungsoptionen und Identifizierungen im Kontext von Geschlecht und Bildungsmigration. In Kapitel 8 resümiere ich die Ergebnisse meiner Forschung.

2. Analyserahmen

Wie lässt sich Geschlecht als strukturgebende Kategorie von Bildungsmigrationsschritten, die mit Ethnizität, Klasse, Religion und Modernität verwoben ist, analytisch erfassen? Es bedarf eines multidimensionalen Analyserahmens, den ich auf Grundlage des Analysemodells Gendered Geographies of Power (Mahler/Pessar 2006, 2001) und der Strukturierungstheorie nach Anthony Giddens (1984) erarbeite.

2.1 G RUNDLAGENMODELL : G ENDERED G EOGRAPHIES OF P OWER Die US-amerikanischen Ethnologinnen Sarah Mahler und Patricia Pessar (2006, 2001) bieten mit ihrem Analyserahmen Gendered Geographies of Power ein Modell, um Geschlecht als konstitutives Element von Migration auf verschiedenen sozioräumlichen Achsen zu untersuchen. Diese Achsen gestalten sich vom körperlichen über den familiären bis hin zum nationalstaatlichen und schließlich globalen Raum. Die Kategorie Geschlecht verstehen sie dabei als wirkungsmächtig mit anderen Strukturen der Differenz wie Ethnizität, Klasse, Sexualität oder Nationalität verschränkt. Mit ihrem Konzept können Kontinuitäten und Brüche von Geschlechterideologien und -praxen über kulturelle Räume und Nationalstaaten hinweg begriffen werden. Es geht über die alleinige Betrachtung von Geschlechterdifferenzen in Migrationskontexten hinaus. „[…] ‘[G]endered geographies of power’ is a framework for analyzing people’s social agency – corporal and cognitive – given their own initiative as well as their positioning within multiple hierarchies of power operative within and across many terrains“ (Mahler/Pessar 2001:447). Mahler und Pessar (2006:42f., 2001:445-455) konzeptualisieren ihr Modell Gendered Geographies of Power mit drei Elementen:

44 | G ESCHLECHT UND B ILDUNGSMIGRATION • geographic scales: bezeichnen, dass Geschlechterverhältnisse in transnationa-

len Räumen auf der körperlichen, familiären, staatlichen oder globalen Ebene verhandelt werden. Die einzelnen Geschlechterebenen müssen im Sinne Mahlers und Pessars als miteinander verschränkt verstanden werden. Beispielsweise beeinflussen nationale Geschlechterpolitiken die Geschlechterkonstellationen auf der Familienebene ebenso wie Letztere von Ersteren beeinflusst werden. • social location: bezieht sich auf soziale Positionierungen von Subjekten in multiplen, miteinander verknüpften Differenzsystemen wie Geschlecht, Ethnizität, Klasse, Sexualität und Nationalität. Menschen positionieren sich in ihrer Verwandtschaft, ihrer Geschichte und der gesellschaftspolitischen Struktur und werden von außen positioniert. Die Differenzsysteme werden im Sinne der social location nicht statisch, sondern als veränderbare Positionierungen gedacht. • agency und power geometry: Agency bezeichnet subjektive Handlungsmöglichkeiten, die im Kontext der Gendered Geographies of Power entwickelt werden können. Mit dem Prinzip der Machtgeometrie („power geometry“) nach Doreen Massey, auf die sich Mahler und Pessar an dieser Stelle beziehen, können AkteurInnen ihre sozialen Positionierungen für ihre Bedürfnisse mehr oder weniger gut einsetzen. Nach Mahler und Pessar ist das Einsetzen der agency abhängig von der Kognition, also der Vorstellungs- und Interpretationskraft von AkteurInnen, die durch eigene Erfahrungen geprägt sind. So ist die Erweiterung oder Einschränkung der eigenen Handlungsmöglichkeiten, der agency, nicht nur abhängig von strukturellen Faktoren, sondern auch von den persönlichen Fähigkeiten und Charakteristika der Individuen und verweist damit auf die subjektive Gestaltungskraft der AkteurInnen. Am Analysemodell Gendered Geographies of Power überzeugt, dass bei konkreten AkteurInnen angesetzt wird und gleichzeitig geschlechterbezogene staatliche und gesellschaftliche Regelsysteme als relevant angesehen werden können. So ist es möglich, AkteurInnen mit ihren gesellschaftlichen Positionierungen, die über nationalstaatliche Grenzen hinausgehen, zu fassen und ihre Ideen und Praxen zu untersuchen. Ich entlehne von diesem Modell die gesellschaftlich positionierte und reflektierte Handlungsfähigkeit von Subjekten, die unter Bezugnahme auf Geschlecht auf verschiedenen Ebenen im migrationsbezogenen bzw. transnationalen Raum untersucht werden kann. Mahler und Pessar entwickelten ihr Modell ausschließlich basierend auf der Auswertung von Sekundärliteratur. Sobald Gendered Geographies of Power mit

A NALYSERAHMEN

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Datenmaterial konkrete Anwendung findet, verändert es sich und bedarf einer Anpassung (vgl. Mahler/Chaudhuri 2014; Chaudhuri/Thimm/Mahler in press).1

2.2 T HEORETISCHE P ERSPEKTIVE : S TRUKTUREN S TRUKTURIERUNG

UND

Das Modell von Mahler und Pessar kann für meine Studie in einigen Punkten expliziter formuliert werden. Denn mit dem Modell können strukturelle und institutionalisierte Praktiken von Migration, die über geschlechterbezogene Prozesse hinausgehen, nicht hinreichend erfasst werden. Institutionalisierte ethnisierte Prozesse etwa, die gleichfalls bedeutsam für die Analyse von Migration und Geschlecht im regionalen Kontext sind wie die geschlechtsspezifischen strukturellen Praktiken, müssen eine größere Beachtung finden. In Anlehnung an Anthony Giddens (1984), der mit seiner Strukturierungstheorie Struktur und Handeln als wesentlich für ein Verständnis von Gesellschaften erachtet, werden in der vorliegenden Studie sowohl subjektives Handeln als auch gesellschaftliche Strukturen als analytischer Rahmen zur Erfassung von Geschlecht und Migration begriffen, ohne dabei das eine auf das andere zu reduzieren. Es handelt sich bei gesellschaftlichen Strukturen und beim Handeln einzelner Individuen um miteinander verschränkte und gleichsam ausschlaggebende Elemente, die in Wechselwirkung zueinander stehen (Giddens 1984:2). Strukturen bilden die Grundlage für soziale Handlungspraxen und sind gleichzeitig Ergebnis derselben. Giddens betrachtet gesellschaftliche Strukturen als Regeln und Ressourcen, die ein organisiertes Bündel darstellen und sich schlussendlich in Macht und Herrschaft materialisieren. Die Strukturen werden von sozialen AkteurInnen in ihren alltäglichen Handlungen (re-)produziert, indem sie nach festen Regeln und auf Grundlage ihrer Ressourcen handeln (Giddens 1984:17-23). In Mahlers und Pessars Modell Gendered Geographies of Power sind strukturelle Praktiken partiell in den geographic scales und der social location impliziert. In den geographic scales sind sie Teil der staatlichen Ebene. Die geographical scales beziehen sich allerdings ausschließlich auf die Ideologien und Pra-

1

Bisher gibt es drei weitere Monographien, in denen Gendered Geographies of Power Anwendung und gleichzeitige Erweiterung findet (Chaudhuri 2014; Chrostowsky 2013; Cogua-Lopez 2010). Ich danke an dieser Stelle Mayurakshi Chaudhuri für die ausführlichen Diskussionen über die Nutzung von Gendered Geographies of Power auf der Konferenz der American Anthropological Association im November 2013.

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xen von Geschlecht, die auf den verschiedenen social scales wirkmächtig sind. Andere Kategorien, wie Ethnizität oder Klasse, werden hingegen mit der social location thematisiert. Die soziale Positionierung beschreibt allerdings vornehmlich eine subjektive oder individuelle Ebene. Der Analyserahmen Gendered Geographies of Power reduziert in diesem Sinne Struktur zu sehr auf das Handeln. In einer intensiven Diskussion mit Sarah Mahler über Gendered Geographies of Power2 hat sie bekräftigt, dass sie und Patricia Pessar mit dem Teilbereich der social location deutlich machen wollen, dass Herrschaftsverhältnisse immer verkörpert und dadurch subjektiv erfahrbar seien. Sie betont, dass Subjekte ihre sozialen Positionierungen immer selbst herstellen und gestalten. Auch strukturelle und institutionelle Mechanismen seien etwas Praktiziertes und keine Entitäten. Die sozialen Handlungen seien der wesentliche Schlüssel zum Verständnis von gesellschaftlichen Phänomenen, deshalb sollten Handlungspraktiken in der Analyse fokussiert werden. Herrschaftsverhältnisse seien in der social location mit eingeschlossen und strukturelle Praktiken müssten deshalb nicht expliziert werden. Um die komplexen Zusammenhänge von Geschlecht und Migration im lokalen Kontext Malaysias und Singapurs verstehen zu können, muss strukturelle Diskriminierung allerdings expliziterer Teil der Analyse werden. Strukturelle Diskriminierung bezeichnet, dass gesellschaftliche Gruppen systematisch diskriminiert werden und sich dies in der Struktur der Gesamtgesellschaft widerspiegelt. Strukturelle Diskriminierung basiert auf gewachsenen und dauerhaften Praktiken, die in der Regel formalisiert und institutionalisiert sind. Ich möchte das Modell Gendered Geographies of Power von Mahler und Pessar um diese strukturellen und institutionalisierten Praktiken, die systematisch Ein- und Ausschlüsse produzieren, erweitern.

2.3 G ENDERED P OWER H IERARCHIES S PACE AND T IME

IN

Mein erweitertes Analysemodell Gendered Power Hierarchies in Space and Time setze ich aus fünf Elementen zusammen. Die ersten vier entlehne ich Mahler

2

Ich danke Sarah Mahler für die wertvolle Diskussion über ihren Analyserahmen und für ihre Kommentare zu meinen entsprechenden Erweiterungen während eines persönlichen Gesprächs im Januar 2013, per E-Mail im August 2013 und auf der Konferenz der American Anthropological Association im November 2013.

A NALYSERAHMEN

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und Pessar, das fünfte Element füge ich nach Giddens’ theoretischer Herangehensweise den Überlegungen Mahlers und Pessars hinzu: • gender: Geschlecht bildet in meinem Analyserahmen weiterhin die zentrale









Analysekategorie. Ich untersuche die geschlechtlich normierten Aushandlungsprozesse auf körperlicher, familiärer, gesellschaftlicher, staatlicher und globaler Ebene, wie mit den geographic scales von Mahler und Pessar vorgeschlagen. space: Auch die geographischen Räume sind nach wie vor Teil des Analyserahmens angesichts der transnationalen Migration. In Gendered Geographies of Power ist der räumliche Aspekt Teil der vergeschlechtlichten Ebenen, die in einem transnationalen Raum wirkmächtig sind. Er ist in Mahlers und Pessars Modell ebenso Teil der subjektiven Handlungen, die MigrantInnen über nationalstaatliche Grenzen hinaus praktizieren. time: Räumlichkeit kann nur zeitlich gedacht werden. Somit ist die Zeit der Räumlichkeit inhärent (vgl. Schlögel 2003). Mit diesem Verständnis ist der zeitliche Aspekt bzw. eine Prozesshaftigkeit auch in Mahlers und Pessars Modell enthalten. Da Mahler und Pessar diese Dimension nicht weiter ausführen, möchte ich explizieren, dass der zeitliche Faktor auf den fortschreitenden Charakter von Aushandlungsprozessen verweist. Sowohl gesellschaftspolitische Prozesse als auch das Alter eines Subjekts, verkörpert in der Generationenzugehörigkeit, verändern sich. Je nach Zeit und Raum transformieren sich Machtgefüge, Handlungsoptionen und Imaginationen. Mit den lebensgeschichtlichen Erzählungen meiner Gesprächspartnerinnen betrachte ich einen bestimmten Ausschnitt aus der zeitlichen Dimension. agency: Die gesellschaftlichen Positionierungen mit entsprechenden Handlungsmöglich- und -unmöglichkeiten behalte ich von Mahler und Pessar als wesentliche Elemente für die Aushandlung von geschlechtlich codierten Migrationsschritten bei. power hierarchies: Ich füge dem Analysemodell mit den strukturgebenden Praktiken bzgl. Bildung, Ethnizität, Klasse, Religion und Modernität einen weiteren Aspekt hinzu. Diese Differenzsysteme, die sich strukturell in einer Gesellschaft auswirken, müssen eine größere Aufmerksamkeit erfahren und nicht lediglich unter der staatlichen Ebene der geographic scales und unter der social location als gesellschaftliche Positionierungen subsumiert werden, wie Mahler und Pessar es vorschlagen. Die Möglichkeiten und Grenzen von Handlungen auf Grundlage der sozialen Positionierung werden erst schlüssig, wenn die strukturellen Mechanismen, die auf die soziale Positionierung zielen, explizit mit erörtert werden. Denn erst durch ein Agieren aus der sozialen Positionierung heraus funktioniert die soziale Positionierung

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als eine Zuweisung der Stellung in der Gesellschaft. Das Agieren braucht daher ein Wechselverhältnis zu institutionalisierten Praktiken, die Ein- und Ausschlüsse auf Grundlage der sozialen Positionierung und der damit verbundenen Möglichkeit zum Handeln erst produzieren. Im nächsten Abschnitt werde ich diese Skizzierungen des Analyserahmens Gendered Power Hierarchies in Space and Time detaillierter erläutern und mit meinen theoretischen Herangehensweisen an die einzelnen Kategorien verknüpfen. Ich beginne mit Geschlecht als zentraler Analysekategorie meiner Arbeit. Im Sinne der Gendered Power Hierarchies werden daran anschließend die gesellschaftlichen Kategorien und Praktiken diskutiert, die sich in Machthierarchien materialisieren und immer als vergeschlechtlicht zu denken sind. Die Power Hierarchies werden mit ,Bildung‘ eingeleitet, da diese Kategorie die bisherige Forschungslücke zu Geschlecht und Migration schließt und damit in der vorliegenden Studie an Zentralität erfährt. Es wird anschließend herausgearbeitet, wie Bildung mit allen weiteren Analysekategorien der Power Hierarchies verwoben ist. Die Erläuterungen zum Analyserahmen werden mit den Kategorien ,Raum und Zeit‘ abgeschlossen, die sich aus dem Prozess der Migration ergeben. Geschlecht und Migration bilden im Sinne der übergeordneten Fachdebatten meiner Arbeit die Klammer des Analyserahmens. 2.3.1 Geschlecht Geschlecht begreife ich sowohl als Struktur- als auch als Prozesskategorie. Geschlecht fungiert in der vorliegenden Studie als zentrale Analysekategorie, um die lokalen Machtverhältnisse strukturiert zu untersuchen. Diese Machtverhältnisse werden von unterschiedlichen AkteurInnen auf körperlicher, familiärer, gesellschaftlicher, staatlicher und globaler Ebene auf vielfältige Weisen verhandelt. Meine Untersuchung basiert auf der konstruktivistischen Herangehensweise der ethnologischen Geschlechterforschung, die nach den radikalen Einflüssen Judith Butlers (1993, 1990) Geschlecht als kulturell und sozial konstituierte und konstruierte Kategorie betrachtet. Butler analysiert die Kategorie Geschlecht und die damit verbundenen Dimensionen Materialität, Macht und Gewalt im Sinne des linguistic turn primär geknüpft an sprachliche Dimensionen. Sie analysiert, wie Körper und damit körperliche Materialität durch machtvolle Diskurse, die sich bspw. in performativen Sprechakten konkretisieren, hergestellt und geformt werden. Mit Bezug auf Foucaults Verständnis von Subjekten, die stets einer (Selbst-)Disziplinierung durch diskursiv erzeugtes Wissen ausgesetzt sind (vgl. Foucault 2008, 1994, 1977), verweist Butler darauf, dass vergeschlechtlichte

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Identifizierungen innerhalb eines patrilinearen, zweigeschlechtlichen und heteronormativen Systems immer wieder hervorgebracht und kontrolliert werden. So erlangt sie zu der Erkenntnis, dass auch ,sex‘, das sogenannte ,biologische Geschlecht‘, als diskursiv erzeugt zu verstehen ist. Das vermeintlich biologische Geschlecht löst sich im sozialen Geschlecht auf (Butler 1990:6f.). Das naturalisierte, als biologisch begründet angesehene Geschlecht ist demzufolge nicht die prädiskursive Grundlage des sozialen Geschlechts, sondern immer Teil dessen. Eine genaue Trennung zwischen diesen beiden Konzepten ist nicht möglich. ,Natur‘ wird mit diesem Verständnis nicht ausgeklammert, sondern als soziale und kulturelle Deutung analysiert. Die Kategorie Geschlecht verändert sich in unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Kontexten. Zuschreibungen, Erwartungen und Wertvorstellungen führen zu einer Annahme darüber, wie Weiblichkeit und Männlichkeit normiert und codiert werden können. Pierre Bourdieu (1987) macht mit seinem Habitus-Konzept darauf aufmerksam, dass diese Normierungen und Codierungen immer als verkörpert zu betrachten sind. Der Habitus ist von der sozialen und kulturellen Klassifizierung von Geschlecht geprägt, Geschlecht wird dem Körper einverleibt. Diese inkorporierten Machtstrukturen müssen von den Subjekten gleichzeitig immer wieder angewendet werden. Die Prozesse der Verkörperungen von Geschlecht, aber auch Foucaults (vgl. 2008) dynamischer Machtbegriff, der gleichsam auf zwischenmenschliche und institutionelle Relationen ausgelegt ist, verweisen darauf, dass die Aushandlung von Geschlecht zwar als normierte und (selbst-)disziplinierte Akte zu verstehen sind, aber immer auch Prozesse von Aneignung, Handlungsmacht und Selbstentwürfen von konkreten AkteurInnen sind. Die kontinuierliche Herstellung von Geschlecht bringt in westlichen sowie denjenigen gesellschaftlichen Kontexten, in denen sich die malaysischen Bildungsmigrantinnen bewegten, nicht nur ein bipolares System der Zweigeschlechtlichkeit hervor bzw. bestätigt es. Gleichzeitig wird ,Geschlecht‘ überhaupt als unumstößliches Prinzip angesehen. Die geschlechtlich normierten Identifizierungen werden von anderen Differenzsystemen, insbesondere von ethnischen, klassenspezifischen, religiösen und sprachlichen Zugehörigkeiten, quergeschnitten. Je nach vergeschlechtlichter Verhandlungsebene werden sie von den Akteurinnen mit unterschiedlichen Motiven versehen und als unterschiedliche Ressourcen gebraucht. Diese kollektiven Identitätsformulierungen werden über geteilte Bedeutungen und Praktiken hergestellt. Sie sind davon abhängig, wofür oder wogegen sie formuliert werden und gehen als Praxis der Differenz mit Inklusion und Exklusion einher (vgl. Jenkins 1997), wie es Phin Keong Voon (2006) für den malaysischen und Chua

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Beng Huat (1998) für den singapurischen Kontext beschreiben. Zuordnungen und Abgrenzungen äußern sich in binären Zuschreibungen zwischen ,uns‘ und ,Anderen‘. Die vorliegende Arbeit fokussiert das Werden von kollektiven Identifizierungen und zielt damit auf historische Erfahrungen und Aneignungen von Geschichte. Ich frage danach, wie Mitglieder einer Gruppe aktiv Aneignungen und Abgrenzungen wählen. Deshalb ist der Begriff der Identifizierung hilfreicher als ein auf Kohärenz verweisender Begriff der Identität (vgl. Brubaker/Cooper 2000). Im Zentrum der nachfolgenden Ausführungen steht zuerst, wie Bildung als weitere zentrale Analysekategorie dieser Arbeit im lokalen Kontext definiert wird. Anschließend wird erläutert, wie diese Kategorie mit den querschneidenden Differenzsystemen Ethnizität, Klasse, Religion und Modernität verbunden ist. 2.3.2 Machthierarchien Bildung In Malaysia und Singapur wird ,Bildung‘ im Kontext von Bildungsmigration als institutionalisierte Ausbildung verstanden. Diese ist in Malaysia und Singapur vornehmlich neoliberal ausgerichtet. Die Neoliberalität im Bildungsbereich, wie sie Molly N.N. Lee (2004, 2002) für den malaysischen und Lee Sing Kong et al. (2008) für den singapurischen Kontext darlegen, fußt auf europäischen Konzepten. In Europa zielte Bildung einst auf die persönliche Entwicklung von Subjekten im Sinne einer selbstgeleiteten, reflektierten Aneignung der eigenen Umwelt. Dies traf zumindest für die Eliten zu, nicht aber für die Arbeiter- und Handwerkerkinder in den Volksschulen. Bildung wurde für die höheren Klassen auf emanzipative Selbstbestimmung und Selbstermächtigung der Individuen ausgerichtet (Pongratz 2010:242). Durch die Prozesse des Neoliberalismus wird Bildung vielmehr zur Ware und damit immer verdinglichter. So „[entsteht] der neue flexible Wissenstyp [..], der sich als ,Unternehmer seiner Arbeitskraft‘ im Regime flexibler Akkumulation durchzusetzen weiß“ (Merkens 2002:7). Nach diesem Prinzip lernen Menschen von der Schule bis zur Universität, einen eigenen Marktwert aufzubauen und sich mit diesem Marktwert dann in der Arbeitswelt zu bewegen und zu verkaufen. Damit ökonomisieren sie stetig ihre lern- und lehrspezifischen Handlungen (Merkens 2002:7). Diese neoliberalen Prinzipien im Bildungsbereich haben sich in Malaysia und Singapur mehr und mehr durchgesetzt, wobei immer auch andere Aspekte bei der Ausrichtung der Bildungssysteme eine Rolle gespielt haben. Seit der Un-

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abhängigkeit legten die postkolonialen Regierungen Wert darauf, lokale AkademikerInnen, qualifizierte Arbeitskräfte und BeamtInnen auszubilden. Die jungen Staaten befügelten durch die eigens ausgebildete Elite einen Nationalismus, wobei besonders in Malaysia der positive Bezug auf die ,Malayness‘ durch das Bildungssystem gestützt werden konnte. Das gegenwärtige staatliche malaysische, das staatliche singapurische sowie das private chinesisch-malaysische Ausbildungssystem sollten auf Grund der Komplexität der Strategien, die darin zum Ausdruck kommen, im Kontext lokaler Verständnisweisen von muslimischmalaiischer und chinesisch-konfuzianischer Bildung erfasst werden. In Malaysia konkurriert das neoliberale Bildungsideal mit der Philosophie getrenntgeschlechtlicher muslimischer Ausbildung, welche die persönliche religiöse Entwicklung – von Jungen und Männern – in den Mittelpunkt rückt: „The themes [of Islamic Education] are religiosity – God-conscious men having good characters – and intellectualism – putting knowledge to use in the service of God“ (Rosnani 1996:87). Muslimische Ausbildung wird als sozialisierender Prozess angesehen, der Religion als Kernstück mittels Koran-, Sunnah- und Geschichtsstudien mit Arabisch als Unterrichtssprache definiert: „These [islamic] educational institutions had a common goal of producing virtuous Muslims who would obey the religious commandments and be useful to society“ (Rosnani 1996:5). Die Verantwortung über das muslimische Ausbildungssystem liegt in Malaysia in der Hand der Religionsministerien der Bundesländer (Rosnani 1996:5) und genießt damit staatlicherseits keine Priorität. Dennoch wird die staatliche säkulare Bildung, wie sie von der muslimischen malaiisch-dominierten Regierung umgesetzt wird, nicht völlig vom Glauben getrennt (Mir/Salma 2007:89). Das gegenwärtige neoliberale Bildungsideal im chinesisch dominierten Singapur wie auch das der malaysischen Chinese Independent Schools stehen gleichzeitig im Kontext lokaler konfuzianischer Erziehung. Besonders in Singapur, wo die ökonomisch ausgerichtete, neoliberale Ausbildung mit EliteColleges und -Universitäten erfolgreich umgesetzt wird, steht diese Orientierung der eigentlichen konfuzianischen Perspektive entgegen, Bildung für die persönliche Entwicklung zu nutzen: Bildung soll nach konfuzianischem Prinzip zum moralischen Aufbau des Individuums genutzt werden, das dadurch gesellschaftliche Normen internalisiert (Zürcher 1989:19). Bildung wird als der Dreh- und Angelpunkt für persönlichen – männlichen – Erfolg angesehen (Göransson 2010:119). Dieser Zusammenhang wird durch das idealtypische Bild des junzi – des moralisch perfekten, gerechten und kultivierten männlichen Chinesen – verkörpert (Chan S.-Y. 2008:153f.).

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Die singapurische Bildungspolitik ist darüber hinaus an der konfuzianischen Maßgabe orientiert, Nationalbewusstsein mittels Erziehung zu stärken. Auf Grundlage der konfuzianischen Bildung sollen die SchülerInnen lernen, Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. Idealerweise sollen aus der oberen gesellschaftlichen Klasse Persönlichkeiten ausgebildet werden, die Vorbilder für die Gesellschaft werden können. Auf diese Weise sollen Führungspersonen geschaffen werden. So wird den BürgerInnen Loyalität gegenüber dem Staat gelehrt, was analog zu der konfuzianischen kindlichen Ergebenheit gegenüber den Eltern (filial piety) gesehen wird (Ong 2005:163). Die singapurische Bildungspolitik, die auf die Herausbildung von leistungsfähigen Subjekten zur ökonomischen Weiterentwicklung des Staates zielt, knüpft mit ihrer neoliberalen Ausrichtung direkt an die Prinzipien konfuzianischer Erziehung an. Wie verwebt sich Bildung intersektional mit Prozessen der sozialen Differenzierung, die In- und Exklusionen hervorbringen, die für die Bildungsmigration von Malaysierinnen nach Singapur bedeutsam sind? Ethnizität Ethnizität stellt in Malaysia und Singapur eine zentrale Differenzkategorie dar, anhand derer im Zusammenhang mit Bildung politische Prozesse gestaltet werden. Im Rahmen der New Economic Policy (NEP) wurden in Malaysia 1971 ethnisch basierte Quoten für die Immatrikulation an den staatlichen malaysischen Universitäten eingeführt. 3 Mithilfe der NEP sollte der malaiisch-malaysischen Bevölkerung mehr Chancen im Bildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt eröffnet werden (Norani 1998:173) mit dem Ziel, diese sozial und ökonomisch zu stärken. Durch die Quoten zählt nicht unbedingt die Schulabschlussnote für die

3

Im Jahr 2002 wurden die Quotierungen offiziell vorübergehend abgeschafft und stattdessen ein sogenannter ,leistungsabhängiger‘ Zugang zu den Universitäten eingeführt (Lee, M. 2004:14n.5). Praktisch verschärfte sich das ethnizitätsbasierte Mehrheitsverhältnis an den Universitäten jedoch: 69 % der Bumiputeras (wörtl. Kinder der Erde) – das sind die Malaiisch-MalaysierInnen und Indigenen (vgl. Kap. 3.2.3) – erhielten in jenem Jahr eine Studienplatzzusage im Gegensatz zu zuvor 55 % der Bumiputeras, von den Chinesisch-MalaysierInnen erhielten 26 % und von den IndischMalaysierInnen 5 % die entsprechende Zusage (Lee, M. 2004:58). Es ist kritisch anzumerken, dass von den Bumiputeras überwiegend Malaiisch-MalaysierInnen die Studienplätze erhalten. Die Indigenen dienen der malaysischen Regierung lediglich dazu, ihre eigene Bevölkerungsgruppe durch das Konzept der Bumiputeras zu vergrößern und damit zu mehr Einfluss zu verhelfen. In der Praxis genießen sie nicht dieselben Vorteile.

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Hochschulzugangsberechtigung, sondern in erster Linie die ethnische Zugehörigkeit zur malaiisch-malaysischen Bevölkerungsgruppe (Chong 2005:50).4 Während die ethnisch geprägten Bildungspolitiken in Malaysia strukturell diskriminierend Ausschlüsse für die chinesische Bevölkerung produzieren, wird diese Bevölkerungsgruppe in Singapur in den Bildungsbereich explizit eingeschlossen. Großzügige Stipendienprogramme der singapurischen Regierung zielen v. a. auf die chinesische Bevölkerung aus dem Ausland, um zum einen die gesunkene Geburtenrate der singapurischen Bevölkerung auszugleichen und zum anderen die chinesische Mehrheitsgesellschaft aufrechtzuerhalten (Lee G.K. 2003:229).5 ,Ethnizität‘ beschreibt keine bestimmten Eigenschaften von Menschengruppen, sondern ein relationales, fluides, aber machtdurchdrungenes Verhältnis – wie es Frederik Holst (2012) anhand des malaysischen und Goh, D. et al. (2009) anhand des malaysischen und singapurischen Kontexts erörtern. Andre Gingrich erläutert, dass „Ethnizität [..] das jeweilige Verhältnis zwischen zwei oder mehreren Gruppen [bezeichnet], unter denen die Auffassung vorherrscht, dass sie sich kulturell voneinander in wichtigen Fragen unterscheiden“ (2008:102).

Kultur wird so durch entsprechende Abgrenzungsprozesse zur Konstituierung von ethnischer Identifizierung eingesetzt. Das Verhältnis zwischen Ethnizität und Kultur spitzt Andreas Wimmer (1996) mit seinem Konzept des „kulturellen Kompromisses“ zu. Ein „kultureller Kompromiss“ wird dann geschaffen, wenn sämtliche AkteurInnen, die in einer Arena miteinander agieren, ihre langfristigen Interessen in einer gemeinsamen Symbolik formulieren können. Durch diesen Prozess wird vereinbart, wer Teil dieses gemeinsamen Kompromisses sein kann und wer außerhalb situiert wird – wie bspw. entlang der ethnisch segregierenden Bildungspolitiken in Malaysia zu erkennen ist. „Wenn diese Distinktionspraxis zum Kernelement eines Wir-Gefühls einer Gruppe wird und sie sich als historische Abstammungsgemeinschaft versteht, also als Menschen gleicher Kultur oder Herkunft, sprechen wir […] von Ethnien“ (Wimmer 1996:413).

Wie lokale Gruppen ,Kultur‘ für (ethnische) Selbstbildungsprozesse einsetzen, ist aus ethnologischer Perspektive kritisch zu hinterfragen. Als Ethnologin untersuche ich keine ,Kulturen‘, sondern aus einer konstruktivistischen Perspektive 4

Vgl. die ausführlichen Erläuterungen hierzu in Kap. 3.3.2.

5

Vgl. die ausführlichen Erläuterungen hierzu in Kap. 3.3.4.

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Erzeugungen von Kultur. Somit verstehe ich ,Kultur‘ als analytische Kategorie, als eine Perspektive, unter der gesellschaftliche Prozesse untersucht werden. Die kulturkonstruktivistische Perspektive untersucht, was lokale AkteurInnen in sozialen Beziehungen situativ mit ihren spezifischen Positionierungen aufgrund von Geschlecht, Klasse usw. mit Bedeutung versehen und wie sie dies tun (vgl. Hall 1997). So wird die Bedeutung der sozialen Beziehungen in einer prozessualen Perspektive in den Blick gerückt, wobei sich gewisse Regelmäßigkeiten als kulturelle Prozesse entfalten. Mit diesen Herangehensweisen gehe ich von einem translatorischen Kulturbegriff aus, der Macht und Machtdifferenzen fokussiert (vgl. Bachmann-Medick 2009). Mit den verschränkten Differenzsystemen ,Ethnizität‘ und ,Bildung‘ ist das der ,Klasse‘ verbunden. Klasse Die Verbindung der Kategorien ,Ethnizität‘ und ,Klasse‘ zeigt sich angesichts der Stärkung von entsprechenden ethnisch geprägten Mittelklassen durch die ethnisch exklusiven (Bildungs-)Politiken in Malaysia und Singapur. Durch die NEP-Politik entwickelte sich in den 1970er Jahren die ,neue‘ malaysische Mittelklasse. Diese ,neue‘ Mittelklasse konstituiert sich maßgeblich über ihre Anstellungen an staatlichen Institutionen, basierend auf staatlicher höherer Ausbildung (Thompson, M. 2001:3). Die NEP-Politik führte zu erweiterten urbanen Bildungs- und Arbeitsmarktzugängen, die die wirtschaftliche Macht der malaiisch-malaysischen Bevölkerung stärken sollte. Die ,neue‘ malaysische Mittelklasse konstituiert sich deshalb vornehmlich aus der malaiischen Bevölkerung.6 Diese Entwicklung ist in der sozialwissenschaftlichen Literatur hinlänglich diskutiert worden (z. B. Abdul Rahman 2001; Saravanamuttu 2001; Thompson M. 2001; Kahn 1991). Neben der ,neuen‘ gibt es in Malaysia die ,alte Mittelklasse‘, die sich aus selbstständigen, privaten Unternehmern konstituiert (Thompson, M. 2001:3). Die Subjekte dieser Klasse sind eher der chinesisch-malaysischen Bevölkerung zuzurechnen, denen durch koloniale Handelsbeziehungen ökonomischer Aufstieg gelungen war (Syed 2008:74). Mittlerweile erfolgt die Reproduktion der ,alten Mittelklasse‘ strukturell über Bildung, ähnlich wie die der ,neuen Mittelklasse‘. Einschlüsse in und Ausschlüsse aus der ,alten‘ oder ,neuen Mittelklasse‘, die mit Macht verbunden sind, basieren auf ethnischer Zugehörigkeit und dem Bildungsgrad. Die Mittelklasse in Singapur entwickelte sich maßgeblich auf Grundlage der staatlichen ökonomiegeleiteten und gleichzeitig repressiven Politiken seit An6

Vgl. die ausführlichen Erläuterungen hierzu in Kap. 3.3.1.

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fang der Post-Unabhängigkeitsphase. Die ökonomische Entwicklung Singapurs wurde mit einer autoritären Regierung legitimiert, bzw. die autoritäre Regierung mit dem ökonomischen Wachstum gerechtfertigt (Thompson, M. 2001:7). Die Ökonomie wird in Singapur v. a. über Firmen und Betriebe aufrechterhalten, in denen ein hoher Bildungsabschluss stets zum Kriterium einer Einstellung gehört. In der Konsequenz der entsprechenden Staatspolitiken ist gegenwärtig die Mehrheit der singapurischen Bevölkerung der Mittelklasse zugehörig, gemessen an materiellen und symbolischen Kriterien wie Einkommen und Ausbildung (Chong 2005:48-53).7 Das Verhältnis von Mittelklassezugehörigkeit und Bildung kann mit dem Klassenmodell von Pierre Bourdieu (1992, 1987) erfasst werden. Bourdieu analysierte zwar die französische Gesellschaft der 1960er Jahre. Mit seinen Herleitungen und Verschränkungen gesellschaftspolitischer Phänomene in ,modernen Gesellschaften‘ arbeitete er jedoch wesentliche Grundlagen für ein (Mittel)Klassenverständnis heraus, die für ,modernisierende‘ Regionen auch in anderen historischen und regionalen Situationen Bestand haben. Bourdieu teilt Gesellschaften in drei Klassen ein. Diese basieren auf den Kapitalarten ,ökonomisches Kapital‘ (Besitz, Vermögen, Einkommen und Eigentumsrechte), ,kulturelles Kapital‘ (Bildung), ,soziales Kapital‘ (Soziale Netzwerke und Beziehungen) und ,symbolisches Kapital‘ (Prestige, erlangt vor dem Hintergrund des Verfügens über die anderen Kapitalarten). Die Klassen einer Gesellschaft gründen sich auf der Zusammensetzung der erschöpfbaren materiellen und immateriellen Güter sowie Machtpositionen, die auf der vollständigen Verwendung von ökonomischem, kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital beruhen. Nach diesen und anderen Merkmalen kann eine kapitalistische Gesellschaft in die drei Klassen ,herrschende‘, ,beherrschte oder Arbeiterklasse‘ und ,Mittelklasse‘ eingeteilt werden (Bourdieu 1992, 1987). Die Mittelklasse teilt auch Bourdieu in ,neue‘ und ,alte‘ ein. Mit der ,alten‘ Mittelklasse meint er kleine Kaufleute und Handwerker. Deren Reproduktion hängt primär von ihrem ökonomischen Kapital ab. Für die vorliegende Studie bedeutsamer ist Bourdieus Konzept der ,neuen‘ Mittelklasse, deren Subjekte meist den neuen Dienstleistungs- und Informationsberufen angehören. Die Reproduktion dieser Klasse verläuft gemäß Bourdieu über das kulturelle Kapital, also Bildung. Diese Reproduktion über Bildung leitet er mit einer größeren Konkurrenz um Schulabschlüsse im Frankreich der 1960er Jahre her. Die Konkurrenz entwickelte sich durch erhöhte SchülerInnenzahlen sowie veränderten Wechselbeziehungen zwischen akademischem Titel und beruflicher Position (Bourdieu 1987:221). Im Laufe der Zeit traten auch Subjekte solcher Klassen in 7

Vgl. die ausführlichen Erläuterungen hierzu in Kap. 3.3.3.

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das Bildungssystem ein, die zuvor nur in geringem Maße (höhere) Bildung genossen haben. Daraufhin investierten nun die Zugehörigen derjenigen Klassen, die bis dato ihre gesellschaftliche Position vornehmlich über ihren exklusiven Bildungsgrad aufrechterhielten, in verstärktem Maße in die eigene Ausbildung (Bourdieu 1987:222). Der Faktor Bildung und das Bildungssystem werden generell „zum vorrangigen Objekt in der Konkurrenz zwischen den Klassen [..], mit der weiteren Konsequenz sowohl eines generellen und steten Anstiegs der Nachfrage nach Bildung als auch der Inflation der Bildungsprädikate“ (Bourdieu 1987:222).

Um den eigenen Bildungsgrad als kulturelles Kapital gesellschaftlich kommunizieren und nutzbar machen zu können, bedarf es wiederum eines hohen Maßes an ökonomischem und sozialem Kapital (Bourdieu 1987:226). Diese Analyse Bourdieus ist insofern übertragbar auf die Entwicklungen in Malaysia, als dass erst ab den 1970er Jahren die malaiisch-malaysische Bevölkerung in verstärktem Maße in das (höhere) Bildungssystem eintrat. Vorher wurde Bildung im Zuge der britischen Kolonialisierung mithilfe von erhöhten materiellen Handelsressourcen eher von der chinesischen Bevölkerung erworben (von Kopp 2002:38f.). Mit der vermehrten Inanspruchnahme des höheren Bildungssystems durch die malaiisch-malaysische Bevölkerung investiert nun die ,alte‘, chinesisch geprägte Mittelklasse verstärkt in die eigene Ausbildung. Eine hohe Ausbildung, die in einer entsprechenden Klassenzugehörigkeit resultiert, ist ferner mit der Religionszugehörigkeit verwoben, die wiederum an Modernität gekoppelt ist. Religion und Modernität Aufgrund der Relevanz für die vorliegende Studie konzentriere ich mich in diesem Abschnitt auf den Islam und das Christentum. Im Sinne einer religiösen Praxis, die von gesellschaftlichen AkteurInnen stetig neu entworfen und geformt wird, gehe ich mit Gerd Baumanns (1999) Überlegungen zu Zusammenhängen zwischen Nation, Ethnizität und Religion in multikulturellen Gesellschaften8 von Religion als einer Differenzkategorie aus. Die Idee einer verdinglichten statischen Religiosität, wie sie häufig entworfen wird, weicht so der Möglichkeit, Religion in ihrer Verschränktheit mit anderen Kategorien der Differenz zu analysieren. Religion dient im Baumann’schen Verständnis religiösen Eliten oft dazu, sie zu instrumentalisieren um gesellschaftliche Auseinandersetzungen um Ethnizität oder Klasse zu verschleiern. 8

Vgl. Kap. 1.3.

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Besonders in Malaysia werden mithilfe des Islam allerdings sozialpolitische Konflikte offen geführt und geschürt, so dass eine Instrumentalisierung von Religion in eine gegenteilige Richtung verläuft. In Malaysia wird eine Essentialisierung des Islam durch die Propagierung als die ,einzige Religion der malaiischmalaysischen Bevölkerung‘ hergestellt. Dies manifestiert sich in der gesetzlichen Festschreibung dieser Religionszugehörigkeit für die entsprechende Bevölkerungsgruppe. Malaiischsein bedeutet in Malaysia Muslimischsein (Frith 2002). Die religiöse Zugehörigkeit bildet hier im direkten Zusammenhang mit der ethnischen Identifizierung das zentrale Moment der Gemeinschaftsbildung und führt damit zu Ausschlüssen der restlichen Bevölkerungsgruppen aus den mehrheitsgesellschaftlichen Diskursen und Praktiken. Dem triadischen Multikulturalismus-Konzept nach Gerd Baumann folgend befindet sich die Religion des Islam in Malaysia im Spannungsfeld zwischen Ethnizität und Nation. Mit diesem kontextualisierten Verständnis erhalten Religionshandeln und religiöse Glaubenssysteme nicht nur wegen einer spezifischen theologischen Ausrichtung ihre Bedeutung, sondern auch durch ihre Verschränkungen mit anderen machtvollen gesellschaftspolitischen Bedeutungssystemen (Lauser/Weißköppel 2008:17). Während Chinesisch- und Indisch-MalaysierInnen aus den religiösnationalistischen Diskursen ausgeschlossen werden, finden viele von ihnen ein Gemeinschaftsgefühl bei christlichen Gemeinden. Die religiöse Identifizierung dient im Zusammenhang mit Bildung als Distinktionsmerkmal dazu, Ein- und Ausschlüsse in ‚moderne‘ oder ‚traditionelle‘ Gemeinschaften zu produzieren: Viele Chinesisch-MalaysierInnen und -SingapurerInnen erachten die Religion des Christentums, verbunden mit einem hohen Bildungsgrad, als eine ,moderne‘ Lebensweise. Das Christentum9 wird von entsprechenden ChinesInnen in beiden Staaten durch seine Globalität bzw. ,Akulturalität‘ mit dieser modernen Identifizierung verbunden. Diese Globalität gründet sich auf vergangenen kolonialzeitlichen Missionierungen in allen Regionen der Erde (Chew 2008b:407; vgl. van der Veer 1995) und wird damit in Abgrenzung zur lokal ethnisch gebundenen Religion des Islam der malaiischen oder den Vermischungen von Buddhismus/Taoismus und Ahnenverehrung der chinesischen Bevölkerung (Göransson

9

In Malaysia waren im Jahr 2010 9,2 % der Gesamtbevölkerung dem Christentum zugehörig. In Kuala Lumpur lebten mit 4,8 % der entsprechenden Bevölkerung relativ viele ChristInnen. Unter der chinesisch-malaysischen Bevölkerung gehörten 11 % dem Christentum an (Department of Statistics, Malaysia 2010:9, 82, 96). In Singapur waren im Jahr 2010 18 % der Gesamtbevölkerung ChristInnen (Singapore Department of Statistics 2010a:13).

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2010:64) verstanden. 10 Die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung in beiden Staaten gehört diesen lokal genannten ,chinesischen Religionen‘ an.11 Diese chinesischen Religionen basieren gegenwärtig eher auf Praxen wie Tempelriten denn auf Schriftstücken wie das Christentum mit der Bibel. So ist das Abbrennen von Räucherwerk in Form von Stäbchen oder Spiralen ein deutliches Charakteristikum chinesischer Religionen. Der Rauch wird als Kommunikationsmittel mit (Ahnen-)Geistern und buddhistischen und taoistischen Gottheiten verstanden und von vielen ChristInnen als intuitive im Gegensatz zu rationalen und kohärenten Auseinandersetzungen angesehen (Göransson 2010:67) – und deshalb eher ,traditionellen‘ Handlungspraxen zugeschrieben. Der Faktor Bildung materialisiert sich innerhalb der lokalen, christlich basierten Modernitätsaspirationen durch eine Fokussierung auf Wort und Schrift: Im lokalen Christentum ist eine zunehmende Wertschätzung von Lesen sowie eine hohe Bedeutungszumessung an Schriftstücken wie der Bibel zu verzeichnen (DeBernardi 2001:126).12 Mit dieser Orientierung an formaler Bildung machen ChristInnen mit gut einem Drittel die größte Gruppe unter den HochschulabsolventInnen aus. Dieser christliche Anteil ist wiederum in erster Linie der chinesischen Bevölkerung zuzurechnen (Singapore Department of Statistics 2010a: 14ff.). Modernität verstehe ich als theoretisch-analytisches Konzept. Dieses Konzept nimmt Handlungen in den Blick, die sich auf Modernisierung beziehen, also auf die Einführung von Technologie, Industrie usw. (Hopwood 1998:2). Modernität bezeichnet Aneignungen und Abgrenzungen von veränderten Lebens- und Denkweisen sowie Artikulationen von Werten und Normen, die sich auf Grund10 Diese ,kulturell‘ assoziierten Religionen erhalten durch die lokalen Modernisierungsprozesse immer weniger Zulauf. Zumindest im heutigen Singapur führen die ,modernen‘ Möglichkeiten und Imaginationen eines christlichen Glaubens zur höchsten Rate an Konvertierungen im Gegensatz zu den anderen großen Religionen wie Buddhismus oder Islam (Chew 2008b). 11 In Malaysia gehören 87 % der Chinesisch-MalaysierInnen den ,chinesischen Religionen‘ an (Buddhismus, Konfuzianismus, Taoismus usw.) (Department of Statistics, Malaysia 2010:82). In Singapur gehört die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung mit 43 % der über 15-Jährigen dem Buddhismus an (Singapore Department of Statistics 2010a:14). 12 Auf der Handlungsebene drückt sich die Bedeutungszumessung an Lesen und Schriftstücken konkret durch regelmäßige intensive Bibelstunden („Bible Studies“) aus. In diesen Stunden eignen sich AkteurInnen die Inhalte der Bibel in Kleingruppen intensiv an, indem einzelne Abschnitte gelesen und anschließend untereinander diskutiert werden.

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lage rationalen Denkens, das sich im Zuge von Modernisierung und im Zeitalter der Moderne durchgesetzt hat, entwickelt haben (Waardenburg 1996:318). Als Analysekonzept gebraucht, ist ‚Modernität‘ nicht mit der Sichtweise von AkteurInnen darauf, was ‚modern-sein‘ bedeutet, gleichzusetzen. Mit dieser konzeptionellen Trennung geht ein Verständnis einher, dass ‚traditionelle Kulturen‘ nicht von ‚modernen‘ Einflüssen verdrängt werden. Lokale AkteurInnen passen sich ihren Hintergründen und Bedürfnissen entsprechend an ‚moderne Prozesse‘ an und kreieren damit aktiv ihre eigenen Arten und Weisen von ‚modern-Sein‘ (Kahn 2001). Somit gibt es keine einheitliche südostasiatische Modernität, da verschiedene AkteurInnengruppen eigene ,Entwicklungs‘-Strategien umgesetzt haben. In diesem Sinne trägt ein Verständnis von ,multiplen‘ (Eisenstadt 2000) oder ,alternativen Modernitäten‘ den unterschiedlichen Ideen und Praxen ,Chinesischer Modernität‘, ,Malaysischer Modernität‘ oder ,Islamischer Modernität‘ (Kahn 2001:659) mit ihren kulturell geprägten Prozessen von Industrialisierung, Urbanisierung, Rationalisierung und Bürokratisierung Rechnung (Gomes 2007:42). Modernität und Traditionalität sind als „context-bound articulations“ (Hermann 2011:1) immer perspektivisch zu verstehen. Bei der Einordnung von ,modernen Lebenspraxen‘ in Malaysia und Singapur ist somit die Imagination dessen, d. h., was in spezifischen Zusammenhängen von wem als modern erachtet wird, zentral. Durch die analytische Brille des ModernitätsKonzepts interessieren dabei die Zuschreibungen und Identifizierungen, die die AkteurInnen in Bezug auf ‚modern‘- und ‚traditionell-sein‘ vornehmen und wie diese wiederum gesamtgesellschaftlich einzuordnen sind. Der malaiisch-malaysische Identitätsdiskurs wie auch der populäre Diskurs um Modernität in Malaysia und Singapur werden allerdings als Opposition zwischen Modernität und Traditionalität gestaltet (Houben/Schrempf 2008:11). Eine Balance zwischen Modernität und Traditionalität suchend werden die modernisierenden Prozesse Asiens v. a. durch eine Neudefinition lokaler kultureller Elemente in Relation zu ,westlicher Modernität‘ ausformuliert (Ong 2005:37f.). Nach der Vorstellung der Konzeption von Bildung sowie den intersektionalen Verbindungen dieser Konzeption und entsprechenden Praxen mit Ethnizität, Klasse, Religion und Modernität schließe ich die Ausführungen zum Analyserahmen mit den Kategorien ,Raum und Zeit‘. 2.3.3 Raum und Zeit Einer Migrationsforschung ist die Kategorie ,Raum‘ inhärent. In der vorliegenden Arbeit wird speziell der transnationale Raum analysiert. Auf Grundlage des Konzepts des Transnationalismus untersucht v. a. die singapurische Geographin

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Brenda S.A. Yeoh in verschiedenen Projekten Migrationsprozesse im singapurischen und teilweise singapurisch-malaysischen Kontext (Huang, S./Yeoh/Lam 2008; Huang, S./Yeoh/Jackson 2004; Lam/Yeoh 2004; Lam/Yeoh/Law 2002). Ihr Verständnis von transnationaler Migration gründet sich auf der entsprechenden theoretischen Auseinandersetzung, die die Ethnologinnen Linda Basch, Nina Glick Schiller und Cristina Szanton Blanc (1997) geleistet haben. Hiernach werden soziale Beziehungen in mindestens zwei nationalstaatlichen Orten lokalisiert. Die transnationalen sozialen Räume sind somit nicht an einen geografischen Ort gebunden. Vielmehr verteilen sie sich über mehrere Lokalitäten hinweg und stehen durch dynamische soziale und kulturelle Bindungen in verschiedenartigen, machtdurchdrungenen Verhältnissen zueinander. So gestalteten auch meine chinesisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen soziale Räume innerhalb ihrer Migrationssituationen vornehmlich durch die sozialen Bindungen zu ihren Familien in Malaysia. Der Sohn einer Gesprächspartnerin drückte seine Verortung im transnationalen sozialen Raum mit Bezug auf familiäre Beziehungen mit „I’m global!“ aus: Er lebte mit seinen Eltern in Singapur, seine Mutter kam aus Malaysia, sein Vater aus Kanada und die Großfamilie lebte ,in der Welt verstreut‘. Räume werden erst durch soziale Beziehungen und soziales Handeln konstituiert (Schroer 2006; Löw 2001; Werlen 1987). „[S]owohl die Bedeutungen von Orten als auch die Räumlichkeit von Gegebenheiten im Sinne einer handlungstheoretischen Perspektivierung [sollten] immer nur in Bezug auf und als Folge von Tätigkeiten gesehen werden“ (Werlen 2010:63, Hervorheb. im Orig.). Soziale Räume werden wiederum an Materialität gebunden und in geografischen Orten gelebt (Werlen 2005). Konzeptualisierungen von Raum und Zeit wurden in den letzten zwei Dekaden anlässlich der Globalisierungsprozesse verändert, die sich v. a. in neuen Informationstechnologien bemerkbar machen. Diese Veränderungen bringen „time-space-compression“ (Harvey 1989) hervor, also räumlich-zeitliche Verdichtungen. Dadurch entwickeln sich neue Wahrnehmungen in Bezug auf geografische Distanzen sowie auf Beziehungen, die über solche Distanzen hinweg geführt werden. Soziale Bindungen können mittlerweile über hunderte bis zehntausende Kilometer hinweg vereinfacht aufrechterhalten werden. Mittels Telekommunikation und Internet werden die Hürden von Zeitverschiebungen und geografischen Distanzen mit einem Klick im Internet verringert. Dabei entstehen neue Erfahrungen von Nähe und Distanz, Raum und Zeit, die zum Alltag von MigrantInnen gehören. Eine Globalität, die sich im Lokalen entfaltet und umgekehrt, beschreibt Arjun Appadurai (2003) mit seinem vielzitierten und einschlägigen Konzept der

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scapes: kulturelle Strömungen („cultural flows“) bewegen sich als ethnoscapes, mediascapes, technoscapes, financescapes und ideoscapes um die Welt. Zu Recht betont er mit dieser Konzeptualisierung die Durchlässigkeit und den (weltweiten) Fluss kultureller Phänomene. Appadurai vernachlässigt dabei aber die Kreation neuer Hierarchien und Unmöglichkeiten, die infolge von kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen entstehen. Saskia Sassen (2000, 1998) macht in ihren Studien zu Zusammenhängen zwischen Globalität und Nationalstaatlichkeit darauf aufmerksam, dass raum-zeitliche Prozesse der Globalisierung immer von „mobility and fixity“ (Sassen 2000:217) geprägt sind. Während in ‚global cities‘ auf der einen Seite bspw. Informationen durch die Möglichkeiten von elektronischen Technologien weltweit fließen können, so Sassen, werden auf der anderen Seite Ressourcen für sozio-ökonomische Aktivitäten staatlich reguliert, so dass die Nutzung dessen für gewissen AkteurInnen an Grenzen stößt (Sassen 1998:202f.). Durch die Lokalisierung von Ressourcen und Infrastruktur innerhalb nationalstaatlicher Grenzen und der damit einhergehenden Kontrolle durch den Nationalstaat sind die Ressourcen und die Infrastruktur also weniger mobil, als in medialen und populärwissenschaftlichen Debatten zu globalen Ökonomien oft behauptet wird (Sassen 1998:196). Zugänge zu Ressourcen, die weltweit existieren und über räumliche Distanzen hinweg in Anspruch genommen werden können, sind auf der Basis von Machtverhältnissen ungleich verteilt. Die räumliche Ausdehnung von Globalisierungsprozessen ist stets abhängig von vielfältigen Verbindungen, die lokal und materiell eingebettet sind. Der Raum entfaltet sich hier als Ensemble relationaler Lokalisierungen. Diese Lokalität wird durch Historizität sowie durch politische und ökonomische Strukturen produziert: „Place becomes a launching pad outward into networks, backward into history and ultimately into the politics of place itself“ (Gille/Ó Riain 2002:287). Mit solch einem Verständnis wird die starre Dichotomie zwischen (globalen) Makround (lokalen) Mikrostrukturen überwunden, wie ein Zitat von John Comaroff und Jean Comaroff prägnant zusammenfasst: „Even macrohistorical processes – the building of states, the making of revolutions, the extension of global capitalism – have their feet on the ground“ (1992:33). Resümee Es konnte gezeigt werden, wie Bildung als zentrale Analysekategorie dieser Studie interdependent mit den Differenzkategorien Ethnizität, Klasse, Religion und diese wiederum verbunden mit den Dynamiken um Modernität, zusammenwirkt. Diese intersektionalen Prozesse finden in vergeschlechtlichten Migrationsräumen statt, bedingen und gestalten diese und vice versa. Für die Analyse dessen sind Struktur und Handeln von Relevanz. Diese Komplexität der Dynamiken

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kann mit dem Analyserahmen Gendered Power Hierarchies in Space and Time gebündelt werden. Abschließend fasse ich die Dimensionen, die für die Analyse von geschlechtlich codierter Bildungsmigration malaysischer Frauen nach Singapur relevant sind, zusammen: 1. Gesellschaftliche und nationalstaatliche Regelsysteme in Bezug auf Geschlechterhierarchien, die in Wechselwirkung mit körperlichen und familiären Geschlechterkonstellationen wirken. 2. Das Subjekt mit seinen gesellschaftlichen Positionierungen innerhalb von Differenzsystemen. 3. Die gesellschaftlichen Positionierungen, die beeinflussen, inwieweit das Subjekt Handlungsmöglichkeiten bzgl. Ressourcen und Mobilität in transnationalen Räumen entwickeln kann. 4. Institutionelle Praktiken, die Ein- und Ausschlüsse auf Grundlage der sozialen Positionierungen des Subjekts produzieren und in der Konsequenz Migrationswege ermöglichen oder behindern. 5. Das individuelle Potenzial zur Interpretation und Reflexion für eine strategische Einflussnahme auf Beziehungen, Wünsche und Imaginationen. 6. Die dynamische zeitliche Dimension der Aushandlungsprozesse, die auf die Veränderbarkeiten der Punkte 1-5 sowie auf den spezifischen zeitlichen Ausschnitt einer Forschungsstudie verweisen. Nach der Vorstellung des analytischen Herangehens werde ich im folgenden Abschnitt den historischen, kolonialen und postkolonialen sowie politischen und ökonomischen Entwicklungen der Länder Malaysia und Singapur folgen. Dies ist für eine tiefgreifende Erfassung der Bildungsmigrationsentscheidungen von einzelnen Akteurinnen wichtig. Die Gesellschaften beider Länder ordne ich als migrationsgeschichtlich begründet ein. Aus diesem historischen und auch aktuellen Migrationsverständnis beider Länder folgen zwangsläufig weitere Fragen nach kollektiv verstandenen Identifizierungen, die durch multikulturelle, ethnische und ökonomische Bezugnahmen geprägt sind.

3. Malaysia und Singapur – historische und aktuelle Entwicklungen von Geschlecht, Bildung und Migration

Wer sich in Malaysia aufhält und eine Reise in das unmittelbar angrenzende Singapur unternehmen will oder umgekehrt, kann sich auf den alltäglichen Wegen der Menschen Singapurs und Johor Bahrus (,JB‘, der malaysischen Stadt direkt an der Grenze zu Singapur) bewegen. Die Fahrt zwischen beiden Ländern ist für viele Menschen ein alltägliches Unterfangen in einem öffentlichen Bus und wird lediglich durch die Grenzstationen kurz unterbrochen. Eine Reise zwischen Malaysia und Singapur ist hier kein aufwendiges Ereignis, über dessen Organisation vorher ernsthafte Gedanken angestellt werden müssten – sondern ,Normalität‘. Diese Normalität des Hin- und Herreisens zwischen Malaysia und Singapur zeigt sich auch in konkreten lebensweltlichen Erfahrungen des Arbeitstages oder des Schulbesuchs. Täglich machen sich zehntausende Arbeiter auf ihren Motosikales (Motorrädern und -rollern) von JB nach Singapur auf, um zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen. Meine in Singapur lebende Gesprächspartnerin Annapoorna berichtete unter dem Stichwort ,verschwendete Kindheit‘ – auf Grund des zeitlichen Aufwands – von täglichen Schulpendelfahrten von JB in die ,besseren Schulen Singapurs‘, die für manche SchülerInnen bereits im Grundschulalter beginnen. SingapurerInnen fahren regelmäßig nach JB zum verbilligten Einkauf. Die Menschen aus Malaysia – zumindest aus Johor Bahru – und Singapur kommen regelmäßig miteinander in Berührung und bewegen sich wie selbstverständlich zwischen diesen beiden Welten. Statistische Erhebungen bestätigen indirekt diese Beobachtungen der alltäglichen Mobilitätserfahrung zwischen Malaysia und Singapur. Rezente Schätzungen gehen von 350.000 lohnarbeitenden MalaysierInnen in Singapur aus, von

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denen etwa 150.000 täglich von JB aus pendeln.1 Von den übrigen 200.000 MalaysierInnen wird angenommen, dass sie dauerhaft in Singapur leben (Asiaone 2009). Es gibt demnach neben der alltäglichen Pendelbewegung zwischen beiden Ländern vornehmlich die längerfristige Migration von Malaysia nach Singapur. Genaue Zahlen über Migrationsbewegungen nach Singapur sind nicht verfügbar, so dass lediglich eine Annäherung an diese möglich ist.2 Im Jahr 20103 sind knapp die Hälfte aller Permanent Residents (,PRs‘), die außerhalb Singapurs geboren sind, in Malaysia zur Welt gekommen.4 Diese Zahl zeigt die Tendenz, dass ein großer, wenn nicht der größte, Anteil der mittel- bis längerfristig in Singapur lebenden Menschen aus Malaysia kommt. Den kurz-, mittel- oder langfristigen Austausch von Menschen, Gütern und Ideen zwischen beiden Ländern hat es seit jeher gegeben. Ausschlaggebend dafür sind erst einmal die geografische Nähe und ferner die kulturellen Verbindungen beider Länder. Doch auch darüber hinaus eint Malaysia und Singapur auf verschiedenen Ebenen dieselbe Geschichte: historisch, politisch und ökonomisch. Ein Pendeln über den Causeway (der Dammstraße zwischen Singapur 1

Die Zahlen lohnarbeitender MalaysierInnen in Singapur sind in den letzten 20 Jahren stark gestiegen: Mitte der 1990er Jahre hielten sich ca. 100.000 MalaysierInnen in Singapur auf, um dort zu arbeiten. Ein Viertel von ihnen pendelte täglich (Lam/Yeoh 2004:148; Lim 1996:320).

2

Es gibt keine offiziellen – weil ,sensible‘ – Daten zu Migrationen nach Singapur (Reid 2010:7f.). Die Zensus-Daten (vgl. http://www.singstat.gov.sg) nähern sich dieser Frage lediglich an, nennen aber keine genauen Zahlen, wie viele Menschen oder aus welchen Ländern sie für welche Ziele nach Singapur migrieren. Dementsprechend sind auch keine statistischen Daten über die Anzahl von Studierenden aus dem Ausland zugänglich. Diese Zahlen werden außer von der Regierung auch von den singapurischen Universitäten im Registrar’s Office verwaltet. Beide Stellen verweigerten forschungsbezogene Anfragen.

3

Die Zensusdaten werden in Singapur und Malaysia in einem regelmäßigen, zehnjährigen Turnus erhoben. Die singapurischen Zensusdaten von 2010 lagen mir zur Zeit des Verfassens der vorliegenden Arbeit bereits zum Großteil, diejenigen aus Malaysia zum kleineren Teil vor. In denjenigen Fällen, in denen die kompletten Veröffentlichungen fehlen und sich entsprechende Lücken auftun, greife ich auf die Zensusdaten von 2000 zurück.

4

2010 wurden 44,9 % der singapurischen Permanent Residents, die außerhalb des Stadtstaats zur Welt gekommen sind, in Malaysia geboren. Die nächstgrößeren Geburtsgebiete bilden danach China, Hongkong und Macao mit 20,4 % (Singapore Department of Statistics 2010a:39).

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und JB) bekommt erst durch die spezifischen nationalstaatlichen Politiken seit der Unabhängigkeit eine besondere Bedeutung und kann spätestens seitdem nicht ausschließlich über eine geografische Nähe begründet werden. So verweisen die Wanderungsbewegungen von Malaysia nach Singapur auf konkrete, weitergehende Fragen für das Verständnis dieser Region: Was genau eint und trennt beide Länder und welche dieser Faktoren beeinflussen letztendlich die Wege von Malaysia nach Singapur? Mein nachfolgendes Vorgehen ist von folgender Frage geleitet: Welches sind die gesellschaftspolitischen Hintergründe für Bildungsmigrationsschritte von Malaysierinnen nach Singapur? Mein Interesse ist, aktuelle und historische Zusammenhänge als ,roten Faden‘ aufzuzeigen, die die Basis für diese Schritte darstellen. Innerhalb meines Analyserahmens Gendered Power Hierarchies in Space and Time bewege ich mich damit auf der Ebene der gesellschaftlichen und nationalstaatlichen Dynamiken von Differenzsystemen, die sich in der Historie der Länder entwickelt haben und bis heute transformiert aufrechterhalten werden. Wenngleich die bewegte Geschichte Malaysias und Singapurs in ihrer Gesamtheit eine Auseinandersetzung wert ist, beleuchte ich die gesellschaftlichen und nationalstaatlichen Prozesse nur im Hinblick auf meinen Fokus – Geschlecht, Bildung und Migration und den damit lokal verschränkten Kategorien Ethnizität, Klasse, Religion und Modernität. Ausgehend von zwei zentralen identitätsstiftenden Bezugspunkten und Sinnbildern für MalaysierInnen und SingapurerInnen nähere ich mich der Darstellung der multikulturellen Gesellschaften Malaysias und Singapurs zunächst an: über die Sprache einerseits und die regionale Küche andererseits. Von diesen kulturspezifischen Motiven ausgehend verfolge ich die Geschichte beider Länder bis in die Gegenwart.

3.1 S PRACHE UND REGIONALE K ÜCHE ALS S CHLÜSSELMOMENTE ZUM V ERSTÄNDNIS MULTIKULTURELLEN G ESELLSCHAFTEN

DER

Gemeinsam mit meinen beiden Hausmitbewohnerinnen Jia und Huan besuchte ich einen pasar pagi (morgendlichen Markt) in Kuala Lumpur. Huan suchte eine Gardine und sprach einen entsprechenden Verkäufer auf Kantonesisch5 an, wie

5

Kantonesisch ist der am häufigsten gesprochene chinesische Dialekt in Kuala Lumpur, so dass sich ChinesInnen oft zuerst auf diesem Dialekt gegenseitig ansprechen, obwohl sie einander nicht kennen.

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viel eine kosten solle. Er verstand den Dialekt und antwortete ebenfalls auf Kantonesisch: „25“. Jia und Huan unterhielten sich daraufhin auf Englisch darüber, dass ihnen das zu teuer sei. Huan ist Nyonya,6 ihre Muttersprache ist malaiisch. Jias Muttersprache war Kantonesisch. „Noh-lah, uncle, expensive-lah! I know 20 can when you smile!“ Jia griff bereits nach einem 20-Ringgit 7 -Schein. „Boleh?“,8 sagte sie auf Malaiisch und klang damit eher festsetzend als fragend. „Ya, ok“. Hinterher sagten sie mir lachend etwa: „Wir vermischen immer die Sprachen! Alles rojak!“ – und spielten mit dieser Formulierung auf das gleichlautende malaiische Gericht an, das aus gemischtem Obst, Gemüse und Tofu zusammen mit einer scharfen Soße und Erdnüssen besteht. Diese Zutaten werden – wie die verschiedenen Sprachen auch – durchmischt, und ,bunt zusammengewürfelt‘. (Gedächtnisprotokoll 20. April 2009) Wie die Positionierung in einer multikulturellen Gesellschaft – in der Marktszene ausgedrückt durch die verschiedenen Sprachen – mit der regionalen Küche verbunden wird, brachte meine malaiisch-malaysische Gesprächspartnerin Adilah ebenfalls auf den Punkt:

6

Nyonya sind die weiblichen Nachfahren eines chinesischen und eines malaiischen Elternteils, Baba die männlichen. Der Begriff, der alle Nachfahren – ob männlich oder weiblich – bezeichnet, ist Peranakan, aus dem malaiischen Wort anak für Kind. Peranakan leben vor allem in Penang, Melaka und Singapur, aber auch in Gegenden Indonesiens. Es sind diejenigen Orte mit ausgeprägter chinesischer Bevölkerung innerhalb des malaiischen Archipels. Es gibt mehrere historische Herleitungen für die Baba und Nyonya, entweder über einen chinesischen Einfluss vom Vater und den malaiischen von der Mutter oder umgekehrt (Tan C.-B. 2004:76; Tan L.E. 2003:355f.). Die Peranakan entwickelten spezifische identitätsstiftende Merkmale aus den malaiischen und chinesischen Einflüssen: Sie tragen eigene Kleidung, bauen Häuser mit einer distinkten Architektur und haben besondere kulinarische Gerichte. In Melaka sprechen sie malaiisch, in Penang auf Grund von unterschiedlichen historischen Entwicklungen Hokkien. Die Baba-Nyonya werden von den ChinesInnen nicht als chinesisch angesehen und von den Malaiisch-MalaysierInnen nicht als malaiisch. In ihrer Geburtsurkunde wird als ,race‘ ,chinesisch‘ angegeben. Die Kategorie ,Peranakan‘ existiert nicht.

7

Ringgit oder Ringgit Malaysia (RM) bzw. Malaysian Ringgitt (MYR) sind die malaysische Währung.

8

,Boleh‘ ist malaiisch für ,können‘ und bedeutet grundsätzliche Zustimmung.

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Abbildung 2: Offizielle viersprachige Beschriftung in Singapur

What i like about it the most is that we Malaysians (including the Malays, Chinese, and Indians) [are] able to just sit around and enjoying the food, regardless the racism issue. It somehow shows unity for a multi-racial country like Malaysia.“ (E-Mail von Adilah, 5.1.2010) Mittels der lokalen Küche vereinen sich die verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen real am Essenstisch wie auch symbolisch in dem Gericht rojak in einer formal ethnisch segregierten Gesellschaft. Was es zu vereinen gilt, wird mit der Durchmischung der verschiedenen Sprachen sowie Adilahs Aussage deutlich: in diesem Fall chinesische, malaiische, indische und britische Zugehörigkeiten oder Bezüge. Die Sprache spielt in Malaysia und Singapur eine besondere Rolle für die Bevölkerung. In Malaysia ist das Besondere, dass fast alle Chinesisch- und Indisch-MalaysierInnen sowie Baba-Nynonya wie Jia und Huan mindestens vier Sprachen sprechen:9 Malaiisch, weil es die nationale und am weitesten verbreitete Sprache ist; Englisch, weil diese in vielen schulischen, universitären und in9

Die Malaiisch-MalaysierInnen sprechen in den Städten meist zwei Sprachen (Malaiisch und Englisch), in ländlichen Gebieten nur Malaiisch.

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ternationalen Kontexten gebraucht wird; additiv zwei bis drei chinesische oder indische Sprachen: die ,offiziellen‘, also Mandarin oder Tamilisch, sowie die jeweiligen Dialekte der Eltern. Somit jonglieren die Menschen tagtäglich mit verschiedenen Sprachen und passen ihre Sprechgewohnheiten je nach Situation spontan an das Gegenüber an. Das Sprechen von mehreren Sprachen verweist auf die aktive Auseinandersetzung der Menschen mit ihren gesellschaftlichen Positionierungen und Identifizierungen. Die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Sprachen deutet auf eine gewisse interkulturelle Kompetenz im Alltag hin. Diese muss in einer Gesellschaft, in der In- und Exklusionen entlang ethnischer Differenzen aktiv hergestellt werden, stetig ausgehandelt werden – außer über die Sprache z. B. auch über die regionale Küche, wie Adilah es angedeutet hat. Das Sprechen des chinesischen Dialekts verweist im malaysischen Kontext darüber hinaus auf eine selbstbewusste Weiterführung chinesischer Identifizierungen, die in anderen südostasiatischen Kontexten so nicht gegeben ist. Die ChinesInnen in Thailand bspw. sprechen in Folge von Diskriminierung in den 1940er Jahren durch den damaligen Ministerpräsidenten Phibun Songkhram Thai, haben thailändische Namen und wurden sozusagen ,zu Thais gemacht‘ (Suryadinata 2004:73f.). Die multiple identity (Lee Su Kim 2003) im malaysischen Kontext ist somit mit einer ganz besonderen Identifizierung und Repräsentation als Chinesisch-MalaysierIn verknüpft. Im nächsten Schritt werde ich den historischen Bedingungen nachgehen, die nicht nur die Multikulturalität der Gesellschaften Singapurs und Malaysias hervorgebracht haben, sondern auch Einfluss auf ethnisch bedingte Inklusions- und Exklusionsprozesse hatten, die zu solch starken ethnischen Identifizierungen in der Gegenwart führ(t)en.

3.2 K OLONIALISMUS

IN

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3.2.1 Immigrationen bestimmen Multikulturalität In Malaysia und Singapur werden nicht nur verschiedene Sprachen (gleichzeitig) gesprochen. Die jeweilige Bevölkerung wird in beiden Ländern durch die Kategorisierungen ,Chinese, Malays, Indians, Others‘ (,CMIO‘) in Kohärenz zu den Sprachpolitiken repräsentiert. Die Bezeichnungen der ersten drei Gruppen weisen auf eine anerkannte Rolle in der Gesellschaft hin, die der Staat ihnen zuschreibt, denn die Bevölkerungen werden nicht einfach mit ,Singapurer‘ oder ,Malaysier‘ benannt. Unter der Kategorie ,Others‘ werden alle anderen gefasst, die nicht den ersten drei Gruppen zugeordnet werden (können). Sie werden als

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vierte ,race‘ bezeichnet: von EuropäerInnen über SüdamerikanerInnen und AfrikanerInnen bis hin zu Menschen ohne eindeutige ethnische Zugehörigkeit. Auf Festlandmalaysia stellen Malaiisch-MalaysierInnen zahlenmäßig die größte Bevölkerungsgruppe dar,10 in Singapur hingegen ChinesInnen.11 InderInnen sind in beiden Ländern eine relativ kleine Gruppe. Die Kategorisierungen gründen sich auf der migrationsbewegten Geschichte der Region. Die Multikulturalität Malaysias und Singapurs basiert größtenteils auf vergangenen Einwanderungen aus südöstlichen Provinzen Chinas und vom indischen Subkontinent. Die größten Immigrationsbewegungen gab es durch den britischen Kolonialismus aus beiden Regionen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Osborne 2004:113; vgl. Tan L.E. 2003).12 Um ihr bisheriges Kolonialgebiet zu schützen, gründeten die Briten ihre Posten an der strategisch wichtigen Handelsroute zwischen Europa/Afrika und China, die direkt über die ,Straße von Melaka‘ an der Westküste Malaysias führte (Gunn 2008:12). Sie besetzten zuerst Penang an der nördlichen Westküste Malayas 13 (1786), später Melaka weiter südlich der Küstenlinie (1795) und anschließend Singapur an der Südspitze (1819). Diese drei Orte wurden ab 1826 gemeinsam als ,Straits Settlements‘ verwaltet (Ooi 2009:29; Gunn 2008:13; Huff 1994:xx). Auf Grund der Lage innerhalb der ,Straße von Melaka‘ kam Singapur eine strategische Rolle bei der Entwicklung des britischen Imperiums in Südostasien

10 Bei einer Gesamtbevölkerung von 27.451.100 machten 2007 50,7 % der MalaiischMalaysierInnen die malaysische Bevölkerung aus, ,andere Bumiputera‘ (Indigene) 11 %, ChinesInnen 23 %, InderInnen 6,9 % und ,Andere‘ 1,2 % (Department of Statistics, Malaysia 2008:9). 11 Im Jahr 2010 machten von einer Gesamtbevölkerung von 5.076.700 EinwohnerInnen 3.771.000 Menschen singapurische StaatsbürgerInnen und Permanent Residents aus. Davon waren 74,1 % ChinesInnen, 13,4 % Malaiisch-MalaysierInnen, 9,2 % InderInnen und 3,3 % ,Andere‘ (Singapore Department of Statistics 2010a:viii). 12 Bereits im 15. Jahrhundert machten sich Menschen, u. a. ChinesInnen, nach Melaka (im heutigen Malaysia) und Singapur auf (Tan L.E. 2003:357). Ein bis heute greifbares Zeugnis chinesischer Siedlungsgeschichte ist der Bukit Cina in Melaka, der ,chinesische Berg‘. Der Bukit Cina ist der größte chinesische Friedhof außerhalb Chinas. Die ältesten Gräber stammen aus der Ming-Dynastie, die von 1368–1644 im damaligen Kaiserreich China andauerte. 13 Vor 1959 hieß die entsprechende südostasiatische Region ,Malaya‘. Zu ,Malaysia‘ wurde das Land erst durch den zweijährigen Zusammenschluss mit Singapur. Vgl. Kap. 3.2.3.

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zu. Thomas Stamford Raffles14 nahm am 29. Januar 1819 Singapur für die britische Krone ein und plante, Singapur zu einem großen und mächtigen sowie zollfreien Umschlaghafen zu machen. Die britische Kolonialregierung forcierte von nun an Immigrationsbewegungen,15 um die Hafenstadt aufzubauen und zu einem florierenden Zentrum zu gestalten. Innerhalb der ersten fünf Jahre nach Beginn der Kolonisierung wuchs die Bevölkerung Singapurs in der Tat von einigen 100 auf über 10.000 an (Osborne 2004:118). Abbildung 3: Bukit Cina in Melaka

Vor allem waren es Chinesen, die ihren Weg nach Singapur gingen. Mehrere Zehntausend aus südchinesischen Provinzen wie Guangdong und Fujian siedel14 Raffles war von 1811–1816 Leutnant Gouverneur von Java und 1818 von Bengkulu (Bencoolen) auf Sumatra. Er ging anschließend zurück nach Britisch Indien und startete von dort aus nach Singapur (Gunn 2008:12; Ackermann 1997:19). Mit seiner Ankunft in Singapur beginnt i. d. R. die offizielle Geschichtsschreibung Singapurs. 15 Im Gegensatz zu offizieller Geschichtsschreibung, die Singapur zum Zeitpunkt der Inbesitznahme durch die Briten als ,terra nullis‘ darstellt, lebten zu jener Zeit etwa 200 FischerInnen und ,SeenomadInnen‘ (Orang Laut – ,Menschen des Meeres‘) in zwei Siedlungen auf der Insel. Zudem lebten hier einige hundert chinesische Bauern (Ackermann 1997:20). Die Menschen dieser Siedlungsstätten waren Raffles für sein Ziel der florierenden Hafenstadt Singapur nicht zuträglich genug und zahlenmäßig zu wenige.

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ten als sinkheh (,neue Gäste‘) Mitte des 19. Jahrhunderts am Hafen von Singapur (Ooi 2009:29; Gunn 2008:16). Mitte der 1840er Jahre lebten auf der Insel bereits 32.000 ChinesInnen, was bei einer Gesamtbevölkerung von 52.000 gut 61 % ausmachte (Osborne 2004:118). 1931 ist die chinesische Bevölkerung bereits auf 74 % angestiegen. Singapur stellte mit seinen chinesischen BewohnerInnen den Ort mit dem höchsten Anteil eben dieser Bevölkerungsgruppe in Malaya bzw. den Straits Settlements dar (Lau 2009:96; Smith, T.E. 1964:174). Damit kam Singapur eine besondere Rolle zu: es wurde innerhalb kürzester Zeit zu einer pulsierenden, chinesisch geprägten Hafen- und Handelsstadt mitten im malaiischen Archipel zwischen Indonesien und Malaya. Mit dieser Rolle deutet sich ein Nährboden für weitreichende Konflikte zwischen Malaysia und Singapur bzw. zwischen chinesischer und malaiischer Bevölkerung an. Diese Konflikte verdichteten sich rund 100 Jahre später in den Bildungsmigrationsschritten der chinesisch-malaysischen Akteurinnen aus der malaiisch-geprägten Gesellschaft heraus. Abbildung 4: Teil des heutigen singapurischen Hafengeländes

Neben der chinesischen ist die indische Bevölkerung die zweite größte Einwanderungsgruppe im damaligen Malaya. Anfänglich wurden Bewohner des bereits kolonisierten (Süd)Indien von den Briten als ,billige Arbeitskräfte‘ in die Straits Settlements verschleppt (Ooi 2009:29; Huff 1994:151; Smith, T.E. 1964:181), um sie dort als Kommunal- und Plantagenarbeiter einzusetzen (Goh, D./Holden

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2009:5). Später migrierten viele von ihnen aktiv aus wirtschaftlichen Gründen in die florierenden Zentren Malayas und heuerten v. a. im Niedriglohnsektor an.16 Im wirtschaftlichen Bereich Malayas führte die britische Kolonialregierung die Institutionalisierung von ethnischen Identitätspolitiken ein. Während sie Inder im Kommunal- und Plantagenbereich anstellten, setzten sie Chinesen als Mittelpersonen im Handelsbereich ein. Wohlhabende Chinesen involvierten sich direkt in die florierenden Handelsstätten und bauten sich eigene Geschäftszentren auf. Viele von ihnen entwickelten sich zu reichen und einflussreichen Händlern (Ong 2005:164f.; Hefner 2001b:17) und bildeten erste Strukturen einer lokalen, chinesischen Elite aus. Männliche Malaien und Indonesier aus dem umliegenden malaiischen Archipel wurden hingegen von den Briten in der Landwirtschaft als ,indigene Kleinbauern‘ eingesetzt. Die so eingeführte „racial governmentality“ (Goh, D./Holden 2009:5) wurde zum Mittel kolonialer Kontrolle ausgestaltet. Diese demografischen und wirtschaftlichen Veränderungen entfalteten sich weiter zu modernisierenden Prozessen. Die Modernisierung entwickelte die Kolonialregierung im Laufe der Zeit durch eine Philosophie von Rationalismus, einer Unabdingbarkeit des Nationalstaates und einer technologisierten Bezwingung der Natur weiter (Gomes 2007:46). Mit der Einführung der ethnischen Identitätspolitiken und der Modernisierung des Landes wurden damals die Grundsteine für entsprechende gegenwärtige Identifizierungsprozesse gelegt, die eben diese Aspekte betonen. Neben den Ethnizitäts- und Modernisierungspolitiken stellten die Briten gleichzeitig eine geschlechtliche Separierung in der politischen Ökonomie durch das Einsetzen v. a. männlicher Arbeitskräfte sicher. Neben dem Großteil der chinesischen Männer gingen auch einige wenige Frauen ihre Wege von China nach Britisch Malaya. In den 1830er bis 1840er Jahren kamen jährlich etwa 4.000 bis 8.000 ImmigrantInnen aus China nach Singapur. Von diesen waren etwa 40 bis 50 Frauen, von denen wiederum nur ca. ein Achtel in Singapur geblieben ist (Gunn 2008:17). Diese Chinesinnen betätigten sich u. a. als ungelernte Arbeitskräfte oder als Hausmädchen (amahs) in kolonialen und reichen chinesischen Haushalten. Andere verfolgten weitere Wege zu den verschiedenen Minen und Plantagen auf der malaiischen Halbinsel und auf Borneo (Tan L.E. 2003). Demzufolge war nur eine sehr kleine Gruppe von Frauen in der Ökonomie aktiv. Ein 16 Obwohl der Großteil der indischen Immigranten ,einfache‘ Arbeiter waren, förderte das starke ökonomische Wachstum der Region auch in Teilen einen sozialen Aufstieg der indischen Bevölkerung zu Geschäftsleuten, Ärzten und Anwälten. Der Aufstieg dieser indischen Bevölkerung erreichte jedoch zahlenmäßig nie auch nur annähernd einen Gleichstand mit der ökonomischen Stärke von großen Teilen der chinesischen Bevölkerung (Osborne 2004:126f.).

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grundlegender Wandel in diesem Bereich, nämlich das kontemporäre hohe Ausbildungsniveau und die steigenden Arbeitsplatzperspektiven von Frauen wird in dieser Arbeit eine große Rolle spielen. Bis hierhin kann festgehalten werden, dass durch die britische Kolonialisierung des heutigen Malaysias und Singapurs die segregierte Multikulturalität der Gesellschaften entstanden ist. Die ethnische Dominanz in Singapur entwickelte sich durch die quantitative und ökonomische Stärke der männlichen chinesischen Bevölkerung. Eigenständig motivierte mittel- bis langfristige Migrationswege wurden schon in der Vergangenheit nicht ausschließlich an ökonomische Kriterien gekoppelt. Bereits während der Kolonialzeit verknüpften große Teile der chinesischen Bevölkerung ihre Migrationswege und -ziele nach Malaya auch mit Bildungsmotivationen. Der Großvater väterlicherseits meiner chinesisch-malaysischen Gesprächspartnerin Chun Hua wählte Penang an der malaysischen Nordwestküste u. a. deshalb als Zielort seiner Migration, weil Penang für seine ,gute Bildung‘ durch die Briten bekannt war. Die koloniale Ära veränderte nicht nur demografische und machtgebundene Strukturen, sondern auch Vorstellungen und Werte durch Bildungsmöglichkeiten, die, wie nachfolgend erläutert wird, von nun an in der Gesellschaft umgesetzt wurden. 3.2.2 Ethnische und geschlechtliche Segregationen durch Bildung „Die Briten haben uns so viel Schlechtes gebracht! Aber sie haben auch eine positive Sache mitgebracht, nämlich die gute Bildung“, hörte ich so in etwa mehrmals von Seiten der chinesisch-malaysischen Bevölkerung. Das britische Bildungssystem stellte zwar einen wichtigen Einschnitt in Hinblick auf Bildungseinrichtungen in der Region dar, es gab jedoch bereits seit dem 14. Jahrhundert Islamschulen (Rosnani 1996:5) mit einer muslimisch-malaiischen Tradition von Lehren und Lernen (von Kopp 2002:31f.). Diese Schulen wurden ab Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Sekolah Pondok (,Hüttenschulen‘) und ab Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Madrasah-Schulen (auch ,religiöse‘ oder ,arabische‘ Schulen) weiterentwickelt (Rosnani 1996:5).17

17 Im vorkolonialen Malaya wurde Bildung über religiöse LehrerInnen (männliche ustaz oder weibliche ustazah) bzw. dem ulama des Dorfes (Religionsgelehrter des Islam) organisiert. Gelehrt wurde entweder in deren Häusern, im surau (dem Gebetsraum des Dorfes) oder seltener in den größeren pondok-Schulen. Die pondok-Schulen waren

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Die Briten gründeten nach ihrer Ankunft in den Straits Settlements eigene Schulen (Primary und Secondary Schools) für alle ethnischen Gruppen mit Englisch als Unterrichtssprache, wobei keine allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde (von Kopp 2002:51). Der damaligen Kolonialregierung war es daran gelegen, mehr Asiaten mit schulischer Ausbildung zur Verfügung zu haben, um diese im florierenden Bereich des Handels und der Verwaltung einzusetzen. Sie erachteten Bildung als Voraussetzung für eine erstarkende Wirtschaft. Die britischen Schulen waren gebührenpflichtig und damit nur wenigen, relativ wohlhabenden Menschen aus den Städten zugänglich (Malakolunthu/Rengasamy 2006:121). Gemäß der starken Entwicklung von reichen chinesischen Geschäftsleuten besuchten quantitativ gesehen vorwiegend Chinesen, dann Inder und nur wenige Malaien diese Schulen (von Kopp 2002:38f.). Die chinesische, städtische Bevölkerung profitierte am meisten von der britischen Bildung, die ihnen wirtschaftliche Vorteile brachte und wiederum ihre gesellschaftliche Positionierung stärkte. Von den britischen, englischsprachigen Schulen gab es zwei Typen: Die ,Free Schools‘, die später zu staatlichen Schulen wie der Singapore Free School (1843) umfunktioniert wurden. Den zweiten Typ bildeten bezuschusste private Jungen- und Mädchenschulen, die von christlichen Missionaren gegründet wurden. Hier wurde meist Mandarin oder Tamilisch als Unterrichtssprache genutzt, um der chinesischen und indischen Bevölkerungsgruppe, die vorwiegend in den Städten ansässig waren, britische und christliche Maßstäbe zu lehren. Die Bezuschussung hing von den Fortschritten der SchülerInnen in der englischen Sprache ab (Tan Y.K./Chow/Goh, C. 2008:8). Englisch entwickelte sich unter den Briten zur Sprache der gebildeten Elite aller drei asiatischen Bevölkerungsgrup-

ähnlich wie Internate aufgebaut, die vom ulama gegründet und anschließend von ihm geleitet wurden. Meistens hatten der Dorflehrer und der ulama die Pilgerreise nach Mekka (Hajj) bereits durchgeführt, wodurch sie zusätzliche Autorität erlangten (Frisk 2004:42). Muslimische Reformer, die das Einsetzen der eigenen Rationalität (akal, vgl. Kap. 5.2.2) für das Verständnis von Religion in den Mittelpunkt stellten, konzentrierten sich auf eine Weiterentwicklung des Bildungssystems. Die madrasahSchulen basierten auf einem ,westlichen‘ Konzept von säkularer Bildung als Alternative zu den ,traditionellen‘ pondok-Schulen. In Letzteren wurde die Ansicht verfolgt, dass sich Männer leichter als Frauen Wissen aneignen könnten. Als Internate waren sie damit vor allem für junge Männer interessant. Nur wenige Frauen besuchten daher die pondok-Schulen – diejenigen, die sie durchliefen, konnten anschließend die Funktion der ustazah ausüben. Die madrasah-Schulen wurden hingegen auch aktiv für Frauen geöffnet (Frisk 2004:43f.).

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pen. Somit kam schulischer Bildung in Kombination mit der englischen Sprache die Bedeutung von Prestige zu und verhalf zu sozialer Mobilität. Abbildung 5: Methodist Girls’ School (MGS) in Singapur

Die erste Mädchenschule Singapurs war die Chinese Girls’ School,18 die 1842 von einer Missionarin der London Missionary Society gegründet wurde. Sie ist gleichzeitig die älteste Mädchenschule in Südostasien. Den chinesischen Mädchen wurde in dieser Schule die englische Sprache genauso gelehrt wie eine gute Haushaltsführung. Sie in den britischen Missionsschulen im ,klassischen Sinne‘ zu ,bilden‘ mit Lesen, Schreiben, Rechnen und Grundlagen in Geographie wie Schüler der Jungenschulen, war zweitrangig (Singam 2004:14f.). Schulbildung für Mädchen wurde – speziell in den englischsprachigen Schulen – v. a. deshalb von der Kolonialverwaltung eingerichtet, um Mädchen der oberen Klassen zu ,angemessenen‘ Ehefrauen für die erstarkende lokale Elite zu erziehen (Maznah 2002a:217f.). Soziale Mobilität mittels britischer, d. h. englischsprachiger und meist christlicher, Bildung setzte vorwiegend die städtische männliche chinesische Bevölkerung für sich um. Neben dem britischen Schulsystem entwickelte sich in Malaya zeitgleich ein zweites Ausbildungssystem. Im 19. Jahrhundert errichteten wohlhabende Chinesen ein chinesisches Schulsystem, um die chinesische Bevölkerung im Sinne von jiaoyu jiuguo (etwa ,die Nation durch Bildung zu retten‘) zu stärken. Diese 18 Die heutige St. Margaret’s Secondary School

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Schulen wurden von der chinesischen Bevölkerung als wichtiges Mittel zur Aufrechterhaltung und Weitergabe ihrer Sprache, Kultur und Identifizierung angesehen. Quantitativ gesehen waren diese Schulen die größten in den Straits Settlements, v. a. im chinesisch starken Singapur. Die chinesischen Schulen wurden, wie die britischen, geschlechtergetrennt betrieben. 1917 wurde bspw. die Singapore Nanyang Girls’ School gegründet, die heute unter dem Namen Nanyang Girls’ High School als eine Eliteschule für Mädchen weitergeführt wird. Chinesischen Mädchen wurde ab dem 20. Jahrhundert somit der Zugang zu eigener, chinesischer Schulbildung eröffnet. Im Gegensatz zu den Jungen genossen sie Schulbildung vorerst nur eingeschränkt für die Grundschulzeit. 1919 wurde in Singapur die Jungenschule Chinese High School 19 eingerichtet, die erste chinesische Schule, die über die sechs Grundschuljahre hinausging. In den englischsprachigen Missionsschulen war dies längst gegeben (Yen 2003:137). Weiterführende chinesische Schulbildung wurde in Singapur somit zuerst für Jungen eingeführt. Die männliche chinesische Bevölkerung konnte ab der Öffnung der Chinese High School soziale Mobilität auch über chinesische Ausbildung erlangen. Bis dato war ihnen diese Mobilität nicht möglich, solange sie sich keine chinesischsprachige weiterführende Ausbildung in China bzw. keine englischsprachige Secondary School in Malaya leisten konnten oder wollten. Statuszuwachs mittels chinesischer Bildung konnten chinesische Mädchen hingegen nur sehr langsam erlangen. In den chinesischen Schulen wurde sich sprachlich, politisch und kulturell an China orientiert. Die Entwicklungen in China beeinflussten die ChinesInnen in Singapur und Malaya damals noch sehr unmittelbar. Zu jener Zeit kamen nicht nur viele ImmigrantInnen aus ihrem ,Mutterland‘ direkt nach Südostasien, sondern viele der Ankommenden hatten auch noch die Vorstellung, wieder zurückzugehen. Somit lag eine Orientierung am Herkunftsland auf der Hand (Huff 1994:163f.). 1911 wurde in China Mandarin als nationale Sprache und damit auch als schulische Unterrichtssprache in Malaya eingeführt. Das chinesische Ausbildungssystem, an dem sich die qiaoju (chinesisch etwa ,Menschen, die vorübergehend an einem anderen Ort verweilen‘)20 orientierten, war in China selbst entwickelt worden und wurde dort als sehr bedeutsam erachtet. Nach konfuzianischer Wertvorstellung wird Bildung als der Schlüssel zum Erfolg angesehen (Göransson 2010:119). Dieser Grundsatz hat bis heute Bestand und stellt auch 19 Die Chinese High School wurde später in Hwa Chong Institution umbenannt und stellt heutzutage eine Eliteschule dar. 20 Später bezeichneten sich die ChinesInnen als huaqiao (,Chinese StaatsbürgerInnen außerhalb ihres Heimatlandes‘) und verwiesen damit sprachlich auf ein verändertes Bewusstsein über ihren Migrationsstatus.

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für diejenigen ChinesInnen, die ein englischsprachiges Schulsystem durchlaufen, Orientierungsmaßstab dar. Dieser Aspekt wird im Laufe der Arbeit immer wieder aufgegriffen. Mit diesen Erfolgserwartungen an Bildung ist die formale Bildung im China des 19. und 20. Jahrhunderts zum universalen Bestandteil der Staatsideologie geworden. In den bewegten Phasen chinesischer Geschichte von der TaipingRebellion 1850 über die soziale Revolution 1900 bis 1911 bis zur sozialistischen Revolution 1949 wurde der ,gebildete Geist‘ zum Kernstück des jeweiligen Revolutionserfolgs auserkoren (Yao 2008:317; Hong 1997). Trotz aller gesellschaftlichen Umbrüche in eben jener Zeit war in China eine neunjährige Schulpflicht in allen historischen Phasen wichtig. Kipnis (2009:204) bewertet das geschaffene Fundament der Bildung in China als eine der wichtigsten Errungenschaften des Landes im letzten Jahrhundert. Die Schulbücher in British Malaya kamen direkt aus China. Diese Unterrichtsmaterialien lehrten nicht nur eine Liebe zu China, sondern auch eine Abwehrhaltung gegen ausländische Einflüsse und später eine prokommunistische Haltung. Während die britische Kolonialregierung in den Anfängen des chinesischen Schulsystems noch wenig Interesse an diesen Schulen zeigte,21 sah sie sich durch diese neuen inhaltlichen Entwicklungen bedroht. Sie veranlasste 1920 deshalb eine Registrierung aller SchülerInnen und MitarbeiterInnen der chinesischen Schulen, um die politischen Prozesse an den Schulen kontrollieren zu können. Es folgten Auseinandersetzungen zwischen AnhängerInnen chinesischer Bildung und der Kolonialregierung. Erstere wollten grundsätzlich eigene Entscheidungen über ihre Art des Bildungssystems und der damit verbundenen ethnischen Identifizierung treffen. Konkret wollten sie Mandarin nicht länger als Unterrichtssprache mit geringerem Stellenwert als das Englische akzeptieren (Ackermann 1997:30). Die Briten werteten das chinesische Ausbildungssystem ab, indem sie nur die Abschlüsse der britischen Schulen für Arbeitsanstellungen anerkannten, nicht aber die Abschlüsse der chinesischen Ausbildung (Tan Y.K./Chow/Goh, C. 2008:23). Soziale Mobilität blieb trotz chinesischer Gegenstrategie im Bildungssektor weiterhin nur für die englischsprachige, christlich ausgebildete männliche Bevölkerung leichter umsetzbar. 21 Die Briten interessierten sich deshalb nicht für das chinesische Ausbildungssystem, da sie die chinesische Bevölkerung als ImmigrantInnen betrachteten, die früher oder später wieder das Land verlassen würden. Dementsprechend bezuschussten sie auch nur solche chinesischsprachigen Schulen, die von britischen Missionaren gegründet wurden bzw. die ‚Free Schools‘, die auf eben dieser Sprache unterrichteten (Tan Y.K./Chow/Goh, C. 2008:21f.), nicht aber die von Chinesen eigens gegründeten chinesischen Schulen.

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Abschließend lässt sich feststellen, dass durch das Ausbildungssystem starke Segregationslinien sowohl zwischen den Bevölkerungsgruppen als auch zwischen den Geschlechtern geschaffen wurden, die in der Konstituierung einer männlichen englischsprachigen, christlichen, chinesischen Elite in British Malaya mündeten. Diese kolonialzeitlich begründeten Zusammenhänge verstärkten sich in der weiteren Geschichte des heutigen Malaysias und Singapurs durch vielfältige politische Prozesse. Die ethnisch forcierten und geschlechtlich normierten Grenzen bildet den Schwerpunkt der folgenden Erläuterungen. 3.2.3 Rassismus zwischen malaiischer und chinesischer Bevölkerung Die heute noch gültige Unterteilung der Gesellschaften Malaysias und Singapurs in ,Chinese, Malays, Indians, Others‘ (,CMIO‘) wurde zu großen Teilen kategorisch von der britischen Kolonialregierung festgelegt (Hefner 2001b:42). Sie segregierte die migrantischen Bevölkerungen nicht nur durch das Schulsystem, sondern darüber hinaus sozial, ökonomisch und geografisch.22 Die Kolonialregierung setzte den Zensus als Element von Klassifizierung und Steuerung ein, indem sie hierdurch eine einst „permeable ethnicity“ (Hefner 2001b:13) soweit kontrollierte, bis starre Zuschreibungen festgeschrieben worden waren. 23 Ethnische Grenzziehungen wurden in erster Linie von außen vorgenommen:

22 Die Einteilung der Bevölkerung wirkte sich auch auf Raffles’ Stadtplanung in Singapur aus, indem er Stadtviertel für die einzelnen Bevölkerungs- (und Dialekt-)gruppen anlegte (Ackermann 1997:27). Das heutige Chinatown und Little India sind davon Zeugnisse. 23 In den Zensusdaten von 1871 wurde die Bevölkerung noch sehr differenziert von der britischen Kolonialverwaltung erfasst. In den nächsten Erhebungen bis 1921 wurden die Bezeichnungen für die einzelnen Gruppen immer gröber und oberflächlicher. Diese Zensuserfassungen bilden die Basis der heutigen Einteilung ,CMIO‘. Im ersten Zensus von 1871 werden folgende Bevölkerungsgruppen und -teile genannt und geordnet: „Europeans, and Americans, Armenians, Jews, Eurasians, Abyssinians, Achinese, Africans, Andamanese, Arabs, Bengalis and other natives of India not particularized, Boyanese, Bugis, Burmese, Chinese, Cochin Chinese, Dyaks, Hindoos, Japanese, Javanese, Jaweepekans, Klings, Malays, Manilamen, Mantras, Parsees, Persians, Siamese, Singhalese, Military – British, Military – Indian, Prisoners – Local, and Prisoners – Transmarine.“ Manche dieser Genannten wurden nur mit einer Person beziffert. In den nächsten drei Zensusdaten wurde “Chinese“ als ein zusammenfassender

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„Where before there had been a canopied civilizational identity that facilitated easy cultural exchange among many (although never all) of the region’s ethnic groups, European colonialism laid the foundation for the rigidly oppositional identities of ‘plural societies’ fame“ (Hefner 2001b:42).

Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs veränderte sich das Miteinander der Bevölkerungsgruppen erneut. Unter japanischer Besatzung wurden die Bevölkerungsgruppen gegenseitig ausgespielt. Malaya und Singapur waren von 1941/1942 bis 1945 von japanischem Militär unter faschistischer Führung24 besetzt. Auf Grund

Begriff für „Cantonese“, „Hokkien“, „Hailam“, „Kheh“, „Straits-born“ und „Teochew“ genutzt. Im Zensus von 1921 gab es zusätzliche Differenzierungen: „Hokchiu“, „Hokchia“, „Hin Hoa“, „Kwongsai“ und „from the Northern Provinces“ wie Peking, Shanghai usw. Ausformulierungen wie „Malays and other Natives of the Archipelago“ werden in „Malays“ gekürzt. Ab diesem Jahr wurden die sechs Kategorien „Europeans“, „Eurasians“, „Malays“, „Chinese“, „Indians“, „Others“ gefasst, was dem heutigen „Chinese“, „Malays“, „Indians“ und „Others“ (,CMIO‘) bereits sehr nahe kommt (PuruShotam 1998b:60ff.). 24 Der Begriff des ,Faschismus‘ ist in diesem Zusammenhang umstritten. Ich benutze ihn, da die entsprechenden Strukturen, die faschistische Systeme ausmachen, wie eine ,Volksgemeinschaftsideologie‘ als Ersatz für Klassenauseinandersetzungen, ein imperialistisch ausgerichteter Kapitalismus, ein Nationalismus, ein Führer- und Unterordnungsprinzip und ein Allmachtsglaube, auf die Verhältnisse im damaligen Japan zutreffen. Der japanische Faschismus (jap. fashizumu) entwickelte sich in den 1920er Jahren während der ökonomischen Shôwa-Krisenereignisse. Die japanischen Faschisten versprachen die Auflösung der Klassengesellschaft durch das Heraufbeschwören eines Staates und einer Nation, die durch ,natürliche Blutsbande des Volkes‘ geeint würden. Der Tennô (Kaiser) wurde als ,Inkarnation höchster Tugend‘ betrachtet. Die soziale und politische Basis des sich entwickelnden Faschismus in Japan stellten die Mittelklassen dar. Die Militärs übernahmen ab den 1920er Jahren die Führung der faschistischen Bewegung. Ab 1928 wurden Meinungsäußerungen eingeschränkt und Oppositionelle inhaftiert. Ab 1937 propagierte die Regierung eine „Großasiatische Neuordnung“ (Daitôa shintaisei). 1940 wurden alle Parteien Japans von der faschistischen Bewegung ,Abgeordnetenbund zur Durchführung des heiligen Krieges‘ (Seisen kantetsu giin renmei) verboten. Japan wurde zur „großen Nation“ und zum künftigen „Führer in Ostasien“ ernannt. Militärische Aktionen nach außen waren unmittelbar mit der Stabilisierung des Herrschaftssystems im Inneren verbunden. Mit der Vorstellung ,Asien den Asiaten‘ entwickelten die japanischen Faschisten die Vision eines ,Großasia-

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der spezifischen Geschichte von Japan mit China25 betrachteten die Japaner die gesamte chinesische Bevölkerung in Malaya und Singapur als ihre Gegner und verübten unzählige Massaker und Folterungen an ihnen.26 Die knapp 1.400 chinesischen Schulen wurden von ihnen verboten (von Kopp 2002:43). Die Japaner hatten ein großes Interesse daran, die malaiische Bevölkerung gegen die chinesische aufzuhetzen, um lokale Unterstützung in ihren politischen Plänen und Strategien zu bekommen (Syed 2008:63-71; Chin Peng 2003:127). Diese Prozesse führten zu aggressiven Konfliktlinien zwischen malaiischer und chinesischer Bevölkerung. Diese Polarisierungen von ,race‘ wurden nach der Kapitulation Japans 1945 mit der Neubesetzung durch die britische Kolonialregierung und den späteren Unabhängigkeitsprozessen transformiert fortgeführt. Unter der Verfassung von 1946 wurden die Teile der Straits Settlements Penang und Melaka an Malaya angeschlossen und Singapur als separate Kronkolonie weitergeführt. Dies liefertischen Reichs‘, mit JapanerInnen als ,Herrenrasse‘ an der Spitze. Zur Mobilisierung von Bündnispartnern wurde diese Ideologie mit einer Rhetorik der ,Befreiung der asiatischen Völker von der Kolonialherrschaft‘ verknüpft. Diese angebliche antikoloniale Befreiung war mit Machtansprüchen auf Territorien in Ost- und Südostasien verbunden und diente in der späteren Besatzung als ideologische Rechtfertigung für den Krieg gegen China und andere asiatische Staaten. Ideologische und praktische Unterstützung gab das Achsen-Bündnis von 1936 mit dem faschistischen Deutschland und Italien (vgl. Tansman 2009; Schäfer 2007; Rheinisches JournalistInnenbüro 2005:213ff.; Takeshi 1989; Kong 1982). 25 Japanische Militärs führten 1894/95 den ersten Krieg gegen China, u. a. um Korea einzunehmen. China profitierte von den koreanischen Ressourcen und Korea zahlte bis dato Tribut an das chinesische Kaiserhaus. Die Japaner gewannen den Krieg und gingen damit den Schritt in Richtung ihrer anvisierten ,asiatischen Großmacht‘. 1937 marschierten japanische Truppen in China ein und erreichten am 8. Dezember 1937 die damalige Hauptstadt Nanking, um eine von ihnen betitelte ,Säuberungs- und Ausrottungsaktion‘ gegen die chinesische Bevölkerung durchzuführen. Diese Aktion endete mit ca. 370.000 Toten und 20.000 bis 80.000 Vergewaltigungen. Der japanische Vernichtungskrieg gegen China dauerte von 1937 bis 1945, in dem Schätzungen zufolge 21 Millionen Menschen starben (Rheinisches JournalistInnenbüro 2005:215228). 26 Um gegen die japanischen Faschisten zu kämpfen, organisierte sich eine Vielzahl überwiegend chinesischer Menschen in der Kommunistischen Partei Malayas (KPM) und ihrer Malayan’s People’s Anti-Japanese Army (MPAJA). Sie formierten sich auch durch den starken Bezug zum damaligen kommunistischen ,Mutterland‘ China (vgl. Khoo, A. 2004; Chin Peng 2003).

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te den Grundstein für ein unabhängig von Malaya verwaltetes, chinesisches Singapur. Die chinesisch ausgerichtete People’s Action Party (PAP) unter Lee Kuan Yew27 gewann nach der kompletten Ausschaltung der sozialistischen und kommunistischen Opposition (vgl. Poh/Tan/Hong 2013) die ersten Wahlen und regiert das Land bis heute. Durch dieses faktische Einparteiensystem konstituierte sich in Singapur eine starke chinesische Regierungsführung (Gunn 2008:219, 232-244). Das Beibehalten der segregierenden rassistischen Strategien sichert das Ziel, dass die chinesische Mehrheitsgesellschaft aufrechterhalten bleibt. Trotz der begonnenen formalen Trennung der Staaten Singapur und Malaysia setzte sich die nationalstaatlich und ethnisch verwobene Geschichte weiter fort. Die PAP verfolgte unmittelbar nach der Trennung einen erneuten politischen Zusammenschluss mit Malaya. Der Grund dafür war, das Festland als ressourcenreiches Hinterland für die eigene ressourcenkarge Insel nutzen zu wollen. Malayas erster Premierminister Tunku Abdul Rahman stimmte dieser Zusammenführung zu, da er am Profit aus dem Umschlaghafen Singapurs interessiert war und Kontrolle über kommunistische Strukturen in Singapur, die er zu bekämpfen versuchte, erlangen wollte (Mohamad Abu Bakar 2009:53; Ooi 2009:42; Gunn 2008:245). Die Briten, die als (post-)koloniale Macht in der Region fungierten, sprachen sich ebenfalls für den erneuten Zusammenschluss von Malaya und Singapur aus, u. a. um ein postkoloniales Gefüge28 gegen kommunistische Strukturen in Malaya und auf Borneo zu schaffen (Stockwell 2009:14; Lau 2009:101f.). 1961 entschied sich die Regierung in Kuala Lumpur, Singapur als Teil der Federation of Malaysia aufzunehmen. Der Begriff Malaysia setzt sich seitdem aus ,Malaya‘ und ,Singapore‘ zusammen. Die malaiisch-malaysische Regierung unter der United Malays National Organisation (UMNO)29 entwickelte im Zuge der erneuten Zusammenführung eine bestimmte Strategie gegen das chinesisch dominierte Singapur. Sie wollte ein demografisches ,Gegengewicht‘ zu dessen chinesischer Dominanz schaffen: Der Zusammenschluss beider Länder bezog auch die geografischen Teile Sabah und Sarawak auf Borneo mit ein, die erst seitdem als Bundesstaaten zu Malaysia ge27 Lee Kuan Yew war der erste Premierminister Singapurs und übte dieses Amt bis 1990 aus. Er studierte an der Eliteuniversität Cambridge in Groß Britannien. Anschließend wurde Goh Chok Tong Premierminister bis 2004, wobei Lee Kuan Yew Senior Minister in seinem Kabinett wurde. Seit 2004 ist Lee K.Y.s Sohn Lee Hsien Loong Singapurs Premier, mit seinem Vater im Amt des Minister Mentor, das speziell für ihn eingerichtet wurde. 28 Nordborneo, Festlandmalaysia und Singapur standen alle unter britischer Kolonialverwaltung (vgl. Osborne 2004:230). 29 UMNO ist seit der Unabhängigkeit bis heute stärkste Regierungspartei.

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hören (Ooi 2009:42). Malaiisch-MalaysierInnen und die indigene Bevölkerung in Sabah, Sarawak (Iban, Dayak, Kadazandusun) und Festlandmalaysia (Orang Asli) werden von nun an unter dem Begriff Bumiputeras (,Kinder der Erde‘) gefasst, womit ihnen eine gemeinsame Zuschreibung als ,wahre Indigene‘ Malaysias zukommt und dadurch eine entsprechende Vorrangstellung zugesprochen werden soll. „[…] [T]he ketuanan Melayu [Malay supremacy] ideology has survived to combine constructed indigenity and political primacy in the figure of the bumiputera Malay, […] dominating as first-among-equals in the racial governmentality of multiculturalism in Malaysia“ (Goh, D./Holden 2009:8, Hervorheb. im Orig.).

In der Praxis profiert allerdings ausschließlich die malaiisch-malaysische Bevölkerungsgruppe vom Konzept der Bumiputeras, die indigene Bevölkerung bekommt keinen Anteil an den Bevorteilungen. Das Konzept der Bumiputeras wird sowohl für chinesisch-malaysische Bildungsmigrantinnen zur Differenzierung wie auch für malaiisch-malaysische Studentinnen als Bezugspunkt Bedeutsamkeit erlangen. Die durch ethnisch basierte Identitätspolitiken entstandenen Differenzen wurden durch diese strategische Politik der malaysischen Regierung verstärkt und gleichzeitig auch von der singapurischen Regierung weitergeführt. Das Verhältnis zwischen Singapur und Kuala Lumpur gestaltete sich somit als äußerst konfliktreich. Die malaiische Regierungspartei UMNO führte zu jener Zeit eine Kampagne durch, um spezielle Rechte für MalaiInnen in Singapur sicherzustellen. Die singapurische PAP diskriminierte die malaiische Bevölkerung in Singapur, indem sie ihnen Zugänge zum Arbeitsmarkt und zu Land erschwerte. Im Mai 1965 verlautbarte die PAP, dass sie ausschließlich ein malaysisches, jedoch kein malaiisches Malaysia unterstütze und betonte damit eine nationale Identifizierung, die die ethnische Zugehörigkeit der MalaiInnen nicht anerkennen wollte (Goh, D./Holden 2009:6). Nicht nur auf Regierungsseite, sondern auch in der Bevölkerung gab es starke Spannungen zwischen ChinesInnen und MalaiInnen. 1964, während der Zeit des Zusammenschlusses beider Länder, gab es in Singapur Auseinandersetzungen zwischen eben diesen Bevölkerungsgruppen mit insgesamt 34 Toten. Nach diversen, teils gewaltsamen Konflikten entlang chinesischer und malaiischer Linien sowohl zwischen als auch innerhalb beider Länder unterzeichneten Singapur und Kuala Lumpur schließlich am 9. August 1965 einen Separationsvertrag (Gunn 2008:255). Die immer schärferen ethnischen Inklusions- und Exklusionslinien überlagerten im Laufe der Zeit sämtliche politische Themenfelder, z. B. das der Frau-

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enrechte. Im Zuge der Vorbereitungen auf die Unabhängigkeit agierten auch antikoloniale Bewegungen, in denen Frauen sehr aktiv waren. Unter anderem beeinflusst von weltweiten Frauenkämpfen gründeten Frauen zwischen 1946 und 1960 in Malay(si)a verschiedene Frauengruppen. Durch diese Gruppen sollten Zugänge zu politischer und ökonomischer Mobilität von Frauen erreicht werden. Die Frauengruppen stellten konkrete Forderungen nach Reformen für gleichen Zugang zu Bildung und zu öffentlichen Dienstleistungsjobs sowie für gleiche Bezahlung und gleiche Eherechte (Ng, C./Maznah/tan 2007:17-20, 35). Den Grundstein für die Präsenz von Frauen in dieser Zeit legte in der Tat die Einführung der formalen Schulbildung für Mädchen während der Kolonialzeit, auch wenn diese ursprünglich nicht darauf zielte, Frauen auf Partizipation im öffentlichen Leben vorzubereiten (Maznah 2002a:218). Angesichts der machtvollen Ethnizitätspolitiken formten sich die Frauengruppen v. a. um ethnische Grenzlinien, so dass einige wenige multikulturelle Frauengruppen die Ausnahmen bildeten.30 Eine Formulierung von Forderungen nach Gleichstellung über die ethnischen Grenzen hinweg kam somit kaum zustande (Maznah 2002b:85). Resümierend kann festgestellt werden, dass die staatlich kontrollierte Multikulturalität in Malaysia und Singapur die ethnischen chinesischen und malaiischen Identifizierungen disziplinierend aufrechterhält und gleichzeitig das hierarchisierende Konzept der ,Erste unter Gleichen‘ ermöglicht. Die ethnischen Grenzen verhindern umfassende Formulierungen von geschlechterpolitischen Fragen über diese Grenzen hinweg.

3.3 V ON

DER

U NABHÄNGIGKEIT

BIS ZUR

G EGENWART

3.3.1 Malaysia: Entwicklung einer frauengeprägten, muslimisch-malaiischen Mittelklasse Die kulturellen und ethnischen Grenzziehungsprozesse zwischen malaiischer und chinesischer Bevölkerung erfuhren in Malaysia ihren Höhepunkt in gewaltsamen Auseinandersetzungen am 13. Mai 1969. An jenem Tag versammelte sich

30 1946 gründete die Malay Nationalist Party (MNP) als erste Partei einen Frauenflügel, den Angkatan Wanita Sedar (AWAS – Kraft der erwachenden Frauen). 1963, sechs Jahre nach der Unabhängigkeit, wurde die außerparlamentarische multikulturelle Frauenorganisation National Council for Women’s Organisation (NCWO) gegründet, die Institutionen für Gleichstellung von Frauen sensibilisieren wollte (Ng, C./Maznah/tan 2007:17, 19).

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eine große Gruppe MalaiInnen in Kampung Baru, einem Stadtteil in Kuala Lumpur mit überwiegend malaiisch-malaysischer Bevölkerung. Jenem Tag gingen nationale Wahlen voraus, die durch einen Wahlkampf mit rassistischer Hetze in verschiedenste Richtungen geprägt war (Syed 2008:71). Aus der malaiischmalaysischen Gruppe in Kampung Baru griffen Menschen einen chinesischen Mopedfahrer an und töteten ihn mit parangs (Macheten) (Syed 2008:71f.; Kua 2007:41f.). Auch in den folgenden Tagen griffen Gruppen von MalaiischMalaysierInnen Chinesisch-MalaysierInnen in Kuala Lumpur an. Daraus entwickelte sich eine übergreifende gewaltvolle Dynamik, die auch zu Auseinandersetzungen zwischen eben diesen Bevölkerungsgruppen in Penang, Melaka und Singapur führte. Innerhalb weniger Tage gab es offiziell 137 Tote, gut 300 Verletzte, mehrere hundert ausgebrannte Häuser und Fahrzeuge. Der überwiegende Teil der getöteten Menschen waren Chinesisch-MalaysierInnen (Kua 2007:41, 46, 52f., 62).31 Seit dem 13. Mai 1969 werden alle Bereiche des politischen, gesellschaftlichen und sozialen Lebens Malaysias als „ethnically reduced, or hyperethnicized“ (Maznah 2002b:87) angesehen. Die seit diesem Datum fundamental zugespitzten Konfliktlinien entlang malaiischer und chinesischer Zugehörigkeiten haben bis heute grundlegende Konsequenzen für die malaysische Gesellschaft. Jener Tag stellte einen Kulminationspunkt in der Geschichte Malaysias dar,32 dessen Hintergründe und Auswirkungen „alles bestimmen, was wir tun sowie jede und jeden immerzu in einer bestimmten gesellschaftlichen Position verorten, egal, ob wir damals schon gelebt haben oder nicht“, wie es meine chinesischmalaysische Gesprächspartnerin Doreen Hemmy einmal ausdrückte. Nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen wertete die malaysische Regierung die malaiisch-malaysische Bevölkerung auf und die chinesischmalaysische stark ab. Die malaiisch-malaysische Regierung unter UMNO führte im Zuge der lokal genannten ,racial riots‘ öffentliche Debatten über eine ökonomische Macht der Chinesisch-MalaysierInnen und einer gleichzeitigen ökonomischen Schwäche der Malaiisch-MalaysierInnen. Erstere müsse ,gebrochen‘ werden, Letztere gestärkt sowie durch politische Macht unterstützt werden. Die Stärkung der einen ethnischen Gruppe sollte somit durch die Lokalisierung und Disziplinierung der anderen Gruppe erreicht werden. Dabei wurde sich auf die historischen Entwicklungen im Land bezogen, in denen die chinesische Bevölke31 Es wurden 119 Chinesisch-MalaysierInnen im Gegensatz zu 18 Malaiisch-MalaysierInnen getötet (Kua 2007:62). 32 Weitere bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Malaiisch- und ChinesischMalaysierInnen, wenn auch in viel kleinerem Umfang, folgten in den nächsten vier Dekaden (Kua 2007:7f.).

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rung Malaysias als reich, in Handel und Geschäften involviert und in den städtischen Zentren lebend stilisiert wurde (Syed 2008:74; Abdul Rahman 2001:83).33 Die malaiisch-malaysische Bevölkerung sei nach Regierungsaussage in ländlichen Gebieten in der Landwirtschaft vorherrschend und dadurch der ärmeren Bevölkerung zuzurechnen, die nur wenige Aussichten auf ökonomische und soziale Besserung habe (Saravanamuttu 2001:106). 34 In den nationalstaatlichen und gesellschaftlichen Debatten um die ,racial riots‘ stand ,race‘ als essentialistische Kategorie im Vordergrund und verschleierte dadurch weitergehende politische Dimensionen des Ereignisses: „The elevation of the riots of 1964 and 1969 to the status of national traumas justifies policies of multiracialism, inscribing a belief in the primordiality of racial conflict deep in the national psyches of the two countries [Malaysia and Singapore] and erasing the political contingencies that led to the events in the first place – remembering the riots as essentially ‘racial’ riots has very different consequences than understanding them as political events“ (Goh, D./Holden 2009:7).

Mit dem alleinigen Bezug auf ,race‘ wurde es der malaysischen Regierung möglich, die fokussierten Zusammenhänge zwischen Ethnizität und Klasse zu nutzen, um eine positive Veränderung der Situation der Malaiisch-MalaysierInnen herbeizuführen. 1970 brachte die Regierung Gesetze der Dasar Ekonomi Baru (DEB) oder New Economic Policy (NEP) (zwischen 1971 und 1991) und der National Development Policy (NDP) (ab 1991) auf den Weg (Chong 2005:50). Mithilfe der NEP sollte der malaiisch-malaysischen Bevölkerung mehr Chancen im Bildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt eröffnet werden (Norani 1998:173), wodurch sie die gewollte soziale und ökonomische Stärkung erfahren sollte. Die entsprechende wirtschaftliche Entwicklung wurde von Regierungsseite in den Zusammenhang mit einer lokalen ,Modernisierung‘ gestellt.35 Die 1980er 33 Im Jahr 2010 leben in der Tat z. B. 655.413 Chinesisch-MalaysierInnen in der Hauptstadt Kuala Lumpur, aber nur 51.614 im ländlichen Gebiet Kelantan oder 26.429 in Terengganu (Department of Statistics, Malaysia 2010:85, 95f.). 34 Widersprüche in diesen Zuordnungen, d. h. die Existenz von ebenso materiell armen ChinesInnen und wohlhabenden Malaiisch-MalaysierInnen, wurden ignoriert. Es hilft genauer zu formulieren, dass die ökonomische Macht in den Händen einer chinesischen Elite und die politische Macht in den Händen einer malaiischen Elite lag (vgl. Syed 2008:17) und immer noch liegt. 35 Die modernistische ökonomische Entwicklung wurde später konkret durch den Industrial Master Plan von 1985 umgesetzt, der das nationale Autoprojekt ,Proton‘, die

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Jahre in Malaysia unter Premierminister Mahathir Mohamad waren von jener Zeit an geprägt von ökonomischem Wachstum und der Entwicklung stetig neuer, ,moderner‘ ökonomischer Projekte, die mit ,malaiischer Kultur‘ verbunden wurden. Durch diesen „new Malay capitalism“ (Hefner 2001b:30) wurde in Malaysia die Ideologie der malaiischen Vorrangstellung (ketuanan Melayu) institutionell weiter festgeschrieben und bekam politische Glaubwürdigkeit. Diese ethnisch-modernisierenden Prozesse waren für die AkteurInnen der vorliegenden Arbeit unmittelbar erfahrbar und werden in allen Narrationen von Relevanz sein. Die chinesische Bevölkerung wurde gleichzeitig von den Arbeitsmarkt- und Bildungszugängen staatlicherseits weitestgehend ausgeschlossen. Diese Bevölkerungsgruppe profitierte trotz Ausschluss dennoch indirekt von den nationalen Wirtschaftspolitiken, da die neu geschaffenen Arbeitsstellen auf Grund des hohen Bedarfs an Arbeitskräften auch mit Chinesisch-MalaysierInnen besetzt wurden. Innerhalb der rassistischen Konfliktlinien, die entlang der malaiisch- und chinesisch-malaysischen Bevölkerungsgruppe verlaufen, nahm und nimmt die indisch-malaysische Bevölkerung bis heute keine aktive Rolle ein. Die Politiken des sogenannten developmentalist state um NDP/NEP wurden der inneren Logik entsprechend erfolgreich umgesetzt. Malaysia wurde innerhalb der letzten vier Dekaden von einem eher landwirtschaftlich geprägten zu einem hochindustrialisierten, ,modernen‘ Staat mit ausgeprägter Mittelklasse entwickelt.36 Deren weibliche Subjekte werden in Kapitel 6 eine bedeutende Rolle spielen. Das Ziel war und ist ein Malaysia mit ,moderner‘ Ökonomie. Diese soll mithilfe der staatlichen Modernisierungspolitik ,Wawasan 2020‘ oder ,Vision 2020‘ umgesetzt werden, einer Strategie, die Malaysia bis zum Jahr 2020 zu einem komplett industrialisierten Land verändern soll. In dieser ,malaysischen Modernität‘ wird eine Art ,neue Traditionalität‘ fokussiert, die die dichotome Denkweise zwischen ,Orient‘ und ,Okzident‘ überwindet. Die Dichotomie zwi,Megaprojekte‘ des Kuala Lumpur International Airport (KLIA) und der administrativen Hauptstadt Putrajaya sowie die Petronas Twin Towers und den Multimedia Super Corridor einführte (Gomes 2007:49). 36 Während 1970 noch 54 % der gesamten Arbeitskraft in der Landwirtschaft involviert waren, waren es 1990 nur noch 28 % und 1998 nur noch 16,8 %. Im Produktionssektor wuchsen die Arbeitskräfte gleichzeitig an: von 8,7 % 1970 auf 19,5 % 1990 und 27 % 1998 (Abdul Rahman 2001:83; vgl. Saravanamuttu 2001:106f.). In der malaiischen Bevölkerung wuchs konkret die Anzahl der leitenden Angestellten und Manager von 5.000 im Jahr 1970 auf 54.000 im Jahr 1990. Die Anzahl an malaiischen AkademikerInnen und FacharbeiterInnen stieg von 34.000 im Jahr 1980 (entsprach 9,1 % der arbeitenden Bevölkerung Kuala Lumpurs) auf 59.000 im Jahr 1990 (entsprach 12,4 % der arbeitenden Bevölkerung Kuala Lumpurs) (Chong 2005:50).

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schen ethnisch und religiös konnotierten Gruppen wird im Konzept der malaysischen Modernität indes nicht überwunden: Die sich in diesen Dynamiken entwickelte ,moderne‘ malaiisch-malaysische Mittelklasse wird gegenwärtig im offiziellen Bild des sogenannten Melayu Baru – des ,Neuen Malaien‘ verkörpert (vgl. Chong 2005; Kessler 2001; Saravanamuttu 2001; Sharifah 2001; Norani 1998; Kahn 1996). Abbildung 6: Putra-Moschee in Putrajaya

Die Grenzlinien des Zugangs zu Entwicklungen des ökonomischen und industriellen Wachstums verliefen in Malaysia in den letzten vier Dekaden zwischen ethnischen Gruppen, aber auch zwischen den Geschlechtern und zwischen geografischen Regionen. Am meisten profitierten von den Entwicklungen Frauen – den ethnischen Politiken entsprechend malaiisch-malaysische Frauen. Die neu geschaffenen Zugänge zum Bildungsbereich und zum Arbeitsmarkt galten nun für Frauen gleichermaßen wie für Männer (Norani 1998:173). Die Gründe für den großen Nutzen für Frauen waren vielseitig. Die Grundlage für einen Wandel des Geschlechterverständnisses bildeten die fruchtenden Frauenkämpfe der 1950er/1960er Jahre. Im Zuge der geänderten Wirtschaftspolitiken und damit einhergehenden Modernitätsaspirationen wurden konkret die Löhne der Ehefrau-

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en und Töchter als unabdingbar für einen gehobeneren Lebensstil erachtet (Ting 2007:82). Von staatlicher Seite aus wurde in der Wirtschaftspolitik NEP zudem jede Arbeitskraft für den wirtschaftlichen Aufschwung gebraucht. Als ,billige Arbeitskräfte‘ waren Frauen begehrter als Männer (Ong 2003:272). Darüber hinaus war die NEP in eine staatliche Modernisierungspolitik eingebettet, die Demokratisierung auch als erweiterte Handlungsmöglichkeiten von Frauen versteht. Soziale Mobilität von Frauen wurde im Laufe der Entwicklungen somit auch zu einer staatlich gewollten Angelegenheit, mit der Funktion, sich innenund außenpolitisch als ,moderner‘ Staat präsentieren zu können. Die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs für malaiisch-malaysische Frauen infolge von Bildung werden besonders in Kapitel 4.3 zum Tragen kommen. In der konkreten Umsetzung der NEP wurden Frauen anfänglich in der Fabrikarbeit eingesetzt. Ende der 1970er Jahre ließen sich 80.000 Frauen zwischen 16 und 25 Jahren aus ländlichen Gebieten anwerben, um in den städtischen Fabriken und anderen urbanen Industriezweigen zu arbeiten (Frisk 2004:59). Auf Grund des hohen Anteils von Malaiisch-MalaysierInnen in ländlichen Gebieten (Department of Statistics, Malaysia 2010:82-98) migrierten v. a. malaiisch-malaysische Frauen in die Städte, um die neuen Möglichkeiten in Anspruch zu nehmen. Die geschlechtsspezifischen Zuschreibungen an den Industriesektor, die sich daraufhin entwickelten, werde ich ebenfalls besonders im Kapitel 4.3 wieder aufgreifen. Die Fabrikarbeitsplätze wuchsen im Zuge dieser Prozesse zwischen 1970 und 1980 für Frauen um 209 %, für Männer um 79,5 % an (Chitose 1998:103). Der Anstieg des Anteils malaiisch-malaysischer Frauen in den Städten bewirkte, dass es 1980 fast keine quantitative und ökonomische Differenz mehr zwischen MalaiischMalaysierinnen und den ökonomisch ohnehin besser aufgestellten ChinesischMalaysierinnen gab (Norani 1998:173). Die Frauen, die nun erstmals am formalen Arbeitsmarkt partizipierten, profitierten ferner durch die gleichzeitige Öffnung und Erweiterung von Bildungseinrichtungen auch durch den Zugang zu formaler Schulbildung. Den damit erreichten neuen sozialen Status erachteten viele der Frauen als erhaltenswert (Maznah 2002a:224f.). Folglich entwickelte sich eine neue männliche und weibliche malaiisch-malaysische Mittelklasse, die aus ,einfachen‘ Verhältnissen wie Bauern- und ,klassischen‘ ArbeiterInnenfamilien stammt. Akteurinnen aus dieser Mittelklasse werden verstärkt in Kapitel 6 zu Wort kommen.

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Abbildung 7: Petronas Twin Towers in KL

Zentrales identitätsstiftendes Moment dieser neuen männlichen wie weiblichen malaiisch-malaysischen Mittelklasse ist seit den 1970er Jahren neben tiefem Glauben an den Islam auch die Zustimmung zu malaiischem Nationalismus (Kahn 1996:15; vgl. Norani 1998). Auswirkungen dessen werden in Kapitel 6 bzgl. Weiblichkeitsbildern und Körperpraxen erörtert. Mit der Hinwendung zum muslimischen Glauben, in Malaysia der sunnitische Islam mit Shafi’iRechtsschule, erhofften sich manche eine Eröffnung neuer gesellschaftlicher Perspektiven, die vom Staat nicht direkt gegeben wurden.37 Urbanisierung und die Veränderungen der materiellen Bedingungen der Malaiisch-MalaysierInnen bewirkten, dass diese nun auf engem Raum mit NichtmalaiInnen zusammenlebten und mit ,westlichen‘ kulturellen Praktiken konfrontiert wurden, was viele als

37 Das Praktizieren des Rukun Islam – der fünf Säulen des Islam – sowie vornehmlich religiöse Kleidungsarten für Frauen wie das Kopftuch (tudung) werden erst seit eben jener Zeit breit umgesetzt (s. auch meine ausführlichen Erläuterungen zu den veränderten Kleidungsnormen und -praxen in Kap. 5.2.2).

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unangenehm empfanden (Frisk 2004:51f.). Der Islam wirkte unter diesen Bedingungen als Zufluchts- und Schutzsphäre. Zu jener Zeit handelten verschiedene gesellschaftliche Kräfte eine staatliche Islamisierung und Politisierung des Islam aus. Urbane Malaiisch-MalaysierInnen der Mittelklasse gründeten in den 1970er Jahren im Zusammenhang mit den Entwicklungen des NEP-basierten malaiischen Nationalbewusstseins verschiedene muslimische bis fundamental-islamische Gruppen und Bewegungen (orang-orang dakwah) (Frisk 2004:57). Die entsprechenden Gruppen streben eine islamische Gesellschaft bzw. einen islamischen Staat an und wollen teilweise religiös-fundamentalistische Prinzipien implementieren. Dies versuchen sie durch Missionierung von NichtmuslimInnen (dakwah, arabisch ,Ruf‘ zum Islam, auch ,Missionierung‘) einzuleiten. Durch diese Entwicklung der dakwahBewegung, die sich in der teilweise sehr einflussreichen Parti Islam Se-Malaysia PAS (Islamische Partei Malaysias)38 auch auf institutioneller Ebene etabliert hat, wurde die muslimisch-malaiische Regierungspartei UMNO gezwungen, den Islam stärker in ihr politisches Programm zu integrieren. Da beide Parteien muslimische Malaiisch-MalaysierInnen als ihre Zielgruppe und ihre WählerInnen definieren, konkurrierten sie darum, wer ,muslimischer‘ ausgerichtet war (Sharifa 2001:121ff.). Der bisherige muslimisch-religiöse Wandel wurde durch die sogenannte Islamische Revolution im Iran 1979 verstärkt (Ufen 2008:120), so dass

38 Die PAS regiert(e) die Bundesstaaten Kelantan (1959–1978 sowie seit 1990) und Terengganu (1959–1962 und 1999–2004) in Malaysias Nordosten, die sehr malaiischmalaysisch und rural geprägt sind: im Jahr 2010 sind 94,6 % der Bevölkerung Kelantans muslimische Malaiisch-MalaysierInnen, in Terengganu 96,8 % (Department of Statistics, Malaysia 2010:85, 95). Die PAS verfolgt eine fundamentalistische muslimische Politik. 1999 verkündete der Menteri Besar (Regierungschef) und ulama (religiöser Führer) von Kelantan, Datuk Nik Abdul Aziz Nik Mat, dass der Islam Frauen verbieten würde, in Führungspositionen zu arbeiten bzw. Frauen per se unter ein Arbeitsverbot gestellt werden sollen. Nach heftiger Kritik schränkte er diese Aussagen später ein. Er leitete umstrittene Gesetzesvorhaben wie die Steinigung für zina (außerehelicher Geschlechtsverkehr), Todesstrafe für eine Abkehr vom Islam, Schleierzwang für Muslima oder nach Geschlechtern getrennte Supermarktkassen ein. 2003 legte die PAS in Terengganu unter dem ulama und Menteri Besar Abdul Hadi Awang einen Gesetzesentwurf zur Einführung der hudud vor, also der vorgesehenen Ahndung der im Koran festgelegten Straftatbestände, was die Bundesregierung in Kuala Lumpur blockierte (Warnk 2008:141). 2003 legte die PAS zudem einen Islamstaatsentwurf vor (Ufen 2008:127).

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sich das islamische Selbstbewusstsein nicht nur aus innenpolitischen, sondern auch aus außenpolitischen Dynamiken heraus entwickelte.39 In malaiisch-malaysischen Modernitätsdebatten wird der Islam von institutionellen Seiten aus als bedeutender Aspekt der ,spirituellen Entwicklung‘ propagiert, die ,moderne‘ Entwicklung auf Grundlage der fünf Säulen des Islam40 beinhaltet. Diese Entwicklung des ,modernen Islam‘ steht der weitläufigen Annahme von Säkularisierung als Merkmal von ,Modernität‘ entgegen (Gomes 2007:42f.) und stellt damit einen eigenen malaysischen – malaiischen – Weg der Modernität dar. Der Status von Frauen wird in den lokalen Modernisierungs- und Demokratisierungsideologien mitgedacht. Dieser Status wurde zum Maßstab des ,modernen Islam‘ auserkoren, der sich angesichts der fundamental-islamischen Einflüsse in einer Weiblichkeit materialisiert, die mit einer überspitzten ethnischen Identifizierung vermengt wird. Diese Identifizierung wird idealtypisch von der verschleierten, zurückhaltenden, mütterlichen muslimischen Malaiisch-Malaysierin verkörpert (Zainah 2001:227). Das Kopftuch ist in Malaysia Symbol für einen politisierten Islam, mit dem Malaiisch-Malaysierinnen der Modernitätslogik entsprechend wichtige politische und religiöse Akteurinnen geworden sind (Stivens 2000:31). Dies wird in Kapitel 6.4 und 6.6 anhand von Fragen geschlechtlich normierter Sexualitäts- und Körperpraktiken vertieft diskutiert. Als Konsequenz aus diesen religiös-muslimischen Entwicklungen wird von nationalstaatlicher Seite aus seit den 1970er Jahren Malaiischsein mit Muslimischsein gleichgesetzt (Frith 2002). Aus diesen vielseitig verschränkten Bedingungen entwickelten sich die Vorrangstellungen der ,malaiisch-malaysischen Kultur‘ und des Islam. „To be Malay was explicitly marked as being Muslim; but it was also implicitly marked in opposition to Chinese and non-Muslim Indians. Malays came to use Islam, then, as an instrument of ethnic rivalry and state control“ (Hefner 2001b:22).

39 Die Politisierung des Islam führte z. B. zu einer Aufwertung des Hukum Syarak (auch Syariah Court – Shariah-Gericht), das eigentlich dem bürgerlichen High Court untersteht; in den Schulen und Universitäten wurden Islamkurse für Malaiisch-MalaysierInnen eingeführt und 1983 die Universiti Islam Antarabangsa Malaysia (Internationale Islamische Universität Malaysias) in Kuala Lumpurs gegründet. 40 Die fünf Säulen des Islam sind für jede/n gläubige/n Muslim/a verpflichtend: 1) Aussprache des muslimischen Glaubensbekenntnisses, 2) fünfmaliges, tägliches Gebet, 3) das Zahlen von zakat, der Steuer für Arme, 4) Fasten im Monat Ramadan, 5) Pilgerfahrt nach Mekka.

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,Malaiisch-malaysische Kultur‘ und der Islam fungieren als „twin obstacles to the development of Bangsa Malaysia [malaysische Nation], which in any case is suspect for being an Asian form of neoliberal multiculturalism“ (Goh, D./Holden 2009:11, Hervorheb. im Orig.). An Goh, D. und Holden anknüpfend kann ich abschließend resümieren, dass der ökonomische Aufstieg der malaysischen multikulturellen Nation staatlicherseits ausschließlich auf den Aufstieg der muslimischen Malaiisch-MalaysierInnen gemünzt wird, gekoppelt an den Statusaufstieg der malaiisch-malaysischen Frauen. Die chinesisch-malaysischen Bevölkerung wird aus diesen religiös, ethnisch und geschlechtsspezifisch geprägten Dynamiken seitens des Staates explizit ausgeschlossen. Die bisher beschriebenen politischen Prozesse um die Aufwertung muslimischmalaiischer – weiblicher – Zugehörigkeiten im Zusammenhang mit ökonomiegeleiteten, modernistischen und religiösen Staatspolitiken haben auch Auswirkungen auf einen letzten Aspekt: den der Bildung. Die Regierung und die Mehrheitsbevölkerung Malaysias legen großen Wert auf diesen Bereich. Aber, wie nach den bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein sollte, es erhält hier ausschließlich die muslimische malaiisch-malaysische Bevölkerung starke staatliche Unterstützung. Mit dem Themenkomplex der Bildung werde ich diesen Abschnitt zu den gesellschaftspolitischen Dynamiken Malaysias abschließen. 3.3.2 Malaysia: Rassistische Quoten im Bildungssystem als Migrationsfaktor Die wirtschaftlichen NEP-Politiken schlossen Bildungsfragen als wichtigen Faktor mit ein. Die Auswirkungen der nationalen Wirtschaftspolitiken in diesem Bereich, von denen Frauen am meisten profitierten, werden durch die Universitätsimmatrikulationen offenbar: Seit Mitte der 1980er Jahre überragen malaiischmalaysische Frauen die Männer zahlenmäßig an den staatlichen Universitäten, Polytechnics und Colleges.41

41 2006 besuchten 268.491 Frauen im Gegensatz zu 193.825 Männern den tertiären Bildungssektor in Malaysia. An der malaysischen Prestige-Universität Universiti Malaya (UM) waren 2006 15.583 Frauen im Gegensatz zu 9.435 Männern immatrikuliert. Bis einschließlich des Masters überwiegen die Frauen die Männer, auch in den naturwissenschaftlichen Fächern. 2006 absolvierten 16.500 Frauen Master-Studiengänge im Gegensatz zu 13.847 Männern. In den naturwissenschaftlichen Fächern bestehen 1.053 Frauen ihren Master sowie 612 Männer. Nur im Studienfach ,Ingenieur-

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Im Zusammenhang mit den malaysischen Bildungspolitiken ist erst einmal die ethnizitätspolitische Ebene auf Grund ihrer Wirkmächtigkeit zu betrachten. Ich werde mich nachfolgend erst auf den universitären, dann auf den schulischen Bereich konzentrieren, um mich dann entsprechenden geschlechtsbezogenen Fragen zu widmen. Einen wichtigen Meilenstein der ethnisch strukturierten Bildungspolitik stellen Quoten für die Immatrikulation von Malaiisch-MalaysierInnen an den staatlichen malaysischen Universitäten dar, die 1971 im Rahmen der NEP eingeführt wurden.42 Es zählt nicht unbedingt die Schulabschlussnote oder die sozialen Qualitäten für die Hochschulzugangsberechtigung, sondern in erster Linie die ethnische Zugehörigkeit zur malaiisch-malaysischen Bevölkerungsgruppe. 43 Die Auswirkungen lassen sich an Zahlen ablesen: In den 1970er Jahren waren quantitativ noch etwas mehr Chinesisch-MalaysierInnen als Malaiisch-MalaysierInnen in den Universitäten eingeschrieben, 1985 waren bereits ca. 2,5 Mal mehr Malaiisch- als Chinesisch-MalaysierInnen immatrikuliert, während Letztere nun vorwiegend im Ausland studierten (Chong 2005:50).

wissenschaften‘ überwiegen zahlenmäßig die Männer. Erst im Bereich der Promotionen dreht sich das Zahlenverhältnis um, wobei in Jura und den Naturwissenschaften die Zahlen ausgeglichen bleiben (Department of Statistics, Malaysia 2007:130-134). 42 Im Jahr 2002 wurden die Quotierungen offiziell vorübergehend ,abgeschafft‘ und stattdessen ein sogenannter ,leistungsabhängiger‘ Zugang zu den Universitäten eingeführt (Lee, M. 2004:14n.5). Praktisch verschärfte sich das ethnizitätsbasierte Mehrheitsverhältnis an den Universitäten jedoch: 69 % Bumiputera erhielten in jenem Jahr eine Studienplatzzusage im Gegensatz zu zuvor 55 % der Bumiputeras, von den Chinesisch-MalaysierInnen erhielten 26 % und von den Indisch-MalaysierInnen 5 % die entsprechende Zusage (Lee, M. 2004:58). 43 Durch regelmäßige Kritiken an der Regierung, ein Schulsystem geschaffen bzw. fortgeführt zu haben, das ethnische Segregationen aufrechterhält und fördert, wurde im Jahr 2000 ein Konzept für die Sekolah Wawasan („Vision Schools“) vorgelegt. Jeweils eine staatliche malaiischsprachige, eine chinesisch- und eine tamilischsprachige Schule soll hier denselben Gebäudekomplex nutzen, um Interaktionen zwischen den entsprechenden Gruppen zu fördern. VertreterInnen der chinesischen und tamilischen Bevölkerung kritisierten diesen Plan aus Angst, ihre Schulen mit ihren Sprachen würden dadurch zurückgedrängt (von Kopp 2002:67).

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Abbildung 8: Malaiisch-malaysische Studentinnen an der UM

Die Quotierungen gelten nicht nur für die Studienplätze, sondern auch für Stipendien. Etwa 80 % aller staatlichen Stipendien gingen bis 2008 an MalaiischMalaysierInnen.44 Auf Grund von regelmäßiger heftiger Kritik an der diskriminierenden Bildungspolitik v. a. seitens der chinesischen Bevölkerung öffnete die Regierung in jenem Jahr die Stipendienvergabe für NichtmalaiInnen mit 40 % (Syed 2008:xviii). Stipendien, die für ein Studium im Ausland vergeben werden, sind ebenfalls an die ethnischen und nationalstaatlichen Zugehörigkeiten gebunden. Die malaysische Regierung vergibt v. a. Stipendien für Studien in Japan, den USA, Australien, Russland und Indien – auf Grund der politischen Spannungen allerdings nicht für ein Studium in Singapur, wie mir regelmäßig erklärt wurde.45 Im Zuge der ethnisch exklusiven Bildungspolitik führte die Regierung 1970 Malaiisch als Unterrichtsprache an den Universitäten ein und verdrängte damit das zuvor vorherrschende Englisch (Rappa/Wee 2006:4). Im Jahr 2003 wurde die englische Lehrsprache zumindest an den naturwissenschaftlichen Fakultäten

44 Es gibt staatliche Stipendienprogramme durch das Jabatan Perkhidmatan Awam (JPA), in Englisch Public Service Department (PSD) und Majlis Amanah Rakyat (MARA) (vgl. von Kopp 2002:80). Staatliche Firmen wie der Ölkonzern Petronas und der Elektrizitätslieferant Tenaga Nasional vergeben Stipendien, die die StipendiatInnen im Gegenzug an ihre Firmen binden. 45 So finden sich auch im Programm der The Star Education Fair 2013 in Kuala Lumpur unter der Kategorie „Study and Work Overseas“ die Zielorte Deutschland, Irland, Frankreich, Großbritannien, USA, Hongkong, Russland, Australien; aber nicht Singapur (The Star 2013:Starspecial 27).

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wieder eingeführt (Malakolunthu/Rengasamy 2006:133), 46 um den MalaiischMalaysierInnen einen besseren Zugang in die chinesisch geprägte, englischsprachige Geschäftswelt und den internationalen Markt zu eröffnen. 2009 wurde allerdings der Beschluss gefasst, in den Universitäten und den Schulen grundsätzlich auf Malaiisch zu unterrichten, um die ,malaiische Kultur‘ weiter zu stärken. Die Struktur des malaysischen Universitätssystems fördert somit die malaiischmalaysische Bevölkerungsgruppe auf verschiedenen Ebenen und erschwert es der chinesisch- und indisch-malaysischen Bevölkerung, die gleichen Möglichkeiten in diesem Bereich wahrzunehmen. Die staatliche Bildungspolitik wirkt sich mit ihren ethnischen In- und Exklusionslinien nicht nur im universitären, sondern auch im schulischen Bereich aus. Bis heute gibt es in Malaysia keine Schulpflicht, allerdings besuchen praktisch alle Kinder zumindest die sechsjährige Grundschule und die dreijährige untere Sekundarstufe (von Kopp 2002:47, 51).47 Seit 1970 gibt es in Malaysia drei verschiedene Schultypen: staatliche, unabhängige und private. Im weiteren Verlauf konzentriere ich mich v. a. auf die unabhängigen Schulen, da sie von den chinesisch-malaysischen AkteurInnen dieser Studie am meisten frequentiert wurden. Die privaten Schulen besitzen für die vorliegende Arbeit keine Relevanz.48 Die staatlichen Schulen (national schools) sind gebührenfrei. Hier wird auf Malaiisch unterrichtet, diese werden zu ca. 90 % von Malaiisch-MalaysierInnen besucht (Abdul Rafie 2004:25).49 46 Selbiges wurde auch für die Schulen erneuert: der Unterricht in Mathematik und Naturwissenschaften wird seit 2003 auf Englisch abgehalten. 47 Die schulische Grundbildung in Malaysia sieht einen 11-jährigen Schulbesuch vor (von Kopp 2002:51). 48 Die Privatschulen (auch ,International Schools‘) entstanden durch ,Expatriates‘ (Menschen aus dem Ausland, die längerfristig in einem anderen Land leben). Diese setzten sich in Malaysia in der Vergangenheit dafür ein, dass ihre Kinder nach dem Schulsystem des Heimatlandes unterrichtet werden, d. h. nach dem britischen, deutschen, französischen usw. Die gegenwärtige Unterrichtssprache in diesen Schulen ist Englisch. Diese Schulen verlangen einen sehr hohen Betrag an Schulgebühren, etwa 5.000 Ringgit (ca. 1.245 Euro) im Monat. Mittlerweile gehen auch Einheimische auf diese Schulen, wenn sie es sich finanziell leisten können. Die Privatschulen gibt es in den Städten wie Kuala Lumpur und Penang, insgesamt etwa 20 im ganzen Land. 49 Auf den staatlichen Schulen werden die SchülerInnen im Schulalltag in dem Moment nach ethnischer Zugehörigkeit getrennt, in dem die Malaiisch-MalaysierInnen Religionsunterricht (d. h. die Lehren des Islam) besuchen. Die chinesischen und indischen SchülerInnen bekommen in dieser Zeit Sprachunterricht in ihrer Muttersprache oder aber ,Moralische Erziehung‘.

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Etwa 90 % der Nichtmalaiisch-MalaysierInnen, v. a. die ChinesischMalaysierInnen, besuchen unabhängige Schulen (national-type schools), in denen auf Englisch, Mandarin oder Tamilisch unterrichtet wird und die teilweise christlich ausgerichtet sind (von Kopp 2002:69). Die tamilischen Einrichtungen können nur bis zum Abschluss der sechsjährigen Grundschule besucht werden und entbehren oft einer Basisversorgung wie Tische, Stühle und Büchereien (Joseph 2003:61). Eine andere Art der unabhängigen Schulen sind die englischsprachigen, christlichen Mission Schools, die seit dem britischen Kolonialismus in veränderter Form weitergeführt werden, wie bspw. die Methodist Girls’ School in Singapur, die die Mehrheit meiner chinesisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen besucht hat. In diesen Schulen besteht die geschlechtsspezifische Trennung teilweise bis heute fort. Diese Schulen wurden v. a. in der Elterngeneration meiner Gesprächspartnerinnen als die ,besseren‘ Schulen mit der ,besseren‘ Ausbildung angesehen, wie mir vor Ort oft erklärt wurde. Diese Schulen wurden/werden v. a. wegen der englischen Unterrichtssprache und der daran gekoppelten Hoffnung auf spätere Chancen auf dem internationalen Arbeitsmarkt bevorzugt. Die Kinder auf diese Schulen zu schicken heißt/hieß demnach nicht zwangsläufig, dem Christentum anzugehören oder eine christliche Schulbildung zu bevorzugen, sondern eine ,gute‘, d. h. prestigeträchtige, Schulbildung anzustreben (vgl. Ong 2005:130). Bis heute werden diese Schulen in erster Linie von Teilen der chinesisch-malaysischen Bevölkerung besucht, da eine ,gute‘ Ausbildung und die damit verbundene soziale Positionierung einen wichtigen Teil ihres Selbst ausmacht. Wenige Malaiisch-MalaysierInnen besuchen diese Einrichtungen. Dennoch gibt es Ausnahmen, z. B. dann, wenn sie am nahesten am eigenen Wohnort gelegen ist. Die chinesischen Schulen (Chinese Independent Schools)50 sind eine transformierte Weiterführung des chinesischen Schulsystems, das die chinesische Bevölkerung im 19. Jahrhundert in Malaya eingerichtet hat.51 Diese Schulen schließen gegenwärtig mit einer Hochschulzugangsberechtigung ab, die an das chinesische und taiwanesische System angelehnt ist. Teilweise werden die Chinese Independent Schools wie die Mission Schools getrennt-, teilweise gemischtge-

50 In Malaysia gab es zur Zeit meiner Forschung 60 dieser unabhängigen Schulen mit Chinesisch als Unterrichtssprache. Die Unterrichtsmaterialien werden mittlerweile in Malaysia konzipiert und kommen somit nicht mehr aus China wie während der Kolonialzeit. 51 Vgl. Kap. 3.2.2.

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schlechtlich organisiert.52 Auswirkungen des getrenntgeschlechtlichen Schulsystems auf eine ehemalige Schülerin in Bezug auf ihre Selbstsicht als Frau werden in Kapitel 7.1 diskutiert. Bildung stellt bis heute für ChinesInnen einen wichtigen Identifikationspunkt dar. Seitdem die malaiisch-malaysische Bevölkerung durch die Einführung der NEP-Gesetze bevorteilt wird, entwickelte sich eine chinesische Einheitlichkeit zum wichtigen Diskussionsgegenstand in der chinesisch-malaysischen Bevölkerung. Als sich der Islam zur einenden Kraft der malaiisch-malaysischen Bevölkerung entwickelte, gab es für die chinesische Bevölkerung keine entsprechende (offizielle) Referenz gemeinsamer Identifizierung. Für die Konstituierung einer chinesischen Gemeinschaft kam der Verteidigung des chinesischen Schulsystems eine wichtige Rolle zu (DeBernardi 2004:157). In diesem Zusammenhang wurde auch in Malaysia das Sprechen des Mandarins von der chinesisch-malaysischen Bevölkerung propagiert. Inspiriert von der Speak Mandarin Campaign in Singapur initiierte ein Zusammenschluss von chinesisch-malaysischen Kultur- und Bildungseinrichtungen eine parallele Kampagne in Malaysia. Die beteiligten Organisationen hielten von nun an ihre Zusammenkünfte auf Mandarin ab (DeBernardi 2004:172f.). So fungierte das chinesische Schulsystem mit Mandarin als Unterrichtssprache als ,moderner‘ Ausdruck, um die Identifizierungen der chinesisch-malaysischen Gemeinschaft zu stärken. Diese ,moderne‘ Identifizierung verlief in Abgrenzung zur ethnischen und damit als ,traditionell‘ eingestuften staatlichen Identitätspolitik (DeBernardi 2004:180). Meine wenigen Gesprächspartnerinnen, die nicht aus englischsprachigen, christlichen Elternhäusern kamen, wiesen diesen mandarinsprachigen Hintergrund mit chinesischer Schulbildung vor. Besonders diejenigen mit chinesischer Schulbildung betrachten ,chinesische Bildung‘ als Fundament chinesischer Identität (Tan C.-B. 2004:104). Es verwundert somit nicht, dass heute das chinesische Ausbildungssystem in Malaysia außerhalb Chinas, Taiwans, Hongkongs und Macaos das am besten entwickelte und verankerte ist (Carstens 2006:57, Tan S.-h. 2004:118), mehr noch als im chinesisch-dominierten Singapur, in dem sich aus Abgrenzung zum sozialisti52 Bis heute müssen diese Schulen von der entsprechenden Bevölkerungsgruppe selbst finanziert werden, da ihnen seit 1965 staatliche Unterstützung entzogen wird (von Kopp 2002:45f.). Die Eltern dieser SchülerInnen mussten zur Zeit meiner Forschung etwa 2.000 RM (etwa 500 Euro) pro Kind pro Halbjahr bezahlen. Darüber hinaus werden regelmäßig Spendenaktionen innerhalb der chinesischen Bevölkerung organisiert, bspw. während der chinesischen Neujahrsfeiern, so dass das Chinesische Neujahr als das wichtigste chinesische Fest des Jahres (vgl. Carstens 2006:144-177) mit der Bedeutsamkeit von Bildung für die chinesische Bevölkerung verknüpft wird.

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schen China auf britische Ausbildung gestützt wurde. Durch die qualitativ hervorragende Ausbildung, die an den chinesischen Schulen Malaysias erlangt werden kann, werden mittlerweile auch vermehrt malaiisch-malaysische Kinder auf diese Schulen geschickt. Sie machen heutzutage ca. 10 % der SchülerInnen aus (von Kopp 2002:67). Diejenigen SchülerInnen, die im Anschluss an die Schulzeit die staatlichen Universitäten in Malaysia besuchen, kommen gemäß der ethnisch exkludierenden Bildungspolitiken v. a. von den staatlichen Schulen bzw. Internaten,53 nicht von den unabhängigen englischsprachigen oder chinesischen Schulen. Eine Alternative für Nichtmalaiisch-MalaysierInnen, die nur geringen Zugang zu den staatlichen Universitäten und Stipendien haben, ist der Besuch von privaten Hochschulen in Malaysia. An diesen Universitäten wird auf Englisch unterrichtet (Lee, M. 2004:25). Auch für diese privaten Universitäten gilt der grundsätzlich höhere Anteil von Frauen im staatlichen tertiären Bildungsbereich.54 Sowohl im staatlichen als auch im privaten Bereich erfuhr die anfängliche auf Jungen ausgerichtete Bildungspolitik der Kolonialzeit und speziell seit den 1970er Jahren einen grundlegenden Wandel. Die privaten Universitäten gewähren Zugang ausschließlich über die private Finanzierung der Studierenden bzw. ihrer Eltern. Durch die hohen Gebühren55 können sich nur Angehörige der Mittelklasse einen derartigen Studienplatz leisten. Es sind v. a. Chinesisch-MalaysierInnen, die diese Einrichtungen besuchen bzw. finanzieren können (Syed 2008:xiii). Durch den Besuch von privaten Einrichtungen ist ihr Anteil an höherer Bildung (d. h. Postsecondary School, Polytechnische Ausbildung, Universitätsausbildung) in Relation zu den anderen Bevölkerungsgruppen sogar am höchsten.56 53 Für die Elite malaiischer SchülerInnen gibt es die Möglichkeit, ab dem Alter von 13 Jahren Internate zu besuchen. Diese werden seit einigen Jahren für ca. 5–10 % Nichtmalaiisch-MalaysierInnen geöffnet. Zudem gibt es für Malaiisch-MalaysierInnen spezielle Matriculation-Kurse mit Abschluss des STPM (Sijil Tinggi Persekolahan Malaysia), der zur Hochschulberechtigung führt und speziell auf malaysische Universitäten zielt (von Kopp 2002:72, 75). 54 Im Jahr 2006 absolvierten 164.792 Frauen die privaten Hochschulen im Gegensatz zu 158.995 Männern (Department of Statistics, Malaysia 2007:146). 55 Ein Studienplatz an einer privaten Universität kostete zur Zeit meiner Forschung ca. 35.000 RM (ca. 8.725 Euro), an einer öffentlichen Universität ca. 3.000 RM (ca. 745 Euro). 56 2006 besuchten 16,5 % Chinesisch-MalaysierInnen in Malaysia Einrichtungen höherer Bildung gegenüber 16,1 % der Bumiputeras, 13 % der Indisch-MalaysierInnen und 13,9 % ,Andere‘ (Department of Statistics, Malaysia 2007:4).

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Neben dem Besuch privater Bildungseinrichtungen stellt ein Studium im Ausland für Nichtmalaiisch-MalaysierInnen einen alternativen Weg dar. Viele ChinesInnen aus Malaysia bewerben sich nicht erst an den öffentlichen Universitäten Malaysias, sondern planen frühzeitig ein Studium im Ausland. Statistische Zahlen zeigen, dass die chinesische und indische Bevölkerung in Malaysia immer kleiner, die malaiische gleichzeitig immer größer wird.57 An dieser Stelle schließe ich an die Einführung dieses Kapitels an, das mit den stetigen und alltäglichen Wanderungsbewegungen zwischen Malaysia und Singapur begann. Der enorme Austausch zwischen Malaysia und Singapur, die mangelnden Bildungsmöglichkeiten für Nichtmalaiisch-MalaysierInnen sowie die hohe Anzahl von MalaysierInnen in Singapur lassen auf hochfrequentierte Bildungsmigrationswege von Malaysia nach Singapur schließen. Die gesellschaftspolitischen Dynamiken in Malaysia sind nicht allein Basis dieser räumlichen Mobilität. Gesellschaftliche Prozesse im Zielland sind von ebenso großer Bedeutung für die Migrationsbewegungen. Gesellschaftliche Verhältnisse und politische Strategien in Singapur innerhalb der letzten Dekaden führen zu einem Zuzug von ChinesInnen aus Malaysia. Ergänzend stelle ich nun die Politiken Singapurs seit der Unabhängigkeit vor, die das Fundament für ein Verständnis der Dynamiken liefern, die zu (Bildungs-)Migrationen von Malaysia nach Singapur führen. 3.3.3 Singapur: Land des Wohlstands Während in Malaysia die ökonomische Entwicklung verschränkt mit ethnischreligiösen Politiken verfolgt wird, zielt die singapurische Staatspolitik schwerpunktmäßig auf eine Wohlstandsnation mit umfassender Leistungsgesellschaft. Seit der vollständigen Unabhängigkeit 1965 wurde Singapur zu einem Knotenpunkt für Ökonomie, Bildung und Leistung, zu einem „global knowledge hub“ (Brooks, A. 2006:1), entwickelt. Dieser „hub“ entfaltete für die Akteurinnen dieser Studie mit ihren Bildungsaspirationen große Anziehungskräfte durch differenzierte Entwicklungsmöglichkeiten. Der Aufbau des singapurischen Staates gestaltete sich nach der Unabhängigkeit als schwieriger Schritt. Diese Schwierigkeit bildete die Grundlage für den 57 1970 gab es bei einer Gesamtbevölkerung von 10.881.773 Menschen 44,3% Malaiisch-MalaysierInnen, 34,3 % ChinesInnen, 8,9 % InderInnen und 11,7 % Indigene und ,Andere‘ (www.epu.jpm.my/New Folder/ses/pdf/1.2.1.pdf vom 21.11.2008). 2007 gab es bei einer Gesamtbevölkerung von 27.451.100 Menschen bereits 50,7 % MalaiischMalaysierInnen, und nur noch 23 % ChinesInnen, 6,9 % InderInnen sowie 11 % Indigene und 1,2 % ,Andere‘ (Department of Statistics, Malaysia 2008:9).

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ökonomisch-, bildungs- und leistungsfixierten Staat. Die anfängliche Herausforderung bestand bis zur Unabhängigkeit aus der mangelnden Existenz von gesellschaftlichen Vorstellungen von Singapur als einem ,einheitlichen‘ Staat. Singapur ist ein Staat, der demografisch gesehen auf ImmigrantInnen aufbaut.58 Somit gibt es hier keine „shared identity and destiny“ (Chua 1998:28), die Bezugspunkte für die Gesamtbevölkerung darstellen könnten. Auf der kulturellen Ebene konnte auf keine konstitutive ,Einheit‘ der Gesellschaft zurückgegriffen werden, da sich die EinwohnerInnen weniger Singapur als ihren ,Heimatländern‘ China, Indien und Malaya zugehörig fühlten. Darüber hinaus gestaltete sich der Staatswerdungsprozess auf der politischen Ebene als schwierig, da Singapur bis zu Malayas Unabhängigkeit 1957 administrativ als Teil von Festland Malaya verwaltet wurde. Ebenso problematisch war die Entwicklung der ökonomischen Ebene, da Singapur als kleiner Inselstaat ohne Binnenmarkt als nicht überlebensfähig galt (Chua 1998:28-31). Die singapurische Regierung unter der PAP suchte nach alternativen Strategien, um eine nationale Identifizierung umzusetzen. Dies gelang ihr, indem sie zuerst alle BürgerInnen unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit zu Individuen erklärte. Dieser universelle Ansatz ermöglichte es, Solidarität und soziale Bindungen unter den BürgerInnen hervorzurufen und ein Konzept der ,Nation‘ zu implementieren. Anschließend verfolgte sie eine kapitalistische ökonomische Modernisierung. Denn der bereits existierende malaysische Markt und die politische Separierung Singapurs von Malaysia brachte die Überlebensfähigkeit der Wirtschaft vorerst in Gefahr. Die Regierung entwickelte aus dieser Gefährdung das strategische Vorhaben, die neu geschaffene Nation mithilfe wirtschaftlicher Entwicklung zu ,retten‘. Von nun an war die Erzeugung von materiellem Wohlstand zentraler Punkt der Politik des Landes (Chua 1998:31; vgl. Wee 2007). Andere ,Gründungsmythen‘ und Konzepte von Staaten, die nach der Kolonisierung die Unabhängigkeit erkämpften oder in die Unabhängigkeit entlassen wurden, wie antikoloniale Befreiungskämpfe, Klassenpolitik und Sozialismus/Kommunismus, kamen aus ideologischen Gründen und den historischen Gegebenheiten in Singapur nicht in Betracht (Barr/Skrbiš 2008:1; Chua 1998:30). Das Motiv der ,kapitalistischen Entwicklung‘ war damit die willkommene und (fast) einzige Möglichkeit für die Schaffung einer nationalen singapurischen Identifizierung. Die ökonomische Modernisierung wurde mithilfe einer Leistungsgesellschaft umgesetzt. Durch ein neu entwickeltes Konkurrenzdenken zwischen den Menschen wurde der Wunsch nach Aufrechterhaltung von materiellem Reichtum, der in Singapur durch die Wirtschaftspolitik ermöglicht wurde, gesät. Dieses Konkurrenzdenken ließ sich mit Werten wie ,Fairness‘ und ,individuellen Verdiens58 Vgl. Kap. 3.2.1.

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ten‘ inhaltlich füllen (Barr/Skrbiš 2008). Die Betonung der ,individuellen Verdienste‘ ermöglichte der Regierung eine Propagierung von sozialen und ökonomischen Möglichkeiten der BürgerInnen. Diese wurden in Abhängigkeit zu ihren eigenen, als ,natürlich‘ dargestellten, Begabungen in Kombination mit der Branche, in der sie jeweils arbeiten, gesehen. Mit dem Ansatz des Individualismus kann die Mehrheit der SingapurerInnen ihre Erfolge als ,berechtigt‘ ansehen und sich bei Fehlschlägen missbilligen. Fehler, Unzulänglichkeiten und Misserfolg werden individualisiert und die Verantwortung darüber den Individuen zugeschoben. Diese Individualität konnte von staatlicher Seite aus auch Ungleichwertigkeiten von Klassen begründen, so dass grundlegenden Kritiken an der kapitalistischen Regierungspolitik vorgegriffen wurde. Der Diskurs um die Leistungsgesellschaft erfährt aus diesen verschiedenen Herangehensweisen heraus an Zentralität für die Identitätsbildung, wobei ,Individualität‘ zu einem Teil der wirtschaftlich determinierten nationalen Ideologie erhoben wird (Chua 1998:33). Diese Individualität soll in ,multikultureller Harmonie‘ verankert werden, diese soll im Umkehrschluss wieder in kapitalistischer Entwicklung gipfeln: „[…] Singapore [is imagined] as a utopian cosmopolis filled with citizens fulfilling their individual dreams, and yet coming together in multicultural harmony to enjoy the surplus value of global capitalism“ (Goh, D./Holden 2009:9).

Das ideologische Motiv des Strebens nach Leistung und kapitalistischem Konsum wird im Laufe dieser Arbeit immer wieder aufgegriffen. Die ,multikulturelle Harmonie‘ wird dadurch karikiert, dass den Chinesisch-Malaysierinnen gerade ihre ethnische Zugehörigkeit Vorteile für ihre Wege nach Singapur verschaffte. Wie die Entwicklung zum eingangs erwähnten ,global knowledge hub‘ vermuten lässt, ist das Regierungskonzept der kapitalistischen ökonomischen Modernisierung aufgegangen. Besonders die 1960er bis 1980er Jahre waren geprägt von ökonomischem Wachstum (Chong 2005:47). Trotz propagierter ,cultural harmony‘ argumentiere ich entgegen anderer Annahmen (Hefner 2001b:38), dass dieser Prozess auf Grund der entsprechenden Staatspolitiken v. a. der chinesischen Bevölkerung zugutekommt. Unzählige Male wurde mir in Singapur erklärt, dass die Regierung diese Bevölkerungsgruppe am meisten fördere und sehr auf das Mehrheitsverhältnis dieser Gruppe im Staat Acht gebe.59 Wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit ist hier mit der politischen Disziplinierung der Bevölke59 Im Jahr 2010 machte die chinesische Bevölkerungsgruppe in Singapur knapp 75 % aus im Gegensatz zu gut 14 % der malaiischen und gut 9 % der indischen Bevölkerungsgruppe

(http://www.singstat.gov.sg/pubn/reference/yos11/statsT-demography.

pdf vom 30.6.2011).

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rung verbunden. „[…] [In Singapore] (racialized) localization is required in the production of disciplined subjects granted uneven cultural rights in flexible ‘Asian’ neoliberal multiculturalism“ (Goh, D./Holden 2009:10). Innerhalb des singapurischen Multikulturalismus werden der chinesischen Bevölkerung die meisten ,kulturellen Fertigkeiten‘ zur Bewältigung sozialer und ökonomischer Aufgaben zugesprochen (Goh, D. 2009:215) und so staatlicherseits die chinesische Vorrangstellung mit der ökonomischen Entwicklung verknüpft legitimiert. Die ökonomische Entwicklung Singapurs ging wie in Malaysia mit einem hohen Bedarf an weiblichen – den ethnischen Politiken zufolge chinesischen – Arbeitskräften einher, um die Entwicklung mit möglichst vielen Kräften aufbauen und umsetzen zu können (Göransson 2010:144f.; Lee, M. 2002:52). In der Konsequenz setzte sich ein Anstieg des Lebensstandards für viele chinesischsingapurische Frauen durch, denen Zugänge zum Arbeitsmarkt zuvor nicht offenstanden. Der chinesisch-singapurischen Mehrheitsbevölkerung – Frauen wie Männern – wurde in den letzten vier Dekaden enormer materieller Wohlstand verschafft (Ong 2005:166). Die durchgesetzte Mittelklassezugehörigkeit chinesisch-singapurischer Frauen, verwoben mit weiblichen Lebensentwürfen, wird in Kapitel 6 eine Rolle spielen. Gesamtgesellschaftlich steigt der Lebensstandard weiterhin selbst zwischen 1990 und 2000 trotz der asiatischen Finanzkrise der Jahre 1997/1998 an (Singapore Department of Statistics 2000:9). Gemessen an materiellen und symbolischen Kriterien wie Einkommen 60 und Immobilien, 61 Sprachgebrauch 62 und 60 Zwischen 1990 und 2000 steigerte sich das Einkommen der singapurischen Bevölkerung um durchschnittlich 4,9 % im Jahr. Ein Anstieg trifft für alle Bevölkerungsgruppen zu, wobei das mittlere Haushaltseinkommen der chinesischen Bevölkerung am stärksten stieg (4,8 % pro Jahr), gefolgt von der indischen (4,5 % pro Jahr) und der malaiischen (3,7 % pro Jahr) (Singapore Department of Statistics 2000:79ff.). 61 Singapur ist weltweit das Land mit der höchsten Eigentumsrate an Immobilien. Über 80 % der singapurischen Bevölkerung wohnt in Häusern des regierungseigenen Housing and Development Boards (HDB), von denen fast 95 % auch EigentümerInnen ihrer Wohnungen sind. (http://www.hdb.gov.sg/fi10/fi10296p.nsf/0/69001172D9113B0A482574DB0028AA 2A?OpenDocument vom 7.12.2009). Oft werden diese Wohnblöcke aus Beton auf Grund von ästhetischen Unzulänglichkeiten in anderen Ländern spottend belächelt – an dieser Stelle sei aber darauf hingewiesen, dass in den meisten anderen außereuropäischen Gesellschaften die Mehrheitsbevölkerung der Städte spätestens seit der Unabhängigkeit in Slums wohnen (vgl. Davis 2007). 62 In Singapur ist der Gebrauch der englischen Sprache an den sozioökonomischen Status gebunden. Grundsätzlich stieg die Anzahl der englisch-sprechenden Haushalte mit

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Ausbildung63 gehört der Großteil der singapurischen Bevölkerung heute der Mittelklasse an (Chong 2005:48-53). Die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit gründet sich in den liberalen Volkswirtschaften Asiens entscheidend auf der staatlichen Förderung der Mittelklassen, da das Wohlergehen und die Fähigkeiten dieser Klassen stark zur Investition ausländischen Kapitals beitragen (Ong 2005:274, 279). Im Allgemeinen kann festgehalten werden, dass es durch den Fokus auf die modernistische, kapitalistische Entwicklung und die Leistungsgesellschaft möglich wurde, in Singapur nationale Einheit zu etablieren und der Bevölkerung eine Identifizierung als ,SingapurerInnen‘ zu verleihen. Diese speist sich im Umkehrschluss aus dem saturierten Wohlstand der Nation, materialisiert in der chinesisch dominierten männlichen wie weiblichen Mittelklasse. Die Dynamiken um die Aufrechterhaltung der singapurischen Mittelklasse im Zusammenhang mit der Leistungsgesellschaft verweisen auf das letzte Thema dieses Abschnitts: das der Bildung. Im Folgenden stelle ich die Zusammenhänge zwischen Leistung, Bildung und Geschlecht in Singapur dar, um daraus den Bogen zu den Bildungsmigrationspolitiken zwischen Malaysia und Singapur mit Fokus auf Geschlecht als konstitutive Kategorie dieses Themenbereichs zu spannen. 3.3.4 Singapur: Foreign talents und Bevölkerungspolitik zum Erhalt der Nation Für ökonomisches Wachstum sind Menschen notwendig, die diesen Prozess durch ihre Arbeitskraft aufrechterhalten und weiterführen. Dieser inneren Logik entsprechend gibt es in Singapur demografisch gesehen ein Problem: die Gesell-

der Zunahme des Ausbildungsgrads an. Im Jahr 2000 sprachen unter den HochschulabsolventInnen 47 % der ChinesInnen, 38 % der MalaiInnen und 43 % der InderInnen meist Englisch zu Hause. Im Vergleich dazu wurde Englisch von Menschen ohne jeglichen Abschluss unter allen drei ethnischen Gruppen von weniger als 10 % zu Hause genutzt. Gleichzeitig gebrauchen diejenigen mit den größten Wohnungen zu Hause Englisch als hauptsächliche Sprache: Von denjenigen in privaten Wohnanlagen nutzten 56 % der ChinesInnen, 41 % der MalaiInnen und 65 % der InderInnen i. d. R. Englisch zu Hause. Im Vergleich dazu nur 11 % der InderInnen und weniger als 5 % der ChinesInnen und MalaiInnen, die in 1-bis-2-Zimmer-Wohnungen des HDB wohnen (Singapore Department of Statistics 2000:30f.). 63 Vgl. Kap. 6 mit diversen Ausführungen zu Zusammenhängen zwischen hoher Ausbildung und Mittelklassezugehörigkeit.

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schaft reproduziert sich bis heute nicht von selbst. Singapur gehört zu den Ländern, in denen im Vergleich zur Bevölkerungsdichte am wenigsten Nachwuchs zur Welt kommt. Um den ökonomischen Standard aufrechtzuerhalten und ökonomisch weiterstreben zu können, bedarf der Staat also MigrantInnen, die mitteloder langfristig im Land bleiben wollen. Das bedeutet, Singapur ist nach wie vor auf Migrationsbewegungen und Einwanderungen angewiesen (Lee G.K. 2003:229), wie bereits während der kolonialen Phase. Singapur basiert auf kapitalistischer Ökonomie und ,moderner Informationsgesellschaft‘, um die Nation ökonomisch weiterzuentwickeln. Der Stadtstaat fungiert im globalen Raum als Knotenpunkt für Bewegungen von Menschen und Kapital. Die ,global city‘ zieht angesichts der starken Präsenz von Bankunternehmen, Börsen- und Devisenhändlern (Jordan 2007:14), sowie weltweit führenden Universitäten unzählige ArbeitsmigrantInnen in den verschiedensten hoch- und niedrigbezahlte Sektoren an (Brooks, A. 2006:16). Darüber hinaus hat die Regierung für die Aufrechterhaltung des sozialen und ökonomischen Standards eine besondere Strategie entwickelt. Sie schafft Anreize für sogenannte foreign talents, d. h. für Menschen aus dem Ausland, die gemessen an Schulnoten und dem Quotienten als ,intelligent‘ angesehen werden (Yeoh/Huang, S./Willis 2000:150f.). Alle meine chinesisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen wurden als foreign talents klassifiziert. Die foreign talents werden angeworben, indem die singapurischen Schulen SchülerInnen aus anderen südostasiatischen Ländern ab dem Alter von 13 Jahren Regierungsstipendien anbieten. Wer nicht in der Schulzeit nach Singapur kommt, hat die Chance, später für eine der drei Universitäten National University of Singapore (NUS), Nanyang Technological University (NTU) und Singapore Management University (SMU)64 ein Stipendium des ASEAN65- oder a-star66-Programms zu bekommen. Auch diese Stipendien werden von der Regierung ausgegeben.67 Die als ,intelligent‘ eingestuften jungen Menschen sollen möglichst langfristig im Land bleiben, um den staatlich gewünschten Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung zu leisten. Unmittelbar nach Studienabschluss wird den graduierten StipendiatInnen 64 Eine vierte Universität (Singapore University of Technology and Design SUTD) soll 2016 mit einem Campus in Changi, in Singapurs Osten, eröffnet werden. 65 Association of Southeastasian Nations 66 Die a-star-Stipendien sind für naturwissenschaftliche Fächer vorgesehen. 67 Die SchülerInnen und Studierenden werden für die Stipendien im Gegenzug von der Regierung verpflichtet, nach dem Abschluss für das Land zu arbeiten. Die jungen Graduierten sollen wirtschaftlich förderlich arbeiten, so dass das ausgezahlte Geld der Stipendien dadurch indirekt an den Stadtstaat zurückgezahlt wird, wie mir alle Gesprächspartnerinnen erklärten.

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deshalb der Status der Permanent Residency (PR) angeboten, an den bestimmte Vorteile geknüpft sind.68 Besonders seit 1990 gibt es entsprechend dieser komplexen Strategien verstärkte Bewegungen von SchülerInnen und Studierenden nach Singapur als „oasis of talent“ (Yeoh/Huang, S./Willis 2000:151). Mittlerweile graduieren insgesamt gut drei Mal mehr NichtsingapurerInnen von singapurischen Universitäten als singapurische StaatsbürgerInnen selbst (Singapore Department of Statistics 2000:19). Singapurs Wettbewerbsfähigkeit wird durch diese Vorgehensweise mit einer auf Wissen basierenden Wirtschaft gesteigert: „The global economy is [..] fast becoming a knowledge-based economy and in this respect higher education is increasingly being viewed as central to national strategies for securing shares of global markets. The role and value of higher education hinges on its contribution to the development of social and economic arrangements which will give a competitive edge to countries in the global market. Universities are the repositories of much of the scarce and global economy […]“ (Lee, M. 2004:4).

Gemäß dieser Zentralität von Bildung für umfassende politische und ökonomische Strategien werden die entsprechenden Einrichtungen seit der Unabhängigkeit stark ausgebaut. Die singapurischen staatseigenen Ausgaben waren selbst während der asiatischen Rezession 1997 für Bildung am höchsten (Khong 2004:1). 2013 liegt die National University of Singapore (NUS) als die Eliteuniversität Südostasiens,69 die von den meisten meiner Gesprächspartnerinnen besucht wurde, im internationalen Wettbewerb auf Platz 24 von 800 Plätzen.70 Die Eliten, die in diesen Einrichtungen ,herausgefiltert‘ werden können, sollen anschließend der modernisierenden Wirtschaft zuträglich sein. Ohne eine breite ge-

68 Als PR hat man z. B. den Vorteil, weiterverkaufte Wohnungen des staatlichen Housing and Development Boards (HDB) vergünstigt zu erwerben sowie Ansprüche an den Central Provident Fund (CPF), einer Art Rentenfond, zu haben (Lam/Yeoh 2004:153n.15). 69 Die NUS ist die größte und älteste Universität des Landes. 1949 wurde sie als einzige Universität während der Kolonialzeit als University of Malaya (UM) gegründet. Die heutige Universiti Malaya (UM) in Kuala Lumpur wurde 1959 als Zweigstelle der University of Malaya in Singapur eröffnet. Mit den verschiedenen Phasen der Separierung der beiden Länder wurden beide Standorte 1962 zu eigenständigen Universitäten. 70 Die Nanyang Technological University (NTU) in Singapur liegt 2013 auf Platz 41 (http://www.topuniversities.com/university-rankings/world-university-rankings/2013 #sorting=rank+region=+country=+faculty=+stars=false+search= vom 25.12.2013).

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sellschaftliche Identifizierung mit Bildung und Leistung könnten sich Merkmale von Modernität wie eine breite Mittelklasse oder Standardisierungen von nationalstaatlichen Abläufen für ,effiziente‘ Produktionsabläufe nicht entwickeln. Ökonomische, wissenschaftliche und technische Innovationen sowie komplexe juristische und medizinische Systeme können durch hohe Bildung erleichtert entwickelt und kontrolliert werden (O’Keeffe 2003:34ff.). Der singapurische Bildungsbereich ist wechselseitig mit Ethnizitäts- und Geschlechterpolitiken verwoben. Auf der ethnizitätspolitischen Ebene wird bereits im Schulsystem die Herausbildung einer chinesischen Elite angelegt. Ein Mittel der „racial governmentality“ (Goh, D./Holden 2009:5) stellt die Zweisprachigkeit in Schulen71 dar, die in den 1980er Jahren eingeführt wurde. Mittels dieser Zweisprachigkeit wird neben Englisch eine ,Muttersprache‘ gelehrt. Das Mandarin wurde mit dieser Maßnahme für die Mehrheit der singapurischen Bevölkerung neben Englisch in den sprachlichen Mittelpunkt gerückt. Gemeinsam mit der etwa zeitgleich eingeführten Speak Mandarin Campaign (Hefner 2001b:38) zielte diese Sprachpolitik auf die chinesischen SingapurerInnen und stärkte sie dadurch (Goh, D./Holden 2009:7). Auf Grund der chinesischen Selbstsicht als ,leistungsstarke‘ und ,bildungsorientierte‘ Menschen sind sie diejenigen mit der größeren Leistungsspitze im Gegensatz zu MalaiInnen oder InderInnen. Der Ausspruch „Chinese perform better than Malays“, den ich vor Ort oft gehört habe, ist nicht bloßes Stereotyp, sondern wird immer wieder reproduziert und performiert. Singapurs historisch begründete chinesisch-dominierte Regierung mit ihrer Suche nach foreign talents vergibt dementsprechend ihre Stipendien v. a. an Teile der chinesischen Bevölkerungsgruppe. Nicht zuletzt gestalten sie ihre Stipendienvergabepolitik auch deshalb so ethnizitätsbasiert, weil ChinesInnen Teil des singapurischen Nationbuilding ausmachen und die ethnische Bevölkerungszusammensetzung dadurch aufrechterhalten wird (Yeoh/Wong, T. 2003:569). Die Geschlechterpolitik wird im Bildungsbereich durch die demografische Schulstruktur und nationale Bevölkerungspolitik offenbar. Die Schulen Singapurs werden in der Regel bis zum Junior College72 getrenntgeschlechtlich organisiert, so wie sie im britischen und chinesischen Schulsystem angelegt worden 71 Ende der 1970er Jahre wurde die englische Sprache in Singapur bereits derart forciert, dass malaiisch- und tamilischsprachige Schulen fast nicht mehr arbeitsfähig waren. Auch die chinesischsprachigen Schulen hatten ernsthafte Probleme, neue SchülerInnen und gut ausgebildete LehrerInnen zu bekommen. In den staatlichen, nichtenglischsprachigen Schulen wurden selbst die Fächer Mathematik und Naturwissenschaften auf Englisch unterrichtet (Barr/Skrbiš 2008:118f.). 72 Vergleichbar mit der deutschen Oberstufe

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sind. Darüber hinaus wurden die verschränkten Bildungs- und Geschlechterpolitiken seit der Unabhängigkeit grundlegend transformiert. Die von den Briten und Chinesen eingeführten Bildungseinrichtungen waren v. a. Jungen in Bezug auf Status und Macht zuträglich.73 Mittlerweile werden Mädchen und junge Frauen in ihrer intellektuellen und geistigen Entwicklung staatlicherseits ebenfalls stark gefördert. Die seit 40 Jahren florierende Wirtschaft kann ohne weibliche Arbeitskräfte nicht bestehen. Frauen sind deshalb dazu aufgerufen, zur ökonomischen Entwicklung beizutragen. Für eine hohe Leistungsabgabe sollen sie v. a. als gebildete Frauen partizipieren (Singam 2004:16; Chan, J. 2000:47). Die PAP entwickelte Mitte der 1980er Jahre eine Bevölkerungspolitik, die Frauen zum Objekt ökonomischer nationalstaatlicher Interessen machte. Ausgangspunkt war die Annahme vom damaligen Premierminister Lee Kuan Yew, dass Intelligenz vererbbar sei. Deshalb forderte er Frauen mit Universitätsabschlüssen mithilfe von verschiedenen materiellen Anreizen dazu auf, mehr Kinder zu bekommen. Gleichzeitig sollten Frauen mit niedrigerem Bildungsstatus die Anzahl ihrer Kinder limitieren.74 Frauen in Singapur wurde v. a. deshalb hohe Bildung zugestanden, um diese genetisch an den Nachwuchs weiterzugeben (Lyons 2000:2). Die Nation sollte durch diese Verbreitung von Intelligenz und Bildung langfristig in der globalisierten Weltwirtschaft konkurrenzfähig bleiben. Darüber hinaus wird, wie in Malaysia auch, eine ,moderne‘ Demokratisierungsideologie verfolgt, die hohe soziale Mobilität von Frauen miteinschließt. Diese verschränkten Geschlechter- und Bildungspolitiken münden darin, dass die über 32.000 Studienplätze an der Eliteuniversität NUS bis zum ersten Abschluss (meist Bachelor) überwiegend von Frauen in Anspruch genommen werden.75 Zudem ist Singapur mittlerweile das Land mit dem höchsten Anteil an Akademikerinnen und fachlich ausgebildetem weiblichen Personal in Südostasien – gemeinsam mit Hongkong sogar in ganz Asien (Stivens 2006a:ix). Abschließend lässt sich feststellen, dass gemäß der Geschlechter- und Ethnizitätspolitiken die Rekrutierung der foreign talents konkret auf chinesische Frauen zielt, so dass studierende Chinesinnen statistisch gesehen mittlerweile sowohl geschlechter- als auch ethnizitätsbezogen an den singapurischen Universitäten 73 Vgl. Kap. 3.2.2. 74 Vgl. die genauen Erläuterungen hierzu in Kap. 5.3.2. 75 Im akademischen Jahr 2013/2014 studieren 13.532 Frauen im Gegensatz zu 12.624 Männern in Vollzeit (https://share.nus.edu.sg/registrar/info/statistics/ug-enrol-2013 2014.pdf [25.12.2013]). In den weiterführenden Studiengängen, die mit Diplom, Master oder PhD abgeschlossen werden, kehrt sich das Verhältnis allerdings um: 4.149 Frauen belegen die entsprechenden Kurse im Gegensatz zu 6.061 Männern (https://share.nus.edu.sg/registrar/info/statistics/gd-enrol-20122013.pdf [02.01.2013]).

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die größte Gruppe ausmachen.76 Der größte Anteil an Chinesinnen in Singapur, der außerhalb des Stadtstaats geboren ist, kommt aus Malaysia. Ich kann deshalb davon ausgehen, dass die meisten ausländischen chinesischen Studierenden in Singapur Chinesisch-Malaysierinnen sind. 77 An dieser Stelle schließe ich den Abschnitt über die historischen und aktuellen gesellschaftspolitischen Dynamiken in Malaysia und Singapur in Bezug auf Geschlecht, Bildung und Migration ab und spitze ihn zusammenfassend zu. Resümee: Bildungsmigration ,moderner‘ chinesischmalaysischer Mittelklasse-Frauen nach Singapur In Malaysia und Singapur sind Bildungspolitiken wichtige Aushandlungsfelder von machtdurchdrungenen Geschlechter- und Ethnizitätsfragen. Geschlecht hat sich in den letzten 150 bis 200 Jahren als Kategorie herauskristallisiert, die die Bildungspolitik stark veränderte und vice versa. Während der Kolonialzeit war formale Bildung nur den Jungen vorbehalten. Die Mädchenschulen, die in der Vergangenheit eingeführt wurden, repräsentieren zumindest in Singapur mittlerweile Eliteschulen im Gegensatz zu vielen gemischtgeschlechtlichen Schulen. In Malaysia wurde Bildung nach ethnischen Konflikten 1969 offiziell eingesetzt, um soziale und ethnisch bedingte Ungleichheiten zu verändern, die aus der Kolonial-, japanischen Besatzungs- und Post-Unabhängigkeitsphase resultieren. Faktisch wird hier Bildung jedoch als Mittel gebraucht, um der malaiischen Bevölkerung Status und Macht zu verleihen und stellt damit bedeutendes Exklusionsmerkmal entlang malaiischer und nichtmalaiischer Grenzen dar. Am meisten profitieren die Malaiisch-Malaysierinnen von bildungs- und ethnizitätsbezogenen Politiken. Die Bildungssysteme, in denen Handlungs- und Einflussmöglichkeiten von Frauen ermöglicht wurden, sind in weitergefasste Modernisierungspolitiken eingebettet. Die Agenden des ökonomischen Aufschwungs in Malaysia waren ohne Partizipation von Frauen in der städtischen Bildungs- und Arbeitswelt nicht möglich. Die staatliche NEP-Politik hat seit den 1970er Jahren eine – ich nenne sie Melayu baru perempuan78 – eine ,neue malaiische Frau‘ hervorge76 2010 studierten in Singapur 39.242 Frauen im Gegensatz zu 31.144 Männern. Von den studierenden Frauen gehörten mit 33.269 84,8 % der chinesischen Bevölkerungsgruppe im Gegensatz zu 6 % der malaiischen und 7,2 % der indischen Bevölkerungsgruppe an (Singapore Department of Statistics 2010a:89ff.). 77 2010 lebten von insgesamt 218.762 Malaysierinnen in Singapur 192.682 ChinesischMalaysierinnen (Singapore Department of Statistics 2010c:31), also 88 %. 78 Ich nutze diesen Begriff in Anlehnung an das Konzept des Melayu baru, des ,neuen Malaien‘ der Mittelklasse, der sich aus den entsprechenden staatlichen Politiken entwickelt hat, und grundsätzlich männlich konnotiert ist (Frith 2002:4).

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UND

S INGAPUR

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bracht, die sich im gebildeten, muslimisch-gläubigen, städtischen Mittelklassemilieu bewegt. Auf Grund der historischen Entwicklungen haben sich mit dem chinesischen Bildungssystem bereits frühzeitig bildungsspezifische Gegenstrategien entwickelt. Eine Bildungsmigration aus Malaysia hinaus liegt nach Vorstellung der historischen und aktuellen Prozesse für Chinesisch-MalaysierInnen auf der Hand. Singapur wählen sie gleichzeitig aktiv als Ziel der Bildungsmigrationen aus, da hier die multiethnische Leistungsgesellschaft ihr Streben nach erweiterten Möglichkeiten befriedigen kann. Die singapurische Regierung vergibt großzügig Stipendien an chinesische Frauen aus dem Ausland, damit diese zum einen die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung gewährleisten und zum anderen als Frauen ihr angeeignetes formales Wissen an ihre Kinder weitergeben (können). Innerhalb dieser gesellschaftlicher Dynamiken wird eine Bildungsmigration von jungen Frauen der ,modernen‘, christlichen und englischsprachigen bzw. mandarinsprachigen, städtischen chinesischen Mittelklasse nach Singapur breit umgesetzt. Diese Wege sozusagen vom ,Coolie‘, also vom männlichen chinesischen Arbeiter, zur ,Elitemigrantin‘ sind wichtige strukturgebende Prozesse, innerhalb derer Bildungsmigrationsentscheidungen getroffen werden. Nachfolgend werden die Bildungsmigrantinnen durch verdichtetes Forschungsmaterial in den Mittelpunkt gerückt. Ihre Lebensgeschichten und thematischen Erzählungen können mit den erläuterten makrostrukturellen Hintergründen nun konkreter eingeordnet werden.

4. Bildungsmigration als Aspiration

Mit den Narrationen der chinesisch-orientierten Familie Hemmy, der chinesischmalaysischen Familie Wong sowie meiner malaiisch-malaysischen Gesprächspartnerin Fauzana werde ich nun die Familienebene der geographic scales des Modells Gendered Power Hierarchies in Space and Time vergrößern. Mit der Familie Hemmy werden geschlechts- und bildungsbezogene Familienkonstellationen eingeführt, die meinen Beobachtungen zufolge gegenwärtig ,typisch‘ für Kleinfamilien mit einer Tochter und einem Sohn in Malaysia sind. Die Facetten von lokalen Möglichkeiten geschlechtsspezifischer Bildungsmigrationen lote ich mit der Familie Wong weiter aus: In dieser Familie gibt es in der jüngsten Generation mehr als zwei Kinder, nämlich fünf. Die Ansprüche, Handlungsoptionen und Bedeutungszuweisungen stellen sich im Kontext von Geschlecht, Bildung und Migration in solch einer größeren Familie anders als in Kleinfamilien dar. Um die Dynamiken von Geschlecht und Bildungsmigration im lokalen Kontext umfassender zu verstehen, werde ich anschließend kontrastierend den Bildungsmigrationsweg der jungen malaiisch-malaysischen Studentin Fauzana in Malaysia beleuchten. Sie begab sich genauso wie meine anderen malaiischmalaysischen Gesprächspartnerinnen gerade nicht nach Singapur für den höheren Bildungserwerb. Wie diese Wege indirekt mit den Wegen der chinesischmalaysischen Bildungsmigrantinnen zusammenhängen, werde ich abschließend resümieren.

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4.1 F AMILIE H EMMY : ,M ODERNE ‘ T OCHTER , , TRADITIONELLER ‘ S OHN Doreen Hemmy (vgl. Abb. 10 (1))1 ist 2003 mit 15 Jahren von der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur nach Singapur migriert, um mithilfe eines ASEAN2Stipendiums der singapurischen Regierung ihre Secondary School3 auf der Methodist Girls’ School (MGS) abzuschließen. Nach der Secondary School besuchte sie mit einem verlängerten singapurischen Stipendium das elitäre RafflesCollege in Singapur, das zu den ersten Free Schools gehörte. Doreens singapurisches Stipendium wurde für sie als von der Regierung klassifizierte foreign talent für den Eintritt in die Universität abermals verlängert. Durch das entsprechende Stipendium studierte Doreen von Ende 2007 bis Mai 2011 Englische Literatur an der südostasiatischen Eliteuniversität National University of Singapore (NUS) und graduierte mit dem Bachelor Honours.4 Ihr Studium ermöglichte ihr 2009 einen Europaaufenthalt. Doreens Eltern und ihr einziger, fünf Jahre älterer Bruder Andrew (vgl. Abb. 10 (2)) lebten weiterhin in Kuala Lumpur. Doreens Mutter (vgl. Abb. 10 (8)) ist Hokkien-Chinesin, ihr Vater (vgl. Abb. 10 (9)) hatte einen holländischen Vater und eine sri-lankische tamilische Mutter. Doreen fällt mit der ethnischen Vielfalt ihrer Familie offiziell nicht unter eine der drei Bevölkerungsgruppen ,Chinesisch, Malaiisch oder Indisch‘, sondern wird als ,Others‘ klassifiziert. Dies kommentierte sie einst mit „In Malaysia, I don’t have any race! I’m just ‘Others’!“5 Kulturell gesehen orientierte sich Doreen an chinesischen Elementen, da ihre Familienbindung zur mütterlichen Seite ihrer Aussage nach am stärksten sei (family of orientation). Ihren Alltag in Singapur verbrachte Doreen vornehmlich auf dem Campus6 der NUS und wohnte dort in einer Hall.7 Doreens Zimmer war ca. 8 bis 10 m2

1

Abbildung 16 zeigt die Genealogie der Familie Hemmy. Eine Genealogie für eine

2

Association of Southeastasian Nations.

3

Vergleichbar mit der deutschen Sekundarstufe I.

4

Während man für den Bachelor i. d. R. drei Jahre benötigt, dauert der Bachelor Ho-

5

Die Kategorie ,Others‘ machte im Jahr 2000 gut 1 % der malaysischen Gesamtbevöl-

Familie mit Bildungsmigration wird nur im Fall dieser Familie dargestellt.

nours vier Jahre. kerung aus (Department of Statistics, Malaysia 2008:9). 6

Der Campus stellt in Singapur einen geografisch und sozial abgegrenzten Ort dar. Sämtliche Fakultäten befinden sich auf dem Campus, von der Medizinischen Hochschule über das Institut für Informatik hin zur Fakultät für Kunst und Sozialwissenschaften. Auch die Studierendenwohnheime sind elementarer Teil des Lebens auf dem

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groß, und mit einem von der Verwaltung gestellten Bett, einem Schrank, einem Schreibtisch mit einem Regal darüber sowie einem Deckenventilator ausgestattet. Ihr Schreibtisch und ihr Regal waren bei meinem ersten Besuch im November 2008 mit Unterlagen, Büchern und Heften für ihr Studium gefüllt. Ein Foto von ihren Freundinnen hing hinter ihrem Schreibtisch, dazu ein selbstgemaltes Bild und weitere Notizen. Doreen sagte mir, dass sich alle ihre persönlichen Gegenstände in ihrem Elternhaus in KL befänden. Das Zimmer in Singapur schien ein funktionaler Zwischenstopp im Gegensatz zum konstanten, vertrauten und intimen Zimmer im Elternhaus. 4.1.1 Elternhaus: Basis für Christentum, englische Sprache, Bildung und Migration Doreen kommt aus einem englischsprachigen Elternhaus. Beide Elternteile hatten christliche Missionsschulen besucht. Die dort vermittelte englische Sprache behielten Doreens Eltern bis in die Gegenwart bei. Sie erzogen ihre Kinder ausschließlich englischsprachig, da dies die einzige Sprache war, über die sie als Hokkien-Chinesin und Holländisch-Sri Lankese kommunizieren konnten. Doreens Mutter konvertierte während ihrer Schulzeit zum Christentum. Doreens Vater kam hingegen aus einer christlichen Familie und besuchte deshalb eine entsprechende Schule. Das Haus von Doreens Eltern, das zur Zeit meiner Forschung von ihren Eltern und ihrem Bruder Andrew bewohnt wurde, befand sich in einer chinesisch geprägten Wohngegend Kuala Lumpurs, was Doreens kulturell chinesisches Umfeld unterstrich. Doreens Eltern mieteten dort ein klassisches 2-storey-house für 800 Ringgit Malaysia (RM) monatlich,8 was für die Verhältnisse vor Ort einen gewissen materiellen Wohlstand markierte. Ich lernte das Haus kennen, als mich Doreen Ende Dezember 2008 für drei Tage dorthin einlud. Wie im 2-storey-house üblich, war der Eingangsbereich gleichzeitig der Wohnbereich. Auffällig waren hier die vielen christlichen Sym-

Campus. Ebenso wohnen die MitarbeiterInnen der Universität – das heißt die Dozierenden, nicht z. B. die Reinigungskräfte – auf dem Campus. Außer von den Wohneinheiten und den Fakultäten ist der Campus geprägt von kulturellen Einrichtungen und Einkaufsmöglichkeiten wie Supermärkten oder Buchläden. 7

Eine Hall ist wie eine Residence ein Studierendenwohnheim auf dem Campus. Für ausländische Studierende gibt es die feste Zusage, zwei Jahre in solch einer Einrichtung auf dem Campus wohnen zu dürfen.

8

Damals umgerechnet ca. 180 Euro

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bole und Bilder an den Wänden, z. B. vom Abendmahl. Im Essbereich verwies eine Art sehr große Medaille auf die dreijährige Funktion des Vaters im Schulelternrat. Dadurch wurde auf den ersten Blick deutlich, dass sich die Familie Hemmy am Christentum und an institutioneller Bildung orientierte und sich mit ihrem materiellen Wohlstand in der chinesisch-malaysischen Mittelklasse bewegte. Christentum und Bildung verweisen darüber hinaus auf eine ,moderne‘ Identifizierung der Hemmys.9 Abbildung 9: Haltestelle ‚KL Sentral‘ mit Bus in Richtung des Stadtteils der Hemmys

Doreen hatte in diesem Haus nach wie vor ihr eigenes, ca. 12 bis 13 m2 großes Zimmer. Mehrere Regale, in denen verschiedenste Bücher dicht gedrängt standen, schienen Doreens ganzer Stolz zu sein: sie erzählte mir mehrmals von bestimmten Büchern in diesem Regal, während wir davorstanden. Über dem Gästebett hing ein kleines Bild, auf dem eine Schafherde in Kombination mit dem biblischen Spruch „The Lord is my shepherd“ abgebildet war. Daneben hing ein Bild aus Australien im Tjukurrpa-Stil der Aborigines, welches sie von einer Tante, die in Australien lebte (vgl. Abb. 10 (4)), geschenkt bekommen hatte. Auf einem Schubladencontainer fanden sich Aufkleber mit der Nationalfahne der Vereinigten Arabischen Emirate – wo eine Tante väterlicherseits lebte (vgl. Abb. 10 (10)). Mit den Elementen Bildung (symbolisiert durch Bücher), Christentum und Familienmigrationsrouten verlieh Doreen ihrem Zimmer ihre eigene Note. 9

Vgl. Kap. 2.3.2, „Religion und Modernität“.

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4.1.2 Andrew: Fürsorglicher ,traditioneller‘ Bruder Doreens Bruder Andrew war zur Zeit unserer Gespräche 27 Jahre alt. Er lebte bewusst in seinem Elternhaus. Nach einer kurzen Unterbrechung des Auszugs entschied er sich nämlich im Einklang mit seinen Eltern erneut zu dieser Wohnform. V.T.: „Why you came back here?“10 Andrew: „It’s home!“ [lacht laut auf] Andrews Mutter: „The Asian families will find that the children...“ Andrew: „The children always move back.“ Andrews Mutter: „Until they get married. […] Because we always say it’s a free laundry service here. When he was already in university, he will always bring in his laundry.“ Andrew: „But it’s always an Asian thing to move back with your parents. You hardly find an Asian, a Malaysian, living on their own. Once they graduated. Unless you are working out of the town-ah.“ (14. Juni 2009) Andrew und seine Mutter sprachen hier indirekt den Grund für Andrews Leben im Elternhaus an. Neben der konkreten Annehmlichkeit der gewaschenen Wä10 Die verwendeten Zitate im Text sind Interviewtranskriptionen von Unterhaltungen mit meinen GesprächspartnerInnen entnommen. Somit geben sie eine spezifische alltägliche Sprache wieder. In Malaysia und Singapur wird eine besondere Form des Englischen gesprochen: das Manglish (Malaysia) oder Singlish (Singapur), das auch in den Gesprächen mit Doreen und ihrer Familie zum Ausdruck kam. Manglish und Singlish folgen einer eigenen Syntax und Grammatik und enthalten neben einem grundsätzlichen englischen Wortschatz Vokabeln aus dem Bahasa Melayu (Malaiischen), Hokkien, Kantonesischen, Teochiu, Tamilischen, Punjabi und anderen Einflüssen. Manglish und Singlish sind im heutigen Alltagsgebrauch vor allem Ausdruck von malaysischer bzw. singapurischer Identifizierung und werden besonders ausgiebig untereinander in weniger förmlichen Kontexten gebraucht. Doreen und ihre Familie sowie meine anderen GesprächspartnerInnen bemühten sich in den Gesprächen mit mir stets um ein ,proper English‘. Zum einen, da sie durch einen möglichen Gebrauch des Manglish oder Singlish eine gemeinsame ethnische Identifizierung zwischen ihnen und mir herzustellen meinten, die nicht existierte. Zum anderen, da die lokale Sprechweise für Außenstehende in der Tat oft nur schwer zu verstehen ist. Dennoch wird in den Interviewtranskripten eine eigene Sprechweise deutlich. Besonders in der Grammatik und z. B. durch das spezifische -lah (oder -ah), das denjenigen Worten angehängt wird, die besonders betont werden.

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sche bezogen sie sich darüber hinaus ,zwischen den Zeilen‘ auf ein grundlegendes Konzept des chinesisch-konfuzianischen Familienideals, in dem Familienmitglieder gemeinsam in multigenerationalen Haushalten leben. Die Familie wird hierbei als angemessener Ort zur Fürsorge der Älteren verstanden (vgl. Miller 2004). Andrew unterbrach sein Leben im Elternhaus für sein vierjähriges Studium. Während dieser Zeit wohnte er ca. 40 km von KL entfernt auf dem entsprechenden Campus. Sein Bildungsweg führte ihn zum ausgebildeten Lehrer für Rechnungswesen und Betriebswirtschaftslehre. Er absolvierte sein Studium an einer privaten malaysischen Universität. Als Nichtmalaie hatte Andrew lediglich eine geringe Chance, einen Studienplatz an einer der öffentlichen Universitäten Malaysias zu bekommen.11 Hier wird die ethnische Zugehörigkeit relevant, die im multikulturellen Malaysia zu Exklusionen der nichtmalaiischen Bevölkerungsgruppe aus dem staatlichen Bildungssystem führt. Andrews Leben im Elternhaus ist Ausdruck davon, dass ihn sein Studium nicht aus Malaysia bzw. KL hinaus geführt hatte. Er versuchte bereits ein Studium im Ausland – in Australien – aufzunehmen. Sich dort auszuprobieren erschien ihm bis zum Zeitpunkt unserer Gespräche attraktiv. V.T.: „Have you also ever considered leaving Malaysia for another country?“ Andrew [lacht]: „I’m not that smart to get a scholarship! [My sister] is the smart one!“ V.T.: „But I mean for work or something?“ Andrew: „Given a chance, yes. [..] [M]aybe just for a year or two. Just to gain exposure and experience and then I would probably come back.“ [lacht] V.T.: „Where would you like to go to?“ Andrew: „I never really thought of that [kichert]. […][A]t least I did get an offer to go to Australia. When I was looking to do my degree. I had two or three offers to study accounting in Australia. But there was no scholarship at that time being offered.“ (14. Juni 2009) Andrew schwebte – wie seiner Schwester – ebenfalls eine Bildungskarriere vor, wobei er sich seiner Schwester intellektuell unterlegen fühlte. Das BruderSchwester-Verhältnis wirft am Aspekt der Bildung, der mit der Elternfürsorge unmittelbar verschränkt ist, Fragen nach gesellschaftlichen Veränderungen von Männer- und Frauenrollen auf. Das Zurückbleiben im Elternhaus in Malaysia hatte für Andrew nicht allein pragmatische Gründe wie seiner Annahme von der intellektuellen Unterlegenheit. Ebenso wenig schaffte es ihm ausschließlich 11 Vgl. Kap. 3.3.2.

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praktischen Nutzen im Sinne der gewaschenen Wäsche, wie er und seine Mutter im Zitat weiter oben argumentierten. Gleichzeitig brachte ihm der Verbleib auch Einbuße. Da Doreen den Weg der exzellenten Bildung ging, stand dieser Weg für ihren Bruder nicht mehr offen. Denn die Frage, wer die unmittelbare Fürsorge gegenüber den Eltern übernimmt, wurde in der Familie Hemmy durch den Verbleib im Elternhaus mit dem Sohn beantwortet, so wie es dem chinesischen Ideal entspricht. Die fürsorgende Rolle (filial piety) des idealerweise ältesten Sohnes ist Ausdruck einer bestimmten chinesischen Statusposition. In der Vergangenheit genossen die (ältesten) Söhne das höchste Ansehen in den Eltern-KindBeziehungen, was sich bei vielen Chinesen auf der Welt bis heute fortsetzt (Ong 2005:175-178; vgl. Nonini 1997). Die chinesischen Statuspositionen basieren auf dem chinesischen, konfuzianischen Familienmodell. In diesem patrilinearen Modell bildet idealtypisch der Vater als das männliche Familienoberhaupt den obersten Part und repräsentiert soziale Stabilität und Einheit (Nuyen 2004:209). Die Mutter stellt dabei die warme und unterstützende Kraft dar (Stivens 2000:25). Diese Anordnung entspringt den fünf als grundlegend geltenden Beziehungen des Konfuzianismus (wu-lun), und zwar denen zwischen Vater und Sohn, Fürst und Untertan, Mann und Frau, älterem und jüngerem Bruder sowie Freund und Freund (van Ess 2003:6; vgl. Tu 1998). Diese Beziehungen schaffen für Frauen in ihrer Rolle als Tochter, Ehefrau und Witwe ein dreifaches Unterordnungsverhältnis. Dieses Modell wird zwar in vielen chinesischen Familien nicht (mehr) derart hierarchisch praktiziert, die darin implizierten Ansprüche an die Einzelnen formen dennoch die Beziehungen zwischen Männern und Frauen, Brüdern und Schwestern, Müttern und Söhnen oder Vätern und Töchtern (Mellström 2003:33). Die Statusposition des ältesten Sohnes wurde/wird durch die Fürsorgefunktion und die Aufgabe, das Ansehen der Familie durch gute schulische und berufliche Leistungen zu erhöhen, ausgedrückt (Ong 2005:167). Andrew stand zwar in der Tradition der Fürsorgefunktion des Sohnes, nicht aber so sehr in der Tradition des Erwerbs hohen Status durch Bildung oder einen entsprechenden Arbeitsplatz.12 Diese Rolle nahm seine Schwester ein. Entgegen bisheriger Annahmen (vgl. Nonini 1997) ist es in einer ,modernen‘ malaysischen Familie wie den Hemmys die Tochter, die durch Bildung die gesellschaftliche Statusposition des Bruders überlagert. Sie gewinnt im Bildungsbereich an Status, er verliert in diesem Bereich an Status. Bedenkt man die lokalen gesellschaftspolitischen Prozes12 Mehrmals wurde mir in Malaysia gesagt, dass LehrerInnen gesellschaftlich nur wenig angesehen sind. Den Vermutungen meiner Gesprächspartnerinnen zufolge liege dies an der schlechten Bezahlung dieser Berufsgruppe.

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se bzgl. Bildung für Frauen und den hohen Anteil an chinesisch-malaysischen Frauen an den singapurischen Universitäten,13 wird hier in der Familie Hemmy deutlich, wie Bildung im gegenwärtigen lokalen Kontext mit Weiblichkeit verbunden wird. Durch Andrews Übernahme der Elternfürsorge und dem damit einhergehenden Verbleib im Elternhaus wurde ihm dieser Bereich von konservativen, ,traditionellen‘ konfuzianischen Elementen zugeordnet. Waren es in Malaysia bis in die 1970er Jahre noch die Frauen, die idealtypisch die Rolle der ,Hüterinnen des Hauses‘ und ,Bewahrerinnen der Tradition‘ einnahmen (Ong 2005:33, 220), so fällt in allen von mir untersuchten Kleinfamilien mittlerweile dem einzigen Sohn, sofern vorhanden, diese Rolle zu. Diese ,Traditionalität‘ Andrews muss durch den Bildungsweg seiner Schwester nach Singapur und Europa im Kontext des Bruder-Schwester-Verhältnisses verstanden werden. Doreen war diejenige in der Familie, die sich an ,modernen‘ Identifizierungen orientierte, wie nachfolgend ausgeführt wird. 4.1.3 Doreen auf einer ,Landkarte‘ der Modernität Meine Gesprächspartnerinnen offenbarten mir in mehreren Gesprächen, welche Orte sie auf einem imaginierten Pfad von Modernitätsabstufungen (vgl. Klenke 2011:219-228, 238ff.; Appadurai 2003) im Sinne einer „geography of imagination“ (Trouillot 2002) als ,modern‘ und welche als ,traditionell(er)‘ erachteten. Singapur wurde von meinen Gesprächspartnerinnen regelmäßig als ,modernes‘ Land erachtet. Dies haben sie mit der gut ausgebauten Infrastruktur, den Shopping Malls und Restaurants, der ,Sicherheit‘, dem neoliberalen Bildungssystem und dem technisierten Alltag begründet. Singapur als ,modernem‘ Ort würden absteigend die malaysischen Städte als weniger ,moderne‘, also ,traditionellere‘ Orte, folgen. Annapoorna, die aus der malaysischen Grenzstadt Johor Bahru (JB) kommt, erzählte mir, dass es den malaysischen Städten Kuala Lumpur und Johor Bahru bereits an modernen Alltäglichkeiten wie einer gut ausgebauten Transportinfrastruktur mangele. In JB sei es zudem immer dreckig, laut und stinkend. In Singapur funktioniere nach Einschätzung Annapoornas im Verhältnis dazu alles perfekt. Von Singapur an der Spitze über Malaysias Städte nehme die geografische Modernität zum malaysischen Land hin weiter ab. Annapoorna hatte trotz ihrer indisch-malaysischen Zugehörigkeit auch einen Studienplatz an der Universiti Kebangsaan Malaysia (UKM) in der Nähe von Bangi bekommen. Diese Universität liegt etwa 20 km südlich von der Hauptstadt Kuala Lumpur und gehört da13 Vgl. Kap. 3.1, 3.3 und 3.4.

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mit noch in das Einzugsgebiet von KL. Viele DozentInnen und Studierende wohnen in KL und pendeln täglich mit dem Auto oder der Bahn Komuter. Annapoorna kommentierte ihre Absage an diese Universität und die gleichzeitige Annahme ihres Studienplatzes in Singapur mit: „UKM is in the middle of nowhere!“ – nicht am Puls der Zeit und somit nicht erstrebenswert. Dieses ,im Nirgendwo‘, obwohl es mitten im Einzugsgebiet der Hauptstadt liegt, erklärt sich nicht nur aus imaginierten Land-Stadt-Distinktionen. An der Grenze zwischen Stadt und Land kommt in Malaysia eine weitere Achse in das Koordinatensystem, das die geografischen Verortungen kreuzt: die der ethnischen Identifizierung. Der Vater von Doreen und Andrew konfrontierte mich mit diesen Verknüpfungen von geografischen und ethnisierten Ordnungen bei unserer ersten Begegnung. Ich war während meines Feldforschungsaufenthalts in Malaysia mit der UKM in Bangi affiliiert. Er sagte, dass Bangi ein sehr ,malaiischer Ort‘ sei und ich dort sicher nicht so gerne wohnen würde wie in Kuala Lumpur. Allein wegen des scharfen malaiischen Essens, sagte er, denn in Bangi gebe es weder ,westliches‘ noch ,chinesisches‘ Essen. Das wäre wohl nicht erstrebenswert für mich?! Ländliche Regionen in Malaysia werden als malaiische Regionen wahrgenommen. Im Gegensatz zum malaiischen, ethnisch festgelegten Land bieten die Städte Malaysias dieser Logik entsprechend mehr Variationen und Möglichkeiten. Doreen und viele meiner weiteren chinesisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen wählten Singapur u. a. innerhalb dieses perspektivischen Kontexts der imaginierten geografischen Modernitätsrouten als Studienort. Im selben Kontext stellte der Stadtstaat hingegen nicht den obersten, sondern lediglich den geografisch nächsten ,modernen‘ Kulminationspunkt dar. Die Imaginationen von Modernität führten weiter in ,den Westen‘, der von meinen Gesprächspartnerinnen konkret mit den USA, UK und Australien, oder auch mit einem allgemeinen ,Europa‘ benannt wurden. Die Modernitätsimaginationen vom ,Westen‘ bemaßen sich für meine Gesprächspartnerinnen v. a. am Aspekt der Bildung. Meine Gesprächspartnerin Chun Hua war der Meinung, dass die Ausbildung in den USA besser, weil kreativer und vielfältiger als in Singapur sei. Stressiges Lernen für Studienabschlüsse würde in den USA einem ausgewogeneren Lernumfeld weichen. Menschen wie Doreen, die durch Christentum und Bildungsorientierung aus einem als ,modern‘ angesehenen malaysischen Umfeld kommen, migrierten diesen Logiken entsprechend auch in Orte, die als ,modern‘ konzipiert wurden. Doreen entwickelte sich durch ihren entsprechenden Bildungsweg von Malaysia aus nach Singapur und später nach Europa somit zu einer Akteurin der Moderne im

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Gegensatz zu ihrem Bruder, der im als ,traditioneller‘ imaginierten Malaysia blieb. Durch diese Verschränkung von Modernität mit Weiblichkeit spielte für Doreen ihre familiäre Einbindung als Ressource von Modernität folglich eine wesentliche Rolle. Mit Verweis auf den weiteren Textverlauf stellt sich die Frage, mit welchen Bedeutungszuweisungen sich solche Umkehrungen der Geschlechterverhältnisse in ,modernen‘ chinesisch-malaysischen Mittelklassefamilien entwickelt haben. Vorerst wird erläutert, wie die geschlechtlich codierten Rollen von Doreen und Andrew mit denen ihrer Eltern verbunden waren und welchen Einfluss die religiösen, sprachlichen und klassenspezifischen Hintergründe auf die Lebensentwürfe ihrer Kinder hatten. 4.1.4 Die Eltern: Häuslicher Vater, öffentlich agierende Mutter Zur Zeit unserer Treffen 2008/2009 waren Doreens und Andrews Eltern 28 bzw. 29 Jahre verheiratet. Als junge Menschen vollzogen beide unabhängig voneinander eine innerstaatliche Stadt-Stadt-Migration und gründeten nach ihrer Hochzeit neolokal in Kuala Lumpur ihren Wohnsitz. Doreens Mutter war Sekretärin und arbeitete 2008 seit 25 Jahren in der finnischen Botschaft in KL. Sie ist als drittes von fünf Kindern in Melaka aufgewachsen und später für ihre Arbeitsstelle in die Hauptstadt gezogen. Doreens Vater ist als zweites von sechs Kindern in Georgetown/Penang aufgewachsen. Er arbeitete in Kuala Lumpur erst im Medienbereich und wechselte später in die Sozialarbeit. Ihre Herkunft aus den Orten Melaka und Georgetown/Penang erklärt sich aus der besonderen Handels- und Siedlungsgeschichte der malaysischen Westküste Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Wege der Eltern in die Hauptstadt leiten sich aus der aufsteigenden Wirtschafts- und Urbanisierungsgeschichte des Landes seit den 1970er Jahren her.14 Doreens Vater befand sich zur Zeit meiner Forschung mittlerweile im Ruhestand und kümmerte sich seitdem viel um Doreens Großeltern mütterlicherseits. Vor seiner Pensionierung ernährte er seine Familie gemeinsam mit seiner Frau. Er bewegte sich damals mittels seiner Arbeitsstellen im öffentlichen Bereich KLs und nahm als Mitarbeiter einer Medienanstalt (indirekten) Einfluss auf öffentliche Debatten. Während meiner Forschungsphase pflegte er hingegen eine häusliche Rolle: Seine freie Zeit verbrachte er mit Hausarbeit, er kochte für seine Frau und seinen Sohn und fuhr seine Familie mit seinem Proton15 umher. Vor allem brachte und holte er seine Frau zu bzw. von Haltestellen der öffentlichen Verkehrsmittel und machte selbiges mit Doreen, wenn sie ihre Eltern besuchte. 14 Vgl. Kap. 3.2.1 und 3.3.1. 15 Die malaysische Automarke. Beim Kauf eines Protons durch eine/n MalaysierIn wird dieser staatlich subventioniert.

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Seinen Sohn fuhr er nicht, dieser bewegte sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln eigenständig in KL. In Malaysia, wo Handtaschenraub (teilweise einhergehend mit tödlichen Unfällen, Verletzungen u. Ä.) in den alltäglichen Diskussionen eine unglaubliche Präsenz und Brisanz erfährt, erfüllte der Vater durch die Praxis des Abholens und Bringens eine ausgeprägte, tägliche Schutzfunktion für seine Ehefrau und Tochter. Der Sohn musste sich seinen Schutz selbst organisieren. Hier deutete sich der Vater zumindest seit seiner Pensionierung als Bewahrer innerfamiliärer Strukturen an, indem er einerseits den Haushalt führte und seine Familie versorgte und andererseits seine Ehefrau und Tochter vor Gefahren schützte. Doreens Mutter wurde seit der Präsenz ihres Mannes im häuslichen Bereich innerhalb der Ehe zur alleinigen Akteurin im öffentlichen Bereich von wirtschaftlichen und staatlichen Strukturen: Sie war im Feld der Lohnarbeits- und Diplomatenwelt präsent, ihr Mann demgegenüber im mobilen Alltag ,auf der Straße‘. Diese Rollen, die die Eltern im fortgeschrittenen Alter einnahmen, spiegelten sich in den Rollen der Kinder wider: Vater und Sohn verorteten sich zur Zeit unserer Gespräche im Haus bzw. Haushalt, Mutter und Tochter außerhalb des Haushalts im öffentlichen, institutionellen Leben. 4.1.5 Tante Laura: Erste Bildungsmigrantin Neben ihren Eltern spielte Laura (vgl. Abb. 10 (7)), Doreens jüngste Tante mütterlicherseits, für Doreen hinsichtlich ihrer Geschlechterbilder und ihrer Bildungslaufbahn eine wichtige Rolle. Regelmäßig bezog sie sich positiv auf die Tante und orientierte sich an ihren biografischen Entscheidungen. Laura arbeitete als Redakteurin bei einer der größten malaysischen Zeitungen, womit sie sich in gutsituierten Kreisen bewegte. Ausdruck ihres Wohlstands war nicht nur ihre geräumige Eigentumswohnung in einem Wohngebiet Kuala Lumpurs, sondern auch ihre maid. Innerhalb der zusammengesetzten und erweiterten Familie war sie die erste Frau mit universitärer Ausbildung. Laura hatte ein Stipendium für ein Journalismus-Studium auf Hawai’i bekommen und migrierte somit für ihren höheren Bildungserwerb. Neben ihr hatte außerdem ihr nächstälterer Bruder James (vgl. Abb. 10 (6)), das vierte Kind in der Geschwisterfolge, ein Studium absolviert. Diese Möglichkeit stand nur den beiden jüngsten Kindern offen, da die drei älteren, zu denen auch Doreens Mutter gehörte, materielle Verpflichtungen in der Familie zu leisten hatten (vgl. Chan, A./Davanzo 1996:33). Den Status, den damals James und auch Laura als erste Frau durch ihre Bildungsmigration in die Familie brachten, erhöhte in der nächsten Generation Doreen durch ihre Bil-

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dungsmigration. Was bedingte diese Entwicklungen von Statusaneignung durch hohe Bildung, die seit Lauras Bildungsweg nun auch Frauen erlangten? Abbildung 10: Genealogie mit ausgewiesenen Migrationszielen und – Motiven der multigenerationalen und bilateralen Familie Hemmy16

4.1.6 Großmutter: Schlüssel zur institutionellen Bildung für Frauen Die Bildungsbiographien von Laura, Doreens Mutter und ihrer Geschwister waren durch die ethnische Zugehörigkeit und sprachliche Praxis ihrer Eltern, also Doreens Großeltern, geprägt. Doreen erzählte mir mit etwas Anerkennung in der Stimme, dass ihre Großmutter gewusst habe, ,wie der Wind nach der Unabhängigkeit blies‘: Sie habe bereits geahnt, dass eine englische Ausbildung zukunfts16 Die grau unterlegten Personen werden im Fließtext ausführlicher vorgestellt.

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trächtig sein werde und deshalb ihre Kinder auf englischsprachige, christliche Schulen geschickt. Diese Entscheidung traf sie, obwohl sie als Hokkien-Chinesin weder christlich noch der englischen Sprache mächtig war. Im Gegensatz zu seiner Frau sprach Doreens Großvater allerdings Englisch. Dies lernte er, als er in den 1950er Jahren während der britischen Kolonialzeit aus Überzeugung als Polizist in einem der antikommunistischen New Villages17 arbeitete. Mit dieser politischen Haltung beeinflusste er die Entscheidungen seiner Frau betreffs der Ausbildung ihrer Kinder: Durch die politische Haltung zumindest ihres Ehemannes muss die Entscheidung von Doreens Großmutter, ihre Kinder auf englischsprachige und christliche Schulen zu schicken, nicht nur als ,zukunftsträchtige‘, sondern auch als aktive Entscheidung gegen eine chinesische Ausbildung verstanden werden, da diese zu jener Zeit in Malay(si)a kommunistisch geprägt war. Da englischsprachige Bildung auf Grund des (ehemaligen) britischen Wertesystems und weiterer postkolonialer Einflussnahmen einen erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt und damit zu materiellen Gütern versprach, brachten Doreens Großeltern ihre Kinder als ChinesInnen zu einer Schulbildung, die grundsätzlich soziale Mobilität und einen relativ hohen gesellschaftlichen Status verhieß.18 Doreens Großvater nahm bei den bildungsbezogenen Entscheidungen und Umsetzungen keine derart aktive Rolle wie seine Frau ein. Laut Doreens Mutter habe ihre Mutter sie und ihre Geschwister immer wieder zum Bildungserwerb 17 Die New Villages waren Teil einer antikommunistischen Strategie in Malaya. Die Kommunistische Partei und Guerilla Malaysias erfuhr breite Unterstützung v. a. durch die chinesisch-malaysische Bevölkerung. Um die Guerilla, die auf die Unterstützung der Zivilbevölkerung (Min Yuen) angewiesen war, im Regenwald ,auszuhungern‘, zerstörten die Briten die Dörfer, in denen es Verstecke, Kuriere, Nahrungsmittel usw. für die KommunistInnen gab. Anschließend bauten die Briten 1950 nach dem BriggsPlan an anderen Stellen neue Dörfer (,New Villages‘) auf (Chin Peng 2003:268) und führten dorthin Zwangsumsiedlungen durch, von denen 600.000 Menschen betroffen waren (86 % von ihnen ChinesInnen) (Pryor 1979:80). Diese Dörfer waren eingezäunt, streng bewacht und kontrolliert z. B. durch zentrale Nahrungsmittelstellen, regelmäßige Durchsuchungen und Verhöre oder Wachposten am Eingang. Für die Aufgaben der Wach- und Kontrollfunktionen heuerten die Briten Einheimische – wie Doreens Großvater – an. Diese Strategie fruchtete und schränkte die Nahrungsmittelversorgung für die Kommunistische Partei und Guerillas Malaysias innerhalb weniger Monate stark ein (Chin Peng 2003:269f.; vgl. Loh 2000). Im Laufe der Zeit zog sich die Guerilla u. a. auf Grund der immer schwierigeren Umstände in den Norden nach Südthailand zurück. Die Solidarität innerhalb der Bevölkerung blieb allerdings bestehen und die Guerilla kämpfte bis zum Friedensvertrag 1989 weiter. 18 Vgl. Kap. 3.2.2

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gedrängt, nicht ihr Vater. Im Endeffekt sei sie diejenige gewesen, die die Schulbildung ihrer Kinder praktisch ermöglichen konnte, indem sie harte Arbeit auf Nassreisfeldern (padi-fields) dafür verrichtet hatte. Als Frau hatte sie sich im gesellschaftlichen Klima Malay(si)as der 1950er und 1960er Jahre besonders um die Ausbildung ihrer Töchter bemüht: Zu jener Zeit erfuhren ,Frauenfragen‘, nicht zuletzt durch Frauenkämpfe im Unabhängigkeitskampf, gesellschaftliche Präsenz.19 Die Frauen, die in dieser Phase am meisten von diesen Debatten profitierten, waren durch entsprechende ,moderne‘ frauenfördernde Gesetze nichtmalaiische städtische Mittelklasse-Frauen. Sie erhielten formale Bildung (Ng, C./Maznah/tan 2007:34; Maznah 2002b:90). Institutionalisierter Bildung kam seit der Unabhängigkeit grundsätzlich eine höhere Bedeutung zu. Frauen erhielten in diesem Bereich vermehrte Möglichkeiten, die Männer längst für sich nutzen konnten. Die Schulzeit von Doreens Mutter und ihrer Tante Laura fiel in den 1960er Jahren in der Tat in genau diese Zeit der ersten postkolonialen Errungenschaften für Frauen. So hatte Doreens Großmutter mit ihrem Handeln in puncto Bildung speziell für die weiblichen Nachkommen ihrer Familie soziale Mobilität in Form eines Bildungsaufstiegs vorbereitet. Die Großmutter stellte mit ihrem Handeln eine Zäsur in der Familienbiographie dar, denn die Möglichkeit des (höheren) Bildungserwerbs war in Doreens Eltern- und Großelterngeneration für Töchter eine Seltenheit (Hibbins 2003b:30; Mellström 2003:132). Doreens Großmutter kam nach den Ausführungen von Doreens Mutter selbst aus einer – für Frauen – bildungsfernen Familie. „Ya, education is like the most important thing. Even my mother, she... because her parents were from China. Very old-fashioned, and they don’t believe in sending the daughters to school. So my mother is about 82 years old now and she never went to school. But she knew the value of education so she always tells us, you know, ‘I can give you money but there is no use. The best thing I give you is education.’ So this is the same thing that we... this kind of value that we also have and pass to our children.“ (14. Juni 2009) Dass nicht nur Männer, sondern indessen auch Frauen Aufwärtsmobilität durch Bildung erlangen können, wurde nun seit den 1960er Jahren innerhalb der zusammengesetzten und erweiterten Familie Hemmy vermittelt und in Doreens Elterngeneration das erste Mal erfahren. Bildung bedeutet(e) in der Familie Hemmy eine Erlangung kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapitals nun auch für die Frauen und erfuhr/erfährt damit starke Zentralität. Der Mutter-TochterBeziehung kam/kommt in der Familie von Generation zu Generation mit Rück19 Vgl. Kap. 3.2.3.

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sicht auf einen weitergegebenen und weitergelebten Bildungsaufstieg eine besondere Rolle zu.20 Zwischen Doreens Großmutter als Arbeiterin und Doreens Tante Laura als Zugehörige zur Mittelklasse erfährt nicht nur der Bildungs-, sondern auch der Prestige- und Statusaufstieg einen qualitativen Sprung. Hier wird deutlich, dass soziale Mobilität durch Bildung auch Auswirkungen auf die Klassenzugehörigkeit hat. 4.1.7 Die Bildungsmigration nach Singapur als Unabhängigkeitsauftrag der Mutter Doreens Mutter betonte, dass eine Bildungsmigration ihrer Tochter mittels eines Stipendiums bereits seit geraumer Zeit, also vor der tatsächlichen Umsetzung, von ihr und ihrem Mann angedacht worden sei. V.T.: „Was it more like a coincidence that you read about that scholarship in the newspaper rather than actively looking for an opportunity for her [Doreen] to leave to Singapore?“ Doreens Mutter: „Well, we have sort like heard about this scholarship, the ASEAN-scholarship... […] it was always in our mind that, you know, when she get a certain age, she can try. So... I don’t think there was any other option. Either this or nothing else.“ (14. Juni 2009) Der Entscheidungsprozess für Doreens Bewerbung um das ASEAN-Stipendium begann bereits in ihrer frühen Schulzeit. Doreen besuchte eine staatliche Grundschule, womit sie der Mehrheit von nichtmalaiischen MalaysierInnen entgegenlief, die auf Grund der Priorisierung der malaiischen Bevölkerung im entsprechenden Schulsystem meist private Schulen besuchen (Abdul Rafie 2004:25). In dieser Grundschule war sie bereits früh unterfordert. Ihr Bruder und ihr Vater versuchten, qualitativ etwas an der schulischen Ausbildung für Doreen zu verbessern, was ihnen aber nicht gelang. Doreen blieb in einem malaysischen Umfeld, das ihr bildungsspezifisch nicht viel bieten konnte.

20 Hinsichtlich eines Bildungs- und Statusauftstiegs wurden in der Literatur bisher Vater-Sohn-Beziehungen (Bourdieu 1997) oder Vater-Tochter-Beziehungen (King 2006) erörtert, allerdings keine diesbezüglichen Mutter-Tochter-Beziehungen. Mutter-Tochter-Beziehungen werden bisher auf der Ebene von (geschlechts- und familienspezifischem) Wertewandel untersucht (vgl. z. B. Teo, P. et al. 2003 für den singapurischen Kontext).

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Welche weiterführenden Gründe spielten für Doreens späteren Ortswechsel nach Singapur, d. h. für den Wechsel ihres Umfeldes, eine Rolle? Mit der Perspektive, auch später aufgrund der ethnisch exkludierenden Bildungspolitiken nur wenige Zugangsmöglichkeiten zu qualitativ hochwertiger Bildung zu bekommen, bedurfte Doreen eines Ortswechsels nach Singapur, um einen Weg des Bildungsaufstiegs gehen zu können. Den Bildungsaufstieg, der in ihrer Muttergeneration auf der praktischen und durch ihre Großmutter mütterlicherseits auf der kognitiven Ebene begonnen wurde. Neben dem innerfamiliären Bildungsauftrag für weibliche Verwandte deutete sich in Doreens Bildungsmigration ebenso ein Auftrag zur Selbstständigkeit an. Zur Zeit unserer Gespräche war Doreen bereits sechs bzw. sieben Jahre in Singapur. Durch den Schritt an die Schule und die Universität in diesem Land erlangte sie ein hohes Maß an Selbstständigkeit und entwickelte für sich neue Freiräume. Sie lebte allein im Wohnheim der NUS und gestaltete ihren Tagesablauf eigenständig. Sie musste für ihre alltäglichen Bedürfnisse aufkommen und ihre Aktivitäten selbst organisieren. Singapur als relativ ,sicheres‘ Land mit einer geringen Kriminalitätsrate bewirkte auch bei Doreens Eltern, dass sie ein gutes Gefühl dabei hatten, wenn sich die Tochter spätabends alleine außerhalb des Campus bewegte. In chinesischen bzw. chinesisch-malaysischen Kontexten ist solch ein eröffneter Freiraum für eine junge Frau keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil, Töchter werden im Gegensatz zu Söhnen von ihren Eltern normalerweise harsch reguliert und kontrolliert (Mellström 2003:76). Tatsächlich trifft dies auch auf Familie Hemmy zu, sobald Doreen zu Besuch in KL ist: Sie durfte sich, im Gegensatz zu ihrem Bruder, grundsätzlich nicht bei Dunkelheit mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewegen, auch nicht, wenn sie von FreundInnen begleitet wurde. Eine eigenständige Ausgestaltung des Alltags war ihr somit nur im Zielland der Migration möglich. Was hat sich demzufolge für Doreen durch ihren Bildungsmigrationsweg nach Singapur verändert? Doreen standen und stehen durch die Bildungsmigration nicht nur Bildungs- und damit einhergehend Statuszugewinn offen, sondern auch vielseitigere Möglichkeiten der grundsätzlichen persönlichen Entfaltung und Entwicklung.21 Die Bildungsmigration ist daher nicht nur als ein Statusauftrag, sondern auch als eine Disziplinierung zur Unabhängigkeit der Tochter (und Enkeltochter) zu verstehen. Dies markiert weitere grundlegende Bedeutungszu21 Diesen Zugewinn an persönlicher Entwicklung erhält Doreen nicht nur durch den Migrationsschritt in ein anderes Land und den höheren Bildungszugang, sondern gewiss auch durch die entsprechende adoleszente Lebensphase. Sie verlässt zum ersten Mal das Elternhaus und beginnt den Weg in die Selbstständigkeit (vgl. Günther 2010, 2009, 2006; King 2005 über Zusammenhänge von Migration und Adoleszenz).

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weisungen an die Umkehrung der Geschlechterverhältnisse in einer ‚modernen‘ chinesisch-malaysischen Mittelklassefamilie. Resümee Konkludierend lässt sich festhalten, dass Doreen Hemmy als englischsprachige, christliche, chinesisch-orientierte Frau der Mittelklasse ein gegenwärtiges lokales Geschlechterverhältnis verkörperte, das ihr mittels des Bildungserwerbs in Singapur Status und Unabhängigkeit bereitete. Diese Frauenrolle stand im Gegensatz zur Rolles ihres älteren Bruders, der als junger Mann zur Zeit des Unabhängigkeits- und Statusgewinns der Schwester im Elternhaushalt für ,konservative‘ Fürsorgeelemente zuständig war. Dieses Geschlechterverhältnis lässt sich familienbiografisch erklären, eingebettet in gesamtgesellschaftliche Dynamiken in Malaysia. Mit Doreen Hemmy und ihrer Familie wurden die vergeschlechtlichten Aushandlungsebenen bzgl. Bildung und Migration skizziert, die sich interdependent mit den Kategorien Ethnizität und Klasse sowie den Faktoren Religion und Modernität verschränken. Ebenso wurde herausgearbeitet, wie ein Bildungsmigrationsschritt in Relation zu geschlechtlich codierten Beziehungen in der bilateralen und multigenerationalen Familie stehen kann. Dieser Aspekt wird nachfolgend mit einer differenten Familienkonstellation erweitert.

4.2 F AMILIE W ONG : ,M ODERNE ‘ UNTERSTÜTZENDE JÜNGSTE

ÄLTESTE S CHWESTER , S CHWESTER

Judith Wong ist mit 15 Jahren von Kuala Lumpur nach Singapur migriert, um dort ihre Secondary School abzuschließen. Ich werde ihre Beziehungen zu denjenigen Familienmitgliedern berücksichtigen, die für eine Einordnung ihrer Bildungsmigration nach Singapur von Relevanz waren: ihre älteste Schwester Kaelyn, ihre Mutter sowie ihr einziger und jüngerer Bruder Daniel. In der Familie Wong gibt es vier Töchter und einen Sohn. In dieser Familienkonstellation kam der ältesten Tochter Kaelyn eine bedeutsame Rolle zu. Es war an ihr, Prestige durch Bildung anzueignen. Die älteste Tochter erlangte das hohe Ansehen allerdings nicht wie Doreen Hemmy mithilfe einer Bildungsmigration nach Singapur. Sie erlangte es durch eine Bildungsmigration in den ,modernen‘ Westen. Damit kam Judiths Studienort Singapur die ,zweite Wahl‘ zu. Die verschiedenen geografischen Modernitätsimaginationen vom ,traditionellen‘ Land über ,modernere‘ malaysischen Städte weiter zum ,modernen Sin-

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gapur‘ bis hin zum ,modernsten Westen‘,22 erhielten hier einen weiteren praktischen Ausdruck. Durch Kaelyns erfolgreiche Umsetzung der Studienlaufbahn genossen die nächsten Kinder, die Töchter wie der Sohn, weniger Verpflichtungen in ihren Bildungswegen. Bildungsmigrationswege von der jeweils ältesten Tochter in einen ,modernen‘ Studienort – Singapur oder, wenn die Familie wie die Wongs die nötigen Ressourcen besitzt, gar den ,Westen‘ – konnte ich für alle von mir befragten Familien mit mehr als zwei Kindern beobachten. 4.2.1 Judith Wong: Migrationsziel Singapur zur Markierung von Differenz Judith Wong war das zweitjüngste von fünf Kindern aus einem christlichen und englischsprachigen, chinesisch-malaysischen Elternhaus. Sie bildungsmigrierte als erstes Kind ihrer Familie nach Singapur. Ihr Ausbildungsweg ins malaysische Nachbarland wurde ihr durch großzügige Stipendienmöglichkeiten und dem englischsprachigen Ausbildungssystem in Singapur erleichtert. Ursprünglich besuchte sie in KL eine Chinese Independent School,23 die sie für die Lower Secondary School zugunsten des gemischtgeschlechtlichen englischsprachigen und christlichen Methodist College in KL verließ. Judith erfuhr selbst von den singapurischen Stipendienprogrammen in dieser malaysischen Schule und bewarb sich mit 15 Jahren mit dem Gedanken „Let’s try something new!“. Ihre Mutter, die sich zu jener Zeit in Japan aufhielt, wusste nichts von der Bewerbung ihrer jüngsten Tochter. Sie unterstützte Judith unmittelbar nach ihrer Rückkehr bei der Umsetzung der Bildungsmigration. Judiths Vater war mit der Entscheidung seiner Tochter zwar einverstanden, hätte es jedoch vorgezogen, wenn sie in Malaysia geblieben wäre. Während die Mutter Judiths Bildungslaufbahn förderte, übte sich ihr Vater diesbezüglich in Zurückhaltung. Wie deuten sich in dieser Familie erste geschlechtsspezifische Eltern-Tochter-Rollen mit Blick auf Bildung an? Judiths Mutter bekräftigte nicht nur Judiths Bildungslaufbahn, sondern formte sie gar. 2003 begann Judith mit einem ASEAN-Stipendium in Singapur, als foreign talent ihre Secondary School weiterzuführen. Zur Zeit unserer Gespräche studierte sie Biologie an der NUS. Ihre Studienfachwahl entsprach nicht ihren Wünschen. Sie wollte sich lieber mit gesellschaftlichen Fragestellungen ausei-

22 Vgl. Kap. 4.1.3. 23 Mit ihrem christlichen und englischsprachigen Hintergrund wurde Judith an der chinesisch orientierten Schule von einer Lehrerin einst als ,Banane‘ beschimpft: „Innen weiß, außen gelb!“ – von den inneren Werten ,Caucasian‘ und vom äußeren Erscheinungsbild Chinesin, wie sie mir erklärte.

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nandersetzen. Sie liebäugelte deshalb mit einer Umschreibung in den Studiengang der Soziologie. Judiths Soziologiepläne wurden allerdings seitens ihrer Mutter in Hinblick auf eine neoliberale Bildungsausrichtung durchkreuzt. Sie habe die Pläne mit den Worten „Was willst du mit einem Abschluss in den Geistes- und Sozialwissenschaften? Damit wirst du später nichts anfangen können!“ kommentiert und abgelehnt. Wie schon in der Familie Hemmy ist es auch in der Familie Wong die Mutter, die den Bildungsaspekt kontrollierte. Nicht nur die Studienfachwahl, sondern auch die Wahl des Studienorts Singapur entsprach nicht Judiths ursprünglichen Vorstellungen. Sie hegte anfänglich den Wunsch, für ihr Studium in den ,Westen‘ – genauer nach Europa – zu gehen. Eigentlich wollte Judith gerne nach Deutschland oder in ein anderes europäisches Land wie Österreich oder Italien gehen, um dort zu studieren. Eine ihrer Schwestern war bereits in Italien gewesen und hatte das Essen und die Landschaft gelobt. Es sei zu kompliziert gewesen, in Europa zu studieren, so dass Judith in Singapur blieb. Sie sagte: ,I think God wants me to be here.‘ Doch nach wie vor wolle sie später nach Europa. Sie wolle neue Erfahrungen machen, Neues in der Welt kennen lernen. (Gedächtnisprotokoll 6. November 2008) Ihr Wunsch nach einem Studium in Europa gründete sich auf einem Streben nach Differenz zu ihren Schwestern, wie sie mir erklärte. Ihre drei älteren Schwestern studierten in den USA. Sie selbst wollte gezielt nicht in die USA gehen, um sich von ihnen zu unterscheiden. Die entsprechenden Aspirationen und Wege lassen sich in die lokalen Modernitätsdebatten einordnen, die sich konkret auf die Familienkonstellation der Wongs auswirkten. Ein Studium in den USA wird von den chinesisch-malaysischen AkteurInnen als ,modernste‘ Möglichkeit erachtet.24 Mit ihrem Wunsch, in einem europäischen Land zu studieren, verortete sich Judith ebenfalls in der Region des ,modernen Westens‘. Den ,modernen‘ Studienort ihrer Schwestern wollte sie mit einem ,modernen‘ Studienort in Europa messen. Wie verschränkten sich hier Tochter- bzw. Schwesterrollen mit den Bildungsmigrationswegen? Judiths letztendlicher Bildungsweg nach Singapur sollte v. a. in Relation zum Bildungsweg ihrer ältesten Schwester Kaelyn verstanden werden. Der Wunschort der jüngsten Tochter Judith wurde innerhalb ihrer Familie zugunsten desjenigen der ältesten Schwester vernachlässigt. Kaelyn studierte im ,Inbegriff des Westens‘, in den USA, wohin ihr die beiden nächstjüngeren Schwestern für ihre universitären Ausbildungen folgten. In der Konsequenz bildungsmigrierte Judith in das relativ nahe und kalkulierbare Singapur. Die genau24 Vgl. Kap. 4.1.3.

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en Zusammenhänge dessen werden nachstehend mit Fokussierung auf Kaelyns Bildungslaufbahn als Orientierungspunkt für die Wege ihrer Schwestern erläutert. 4.2.2 Geografische Nähe als Basis schwesterlicher Stütze Kaelyn wollte ursprünglich Konzertpianistin werden. Ihre Wege wurden jedoch auf verschiedenen Ebenen stark von ihrer Mutter vorgezeichnet. Ihre Mutter prophezeite nicht nur Judith, sondern auch Kaelyn schlechte Arbeitsmarktchancen mit ihrem Berufswunsch und organisierte ihr stattdessen eine Bildungslaufbahn zur Orthopädin. Mit diesen Anweisungen nahm Kaelyn ihr Orthopädiestudium an einer US-amerikanischen Universität auf. Im ,modernen‘ Studienort des ,Westens‘ studierte Kaelyn nach den Gesichtspunkten der Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt ein Fach nach neoliberalen Kriterien. Nach dem Studium ging Kaelyn auf Grund von besseren Arbeitsmarktchancen zurück nach Malaysia und eröffnete 2006 als erste Orthopädin ihre eigene Praxis in KL. Der Grund für meine Bekanntschaft mit Kaelyn Ende Mai 2009 in ihrer Praxis war ein pragmatischer. Judith arbeitete für sie an der Rezeption, während sie sich in den Semesterferien in KL aufhielt. Diese Tätigkeit verrichtete sie lediglich auf Bitten ihrer Mutter hin, nicht aus eigenem Antrieb oder aus Freude an der Tätigkeit heraus, wie sie mir erklärte. Auch die Mutter arbeitete in Kaelyns Praxis bereits seit drei Jahren. Obwohl es Judith nicht gefiel, in der Praxis ihrer Schwester zu arbeiten, fügte sie sich in diese Rolle ein: Ich fragte Judith beim Verlassen der Praxis, ob sie am nächsten Tag (Samstag) auch arbeiten müsse. „Nein, ich denke nicht. Meine Mum wird morgen arbeiten.“ Auf der Rückfahrt fragte die Mutter Judith: „Judy, kommst du morgen in die Praxis?“ Widerwillig, aber bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, antwortet Judith: „Ok, Mum.“ „Ich muss etwas anderes erledigen. Ich könnte dich mittags ablösen. Wie wäre das?“ „Du musst mich nicht ablösen. Es ist ok.“ Judith hat keine Widerworte gegen ihre Mutter. Sie akzeptiert es, dass sie unerwartet doch arbeiten soll. (Gedächtnisprotokoll 30. Mai 2009) Welche Bedeutungszuweisungen an die weibliche Geschwisterfolge kamen hier zum Tragen? Judiths widerwilliges Arbeiten in der Praxis ihrer Schwester hing mit Abhängigkeit und Macht im Geschwistergefüge zusammen. Diese Aspekte materialisierten sich in der Be- und Entlohnung, die Kaelyn ihrer jüngsten Schwester Judith gegenüber vornahm. Ich fragte Judith, ob sie Geld für ihre Arbeit in der Praxis ihrer Schwester bekomme. Sie sagte nein, sie bekomme eigent-

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lich kein Geld dafür. Vielleicht würde sie etwas bekommen, wenn sie danach fragen würde, aber sie werde eher indirekt bezahlt. Ich hakte nach, was ,indirekt‘ bedeute. Sie erklärte, dass sie am darauffolgenden Tag mit Kaelyn in die USA zu ihren beiden Schwestern fliegen würde und Kaelyn einen Großteil von Judiths Reise finanzieren würde. Ähnlich verhalte es sich, wenn Kaelyn Judith in Singapur besuche: dann gebe sie ihr stets etwas Taschengeld. Kaelyn schien gefestigtere Ansichten über die Ent- bzw. Belohnung für die Arbeit ihrer Schwester zu haben. Um diesen finanziellen Aspekt drehte sich eine kurze Auseinandersetzung zwischen den beiden Schwestern: Kaelyn sagte zu Judith, dass bald die nächste Patientin kommen wird und Judith dafür noch etwas erledigen müsse. Judith guckte etwas entgeistert. Daraufhin sagte Kaelyn zu ihr: „Hey, I pay you!“ Judith guckte fassungslos und wurde etwas sauer. Energisch sagte sie: „You don’t pay me!“ Daraufhin wurde Kaelyn richtig sauer und sagte mit einem etwas abfälligen Lachen: „I don’t pay you? Oh, then you can give me everything back. I give you two years!“ und wandte sich zum Empfangsraum, um die neue Patientin zu begrüßen. Judith rollte mir gegenüber mit den Augen und sagte leise, dass sie das unfair finde. Ihre Eltern hätten sehr viel in Kaelyn und ihre Ausbildung investiert. Jetzt bleibe nicht mehr viel für sie selbst übrig. (Gedächtnisprotokoll 30. Mai 2009) Kaelyn unterstützte ihre jüngste Schwester Judith regelmäßig materiell. Damit nahm sie eine gewisse Fürsorgefunktion in ihrer Familie ein. Die Fürsorgefunktion innerhalb einer chinesischen Familie zu erfüllen bedeutet, Status in dieser Familie zu repräsentieren (Ong 2005:167; vgl. Kapitel 4.1.2). Kaelyn erfüllte als älteste Tochter in einer chinesisch-malaysischen Familie somit die Rolle, Status nicht nur mittels eines Bildungsmigrationswegs zu reproduzieren, sondern auch durch eine anschließende Fürsorgefunktion innerhalb der Familie. Dies verweist darauf, wie sich die verantwortungsvolle Rolle des ältesten Sohnes im chinesischen Kontext (vgl. Ong 2005:175-178; Miller 2004; Nonini 1997) gemäß des Statusaufstiegs von Frauen in Malaysia der letzten vier Dekaden verändert hat.25 Die chinesische Statusposition des ältesten Sohnes, die sich in der Fürsorgefunktion und im Statuserhalt mittels Bildung und Arbeitsplatz zeigt (Ong 2005:167), wird den gesellschaftlichen Dynamiken entsprechend auf die älteste Tochter übertragen. Diese Bedeutungszuweisung an eine Bildungsmigration wird demzufolge auch in Familien mit mehr als zwei Kindern an die Tochter übertragen – hier an die älteste Tochter.

25 Vgl. Kap. 3.3.1.

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Die machtvollen Abhängigkeiten zwischen ältester und jüngster Schwester stehen in Interdependenz zu den bildungs- und prestigebezogenen Entscheidungen ihrer Eltern. Judith sprach im oben zitierten Gespräch an, dass ihre Eltern ihre Energien in die Ausbildung der ältesten Schwester investiert hatten und sie selbst dadurch vernachlässigt wurde. Diese Vernachlässigung fand für Judith auf zwei Ebenen statt: ihre Eltern bemühten sich nicht derart um ihren Ausbildungsweg wie um den ihrer Schwester. Zudem musste sie dieser Schwester gegen ihren Willen helfen, um das, was diese erreicht hat, mit zu unterstützen, anstatt ihren eigenen Vorstellungen der Freizeitgestaltung nachgehen zu können. Somit waren es nicht nur die Eltern, die anfänglich ihre Energien in die Ausbildung der ältesten Tochter investiert haben. Auch die jüngste Tochter Judith musste mittels ihrer Hilfe an der Rezeption Energien aufbringen, um den Arbeitsplatz der Schwester mit aufrechtzuerhalten. Die Wahl von Judiths Studienort Singapur erhielt mit dieser Unterstützungsleistung eine besondere Dimension. Durch die geografische Nähe zu KL ist es Judith im Gegensatz zu ihren beiden weiteren Schwestern in den USA möglich, regelmäßig in ihren Semesterferien in Kaelyns Praxis auszuhelfen. Singapur dient u. a. als geografischer Ausgangspunkt der jüngsten Tochter für die Statuserhaltung der ältesten Schwester. Die Wichtigkeit des Statuserwerbs fiel von Kind zu Kind ab. Dieses Muster machte vor den Geschlechtern nur bedingt halt. Der einzige Sohn – das jüngste der fünf Kinder – musste ebenso wenig in Eigenleistung den Familienstatus erhöhen wie Judith als jüngste Tochter. Dies wird nachstehend erläutert. 4.2.3 Geschwistergrenzen sind Geschlechtergrenzen Das jüngste Kind in der Geschwisterfolge ist Judiths Bruder Daniel. Daniel bildungsmigrierte in Judiths Fußstapfen nach Singapur für den Abschluss seiner Secondary School auf einer methodistischen Schule. Als einzigem Sohn in der Familie Wong wurde Daniel eine besondere Rolle zugeschrieben. Im Gegensatz zu den chinesischen hohen Statuspositionen der Söhne, wie ich sie bereits an der Rolle von Andrew Hemmy diskutiert habe,26 wird Daniel Wong seitens der Mutter die Rolle eines ,schwachen‘ jüngsten männlichen Kindes zugeschrieben. Judiths Mutter erzählt mir über ihre fünf Kinder. Besonders hebt sie ihren Sohn hervor. Er sei eine weichere Persönlichkeit als seine Schwestern. Judith sei hingegen sehr stark, das habe sich in Singapur bestätigt. Ich frage nach, warum sie 26 Vgl. Kap 4.1.2.

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denke, dass er eine weichere Persönlichkeit sei. Sie fragt mich: „Weil er der jüngste ist?“ Das führt sie nicht weiter aus. Sie fügt hinzu, dass Kinder jedenfalls stark sein müssen, um nach Singapur gehen zu können. Stark und unabhängig. Und intelligent. Judith könne sehr schlau und intelligent sein. […] Ihr Sohn habe es schwerer in Singapur. Deshalb habe sie mit ihrem Mann beschlossen, ihn zumindest einen Monat lang jedes Wochenende in Singapur zu besuchen. (Gedächtnisprotokoll 30. Mai 2009) In einer Zeit der gesamtgesellschaftlichen Aufwärtsmobilität von Frauen mittels Bildung 27 wurde der Sohn zwar bildungsspezifisch gefördert. In patrilinearen chinesisch-malaysischen Strukturen, in denen Söhne Status und Prestige im Bildungsbereich angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Dynamiken verlieren, nahm der Sohn aber keine gesonderte Statusauftragsrolle ein. Resümee Abschließend lässt sich festhalten, dass in der chinesisch-malaysischen Familie Wong vergeschlechtlichte Bildungsmigrationswege nicht nur bzgl. Geschlecht, sondern auch hinsichtlich der Geschwisterfolge ausgehandelt wurden. In dieser Familie kamen der ältesten Tochter der Bildungs- und damit einhergehend Status- und Modernitätsauftrag zu. Da die älteste Tochter diese Aufträge erfolgreich umsetzte, fielen diese von Tochter zu Tochter ab. Dem Sohn als dem jüngsten Kind kam in dieser Familienkonstellation keine eigene Aufgabe in puncto Bildungsaneignung und Statuserhöhung zu. Mit den beiden bisherigen chinesisch-malaysischen Familienkonstellationen wurde erläutert, wie sich bei ihnen intergenerationale Geschlechterverhältnisse, Geschwisterfolge und Bildungsaufträge im Kontext gesamtgesellschaftlicher Bedingungen kreuzten. Die nötigen Ressourcen für ihre Bildungswege schöpften die chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen u. a. aus ihrem Umfeld der Bildungselite und Mittelklasse. An diesen Zusammenhängen werde ich nun ergänzend mit der malaiischmalaysischen Bevölkerung ansetzen. Damit wechsele ich die innergesellschaftliche Perspektive. Dieser Bevölkerungsgruppe waren und sind die Ressourcen aus der Bildungselite nicht derart immanent. Ihre Bildungsschritte folgten anderen Logiken und Dynamiken. Ich werde mich zum einen mit den Fragen befassen, welche Bildungs(-migrations-)routen sich bei Malaiisch-Malaysierinnen erkennen ließen, wer diese betrat und welchen gesellschaftlichen Dynamiken ihre Routen folgten. Zum anderen geht es um die Frage, wie diese Dynamiken mit 27 Vgl. Kap. 3.3.1.

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denjenigen, die zu Bildungsmigrationswegen chinesisch-malaysischer Frauen nach Singapur führten, verbunden waren. Diese Fragen werde ich in erster Linie anhand der biografischen Erzählungen meiner malaiisch-malaysischen Gesprächspartnerin Fauzana erörtern.

4.3 F AUZANA : E RFAHRUNGEN M ALAYSIERIN

EINER

M ALAIISCH -

Fauzana, ebenso wie ihre jüngere Schwester Noraini, studierte an der Universiti Malaya (UM) in Kuala Lumpur. Ihr einziger und mittlerer Bruder Khairul ging keinen tertiären Bildungsweg. Mit den Narrationen von Fauzana werde ich ihre Wege von der Grundschule bis zur Universität nachzeichnen. Mit den geschlechts- und bildungsspezifischen Geschwisterkonstellationen sowie ihrer innerstaatlichen Land-Stadt-Bildungsmigration war Fauzana nach meinen Erfahrungen eine charakteristische Vertreterin einer malaiisch-malaysischen Mittelklasse-Familie, die aus ländlichen Gebieten kommt. 4.3.1 Vom ,traditionellen‘ kampung in die ,moderne‘ Hauptstadt Fauzana war zur Zeit unserer Gespräche 25 Jahre alt und damit das älteste von drei Kindern. Sie kommt aus Kuala Terengganu im malaiisch-geprägten Bundesstaat Terengganu28 an der Ostküste Malaysias. Obwohl Kuala Terengganu mit seinen knapp 300.000 EinwohnerInnen quantitativ gesehen als Großstadt bezeichnet werden könnte, ist die Struktur des Ortes ländlich geprägt. Ausgeprägte Landwirtschaft und kleine Läden erinnerten nach Fauzanas Meinung an ein Dorf – ein kampung: „My kampung or village maybe it is similar to the countryside of Haileybury in Ontario, Canada, where they made hedgerows as fences. Most people (the villagers) in my kampung are farmers and they plant paddy to cultivate rice, which is our main food, some are shopkeepers that own small shops with average capital of MYR10,000 only [ca. 2.300 Euro] and some are having fixed income, like working with the government or small private companies, usually construction company.“ (E-Mail von Fauzana, 13.10.2010)

28 Vgl. Kap. 3.3.1, Fußnote 38.

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Durch Fauzanas Einordnung ihres Herkunftsortes als Dorf mit ländlicher Prägung beziehe ich mich nachfolgend auf diese dörfliche und ländliche Struktur. Mit 16 Jahren vollzog Fauzana eine erste innerstaatliche Land-Land-Migration von Kuala Terengganu nach Pengkalan Chepa im östlichen, ebenfalls malaiischund ländlich-geprägten Bundesstaat Kelantan. In Pengkalan Chepa besuchte sie das Internat Mara Junior Science College (MJSC). Die Internate Malaysias sind Einrichtungen für ausschließlich malaiisch-malaysische SchülerInnen (Lee, M. 2004:45)29 mit hervorragenden Schulnoten. Ziel ist es, diese SchülerInnen frühzeitig im Rahmen der malaiisch-ausgerichteten nationalen Agenda zu fördern.30 Die SchülerInnen sollen sich der Herausforderung stellen, in fremdem Umfeld fernab des Elternhauses zurechtzukommen. Deshalb besuchen sie Internate, die sich nicht am Wohnort befinden, wie mir erklärt wurde. In diesem Sinne wollte auch Fauzana mit 16 Jahren bereits von zu Hause ausziehen, um möglichst frühzeitig zu lernen, selbstständig und unabhängig zu werden, wie sie mir sagte. Für den höchsten Schulabschluss der Matriculation,31 der ausschließlich MalaiischMalaysierInnen vorbehalten ist (Lee, M. 2004:83), zog sie später von der ländlichen Region Pengkalan Chepa in die Hauptstadt. Damit vollzog sie eine innerstaatliche, bildungsbasierte Land-Stadt-Migration: an die UM, der ältesten Universität Malaysias, die eine sehr gute Reputation innerhalb des Landes besitzt. Zur Zeit unserer Treffen absolvierte Fauzana an der UM mithilfe eines Stipendiums der Universität einen Master in Biochemie. An derselben Universität hatte sie bereits ihr Bachelor-Studium in Mikrobiologie mit einem Stipendium des Jabatan Perkhidmatan Awam (JPA, oder auch PSD: Public Service Department) abgeschlossen. Das JPA ist eine Regierungsinstitution, die ihre Stipendien relativ ungeachtet der Schulnoten vorwiegend an die malaiisch-malaysische Bevölkerung ausgibt (The Star 2009:N12). Als Malaiisch-Malaysierin profitierte Fauzana mit ihrem Internatsplatz, ihren Studienplätzen und Stipendien direkt von den Programmen, die auf der 1971 eingeführten New Economic Policy (NEP) basieren.32

29 Vor einigen Jahren wurden 10 % der Internatsplätze für NichtmalaiInnen geöffnet, wie mir erklärt wurde. 30 Vgl. Kap. 3.3.1 und 3.3.2. 31 Die Matriculation-Programme werden seit 2005 von den Universitäten angeboten. Die entsprechenden SchülerInnen gehen auf dem jeweiligen Campus zur Schule. Dieser staatliche Abschluss dauert im Gegensatz zum staatlichen zweijährigen STPM (Sijil Tinggi Persekolahan Malaysia) nur ein Jahr. Ein Zugang zu diesem Programm steht somit nur denjenigen SchülerInnen mit sehr guten Schulnoten zur Verfügung. 32 Vgl. Kap. 3.3.2.

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Die Wahl ihrer naturwissenschaftlichen Studiengänge traf Fauzana mit strategischem Bedacht: „Fauzana erzählte mir, dass sie Mikrobiologie studiert hat, da sie in einem ,developing country‘ lebe und hier deshalb NaturwissenschaftlerInnen gebraucht würden. Sie wolle ihr Land damit unterstützen. Ihre Wahl habe sie einzig und allein auf Grund von entsprechenden Arbeitsplatzperspektiven getroffen. Sie mochte Mikrobiologie erst nicht sonderlich und habe erst im Laufe der Zeit angefangen, sich dafür zu interessieren.“ (Gedächtnisprotokoll 6. Mai 2009) Wie verschränkten sich in Fauzanas Studienfachwahl ethnisch basierte Staats-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitiken? Als Malaiisch-Malaysierin bewegte sich Fauzana nicht nur mit ihren Stipendien, sondern auch mit ihrer arbeitsplatzperspektivischen Motivation im Strom der ökonomiegeleiteten NEP. Die Wahl ihrer Studienfächer verband Fauzana, wie auch viele andere meiner malaiischmalaysischen Gesprächspartnerinnen, mit der Hoffnung auf eine positive Beeinflussung der Zukunft der malaiisch-malaysischen Nation. Angesichts der materiellen und ideellen Vorteile durch den Staat wies der Großteil meiner malaiischmalaysischen Gesprächspartnerinnen meinen Beobachtungen zufolge eine starke Identifizierung mit den Staatspolitiken vor. Zur besseren Einordnung von Fauzanas Bildungsbiographie werden nachstehend auch diejenigen ihrer Schwester Noraini und ihres Bruder Khairul vorgestellt. Darüber hinaus werden die Zusammenhänge zwischen naturwissenschaftlicher Studienausrichtung und geschlechtlich normierten Zugehörigkeiten erläutert. 4.3.2 Schwestern als Akteurinnen modernisierender Prozesse Die 25-jährige Fauzana hat eine jüngere Schwester, die während meiner Forschung 2009 22 Jahre alt war. Ihre Schwester Noraini studierte mit Medizin ein prestigeträchtiges Fach ebenfalls an der UM. Neben Fauzana und Noraini gibt es unter den Geschwistern noch den damals 24-jährigen und somit mittleren Bruder Khairul. Dieser sei im Gegensatz zu den beiden Schwestern nie derart „keen in learning“ gewesen, wie Fauzana es ausdrückte. Er habe in Melaka an einer Polytechnic, an der man grundsätzlich keinen derart hohen Abschluss erwerben kann wie an einer Universität,33 einen Berufsschulabschluss in Ingenieurwesen erwor33 Eine Polytechnic („Poly“) ist etwa gleichbedeutend mit einer Berufsschule in Deutschland. Nach zwei Jahren kann man eine Polytechnic mit einem Certificate (Zertifikat) oder nach drei Jahren mit einem Diploma (Diplom, nicht zu verwechseln

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ben. Khairul lebte seit Beendigung seiner Ausbildung wieder in seinem Elternhaus in Kuala Terengganu. Mit welchen Bedeutungszuweisungen wurden in dieser Familie die Aspekte Geschlecht, Familienstrukturen, Bildungsaufträge und Staatspolitiken miteinander in Beziehung gesetzt? Die Rollen der Studentinnen, die sich naturwissenschaftlich orientierten und des Bruders, der im ländlichen Elternhaus wohnte, lassen Fragen nach malaiisch-malaysischen Männlich- und Weiblichkeitskonzepten stellen. Vergleicht man die Bildungswege der Schwestern mit dem ihres Bruders Khairuls deutet sich Folgendes an: Männern kommt im Diskurs über selbstständige malaiisch-malaysische Frauen, die in Malaysia den Maßstab für einen ,modernen‘, demokratischen Islam darstellen (Zainah 2001:227; vgl. Kapitel 3.3.1), keine aktive Rolle in ihrer Bildungslaufbahn und den daran gekoppelten Status- und Machtstrukturen zu (s.u.). Mit ihren Studienerfahrungen sind die Geschwister erst einmal Teil des konkreten geschlechtsspezifischen Phänomens, bei dem Frauen Männer an den malaysischen Universitäten quantitativ überragen (Department of Statistics, Malaysia 2007:130-134). Diese quantitative Überlagerung von studierenden Frauen erklärt sich u. a. aus den staatlich ermöglichten Zugängen für Frauen zu Bildung und zum Arbeitsmarkt seit den 1970er Jahren.34 Diese weibliche soziale Mobilität war wiederum auf Grundlage eines bestimmten malaiisch-malaysischen Männlichkeitskonzepts möglich: Nicht selten argumentiert die malaysische Regierung, dass malaiische Männer aus ländlichen Gebieten nicht dazu in der Lage seien, am Aufbau der ,malaysischen Identität‘, die durch den Melayu Baru35 verkörpert wird, mitzuwirken. Denn sie seien in „kampung mentalities“ (Mellström 2009:898) verhaftet. Dieses Konzept beinhaltet eine angenommene Scheu entsprechender Männer vor Entwicklungen, die mit Ökonomie und Nationalstaatlichkeit assoziiert werden. Eric Thompson (2006:66f.) erläutert, dass das kampung in diesem Zusammenhang als Gegensatz zu städtischen Unternehmenszentren gesehen wird. In diesen Zentren müsse sich der Melayu Baru, der ,Neue mit dem Hochschuldiplom in der BRD) abschließen. Erhält man ein Certificate, kann man handwerkliche Fertigkeiten vorweisen. Das Diploma bescheinigt der/m SchülerIn eine Ausbildung mit ausgeglichenen Theorie- und Praxisanteilen. In der Wertigkeit der Abschlüsse folgt danach ein mögliches Advanced Diploma (erweitertes Diplom), das auch zu komplexeren Verantwortlichkeiten in einem Betrieb befähigt. Erst darüber ist der Degree, der Hochschulabschluss von Bachelor über Master bis zum DoktorInnengrad, angesiedelt. Einen Degree erwirbt man aber nicht an einer Polytechnic, sondern ausschließlich an einer Universität. 34 Vgl. Kap. 3.3.1. 35 Vgl. Kap. 3.3.1.

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Malaie‘, innerhalb der lokalen chinesisch-malaysischen und der internationalen Geschäftswelt behaupten. In diesem Sinne wird das kampung als ruhiger Schutzort vor entsprechender Konkurrenz verstanden. Rural verortete ,traditionelle‘ Werte wie Verwandtschaftsbeziehungen, gotong-royong (gegenseitige nachbarschaftliche Hilfe) und Naturerlebnisse werden so in Abgrenzung zu urbaner Modernität verstanden. Mellström (2009:898) konstatiert, dass malaiisch-malaysische Männer, die sich am kampung orientieren, in diesem Zusammenhang oft als ,verweiblicht‘ charakterisiert werden. Sie seien nicht ,männlich‘ genug, um mit der technologiebasierten Modernität umzugehen. Khairuls Rolle ist angesichts seines Lebens in ländlichem Gebiet und infolge seiner geringeren Auseinandersetzung mit Technologie und Bildung im Vergleich zu seinen Schwestern, im Kontext dieser ,traditionellen‘ ruralen malaiischen Männlichkeit zu betrachten. Dieses Männlichkeitskonzept differiert auf der einen Seite gegenüber der ,modernen‘, teils ,westlich‘ orientierten, malaiisch-malaysischen Männlichkeit des Melayu Baru, die öffentlich wahrnehmbare Staatlichkeit und Institutionalisierung betont. Sie differiert auf der anderen Seite vom muslimischen Geschlechterverhältnis, in dem Männer grundsätzlich einen machtvollen Mittelpunkt darstellen (Zainah 2001:228f.). Mit diesem muslimischen Verständnis müssen sie sich wenig um ihren sozialen Status bemühen, wie es eine Dozentin in diesem Zusammenhang geäußert hat: „Boys are raised that way. Always used to roam around and not taking responsibility. I guess they think they will be head of families anyway so why bother?“ (zit. n. Mellström 2009:897). Folglich halten – wenn auch durch unterschiedliche kulturelle Provenienzen – muslimische malaiisch-malaysische Akteure wie Khairul im kampung geschlechterdominante Rollen in einer Gesellschaft, in der weibliche soziale Mobilität ein staatliches Projekt darstellt, nur in geringem Maße aktiv aufrecht. Wie wird vor diesem Hintergrund malaiisch-malaysische Weiblichkeit symbolisch aufgeladen? In diesen widersprüchlichen Geschlechterverhältnissen bekommen malaiisch-malaysische Frauen wie Fauzana und Noraini als Akteurinnen von Modernisierungsprozessen besondere Rollen zugewiesen. Während auf der einen Seite malaiischen Männern im kampung ein ,schwacher‘ Charakter nachgesagt wird, eignen sich auf der anderen Seite junge Frauen in den Städten ,technologischen Fortschritt‘ an: Seit dem breiten Anheuern von ländlichen Malaiisch-Malaysierinnen im elektronischen Industriesektor in den 1970er Jahren wird dieser Sektor mit Frauen und auch mit Feminität assoziiert (Mellström 2009:896). Technologie wird in Malaysia mit ,Fortschritt‘ und ,Modernisierung‘ gleichgesetzt (Mellström 2009:898). Durch diese Entwicklungen werden gegenwärtig lokale Modernisierungsprozesse im urbanen Raum von weiblichen Fachkräften und Wissenschaftlerinnen verkörpert. In der Konsequenz entspricht es

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gegenwärtig nicht nur der Norm, dass grundsätzlich mehr Frauen als Männer studieren, sondern auch, dass Frauen wie Fauzana und Noraini mehrheitlich naturwissenschaftliche und technologische Fächer studieren. Die starke weibliche Präsenz in den Naturwissenschaften hängt über die dichotomen Zuschreibungen an ,moderne technologische Weiblichkeit‘ und ,traditionelle rurale Männlichkeit‘ hinaus mit den exkludierenden Ethnizitätspolitiken zusammen. Die rassistische Quotenpolitik an den Universitäten hat dazu geführt, dass Malaiisch-Malaysierinnen Fächer studieren können, die vor den 1970er Jahren noch als männlich konnotiert galten: Die Studienplätze wären für Frauen ohne die entsprechenden Quotierungen eventuell nicht vakant (Mellström 2009:893). Die Ethnizitätspolitiken Malaysias seit den 1970er Jahren verhelfen somit Malaiisch-Malaysierinnen ganz konkret zu erweiterten Handlungsmöglichkeiten. „In this perspective, race becomes a more pertinent and pervasive social category than gender, and it possibly and somewhat paradoxically operates more effectively to include women than many other inclusion strategies that have tried thus far“ (Mellström 2009:893). Die Frauenrollen, wie sie von Fauzana und Noraini verkörpert wurden, knüpfen zudem an bilaterale Strukturen des malaiischen adat36 an. Die malaysische Ethnologin Wazir Jahan Karim bezeichnet das Konzept des adat37 als „the total constellation of concepts, rules and codes of behaviour which are conceived as legitimate or right, appropriate or necessary“ (1992:14). In der malaiischmalaysischen Gesellschaft verfügten Frauen angesichts der kulturellen Gebote des adat seit jeher über Eigentum und konnten diesen vererben. Sie arbeiteten außerhalb des Haushalts und waren deshalb im öffentlichen Raum präsent. Infolgedessen genießen Frauen in Malaysia bis heute mehr Rechte und Autonomie als in anderen islamischen Ländern (Zainah 2001:232; vgl. Wazir Jahan 1995, 1992). Bis hierhin ist deutlich geworden, dass sich Fauzana und Noraini vor dem Hintergrund der geschlechtlich und ethnisch normierten Staatspolitiken, den malaiisch-malaysischen Weiblich- und Männlichkeitskonzepten und des adat eine ,modernisierte‘ Weiblichkeit aneigneten. Dies vollzogen sie mithilfe von univer36 Im malaiisch-malaysischen Kontext gibt es zwei Formen des adat: Erstens die bilaterale Organisationsform (adat temenggong), welches auf Festlandmalaysia grundsätzlich dominant ist. Die zweite Form ist die matrilineare Gesellschaftsform (adat perpatih), die vor allem im Bundesstaat Negeri Sembilan praktiziert wird, dessen Gebiet im 15. und 16. Jahrhundert. von matrilinear organisierten Minangkabau aus West Sumatra besiedelt wurde (Frisk 2004:37f.; vgl. Wazir Jahan 1992). 37 Vgl. die ausführlicheren Erläuterungen zu geschlechtlich normierten Aspekten des malaiischen adat in Kap. 5.2.

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sitärer, naturwissenschaftlicher und technologischer Bildung in der Hauptstadt. Khairul als der malaiisch-malaysische Sohn orientierte sich hingegen an ,traditionellen‘ Männlichkeitsentwürfen. Auch er als ausgebildeter Techniker eignete sich zwar naturwissenschaftliche Fertigkeiten an, verblieb dabei aber auf der Ebene der schulischen Ausbildung und kann weder eine Hochschullaufbahn, noch einen Weg in die Hauptstadt vorweisen. Seine Orientierung an ,traditionellen‘ Männlichkeitsentwürfen zeigte sich in seiner Rückkehr ins malaiisch geprägte und mit ,Traditionalität‘ assoziierte Land. 4.3.3 ,Absprung‘ in die Hauptstadt als Protagonistin der Großfamilie Die Verschränkungen von höherer Bildung mit Entwürfen von malaiischmalaysischer Weiblichkeit sind relativ rezente Phänomene. Diese kurze temporale Dauer wirkte sich nicht nur auf die Ziele von Fauzanas Bildungsmigrationswegen und ihre Statusposition, sondern auch auf ihre späteren internationalen Bildungsaspirationen aus. Fauzana plante, ihren bisherigen Bildungsweg von der Schule in ländlichem Gebiet an die Universität in der Hauptstadt mittels einer Promotion in England, Australien oder den USA weiterzuführen, um es anschließend bis zur Professorin zu schaffen. Derartige Pläne internationaler Migration sind im Kontext von Fauzanas Großfamilie nicht selbstverständlich. Fauzana hatte sich noch nie im Ausland aufgehalten, ebenso wenig ihre Geschwister oder ihre Eltern. Ihre Großfamilie ist fest in Malaysia verankert. Ihre Großeltern, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins lebten und arbeiteten in den ländlichen Regionen Malaysias. Ihr Vater arbeitete zur Zeit meiner Forschung als Bauarbeiter. Ihre Mutter habe früher als Sekretärin gearbeitet, was sie auf Geheiß ihres Mannes hin aufgegeben habe, um die Kinder großzuziehen. Seitdem war sie Hausfrau. Fauzanas Onkel und Tanten arbeiteten als Verkäufer oder Krankenschwestern. Ihre Bildungslaufbahn führte Fauzana und ihre Schwester als Erste der Großfamilie in die Hauptstadt. Ebenso waren sie innerhalb ihrer Großfamilie als „children of the 69“, wie es meine Gesprächspartnerin Margaret38 einmal ausdrückte, Teil der ersten Generation, die überhaupt eine universitäre Ausbildung genossen. Sie erhöhten als Erste im familiären Kontext nicht nur ihren Bildungsstand, sondern auch ihren gesellschaftlichen Status. Fauzana und ihre Schwester kommen aus keinem wohlhabenden Elternhaus. Durch ihre Aneignungen von

38 In Kap. 7.2 wird Margaret mit ihrem Bildungsmigrationsweg exemplarisch als Akteurin aus der Elterngeneration meiner Gesprächspartnerinnen vorgestellt.

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Naturwissenschaft und Technik bewegten sie sich jedoch in Bereichen, die zur Konstituierung der neuen lokalen Mittelklasse herangezogen werden. Diese Mittelklasse vereint ein relativer materieller Wohlstand und technischer Fortschritt (Mellström 2009:890). Die Regierungspolitiken, die Malaiisch-MalaysierInnen Zugänge zu städtischer Bildung und damit zu sozialer Mobilität verhelfen, währen noch nicht lange. Fauzana, die aus einem ländlichen Haushalt kommt, hatte somit den ,Absprung‘ in die Hauptstadt und an die beste Universität des Landes geschafft. Da die Familie finanziell eher schlecht aufgestellt und nicht in eine Migrationstradition eingebettet ist, stand ein Studium im Ausland bis dato erst einmal nicht zur Diskussion. Innerhalb ihres familiären Kontexts stellte die Hauptstadt bereits ein ausreichendes Sprungbrett dar, um sich bzgl. Bildung, Modernität und gesellschaftspolitischer Positionierung aus den familiären Verhältnissen heraus zu entwickeln. 4.3.4 ,Modernes‘ Europa gegen ein ,chinesisches‘/,asiatisches‘ Singapur Durch die bisher nicht existenten Auslandserfahrungen träumte Fauzana allerdings von der ,weiten Welt‘. Sie wünschte sich, später in Europa weiterzustudieren, um ganz neue Eindrücke sammeln zu können. Ihre zukünftige Bildungsmigrationsroute sollte sie weit von Malaysia weg führen, um den eigenen Horizont so breit wie möglich zu erweitern, wie sie sagte. „The further the better“, so drückte es an anderer Stelle meine malaiisch-malaysische Gesprächspartnerin Siti einmal aus. Um sich möglichst vielfältig zu entwickeln, wurde von meinen Gesprächspartnerinnen eine besonders kulturdifferente Region der Erde ausgesucht. In diesem Zusammenhang wird eine erste ablehnende Bedeutungszuweisung an Singapur deutlich. Dieser Bedeutungszuweisung war ich angesichts der ausgeprägten Bildungsmigrationswege von chinesisch-malaysischen und eben nicht von malaiisch-malaysischen Frauen in den Stadtstaat auf der Spur. Angesichts des Wunsches nach Erfahrungen in einer möglichst kulturdifferenten Region wäre das relativ ähnliche Singapur diesem Zwecke nicht dienlich genug. Stattdessen imaginierte Fauzana Europa auf Grund von verschiedenen Differenzen als zweckmäßiger. Singapur ordnete sie auf meine entsprechende Nachfrage hin für sich auch als einschränkend ein. Konkret habe sie sich zwar noch nie in Singapur aufgehalten. Sie habe allerdings die Vorstellung, dass Singapur nicht sehr freundlich zu MuslimInnen und damit zu MalaiInnen sei:

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„Fauzana erzählte mir, dass die MalaiInnen sicher nicht nach Singapur gehen wollen, da es zu nah an Malaysia wäre. Sie selbst wolle lieber nach Europa, um neues Essen zu probieren und anderes Klima zu erleben. Die ChinesInnen aber würden nach Singapur gehen, da diese so leistungsorientiert seien und hart arbeiten wollen. Die NUS sei unter den 50 besten Universitäten weltweit, das sei attraktiv für die ChinesInnen. Für sie als Malaiin sei es in Singapur jedoch schwierig im Alltag, da es nur wenig halal-Essen und wenig Moscheen gebe.“ (Gedächtnisprotokoll 6. August 2009) Konkret widersprach sich Fauzana in ihrer Aussage, dass sie einerseits in Europa die vielfältige Küche genießen möchte, andererseits jedoch Singapur auf Grund weniger halal-Küchen ablehnte. Schließlich ist die europäische Küche nicht gerade bekannt für muslimisch erlaubtes Essen, geschweige denn für eine große Anzahl von Moscheen. Für welche schwerwiegenderen Themen wählte sie diese Aussagen als Medium? Im Kontext gesamtgesellschaftlicher Konflikte zwischen malaiischer und chinesischer Bevölkerung verwies sie durch ihre Aussagen auf diese ethnischen Spannungen. Abgrenzungen zu Singapur mit dem Hinweis auf die ethnisch basierten Ressentiments brachten andere malaiisch-malaysische Gesprächspartnerinnen noch deutlicher auf den Punkt. Ich unterhielt mich mit Afifah darüber, dass die malaysische Regierung keine Stipendien für ein Studium in Singapur bereitstellt. Sie wurde ganz aufgeregt und schnappte nach Luft. „That is because“, sagte sie laut und drehte sich in diesem Moment hektisch nach rechts und links um, um zu sehen, ob man sie hören könnte. Etwas leiser sagte sie dann zu mir voller Inbrunst: „That is because we don’t like Singapore!“ Ich guckte irritiert. Was soll das heißen? Etwas entspannter sagte sie nun lachend: „Oh, it’s just fun to hate them!“ Warum denn? „Because they are kia su people!“, 39 sagte sie so, als wäre dies für sie das Selbstverständlichste der Welt. „They are kia su because they are never happy with what we have! When we have more than them! For example we always had the F1 [Formula 1] here in Malaysia. They were never interested in F1. But now, since last year, they also have it and they say ‘We also have F1 – namely at night!’“, erzählte sie lachend. (Gedächtnisprotokoll 24. April 2009) Meine malaiisch-malaysische Gespächspartnerin Afifah empfand die SingapurerInnen als ablehnenswert, da diese stets nach höherer Leistung streben und dadurch als chinesische Nation in Konkurrenz zur malaiischen treten würden.

39 Kia Su ist Hokkien und bedeutet etwa ,Angst vor Verlusten und Verfehlungen‘.

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Meine Gesprächspartnerin Siti konkretisierte dieses spannungsgeladene Verhältnis in Bezug auf ein mögliches Studium in Singapur: „If u take a scholarship from Singapore….u will be bounded with certain rules and regulation. among them is you have to serve for Singapore. Which a malay cant do…coz there are historical background related to patriotisms of malay here. […] I was again rethink, Life is already that very very hard being Muslim and Malay in my own MUSLIM, MALAY country, our right being relentlessly questioned and just because we r not aggressive (as the Kiasu race-chineses), our head is being stepped upon. I cant imagine living in non-muslim country.!“ (E-Mail von Siti, 17.8.2009, Hervorheb. im Orig.)40 Wie aus diesen Zitaten heraus zu lesen ist, wirkt die konfliktreiche Geschichte beider Länder hinsichtlich malaiischer und chinesischer Bevölkerung41 bis heute machtvoll weiter. Fauzana formulierte ihre ablehnende Haltung gegenüber einer (Bildungs-)Migration nach Singapur zwar nicht derart deutlich wie Afifah oder Siti. Ihre vorsichtigen Worte über ein nicht muslimisch-freundliches Singapur standen aber in dem gleichen gesellschaftlichen Kontext. Obwohl Fauzana mit ihrem naturwissenschaftlichen Studium an der UM innerhalb Malaysias einen exzellenten Bildungsweg verfolgte, lehnte sie Singapur mit einem qualitativ besser ausgebauten Bildungssystem (vgl. Lee, M. 2004:56 zu Defiziten vieler malaysischer Universitäten) auf Grund der religions- und damit auch ethnizitätsbasierten Konflikte ab. Singapur war aus einer ethnizitätsbasierten konfliktiven Haltung kein Migrationsziel für malaiisch-malaysische Frauen der neuen Mittelklasse wie Fauzana, Afifah oder Siti. Lokale Modernitätsaspirationen und ethnisch-basierte Markierungen von Differenz finden ihren Ausgang in kulturellen Provenienzen. Resümee Ich ziehe das Fazit, dass im lokalen Kontext die ethnische Identifizierung wesentliches Merkmal dafür darstellt, welche Bildungswege mit welchen Zielorten eingeschlagen werden. Innerhalb der malaiisch-malaysischen Bevölkerung wer40 Während Siti am 17.4.2009 ihre Ambitionen, ins europäische Ausland zu gehen, noch mit „the further the better“ bezeichnete, schrieb sie am 17.8.2009 die dazu widersprüchliche Aussage „I cant imagine living in non-muslim country.!“ Die entsprechende E-Mail, aus der dieses Zitat stammt, schickte sie mir nach unserem letzten Treffen. Ich denke, dass sie erst durch dieses ,Loslassen‘, also nach unserem Abschied, brisante Informationen preisgeben konnte oder wollte. 41 Vgl. Kap. 3.2.3.

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den Bildungswege maßgeblich von der vergeschlechtlichten Zugehörigkeit beeinflusst: denn es waren in der vorgestellten malaiisch-malaysischen Familie die jungen Frauen, die im Gegensatz zum Bruder innerstaatliche Bildungsmigrationen unternahmen, die zudem als Wege der Moderne wahrgenommen werden. Dieses Muster konnte ich auch bei meinen anderen malaiisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen, die einen Bruder hatten, wahrnehmen. Zumindest mit den Zuschreibungen an ,moderne Weiblichkeit‘ und ,traditionelle Männlichkeit‘ ähneln sich die malaiisch-malaysischen Geschwisterkonzepte, die in diesem Abschnitt zum Ausdruck kamen, stark denen der chinesisch-malaysisch(en) (orientierten) Familien Hemmy und Wong. In diesem Kapitel wurden familienbasierte Entscheidungen, Imaginationen und Handlungspraxen in Bezug auf Bildungsmigrationen mittels Narrationen der Familien Hemmy und Wong sowie Fauzanas erörtert. Im nächsten Kapitel widme ich mich der Frage, mit welchen diskursiven Geschlechterbildern sich die Chinesisch- und Malaiisch-MalaysierInnen fernab familiärer Aushandlungsprozesse selbst aktiv auseinandersetzten.

5. Lokale Geschlechterdiskurse

Im vorherigen Kapitel wurde mit den Familien Hemmy und Wong sowie mit Fauzana zum einen erläutert, wie die Bildungsmigration von Malaysia nach Singapur und die inner-malaysische Land-Stadt-Migration mit bestimmten Hoffnungen und Imaginationen verbunden wurden. Zum anderen wurde dargestellt, wem in den entsprechenden Familienkonstellationen die Rolle zukam, diese Hoffnungen und Imaginationen zu verwirklichen. In den von mir begleiteten Familien wurde jedoch nicht allein im relationalen Familiengefüge ausgehandelt, wer mit den entsprechenden Aufgaben bzgl. Status, Modernität, Unabhängigkeit und Familienversorgung von Malaysia nach Singapur bzw. vom malaysischen Land in die Hauptstadt migrieren sollte. Die jungen Bildungsmigrantinnen gestalteten auch selbst aktiv Wünsche und Strategien, die sie mit Weiblichkeit verbanden und die unmittelbaren Einfluss auf ihre Wege nach Singapur bzw. nach Kuala Lumpur hatten. Ab diesem Kapitel betrachte ich die im vorherigen Kapitel untersuchte Analyseebene der Familie aus einer anderen Perspektive, nämlich mit Blick auf die nationalstaatlichen Geschlechterdiskurse als Möglichkeiten zur Aneignung und Distinktion für meine Gesprächspartnerinnen. Damit analysiere ich in diesem Kapitel den staatlichen Teil der geographic scales meines Analyserahmens Gendered Power Hierachies in Space and Time. Es werden über die Ebene der Familie hinaus nationalstaatliche und religiöse Geschlechterdiskurse in Malaysia und Singapur betreffs Sexualität, Liebeskonzepten und Körperlichkeit theoretisch erläutert. Diese sind wiederum in Debatten um ,Asiatische Werte‘ eingebettet, deren Thematisierung ebenfalls erfolgt. Die Darstellungen der Diskurse und Debatten gestalten sich überwiegend normativ und damit homogenisierend, was jedoch durch die konkreten subjektiven Erfahrungen und Erzählungen in Kapitel 6 aufgebrochen wird. In diesem Sinne dient dieses Kapitel 5 als theoretischer Hintergrund für die Narrationen in Kapitel 6.

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5.1 A SIAN V ALUES In der Familie Hemmy spielte für den Sohn Andrew die von ihm erwartete kindliche Elternfürsorge eine maßgebende Rolle dafür, dass er in seinem Elternhaus wohnen blieb. Diese Elternfürsorge ist Teil des Konzepts der filial piety, der kindlichen Ergebenheit gegenüber den Eltern. Diese filiale Treue ist auf der Familienebene Teil von weitergefassten ,Asian Values‘. Grundsätzlich sind geschlechtlich normierte Praktiken, nationalstaatliche und religiöse Geschlechterdiskurse sowie die gesellschaftspolitischen und ökonomischen Entwicklungen Malaysias und Singapurs mit Debatten um Asian Values verbunden. Das Konzept der Asian Values wird in Asien staatlicherseits für unterschiedliche Zwecke und Strategien genutzt. Ausgangspunkt ist die Annahme südostasieninhärenter normativer Werte, die die politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Systeme prägen (Jayasuriya 2001:348). Trotz Differenzen zwischen den einzelnen Ländern, in denen die Asian Values als Konzept verfolgt werden, gibt es nach Khoo B.T. (2002), Jayasuriya (2001) und Sebastian (1999) dennoch grundsätzliche Gemeinsamkeiten in der Konstruktion, die die Asian Values ausmachen: erstens eine Präferenz für Gemeinwohl und kollektives Wohlbefinden im Gegensatz zu individuellen Rechten (kommunitaristischer Kollektivismus), wie an den familienbasierten Migrationsentscheidungen von Doreen Hemmy, Judith und Kaelyn Wong sowie Fauzana erläutert wurde. Zweitens Loyalität und Respekt gegenüber Autoritäten wie LehrerInnen und Eltern, wie z. B. durch Judiths widerwilliges Arbeiten auf Wunsch der Mutter für die älteste Schwester deutlich wurde. Drittens die Anerkennung autoritärer Regierungen, wie dies mit Fauzanas Streben nach einem Beitrag zu den nationalen Wirtschaftspolitiken mittels ihres naturwissenschaftlichen Studiums gedeutet werden kann. Han Sung-Joo (1999:3) führt an, dass das Konzept der Asian Values grundsätzlich als treibende Kraft hinter Asiens ökonomischem Aufschwung in den letzten vier Dekaden gewertet wird. Die verschiedenen Elemente der Asian Values sind keinesfalls einzigartig in Asien bzw. in Malaysia oder Singapur. Bedeutsam ist vielmehr die Art und Weise, wie sie artikuliert werden. Wie nachstehend erläutert wird, nutzen sie manche Staatsträger als Antwort auf westliche Kritiken an Asien. Andere legitimieren damit ein politisches System und eine machthabende Regierung. Wieder andere wollen durch den Bezug auf Asian Values Werte schützen, die von ,dekadenten westlichen‘ Einflüssen bedroht seien. Werte sind sowohl Teil von Glaubens- und philosophischen Systemen als auch ideologisch beeinflusste Bedeutungsträger in politischen Diskursen. Farish A. Noor (1999:150) betont, dass Konzepte von Werten stets kontextabhängig sind. Das bedeutet, dass sie nicht außerhalb von Gesellschaften existieren. Modi-

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fizierungen von Werten sind an die Aushandlungen innerhalb von Gesellschaften gebunden. So sind Werte auch an gesellschaftliche Normen gekoppelt: Normen sind Verhaltensregeln, in denen Werte im Umkehrschluss konkretisiert und implementiert werden. Sie verweisen auf Ideen davon, was in einer Mehrheitsgesellschaft als richtig und wünschenswert erachtet wird. Normen werden durch Werte als adäquate Regeln anerkannt (vgl. Hansson 2001; Edel 1993; Clark 1972). Da sich gesellschaftliche Bedingungen und Anforderungen aber auch stets verändern, sind Werte diachron. Bedeutungen von Werten verändern sich somit über einen langen Zeitraum historischer Prozesse (Farish 1999:150). Asian Values sind mit diesem prozesshaften und kontextabhängigen Charakter nicht an eine essentielle asiatische Identität gebunden, wie seitens verschiedener Ideologieträger propagiert wird. „We reject the notion that Asian values are somehow ‘essentially’ ingrained within the psycho-social structure of Asian societies and individuals. We reiterate our view that such appeals to essentialist interpretations of values are rooted in a politics of authenticity, where strategic essentialism has become a tool for political engagement“ (Farish 1999:151).

Staatliche Regierungsträger nutzen die Asian Values mithilfe einer propagierten Essentialisierung als strategisches Instrument, um gesellschaftliche Diskurse zu beeinflussen.1 Die gegenwärtigen ,asiatischen Werte‘ müssen somit in den Kontext diskursiver Systeme asiatischer Gesellschaften eingebettet werden, um ihre Bedeutung zu erfassen. Das postkoloniale Konzept der Asian Values wird seit den 1980er Jahren in Südostasien am stärksten in Malaysia und Singapur aufgegriffen und wurde dort vom damaligen malaysischen Premierminister Mahathir Mohamad, dem damaligen singapurischen Premierminister Lee Kuan Yew sowie verschiedenen Intellektuellen beider Staaten entwickelt (Stivens 2006b:456). 5.1.1 Debatten um Asian Values in Malaysia Die verschiedenen Ideensysteme und Werte in Malaysia – Islam, ,Modernität‘ und kulturelles adat – stellen den Rahmen dar, in denen die Asian Values entwickelt wurden. Der Islam leistet gegenwärtig den bedeutsamsten und dominantesten Beitrag zum Wertesystem in Malaysia.2 1

Für eine umfassende und kritische Auseinandersetzung mit Regierungsmacht und Herrschaft, die als ,einvernehmlich‘ mit den Beherrschten konstituiert wird, siehe Foucaults Konzept der Gouvernementalität (Foucault 2009a, 2009b).

2

Vgl. Kap. 3.3.1

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In seinem bekanntesten Buch The Malay Dilemma plädiert der ehemalige malaysische Premierminister Mahathir Mohamad (1970) für einen Wertewandel in der muslimischen malaiisch-malaysischen Bevölkerung, um die ökonomische Überlegenheit der chinesisch-malaysischen Bevölkerung zu überwinden. Dafür initiierte er in den 1980er Jahren unterschiedliche Kampagnen wie Look East; bersih, cekap dan amanah (sauber, produktiv und vertrauenswürdig); kepimpinan melalui teladan (Führung als gutes Beispiel) oder penyerapan nilai-nilai Islam (Anpassung islamischer Werte) (Khoo B.T. 2002:55). Mit diesen Kampagnen konstruierte er wichtige ideologische Bezugspunkte der ,asiatischen Werte‘ in Malaysia. Gegenwärtig verhandeln entsprechende Regierungspolitiker das malaysische Wertesystem v. a. in Relation zur ,westlichen‘ Welt. Abzulehnende Ideen und säkulare Werte – wie Individualismus, Relativismus, Hedonismus, instabiler Pluralismus (Heng/Devan 1995:203), was sich bspw. in unehelichen Kindern und der Verbreitung von AIDS auswirken würde (PuruShotam 1998a:132) – konstituieren sie dabei als ,den Anderen‘ zugehörig, die meist konkret als ,der Westen‘ gedacht und benannt werden (Farish 1999:167). Durch den Bezug auf die Asian Values wird versucht, eine einheitliche politische und gesellschaftliche Identität zu schaffen. Durch die Auslotung ,negativer Einflüsse von Modernität‘ wird eine Dichotomie zwischen Osten und Westen bzw. Asien und Europa/USA hergestellt. Der ehemalige malaysische Premierminister Mahathir Mohamad nutzt die Dichotomisierung zur Priorisierung ,asiatischer, moderner Werte‘: „The notion that a country must Westernize in order to industrialize is ludicrous. Asian modernization occurred as an inevitable stage in our own history, not because we were Europeanized or Americanized. […] The West would do well to learn from the success of East Asia and to some extent ‘Easternize.’ It should accept our values, not the other way around“ (Mahathir 1995:77).

Durch eine indirekte Gegenüberstellung von ,guten asiatischen‘ und ,schlechten westlichen‘ Werten wird eine Bedrohung des eigenen Wertesystems konstruiert, die unter dem Stichwort „westoxification“ (Stivens 1998a:2) – also der ,Vergiftung durch den Westen‘ – von nationalen Autoritäten abgewehrt werden müsse. In Kapitel 6 werden diese Zuschreibungen anhand von ,unmoralischer westlicher‘ sexualisierter Feminität und ,moralischer asiatischer‘ femininer Zurückhaltung eine Rolle spielen. Die Dichotomie zwischen ,asiatischen‘ und ,westlichen‘ Werten fungiert schließlich als Instrument, um die politische Macht der Regierungseliten zu festigen: „[…] [T]he constant creation of external ene-

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mies enables the construction and re-articulation of state-power on the cultural foundations of Asian Values“ (Jayasuriya 2001:347). Zusammenfassend propagiert die malaiisch-malaysische Regierung mit dem Konzept der Asian Values einen ,modernen muslimischen‘ Weg, um u. a. mit dessen Hilfe ihre Regierungsmacht aufrechtzuerhalten. 5.1.2 Debatten um Asian Values in Singapur Während die Asian Values in Malaysia durch den Fokus auf den Islam in Opposition zu ,westlichen Werten‘ konstituiert werden, gestaltet sich die Relation zwischen ,asiatischen‘ und ,westlichen‘ Werten in Singapur prozesshafter und verwobener. Der singapurische Anwalt, Professor und Sonderbotschafter der singapurischen Regierung Tommy Koh bezeichnet Singapur als „most occidental of the oriental societies“ (1998:358). Nach Koh sei Singapur eine einzigartige Kombination aus West und Ost, wobei er auch von der Existenz von ,schlechten asiatischen‘ und ,guten westlichen‘ Werten ausgeht. Seine Einteilung ist allerdings etwas einförmig und undifferenziert:3 „At the risk of offending many of my Asian friends, let me cite a few examples of bad Asian values. I regard the caste system in Hindu culture; the subjugation of women; the practice of nepotism; the attitude to subservience to those in authority; the tradition of authoritarian rulers; and the shame which parents feel towards their children with physical or mental disabilities as bad. I would also like to point out that many of the characteristics of modern Singapore which make us successful are derived from the West. I refer, for example, to our independent judiciary; our transparent legal process; […] science and technology; a management culture based upon merit; […] the uplifting of the status of women […]“ (Koh 1998:357f.).

Mit seiner Aussage, dass es auch ,schlechte asiatische‘ und ,gute westliche Werte‘ gebe, bewegt sich Koh allerdings in einer Minderheit. Die konstruierte Dichotomie zwischen den ,guten Werten Asiens‘ und den ,schlechten Werten des 3

Kohs Aussagen sind sehr generalisierend und monolithisch. Beispielsweise geht er von einer grundsätzlichen Frauenunterdrückung als asiatischem Wert aus. Dabei ignoriert er z. B. die matrilinearen Gesellschaften der Minangkabau in Malaysia (Peletz 1996, 1995; Stivens 1996) und in Indonesien (Metje 1997, 1995). Gleichzeitig versteht er das singapurische Justizsystem als per se ,unabhängig‘ und verschleiert damit die starken Repressionswellen gegen die kommunistische Partei und die chinesischen Bildungsbewegungen in den 1960er Jahren, die von Premierminister Lee Kuan Yew persönlich veranlasst wurden (Gunn 2008).

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Westens‘ ist gesellschaftlich weit verbreitet. Wichtige Ausgangsbasis für diese Debatten um ,gute asiatische‘ und ,schlechte westliche Werte‘ bzw. um die grundsätzlichen Asian Values in Singapur ist die demografische und geografische Situation als Inselstaat, die auf Grund der mangelnden Ressourcen als ,bedrohlich‘ galt.4 Die Regierung griff modifizierend auf Wertesysteme zurück, die sowohl eine nationale Einheit wie auch eine ökonomische, modernisierende Entwicklung förderten. „[…] [T]he debate [on Asian Values is] all about how best to organize a modernizing society to achieve and maintain prosperity and security; how to find a balance between freedom and stability; and the need to strive for some equilibrium between government responsibilities and individual rights and duties, in straightforward terms, the debate in its essence is about how to preserve the values of a ‘good government,’ which in turn acts to promote ‘good society’“ (Sebastian 1999:242).

Um die Anforderungen eines ,modernen Staates‘ – wie das Einführen neuer institutioneller Strukturen im Bildungs- und Arbeitsbereich – zu bewältigen (Sebastian 1999:230f.), nutzte die Regierungspartei PAP das chinesische Konzept des Konfuzianismus. So sind konfuzianische Werte im Kontext der ,asiatischen Werte‘ in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen relevant, zum einen in der Ökonomie, zum anderen in der Politik. Im Bereich der Ökonomie ist der Konfuzianismus für eine regierungspolitische Einordnung der wirtschaftlichen Leistungsstärke von Relevanz. Nach dem ehemaligen Premierminister Lee Kuan Yew5 stellt das konfuzianische Prinzip der Loyalität gegenüber der Familie eine wichtige Basis für individuelle Verantwortung und Disziplin dar. Dieser Zusammenhang wurde in Kapitel 4 durch familienbasierte Entscheidungen, die den durchstrukturierten Bildungserwerb in Singapur mithilfe eigener Disziplin erst möglich machten, deutlich. Verantwortung und Disziplin führen nach Lee K.Y. wiederum zu den konfuzianischen Prinzipien der harten Arbeit und Wirtschaftlichkeit. Das konfuzianische Prinzip der ,Disziplin‘ wird so als Voraussetzung für ,ökonomische Si4

Vgl. Kap. 3.3.3.

5

Im folgenden Textabschnitt stammen die meisten Zitate zu Asian Values in Singapur von Lee K.Y. Dies liegt zum einen daran, dass er in seiner Amtszeit als Premierminister von 1959–1994 für die gesamte Ausgestaltung der singapurischen Politik und Gesellschaft verantwortlich war. Zum anderen hat er als Singapore’s founding father bis heute überwältigenden Einfluss in sämtlichen Staatspolitiken Singapurs, den er in seinem für ihn geschaffenen Staatsamt des ,Minister Mentor‘ institutionalisiert hat. Lee Kuan Yew steht in Singapur in Person symbolisch für das, was Singapur heute ist.

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cherheit‘ sowie ,politische Stabilität‘ im multikulturellen Staat eingesetzt (Jayasuriya 2001:353). Das in Singapur konfuzianisch geprägte Konzept der Asian Values avanciert durch den staatlichen Gebrauch zu einem Medium der Bewerkstelligung der industrialisierten Nation (Heng/Devan 1995:206). Da sich Singapur in der Tat zu einem der ,Asiatischen Tigerstaaten‘ entwickelt hat, wird der wirtschaftliche Erfolg von der Regierung mit fester Überzeugung der konfuzianisch-basierten Kultur zugeschrieben (van Ess 2003:8; Heng/Devan 1995:203). Im politischen Bereich spielen konfuzianische Ideale eine wichtige Rolle für die Erhaltung der Regierungsmacht. Da die Regierungseliten Verpflichtungen und Verantwortungen der Einzelnen gegenüber dem Staat als grundgegeben erachten, nehmen sie keine Trennung zwischen Staat und Gesellschaft vor. So können sie jeden Angriff auf die politische Führung als einen Angriff auf die gesamte Nation werten (Jayasuriya 2001:346). Durch den Rückgriff auf ,einzigartige‘ asiatische Werte wie Disziplin oder auch Harmonie, die durch den Staat bewahrt werden müssten, werden gleichzeitig politische Oppositionsbestrebungen unterdrückt (Jayasuriya 2001:349). Das Konzept der asiatischen Werte fungiert damit in Singapur u. a. als politisches Instrument, um die politische Macht – in diesem Fall die der PAP – zu stabilisieren. Die Sicherung der Regierungsmacht wird mithilfe des konfuzianischen Prinzips der ,starken Führerschaft‘ legitimiert. In konfuzianischen Gesellschaften wird von politischen Autoritäten idealtypisch erwartet, dass sie moralische Vorbilder darstellen, die verantwortlich ihre Aufgaben erfüllen und die Bevölkerung unterstützen. Diese starke Führerschaft betonte der damalige Premierminister Singapurs, Lee Kuan Yew, 1992 in Tokyo: „Peoples of all countries need good government. What is good government? This depends on the values of a people. What Asians value may not necessarily be what Americans or Europeans value. Westerners value the freedoms and liberties of the individual. As an Asian of Chinese cultural background, my values are for a government which is honest, effective and efficient in protecting its people and allowing opportunities for all to advance themselves in a stable and orderly society where they can live a good life and raise their children to do better than themselves. Whilst democracy and human rights are worthwhile ideas, we should be clear that the real objective is good government. That should be the test for official developmental aid. Is this a good government that deserves aid? Is it honest and effective? Does it look after its people? Is there an orderly stable society where people are being trained to lead a productive life? “ (Lee K.Y. 1993, zit. n. Sebastian 1999:235).

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Lee K.Y. suggeriert in diesem Zitat, dass politische Stabilität nur durch „good government“ im Gegensatz zu Demokratie und der Einhaltung von Menschenrechten realisierbar sei. Diesen Anspruch einer starken Führung verbindet Lee K.Y. zudem mit dem ,asiatischen Wert‘ der Priorisierung des Kollektiven, in dem sich das Individuelle erst entfalten könne: „In the East the main object is to have a well-ordered society so that everybody can have maximum enjoyment of his freedoms. This freedom can only exist in an ordered state and not in a natural state of contention and anarchy“ (Lee K.Y. im Interview mit Zakaria 1994:111).

Dieser kommunitaristische Kollektivismus, weiteres Kernelement des Konzepts der Asian Values, bezeichnet den Grundsatz, gesellschaftlichen Interessen mehr Bedeutung als den persönlichen beizumessen und gesellschaftliche Ordnung und Harmonie individuellen Freiheiten vorzuziehen. Kishore Mahbubani, ehemaliger Staatssekretär im singapurischen Außenministerium, bezieht sich in einer konservativen Art positiv auf diese Werte, indem er sich von der Idee des Individualismus abgrenzt, die er in den USA verortet: „[..] [F]reedom does not only solve problems; it can also cause them. The United States has undertaken a massive social experiment, tearing down social institution after social institution that restrained the individual. The results have been disastrous. Since 1960 the US population has increased 41 percent while violent crime has risen by 560 percent, single-mother births by 419 percent, divorce rates by 300 percent and the percentage of children living in single-parent homes by 300 percent. This is massive social decay. Many a society shudders at the prospects of this happening on its shores. But instead of travelling overseas with humility, Americans confidently preach the virtues of unfettered individual freedom, blithely ignoring the visible social consequences“ (Mahbubani 2005:99f.).

In Mahbubanis Zitat werden über die Idee des kommunitaristischen Kollektivismus die verschiedenen Ebenen der Asian Values in Singapur, wie die Auseinandersetzung zwischen priorisierter ,asiatischer‘ und ,westlicher‘ Werte oder die Legitimierung der eigenen Regierungsmacht, zusammengeführt. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass die singapurische Regierung mit der Anerkennung der Gemeinschaft über dem Individuum, gesellschaftlicher Disziplin, der Achtung vor Autoritäten und einer führenden Regierung einen hohen Nutzen für sich aus dem konfuzianischen Wertesystem gezogen hat. Mit dem Rekurrieren auf die normativen ,asiatischen‘ Werte wird in Singapur staatlicher-

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seits ein eigener ,moderner konfuzianischer‘ Weg propagiert, der vom ,Westen‘ abgegrenzt wird. Vergleicht man die Wertediskurse in Malaysia und Singapur, kommt den Asian Values in beiden Staaten dieselbe Funktion zu, sie basieren aber jeweils auf unterschiedlichen ideologischen und religiösen Konzepten. Die ,asiatischen Werte‘ fungieren in Malaysia wie auch in Singapur als politisches Instrument, um die Regierungsmacht zu sichern. Die muslimisch-malaiisch dominierte Regierungselite Malaysias stützt sich dabei auf den Islam, während sich die chinesisch-dominierte Regierungselite Singapurs auf den Konfuzianismus beruft. Die Diskurse um asiatische Werte beeinflussen auf entscheidende Weise auch Konzepte von ,angemessener‘ Weiblich- und Männlichkeit in Malaysia und Singapur. Im Folgenden werden nationale Geschlechterdiskurse in Malaysia und Singapur, die in die Asian Values eingebettet sind und die die Akteurinnen dieser Studie für sich nutzbar machten, in den Mittelpunkt gerückt.

5.2 M ALAYSIA Im gegenwärtigen Malaysia stellen Ethnizität und Religion die zentralen Komponenten von Identitätspolitiken und politischen Aushandlungsprozessen dar. Islamisierende Initiativen und der ökonomische Trend der letzten vier Dekaden bilden den übergeordneten Kontext, in dem Identifizierungen von muslimischen Malaiisch-Malaysierinnen beeinflusst und verhandelt werden. Während der Islam verpflichtende Religion für alle Malaiisch-MalaysierInnen ist, können die anderen malaysischen Bevölkerungsgruppen relativ eigenständig ihre Religionen und kulturellen Praktiken in Malaysia ausüben. Dennoch betreffen muslimische Diskurse ebenso die nichtmuslimische Bevölkerung – und damit auch meine vorwiegend chinesisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen. Durch die Fixierung der malaiisch-dominierten Regierung Malaysias auf die malaiische Bevölkerung und den Islam gibt es keine staatlichen oder öffentlichen gesellschaftlichen Diskurse zu ,chinesischen‘ oder ,indischen‘ Fragestellungen oder Belangen. Sämtliche hegemoniale Diskurse beziehen sich auf die muslimische malaiischmalaysische Bevölkerungsgruppe – so auch die Diskurse zu Frauen- und Geschlechterrollen. Die chinesisch-malaysische und indisch-malaysische Bevölkerung wird durch die Vorherrschaft der moralischen Anforderungen des Islam somit indirekt mit beeinflusst und muss durch diese Relevanz für meine Gesprächspartnerinnen als gesamtgesellschaftlicher Hintergrund mit bedacht wer-

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den. Dieser Aspekt wird besonders bzgl. Sexualität und Körperlichkeit von Frauen in Kapitel 6 zum Tragen kommen. In den nächsten Abschnitten werde ich diejenigen malaiisch-malaysischen Diskurse in Bezug auf Geschlecht vorstellen, mit denen sich alle Akteurinnen meiner Forschung, d. h. sowohl die chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen wie auch die malaiisch-malaysischen Studentinnen, aktiv auseinandersetzten. Ich konzentriere mich auf die Themenfelder Familie, Ehe, Nationalismus sowie sexuelles Begehren, Körperlichkeit und Moral. Es sind die Themen, die sich die lokalen Akteurinnen zu eigen machten bzw. bewusst durchkreuzten, um eigene Ziele zu verfolgen und ihre Handlungsfähigkeit auf lokaler Ebene zu erweitern. Ich beginne mit einer Auseinandersetzung um den Komplex Familie, Ehe und Nationalismus. 5.2.1 Familie, Ehe und Nationalismus ,Die Familie‘, die in Malaysia von offizieller wie von gesellschaftlicher Seite aus als ,Asiatische Familie‘ gedacht wird, ist ein politisiertes Feld. Repräsentationen der Asiatischen Familie sind in übergeordnete Diskurse der Asian Values eingebettet, die staatlicherseits und von einigen muslimischen Institutionen forciert werden. Kernelemente der Asiatischen Familie sind die filiale Treue von Kindern gegenüber den Eltern (filial piety) und starke Beziehungen innerhalb der zusammengesetzten und erweiterten Familie. Die so konzipierte Familie wird von entsprechenden Institutionen als ,sicherer Ort‘ im Gegensatz zu unwillkommenen Elementen ,westlicher‘ Modernisierung konstruiert. Gemäß der Gegenüberstellung der Asian Values zu den ,westlichen Werten‘ wird von der Regierung durch die Hervorhebung des ,asiatischen‘ Familienmodells ein alternativer ,asiatischer‘ bzw. malaysischer Weg der Modernisierung vorgeschlagen (Stivens 2000:25). In diesem Familiendiskurs werden Frauenrollen zum Feld politischer Auseinandersetzungen: „Women, and by extension the family, [..] become the site of the struggle between state power and revivalist Islam over the changing nature of Malaysian society. Anxieties associated with the process of modernisation are channeled into women“ (Frith 2002:3).

Die Konstruktionen von Weiblichkeit, Männlichkeit und Familie veränderten sich in den 1970er Jahren in der Praxis und der Ideologie. Das Spannungsfeld zwischen adat und islamisch-fundamentalistischen dakwah-Initiativen 6 ist für 6

Vgl. Kap. 3.3.1.

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diese Transformationen von Relevanz. Lokale Bedingungen und historische Wechselwirkungen von Bräuchen und Gewohnheiten (adat) mit dem Islam haben malaiische Vorstellungen und Praktiken bzgl. Verwandtschaft, Residenz und Eigentum geprägt (Wazir Jahan 1995:44, 1992:xiii). Frauen waren bis in die 1970er Jahre durch Werte des adat weder auf den Haushalt beschränkt, noch völlig ökonomisch von Männern abhängig, obwohl Letztere lange Zeit Vorrechte in religiösen und Eigentumsfragen genossen (Zainah 2001:232). Das malaiisch-malaysische adat existiert gegenwärtig parallel zu und verschränkt mit dem muslimischen Werte- und Ideensystem. Hierarchische Geschlechterdifferenzen, die in Malaysia von Teilen der Regierung, der dakwah-Bewegung und vielen Koranschulen betont werden, werden durch die Bilateralität des adat reduziert. Der erstarkende Islam im Malaysia der 1970er und 1980er Jahre hat die bilateralen Prinzipien des adat allerdings generell geschwächt. So wich z. B. die lokale adat-Praxis, Töchtern und Söhnen denselben Landanteil zukommen zu lassen, dem islamischen sunnitischen Shafi’i-Gesetz, das Töchtern lediglich einen halben Anteil zuspricht (Ong 2003:265). Die Kontrolle von Männern über häusliche Ressourcen wird durch derartige Veränderungen seit den 1970er/1980er Jahren grundsätzlich gestärkt (Ong 2003:265; vgl. Wazir Jahan 1995, 1992). Vor allem hat die zu jener Zeit sehr einflussreiche islamisch-fundamentalistische dakwah-Bewegung (vgl. Ufen 2008; Warnk 2008; Sharifa 2001) ihren Anteil an dem patrilinearen Einfluss auf das malaiisch-malaysische Familienbild. Das Thema der handlungsermächtigten malaiisch-malaysischen Frauen wirkte konstituierend für diese Bewegung. Als in den 1970er/1980er Jahren mehrere zehntausend junge Malaiisch-Malaysierinnen allein und eigenständig für Arbeitsstellen in die städtischen Zentren migrierten, fühlte sich die dakwahBewegung bedroht, wie Ong (2003:281) konstatiert: Viele männliche dakwahAnhänger befürchteten, dass sie ihre Autorität im gesellschaftlich-öffentlichen Bereich auf Grund der starken Präsenz malaiisch-malaysischer Frauen in der modernen Ökonomie einschränken müssten. Verschiedene dakwah-Gruppen und Institutionen fokussieren in ihren Auseinandersetzungen seitdem die Frauenrolle in der malaiisch-malaysischen Familie. Sie betonten, dass Ehefrauen zuallererst ihren Ehemännern verpflichtet seien und dass sie ihren Ehemännern genauso gehorchen sollten wie MuslimInnen Allah. Diese Betonung von unterwürfigen Ehefrauen wurde von urbanen malaiisch-malaysischen Mittelklasse-Frauen als ,angemessene‘ Ideologie erachtet. Ong (2003:281) vermutet, dass sich diese Frauen aus Angst, den neuen ökonomischen und sozialen Status zu verlieren, dieser Rolle fügten. In Kapitel 6.2 wird demgegenüber diskutiert, wie die malaiisch-malaysischen Akteurinnen dieser Studie in diesem Komplex keinen Wider-

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spruch sehen, so dass sie einen möglichen Verlust von ökonomischen Vorzügen nicht von vornherein mit Angst besetzen. Die hierarchische muslimische Familienideologie, die von der dakwahBewegung in forcierter Form in gesellschaftliche Diskussionen eingeführt wurde, fand später ihren Eingang in staatliche Politiken. Dabei wurde sie mit bürgerlichen Konzepten vermengt. Im Fifth Malaysia Plan 1986-1990 verortete die Regierung unter Ministerpräsident Mahathir Mohamad die idealtypische malaiisch-malaysische Frau nun auf Grundlage muslimischer Vorstellungen alleinig als Mutter. Diese Geschlechterideologie bekommt von staatspolitischer Seite eine zentrale Funktion, denn sie soll politische Stabilität durch eine vereinte, gerechte, stabile und fortschrittliche Gesellschaft herstellen: „[…] [T]he role of women in family development will continue to remain important in helping to build a united, just, stable, and progressive society through the inculcation of good and lasting values in their children“ (Malaysian Government 1986:28, zit. n. Frith 2002:8).

Die Geschlechterrollen wurden in den 1980er/1990er Jahren auf staatlicher Ebene auch in der Familiengesetzgebung festgeschrieben. Zu jener Zeit wurde staatlicherseits das Konzept der keluarga hervorgehoben: eine bürgerliche Kleinfamilie, die einen Mann als Oberhaupt und Ernährer, die Frau als Hausfrau und in Abhängigkeit stehende Kinder vorsieht (Ong 2003:269). Dies entsprach nicht den malaiisch-malaysischen Normen, gerade in ländlichen Gebieten bis zu sechs Kinder zu bekommen und mit mehreren Nuklearfamilien zusammenzuleben. Das Konzept der Kleinfamilie wird von staatlicher Seite mit den entsprechend muslimisch konnotierten Geschlechterrollen mehr und mehr durchgesetzt.7 Die politische Stabilität, die mit den entsprechenden Geschlechterideologien und -praxen hergestellt werden soll, vermischt die Regierung u. a. mit muslimi7

Bis heute bilden die Bumiputeras in Malaysia mit durchschnittlich 4,8 Personen die größten Haushalte, während die Haushalte von Indisch-MalaysierInnen durchschnittlich 4,6 Personen und die der Chinesisch-MalaysierInnen durchschnittlich 4,2 Personen ausmachen (Department of Statistics, Malaysia 2005:xlvii). Unter den Bumiputeras gibt es 34 % an Haushalten, in denen sechs oder mehr Personen leben, während nur 26 % von indisch-malaysischen Familien in Haushalten mit mindestens sechs Personen leben (Department of Statistics, Malaysia 2005:125). Der Anteil an Nuklearfamilien stieg für alle Bevölkerungsgruppen zwischen 1991 und 2000 von 60 auf 65 % an. Der Anteil an männlichen Haushaltsvorstehern steigt ebenfalls weiter an. 1991 waren 81,5 % aller malaysischen Haushaltsvorsteher männlich, 2000 waren es 86,1 % (Department of Statistics, Malaysia 2005:129).

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schen Vorgaben. Auch wenn im Zuge des Kolonialismus Staat und Religion offiziell getrennt wurden, beeinflusst Religion die staatliche Politik in der Praxis auf entscheidende Weise. Ein patrilineares Familienmodell mit dem Vater als Kopf und Beschützer der Familie und der Mutter als warmer, unterstützender Kraft wird nun in staatlichen Kampagnen zur ,glücklichen Familie‘ vermittelt (Stivens 2007, 2000:25f.; Zainah 2001:227f.). In Kapitel 6.2 wird allerdings deutlich, wie Akteurinnen meiner Studie zwar auch eine Rolle als Mutter ausübten, sie durch ihren hohen Bildungsgrad jedoch genauso Ernährerinnen statt alleinig ,warme, unterstützende Kraft‘ der Familie darstellten bzw. sein wollten. Die Einbettung des Familienmodells in verschiedene Diskurse über religiöse, d. h. muslimische, Werte hat weitgehende Bedeutung für ein Verständnis von malaysischem – und damit malaiischem – Nationalismus (Stivens 2006b:355). Frauen sind in Malaysia nach dem asiatischen Wertediskurs durch die Verortung in der Familie und den mütterlichen Pflichten besonders verantwortlich für die Reproduktion der Bevölkerungsgruppe. Die Frauen werden als unentbehrlich für eine harmonische Familie angesehen, die entscheidend ist für das Wohlergehen der Nation: „[In Malaysia] Family Values [operate] as a unified and unifying national metaphor“ (Stivens 2006b:364). Frauen haben nach Meinung der dakwahBewegung und den staatlichen muslimischen Regierungseliten die moralische Pflicht, die ,moderne‘ malaiisch-malaysische Gemeinschaft zu schaffen und zu nähren. Welchen Druck dieses Ideal auf junge malaiisch-malaysische Frauen der Mittelklasse ausüben kann, wird mit meiner Gesprächspartnerin Masjaliza ebenfalls in Kapitel 6.2 deutlich, wenn sie auf Wunsch ihres Bräutigams heiratet und kurz darauf ihr erstes Kind gebärt. Malaiisch-malaysische Frauen werden durch ihre ideologische Rolle als Mutter im häuslichen Bereich zu den Trägerinnen kultureller Werte, Traditionen und muslimisch-malaiischer Symbole, da sie diese nicht zuletzt an ihre Kinder weitergeben (sollen) (Norani 1998:176).8 Die malaiisch-malaysischen Frauen werden in dieser Arena zum Symbol von Nationalismus und Ehre stilisiert (Ng, C./Maznah/tan 2007:140f.) Frauen kommt nicht nur die Rolle als (national verantwortliche) Mütter, sondern auch als Ehefrauen zu. 1990 wurde der muslimische Ehevorbereitungskurs (kursus bimbingan perkahwinan dan keluarga Islam) eingeführt, der entsprechende Geschlechtervorstellungen vermittelt (Roziah 2003:128; Norani 1998:185). In diesem Kurs, der für all jene Malaiisch-MalaysierInnen verpflich8

Konkreter Ausdruck dieser zugeschriebenen Frauenrolle war die Bevölkerungspolitik der 70 Million policy. Mit diesem Programm hat 1984 der damalige Premierminister Mahathir Mohamad Malaiisch-Malaysierinnen dazu angehalten, mehr Nachwuchs für die malaysische Nation zu bekommen: er wünschte sich einen Zuwachs von 12,6 Millionen 1984 auf 70 Millionen im Jahr 2010 (Stivens 2000:26).

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tend ist, die zum ersten Mal heiraten, wird die Verantwortung und Autorität des Ehemannes hervorgehoben, während sich die Ehefrau am Ehemann orientieren soll. Meine verheiratete Gesprächspartnerin Fauzana, die in Kapitel 6.4 mit einer Erzählung zu einer außerehelichen sexuellen Aktivität von Frauen erneut zu Wort kommen wird, wusste darüber zu berichten:9 „The contents of the pre-marriage course are mostly about the responsibility as a husband and as a wife. The husband should provide all the needs like paying for house installments, car, groceries and children. If the wife ever wants to work to contribute to the family income, that is up to her. […] They also taught in the course that the wife should always pays respect to her husband […]“ (E10 Mail von Fauzana, 4.12.2009). Die Spannung zwischen der ökonomischen Realität malaiisch-malaysischer Frauen und der patrilinearen Ideologie wird, wie im Ehevorbereitungskurs ge9

Meine Gesprächspartnerin Fauzana erklärte mir in einer E-Mail im März 2011, dass die Regierung Unternehmen bestimmt, die in ihrem Sinne den Kurs durchführen. Das Zertifikat, das am Ende ausgestellt wird, muss vom regional zuständigen Religious Department for Islamic Affairs bestätigt werden. Die Inhalte des Kurses werden entsprechend von Beratern gelehrt, die beim örtlichen Religious Department registriert sind. Sie müssen mindestens einen Abschluss in ,muslimischer Beratung‘ („Islamic counselling“), Psychologie und/oder Jura vorweisen. Die Regierungspolitiken werden so u. a. im privatwirtschaftlichen Bereich, der wiederum an den religiösen institutionalisierten Bereich gekoppelt wird, umgesetzt. Konkrete Umsetzung erfährt der Kurs folgendermaßen: Jedes Paar muss 200 MYR bzw. jede Einzelperson 100 MYR für den Kurs zahlen. Das Paar kann den Kurs an getrennten Orten besuchen, wenn es ihnen anders nicht möglich ist. Das Wesentliche ist, dass sie bei der Registrierung für die Ehe das entsprechende Zertifikat vorweisen können. Dieses ist lebenslang gültig, der Kurs muss demnach nur einmal im Leben absolviert werden. Ein Kurs dauert je nach Unternehmen einen oder zwei Tage lang. (Nach E-Mail von Fauzana, 15.3.2011).

10 Fauzana erachtete den Kurs als nützlich für sich und war froh über die Inhalte, die sie gelehrt bekam: „We appreciate the requirement set by the Malaysian government which is one of their initiatives actually, to educate young couples. This is also part of their effort in order to reduce the social problem among the young Muslim generation and to reduce divorce rate among Malaysian muslims. Although it is such a hassle to find free time to attend such course, but I admit that the knowledge is useful“ (E-Mail von Fauzana, 15.3.2011). Die Regierungsideen, die bzgl. Männer- und Frauenrolle dort gelehrt werden, werden somit durch den Kurs praktisch verbreitet.

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lehrt, durch ein Verständnis vom Einkommen der Ehefrauen als ,Zusatz‘ oder ,unterstützend‘ gelöst. So können Widersprüche zwischen einem Bedürfnis von Frauen nach Autonomie und ökonomischer Unabhängigkeit sowie das Risiko von ehelichen Konflikten gemindert werden (Raj/Chee/Rashida 2001:122). In der malaiisch-malaysischen Bevölkerung kann eine Ehefrau Zweit-, Drittoder Viertfrau sein, da Polygynie unter bestimmten Voraussetzungen wie dem Einverständnis der bestehenden Ehefrauen und der gleichwertigen finanziellen Absicherung durch den Ehemann erlaubt ist (Maznah 2009:103f.; Stivens 2000:26f.). Gerade für ,unabhängige‘ Frauen der malaiisch-malaysischen Mittelklasse stellt diese Möglichkeit oft eine Bedrohung ihrer Lebensqualität dar, wie mir einige Gesprächspartnerinnen sorgenvoll mitteilten. Fauzana wollte bspw. ihr ,Eigentum‘11 in Form ihres Ehemannes auf Grund von vorprogrammierten Eifersüchteleien und Streitereien nicht mit einer anderen Frau teilen müssen. Meine Gesprächspartnerin Adilah 12 fürchtete sich vor einer Vernachlässigung durch den Ehemann als mögliche Zweitfrau, da ihrer Erfahrung nach Ehemänner mit mehreren Frauen stets die Erstfrau besonders bei öffentlichen Anlässen bevorzugen. Ein guter Ehemann zu sein und somit im fortgeführten Sinne auch eine gute Männlichkeit, bemessen sich somit in Malaysia an den ökonomischen Möglichkeiten und der Autorität über Frauen im eigenen Haushalt – was u. a. die Kontrolle über die Sexualität der Ehefrau beinhaltet (Ong 2003:267). Dies wird nachstehend näher erläutert. 5.2.2 Sexualität, Körperlichkeit und Moral Durch verschiedene Formen von Wissen und Macht werden Körper und Sexualitäten als entscheidende Felder fokussiert, in denen politische, ökonomische und kulturelle Transformationen verhandelt werden (vgl. Foucault 1977). In Malaysia sind Körperlichkeit, Sexualität und Moral von Islam, adat und politischer Islamisierung geprägt. Vor allem in ländlichen, malaiisch-malaysischen Gebieten gestaltete sich die Vorstellung über Virilität in Relation zu Sexualität von Frauen. Männern kam die Aufgabe zu, die Keuschheit von Schwestern, Töchtern und der Ehefrau(en) zu kontrollieren (Ong 2003:266). Begründet wurde dieses Verhältnis mit einer angenommenen Rationalität und Selbstkontrolle von Männern (akal) und einer ungezügelten Begierde von Frauen (nafsu), die von Männern diszipliniert werden müsse (Frith 2002:13; Peletz 1995:88-93; vgl. Peletz 1996). Die Konzepte akal und nafsu sind im Islam verankert und werden von den meisten MuslimIn11 Fauzana benutzte in diesem Zusammenhang das Wort „property“. 12 Adilah wird in Kap. 6.2 ausführlicher vorgestellt.

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nen im malaiisch-indonesischen Archipel anerkannt (Peletz 1995:88, 91). Mit einem Verständnis nach akal und nafsu fühlten sich im allgemeineren Sinne alle Männer eines kampungs für den moralischen Status der Frauen verantwortlich. Bis in die 1980er Jahre wurde hier nach Ong (2003:266) Geschlechterdifferenz eher anhand der Moral denn anhand vermeintlicher biologischer Merkmale markiert. Die gelebte heteronormative Sexualität von Frauen war durch die verschränkten adat-Regeln jedoch nicht nur männlich kontrolliert, sondern stets ambivalent. In der malaiisch-malaysischen Gesellschaft setzten Frauen ihre Kenntnisse nicht nur in der Nahrungszubereitung, Gesundheit und bei Geburten ein, sondern nach den adat-Gesetzen auch in der Intensivierung sexuellen Vergnügens zwischen sich und dem Ehemann (Ong 2003:267). Ein wichtiges Medium für das Wecken des sexuellen Interesses des Partners war die Kleidung. „Married women wore their hair in buns, but on special occasions they dressed up in close-fitting, semitransparent jackets (kebaya) and batik sarongs. A lacy shawl (selendang) draped loosely over the head and shoulders could be used as a sunscreen and, occasionally, as a means of flirtation“ (Ong 2003:267, Hervorheb. im Orig.).

Wie die Kleidung eingesetzt wird, um sexuelle Lüste auszulösen, werde ich auch anhand der gegenwärtigen Kopftuch-Praktiken meiner malaiisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen Masjaliza und Fauzana in Kapitel 6.4 darstellen. Religiöse und nationale Autoritäten gestanden und gestehen malaiisch-malaysischen Frauen sexuelle Aktivität ausschließlich dann zu, wenn diese verheiratet sind (Zainah 2001:235, Raj et al. 2003:174). 13 Auch dies wird mit Masjaliza und Fauzana in Kapitel 6.4 aufgegriffen. Eine mögliche aufreizende Kleidung verheirateter Frauen unterschied sich deshalb stark von der geforderten sittsamen Kleidung unverheirateter Mädchen. Der erstarkende, durch die dakwah-Bewegung teilweise fundamentalistische Islam der 1970er/1980er Jahre forderte im Laufe der Zeit zunehmend Schamhaftigkeit und Zurückhaltung für alle, also auch verheiratete, Frauen. Dieser Prozess schlug sich in der Fokussierung des aurat nieder. Das aurat, eine ,Nacktheit‘, zu der u. a. Haare und Haut gezählt werden, muss nach muslimischem Verständnis

13 Vor- oder außereheliche sexuelle Kontakte wurden/werden dadurch allerdings nicht verhindert. Das muslimische Verbot von khalwat (verbotener Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe) verstärkte allerdings die Risiken entsprechender Beziehungen. In der Tat impliziert der malaiische Begriff für das Zusammenleben (bersama) eine sexuelle Beziehung (Ong 2003:266f.).

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auf Grund sexueller Gelüste von Männern bedeckt werden.14 Dies werde ich in Kapitel 6.6 mit den Worten meiner Gesprächspartnerin Siti genauer erklären. Die sich entwickelnden Repräsentationen des weiblichen Körpers sollten auf Geheiß verschiedener dakwah-Gruppen malaiisch-malaysischen Frauen in einer von Konsum und Modernisierung geprägten Welt ,sittenhafte Orientierung‘ geben (Ong 2003:279; Frith 2002:15). Spätestens seit den frühen 1980er Jahren tragen die meisten gläubigen Muslima in Malaysia das tudung, das Kopftuch, das Haare und Nacken bedeckt,15 oder den hijab, der bis zur Taille reicht und damit die körperliche Silhouette verhüllt. Das Kopftuch tragen Frauen seit eben jener Zeit oft gemeinsam mit dem traditionellen malaiischen Baju kurung, einem zweiteiligen Set aus langem, weitem Rock und einer weiten, langärmligen Bluse. Viele Frauen tragen seitdem zusätzlich hautfarbene Socken, einige tragen Handschuhe und ggf. einen Schleier vor dem Gesicht (purdha). Diese Kleidungsstücke waren in den malaiisch-malaysischen Alltagskleidungen bis dato unbekannt (Ong 2003:279). Durch das Tragen des tudung oder des hijab und der teilweise zusätzlichen Kleidungsstücke wie den Socken in der männlich konnotierten Öffentlichkeit 16 werden spezifische Teile von Frauen, nämlich ihre Körper, nun letztendlich im häuslichen Bereich verortet (Stivens 2006b:357). 14 Das aurat ist nicht exklusiv weiblich, auch Männer haben ein aurat, das sie bedecken sollen: von unterhalb des Bauchnabels bis zu den Knien. Die Debatten in muslimischen Kontexten kreisen in der Regel allerdings um das weibliche aurat. 15 Es gibt in Kuala Lumpur auch gläubige Muslima, die sich bewusst gegen das Kopftuch entscheiden. Die meisten Aktivistinnen der muslimischen feministischen Gruppe Sisters in Islam (SIS), die ich traf, trugen im Alltag kein Kopftuch. Mir wurde dies von einer Aktivistin damit begründet, dass im Koran kein Tragen des Kopftuchs im Alltag, wohl aber während des Gebets, vorgeschrieben werde. Erst durch die kulturellen Verhältnisse, in denen Frauen als untergeordnet betrachtet werden, werde besonders von männlicher Seite aus auf das Tragen des Kopftuchs insistiert, wie sie mir weiter berichtete. Für diejenigen Frauen, die das tudung tragen, hat es heute unterschiedliche Bedeutungen. Manche betrachten es als nationalistisches Symbol malaiisch-malaysischer Identifizierung, andere als Zeichen muslimischer Modernität und wieder andere als Möglichkeit, ,moderner Sexualität‘ durch einen privaten Rückzugsraum zu entfliehen (Stivens 1998b:114). 16 Im muslimischen Konzept von der Unterscheidung zwischen ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ bedeutet das Bewegen in einer ,Öffentlichkeit‘, dass man sich unter Fremden befindet. Insofern unterscheidet sich dieses Konzept vom ,westlichen‘ Verständnis, in dem ,Öffentlichkeit‘ eher auf außerhalb des Hauses, also des privaten, bezogen wird (Boulanouar 2006:138).

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Seit den 1970er/1980er Jahren änderten sich die Geschlechterbeziehungen nicht nur in Hinblick auf eine Disziplinierung weiblicher Körper anhand der Kleidung. Der Prozess der politischen Islamisierung veränderte auch das Konzept der Moral. In den Medien wurden Themen wie Vergewaltigung und Körperverletzung an Ehefrauen im Zusammenhang mit den entsprechenden religiösen Regeln über Heirat, Scheidung und Polygynie diskutiert. Einige religiöse Autoritäten und Politiker betonten nun, dass die Frauen selbst verantwortlich für das Geschehen seien – im Sinne einer Aufrechterhaltung der hohen moralischen Maßstäbe, die Männer vor Gewaltausübung abhalten müssten (Norani 1998:183f.). Damit entbanden sich Männer nicht nur selbst von ihrer Verantwortung für sexuelle Gewalt gegen Frauen, sondern enthoben auch die muslimischen Konzepte von akal und nafsu ihrer inneren Logik. Für die Transformationen hinsichtlich Sexualität, Körperlichkeit und Moral stellt die ethnische Identifizierung einen wichtigen Aspekt dar. Die männliche Kontrolle der Sexualität von Frauen zieht nicht nur Grenzen entlang männlicher und weiblicher Bereiche (Ng, C./Maznah/tan 2007:135), sondern auch zwischen muslimischen Malaiisch-MalaysierInnen und der weitergefassten, multikulturellen malaysischen Gesellschaft. Sexuelle Aktivität ist nach muslimischem Verständnis nicht nur außerhalb der Ehe verboten, sondern ebenso wenig zwischen Malaiisch-MalaysierInnen und Menschen anderer Bevölkerungsgruppen erwünscht (Ong 2003:268). Dieser Aspekt wird in Kapitel 6.2 durch die entsprechenden Restriktionen meiner Gesprächspartnerin Adilah seitens ihrer Mutter diskutiert, die ihr ausschließlich eine Liebesbeziehung zu einem malaiischmalaysischen Mann erlaubte. Die Kontrolle über die Sexualität von Frauen ist folglich sowohl Mittel zur Festigung der Autorität von Männern als auch zur Grenzziehungen zwischen ethnischen Gruppen. Mit diesen Prozessen der ethnischen In- und Exklusion wird nach malaiisch-malaysischem Verständnis wiederum das ,kulturelle Überleben‘ der malaiischen Bevölkerung Malaysias propagiert. Die zunehmende männliche Kontrolle über Bereiche, die primär Frauen betreffen, verlief in den 1970er/1980er Jahren in den städtischen Zentren angesichts der Zugänge für Frauen zum Industriesektor und zu höherer Bildung teilweise gegenläufig und widersprüchlich. Durch die staatlich geförderte Lohnarbeit in den städtischen Fabriken erreichten nun malaiisch-malaysische Frauen in heiratsfähigem Alter das nötige finanzielle Auskommen und die relative Freiheit, mit einem neu entwickelten Bewusstsein des Selbst zu experimentieren (Frith 2002:6f.). In den Fabriken wurden die Frauen täglich von fremden, oftmals nichtmalaiischen Männern beaufsichtigt. Manche Malaiisch-Malaysierinnen verabredeten sich mit nichtmalaiischen Männern und brachen damit Normen und

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Wertevorstellungen der kampungs bzgl. sexueller und religiöser Segregation. Viele malaiische Dorfbewohner erachteten diese Form von selbstbestimmter weiblicher Handlungsfähigkeit als einen Verlust der väterlichen Ernährerrolle und der männlichen Kontrolle über die Sexualität von Frauen und ethnischen Grenzziehungsprozesse (Ong 2003:272; 276; Ng, C./Maznah/tan 2007:26). Dabei legten manche die weibliche Handlungsfähigkeit bis hin zu einer Form von „erotic aggression“ (Fatna 1984:17) aus. Teile der dakwah-Bewegung und staatlichen Medien diffamierten die jungen, alleinstehenden Frauen wegen ihrer freizügigeren und damit nichtakzeptierten Sexualität als kaki enjoy oder perempuan jahat (,schlechte‘ Frauen, Prostituierte) (Frith 2002:6; Ng, C./Maznah/tan 2007:26). Ich folge in meiner Argumentation Frith, die die aufkommende dakwah-Bewegung der 1970er/1980er Jahre und die verstärkte Politisierung des Islam u. a. als Antwort auf die Transformationen der Geschlechterbeziehungen und des sexuellen Begehrens versteht, und zwar insbesondere als eine Bemühung, männliche Autorität zu erhalten und wiederherzustellen: „The autonomous and sexualised modern woman must [..] be rejected because she poses a threat to the complementary dualism of public and private, male and female, traditional and modern that is central to the Islamic imagined community. The roles to women were justified as ‘Islamic’“ (Frith 2002:13).

Friths Zitat kann gleichzeitig derart interpretiert werden, dass die malaiischmalaysischen Frauen mit eigener Autonomie und selbstbestimmter Sexualität in Wechselwirkung mit der aufkommenden politischen Islamisierung antworteten. Mehr noch als die Fabrikarbeiterinnen erfuhren malaiisch-malaysische Studentinnen den gesellschaftlichen Umschwung von kurzzeitig erfahrenen persönlichen Freiheiten hin zur Disziplinierung ihrer Handlungsfähigkeiten und Sexualität durch die dakwah-Bewegung. Auch wenn malaysische Frauen staatlicherseits explizit ermutigt werden, sich zu bilden und zu arbeiten, wird ihnen in denselben Bereichen keine absolute Autonomie zugesprochen. Dies wird nach wie vor von einflussreichen dakwah-Gruppen mit der Annahme begründet, dass Frauen im öffentlichen Raum, dem Arbeitsplatz oder der Universität vor fremden Bedrohungen wie ,westlichen‘ Einflüssen oder sexuellen Gelüsten von Männern ,geschützt‘ werden müssten (Ng, C./Maznah/tan 2007:141f.). Die verschiedenen Campus Malaysias waren in den 1980er Jahren Zentren der intensivsten dakwah-Kampagnen 17 zur Verhüllung des weiblichen Körpers und zur 17 Viele StudentInnen wendeten sich in den 1970er und 1980er Jahren dem (fundamentalistischen) Islam zu. Ein Grund dafür war ein Betätigungsverbot in politischen Verbänden seit 1971: Der Universities and University College Act verbietet malaysischen

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Aufrechterhaltung sexueller und ethnischer Grenzen. Die Kleidungsvorgaben der dakwah-Bewegung wurden mithin zum Symbol der ,gebildeten Frau‘ (Ong 2003:281) und damit zu einer ,spezifischen malaiischen Modernität‘: „The veiled middle-class woman in particular is a symbol of a specifically Malay modernity that has deep ethnic and class repercussions“ (Stivens 1998b:117). Die ,modernen‘, gebildeten malaiisch-malaysischen Frauen der Mittelklasse konnten durch das Tragen der entsprechenden konservativen Kleidung auch Beziehungen im urbanen Raum neu verhandeln, ohne per se von Männern verunglimpft zu werden (Ong 2003:280). Mehr noch: „[…] [W]omen become important religious and political agents through the emergence of the veil as a symbol of politicised Islam within modernity“ (Stivens 2006b:358). Eine starke Unterstützung des Islam und eine gleichzeitige Partizipation an Bildungsprozessen und am Arbeitsmarkt sind für malaiisch-malaysische Frauen kein Widerspruch, wie in Kapitel 6 erläutert wird. So können auch meine malaiisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen, die alle mit ihren akademischen Bildungslaufbahnen als gläubige Muslima Kopftuch tragen, als Akteurinnen des ,modernen‘, politisierten Islam in Sinne Stivens’ gesehen werden. Die Situierung von Frauen allein im häuslichen Bereich durch fundamentalistische Muslime der dakwah-Bewegung ignoriert hingegen unzählige Lebensrealitäten von Frauen. Heutzutage werden in Malaysia Brüche in der Kontrolle über die Sexualität von Frauen immer deutlicher. Alltagsrealitäten führten dazu, dass offizielle Seiten mittlerweile eine freizügigere, männliche wie weibliche, Sexualität in der urbanen jungen Generation ein Stück weit anerkennt. Im Ehevorbereitungskurs wird den Frauen bspw. gelehrt, so meine Gesprächspartnerin Fauzana, ab einer Ehe „not [to] sleep with other man anymore“ (E-Mail von Fauzana, 4.12.2009). Fauzana selbst lebte nach ihrer Scheidung ihre Sexualität auch außerhalb der Ehe aus, wie in Kapitel 6.4 noch aufgezeigt wird. Das „nicht mehr“ aus ihrer E-Mail kommentierte Fauzana auf meine Nachfrage hin folgendermaßen: „In the course, they discourage the wife or husband to cheat on their partner because it is one of the reasons that can split the marriage up. In Islamic teachings also, it forbids any Muslims from having sex before marriage. However, the young Muslim society in Malaysia today become more open-minded after they get exposed to globalisation in which some of them do not really care if sleeping with their partner before marriage. But if they are being found out by the ReliStudentInnen eine Teilnahme an parteipolitischen Strukturen genauso wie jedwede Parteimitgliedschaft. In dieser Situation bot der Islam eine Alternative des eigenen Engagements, so dass die dakwah-Bewegung stark unter der Studierendenschaft anwuchs (Frisk 2004:52f.).

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gious Department or their actions are being reported to the Religious Department, the Muslims may get punished at Islamic courts.“ (E-Mail von Fauzana, 15.3.2011) Das offizielle Verbot vor- und außerehelicher Sexualität (von Frauen) wird durch den Umgang mit realen sexualitätsbezogenen Verhältnissen im Ehevorbereitungskurs aber nicht angetastet. Frauenrollen bleiben in Malaysia ein umkämpftes Feld der politischen Auseinandersetzungen wie ich abschließend mit Aihwa Ong argumentieren möchte: „[G]ender politics are seldom merely about gender; they represent and crystallize nationwide struggles over a crisis of cultural identity, development, class formation, and the changing kinds of imagined community that are envisioned“ (1995:187).

Resümee Geschlechtlich normierte Ideologien und Praxen in Malaysia bzgl. ,asiatischer Familie’, Ehe, Sexualität, Körperlichkeit und Moral haben sich auf Grundlagen des adat, Islam, politischer Islamisierung und nationalstaatlichen Diskursen zu einem Feld politischer Auseinandersetzungen entwickelt. Der erstarkende Islam im Malaysia der 1970er/1980er Jahre hat die bilateralen Prinzipien des adat grundsätzlich geschwächt und im Zusammenhang mit bürgerlichen Konzepten hierarchische familienbezogene Geschlechterideologien gestärkt, die Eingang in gesellschaftliche Diskussionen und staatliche Politiken fanden. Die religiösen Werte werden mit einer politischen Stabilität, die durch die Geschlechterideologien und -praxen gestützt und hergestellt werden soll, vermengt.

5.3 S INGAPUR Nachstehend werden die Geschlechterideologien und -praxen in Singapur vorgestellt, die im Kontext von Geschlecht und Bildungsmigration wichtige Aushandlungsfelder meiner Gesprächspartnerinnen darstellten. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Bereiche Familie, Bevölkerungspolitik und Nationalismus sowie Sexualität und Ehe. 5.3.1 Familie Ein wichtiger Bereich nationaler Wertediskurse stellt in Singapur – wie in Malaysia – die Familie dar, die im Kontext der Asiatischen Familie verortet wird. In

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der singapurischen Regierungskampagne Singapore 21, die die Gesellschaft durch die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts führen soll, stellen „strong families“ ein Kernelement dar: „Strong families are the foundation for healthy lives and wholesome communities. They give security and meaning. They are the ‘base camp’ from which our young venture forth to reach for high aspirations. They are the avenue through which our old pass on the values and lessons they have learnt in life. They ensure that our children grow up happy and well, and that our elders enjoy respect and dignity. They are an irreplaceable source of care and support when we need it, at whatever age“ (Singapore 21 Committee o. J.:26 [30.11.2010]).

Der Familie kommt im entsprechenden Diskurs die Funktion zu, Schutz und Basis für die einzelnen Mitglieder darzustellen. In diesem Wertediskurs über die idealtypische Familie werden auch entsprechende Geschlechterkonzepte verhandelt. Den Frauen kommt idealerweise die Rolle als Mutter, Männern die Rolle als Haushaltsvorsteher zu. Diese Rollenzuschreibungen gründen sich auf dem konfuzianischen Familienmodell, in dem der Vater an der Spitze lokalisiert wird. Der Vater ist genauso Vorsteher des Haushalts wie nach dem Prinzip der Asian Values die autoritäre, männliche Regierungselite der Gesellschaft und dem Staat vorsteht (Chan, J. 2000:39). Dieses Herangehen, das staatliche Interessen mit dem Konzept der chinesischen Familie verknüpft, nennen Heng und Devan „Phallic Confucian Narrative“ (1995:195) und heben damit eine konfuzianische patrilineare Ideologie als Kernstück singapurischer Staatspolitik heraus. Der ehemalige Premierminister Goh Chok Tong verklausulierte 1994 den geschlechterhierarchischen Aspekt der Familienideologie mit einer Abwehr des Vorwurfs, gegen das Wohl von Frauen Politik zu machen: „They are wrong. It is not antiwoman. I mean, how can we be anti-woman in our values? We are pro-family“ (The Straits Times 1994, zit. n. PuruShotam 1998a:148). Die feministische singapurische Soziologin Nirmala PuruShotam konstatiert in diesem Zusammenhang allerdings: „Asian-ness is importantly located in the normal family, the core of which is patriarchal“ (1998a:145). Neben dem konfuzianischen Familienmodell stellt seit den 1960er Jahren die bürgerliche Kleinfamilie ebenfalls ein wichtiges Konzept in den Aushandlungsprozessen um die idealtypische Familie dar. Der Fünfjahresplan The Tasks Ahead. PAP’s Five Years Action Plan 1959-1964 erläuterte im Kapitel Women in the New Singapore18 das staatliche Familienmodell, welches eine Frau, einen 18 Den Hintergrund dieser staatlichen Auseinandesetzung mit Frauenrollen und Weiblichkeit bildeten die damals noch existierenden starken sozialen, u. a. feministischen,

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Mann und bestenfalls zwei Kinder vorsah. In den 1960er Jahren war dies in Singapur keineswegs die Norm, stattdessen wurden die Haushalte in Großfamilien organisiert und Polygynie und Konkubinate waren unter der chinesischen Bevölkerung noch relativ weit verbreitet. 19 Mit der Herausstellung der Kleinfamilie wurde gleichzeitig Heterosexualität als normative Vorgabe propagiert. Einige Familien widersprachen bis dato den heteronormativen Ansprüchen. Für Bewohner, die aus Fukien/China stammten, war es nicht ungewöhnlich, Homosexualität zu praktizieren und auch entsprechend zu heiraten. Ehemalige Bewohnerinnen aus Kanton/China traten untereinander in lesbische Ehen ein (PuruShotam 1998a:134f.). Die staatliche und diskursiv durchgesetzte Familienideologie basiert gegenwärtig nicht nur auf konfuzianischen und bürgerlichen Grundsätzen. Sie wird auch an Aspekte von Ethnizität und Modernität gekoppelt. PuruShotam (1998a:135f.) erläutert, dass die singapurische Familie in China verwurzelt und somit ethnisch vorgezeichnet ist. Dennoch ist die Familienstruktur nicht ausschließlich chinesisch, sondern ebenso singapurisch, was nach lokalem Verständnis den Aspekt des ,Modernseins‘ beinhaltet. Für die Geschlechterbeziehungen bedeutet diese Verschränkung von ,chinesisch‘ und ,singapurisch‘, dass die Familie zwar grundsätzlich machtvoll nach Geschlecht und Alter strukturiert wird. Die ,Modernisierung‘ ermöglicht es den Frauen jedoch auch, liberale Strukturen wie breite Zugänge zu Bildung und Partizipation am Arbeitsmarkt zu nutzen. Im weltwirtschaftlich aufgestrebten und weiter aufstrebenden Singapur werden die Geschlechterideale und -praxen an die Ökonomie geknüpft. Da in Singapur die Kompetenzen der Menschen die einzige Ressource darstellt, wird mittlerweile staatlicherseits von Müttern erwartet, dass sie nach ihrem Mutterschaftsurlaub an den Arbeitsplatz zurückkehren (Straughan 2008:47; Stivens

Bewegungen (vgl. Gunn 2008; Khoo, A. 2004; Chin Peng 2003; Holden 2001). In diesen Bewegungen wurden gleiche Rechte für Frauen öffentlich diskutiert (Chew 2008a:187-192). Heutzutage sind nur noch wenige Frauen in Singapur politisch aktiv. Nach Chew (2008a:192-196) kann das daran liegen, dass sich viele Frauen mit einem materiell-fokussierten Leben zufrieden geben. Ein anderer Grund sei, dass sich viele zudem von der Regierung abhängig fühlen bzw. ihr soweit vertrauen, dass Eigeninitiative nicht notwendig erscheint. Andere sehen keine Geschlechterungleichheiten in Singapur, noch andere – wie z. B. JournalistInnen – befürchten Repressionen unter dem Internal Security Act (ISA), der eingesetzt wird, sobald offizielle Strukturen kritisiert werden. 19 Mit der Women’s Charter 1961 wurde Polygynie in Singapur offiziell abgeschafft (Heng/Devan 1995:202).

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2007:34).20 Der Erfolg von Frauen am Arbeitsplatz wird mit einer erfolgreichen Mutterschaft gleichgesetzt. Stivens (2007:34) konstatiert, dass im Verständnis der singapurischen Gesellschaft und des Gesetzes eine ,gute Mutter’ diejenige ist, die Lohnarbeit verrichtet, um das Wohl ihrer Kinder aufrechtzuerhalten. Konkret erfordern die hohen Lebenshaltungskosten im Stadtstaat aus pragmatischen Gründen ein doppeltes Familieneinkommen (Straughan 2008:66). Die Pflege von Kindern und alten Menschen übernimmt allerdings seit spätestens den 1980er Jahren in singapurischen Mittelklassefamilien in der Regel eine livein domestic worker (maid) (Brooks, A. 2006:90) – was auf ein Spannungsfeld zwischen dem ,asiatischen Wert’ der filial piety und gegenwärtigen Realitäten verweist. Die Regierung stellt entsprechende materielle Anreize bereit, damit junge verheiratete Mütter nach dem Mutterschutz eine maid einstellen, um wieder Lohnarbeit zu verrichten.21 Väter erhalten keine materiellen Vorteile (Teo Y.Y. 2009:543, 2006:11).22 Die heutigen Frauenrollen in Singapur sehen somit nicht nur eine ,traditionelle Rolle’ als Mutter und Ehefrau vor. Frauen sind ebenso für das Funktionieren der innerfamiliären Ökonomie wie auch der staatlichen Wirtschaft verantwortlich (Singam 2004:16; Chan, J. 2000:47). Die Praxis der lohnarbeitenden Frauen vereint die Konzepte von ,Traditionalität’ und ,Modernität’ zu einer singapurischen Form der ,modernen’ Staatspolitik: „The idea of the ‘working mother’ links the discursive worlds of ‘tradition’ and ‘modernity’, home and work, reshaping them for the new order“ (Stivens 2007:34). In Kapitel 6.1 wird die als ,singapurisch‘ konstruierte Verbindung von ,moderner Weiblichkeit‘ mittels Bildung und Lohnarbeit mit der ,traditionellen Ehefrau- und Mutterrolle‘ eine große Rolle für die Akteurinnen spielen. Die ehemaligen Premierminister Lee Kuan Yew und Goh Chok Tong sahen die ,asiatische Familie‘ mit ihren als ,traditionell‘ erachteten Werten durch die veränderten Frauenrollen als bedroht an. Frauen wurden in den 1980er Jahren infolge des starken Wachstums in der elektronischen, technologischen und kom20 Die Pflege der Kinder sollen idealerweise die Großeltern übernehmen, die wiederum dem Konzept der filial piety entsprechend im Alter von den Kindern gepflegt werden sollten (Wong, T./Yeoh o. J.:17). 21 2000 wurde ein symbolisches Gesetz verabschiedet, das Vätern ein Stück weit Mitverantwortung für elterliche Pflichten zugesteht: Sie können seitdem drei (sic) Tage Vaterschaftsurlaub nehmen, im Gegensatz zu 12 Wochen für Mütter (Straughan 2008:55). 22 Die Regierung erlässt verheirateten, geschiedenen und verwitweten Müttern einen Erlass auf die ,Foreign-Maid-Steuer‘. Verheiratete und unverheiratete Männer haben auf den Erlass ebenso wenig Anspruch wie unverheiratete Mütter (Teo Y. Y. 2006:11).

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munikationsbezogenen Wirtschaft angehalten, in den industrialisierten Bereichen zu arbeiten. Singapurs Geburtenrate ist seither die am schnellsten sinkende innerhalb Südostasiens (Wong, T./Yeoh o. J.:4). Durch den damaligen Mangel an Arbeitskräften besorgt, vermittelte die Regierung den Frauen jedoch, dass sie ihre reproduktiven Kapazitäten wieder über ihre Karriere stellen sollten. So sollte die gesunkene Geburtenrate wieder gesteigert werden (Singam 2004:16). Das regierungspolitische Ideal der Asiatischen Familie wurde demnach nicht ohne Probleme von den singapurischen Frauen – als Mütter – reproduziert, wie hieran anschließend vertieft wird. 5.3.2 Bevölkerungspolitik und Nationalismus In Singapur werden regierungsstaatliche Debatten um Bevölkerungspolitik, Familie und Frauenrollen mit nationalistischen Inhalten verknüpft geführt. Die gesunkenen Geburtenraten und ein verbreiteter unverheirateter Status vieler Singapurerinnen, veranlasste den damaligen Premierminister Lee Kuan Yew dazu, Positionen über Ehefrauen als Mütter zu vertreten, die 1983 als Great Marriage Debate breit diskutiert wurden. Auf Grund der Partizipation in der singapurischen Ökonomie bekommen bis heute statistisch gesehen v. a. chinesische Mittelklassefrauen mit tertiärer Ausbildung weniger Kinder. 23 Zudem bleiben sie häufig Single und/oder heiraten gemessen am Durchschnitt später (Brooks, A. 2006:90, vgl. Brooks, A. 2011).24 Lee Kuan Yew beschuldigte diese Singapurerinnen, die Zukunft der Nation zu gefährden, indem sie sich absichtlich der biologischen Reproduktion (der Nation) verwehren würden. Die ,reproduktive Krise‘ machte Lee K.Y. am Jubiläum der Staatsgründung bei seiner jährlichen National Day Rallye speech als Teil des Zelebrierens der nationalen Entität des Lan23 Im Jahr 2010 hatten Frauen zwischen 40 und 49 Jahren mit einem akademischen Abschluss mit durchschnittlich 1,74 die wenigsten Kinder im Gegensatz zu durchschnittlich 2,21 Kindern von Frauen derselben Altersklasse mit einem Abschluss unter der Secondary School (Singapore Department of Statistics 2010a:7). 24 Je höher der Bildungsabschluss im Jahr 2010 bei Frauen, desto höher ihre Rate, Single zu sein: Bei 35–39-jährigen Frauen mit einem Abschluss unterhalb der Secondary School blieben 12,7 % Single, mit Universitätsabschluss hingegen 24,8 %. Dies trifft besonders auf Chinesisch-Singapurerinnen zu: Die Singlerate macht bei ihnen unter den 35–39-Jährigen 22,5 % im Gegensatz zu 9,9 % der Malaiisch- und 11,6 % der Indisch-Singapurerinnen aus. Im Jahr 2010 waren 25,7% der 35–39-jährigen chinesischsingapurischen Männer Single, 18,2% der malaiisch- und 15,3 % der indischsingapurischen männlichen Bevölkerung (Singapore Department of Statistics 2010a:4f.).

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des bekannt (Chan, J. 2000:47). Lee K.Y. ging davon aus, dass Intelligenz vererbbar sei. Er entwarf eine Vision, in der durch die gesunkenen Geburtenraten eine Masse von ,unintelligenten‘, ,untalentierten‘ und ,genetisch minderwertigen‘ Menschen die Gesellschaft dominieren würde, so dass die Industrie darunter leiden, Eliten verschwinden und Singapur seine weltweite Wettbewerbsfähigkeit verlieren würde. Dem kleinen Land ohne eigenen Ressourcen – außer den Kompetenzen der Bevölkerung – würde nach Lee K.Y. eine regelrechte Katastrophe bevorstehen, wenn nicht die reproduktive Sexualität von Frauen wieder ansteige. Männer kamen in den negativen Überlegungen generell nicht vor (Heng/Devan 1995:197). Lee K.Y. entwarf 1984 das Graduate Mother Scheme, um die gebildeten Chinesisch-Singapurerinnen zur Reproduktion von Nachwuchs anzuregen. Kinder von verheirateten Müttern mit mindestens einem Highschoolabschluss sollten bei der Registrierung an den besten Schulen bevorzugt werden. Gleichzeitig sollten Frauen mit geringer schulischer Bildung 10.000 Singapur-Dollar bekommen, wenn sie sich nach zwei Kindern sterilisieren lassen würden. Auf Grund einer überwältigenden Ablehnung in der Bevölkerung 25 wurde dieser Entwurf im darauffolgenden Jahr gestoppt (Chan, J. 2000:51; Lyons 2000:2). 26 Stattdessen wurden alternative Gesetze eingeführt, z. B. für eine Bevorzugung von Männern bei der Aufnahme in die National University of Singapore (NUS), da Statistiken der Regierung offenbarten, dass eher Männer als Frauen mit Universitätsabschluss heiraten und Kinder bekommen (Heng/Devan 1995:200). 1986 schlug Lee K.Y. zudem (erfolglos) vor, Polygynie und Konkubinate erneut einzuführen, um das ,Nachwuchsproblem‘ in Singapur zu lösen (Lyons 2004:8). Bis heute löst die geringe nationale Reproduktion Besorgnis seitens der Regierung aus, so dass die paternalistische Familienpolitik 25 Bemerkenswert ist ein Vergleich der singapurischen Bevölkerungspolitik mit der Eugenik im deutschen Faschismus durch einige singapurische Frauen (Heng/Devan 1995:201, vgl. http://www.zeit.de/1983/41/Lauter-kluge-kleine-Koepfchen?page=2 vom 2.12.2010). 26 Im Zuge der Great Marriage Debate 1983 hat sich 1985 die einzige feministische Organisation Singapurs AWARE (Association of Women for Action and Research) gegründet (Chan, J. 2000:52). Die Gründung von AWARE war nicht nur der oppositionellen Haltung der Regierung gegenüber geschuldet. Gleichzeitig verfolgte die Regierung damals das Ziel, Zivilgesellschaft zu initiieren. 1981 verlor die Regierungspartei People’s Action Party (PAP) gewaltig an Stimmen, was mit einer Distanzierung der Mittelklasse von der staatlichen Politik zusammenhing. Um wieder an Stimmen zu gewinnen, initiierte die PAP Programme und Initiativen, um diesen Teil der Gesellschaft an politischen Prozessen teilhaben zu lassen. Ein Teil dessen ist AWARE (Lyons 2000:2; vgl. Lyons 2007a,b).

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fortgeführt wird. 2008 wollte der Premierminister Lee Hsien Loong, der Sohn Lee Kuan Yews, in der National Day Rallye speech die Frauen davon abhalten, in einen „Baby strike“ zu treten (Teo Y.Y. 2009:534). Hohe Bildung für Frauen ist ergo ein staatliches Projekt, um die Nation mittels ihrer Kinder aufrechtzuerhalten. Der entsprechende Druck, als chinesische Mittelklassefrau mit hohem Bildungsabschluss in Singapur ein Kind zu bekommen, wird in Kapitel 6.1 anhand von Erzählungen meiner Gesprächspartnerin Abrianna offenbar. Geraldine Heng und Janadas Devan betonen die geschlechtlich normierten Konstruktionen in diesen Diskussionen vom paternalistischen Staat. Als „nation’s father of founding fathers“ (Heng/Devan 1995:197) wolle Lee Kuan Yew mit seiner autoritären ,Vaterrolle‘ die Frauen als ,Mütter der Nation‘ disziplinieren: „The demand that women serve the nation biologically, with their bodies – that they take on themselves, and submit themselves to, the public reproduction of nationalism in the most private medium possible, forcefully reveals the anxious relationship, in the fantasies obsessing state patriarchy, between reproducing power and the power to reproduce: the efficacy of the one being expressly contingent on the containment and subsumption of the other“ (Heng/Devan 1995:201).

Mittlerweile wird eine erfolgreiche Geburtenrate zwischen einer angemessenen Balance von Lohnarbeit und Familie bemessen. So ließ 2004 der damalige Community Development and Sports Minister Dr. Yaacob Ibrahim verlauten: „[A] key lesson… is that countries that help people strike a good work-life balance have achieved higher birth rates without reducing female labour participation“ (The Straits Times 2004, zit. n. Stivens 2007:36). Es wird deutlich, dass die singapurische Bevölkerungspolitik nicht nur Teil einer konkreten ökonomiegeleiteten Politik ist. Darüber hinaus wird das hohe Maß sozialer Mobilität von Frauen in Singapur auf eine disziplinierende Art und Weise in die eigene Staatspolitik integriert. Der aus ,modernen‘ staatsideologischen Gründen gewollte Bildungsauftrag für Frauen und die hohe weibliche Partizipationsrate in der gut bezahlten Lohnarbeitswelt sollen keine ernsthafte Bedrohung für die patrilineare Gesellschaftsform darstellen. Deshalb instrumentalisiert die Regierung die hochausgebildeten chinesischen Frauen für die Zwecke des Staates. Ihr hoher Ausbildungsgrad und ihr damit verknüpfter Status führen mit dieser kanalisierenden Integration in die singapurische Staatspolitik nicht zu einer vollständigen Autonomie der Frauen. Ihr Handeln soll stattdessen staatlicherseits unmittelbar im Sinne einer Rückwirkung auf das Wohlergehen der Nation gelenkt werden.

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In diesen überlappenden Diskursen von Familienwerten und nationalistischen Werten erscheint eine unverheiratete Frau/Mutter als deviant. Unverheiratet sein wird von der Regierung nicht nur als ,unnormal‘ und ,unmoralisch‘ angesehen, sondern auch als ,unpatriotisch‘ – da Ehelosigkeit die biologische Reproduktion der Nation bedrohe (Lyons 2004:5). Wie die Ehe und damit verbunden die Sexualität in Singapur für staatliche Interessen kontrolliert werden, ist Gegenstand des folgenden abschließenden Abschnitts. 5.3.3 Romantische Liebe, Sexualität und Ehe Die singapurische Regierung verfolgt unter der People’s Action Party (PAP) nicht nur eine bestimmte Bevölkerungspolitik, um die sinkenden Geburtenzahlen im Land zu steigern. Sie vermarktet diesbezüglich auch das Konzept der romantischen Liebe. Zum Valentinstag 2003 startete die Regierung die ursprünglich einmonatige Romancing Singapore Kampagne, die mittlerweile auf das ganze Jahr ausgeweitet wurde und quasi zu einem Lifestyle avanciert ist. Das Ziel dieser staatlichen Kampagne ist die Zunahme von Eheschließungen seitens ChinesInnen mit hoher Ausbildung. Weiteres Ziel ist die Steigerung der Geburtenraten unter diesen Frauen. In Kapitel 6.3 werde ich diesen Bereich anhand der Erzählungen meiner Gesprächspartnerin Yue Yan weiter erläutern. Die Sexualität chinesischer Frauen wird in Singapur problematisiert und politisiert und der Körper zum Objekt staatlicher Politiken gemacht. Die australische Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Chris Hudson (2004:3) analysiert die Romancing Singapore Kampagne als eine Methode, Sexualität öffentlich beeinflussen und kontrollieren zu können. Mit diesem Instrument soll der Erfolg der Nation weitergeführt werden. Um die angestrebten Ziele zu erreichen, hat die Regierung Kooperationen mit privaten Einrichtungen abgeschlossen: Restaurants werben mit aphrodisischem Essen, Hotels mit romantischen Zimmern inklusive schöner Bäder mit Erdbeeren, Rosen, Ölen usw. Die Regierung bezieht die Hilfe von Dr. Wie Siang You alias Dr. Love mit ein. Letzterer initiierte 2003 das „Baby Planning Camp“ sowie „Love Boat Cruises“ nach Indonesien. Er moderiert die Reality-Show „Dr. Love’s Super BabyMaking Show“, in der dasjenige teilnehmende Paar, das zuerst ein Baby bekommt, 100.000 US Dollar gewinnt (Hudson 2004:4ff.).27 In dieser staatlichen 27 „Dr. Love“ arbeitet zudem mit Innenausstattern, um Schlafzimmer in Singapur ,sexualitätsanregend‘ zu gestalten. Türen und Wände sollen mit Dämmung ausgestattet werden, damit andere Familienangehörige keine Geräusche des sexuellen Aktes hören können. Außerdem soll der Safe aus dem Schlafzimmer verbannt werden, da der Mann ansonsten stetig an die Geschäfte denken würde (Brooks, A. 2006:89).

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Verwendung von ,Romantik‘ geht es um ein Freizeitverhalten und Unterhaltungsprodukte, die als Liebe und Intimität vermarktet werden. In der kapitalistischen Gesellschaft wird die Romantik durch eine solche Kampagne zur Ware und diese Waren werden romantisiert: „Through the Romancing Singapore campaign, the irrationality of falling in love becomes an instrumentally rational cultural practice linked to the commodification of romance as a consumer goal“ (Hudson 2004:7, Hervorheb. im Orig.).

Die Wirkung dieser Bilder auf das Konzept der romantischen Liebe als Idealzustand wird in Kapitel 6.3 in den Erzählungen Yue Yans eine Rolle spielen. Die staatliche Kampagne orientiert sich v. a. an der Mittelklasse. Die entsprechenden Dating-Agenturen sind auf hektische und gestresste UnternehmerInnen ausgerichtet.28 Die Ausrichtung an der Mittelklasse markiert ein Dilemma der staatlichen Politik: Die singapurische Bevölkerung ist angehalten, pflichtbewusst für das Wohlergehen der kapitalistischen und neoliberalen Nation zu arbeiten. Gleichzeitig wird ein relativ ausgeprägtes Freizeitverhalten propagiert, damit die sinkenden Geburtenraten wieder steigen (Hudson 2004:7). Die Regierung schafft nicht nur ,romantische‘, sondern auch materielle Anreize, um Eheschließungen und Geburtenzahlen in Singapur zu fördern. Unverheiratete Frauen und Männer unter 35 Jahren unterliegen Restriktionen, um eine Wohnung des Housing and Development Boards (HDB) mieten oder kaufen zu können (Teo Y.Y. 2006:8; Lyons 2004:6). Da die HDB-Wohnungen fast 90 % des begehrten öffentlichen Wohnraums ausmachen, stellt dies eine ernsthafte Einschränkung dar. Für alleinstehende Menschen gibt es nur einen sehr kleinen und teuren Wohnungsmarkt, der keine reelle Alternative für einen Wunsch, aus dem Elternhaus auszuziehen, darstellt. Die staatlichen Interventionen in das eigene familiäre Leben werden von SingapurerInnen mit Pragmatismus verknüpft, wie es ein Gesprächspartner von Teo Y.Y. bei der Beschreibung seines Heiratsantrags darstellt: „Simple, I propose to her the Singapore way… ‘Darling it’s

28 Die größte Agentur heißt „Lunch, Actually“ mit Büro am Raffles Place, im Herzen des Central Business District. Hier können sich Paare während der Mittagszeit kennenlernen. Die Agentur vermarktet Romantik an die singapurische Mittelklasse: „Our clients are single and successful professionals who are seriously looking for that special someone but due to their hectic lives are unable to find them! Our database is full of open-minded managers, executives, directors, administrators, lawyers, accountants, doctors, and entrepreneurs who are now looking to get more from life than just work“ (http://www.lunchactuallygroup.com/aboutus.php vom 5.3.2014).

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about time, can we get a flat?’ It was quite clear, not romantic, but practical, pragmatic Singapore style“ (zit. in Teo Y.Y. 2006:23). Mithilfe der verschiedenen Bilder, Symboliken und materiellen Angebote wird also nicht nur eine feste Beziehung, sondern eine Heirat als größtes Glück verkauft.29 So schreibt ein Ehepaar, das sich über die Dating-Agentur ,Clique Wise‘ kennen und lieben gelernt hat auf der Homepage derselben: Do you believe in Love at first sight? Well, it happens to us. Sparks flew off when we first met through a board game session organised by Clique Wise at Taboo on Sunday, 16 August 2008. After a few months of dating, we found the sweetest days in our lives and decided to tie the knot on 23 May 2010. Here goes the saying… A fairytale does come true. Love at first sight does happen. The greatest joy in life is to find the one to share your life with. We have found ours. May you find yours too! ~ With lots of love, Mr & Mrs 30

Phua“

Die Regierung und private Institutionen verknüpfen das Konzept der romantischen Liebe nicht nur mit einer Eheschließung sondern auch mit dem Ziel, Nachwuchs zu reproduzieren. Wäre es Lee Kuan Yew in der Great Marriage Debate ausschließlich um die Reproduktion ,intelligenter Kinder‘ gegangen, so hätte er alle entsprechenden Frauen animieren können, Kinder zu bekommen – ob verheiratet oder nicht. Sein geforderter strenger Rahmen der Ehe für das Gebären von Nachwuchs zeugt hingegen von einer Angst der ,väterlichen Krise‘, da nur durch die heterosexuelle Ehe der männliche Haushaltsvorsteher in seiner Rolle gewährleistet bleibt (Heng/Devan 1995:202). Heterosexuelle Sexualität 31 ist in Singapur somit explizit erwünscht – allerdings nur nach bestimmten Kriterien und Bedingungen. „In Singapore, censorship plays a role in creating a balance between maintaining a morally wholesome society and becoming an economically dynamic, socially cohesive and culturally vibrant nation. […] Based on the censorship criteria, films that are not allowed in

29 In der Tat stellt in Singapur die ,romantische Liebe‘ heutzutage das Hauptargument für eine Eheschließung dar (Straughan 2009:32f.). 30 http://www.cliquewise.sg/test.htm vom 13.01.2012. 31 Homosexualität von Männern ist seit 1938 in Singapur nach § 377a des Strafgesetzbuches verboten und wird mit bis zu zweijähriger Haft bestraft. Homosexualität von Frauen ist nur deshalb nicht juristisch verboten, da sie nicht Teil von Königin Victorias Vorstellungskraft war. Die britische Königin unterzeichnete alle Gesetzeseinführungen für die britischen Kolonien (vgl. Leong 2008, Lo/Huang 2003).

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Singapore include: films that depict explicit or perverted sex; nude scenes that are exploitative or obscene […] (Ministry of Community Development 2000:14).

Mit diesem Verständnis von ,moralischer Sexualität‘ verbannte die Regierung nicht nur explizite Sex-Szenen und ,obszöne‘ Nacktszenen aus dem singapurischen Fernsehen, sondern bspw. auch lesbische und schwule Sexualität (Leong 2008:295). Heterosexuelle Sexualität soll in Singapur nicht nur im legitimen, sondern auch im moralischen Rahmen der Ehe stattfinden. Der Rahmen für eine ,moralische Sexualität‘ wird für meine Gesprächspartnerin Yue Yan in Kapitel 6.3 eine bedeutende Rolle für ihre eigene Integrität spielen. Resümee Resümierend lässt sich feststellen, dass in Singapur die Reproduktion der Nation Kernstück der Diskurse um Familie, Ehe sowie sexuelle Identifizierungen und Praktiken darstellt. Die idealtypische singapurische Familie ist mit ihrem geschlechterhierarchischen Modell nach Konfuzianismus und bürgerlicher Ideologie wichtiger Aspekt, um Frauen eine Rolle als Reproduzentinnen der chinesisch-singapurischen Bevölkerung und der Nation als Ganzes zuzuordnen. Romantische Liebe und heterosexuelles Begehren werden mit Familie, Heirat und Fortpflanzung gleichgesetzt und damit zum nationalen Interesse erhoben.

6.

Bildungsmigration als Aneignung und Distinktion

Die bedeutsamen Geschlechterdiskurse in Malaysia und Singapur, mit denen sich meine Gesprächspartnerinnen auseinandersetzten, wurden in Kapitel 5 theoretisch eingeführt. Im Folgenden werden die Aneignungs- und Distinktionsstrategien der Akteurinnen hinsichtlich eben dieser Diskurse empirisch vorgestellt, die sich auf 1. eigene Familiengründung 2. heterosexuelles Begehren und romantische Liebe sowie 3. Körperlichkeit und Kleidung beziehen und damit im Sinne meines Analyserahmens Gendered Power Hierarchies in Space and Time auf drei Geschlechterebenen der geographic scales angesiedelt sind. Mit einer Diskussion dieser Ebenen mit geschlechtsbezogenen gesellschaftlichen, staatlichen, religiösen Normen und Praktiken sowie globalen Wirkmächtigkeiten lasse ich auch diese vier Geschlechterebenen mit in die Analyse einfließen. Es wird um die Fragen gehen, mit welchen Intentionen sich meine chinesisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen bestimmte lokale Geschlechterdiskurse in Singapur aneigneten, von welchen sie sich mit ihren spezifischen Motivationen abgrenzten und wie sie damit ihre Lebensentwürfe und auch die geschlechtsspezifischen Ideale, die an ihre Lebensentwürfe gebunden wurden, transformierten. Grundsätzlich ließ sich die Tendenz erkennen, dass die chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen die geschlechtsbezogenen Debatten und Diskurse für sich in Singapur als positiv erachteten und gleichzeitig die Alltagsreden und Diskurse zu selbigen Themen in Malaysia als abgrenzenswert – wenn auch jeweils mit Brüchen durchzogen. Diese Tendenz wird in allen drei folgenden Unterkapiteln zur Familiengründung, zu Sexualität und Liebe sowie Körperlichkeit und Kleidung aufgezeigt und die Widersprüchlichkeiten diskutiert. Auf Grund der Wichtigkeit der muslimisch-malaiisch konnotierten Diskur-

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se in Malaysia für die gesamte Gesellschaft verliefen die Abgrenzungsprozesse der chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen v. a. entlang ethnischreligiös geprägter Themen. Nur mittels eines Verständnisses der unterschiedlichen lokalen Geschlechterbilder und -praxen, die die malaysischen Bildungsmigrantinnen verfolgten wie auch die, die sie explizit nicht verfolgten, erhalten die Strategien der Bildungsmigrantinnen ihre besondere Bedeutung. Um die Schwerpunktsetzungen der chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen in Singapur zu begreifen, nehme ich zu jedem der drei Themenbereiche Familie, Sexualität und romantische Liebe sowie Körperlichkeit und Kleidung einen Perspektivwechsel von chinesisch-malaysischen zu malaiisch-malaysischen Blickwinkeln vor. Die malaiisch-malaysischen Akteurinnen, die zu den drei Themenbereichen zu Wort kommen werden, bewegten sich alle an malaysischen Universitäten. Mit ihren Bildungsgraden und ihrer Mittelklassezugehörigkeit stellten sie das Bezugssystem der bildungsmigrierenden Chinesisch-Malaysierinnen in Singapur dar, von denen sie sich mit ihren Themen mehrheitlich abwendeten. Somit werden die Aussagen miteinander entlang der verwobenen ethnischen und religiösen Dynamiken meines Analyserahmens in Verschmelzung mit anderen gesellschaftlichen Kategorien und Faktoren kontrastiert und ein differenziertes Gesamtbild von den Themen der Akteurinnen gezeichnet. Es wird deutlich werden, in welchen wechselnden räumlichen Bewegungen und sozialen Konstellationen die Akteurinnen bestimmte Aspekte ihrer geschlechtlich codierten Identifizierungen betonen. Verstanden als doing space while doing gender konstituieren und transformieren die Akteurinnen Weiblichkeit im Zuge ihrer räumlichen Verortungen und umgekehrt. Topologisch betrachtet werde ich in diesem Kapitel Raum als eine Dimension meines Analyserahmens als Ort von sozialen Ordnungen untersuchen und diese Ordnungen geografisch und materiell erden.

6.1 C HINESISCH -M ALAYSIERINNEN : W UNSCHZIEL – DAS SINGAPURISCHE F AMILIENIDEAL Gemäß der Zentralität der Familie für die malaysischen Bildungsmigrantinnen, wie sie mit Doreen Hemmy und Judith Wong in den Kapiteln 4.1 und 4.2 bisher skizziert und diskutiert wurde, spielte der Rückgriff auf die lokalen gesellschaftlichen Familienbilder für meine Gesprächspartnerinnen eine wichtige Rolle. Die Akteurinnen dieser Studie verfolgten ein bestimmtes zukünftiges Bild von sich als Frau innerhalb einer eigenen Familie, das sie mithilfe ihres Bildungsmigrationsschritts nach Singapur zu erreichen suchten – auch wenn sie noch keine eige-

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ne Familie gegründet haben. Dieses Themenfeld leite ich mit einer Szene aus meiner Wohngemeinschaft in Singapur ein, in der anhand von Aussagen meiner damaligen, chinesisch-malaysischen Mitbewohnerin Abrianna ein Streben nach einer eigenen Familie deutlich wird: Ich aß mit meinem Mitbewohner Hemraj, meiner Mitbewohnerin Abrianna und ihrem Freund Dragan zu Abend. Dragan fragte seine Freundin Abrianna, was sie später werden wolle. Sie antwortete prompt „Being a housewife!“ Diese Aussage erregte bei Hemraj und mir unmittelbare Ausrufe des Unverständnisses. „Absolut inakzeptabel“, rief Hemraj am lautesten, „Du willst dann immer nur auf die Kinder aufpassen?“ Ich bekräftigte ihn: „Und immer nur für Deinen Mann kochen?!“ Ihr Freund Dragan war sichtlich amüsiert über diese Aussage. „Ja, das will ich machen“, erwiderte Abrianna mit einer Mischung aus Ernsthaftigkeit und Witz. Abriannas ,Streben‘ nach der Rolle einer Hausfrau wurde von da an über den Abend in einer stichelnden Art und Weise v. a. von Hemraj wieder aufgegriffen. Abrianna saß am nächsten zur Wasserkaraffe. „Abrianna, bitte schenke mir noch etwas Wasser ein, um deine gute Hausfrauenrolle unter Beweis zu stellen!“, „Abrianna, ich bin durstig, bitte schenke nach!“, musste sie sich nun diverse Male anhören. Eine Woche später griff Hemraj das Thema noch einmal auf: „So einen Wunsch, Hausfrau zu werden, erwartet man wohl kaum von jemandem wie dir, die eine gute Ausbildung genossen hat und selber ihr Geld verdient.“ (Nach Gedächtnisprotokolle vom 26. Oktober 2008 und 2. November 2008) Abrianna kommt aus einer chinesisch-malaysischen Familie in Kuala Lumpur. Als ich sie 2008 kennen lernte, lebte sie bereits mehrere Jahre in Singapur und sah auch ihre Zukunftsperspektive in diesem Land. Sie arbeitete dort mit einer festen Stelle bei einer Tochterfirma der Bank of America. Mit ihrer Arbeitsstelle bewegte sie sich in einem gesellschaftlich anerkannten Umfeld Singapurs: Finanzen, symbolisiert durch Banken, sind eines der wichtigsten Symbole für die kapitalistische Politik Singapurs und den Wohlstand des Stadtstaats (Jordan 2007:14). Abrianna genoss mit ihrer Arbeitsstelle gesellschaftliches Ansehen und einen relativ hohen Status. Durch ihr mehrjähriges Leben in Singapur gehe ich davon aus, dass sie sich mit Teilen der gesellschaftlichen Dynamiken in diesem Land mehr identifizierte als mit denen in Malaysia. So lebte sie in einer internationalen Wohngemeinschaft1 und damit explizit nicht in einem malaysischen Umfeld. Dass Abrianna 1

Wir wohnten zu dritt: Hemraj aus Bombay/Indien, Abrianna aus KL/Malaysia und ich aus Deutschland.

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in Singapur besonders in internationalen Umfeldern lebte, ist für die folgende Argumentation wichtig, in der ich daraus ableitend ihre Aussagen innerhalb der singapurischen Gesellschaftsprozesse positioniere und nicht in denen ihres Herkunftslandes. Abriannas Wunsch, Hausfrau zu werden, sehe ich dementsprechend im Zusammenhang mit den singapurischen Familienideologien und -praxen. Als 28jährige Frau erfüllte sie bereits den wichtigen Teil des singapurischen Weiblichkeitsideals, Lohnarbeit zu verrichten und durch eine entsprechende Arbeitsstelle in die Mittelklasse hineinzuwachsen.2 Diese Klassenzugehörigkeit materialisierte sich u. a. in ihrem Wohnumfeld – einem privaten Condominium („Condo“) – das einen gehobenen Standard im Gegensatz zu den HDB-Wohnungen markiert, die von der Regierung subventioniert werden (Lyons 2000:15). Zudem spricht Abrianna infolge ihres Alltags in einer internationalen Bank fließend Englisch, was nach Lyons (2000:15) eine weitere Einordnung in diese Klasse zulässt. Abrianna positionierte sich auf Grundlage dieser verschiedenen Elemente in der singapurischen Mittelklasse. Die Zugehörigkeit zur Mittelklasse durch entsprechende Partizipation am singapurischen Arbeitsmarkt, der einen hohen Frauenanteil einschließt, bedeutet für die meisten Frauen, so wie ich und andere ForscherInnen es wahrgenommen haben (vgl. PuruShotam 1998a:129), ein ,modernes Leben‘ zu führen. Ein ,traditionelles‘ Leben führt eine Frau in Singapur hingegen idealtypisch als Hausfrau, Mutter und Ehefrau (Stivens 2007:34). Als chinesische – wenn auch chinesisch-malaysische und nicht chinesisch-singapurische – Frau mit hoher Ausbildung bestätigte Abrianna als (noch) unverheiratete und kinderlose Frau die singapurische Norm, erst später, nach eigener finanzieller Absicherung, zu heiraten und Kinder zu bekommen (Brooks, A. 2006:90). Mit ihren 28 Jahren befand sich Abrianna dennoch in dem entsprechenden Alter, eine Kleinfamilie mit Kindern zu gründen: Die meisten singapurischen Staatsbürgerinnen heiraten zwischen 25 und 29 Jahren (Singapore Department of Statistics 2010a:4). Aus welchen Gründen wirkten die gesellschaftlichen Erwartungen, als chinesische Mittelklassefrau sowohl in der Arbeitswelt zu partizipieren als auch eine eigene Familie zu gründen und zu versorgen, so eindrucksvoll auf Abrianna, dass sie sich geradezu nach letzterer Rolle sehnte? Abrianna bewegte sich mit ihren Handlungen zur Zeit unseres WG-Abends in einem der gesellschaftlichen Bereiche, nämlich dem der ,modernen‘ Arbeitswelt. Die weitere wichtige Zuschreibung, gewissermaßen die ,traditionelle‘ Rolle als Hausfrau und Mutter, imaginierte sie bisher für sich, setzte sie aber noch nicht um. Abrianna erfüllte mit ihrer Lebenssituation einer gut verdienenden, 2

Vgl. Kap. 5.3.1.

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chinesischen Mittelklassefrau, die selbstständig ihren Weg geht, somit nur einen Teil der Geschlechterideologie. Die Verschränkung von ,Modernität‘ und ,Traditionalität‘ spielt eine wichtige Rolle für die Konstruktion von Weiblichkeit (Stivens 2007:34; PuruShotam 1998a:135f.), wie in Kapitel 5.3.1 theoretisch erklärt wurde. Auch Hemrajs Reaktionen auf Abriannas Wunsch, Hausfrau zu werden, können im Kontext der Geschlechterdebatten in Singapur gesehen werden. Er lebte zur Zeit unseres Zusammenwohnens bereits seit sieben Jahren in Singapur. Mit seinem Studium und seiner daran anschließenden Arbeitsstelle an der NUS war er stark von den gesellschaftlichen Dynamiken in Singapur geprägt. Zwar betonte er zuerst die Unmöglichkeit ihres Wunsches, Hausfrau zu werden. Doch dann war er es, der dieses Thema erneut aufgriff und durch die Aufforderungen, ihn mittels der Wasserkaraffe zu bedienen, parodierte. Trotz Parodie am Abend nahm er ihren Wunsch dennoch ernst: Er sprach sie eine Woche später in Ruhe auf die Szene des WG-Abends an, um ihr mit Distanz und Ernsthaftigkeit seine Sichtweise noch einmal nahezubringen. Mit seinen Aufforderungen am WGAbend, ihm Wasser nachzuschenken, wollte er sie ehrlich auf ihre ,Fähigkeiten‘, eine ,gute‘ Hausfrau zu sein, prüfen, anstatt sie lächerlich zu machen. Hemrajs Anspielungen sollten ihr vergegenwärtigen, dass das Dasein einer dienenden Hausfrau sie nicht glücklich machen würde. Einzig Hausfrau und Mutter zu sein, ist in der singapurischen Gesellschaft nicht Teil des weiblichen Lebenskonzepts. Zumindest dann nicht, wenn man wie Abrianna einen Beruf ausübt, in dessen Umfeld der chinesischen Mittelklasse erwartet wird, als Frau zu arbeiten und für die Familie zu sorgen. An der Szene des WG-Abends ist deutlich geworden, dass die ideale Weiblichkeit in Singapur in einer verschränkten Rolle als „working mother“ (Stivens 2007:34) große Wirkungsmacht für die Akteurin entfaltet. 6.1.1 Lohnarbeit, Familie und hohe Ausbildung als Konzepte des Lebensentwurfs von Frauen Neben der Verbindung von Lohnarbeit und Familie sprach Hemraj durch den Bezug auf Abriannas Bildungsstand einen weiteren, wichtigen Aspekt an, der mit Weiblichkeit assoziiert wird. Er begründete seine ablehnenden Reaktionen nicht nur mit Abriannas finanziell unabhängigem Leben, das sie solcherart weiterführen wollte, sondern auch mit ihrem Ausbildungsgrad. Er erwartete von „jemandem, die eine gute Ausbildung genossen hat“, nicht unbedingt den Wunsch, Hausfrau zu werden. Wie er bezog an anderer Stelle auch meine chinesisch-malaysische Gesprächspartnerin Jingfei den Aspekt des Ausbildungsgrades in die weiblichen Rollenzuschreibungen in Singapur und Malaysia mit ein:

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„Men and women in Singapore are more open minded as compared to Malaysians. In Malaysia, there are also certain group of people who thinks women are the weaker gender and do not need to have high achievements and education level. However in Singapore, gender are looked upon more equally“ (9. Oktober 2008). In Singapur sei nach Jingfei eine Gleichberechtigung der Geschlechter eher umgesetzt als in Malaysia. Frauen bekamen der indirekten Aussage Jingfeis zufolge in Singapur mehr Möglichkeiten in der Aus- und Weiterbildung als in Malaysia, da die Frauen in ihrem Herkunftsland als das schwächere Geschlecht betrachtet würden. Was macht Bildung zu einem wichtigen Teil der Rollenerwartungen an lohnarbeitende Frauen der Mittelklasse? Eine gute Ausbildung stellt in Singapur u. a. eine Basis dar, um die Gleichzeitigkeit von Lohnarbeit und Familiengründung zu vereinen. Denn eine hohe Ausbildung führt in Singapur statistisch gesehen unweigerlich in einen gut bezahlten Beruf (Singapore Department of Statistics 2010a:67f.). Diese Verschränkungen der unterschiedlichen singapurischen Rollen für Frauen wurden in der Tat von mehreren meiner malaysischen Gesprächspartnerinnen als Wunsch formuliert. Annapoorna und ihre Freundin Ai Ling bspw. lebten und studierten während unserer ersten Gespräche erst seit zwei Monaten in Singapur. Als wir uns über Geschlechterrollen in Malaysia und Singapur unterhielten, erzählten beide einvernehmlich, dass Frauen in Malaysia normalerweise die Kinder erziehen und den Haushalt führen müssen. Dafür würden sie sich eher wieder aus der Arbeitswelt zurückziehen und ihre hohe Ausbildung damit nicht entsprechend einsetzen. Der Mann sei meist der alleinige Ernährer der Familie. In Singapur hingegen würden in der Regel beide Elternteile arbeiten, während der Haushalt und die Kindererziehung oft mit Unterstützung einer maid bewerkstelligt würden, wie sie mir weiter berichteten.3 Als ich beide fragte, welche Rolle sie selbst später gerne ausführen würden, die ,malaysische‘ oder die ,singapurische‘, antworteten sie prompt: beide! Sie wollten genauso mit ihrer universitären Ausbildung einen entsprechenden Beruf ausüben wie sie sich um den häuslichen Bereich kümmern möchten – und zwar im Gegensatz zur singapurischen Norm am liebsten ohne Haushaltshilfe.

3

2010 ist in Singapur die Zahl von Ehepaaren, in denen gleichzeitig Ehefrau und Ehemann in Lohnarbeit stehen, auf 47 % im Gegensatz zu 41 % im Jahr 2000 angestiegen. Dennoch lohnarbeitet in immerhin 32,6 % aller Haushalte ausschließlich der Ehemann (noch 40,2 % im Jahr 2000), in 5,8 % ausschließlich die Ehefrau (erst 4,6 % im Jahr 2000) (Singapore Department of Statistics 2010b:13).

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Während sich die indisch-malaysische Annapoorna und die chinesischmalaysische Ai Ling explizit vom malaysischen Bild der ausschließlich familiär verankerten Frau abgrenzten, zog meine chinesisch-malaysische Gesprächspartnerin Lin Lam ein anderes Land für den Vergleich der Frauenrollen heran: die USA. Lin hatte bereits einige Zeit an der University of Pennsylvania studiert und konnte aus eigenen Erfahrungen berichten. Sie hob hervor, dass Frauen in Singapur gleichberechtigter seien als Frauen in den USA. Denn in letzterem Land sei es relativ üblich, dass Frauen aus der Mittelklasse nach der Geburt ihrer Kinder zu Hause bleiben, um die Erziehung zu übernehmen und sich um den Haushalt zu kümmern. In den USA gebe es im Gegensatz zu Singapur keine Norm von lohnarbeitenden Müttern in hochbezahlten, z. B. wissenschaftlichen, Berufen. Lin argumentierte weiter, dass Frauen in Singapur auch auf Grund der arbeitsweltlichen Lage im Wissenschafts- oder Finanzbereich gleichberechtigter seien. Die arbeitsweltliche Lage ergebe sich nach Lin aus der modernen, verwestlichten („modern westernized“) Gesellschaft Singapurs.4 Hier arbeiteten mit Lins Worten viele „hard working women“. Mit dem westlichen Aspekt der singapurischen Gesellschaft meinte sie die technologisierte Arbeitswelt, in der der Frauenanteil hoch ist5 und somit viele Frauen relativ viel Geld verdienen – was sie wiederum in der Mittelklasse positioniert. Lin selbst promovierte in den Lebenswissenschaften/Biologie und wollte zukünftig als Biologin in der Forschung arbeiten. Ihren Wunsch, naturwissenschaftliche Forschung mit einer eigenen Familie zu vereinen, wollte sie in Singapur verwirklichen. Lin, Annapoorna und Ai Ling imaginierten sich folglich als Frauen, die auf Grund ihres Ausbildungsgrads (Mit-)Ernährerinnen ihrer Familien sein werden. Ihre hohe Ausbildung wollten sie in einem gut situierten Beruf umgesetzt sehen. In Singapur gab es nach Ansicht meiner Gesprächspartnerinnen die reellen, gesellschaftlichen Möglichkeiten, ihr angestrebtes Weiblichkeitsideal auf Grundlage der erworbenen Bildung zu realisieren. Wie genau meine jungen chinesisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen ihren Berufsstand und ihren Status entfalten werden, bleibt spekulativ. Denn in meiner Studie untersuche ich den spezifischen Ausschnitt zur Zeit ihres Bildungserwerbs, in dem sie selbst noch nicht arbeiteten und/oder verheiratet wa4

Den Widerspruch, dass die USA als das westliche Land gelten und nach Lins Argumentation dementsprechende Gleichberechtigung für Frauen ermöglichen müsste, aber nicht tut, löste sie leider nicht auf.

5

In Lins Arbeitsbereich der Lebenswissenschaften/Biologie, die in den Statistiken gemeinsam mit der Medizin geführt wird („Life Science and Health Professionals“ sowie „Life Science and Health Associate Professionales“), arbeiteten im Jahr 2000 gut 69 % Frauen (http://laborsta.ilo.org/STP/guest [15.12.2010]).

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ren. Dem Argument der reellen Verwertbarkeit des Ausbildungsgrads kann ich mich anhand statistischer Daten und impliziter Aussagen dennoch annähern: Die meisten singapurischen Männer, die einen niedrigeren Schulabschluss als die Secondary School nachweisen können, bleiben statistisch nachweislich eher Single.6 Je niedriger der Bildungsstand der Männer, desto geringer die Heiratsrate; je höher ihr Bildungsstand, desto höher auch ihre Rate an Eheschließungen. Dies lässt sich als eine Weigerung der hochausgebildeten Frauen interpretieren, Männer zu heiraten die einen geringeren Ausbildungsstand vorzuweisen haben als sie selbst. Ähnliches deutete auch meine Gesprächspartnerin Margaret7 aus der Muttergeneration meiner jungen Gesprächspartnerinnen an, die es als nicht erstrebenswert erachtete, einen „Singaporean Ah Beng“ zu heiraten. Als ,Singaporean Ah Beng’ werden chinesische Arbeiter aus China bezeichnet, die nach Singapur migrieren, um im Niedriglohnsektor zu arbeiten. Margaret konnte sich keine Ehe mit solch einem Mann vorstellen, da sie ihr materiell keinerlei Vorteile bieten würde.8 Mit ihrer Ablehnung bezog sie sich somit auf den Berufsstand und damit implizit ebenso auf den Ausbildungsgrad der Männer, die sich in entsprechender Vergütung niederschlugen. So äußerte sich auch Doreen, „women refuse to marry down in Singapore“ und verwies damit auf den hohen Bildungsgrad und Berufsstand von Frauen in Singapur, den sie auch als Ehefrauen aufrechterhalten wissen wollen. So sehe ich drei Verweise auf die Realisierung des Weiblichkeitsideals. Mit diesen Verweisen kann ich davon ausgehen, dass die chinesischmalaysischen Bildungsmigrantinnen zukünftig als verheiratete Frauen ihrem Ausbildungsgrad im Sinne der Aufrechterhaltung ihres Arbeitsplatzes und Status gerecht werden wollen.

6

Im Jahr 2010 blieben 24,1 % der singapurischen Männer zwischen 40 und 44 Jahren mit einem niedrigeren Abschluss als dem der Secondary School Single, während 12,9 % der singapurischen Universitätsabsolventen derselben Altersklasse Single blieben. Demgegenüber blieben im Jahr 2010 10,8 % der singapurischen Frauen mit einem geringeren Abschluss als dem der Secondary School zwischen 40 und 44 Jahren Single und 23,5 % der Universitätsabsolventinnen derselben Altersklasse (Singapore Department of Statistics 2010a:4).

7

In Kap. 7.2 wird Margaret ausführlich zu Wort kommen.

8

Wen genau die chinesischen Männer in Singapur mit niedrigem Ausbildungsgrad und niedrigerem Einkommen heiraten, ist bisher nicht erforscht. Eine Möglichkeit sind Heiratsmigrationsbewegungen dieser Männer in dritte Länder, da sich ihnen in Singapur offenbar nur wenige Möglichkeiten von Eheschließungen eröffnen. Zur Beantwortung dieser Frage wäre allerdings eine weitere Studie notwendig.

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6.1.2 Mittelklassezugehörigkeit als Entfaltungsmöglichkeit von Frauen Weshalb maßen meine Gesprächspartnerinnen Abrianna, Annapoorna, Ai Ling und Lin Lam einer gut bezahlten Arbeitsstelle auf Basis ihrer Ausbildung mit daraus folgender Mittelklassezugehörigkeit eine solch hohe Bedeutung bei? Wichtiges Motiv stellt eine bestimmte ideologische Bedeutungszuweisung an diese Klassenzugehörigkeit dar. Frauen in Singapur verbinden mit dieser Zugehörigkeit materielle und ideelle ,Freiheiten‘, wie Nirmala PuruShotam ausführt: „In Singapore, a majority of women appropriate the label ‘middle class’ and work hard to reproduce an associated way of life for themselves and their families. This way of life embodies ‘liberation’ in local parlance for women: they are engaged in a middle-class life world with its attendant benefits, benefits denied to their mothers and grandmothers“ (1998a:127).

Das Mittelklasseleben erachtet PuruShotam als Zugeständnis an die heutige Frauengeneration. Diese Art, das eigene Leben zu gestalten, wird in Singapur vordergründig im materiellen Sinne verstanden. Ein Mittelklasseleben beinhaltet in Singapur tägliche Lohnarbeit, um kontinuierliche Aufwärtsmobilität zu gewährleisten. Es sind diese Markierungen von Mobilität, auf die Subjekte der singapurischen Mittelklasse selbst als Indikatoren ihrer Klasse referieren. Die beiden wichtigsten Elemente sind dabei – wie bei Abrianna bereits benannt – der ,bessere‘ Wohnsitz sowie das Auto. Beides ist in Singapur wegen des hohen bürokratischen und finanziellen Aufwands schwierig zu erhalten. Die Regierung bemüht sich trotz dieser Defizite darum, ein kontinuierliches Gefühl der Verbesserung der Lebensumstände in der Bevölkerung herzustellen (PuruShotam 1998a:130).9 So werden die materiellen Güter, die der Mehrheit der Bevölkerung z. B. im Wohnbereich offenstehen, als „gifts of the state to the people“ (PuruShotam 1998a:130) verstanden. Die produzierte Aufwärtsmobilität wird nach lokalem Verständnis als eine Konsumption ,besserer‘ Güter, Serviceleistungen und Ideen als in vorherigen Generationen verstanden. Dies grenzt PuruShotam zu den Müttern und Großmüttern ab. Die Freiheiten für Frauen, die PuruShotam in ihrem Zitat benennt, sind erst einmal konkrete materielle Errungenschaften und Unabhängigkeiten im Gegensatz zu einem ideologischen Freiheitsverständnis.

9

Dafür werden bspw. neue Wohnviertel gebaut oder bestehende durch Vergrößerungen von Räumen, Installation von Fahrstühlen usw. verbessert.

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Frauen der singapurischen Mittelklasse haben aktiven Anteil an der Reproduktion dieses materiellen Fortschritts. Die kontinuierlichen Gewinne erfahren die Frauen infolge einer Vielfalt an Wahlmöglichkeiten. Zugehörige der Mittelklasse zeichnen sich dadurch aus, dass sie das als richtig und relevant Erachtete aus einem Spektrum an Angeboten auswählen können (Firth/Hubert/Forge 2006:358). Die Breite an Wahlmöglichkeiten wird von Mittelklasse-Frauen in ihrer Rolle als Mutter erweitert, indem sie z. B. unterschiedlichste Arten von Expertise in Anspruch nehmen können, die ihren Kindern ,gute Leistungen‘ ermöglichen sollen. Mütter haben die Aufgabe, den Kindern eine gute Bildung als Basis für einen späteren hohen Status zu ermöglichen, nicht zuletzt da ihre eigene Aufwärtsmobilität später durch ihre Kinder weitergeführt wird (Tremewan 1994:148f.). So werden Frauen als Mütter selbst zu aktiven Produzentinnen des ,besseren‘, materiell fokussierten Mittelklasselebens: Unmittelbar für sich selbst oder angesichts weiterer bildungsbedingter Aufwärtsmobilität spätestens durch ihre Kinder. „[…] [T]he normal [Singaporean] family ideology allows women to imagine themselves to be on a normal life trajectory, in which they must work to acquire membership as ‘girl’, ‘young woman’, ‘married woman’ and ‘mother’. In doing this work a woman becomes of her own accord a key producer of middle-class life generally and of her husband’s and children’s middle-class life in particular. This moral binding between their everyday work and the better life means that women of the middle class are engaged daily [..] in the reconstruction of a middle-class way of life, by definition a better life […]“ (PuruShotam 1998a:136).

Das in PuruShotams Zitat positiv klingende ,bessere Leben‘ („better life“) möchte ich an dieser Stelle kritisch reflektieren. Frauen der singapurischen Mittelklasse sind seitens der Gleichzeitigkeit, am Arbeitsmarkt zu partizipieren und den Haushalt zu führen sowie die Kinder zu erziehen, einer enormen Mehrfachbelastung ausgesetzt. Auch wenn es in den singapurischen Mittelklasse-Haushalten zur Norm gehört, eine maid für den Haushalt und die Versorgung der Kinder anzustellen, so bleibt die Verantwortung dieser Bereiche meinen Erfahrungen zufolge in den Händen der Frauen. Kerry Wilcock von der singapurischen Frauenorganisation AWARE (Association of Women for Action & Research) erzählte mir, dass Ehefrauen abends von ihrem Arbeitsplatz nach Hause kommen müssen, um sich um die Kinder zu kümmern, Ehemänner arbeiten in Singapur demgegenüber oft bis 23:00 Uhr. Kümmern sich Letztere um die Kinder, so würde dies eher als ,Hobby‘ denn als ,Verantwortung‘ aufgefasst, berichtete sie weiter.

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Diese Aussage deckt sich mit statistischen Daten, die besagen, dass Männer aus Doppelkarrierepaaren in Singapur im Jahr 2005 durchschnittlich 51 Stunden wöchentlich arbeiteten, die entsprechenden Frauen 45 Stunden (Singapore Department of Statistics 2006:7). Die Mehrfachbelastung für Frauen mündet in zwei Konsequenzen: Zum einen ziehen sich manche ab dem Alter von 25 bis 29 Jahren ein Stück weit vom Arbeitsmarkt zurück. Ihre Beschäftigungsrate sinkt von etwa 80 % auf etwa 65 % bis zum Alter von 35 bis 39 Jahren, also der Zeit nach Eheschließung und Geburten (Manpower Research and Statistics Department 2006:3). Diese Frauen führen dann eher die häusliche als die lohnarbeitende Rolle aus. Zum anderen lassen sich die meisten derjenigen singapurischen Frauen wieder scheiden, die mit einer Partizipation am Bildungs- und Arbeitsbereich zwar eine gleichberechtigte Partnerschaft anstreben, ihre Ehemänner sich zum Großteil aber nicht um den Haushalt und die Kindererziehung kümmern (Straughan 2009:65-73). Diese Frauen fokussieren die Entfaltung ihrer eigenen Vorstellungen. Das ,bessere Leben‘ in Singapur, wie es PuruSotam in ihrem Zitat nennt, ist mit Blick auf das Zurückziehen vom Arbeitsmarkt und den Scheidungsraten schwierig auf der Handlungsebene umzusetzen und muss demnach zumindest für Frauen ambivalent und als konfliktbehaftet interpretiert werden. Abriannas, Annapoornas, Ai Lings und Lin Lams positive Imaginationen der ,working mother‘ werden womöglich mit zukünftigen entsprechenden Handlungspraxen differieren. In Bezug auf die geschiedenen Frauen wird deutlich, dass sich die angestrebten Verbesserungen nicht nur auf materielle Güter beziehen, sondern auch als ideelle Werte verstanden werden. Die ideellen Werte materialisieren sich in einer potenziellen Idee von sozialer Mobilität als einer vergrößerten Kontrolle über das eigene Leben: Die Auswahlmöglichkeiten in der Mittelklasse führen zur Produktion von Ideen über neue Arten, das Mittelklasseleben zu führen (PuruShotam 1998a:130). Ein Aspekt stellen hierbei nach PuruShotam erweiterte politische und gesellschaftliche Rechte dar. Als Fortschritte für singapurische Frauen werden nicht nur die Zugänge zu Bildung und Karriere verstanden. Verbesserungen werden auch im Schließen monogamer Ehen auf Grundlage romantischer Liebe im Gegensatz zu früheren arrangierten Ehen gesehen. Ebenso werden auch in disziplinierten Körpern, die schlanken und attraktiv gekleideten Schönheitsidealen entsprechen, Verbesserungen gesehen (PuruShotam 1998a:137). Ob und wie meine Gesprächspartnerinnen den Aspekt des romantischen Liebeskonzepts wie auch den der Körperlichkeit als positiv für sich wahrnehmen, wird in den Kapiteln 6.3 und 6.5 ausführlich diskutiert. Diese materiellen und ideellen Entwicklungen in der singapurischen Gesellschaft heben sich von den Möglichkeiten vorheriger Generationen ab, wie mit der weiblichen Seite von Doreen Hem-

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mys Familie in Kapitel 4.1 an den Aspekten Bildung und Karriere bisher deutlich geworden ist. Die Frauen werden so in Singapur Akteurinnen in der Herstellung nicht nur allgemeiner materieller und ideeller Vorteile, sondern konkret ihres eigenen Lebens. An diesem Prozess wollen auch Abrianna, Ai Ling, Annapoorna und Lin Lam auf Grundlage ihrer universitären Ausbildung in Singapur Anteil haben. Resümierend lässt sich konstatieren, dass die malaysischen Bildungsmigrantinnen in Singapur die Vereinbarkeit der häuslichen mit der beruflichen Rolle auf Grundlage ihrer tertiären Ausbildung als eine Verbesserung ihrer Handlungsmöglichkeiten insbesondere im Sinne eines materiellen Konsums und der Partizipation an gesellschaftspolitischen Prozessen erachteten. Modernisierte Geschlechterbeziehungen erlangten in Singapur für die chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen Bedeutung auf Grundlage der Verschmelzung von höherer Bildung, Lohnarbeit und Familie. Der Bildungserwerb als Grundlage für eine Mittelklasse-Positionierung mit ihren imaginierten Vorzügen ist somit ein bedeutender Aspekt in den Lebensentwürfen meiner chinesisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen. Dem entgegen stehen andere Erfahrungen in Malaysia. Ai Ling und Annapoorna grenzten sich von weiblichen Lebensentwürfen in Malaysia ab, in denen sich Mutterschaft und Karriere ausschließen würden. Ich werde nachfolgend den angekündigten Perspektivwechsel vornehmen, indem ich erläutere, wie Malaiisch-Malaysierinnen Mutterschaft, Ehe und einen hochangesehenen Beruf sehr wohl vereinen wollen. Hohe Bildung stellte dabei die Grundlage für die Eheschließung dar.

6.2 M ALAIISCH -M ALAYSIERINNEN : G RADUIERUNG B ASIS EINER E HE

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Die Weiblichkeitskonzepte meiner malaiisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen waren v. a. von ihrer religiösen und ethnischen Zugehörigkeit geprägt. Wie die Chinesisch-Malaysierinnen transformierten auch die Malaiisch-Malaysierinnen ihre als weiblich verstandenen Identifizierungen mithilfe von Bildung: Diese war für sie die Voraussetzung, Beziehungen als Partnerin und/oder Ehefrau eingehen zu dürfen. Ich werde im weiteren Verlauf mittels der Erzählungen meiner Gesprächspartnerinnen Adilah und Mazjaliza erläutern, wie für die malaiisch-malaysischen Studentinnen meiner Studie Bildung die Basis für eine Selbstzuschreibung als Partnerin, Ehefrau und Mutter darstellte.

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6.2.1 Flexibilität mittels Bildung für Mutterschaft, Ehe und Liebesbeziehung Meine 23-jährige malaiisch-malaysische Gesprächspartnerin Adilah studierte zu Beginn unserer Treffen Geologie an der UM in Kuala Lumpur. Bereits bei unseren ersten Treffen erzählte sie mir über ihre ,heimliche Liebe‘ – heimlich, da ihre Familie und viele Freundinnen nichts davon erfahren durften. In diesem Zusammenhang erwähnte sie auch, dass für sie ein hoher Bildungsgrad die Voraussetzung dafür sei, innerhalb einer Ehe einen Mann zu versorgen, den Haushalt zu führen sowie einer Arbeitsstelle nachzukommen. Ich fragte Adilah, in welchem Sinne sie sich später um ihren Ehemann kümmern müsse. Sie antwortete: „Kochen, seine Wäsche ..., was eine Frau halt so macht“. Sie würde es allerdings nicht gutheißen, wenn er sich gar nicht im Haushalt einbringen würde. Mit den Worten „Ich liebe einfach Kinder“ betonte sie zudem mehrmals, dass sie auch Kinder haben wolle. Mit einem Masterstudium denke sie ,alles unter einen Hut‘ bringen zu können, da der Tagesablauf flexibel sein werde. (Gedächtnisprotokoll 12. Mai 2009) Adilah erzählte an anderer Stelle weiter, dass sie einige Jahre nach Abschluss des Bachelors einen Masterstudiengang absolvieren wolle, anschließend den PhD. Während dieser Zeit wolle sie heiraten, da sie angesichts des flexiblen Zeitmanagements einer Master- oder PhD-Studentin genügend Zeit haben würde, um sich um ihren Ehemann kümmern zu können. In welchem Verhältnis stehen für Adilah eine hohe Ausbildung, Ehe und Mutterschaft zueinander? Sie sah sich nicht nur während, sondern auch durch ihre weitergehende Bildungslinie als verheiratete Frau und Mutter. In der Tat bestand bei vielen meiner Gesprächspartnerinnen der Wille, Dozentin bzw. Professorin an einer Universität zu werden, um infolge eines flexiblen Arbeitsalltags die eigene Familie versorgen zu können. Damit strebten sie einen bestimmten Lebensentwurf urbaner malaiisch-malaysischer Mittelklassefrauen an, bei denen das Durchlaufen einer vollzeitigen beruflichen Karriere bis zum 55. Lebensjahr, dem durchschnittlichen Renteneintrittsalter in Malaysia, weit verbreitet ist. Malaiisch-malaysische Frauen der Unterklasse verfolgen andere Weiblichkeitsentwürfe: Unter malaysischen Fabrikarbeiterinnen ist es die Norm, sich auf Grund von Schwangerschaften, Kindererziehung und weiteren familiären Verpflichtungen mit 35 oder 40 Jahren vom Arbeitsmarkt zurückzu-

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ziehen – oder niemals einzutreten (Mellström 2009:901).10 Mit dem Wunsch, als Lehrende an einer Universität die Versorgung der eigenen Familie sicherzustellen, stellten die von mir befragten jungen malaiisch-malaysischen Studentinnen somit zwar ein gesellschaftliches Ernährermodell, jedoch nicht die häusliche Arbeitsteilung in Frage.11 Bei Adilah wurde nicht nur die imaginierte Ehe, sondern ebenso die entsprechende Beziehung als Vorlauf der Ehe an ihre Bildungslaufbahn gekoppelt. Im weiteren Verlauf unserer Treffen graduierte Adilah und arbeitete als Geologin in einem Steinbruch. Diese neue Position innerhalb ihrer Bildungslaufbahn legitimierte ihr nun erstmals eine offizielle, feste Liebesbeziehung seitens ihrer Mutter. Adilah erzählte mir, dass sie nun ihr Studium abgeschlossen und einen stabilen Job habe. Deshalb sei jetzt der richtige Zeitpunkt für eine Beziehung. Jetzt dürfe sie endlich einen Freund haben und diesen später heiraten. Ich fragte nach, wer es ihr erlaube. Sie antwortete, dass ihre Mutter diejenige sei, die ihr nun auf jeden Fall eine Beziehung zu einem jungen Mann – aber nur zu einem Malaien – erlauben würde. Denn sie sei jetzt nicht mehr im Studium. (Gedächtnisprotokoll 19. Juni 2009) Adilah durfte ihr Verhältnis zu Männern unmittelbar mit ihrer Graduierung transformieren. Dementsprechend durchdachte sie eine bisherige, sich anbahnende Beziehung zu einem jungen Mann gründlich. Mit Adilah wurde einführend deutlich, dass erst auf Grundlage ihrer Bildungslaufbahn bzw. Graduierung eine Liebesbeziehung und/oder Ehe angedacht werden sollte. 6.2.2 Ehe als Aushandlungsort von Karriere und Mutterschaft Tiefergehende Zusammenhänge zwischen der Bildungslaufbahn und Transformationen der als weiblich begriffenen Identifizierungen konnte ich während der Hochzeit meiner 26-jährigen Gesprächspartnerin Masjaliza beobachten.

10 Leider erklärt Mellström nicht, wie es sich Frauen der Unterklasse finanziell leisten können, sich aus dem Arbeitsmarkt zurückzuziehen oder gar nicht einzutreten. 11 Mellström (2009:900) erklärt, dass männliche malaiisch-malaysische Studierende keine Verantwortlichkeiten hinsichtlich der eigenen Familie – im Sinne von Kindererziehung und Hausarbeit – für sich beanspruchen.

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Masjaliza erzählte mir, dass ihr Freund Ramli ihr letztes Jahr beim Hari Raya Puasa12 mitgeteilt habe, dass er sie heiraten wolle. „Er sagte, er will mich heiraten, um mich festzubinden“, erzählte sie aufgeregt lachend. „Er sagte, ich kenne ihn am längsten, also solle ich ihn heiraten. Es sei Zeit, sesshaft zu werden. Ich habe dann gesagt: ,Ok, wenn die Zeit von der Verlobung bis zum Hochzeitstermin hält und wir uns in der Zwischenzeit nicht wieder trennen wie immer wieder in den 10 Jahren zuvor…‘“ Ich fragte sie, was ihre Eltern über ihre Hochzeitspläne denken. Sie antwortete, dass ihre Eltern sie gefragt haben, ob sie erst ihren PhD absolvieren will und danach heiraten oder ob sie jetzt nach dem Masterabschluss heiraten möchte. Sie habe das anschließend mit ihrem Freund diskutiert. Er beharrte darauf, dass er jetzt heiraten wolle, deshalb findet die Hochzeit nun in wenigen Tagen statt. Nächste Woche schreibt Masjaliza ihre letzten Abschlussklausuren, dann wird sie ihr Masterstudium abgeschlossen haben. Sie merkte an, dass sie den PhD noch nach der Eheschließung ablegen könne. (Gedächtnisprotokoll 17. Mai 2009) Masjaliza absolvierte in den Tagen unseres zitierten Gesprächs ihren Master in Sociology of Science an der UM. Vier Tage nach Abgabe ihrer Masterarbeit fand ihre Hochzeit statt. Die Ehe initiierte v. a. Masjalizas Freund Ramli. Für sie selbst stand dieser Schritt noch nicht im Zentrum ihres Lebens. Sie bezeichnete mir gegenüber stattdessen ihre Master-Arbeit als „das wichtigste“ für sie, das sie „erst abschließen müsse, bevor sie bei ihrer Hochzeit ein freudiges Gesicht machen könne“. Was motivierte Masjaliza dazu, trotz differenter Schwerpunktsetzung in ihrem eigenen Leben dem Ehewunsch Ramlis zuzustimmen? Zu diesem Zeitpunkt verdichtete sich die Bedeutsamkeit der universitären Ausbildung bzw. der Graduierung für eine Eheschließung. Mit ihren 26 Jahren bewegte sich Masjaliza in der zeitlichen Norm, als malaiisch-malaysische Frau mit universitärer Ausbildung zu heiraten. Meine Gesprächspartnerin Siti erklärte mir, dass malaiischmalaysische Frauen ihrer Generation mit Universitätsausbildung meist zwischen 25 und 27 Jahren heiraten. Ohne universitäre Bildung würden sie zwischen 18 und 20 Jahren heiraten. Auch Raj, Chee und Rashida (2001:125) legen dar, dass ihre 20- bis 30-jährigen Gesprächspartnerinnen, die mindestens eine zehnjährige Schulbildung genossen haben, frühestens ab einem Alter von 20 Jahren geheiratet haben. Frauen, die während der Interviews zwischen Ende 40 und Ende 50 12 Hari Raya Puasa oder auch Hari Raya Aidilfitri ist der Tag, an dem MuslimInnen das Fastenbrechen zu Ende des Monats Ramadan feiern. In Malaysia ist dieses Fest das größte und wichtigste für die malaiische Bevölkerung.

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Jahre alt waren und nur wenig oder keine Schulbildung erlangt hatten, hatten hingegen zwischen 14 und 18 Jahren geheiratet – bzw. waren verheiratet worden. Mittlerweile können malaiisch-malaysische Frauen ihre Rolle im Familienleben aktiver aushandeln, indem sie bspw. ihren Ehepartner selbst wählen und den Zeitpunkt der Eheschließung zugunsten der eigenen Ausbildung verschieben (vgl. Jones 1994:16). Ähnlich glich auch Masjaliza den Zeitpunkt ihrer Ehe mit ihrer Graduierung und ihrem Alter ab. Mit welchem Hintergrund priorisierte Masjaliza ihre Ausbildung gegenüber ihrer Eheschließung mit Ramli? Wesentlicher Grund ist eine Neuverhandlung ihres veränderten Status als Ehefrau. Masjaliza verfolgte den Gedanken der Eheschließung deshalb nicht aktiv selbst, weil ihr der damit verbundene, neue gesellschaftliche Status als Frau zu unsicher erschien: Sie berichtete mir drei Wochen vor der Trauung, dass sie sehr verängstigt sei, da sie ab der Hochzeit keine alleinstehende junge Frau mehr sein werde. Deshalb wisse sie nicht, was sie erwarte. Bisher standen alle ihre Schritte unter der Obhut ihres Vaters, wie sie mir erklärte. Ab dem Zeitpunkt ihrer Eheschließung werde sie allerdings zur Familie ihres Mannes gehören. Das würde bedeuten, dass alles, was sie zukünftig als Ehefrau tun werde, die Familie ihres Mannes beeinflussen werde. Die Ehe ging für Masjaliza mit veränderten Einflüssen einher, die verschiedene männliche Familienmitglieder kontrollierend über sie ausübten. Das Heraustreten aus der Obhut des Vaters in die des Ehemannes wurde während ihrer Trauung (akad nikah) durch einen Imam in der Moschee in ihrem gemeinsamen Herkunftsort Tanah Merah in konkrete Handlungen umgesetzt. Nachdem die Trauung ca. 10 Minuten angedauert hatte, kam der Imam mit Masjalizas Vater zu ihr nach draußen.13 Er fragte sie, ob es wahr sei, dass ihr Vater sie verheiraten wolle und ob sie einwillige. Nachdem Masjaliza dies kurz bestätigt hatte, gingen der Imam und der Vater wieder in die Moschee zu Ramli hinein. Anschließend klärte der Imam das junge Brautpaar über ihre Rechte und Pflichten auf, richtete seine Worte faktisch aber nur an Ramli, der ihm gegenüber saß. Er erläuterte, dass der Ehemann nun auf seine Ehefrau achten müsse und die Ehefrau von nun an zu ihrem Ehemann gehören würde. Der Imam bezog sich bei der Trauung somit erst auf den Vater, unter dessen Obhut Masjaliza bisher stand, und unmittelbar nach Masjalizas Eheeinwilligung auf Ramli, der von 13 Da Masjaliza zur Zeit ihrer Hochzeit ihre Periode hatte, durfte sie nicht an der Zeremonie in der Moschee teilnehmen, sondern musste draußen auf einer Treppe zur Moschee warten. Von da aus konnte sie die Trauung beobachten und hören. Ramli befand sich mit den Gästen in der Moschee. Masjaliza saß gemeinsam mit einer Freundin, die ebenfalls ihre Periode hatte und mir als Nichtmuslima, der die Teilnahme nicht gestattet war, auf der Treppe.

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nun an diese Funktion übernahm. Ab der Trauung untersteht die Frau der Autorität, der Kontrolle und dem Schutz (isma) des Mannes (Ziba 2009:31). Masjaliza bewegte sich in dieser Phase des Eheeintritts somit in einer Umbruchsituation, in der sie männliche Autorität mit eigenen Zukunftsvorstellungen auszubalancieren hatte. Abbildung 11: Zurechtmachen einer Braut im kedai pengantin (Brautladen)

Diese geschlechterbezogenen Konstellationen in malaiisch-malaysischen Familien beruhen auf Werten des Islam. Nach Amira (2009:196) wird muslimischen Frauen in Malaysia zugeschrieben, unterwürfig zu sein. Das Konzept der weiblichen Unterwürfigkeit (ketaatan) ist unmittelbar an bestimmte finanzielle Pflichten des Ehemannes gegenüber der Ehefrau gebunden. Der Ehemann ist im Islam verpflichtet, finanziell sowohl bzgl. des Brautgelds (mas kahwin) als auch bzgl. des Lebensunterhalts (nafkah) für die Ehefrau zu sorgen. Als Gegenleistung solle die Frau dem Mann gehorchen (Amira 2009:196). Die Verbindung zwischen dem männlichen Lebensunterhalt (nafkah) und dem weiblichen Gehorsam (ketaatan) ist zentral in der muslimischen Ehe sowie Ehegesetzgebung (Amira 2009:196). Für die muslimische malaiisch-malaysische Bevölkerung werden Ehegesetze im Rahmen der Syariah gefällt und verhandelt. Maznah (2010:374) erläutert, dass die malaysische Syariah-Gesetzgebung Männern in Bezug auf Ehe, Scheidung und Polygynie seit 1990 verstärkt weiterreichende Befugnisse zugesteht. Die Rechte für Frauen in Ehe und bei Scheidung wurden gleichzeitig restriktiv

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eingeschränkt. Die Familiengesetze, die zuvor nach dem malaiischen adat einem eher bilateralen Verwandtschaftsverständnis folgten,14 werden nun im Rahmen politischer Islamisierung gezielt männlich-zentriert ausgelegt: „What is being fashioned is a new Malay-Muslim masculinity which is based on conferred entitlements rather than responsibility-based, earned authority“ (Maznah 2010:374).15 An den muslimischen Idealen des weiblichen Gehorsams kann ein Spannungsfeld von Masjalizas gelebter Praxis zwischen Mutterschaft, Ehe und Karriere aufgezeigt werden. In diesem Spannungsfeld wird die Prozesshaftigkeit ihrer Handlungsmöglich- und -unmöglichkeiten deutlich. Sie dachte an Familiengründung im Rahmen ihrer Hochzeitsvorbereitungen. Ab dem Zeitpunkt der Ehe ist dem Paar ein Zusammenleben (bersama) gestattet, das im Malaiischen nicht nur das Miteinanderwohnen bezeichnet, sondern – wie ich in Kapitel 6.4 noch ausführlich diskutieren werde – eine heterosexuelle Beziehung impliziert (Ong 2003:266f.). Masjaliza sagte mir 2009, sie wolle dann ein Kind zur Welt bringen, wenn sie ein stabileres Leben führen werde. Dies sehe sie zwei bis drei Jahre nach der Hochzeit für sich gegeben – wenn sie ihren PhD zur Hälfte absolviert haben werde und die Geschäfte von Ramli routinierter funktionieren werden. Als ich sie im November 2011 wiedertraf, hatte sie das Verfolgen ihres Wunsches nach einem PhD trotz Angebots einer entsprechenden Stelle an der Universiti Kebangsaan Malaysia (UKM) erst einmal ausgesetzt. Sie begründete die Aussetzung ihres PhD mit der Geburt eines Sohnes im April 2011 und den damit einhergehenden mütterlichen Pflichten. Sie überlegte, ihren PhD später auf Basis einer halben Stelle anzufangen. Ihr Ehemann Ramli, der bereits die Eheschließung initiiert hatte, war Masjaliza zufolge auch der Initiator für das Kind. Welche Geschlechterkonzepte werden hier am Verhältnis zwischen Ehemann und Ehefrau in Beziehung gesetzt? Das Ehepaar verhandelte Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepte, die für einen ruralen ,traditionellen‘ und urbanen ,modernen‘ Raum gedacht werden. 14 Vgl. Kap. 5.2.1. 15 Die neuen Syariah-Reformen gestehen Männern vermehrt Macht zu: So haben sie das Recht, sich von Frauen scheiden zu lassen (talak), gleich welcher Umstände. Frauen hingegen müssen für eine Scheidung unzählige Hindernisse überwinden. Ferner dürfen sich Männer bis zu vier Ehefrauen nehmen, wobei die Bedingungen dafür, wie etwa die ,gleichwertige‘ Behandlung aller Ehefrauen, von den Gerichten nicht mehr nachgiebig eingefordert wird. Die entsprechende Klausel, eine polygyne Ehe müsse ,gerecht und notwendig‘ sein, wurde in ,gerecht oder notwendig‘ geändert. Des Weiteren dürfen Männer das monetäre Kapital ihrer Ehefrauen einsetzen, um polygyne Beziehungen einzugehen (Maznah 2010:374f.).

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Wie in Kapitel 4.3 bereits ausführlich erläutert wurde, werden malaiischmalaysischen Männern auch staatlicherseits in ruralen Gebieten ,weiche‘ kampung mentalities nachgesagt, die einer technologisierten und neoliberalen Modernität entgegenstünden. Gleichzeitig wird von vielen malaiisch-malaysischen Männern das ,traditionelle kampung‘ mit Weiblichkeit und der ,moderne‘ Staat mit Männlichkeit verglichen, da er Assoziationen von Rationalität und Bürokratie nach ,westlichem‘ Konzept hervorruft (Mellström 2009:897ff.; Stivens 1998a:12). Masjaliza selbst beschrieb 2009 vorgefertigte Biographien in ländlichen Gebieten als ,traditionell‘, die implizieren, dass Frauen früh heiraten und nach einem Jahr das erste Kind bekommen sollen. In der Hauptstadt hingegen, in der diese Lebensentwürfe von Frauen durch Bildung und Lohnarbeit nicht derart stringent verfolgt würden, könnten Frauen ,moderneren‘ Identifizierungen folgen. Masjaliza orientierte sich folglich an den nationalstaatlichen Debatten, in denen urbane Frauen als Akteurinnen von technologisierter Modernität gelten und dadurch Einfluss, Verantwortung und soziale Mobilität erlangen. Ramli priorisierte mit seiner Eheschließung und dem Drängen auf ein erstes Kind zumindest 2011 ,traditionellere‘, familienverhaftete Beziehungen, in denen er die ,moderne urbane Weiblichkeit‘ seiner Ehefrau zurückdrängte. Masjaliza rang nun um ihre Rolle als frischgebackene Mutter im Rahmen ihrer Aufgaben als Ehefrau einerseits und ihres bildungsbezogenen Karrierewegs andererseits. Indem sie 2011 ihre Mutterschaft in den Vordergrund und ihren 2009 noch angestrebten PhD in den Hintergrund rückte, wurden Umbrüche und Ambivalenzen durch die entsprechenden Schwerpunktsetzungen je nach Lebensphase offenbar. Mit einem derartigen Aushandlungsprozess ihrer Rollen als gebildete Karrierefrau, Mutter und Ehefrau, griff Masjaliza auf präsente Bilder in Malaysia zurück. In der Medienlandschaft werden weibliche Rollenerwartungen und Imaginationen in einer Kontroverse zwischen gehorsamen Ehefrauen und Karrierefrauen ohne familiäre Bindung aufgeladen. Die erste Sichtweise verfolgt bspw. die malaiisch-malaysische Sektion des Obedient Wives Club (OWC),16 die wiederum im Malaysian Mirror harsch kritisiert wird. Der OWC fordert von malaiisch-malaysischen Frauen Unterwürfigkeit ein, denn „[d]omestic abuse happens because wives don’t obey their husband. He must be responsible for his wife’s well-being but she must listen to him.“ In diesem Sinne bieten sie auch „sex lessons” an, „so they [the wives] could ‘serve their husbands better than a first-class 16 Laut The Telegraph hat der Obedient Wives Club im Oktober 2011 800 Mitglieder in Malaysia. Weitere Sektionen gibt es in Singapur, Indonesien und Jordanien. (http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/asia/malaysia/8827091/Malaysia-TheObedient-Wife-Club...-from-the-makers-of-the-Polygamy-Club.html vom 20.12.2011).

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prostitute’“.17 Auf dem Internet-Blog des am größten wachsenden Frauenmagazins Malaysian Women’s Weekly wird die zweite, diametral differente Sichtweise dargestellt, indem bspw. jährlich die Great Women of Our Time Awards ausgerufen werden, in denen die Leserinnen unter 18 Frauen der drei Bevölkerungsgruppen wählen können. Diese Frauen werden als Karrierefrauen dargestellt, die Malaysias Ökonomie und die Gesellschaft mit ihren Fähigkeiten wachsen lassen.18 Die unterschiedlichen Lebenskonzepte, die hier für Frauen entworfen werden, sind Ausdruck der widersprüchlichen Rollenerwartungen an urbane malaiisch-malaysische Frauen. Es sind solche beispielhaften symbolischen Aufladungen, in denen sich Masjalizas widersprüchliche Entscheidungen einordnen lassen. In diesem Kontext versuchte sich Masjaliza mit ihrem Bildungs- und Berufsweg sowie ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter zu positionieren. Resümierend stelle ich fest, dass für den Eintritt in eine Liebesbeziehung wie auch in eine Ehe die Malaiisch-Malaysierinnen der Mittelklasse und Bildungselite eine hohe Ausbildung abgeschlossen haben müssen. Für die Identifizierung als Frau war für die Malaiisch-Malaysierinnen die Ehe auf Grundlage der tertiären Ausbildung bzw. des entsprechenden Berufs eine Art rite de passage. Kontrastierung Kontrastierend schließe ich nun wieder den Bogen zu den Chinesisch-Malaysierinnen in Singapur und rufe in Erinnerung, dass für sie die Bildung weniger Basis für einen nächsten Schritt wie die Ehe darstellte, die erst die weiblichen Identifizierungen veränderte. Für sie war bereits die hohe Bildung im Nachbarstaat der Schlüssel zu einer veränderten Identifizierung als Frau, die sich angesichts darauffolgender Schritte wie Berufsausübung, Ehe und Familie lediglich weiter facettenreich entfalten wird. Wie für die Chinesisch-Malaysierinnen war die Bildungslaufbahn an den malaysischen Universitäten für meine jungen malaiisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen ebenfalls wichtiger Teil ihrer Biographie. Sie maßen ihrer Bildung jedoch eine andere Bedeutung zu als die chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen: Ihre Bildung war für sie die Voraussetzung, um überhaupt eheliche und mütterliche Aufgaben erfüllen zu dürfen. Es ging bei ihnen im Gegensatz zu den chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen weniger darum, durch die Bildung breitmöglichste Wahl- und Hand17 Die Zitate stammen aus einem Artikel unter http://www.malaysianmirror.com/mediabuzz-detail/4-letters/53791-the-diminishing-role-of-muslim-women-in-society

vom

20.12.2011. 18 Nachzulesen unter http://wewantmww.blogspot.com/2010/10/great-women-of-ourtime-awards.html und http://wewantmww.blogspot.com/2011/10/nominees-of-greatwomen-of-our-time_9103.html vom 20.12.2011.

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lungsmöglichkeiten als Frau zu erreichen. Für die Malaiisch-Malaysierinnen waren Bildung und ein entsprechender späterer Beruf Ausgangsbasis für die häuslichen und mütterlichen Pflichten. So differierten die unmittelbaren Schwerpunktsetzungen der als weiblich markierten Identifizierungen bei chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen und Malaiisch-Malaysierinnen. Aufschlussreich ist zu erfahren, dass die Mehrheit meiner chinesischmalaysischen Gesprächspartnerinnen in Singapur das Bild zeichneten, dass Malaiisch-Malaysierinnen ihren Studienabschluss lediglich zum symbolischen Statusaufstieg nutzten (sie seien „degree-holders“). Sie würden ihre Qualifizierung aber nicht für das Erreichen eines angemessen Arbeitsplatzes nutzen – im Gegensatz zu ihnen selbst. Stattdessen würden Malaiisch-Malaysierinnen heiraten und eine Familie gründen, aber nicht weiter ihren Beruf ausüben. Meine Gesprächspartnerin Shireen war der Meinung, Malaiisch-Malaysierinnen würden lediglich studieren, gerade weil sie als Hausfrauen viel Zeit hätten und sich langweilten, aber nicht aus Weiterbildungsgründen oder Arbeitsmarktchancen heraus. Die Erfahrungen mit Adilah und Masjaliza, die Berichte von Siti sowie die Ausführungen von Mellström zu den urbanen Mittelklasse-Frauen zeigen jedoch, dass die jungen Malaiisch-Malaysierinnen selbst einen eigenen Arbeitsplatz an der Universität oder in der technologisierten, ,modernen‘ Welt der malaysischen Hauptstadt anstrebten und sich nicht allein in den häuslichen Bereich zurückziehen wollten. Wichtig ist – wie bei den chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen auch – die Vereinbarkeit von Karriere und Familie, die sie gerade auf Grundlage ihres hohen Bildungsstands zu erreichen suchten. Der eigene Bildungsgrad blieb gleichzeitig Voraussetzung für die Familiengründung wie auch für die Aufrechterhaltung dessen. Ich werde nun den mit Masjaliza angedeuteten Bereich der Sexualität, den sie unmittelbar mit einer Eheschließung verschränkte, auch in Bezug auf chinesischmalaysische Bildungsmigrantinnen vergrößern und genauer beleuchten. Es wird deutlich werden, dass für die Chinesisch-Malaysierinnen in Singapur eine eher freizügige Sexualität von Frauen auch vor einer Ehe als positive Orientierung diente. Diese Sexualität musste aber trotzdem moralisch bleiben. Mittels eines erneuten Perspektivwechsels auf Malaiisch-Malaysierinnen in Malaysia mache ich anschließend deutlich, dass diese den legitimen Rahmen einer Ehe für das Ausleben von Sexualität benötigten.

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6.3 C HINESISCH -M ALAYSIERINNEN : M ÖGLICHKEITEN VON HETEROSEXUELLEM B EGEHREN UND ROMANTISCHER L IEBE Die Sexualität von chinesischen Frauen ist in Singapur Gegenstand nationalstaatlicher disziplinierender Politiken. Chinesinnen mit Universitätsabschluss sollen heiraten und Kinder als zukünftige Arbeitskräfte für die ökonomische Aufrechterhaltung des Staates gebären, wie in Kapitel 5.3.2 theoretisch erläutert. Infolge der staatlichen bevölkerungspolitischen Diskurse wird Sexualität gesellschaftlich breit thematisiert, da die Subjekte der Mittelklasse zur Reproduktion und damit zu sexueller Aktivität ermuntert werden. Die entsprechenden Aushandlungsprozesse auf lokaler Ebene werde ich im weiteren Verlauf v. a. anhand der Narrationen meiner Gesprächspartnerinnen Yue Yan und Elizabeth aufzeigen. 6.3.1 Romantische Liebe als moralische Reglementierung der sexuellen Aktivität von Frauen Meine chinesisch-malaysische Gesprächspartnerin Yue Yan probierte sich in Singapur aktiv in Fragen von Liebe und Sexualität aus. Yue Yan hatte sich zum Zeitpunkt unserer ersten Gespräche gerade von ihrem indonesischen Freund Jaya getrennt. Diese Beziehung bzw. Ex-Beziehung bewegte sie so sehr, dass es nur so aus ihr ,heraussprudelte‘, als sie anfing, mir davon zu erzählen. Ihr Umgang damit war ein relativ offener und ungezwungener. Sie sah dieses Themenfeld nicht als ihre alleinige Privatangelegenheit an. Das Thema der Sexualität ist in Singapur eine staatliche und publike Angelegenheit, die alle BürgerInnen anbelangt und somit nicht nur in private Wohn- und Schlafzimmer gedrängt wird – so auch nicht von Yue Yan. Sie forderte mich in meiner ambivalenten Rolle zwischen Forscherin und Freundin sogar explizit dazu auf, darüber zu schreiben.19

19 Während Yue Yan mich dazu aufrief, ihre widersprüchlichen Gefühle hinsichtlich ihrer Liebesbeziehung bzw. dem Ende dieser Beziehung preiszugeben, erzählte sie ihren Freundinnen nichts über die ,wahren Gründe‘ ihrer Trennung. Ihre Geschichte soll der Öffentlichkeit durch das Medium meiner ,neutralen‘ wissenschaftlichen Arbeit preisgegeben werden, nicht durch persönliche, private Erzählungen. Nur durch meine verwobene Rolle als Forscherin und Freundin bekam ich Zugang zu den intimen Geschichten Yue Yans. Als Forscherin repräsentierte ich Distanz und Neutralität. Als Freundin teilte ich zugleich durch mein Alter und gleichsame alltägliche Konflikte und Widersprüche eine ähnliche Lebensrealität wie sie. Dadurch bekam ich von Yue Yan einen enormen Vertrauensvorschuss.

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Ihre Erfahrungen mit Liebe und Sexualität wollte sie durch mich einer LeserInnenschaft zugänglich gemacht wissen. Ähnlich wie in Singapur Sexualität und Liebesbeziehungen in nationalen Ansprachen, Fernsehshows und über DatingAgenturen20 thematisiert werden, wollte auch Yue Yan ihre persönlichen Erlebnisse mit einer Öffentlichkeit durch meine wissenschaftliche Publikation teilen. Während unseres zweiten Treffens erfuhr ich: Yue Yan hatte sich einmal von Jaya getrennt und kam dann wieder mit ihm zusammen. Sie sagte: „Naja, jedenfalls hielten wir wieder Händchen, küssten uns und machten Dinge, die man als einfache Freunde halt nicht macht. So lief es bis vor ein paar Tagen.“ (Gedächtnisprotokoll 15. November 2008) Während mir Yue Yan von ihrer Liebesbeziehung erzählte, sprach sie zwar keine direkten Formulierungen zu einer aktiven Sexualität aus, deutete diese aber an. Mit „Dinge, die man als einfache Freunde halt nicht macht“ implizierte sie eine sexuelle Beziehung zu Jaya. In chinesischen Kontexten ist eine sexuelle Aktivität junger, unverheirateter Frauen und Männer keine Selbstverständlichkeit. Chan C.S. (2006:37) berichtet über eine Kopplung von Sexualität und Heirat auf Grundlage von Ehearrangements noch im Singapur der 1960er Jahre. Auch Hibbins (2003a:208) erläutert in einer Studie über Männlichkeitskonzepte von Chinesen in Australien, dass seine Gesprächspartner Sexualität erst nach einer Eheschließung akzeptierten. Chan C.S. und Hibbins arbeiteten mit Yue Yans Elterngeneration. Dennoch trifft eine restriktive Haltung bzgl. Sexualität weiterhin v. a. auf Frauen und Mädchen zu. Mellström (2003:76) führt an, dass in urbanen chinesisch-malaysischen Kontexten auch gegenwärtig Töchter viel eher als Söhne ab der Pubertät von ihren Eltern kontrolliert werden, um sexuelle Beziehungen zu verhindern. Junge Frauen lernen, sich und ihre Körper zu zügeln. Jungen Männern werden nach Mellström ab derselben Lebensphase von ihren Eltern mehr Freiräume im Erproben von sexueller Aktivität zugestanden. In ihrer Sozialisation lernen sie, dass der Konsum von Alkohol, Glücksspiel und Liebschaften zum Verhalten von Männern gehören. Beiden Geschlechtern wird somit ein unterschiedlicher moralischer Umgang mit Sexualität gelehrt. Ich möchte an dieser Stelle kurz mein Verständnis von Moralität klären. Nach meinen Erfahrungen wird Moralität lokal eher als soziale Praxis denn als moralische Ideen von Subjekten verstanden. Angesichts der entsprechenden moralischen Handlungen können positive menschliche Beziehungen aufgebaut und aufrechterhalten werden. Arten und Weisen, sich als ,gute Frau‘ und ,guter Mann‘ zu verhalten, sind an gesellschaftliche Wertmaßstäbe gebunden, die für 20 Vgl. Kap. 5.3.3.

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das subjektive Handeln als Rahmen fungieren. Nach Robbins (2009:63) entsteht moralisches Handeln aus einer Selbstreflexion über die eigenen Verhaltensweisen im Rahmen einer angestrebten idealen Seinsweise. Moralische Dimensionen werden durch das Verhältnis zwischen AkteurIn und Werten und Normen bestimmt. So argumentiert auch Foucault (2008, 1977), dass Moralität zur Bestätigung und Wiederherstellung von kulturell und gesellschaftlich akzeptablen und damit ,normalen‘ Verhaltensweisen fungiert. In diesem Sinne hält Moralität Machtsysteme mittels Normalisierung von ,guten‘ und ,schlechten‘ Verhaltensweisen aufrecht. Moralität kann so als öffentlicher Ausdruck von ,angemessenem‘ und erwartetem Verhalten verstanden werden, das von gesellschaftlichen Institutionen geprägt ist. Auf der subjektiven Ebene funktioniert Moralität nach Foucault (2008:41) – und ähnlich auch nach Butler (2004:40-56) – als disziplinierendes und selbstdisziplinierendes Moment, als Unterwerfung und gleichzeitige Subjektwerdung. Auf Grundlage der moralischen Wertaufladungen in chinesisch-malaysischen Zusammenhängen übte auch Yue Yan ihre Sexualität und Liebesbeziehungen nach bestimmten disziplinierenden Kriterien aus. Yue Yan, die infolge ihrer Migration nach Singapur nicht mehr unter der unmittelbaren Kontrolle ihres Elternhauses stand, hatte viel eher die Möglichkeit, ihre Sexualität auszuleben als Mädchen und junge Frauen aus dem malaysischen Forschungskontext Mellströms. Yue Yan erzählte mir, dass Jaya regelmäßig bei ihr im Studierendenwohnheim auf dem NUS-Campus übernachtet hat. Er verließ dann frühmorgens ihr Zimmer. Sie machte sich schon längere Zeit Sorgen darüber, ob er nicht gleichzeitig eine Beziehung zu einer anderen Frau führen würde. Sie erzählte, dass sie während des Ramadans immer sehr früh aufstehen mussten, damit er noch vor Sonnenaufgang essen konnte. Irgendwann hatte sie das Gefühl, dass sie nicht wegen des Ramadans so früh aufgestanden sind, sondern weil Jaya zu einer anderen Frau gehen würde. Sie habe ihn damit konfrontiert und in die Enge getrieben. Er habe ihr mehrmals gesagt, dass er keine andere Frau treffen würde. Später habe er es dann doch gesagt. Yue Yan zweifelte daran und dachte, dass er dies nur gesagt habe, da sie ihn so sehr unter Druck gesetzt hatte. Sie sagte an dieser Stelle etwa: „Für mich ist es jedenfalls so, dass es nur einen gibt. Wenn ich einen Freund habe, dann gibt es nur den einen. […] Wenn ich mit jemandem zusammen sein will, dann nur, wenn ich ihn wirklich liebe. Ich würde mit keinem zusammen sein, nur weil ich denke, ich bräuchte einen Freund und würde dann den ,Erstbesten‘ nehmen.“ (Gedächtnisprotokoll 15. November 2008)

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Wie gestaltete Yue Yan die selbstdisziplinierenden Kriterien hinsichtlich ihrer sexuellen Aktivitäten? Für Yue Yan stellte ein bestimmtes Liebeskonzept ein wichtiges Kriterium für das Führen einer festen Beziehung dar. Sie lehnte feste Beziehungen ohne das Gefühl des ,Verliebtseins‘ ab, da sonst nicht der ,Richtige‘, sondern ein „Erstbester“ ihr Partner wäre. Mit ihrer romantisierenden Sprache rekurrierte Yue Yan auf das Konzept der romantischen Liebe. Trotz großer Schwierigkeit einer emotions-, kognitionsund handlungsumfassenden Definition von romantischer Liebe beziehe ich mich für eine bessere Greifbarkeit auf den Ethnologen William Jankowiak (1995:167), der drei Aspekte von romantischer Liebe ausmacht: die Idealisierung der anderen Person, die Verbindung dieser Idealisierung mit einem erotischen Kontext sowie die Erwartung, dass dieses Verhältnis auch zukünftig Bestand haben wird. Die romantische Liebe bezeichnet also eine sinnlich-erotische, leidenschaftliche Liebe, die sich im längerfristigen gegenseitigen Begehren mindestens zweier Menschen entfaltet. Yue Yan war zur Zeit unserer Gespräche bereits an dem Punkt angelangt, ihre Liebe als verloren oder beendet zu betrachten. Ihr Schmerz darüber kann im zuletzt zitierten Gedächtnisprotokoll ,zwischen den Zeilen‘ herausgelesen werden. Ihre Aufregung darüber wurde mit ihrem eingangs erwähnten Redefluss offenbar. Ihr Schmerz und ihre Aufregung verweisen zum einen auf die Einsicht eines quälenden Scheiterns ihrer Idealisierung Jayas. Zum anderen deuteten sie auf die zersprungene Hoffnung auf eine längerfristige Beziehung zu ihm. Auf einen erotisch-sexuellen Kontext ihrer Beziehung habe ich weiter oben bereits hingewiesen. In Singapur basiert das Konzept der romantischen Liebe auf demjenigen der westlichen Moderne, das sich im Kontext westlicher Subjektivität, Individualität und Innerlichkeit sowie der Ausdifferenzierung von öffentlichen und privaten Räumen herausgebildet hat (Keddi 2006:143). Das Verständnis von romantischer Liebe entwickelte sich in Singapur in den 1960er Jahren. Für die Entwicklung dieses Konzepts waren in Singapur drei Faktoren ausschlaggebend: erstens die Einführung monogamer Ehen durch die Women’s Charter 1961. Zweitens die Ablösung von Ehearrangements durch eigene Entscheidungen über Paarbeziehungen (Chan C.S. 2006:39). Drittens der veränderte soziale Status von Frauen, der mit größer werdender ökonomischer Unabhängigkeit in Singapur einherging. Infolge letzterer Entwicklung heirateten Frauen immer weniger aus Interesse an materieller Sicherheit denn aus emotionaler Erfüllung heraus (Straughan 2009:8). Für ein Verständnis von Yue Yans Bezügen auf romantische Liebe ist eine Einordnung in die entsprechenden öffentlichen Diskussionen in Singapur hilf-

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reich. Die junge Generation, zu der Yue Yan gehört, ist in Singapur gegenwärtig durch Inszenierungen vom Konzept der romantischen Liebe im öffentlichen Raum geprägt. Entsprechende Bilder werden durch die in Kapitel 5.3.3 bereits vorgestellte Romancing Singapore-Kampagne vermittelt, die einen Idealzustand von romantischem Begehren und heteronormativer Ehe transportieren. Yue Yan war in ihrem Alltag eben solchen Propagierungen dieses Idealzustandes ausgesetzt. Mit welcher Bedeutungszuweisung orientierte sich Yue Yan an diesem Konzept von romantischer Liebe? Mit dieser Liebe strebte Yue Yan nicht nur nach einem medial vermittelten Ideal. Sie gab sich damit auch selbst sinnstiftende Orientierung: Die romantische Liebe fungierte für sie als der moralische Rahmen, innerhalb dessen sie sich ihre sexuelle Aktivität überhaupt zugestand. Sexuelle Beziehungen ohne dem Gefühl des ,Verliebtseins‘ lehnte sie – wie bereits erwähnt – ab, da sonst nicht der ,Richtige‘, sondern ein ,Erstbester‘ ihr Partner wäre. Durch eine gewünschte Beziehung zu ausschließlich ,dem einen Richtigen‘, in den sie sich verliebt fühlte, verknüpfte sie die romantische Liebesbeziehung mit dem Konzept einer monogamen, heterosexuellen Beziehung. In Anlehnung an Foucaults und Butlers Konzept der Unterwerfung fungierten diese Verschränkungen von romantischer Liebe, Heterosexualität und Monogamie für Yue Yan als moralische Grenze ihrer sexuellen Praktiken. Mit diesem Ideal einer ,moralischen Sexualität‘ bewegte sich Yue Yan innerhalb des Sexualitätskonzepts der singapurischen Regierung, welches Sexualität zwar besonders in der Mittelklasse fördert, aber nur innerhalb heterosexueller und monogamer Grenzen. Sexualität darf in Singapur von Frauen nicht ,unbeherrscht‘ praktiziert werden. Sie wird staatlich von männlicher Seite aus diszipliniert, indem chinesische Mittelklassefrauen bei sexueller Aktivität verheiratet sein sollen und sie ihre sexuellen Praktiken für die Reproduktion von Nachwuchs für das Wohlergehen des Staates einsetzen sollen, wie in Kapitel 5.3.2 erläutert wurde. Yue Yan entsprach somit in mancher Hinsicht diesem monogamen und heterosexuellen – moralischen – singapurischen Ideal. Als sexuell aktive, aber unverheiratete junge Frau durchbrach sie allerdings den Grundsatz, die Ehe als moralischen Rahmen für Sexualität anzuerkennen. Yue Yan bewegte sich daher in einem Spannungsfeld zwischen Fügsamkeit und Aufbegehren. Als fügsame Frau repräsentierte sie einen Teil des asiatischen Wertediskurses, der Autoritäten – in diesem Fall der singapurischen PAP-Regierung – Macht über die eigene (sexuelle) Lebenspraxis zuspricht, der es Anerkennung zu zollen gilt. Als sexuell aktive, aufbegehrende Frau bewegte sich Yue Yan aber ebenfalls in Sexualitätsdiskursen, in denen „Spaß [..] zum Paradigma der Sexualität in der Spätmoderne [geworden ist]“ (Dekker/Matthiesen 2000:101). Infolge einer Pluralisierung von

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Lebensformen und dekonstruktivistischen Bezugnahmen und Theorien – auch in Singapur – auf der einen (Lo/Huang, G. 2003; vgl. Voß 2010; Moghadam 2008:81-102; Butler 1993, 1990) und ,modernen‘ Gen- und Reproduktionstechnologien auf der anderen Seite hat Sexualität im Zeitalter der (Spät-)Moderne den alleinigen Wert der Reproduktion verloren. Sexualität wird zu einem flexiblen Gut im Gegensatz zu regulierenden Werten und Normen, die Sexualität von Frauen an ganz bestimmte Kriterien wie die heterosexuelle Ehe und Fortpflanzung knüpfen. Mit dieser Entkopplung hat sich sexuelle Aktivität mehr und mehr zu einem Akt des Genießens entwickelt (Clam 2009; Hegener 2009). Diese Verschiebung wird seitens einer „(Hyper-)Sexualisierung vieler Bereiche der Kultur, die das Sexuelle vollends in den Genießensrezess einweisen“ (Clam 2009:26), verstärkt. In welche gesellschaftspolitischen Dynamiken begab sich Yue Yan, sobald sie ihre sexuelle Aktivität vorehelich auslebte? Dadurch, dass in der (Spät-) Moderne Sexualität nicht mehr ausschließlich als Reproduktionsakt verstanden wird, wurde Yue Yan mit ihrer sexuellen Aktivität zur Akteurin einer ,modernen‘, mobilen und dynamischen Sexualität. Sie hob die gesellschaftlich konstruierte Verbindung des ,asiatischen Werts‘ von heterosexueller, ehelicher Zweisamkeit mit Sexualität auf. PuruShotam (1998a:137f.) geht davon aus, dass Frauen in Singapur ihre Sexualität ausschließlich passiv leben, da sie durch männliche Sexualitätsdiskurse zum Objekt gemacht würden. Mit Yue Yans Praktiken wird bis hierhin demgegenüber deutlich, dass sie disziplinierende und regulierende sexuelle Vorgaben der singapurischen Regierung von Ehe und Nachwuchsreproduktion aktiv überwand. 6.3.2 Sexualität als Mittel ethnischer Grenzziehung Einige meiner Gesprächspartnerinnen nutzten die Thematik der Sexualität auch zur Ziehung von Grenzen entlang nationalstaatlicher, kultureller und ethnischer Linien. Meine chinesisch-malaysische Gesprächspartnerin Elizabeth, Studentin des Rechnungswesens an der Nanyang Technological University (NTU) in Singapur, kommentierte den öffentlichen Raum in Malaysia und in Singapur bzgl. Sexualität: „Let’s say a guy and girl, let’s say they just walk together, maybe they are just classmates. Then friends see you, then they will think ‘Oh, they are a couple’, something like that… Some people will think they are couple, they misunderstand that. Because in Malaysia we have like single sex schools, just pure girl schools and just pure boy schools, some people would think that if a guy and a

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girl walk together then they are in a relationship. So if you come to Singapore we have more like… I mean, boys and girls are mixed, the schools are mixed. So their thinking in relationship-wise will be more mature as compared to some of the students who come from single sex schools. First if you come from a mixture school then you get to interact with the guys and the girls. …Maybe I shouldn’t use the word of conservative, maybe just the thinking is different.“ (13.10.2008) Elizabeth empfand den öffentlichen Alltag in Singapur als relativ frei und offen. In Malaysia hingegen würden Handlungen zwischen Männern und Frauen viel eher festgeschrieben. Einem Mann und einer Frau, die sich gemeinsam in der Öffentlichkeit bewegten, würde eine feste Liebesbeziehung nachgesagt. Dies wollte sie nicht mit ,konservativ‘ kommentieren, tat es im Endeffekt aber dennoch. Auch meine Gesprächspartnerin Lin Lam21 hatte eine ähnliche Einschätzung zu den Wahrnehmungen von Männern und Frauen in der Öffentlichkeit Malaysias. Ablehnend erklärte sie mir, sobald sich ein Pärchen in Malaysia ,Hand-inHand‘ in der Öffentlichkeit zeige oder küsse, komme das Pärchen dafür ins Gefängnis.22 Diese Geschlechtersegregation im öffentlichen Raum Malaysias beruht auf einer muslimischen normativen Vorstellung. Sie bezieht sich darauf, dass ein Mann und eine Frau in einem intimen Verhältnis miteinander verboten (haram) sind, solange sie nicht verheiratet sind oder sie nicht in einem Grad miteinander verwandt sind, der eine Ehe ausschließt (Schneider 2011:109). Das Teilen eines gemeinsamen Raumes soll von einem Mann und einer Frau, die einander haram sind, weitestgehend vermieden werden, da der Umgang miteinander unter Umständen zu einer sexuellen Relation außerhalb der Ehe führen könnte (KhatibChahidi 1997:114). Dieses muslimische Ideal der Segregation zwischen einem Mann und einer Frau im öffentlichen Raum lässt sich in der alltäglichen Praxis nicht immer einfach umsetzen, es gestaltet aber sicherlich die innere Haltung zueinander. Auch wenn diese Gebote von meinen chinesisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen nicht explizit ausgesprochen wurden, so bezogen sie mit ihren Aussagen zu Öffentlichkeit, Sexualität und Geschlecht den Aspekt der Religion mit ein. Die muslimischen Werte wirken in Malaysia so mächtig, dass sich auch 21 Lin Lam wurde in Kap. 6.1 mit ihrem Lebensentwurf der lohnarbeitenden Mutter eingeführt. 22 Auf meine überraschte Nachfrage hin, ob das wirklich so sei, sagte sie mit einem Lachen, dass diese Praxis zusätzlich davon abhänge, ob die Polizei gerade ,gut drauf‘ („happy“) sei.

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meine chinesisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen davon in Bezug auf den öffentlichen Umgang zwischen Männern und Frauen betroffen sahen, wie es Elizabeth und Lin Lam angedeutet haben. Durch diese (implizite) Verknüpfung wird Geschlecht von meinen Gesprächspartnerinnen an Religion und damit auch an Ethnizität gekoppelt formuliert. Einen positiven Bezug auf sexuelle Möglichkeiten in Singapur und eine negativere Sichtweise auf entsprechende Erfahrungen in Malaysia stellten nicht nur meine chinesisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen in Singapur her. Meine malaiisch-malaysische Gesprächspartnerin Umi argumentierte in ihrem neuen Wahlheimatland Singapur ganz ähnlich. Sie grenzte sich ebenso entlang sexualitäts- und geschlechtsbezogener Linien von Idealvorstellungen für Frauen in Malaysia ab – wenn auch bei ihr die Kopplung an Ethnizität entfiel. Ich unterhielt mich mit der Malaiisch-Malaysierin Umi, die als Psychologin für eine Arbeitsstelle in der muslimisch-malaiischen Frauenförderung nach Singapur migriert ist: Umi erzählte mir, dass sie die Menschen in Singapur für ein wenig offener („more open-minded“) halte. Denn in Singapur könne sich ein Pärchen bspw. in der Öffentlichkeit küssen. Würde dies in Malaysia passieren, würden die umstehenden Menschen gleich ungläubig schauen und sich fragen: ,Haben diese Menschen denn gar kein Schamgefühl?!‘ (Gedächtnisprotokoll 27. Oktober 2008) Umi erachtete die sexualitätsbezogenen Alltagspraktiken in Singapur als aufgeschlossener und zugänglicher. Gleichzeitig empfand sie selbige Praktiken in Malaysia als restriktiver. Sie verband die Restriktionen in der malaysischen Öffentlichkeit, die sie mit Küssen verband, mit einem Schamgefühl. Dieses Schamgefühl stellt in der malaiisch-malaysischen Gesellschaft ein bedeutsames Konzept dar. Es besagt, dass jeder Mensch ein Stück weit schamhaft (malu) sein sollte. ,Scham‘ wird als ein Gut verstanden, als ein ,Sinn für Anständigkeit‘. Mittels des Konzepts der Scham wird das eigene Verhalten reguliert, da durch einen gedachten außenstehenden Blick die eigenen Handlungen von einer/m selbst kontrolliert werden. Die ,Scham‘ wird zum Instrument für einen aufrichtigen Austausch mit anderen Menschen (Goddard 2005:80f.).

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Abbildung 12: „Unanständiges Verhalten verboten“. Schild im Tasik-Perdana-Park in KL

In welchem Verhältnis steht das Konzept der Scham zu sexueller Aktivität in Malaysia? Dieses Konzept stellte in Malaysia Umis Aussagen zufolge ein kanalisierendes Mittel dar, um sexuelle Aktivitäten aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Wer sich in der Öffentlichkeit küsst, muss immer den Blick von anderen, von außen, mit bedenken. Wer dabei gesehen wird, dem/der werden Qualitäten abgesprochen, die als malaiisch konzipiert werden und Aufrichtigkeit sowie ein schickliches, kulturell angemessenes Verhalten (sopan) beinhalten (Gomes 2007:140). Mit Umis Einschätzung ist deutlich geworden, dass positive Empfindungen von relativen sexuellen Freizügigkeiten in Singapur nicht ausschließlich entlang kultureller und ethnischer Grenzen vollzogen werden. Darüber hinaus wurde auch erkennbar, dass Sexualität in Malaysia durch eine stetige Eigenreflektion in Relation zu anderen Mitmenschen reguliert wird. Ich lasse nun meine malaiisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen in Malaysia zu Wort kommen, um u. a. deutlich zu machen, welch wichtige Rolle das Konzept der Scham im Herkunftsland Malaysia spielt. Meine malaiisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen sahen sich mit den verschiedenen Regeln von Scham und Aufrichtigkeit konfrontiert, die Sexualität disziplinieren.

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6.4 M ALAIISCH -M ALAYSIERINNEN : L EGITIMIERUNG VON S EXUALITÄT UND HETEROSEXUELLEM B EGEHREN DURCH DIE E HE Sexualität ist in Malaysia ein wichtiges Feld politischer Auseinandersetzungen. Mit Regulierungen und Disziplinierungen der Sexualität von Frauen werden männliche Autorität und ethnische In- und Exklusionen reproduziert.23 Durch die Begleitung meiner Gesprächspartnerin Masjaliza, die in Kapitel 6.2 mit ihrer Eheschließung unmittelbar nach ihrem Studienabschluss vorgestellt wurde, konnte ich ihren Umgang mit Sexualität erfahren, mit dem sie sich an muslimisch-malaiischen Idealen orientierte. Die Ehe bietet im muslimischen Malaysia die offizielle Legitimität, in sexuelle Beziehungen eintreten zu dürfen. Voreheliche sexuelle Kontakte zwischen einer muslimischen Frau und einem muslimischen Mann sind verboten und werden mit dem muslimischen Gesetz der Syariah bestraft (Raj et al. 2003:174). 6.4.1 Ehe als legitimer Rahmen von Sexualität Sexuelle Handlungen im malaiisch-malaysischen Kontext möchte ich bei Masjaliza und ihrem Ehemann Ramli anhand zu bedeckendem weiblichen Haar und vorehelichen körperlichen Berührungen erörtern. Sexualität wird zwischen den Geschlechtern im muslimisch-malaysischen Kontext u. a. über das weibliche unverdeckte Haar kommuniziert. Das aurat, die ,Nacktheit‘, zu der das weibliche Haar gehört, muss nach bestimmter muslimische Interpretation verborgen werden. Mit unverdecktem Haar würde ansonsten sexuelles Begehren von Männern hervorgerufen werden. 24 Deshalb sollen muslimische Frauen im öffentlichen Raum Malaysias ein Kopftuch tragen. Führt eine unverheiratete muslimische Frau eine Liebesbeziehung mit einem muslimischen Mann, so ist es auch ihr nicht gestattet, sich ihm ohne Kopftuch zu zeigen. Nach entsprechendem muslimischen Verständnis ist eine Nichtbeachtung eine Sünde, die im Jenseits (akhirat) bestraft wird. Eine Woche vor ihrer Eheschließung mit Ramli fragte ich Masjaliza, ob Ramli sie schon einmal ohne tudung (Kopftuch) gesehen habe. Sie war sichtlich irritiert darüber, dass mir eingefallen war, sie als gläubige Muslima überhaupt danach zu fragen. Selbstverständlich habe sie sich ihm noch nicht mit unbedecktem Haar gezeigt und machte damit ihr Befolgen muslimischer Regeln deutlich.

23 Vgl. Kap. 5.2.2. 24 Vgl. Kap. 5.2.2.

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Masjaliza und Ramli hielten sich nicht nur an die religiöse Regel, dass die Frau nicht mit unverdecktem Haar betrachtet werden darf. Sie hielten sich auch an weitere sexualitätsbezogene muslimische Regeln. Es besteht das Verbot vorehelicher körperlicher Kontakte. Während eines Fototermins einen Tag vor der Eheschließung konnte ich beobachten, wie sich das Brautpaar für die Fotos gegenseitig auf verschiedene Arten berühren sollte. Dies rief besonders bei Masjaliza große Unsicherheiten hervor: Der Fotograf, der für die Hochzeitsfotos zuständig war, wies Masjaliza und Ramli an, sich auf die beiden Stühle ihres ,Throns‘ (Pelamin)25 zu setzen. Nachdem beide auf ihrem jeweiligen Stuhl Platz genommen hatten und nach vorne in die Kamera blickten, sollten sie sich auf Anweisung des Fotografen zueinander wenden. Ramli sollte nun Majalizas Kinn berühren. Das mochte Masjaliza offenbar nicht: Bei jedem erneuten Versuch von ihm, dies zu tun, stieß sie seine Hand weg und kicherte und gluckste. Sie konnte dies so wenig zulassen, dass diese Pose für das Foto nicht zustande kam. Der Fotograf versuchte sie zu einer anderen Pose zu bewegen. Beide sollten sich hinstellen. Masjaliza sollte sich mit dem Rücken dicht vor Ramli stellen und Ramli sollte von hinten mit seinen Händen ihre Taille berühren. Sie gluckste und kicherte wieder die ganze Zeit. Dabei wand sie sich aus seiner Berührung. Zwischendurch haute sie ihn sanft auf den Rücken oder den Arm. Am Ende kam die vom Fotografen gewünschte Haltung doch noch zustande, aber Masjaliza war dabei sehr verkrampft. Sie hatte hochgezogene Schultern. So ging es noch für die nächste Pose hin und her. (Gedächtnisprotokoll 8. Juni 2009) Bei dem Fototermin war für mich anhand von Masjalizas Kichern, Winden und Verkrampfen zu erkennen, dass sie und Ramli sich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie (zärtlich) berührt hatten. Dies war ihnen fremd und unvertraut. Lediglich das sanfte Hauen von Masjalizas Seite wirkte wie eine vertraute Geste. In dieser Situation kam das Moment des Fotografierens hinzu, das die Situation für sie noch unangenehmer machte. Der Fotograf forderte das Brautpaar immer wieder dazu auf, dass sich ihre Körper für die Aufnahmen berühren sollten. Während Masjaliza und Ramli sich wie oben beschrieben posieren sollten, standen FreundInnen und Verwandte dabei und schauten ihnen zu. Welche weitergefassten Hintergründe ließen Masjaliza diese Situation als unangenehm empfinden?

25 An ihrem Hochzeitstag wird ein malaiisch-malaysisches Brautpaar als ,königlich‘ betrachtet. Das Sitzen auf dem Thron ist das zentrale Element des Bersanding, des eigentlichen Hochzeitstages.

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Masjalizas und Ramlis erste zugeneigte Berührungen fanden unter Aufsicht eines ,Publikums‘ – folglich unter einem Blick von außen – statt, den Umi im vorherigen Abschnitt mit ihrem Rekurrieren auf die ,Scham‘ bereits angedeutet hatte. Während Masjaliza bis zu dieser Situation des Fotografierens noch selbst über die Grenzen ihrer sexualisierten Handlungen entscheiden konnte, wurden ihr Macht und Kontrolle über ihren Körper im Moment der Fotoaufnahmen genommen. Masjaliza hatte die religiösen Vorgaben zur eigenen sexuellen Kontrolle derart verinnerlicht, dass ich sie und Ramli auch die beiden Tage nach der Eheschließung nie berühren sah, trotz der nun offiziellen Legitimation. Sie schliefen in der ersten Nacht nach der Hochzeit nicht im gemeinsamen Hochzeitsbett.26 Masjaliza verbrachte jene Nacht stattdessen mit ihren Cousinen, während Ramli im Haus seiner Eltern nächtigte. Ihre körperliche Beziehung zueinander änderte sich mit der Zeit. Wenige Tage nach der Hochzeit bezogen sie ihre gemeinsame Wohnung in einem Vorort von KL. Zwei Monate nach der Hochzeit besuchte ich Masjaliza und Ramli in ihrer neuen Wohnung. Angesichts des bersama (Zusammenlebens) veränderten sie ihre sexuelle bzw. körperliche Beziehung zueinander. Dies äußerte sich sogleich in ihrem Umgang mit der Kleidung, später im Umgang mit physischer Nähe. Wir [Masjaliza, Ramli, eine Freundin Masjalizas und ich] kamen in ihrer neuen Wohnung an. Sobald wir eintraten, nahm Masjaliza ganz selbstverständlich ihr Kopftuch ab und zog sich um. Am Abend trug sie weite Trainingshosen und ein weites Shirt, am nächsten Morgen ein knielanges Kleid mit Spaghetti-Trägern. […] Masjaliza und Ramli pflegten nun kleine Körperkontakte: als Masjaliza abends auf dem Teppich im Aufenthaltsraum saß, lehnte sie ihr Bein – beide trugen lange Jeans – an seins. Später berührten sich ihre nackten Füße. (Gedächtnisprotokoll 10. August 2009) Nach einer gewissen Zeit veränderte sich Masjalizas und Ramlis körperlicher Umgang miteinander zweifellos infolge des Hochzeitsvertrags. Die Hochzeit wird nach muslimischem Verständnis und Recht als ein ,Vertrag des Austauschs‘ verstanden, dessen Hauptziel es ist, sexuelle Beziehungen zwischen Mann und 26 Das Bett stand in Masjalizas Zimmer in ihrem Elternhaus, das sie nach wie vor bei Besuchen bewohnte. Ihre Eltern hatten ihr Zimmer für die Hochzeit renoviert und ein großes Ehebett für das Hochzeitspaar (katil pengantin) hinein gestellt. Dies hatten sie mit Stoffbahnen und künstlichen Blumen verziert.

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Frau zu legitimieren. Der Vertrag (akad nikah, wörtlich ,Vertrag über Geschlechtsverkehr‘) schreibt nach Ziba (2009:28) vor, dass die Frau dem Mann sexuell verfügbar sein muss. Er beinhaltet idealtypisch drei Bereiche: das Andienen der Frau (ijab), das Akzeptieren durch den Mann (kabul) und das Bezahlen des Brautgeldes (mas kahwin) – das von Ramli an Masjaliza 8.000 RM27 betrug. Die Frau hat das Recht, sexuelle Relationen zu verweigern, solange sie das Brautgeld noch nicht komplett erhalten hat (Ziba 2003:98). Für beide EhepartnerInnen enthält der Ehevertrag bestimmte Rechte und Pflichten. Ziba (2009:31) erläutert, dass das im Abschnitt 6.2.2 beschriebene Konzept der ketaatan, also der sexuellen Unterwürfigkeit, ein Recht des Mannes und eine Pflicht der Frau darstellt. Sexualität von Frauen wird folglich zu einem Objekt des Austauschs. Masjalizas veränderte Umgangsweisen wie das Schmiegen ihres Beines und ihrer Füße an die ihres Ehemannes lassen zwar nicht direkt auf sexuelle Relationen infolge des Ehevertrags schließen. Sie markieren jedoch eine transformierte physische, sexualisierte Beziehung. Die innerehelichen, geschlechtsbezogenen Regelungen hinsichtlich sexueller Vorgaben werden folglich nicht nur theoretisch durch den institutionellen bzw. vertraglichen Abschluss festgeschrieben. Masjaliza und Ramli näherten sich diesen als gläubige MuslimInnen auch alltagspraktisch an. 6.4.2 Ehe als Entwicklungsmöglichkeit einer romantischen Liebesbeziehung Die Eheschließung veränderte nicht nur Masjalizas und Ramlis physisches Verhältnis zueinander, sondern auch ihr emotionales. Veränderungen in ihren körperlichen Praktiken gingen mit Veränderungen ihrer aufeinander bezogenen Emotionen einher. Letztere präsentierten sie mir bis zur Hochzeit als distanziert. Während der zweitägigen Hochzeitszeremonie verbrachten sie ihre Zeit nicht gemeinsam, sondern beschäftigten sich stets mit ihren eigenen Familien und FreundInnen. Das Brautpaar wirkte während dieser Zeit nicht besonders glücklich auf mich, denn sie ließen ein strahlendes Lachen oder Ähnliches die Zeit über vermissen. Nach der Verlobung am ersten Tag der mehrtägigen Zeremonie fragte ich Masjaliza, wie sie sich nun fühle. Obwohl sie vorher sehr aufgeregt war, antwortete sie mit müdem Blick: „Macam biasa. Mungkin lebih teruja nanti“ („Wie gewöhnlich. Vielleicht werde ich später noch aufgeregter.“). Dieser Bezug auf ihre Verlobung wirkte kühl auf mich.

27 Damals knapp 2.000 Euro

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Zwei Monate nach der Hochzeit hatten sich Masjalizas Gefühle für Ramli offenbar verändert, wie ich während meines oben genannten Besuches feststellen konnte. Als Ramli an dem beschriebenen Abend in die Wohnung kam, erhellte sich sogleich Masjalizas Gesicht, indem sie ihn anstrahlte. Sie wirkte ihm gegenüber vertrauter und glücklicher als noch während der Hochzeitsfeier, als sie mit ihren müden Aussagen nicht besonders freudig wirkte. Diese veränderte emotionale Haltung bestätigte sich in einer E-Mail von Masjaliza etwa zwei Monate nach ihrer Hochzeit: „Here I want to share my life as a wife and how its gets going on when living together with the person that I love most. […] Erm.. just a little shock here and there but as me and my husband getting to know each other; ‘closely’ I mean it fix that broken here and there. What I mean here is as my husband always be there for me and we’re helping each other to mix up with each other family, as time goes by… I felt joyous surrounding us… Thank god that he’s the one for me…“ (E-Mail von Masjaliza, 18.8.2009) Masjaliza nutzte in ihrer E-Mail nun eine romantisierende Sprache, indem sie ihren Ehemann als den „Menschen, den sie am meisten liebt“ und den „Einzig wahren“ bezeichnete und dadurch ein romantisches Ideal von ihm zeichnete. Für diese emotionale Entwicklung spielte folgender Hintergrund eine Rolle: Mit der offiziellen Eheschließung war Masjaliza und Ramli nun nach gesellschaftlichen Normen und Idealvorstellungen gefühlsbezogene Nähe gestattet. Bedenkt man, dass sich Masjaliza und Ramli für ihre Ehe u. a. auf Grundlage einer stabilen bildungsbezogenen (und finanziellen Situation) heraus entschieden haben, wie in Kapitel 6.2 gezeigt wurde, wird diese Entscheidung nun mit dem Hintergrund, nicht in erster Linie aus einer romantischen Liebe heraus geheiratet zu haben, ergänzt. Eine romantische oder leidenschaftliche Liebe entwickelte sich in diesem Fall erst, als der offizielle und legitime Rahmen der Ehe gegeben war. Masjaliza und Ramli bewegten sich mit ihrer emotionalen Beziehung zueinander in verschiedenen regionalen Liebeskonzepten in Malaysia, die sich zwischen romantischer Liebe, Entwicklung von Emotionen durch den Ehevertrag und arrangierten Ehen entfalten. Malaysias Vize-Premierminister Muhyiddin Yassin erklärte 2011 öffentlich den Valentinstag und romantische Liebe als ,unpassend‘ für Muslime. Religiöse Autoritäten sowie das staatlich-geleitete Department of Islamic Development bezeichneten im Zuge dessen denselben Tag als ,unmoralisch‘ und ,lasterhaft‘. In der praktischen Konsequenz durchsuchte die religiöse Polizei (Religious Enforcement Officers) am Valentinstag 2011 Billigunterkünfte und öffentliche Parks in Kuala Lumpur und dem umliegenden

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Bundesstaat Selangor und nahm dabei 80 Muslime aufgrund von khalwat (verbotenen Geschlechtsverkehrs außerhalb/vor der Ehe) fest. Mit dieser Propagierung und Aktion implizierten die Akteure eine Gegenüberstellung von ,moralischer Sittsamkeit‘ im Sinne der Asian Values28 und ,gefährlichen Einflüssen‘ aus dem ,modernen Westen‘. Diese staatlich-religiöse Kampagne wurde nicht von der Gesamtbevölkerung getragen, sondern provozierte heftige öffentliche Kritiken auch von malaiisch-malaysischer Seite.29 Diese ,Unmoralität‘ von romantischer Liebe, propagiert von der malaysischen Regierung und muslimischen Institutionen, lässt sich in regionale Konzepte von Liebe und Partnerschaftlichkeit einordnen. Mir sind leider keine diesbezüglichen wissenschaftlichen Studien zu Malaysia bekannt, wohl aber zu muslimisch-malaiischen Bevölkerungsgruppen in Indonesien. Auf Grund bedeutsamer soziokultureller Gemeinsamkeiten werde ich diese nachfolgend für eine Einordnung heranziehen. Röttger-Rössler (2006:69) erklärt, dass sich im südostasiatischen und indopazifischen Raum ähnliche Liebeskonzeptionen erkennen lassen. Diesen Konzeptionen ist der großfamiliäre Kontext in den Sozialbeziehungen gemein. Auf dieser Grundlage bildet nicht eine intime Zweierbeziehung auf der Basis von individueller Autonomie das lokale Liebesideal. Das Liebesideal wird hingegen konstituiert, indem die Verantwortlichkeiten und Abhängigkeiten eines größeren sozialen (Familien-)Netzwerkes miteingebunden werden. RöttgerRössler (2006:64ff.) erläutert dies genauer anhand der Makassar auf Sulawesi, deren Grundlagen der Liebeskonzepte auf Hintergründen von Polygynie und arrangierten Ehen aufbauen. Am Anfang einer arrangierten Ehe steht dort normalerweise überhaupt kein aufeinander bezogenes Gefühl oder aber das cinna-cini, das ein positives Gefühl bezogen auf Äußerlichkeiten des/der PartnerIn bezeichnet. Idealtypisch entwickelt das Ehepaar im Laufe der Zeit ein sexuelles sowie nichtsexuelles Begehren (ero’), das im Einander-gern-Haben (singai) mündet und sich nun auf persönliche Charaktereigenschaften bezieht. Lernt sich das Paar nun weiterhin sehr gut kennen, kann es darüber hinaus sikarimangi entwickeln: eine einander umsorgende Liebe, die ausschließlich verheirateten Paaren und sich nahestehenden Familienangehörigen vorbehalten ist, aber unverheirateten Paaren nicht zugestanden wird. Statt sikarimangi ist auch sikatutui möglich, was die gegenseitige Achtung und den gegenseitigen Respekt des Paares betont, aber distanzierter verstanden wird als sikarimangi. Sikatutui stellt das emotionale Ideal in polygynen Ehen und gleichzeitig die stabilste Basis von Ehen dar. Somit 28 Vgl. Kap. 5.1.2. 29 http://www.bbc.co.uk/news/world-asia-pacific-12443104 und http://www.bbc.co.uk/ news/world-asia-pacific-12466875, vgl. http://www.islam.gov.my/en/valentines-daycelebration-islam vom 09.01.2012.

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wird v. a. Partnerschaftlichkeit und Fürsorglichkeit von EhepartnerInnen erwartet, wohl aber keine romantische, leidenschaftliche Liebe. Funktionierende Ehen werden nicht auf intensiver emotionaler Bindung aufgebaut, diese kann sich zuweilen jedoch im Laufe der Ehe entwickeln. In Malaysia werden arrangierte Ehen zwar seit der Generation meiner Gesprächspartnerinnen nicht mehr häufig praktiziert, sie gehörten aber in der Elterngeneration meiner Gesprächspartnerinnen noch zur gängigen Praxis (Raj/Chee/Rashida 2001:124f.). Ramlis Mutter wurde mit 15 Jahren durch eine arrangierte Ehe verheiratet. Masjalizas Eltern hingegen heirateten aus Motiven der romantischen Liebe heraus, wobei besonders Masjalizas Vater deshalb Probleme mit seinem eigenen Vater bekam.30 Polygyne Ehen sind seit der Elterngeneration ebenfalls rückläufig, werden aber immer noch praktiziert (Maznah 2009:103f.; Stivens 2000:26f.). Damit prägen die emotionalen Ausgestaltungen der arrangierten und polygynen Eheschließungen weiterhin die Praktiken und Zuwendungen der jungen Generation. Masjalizas und Ramlis sexualitäts- und liebesbezogene Handlungen vollzogen sie in einem gesellschaftlichen Spannungsfeld, das von unterschiedlichen lokalen und regionalen Wertvorstellungen durchzogen war. Während sich Masjaliza an einer romantischen Liebesvorstellung orientierte, propagieren offizielle malaysische Institutionen dieses Konzept gerade nicht als ideale Liebesvorstellung. Die mit den Makassar erläuterten partnerschaftlichen Liebesideale verweisen auf die praktische kulturelle Handlungsebene, die ebenfalls keine Romantik in den Mittelpunkt rückt. 6.4.3 Brüche muslimisch-malaiischer Sexualitätspraxen In anderen Situationen meiner Forschung konnte ich eindeutige Brüche im Bereich der Sexualität ausmachen. Während Masjaliza eine gläubige Muslima repräsentierte, die die muslimisch-malaiischen Sexualitätsvorgaben verinnerlichte und umsetzte, widersprachen die sexuellen Handlungen meiner Gesprächspartnerin Fauzana den muslimischen Kodizes viel stärker. Fauzana, die bereits mit ihrem innerstaatlichen Bildungsmigrationsweg vom kampung in die Hauptstadt31 sowie mit ihren Erfahrungen im Ehevorbereitungskurs vorgestellt wurde, sammelte als gläubige Muslima auch sexuelle Erfahrungen ohne legitimen ehelichen Rahmen. 30 Die Hochzeit von Masjalizas Eltern fiel auf Grund der Ablehnung der romantischen Liebeshochzeit seines Sohnen durch Masjalizas Großvater väterlicherseits relativ verhalten aus: ohne Bersanding, also ohne festlichem Akt. 31 Vgl. Kap. 4.3.

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Erste diesbezügliche Andeutungen ihrerseits erlebte ich bei einer unserer letzten Begegnungen. Sie erzählte mir im Vertrauen von einem neuen festen Freund. Wir saßen in einem Café zum Abendessen, als mir Fauzana relativ unvermittelt erzählte, dass sie einen neuen Freund habe. Einen Engländer. Ich fragte sie, ob sie sich verliebt fühle. Sie lächelte daraufhin verträumt und antwortete, dass sie in der Tat verliebt sei, aber noch nicht sofort an eine Ehe denke. Sie haben die gesamte letzte Woche gemeinsam verbracht und sich dabei wie ein richtiges Pärchen verhalten („like girlfriend and boyfriend“). (Gedächtnisprotokoll 18. Juni 2009) Fauzana selbst knüpfte im Gespräch ihre neue Liebesbeziehung unmittelbar an eine Ehe, auch wenn sie eine solche erst einmal ablehnte. Diese direkte Verknüpfung stand im Kontext der malaysischen Gesellschaft, in der das Führen von Liebesbeziehungen ohne Ehegedanken für die malaiisch-malaysische Bevölkerung nicht zur Norm gehört. Fauzana war dieser Umstand bewusst, sie genoss aber ihr Verhältnis zu ihrem neuen Freund auch ohne diese normierenden Gedanken im Hinterkopf. Wir unterhielten uns sechs Wochen später vertiefend über ihre Erfahrungen mit ihrem neuen Freund, während wir durch eine Shopping Mall bummelten. Bei diesem Treffen war eine weitere Freundin Fauzanas zugegen, deren kurze Abwesenheit die Fortführung unseres sensiblen Gesprächsthemas ermöglichte: Ich fragte Fauzana, was es denn genau bedeute, dass sie und ihr neuer Freund sich vor einigen Wochen „wie boyfriend and girlfriend“ verhalten haben. Sie strahlte und sagte, „like boyfriend and girlfriend“ seien sie gewesen, da sie zusammen auf die malaysische Insel Pulau Redang gefahren sind. Ich fragte, ob sie zusammen in einem Zimmer übernachtet haben. Sie bestätigte dies. Da sie selbst nicht näher darauf einging, hakte ich nach, welche Haltung der Vermieter des Zimmers dazu eingenommen hatte, dass sie nicht verheiratet sind. Sie sagte, das sei ein Ressort gewesen, in dem sich die Eigentümer nicht um die privaten Belange ihrer Gäste gekümmert haben. Wenn ihr Freund sie das nächste Mal besuchen wird, werden sie sich wieder schöne Orte aussuchen, in die sie gemeinsam ,fliehen‘ wollen, um ihre Ruhe zu haben, wie sie mir sagte. Ich fragte direkt, ob sie also die Insel als Flucht vor Kontrolle genutzt haben. Sie bestätigte dies. Ich fragte vorsichtig, ob sie sich geküsst haben. Sie kicherte und sagte „Sort of...!“ Ich gucke irritiert und wiederholte ihre Worte. Sie guckte mich an und sagte dann, dass sie sich in der Tat geküsst haben. Sie dürfe dies aber nicht

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vor ihrer Freundin sagen, die sich im Moment unseres Gespräches woanders aufhielt. Denn ihre Freundin sei viel religiöser als sie selbst und lehne derartige Kontakte zwischen unverheirateten Männern und Frauen ab. Ihre Freundin habe zwar auch einen Freund, aber deren Beziehung gestalte sich in Form von Kinooder Café-Gängen. Körperliche Nähe spiele für deren Beziehung keine Rolle. Fauzana erzählte nun, dass sie sich ihrem Freund auch ohne ihrem selendang32 zeige. Ich wollte nun genauer wissen, welches Gefühl sie dabei verspürt hatte. Sie antwortete, dass sie bereits ihrem früheren Freund ihre Haare gezeigt hatte. (Gedächtnisprotokoll 6. August 2009). Mit ihrem Ausflug auf die Insel Pulau Redang suchte sich Fauzana ihre eigene Strategie, um sexuelle Kontakte zu ihrem Freund ausleben zu können. Sie fuhr mit ihm an einen ,neutralen Ort‘, an dem sie niemand kannte und an dem ihr (nicht-)ehelicher Status nicht kontrolliert wurde. Sie vollzog ihre Handlungen auf Grund der herrschenden Verbote und kulturellen Normen ,heimlich‘ und behielt ihre Erfahrungen damit weitestgehend für sich. Dies war notwendig in einem Land, in dem staatlicherseits versucht wird, Sexualität von Frauen einzuschränken. Die Frauen sollen mit diesen Einschränkungen vor sexuellen Gelüsten männlicherseits ,geschützt‘ werden – mehr noch, sie sollen neutralisiert werden, da sie durch ihr nafsu die Inkarnation von ungezügeltem sexuellem Begehren darstellen (Ng, C./Maznah/tan 2007:141f.; Fatna 1984:113). In welchem Verhältnis stehen bei Fauzana Sexualität und muslimische Gebote zueinander? Wie mit den Aussagen Umis im Kapitel 6.3.2 eingeführt wurde, wird das Praktizieren sexualisierter Handlungen in der malaysischen Öffentlichkeit mit dem Konzept der Scham (malu) verbunden, um sie weitestgehend zu regulieren. Fauzanas verstohlene und unbeobachtete sexuelle Praktiken weisen auf ein Bewusstsein des außenstehenden Blickes hin, der sie mit dieser Scham belegte. In Fauzanas Fall wurde dieser Blick ganz konkret von ihrer Freundin eingenommen. Diese Freundin repräsentierte für Fauzana den gesellschaftlich normierten und akzeptierten Umgang mit partnerschaftlichen Beziehungen und Sexualität durch nichtkörperlich bezogene Handlungen in ihrer Liebesbeziehung. Ihre Freundin verkörperte mittels ihrer Religiosität die muslimischen moralischen Regeln und stellte somit eine Instanz dar, die Fauzanas sexuelles Handeln normierte. Fauzana entzog sich dieser Ebene, um nicht der Scham nach außen hin ausgesetzt zu sein. Fauzana entzog sich den moralischen – und auch rechtlichen – Verurteilungen ihrer sexuellen Praktiken, um einen weitergehenden aktiven Part einnehmen zu können. Im Sinne der Praktiken des malaiischen adat nahm sie ihren selen32 Ein Schal, der um den Kopf gewickelt wird und dadurch Nacken und Haare verdeckt.

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dang als sexuellen Akt ab und nutzte ihn somit als Mittel des Liebesspiels.33 Sie zeigte sich ihrem Freund mit unbedeckten Kopfhaar und schuf damit eine verbotene, erotisierte Situation. Fauzanas erotische, voreheliche Beziehung manifestierte sich weiterhin in den Küssen. Sie sprach zwar selbst aus, dass sie sich wie ein Pärchen auch küssend verhalten haben, ihr war das Gespräch über genauere Details aber unangenehm, was sich in ihren ausweichenden Aussagen bemerkbar machte. Ihr war bewusst, dass sie die gesellschaftlichen Normen mit ihrem Verhalten aktiv durchbrach. Durch ihre Strategie, ihre sexuellen Erfahrungen vor der Öffentlichkeit, ihrer Familie und den meisten FreundInnen geheim zu halten, setzte sie sich selbst Grenzen in ihrem muslimisch-eingebetteten Umgang mit ihrer Sexualität, die sie um Praktiken des adat erweiterte. Sie hielt damit selbstbestimmt Balance zwischen staatlich-religiösen Vorgaben, die Sexualität von Frauen zu kanalisieren und reglementieren suchen, und ihrer eigenen Handlungsmacht, diese Grenzen zu überschreiten. Zusammenfassend kann formuliert werden, dass der eheliche Rahmen für Malaiisch-MalaysierInnen die Legitimation für das Entwickeln von Sexualität und von heterosexueller Liebe darstellte. Das Konzept der Scham stellte hier eine Regulierung und Begrenzung von sexuellen Praktiken dar. Die Entwicklung einer romantischen Liebe ist Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzungen zwischen religiösen Institutionen, der malaysischen Regierung und jungen Paaren, die modernisierte Beziehungen eingehen wollen. Kontrastierung Nach der Vorstellung der sexuellen Werte und Praktiken in Malaysia wende ich mich abschließend noch einmal kontrastierend meinen chinesisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen in Singapur zu. Elizabeth und Yue Yan bezogen sich in ihren Erzählungen auf die Möglichkeiten, sich in Singapur den sexuellen Restriktionen Malaysias zu entziehen, die mit dem Islam verbunden sind. Die vorgestellten chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen wussten um die Möglichkeit in Singapur, sich mit ihren entsprechenden Partnern im öffentlichen Raum bewegen zu können ohne Angst haben zu müssen, dabei den moralisch regulierenden Blicken mit juristischen Konsequenzen ausgesetzt zu sein, mit denen sich meine malaiisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen tatsächlich konfrontiert sahen. Ich werde im nächsten Abschnitt den berührten Bereich, in dem Sexualität und sexualisierte Körper mit bestimmten Kleidungspraxen einhergehen, erweitern

33 Vgl. Kap. 5.2.2.

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und näher beleuchten. Dieser Bereich wurde bisher mit Masjalizas und Fauzanas Praktiken um das Kopftuch gestreift.

6.5 C HINESISCH -M ALAYSIERINNEN : K LEIDUNGSPRAXEN FÜR T RANSFORMATIONEN DES S ELBST Meine Gesprächspartnerinnen in Singapur disziplinierten ihre Körper mithilfe ihrer Kleidungsarten und verbanden diesen Bereich in erster Linie mit einer Modernisierung ihrer Körperpraktiken. 6.5.1 Inszenierungen ,moderner‘ Weiblich- und Männlichkeit In Singapur werden Bekleidungspraktiken von Frauen und Männern in Verschränkung mit Modernitätsdiskursen konturiert. Dieses Themenfeld leite ich mit einer Szene des selbstgeschriebenen und -inszenierten Theaterstücks des Studierendenwohnheims ,Kent Ridge Hall‘ der NUS ein. In dieser Szene vermittelten die StudentInnen einen Eindruck inszenierter Weiblich- und Männlichkeitsbilder (vgl. Abb. 13): Das Theaterstück handelte von Liebe, Eifersucht, Romantik. Die Darstellung der Geschlechter war in diesem Stück mehr als überspitzt. Ein junger indischer Mann verliebte sich auf den ersten Blick in eine chinesische Austauschstudentin: „She is so sweet! She is like... Ice Kachang!“34 Die Austauschstudentin wurde von ihren Kommilitoninnen als eine Rivalin wahrgenommen. Diese behandelten sie abschätzig, indem sie ,tratschend‘ und kichernd auf dem Sofa saßen, schlank, bekleidet mit sehr hochhackigen Pfennigabsatz-Schuhen, Minirock und bunten Oberteilen, gegebenenfalls mit einer Handtasche. In der nächsten Szene wurde deutlich, dass sich auch ein durchgestylter und gut gekleideter singapurischer Student in dieselbe Austauschstudentin verliebte. Seine Gesten waren raumeinnehmend und er stellte seinen schlanken und muskulösen Körper, wenn auch unter seiner Kleidung verdeckt, ausladend zur Schau. Damit strahlte er eine Haltung aus, die vermittelte: „Mir kann keiner was! Mir gehört die Welt!“ (Gedächtnisprotokoll 30. Oktober 2008)

34 Ice Kachang (Bohnen-Eis) ist eine lokale Spezialität aus geraspeltem Wasser-Eis mit Mais, roten Bohnen und verschiedenen bunten Sirups, die zusammen zu einem spitzen „Türmchen“ aufgeschichtet werden.

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Mit Bekleidungsweisen, wie sie im Theaterstück dargestellt wurden, präsentierten die StudentInnen ihre weiblichen bzw. männlichen Körper. Diese Körper wurden im Theaterstück als schlanke Körper dargestellt, die durch Sport und Diäten geformt waren und mithilfe entsprechender Kleidung inszeniert wurden. Die Frauen hoben ihre Beine mit hochhackigen Schuhen hervor, zeigten viel nackte Haut mithilfe der Miniröcke und unterstrichen ihre Weiblichkeit mit den Handtaschen. Der männliche Singapurer verlieh seinem muskulösen Körper durch die enge Kleidung eine eigene Art der Sichtbarkeit. Durch seine raumeinnehmende körperliche Erscheinung besetzte er den Raum sehr präsent, was ihm Einfluss verlieh.

Abbildung 13: Szene aus dem Theaterstück der ,Kent Ridge Hall‘

Trotz der überspitzten Darstellung der Geschlechter in Bezug auf ihre Gestik, Mimik und Kleidung sehe ich zumindest die weibliche Darstellung als realistisch an. Junge Frauen repräsentierten sich in ihrem Alltag in Singapur mit Kleidungsstücken, die für junge Menschen als äußerst ,weiblich‘ konnotiert gelten. So

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kleideten sie sich v. a. dann, wenn sie sich als heterosexuell verstanden und Kontakt mit Männern aufnehmen wollten. Ich erlebte mehrmals, wie sich junge Frauen mit hochhackigen Schuhen, Hot Pants und kurzärmeliger Rüschenbluse mit weitem Ausschnitt kleideten, wenn sie sich am Wochenende in den ,AusgehMeilen‘ Qlarke Quay, Chijmes oder dem Holland Village amüsieren wollten. In diesen Situationen setzten sie sich und ihre Feminität in Szene, um auf sich aufmerksam zu machen. Die oben beschriebene Darstellung von Männlichkeit sehe ich allerdings nicht als alltäglich, sondern als Inszenierung für die Bühne an. Junge Männer zeichneten sich im singapurischen Alltag nicht dadurch aus, dass sie viel Raum einnahmen, sondern verhielten sich im Gegenteil mit ihrer Stimme und ihrer Gestik eher zurückhaltend. Ganz ähnlich wie auf der Bühne werden auch in den singapurischen Medien Bilder von inszenierter Männlichkeit und alltäglicher Weiblichkeit transportiert: Auf ,RazorTV‘, der Plattform für Internet-TV des größten singapurischen Medienkonzerns, wurde im Dezember 2011 darüber berichtet, wie 45 muskulöse Männer mit nacktem Oberkörper in der Haupteinkaufsstraße Orchard Road posierten.35 Während ein Singapurer seine Teilnahme mit „It’s a macho thing“ kommentierte, kicherten viele vorbeikommende junge Frauen und konnten gerade einmal die einzigen Worte artikulieren: „It’s hot! They are really hot!“ oder „Sexy!“ Ein Passant, der zu jenem Zeitpunkt erst wenige Monate in Singapur lebte, kommentierte diese Szene mit: „This is the last thing I expect in Singapore. […] I used to think Singapore is a bit more conservative, but it really looks that it’s caught up with the times now“, und verwies damit auf eine Modernisierung der singapurischen Gesellschaft im Allgemeinen und der Männlichkeitsrollen im Speziellen mittels der Inszenierung von muskulösen, nackten Körpern. In diesem medial dargestellten Geschehen besetzten die Männer den öffentlichen Raum der Einkaufsmeile, stellten ihre ,modernen‘ Körper zur Schau – sogar noch deutlicher und noch mehr ,Macho‘ als in dem Theaterstück der Kent Ridge Hall. Die jungen Frauen, die ihnen während ihres Einkaufsbummels begegneten, verhielten sich mit ihrer temporären Unfähigkeit, sich weitergehend artikulieren und stattdessen v. a. kichern zu können, ähnlich unsicher wie diejenigen des Theaterstücks. Angesichts der körperbetonten Art, mit der sich meine Gesprächspartnerinnen an den Wochenenden zurechtmachten 35 Die Berichte, auf die ich hier verweise, sind seit dem 9.12.2011 zu sehen unter: http://www.razor.tv/site/servlet/segment/main/news/72106.html und http://www.razor. .tv/site/servlet/segment/main/news/72104.html vom 20.12.2011. ,RazorTV‘ ist das Internet-Fernsehen der größten singapurischen Tageszeitung ,The Straits Times‘, die in den Händen der Singapore Press Holding’s (SPH) Multimedia Centre ausgestrahlt wird.

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sowie der unsicheren Artikulationen der Passantinnen in den Medien schlussfolgere ich, dass die Schauspielerinnen der Kent Ridge Hall keine ,fremden‘ Rollen darboten, sondern sich selbst charakterisierten und somit auch ihr Verständnis von Weiblichkeit darstellten. Dies brachte meine Gesprächspartnerin Annapoorna während des Theaterstücks in einem Kommentar über eine besonders überzogen und unschuldig wirkende Studentin auf den Punkt: Sie sagte, dass sich die Studentin auf der Bühne genauso verhalte wie ,im echten Leben‘ auch. Welche Relevanz besaß die geschlechtlich normierte Körperlichkeit, so wie sie im Theaterstück in Szene gesetzt wurde, für die Akteurinnen? Über ihre Körper versicherten und/oder transformierten die StudentInnen Inszenierungen von Identifizierungen. Den Körper als Bühne für Zugehörigkeiten zu nutzen, beschreiben Giles und Middleton (2008:232) als einen grundlegenden Akt (nicht nur) in ,modernen‘ Gesellschaften. In einem auf Bildlichkeit fokussierten Medienzeitalter wird der Körper auf seine öffentliche Wirkung hin bearbeitet. Mit dem Körper wird nach außen ausgedrückt, wer man ist bzw. wie man selbst wahrgenommen werden möchte. So schreibt auch Bourdieu: „Der Körper, gesellschaftlich produzierte und einzige sinnliche Manifestation der ,Person‘, gilt gemeinhin als natürlichster Ausdruck der innersten Natur – und doch gibt es an ihm kein einziges bloß ,physisches‘ Mal“ (1987:310). Durch Körpermodellierungen mithilfe von Mode, Schmuck und Styling sowie durch Gestik und Mimik werden Selbstexpressionen auf ihre Wirksamkeit geprüft. Körper werden inszeniert und gestaltet, sie betreiben Sport, sie werden tätowiert, sie werden geschmückt und bekleidet. Kleidung wird erst dann eindrucksvoll, wenn sie von Körpern im Raum getragen und gestaltet wird. Das Einschreiben von gesellschaftlichen Idealen in den eigenen Körper ist stark mit Selbstbewusstsein und dem eigenen Selbstbild verknüpft. Der Körper stellt demnach eine Schnittstelle der inneren Ausdruckweisen und Bedürfnisse sowie äußerer Wahrnehmungen dar. In und über den Körper werden Kämpfe ausgetragen, so wird auch Geschlecht in den Körper eingeschrieben (vgl. Foucault 1994:14-25; Butler 1993, 1990). Mit geschlechtlich codierten Körperveränderungen wird eine Auseinandersetzung mit der eigenen geschlechtlichen Identifizierung gefordert, wie sie angesichts der hervorgehobenen und inszenierten Weiblich- und Männlichkeit auf der Bühne der ,Kent Ridge Hall‘ verhandelt wurde. In diesem Sinne sind „embodied subjects“ (Giles/Middleton 2008:235) nicht bloß biologische Entitäten, sondern an gesellschaftliche und ökonomische Prozesse gebunden und somit Ausdruck von Machtverhältnissen. Die Art sich zu kleiden ist demzufolge keine ,freie‘ Option, sondern ist an soziale Positionierung gebunden. Kleidung ist ein Element sozialer Ordnung.

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Für die Positionierung in der sozialen Ordnung ist Modernität ein wichtiger Referenzpunkt. Die Mittel der ,körperlichen Modernisierung‘ werden seit geraumer Zeit verbreitert und ausdifferenziert. Das Wissen um Ernährungsweisen und Sportarten, die den Körper formen (vgl. Klenke 2011) sowie um gezielte Gestik, Mimik und Kleidungsstile ist in Singapur der Mittelklasse vorbehalten. In den Körper werden seitens der Konsumgesellschaft Geld, Zeit und Kraft investiert. So avancieren Körper zu Symbolen von Leistung, Disziplin, Kreativität und Modernität. Mit diesem Verständnis rekurrierte die als ,schön und schlank‘ inszenierte Weiblich- und Männlichkeit des erwähnten Theaterstücks auf Assoziationen mit einer konsumierenden, ,modernen‘ Mittelklasse. 6.5.2 Exponieren weiblicher Körperteile in Singapur, Verhüllung weiblicher Körper in Malaysia Kleidung wird für die chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen in Singapur angesichts ihrer angestrebten ,modernen‘ Mittelklasse-Zugehörigkeit zu einem Distinktionsmerkmal sozialer Ungleichheit. Dieses Distinktionsmerkmal verdichtete sich am Aspekt der lokalen kulturellen und religiösen Kleidungsstile. Als ich meine Gesprächspartnerin Elizabeth nach den Unterschieden zwischen den Bekleidungsnormen in Malaysia und Singapur fragte, klassifizierte sie die malaysischen als ,konservativ‘.36 Das ,Konservative‘ begründete sie vordergründig mit der Normierung seitens der malaiischen Bevölkerung: „Their [The Malaysian’s] thinking-wise, and the way they dress-up, they are more conservative with it. Some of the girls wouldn’t expose… […] [A] lot of them. Some Malaysians are like that. Because it depends of what kind of family background you come from. Like some of even the Chinese Malaysians. It depends on where they come from. Like a Malay school, so they are more influenced, more of the Malay background. Because Malay they need to be conservative. Ya. […] So maybe they are just influenced by that.“ (13. Oktober 2008) Elizabeth deutete unter dem Stichwort des ,konservativen‘ an, dass sich malaysische Mädchen und junge Frauen je nach ethnischem Umfeld nicht äußerlich exponieren würden. Dies treffe besonders zu, wenn die entsprechenden Mädchen oder jungen Frauen viel Kontakt mit der malaiisch-malaysischen Bevölkerung

36 Elizabeth bezeichnete die automatische Einordnung eines Mannes und einer Frau in der malaysischen Öffentlichkeit als ,Pärchen‘ indirekt ebenfalls mit ,konservativ‘ (s. Kap. 6.3.2).

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hatten, z. B. auf Grund des gemeinsamen Schulbesuchs. Elizabeth eröffnete mittels ihrer Kommentierung des ,konservativen‘ eine Gegenüberstellung mit ,fortschrittlicheren‘ oder – der Wirkmächtigkeit modernitätsbezogener Weiblichkeitsdiskurse entsprechend – ,modernerer‘ Normen, die ich auf Grund ihrer Position des Sprechens mit Singapur verbinde. Was Elizabeth genau mit körperlicher Freizügigkeit meinte, führte sie nicht weiter aus. Meine Gesprächspartnerin Doreen Hemmy berichtete hingegen davon, was sie unter körperlichem Exponieren in Malaysia verstand und welche Unterschiede sie zu entsprechenden Verhaltensweisen in Singapur sah: Ich unterhielt mich mit Doreen über den Einfluss muslimischer Werte auf die gesamte Bevölkerung Malaysias. Sie sagte, sie sehe einen derartigen Einfluss beim Tragen von Kleidung. Sie würde in Malaysia nie kurze Hosen oder SpaghettiTräger-Shirts tragen, die sie als „sexy clothes“ bezeichnete. Höchstens ausnahmsweise, wenn sie zu einer Hochzeit fahren würde und sich nur im Auto und bei den Feierlichkeiten aufhalten würde, aber nicht, wenn sie draußen umherlaufen würde. Sie würde dies deshalb nie in Malaysia tun, da sie sich sonst unwohl fühlen würde. Denn das Tragen kurzer, entblößender Kleidung gehöre nicht in das öffentliche Bild Malaysias, da dort Zurückhaltung gefordert werde. Sie wählte ein genaueres Beispiel aus ihrer Schulzeit: im Schulsport in Malaysia haben sie immer lange Trainingshosen getragen. Je nach Lehrerin konnten sie dreiviertellange Shirts oder kurzärmlige Shirts tragen. Aber bei den langen Hosen habe es keine Ausnahme gegeben. Als sie später für die höhere Schule nach Singapur kam, habe sie gesehen, dass dort in kurzen Shorts Sport betrieben wurde. Es sei ihr vorher nie bewusst gewesen, dass man auch in kurzen Hosen Sport treiben könne, sagte sie. Sie und die anderen malaysischen Schülerinnen in Singapur haben erst weiterhin in langen Hosen Sport gemacht, da sie sich in kurzen Hosen unwohl fühlten. Sie sagte, manche haben die langen Hosen relativ schnell abgelegt, nämlich diejenigen, die nun froh waren, endlich leichte und luftige Kleidung in dem heißen Klima tragen zu können. Sie selbst habe erst nach ungefähr einem Jahr das erste Mal in kurzen Hosen Sport betrieben. Teilweise gehen ihr die singapurischen Kleidungsarten aber zu weit. In der Uni würden viele singapurische Studentinnen mit ,Hot Pants‘, Spaghetti-TrägerShirts und ,Flip Flops‘ zu ihren Professoren in die Sprechstunden gehen, was sie unpassend finde. Sie gehe normalerweise „less casual“, also mindestens mit knielanger Hose und kurzärmliger Bluse oder Shirt bekleidet. (Gedächtnisprotokoll 23. Dezember 2009)

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Nach Doreen exponiere man sich dann als Frau in Malaysia, wenn man bestimmte Körperteile durch ,sexy Kleidung‘ nackt zeige – ähnlich also wie sich die Studentinnen auf der Kent-Ridge-Hall-Bühne mit viel nackter Haut inszenierten. In Malaysia musste Doreen als chinesisch-orientierte Malaysierin zumindest im Schulsport stets lange Kleidung tragen, da sie eine staatliche Schule mit besonders hohem Anteil an malaiisch-malaysischen SchülerInnen besuchte.37 Das Tragen von langen Hosen und T-Shirts war die Mindestanforderung an alle Schülerinnen. Ober- und Unterarme waren für die Chinesisch- und IndischMalaysierinnen (außer Gesicht, Nacken und Haaren) die einzigen Körperteile, die sie in der Öffentlichkeit nackt zeigen durften. Nach Doreen ist Frauen in Malaysia das Zeigen nackter Schultern und nackter Rücken nur temporär in nichtöffentlichen Kontexten außerhalb einer muslimisch-malaiischen Gemeinschaft vorbehalten. Im öffentlichen Bereich Malaysia bestand die generelle Mindestanforderung für Frauen auch über den Schulsport hinaus demnach darin, Schultern und Beine zu bedecken. Wie schon die sexualitätsbezogenen Praktiken des vorherigen Abschnitts stehen diese Kleidungsnormen im Kontext religiöser, nämlich muslimischer, Werte und Normen. Die malaiisch-malaysischen Frauen müssen neben Haaren und Nacken auch die Arme bis zu den Handgelenken und die Beine bis zu den Knöcheln bedecken und dürfen keine weiten Ausschnitte tragen. 38 Elizabeth drückte diesen Vorschriftscharakter mit „Malay they need to be conservative“ aus. Wie die im vorherigen Unterkapitel erläuterten Gebote zu Sexualität im öffentlichen Raum ist die muslimische Religion erneut maßgeblicher Orientierungspunkt für Frauen aller malaysischen Bevölkerungsgruppen. Die muslimischen Bekleidungsvorgaben zum Bedecken der Schultern und Beine legte Doreen in Singapur ab – wenn auch zögerlich. Beim Sport war das Ablegen der langen Kleidung im tropischen Klima eine praktische Erleichterung. Doreen hatte die malaysischen, ,sittlichen‘ Normen allerdings derart verinnerlicht, dass sie die körperlich entblößenden Möglichkeiten in Singapur zumindest im formalen Umfeld der Universität als unpassend empfand. Sie nutzte die körper- und kleidungsbezogenen Möglichkeiten in Singapur somit bewusst nicht für sich aus. Angesichts des Alltagshandelns ihrer Kommilitoninnen sah sie zwar die Möglichkeit der knappen Bekleidung im öffentlichen Raum Singapurs. Mit ih37 Die alltägliche Schulkleidung von chinesisch- und indisch-malaysischen Schülerinnen – nicht die für den Schulsport – ist normalerweise kurzärmelig und mit einem knielangen Rock. Sie können zwar das Baju Kurung der malaiisch-malaysischen Schülerinnen für sich wählen, dies ist mir während meiner Beobachtungen aber nicht begegnet. 38 Vgl. Kap. 5.2.2.

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rem Bezug darauf, was ,passend‘ und was ,unpassend‘ im Sinne einer normativen und moralischen Argumentation sei, entschied sie sich dennoch dagegen. 6.5.3 Widersprüchliche modernisierte Körper Bisher wurden in diesem Abschnitt Modernitätsaspirationen anhand von Kleidungspraktiken auf der einen und die Wirkmächtigkeit muslimisch-malaysischer Gebote im Hinblick auf weibliche Bekleidung auf der anderen Seite deutlich. Doreen transformierte ihre entsprechenden Alltagshandlungen in Singapur nach und nach durch das Ablegen ihrer langen Trainingshose. Mit welchen Bedeutungszuweisungen veränderte Doreen ihre körper- und kleidungsbezogenen Handlungen und warum entzog sie sich gleichzeitig der vollen Ausschöpfung körperlich freizügigerer Optionen in Singapur? Für Doreen als ehemalige Schülerin eines singapurischen Elitecolleges und Studentin einer singapurischen Universität entfalteten hier besonders die Debatten der singapurischen Mittelklasse Wirkungsmacht. Sie handelte die geschlechtlich codierten Mittelklasse-Debatten über weibliche Körper mittels kurz- oder langärmeliger und -beiniger Kleidung aus. Frauen sind in Singapur breiten Diskussionen um ihre Rolle und ihre Körper, Schönheit und Sexualität ausgesetzt: Männer diskutieren als selbsternannte Experten in sogenannten Frauenzeitschriften über Äußerlichkeiten von Frauen und greifen dadurch figurativ auf ihre Körper zu. 39 Frauen lernen nach PuruShotam (1998a:137) männliche Bedürfnisse kennen und können sich in ihrer Weiblichkeit diesen Bedürfnissen anpassen. In Singapur wird der weibliche, urbane und junge Körper in Diskursen und Alltagsdebatten geformt, die von Männern dominiert werden. Infolge des konfuzianischen Hintergrunds, in dem Männer an der Spitze von zwischenmenschlichen Beziehungen verortet werden, ist die ,moderne‘ Gesellschaft sehr stark männlich geprägt. Die öffentlichen, männlichen Bezüge auf weibliche Körper, Sexualität und ihre ,Sexyness‘ werden von großen Teilen der Gesellschaft als Zeichen einer ,modernen Zeit‘ gewertet. Denn in der als ,altmodisch‘ erachteten Vergangenheit sind öffentliche Bezugnahmen auf weibliche Körper und Sexualität tabu gewesen (PuruShotam 1998a:137). Doreen modernisierte sich und ihren Körper, indem sie kurze Hosen und damit nach ihren Worten ,sexy‘ Kleidung trug. Mittels 39 PuruShotam (1998a:137) zitiert in diesem Zusammenhang aus der Titelgeschichte „Our Bodies. The Bits the Singapore Man likes Best“ der singapurischen Zeitschrift „Go“. In diesem Artikel schreiben zwei Männer darüber, dass 80 % der singapurischen Männer an weiblichen Körperteilen ,Brüste‘ favorisieren würden. Im Gegensatz zu westlichen Männern würden sie jedoch nicht möglichst große und pralle Brüste wie bei Dolly Parton begehren, sondern ,proportionale‘ Größen.

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der selbstgesetzten Grenzen ihrer körperlichen Freizügigkeit, indem sie z. B. in den Professoren-Sprechstunden längere Kleidung trug, schränkte Doreen gleichzeitig modern konnotierte männliche Macht über ihren Körper ein. In Singapur werden nicht nur öffentliche Kommentierungen von Männern über weibliche Körper, sondern im Mittelklasse-Kontext ebenso die eigenständigen Handlungspraxen von Frauen als ,modern‘ interpretiert.40 Doreen entschied sich dazu, sich stets in einem moralischen Rahmen zu bewegen, der muslimischmalaysisch vorgeprägt war. Diese Entscheidung traf sie trotz der Möglichkeit, Oberschenkel, Schultern und oberen Rücken nackt zeigen zu können. Durch ihre bewusste Wahl zwischen den Handlungsoptionen in Singapur eröffnete sie sich eigens kontrollierte Handlungsräume. Diese bewusste Wahl konnte sie auf Grundlage ihrer Erfahrungen in zwei normativen Systemen (in Malaysia und in Singapur) treffen, die sie miteinander in Beziehung setzte. In Malaysia hingegen reproduzierte sie unwidersprochen die vorgeschriebenen Bekleidungsnormen. Sie gestaltete ihren Körper und die Grenzen ihrer Selbstpräsentation durch ihren Körper in Malaysia nicht derart aktiv und bewusst wie in Singapur. Die Selbstpräsentation in Singapur blieb somit nicht nur an der körperlichen Oberfläche, also an der Kleidung, verhaftet. Doreens eigene Handlungsmacht über die Ausgestaltung ihres Körpers in Singapur zeigt, dass sie im Zielland ihrer Bildungsmigration infolge der Auseinandersetzung mit lokalen geschlechtsbezogenen Mittelklassediskursen auch ihr Bewusstsein sich selbst gegenüber verändert hat. Sie veränderte während dieser Adoleszenzphase nicht nur die Art sich zu kleiden, sondern auch die Art, sich selbst zu sehen und mit sich umzugehen. Sie erlebte somit eine Transformation des Körpers und des Selbst. Moderne Weiblichkeit zeichnet sich in Singapur durch einen paradoxen Handlungsraum aus: Die ,modernen‘ weiblichen Körper werden innerhalb einer Öffentlichkeit konstituiert, die von Männern kontrolliert wird. So sind sie männlichen diskursiven Zugriffen ausgesetzt, wie mit der oben benannten Zeitschrift beschrieben. Hier verbleiben Frauen, obwohl sie moderne Weiblichkeit aktiv herstellen und verkörpern, eher im passiven Objektstatus. Moderne Weiblichkeit bedeutet in Singapur aber gleichzeitig auch, als (Mittelklasse-)Frau Handlungsmacht zu besitzen. Die ,modernen‘ passiven weiblichen Körper, die auf Grundlage von männlicher Präsenz konstituiert sind, bleiben also ,modern‘ konnotiert durch die aktive Entscheidung über Einschränkung derselben männlichen Präsenz, wie sie Doreen vornahm. Die bewusste Selektivität der Aneignung von Geschlechterdiskursen und Alltagsreden zu Körperlichkeit ist somit vielseitig, mithin widersprüchlich in der Interpretation dessen, was ,Modernsein‘ als Frau in Singapur bedeutet. 40 Vgl. Kap. 3.3.4.

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Abschließend kann ich festhalten, dass sich die chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen wie Doreen die singapurischen Bekleidungsstile bedingt aneigneten, die sie als weniger restriktiv empfanden und damit ihre als modern gewertete weibliche Identifizierung konstituierten. Eine Grenze im Tragen von ,sexy Kleidung‘ setzte sich Doreen in formalen Kontexten, womit sie sich selbst und ihren Körper hinsichtlich des männlichen, diskursiven Zugriffs auf ihren Körper kontrollierte. Doreen ,modernisierte‘ ihren Körper also durch selbstbestimmte Aneignung singapurischer freizügigerer Möglichkeiten. Elizabeth schätzte die malaysischen Bekleidungsnormen und -praxen als ,konservativ‘ ein. Meine malaiischen Gesprächspartnerinnen in Malaysia schufen sich ganz eigene Wege, um sich und ihre Körper mittels Kleidung als ,modern‘ zu inszenieren – und empfanden sich damit sicher nicht als ,konservativ‘, wie im Folgenden ausgeführt wird.

6.6 M ALAIISCH -M ALAYSIERINNEN : K LEIDUNGSPRAXEN , R ELIGION UND H ANDLUNGSSPIELRÄUME Die Bekleidungsarten der jungen Malaiisch-Malaysierinnen meiner Studie gestalteten sich sehr heterogen. Sie variierten nach Stadt-Land-Distinktion und nach der Generationenzugehörigkeit. Erste Brüche in den von Doreen als stringent beschriebenen muslimischen Bekleidungsnormen stelle ich mit meiner Gesprächspartnerin Safinaz vor. 6.6.1 Spielräume muslimischer Bekleidungsarten Safinaz trug in ihrem Alltag als gläubige Muslima tudung, Jeans und kurzärmelige Shirts. Sie war zur Zeit unserer Gespräche 24 Jahre alt und absolvierte einen Master in Mathematik an der UM in Kuala Lumpur. Safinaz kommt aus ländlichem Gebiet in Terengganu. Mit ihrer Gewohnheit, ihre Unter- und Oberarme mit kurzärmeligen Shirts nicht zu bedecken, durchbrach sie nicht nur die muslimischen Bekleidungsvorgaben in Malaysia. Sie unterschied sich damit auch konkret von ihrer Mutter, welche nach wie vor in dem ländlichen Gebiet in Terengganu lebte, und deren Art sich zu kleiden:

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Während Safinaz und ich im ,First-Lady-Laden‘, der auf malaiische Baju Kurungs41 spezialisiert ist, herumbummelten und ich ihr zeigte, welches Baju ich mir für die bevorstehende Hochzeitsfeier von Masjaliza42 gekauft hatte, fiel mir auf, dass sie ein kurzärmeliges Shirt trug. Ich fragte sie danach. Sie antwortete lapidar: „Warum sollte ich kein kurzes Shirt tragen? Es ist doch immer viel zu heiß in dieser langen Kleidung!“ Sie rechtfertigte sich nicht nur mit dem heißen Klima, sondern auch damit, dass es v. a. in Kuala Lumpur kein Problem sei, sich derart zu kleiden. Manche Malaiisch-Malaysierinnen würden in der Hauptstadt auch gar kein Kopftuch tragen, andere auch sehr enge, knappe und transparente Kleidung. Ich fragte sie, ob sie in ihrem ländlichen Herkunftsort in Terengganu auch kurzärmelige Shirts trage. Ja, das tue sie. Sie meinte, dass es für ihre Eltern auch in Ordnung sei, wenn sie selbst kurze Oberteile trage. Ihre Mutter ermahne sie jedoch regelmäßig und erinnere sie daran, dass ihre kurzärmelige Bekleidung eigentlich nicht in Ordnung sei. Sie würde dann nur antworten: ,Ich weiß‘. Ihre Mutter frage dann nicht weiter. Safinaz sagte, sie sei in der Bekleidungsfrage einfach pragmatisch. Z. B. trage sie auch fast nie ein Baju Kurung. Das möge sie nicht, da es so unpraktisch sei. Sie fahre im Alltag nämlich Moped und sie wisse einfach nicht, wie sie mit diesem Kleidungsstück Moped fahren soll. „Das ist doch viel einfacher in Jeans! Ich habe es einmal mit Baju Kurung ausprobiert und nur gerufen: ,Hilfe! Wie geht das?!‘“ Seitdem habe sie es nie wieder probiert, sondern einfach sein gelassen. (Gedächtnisprotokoll 31. Mai 2009) Safinaz respektierte die muslimischen Bekleidungsnormen und erkannte diese grundsätzlich für sich an. Das tudung war dabei Ausdruck ihres muslimischen Glaubens. In der Hauptstadt gebe es angesichts der Alltagserfahrungen mit anderen Malaiisch-Malaysierinnen auch die Möglichkeit, das Kopftuch ganz abzulegen, wie sie sagte. Meinen Beobachtungen zufolge trugen in KL und anderen größeren Städten Malaysias wie Johor Bahru (JB) und Georgetown/Penang tatsächlich mehrere junge Malaiisch-Malaysierinnen kurzärmelige Shirts und kein Kopftuch. Safinaz’ Art, sich mit langer Hose und Kopftuch, aber mit unbedeckten Armen zu präsentieren, begegnete mir indes nur selten. Mit ihrer Art der Oberbekleidung schuf sie sich als gläubige Muslima ihren Spielraum, den sie mit den Umständen in der Hauptstadt, in die sie für ihre tertiäre Bildung Land-Stadtmigriert ist, ermöglicht sah. 41 Ein Baju Kurung besteht aus einer weiten, langärmeligen Bluse und einem relativ weiten, knöchellangen Rock. 42 Safinaz war eine sehr gute Freundin von Masjaliza, die mit ihrer Hochzeit in Kap. 6.2 eingeführt wurde.

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Mit ihrer Hervorhebung der Hauptstadt KL als Ort, in dem junge Frauen flexiblere Möglichkeiten in den Bekleidungsarten haben, schuf Safinaz Dichotomien zwischen Stadt und Land sowie zwischen den Generationen. Auch meinen Beobachtungen zufolge trugen ältere Frauen in ländlichen Gebieten ausschließlich lange Kleidung – wie Safinaz es auch für ihre Mutter andeutete. Aber auch die junge Generation trägt in ländlichen Gebieten normalerweise lange und auch weite Kleidung. Selbst an der UKM nahe der Kleinstadt Bangi, die sich nur 20 km von der Hauptstadt entfernt befindet, trugen junge malaiisch-malaysische Studentinnen bereits mehrheitlich das Baju Kurung, das Safinaz ablehnte. Als Kopftuch nutzten sie meist statt kurzem tudung einen langen hijab, der die weibliche Silhouette weitestgehend verdeckt. Ich sah auch Studentinnen, die hautfarbene Socken trugen. Die männlichen Studenten trugen hingegen in der Hauptstadt, in Bangi und darüber hinaus in ländlichen Gebieten Jeans und schlabbrige T-Shirts. Das formale Gegenstück für Männer zum Baju Kurung, das Baju Melayu, trugen sie im alltäglichen Regelfall nicht, sondern nur bei festlichen Anlässen wie Hochzeiten oder dem muslimischen Feiertag Hari Raya Aidilfitri. 43 Dass malaiischmalaysische Männer den festlichen, formalen Baju Melayu auch im Alltag tragen konnten, war während meiner Forschungsaufenthalte nie Gegenstand gesellschaftlicher oder alltäglicher Diskussionen. Nur für die Frauen forderten Regierung und fundamentale dakwah-Bewegung eine besondere körperliche Repräsentationsart, die mithilfe von langer Kleidung Sittsamkeit und Zurückhaltung ausdrücken sollte und sich im malaiischen Baju Kurung manifestierte. In der Hauptstadt KL kam der weiblichen Kleidungsform des Baju Kurung in einem Alltag mit Jeans und Langarmshirt, Bluse oder Shirt eine besondere, gewissermaßen kulturell bewusste, Bedeutung zu. 6.6.2 Ethnische Identifizierung mittels weiblicher Bekleidung Die besondere Bedeutungszuweisung an das alltägliche Tragen des Baju Kurungs seitens junger Frauen in der Hauptstadt erkannte ich dank der ersten beiden Treffen mit meiner Gesprächspartnerin Adilah, die in Kapitel 6.2 mit ihren Transformationen von Weiblichkeit durch ihre Bildungslaufbahn bereits vorgestellt wurde. Bei unserem ersten Treffen vor zehn Tagen trug Adilah ein helles, geblümtes Baju Kurung, wobei mir auffiel, dass sie keine Strümpfe trug und ihre Füße in den Sandalen sowie ihre Knöchel in der Öffentlichkeit zu sehen waren. Heute, bei 43 Zum Hari Raya Aidilfitri vgl. Kap. 6.2.2, Fußnote 12.

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unserem zweiten Treffen trug sie eine lange blaue Jeans, dazu ein dunkles, enges, langärmliges Oberteil sowie ein schwarzes tudung. Ich fragte sie, warum sie letztes Mal ein Baju Kurung getragen habe und heute nicht. Hinter versteckter Hand und mit einem Kichern antwortete sie, dass sie beim letzten Mal das Baju Kurung deshalb getragen habe, um einen ,guten Eindruck‘ bei mir zu machen. Sie habe so ihre malaiische Kultur präsentieren wollen. Denn auf Grund meines ,Aufrufs‘ an malaiisch-malaysische Studentinnen, sich bei Interesse für meine Forschung bei mir zu melden,44 habe sie wegen der ethnischen Spezifizierung das Bedürfnis gehabt, ihre ,malaiische Kultur‘ mir gegenüber hervorzuheben. Normalerweise trage sie im Alltag je nach Belieben Jeans und Bluse bzw. Shirt oder Baju Kurung. (Gedächtnisprotokoll 29. April 2009) Durch Adilahs alltäglichen Kleidungsstil in KL mit Jeans, Shirt und Kopftuch wurde evident, dass das Baju Kurung für sie körperliche Repräsentation ihrer ,malaiischen‘ Kultur darstellte. Damit markierte dieses Kleidungsstück die Schnittstelle von innerem Selbstbild und dem Wunsch nach äußerer Wahrnehmbarkeit. 45 Sie wollte sowohl ihre Verbundenheit mit der von ihr assoziierten ,malaiischen Kultur‘ hervorheben als auch von mir als eine Malaysierin wahrgenommen werden, die sich selbstbewusst auf ihre malaiische Identifizierung bezog. Während die Bekleidung des malaiischen Baju Kurungs für junge Frauen in ländlichen Gebieten zur alltäglichen Norm gehörte, wird es in der Hauptstadt besonders als Ausdruck ethnischer Identifizierung getragen. 6.6.3 Religiöse Vorgaben und subjektive Handlungsstrategien Für eine tiefergehende Kontextualisierung der körperlichen Repräsentationen von Frauen werde ich den bisher angerissenen Bereich, die Kleidungsstile mit Religiosität und Geschlechterbildern zu verbinden, genauer betrachten. Wie mit Safinaz’ Option der kurzärmeligen Shirts bereits angedeutet, setzten auch meine weiteren malaiisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen die pragmatisch begründeten Modifizierungen muslimischer Kleidungsnormen, z. B. beim MopedFahren, nicht unbeherrscht um, sondern vollzogen sie in bestimmten, religiös motivierten Grenzen. So stöhnten einige meiner Gesprächspartnerinnen etwa angesichts des heißen Klimas über die Unbequemlichkeit der langen Kleidung. Masjaliza zog sich immer sehr schnell den tudung und die darunter liegende

44 Vgl. Kap. 1.2 45 Vgl. Kap. 6.5.1.

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Strickmütze 46 vom Kopf, sobald wir bei ihr zu Hause waren. Anschließend tauschte sie ihre lange Jeans und ihr langärmeliges Shirt schnell gegen eine kurze Hose und bspw. ein Spaghetti-Träger-Shirt aus. Trotz unangenehmer Hitze legte sie die lange Kleidung und das Kopftuch als gläubige Muslima in der Öffentlichkeit nicht ab. Etwaige Grenzen innerhalb der religiösen Kleidungsnormen erkannte ich auf einem Foto von ihr beim Basketball-Spiel: Beim Sport knotete sie sich ihr Kopftuch im Nacken so zusammen, dass es zwar die Haare bedeckte, der Nacken selbst aber weitestgehend frei blieb. Sie balancierte den praktischen Umstand der übersteigerten Hitze während des Sports mit den muslimischen Bekleidungsnormen aus. Für meine Gesprächspartnerinnen gab es innerhalb des von außen festgelegten Rahmens die Dimension der religiös motivierten, eigenständigen, subjektiven Entscheidung, das Kopftuch zu tragen, wie es auch meine Gesprächspartnerin Siti verdeutlichte: Siti erklärte mir, dass es die Entscheidung jeder einzelnen malaiischen Frau in Malaysia sei, ob sie ein Kopftuch tragen will, oder nicht. Es gebe in Malaysia kein Gesetz, das die Frauen dazu zwinge. Die Entscheidung richtet sich stattdessen nach der eigenen Gläubigkeit. Die gläubigen Muslima gehen davon aus, dass sie ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit sündigen. Die Konsequenz dessen sei, dass über sie vor dem ,Jüngsten Gericht‘ im Leben nach dem Tod (akhirat) bestrafend gerichtet wird. Wer nicht daran glaubt, habe demnach keinen Grund, ein Kopftuch zu tragen. Ich fragte sie daraufhin irritiert, warum die Regierung allen MalaiischMalaysierInnen vorschreibt, muslimisch zu sein, den muslimischen malaiischmalaysischen Frauen aber gleichzeitig nicht vorschreibt, ein Kopftuch zu tragen. Darauf wusste sie sofort eine Antwort. Sie sagte, das Mindeste, was eine Muslima oder einen Muslimen ausmache, seien das Einhalten von Rukun Iman und Rukun Islam. Beide werden im Qur’an beschrieben. Rukun Iman beinhalte sechs Teile: 1) Glaube an Allah, 2) Glaube an den Propheten Mohamed, 3) Glaube an den Qur’an, 4) Glaube an Engel, was bedeute, an Dinge, die man nicht sehen könne, 5) Glaube an das Schicksal (Qadar), 6) Glaube an das Jüngste Gericht (akhirat). Rukun Islam beinhalte fünf Teile: 1) Sich zum Glauben bekennen, 2) fünf Mal täglich beten, 3) Fasten während Ramadan, 4) Reise nach Mekka, 5) Zahlen der Steuer für die Armen (zakat). Nach dieser Erklärung sagte sie freu46 Die Haare werden in Malaysia nach den muslimischen Bekleidungsnormen mit einer Strickmütze bedeckt und diese wiederum mit dem Kopftuch. Ansonsten würden gerade bei hellen Kopftüchern die Haare durchscheinen, also für Männer in der Öffentlichkeit (bedingt) zu erkennen sein. Zudem schützt die Strickmütze das Kopftuch vor Schweißgeruch.

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dig: „Du siehst, da steht nichts davon, dass man als Frau ein Kopftuch tragen muss, oder?“ (Gedächtnisprotokoll 4. Juni 2009) Für meine Gesprächspartnerinnen waren also vorrangig religiöse Argumente wichtig bei der Art, sich und den Körper in der Öffentlichkeit darzustellen. Geschlechterideologische Argumente spielten in diesem Zusammenhang ebenfalls eine wichtige Rolle. Meinen Gesprächspartnerinnen war sehr bewusst, welchen geschlechterrelevanten Aspekt das Verdecken des weiblichen Haares impliziert. Masjaliza erklärte mir, dass sie als Malaiisch-Malaysierinnen lange Kleidung und das Kopftuch in zwei Situationen tragen: Wenn männliche, nichtverwandte Gäste ins Haus kommen oder wenn sie sich als Frauen in der Öffentlichkeit, also unter Fremden, bewegen. Diese Regel erklärte sie mir mit dem aurat, den Körperteilen, die sie Männern nicht zeigen dürfen.47 Es sei in der Öffentlichkeit für eine Malaiisch-Malaysierin lediglich erlaubt, Gesicht und Hände zu zeigen. Meine Gesprächspartnerin Siti wählte noch deutlichere Worte für die Begründung des Bedeckens des weiblichen Haars. Ich fragte Siti, warum die muslimischen Frauen ihre Haut und die Haare verdecken sollen. Sie antwortete, dass es die Männer sexuell erregen würde, wenn eine Frau viel Haut zeige. Eine Frau bedecke Haut und Haare, um sich so selbst vor den Männern und ihrer sexuellen Lust zu schützen. Ein Kopftuch und die lange Kleidung seien deshalb wichtig zu tragen, da alle Frauen von Natur aus hübsch und attraktiv seien. Egal, ob man aussehe wie ein ,Model‘, oder ob man dick sei. Man sei als Frau dennoch schön. Deshalb solle man ihrer Meinung nach als Frau so viel Haut wie möglich verdecken. Ihrer Ansicht nach sollen die Frauen speziell das Kopftuch tragen, da sie dadurch nicht so einfach „sexy“ Kleidung anlegen würden. So könne man sich selbst ,austricksen‘. (Gedächtnisprotokoll 29. April 2009) Siti machte die muslimischen Frauen zum Objekt männlicher Wirkmächtigkeit, indem sie der Meinung war, Frauen müssten sich mit langer Kleidung bedecken, um sich vor männlichen übergriffigen Handlungen zu schützen. Sie folgte damit der institutionalisierten Argumentation, die Männer ihrer Verantwortung von sexuellen Übergriffen auf Frauen enthebt und sie stattdessen Letzterer zuschiebt.48 Meiner Gesprächspartnerin Siti war ihre zugeschriebene Verantwortung für das Einschränken von männlichen Grenzüberschreitungen folglich sehr bewusst. 47 Masjaliza wies bereits in Kap. 6.2 auf das aurat hin, als sie sich auch ihrem Ehemann Ramli vor ihrer Ehe nicht ohne Kopftuch zeigte. 48 Vgl. Kap. 5.2.2.

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Insgesamt lässt sich feststellen, dass sich meinen malaiisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen in der Hauptstadt mehr Handlungsspielräume für die Präsentationen ihrer Körper als in ihren ländlichen Herkunftsgebieten eröffneten. Mit ihren Bekleidungsarten bewegten sie sich innerhalb der gesetzten religiösen und ideologischen Grenzen. Kontrastierung Mit diesen Ausführungen im Hintergrund wende ich mich noch einmal den kleidungsbezogenen Einschätzungen meiner chinesisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen in Singapur zu. Diese stellten die langen Kleidungsstücke in Malaysia als ,konservativ‘ (wie Elizabeth) oder als ,unpraktisch‘ (wie Doreen) dar. Die Möglichkeiten der Malaiisch-Malaysierinnen, sich in der alltäglichen Öffentlichkeit mit Jeans und kurzärmeligen Shirts zu zeigen, prägten nicht das Bild Elizabeths und Doreens von malaysischer Alltagskleidung. Sie stellten sich vielmehr Frauen vor, die Rumpf, Arme und Beine stets bedecken würden. Auch wenn die muslimischen Bekleidungsvorgaben von den Akteurinnen variiert wurden, gab es dennoch Situationen, in denen sich weder Malaiisch-, noch Nichtmalaiisch-Malaysierinnen Spielräume schaffen konnten. Das Baju Kurung ist in Malaysia nicht nur eine stoffliche Möglichkeit, äußerlich die malaiische Kultur in den Vordergrund zu rücken, wie es für Adilah wichtig war. Gleichzeitig stellt es die formale Kleidung für Frauen aller Bevölkerungsgruppen dar. 49 Bei wichtigen Geschäftsterminen oder bestimmten Büroarbeitsplätzen müssen auch Chinesisch- und Indisch-Malaysierinnen das Baju Kurung tragen. Das Kopftuch gehört nicht dazu, dies ist ausschließlich religiösen Kontexten vorbehalten. Somit müssen sich Nichtmalaiisch-Malaysierinnen in formalen Situationen den ethnisch- oder kulturell konnotierten körperlichen Ausdrucksweisen anpassen, während sie den religiösen nicht unterworfen werden. Dies entspricht der malaysischen Politik, ausschließlich der malaiisch-malaysischen Bevölkerung die Religionszugehörigkeit zum Islam vorzuschreiben, den anderen Bevölkerungsgruppen jedoch ihre eigenen religiösen Ausdrucksweisen offiziell und praktisch zuzugestehen. Es waren vermutlich nicht zuletzt diese formalen Anlässe, die Elizabeth in ihrer Migrationssituation als ,konservativ‘ erinnerte. 49 Es gibt in Malaysia noch eine weitere formale Kleidungsart für Frauen: das Baju Kebaya. Das entsprechende Oberteil ist tailliert geschnitten. Es wird mit einem Sarung getragen, einem quadratischen Stück Stoff, das als langer Rock um die Taille gewickelt wird. Baju Kebaya ist also körperbetont, während Baju Kurung weit und gerade geschnitten ist. Das Tragen des Baju Kurung begegnete mir aber sehr viel häufiger. Besonders in formalen, institutionalisierten Kontexten habe ich das Baju Kebaya nur sehr selten beobachten können.

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Resümee Die Ausführungen dieses Kapitels haben gezeigt, dass für die chinesischmalaysischen Migrantinnen dieser Studie die hohe Bildung in Singapur der Schlüssel zu einer veränderten Identifizierung als Frau v. a. durch die zukünftige Zugehörigkeit zur Mittelklasse darstellte. Die Zugehörigkeit zu dieser Klasse füllten die chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen inhaltlich mit Modernität und Weiblichkeit. In ihrem Herkunftsland war ihnen eine ,moderne‘ Identifizierung als Malaysierin nur schwer möglich. Die idealtypischen Weiblichkeitsrollen in Malaysia werden von offizieller Seite für ,moderne‘ malaiisch-malaysische Frauen hergestellt. Die chinesisch-malaysischen Akteurinnen ließen durch ihre Aneignungspraxen in Singapur gleichzeitig Aushandlungsprozesse bzgl. malaiischer Wertvorstellungen hinter sich. In diesem Zusammenhang formulierten sie Geschlecht und Modernität als an Ethnizität und Religion gekoppelt. Mit ihren diesbezüglichen Unternehmungen und Imaginationen entwarfen die chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen während ihres Lebensausschnitts Bilder von Weiblichkeit in der malaiisch-malaysischen Bevölkerung, die sie als nicht erstrebenswert erachteten. Durch die multilokale und multiperspektivische Forschungsmethode konnten nicht nur gegenseitige Zuschreibungen erfahrbar werden. Das aktive Erschließen von Handlungsmöglichkeiten hinsichtlich Familie, Sexualität, romantischer Liebe und Körperlichkeit konnte auch seitens malaiisch-malaysischer Studentinnen aufgezeigt werden. Sie verfolgten ihre eigenen Strategien und Wünsche, mit denen sie sich zwar alle als gläubige Muslima positionierten, teilweise aber muslimische, staatlichsideologische und juristische Vorgaben von weiblicher Moralität durchbrachen. Dies verweist auf den Konstruktionscharakter der Biographien meiner chinesisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen. Sie erzählten nicht von faktischen Gegebenheiten in Malaysia und in Singapur, sondern betonten je nach räumlichem Kontext bestimmte Themen und schufen Bilder, die nicht unbedingt mit der Praxis übereinstimmten.

7. Grenzen weiblicher Transformationen

Im vorangegangenen Kapitel 6 habe ich Transformationen weiblicher Identifizierungen im Kontext von Geschlecht, Bildung und Migration für die verschiedenen Akteurinnen diskutiert. In diesem Kapitel 7 widme ich mich der Frage, unter welchen gesellschaftspolitischen Bedingungen Akteurinnen Grenzen hinsichtlich der im vorherigen Kapitel erläuterten weiblichen Transformationen erfahren haben. Die Auseinandersetzung mit diesen Grenzen erachte ich als notwendig, um die bisher diskutierten Handlungserweiterungen der AkteurInnen infolge ihrer Bildungsmigration genauer zu fassen und anhand dessen die Bildungsmigration nicht als Weg von unbegrenzten Möglichkeiten misszuverstehen. Auf Grundlage der gesellschaftlichen Positionierungen durch entsprechende soziale und ökonomische Ressourcen schrieben die AkteurInnen im vorhergehenden Kapitel Weiblichkeit im Bildungsmigrationsprozess spezifische Bedeutungen zu. Einzelne Gesprächspartnerinnen konnten allerdings nicht auf diese Ressourcen zurückgreifen und positionierten sich dadurch gerade nicht als junge Frauen in der englischsprachigen, christlichen, chinesisch-malaysischen und zuweilen singapurischen Mittelklasse. Andere konnten auf Grund einer differenten historischen Zeitphase nicht auf diese Ressourcen zurückgreifen. Damit verbunden gestalteten sie mittels ihrer Bildungsmigration auch die Transformationen ihrer weiblichen Identifizierungen auf eine andere Weise bzw. wiesen dieser Identifizierung eine differente Bedeutung zu. Grenzen in der Erweiterung von Handlungsoptionen durch Bildungsmigration wurden mir demzufolge im Zusammenhang mit der Klassen- und der Generationenzugehörigkeit präsentiert. Das Erleben von Grenzen in der Bildungs(-migrations-)laufbahn durch die Klassenzugehörigkeit wird im nächsten Schritt anhand der biografischen Narrationen meiner chinesisch-malaysischen Gesprächspartnerin Cui Hong erläutert. Diese Grenzen korrelierten wiederum mit ihrem Selbstbild als Partnerin in einer ro-

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mantischen Liebesbeziehung. Mit dieser analytischen Spannungslinie fokussiere ich innerhalb meines Analyserahmens Gendered Power Hierarchies in Space and Time zum einen die Machthierarchie der Klasse. Zum anderen verschränke ich diesen Bereich angesichts der Aushandlungsprozesse um das Konzept der romantischen Liebe mit der gesellschaftlichen, transnationalen und globalen Ebene von geschlechtlich codierten Aushandlungsprozessen.

7.1 K LASSENZUGEHÖRIGKEIT ALS G RENZE FÜR B ILDUNG UND ROMANTISCHE P ARTNERSCHAFT Cui Hong war zur Zeit unserer Gespräche 23 Jahre alt und wohnte als Studentin der Volkswirtschaftslehre in ihrem letzten Jahr in einer Hall auf dem Campus der NUS. Im Jahr 2000 ist sie mit 15 Jahren von Melaka an der Südwestküste Malaysias nach Singapur migriert, um dort mithilfe eines Stipendiums die Highschool abzuschließen. Mit einem bestimmten Thema ragte Cui Hong aus dem Kreis meiner Gesprächspartnerinnen heraus: Voller Leidenschaft, Neugier und Neid rückte sie stets das Motiv der Liebesbeziehung in den Mittelpunkt unserer Gespräche. Dieses Motiv bezog sie fortwährend auf meine eigene Beziehung zu meinem langjährigen Freund. „How did you really know that you are in love?“, „How long was your longest time of separation?“ oder „How often do you argue with him?“, fragte sie mich immer wieder aus, während sie ihren Freundinnen bei gemeinsamen Zusammenkünften freudig und unmittelbar mitteilte: „Viola and her boyfriend, they are so sweet!“ oder „I’m envious!“. Mit diesen Aussagen wurde nicht nur der intersubjektive Kontext, in dem eine Lebensgeschichte konstruiert wird, deutlich. Mit der auf Partnerschaft bezogenen Vehemenz, die ich ausschließlich bei ihr kennen lernte, ergaben sich auch bestimmte Vorstellungen, mit denen sie ihren Lebensabschnitten Bedeutung zumaß. Wie nachfolgend erläutert wird, gestaltete sie ihre Lebensgeschichte mit Bezügen auf ihre Klassen-, Religions- und Sprachzugehörigkeit, die in Relation zu den biografischen Hintergründen der bisher vorgestellten Gesprächspartnerinnen verstanden werden sollten. 7.1.1 Eine ,traditionelle‘ ArbeiterInnenfamilie Cui Hong kommt aus einer bildungsfernen ArbeiterInnenfamilie. Ihre Eltern heirateten 1982 mit 18 Jahren. Beide Elternteile hatten 12 bzw. 13 Geschwister und sind selbst in ArbeiterInnenfamilien aufgewachsen. Cui Hongs Großvater väter-

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licherseits arbeitete als Maler und Fußbodenverleger, ihre Großmutter väterlicherseits war Hausfrau. Ihre Großmutter mütterlicherseits soll deshalb früh gestorben sein, weil sie eine sehr aggressive und unglückliche Frau gewesen sei, wie Cui Hong sagte. Unglück und Wut kamen wohl auf durch ihren Mann, der ihr als Spieler („gambler“) viele Sorgen bereitet haben soll. Cui Hongs Mutter arbeitete vor ihrer Hochzeit als maid für reiche Familien, später verrichtete sie Heimarbeit für Fabriken. Ihr Vater arbeitete als Bauarbeiter. Cui Hongs Mutter hatte in ihrem Leben keine Schulbildung genossen. Ihr Vater hatte einen Teil der Grundschule absolviert, was nach Cui Hong gleichbedeutend mit „nothing“ sei. Cui Hong reflektierte das Bildungsgefälle zwischen sich selbst als (fast) Graduierte der Eliteuniversität NUS und ihren Eltern folgendermaßen: Cui Hong erzählte mir, dass ihre Eltern derart ungebildet seien, dass sie nie verstehen würden, was sie selbst studiere und wie sie ihr Geld verdienen werde. Deshalb erkläre sie ihnen immer auf einem ganz einfachen Niveau, dass sie später in einer Bank arbeiten werde, so dass sich ihre Eltern eine Vorstellung davon machen können. (Gedächtnisprotokoll 8. Dezember 2008) Für ein Verständnis von Cui Hongs sozialer Mobilität spielen innerfamiliäre Elemente wie Religion, Sprache und Geschlecht zentrale Rollen. Cui Hongs Familie ist in Bezug auf ihre Religiosität und sprachliche Praxis sehr ,chinesisch‘ geprägt. Alle Familienmitglieder sind BuddhistInnen.1 In ihrem Haus in Melaka haben sie einen kleinen Schrein, an dem sie täglich beten. Cui Hongs Ausspruch „Oh, I’ m happy with being a Buddhist!“ anlässlich meiner Frage nach der Bedeutung dieser Religion für sie, zeigte ihre eigene Verbundenheit mit dieser Religion. In ihrem Elternhaus wird Hokkien – ein chinesischer Dialekt – gesprochen. Mit diesen familiären Hintergründen wie den mangelnden ökonomischen Ressourcen, der Bildungsferne der Eltern, dem buddhistischen Glauben und dem Sprechen eines chinesischen Dialekts ist Cui Hong in einem Umfeld aufgewachsen, das als ,traditionell‘ charakterisiert wird. Denn im Gegenzug dazu wird ,Modernität‘ im lokalen Kontext u. a. über Bildung und ökonomisches Kapital konstituiert (O’Keeffe 2003:34; DeBernardi 2001:126; Clammer 1991:22) und

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In Malaysia werden die als ,chinesisch‘ angesehenen Religionen meist in vermischter Ausprägung von buddhistischen, taoistischen und ahnenverehrenden Elementen praktiziert. Cui Hong bezeichnete ihre Familie und sich selbst ausschließlich als BuddhistInnen/Buddhistin, so dass ich ihre Eigenbezeichnung beibehalte.

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mittels Atheismus und Mandarin oder Christentum und englischer Sprache reproduziert.2 Abbildung 14: Hausschrein in Tiong Bahru, Singapur

Cui Hong kommt nicht nur aus einer bildungsfernen ,chinesisch geprägten‘ und ,traditionellen‘, sondern auch aus einer frauengeprägten ArbeiterInnenfamilie. Als Cui Hongs Mutter 19 Jahre alt war, bekam sie ihre erste Tochter, die zweite folgte zwei Jahre später. Cui Hong als die dritte und jüngste Tochter bekam sie weitere drei Jahre später. Cui Hong wuchs demnach mit zwei älteren Schwestern auf, von denen die älteste Schwester zur Zeit unserer Gespräche 28 Jahre und die mittlere 26 Jahre alt war. Die beiden älteren Schwestern wohnten zu jener Zeit in ihrem Elternhaus, ein kleines Haus mit drei Zimmern, in Melaka. Cui Hong wurden in ihrem unmittelbaren Familienumfeld ohne Bruder und mit zwei Schwestern in erster Linie verschiedene Frauenrollen vorgelebt. Die transportierten Geschlechterrollen in Cui Hongs Elternhaus waren demnach grundsätzlich auf Frauen zentriert. 2

Vgl. Kap. 2.3.2, „Religion“.

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Dieser ,traditionelle‘, bildungsferne ArbeiterInnenhintergrund mit weiblichem Lebensumfeld stellt die Basis dafür dar, wie sich Cui Hong im Hinblick auf ihren Bildungsweg und ihren Identifizierungen als Frau weiter präsentierte. 7.1.2 Bildungsaufstieg Mit dem Eintritt in den Kindergarten kam Cui Hong das erste Mal in Kontakt mit institutionalisierter Bildung. Seit sie fünf Jahre alt war, besuchte sie in Melaka einen gemischtgeschlechtlichen Kindergarten. Ihre Schwestern gingen im Gegensatz zu ihr in keine solche Einrichtung, da sie dies nach Cui Hongs rückblickender Aussage nicht wollten. Im Nachhinein begründete sie ihren eigenen Besuch des Kindergartens damit, dass sie ,anders‘ als ihre Schwestern gewesen sei. Welche Rolle spielte dieser Eintritt in den Kindergarten für Cui Hongs spätere Bildungsbiographie und ihr Bild von Weiblichkeit? Institutionalisierte Bildung gewann für sie früh als Einzige in der Familie an Wichtigkeit. Denn ein Kindergarten bereitet u. a. auf die schulische Laufbahn vor. In dieser Einrichtung lernte Cui Hong erstmalig bildungsspezifische Lernmittel wie Bücher und Gesang kennen. Darüber hinaus erlebte sie mit ihren Erzieherinnen nun auch Schlüsselpersonen für das Interesse an Bildung. Cui Hongs weitere Laufbahn beeinflusste ihren Bildungserwerb nun v. a. verschränkt mit der Kategorie Geschlecht. Nach dem Kindergarten kam sie mit sieben Jahren in die Schule, wie in Malaysia üblich. Sie besuchte in Melaka sowohl während der Grundschulzeit wie auch später in der Lower Secondary School eine chinesische Mädchenschule. Die Geschlechterbilder, die ihr in den institutionellen Einrichtungen vermittelt wurden, waren von hier an stark auf Frauen bezogen. Cui Hongs Bezugsgruppe war nicht nur im familiären Umfeld, sondern auch im sozialen schulischen Umfeld eine weibliche Gemeinschaft. Jungen blieben ihr zwangsläufig ein Stück weit fremd, bzw. ihnen war mit Vorsicht zu begegnen. Diese Vorsicht hatte sie konkret durch ihren spielsüchtigen Großvater kennen gelernt, der von ihrer Familie als negatives Rollenmodell herangezogen wurde. In ihrem Schulalltag verbanden sich die Faktoren Geschlecht, Bildung und Klasse. Anlässlich ihres Eintritts in die Grundschule konnte Cui Hong nun ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass Bildung ebenfalls Teil eines bildungsfernen, weiblichen ArbeiterInnenlebens werden kann. Während ihre Mutter als Mädchen einer ArbeiterInnenfamilie nie eine Schule besucht hatte und ihre Schwestern durch den Wegfall des Kindergartens erst relativ spät mit Bildung in Berührung kamen, lernte Cui Hong diese Werte (früh) kennen. Ihr Vater war derjenige, der

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nach Cui Hongs Aussage Bildung als wichtig angesehen habe und sich für seine Kinder „so viel Bildung wie möglich“ gewünscht habe, wie sie mir sagte. Der – zumindest theoretisch gewünschte – väterliche Bildungsauftrag muss im Zusammenhang mit Geschlechterrollen und Bildungsrelevanz gesehen werden. In buddhistisch/konfuzianisch geprägten Haushalten, in denen nur geringe Erfahrungen mit weiblicher sozialer Mobilität durch Bildung gegeben sind, ist die Vaterrolle als männliche Familieninstanz relativ präsent (vgl. Nuyen 2004:209). Dass der Vater in dieser Familie den Bildungswunsch formulierte, ist somit nicht verwunderlich. Er äußerte hohe Erwartungen an Bildung, die in konfuzianischen Vorstellungen als maßgebliches Mittel zum Erfolg angesehen wird.3 Neben diesen Bildungserwartungen bewegte er sich auch in einer Zeit von staatlichen Modernisierungsideologien, die Frauen zukünftig ein (ökonomisch) unabhängigeres Leben versprachen.4 Demnach wünschte er sich für seine Töchter nicht nur eine konkrete schulische Ausbildung, sondern ein erfolgreicheres Leben im Allgemeinen – vermutlich ein Leben, das sie aus den Schwierigkeiten des ArbeiterInnenlebens herausbringen kann. Die Vorstellungen darüber, wie die schulische Laufbahn im Alltag gestaltet werden sollte, differierten je nach Familienmitglied. Aber nicht nur der Vater wünschte sich den Bildungserwerb für Cui Hong. Sie selbst stellte sich mir gegenüber als eine junge Frau dar, für die Bildung stets ein bewusster, zentraler Bereich ihres Lebens ausmachte: Cui Hong erzählte mir, dass ihre Mädchenschule nach einem Umzug sehr weit weg von ihrem Wohnort gewesen sei. Ihre Schwester habe sie deshalb jeden Morgen auf ihrem Motorroller mit zur Schule genommen. Wenn ihre Schwester krank gewesen sei oder aus anderen Gründen nicht zur Schule fahren konnte, war es auch Cui Hong nicht möglich, zur Schule zu kommen. „Aber ich wollte so gern!“, kommentierte sie ihre Erzählung. Es habe sie sehr verärgert, wenn sie wegen ihrer Schwester nicht in die Schule gehen konnte. Besonders verärgert habe sie dabei ein regelmäßiger Ausspruch ihrer Eltern, der etwa lautete: „Was regst du dich denn so auf, es ist doch nur ein einziger Tag, an dem du nicht in der Schule bist.“ Cui Hong sagte, dass ihre Eltern ihre Ambitionen, jeden Tag zur Schule gehen zu wollen, einfach nicht verstehen konnten. (Gedächtnisprotokoll 1. März 2009) Die Vehemenz, mit der Cui Hong für ihren Schulbesuch eintrat, verweist auf den Beginn eines aktiv gesteuerten Bildungsaufstiegs. 3

Vgl. Kap. 2.3.2, „Bildung“.

4

Vgl. Kap. 3.3.1 und 3.3.4.

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7.1.3 Abwägung von Chancen und Risiken auf dem Bildungsweg Cui Hongs Bildungsaufstieg nahm infolge ihrer Bildungsmigration nach Singapur rasant an Tempo zu. Mit 15 Jahren wechselte sie von der chinesischmalaysischen Mädchenschule auf die Methodist Girls’ School (MGS)5 in Singapur. Nach ihrer Laufbahn auf chinesisch-, also mandarinsprachigen, Schulen musste sie in Singapur mit dem englischen Sprachtest kämpfen, den sie die ersten Male nicht bestand. Ein wichtiges Argument für die Wahl dieser Schule war ökonomisch motiviert. Cui Hong bekam von der MGS ein Stipendium. Dies erhielt sie, obwohl sie keine Christin war, da die Stipendien nicht grundsätzlich an die Religion gebunden sind. Allerdings habe sie sich dort als Buddhistin oft benachteiligt gefühlt, wie sie mir erzählte: Auf der MGS habe es einige Mitschülerinnen gegeben, die Cui Hong zum Christentum bekehren wollten. Außerdem sei hinzugekommen, dass sie montags immer in die schuleigene Kapelle gehen mussten. Das sei immer hart für sie gewesen, da der Pastor beim Beten etwa gesagt habe: „Wir beten für diejenigen, die in die Hölle kommen werden“ und damit habe er alle Menschen gemeint, die keine Christen waren, wie sie mir erzählte. Sie sagte etwas verärgert: „But I also have a god in my heart.“ (Gedächtnisprotokoll 9. November 2008) Mit dem Besuch der christlichen, englischsprachigen MGS entschieden sich Cui Hong – bzw. ihre Eltern – für eine gute Bildung, obwohl sie dadurch Einschränkungen bzgl. ihrer Religion und ihrer Sprachpraxis zu erfahren hatte. Nach Abschluss der MGS wechselte sie auf das weiterführende Victoria Junior College (VJC) in Singapur, das ebenfalls englischsprachig und christlich orientiert ist. Das VJC ist eins der drei besten Colleges in Singapur. Dieses College bildete einen Einschnitt in Cui Hongs mädchenspezifischer Bildung, da es gemischtgeschlechtlich organisiert ist. Dies rief bei ihr Verunsicherungen in Bezug auf Jungen und jungen Männern hervor bzw. verstärkte ihre Verunsicherungen, die sie angesichts der Erfahrungen mit ihrem schwierigen Großvater mütterlicherseits bereits zu spüren bekommen hatte. Cui Hong beschrieb ihr Verhältnis zu jungen Männern, ausgehend von der vorherigen Mädchenschullaufbahn, folgendermaßen:

5

Die MGS ist diejenige Schule, die auch Doreen Hemmy und andere meiner Gesprächspartnerinnen besucht haben.

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Cui Hong erzählte mir von sich aus, dass sie es überhaupt nicht gut finde, dass sie so lange auf reinen Mädchenschulen war, obwohl es grundsätzlich ja auch gemischtgeschlechtliche Schulen in Malaysia gebe. Sie habe auf den Mädchenschulen nicht gelernt, mit Jungs umzugehen. So sei es immer etwas sehr Besonderes gewesen, wenn es mal zu einem Treffen mit Jungs gekommen sei. Ab und zu gab es z. B. ein von der Schule organisiertes eintägiges Camp mit Jungs von einer anderen Schule zusammen. Dann seien alle immer sehr aufgeregt gewesen. Sie sagte, wäre sie von Anfang an auf einer gemischtgeschlechtlichen Schule gewesen, wäre eine Interaktion mit Jungs doch völlig normal gewesen, sie hätte normale Freundschaften zu Jungs gehabt. Mit dieser Trennung werde doch erst eine Art Problem oder Besonderheit daraus gemacht, wie sie sagte. (Gedächtnisprotokoll 7. Februar 2009) Aus Cui Hongs Erzählungen wird deutlich, dass sie ihre langjährigen mangelnden sozialen Beziehungen zu Jungen als problematisch und als Nachteil empfand. Durch den mangelnden Kontakt zu Jungen lernte sie nur bedingt, Beziehungen zwischen den Geschlechtern zu gestalten. Für ihren Erwerb einer guten Ausbildung, der sie bis zum College konsequent über Mädchenräume führte, verzichtete sie somit nicht nur auf Annehmlichkeiten bzgl. ihrer religiösen und sprachlichen Zugehörigkeiten, sondern auf bestimmten Ebenen auch auf geschlechtsbezogene Interaktionen. 7.1.4 Studium als Unterstützung der Familie Nach Abschluss ihrer schulischen Ausbildung begann Cui Hong ein Studium der Volkswirtschaftslehre an der NUS mit einem Stipendium der singapurischen Regierung. Cui Hongs Studienfachwahl war Ausdruck einer familiären Verpflichtung. Sie konnte die Entscheidungen über ihre universitäre Laufbahn nicht unabhängig von ihrer Familie treffen. Sie habe ihr ökonomisches Studienfach dementsprechend nicht aus persönlichem Interesse oder Leidenschaft gewählt, wie sie mir erklärte. Sie hätte lieber Psychologie studiert. Aber da sie aus einer armen Familie komme, hoffe sie, dass sie mit den späteren finanziellen Möglichkeiten auf Grundlage ihres Studienabschlusses ihre Familie unterstützen könne. Sie hatte zur Zeit unserer letzten Gespräche 2009 bereits eine Zusage für eine einjährige Arbeitsstelle in der Deutschen Bank in Singapur. Sobald sie eigenes Geld verdiene, werde sie ihren Eltern monatlich 500 Singapur Dollar6 überweisen, wie sie mir erklärte. Als ich sie 2010 wiedertraf, erzählte sie mir freudig,

6

Etwa 270 Euro.

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dass sie ihren Eltern nun monatlich 1000 Singapur Dollar überweise und sie den Eltern gemeinsam mit ihren Schwestern ein neues Haus gekauft habe. Während sie ihr Studium u. a. deshalb absolvierte, um ihre Eltern finanziell unterstützen zu können, machte sie gleichzeitig ihren Eltern den Vorwurf, dass diese kein Geld für ihre Bildung gespart hatten: Cui Hong erzählte mir, dass sie während ihrer Suche nach finanzieller Unterstützung für ein Studium in England7 sehr verärgert über ihre Eltern gewesen sei. Sie habe in England einen Studienplatz für Psychologie bekommen. Da die britische Universität keine Stipendien anbot, sei Cui Hong zu jeder Bank in Melaka gegangen, um nach finanzieller Unterstützung zu fragen. Die Banken geben ihre Kredite allerdings nur an reiche Menschen, wie sie sagte, also an diejenigen, von denen sie erwarten können, dass sie das Geld auch wieder zurückzahlen. Deshalb habe sie nicht in England studieren können. Sie sei so verärgert gewesen und habe gedacht: „Warum haben unsere Eltern nie für unsere Bildung gespart?!“ (Gedächtnisprotokoll 1. März 2009) In Cui Hongs Familie war das Geld stets knapp und musste für den alltäglichen Familienunterhalt mit Kraftanstrengung aufgebracht werden. In diesem Gefüge hatte Bildung auf der praktischen Handlungsebene erst einmal nicht höchste Priorität. Dementsprechend mussten Cui Hongs Schwestern früh grundlegende ökonomische Aufgaben innerhalb ihrer Familie übernehmen. Beide mussten bereits ab dem Alter von 13 Jahren halbtags Lohnarbeit verrichten. Cui Hongs älteste Schwester schloss die High School ab und arbeitete anschließend als Lieferantin. Cui Hongs Aussage zufolge bereue ihre älteste Schwester oft ihre Lebenssituation und hätte im Nachhinein auch gerne eine bessere Ausbildung absolviert. Ihre mittlere Schwester habe auch VWL mithilfe eines Kredits studiert, allerdings in KL, Malaysia. Zur Zeit unserer Gespräche arbeitete sie als Buchhalterin. Mit ihren Einkommen unterstützten die Schwestern die Eltern regelmäßig finanziell. Wie stehen in dieser Familie die Geschwisterfolge und Bildung im Verhältnis zueinander? Die materielle Unterstützungsleistung der Familie gegenüber nahm in Cui Hongs Familie von Tochter zu Tochter ab, während der Bildungsauftrag von Tochter zu Tochter zunahm (vgl. Chan, A./Davanzo 1996:33). Da die älteste Schwester früh Geld nach Hause brachte, konnte die mittlere Schwester bereits ein Studium absolvieren, zog aber anschließend zur familiären Unterstützung wieder in ihr Elternhaus ein. Cui Hong bekam dank eines Stipendiums 7

Cui Hongs Traum war ein Studium in England, den sie aus finanziellen Gründen nicht umsetzen konnte.

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die Möglichkeit, sich auf ihre Bildungslaufbahn zu konzentrieren, ohne dem ökonomischen Druck der Familie derart unmittelbar nachgehen zu müssen. 7.1.5 Mittels Bildungsaufstieg zu einer ,modernen Frau‘ werden Mit dem Eintritt in die christlichen und englischsprachigen singapurischen Eliteschulen MGS und VJC und später in die NUS ging Cui Hong nicht nur den Weg exzellenter Bildung, sondern gleichzeitig auch den Weg in ein als ,modern‘ konzipiertes Lebensumfeld. Wie in Kapitel 4.1.3 bereits erläutert wurde, wird eine Migration von Malaysia nach Singapur lokal als eine Migration in ein ,modernes‘ Land verstanden. Für Cui Hong kam zu dieser ,geografischen Route der Modernität‘ hinzu, dass sie sich aus einem ,traditionell‘ erachteten chinesischsprachigen, buddhistischen Umfeld in ein ,modern‘ angesehenes englischsprachiges und christliches Bildungsumfeld bewegte. Mit der Darstellung dieser Lebensabschnitte konstruierte Cui Hong für sich eine Biographie, die von einem ,traditionellen‘ Ausgang immer ,moderner‘ wurde. Mit ihren Ambitionen, jeden Tag zur Schule gehen zu wollen, und ihren Gesuchen nach einem Stipendium für ein Studium in England betonte Cui Hong ihre eigene Initiative, die sie für ihre schulische Laufbahn gezeigt hatte. Sie präsentierte sich als dynamische Akteurin, die in der Lage gewesen war, die Trägheit ihres ,traditionellen‘ Hintergrunds zu überwinden. Damit passte sie sich in den bildlichen Ausdruck der self-made (wo-)man ein. Mit diesem Topos wird eine dynamische Kraft betont, mit der ein Individuum Grenzen der eigenen Umwelt überwindet. So verlieh Cui Hong ihren eigenen Alltagsreden einen ,modernen‘ Ausdruck. Sie privilegierte das Individuum – sich selbst – und konstruierte das ,Traditionelle‘ ihrer Biographie als etwas Statisches und Limitierendes, dem es zu entfliehen galt. Cui Hong nutzte also nicht nur ,Modernität‘ und ,Traditionalität‘, um ihre Biographie zu kreieren. Auf einer anderen Ebene ist ihre erzählte Lebensgeschichte typisch ,modern‘ in der Art, wie sie Cui Hong konstruierte. Mit ihrem Wegzug aus dem ,traditionellen, chinesischen ArbeiterInnenumfeld‘ in den ,modernen‘ Nachbarstaat Singapur setzte sich Cui Hong auch auf eine ambivalente Art und Weise mit den Konzepten von ,Traditionalität‘ und ,Modernität‘ auseinander. Mit ihrem Schritt ,in die Moderne‘ blieb sie gleichzeitig der ,Traditionalität‘ ihres familiären Umfeldes verbunden: Singapur ist von Melaka vier Stunden mit dem Bus entfernt, was für eine Strecke von Singapur nach Malaysia geografisch gesehen relativ nah ist. Ihr Wegzug aus ihrem ,traditionellen Umfeld‘ war somit gleichzeitig ein Wegzug in eine nicht zu weit entfernte ,Modernität‘. Damit verband Cui Hong diese beiden Lebensrealitäten

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und hielt diese ambivalenten Bande während ihres Studiums durch monatliche Besuche ihres Elternhauses aufrecht. Ihre Erfahrungen des ,modernen‘ Bildungswegs wollte Cui Hong an andere Menschen weitergeben. Unmittelbar nach Abschluss ihres Studiums und vor Antritt ihrer Arbeitsstelle in der Deutschen Bank plante sie, sich für ein zehntägiges soziales Projekt in China zu engagieren. Cui Hong hat im Internet ein privat organisiertes Projekt in China gefunden, in dem sie mitarbeiten möchte. Das sei ein Projekt von einer sehr armen Lehrerin, die Kinder Mandarin lehrt. Das Projekt sei in einer ländlichen Gegend angesiedelt, in der Kinder keine Bildung erfahren und somit keine Chancen für die Zukunft haben, solange sie kein Mandarin lernen. In dem Projekt werden ca. 30 Kinder unterrichtet, von denen elf Waisen sind. Diese elf Waisenkinder wohnen in der winzigen Wohnung des Bruders dieser Lehrerin. Cui Hong erzählte darüber sehr emotional berührt, sie schien sehr traurig über solche Umstände zu sein. (Gedächtnisprotokoll 10. Januar 2009) Mit ihrem Wunsch, sich in China sozial zu engagieren, bezog sich Cui Hong positiv auf ihr chinesisches – und damit ,traditionell‘ konnotiertes – Umfeld. Sie bewies damit ihr Bewusstsein für die Verbindung zwischen ihrem eigenen ,modern‘ imaginierten Bildungsaufstieg mit der ,Traditionalität‘ ihrer Familie. Ihren eigenen Weg projizierte sie auf die Situation der Kinder in China, die ihrer Ansicht nach Hilfe durch Bildung für soziale Mobilität benötigten. Cui Hong war diesen Weg bereits erfolgreich gegangen und wollte ihn an andere Menschen weitergeben. Bei unserem nächsten Treffen einen Monat später erzählte sie allerdings bedrückt, dass sie nicht nach China fahren wird, da ihre Eltern ihr die Arbeit in diesem Projekt nicht erlaubt haben. Sie erachteten es als zu gefährlich und hätten Angst davor, dass Cui Hong in dem armen, ländlichen Gebiet Chinas entführt werden könnte. In diesem Moment, in dem sie den Wünschen ihrer Eltern nachgab, konnte sie das Bild von sich als ,moderner‘, selbstbestimmt handelnder Frau (noch) nicht auf der konkreten Handlungsebene umsetzen. Ihre ambivalenten Modernitätsaspirationen setzte Cui Hong außer durch ihre Migration nach Singapur und den Reiseplanungen nach China auch durch Europareisen um. Sie hielt sich bereits drei Mal für Sprachkurse bzw. Auslandssemester in Frankreich auf und nutzte diese Gelegenheiten, um von dort aus nach Deutschland und Spanien zu reisen. Über ihre künftige Arbeitsstelle in der Deutschen Bank standen ihr zudem eine Schulung in London und Frankfurt in Aussicht. Während wir uns in einem Restaurant bei französischem Wein und italienischer Pasta über Europa unterhielten, kommentierte sie dies mit „Oh, it makes

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me missing Europe!“ Sie sei so gelangweilt von Singapur und wolle fort nach Europa. Die intersubjektive Dimension unserer Beziehung machte deutlich, dass Cui Hong Vorstellungen von Modernität an eine Leidenschaft für europäisches Essen koppelte. Modernität, so wird deutlich, ist kein abstraktes, trockenes Konzept, sondern Quelle und Motiv großer Sehnsucht mit konkreten Auswirkungen im Alltag der Akteurin. Dieses symbolisch aufgeladene Konzept liefert Dynamiken und Energien, um die eigene Situation zu reflektieren, in Gedanken durchzuspielen und bestenfalls zu verändern. 7.1.6 Sehnsucht nach ,moderner romantischer Liebe‘ Den Modernisierungsgedanken, den Cui Hong mit ihrer Sehnsucht nach Europa ausdrückte, konkretisierte sie auch auf der Geschlechterebene. Wie zu Beginn dieses Kapitel eingeleitet, orientierte sich Cui Hong an einer romantischen Liebesbeziehung. Dieses ,moderne‘ Konzept der Beziehungsführung assoziierte Cui Hong in Abgrenzung zu ,traditionellen‘, ökonomisch basierten Beziehungen des Arbeiterumfelds: Ich fragte Cui Hong, ob sie später heiraten möchte. Sie antwortete zögerlich, dass es ihr nichts ausmachen würde, jemanden zu heiraten, den sie sehr liebe („I wouldn’t mind“). Aber wenn sie diesen Menschen nicht treffen sollte, dann möchte sie definitiv nicht heiraten. Sie fügte unmittelbar an, dass ihrer Meinung nach eine Hochzeit die Liebe zerstöre. Sobald man verheiratet sei, verändere sich die Beziehung zwischen dem Ehepaar zu einer technischen und pragmatischen. Denn es müssten dann immer viele Dinge geklärt werden: wie das Geld nach Hause komme, wie die Kinder erzogen werden usw. (Gedächtnisprotokoll 9. November 2008) Cui Hong erzählte mir heute, dass sie schon lang und breit mit einer ihrer Schwestern darüber diskutiert habe, wozu denn eine Heirat gut sei. Cui Hong möchte unabhängig sein, was sie mit einer Ehe nicht vereinbaren könne. Ihre Schwester sei hingegen der Auffassung, mittels einer Heirat Sicherheit zu bekommen. Diese Sicherheit verspreche sie sich davon, dass eine Ehe schließlich ein Leben lang halten soll und der Mann folglich bis zum Tod für sie sorgen werde. Dieses Herangehen konnte Cui Hong nicht nachvollziehen. (Gedächtnisprotokoll 10. Januar 2009) Diese Schwester Cui Hongs wollte aus Gründen der ökonomischen Sicherheit in eine Ehe eintreten. Damit argumentierte sie gemäß der Tatsache, dass Eheschlie-

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ßungen in Familien der ArbeiterInnenklasse in der Regel ein ökonomischer Nutzen zukommt (Quah 2009:26). Mit diesem starken ökonomischen Fokus erhält eine romantische Liebesbeziehung in einer Ehe keine oder nur geringe Relevanz. Cui Hong war der Meinung, eine Ehe zerstöre eine romantische Liebe, da sie bis dato Eheschließungen nur aus Absicherungsgründen heraus kennen gelernt hatte. An dieser Stelle schließe ich den Bogen zum Beginn dieses Abschnittes: Dass in Cui Hongs Herkunftsumfeld Ehen normalerweise nicht aus dem Motiv der romantischen Liebe heraus geschlossen wurden, erklärt ihre Sehnsucht nach einer ,modernen‘ romantischen Liebesbeziehung. In solch einer Beziehung imaginierte sie sich als eine unabhängige Frau. Resümee und Vergleich Schlussendlich lässt sich konstatieren, dass für Cui Hong als junger Frau aus einer ,traditionell‘ bewerteten ArbeiterInnenfamilie Bildung den Königsweg zur Modernität darstellte. Der im chinesischen Kontext wichtige Aufstiegsgedanke über Bildung entfaltete sich konkret als eine große Anstrengung, die eine bildungsferne ArbeiterInnenfamilie ohne entsprechende Ressourcen nicht unmittelbar umsetzen kann. Die Klassenzugehörigkeit zur Unterklasse stellte nicht nur eine Erschwernis oder gar, wie für ihre Schwestern, eine wesentliche Grenze im Bildungsaufstieg dar. Ihre Klassenzugehörigkeit bereitete Cui Hong auch einen Bildungsweg, der ihr durch den Kontaktverzicht zu Jungen und Männern Grenzen bzgl. sich selbst als Partnerin in einer romantischen Liebesbeziehung setzte. Vergleichend kann festgestellt werden, dass sich Cui Hongs Familienbiographie in Bezug auf ihre Klassenzugehörigkeit und ihre Bildungs- und Migrationsressourcen von denen meiner anderen Gesprächspartnerinnen unterschied. In der Konsequenz differierten die Beziehungen in Cui Hongs Familie mit drei Töchtern innerhalb der Geschwisterschaft hinsichtlich des Bildungserwerbs gegenüber denen der Familie Wong. Bei Letzteren erhielt die älteste Tochter Kaelyn den Bildungsauftrag, wobei die nächstälteren Töchter von dieser Verantwortung zunehmend entbehrt wurden. Diese Differenz ist mit den unterschiedlichen Klassenzugehörigkeiten begründet: In Familien mit geringen ökonomischen Ressourcen ist in der Regel das älteste Kind verpflichtet, frühestmöglich für den Familienunterhalt mit aufzukommen. In Mittelklassefamilien ist ein derartiger ökonomischer Druck nicht gegeben, so dass die Kinder – die Töchter – den Rücken frei haben zur Erhöhung ihres eigenen Status und den der gesamten Familie durch die Bildungsmigration. Während die Migrationswege meiner anderen Gesprächspartnerinnen in die bildungs- und migrationsbezogenen Familienbiographien der Großfamilien eingebettet waren, war dieser Hintergrund des Bildungserwerbs bei Cui Hong we-

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niger stark entwickelt. Für die Akteurinnen der Mittelklasse und Bildungselite dieser Studie war Bildung das Mittel zur erweiterten Handlungsmöglichkeit als bereits ,moderne‘ Frau. Meine Gesprächspartnerinnen wie Doreen, Judith oder Yue Yan griffen auf ,Modernität‘ als Ressource zurück, um bspw. ihre Identifizierungen hinsichtlich Sexualität oder romantischer Partnerschaft als Frauen zu transformieren. Cui Hong musste sich diese Ressource der Modernität erst durch die Bildungsmigration aufbauen und orientierte sich im Zuge dessen auch an transformierten Konzepten von Partnerschaft. Die als modern erachtete romantische Beziehungsführung war demzufolge nicht derart einfach für sie umzusetzen wie bspw. für Yue Yan. Hieran anschließend wird ein anderer Aspekt als Grenze von weiblichen Transformationsprozessen durch Bildungsmigration nach Singapur aufgezeigt: die Generationenzugehörigkeit im Sinne des Agierens während einer spezifischen historischen Situation. Mit dieser zeitlichen Dimension fokussiere ich den Aspekt der Prozesshaftigkeit bzw. des zeitlichen Verlaufs meines Analyserahmens. Während dieses Element bereits in allen Narrationen hinsichtlich der biografischen Entwicklungen meiner Gesprächspartnerinnen eine Rolle spielte, wird er nun durch den größeren zeitlichen Bogen an verstärkter Aufmerksamkeit erfahren.

7.2 G ENERATIONENZUGEHÖRIGKEIT ALS G RENZE FÜR DIE K ARRIERE EINER T OCHTER /S CHWESTER Im Mittelpunkt dieser Studie standen bisher die Erfahrungen von Akteurinnen, die aktuell, d. h. während der Zeit meiner ethnografischen Forschung, bzw. wenige Jahre zuvor, für den Bildungserwerb migriert sind. Um diese Gegenwart einordnen zu können, ist ein Verständnis des Kraftaktes vorheriger Generationen in ihren Bildungsmigrationswegen wichtig. Meine Gesprächspartnerin Margaret war bereits Ende der 1960er Jahre nach Singapur für die Bildung aufgebrochen. Mit ihren Narrationen wird nachfolgend erläutert, wie die historischen Bedingungen Transformationen von Geschlecht in der Elterngeneration meiner Gesprächspartnerinnen beeinflussten. Die historische Situation, verkörpert in Margarets Generationszugehörigkeit, bedingte die Möglichkeiten und Unerreichbarkeiten ihres Bildungsweges verknüpft mit ihrer Tochter- und Schwesterrolle. An dieser Stelle möchte ich kurz auf mein Verständnis von Generation eingehen. Da ich nachstehend Handlungen unter bestimmten historischen Bedin-

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gungen fokussiere, wird ein historisch-gesellschaftlicher Generationenbegriff in Abgrenzung zu einem genealogischen notwendig. Jane Pilcher führt in ihrer Studie zu Zusammenhängen von Generation und Geschlechterverhältnissen den Begriff der „social generation“ (1998:4) ein. Damit zielt sie auf den gesellschafspolitischen Hintergrund, der die Herausbildung von unterschiedlichen Lebensentwürfen unter verschiedenen Altersgruppen beeinflusst. Pilcher konkretisiert mit ihrer Terminologie die Wechselwirkung zwischen sozialen Hintergründen und der Konstituierung von Generationen, wie sie Karl Mannheim in seinem einschlägigen Generationenkonzept (1970:509-565) 8 erörterte. Mannheim wehrt sich gegen ein Generationenverständnis, das demografisch an Geburtsjahrgängen festgemacht werden könne. Er bezieht sich vielmehr auf gesellschaftspolitische Phänomene und soziale Transformationsprozesse. Seine Konzeptualisierung stützt er auf drei Prinzipien: die Generationslagerung, den Generationszusammenhang und die Generationseinheit. Die Generationslagerung ergibt sich aus den Geburtsjahrgängen, wobei sie sich regional durch potentielle gemeinsame Partizipationen an verbindenden Erlebnissen konstituiert. Der Generationszusammenhang bildet sich weitergehend heraus, wenn dieselben historischen Prozesse wirklich gemeinsam erlebt werden. Die Generationseinheit kann sich darüber hinaus entwickeln, wenn ähnlich auf die gemeinsamen Erlebnisse reagiert wird, so dass sich analoge gesellschaftspolitische Deutungsweisen herausbilden. Für die Konstituierung einer Generationseinheit ist die Dynamik eines gesellschaftlichen Wandels notwendig. Mit Bezug auf Mannheims Erörterungen und Pilchers begrifflicher Ausdifferenzierung verwende ich ,soziale Generation‘ zur Unterscheidung kollektiver Gruppen, die sich durch gemeinsame prägende Erlebnisse und gemeinsame Verarbeitungsmechanismen auszeichnen.

8

Mannheim entwarf sein Generationenkonzept zwar bereits 1928. Es besitzt trotz veränderter gesellschaftspolitischer Verhältnisse dennoch bis in die Gegenwart Gültigkeit. Denn seine Aufarbeitung von Zusammenhängen zwischen Generationen und Alterungsprozessen überzeugt durch ihre Systematik.

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7.2.1 Handlungsmächtige weibliche Verwandte als Basis für Bildungswege Margaret war zur Zeit unserer Gespräche 60 Jahre alt. Sie migrierte 19699 von Malaysia nach Singapur, um ein Studium der Sozialen Arbeit aufzunehmen. Später wechselte sie zur Soziologie. 1972 entschied sie sich dazu, wieder zurück nach Malaysia zu gehen. Seitdem lebt sie wieder in ihrer Heimatstadt Kuala Lumpur. Margaret ist in KL in einer christlichen, englischsprachigen Mittelklassefamilie aufgewachsen. Ihre Großfamilie kam mit Bezug auf die Migrationsgeschichte des Landes10 aus unterschiedlichen asiatischen Ländern: aus Indien, Sri Lanka und Indonesien. Der kulturelle Hintergrund von Margarets Familie ist wichtig für ein Verständnis der Geschlechterrollen und -bilder, die sie in ihrem Lebensweg beeinflussten. Ihr Vater kam aus Jaffna/Sri Lanka, ihr Großvater väterlicherseits aus Kerala/Indien, ihre Großmutter mütterlicherseits gehörte zu den Minangkabau aus Sumatra/Indonesien. „My father came from Jaffna Tamil, he is Jaffna Tamil, from Jaffna. In the north of Sri Lanka. My grandfather came from India. From Kerala […]. Though he was catholic I believe the local matriarchal system must have been an influence in his life. And my grandmother was Minangkabau, her family came from Sumatera, Indonesia. So, basically I’m always joking that I have err, you know, all of these groups have very strong binding towards matriarchal societies. All three of them. I’m a hybrid of Asian matriarchal systems [lacht]!“ (13. Mai 2009) Angesichts ihres familienbiografischen Hintergrunds sah sich Margaret als Nachkommin matriarchaler Strukturen aus Jaffna, Kerala und der Minangka-

9

Margaret bildungsmigrierte am 20. Mai 1969, also sieben Tage nach den bedeutsamen gewalttätigen und blutigen ,racial riots‘ zwischen malaiisch-malaysischer und chinesisch-malaysischer Bevölkerung. Margaret traf ihre Entscheidung, in Singapur zu studieren, bereits vor diesen Auseinandersetzungen. Ihr Umfeld verließ sie mit einem unguten Gefühl: „I left just around the time of the May 13th riots. […] So, there was a lot of Angst surrounding, [..] going there. On the one hand you feel that you run away from a so called dangerous situation, but on the other hand, I was afraid that I was leaving these men that I was running away from.“ (13. Mai 2009). Margaret benutzte das deutsche Wort ‚Angst‘. Durch ihren späteren deutschen Ehemann und die deutsche Schulausbildung ihrer Kinder konnte sie einige Worte deutsch sprechen.

10 Vgl. Kap. 3.2.1.

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bau. 11 Sie fühlte sich in ihrem geschlechtsbezogenen Bewusstsein und ihren Handlungen von diesen Strukturen geprägt: „I’m very much [...] independent. […] [Y]a, it was expected. I never thought of it. I grew up in an environment where on my father’s side it were always the women who made the decisions. I never processed it as such but when I think back, there was his sister and his aunt and all the women. And they were all strong women. Err, on my mother’s side it was my grandmother […] [who] was the one who decided on buying property and saving and bring all the important decisions. […] So, my grandmothers on both sides... I never met my grandmother on my father’s side, but I met his sister who was much older than him. […] I think she hold the net. More than her was her aunt. My father’s aunt, my grandaunt. She was the matriarch.“ (13. Mai 2009) Margaret erinnerte sich eindrücklich an ihre beiden Großmütter bzw. an ihre Großtante väterlicherseits. Im Gegensatz zu den Männern ihrer Großfamilie haben sie die wichtigen Entscheidungen in den Familienstrukturen getroffen, z. B. hinsichtlich des Einsatzes von Geld. Auf der Ebene konkreter Rollenmodelle verstärkte sich dieses Bewusstsein über eigenständige Frauen für Margaret durch ihre Mutter. Letztere verschränkte ihre Rolle als eigenständige Frau mit dem Faktor Bildung. Sie verließ ihre Kinder und ihren Ehemann 1957, als Margaret sieben Jahre alt war, um in Singapur an der damaligen University of Malaya12 Soziale Arbeit zu studieren. Nach ihrem Abschluss ging sie allein nach Penang an der Westküste Malaysias, um dort in ihrem Beruf zu arbeiten. Margaret kommentierte den bildungsmotivierten Weggang ihrer Mutter mit einer Reflexion über deren Rolle als Ehefrau: „I think it was her way of getting out of her marriage [sagte sie nüchtern]. That’s what my friends used to tell me: ‘When you want to get out of your marriage, then study something like Psychology, you never finish it so you don’t

11 Die angesprochenen matrilinearen bzw. bilateralen Strukturen sind in der Literatur hinlänglich diskutiert worden und können bspw. bei Agarwal (1994) bzgl. Jaffna Tamils, bei Kaufmann (2000) bzgl. Kerala und bei Metje (1997, 1995) bzgl. der Minangkabau nachgelesen werden. 12 1962 bekommt die Universität im Zuge der Separation der Länder Malaysias und Singapurs den Namen University of Singapore und wurde nach dem Zusammenschluss mit der Nanyang University (Nantah) 1980 zur National University of Singapore (NUS).

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come back [lacht]. Or Philosophy, you always continue your studies abroad.’ Ya, sometimes I realized my mother is not coming back.“ (13. Mai 2009) Welche Bedeutung hatte die Bildungsmigration für ihre Mutter in Bezug auf ihre Rolle als Ehefrau – und wie beeinflusste der Weg der Mutter Margarets Entscheidungen? Margaret ging davon aus, dass sich ihre Mutter auf Basis einer hohen Ausbildung in Singapur bestimmten, nicht näher spezifizierten, Unannehmlichkeiten innerhalb ihrer Ehe entzogen hatte. Damit lebte ihre Mutter ihr vor, dass ihr ein Weg über Bildung in Singapur zu einer Weiterentwicklung als Ehefrau verhalf. Bedenkt man Margarets eigenen späteren Bildungsweg nach Singapur, stellte ihr Vater neben den starken Frauenbildern – auch in Bezug auf Bildung – in ihrer Familie offenbar keinen vergleichbaren Orientierungspunkt für seine Tochter dar. Er arbeitete als ungelernter Buchungsverwalter in einer Kautschukfirma. Ihr Vater ging somit einer weniger prestigeträchtigen Arbeit nach wie seine (Ex-)Ehefrau. In diesem Elternhaus lernte Margaret ganz unmittelbar, dass Frauen eigenständig und emanzipiert mit einem hohen Bildungsgrad leben können – bzw. dies nur über den Weg der Bildungsmigration und des Alleinstehens als Frau umsetzen können. Diese unmittelbaren Erfahrungen Margarets waren darüber hinaus in damalige gesellschaftliche Entwicklungen eingebettet: Ab der Zeit der 1970er Jahre konnten Frauen in Singapur eher einen gleichberechtigteren Status innerhalb ihrer Familie verwirklichen, je höher ihr Bildungsgrad war. Aline Wong (1979:43) begründet dies Mitte/Ende der 1970er Jahre zum einen damit, dass eine höhere Bildung in ökonomisch gewinnbringender Erwerbstätigkeit mündet und dies wiederum zu einem höheren Maß an Mitspracherecht führt. Zum anderen konstatiert sie, dass Frauen mit einem höheren Bildungsabschluss Ehemänner mit mindestens demselben Bildungsgrad bevorzugen. Diese Männer seien als relativ liberal anzusehen, wenn gleichberechtigte Beziehungen zwischen den Geschlechtern verhandelt werden. Weiterhin ist aus Aline Wongs (1979:46f.) Studie ersichtlich, dass gemeinsame Entscheidungsfindungen zwischen Ehefrau und -mann, bspw. in Bezug auf größere Haushaltsausgaben, zunahmen, je höher der Bildungsgrad der Frau war. 13 Die Umsetzung von gleichberechtigteren Beziehungen galt besonders für Frauen mit englischsprachigem Hintergrund, wie Margaret ihn vorzuweisen hatte. Während bspw. in Familien mit englischspra13 Während in Ehepaaren, in denen die Frau mindestens ihre Secondary School abgeschlossen hatte, in 83 % der Fälle beide EhepartnerInnen über größere Haushaltausgaben entschieden, traf dies nur auf 69 % in Ehepaaren, in denen die Frau keine institutionalisierte Ausbildung genossen hatte, zu. In diesen Ehepaaren entschied ausschließlich der Ehemann (Wong, A. 1979:46f.).

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chiger Ausbildung 48 % der Frauen selbst entscheiden durften, ob sie außerhalb ihrer familiären Pflichten einer Lohnarbeit nachgingen, traf dies in Familien aus dem chinesischen Schulsystem nur für 37 % der Frauen zu (Wong, A. 1979:46). Der Weg über die Bildung im englischsprachigen Universitätssystem Singapurs konnte Margaret somit die Möglichkeit einer gleichberechtigteren Stellung als Partnerin oder Ehefrau verschaffen, so wie es ihr ihre Mutter vorgelebt hatte. 7.2.2 Bildungsmigration nach Singapur als Mittel zur Emanzipation Während Margaret angesichts ihrer Großmütter und Großtante väterlicherseits von einem Bewusstsein handlungsmächtiger Frauen geprägt war, war ihr unmittelbares Kleinfamilienumfeld hingegen männlich dominiert. Seitdem ihre Mutter nach Singapur bildungsmigriert war, wuchs sie in einem Elternhaus mit einem Vater und zwei älteren Brüdern auf. Das hinterließ bei Margaret das Gefühl einer männlichen Zentriertheit in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld. Dieses Gefühl wurde bei ihr mit dem Eingehen einer heterosexuellen Liebesbeziehung in ihrer Jugend verstärkt. Sie befand sich seitdem in einem sozialen Netz aus Vater, Brüdern und Partner. Diesem männlichen Umfeld versuchte sie sich schließlich durch ihren Schritt nach Singapur zu entziehen: „Why I went to Singapore basically was ... probably... a gender related thing. […] I always lived under [the] shadow [of my father and my brothers]. Because everything I did was... you know... with their permission. Ya, because it was a male-dominated society, ha? So I thought it was a chance to get away from being under the shadows of my brothers, because I went for my Abitur14 to the same school where my brothers were and my father was in that same school. […] And, [..] [Singapore was] another way also to get away from boyfriend. Because I was a bit controversial in that sense. Because I didn’t like the idea of me and my boyfriend being in the same university. I thought that we should have different experiences.“ (13. Mai 2009) Margaret verfolgte mit ihrem Bildungsmigrationsschritt nach Singapur zwei Ziele: zum einen wollte sie nicht mehr unter der unmittelbaren Obhut ihrer Brüder und ihres Vaters stehen bzw. an ihnen gemessen werden. Dies setzte sie in einen direkten Bezug zu männlich-dominierten Strukturen der Gesellschaft, die sie in ihrer Familie widergespiegelt sah. Zum anderen wollte sie eigene Erfahrungen

14 Margaret benutzte das deutsche Wort ,Abitur‘ (vgl. Kap. 7.2.1, Fußnote 9).

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unabhängig von ihrem damaligen Partner sammeln. Damit verfolgte sie ein ähnliches Modell wie ihre Mutter, die sich mithilfe ihrer Bildungsmigration ihrer Ehe entzogen hatte. Mit diesen beiden Zielen wollte sich Margaret mittels der Bildungsmigration nach Singapur ohne männliche Maßgaben aus ihrem unmittelbaren Umfeld als junge Frau entwickeln können. Diese Motivation war ungewöhnlich in einer Zeit, in der gesamtgesellschaftlich gesehen eine Entwicklung von Frauen durch (höhere) Bildung noch keinen Orientierungspunkt darstellte. Das gesellschaftliche Bild von Weiblichkeit im Singapur der 1970er Jahre war davon geprägt, dass Frauen keine höhere Bildung erlangen sollten. Dieses Bild von Weiblichkeit gründete sich auf der weit verbreiteten Annahme, dass Frauen durch ihre Rollen als Töchter und Ehefrauen ohnehin abhängig vom Vater oder Ehemann seien (O’Brien 1983:210). (Höhere) Bildung stellte nach dieser Argumentation für Frauen u. a. eine Hinderung auf dem Heiratsmarkt dar. Cheng (1977:367f.) konstatiert, dass in den 1970er Jahren in Singapur viele verheiratete Frauen keiner höheren Ausbildung als ihre Ehemänner nachgehen wollten, um ehelichem Missmut vorzubeugen. Viele verheiratete Frauen mit Studienabschluss lehnten es im Zweifelsfall ab, sich weiter zu qualifizieren, da sie ihre Energien vorzugsweise auf die eigene Familie konzentrierten. So legt auch Wong, A. (1976:307) dar, dass sich eine Zurückweisung von Karriereoptionen v. a. bei Frauen der Mittelklasse erkennen ließ, da in solchen Familien ein ökonomischer Zugewinn auf Grundlage einer hohen Ausbildung von weiblicher Seite eher als ein Luxus denn als eine Notwendigkeit verstanden wurde.15 Entsprechend dieser geringen Relevanz von (höherer) Bildung, die Frauen zugesprochen wurde, genossen 1970 noch 44 % der malaysischen Frauen überhaupt keine Schulbildung – bzw. 41 % die Grundschulausbildung bis zur sechsten Klasse – und nur 9 % der malaysischen Frauen besuchten mindestens die neunte Klasse (Hirschman/Aghajanian 1980:44). Der Frauenanteil an der NUS machte 1970, also ein Jahr nach Margarets Immatrikulation, 33 % aus und stieg nur sehr langsam an (Wong, A. 1976:303). Mit dieser relativ geringen Aneignung von institutioneller Bildung durch Frauen bis in die 1970er Jahre können Margaret und ihre Mutter als Pionierinnen im Erreichen von Handlungsermächtigungen mittels Bildung(-smigration) gesehen werden. Mit welcher Art der Handlungsermächtigung setzte sich Margaret dann in Singapur auseinander?

15 1975 stellten Frauen nur 12,4 % des höheren Einkommensbereichs (1.000–1.499 SGD), bei einem Einkommen über 1.500 SGD sogar nur noch 7,4 % (Cheng 1977:373).

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7.2.3 Entfaltungsmöglichkeiten einer Frau in Singapur Margaret verband mit der Bildungsmigration nach Singapur den Wunsch nach einer Handlungserweiterung, den sie auf folgende Bereiche bezog: auf ihr heterosexuelles Begehren und auf Autonomie in der Partnerwahl. Auf dem Campus der NUS hatte sie die Möglichkeit, gemeinsam mit ihren malaysischen Kommilitoninnen sexuelle Erfahrungen zu sammeln. „[P]art of the enjoying life was that we [Malaysians] had men friends. But we were not allowed to. […] But did we care? We just climbed out of the windows [of our student’s hostel], you know. We made everything possible. We broke out of the hostel in the middle of the night. […] It took us three hours to find out how to break out! […] Because it was all so well fortified. […] [W]e called it the prison. We were the inmates, we called us the inmates. I mean, they had to preserve our virginity!“ (13. Mai 2009) Für Margaret stellten sexualisierte (voreheliche) Beziehungen zu Männern ein Vergnügen dar. Angesichts der offiziellen Struktur einer Wohnheimleitung, die als gesellschaftliche Instanz verstanden werden kann, wird deutlich, dass es allerdings im Singapur der 1960er Jahre nicht verbreitet war, als junge, unverheiratete Frauen sexuell aktiv zu sein. In der Tat lebte die Mehrzahl an jungen Frauen heterosexuelle Aktivität erst mit dem Eintritt in eine Ehe aus (Chan C.S. 2006:37). Während junge Männer eher zu sexuellen Aktivitäten animiert wurden und werden, werden junge Frauen zu sexueller Enthaltsamkeit motiviert (Mellström 2003:76). Weit entfernt von ihrem zu Hause, d. h. außerhalb der väterlichen, brüderlichen und partnerschaftlichen Kontrolle, schaffte es Margaret durch Ausbrüche aus dem Wohnheim dennoch, sich fernab sexualitätsrestriktiver Regelungen auszuprobieren. Des Weiteren handelte Margaret die Grenzen ihrer Rolle als Partnerin, eingebettet in familiäre Verhältnisse, während ihrer Zeit in Singapur neu aus: In diesem Zeitraum entschied sie sich dazu, ihre feste Beziehung zu ihrem damaligen Freund, der nach wie vor in Kuala Lumpur lebte, entgegen dem Willen ihrer Familie zu beenden. „[M]y family sort of [..] [wanted] him [my former boyfriend] to be my husband, ya. […] But that was like new things happened and I definitely didn’t want to turn things back.“ (13. Mai 2009)

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Margarets Eltern hegten für sie den Wunsch, dass sie ihren damaligen Freund heiraten würde. Sie selbst zog es vor, neue Erfahrungen mit Männern zu sammeln – und die ,alten‘ Strukturen ihres diesbezüglichen Lebens aus Malaysia hinter sich zu lassen. Damit wandte sie sich gegen das damalige Prinzip, dass die Eltern oder Vormunde die Ehe für die Nachkommen arrangierten. Eine Hochzeit war in diesem gesamtgesellschaftlichen Kontext keine individuelle Entscheidung, die z. B. auf Basis des Konzepts der romantischen Liebe getroffen wurde, das sich lokal erst in den 1960er Jahren entwickelte.16 In jenem Zeitraum war das Prinzip arrangierter Ehen in Singapur bzw. Malay(si)a noch bei allen Bevölkerungsgruppen vorhanden, wenn auch mit abnehmender Tendenz. Innerhalb der chinesischen Bevölkerung wurden in den 1960er Jahren bspw. noch 30 % der Ehen von den Eltern arrangiert (Wong, A. 1976:305f.). Eine Ehe ganz ohne elterliches Einverständnis einzugehen, war damals höchst selten. Trotz stärkerer Tendenz in der damaligen jungen Bevölkerung, sich mit einer/m WunschpartnerIn zu verheiraten, war das Ignorieren der diesbezüglichen Wünsche der Eltern für die Mehrheit der jungen Menschen undenkbar (Hassan 1976:306). Margarets Trennung von ihrem damaligen Partner und die damit einhergehende Nichtachtung des Wunsches ihrer Eltern stellten folglich nicht nur eine konkrete Loslösung von ihrem Elternhaus und den gesellschaftlichen Normen dar. Ebenso markierte Margaret damit die Umbrüche jener Zeit hinsichtlich Partnerwahl, Handlungsermächtigung von Frauen sowie Abhängigkeiten in Eltern-Kind-Beziehungen. 7.2.4 Der Weg zurück nach Malaysia als Wende für die Schwester- und Tochterrolle Nach drei Jahren des Studiums in Singapur ging Margaret 1972 wieder zurück nach Kuala Lumpur. Ihre Rückkehr war durch nationales Bewusstsein motiviert. 1971 wurde in Malaysia die New Economic Policy (NEP) eingeführt, um u. a. den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes zu fördern.17 Als graduierte Soziologin wollte Margaret als Malaysierin an der ökonomischen Entwicklung des Landes mitwirken, wie sie mir erklärte. Ihr Weg zurück wirkte sich grundlegend auf das Geschwister- und das Eltern-Tochter-Gefüge im Zusammenhang mit geschlechtsbezogenen Bildungserwerb und Karriereweg aus. Während Margaret in Singapur studierte, schickte ihre Mutter ihren mittleren Bruder mit ökonomischem Kapital nach England zum

16 Vgl. Kap. 5.3.3. 17 Vgl. die ausführlichen Erläuterungen hierzu in Kap. 3.3.1.

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Studieren. Ihr ältester Bruder bekam in derselben Zeit ein Stipendiumangebot für seine Promotion in Geschichtswissenschaften an der Universität Monash/Australien. Er bat seine Schwester darum, gehen zu können, wodurch sie sich um ihren Vater und seinen Haushalt kümmern sollte. Margaret willigte ein und führte damit eine Rolle als fürsorgende Tochter aus. Dass sie ihren eigenen Karriereweg zugunsten der Ausübung einer fürsorgenden Tochterrolle vernachlässigte, reflektierte Margaret im Nachhinein folgendermaßen: V.T.: „So first actually you wanted to escape from them [your father, brothers and boyfriend] and then you were stucked there because he [your eldest brother] could escape for some reason?“ M.: „Ya. That’s probably the men still win [wir lachen]. You have to be a hell of a clever woman to escape the men all together. Ya, I guess so. […] If I have been in Singapore, maybe my eldest brother would be obliged to stay with my father and done his PhD here. But he, when he set down and he said ‘Are you sure you can do everything, the house?’ and I said ‘Go ahead, man! Don’t worry about me and us.’“ (13. Mai 2009) Margaret konnte ihre ursprüngliche Motivation, sich aus der Kontrolle und dem Schatten ihres Vaters, ihrer Brüder und ihres Freundes zu entziehen, mit ihrem Weg zurück nicht mehr weiterverfolgen. Im Gegenteil, infolge ihrer Rückkehr und der Aufnahme der fürsorglichen Tochterrolle für den Bildungsweg ihres Bruders wurde sie als soziales Subjekt wieder in die männlichen Familienstrukturen integriert. In der Tat schmerzte Margaret ihre neue Rolle als fürsorgende Tochter: „[D]id they [my brothers] know that I gave up a lot? Because I was good enough to study, but because the circumstances, I didn’t do it. And they never asked me, because of choices I made in my life, I got married, I have children, I kind of screwed my career, for my… for somebody at my time I could have gone much, much further in life.“ (13. Mai 2009) Margaret sah für sich das Potential, bildungs- und karrierebezogen viel mehr im Leben erreicht haben zu können. Infolge ihrer Rückkehr nach Kuala Lumpur hatten nun ihre Brüder die Möglichkeit, ihre Bildungswege fortzuführen und diese in entsprechenden Berufen einsetzen zu können: Ihr mittlerer Bruder arbeitete später im Rechnungswesen bei Esso und Exxon, bis er zum Regionalmanager befördert wurde. Ihr ältester Bruder arbeitete viele Jahre als Professor an der

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Universiti Malaya (UM) und zur Zeit unserer Gespräche für den obersten Rechtsberater der Regierung im Attorny General’s Chamber. Damit bewegten sich die drei Geschwister innerhalb der Norm, dass zu jener Zeit in Malaysia 95 % der Männer mit Universitätsabschluss lohnarbeiteten, während dies nur auf 66 % der entsprechenden Frauen zutraf (O’Brien 1983:207). Welche Rolle spielten für Margaret in diesem geschlechtlich codierten Familiengefüge ihre weiblichen Verwandten? Die Frauenbiographien ihrer Großfamilie bildeten nicht nur für ihren Bildungsweg, sondern auch für ihre Rolle als Tochter und Schwester den geschlechtsbezogenen Rahmen. Margaret hat ihre eigene Mutter v. a. als Ehefrau und Mutter in Erinnerung, genauso wie ihre Großmütter. Keine dieser handlungsmächtigen, nach ihren Worten ,matriarchalischen‘, Frauen erinnerte sie in ihren Tochterrollen. Somit fehlte ihr das Vorbild für unabhängigere Tochter- und Schwesterrollen. In diesen Rollen wusste sie nicht, sich als Frau eigenständig zu verhalten und orientierte sich dementsprechend an den damaligen gesellschaftlichen Geschlechternormen und -praxen. Obwohl Margaret ihre eigenen Bedürfnisse in den 1970er Jahren im Hinblick auf einen Karriereweg zugunsten ihrer Brüder zeitweilig vernachlässigte, war sie zur Zeit unserer Gespräche eine unabhängige, aktive, selbstbewusste und alleinstehende Frau. Anfang der 1980er Jahre heiratete sie einen Deutschen und bekam einen Sohn und eine Tochter. Ihr Mann ging mit den Kindern nach Singapur, während Margaret selbstständig in KL blieb. Sie ging bis zu ihrem 51. Lebensjahr ihrer Lohnarbeit nach, indem sie in verschiedenen Firmen AusbilderInnen und LeiterInnen fortbildete. Später erweiterte sie ihren Horizont, indem sie im Jahr 2002 zehn Monate nach Afghanistan ging, um dort für eine malaysische Firma im Ausbildungsbereich tätig zu sein. Nachdem sie daran anschließend einige Monate Englischunterricht für burmesische Flüchtlinge in Malaysia gab, widmete sie sich alleinstehend18 in ihrem Ruhestand nur noch ihren eigenen Bedürfnissen, wie sie sagte. Resümee und Vergleich Konkludierend lässt sich feststellen, dass Margaret ihren Weg nach Singapur in der damaligen historischen Situation als Mittel zu ihrer Unabhängigkeit als Frau betrachtete. Die historische Situation, verkörpert in Margarets Generationenzugehörigkeit, setzte ihr allerdings Grenzen in ihrer Tochter- und Schwesterrolle und ihrem Bildungsweg. In ihrer Rolle als Partnerin konnte sie sich im Laufe der 18 Margarets Mann starb an Nierenversagen. Anschließend ging sie keine erneute Beziehung ein. Ihr Sohn lebte zur Zeit unseres Gesprächs in Frankfurt/Main. Ihre Tochter ging nach einem längeren Aufenthalt in Deutschland 2008 gemeinsam mit ihrem Freund erneut nach Singapur, um dort als Architektin zu arbeiten.

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gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen auf Grundlage ihrer sexuellen und handlungsmächtigen Erfahrungen emanzipieren. Gleichzeitig setzte ihr eben diese historische Situation Grenzen auf dem Weg zur Eigenständigkeit als Frau, da die gesamtgesellschaftlichen (Geschlechter-)Verhältnisse noch derart hierarchisch ausfielen, dass Überwindungen dessen entweder gar nicht – wie in Margarets Tochter- und Schwesterrolle – oder nur mit großer Kraft – wie in Margarets Rolle als sexuell aktives weibliches Subjekt – zu schaffen waren. Vergleichend kann bemerkt werden, dass anhand von Margarets Generationenzugehörigkeit ihre differente Sozialisierung, die durch anders gelagerte kollektive Erlebnisse geprägt wurde, wirkmächtig wird. Während die Vereinbarkeit der für Frauen zugänglichen Lebensentwürfe als ,gute Tochter‘, Karrierefrau, Mutter und Ehefrau zu Margarets Zeiten noch nicht umsetzbar war, stellte sie für meine jungen Gesprächspartnerinnen Teil ihrer erweiterten Handlungsoptionen in Singapur dar. Margaret schaffte diese unterschiedlichen, für Frauen möglichen Lebensentwürfe als Karrierefrau und als ,gute Tochter‘ nicht derart zu vereinen. Hier kann das Pendant der „working mother“, das meine Gesprächspartnerinnen Abrianna, Ai Ling, Annapoorna und Lin Lam anstrebten, zu einem nicht zu vereinenden Lebenskonzept einer ‚working daughter‘ umgedacht werden. Margaret gehört mit ihren Handlungsmöglich- und -unmöglichkeiten zu einem sozialen Generationszusammenhang, der infolge historisch-gesellschaftlichen Wandels Wege für umfangreiche Optionen von heutigen jungen Frauen bereitete. Letztere profitierten folglich von den gesamtgesellschaftlich eingebetteten Kraftakten einer Bildungsmigrantin wie Margaret aus ihrer Elterngeneration.

8. Fazit: Geschlecht und Bildungsmigration im Kontext gesamtgesellschaftlicher Transformationsprozesse

Geschlecht als fundamentale, strukturgebende Kategorie von Gesellschaften bildet in meiner Arbeit den zentralen Bereich zur Erschließung von komplexen, räumlich ausgestalteten Bildungsmigrationswegen – und umgekehrt. Damit leistet diese Arbeit einen Beitrag zu den Fachdebatten um Migration und Geschlecht. Dieser bereits breit aufgestellte Forschungsbereich wird mit der vorliegenden Studie dahingehend bereichert, dass das Forschungsdesiderat zu migrierenden intellektuellen Frauen bearbeitet wurde. In meiner Arbeit habe ich die Bedeutung von geschlechtlicher Zugehörigkeit und vom Selbstbild als Frau im Bildungsmigrationsprozess der Akteurinnen herausgearbeitet. Durch die multilokale und multiperspektivische Studie hat sich gezeigt, dass Aneignungen, Zuweisungen und Abgrenzungen bzgl. Geschlecht und Bildungsmigration je nach sozialer Positionierung im Spannungsfeld von Ethnizität, Klasse, Religion und Modernität vorgenommen werden. Wechselwirkungen zwischen Geschlecht und Bildungsmigration finden in Verknüpfung mit diesen weiteren Kategorien statt. Insofern stehen Geschlecht und Bildungsmigration in dieser Studie zwar im Fokus, sind aber intersektional eingebettet, da sie in einem Netz von Hierachien bestehen. In der Analyse der wechselseitigen Verhältnisse zwischen Geschlecht und Bildungsmigration stützte ich mich auf die theoretischen Herangehensweisen des Konstruktivismus, in dem Subjektkonstitutionen als immer wieder neu definierte, unabgeschlossene Prozesse begriffen werden. Gesellschaftliche Macht- und Gewaltverhältnisse, die diese Prozesse strukturieren, d. h. begrenzen oder begünstigen, denke ich in den Prozessen der Subjektwerdung stets als konstitutiv mit. Mit diesem Verständnis betrachtete ich gesellschaftliche Transformations-

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prozesse als dynamisch und prozesshaft, aber in jedem Fall als hierarchisch und machtdurchdrungen. Um Geschlecht und Bildungsmigration auf systematische Weise analysieren zu können, entwickelte ich den Analyserahmen Gendered Power Hierarchies in Space and Time. Dieser Analyserahmen ermöglichte es mir, die Komplexität meiner Forschungsarbeit zu fassen und gleichzeitig zu strukturieren. So konnten die multiplen geschlechtlich normierten Ebenen, die im Kontext von Machtstrukturen zwischen geografischen Räumen seitens der Akteurinnen während eines bestimmten Lebensausschnitts ausgehandelt wurden, untersucht werden. Mit dem Analyserahmen war es mir gelungen, Handlungspraxen der Akteurinnen auf der einen und strukturelle Faktoren auf der anderen Seite zusammenzudenken. Mit diesem Herangehen ordnet sich meine Arbeit in die jüngsten kultur-, sozialund geisteswissenschaftlichen Entwicklungen ein, im Zuge der Weiterentwicklung des linguistic turn Materialität und gesellschaftspolitische Strukturen als analytische Kategorien wieder zurückzugewinnen. Im Zuge der produktiven dekonstruktivistischen Theoriebildung hat sich die Forschung auf die Ebene des Subjekts konzentriert. Die sich daraus entwickelten beiden Pole, gesellschaftliche Dynamiken primär entweder als Strukturen oder als subjektiv erfahrbar zu verstehen, bringen aktuellste Ansätze wieder zusammen (z. B. Graf/Ideler/Kleinger 2013). In meiner Arbeit war ich keinen allgemeingültigen Repräsentationen von malaysischen Bildungsmigrantinnen auf der Spur. Ich wollte hingegen verstehen, wie AkteurInnen ihre reichhaltigen Lebenswelten in den gesellschaftlichen Dynamiken um Geschlecht, Bildung und Migration ausgestalten und wie sie sich dadurch innerhalb dieser Dynamiken positionierten. Durch immer wiederkehrende Muster haben sich die Hauptergebnisse dieser Arbeit dennoch als verallgemeinerbar erwiesen. Wie lässt sich die Verknüpfung von Geschlecht, Bildung und Migration im Kontext der unterschiedlichen Machtverhältnisse im malaysischen und singapurischen Kontext nun zusammenfassen? Als Kernthese formulierte ich, dass im lokalen Kontext Wechselwirkungen zwischen Geschlecht und Bildungsmigration manifest werden. Als Kernfragestellung interessierte daraus ableitend, wie auf der einen Seite Geschlecht die Bildungsmigration beeinflusst und wie auf der anderen Seite vergeschlechtlichte Identifizierungen und Handlungspraxen durch Bildungsmigration transformiert werden. Die Haupterkenntnis der vorliegenden Studie lässt sich folgendermaßen zusammenfassen und verallgemeinern: Vor dem Hintergrund eines ethnisch segregierten sowie patrilinearen Malaysias, in dem die muslimische malaiischmalaysische Bevölkerung im Gegensatz zur chinesisch- und indisch-malay-

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sischen die meisten Vorteile genießt, stellt eine Bildungsmigration nach Singapur für Chinesisch-Malaysierinnen den Schlüssel für eine Transformation von Weiblichkeit dar, die erweiterte Handlungsmöglichkeiten und relative Unabhängigkeit impliziert. Dieses Ergebnis lässt sich folgendermaßen ausdifferenzieren: Das Geschlechterverhältnis beeinflusst die Bildungsmigration nach Singapur, indem es auf Grund der gesellschaftspolitischen Dynamiken die jungen chinesischmalaysischen Frauen sind, die von weiblicher Seite Aufträge der Handlungserweiterung und Statuserhöhung erhalten, die sie mittels der Bildungsmigration in Singapur umsetzen. Auf Grundlage der Bildungsmigration nach Singapur transformieren die chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen ihre weiblichen Identifizierungen wiederum insofern, als dass sie sich durch den Rückgriff auf und die Einbettung in gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse ihre Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf Familienbild, Sexualität, Liebeskonzepte und Körperlichkeit in der heterogenen Arena von Ethnizität, Geschlecht, Bildung sowie Klasse und Religion generell erweitern. Diese Kernergebnisse leite ich folgendermaßen her: Malaysia ist ein Beispiel für eine multikulturelle Gesellschaft, in der etwa 65 % Malaiisch-MalaysierInnen und sogenannte Indigene (Orang Asli, Iban, Dayak, Kadazandusun u. a.), 26 % Chinesisch-MalaysierInnen und 7 % Indisch-MalaysierInnen leben. Ethnische Kategorisierungen stellen die Basis gesellschaftspolitischer Bereiche dar, in denen die malaiisch-malaysische Bevölkerung bevorzugt und die chinesischund indisch-malaysische benachteiligt wird. Trotz kultureller Vielfalt ist der Islam als vorgeschriebene Religion der Malaiisch-MalaysierInnen dominant. Die ethnisch-religiöse Segregation der Gesellschaft beruht auf nationalen ökonomischen und politischen Interessen, welche seit rassistisch motivierten Unruhen im Jahre 1969 die muslimische malaiisch-malaysische Bevölkerung privilegieren. Ihren Ausgangspunkt finden diese Entwicklungen in britischen Kolonialpolitiken, die In- und Exklusionen entlang ethnischer, aber auch geschlechts- und klassenspezifischer Linien v. a. mittels eingerichteter Bildungssysteme einführten. Durch die starke Betonung der ,race‘-Grenzen war es in Malaysia bisher nur schwer möglich, allgemeine frauen- und geschlechterpolitische Fragen über diese Grenzen hinweg zu formulieren und in die Praxis umzusetzen. Dies verstärkte sich 1971 mit Einführung der New Economic Policy (NEP) nach den rassistischen Unruhen. Die politische Ausrichtung dieser NEP zielte auf einen ökonomischen Aufstieg der malaiisch-malaysischen Bevölkerung durch Bildungs- und Arbeitsplatzmöglichkeiten. Diese Möglichkeiten hatten in erster Linie Auswirkungen auf malaiisch-malaysische Frauen, da sie als sogenannte ,billige Arbeits-

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kräfte‘ angesehen wurden. Der sich nun wandelnde soziale Status dieser Frauen wurde gleichzeitig zum Maßstab eines modernen Islam. Die ChinesischMalaysierinnen erfahren auf Grund (post-)kolonialer Politiken zwar ebenfalls bildungsbezogene, ökonomische und politische Aufwärtsmobilität. Durch ihre politische Exklusion mangelt es ihnen jedoch in den letzten vier Dekaden nicht nur verstärkt an konkreten Zugängen zu Bildung durch rassistische Quotierungen, sondern auch an einer weiter gefassten Möglichkeit zur Partizipation an nationalen Geschlechterpolitiken. Einerseits wird der gesellschaftliche Statusaufstieg chinesisch-malaysischer Frauen also durch Bildungs- und Geschlechterfragen kontrollierende Multikulturalismus-Politiken erschwert. Andererseits tragen aber auch patrilineare konfuzianische Elemente und Wertenormen der chinesischen Bevölkerung selbst zur erschwerten Umsetzung frauenbezogener Politiken bei. Diese konfuzianischen Elemente beinhalten Ansprüche an fünf als grundlegend geltende Beziehungen, und zwar denen zwischen Vater und Sohn, Fürst und Untertan, Mann und Frau, älterem und jüngerem Bruder sowie Freund und Freund. Durch diese idealtypischen Beziehungen wird für Frauen in ihrer Rolle als Tochter, Ehefrau und Witwe allein durch ihr Geschlecht ein dreifaches Unterordnungsverhältnis geschaffen. Die Chinesisch-Malaysierinnen der vorliegenden Studie wie z. B. Doreen, Judith, Ai Ling, Abrianna, Yue Yan, Lin Lam und Elizabeth besaßen durch ihre Zugehörigkeit zur Mittelklasse die nötigen Ressourcen für die Planung und Umsetzung einer Bildungsmigration. Auf dieser Grundlage konnten sie eigene Wege der sozialen Mobilität entwickeln, welche die diversen gesellschaftlichen Marginalisierungen, denen sie ausgesetzt waren, durchbrachen. Sie erlangten subjektive Handlungsmöglichkeiten über den Weg der Bildung im Nachbarstaat Singapur. Bildungsmigration ist jedoch nicht nur durch mangelnde Möglichkeiten im Herkunftsland motiviert. Bildung erfährt in der chinesischen Bevölkerung vielmehr eine besondere Bedeutungszuweisung als Schlüssel zum Erfolg gemäß konfuzianischem Verständnis. Auf der konkreten Handlungsebene wurde in den von mir begleiteten Familienkonstellationen geschlechtlich codiert ausgehandelt, wer diesen Weg zum Erfolg vorzeichnete und wer ihn gehen sollte. Der Bildungs- und Statusauftrag wurde in den Familien der chinesisch-malaysischen Bildungmigrantinnen von den Müttern bzw. Großmüttern an die (älteste) Tochter herangetragen, folglich von Frauen derjenigen Generation, die gesellschaftspolitisch seit den 1970er Jahren soziale Mobilität erfahren. In den von mir untersuchten Konstellationen setzte die einzige Tochter im Gegensatz zum einzigen Sohn den Auftrag um. Diese

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Direktive nahm unabhängig von der Geschlechterzugehörigkeit in Familien mit mehreren Kindern von ältester Tochter zu nächstjüngerem Kind ab. In den Familien mit einer Tochter und einem Sohn, die ich begleitet habe, kam den chinesisch-malaysischen Männern in der vielfältigen Arena von Macht, Status, In- und Exklusion die Rolle zu, die ,traditionellen‘, konservativen Elemente des Konfuzianismus wie bspw. die Fürsorgefunktion den Eltern gegenüber zu bewahren. Sie blieben deshalb als Brüder bzw. Söhne in den kleinen Familien im Elternhaus wohnen. In den größeren Familien folgten die Brüder ihren Schwestern in der Bildungsmigration ohne eigenen Bildungs- und Statusauftrag. An dieser Stelle lässt sich die erste Forschungsfrage nach den Wechselwirkungen beantworten: Das Geschlechterverhältnis beeinflusst die Bildungsmigration nach Singapur insofern, als dass es die jungen Frauen waren, die die Aufträge der Handlungserweiterung und Statuserhöhung erhielten und umsetzten. Es bleibt, die zweite Seite der Wechselwirkungen herzuleiten. Im Sinne einer Demokratisierung werden vermehrte Handlungsoptionen für Frauen als Teil einer staatlichen ,modernen‘ Ideologie begriffen. Die Statuserhöhung für Frauen ist somit staatlich gewollt, um sich einer Modernität anzunähern. Konkret wird diese Ideologie von als ,modern‘ erachteten Chinesisch-Malaysierinnen – je nach Schulform und Elternhaus den christlich und englischsprachig oder atheistisch und mandarinsprachig geprägten Akteurinnen – verfolgt. Singapur und seine multiethnische Leistungsgesellschaft waren Ziel der Bildungsmigrationen der von mir begleiteten Chinesisch-Malaysierinnen, die vorteilhaftere Verhältnisse für sich suchten. Dessen ,modernes‘, nach westlichen Elite-Standards ausgebautes neoliberales Bildungssystem eröffnete den Migrantinnen zahlreiche Zugangsmöglichkeiten. Diese singapurische Modernität wurde von den Akteurinnen in einen Kontrast zu den malaysischen städtischen Zentren und diese wiederum in Relation zu ländlichen malaysischen Gebieten gestellt. Die Modernitätsimaginationen wurden mit ethnischen und religiösen Kategorisierungen gekreuzt, denn ländliche, ,traditionelle‘ Gebiete assoziierten sie mit der muslimischen malaiisch-malaysischen Bevölkerung. Durch Aneignungs- und Zuweisungsprozesse konstituierten sich die chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen in Singapur als ,moderne Mittelklasse-Frauen‘ in erster Linie in Abgrenzung zu von ihnen als ,traditionell‘ imaginierten Malaiisch-MalaysierInnen. Meine chinesisch-malaysischen Gesprächspartnerinnen vollzogen die Bildungsmigration nicht nur in das ,moderne‘, sondern auch in das chinesischdominierte Singapur. Dieses war für sie damit gleichzeitig Mittel ethnischer Distinktion. Die Akteurinnen grenzten sich durch bedingte Aneignungen ,moderner‘, chinesisch-fokussierter Weiblichkeitsdiskurse in Singapur von den

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als ,traditionell‘ imaginierten muslimisch-malaiischen Normen für Frauen ab. Diese Normen stellten infolge der malaiisch-fixierten staatlichen Politiken die Orientierung für alle malaysischen Bevölkerungsgruppen dar: in Bezug auf geschlechtlich normierte Familienkonstellationen, auf sexuelles Begehren und romantische Liebe sowie auf Körperlichkeit. Mit Bezug auf diese bzw. in Abgrenzung zu diesen Kontexten konstituierten die Chinesisch-Malaysierinnen in Singapur ein Ideal von Weiblichkeit, das ich als ,sexy working mother‘ beschreiben möchte. Nach dieser Herleitung lässt sich die zweite Fragestellung nach den Wechselwirkungen zwischen Geschlecht und Bildungsmigration beantworten. Die chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen dieser Studie transformierten ihre weiblichen Identifizierungen auf Grundlage der Bildungsmigration nach Singapur insofern, als dass sie ihre Handlungsmöglichkeiten in der heterogenen Arena von Ethnizität, Geschlecht, Bildung sowie Klasse und Religion grundsätzlich erweiterten. Die Akteurinnen stießen an die Grenzen dieser generellen Erweiterung der eigenen Handlungsoptionen, wenn sie durch Zugehörigkeit zur ArbeiterInnenklasse oder zur Elterngeneration nicht auf dieselben ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen zurückgreifen konnten wie die jungen chinesisch-malaysischen Mittelklasse-Frauen. Für die malaiisch-malaysischen Akteurinnen dieser Studie stellte Singapur hingegen kein Zielland des Bildungserwerbs dar. Wichtiger Hintergrund hierfür sind gegenseitige Ressentiments zwischen malaiischer und chinesischer Bevölkerung in Singapur und in Malaysia. Darüber hinaus kommen die malaiischmalaysisch Studentinnen dieser Studie aus ländlichen Gebieten und hatten den Kraftakt zu überwinden, erst einmal in Malaysias Hauptstadt studieren zu können. Die Ressourcen, die erforderlich sind, um überhaupt Bildungmigrationswege gehen zu können, differierten auf Grundlage der historischen gesellschaftspolitischen Strukturen: Während die chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen auf eine gesellschaftliche und familienbiographische Geschichte mit materiellem Wohlstand, Urbanität und einem hohen Maß an Weltläufigkeit und Bildung zurückgreifen konnten, mussten sich die malaiisch-malaysischen Akteurinnen solche Elemente erst aufbauen. Diesen Dynamiken entsprechend verfolgten die malaiisch-malaysischen Studentinnen auch ganz eigene Strategien, um ihre Handlungsoptionen mittels Bildung zu erweitern. Infolge der Multilokalität der Forschung wirkten die Malaiisch-MalaysierInnen in der vorliegenden Studie nicht nur als Abgrenzungsobjekte der chinesisch-malaysischen Bildungsmigrantinnen, sondern sie kamen durch die Möglichkeit der Darstellung von differenzierten Perspektiven mit ihren eigenen Wünschen in Bezug auf Bildung, Mittelklasse und Modernität selbst zu Wort.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Karte von Festland-Malaysia und Singapur, Manderson (1980:ii) Abbildung 2: Offizielle viersprachige Beschriftung in Singapur Abbildung 3: Bukit Cina in Melaka Abbildung 4: Teil des heutigen singapurischen Hafengeländes Abbildung 5: Methodist Girls’ School (MGS) in Singapur Abbildung 6: Putra-Moschee in Putrajaya Abbildung 7: Petronas Twin Towers in KL Abbildung 8: Malaiisch-malaysische Studentinnen an der UM Abbildung 9: Haltestelle ‚KL Sentral‘ mit Bus in Richtung des Stadtteils der Hemmys Abbildung 10: Genealogie mit ausgewiesenen Migrationszielen und -Motiven der multigenerationalen und bilateralen Familie Hemmy Abbildung 11: Zurechtmachen einer Braut im kedai pengantin (Brautladen) Abbildung 12: „Unanständiges Verhalten verboten“. Schild im Tasik-PerdanaPark in KL Abbildung 13: Szene aus dem Theaterstück der ,Kent Ridge Hall‘ Abbildung 14: Hausschrein in Tiong Bahru, Singapur Abbildungen 2-14: Viola Thimm.

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